Werke. Band 15.1 Text: Essays / Gedichte / Rezensionen / Anmerkungen / Zusätze. März 1780 —Januar 1781 [277 – 289] 9783110300567, 9783110300642

None of Wieland’s poems was more enthusiastically celebrated by his contemporaries than his verse poem Oberon, A Poem in

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German Pages 587 [588] Year 2012

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Table of contents :
Oberon. Ein Gedicht in vierzehn Gesängen
Über eine Anekdote von J. J. Rousseau
Auszug aus Herrn Magellans Zusatz zu des Hrn. Le Begue de Presle Relation des derniers jours de M. Jean Jacques Rousseau
Schreiben eines Nachdruckers an den Herausgeber des T. M.
Dialogen
Lucians Panthea
Auszüge aus den Melanges tirés d’une grande Bibliotheque
Lucians Vertheidigung seiner Panthea
An Olympia. Über eine Handzeichnung von Oesern
Wie man ließt; eine Anekdote
Moralische Probleme
Essays / Gedichte / Rezensionen / Anmerkungen / Zusätze
Inhaltsverzeichnis
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Werke. Band 15.1 Text: Essays / Gedichte / Rezensionen / Anmerkungen / Zusätze. März 1780 —Januar 1781 [277 – 289]
 9783110300567, 9783110300642

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Christoph Martin Wieland Oßmannstedter Ausgabe

Wielands Werke Historisch-kritische Ausgabe Herausgegeben von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma

Wielands Werke Band 15.1

Text

Bearbeitet von Hans-Peter Nowitzki und Heinz-Günther Nesselrath Oberon. Ein Gedicht in vierzehn Gesängen / Über eine Anekdote von J. J. Rousseau / Auszug aus Herrn Magellans Zusatz zu des Hrn. Le Begue de Presle Relation des derniers jours de M. Jean Jacques Rousseau / Schreiben eines Nachdruckers an den Herausgeber des T. M. / Dialogen / Lucians Panthea / Auszüge aus den Melanges tirés d’une grande Bibliotheque / Lucians Vertheidigung seiner Panthea / An Olympia. Über eine Handzeichnung von Oesern / Wie man ließt; eine Anekdote / Moralische Probleme Essays / Gedichte / Rezensionen / Anmerkungen / Zusätze März 1780 — Januar 1781 [277 — 289]

De Gruyter Berlin · Boston

Herausgegeben mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.

Gestaltung: Friedrich Forssman. Schrift: Prillwitz von Ingo Preuß. Satz: pagina, Tübingen. Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen. Printed in Germany. ¯ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. © Copyright 2012 by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-11-030056-7

e-ISBN 978-3-11-030064-2

Inhaltsübersicht Oberon. Ein Gedicht in vierzehn Gesängen 4 Über eine Anekdote von J. J. Rousseau 247 Auszug aus Herrn Magellans Zusatz zu des Hrn. Le Begue de Presle Relation des derniers jours de M. Jean Jacques Rousseau 320 Schreiben eines Nachdruckers an den Herausgeber des T. M. 330 Dialogen 372 Lucians Panthea 388 Auszüge aus den Melanges tirés d’une grande Bibliotheque 411 Lucians Vertheidigung seiner Panthea 486 An Olympia. Über eine Handzeichnung von Oesern 506 Wie man ließt; eine Anekdote 508 Moralische Probleme 511 Essays / Gedichte / Rezensionen / Anmerkungen / Zusätze Inhaltsverzeichnis 575

Der Teutsche Merkur vom Jahr 1780. Ihro Röm. Kays. Maj. zugeeignet. Mit Königl. Preuß. und Churfürstl. Brandenburg. allergnäd. Privilegio.

Erstes Vierteljahr, worinn, anstatt der gewöhnlichen 3 ersten Numern, oder Monatsstücke, in Einem Heft geliefert wird

Oberon, ein Gedicht in 14 Gesängen.

Preis des ganzen Jahrgangs. In Weimar 1 Thlr. 16 Ggr. Leipziger Courant. Postfrey durch ganz Teutschland ½ Louisdor. Man kann sich bekanntermaßen bey allen L. Postämtern in Teutschland auf den T. M. abonniren; auch wird solcher ferner, wie bisher, in H a m b u r g auf dem Kayserl. privilegirten Addreß- und Zeit. Comtoir, und überhaupt in allen Buchhandlungen zu haben seyn. Gegen Ende des Aprils wird die Ablieferung dieses Journals wieder in der bisher gewöhnlichen Ordnung geschehen, und solchergestalt monatlich fortgesezt werden.

10

Der Teutsche Merkur vom Jahr 1780. Ihro Römisch-Kayserlichen Majestät zugeeignet. Mit Königl. Preuß. und Churfürstl. Brandenburg. gnädigstem Privilegio.

Erstes Vierteljahr. Weimar.

Oberon. Ein Gedicht in vierzehn Gesängen. Erster Gesang. 1.

Noch einmal sattelt mir den Hippogryfen, ihr Musen, Zum ritt ins alte romantische land! Wie lieblich um meinen entfesselten busen Der holde wahnsinn spielt? Wer schlang das magische band Um meine stirne? Wer treibt von meinen augen den nebel Der auf der Vorwelt wundern liegt? Ich seh, in buntem gewühl, bald siegend, bald besiegt, Des Ritters gutes schwert, der Heyden blinkende säbel.

2.

Vergebens knirscht des alten Sultans zorn, Vergebens dräut ein wald von starren lanzen: Es tönt in lieblichem ton das elfenbeinerne horn, Und, wie ein wirbel, ergreift sie alle die wut zu tanzen. Sie drehn im kreise sich um bis sinn und athem entgeht. Triumf, herr Ritter, triumf! gewonnen ist die Schöne. Was säumt ihr? fort! der wimpel weht; Nach Rom, daß euern bund der heil’ge Vater kröne!

3.

Nur daß der süßen verbotenen frucht Euch ja nicht vor der zeit gelüste! Geduld! der freundlichste wind begünstigt eure flucht, Zween tage noch, so winkt Hesperiens goldne küste. O rette, rette sie, getreuer Scherasmin, Wenn’s möglich ist! — Zu spät! die trunknen seelen hören Sogar den donner nicht. Unglückliche, wohin Bringt euch ein augenblick? Kann liebe so bethören?

4

D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

4.

In welches meer von jammer stürzt sie euch! Wer wird den zorn des kleinen Halbgotts schmelzen? Ach! wie sie arm in arm sich auf den wogen welzen! Noch glücklich durch den trost, zum wenigsten zugleich Eins an des andern brust zu sinken ins verderben. Ach! hoft es nicht! zu sehr auf euch erboßt Versagt euch Oberon sogar den armen trost, Den armen lezten trost des leidenden, zu sterben!

5.

Zu strengern qualen aufgespart Seh ich sie hülflos, nackt, am öden ufer irren; Ihr lager eine kluft, mit einer handvoll dürren Halbfaulem schilf bestreut, und beeren wilder art, Die kärglich hier und dort an kahlen hecken schmoren, All ihre kost! In dieser dringenden noth Kein hüttenrauch von fern, kein hülfewinkend both, Die ganze natur zu ihrem fall verschworen!

6.

Und noch ist nicht des rächers zorn erweicht, Noch hat ihr elend nicht die höchste stuf’ erreicht; Es nährt nur ihre strafbarn flammen, Sie leiden zwar, doch leiden sie beysammen. Getrennt zu seyn, so wie in donner und blitz Der wilde sturm zwei bruderschiffe trennet, Und ausgelöscht, wenn im geheimsten sitz Der hoffnung noch ein schwaches flämmchen brennet:

7.

Dies fehlte noch! — O du, ihr Genius einst, ihr freund! Verdient was liebe gefehlt die rache sonder grenzen? Weh euch! Noch seh ich thränen in seinen augen glänzen, Erwartet das ärgste wenn Oberon weint! — — Doch, Muse, wohin trägt dich die adlersschwinge Der hohen trunknen schwärmerey? Dein hörer steht bestürzt, er fragt sich wie ihm sey, Und was du siehst sind ihm geheimnisvolle dinge.

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8.

Komm, laß dich nieder zu uns auf diesen kanapee, Und, statt zu rufen, ich seh, ich seh, Was niemand sieht als du, erzähl’ uns fein gelassen Wie alles sich begab. Sieh, wie mit lauschendem mund Und weitgeöfnetem aug die hörer alle passen, Geneigt zum gegenseit’gen bund Wenn du sie täuschen kannst sich willig täuschen zu lassen? Wolan! so höret dann die sache aus dem grund!

9.

Der Paladin, mit dessen abenteuern, Wir euch zu ergötzen (sofern ihr noch ergözbar seyd) Entschlossen sind, war seit geraumer zeit Gebunden durch sein wort nach Babylon zu steuern. Was er zu Babylon verrichten sollte, war Halsbrechend werk, sogar in Karl des großen tagen: In unsern würd’ es, auf gleiche gefahr, Um allen ruhm der welt kein junger ritter wagen.

10.

Sohn, sprach zu ihm sein öhm, der heil’ge Vater zu Rom, Zu dessen füßen, mit einem reichlichen strom Bußfert’ger zähren angefeuchtet, Er, als ein frommer christ, erst seine schuld gebeichtet; Sohn, sprach er, da er ihm den ablas segnend gab, Zeuch hin in frieden! Es wird dir wohl gelingen Was du beginnst. Allein vor allen dingen, Wenn du nach Joppen kömmst, besuch das heil’ge grab!

11.

Der Ritter küsset ihm in demuth den pantoffel, Gelobt gehorsam an und zieht getrost dahin. Schwer war das werk, wozu der Kayser ihn Verurtheilt hatte; doch, mit Gott und Sanct Christoffel, Hoft er zu seinem ruhm sich schon herauszuziehn. Er steigt zu Joppen aus, tritt mit dem pilgerstabe Die wallfahrt an zum werthen heil’gen grabe, Und fühlt sich nun an muth und glauben zwiefach kühn.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

12.

Drauf geht es mit verhängtem zügel Auf Bagdad los. Stets denkt er, komt es bald? Allein da lag noch mancher steile hügel Und manche wüste und mancher dicke wald Dazwischen. Und schlimm genug, daß ihm die sprache des landes So fremd als die von Oc den armen heyden war: Ist dies der nächste weg nach Bagdad, fragt er zwar An jedem thor, allein kein mensch verstand es.

13.

Einst traf der weg der eben vor ihm lag Auf einen wald. Er ritt bey sturm und regen Bald links bald rechts den ganzen langen tag, Und mußt oft erst mit seinem degen Durchs wilde gebüsch sich einen ausgang hau’n. Er ritt bergan, um freyer umzuschau’n, Weh ihm! der wald scheint sich von allen seiten, Je mehr er schaut, je weiter auszubreiten.

14.

Was ganz natürlich war däucht ihm ein zauberspiel. Wie wird ihm erst, da in so wilden gründen, Woraus bey hellem tag sich je herauszufinden, Unmöglich schien, die nacht ihn überfiel? Sein ungemach erreichte nun den gipfel. Kein sternchen glimmt durch die verwachsnen wipfel; Er führt sein pferd so gut er kann am zaum, Und stößt bey jedem tritt die stirn an einen baum.

15.

Die dichte rabenschwarze hülle Die um den himmel liegt, der unbekannte wald, Und was zum erstenmal in seine ohren schallt, Der löwen donnerndes gebrülle Tief aus den bergen her, das, durch die todesstille Der nacht noch schrecklicher, von felsen widerhallt, Den mann, der nie gebebt in seinem ganzen leben, Den machte dies zum erstenmal erbeben!

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16.

Auch unser held, wiewohl kein menschensohn Ihn jemals zittern sah, fühlt doch bey diesem ton An arm und knie die sehnen sich entstricken, Und wider willen läufts ihm eiskalt übern rücken. Allein den Mut, der ihn nach Babylon Zu gehen treibt, kann keine furcht ersticken; Und mit gezognem schwert, sein roß stets an der hand, Erreicht er einen pfad, der sich durch felsen wand.

17.

Er war auf diesem weg nicht lange fortgegangen, So glaubt er in der fern den schein von feu’r zu sehn. Der anblick pumpt sogleich mehr blut in seine wangen, Und zwischen zweifel und verlangen Ein menschlich wesen vielleicht in diesen öden höhn Zu finden, fährt er fort dem schimmer nachzugehn, Der bald erstirbt und bald sich wieder zeiget So wie der pfad sich senket oder steiget.

18.

Auf einmal gähnt im tiefsten felsengrund Ihn eine höhle an, vor deren finsterm schlund Ein prasselnd feuer flammt. In wunderbaren gestalten Ragt aus der dunkeln nacht das angestrahlte gestein, Mit wildem gebüsch versezt, das aus den schwarzen spalten Herabnikt und im widerschein Wie grünes feuer brennt. Mit lustvermengtem grauen Bleibt unser ritter stehn den zauber anzuschauen.

19.

Indem schallt aus dem bauch der gruft ein donnernd Halt! Und plötzlich stund vor ihm ein mann von rauher gestalt, Mit einem mantel bedeckt von wilden katzenfellen Der grob zusammengeflickt die rauhen schenkel schlug; Ein graulich schwarzer bart hieng ihm in krausen wellen Bis auf den magen herab, und auf der schulter trug Er einen zedernast, als keule, dick genug Den größten stier auf Einen schlag zu fällen.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

20. Der Ritter, ohne vor dem mann Und seinem zedernbaum und seinem bart zu erschrecken, Beginnt in der sprache von Oc, der einz’gen die er kann, Ihm seinen nothstand zu entdecken. Was hör’ ich? ruft entzückt der alte waldmann aus: O süße musik vom ufer der Garonne! Schon sechzehnmal durchläuft den sternenkreis die sonne, Und alldiezeit entbehr’ ich diesen ohrenschmaus. 21.

Willkommen, edler herr, auf Libanon, willkommen! Wiewohl sich leicht erachten läßt Daß ihr den weg in dieses drachennest Um meinetwillen nicht genommen. Kommt, ruhet aus, und nehmt vorlieb, so gut Als mutter Natur uns hier mit eignen händen thut. Die sonne ist mein koch, und hier in diesem keller Springt tag und nacht mein wein und macht die Augen heller.

22. Mein held, dem dieser gruß gar große freude gab, Folgt ungesäumt dem landsmann in die grotte, Legt traulich helm und panzer ab, Und steht entwafnet da, gleich einem jungen Gotte. Dem waldmann wirds als rühr’ ihn Alquifs stab, Da jener izt den lör des blanken helms entschnallet, Und ihm den schlanken rücken hinab Sein langes gelbes haar in großen ringen wallet. 23. Wie ähnlich, ruft er, o! wie ähnlich, stück vor stück, Stirn, auge, mund, und haar! Wem ähnlich, fragt der Ritter? „Verzeyht mir, junger mann! Es war ein augenblick, Ein traum aus beßrer zeit! so süß! und auch so bitter! Es kann nicht seyn! — Und doch, wie euch dies schöne haar Den rücken herunter fiel, war mir’s ich seh ihn selber Von kopf zu Fuß. Bey Gott! sein bildnis, ganz und gar, Nur Er von breitrer brust, und eure locken gelber.

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24. Ihr seyd, der sprache nach, aus meinem lande; vielleicht Ists nicht umsonst, daß ihr dem guten herrn so gleicht, Den ich, in diesem wilden hayne, So fern von meinem volk, schon sechzehn jahre beweine. Ach! ihn zu überleben war Mein schicksal! Diese hand hat ihm die augen geschlossen, Dies auge sein frühes grab mit treuen zähren begossen, Und izt ihn wieder in euch zu sehn, wie wunderbar!“ 25.

Der zufall spielt zuweilen solche spiele, Versezt der Jüngling. Sey es dann, Fährt jener fort; genug, mein wackrer junger mann, Die liebe, womit ich mich zu euch gezogen fühle, Ist traun! kein wahn — Und gönnet ihr den lohn Daß Scherasmin bey euerm namen euch nenne? „Mein nam ist Hüon, erb und sohn Des braven Siegewin, einst herzogs von Guyenne.“

26. O! ruft der Alte, der ihm zu füßen fällt, So log mein herz mir nicht! O tausendmal willkommen In diesem einsamen unwirthbarn theil der welt, Willkommen, sohn des ritterlichen, frommen, Preiswerthen herrn, mit dem in meiner bessern zeit Ich manches abenteu’r in schimpf und ernst bestanden! Ihr hüpftet noch im ersten flügelkleid Als wir zum heil’gen grab zu fahren uns verbanden. 27.

Wer hätte dazumal gedacht, Daß wir nach achtzehn jahren in wilden felsengründen Auf Libanon uns würden wiederfinden? Verzweifle keiner je, dem in der trübsten nacht Der hoffnung lezte sterne schwinden! Doch, herr, verzeyht daß mich die freude schwazhaft macht. Laßt mich vielmehr vor allen dingen fragen, Was für ein sturmwind euch in dieses land verschlagen?

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

28. Herr Hüon läßt auf einem sitz von moos Beym feuerheerd sich mit dem Alten nieder, Und als er drauf die reisemüden glieder Mit einem trunk, so frisch er aus dem felsen floß, Und etwas honigseim und trocknen datteln gestärket, Beginnt er seine geschichte dem wirth erzählen, der sich Nicht satt an ihm sehen kann, und stets noch was bemerket Worinn sein vor’ger herr dem jungen ritter glich. 29. Der Ritter erzählt, nach art der lieben jugend, Ein wenig breit: wie seine Frau Mutter ihn Bey hofe (dem wahren ort um Prinzen zu erziehn) Gar fleißig zu guter lehr und ritterlicher tugend Erzogen; wie schnell der kindheit lieblicher traum Vorübergeflogen; und wie, sobald ihm etwas pflaum Durchs kinn gestochen, man ihn zu Bourdeaux, von den stufen Des schlosses, mit großem pomp, zum herzog ausgerufen. 30. Und wie sie drauf in eitel lust und pracht Mit jagen, turnieren, banketten, saus und brause, Zwey volle jahre wie einzelne tage verbracht: Bis Amory, der feind von seinem hause, Beym Kayser, dessen huld sein vater schon verscherzt, Ihn hinterrucks gar böslich angeschwärzt; Und wie ihn Karl, jedoch zum schein in allen gnaden, Nach hofe, zum empfang der lehen, vorgeladen. 31.

Wie sein besagter feind, der listige Baron Von Hohenblat mit Scharlot, zweytem sohn Des Kaysers, und dem schlimmsten fürstenknaben Im Christenthum, der lange lust gehegt Zu Hüons land, es heimlich angelegt Auf seinem zug nach hof ihm eine grube zu graben; Und wie sie eines morgens früh Ihm aufgepaßt im wald bey Montlery.

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32. Mein bruder Gerard, der die reise mit uns machte, (So fuhr er fort) ein muntrer fant, Mit seinem falken auf der hand, Entfernt’ im wald, aus kind’scher lust, sich sachte Von unserm trupp, läßt seinen falken loß, Und rennt ihm nach; wir andern zogen Ganz arglos unsern weg, und achteten’s nicht groß Als falk und knab aus unserm blik entflogen. 33.

Auf einmal schlägt ein klägliches geschrey An unser ohr; wir eilen schnell herbey, Und finden Gerardin vom pferde Gestürzt, beschmuzt und blutend auf der erde. Ein edelknecht, den keiner unsrer schaar Erkannte, daß es Scharlot selber war, Stand im begriff ihn waidlich abzuwalken, Und seitwärts hielt ein zwerg mit seinem falken.

34.

Von grimm entbrannt rief ich: du grobian, Was hat der knabe dir gethan, Der wehrlos ist, ihm also mitzuspielen? Zurück, und rühr’ ihn noch mit einem finger an, Wofern dichs jückt mein schwert in deinem wanst zu fühlen. Ha! schrie mir jener zu — bist du’s? Dich sucht ich just. Schon lange dürst ich nach der lust Mein racheglühend herz in deinem blut zu kühlen.

35.

Kennst du mich nicht, so wiß’, ich bin der sohn Des herzogs Dietrich von Ardennen: Dein vater Siegewin (mög’ er im abgrund brennen!) Trug über Meinen einst bey einem ofnen rennen Mit hinterlist den dank davon, Und durch die flucht entgieng er seinem lohn: Allein, ich hab ihm rache geschworen, Du sollst mir zahlen für ihn; da, sieh zu deinen ohren!

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

36.

Und mit dem worte rennt er gegen mich, Der, unbereit zu solchem tanze, Sich’s nicht versah, mit eingelegter lanze. Zum glück pariert’ ich seinen stich Mit meinem linken arm, um den ich in der eile Den mantel schlug, und auf der stell empfieng Mit meinem degenknopf der unhold eine beule So derb, daß ihm davon der athem stracks entgieng.

37.

Er fiel, mit einem wort, um nimmer aufzustehen. Und plözlich liessen sich im walde reuter sehen In großer zahl; doch des erschlagnen tod Zu rächen, war dem feigen troß nicht noth. Sie hielten, während wir des knaben wunde banden, Sich still und fern, bis wir aus ihren augen schwanden; Drauf legten sie den leichnam auf ein roß Und zogen ebnen wegs zum kayserlichen schloß.

38.

Unwissend, wie bey Karln mein handel sich verschlimmert, Verfolg ich meinen weg, des vorgangs unbekümmert. Wir langen an. Mein alter öhm, der Abt Von Saint Denys, ein mann mit weisheit hochbegabt, Führt beym gehör das wort. Wir werden wohl empfangen, Und alles wäre recht erwünscht für uns ergangen: Allein, just wie man sich zur tafel setzen will, Hält Hohenblat vorm schloß mit Scharlots leiche still.

39.

Zwölf knappen tragen sie, in schwarzen flor vermummet, Die hohen stufen hinan, und wer sie sieht verstummet Und steht erstarrt. Sie nehmen ihren lauf Dem saale zu; die thüren springen auf: Da tragen zwölf gespenster eine baare, Mit blutgen linnen bedeckt, bis mitten in den saal. Der Kayser erblaßt, uns allen stehn die haare Zu berg, und mich trifts wie ein wetterstrahl.

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40. Indem tritt Amory hervor, hebt von der leiche Das blut’ge tuch, und — sieh! ruft er dem Kayser zu, „Da ist dein sohn! und hier der frevler, der dem reiche Und dir die wunde schlug, der mörder unsrer ruh! Weh mir! ich kam zu spät dazu! Sich nichts versehend fiel dein Scharlot im gesträuche, Durch meuchelmord, nicht wie in ofnem feld Von rittershand ein ritterlicher held.“ 41.

Soviel verdruß dem alten herrn auch täglich Sein böser sohn gebracht, so blieb er doch sein sohn, Sein fleisch und blut. Erst stand er unbeweglich, Dann schrie er laut vor schmerz, mein sohn! mein sohn! Und warf sich in verzweiflung neben Den leichnam hin. Mir war der bange vaterton Ein dolch ins herz; ich hätt’ um Scharlots leben In diesem augenblick mein bestes blut gegeben.

42. Herr, rief ich, höre mich! Mein will ist ohne schuld; Er gab sich für den sohn des herzogs von Ardennen, Und was er that, bey Gott! es hätte die geduld Von einem Heil’gen morden können! Er schlug den knaben dort, der ihm kein leid gethan, Sprach lästerlich von meines vaters ehre, Fiel unverwarnt mich selber mördrisch an, Den möcht ich sehn, der kalt geblieben wäre? 43.

Ha! schreyt der alte Karl, mich hörend, springt entbrannt Vom leichnam auf, mit löwengrimm im blicke, Reißt einem knecht das eisen aus der hand, Und, hielten die fürsten ihn nicht mit aller macht zurücke, Er hätt’ in seiner wut mich durch und durch gerannt. Auf einmal rüttelt sich der ganze ritterstand; Ein wetterleuchtender glanz von hundert bloßen wehren Scheint stracks in jeder brust die mordlust aufzustören.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

44. Die hall’ erdonnert von wildem geschrey, Das estrich bebt, die alten fenster klirren, Aus jedem mund schallt mord! verrätherey! Die sprachen scheinen sich aufs neue zu verwirren. Man schnaubt, man rennt sich an, man zückt die drohende hand. Der Abt, den noch allein Sanct Benedicts gewand Vor frevel schüzt, hält endlich unsern degen Mit aufgehobnem arm sein scapulier entgegen. 45.

Ehrt, ruft er laut, den heil’gen Vater in mir Des sohn ich bin! Im namen des Gottes dem ich diene Gebiet ich fried! — Er riefs mit einer mine Und einem ton, der heiden zur gebühr Genöthigt hätt’. Und flugs auf einmal legen Des aufruhrs wogen sich, erhellt sich jeder blick, Und jeder dolch und jeder nakte degen Schleicht in die scheide still zurück.

46.

Nun trug der Abt den ganzen verlauf der sache Dem Kayser vor. Die überredung saß Auf seinen lippen. Allein, was half mir das? Die leiche des sohns liegt da, und schreyt um rache. Hier, ruft der vater, sieh, und sprich Dem mörder meines sohns das urtheil! Sprichs für mich! Ja, rachedürstender geist, dein gaumen soll sich laben An seinem blut! Er sterb’ und mäste die raben!

47.

Izt schwoll mein herz empor. Ich bin kein mörder, schrie Ich überlaut. Der richter richtet nicht billig In eigner sache. Der kläger Amory Ist ein verräther, herr! Hier steh ich, frey und willig, Will in sein falsches herz, mit meines lebens fahr, Beweisen, daß er ein schalk und lügner ist, und war Und bleiben wird, so lange sein hauch die luft vergiftet. Sein werk ist alles dies. Er hat es angestiftet!

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48. Ich bin, wie er, von fürstlichem geschlecht, Ein Pair des reichs, und fodre hier mein recht. Der kayser kann mirs nicht versagen! Da liegt mein handschuh, laßt ihn’s wagen Ihn aufzunehmen! und Gott in seinem gericht Entscheide, welchen von uns die stimme dieses blutes Zur hölle donnern soll! Die quelle meines muthes Ist meine unschuld, Herr! Mich schreckt sein donner nicht. 49.

Die fürsten des kayserreichs, so viel von ihnen zugegen, Ein jeder sieht sich selbst in meiner verdammung gekränkt. Sie murmeln, dem meere gleich, wenn sich von fern zu regen Der sturm beginnt; sie bitten, dringen, legen Das recht ihm vor. Umsonst! den starren blick gesenkt Auf Scharlots blut’ges haupt, kann nichts den vater bewegen: Wiewohl auch Hohenblat, der’s für ein leichtes hält Mir obzusiegen, sich unter die bittenden stellt.

50. Herr, spricht er, laß mich gehn, den frevler abzustrafen, Ich wage nichts wo pflicht und recht mich schüzt. Ha! rief ich laut, von schaam und grimm erhizt, Du spottest noch, verräther? Erzittre! immer schlafen Des rächers blitze nicht. Mein schwert, ruft Hohenblat, Soll, mörder, sie auf deine scheitel häufen! Doch Karl, den meine glut nur mehr erbittert hat, Befiehlt der wache, mich zu greifen. 51.

Dies rasche wort empört den ganzen saal Von neuem; alle schwerter blitzen Das ritterrecht, das Karl in mir verlezt, zu schützen. Ergreift ihn, ruft der Kayser abermal; Allein, mit vorgehaltnen klingen, Sieht er, und knirscht vor zorn, die ritter mich umringen. Vergebens droht, schier im gedräng erstickt, Der geistliche herr mit bann und interdikt.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

52.

Des reiches schicksal schien an einem haar zu schweben. Die grauen räthe flehn dem kayser auf den knie’n Dem Recht der ritter nachzugeben: Je mehr sie flehn, je minder rührt es ihn: Bis endlich herzog Nayms (der oft in seinem leben, Wenn Karl den kopf verlohr, den seinen ihm geliehn) Den mund zum ohr ihm hält, dann gegen uns sich kehret, Und zum begehrten kampf des kaysers urlaub schwöret.

53.

Herr Hüon fuhr in seiner erzählung fort: Wie straks auf dieses einz’ge wort Der aufruhr sich gelegt, die ritter alle zurücke Gewichen, und Karl, wiewohl im herzen ergrimmt, Mit stiller wut, im halbentwölkten blicke, Den achten tag zum urtheilskampf bestimmt; Wie beyde theile sich mit großer pracht gerüstet, Und wie, des siegs gewiß, sich Hohenblat gebrüstet.

54.

Der stolze mann, wiewohl in seiner brust Ein kläger pocht der seinen muth erschüttert, War eines arms von eisen sich bewußt, Der manchen wald von lanzen schon zersplittert. Er hatte nie vor einem feind gezittert Und kampf auf tod und leben war ihm lust. Doch all sein trotz und seine riesenstärke Betrogen ihn bey diesem blut’gen werke.

55.

Gekommen war nunmehr der richterliche tag, Versammelt alles volk. Mit meinem silberblanken Turnierschild vor der brust, und, wie ich sagen mag, Mit augen voll liebe begrüßt, erschien ich den schranken. Schon stand der kläger da. In einem erker lag Der alte Karl, umringt von seinen fürsten, Und schien, in offenem vertrag Mit Amory, nach meinem blut zu dürsten.

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56.

Die sonne wird getheilt. Die richter setzen sich. Mein gegner scheint vor ungeduld zu brennen, Bis die trompete ruft. Nun ruft sie, und wir rennen, Und treffen so gewaltiglich Zusammen, daß aufs knie die rosse stürzen, und ich Und Hohenblat uns kaum im sattel halten können. Eilfertig machen wir uns aus den bügeln los, Und nun, in einem blitz, sind beyde schwerter bloß.

57.

Daß ich von unserm kampf dir ein gemählde mache Verlangst du nicht. An grimm und stärke war, Und an erfahrenheit, mein gegner offenbar Mir überlegen. Doch, die unschuld meiner sache Beschüzte mich, und machte meine kraft Dem willen gleich. Der sieg blieb lange zweifelhaft; Schon floß aus manchem quell des klägers blut herunter, Und Hüon war noch unverlezt und munter.

58.

Der wilde Amory, wie er sein dampfend blut Den panzer färben sieht, entbrennt von neuer wuth. Er stürmt auf Hüon ein, als wie ein ungewitter Das alles vor sich her zertrümmert und verheert, Blizt schlag auf schlag, so daß der junge ritter Der überlegnen macht sich nur mit müh erwehrt. Er weicht, doch stets im kreis, und hält, mit festem blicke Und rastlos schnellem arm, des gegners schwert zurücke.

59.

Kaum sieht ihn Der erschöpft und athemlos und bleich, So faßt er straks mit beyden händen Sein mächtig schwert, den kampf auf Einen schlag zu enden. Doch Hüons glück entglischt dem fürchterlichen streich, Und bringt, eh jener sich ins gleichgewicht zu schwingen Vermag, da wo der helm sich an den kragen schnürt, So einen hieb ihm bey, daß ihm die ohren klingen, Und die entnervte hand den degengriff verliehrt.

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60. Der stolze sinkt zu seines gegners füßen, Und Hüon, mit gezücktem schwert, Dringt auf ihn ein. Entlade dein gewissen, Ruft er, wenn noch das leben einen werth In deinen augen hat. Gesteh es auf der stelle — Bandit, schreyt Amory, indem er alle kraft Zum lezten stoß mit grimm zusammenraft, Nimm dies und folge mir zur hölle! 61.

Zum glücke streift der stoß, mit ungewisser hand Vom boden auf geführt, durch eine schnelle wendung Die Hüon macht, nur an dem fleischichten rand Des linken arms; allein, der Ritter, in der blendung Des ersten zorns, vergißt, das Hohenblat, Um öffentlich vor Karln die wahrheit kund zu machen, Noch etwas athem nöthig hat, Und stößt sein breites schwert ihm wüthend in den rachen.

62. Der frefler speyt in wellen rother flut Die schwarze seele aus. Der sieger steht, entsündigt Und rein gewaschen in seines klägers blut, Vor allen augen da. Des herolds stimme verkündigt Es laut dem volk. Ein helles jubelgeschrey Schallt an die wolken. Die Ritter eilen herbey Das blut zu stillen, das an des panzers seiten Herab ihm quillt, und ihn zum Kayser zu begleiten. 63.

Doch Karl (so fährt der junge Ritter fort Dem mann vom felsen zu erzählen) Karl hielt noch seinen groll. Kann dieser neue mord Mir, rief er, meinen sohn beseelen? Ist Hüons unschuld anerkannt? Ließ Hohenblat ein wort von widerruf entfallen? Auf ewig sey er dann aus unserm Reich verbannt, Und all sein land und gut der krone heimgefallen!

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64.

Streng war dies urtheil, streng der mund Aus dem es gieng: allein, was konnten wir dagegen? Das einz’ge Mittel war aufs bitten uns zu legen. Die Pairs, die Ritterschaft, wir alle knieten, rund Um seinen thron, uns schier die kniee wund, Und gaben’s endlich auf ihn jemals zu bewegen; Als Karl zulezt sein langes schweigen brach: Wohlan, ihr Fürsten und Ritter, ihr wollts, wir geben nach.

65.

Doch höret den beding, den nichts zu widerrufen Vermögend ist! — Hier neigt’ er gegen mich Herunter zu des thrones stufen Den zepter — Wir begnad’gen dich: Allein, aus allen unsern reichen Soll dein verbannter fuß zur stunde straks entweichen, Und, bis du stück vor stück mein Kayserlich gebot Vollbracht, ist wiederkunft unmittelbarer tod.

66.

Zeuch hin nach Babylon, und in der festlichen stunde Wann der Kalif’, im staat, an seiner tafelrunde, Mit seinen Emirn sich beym hohen mahl vergnügt, Tritt hin, und schlage dem, der ihm zur linken liegt, Den kopf ab, daß sein blut die tafel überspritzet. Ist dies gethan, so nahe züchtig dich Der erbin seines throns, die ihm zur rechten sitzet, Und küß’ als deine braut sie dreymal öffentlich.

67.

Und wenn dann der Kalif, der einer solchen scene In seiner eignen gegenwart Sich nicht versah, vor deiner kühnheit starrt, So wirf dich, an der goldnen lehne Von seinem stuhle, hin, nach Morgenländer art, Und, zum geschenk für mich, das unsre freundschaft kröne, Erbitte dir von ihm vier seiner backenzähne Und eine handvoll haar aus seinem grauen bart.

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68.

Geh hin, und wie gesagt, eh du gestraks vollzogen Was ich dir hier von stück zu stück gebot, Ist deine wiederkunft unmittelbarer tod. Wir bleiben übrigens in gnaden dir gewogen. Der Kayser sprachs und schwieg. Allein wie uns dabey Zu muthe war, ist nothlos zu beschreiben. Ein jeder sah, daß so gewogen bleiben Nichts besser als ein todesurtheil sey.

69.

Ein dumpfes murren begann im tiefen saal zu wittern. Bey Sankt Georg (sprach einer von den Rittern Der auf der Lanzelot und Tristan rauher bahn Manch abentheur mit ehren abgethan) Sonst pfleg ich auch nicht leicht vor einem ding zu zittern; Setz einer seinen kopf, ich setz ihm meinem dran: Doch was der Kayser da dem Hüon angesonnen Hätt auch, so brav er war, Herr Gawin nicht begonnen!

70.

Was sag ich viel? Es war zu offenbar Daß Karl durch dies gebot mir nach dem leben trachte. Doch, wie es kam, ob es verzweiflung war, Ob ahnung, oder trotz, was mich so tollkühn machte, Genug, ich trat vor ihn und sprach mit zuversicht: Was du befohlen, herr, kann meinen muth nicht beugen. Ich bin ein Frank! Unmöglich oder nicht, Ich unternehm’s, und seyd ihr alle zeugen!

71.

Und nun, kraft dieses worts, mein guter Scherasmin, Siehst du mich hier, nach Babylon zu reisen Entschlossen. Willst du mir dahin Den nächsten weg aus diesen bergen weisen, So habe dank; wo nicht, so mach ich’s wie ich kann. Mein bester herr, versezt der Felsenmann, Indem die zähren ihm am bart herunter beben, Ihr ruft wie aus dem grab mich in ein neues leben!

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72.

Hier schwör’ ich euch, und da, zum heil’gen pfand Ist diese dürre zwar doch nicht entnervte hand, Mit euch, dem theuren sohn und erben Von meinem alten herrn, zu leben und zu sterben. Das werk wozu der Kayser euch gesandt Ist schwehr, allein dafür auch ehre zu erwerben! Genug, ich führ euch hin, und steh euch festen mut’s Bis auf den lezten tropfen bluts.

73.

Der junge Fürst, gerührt von soviel treue, Fällt dankbarlich dem Alten um den hals. Drauf legen sich die beyden auf die streue, Und Hüon schläft so gut als wär’s auf Pflaum. Und als Der tag erwacht, erwacht mit muntern blicken Der Ritter auch, schnallt seine rüstung an, Der Alte nimmt den quersack auf den rücken, Den knittel in die hand, und wandert frisch voran.

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Oberon Zweyter Gesang. 1.

So zieht das edle Paar, stets fröhlich, wach und munter, Bey sonnenschein und sternenlicht Zween tage schon den Libanon herunter; Und wenn die mittagsglut sie auf die scheitel sticht, Dient hohes Gras im schatten alter zedern Zum ruheplatz; derweil in bunten federn Das leichte volk der luft die silberkehlen stimmt, In ästen buhlt und theil an ihrer mahlzeit nimmt.

2.

Am dritten morgen läßt ein kleiner haufen reuter Sich ziemlich nah auf einer höhe sehn. Es sind Araber, spricht zu Hüon sein begleiter, Und aus dem weg dem rohen volk zu gehn, Wo möglich, wäre wohl das beste; Ich kenne sie als unverschämte gäste. Ey, ey, wo denkst du hin, erwiedert Siegwins sohn, Wenn hörtest du, daß Franken je geflohn?

3.

Die söhne der wüste, von fern magnetisch angezogen Von Hüons helm, der ihnen im sonnenglanz Entgegenblizt, als wär’ er ganz Karfunkel und rubin, sie kommen mit pfeil und bogen, Den säbel gezückt, im sturm herangeflogen. Ein mann zu fuß, ein mann zu pferd Scheint ihnen kaum des Angriffs werth; Allein sie fanden sich betrogen.

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4.

Der junge held, bedeckt mit seinem schild, Sprengt unter sie, und wirft mit seinem speere Den, der ihr führer schien, so kräftig von der mähre, Daß ihm ein strom von blut aus mund und nase quillt. Nun stürzen allezumal, des hauptmanns fall zu rächen, Auf seinen sieger zu, mit hauen und mit stechen; Allein von Scherasmin, der ihm den rücken deckt, Wird auf den ersten schlag ein Pocher hingestreckt:

5.

Und auf den andern troß arbeitet unser Ritter So unverdrossen los, daß bald ein zweyter und dritter Den sattel räumt. Auf jeden frischen zug Flog hier ein kopf, und dort ein arm, den säbel Noch in der faust. Nicht minder kräftig schlug Der Alte zu mit seinem luft’gen hebel. Zu ihrem Mahon schreyn die Heiden fluchend auf, Und wer noch fliehen kann, der flieht in vollem lauf.

6.

Das feld liegt grauenhaft mit leichen und mit stümmeln Von roß und mann bedeckt, die durch einander wimmeln. Der held, sobald sein neuer spießgesell Das beste roß, das seinen herrn verlohren, Nebst einem guten schwert sich aus der beut’ erkohren, Spornt seinen schnaubenden hengst und eilet vogelschnell Den thälern zu, die sich in unabsehbarn weiten An des gebürges fuß vor ihrem blick verbreiten.

7.

Es schien ein wohlgebautes land, Mit bächen überall durchschnitten, Mit schaafen die anger bedeckt, die auen im blumengewand, Und zwischen palmen die friedlichen hütten Der braunen bewoner verstreut, die froh ihr tagwerk thun, In ihrer armut reich sich dünken, Und wenn sie hungrig und müd in kühlen schatten ruhn, Zum rohen bäurischen mahl dem pilger freundlich winken.

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8.

Hier läßt der Ritter, da ihn die sonne zu drücken begann, Sich brodt in frische milch von einer hirtin brocken. Das gute volk begafft, zur seite, halberschrocken, Wie er im grase liegt, den fremden eisernen mann; Allein da blick und ton ihm bald ihr herz gewann, So wagen schon kinder sich hin und spielen mit seinen locken. Den tapfern mann ergözt ihr traulich frohes gewühl, Er wird mit ihnen kind, und theilt ihr süßes spiel.

9.

Wie selig, denkt er, wär’s in diesen hütten wohnen, Vergeblicher wunsch! Ihn ruft sein schicksal anderwärts. Der abend winkt. Beym scheiden wallt sein herz, Und, um dem guten volk das freundliche mahl zu lohnen, Wirft Hüon eine handvoll gold Der wirthin in den schoos. Allein die glücklichen wußten Nicht was es war, und übten das gastrecht ohne sold, So daß die herrn ihr gold nur wieder nehmen mußten.

10.

Nun ritten sie, bis endlich, da der tag Zu dämmern izt begann, ein wald vor ihnen lag. Freund, spricht der Paladin zum Alten, Mich brennt’s wie feu’r bis ich dem Kayser wort gehalten. Den nächsten weg nach Bagdad wolltest du Mich führen? Mir ists, ich sey vier jahre schon geritten. Den nächsten weg, versezt sein spießgesell, geht mitten Durch diesen wald; allein, ich rath euch nicht dazu.

11.

Man spricht nicht gut von ihm; zum wenigsten noch keiner Der sich hinein gewagt, kam jemals wieder ’raus. Ihr lächelt? Glaubt mirs, herr, ein übellauniger kleiner Boshafter Kobolt hält in diesem walde haus. Es wimmelt drinn von füchsen, hirschen, rehen, Die menschen waren so gut als wir. Der himmel weiß in welches wilde thier Wir, eh es morgen wird, uns umgekleidet sehen.

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12.

Geht nur, erwiedert Siegwins sohn, Durch diesen wald der weg nach Babylon, So fürcht’ ich nichts. — Herr, laßt auf meinen knieen Euch bitten! Es ist, bey Gott! mir mehr um euch als mich. Denn gegen diesen geist, das glaubt mir sicherlich, Hilft weder gegenwehr noch fliehen. Mit fünf, sechs tagen später ists gethan; Und ach! ihr kömmt noch stets zu früh in Bagdad an!

13.

Wenn du dich fürchtest, spricht der ritter, So bleibe du! Ich geh, mein schluß ist fest. Das nicht, ruft Scherasmin: der tod schmeckt immer bitter, Allein, ein schelm der seinen herrn verläßt! Wann ihr entschlossen seyd, so folg ich ohne zaudern, Und helf uns Gott und unsre Frau zu Acqs! Wohlan, ruft Hüon, komm! und reitet bleich wie wachs Den wald hinein; der Alte folgt mit schaudern.

14.

Kaum war er in der dämmerung Zweyhundert schritte fortgetrottet Als links und rechts in vollem sprung Ein heer von hirschen und reh’n sich ihnen entgegen rottet. Sie schienen, mit thränen im warnenden blick, (Wie Scherasmin, wiewohl bey wenig lichte, Bemerken will) aus mitleid ihn zurück Zu scheuchen, als sprächen sie: o, flieht ihr armen wichte!

15.

Nun, merkt ihr, (flüstert er zum Ritter) wie es steht? Und werdet ihr ein andermal mir glauben? Triffts nicht ganz wörtlich ein? Die thiere, die ihr seht, Die aus erbarmen uns so stark entgegen schnauben, Sind menschen, sag ich euch; und wenn ihr weiter geht, Glaubt mir, so haben wir den Kobold auf der hauben. Seyd nicht so hart und rennt aus Eigensinn, Trotz eines freundes rath, in euer unglück hin!

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16.

Wie, Alter, spricht der held, ich geh mit diesen schritten Nach Bagdad, den Kalifen um eine handvoll haar Aus seinem bart und vier von seinen zähnen zu bitten, Und du verlangst, ich soll von ungewisser fahr Mich schrecken lassen? Wo ist dein sinn geblieben? Wer weiß, der Kobold ist vielleicht mein guter freund. Mit diesen wenigstens ists nicht so schlimm gemeint; Sieh, wie sie all in einem huy zerstieben!

17.

Indem ers sagt, so sprengt er auf sie zu, Und alles weicht wie luft und ist im huy verflogen. Herr Hüon und sein führer zogen Nun eine weile fort in ungestörter ruh, Stillschweigend beyde. Der tag war nun gesunken, Und ihren mohnsaft goß die braune nacht herab; Rings um sie lag schon alles schlummertrunken, Und durch den ganzen wald war’s stille wie im grab.

18.

Zulezt kann länger sich der Alte nicht entbrechen; Herr, spricht er, stör’ ich euch in einem grillenplan So haltet mirs zu gut; ’s ist eine meiner schwächen, Ich läugn’ es nicht; allein, im dunkeln muß ich sprechen, Das war so meine art von meiner kindheit an. Es ist so stille hier als sey der große Pan Gestorben. Tönte nicht der hufschlag unsrer pferde, Ich glaube daß man gar den maulwurf scharren hörte.

19.

Ihr denkt ich fürchte mich; doch, ohne pralerey, Denn, was ein mensch auch hat, so sinds am ende gaben, Auch leben manche noch, die es gesehen haben, Wo schwerter klirren, im feld und im turney, Mann gegen mann, auf stechen oder hauen, Wär’s auch im nothfall zween und drey An ihrer acht, ich bin dabey! Da kann man doch auf seine knochen trauen.

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20. Kurz, hat ein feind nur fleisch und blut, Ich bin sein mann! Allein, das muß ich frey gestehen, Um mitternacht um einen kirchhof gehen Das lupft ein wenig mir den hut. Sezt, einem geist, der queerfeld mir begegnet, Steht meine physionomie Nicht an: was hilft mir arm und degen, ventregris! Wenn’s unsichtbare schläg’ auf meinen rücken regnet? 21.

Gesetzt, wie man exempel hat, Ich hau ihm auch den schädel glatt vom leibe: Noch weil er rollt, steht schon an dessen statt Ein andrer da. Oft rennt, als wie zum zeitvertreibe, Der rumpf sogar in vollem lauf Dem kopfe nach, und setzt ihn wieder auf Als wär es nur ein hut, dem ihm der wind genommen: Nun, bitt ich euch, wie ist so einem beyzukommen?

22. Zwar, wie ihr wißt, sobald der hahn gekräht, So ists mit all dem volk das zwischen eilf und zwölfen Im dunkeln schleicht, gespenstern, oder elfen, Als hätte sie der wind davon geweht. Allein, der spuk der hier sein wesen treibet, Ist euch ein geist von ganz besondrem schlag; Der hält hier ofnen hof, ißt, trinket, lebt und leibet Wie unser eins, und geht bey hellem tag. 23. Um meine neugier aufzuschrauben Hast du dein bestes gethan, erwiedert Siegwins sohn; Man spricht von geistern soviel, und lügt soviel davon, Daß layen unsrer art nicht wissen was sie glauben. Einst kam an unsern hof ein tiefstudierter mann (Der pfarrer nannt ihn einen M — anichäer) Der schwur, es wäre gar nichts dran, Und schimpfte weidlich los auf alle geisterseher.

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24. Sie zankten oft sich drum bey einer flasche wein, Und wenn das letzte glas zu kopf zu gehn begonnte, So mischten sie soviel latein und griechisch drein Daß ich kaum dann und wann ein wort verstehen konnte. Gut, dacht ich dann, ihr schwatzt wohl sehr gelehrt, Allein, man weiß doch nichts als was man selbst erfährt. Ich wollte wohl, ein geist erwiese mir die ehre Und käm und sagte mir was an der sache wäre. 25.

Indem sah unser wandernd paar Sich unvermerkt in einem park befangen, Durch den sich hin und her so viele wege schlangen, Daß irre drinn zu gehn, schier unvermeidlich war. Der mond war eben itzt vollwangig aufgegangen, Um durch ein trüglich dunkelklar Die augen, die nach einem ausweg irren, Mit falschen lichtern zu verwirren.

26. Herr, sagte Scherasmin, hier ists drauf angesehn Uns in ein labyrinth zu winden. Der einz’ge weg sich noch herauszufinden Ist auf gut glück der nase nachzugehn. Der rath (der weiser ist als mancher klügling meynet) Führt unsre frommen wandrer bald Zum mittelpunkt, wo sich der ganze wald In einen großen stern vereinet. 27.

Und in der fern erblicken sie in büschen Ein schönes schloß, das, wie aus abendroth gewebt, Sich schimmernd in die luft erhebt. Mit augen, worinn sich lust und grauen mischen Und zwischen traum und wachen zweifelhaft Schwebt Hüon sprachlos da und gafft: Als plötzlich auf die goldnen thüren flogen Und rollt ein wagen daher, den leoparden zogen.

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28. Ein knäblein, schön als wie auf seiner mutter schooß Der Liebesgott, saß in dem silberwagen, Die zügel in der hand. Da kömmt er auf uns los, Mein bester herr, ruft Scherasmin mit zagen, Indem er Hüons pferd beym zaume nach sich zieht; Wir sind verlohren! flieht, o flieht! Da kommt der zwerg! — Er ist so schön, spricht jener — Nur desto schlimmer! fort! und wär’ er zehnmal schöner! 29. Flieht, sag’ ich euch, sonst ists um uns gethan! Der Ritter sträubt sich zwar, allein da hilft kein sträuben; Der alte jagt im schnellsten flug voran Und zieht ihn nach, und hört nicht auf zu treiben, Zu jagen über stock und stein, Durch wald und busch, und über zaun und graben Zu setzen, bis sie aus dem hayn Ins freye sich gerettet haben. 30. Indem sie fliehn verfolgt sie ein gewitter Mit regen, sturm und blitz. Die fürchterlichste nacht Verschlingt den mond; es donnert, saußt und kracht Rings um sie her als schlüg’s den ganzen wald in splitter; Kurz, alle element’ im streit Zerkämpften sich mit zügellosem grimme: Doch mitten aus dem sturm ertönt von zeit zu zeit, Mit liebevollem ton, des geistes sanfte stimme. 31.

Was fliehst du mich? du fliehst vor deinem glück; Vertrau dich mir, komm, Hüon, komm zurück! Herr, wenn ihr’s thut, seyd ihr verlohren, Schreyt Scherasmin; fort, fort, die finger in die ohren, Und sprecht kein wort! er hat nichts guts im sinn! Nun geht’s aufs neu durch dick und dünn, Vom sturm umsaußt, vom regen überschwemmet, Bis eine klostermau’r die raschen reuter hemmet.

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32. Ein neues abentheu’r! Der tag da dies geschah War just das nahmensfest der heil’gen Agatha, Der schützerin von diesem jungfernzwinger. Nun lag, kaum einen büchsenschuß Davon, ein stift voll wohlgenährter jünger Des heil’gen Abts Antonius; Und beyde hatten sich in diesen abendstunden, Zu einer betefahrt freundnachbarlich verbunden. 33.

Sie kamen just zurück, als, nah am Klosterbühl, Indem sie paar und paar in schönster ordnung wallten, Der rest des sturms sie überfiel. Kreuz, fahnen, scapulier, sind toller winde spiel, Und strömend dringt die flut bis in des schleyers falten. Umsonst ist alle müh die ordnung zu erhalten. Die andacht reißt. Mit komischem gewühl Rennt alles hin und her in seltsamen gestalten.

34.

Hier wadet bis ans knie geschürzt Ein nönnchen im morast; dort glitscht ein mönch im laufen, Und, daß er nicht auf einen haufen Von schwesterchen, die vor ihm rennen, stürzt, Ergreift er in der angst die Domina beym beine. Doch endlich, da der sturm sein äusserstes gethan, Langt, athemlos, die ganze Chorgemeine, Durchnäßt und wohlbesprizt, im klostervorhof an.

35.

Hier war noch alles voll getümmel, Als durch das thor, das weitgeöfnet stund, Mein Scherasmin sich mitten ins gewimmel Der klosterleute stürzt; denn auf geweyhtem grund Ists, wie er glaubt, so sicher als im himmel. Bald kömmt auch Hüon nach, und, wie er gleich den mund Eröfnen will, die freyheit abzubitten, So steht mit einem blitz der Zwerg in ihrer mitten.

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36.

Auf einmal ist der himmel wolkenleer, Und alles hell und mild und trocken wie vorher. Schön, wie im morgenroth ein neugebohrner engel, Steht er, gestüzt auf einen lilienstängel, Und um die schultern hängt sein elfenbeinern horn. So schön er ist, doch kömmt ein unbekanntes grauen Sie alle an; denn ernst und stiller zorn Wölkt sich um seine augenbrauen.

37.

Er setzt das horn an seine lippen an Und bläßt den lieblichsten ton. Straks übermannt den Alten Ein schwindelgeist; er kann sich tanzens nicht enthalten, Packt eine nonne ohne zahn, Die vor begierde stirbt ein tänzchen mit zu machen, Und hüpft und springt, als wie ein junger bock So rasch mit ihr herum, daß schleyertuch und rock Weit in die lüfte wehn, zu allgemeinem lachen.

38.

Bald faßt die gleiche wut den ganzen klosterstand; Ein jeder Lollhart nimmt sein nönnchen bey der hand Und ein ballet beginnt, wie man sobald nicht wieder Eins sehen wird. Die schwestern und die brüder Vergessen aller zucht und regel ganz und gar. Es ist ein wahrer tanz von faunen und mänaden: Hier flieht ein weyhel weg, dort winken runde waden, Auch wohl noch mehr, und keine wirds gewahr.

39.

Der Ritter ganz allein steht fest auf seinen Füßen, Und lacht (wer hätt’ auch hier nicht lachen müssen?) Aus voller brust, dem veitstanz zuzusehn; Wie hoch die dicken wänste hüpfen, Wie flink die nonnen daher auf kurzem grase schlüpfen, Wie schnell und üppig sich die runden hüften drehn; Kurz, wie, des wohlstands quitt, dem sie aus zwang gefröhnet, Die liebe natur sich tummelt, bäumt und dehnet.

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40. Indessen naht sich ihm der schöne Zwerg, und spricht In seiner sprach ihn an, mit ernstem angesicht: Warum entfliehn vor mir, o Hüon von Güyenne? — Wie? du verstummst? beym Gott des Himmels den ich kenne Antworte mir! — Nun kehrt die zuversicht In Hüons brust zurück. Was willst du mein, erwiedert Der jüngling. — Fürchte nichts, spricht jener; wer das licht Nicht scheuen darf, der ist mit mir verbrüdert. 41.

Ich liebte dich von deiner kindheit an, Und was ich gutes dir bestimme An keinem Adamskind hab ich es je gethan! Dein herz ist rein, dein wandel ohne krümme, Wo pflicht und ehre ruft, fragst du nicht fleisch und blut, Hast glauben an dich selbst, hast in der prüfung muth; So kann mein schutz dir niemals fehlen, Denn meine strafgewalt trift nur befleckte seelen.

42. Wär nicht dies klostervolk ein heuchlerisch gezücht, Belög ihr keuscher blick, ihr leiser bußton nicht Ein heimlich strafbares gewissen, Sie stünden, trotz dem horn, wie du auf ihren füßen. Auch Scherasmin, für den sein redlich auge spricht, Muß seiner zunge frefel büßen. Sie alle tanzen nicht weil sie der kitzel sticht, Die armen tanzen weil sie müssen. 43.

Indem beginnt ein neuer wirbelwind Den Faunentanz noch schneller umzuwälzen; Sie springen so hoch, und drehn sich so geschwind, Daß sie in eigner glut wie schnee am thauwind schmelzen, Und jedes zappelnde herz bis an die kehle schlägt. Des Ritters menschlichkeit erträgt Den anblick länger nicht; er denkt, es wäre schade Um all das junge blut, und fleht für sie um gnade.

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44. Der schöne Zwerg schwingt seinen lilienstab, Und stracks zerrinnt der dicke zauberschwindel; Versteinert stehn sankt Antons fette mündel, Und jedes Nönnchen, bleich als stieg es aus dem grab, Eilt, schleyer, rock und was sich sonst im springen Verschoben hat, in ordnung schnell zu bringen. Nur Scherasmin, zu alt für solchen scherz, Sinkt kraftlos um, und glaubt izt berstet ihm das herz. 45.

Ach! keucht er, gnädger herr, was sagt ich euch? Nicht weiter, Freund Scherasmin! fällt ihm der Geist ins wort: Ich kenne dich als einen wackern streiter, Nur läuft dein kopf manchmal mit deinem herzen fort. Warum, auf andrer wort, so rasch mich zu verlästern? Fy! graulich schon von Bart, am urtheil noch so jung! Nimm in geduld die kleine züchtigung! Ihr andern, geht, und büßt für euch und eure schwestern!

46.

Das Klostervolk schleicht sich beschämt davon. Drauf spricht der schöne Zwerg mit huld zu Scherasmine: Wie? Alter, immer noch des argwohns düstre mine? Doch, weil du bieder bist, verzeyht dir Oberon. Komm näher, guter alter zecher, Komm, fass’ ein herz zu mir und fürchte keinen trug; Du bist erschöpft; nimm diesen becher Und leer ihn aus auf Einen zug.

47.

Mit diesem wort reicht ihm der Elfenkönig Ein trinkgeschirr von feinem gold gedreht. Der Alte, der mit noth auf seinen beinen steht, Stuzt, wie er leer es sieht, nicht wenig. Ey, ruft der Zwerg, n o c h keine zuversicht? Frisch an den mund gesezt, und trink, und zweifle nicht. Der gute mann gehorcht, zwar nur mit halbem willen, Und sieht das gold sich flugs mit wein von Langon füllen.

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48. Und als er ihn auf einen zug geleert, Ists ihm, als ob mit wollustvoller hitze Ein neuer lebensgeist durch alle adern blitze. Er fühlt sich wieder so frisch, so stark und unversehrt, Als wie er war, da er, in seinen besten jahren, Mit seinem ersten herrn zum heil’gen grab gefahren. Voll ehrfurcht und vertraun fällt er dem schönen zwerg Zu fuß; nun, ruft er, steht mein glaube wie ein berg! 49.

Drauf spricht der Geist mit ernstem blick zum Ritter: Mir ist der auftrag wohl bekannt, Womit dich Karl nach Babylon gesandt. Du siehst, was für ein ungewitter Er dir bereitet hat; sein groll verlangt dein blut. Allein, was du mit glauben und mit mut Begonnen hast, das helf ich dir vollenden; Da, Hüon, nimm dies horn aus meinen händen.

50. Ertönt mit lieblichem ton von einem sanften hauch Sein schneckengleich gewundner bauch, Und dräuten dir mit schwert und lanzen Zehntausend mann, sie fangen an zu tanzen, Und tanzen ohne rast im wirbel, wie du hier Ein beyspiel sahst, bis sie zu boden fallen: Doch, lässest du’s mit macht erschallen, So ists ein ruf, und ich erscheine dir. 51.

Dann siehst du mich, und wär’ ich tausend meilen Von dir entfernt, zu deinem beystand eilen. Nur spare solchen ruf bis höchste noth dich dringt. Auch diesen becher nimm, der sich mit wein erfüllet, Sobald ein biedermann ihn an die lippen bringt. Der quell versieget nie woraus sein nektar quillet: Doch bringt ein schalk ihn an des mundes rand So wird der becher leer, und glüht ihm in der hand.

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52.

Herr Hüon nimmt mit dank die wundervollen pfänder Von seines neuen schützers huld; Und kaum vergülden sich des ostens purpurränder, So forscht er schon, mit edler ungeduld, Von Oberon den kürzesten der wege. Zeuch hin, spricht Oberon, nachdem er ihn belehrt; Und daß ich nie die stunde sehen möge, Da Hüons herz durch schwachheit sich entehrt!

53.

Nicht daß ich deinem mut und herzen Mißtraue! aber, ach! du bist ein adamskind, Aus weichem ton geformt, und für die zukunft blind! Zu oft ist kurze lust die quelle langer schmerzen! Vergiß der warnung nie, die Oberon dir gab! Drauf rührt er ihn mit seinem lilienstab, Und Hüon sieht aus seinem liebevollen Azurnen augenpaar zwoo helle perlen rollen.

54.

Und wie er treu und pflicht ihm heilig schwören will Entschwunden war der waldgeist seinem blicke, Und nur ein lilienduft blieb wo er stand zurücke. Betroffen, sprachlos, steht der junge Ritter still, Reibt aug’ und stirn; wie einer, im erwachen Aus einem schönen traum, sich sucht gewiß zu machen, Ob das was ihn mit solcher lust erfüllt Was würklichs ist, ob nur ein nächtlich bild?

55.

Doch, wenn er auch gezweifelt hätte, Der becher und das horn, das ihm an goldner kette Um seine schultern hieng, ließ keinem zweifel platz. Zumal der becher dünkt dem neuverjüngten alten Das schönste stück im ganzen Feenschatz. Herr, spricht er, im begriff den bügel ihm zu halten, Noch einen zug, dem guten zwerg zum dank! Sein wein, bey meiner treu! ist ächter göttertrank!

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

56.

Und nun, nachdem sie sich gestärkt zur neuen reise Giengs über berg und thal, nach alter Ritter weise Den ganzen tag; und nur ein theil der kurzen nacht Wird unter bäumen zugebracht. So zogen sie, ohn’ alles abentheuer Vier tage lang, der Ritter schon im geist Zu Babylon, und glücklich sein Getreuer, Daß Siegwins sohn es ist, dem er zur seite reist.

O b e r o n¼.½ Z w e y t e r G e s a n g

37

Oberon Dritter Gesang. 1.

Am vierten, da ihr weg sich durch gebürge stahl, Auf einmal sehen sie in einem engen thal Viel reiche zelten aufgeschlagen, Und Ritter, mehr als zwanzig an der zahl, Die gruppenweis umher in palmenschatten lagen. Sie ruhten, wie es schien, nach ihrem mittagsmahl; Indessen helm’ und speer’ an niedern ästen hiengen, Und ihre pferde frey im graseweiden giengen.

2.

Kaum wird die ritterliche schaar Der beyden Reisigen noch auf der höh’ gewahr, So raffen alle von der erde In hast sich auf aus ihrer mittagsruh, Als ob zum kampf geblasen werde. Das ganze thal wird reg’ in einem nu, Man zittert hin und her, man läuft den waffen zu, Hier wapnen Ritter sich, dort Knappen ihre pferde.

3.

Laß sehen, spricht der Paladin, Was diese ritterschaft, die dem verdauungswerke So friedsamlich kaum obzuliegen schien, In solche unruh setzt. Wir selber, wie ich merke, Erwiedert Scherasmin; seyd wohl auf eurer hut, Sie kommen uns in halbem mond entgegen. Herr Hüon zieht mit kaltem blut den degen, O, spricht er, der ist mir für alles gut.

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4.

Indem tritt aus dem kreis, in feinem wehrgeschmeide, Ein schöner mann hervor, grüßt höflich unsre beyde, Und bittet um gehör. Herr Ritter lobesam, Spricht er, wer noch von unserm stand und orden Von ungefähr zu diesen zelten kam, Ist von uns angehalten worden. Es steht in eurer wahl, ein speerchen hier zu brechen, Wo nicht, zu thun, warum wir euch besprechen.

5.

Und was? fragt Hüon züchtiglich. Nicht weit von hier, spricht jener, mästet sich In einer festen burg der Riese Angulaffer; Ein arger Christenfeind, ein wahrer wütherich, Auf schöne weiber wie ein Kaffer, Und, was das schlimmste ist, fest gegen hieb und stich, Kraft eines rings, den er dem zwerg genommen, Aus dessen park die Herr’n vermuthlich hergekommen.

6.

Mein Herr, ich bin ein Prinz vom berge Libanon. Ich hatte mich dem dienst der Schönen aller Schönen Drey jahre lang verdingt, und ohne minnelohn, Bis sie erflehn sich ließ, so viele treu zu krönen. Doch, in der hochzeitnacht, da ich als bräutigam Ihr gleich den gürtel lösen wollte, Da kam der wehrwolf, nahm sie untern arm, und trollte Vor meinen augen weg mit meinem holden lamm.

7.

Sechs monden sind nunmehr verflossen, Seit ich zu ihrem heil mein äußerstes versucht. Weh mir! der eiserne thurm, worein er sie verschlossen, Wehrt mir den zugang, ihr die flucht. Das einz’ge, was ich noch von Amors süßer frucht In dieser langen zeit genossen, Ist tagelang von fern auf einem baum zu lauren, Und hinzusehn nach den verhaßten mauren.

O b e r o n¼.½ D r i t t e r G e s a n g

39

8.

Zuweilen däuchte mich sogar Ich sehe sie mit losgebundnem haar Am fenster stehn, und mit gerungnen armen, Als flehte sie zum himmel um erbarmen. Mir fuhr ein dolch ins herz. Und die verzweiflung nun Trieb mich, seit jenem tag, zu thun Was ihr erfahren habt, wie alle diese streiter: Kurz, ungefochten, Herr, kömmt hier kein Ritter weiter.

9.

Gelingt es euch, was keinem noch gelang, Aus meinem sattel mich zu heben, So seyd ihr frey, und reiset ohne zwang Wohin ihr wollt: Wo nicht, so müßt ihr euch ergeben, Wie diese Herren hier, mir zu gebot zu leben, Und nicht von hier zu gehn, so lang Bis wir das abentheur bestanden Und meine braut erlößt aus Angulaffers banden.

10.

Doch, wenn ihr etwa lieber schwört In seinen eisenthurm geraden wegs zu dringen, Und meine Angela allein zurückzubringen, So habt ihr freye wahl, und seyd noch dankes werth. Prinz, sprach der Paladin, was brauchts hier erst zu kiesen? Genug, daß ihr die ehre mir erwiesen: Kommt, einen ritt mit euch und eurer ganzen zahl, Vom übrigen ein andermal!

11.

Der schöne Ritter stuzt, doch läßt er sichs gefallen; Sie reiten, die trompeten schallen; Und, kurz, Herr Hüon legt mit einem derben stoß Den Prinzen Libanons gar unsanft auf den schoos Der guten alten mutter Erde; Drauf kommen nach der reyh die edeln knechte dran, Und als er ihnen so wie ihrem Herrn gethan, Hebt er sie wieder auf mit höflicher gebehrde.

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12.

Bey Gott, Herr Ritter, (spricht, indem er zu ihm hinkt, Der Zedernprinz) ihr seyd ein scharfer stecher! Doch basta! eure hand! kommt, weil der abend winkt, Zum brüderlichen mahl und zum versöhnungsbecher. Herr Hüon nimmt den antrag dankbar an; Drey stunden fliehen weg mit trinken und mit scherzen: Und, wie die Herren ihn so schön und höflich sahn, Verziehn sie ihm ihr rippenweh von herzen.

13.

Izt, spricht er, liebe Herrn und Freunde, da ich euch, Was mein war ohnedies, so redlich abgewonnen, Izt, sollt ihr wissen, geht’s geraden wegs sogleich Dem Riesen zu. Ich war’s vorhin gesonnen, Und thu es nun mit desto größrer lust, Weil diesem Biedermann ein dienst damit geschiehet. Drauf dankt er, daß sie sich soviel mit ihm bemühet, Und drückt der reyhe nach sie all’ an seine brust.

14.

Und als sie ihm zur burg des ungeschlachten Riesen Durch einen förenwald den nächsten weg gewiesen, Entläßt er sie, mit der versicherung, Sie sollten bald von ihrer Dame hören. Ade, ihr Herrn! — „Viel glücks!“ — Und nun in vollem sprung Zum wald hinaus. Kaum röthete die fören Die morgensonn, als ihm, im blachen feld, Ein ungeheurer thurm von ferne dar sich stellt.

15.

Aus eisen schien das ganze werk gegossen, Und war ringsum so fest verschlossen, Daß nur ein pförtchen, kaum zween fuß breit, offen stand: Und vor dem pförtchen stehn, mit flegeln in der hand, Zween hochgewaltige metallene Kolossen, Durch zauberey belebt, und dreschen unverdrossen So hageldicht, daß zwischen schlag und schlag Sich unzerknickt sogar kein lichtstral drängen mag.

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16.

Der Paladin bleibt eine weile stehen, Und wie er überlegt, was anzufangen sey, Läßt eine Jungfrau sich an einem fenster sehen, Die winkt gar züchtiglich ihm mit der hand herbey. Mein treu! ruft Scherasmin, die Jungfer hat gut winken; Ihr werdet doch kein solcher waghals seyn? Seht ihr die Schweitzer nicht mit ihren langen zinken? Da kömmt von euch kein knochen ganz hinein!

17.

Doch Hüon hielt getreu an seiner ordensregel, Dem Satan selber nie den rücken zuzudrehn. Hier, denkt er, hilft sonst nichts als mitten durch die flegel Geradezu aufs pförtchen loszugehn. Den degen hoch, die augen zugeschlossen, Stürzt er hinein; und wohl ihm! ihn verführt Sein glaube nicht: die ehernen Kolossen Stehn regunglos, sobald er sie berührt.

18.

Kaum ist der Held hineingegangen, Indessen Scherasmin im hof die pferde hält, So eilt die schöne magd den Ritter zu empfangen. Mit schwarzen haaren, die ihr den rücken niederhangen, Im langen weißen rock, der bis zur erde fällt, Und den am leichtbedeckten busen Ein goldnes band zusammenhält, Schien sie wie ein modell zu Grazien oder Musen.

19.

Was für ein engel (spricht, indem sie seine hand Nur kaum berührt, das Mädchen süßerröthend) Was für ein engel, Herr, hat euch mir zugesandt? Ich stund am fenster just, zur Heil’gen Jungfrau betend, Als ihr erschient. Gewiß hat sie’s gethan, Und als von ihr geschickt nimmt Angela euch an; Von ihr, die schon so oft sich meiner angenommen, Zu hülfe mir gesandt, seyd tausendmal willkommen!

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20. Doch laßt uns nicht verziehn; denn jeder augenblick Ist mir verhaßt, den wir in diesem kerker weilen. Ich komme nicht, spricht Hüon, so zu eilen: Wo ist der Ries’? — O der, versezt sie, liegt, zum glück, In tiefem schlaf; und wohl, daß ihr ihn so getroffen; Denn, ist er wieder auferweckt, Vergebens würdet ihr ihm anzusiegen hoffen, Solang der zauberring an seinem finger steckt. 21.

Jedoch, den ring ihm sicher abzunehmen Ists just noch zeit. — „Wie so?“ — Der schlaf, Der täglich drey bis viermal ihn zu lähmen Und zu betäuben pflegt, ist kein natürlicher schlaf. Ich will euch, weil noch wohl zwoo ganze stunden fehlen Bis er erwacht, die sache kurz erzählen. Mein vater, Balazin von Phrygien genannt, Ist Herr von Jericho im Palästinerland.

22. Beynah vier jahre sinds, seit mich Alexis liebte, Der schönste Prinz vom berge Libanon; Und wenn ihn, wie er sagt, mein sprödethun betrübte, So wußte, glaubet mir, mein herz kein wort davon: Es fiel mir schwer genug! Doch, in den ersten wochen Hatt’ ichs der heiligen Alexia versprochen, Nur, wenn der Prinz drey jahre keusch und rein Mir diente, anders nicht, die seinige zu seyn. 23. Ganz heimlich wurd’ er mir mit jedem tage lieber; Lang war die prüfungszeit; jedoch, sie gieng vorüber: Ich ward ihm angetraut — und kurz, schon sahen wir Ins brautgemach zusammen uns verschlossen: Auf einmal flog im sturm die kammerthür Erdonnernd auf, der Riese kam geschossen, Ergriff mich, floh davon, und sieben monden schier Sind, seit mich dieser thurm gefangen hält, verflossen.

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24. Zu wissen, ob der Ries’ es mir so leicht gemacht, Ihm stürme ohne zahl beständig abzuschlagen, Müßt ihr ihn selber sehn. Mein Herr, was soll ich sagen? Stets angefochten, stets den sieg davon zu tragen, Ist schwer. Einst, da er mich in einer mondscheinsnacht (Noch schauderts mir!) aufs äußerste gebracht, Fiel ich auf meine knie’, und rief mit wunden händen Die Mutter Gottes an, mir hülfe zuzusenden. 25.

Die holde Himmelskönigin Erhörte mich, die Jungfrau voller gnaden. Getroffen wie vom blitz sank der versucher hin, Und lag, ohnmächtig mir zu schaden, Sechs stunden lang betäubt. So oft, seit dieser zeit, Er den verhaßten kampf erneut, Erneut dies wunder sich; stracks muß sein trotz sich legen, Und nichts vermag sein zauberring dagegen.

26. Dies war erst heute noch der fall; und nach verlauf Der sechsten stunde (vier sind schon davon verloffen) Steht er zu neuem leben auf, So frisch und stark, als hätt’ ihn nichts betroffen. Des ringes werk ist dies. Solang ihn der beschützt, Kann ihm am leben nichts geschehen. Ihr glaubt nicht, was der ring für tugenden besitzt! Allein, was hält euch, selbst das alles anzusehen? 27.

Nun giengs dem Ritter just wie euch. Er hatte sich, nach Angulaffers namen, Ein unthier vorgestellt aus Titans rohem saamen, Den wilden Erdensöhnen gleich, Die einst, den Göttersitz zu stürmen, Den hohen Pelion mit sammt den wurzeln aus Der erde rissen, um ihn dem Ossa aufzuthürmen: Nun wurd’ ein mann von sieben fuß daraus.

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28. Habt ihr das Götterwerk von G l y k o n je gesehen, Den großen sohn der langen wundernacht, Im urbild, oder auch in gipse nachgemacht, So denkt, ihr seht den mann leibhaftig vor euch stehen, Den mann, der in der mondscheinsnacht Das arme kind so ins gedräng gebracht. So wie er lag, hätt’ ihn von unsern neuern Alten Der schlauste für ein bild vom Herkules gehalten. 29. Für einen Herkules in ruh, Als er dem Augias den marmorstall gemistet; So breitgeschultert, hochgebrüstet Lag Angulaffer da; auch traf die kleidung zu. Der Ritter stuzt: denn in den alterthümern Lag seine stärke nicht; und so, vorm keuschen blick Des tages, im gewand der rohen natur zu schimmern, Däucht ihm ein wahres Heidenstück. 30. Nun, flüstert ihm die Jungfrau, edler Ritter, Was zögert ihr? Er schläft. Den ring, und einen hieb, So ists gethan! — „Dazu ist mir mein ruhm zu lieb; Ein feind, der schlafend liegt und nackter als ein splitter, Schläft sicher neben mir; erst wecken will ich ihn.“ So macht euch wenigstens zuvor des ringes meister, Spricht sie. Der Ritter naht, den reif ihm abzuziehn, Und macht, unwissend, sich zum Oberherrn der Geister. 31.

Der ring hat, neben mancher kraft, Die Hüon noch nicht kennt, auch diese eigenschaft, An jeden finger stracks sich biegsam anzufügen; Klein oder groß, er wird sich dehnen oder schmiegen, Wie’s nöthig ist. Der Paladin begafft Den wundervollen reif mit schaurlichem vergnügen, Faßt drauf des Riesen arm, und schüttelt ihn mit macht So lang und stark, bis er zulezt erwacht.

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32. Kaum fängt der Riese sich zu regen an, so fliehet Die tochter Balazins mit einem lauten schrey. Herr Hüon, seinem muth und ritterstand getreu, Bleibt ruhig stehn. Wie ihn der Heide siehet, Schreyt er ihn grimmig an: Wer bist du, kleiner wicht, Der meinen morgenschlaf so tollkühn unterbricht? Dein köpfchen muß, weil du’s von freyen stücken Mir vor die füße legst, dich unerträglich jücken? 33.

Steh auf und waffne dich, versezt der Paladin, Dann, Praler, soll mein schwert dir antwort geben! Der Himmel sendet mich zur strafe dich zu ziehn, Das ende naht von deinem sündenleben. Der Riese, da er ihn so reden hört, erschrickt Indem er seinen ring an Hüons hand erblickt. Gieb, spricht er, mir den ring zurücke Und geh im frieden, geh, und dank es deinem glücke!

34.

Ich nahm dir nur was du gestohlen ab, Und dem er angehört werd ich ihn wieder schaffen, Spricht Siegwins sohn: du, hole deine waffen Und rüste dich, und komm herab! — „Du hättest mich im schlaf ermorden können, Versezt der Ries mit immer sanfterm muth; Du bist ein Biedermann; mich daurt dein junges blut, Gieb mir den ring, den kopf will ich dir gönnen.“

35.

Feigherziger, ruft Hüon, schäme dich, Vergebens bettelst du! Stirb, oder, wenn du leben Verdienst, verdien’ es ritterlich! Izt springt der Unhold auf, daß selbst die mauern beben; Sein auge glüht als wie der höllenschlund, Die nase schnaubet zorn, dampf fährt aus seinem mund, Er eilt hinweg den panzer anzulegen Der undurchdringlich ist selbst einem zauberdegen.

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36.

Der Ritter steigt herab, und ungesäumt erscheint Ganz im verluptem stahl sein trotzigsichrer feind, Der in der wuth vergaß, daß vor des ringes blitzen Ihn keine zauberwaffen schützen. Allein beym ersten stoß, den Hüons gutes schwert Auf seinen harnisch führt, vergeht ihm schon das lachen; Das blut schießt wie ein strom den hals empor und sperrt Des athems weg in seinem weiten rachen.

37.

Er fällt, wie auf der stirn des Taurus eine fichte Im donner stürzt: der thurm, das feld umher Erbebt von seinem fall; er fühlt sich selbst nicht mehr, Sein starrend auge schließt auf ewig sich dem lichte, Und den verruchten geist, von frevelthaten schwer, Schon schleppen teufel ihn zum schrecklichen gerichte. Der sieger wischt vom blutbefleckten stal Das schwarze gift, und eilt zur Jungfrau in dem saal.

38.

Heil euch, mein edler Herr, ihr habt mich wohl gerochen, Ruft Angela, indem sie sich entzückt Zu seinen füßen wirft sobald sie ihn erblickt; Und dir, die ihn zum retter mir geschickt, O Himmelskönigin, sey’s feyrlich hier versprochen, Der erste sohn, mit dem ich in die wochen Einst komme, werd’, in klarem dichten gold, So schwehr er ist, zum opfer dir gezollt!

39.

Herr Hüon, als er sie gar ehrbar aufgehoben, Erwiedert ihren dank mit aller höflichkeit Der guten alten Ritterszeit, Die zwar so fein wie unsre nicht gewoben, Doch desto derber war, und besser farbe hielt. Des Ritters große pflicht war jungfraun zu beschützen, Und, wenn er gleich nicht mehr für die als jene fühlt, Sein blut beym ersten ruf für jede zu verspritzen.

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40. Die Dame hatte noch nicht zeit und ruh genug Gehabt, den jungen mann genauer zu erwägen; Izt, da sie ihn vermocht die waffen abzulegen, Izt hätte sie sich gleich mehr augen wünschen mögen Als Junos pfau in seinem schweiffe trug, So sehr däucht ihr der Ritter, zug vor zug, Von kopf zu fuß, an bildung und gebärden, An großheit und an reiz, der erste mann auf erden. 41.

Nicht, daß sie just mit jemand ihn verglich Der zwischen ihm und ihrem herzen stünde; Ganz arglos überließ sie ihren augen sich, Und bloßes sehn ist freylich keine sünde. Kein scrupel störte sie in dieser augenlust, So sanft spielt noch um ihre junge brust Der süße Trug; und was sie sicher machte War, daß ihr herz dabey nicht an Alexis dachte.

42. Ein glück für dich, unschuld’ge Angela, Daß keiner deiner blick’ in Hüons busen zunder Zum fangen fand. Und freylich war’s kein wunder: Denn, kam ihr auch, wie dann und wann geschah, Der seinige auf halbem weg entgegen, So war’s der blick von einem haubenkopf; Er hätt’ auf einen blumentopf, Auf ein tapetenbild, gleich wichtig fallen mögen. 43.

Ein unbekanntes was, das ihn wie ein magnet Nach Bagdad zieht, scheint allen seinen blicken Die scharfe spitze abzuknicken, Und macht, daß jeder reitz an ihm verloren geht. Vergebens ist ihr wuchs wie eine schöne Vase Von Amors eigner hand gedreht; Vergebens schließt die sanft erhobne nase Sich an die glatte stirn in stolzer majestät;

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44. Umsonst hebt ihre brust, gleich einem doppelhügel Von frischem schnee um den ein nebel graut, Den dünnen weißen Flor; umsonst ist ihre haut So rein und glatt als wie ein wasserspiegel Worinn im rosenschmuck Aurora sich beschaut; Vergebens hat ihr königliches siegel Die Schönheit jedem theil so sichtbar aufgedrückt, Daß ihr gewand sogar sie minder deckt als schmückt. 45.

Kurz, Angela mit allen ihren reitzen Ist ihm vergebens schön und jung; Und, ferne — nach verlängerung Der holden gegenwart zu geitzen, Wünscht er mit jedem augenblick In ihres bräut’gams arm recht herzlich sie zurück, Und kann zuletzt sich nicht entbrechen, Da Sie nichts sagt, ihr selbst davon zu sprechen.

46.

Kaum daß er ihr dazu geleit und schutz versprach, Und ihre lippen sich in dank dafür ergossen: Als ein getös von reisigen und rossen In hof der burg, sie plötzlich unterbrach. Schon trampelts laut die langen wendelstiegen Herauf. Die junge frau erschrickt — „wer kann es seyn?“ Doch bald zerschmilzt ihr schrecken in vergnügen, Denn siehe da! Alexis tritt herein.

47.

Ihm war zwar, etwas spät, zu sinne Gestiegen, daß es ihm nicht allzurühmlich sey Wenn Hüon seine braut dem riesen abgewinne, Indessen, weit vom schuß, mit seiner reiterey Er, ihr gemahl, im schatten, frank und frey, Sein zärtlich blut mit palmenwein verdünne: Auch konnte ja (wer wird dafür ihm stehen?) Der Ritter gar davon mit seinem Engel gehen.

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48. Demnach, so hatt’ er, stracks als ihm die ohren sungen, Mit seiner Ritterschaft zu pferde sich geschwungen, Und kam in vollem trab, falls etwa die gefahr Durch Hüons tapferkeit bereits vorüber war, Die Schöne in empfang zu nehmen, Dem fremden Ritter Gottes lohn Zu wünschen, und — ein wenig sich zu schämen Denkt ihr — allein, er war ein Prinz von Libanon. 49.

Herr Hüon, unverhoft des umwegs überhoben Mit Angela zurück ins palmenthal zu gehn, Läßt von den schönen Herr’n sich in die wette loben, Und fühlt sich just dabey so gut als ob sie ihn Gescholten hätten. Und nun, die wohlthat zu vollenden, Wird, durch des ringes kraft, von unsichtbaren händen Mit allem was den gaum ergötzt Ein großer runder tisch in überfluß besetzt.

50. Ah, ruft die schöne braut, ich hätt’ es schier vergessen: Herr Ritter, ehe wir zum essen Uns setzen, geht und schließt mit eigner hand geschwind Des Riesen Harem auf; denn funfzig jungfraun sind Noch außer mir in diesem thurm verwahret; Der schönste mädchenflor, ein wahres tulpenbett! Er hatte sie für seinen Mahommed Zu Opfern, denk ich, aufgesparet. 51.

Der Harem thut sich auf, und zeigt, in vollem putz Und buntem lieblichem gewimmel, Das wahre bild von Mahoms lust’gem Himmel. Herr Hüon läßt die Damen all’ im schutz Der schönen herr’n, und ist schon weit davon geritten, Da hinter ihm noch alles lärmt und schnarrt, Die ehre seiner gegenwart Sich wenigstens zur tafel auszubitten.

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52.

Schon schlich, indem in grau das abendroth zerfloß, Der stille mond herauf am horizonte, Als Hüon, weil sein gaul nicht länger laufen konnte, An einem schönen platz zu ruhen sich entschloß. Er sieht sich auf der grünen erde Nach einem lager um, indessen für die pferde Sein Alter sorgt. Auf einmal steht, ganz nah, Ein prächtiges gezelt vor seinen augen da.

53.

Ein reicher teppich liegt, so weit es sich verbreitet, Auf seinem boden ausgespreitet, Mit polstern ringsumher belegt, Die, wie beseelt von innerlichem leben, Bey jedem druck sanftblähend sich erheben. Ein tisch von jaspis, den ein goldner dreyfuß trägt, Steht mitten drinn, und, was dem essenslust’gen magen Zum Göttertisch ihn macht, das mahl ist aufgetragen.

54.

Der Ritter bleibt als wie gefroren stehn, Winkt Scherasmin herbey, und fragt ihn, was er sehe? O, das ist leicht, erwiedert der, zu sehn; Freund Oberon ist sichtlich in der nähe. Wir hätten ohne ihn die nacht, Anstatt uns nun in schwanenpflaum zu senken, Auf Gottes boden nicht so sänftlich zugebracht. Das nenn’ ich doch an seine freunde denken!

55.

Kommt, lieber Herr, nach dieser langen fahrt Schmekt ruhe süß: laßt hurtig uns entgürten; Ihr seht, der schöne Zwerg hat keinen fleiß gespahrt, Wiewohl im flug, uns herrlich zu bewirthen. Herr Hüon folgt dem rath. Sie lagern beyde sich Halbsitzend um den tisch und schmausen ritterlich; Auch wird, beym sang Gasconnscher froher lieder, Der becher fleißig leer, und füllt sich immer wieder.

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56.

Bald löset unvermerkt des schlafes weiche hand Der sanfterschlafften nerven band. Indem erfüllt, wie aus der höchsten Sfäre, Die lieblichste musik der lüfte stillen raum; Es tönt als ob ringsum auf jedem baum Ein jedes blat zur kehle worden wäre, Und M a r a’s engelston, der zauber aller seelen, Erschallte tausendfach aus allen diesen kehlen.

57.

Allmählich sank die süße harmonie, Gleich voll, doch schwächer stets, herunter bis zum säuseln Der sanftsten sommerluft, wenn kaum sich ie und ie Ein blat bewegt, und um der Nymfe knie Im stillen bach sich kaum die silberwellen kräuseln. Der Ritter, zwischen schlaf und wachen, höret sie Stets leiser wehn, bis unter ihrem wiegen Die sinnen unvermerkt dem schlummer unterliegen.

58.

Er schlief in einem fort, bis, da der frühe hahn Aurorens rosenpferde wittert, Ein wunderbarer traum sein innerstes erschüttert. Ihm deucht, er gieng auf unbekannter bahn, Am ufer eines stroms, durch schattichte gefilde; Auf einmal steht vor ihm ein göttergleiches Weib, Im großen aug des himmels reinste milde, Der liebe reiz um ihren ganzen leib.

59.

Was er empfand ist nicht mit worten auszudrücken, Er, der zum erstenmal izt Amors macht empfand, Und athemlos, entgeistert vor entzücken, Sein leben ganz in seinen blicken, Im boden eingewurzelt stand; Sie noch zu sehen glaubt, nachdem sie schon verschwand, Und, da der süße wahn zulezt vor ihm zerfließet, Nichts mehr zu sehn die augen sterbend schließet.

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60. Betäubt, in fühlbarm tod, lag er am ufer da In seinem traum: als ihn bedünkt, er spüre Daß eine warme hand sein starres herz berühre. Und, wie vom tod erwekt, erhob er sich und sah Die Schöne abermal zu seiner seite stehen, Die keiner Sterblichen in seinen augen gleicht, Und dreymal schöner wie ihm däucht, Und holder als er sie zum erstenmal gesehen. 61.

Stillschweigend schauten sie einander beyde an, Mit blicken, die sich das unendlich stärker sagten, Was ihre lippen noch nicht auszusprechen wagten. Ihm war in ihrem aug’ ein Himmel aufgethan, Wo sich in eine see von liebe Die seele taucht. Bald wird das übermaas der lust Zum schmerz; er sinkt im drang der unaufhaltbarn triebe In ihren arm, und drükt sein herz an ihre brust.

62. Er fühlt der Nymfe herz an seinem busen schlagen, Der glückliche! Wie schnell, wie stark, wie warm! Und — plötzlich hört es auf zu tagen, Auf schwarzen wolken rollt des Donners feuerwagen, Lautheulend bebt der stürme wilder schwarm; Von unsichtbarer macht wird schnell aus seinem arm Im wirbelwind die Nymfe fortgerissen Und in die flut des nahen stroms geschmissen. 63.

Er hört ihr ängstlich schreyn, will nach — o höllenpein! Und kann nicht! Steht entseelt vor schrecken Als wie ein bild auf einem leichenstein. Vergebens strebt er, keucht und ficht mit arm und bein, Er glaubt in eis bis an den hals zu stecken, Sieht aus den wellen sie die arme bittend strecken, Und kann nicht schreyn, nicht, wie der liebe wut Ihn spornt, zu ihr sich stürzen in die flut.

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64.

Herr, ruft ihm Scherasmin, da er sein banges schnauben Vernimmt, erwacht, erwacht! Ein böser traum Schnürt euch die kehle zu — Fort, Geister, macht mir raum, Schreyt Hüon, wollt ihr mir auch ihren schatten rauben? Und wütend fährt er auf aus seinem traumgesicht; Noch klopft von todesangst umfangen Sein stockend herz, er starrt ins tageslicht Hinaus, und kalter schweiß liegt auf den bleichen wangen.

65.

Das war ein schwerer traum, ruft ihm der Alte zu: Ihr lagt vermuthlich wohl zu lange auf dem rücken? Ein traum? seufzt Siegwins Sohn mit minder wilden blicken, Das war’s! allein ein traum, der meines herzens ruh Auf ewig raubt! — „Das wolle Gott verhüten, Mein bester Herr!“ — Sag mir im ernste (spricht Der Ritter ernstvoll) glaubst du nicht Daß Träum’ uns dann und wann was künftig ist entbieten?

66.

Man hat exempel, Herr — Und wahrlich, seit ich euch Begleite, läugn’ ich nichts, erwiedert ihm der Alte. Doch, wenn ich euch die reine wahrheit gleich Gestehen soll, so sag ich frey, ich halte Nicht viel von Träumen. Fleisch und blut Hat, wenigstens bey mir, sein spiel so oft ich träume; Dies wußten unsre Alten gut, Und lehrten’s uns im wohlbekannten reime.

67.

Indessen, wenn ihr mir den inhalt euers traums Vertrautet, könnt’ ich euch vielleicht was bessers reimen. Das will ich auch, spricht Hüon, ohne säumen. Kaum rötet noch den gipfel jenes baums Der morgenstral. Wir haben zeit zum werke. Nur reiche mir zuvor den becher her, Damit ich meine geister stärke; Es liegt mir auf der brust noch immer zentnerschwer.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

68.

Indeß der wundervolle becher Den Ritter labt, sieht ihn der Alte, mäuschenstill, Als einer an, dem’s nicht gefallen will, Den wackern sohn des braven Siegwins schwächer, Als einem manne ziemt, zu sehn. Ey (denkt er bey sich selbst, kopfschüttelnd) im erwachen Noch so viel werks aus einem traum zu machen! Doch, weil’s nun so ist, mag’s zum frühstück immer gehn!

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Oberon Vierter Gesang. 1.

Der Paladin beginnt nun seine traumgeschichte Wie folget: Was du auch, mein guter Scherasmin, Von dem, was ich dir izt berichte, Im herzen denken magst, so ists doch kein gedichte, Daß ich, Gott sey es dank! noch stets an leib und sinn, So wie du hier mich siehst, ein reiner Jüngling bin. Nie hat vor diesem tag in meinem ganzen leben Mein unbefangnes herz der liebe raum gegeben.

2.

Es hatte zwar der schönen Jungfraun viel An meiner Mutter hof, und an gelegenheiten, Die einen Knaben leicht zur tändeley verleiten, Gebrach es nicht, zumal beym pfänderspiel: Da gabs wohl manchmal auch ein strumpfband aufzulösen; Allein der schönste fuß ließ meine fantasey In stolzer ruh; und wär’s Genevrens fuß gewesen, Es war ein fuß, mehr dacht ich nicht dabey.

3.

Daß ich von kindheit an so viele offne Busen Und bloße schultern sah, mocht auch mit ursach seyn. Gewohnheit gleicht in diesem stück Medusen, Und für das Schönste selbst verkehrt sie uns in stein. Allein, was half mirs, frey geblieben Zu seyn bis in mein zweymal zehntes Jahr? Auch meine stunde kam! Ach, Freund! mein schicksal war Im traum zum erstenmal zu lieben.

56

D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

4.

Ja, Scherasmin, nun hab’ ich sie gesehn, Sie, von den sternen mir zur Siegerin erkoren; Gesehen hab’ ich sie, und ohne widerstehn Beym ersten blick mein herz an sie verloren. Du sprichst, es war ein traum? Nein, Mann, ein hirngespenst Kann nicht so tiefe spuren graben! Und wenn du tausendmal mich einen Thoren nennst, Sie lebt, ich hatte sie, und muß sie wieder haben.

5.

O hättest du den Engel doch Gesehn wie ich! — Zwar, wenn ich malen könnte, Ich stellte sie dir hin, so glüend wie sie noch Vor meiner stirne schwebt, und bin gewiß, sie brennte Dein altes herz zu einer kohle aus. Ach! daß nur etwas mir geblieben wär’, das leben Von ihr empfieng! Wär’s nur der blumenstraus Vor ihrer brust! was wollt ich nicht drum geben?

6.

Denk dir ein weib im reinsten jugendlicht, Nach einem urbild von dortoben Aus rosenglut und lilienschnee gewoben; Gieb ihrem bau das feinste gleichgewicht; Ein stilles lächeln schweb’ auf ihrem angesicht, Und jeder reiz, von majestät erhoben, Erweck und schrecke zugleich die lüsterne begier: Denk alles das, du hast den schatten kaum von ihr!

7.

Und nun, sanft angelockt von ihren süßen blicken, Dies holde weib, das nur die luftgestalt Von einem engel schien, an meine brust zu drücken, Zu fühlen, wie ihr herz in meines überwallt — Ists möglich, daß ich vor entzücken Nicht gar vergieng? — Nun komm, und sprich mir kalt, Es war ein traum! Wie schaal, wie leer und todt ist neben So einem traum mein vorig ganzes leben!

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8.

Noch einmal, Scherasmin, es war kein schattenspiel Im sitz der fantasie aus weindunst ausgegoren! Ein unbetrügliches gefühl Sagt mir, sie lebt, sie ist für mich geboren. Vielleicht war’s Oberon, der sie erscheinen ließ? Ists wahn? O laß ihn mir! die täuschung ist so süß! Doch, nichts von wahn! Kann solch ein traum betrügen, O so ist alles wahn! So kann die wahrheit lügen!

9.

Der Alte wiegt sein zweifelreiches haupt, Wie wenn man euch ein wunderding erzählet, Wovon ihr nichts im herzen glaubt, Wiewohl euch grund es wegzuläugnen fehlet. Was denkst du, frägt der Ritter. — Das ists just, Was mich verlegen macht, versezt der Unverliebte: Ich hätte freylich wohl zu manchem einwurf lust; Allein was hälfs am end, als daß ich euch betrübte?

10.

Nur, vor der hand, weil euer fürstlich wort Euch einmal gegen Karl verbindet, So, dächt’ ich, sezten wir den zug nach Bagdad fort. Vielleicht daß unterwegs der zauber wieder schwindet; Vielleicht auch daß der Zwerg sein bestes thut Und unversehens sich die Traumprinzeßin findet. Inzwischen, lieber Herr, thut euch die hoffnung gut, So hofft! Man macht dabey zum mindsten rothes blut.

11.

Weil dies der Knappe spricht, steht mit gesenkter stirne Der Ritter da; denn plözlich hatte sich In seinem liebeskranken hirne Die scene umgekehrt. Ach, spricht er, täusche mich Nicht auch mit falschem trost! feindselige gestirne Sind über mir. Was kann ich hoffen, sprich? Der sturm, der sie von meiner brust gerissen, Läßt, leider, mich zuviel von meinem schiksal wissen.

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12.

Entrissen ward sie mir! Noch strekt sie aus der flut Die arme gegen mich — noch stokt vor angst mein blut — Und ach! Wie an den grund mit ketten Geschmiedet, stand ich da, ohnmächtig sie zu retten. Das war im traum, spricht Scherasmin: wofür Euch ohne noth mit schwarzer ahnung grämen? Ein traum läßt nie von art. Das beste, glaubet mir, Ist, sich daraus nur was uns freut zu nehmen.

13.

Daß euch im traum ein wohlgewogner geist Die künftge Königin von euern herzen weißt, Das hat er gut gemacht; so etwas läßt sich glauben, Und kurz, wir nehmen’s nun für baare wahrheit an. Allein den strom, den wirbelwind, die schrauben An hand und fuß, die hat der traum hinzugethan. Mir selbst ist oft in meinen jüngern Jahren, Wenn mich der Alp gedrükt, dergleichen wiederfahren.

14.

Da, zum Exempel, läuft ein schwarzer zottelbär, Indem ich wandeln geh, der himmel weiß woher, Mir in den weg; ich greif im schrecken nach dem degen Und zieh, und zieh — umsonst! Ein plözlich unvermögen Strikt jede sehne mir an allen gliedern loß; Zusehens wird der bär noch siebenmal so groß, Sperrt einen rachen auf so gräßlich wie die hölle: Ich flieh und ängstige mich, und kann nicht von der stelle.

15.

Ein andermal, da ihr von einem abendschmaus Nach haus zu gehen träumt, bey einem alten gaden Vorbey — auf einmal knarrt ein kleiner fensterladen, Und eine Nase gukt heraus So lang als euer arm: ihr sucht, halbstarr vor schrecken, Ihr zu entfliehn, und vorn und hinten stehn Gespenster da, die ins gesicht euch sehn, Und feu’rge zungen weit aus langen hälsen recken.

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16.

Ihr drükt in todesangst euch seitwärts an die wand Die gegenüber steht, und eine dürre hand Fährt durch ein rundes loch euch eiskalt übern rücken, Und bohrt ins wams sich ein, um euch ins herz zu zwicken. Ein jedes haar auf euerm kopfe kehrt Die spitz empor; zur flucht ist jeder weg verwehrt, Die gasse wird zusehends immer enger, Stets frostiger die Hand, die Nase immer länger.

17.

Dergleichen, wie gesagt, begegnet oft und viel, Allein, am end ists doch ein bloßes possenspiel, Das nachtgespenster sich in unserm schädel machen, Die nase samt der angst verschwindet im erwachen. Ich dächt’ an euerm platz dem ding nicht weiter nach, Und hielte mich an das, was mir der Zwerg versprach. Frisch auf! Mir ahnet was! Es müßte übel enden, Wenn wir die Dame nicht in Bagdad wiederfänden.

18.

Bey diesem worte springt der Ritter, angeweht Von frischem mut empor, als hätt’ ihm nichts geträumet. Der morgenluft entgegenwiehernd steht Sein Klepper schon gesattelt und gezäumet. Er schwingt sich auf, und wie er aus dem feld Zurücke schaut, verschwunden ist das zelt; In einem wink erhob sichs aus dem rasen, In einem wink war alles weggeblasen.

19.

Sie zogen nun dem lauf des hohen Eufrats nach, Von palmen und gebüsch vorm sonnenstral geborgen, Durchs schönste land der welt; stillschweigend; keiner sprach Ein wort, wiewol’s an stoff zum reden nicht gebrach; Denn jeder war vertieft in andre Sorgen. Die reine luft, der angenehme morgen, Der vögel lustgesang, des stromes stiller lauf, Wekt beyder fantasey aus leisem schlummer auf.

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20. Der Ritter sieht in ihrem zauberspiegel Nichts sehenswerth, als das geliebte bild. Er mahlt die Göttin sich auf seinen blanken schild, Erklimt auf ihrer spur des Taurus schrofsten hügel Steigt, sie erfragend, bis in Merlins furchtbars grab, Bekämpft die Hünen und die Drachen, Die um das schloß, worinn sie schmachtet, wachen, Und kämpfte sie der ganzen hölle ab. 21.

Indessen er, in eingebildeter wonne, Die schwer errungne braut an seinen busen drükt, Sieht unvermerkt an’s ufer der Garonne, Wo er als kind den ersten straus gepflükt, Von Eufrats ufern weg der Alte sich verzükt. Nein, denkt er, nirgends scheint doch unsers Herrgotts sonne So mild als da, wo sie zuerst mir schien, So lachend keine flur, so frisch kein andres grün!

22. Du kleiner ort, wo ich das erste licht gesogen, Den ersten schmerz, die erste lust empfand, Sey immerhin unscheinbar, unbekannt, Mein herz bleibt ewig doch vor allen dir gewogen, Fühlt überall nach dir sich heimlich hingezogen, Fühlt selbst im Paradies sich doch aus dir verbannt: O möchte wenigstens mich nicht die ahnung trügen, Bey meinen vätern einst in deinem schoos zu liegen! 23. In solcher träumerey schwind’t unvermerkt der raum, Der sie von Bagdad trennt, bis izt die mittagshitze In einen wald sie treibt, der vor der glut sie schütze. Noch ruhten sie um einen alten baum, Wo dichtes moos sich schwellt zum weichen sitze, Und Oberons pokal erfrischt den troknen gaum: Als, eben da er sich zum drittenmale füllet, Ein gräßliches geschrey in ihre ohren brüllet.

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24. Sie springen auf. Der Ritter faßt sein schwert Und fleugt dahin, woher die zettertöne schallen; Und sieh! ein Sarazen zu pferd, Von einem Löwen angefallen, Kämpft aus verzweiflung noch, erschöpft an kraft und mut, Mit matter faust. Schon taumelt halbzerrissen Sein roß, und wälzt mit ihm in einem strom von blut Sich um, und hat vor schmerz die stange durchgebissen. 25.

Grimmschnaubend stürzt der Löw’ auf seinen gegner los, Aus jedem aug schießt eine feuerflamme. Indem fährt Hüons stal ihm seitwärts in die wamme. Der thiere Fürst, den solch ein gruß verdroß, Erwiedert ihn mit einer langen schramme, Nach der des Ritters blut aus tausend quellchen floß: Hätt’ Angulaffers ring nicht über ihm gewaltet, Ihn hätt’ auf Einen zug der Löw’ entzweygespaltet.

26. Herr Hüon rafft, was er an kraft vermag, Zusammen (denn sein tod blizt aus des Löwen blicke) Und stößt sein kurzes schwert mit macht ihm ins genicke. Vergebens schwingt er noch den schweif zu einem schlag, Von dem, wofern der Ritter nicht zurücke Gesprungen wär’, er halb zerschmettert lag; Vergebens dräuet noch die fürchterliche tatze, Ein streich von Scherasmin erlegt ihn auf dem platze. 27.

Der Sarazen (den reichen steinen nach, Die hoch auf seinem turban blitzen, Ein mann von wichtigkeit) schien noch vor angst zu schwitzen. Die Ritter führen ihn, am arme, ganz gemach Den bäumen zu, in deren schirm sie lagen. Man reicht zur stärkung ihm den goldnen becher dar, Und auf arabisch spricht der Alte: Herr, fürwahr Ihr habt dem Gott der Christen dank zu sagen!

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28. Mit scheelem auge nimmt der Heid aus Hüons hand Den becher voll, und wie er an der lippen rand Ihn bringt, versiegt der wein, und glüend wird der becher, In seiner faust, der innern schalkheit rächer. Er schleudert ihn lautbrüllend weit von sich, Und stampft, und tobt, und lästert fürchterlich. Herr Hüon, dem es graut, ihm länger zuzuhören, Zieht sein geweyhtes schwert, den Heiden zu — bekehren. 29. Allein, der Schalk, der übermannt sich hält, Findt nicht für gut zur gegenwehr zu stehen; Wie ein gejagter Strauß läuft er ins nahe feld, Wo beyde pferd’ im grase weiden gehen. Risch schwingt er sich auf Hüons klepper, faßt Ihn bey der mähn, und mit verhängten zügeln Rennt er davon, in solcher angst und hast, Als säß’ er zwischen sturmwindsflügeln. 30. Das abentheur war freylich ärgerlich; Allein was half’s, dem lecker nachzulaufen? Zum glücke war ein ding, das einem maulthier glich, Im nächsten dorf um wenig geld zu kaufen. Das arme thier, durchsichtiger wie glas, Schien kaum belebt genug, um Bagdad zu erreichen; Doch däuchts dem Alten noch auf dessen rükgrat baß, Als seinem Herrn zu fuße nachzukeuchen. 31.

So sezten beyde nun nach dem gewünschten Port Den ritterlichen zug so gut sie konnten fort. Der Sonnewagen schwebt schon an des himmels gränzen, Auf einmal sehen sie, von fern im weiten thal, Gekrönt mit thürmen ohne zahl, Der städte Königin im abendschimmer glänzen, Und durch ein Paradies von ewig frischem grün, Den stolzen Eufrat hier, und dort den Tigris ziehn.

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32. Ein wundersam gemisch von schrecken und entzücken, Geheime ahnungen, und fremde schauer drücken Des Ritters herz, da ihm der schauplatz auf sich thut, Wo, mehr sein wort und angestammter mut Als Karls gebot, ihn treibt ein wagstük zu bestehen, Wovon kaum möglich war ein besser ziel zu sehen Als gähen tod. Gewiß war immer die gefahr, Doch schien sie nie so groß als da sie nahe war. 33.

Er sieht mit ihren goldnen zinnen, Gleich einer Götterburg, in furchtbarstolzer pracht, Der Emirn Burg, den Thron, der Asien zittern macht; Und du, spricht er zu sich, was gehst du zu beginnen? Er stuzt. Doch bald stärkt wieder seine sinnen Des glaubens mut, der ihn so weit gebracht, Und eine stimme scheint ihm leise zuzuwehen, Er werde die er liebt in jenen mauern sehen.

34.

Auf, ruft er, Scherasmin, spann alle segel auf! Du siehst das ziel von meinem langen lauf, Wir müssen Bagdad noch vor dunkler nacht erreichen. Nun gehts im schärfsten trott, daß roß und reiter keuchen. Der Knapp gießt seinem thier mitleidig etwas wein Aus Ob’rons becher auf die zunge; Da, spricht er, trink, du guter treuer junge, Der becher troknet nicht für deinesgleichen ein.

35.

Er hatte recht. Kaum saugt des maulthiers zunge So lechzend als ein ausgebrannter stein Den süßen thau des zaubergoldes ein, So schießt mit allbelebendem schwunge Ein feuerstrom durch adern und gebein; Von neuer kraft gespannt, erfrischt an herz und lunge, Läufts, einem Windspiel gleich, mit ihm davon, Und eh der tag erlischt sind sie in Babylon.

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36.

Noch irrten sie in seinen ersten gassen Unkundig in der dämmrung hin und her, Als Fremde, die sich bloß vom zufall leiten lassen: Da kam des wegs von ungefähr An ihrem stab ein Mütterchen gegangen, Mit grauem haar und längstverwelkten wangen. He, Mutter, seyd so gut, schreyt Scherasmin sie an, Und weiset uns den weg zu einem Han.

37.

Die Alte bleibt gestüzt auf ihre krücke stehen, Und hebt ihr wankend haupt die Fremden anzusehen. Herr Fremdling, spricht sie drauf, von hier ists ziemlich weit Zum nächsten Han; doch, wenn ihr müde seyd Und wenig euch genügt, so kommt in meine hütte; Da steht euch milch und brod, und eine gute schütte Von frischem stroh zu dienst, und gras für euer vieh; Ihr ruhet aus, und zieht dann weiter morgen früh.

38.

Mit großem dank für dies erbieten Folgt ihr Herr Hüon nach. Ihn däucht kein lager schlecht Wo freundlichkeit und treu der offnen thüre hüten. Die neue Bauzis macht in eil die streu zurecht, Wirft quendel und orangenblüthen Aus ihrem gärtchen drauf, trägt fette milch voll schaum Und saftge pfirschen auf, und feigen frisch vom baum, Beklagend, daß ihr fern’ die mandeln nicht geriethen.

39.

Dem Fürsten dünkt, er hab in seiner lebenszeit Nie so vergnüglich mahl gehalten. Was der bewirthung fehlt, ersezt der guten Alten Vertrauliche geschwätzigkeit. Die Herren, spricht sie, kommen eben Zu einem großen fest — „Wie so?“ — Ihr wißt es nicht? Es ist das einz’ge doch was man in Bagdad spricht; Die Tochter unsers Herrn wird morgen ausgegeben.

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40. „Des Sultans Tochter? Und an wen?“ Es ist der Drusen Fürst, und einer von den Neffen Des Sultans, mächtig reich und schön, Und auf dem Schachbret soll ihn keiner übertreffen; Ein Prinz, mit Einem wort, den alle welt Der schönen Rezia vollkommen würdig hält. Und doch — gesagt in engestem vertrauen — Sie ließe lieber sich mit einem Lindwurm trauen. 41.

Das nenn’ ich seltsam seyn, versezt der Paladin, Ihr werdets uns so leicht nicht glauben machen. „Ich sag’s nicht ohne grund! Eh die Prinzessin ihn So nahe kommen läßt, umarmt sie einen drachen, Da bleibts dabey! — Mir ist von langer hand Das wie und wenn der sache wohl bekannt. Zwar hab’ ich reinen mund gar hoch versprechen müssen; Doch, gebt mir eure hand, so sollt ihr alles wissen.

42. Es wundert euch vielleicht, wie eine Frau, wie ich, Zu solchen dingen kömmt, die selbst dem Fürstenstamme Verborgen sind und sonsten männiglich? So wisset dann, ich bin die mutter von der Amme Der schönen Rezia, bey der sie alles gilt, Wiewol schon sechzehn volle Jahre Verflossen sind, seit Fatme sie gestillt; Nun merkt ihr leicht, woher ich manchmal was erfahre. 43.

Man weiß, daß schon seit Jahren der Kalif, Auf seine Tochter stolz, nicht selten An Festen, die er gab, sie mit zur tafel rief, Wo schöner männer viel sich ihr vor augen stellten. Allein auch das weiß stadt und land, Daß keiner je vor ihr besonders gnade fand; Sie schien sie nicht sowohl mit mädchenhaftem grauen Als mit verachtung anzuschauen.

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44. Indessen ward geglaubt, sie könne Babekan (So heißt der Prinz, den sich zum Tochtermann Der Sultan auserwählt) vor allen andern leiden. Nicht, daß beym kommen oder scheiden Das herz ihr höher schlug; ihn nicht mit fleiß zu meiden War wohl das höchste was er über sie gewann: Allein, sie war doch sonst von niemand eingenommen, Die liebe, dachte man, wird schon im Ehstand kommen. 45.

Jedoch, seit einem zwischenraum Von wenig wochen, hat sich alles umgekehret. Seitdem kann Rezia den armen Prinzen kaum Vor augen sehn. Ihr ganzes herz empöret Sich, wenn sie nur von hochzeit reden höret; Und was unglaublich ist, so hat ein bloßer traum Die schuld daran“ — Ein traum? ruft Hüon ganz in feuer; Ein traum? ruft Scherasmin; welch seltsam abenteuer!

46.

Ihr träumte, fährt die Alte fort, Sie werd’ in Rehgestalt an einem wilden ort Von Babekan gejagt. Sie lief, von zwanzig hunden Verfolgt, in todesangst herab von einem berg; Ihm zu entfliehen war die hoffnung schon verschwunden: Da kam ein wunderschöner Zwerg In einem Faeton, den junge Löwen zogen, In vollem sprung entgegen ihr geflogen.

47.

Der Zwerg in seiner kleinen hand Hielt einen blühnden lilienstängel, Und ihm zur seite saß ein fremder junger Fant, In Ritterschmuk, schön wie ein baarer Engel; Sein blaues aug, sein langes gelbes haar Verrieth, daß Asien nicht sein geburtsland war; Doch, wo er immer hergekommen, Genug, ihr herzchen ward beym ersten blik genommen.

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48. Der wagen hielt. Der Zwerg mit seinem lilienstab Berührte sie; straks fiel die rehhaut ab: Die schöne Rezia, auf ihres Retters bitten, Steigt in den wagen ein, und sezt errötend mitten Sich zwischen ihn und den, dem sich ihr herz ergab, Wiewohl noch lieb und schaam in ihrem busen stritten. Der wagen fuhr nun scharf den berg hinan, Und stieß vor einen stein, und sie erwachte dran. 49.

Entflogen war ihr traum, doch nicht aus ihrem herzen Der Jüngling mit dem langen gelben haar. Stets schwebt sein bild, die quelle süßer schmerzen, Bey tag und nacht ihr vor, und seit der stunde war Der Drusenfürst ihr völlig unerträglich. Sie konnt ihn ohne zorn nicht hören und nicht sehn. Man gab sich alle müh die ursach auszuspähn; Umsonst, sie blieb geheim und stumm und unbeweglich.

50. Nur ihre Amm’ allein, von der ich, wie gesagt, Die mutter bin, wußt’ endlich weg zu finden, Das seltsame geheimniß, das sie nagt, Aus ihrer brust herauszuwinden. Allein ihr wißt, ob mit vernünftgen gründen Ein schaden heilbar ist, der heimlich uns behagt. Die arme Dame war sich selber gram, und wollte Gleichwol daß Fatme stets dem übel schmeicheln sollte. 51.

Indessen kam der tag, vor dem ihr graut, Stets näher. Babekan, um bey der spröden Braut In beßre achtung sich zu schwingen, Ließ wenig unversucht, nur wollte nichts gelingen. Sie war bekanntlich stets den Tapfern sehr geneigt, Er hatte sich noch nie in diesem licht gezeigt. Laß, sprach er zu sich selbst, uns eine That vollbringen, Der Unempfindlichen bewundrung abzuzwingen!

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52.

Nun sezte seit geraumer zeit Ein ungeheurer Löw das ganze land in schrecken; Er fiel bey hellem tag in dörfer und in flecken, Und würgte vieh und menschen ungescheut. Man spricht, er habe drachenflügel, Und klauen wie ein greif, und stacheln wie ein igel, Sey größer als ein elefant, Und wenn er schnaube, fahr’s als wie ein sturm durchs land.

53.

Seit menschendenken ward kein solches thier gesehen. Auch stund ein großer preis auf dessen kopf gesetzt; Allein weil jedermann den seinen höher schäzt, Will des verdiensts sich niemand unterstehen. Nur Babekan hielts des versuches werth Durch eine kühne that der Schönen stolz zu dämpfen. Er steigt mit großem pomp zum Sultan und begehrt Vergünstigung, den Löwen zu bekämpfen.

54.

Und als ihm’s der, wiewol mit müh, gewährt, Bestieg er heute früh vor tag sein bestes pferd, Und ritt hinaus. Was weiter vorgegangen Ist unbekannt. Genug, er kam, zu allem glück, Auf einem fremden gaul, ganz leise, sonder prangen Und ohne löwenhaut zurük. Man sagt, er habe straks, sobald er heimgekommen, Sich hingelegt, und Bezoar genommen.

55.

Bey allem dem sind nun mit unerhörter pracht Die zubereitungen zum hochzeitfest gemacht; Unfehlbar wird es morgen vor sich gehen, Und Rezia sich in der nächsten nacht In Babekans verhaßten armen sehen. Eh dies geschieht, fuhr Hüon rasch heraus, Eh soll das große rad der Schöpfung stille stehen! Der Ritter und der Zwerg sind, glaubt mir, auch vom schmaus.

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56.

Die Alte wundert sich des wortes, und betrachtet Genauer, was sie anfangs nicht geachtet, Des Fremden blaues aug, und langes gelbes haar, Und seinen ritterschmuk, und daß er nur gebrochen Arabisch sprach, und daß er schöner war Als je ein mann, der in die augen ihr gestochen; Das rasche wort, das er gesprochen, Und diese ähnlichkeit! Es däucht ihr sonderbar.

57.

Wo kam er her? Warum? Wer ist er? Zwanzig Fragen Zu diesem zwek, die schon auf ihrer zunge lagen, Erstikte Hüons ernst. Er stellte sich der ruh Bedürftig, legte sich auf seiner streu zurechte. Die Alte wünscht, daß ihm was süßes träumen möchte, Und trippelt weg, und schließt die thüre nach sich zu. Allein wurmstichig war die thür und hatte spalten, Und vorwiz jukt das ohr der guten Alten.

58.

Sie schleicht zurük, und drükt so fest sie kann Ihr lauschend ohr an eine ritze, Und horcht mit offnem mund und hält den athem an. Die Fremden sprachen laut, und wie es schien, mit hitze; Sie hörte jedes wort; nur, leider! war kein sinn Für eine alte frau von Babylon darinn: Doch kann sie dann und wann, zum trost in diesem leiden, Den namen Rezia ganz deutlich unterscheiden.

59.

Wie wundervoll mein schiksal sich entspinnt, (Rief Hüon aus) wie wahr hat Oberon gesprochen: Schwach ist das Erdenvolk und für die zukunft blind! Karl denkt, er habe mir gewiß den hals gebrochen; Auf mein verderben zielt sein auftrag sichtlich ab, Und blindlings thut er bloß den willen des geschickes; Der schöne Zwerg rekt seinen lilienstab, Und leitet mich im traum zur quelle meines glückes.

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60. Und daß (ruft Scherasmin) die Jungfrau, die im traum Das herz euch nahm, gerade die Infante Des Sultans ist, die Karl zu eurer braut ernannte; Daß alles so sich schikt, und daß auch Sie im traum Wie ihr in sie, in euch entbrannte — So etwas glaubte man ja seinen augen kaum! Und doch, spricht Hüon, hats die Alte nicht erfunden, Den knoten hat das Schiksal selbst gewunden. 61.

Nur wie er aufzulösen sey, Da liegt die schwierigkeit! — Mich sollte das nicht plagen, Erwiedert Scherasmin; Herr, darf ich ungescheut Euch meine schlechte meynung sagen? Ich macht’ es kurz und schnitt’ ihn frisch entzwey. Dem Junker linker hand ließ’ ich den luftpaß frey, Und dem Kalifen seine zähne, Und hielte mich an meine Dulzimene.

62. Bedenkts nur selbst, in ihrer Gegenwart Die Ceremonie mit kopfab anzufangen, Hernach vier backenzähn und eine handvoll bart Dem alten Sultan abverlangen, Und vor der Nas’ ihm gar sein einzig kind umfangen, Bey Gott! das hat doch keine art! Das Schiksal kann unmöglich wollen, Daß wir das ziel uns selbst so grob verrücken sollen. 63.

Zum glück, daß Oberon das beste schon versah. Das hauptwerk ist doch wohl dem hasen Von bräutigam das Fräulein wegzublasen; Und dazu hilft die schöne Rezia Gewiß uns selbst, sobald sie von der Alten Berichtet ist, das gelbe haar sey da. Mir liegt indessen ob, zween frische klepper, nah Beym garten des Serails, zur flucht bereit zu halten.

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64.

Herr Scherasmin (versezt der Ritter) wie es scheint Entfiel euch, daß ich Karln mein ehrenwort gegeben, Dem, was er mir gebot, büchstäblich nachzuleben? Da geht kein Jot davon, mein guter freund! Was draus entstehen kann, das mag daraus entstehen! Mir ziemt es nicht so was vorauszusehen. Im fall der noth (erwiedert Scherasmin) Muß doch zulezt der Zwerg uns aus dem wasser ziehn.

65.

Allmählich schlummerte der Alte unter diesen Gesprächen ein. Von Hüons augen bleibt Der süße schlaf die nacht hindurch verwiesen. Gleich einem kahn auf hohen wogen, treibt Sein ahnend herz mit ungeduldgem schwanken Auf ungestüm sich wälzenden gedanken: So nah dem port; so nah, und doch so weit! Es ist ein augenblik, und däucht ihm Ewigkeit.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

Oberon Fünfter Gesang. 1.

Auch dich, o Rezia floh, auf deinen weichen schwanen, Der süße schlaf. Du sahst in klippen dich Verfangen, woraus dir einen pfad zu bahnen Unmöglich schien. Verhaßt und fürchterlich Ist dir das festliche roth am morgendämmernden himmel, Verhaßt der tag, der dich an Hymens altar winkt. Lang wälzt sie seufzend sich um, bis endlich vom innern getümmel Der seele betäubt, ihr haupt herab zum busen sinkt.

2.

Sie schlummert ein, und, ihren mut zu stützen, Webt Oberon ein neues traumgesicht Vor ihre stirn. Sie glaubt, bey mondeslicht, In einer laube der gärten des Harems zu sitzen, In fantasieen der liebe versenkt, Ein süßes weh, ein lieblich banges sehnen Hebt ihre brust, ihr auge schwimmt in thränen, Indem sie hoffnungslos an ihren jüngling denkt.

3.

Die unruh treibt sie auf. Sie läuft, mit hastigen schritten Und suchendem blik, durch busch und blumengefild, Eilt athemlos zu allen grünen hütten, Zu allen grotten hin; ihr auge, zärtlich wild Und thränenvoll, scheint das geliebte bild Von allen wesen zu erbitten. Oft steht sie ängstlich still und lauscht, Wenn nur ein schatten wankt, nur eine pappel rauscht.

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4.

Zulezt, indem sie sich nach einer stelle wendet Wo durch der büsche nacht ein heller mondschein bricht, Glaubt sie — O wonne! wofern kein falsches schattenlicht Ihr gernbetrognes auge blendet — Zu sehen was sie sucht. Sie sieht und wird gesehn; Sein feuerblik begegnet ihren blicken. Sie eilt ihm zu, und bleibt, in schauerndem entzücken, Wie zwischen scham und liebe, zweifelnd stehn.

5.

Mit ofnen armen fliegt er ihr entgegen. Sie will entfliehn, und kann die kniee nicht bewegen, Mit müh verbirgt sie noch sich hinter einen baum, Und in der süßen angst zerplazt der schöne traum. Wie gerne hätte sie zurück ihn rufen mögen! Sie zürnt sich selbst und dem verhaßten baum. Umsonst bemüht, sich wieder einzuwiegen, Muß sie am schatten nun des schattens sich vergnügen.

6.

Die sonne hatte bald den dritten theil vollbracht Von ihrem lauf, und immer war’s noch nacht Bey Rezia; so groß war ihr ergötzen, Den angenehmen traum noch wachend fortzusetzen. Doch da sie gar zu lang kein lebenszeichen giebt, Naht endlich Fatme sich dem goldnen Bette, schiebt Den seidnen vorhang weg, und findet mit erstaunen Sie hell erwacht, und in der besten aller launen.

7.

Ich hab ihn wiedergesehn, o Fatme, wünsche mir glück, Ruft Rezia, ich hab ihn wiedergesehen! — Das wäre! spricht die amm’ und sucht mit schlauem blik Herum, als dächte sie den vogel auszuspähen. Das Fräulein lacht: Ey, ey, wie ist dein witz so dik? Ich denke doch, das sollte sich verstehen? Ich sah ihn freylich nur im traum; allein Er muß gewiß hier in der nähe seyn.

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8.

Mir ahnt’s, er ist nicht fern, und sprich mir nichts dagegen, Wenn du mich liebst! — „So schweig ich!“ — Und warum? Was wäre dann am ende so verwegen An meiner hoffnung? Sprich! wie sollt’ ich sie nicht hegen? Die Amme seufzt und bleibt noch immer stumm. „Was übersteigt der Liebe allvermögen? Der Löwenbändiger, der mich beschützt, ist sie, Und retten wird sie mich, begreif ich gleich nicht wie.“

9.

Du schweigst? du seufzest? Ach! zuwohl nur, gute amme, Versteh ich, was dein schweigen mir verhehlt! Du hoffest nichts für meine flamme? Ich selbst, ich hoffe nur, weil beßrer trost mir fehlt. Die stunde naht; schon klirren meine ketten, Und mein verderben ist gewiß; Ein wunder nur, o Fatme, kann mich retten, Wo nicht — so kann es dies!

10.

Bey diesem wort zieht sie mit feu’rgem blicke Aus ihrem busen einen dolch hervor. „Siehst du? dies macht mir mut! dies hebt mich so empor! Mit diesem hoff’ ich alles vom geschicke!“ Die Amme schwankt an ihren stuhl zurücke, Wird leichenblaß und zittert wie ein rohr. Ach! ist dies alles, so erbarme Es Gott! ruft sie, und weint und ringt die arme.

11.

Das Fräulein drükt die hand ihr auf den mund: Still, spricht sie, fasse dich! und stekt in ihren busen Den dolch zurück. Du weißt, im weiten erdenrund Ist nichts mir so verhaßt als dieser Fürst der Drusen. Eh Der mich haben soll, eh soll ein giftger molch In meine brust die scharfen zähne schlagen! Kömmt mein Geliebter nicht, den raub ihn abzujagen, Was bleibt mir übrig als mein dolch?

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12.

Kaum hatte sie die worte ausgesprochen, So hört man an der kleinen thüre pochen, Die aus dem schlafgemach in Fatmens zelle führt. Die Amme eilt hinaus, und kömmt nach einer weile Fast athemlos zurück vor freuden und vor eile. Ihr ganzes antlitz glänzt. Sie ruft (doch so gebunden Ist ihre zunge vor lust, daß sie den ton verliert) Prinzeßin! jubilo! der Ritter ist gefunden!

13.

Im nachtgewand, das wie ein nebel kaum Den schönen leib umwallt, fährt jene aus den lacken Und fällt entzükt der Amme um den nacken: Gefunden? Wo? Wo ist er? O mein traum, So logst du nicht? — Die Amme, selbst vor freuden Ganz außer sich, hat kaum noch soviel sinn, Die wonnetaumelnde halbnakte Träumerin In großer eil ein wenig anzukleiden.

14.

Hereingerufen wird sodann Die Alte, selbst ihr mährchen zu erzählen. Die gute Mutter fängt beym ey die sache an, Und läßt es nicht am kleinsten umstand fehlen: Kein zug, kein wort, das ihrem Gast entrann, Wird im gemählde weggelassen. Er ists, er ists! Wir haben unsern mann, Ruft Fatme aus; es kann nicht besser passen!

15.

Die Alte wird von neuem ausgefragt, Muß drey und viermal wiederholen Was er gethan, gesagt und nicht gesagt; Muß immer wieder ihn vom haupt bis zu den solen Abschildern, zug vor zug — wie gelb und lang sein haar, Wie groß und blau sein schönes augenpaar; Und immer ist noch etwas nachzuholen, Das in der eil ihr ausgefallen war.

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16.

Derweil sich so um zwanzig Jahre jünger Die Alte schwazt, entspinnt der hohe lockenbau Der schönen Braut sich unter Fatmens finger. Mit perlen, glänzender als thau, Wird schneckengleich ihr schwarzes haar durchflochten, Ohr, hals und gürtel schmükt so schimmerndes gestein, Daß ihren glanz im sonnenschein Die augen kaum ertragen mochten.

17.

Vollendet stellt nunmehr, von ihrer Nymfenschaar Zum fest geschmükt und bräutlich angekleidet, Gleich einer Sonne sich die Königstochter dar, Und lieblich wie ein reh, das unter rosen weidet. Kein auge sah sie ohne liebe an, Wiewohl sie izt nur mädchenaugen sahn: Nur sie allein schien nichts davon zu wissen, Wie neben ihr die sterne schwinden müssen.

18.

Das feuer, das aus ihren augen strahlt, Die ungeduld, das lauschende verlangen Das ihre lippen schwellt und ihre vollen wangen Mit ungewohntem purpur mahlt, Sezt ihre Jungfrau’n in erstaunen. Ist dies die widerspenst’ge braut, (Beginnen sie einander zuzuraunen) Der gestern noch so sehr vor diesem tag gegraut?

19.

Indessen sammeln sich die Emirn und Wessire, Zum fest geschmükt, im stolzen hochzeitsaal. Gerüstet steht das königliche mahl, Und, bey trompetenklang, tritt aus der goldnen thüre Des heiligen palasts, von sclaven aller art Umflossen, der Kalif mit seinem grauen bart. Der Drusenfürst, noch etwas blaß von wangen, Kömmt stattlich hinter ihm als Bräutigam gegangen.

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20. Und gegenüber thut die thür von elfenbein Sich aus dem Harem auf, und, schöner als die Frauen In Mahoms Paradies, tritt auch die Braut herein. Ein schleyer zwar, gleich einem silbergrauen Gewölke wehrt dem Engelsangesicht Den vollen glanz allblendend zu enthüllen; Und dennoch scheint ein überirdisch licht Bey ihrem eintritt straks den ganzen saal zu füllen. 21.

Dem Drusen schwillt und sinket wechselweis Sein herz, indem sein aug an ihren Reizen hanget; Er sucht im ihrigen was er zu sehn verlanget, Allein, ein blick, so kalt wie alpeneis, Ist alles was er sieht. Doch, dem bethörten schmeichelt Die eitelkeit, die selbstbetrügerin, Daß Rezia den spröden blick nur heuchelt; O! (denkt er) all der schnee schmilzt über nacht dahin!

22. Ob er zuviel gehoft soll kein geheimnis bleiben. Doch, ohne izt unnötig zu beschreiben, Wie drauf, nachdem der Iman das Gebet Gesprochen, man beym schall der pauken und der zinken Zur tafel sich gesezt, erst seine Majestät, Dann rechter hand die Braut, der Bräutigam zur linken, Und hundert dinge, die von selber sich verstehn, Ists zeit, auch wieder uns nach Hüon umzusehn. 23. Der hatte, wie ihr euch erinnert, seine nacht, Von ungeduld erhizt, von ahnungen umgaukelt, Auf seiner streu nicht sanfter zugebracht Als einer, den der sturm in einem mastkorb schaukelt. Kaum aber hat dem tag zu seiner goldnen bahn Aurorens rosenhand die pforten aufgethan, So senkt sich nebelgleich ein dunst von mohn und flieder Und lilienduft auf seine augen nieder.

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24. Er schlummert ein, und schläft in Einem zug Noch immer fort, da schon des sonnewagens flug Den himmel halb getheilt. Sein Alter gieng indessen Um von der burg die lage auszuspähn, Und zum entführungswerk das nöth’ge vorzusehn; Derweil, am kleinen heerd, zu ihrem mittagessen Die gute Wirthin anstalt macht, Halbmürrisch, daß ihr gast so lange nicht erwacht. 25.

Sie schleicht zulezt, um wieder durch die spalten Zu gucken, an die thür, und trift, (zu gutem glük Für ihren vorwiz,) just den ersten Augenblik, Da Hüons augen sich dem goldnen tag entfalten. Frisch, wie der junge may sich an den reyhen stellt Wenn mit den Grazien die Nymfen tänze halten, Hebt sich mit halbem leib empor der schöne held, Und rathet, was zuerst ihm in die augen fällt?

26. Ein kaftan, wie ihn nur die höchsten Emirn tragen, Wenn sich der Hof zu einem feste schmükt, Auf goldbeblümtem grund mit perlen reich gestikt, Liegt schimmernd vor ihm da um einen stuhl geschlagen; Ein turban drauf, als wie aus schnee gewebt, Und, um ihn her, den Emir zu vollenden, Ein diamantner gurt, an dem ein säbel schwebt, So reich, daß scheid’ und griff die augen ganz verblenden. 27.

Zum ganzen putz, von fuß zu haupt, Den stiefelchen aus übergüldtem leder Bis zu dem demantknopf der hohen straußenfeder Am turban, mangelt nichts. Der gute Ritter glaubt, Ihm träume noch. Woher kann solcher staat ihm kommen? Die Alte steht erstaunt. Das geht durch zauberey, Ruft sie, ich hätte doch sonst was davon vernommen? Der zwerg, spricht Scherasmin, ist ganz gewiß dabey!

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28. Der Ritter glaubt es auch, und denkt: durch all die heiden Im vorhof macht mir dies zum hochzeitsaale bahn. Und flugs ist kaftan, gurt, und alles umgethan. Die Wirthin müht sich viel ihn recht herauszukleiden, „Allein was fangen wir mit diesem turban an? Das schöne gelbe haar seintwegen abzuschneiden? Nicht um die welt! — Doch still! es geht ja wohl hinein; Er scheint ja recht mit fleis dazu gewölbt zu seyn!“ 29. Herr Hüon stand nunmehr, bis auf die lilienglatte Bartlose wang’, als wie ein Sultan da; Indem das Mütterchen ihn um und um besah Und immer noch an ihm zu putzen hatte. Drauf, als der treue Scherasmin Ihm was ins ohr geraunt, beginnt er fortzugehen, Reicht einen beutel gold der Wirthin freundlich hin, Und nun, ade aufs wiedersehen! 30. Nichts halb zu thun ist edler geister art. Ein reichgezäumtes roß steht vor der thür der Alten, Und neben bey zween knaben, schön und zart, In silberstück, die ihm die goldnen zügel halten. Herr Hüon schwingt sich auf; die knaben frisch voran, Und führen ihn, auf einem seitenwege, An Eufrats ufern hin, durch blühende gehäge, Bis sie der hohen Burg sich gegenüber sahn. 31.

Schon ist er durch den ersten hof gezogen, Im zweyten steigt er ab, und geht zum dritten ein; Er scheint ein hochzeitgast vom ersten rang zu seyn, Und überall, von diesem schein betrogen, Macht ihm die wache platz. Er schreitet frey und stolz Daher, und nähert sich dem thor von ebenholz. Zwölf Mohren, Riesen gleich, stehn mit gezüktem eisen Die unberechtigten vom eingang abzuweisen.

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32. Allein des Ritters staat und königlicher blik Drükt, wie er sich der hohen pforte zeiget, Die säbelspitzen schnell zurük, Die fernher sich entgegen ihm geneiget. Die flügel rauschen auf. Hoch schlägt sein heldenherz, Indem sie hinter ihm sich wieder wehend schließen. Drauf führt ein säulengang, an welchen gärten stießen, Ihn noch zu einer thür von übergüldtem erz. 33.

Ein großer vorsaal war’s, mit sclaven aller farben, Kombabischen geschlechts, erfüllt, Die ewig hier am quell der freuden darben, Und, da ein Mann mit Emirs glanz umhüllt In ihre holen augen schwillt, Mit blicken, die in knechtsgefühl erstarben, Die arme auf die brust ins kreuz gefaltet, stehn, Und kaum so mutig sind ihm hintennach zu sehn.

34.

Schon tönen cymbeln, trommeln, pfeiffen, Gesang und saitenspiel vom hochzeitsale her; Schon nikt des Sultans haupt von weindunst doppelt schwer, Und freyer schon beginnt die freude auszuschweiffen; Der Braut allein theilt sich die lust nicht mit, Die in des Bräutgams augen glühet; Als, eben da sie starr auf ihren teller siehet, Herr Hüon in den saal mit edler freyheit tritt.

35.

Er naht der tafel sich, und alle augenbrauen Ziehn sich erstaunt empor, den Fremden anzuschauen; Die schöne Rezia, die ihre träume denkt, Hält auf den teller noch den ernsten blick gesenkt; Auch der Kalif, den becher just zu leeren Beschäftigt, läßt sich nichts in seinem opfer stören: Nur Babekan, den seines nahen falls Kein guter geist verwarnt, dreht seinen stolzen hals.

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36.

Sogleich erkennt der Held den mann von gestern, Der sich verwog der Christen Gott zu lästern; Er ists, der links am goldnen stuhle sizt Und seinen nacken selbst als wie zur strafe bieget. Rasch, wie des Himmels flamme, blizt Der reiche säbel auf; der kopf des Heiden flieget, Und hochaufbrausend übersprizt Sein blut den tisch und den der ihm zur seite lieget.

37.

Wie der Gorgone furchtbars haupt In Perseus faust den wildempörten schaaren Das leben straks durch seinen anblik raubt; Noch dampft die Königsburg, noch schwillt der aufruhr, schnaubt Die mordlust ungezähmt im busen der Barbaren; Doch Perseus schüttelt kaum den kopf mit schlangenhaaren, So starrt der dolch in jeder blutgen hand, Und jeder mörder steht zum felsen hingebannt:

38.

So stokt auch hier, beym anblik solcher kecken Verrätherischen that, des frohen blutes lauf In jedem gast. Sie fuhren allzuhauf, Gespenstern gleich, von ihren sitzen auf, Und griffen nach dem schwert. Allein, gelähmt von schrecken, Erschlafft im ziehn der arm, und jedes schwert blieb stecken; Ohnmächt’ge wut im starren blik, Sank sprachlos der Kalif in seinem stuhl zurück.

39.

Der aufruhr, der den ganzen saal empöret, Schrekt Rezien aus ihrer träumerey; Sie schaut bestürzt sich um, was dessen ursach sey, Und, wie sie sich nach Hüons seite kehret, Wie wird ihm, da er sie erblikt! Sie ists, sie ists, ruft er, und läßt entzükt Den blut’gen stal und seinen turban fallen, Und wird von ihr erkannt wie seine locken wallen.

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40. Er ists, er ists, rief sie — allein die schaam Erstikt den ton in ihrem rosenmunde. Wie schlug das herz ihr erst, da er geflogen kam, Im angesicht der ganzen Tafelrunde Sie liebekühn in seine arme nahm, Und, da sie glüend bald, bald blaß wie eine Büste, Sich zwischen lieb’ und jungferlichem gram In seinen armen wand, sie auf die lippen küßte! 41.

Schon hatt’ er sie zum zweytenmal geküßt; Wo aber nun den trauring herbekommen? Zum glücke, daß der ring an seinem finger ist, Den er im Eisenthurm dem Riesen abgenommen. Zwar, wenig noch mit dessen wehrt vertraut, Schien ihm, dem ansehn nach, der schlechtste kaum geringer; Doch steckt er ihn aus noth izt an des Fräuleins finger, Und spricht: so eign’ ich dich zu meiner lieben Braut!

42. Er küßt mit diesem wort die sanftbezwungne Schöne Zum drittenmal auf ihren holden mund. Ha! schreyt der Sultan auf, und knirscht, und stampft den grund Vor Ungeduld — ihr leidet daß der hund Von einem Franken so mich höhne? Ergreift ihn! Zaudern ist verrath! Und, tropfenweis erpreßt, versöhne Sein schwarzes blut die ungeheure that! 43.

Auf einmal blitzen hundert Klingen In Hüons aug’, und kaum erhascht er noch, Eh sie im sturm auf ihn von allen seiten dringen, Sein hingeworfnes schwert. Er schwingt es dräuend. Doch Die schöne Rezia, von lieb’ und angst entgeistert, Schlingt einen arm um ihn, macht ihre brust zum schild Der seinigen — der andre arm bemeistert Sich seines schwerts. Zurück, verwegne, schreyt sie wild:

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44. Zurück! es ist kein weg zu diesem busen Als mitten durch den meinen, ruft sie laut; Und, kaum so sanft und hold wie Amors braut, Macht die verzweiflung sie so gräßlich wie Medusen. Vermeßne, haltet ein, ruft sie den Emirn zu, Zurück! — O schone sein, mein Vater! — und, o du, Den zum Gemahl das schiksal mir gegeben, O! spart mein blut in euer beyder leben! 45.

Umsonst! Des Sultans wut und dräun Nimmt überhand, die Heiden dringen ein. Der Ritter läßt sein schwert vergebens blitzen, Noch hält ihm Rezia den arm. Ihr ängstlich schreyn Durchbort sein herz. Was bleibt ihm sie zu schützen Noch übrig als sein Horn von elfenbein? Er sezt es an den mund, und zwingt mit sanftem hauche Den schönsten ton aus seinem krummen bauche.

46.

Auf einmal fällt der hochgezükte stal Aus jeder faust; in raschem taumel schlingen Der Emirn hände sich zu tänzerischen ringen; Ein lautes Hussa schallt bacchantisch durch den saal, Und jung und alt, was füße hat, muß springen; Des Hornes kraft läßt ihnen keine wahl: Nur Rezia, bestürzt dies wunderwerk zu sehen, Bestürzt und froh zugleich, bleibt neben Hüon stehen.

47.

Der ganze Divan dreht im kreis Sich schwindelnd um; die alten Bassen schnalzen Den takt dazu; und, wie auf glattem eis, Sieht man den Iman selbst mit einem Hämling walzen. Noch Stand noch Alter wird gespart; Sogar der Sultan kann der lust sich nicht erwehren, Faßt seinen Großwessir beym bart, Und will den alten kerl noch einen bockssprung lehren.

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48. Die nie erhörte schwärmerey Lokt bald aus jedem vorgemache Erst die verschnittenen herbey, Sodann das frauenvolk und endlich gar die wache. Sie all’ ergreift die lustge raserey: Der zaubertaumel sezt den ganzen Harem frey, Die gärtner selbst in ihren bunten schürzen Sieht man sich in den reyhn mit jungen nymfen stürzen. 49.

Als eine, die kaum ihren augen glaubt, Steht Rezia, des athems fast beraubt. Welch wunder, ruft sie aus, und just in dem momente, Wo nichts als dies uns beyde retten könnte! Ein guter Genius ist mit uns, Königin, Versezt der Held. Indem kömmt, durch die hauffen Der tanzenden, sein treuer Scherasmin Mit Fatmen gegen sie gelauffen.

50. Kommt, keucht er, lieber Herr! Wir haben keine zeit Dem tanzen zuzusehn. Die pferde stehn bereit. Die ganze Burg ist toll, die thüren stehen offen Und unbewacht; was säumen wir? Auch hab’ ich unterwegs Frau Fatmen angetroffen, Zur flucht bepakt als wie ein lastbar thier. Sey ruhig, spricht der Held, noch ists nicht zeit zu gehen, Erst muß das schwerste noch geschehen. 51.

Die schöne Rezia erblaßt bey diesem wort, Ihr ängstlich auge scheint zu fragen und zu bitten: Warum verziehn? Warum am steilem bord Des untergangs verziehn? O, laß mit flügelschritten Uns eilen, eh der taumelgeist zerrinnt, Der unsrer feinde sinnen bindt. Doch Hüon, unbewegt, begnüget sich, mit blicken Voll liebe, ihre hand fest an sein herz zu drücken.

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52.

Allmählich ließ nunmehr die kraft des hornes nach; Die köpfe schwindelten, die beine wurden schwach, Kein faden war an allen tänzern trocken, Und, in der athemlosen brust Geschwellt, begann das dicke blut zu stocken. Zur marter war die unfreywill’ge lust. Durchnäßt, als stieg er gleich aus einer badewanne, Schwankt der Kalif auf seine Ottomanne.

53.

Mit jedem augenblik fällt starr und ohne sinn, Da wo rings um die wand sich polster schwellend heben, Ein tänzer nach dem andern hin. Emirn und sclaven stürzen zappelnd neben Göttinnen des Serails, so wie’s dem zufall däucht, Als ob ein wirbelwind sie hingeschüttelt hätte, So daß zugleich auf Einem ruhebette Der stallknecht und die Favoritin keucht.

54.

Herr Hüon macht die stille sich zu nutze Die auf dem ganzen saale ruht; Läßt seine Königin, nah bey der thür, im schutze Des treuen Scherasmin, dem er auf seiner hut Zu seyn gebeut; giebt ihm auf alle fälle Das horn von elfenbein, und naht sodann der stelle Wo der Kalif, vom bal noch schwach und matt, Auf einen polsterthron sich hingeworfen hat.

55.

In dumpfer stille liegt mit ausgespannten flügeln Leisathmend die Erwartung rings umher. Die tänzer all’, von schlaf und taumel schwer, Bestreben sich die augen aufzuriegeln, Den Fremden anzusehn, der sich, nach solcher that, Mit unbewehrter hand und bittenden gebärden Dem stutzenden Kalifen langsam naht. Was, denkt man, wird aus diesem allen werden?

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56.

Er läßt sich auf ein knie vor dem Monarchen hin, Und mit dem sanften ton und kalten blik des Helden Beginnt er: Kayser Karl, von dem ich dienstmann bin, Läßt seinen gruß dem Herrn der Morgenländer melden, Und bittet dich — verzeyh! mir fällt’s zu sagen hart! Doch meinem Herrn den mund, so wie den arm, zu lehnen, Ist meine pflicht — um vier von deinen backenzähnen Und eine handvoll haar aus deinem silberbart.

57.

Er sprichts und schweigt, und steht gelassen Des Sultans antwort abzupassen. Allein, wo nehm ich athem her, den grimm Des alten Herrn mit worten euch zu schildern? Wie seine züge sich verwildern, Wie seine nase schnaubt? Mit welchem ungestümm Er auf vom throne springt? Wie seine augen klotzen, Und wie vor ungeduld ihm alle adern strotzen?

58.

Er starrt umher, will fluchen, und die wut Bricht schäumend jedes wort an seinen blauen lippen. Auf, sclaven! reißt das herz ihm aus den rippen! Zerhakt ihn glied vor glied! zapft sein verruchtes blut Mit pfriemen ab! weg mit ihm in die flammen! Die asche streut in alle winde aus! Und seinen Kayser Karl, den möge Gott verdammen! Was? Solchen antrag? Mir? In meinem eignen Haus?

59.

Wer ist der Karl, der gegen mich sich brüstet? Und warum kömmt er nicht, wenn’s ihn So sehr nach meinem bart und meinen zähnen lüstet, Und wagts, sie selber auszuziehn? Der mensch muß unter seiner mütze Nicht richtig seyn, versezt ein alter Kan; So etwas allenfalls begehrt man an der spitze Von dreymal hundert tausend mann.

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60. Kalif von Bagdad, spricht der Ritter Mit edelm stolz, laß alles schweigen hier, Und höre mich! Es liegt schon lange schwer auf mir, Karls auftrag und mein wort. Des Schicksals zwang ist bitter, Doch seiner oberherrlichkeit Sich zu entziehn, wo ist die macht auf erden? Was es zu thun, zu leiden uns gebeut, Das muß gethan, das muß gelitten werden. 61.

Hier steh ich, Herr, ein Sterblicher wie du, Und steh allein, mein Wort, trotz allen deinen Wachen, Mit meinem Leben gut zu machen. Doch läßt die ehre mir noch einen antrag zu. Entschließe dich von Mahommed zu weichen, Erhöh das heilige Kreuz, das edle Christenzeichen, In Babylon, und nimm den wahren glauben an, So hast du mehr, als Karl begehrt, gethan.

62. Dann nehm’ ichs auf mich selbst, dich völlig loszusprechen Von jeder andern foderung, Und der soll mir zuvor den nacken brechen, Der mehr verlangt! So einzeln und so jung Du hier mich siehst, was du bereits erfahren Verkündigt laut genug, daß einer mit mir ist, Der mehr vermag als alle deine Schaaren. Wähl izt das beste theil, wofern du weise bist! 63.

Derweil, an kraft und schönheit einem Boten Des Himmels gleich, der jugendliche Held, Uneingedenk der lanzen, die ihm drohten, So mannhaft spricht, so mutig dar sich stellt: Beugt Rezia von fern mit glüendroten Entzükten wangen, liebevoll Den schönen hals nach ihm, doch schaudernd, wie der knoten Von all den wundern sich zulezt entwickeln soll.

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Oberon Sechster Gesang. 1.

Herr Hüon hatte kaum das lezte wort gesprochen, So fängt der alte Herr wie ein beseßner an Zu schreyn, zu stampfen und zu pochen, Und sein verstand tritt gänzlich aus der bahn. Die Heiden all’ in tollem eifer springen Von ihren Sitzen auf mit schnauben und mit dräun, Und lanzen, säbel, dolche dringen Auf Mahoms feind von allen seiten ein.

2.

Doch Hüon, eh sie ihn erreichen, reißt in eile Der männer einem rasch die stange aus der hand, Schlägt um sich her damit als wie mit einer keule, Und zieht, stets fechtend, sich allmählich an die wand. Ein großer goldner napf, vom schenktisch weggenommen, Dient ihm zugleich als schild und als gewehr; Schon zappeln viel am boden um ihn her, Die seinem grimm zu nah gekommen.

3.

Der gute Scherasmin, der an der thüre fern Zum schutz der Schönen steht, glaubt seinen ersten Herrn Im schlachtgedräng zu sehn, und überläßt voll freude Sich einen augenblik der süßen augenweide; Doch bald zerstreut den angenehmen wahn Des Fräuleins angstgeschrey; er sieht der Heiden Rasen, Sieht seines Herr’n gefahr, sezt flugs das hifthorn an Und bläßt, als läg’ ihm ob die todten aufzublasen.

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4.

Die ganze Burg erschallt davon und kracht, Und straks verschlingt den tag die fürchterlichste nacht, Gespenster lassen sich wie schnelle blitze sehen, Und unter stetem donnern schwankt Des schlosses felsengrund. Der Heiden herz erkrankt; Sie taumeln trunknen gleich, gehör, gesicht vergehen, Der schlaffen hand entglitschen schwert und speer, Und gruppenweis liegt alles starr umher.

5.

Der Sultan, übertäubt von so viel wunderdingen, Scheint mit dem tod den lezten kampf zu ringen; Sein arm ist nervenlos, sein athem schwer, Sein puls schlägt matt, und endlich gar nicht mehr. Auf einmal schweigt der sturm; ein lieblichsäuselnd wehen Erfüllt den saal mit frischem lilienduft, Und, wie ein Engelsbild ob einer todtengruft, Läßt Ob’ron sich auf einem wölkchen sehen.

6.

Ein lauter schrey des schreckens und der lust Entfährt der Perserin; ein unfreywilligs grauen Bekämpft in ihr das schüchterne vertrauen: Die arme über ihre brust Gefaltet, steht sie glüend neben Dem Jüngling da, dem sie ihr herz gegeben, Und wagt, der süßen schuld jungfräulich sich bewußt, Zu ihrem Retter kaum die augen zu erheben.

7.

Gut, Hüon, spricht der Geist, du hast dein ehrenwort Gelößt, ich bin mit dir zufrieden. Zum ritterdank ist dir dies schöne Weib beschieden! Doch, eh ihr euch entfernt von diesem ort, Bedenke Rezia, wozu sie sich entschließet, Eh sie vielleicht mit unfruchtbarer reu Die rasche wahl verführter augen büßet! Zu bleiben oder gehn läßt ihr das Schiksal frey.

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8.

So vieler Herrlichkeit entsagen, Verlassen Hof und Thron, dem sie geboren ward, Und sich, auf ungewisse fahrt, Ins weite meer der Welt mit einem Mann zu wagen; Zu leben ihm allein, mit ihm den unbestand Des Erdenglüks, mit ihm des Schiksals schläge tragen, (Und ach! oft kömmt der schlag von der geliebten hand!) Da lohnt sichs wohl, vorher sein herz genau zu fragen.

9.

Noch, Rezia, wenn dich die wage schrekt, Noch stehts bey dir den wunsch der Liebe zu betrügen; Sie schlummern nur, die hier als wie im grabe liegen, Sie leben wieder auf, sobald mein stab sie wekt. Der Sultan wird dir gerne, was geschehen, Verzeyhn, trotz dem was er dabey verlohr, Und Rezia wird wieder wie zuvor Von aller welt sich angebetet sehen.

10.

Hier schwieg der schöne Zwerg. Und, bleicher als der tod Steht Hüon da, das urtheil zu empfangen, Womit ihn Oberon, der grausame! bedroht. In asche sinkt das feuer seiner wangen. Zu edel oder stolz, vielleicht ein zweifelnd herz Mit liebesworten zu bestechen, Starrt er zur erde hin mit tiefverhaltnem schmerz, Und läßt nicht einen blik zu seinem vortheil sprechen.

11.

Doch Rezia, durchglüht von seinem ersten kuß, Braucht keines zunders mehr die flamme zu erhitzen. Wie wenig däucht ihr noch was sie verlassen muß, Um alles was sie liebt in Hüon zu besitzen! Von schaam und liebe roth bis an die fingerspitzen, Verbirgt sie ihr gesicht und einen thränenguß In seinem arm; indem, hochschlagend von entzücken, Ihr herz empor sich drängt, an seines sich zu drücken.

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12.

Und Oberon bewegt den lilienstab Sanft gegen sie, als wollt’ er seinen seegen Auf ihrer herzen bündnis legen, Und eine thräne fällt aus seinem aug’ herab Auf beyder stirn. So eil’ auf liebesschwingen, Spricht er, du holdes Paar! Mein wagen steht bereit, Bevor das nächste licht der schatten heer zerstreut, Euch sicher an den strand von Askalon zu bringen.

13.

Er sprachs, und eh des lezten wortes Laut Verklungen war, entschwand er ihren augen. Wie einem traum entwacht steht Hüons schöne braut, Den süßen duft begierig aufzusaugen, Der noch die luft erfüllt. Drauf sinkt ein scheuer blik Auf ihren vater hin, der wie im todesschlummer Zu starren scheint. Sie seufzt, und wehmutsvoller kummer Mischt bitterkeit in ihres herzens glük.

14.

Sie hüllt sich ein. Herr Hüon, dem die liebe Die sinnen schärft, sieht nicht sobald Ihr herz beklemmt, ihr schönes auge trübe, So drükt er sie, mit zärtlicher gewalt, Den rechten arm um ihren leib gewunden, Zum saal hinaus. — Komm, spricht er, eh die nacht Uns überrascht, und jeder arm erwacht, Den uns zu lieb der Geist mit zauberschlaf gebunden.

15.

Komm, laß uns fliehn, eh uns den weg zur flucht Ein neuer feind vielleicht zu sperren sucht; Und sey gewiß, sind wir nur erst geborgen, Wird unser Schützer auch für diese schläfer sorgen. Dies sprechend trägt er sie mit jugendlicher kraft Die marmortrepp’ hinunter bis zum Wagen, Den Oberon zu ihrer flucht verschafft, Und eine süßre last hat nie ein mann getragen.

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16.

Die ganze Burg ist furchtbarstill und leer, Wie eine gruft, und leichen ähnlich liegen In tiefem schlaf die Hüter hin und her; Nichts hemmt der liebe flucht; der wagen wird bestiegen: Doch traut das Fräulein sich dem Ritter nicht allein, Mit Scherasmin steigt auch die Amme hastig ein. Sie, die zum erstenmal so viele wunder siehet, Die arme Frau weiß nicht wie ihr geschiehet.

17.

Wie wird ihr erst, indem sie rükwärts schaut Und sieht, an pferde statt, vier Schwanen vor dem wagen, Regiert von einem Kind? — und denket, wie’s ihr graut, Da sie emporgelupft und durch die luft getragen Sich fühlt, und kaum zu athmen sich getraut, Und nicht begreifen kann, wie, ohne umzuschlagen, So schwer bepakt, der wagen sich erhebt, Und, steter als ein kahn, auf leichten wolken schwebt.

18.

Als endlich gar die Nacht sie überfiel, Ists wunder, daß die furcht zulezt die schaam besiegte, Und Fatme so gedrang an Scherasmin sich schmiegte, Als wie, wer schlafen will, an seinen lieben pfühl. Vermuthlich daß der mann dazu sich willig fügte; In solchen fällen mischt das herz sich gern ins spiel: Jedoch gereicht zum ruhm des wackern Alten, Daß er wie reines gold dies feuer ausgehalten.

19.

Ganz anders war das junge Paar gestimmt, Das Amor izt mit seiner Mutter schwanen Davonzuführen schien. Ob auf gewohnten bahnen Den lauf ihr zauberfuhrwerk nimmt, Ob durch die luft, ob’s rollet oder schwimmt, Ob langsam oder schnell, mit pferden oder schwanen, Sanft oder hart, mit oder ohne fahr — Sie werden nichts von allem dem gewahr.

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20. Ein neuer wonnetraum, ein seeliges entzücken Ins Paradeis, dünkt sie ihr gegenwärt’ger stand; Sie können nichts als stumm, mit nimmersatten blicken, Sich anschaun, eins des andern warme hand Ans volle herz in süßer inbrunst drücken, Und, während himmel und erd’ aus ihren augen schwand, Und sie allein noch übrig sind, sich fragen: Ist’s, oder träumt uns noch? Sind wir in Einem wagen? 21.

„So war’s kein traum als ich im traum dich sah, (Rief jedes aus) so war es Rezia? War’s Hüon? und ein Gott hat dich mich finden lassen? Du Mein? — ich Dein? — wer durft’ es hoffen, wer? So wundervoll vereint, uns nimmer nimmermehr Zu trennen! Kann das herz so viele wonne fassen?“ Und dann von neuem stets einander angeblikt, Von neuem hand um hand an mund und herz gedrükt!

22. Vergebens hüllt die Nacht mit dunstbeladnen flügeln Den luftkreis ein; dies hemmt der Liebe sehkraft nicht; Aus ihren augen strahlt ein überirdisch licht, Worinn die seelen selbst sich in einander spiegeln. Nacht ist nicht nacht für sie; Elysium Und Himmelreich ist alles um und um; Ihr sonnenschein ergießet sich von innen, Und jeder augenblick entfaltet neue sinnen. 23. Allmählich wiegt die wonnetrunkenheit Das volle herz in zauberischen schlummer; Die augen sinken zu, die sinnen werden stummer, Die seele dünkt vom leibe sich befreyt, In Ein gefühl beschränkt — so fest von ihm umschlungen! So inniglich von ihm durchathmet und durchdrungen! Beschränkt in Eins, in diesem Einen bloß Sich fühlend — Aber o! dies Eins — wie grenzenlos!

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24. Kaum fieng Aurora an die schatten zu verjagen, Und schloß dem Tag mit ihrer rosenhand Die pforten auf, so hielt der schwanenwagen, Nicht weit vom seebespülten strand Von Askalon, im schirm von hohen palmenbäumen Auf einmal still. Ein sanfter stoß Wekt unsers doppelt paar, dies aus des schlummers schoos Und jenes aus der Liebe wachen träumen. 25.

In süßem schrecken bebt die Sultanstochter auf, Indem, zum erstenmal, vom Morgen angestralet, Das Weltmeer grenzenlos sich in ihr auge malet. Voll wunders schweift in ungehemtem lauf Der ausgedehnte blik auf diesen wasserhöhen; Die Unermeßlichkeit scheint vor ihm aufgethan; Doch, mitten in der lust kömmt sie ein schaudern an, Im Unermeßlichen sich selbst so klein zu sehen.

26. Ein grauer flor umnebelt ihren blik. Wo bin ich? ruft sie. Doch, Herr Hüon, der am Wagen Mit ofnen armen steht ins grüne sie zu tragen, Bringt den verschwebten geist schnell zu sich selbst zurük. Sey, spricht er, ohne furcht, mein Leben, (Indem er seinen mund von lieb und sehnsucht warm Auf ihren busen drükt, den stille seufzer heben,) Sey ohne furcht, du bist in meinem arm. 27.

Mit wonne fühlt sie sich izt wieder ganz umgeben Von ihrer liebe, ganz in seinen arm versenkt, Und junger epheu kann am stamm nicht brünst’ger kleben Als sie um seinen leib die runden arme schränkt. So eilt er mit der süßen beute Den palmen zu; sezt dann auf weiches mos Sie in den schatten hin, sich selbst an ihre seite Und tauschte seinen plaz um keines Sultans los.

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28. Bald findet auch mit Fatme sich bey ihnen Sein Alter ein, entschlossen, er und sie, Bis auf den lezten hauch dem lieben paar zu dienen. Kaum hatte Scherasmin im grünen Bey seinem Herrn, und Fatme nah am knie Der jungen Dame plaz genommen, Schnell, wie ein bliz der fantasie, Kam durch die luft der schöne Zwerg geschwommen. 29. Aus seinen augen brach, durch sanftbewölkten gram, Der freundschaft mildes licht, und als er näher kam Sahn sie ein Kästchen, dicht besezt mit Edelsteinen, In seinem linken arm wie eine Sonne scheinen. Freund Hüon, sprach der Geist, nimm dies aus meiner hand, Wiewohl dich Karl dazu ausdrüklich nicht verpflichtet: Wenn du ihn wiedersiehst, so dien’ es ihm zum pfand Daß du, was er begehrt, buchstäblich ausgerichtet! 30. Ihr merkt (wiewohl, in Rezias gegenwart, Nicht schiklich war, es laut zu offenbaren) Daß des Kalifen Zähn’ und Zwickelbart, In baumwoll’ eingepakt, in diesem kästchen waren. Es hatte, während daß der Sultan noch erstarrt In seinem Lehnstul lag, von Ob’rons unsichtbaren Trabanten einer sich behend an’s werk gemacht, Und alles ohne scheer’ und pelikan vollbracht. 31.

Eilt nun, fuhr Ob’ron fort, bevor euch nachzujagen Der Sultan zeit gewinnt! Dort auf der Rhede liegt Ein Schiff, das sonder harm in sechs bis sieben tagen Mit euch bis nach Lepanto fliegt, Dort findet ihr, sobald ihr angekommen, Ein ander’s schon bereit, das nach Salern euch bringt; Und dann, so schnell als lieb’ und sehnsucht euch beschwingt, Geradenwegs den lauf nach Rom genommen!

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32. Und tief, o Hüon, sey’s in deinen sinn geprägt, So lange bis dein Öhm, der fromme Pabst Sylvester, Auf eurer herzen bund des Himmels weyhung legt, Betrachtet euch als Bruder und als Schwester. Daß der verbotnen süßen frucht Euch ja nicht vor der Zeit gelüste! Denn wisset, daß im Nu, da ihr davon versucht, Sich Oberon von euch auf ewig trennen müßte. 33.

Er sagt’s, und seufzt, und stiller kummer schwillt In seinem aug. Drauf heißt er sie ihm nahen Und küßt sie auf die stirn. Und als sie aufwärts sahen, Zerfloß er wie ein wolkenbild Aus ihrem blik. Der goldne Tag verhüllt Sein antlitz; traurig rauschts, wie seufzer, durch die palmen, Und land und meer scheint, dumpf und tief erstillt, In trübem duft gestaltlos zu verqualmen.

34.

Ein seltsam Weh, ein stilles bangen drükt Das holde Paar; sie sehn mit blassen wangen Einander an; im ofnen mund erstikt Was jedes sprechen will; sie wollen sich umfangen, Und ein geheimes grau’n hält ihren arm. Allein In einem pulsschlag stürzt der dumpfe nebel nieder, Lacht alles wie zuvor in goldnem sonnenschein, Und mut und freude kehrt in ihre herzen wieder.

35.

Sie eilen nach dem schiff, und finden’s, hocherfreut, Zur reise schon versehn und eingerichtet Durch ihres schützers gütigkeit. Ein frischer landwind weht, der anker wird gelichtet, Das seevolk jauchzt. Die Barke, vogelschnell, Durchschneidet schon mit ausgespannten flügeln Die blaue flut; die luft ist rein und hell, Und glatt das meer um sich darinn zu spiegeln.

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36.

Sanftwiegend schwimmt, gleich einem stolzen schwan, Das schiff dahin, zum wunder aller Söhne Des Ozeans, auf kaum gefurchter bahn. So eine fahrt hat noch kein mensch gethan, Rief jeder aus. Der Ritter und die Schöne Stehn, arm in arm geschlungen, stundenlang Auf dem verdeck, und schau’n; und jede neue scene Ist Opium für ihren liebesdrang.

37.

Und wenn sie in die unabsehbarn flächen Hinaus sehn, wo in luft der wellen blau zerrinnt, Fängt Hüon an von seinem Land zu sprechen, Wie schön es ist, wie froh darinn die leute sind, Und wie von Ost zum West die Sonne Doch auf nichts holders scheinen kann Als auf die ufer der Garonne; Und alles dies beschwört sein alter Lehensmann.

38.

Denn Dem hüpft hoch das herz, so oft er seinem lieben Gascogne Hymnen singen kann. Die schöne Rezia, wiewol ihr dann und wann Viel worte unverständlich blieben, Horcht unverwandt. Denn das, wovon ihr nichts entgeht, Was mit unsäglichem behagen, So neu ihr’s ist, ihr herz unendlich leicht versteht, Ist — was ihr Hüons Augen sagen.

39.

Ein sanfter druk der warmen hand, Ein seufzer, der das volle herz entladet, Ein leiser kuß, der rosenwang’ entwandt, Und, o! ein blik, in Amors thau gebadet, Was überzeugt, gewinnt und rührt wie dies? Was geht so schnell, trotz dem behendsten pfeile Von herz zu herz, trifft so gewiß Den zweck, und macht so wenig langeweile?

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40. In seelgesprächen dieser art Verlohr das wortgespräch sich stets bey unsern beyden. Oft schlichen sie, um zeugen zu vermeiden, In ihr gemach, und standen da gepaart Am offnen fenster, oder saßen Auf ihrem Sofa. Doch, auch dann nicht ganz allein, Die Amme wenigstens muß stets zugegen seyn; Denn Hüon selber bat ihn nie allein zu lassen. 41.

Noch immer wiederhallt der schreckenvolle ton Des strengen „laßt euch nicht gelüsten“ In seinem ohr; denn wißt, sprach Oberon, Daß wir uns sonst auf ewig trennen müßten. Wie meynte das der Geist? es war ein tiefer sinn In seinem blick; sein aug ward immer ernster, immer Bewölkter; thränen schwammen drinn, Und sein gesicht verlohr den sonst gewohnten schimmer.

42. Dies schwellt mit ahnungen des guten Ritters herz; Er traut sich selbst nicht mehr; der liebe leichtster scherz Erwekt die furcht, ob Ob’ron ihn verdamme. Indessen frißt die eingeschloßne flamme Sich immer tiefer ein. Die luft, worinn er lebt, Ist zauberluft, weil Rezia sie theilet; Ihr athem weht darinn, ihr holder schatten schwebt Um jeden gegenstand, auf dem sein auge weilet. 43.

Und, o! sie selbst glänzt ihm im Morgenlicht Im abendroth, im sanften schattentage Des Mondes an. In welcher schönen lage, In welcher stellung reizt ihr Nymfenwuchs ihn nicht? Der schleyer, der vor allen fremden augen Sie dicht umhüllt, fällt im Gemach zurük, Erlaubt sogar dem furchtsamkühnen blik Sich, Bienen gleich, in hals und busen einzusaugen.

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44. Er fühlt die süße gefahr. O, soll es möglich seyn Du Schönste, ruft er oft, bis Rom es auszuhalten, So wikle dich in sieben schleyer ein! Verstecke jeden reiz in tausend kleine falten; Laß über dieses arms lebend’ges elfenbein Die weiten ärmel bis zur fingerspitze fallen, Und ach! freund Oberon, vor allen Verwandle bis dahin mein herz in kalten stein! 45.

Es war, wiewohl ihm oft die kräfte schier versagen, Des Ritters ganzer ernst, den sieg davon zu tragen In diesem kampf. Es däucht’ ihn groß und schön Das schwere abentheu’r der tugend anzugehn, Schon groß und schön, es nur zu wagen, Und zehnfach schön und groß, es rühmlich zu bestehn. Allein, die möglichkeit so einen feind zu dämpfen, Der immer stärker wird, jemehr wir mit ihm kämpfen?

46.

Nichts ist, was diesem feind so bald gewonnen giebt, Als bey der Schönen, die man liebt, Sich dem gefühl stillschweigend überlassen. Zum glük erinnert sich Herr Hüon seiner pflicht, Nach ritterlichem brauch, sich mit dem unterricht Der Sultanstochter zu befassen. Denn ach! das arme kind lag noch im Heidenthum, Und glaubt’ an Mahommed, unwissend zwar warum.

47.

Der Ritter, sie von dieser pest zu heilen, Eilt was er kann (die Liebe hieß ihn eilen) Sein bißchen Christenthum der Holden mitzutheilen. An eifer gab er keinem Märtrer nach, Er war an glauben stark, doch an erkenntniß schwach, Und die Theologie war keineswegs sein fach; Sein Pater und sein Credo, ohne glossen, In diesen kreis war all sein wissen eingeschlossen.

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48. Doch was vielleicht an licht und gründlichkeit Der lehre fehlt, ersezt des lehrers feuer; Herr Hüon, standsgemäß ein feind von wörterstreit, Handhabt das werk gleich einem abentheuer, Und was er glaubt, beschwört er hoch und theuer, Erbötig, dessen richtigkeit Dem ganzen Heidenthum mit seinem blanken eisen Zu wasser und zu land handgreiflich zu erweisen. 49.

Groß ist in des Geliebten mund Der wahrheit kraft; das herz, voraus mit ihm in bund, Horcht ihm mit lust und lehrbegiergem schweigen. Was ist so leicht zu überzeugen Als Liebe? Ein blik, ein kuß ist ihr ein glaubensgrund. Die Schöne, ohne sich in fragen zu versteigen, Glaubt ihrem Hüon nach, und macht in kurzer zeit Ihr Kreuz an stirn und brust mit vieler fertigkeit.

50. Das heil’ge bad der Christen zu empfangen Stand nun (wie unser Held in seiner einfalt meynt) Ihr weiter nichts im weg. Ihr ists, um vor verlangen Zu brennen, schon genug, daß Er darnach zu bangen Und jedes augenbliks verzug zu hassen scheint. Ein jünger (Sanct) Basils, ein großer heidenfeind, Der sich im schiff befand, wird leicht gewonnen, ihnen Für die gebühr hierinn mit seinem amt zu dienen. 51.

Die schöne Rezia, die nun Amanda hieß Seitdem sie in den Christenorden Getreten war, gewann nicht nur das Paradies, Sie schien dadurch sogar noch eins so schön geworden. Allein von Hüon wich zur stunde sichtbarlich Sein guter geist. Es war, im taumel des entzückens, Des herzens und des händedrückens Kein end’. Umsonst zerwinkt der treue Alte sich;

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52.

Vergebens stellt sich Fatme gegenüber: Der gute Paladin in seinem seelenfieber Vergißt des Zwergs, der warnung, der gefahr. Der Alte hätte sich zu tode winken können, Die wonn’, in die er ganz versunken war, Sie, deren kuß nun engel selbst ihm gönnen, Zu drücken an sein herz, Amanda sie zu nennen, Umnebelt seinen blik, berauscht ihn ganz und gar.

53.

Auch Rezia, seitdem sie von Amanden Den namen eingetauscht, glaubt freyer von den banden Des zwangs zu seyn; ist nicht mehr Rezia, vergißt Nur desto leichter Königswürde, Hof, Vaterland, und kurz was nicht Amanda ist. Die rükerinnerung, die sonst wie eine bürde Zuweilen noch an ihrem nacken hieng, Fiel mit dem namen ab, den sie im tauf empfieng.

54.

Sie ist nun ganz für Hüon neugeboren, Gab alles, was sie war, für ihn, Gab eine Welt um Liebe hin, Und fühlt in seinem arm, sie habe nichts verloren. Sie gab sich weg, und ist Amande nun Für Liebe nur, durch Liebe nur zu leben, Hat in der Welt nichts anders mehr zu thun, Nichts anders zu empfangen noch zu geben.

55.

Der wakre Scherasmin, der das verliebte Paar In solcher stimmung sieht, erschrikt vor ihren blicken. Er wird darinn ich weiß nicht was gewahr, Das lüstern ist verbotne frucht zu pflücken. Ein Zeuge drükte sie, das sah er offenbar. Sie küßten sich, sobald er nur den rücken Ein wenig kehrt, so rasch, so durstiglich, Und wurden roth, sobald sein auge sie bestrich.

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56.

Im spiegel seiner eignen jugend Sieht er nur allzugut was beyde nicht mehr sahn; Sieht, einer Motte gleich, die unerfahrne tugend, Sich ahnunglos der schönen flamme nahn: Wie lieblich zieht der glanz, die sanfte wärme an! Durch ihre unschuld selbst betrogen Umtaumelt sie das licht in immer kleinern bogen, Und plözlich ach! verbrennt sie ihre flügel dran.

57.

In dieser noth läßt der getreue Alte, Mit Fatmen ingeheim zu diesem zwek vereint, Nichts unversucht, was ihm ein mittel scheint, Daß wenigstens bis Rom des Ritters weisheit halte; Ihm fällt bald dies bald jenes ein, Sie zu beschäftigen, zu stören, zu zerstreun; Zulezt schlägt er, da alle mittel fehlen, Zur abendkürzung vor, ein mährchen zu erzählen.

58.

Ein Mährchen nennt’ er es, wiewohl es freylich mehr Als mährchen war. Ihm hatt’ es ein Calender Zu Basra einst erzählt, als er die Morgenländer Nach seines Herren tod durchirrte, lang vorher Eh in die kluft des Libans aus den wogen Der stürmevollen welt er sich zurükgezogen: Und da es izt in ihm gar lebhaft sich erneut, Glaubt er, es sey vielleicht ein wort zu rechter zeit.

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Oberon Siebenter Gesang. 1.

Und so beginnt er dann: Vor etwa hundert Jahren Lebt’ an den ufern des Tessin Ein Edelmann, an weisheit ziemlich grün, Wiewohl sehr grau an bart und haaren; Mit podagra und gicht, der späten bittern frucht Zuviel genoßner lust, fast täglich heimgesucht; Ein hofmann übrigens, galant und wohlerfahren, Und in der kriegeskunst der Minne wohlversucht.

2.

Dem war, nachdem er lang sein sündliches vergnügen Daran gehabt, im Hagestolzen stand Auf Amors freyer pürsch bergauf bergab im land Herumzuziehn, und, wo er eingang fand, Bey seines Nächsten weib zu liegen; Ihm, sag ich, war zulezt der einfall aufgestiegen, Den steiffen hals, noch an des lebens rand, Ins sanfte joch der heilgen Eh’ zu schmiegen.

3.

Mit viel geschmak und wohlverkühltem blut Sucht er ein kind sich aus, wie er’s zu tisch und bette, Zu scherz und ernst gerade nöthig hätte, Zumal zur sicherheit; ein mädchen, fromm und gut, Unschuldig, sittsam, unerfahren, Keusch wie der mond und frey von aller eiteln lust, Jung überdies, pechschwarz von aug und haaren, Von farbe rosenhaft, und rund von arm und brust.

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4.

Von allen drey und dreyßig stücken, Womit ein schönes weib, sagt man, versehen ist, Hätt’ er kein einzigs gern an seiner braut vermißt; Am wenigsten das aug’, in dessen feuerblicken Ein feuchtes wölkchen schwimmt, die kleine weiche hand, Die lippen, die dem kuß entgegenschwellen, Das runde knie, der hüften schöne wellen, Und unter sanftem druk den süßen widerstand.

5.

Der gute alte Herr, beym kauf so schöner waare, Vergaß nur eins — die fünf und sechzig jahre, Die seinen kopf bereits mit schnee bestreun. Zwar macht er aus geheimer vorempfindung Ausdrüklich zum beding der ehlichen verbindung, Sie sollte reizvoll, warm, und alles das, allein Für ihn, und kalt wie eis für jeden andern bleiben: Allein, wer wird für sie die klausel unterschreiben?

6.

Rosette that’s. Rosette war ein kind, War auf dem land, dem veilchen gleich, im schatten Verborgen aufgeblüht, war froh und leichtgesinnt, Und sah in ihrem künftgen herrn und gatten Nichts als den mann der sie zur großen Dame macht’, Ihr reiche kleider gab und tausend schöne sachen, Die kindern, wie sie war, bey tage kurzweil machen; An andern hatte noch ihr herzchen nie gedacht.

7.

Die hochzeit ward demnach mit großer pracht vollzogen. Der edle Bräut’gam, zwar ein wenig steif und schwer, Stapft an Rosettens hand gar ehrenfest einher, Und wähnt sein taufschein hab um zwanzig ihn belogen. Was augen hat läuft schaarenweis herbey Den prächt’gen kirchgang anzustaunen; Ein stattlich paar, hört man zu beiden seiten raunen, Sie gleichen sich wie Januar und May.

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8.

Rosettens unschuld war, wie in dergleichen fällen Gewöhnlich ist, des alten Gangolfs stolz. Er schien am zweiten tag vor hohem mut zu schwellen, Und schritt einher gerader als ein bolz. Es war der lezte trieb von einem dürren holz! Die übel, die sich gern zu grauer Lieb’ gesellen, Begannen bald bey ihm sich reichlich einzustellen; Je wärmer Röschen ward, je mehr ihr Alter schmolz.

9.

Indeß verdoppelt er auf andre art die proben Von seiner zärtlichkeit, beschenkt sie täglich schier Mit neuem modekram, mit spitzen, schönen roben, Juwelen, allem was er ihr An augen ansehn kann. Es koste was es wolle, Was ihr vergnügen macht, das ist für ihn genuß; Er fodert nichts dafür als höchstens einen kuß, Mit Einem wort, er spielt die alten mannes rolle.

10.

Rosette, jugendlich vergnügt mit ihrem loos, Spart auch dagegen nichts den Alten zu vergnügen Nach seiner art; sezt sich auf seinen schoos So viel er will, und läßt auf seinem knie sich wiegen, Läßt aus gefälligkeit ihn tändeln wie er kann, Pflegt seiner, liebevoll, in seinem unvermögen, Und, wandelt ihn, wie oft, die schlafsucht an, Darf er sein schweres haupt auf ihren busen legen.

11.

So lebten sie in eintracht manches jahr Zusammen, keusch und treu wie fromme turteltauben, So treuergeben sie, und er so voller glauben, Daß jedermann dadurch erbauet war. Der gute alte mann vergaß bey ihren scherzen Sein podagra und seine rückenschmerzen, Und seinetwegen blos beklagt in ihrem herzen Die junge frau sein zehntes stufenjahr.

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12.

Allein, es kam; und ach! zu ihrem großen leide, Ein übel kam mit ihm auf Gangolfs graues haupt, Das seiner liebsten augenweide Den armen Greis auf lebenslang beraubt. Nie wird er wieder sich an ihren blicken sonnen, Nie wieder sehn dies reizende Oval, Wovon zu Engeln und Madonnen So mancher maler gern die sanften züge stahl!

13.

Wer sollt’ ihm nun die lange zeit vertreiben, Dem armen blinden mann, hätt’ er Rosetten nicht? Was würd’ aus ihm, wär’ ihr’s nicht süße pflicht, Untrennbar tag und nacht an ihn geklebt zu bleiben, Ihm immer arm und augenlicht Zu leyhn, für ihn zu lesen und zu schreiben, Zu fragen was ihm fehlt, und, quälet ihn die gicht, Mit leichter warmer hand ihm knie und fuß zu reiben?

14.

Rosette, immer sanft, gefällig, mitleidsvoll, Entrichtet ohne zwang und murren Der ehstandspflicht auch diesen schweren zoll; Aufmerksam stets (wiewohl bey seinem knurren Ihr heimlich oft die gall’ ein wenig schwoll) Daß ja ihr Alter nichts zu klagen haben soll. Zum unglück fieng er izt, trotz ihrem guten willen, In seinem sorgestuhl die schlimmste aller grillen.

15.

Der ärgste feind, der je sich aus der hölle schlich, Die sterblichen zu necken und zu quälen, Fuhr in den armen mann, und plagt ihn jämmerlich. Alt, schwach und blind, wie konnt’ er sich verheelen, Rosette sey, so sehr sie einem Engel glich, Doch nur ein Weib? Konnt’s an versuchern fehlen? Die welt ist ringsumher von ofnen augen voll, Und ach! das auge blind, das sie beleuchten soll!

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16.

So jung, so schön, aus lauter liebeszunder Gewebt — wer kann sie sehn und nicht vor sehnsucht glühn? Wo sah man je so frische wangen blühn, Je augen funkelnder und lilienarme runder? Zwar ist sie tugendhaft; sie wird ja freylich fliehn, Doch, wenn sie auf der flucht nun glitschte? wär’ es wunder? Der grund worauf sie flieht ist hellgeschlifner stahl, Und ach! die einmal fällt, die fällt für allemal.

17.

Selbst ihre tugenden, ihr sanft gefällig wesen, Ihr leichter sinn, stets froh und guter ding, Was sonst an ihr das liebste ihm gewesen, Die holde schaam sogar, womit sie ihn umfieng, Und was ihm sonst von ihren tausend reizen, Entschleyert und verschönt, sein seelenspiegel weißt, Das alles hilft izt nur dem argwohn der ihn beißt Sich in sein wundes herz noch tiefer einzubeizen.

18.

Der sclaverey, worinn das gute junge weib Seit dieser zeit verlechzt, ist keine zu vergleichen; Stets angeschnallt an seinen siechen leib Darf sie ihm tag und nacht nicht von der seite weichen. Mißtrauisch aufgeschrekt von jedem leisen wort, Trägt er die augen nun an seinen finger-enden, Und nachts liegt eine stets von seinen knot’gen händen Bald da, bald dort auf ihr, aus furcht sie schleich’ ihm fort.

19.

So sanft Rosette war, so fiel doch solch betragen Ihr schwer aufs herz. Er nennt es Liebe zwar: Allein sie sah zuwohl nur was es war, Und fieng, anstatt sich fruchtlos zu beklagen, Zu überlegen an. So neben einem Mann Von siebenzig, mit gicht und stein beladen, Durchs leben, wie durch einen sumpf, zu waden, Und noch gequält dazu, däucht ihr ein harter bann.

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20. Gar vieles, was sie sonst geduldig übersehen, Scheint in dem licht, worinn sie izt es sehen muß, Höchst widerlich und gar nicht auszustehen. Sein zärtlichthun ist izt ihr herzlichster verdruß, Sein scherz unleidlich plump, und eckelhaft sein kuß; Wagt er noch mehr, so möchte man vergehen! Und sie, o grausam! sie ist jung und schön für ihn, Und was ihm unnütz ist, muß sie sich selbst entziehn! 21.

Und was entschädigt sie? Der Stadt gesell’ge freuden, Tanz, schauspiel, alles das ist ihr verbotne frucht! Von niemand wird ihr altes schloß besucht; Als giengen Geister drinn scheint jeder es zu meiden. Ein großer garten, hoch mit einer mau’r umfaßt, Ist alles was sie hat — im kreis sich zu bewegen; Zum träumen kann sie da an einen baum sich legen, Und dann sogar ist ihr der blinde mann zur last.

22. Ein junger Edelknecht, in Gangolfs schloß erzogen Und über seinen stall gesezt, Wird izt zum erstenmal betrachtenswert geschäzt. Er hatte zwar schon lange sich verwogen, Mit schmachtender begier die Dame anzusehn, Und oft gesucht ihr’s mündlich zu gestehn, Doch, da sie stets dem anlas ausgebogen, Auch wieder ehrfurchtsvoll zurücke sich gezogen. 23. Itzt aber, da verdruß und gram Und langeweil bey tag, und noch langweil’gers wachen Bey nacht, zerstreuungen ihr zum bedürfnis machen, Kein wunder, daß sie izt die sache anders nahm. Es däucht ihr hart, in ihren schönsten tagen So gänzlich allem trost des lebens zu entsagen; Und Walter, dessen blik izt wieder mut bekam, War unermüdet, sich zum tröster anzutragen.

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24. Sein eifer wächst je mehr er raum gewinnt; Er fleht, sie weigert sich; und unvermerkt entspinnt Sich ein verständnis zwischen ihnen, Wovon die augen bloß die unterhändler sind. Denn Gangolf war nicht an den ohren blind, Und öfters kann ein ohr für hundert augen dienen. Der Alte spizt die seinen gleich und lauscht Wenn von Rosettens kleid nur eine falte rauscht. 25.

Der zwang verkürzt die komplimente Des widerstands, und in sehr kurzer zeit Sind Walter und die Dame schon so weit Daß nur die frage ist, wie man sich nähern könnte. Von ihrem Drachen, den sein husten tag und nacht Nicht ruhen läßt, gebannet und bewacht, Was wird die junge frau ersinnen, Um etwas raum und zeit für Waltern zu gewinnen?

26. Noth schärft den wiz. Indem sie hin und her Auf wege denkt, erwählt, verwirft, im besten Viel schwierigkeiten sieht, fällt ihr von ungefehr Ein Birnbaum ein mit stufengleichen ästen, Der, an der rasenbank im garten, wo sich, rund Um einen marmorbrunnen, Hecken Von myrten ziehn, hochüberhangend stund, Den schattensitz vor sonnenglut zu decken. 27.

Zu diesem anmutsvollen ort, Wo laue lüftchen stets die zweige lispelnd biegen, Pflegt oft, zur sommerszeit, wenn alles lechzt und dorrt, Mit seinem Weibchen sich der Alte zu verfügen, Um an des brunnens kühlem bord Ein stündchen oder zwoo auf ihrem schoos zu liegen. Zum garten hat jedoch den schlüssel er allein, Und außer ihm und ihr kam keine seel’ hinein.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

28. Was nun zu thun, den schlüssel zu bekommen, Den stets im unterkleid der Alte bey sich führt? Der wird beym schlafengehn ganz sachte weggenommen, Und, während daß der mann sein Ave psalmodiert, In wachs gedrükt, sodenn am nächsten morgen Der abdruk unvermerkt in Walters hand gespielt, Und ein postscript dazu, das ihm den baum empfiehlt. Das übrige wird Walter schon besorgen. 29. Nun, was geschah? Es war ein schöner warmer tag Zu end’ Augusts, als unsern blinden Alten Die Sonne lokt, wie er zuweilen pflag, Die mittagsruh im myrtenrund zu halten. Komm, meine Taube, spricht zu seinem andern Ich Der graue Tauber, komm, mein Röschen, führe mich Zu jenem stillen grund, wo, seit er uns verbunden, Der Gott der Eh’, so oft uns arm in arm gefunden. 30. Rosette winkt, und Walter schleicht voran; Die Gartenthür wird leise aufgethan Und wieder zugemacht; dann geht es an ein fliegen Dem brunnen zu; der birnbaum wird erstiegen, Und, wo der breitste ast sich sanftgebogen krümmt, Rosettens thron im dichtsten laub bestimmt. Der Alte kommt indeß, mit ungewissen tritten, An seines Röschens arm allmählich angeschritten. 31.

Weil nun der mund beynah das einz’ge blieb, Das noch, in viel und mancherley gebrechen, Ihm dienste that, so war von seiner lieb’ Und von dem Paradies des Ehstands ihr zu sprechen, Gewöhnlich das, womit er ihr die zeit vertrieb. Er mischte dann, vielleicht sie zu bestechen, Von ihren reizungen viel Poesie hinein, Und meistens kam ein stük von predigt hinterdrein.

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32. Aus diesem ton wars unterwegs gegangen, Und, da sie glüklich nun beym brunnen angelangt, (Wo, wie ihr wißt, der liebe birnbaum prangt,) Da hatte Gangolf auch, nachdem er ihr die wangen Gestreichelt, und (wiewohl vom husten stark geplagt) Viel schönes ihr und zärtlichs vorgesagt, Die predigt eben angefangen, Die ihr im angesicht des birnbaums schlecht behagt. 33.

Ist, sprach er — da er so, die stirn an ihrer brust, Im schatten bey ihr saß, und an dem runden, weichen Atlasnen arm sanft auf und abzustreichen Nicht müde ward — ist wohl der unschuld unsrer lust, Der ruh, dem süßen trost, dem alle freuden weichen, Dem glük geliebt zu seyn und sich bewußt Man sey es würdig — kurz, dem was du fühlen mußt, Wenn du mich liebst, ein glük auf erden zu vergleichen?

34.

O sprich, Geliebte, — hier begann Der alte Herr noch zärtlicher zu streicheln — Doch rede frey und ohne alles heucheln, (Denn einer höret uns, den niemand täuschen kann) Darf sich auch wohl dein armer blinder mann, Der dich so zärtlich liebt, darf sich dein Gangolf schmeicheln Daß du ihn wiederliebst? daß er dein Alles ist, Dein ganzes herz erfüllt, wie du sein Alles bist?

35.

Zwar freylich, wollten wir die alten sagen schätzen, So wäre einem mann nichts minder zu verzeyhn, Als an ein weib sein ganzes herz zu setzen, Zu bau’n auf ihre treu, zu trauen ihrem schein. Längst lehrten uns, aus Tonnen und von Thronen, Der narr Diogenes, die weisen Salomonen, Es sey des Weibes herz kein zuverläßig gut, Und ihrer list nichts gleich als ihre wankelmut.

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36.

Nichts von den weltlichen geschichten Zu sagen, sehn wir nicht sogar das heilge Buch Den ruhm der weibertreu von anbeginn vernichten? Kam auf die menschheit nicht durchs erste weib der fluch? Von seinen töchtern ward der fromme Lot betrogen; Die kinder Gottes selbst, schon vor der großen flut, Verbrannten sich, von weibern angezogen, Die fittiche an ihrer strafbarn glut.

37.

Die Delila’n, die Jaeln, Jesabellen, Und Bathseba’n, und wie ihr name heißt, Ist unvonnöthen dir in reyhen aufzustellen, Wiewohl die Schrift sie nicht der Treue halben preißt. Doch diese Judith, die den tapfern, frommen, alten Feldmarschall Holofern erst in die arme schlingt, Erst liebetrunken macht, und dann ums leben bringt, Wer kann dabey der thränen sich enthalten?

38.

Wär aber auch der weiber größte zahl An lastern noch so reich, an tugend noch so kahl, Dir, meine einz’ge, auserwählte, Dir, meines alters trost und meiner augen licht, Dir trau’ ichs zu, du bliebst getreu an deiner pflicht, Und fehltest nicht, wenn auch die beste fehlte. Dein Gangolf, der so rein, so treu dich liebt, Wird, o gewiß! von dir so grausam nie betrübt!

39.

Wozu, versezt mit schuldbewußten wangen Die junge Frau, und zieht den schwanenarm, Womit sie um den gürtel ihn umfangen, Mißmuthig weg — wozu, versezt sie rasch und warm, All diese Litaney? Womit in meinem leben Hab ich dazu gelegenheit gegeben? Wie? soll ich glauben, daß dein herz an meiner treu’ Nur einen augenblik zu zweifeln fähig sey?

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40. Unglükliche! ist dies für alle meine liebe Zulezt der lohn? Wem gab ich ganz mich hin? Der unschuld ersten kuß, der jugend erste triebe, Wer hatte sie? — und ach! daß ich zu zärtlich bin Ist mein verbrechen nun! Ein herz ist ihm verdächtig Das keinen andern kennt, für ihn nur stärker schlug! Hoffärtger, hast du nicht an diesem sieg genug? Auch quälen mußt du mich? O grausam! niederträchtig! 41.

Hier hielt sie inn, als ob der übermäßge schmerz Die stimm’ in ihrer brust erstikte; Und schluchzend fiel der Greis ihr um den hals und drükte Das treue weib reumüthig an sein herz. O weine nicht, mein Liebchen, o verzeyhe Was Liebe nur gefehlt! Ich wollte nicht verdruß Dir machen; o verzeyh, und gieb mir einen kuß, Bey Gott, ich zweifle nicht an meines Röschens treue!

42. So seyd ihr, sprach Rosett’, indem sie seinem kuß Sanftsträubend sich entzog, so seyd ihr männer alle! Erst lokt ihr uns so schmeichelnd in die falle, Und habt ihr uns, macht ruhiger genuß Statt frischem blut bey euch nur böse galle. Weh dann der armen frau, die euch befried’gen muß! Das flämmchen selbst, das ihr so eifrig angeblasen, Giebt euch zum argwohn stoff, und macht euch heimlich rasen. 43.

Der gute Mann, den sehr zur ungelegnen zeit Sein hüftweh überfällt, weiß seinem armen leibe Sonst keinen rath, als dem getreuen weibe Betheurungen zu thun von seiner zärtlichkeit, Und daß der schatten nur von argwohn himmelweit Von seinem herzen sey und bleibe. Somit bestätigt dann der neue friedensschluß Von beyden theilen sich mit einem süßen kuß.

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44. Das wakre Ehpaar sank, aus leerheit oder fülle Des herzens, wie ihr wollt, in eine tiefe stille. Rosette seufzt. Der Alte fragt, warum? Nichts, sagt sie wiederseufzend, und bleibt stumm. Er dringt in sie. „Sey unbesorgt, mein Lieber, Es ist nur ein gelust und geht vielleicht vorüber.“ — Was sagst du, ein gelust? Wie glüklich machtest du Mein alter noch! — Sie schweigt und seufzt noch eins dazu. 45.

Da hätten wir die frucht von deinem kalten baden, Fuhr Gangolf fröhlich fort. Sag an! es könnte dir, Wenn du’s verhielt’st, und dem Verborgnen schaden! O! spricht sie, sähest du den schönen birnbaum hier, So frisch von laub, so strotzend voll beladen Mit reifer goldner frucht! die äste brechen schier! Ich sagte nichts, aus furcht du möchtest zürnen, Allein — ich gäb’ ein aug’ um eine dieser birnen!

46.

Ich kenn ihn wohl den baum; er trägt im ganzen land Die beste frucht, versezt der gute Blinde; Doch, sprich, wie machen wirs? Kein mensch ist bey der hand, Es ist ein erndtetag, das ganze hofgesinde Im feld zerstreut — der baum ist hoch, und ich Bin schwach und blind — O wäre nur der bengel Der Walter hier! — „Mir fällt was ein, mein engel, Wir brauchen niemand sonst, spricht sie, als dich und mich.

47.

Wärst du so gut, und wolltest mit dem rücken Nur einen augenblik fest an den stamm dich drücken, So wär’s ein leichtes mir, hier von des Rasens saum Dir auf die schulter mich zu schwingen; Von da ists vollends auf den baum Zum ersten ast zwoo kleine spangen kaum; Ich bin im klettern und im springen Von kindheit an geübt — gewiß, es wird gelingen.“

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48. Von herzen gern, versezt der blinde mann; Und doch, mein kind, wenn du zu schaden kämest? Es bräch’ ein ast? was könnt’ ich armer dann Zu deinem beystand thun? — Wie, wenn du dich bequemest Zu warten? — „Sagt ich nicht, daß ich nicht warten kann? Ich sehe wohl, daß du des kleinen diensts dich schämest; Um alles wollt ich dir nicht gern beschwerlich seyn! Und doch, wer sieht uns hier? wir sind ja ganz allein!“ 49.

Was war zu thun? Es konnte leicht das leben Von einem Erben gar bey dieser lüsternheit Gefähret seyn; kurz, halb mit zärtlichkeit Halb mit gewalt, muß Gangolf sich ergeben. Er stemmt sich an, hilft selbst dem weibchen auf, Und vom geduldgen kopf des guten alten narren Schwingt sich Rosette frisch zum lüftgen sitz hinauf, Wo ihrer unterm laub verstohlne freuden harren.

50. Nun saß von ungefähr, da alles dies geschah, Auf einer blumenbank, dem guten blinden Alten Vorüber, Oberon, um mit Titania, Der Feenkönigin, hier mittagsruh zu halten; Indeß die Zefyrgleiche schaar Der Elfen, ihr gefolg, zerstreut im ganzen garten Und meist verstekt in blumenbüschen war, Um schlummernd dort den mondschein zu erwarten. 51.

Unsichtbar saßen sie, und hörten alles an, Was zwischen mann und frau sich eben zugetragen. Zum unglük, daß sie auch die Birnbaumsscene sahn! Dem Elfenkönig gab dies großes mißbehagen. Da, sprach er zu Titanien, sieht man nun Wie wahr es ist, was alle Kenner sagen: Was ist so arg, das nicht, um sich genug zu thun, Ein weib die stirne hat zu wagen?

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52.

Ja wohl, freund Salomon, bekennt dein weiser mund: „Ein einzler Bidermann wird immer noch gesehen; Doch wandre einer mir ums weite Erdenrund Nach einem frommen Weib, er wird vergebens gehen!“ Siehst du, Titania, im birnbaum dort verstekt Das ungetreue weib des blinden mannes spotten? Sie glaubt sich in der nacht, die seine augen dekt, So sicher als in Plutons tiefsten grotten.

53.

Allein, bey meinem thron, bey diesem lilienstab, Und bey der furchtbarn Macht, die mir das reich der Elfen Mit diesem Zepter übergab, Nichts soll ihr ihre list, nichts seine blindheit helfen! Nein, ungestraft in Ob’rons angesicht Sich ihres hochverraths erfreuen soll sie nicht! Ich will den staar von Gangolfs augen schleiffen, Und auf der frischen that soll sie sein blik ergreiffen!

54.

So? willst du das? versezt mit raschem sinn Und wangen voller glut die Feenkönigin; So soll mein schwur dem deinen sich vermählen! So schwör auch ich, so wahr ich Königin Des Elfenreichs und deine gattin bin, Es soll ihr nicht an einer ausflucht fehlen! Ist Gangolf etwa ohne schuld? Ist freyheit euer loos, und unsers nur geduld?

55.

Doch, ohne sich an ihren zorn zu kehren, Macht Oberon, was er geschworen, wahr. Berührt von seinem lilienzepter klären Sich Gangolfs augen auf, verschwunden ist der staar. Erstaunt, entzükt beginnt er aufzuschauen, Sieht hin, und schüttelt sich als führ ein wespenschwarm Ihm in die augen, sieht, o Himmel! soll er trauen? Sein treues Röschen, ach! in eines mannes arm!

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56.

Es kann nicht seyn! er hat nicht recht gesehen, Ihn blendete das langentwohnte licht, Unmöglich kann sich so das beste weib vergehen! Er schaut noch einmal hin — das nemliche gesicht Durchbort sein herz. Ha, schreyt er wie besessen, Verrätherin, Syrene, Höllgezücht, Du scheuest dich vor meinen augen nicht Der ehr und treu so schändlich zu vergessen?

57.

Rosette, wie vom Donner aufgeschrekt, Fährt ängstlich auf, indem mit einem zauberschleyer Ein unsichtbarer arm den blassen buler dekt; Was für ein seltsam abenteuer Stellt, denkt sie, just in diesem nu, so sehr Zur unzeit, das gesicht des alten unholds her? Doch, nach dem wort der Königin der Elfen, Fehlt ihrs an Witze nicht, sich aus der noth zu helfen.

58.

Was hast du, lieber mann? ruft sie herab vom baum, Was tobst du so? — „Du fragst noch, unverschämte?“ Ich arme! Wie? Du giebst dem argwohn raum? So lohnst du mir, daß mich dein nothstand grämte, Daß ich, da nichts mehr half, durch schwarzer kunst gewalt Mit einem Geist in mannsgestalt Um dein Gesicht zu ringen mich bequemte, Und, dir zu lieb, im kampf den rechten arm mir lähmte?

59.

Was dank verdient, machst du sogar zu schuld, Und schämst dich nicht mir solch ein lied zu singen? Ha, schrie er, hier verlöhr Sanct Hiob die geduld! Was ich gesehen nennst du ringen? So möge mir dies neugeschenkte licht Des Himmels wunderhand bewahren, Und du, treuloses weib, mögst du zur hölle fahren, Wie mir ein ehrlich wort zu deiner that gebricht!

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60. Wie? ruft sie aus, so kann mein Gangolf sprechen? Weh mir! ach! zu gewiß muß etwas, was es sey, An meinem zauberwerk gebrechen; Dein aug’ ist offenbar noch nicht von wolken frey! Wie könntst du sonst, mit solchen harten reden Dein treues weib zu morden, dich entblöden? Dein sehen kann kein wahres sehen seyn, Es ist das flimmern nur von ungewissen schein. 61.

O! daß es möglich wär’ mich selbst zu hintergehen, Spricht Gangolf; wohl dem mann den nur ein argwohn plagt! Ich unglüksel’ger hab’s gesehen! Gesehen was ich sah! — „Dem Himmel sey’s geklagt! Ward je ein weib unglüklicher geboren?“ (Schreyt die verrätherin mit einem thränenguß) „O! daß ich diesen schmerz noch überleben muß! Mein armer mann hat den verstand verloren!“

62. Und welcher mann von zärtlichem gemüt Verlöhr ihn nicht, troz allen seinen sinnen, Der thränengüsse aus so schönen augen rinnen, Und eine solche brust von seufzern schwellen sieht? Der Alte kann nicht länger widerstehen: Gieb dich zufrieden, Kind, ich war zu rasch, zu warm; Verzeih, und komm herab in deines Gangolfs arm, Es ist nun sonnenklar, ich hatte falsch gesehen! 63.

Da hörst du’s nun! spricht zu Titania Der Elfenfürst: was er mit augen sah Schwemmt eine Thräne weg! Dein werk ists; triumfire! Doch hör’ auch nun den heiligsten der schwüre! Ich glaubte mich geliebt, und fand mein glük darinn; Es war ein traum — Dank dir, daß ich entzaubert bin. Hoff nicht ein Thränchen werd auch mich umnebeln können, Von nun an müssen wir uns trennen!

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64.

Nie werden wir, in wasser noch in luft, Noch wo im blüthenhayn die zweige balsam regnen, Noch wo der hagre greif in ewigfinstrer gruft Bey zauberschätzen wacht, einander mehr begegnen. Mich drükt die luft in der du athmest; fleuch! Und wehe dem verräthrischen geschlechte Von dem du bist, und weh dem feigen liebesknechte Der eure ketten schleppt — ich haß euch alle gleich!

65.

Und wo ein mann in eines weibes stricken Als wie ein taumelnder lusttrunkner Auerhahn Sich fangen läßt, und liegt und girrt sie an, Und saugt das falsche gift aus ihren üpp’gen blicken; Wähnt, Liebe sey’s was ihr im schlangenbusen flammt, Und horcht bethört der lächelnden Syrene, Traut ihren schwüren, glaubt der hinterlist’gen thräne, Der sey zu jeder noth, zu jeder quaal verdammt!

66.

Und bey dem furchtbarn Namen sey’s geschworen Der Geistern selbst unnennbar bleiben muß, Nichts wende diesen fluch und meinen festen schluß, Bis ein getreues Paar, vom schiksal selbst erkoren, Durch keusche Lieb in eins zusammenfließt, Und, probefest in leiden wie in freuden, Die herzen ungetrennt, auch wenn die leiber scheiden, Der Ungetreuen schuld durch seine unschuld büßt.

67.

Und wenn dies edle paar schuldloser reiner seelen Um liebe alles gab und unter jedem hieb Des strengesten geschiks, auch wenn bis an die kehlen Das wasser steigt, getreu der ersten liebe blieb; Entschlossen eh den tod in flammen zu erwählen, Als ungetreu zu seyn selbst einem thron zu lieb: Titania, wenn alles dies geschehen, Dann werden wir uns wiedersehen!

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68.

So sprach der Geist und schwand aus ihrem blik. Vergebens lokte sie mit liebevoller stimme, Nachfliehend, ihn in ihren arm zurük! Nichts kann des raschen Worts, das er in seinem grimme Gesprochen, hätt er gleich es selbst zu spät beweint, Nichts kann ihn seines schwurs entbinden, Bevor, nach dem beding der fast unmöglich scheint, Zwey Liebende, wie ers verlangt, sich finden.

69.

Seit dieser zeit hat bis zu unsern tagen Sich Oberon in eigener gestalt Nie mehr gezeigt, und (wie die leute sagen) Bald einen berg, bald einen dicken wald Bald ein verlaßnes thal zu seinem aufenthalt Gewählt, wo Liebende zu stören und zu plagen All sein vergnügen ist; und daß er nur für euch Das Gegentheil gethan, ist einem wunder gleich.

70.

Hier endigte der Alte mit erzählen; Und Hüon nimmt Amanden bey der hand: Wenn, spricht er, nur ein paar getreuverliebte Seelen Zu Obrons und Titaniens ruhe fehlen, So schwebt des Schiksals Werk an der vollendung rand. War er’s nicht selbst, der uns so wunderbar verband? Er, sonst der liebe feind, hat uns in schuz genommen, Die proben — o! die laßt je eh’r je lieber kommen!

71.

Die Schöne legt, an Antworts statt, Des Jünglings hand ans herz mit seelevollen blicken. Ihr, die so viel für ihn gethan, gegeben hat, Was blieb ihr noch mit Worten auszudrücken? Und eine Scene von Entzücken Erfolgt daraus, wobey der gute Scherasmin Des schönen Mährchens frucht, troz allem seinem nicken, Auf einmal zu verliehren schien.

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72.

Zwar noch verbarg der unschuld keuscher schleyer Den Liebenden die wachsende gefahr, Und ihre zärtlichkeit ergoß sich desto freyer, Je reiner ihre quelle war. Nie war ein junges paar in liebessachen neuer; Doch eben darum hieng ihr loos an einem haar. Ihr ganzes glük auf ewig zu zerstören, Brauchts einen augenblik, worinn sie sich verlören!

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Oberon Achter Gesang. 1.

Inzwischen ward nach sieben heitern tagen, Bey gutem wind, das schöne Heldenpaar, Dem jedes element durch Oberon günstig war, Ans ufer von Lepanto hingetragen. Hier lagen, wie Herr Hüon gleich vernimmt, Zwo leichtgeflügelte pinassen segelfertig, Die eine nach Marsiliens port bestimmt, Die andre Reisender nach Napoli gewärtig.

2.

Der junge Herr, des Alten wachsamkeit Und Mentorblik ein wenig überdrüßig, Ist über diesen dienst des zufalls sehr erfreut Und ungesäumt ihn zu benutzen schlüßig. Freund, spricht er, jahr und tag geht noch vielleicht dahin, Eh mirs gelegen ist mich in Paris zu zeigen; Du weist daß ich vorerst nach Rom versprochen bin, Und dieser pflicht muß jede andre schweigen.

3.

Indessen liegt mir ob, den Kayser sehn zu lassen, Daß ich mein wort erfüllt. Du bist mein lehensmann, Vollbringe du für mich, was ich nicht selber kann, Besteige flugs die eine der pinassen, Die nach Marseille steurt; dann eile sonder rast Nach hof, und übergieb, den Kayser zu versöhnen, Dies kästchen mit des Sultans bart und zähnen, Und sag ihm an, was du gesehen hast:

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4.

Und daß, sobald ich erst des heilgen Vaters segen Zu Rom geholt, mich nichts verhindern soll, Die Sultanstochter auch zu füßen ihm zu legen. Fahr wohl, mein alter freund! der wind bläßt stark und voll, Die anker werden schon gelichtet, Glük auf die reis’, und, hast du mein geschäft verrichtet, So komm und suche mich zu Rom im Lateran; Wer weiß, wir langen dort vielleicht zusammen an.

5.

Der treue Alte sieht dem Prinzen in die augen, Wiegt seinen grauen kopf, und nähme gar zu gern Die freyheit, seinen jungen Herrn Mit etwas scharfem salz für diese list zu laugen. Doch hält er sich. Das kästchen, meynt er zwar, Hätt’ ohne übelstand noch immer warten mögen, Bis Hüon selbst im stande war, Dem Kayser in person die rechnung abzulegen.

6.

Indessen, da sein fürst und freund darauf besteht, Was kann er thun als sich zum abschied anzuschicken? Er küßt Amandens hand, umarmt mit nassen blicken Den werthen Fürstensohn, den seine gegenwart Noch kaum erfreut’ und nun begann zu drücken, Und thränen tröpfeln ihm in seinen grauen bart. Herr, ruft er, bester Herr, Gott laß euchs wohl ergehen, Und mögen wir uns bald und fröhlich wiedersehen!

7.

Dem Ritter schlug sein herz, da zwischen seinem freund Und ihm die offne see stets weiter sich verbreitet. Was that ich? ach! wozu hat raschheit mich verleitet? Wo hat mit seinem Herrn ein mann es je gemeynt Wie dieser mann? wie hielt er in gefahren So treulich bey mir aus! O daß ich es zu spat Bedacht! wer hilft mir nun mit rath und that? Und wer in zukunft wird mich vor mir selbst bewahren?

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8.

So ruft er heimlich aus, und schwört sich selber nun Und schwört es Oberon (von dem er, ungesehen, Um seine stirn das leise geist’ge wehen Zu fühlen glaubt) sein Äusserstes zu thun Im kampf der lieb und pflicht mit ehre zu bestehen. Sorgfältig hält er nun sich von Amanden fern, Und bringt die Nächte zu, starr nach dem Angelstern, Die Tage, schwermuthsvoll ins Meer hinauszusehen.

9.

Die Schöne, die den Mann, dem sie ihr herz geschenkt, So ganz verwandelt sieht, ist destomehr verlegen, Da sie davon sich keine ursach denkt. Doch mehr, aus zärtlichkeit, von ihrem unvermögen Als, durch sein sprödethun, an ihrem stolz, gekränkt, Sezt sie ihm sanftmuth blos und viel geduld entgegen. Das übel nimmt indeß mit jeder stunde zu, Und raubet ihm und ihr bey tag und nacht die ruh.

10.

Einst um die zeit, da schon am sternevollen Himmel In Thetis schoos der funkelnde Arktur Sich senkt — es schwieg am Bord das lärmende getümmel, Und kaum bewegte sich, wie eine waizenflur Auf der sich Zefyr wiegt, der Ocean — die Leute Im Schiffe, allzumal des tiefsten schlummers beute, Verdunsteten den wein, der in den adern rann, Und selbst am ruder nikt der sichre Steuermann:

11.

Auch Fatme war zu ihres Fräuleins füßen Entschlummert: Nur von deinem augenlied, O Hüon, nur von Deinem busen flieht O Rezia, der schlaf! — die armen seelen büßen Der Liebe süßes gift. Wie wühlt sein heißer brand In ihrem blut! Und ach! nur eine dünne wand Trennt sie; sie glauben fast einander zu berühren, Und nicht ein seufzer kann sich ungehört verliehren.

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12.

Der Ritter, dem der langverhaltne Drang Zur marter wird, dem jede bittre zähre, Die seine grausamkeit Amandens aug’ entzwang, Auf seinem herzen brennt, er seufzt so laut, so bang, Als ob’s sein lezter athem wäre. Sie, die mit Lieb und schaam schon eine stunde rang, Kann endlich länger nicht die lindrung sich versagen, Zu forschen was ihn quält, und trost ihm anzutragen.

13.

Im weißen schlafgewand, dem schönsten Engel gleich, Tritt sie in sein gemach, mit zärtlichem erbarmen Im keuschen blik, und furchtsam offnen armen. Ihm ist, als öffne sich vor ihm das Himmelreich. Sein antliz, kurz zuvor so welk, so todtenbleich, Wird feuerroth; sein puls, der kaum so träge Und mutlos schlich, verdoppelt seine schläge, Und hüpfet wie ein fisch im spiegelhellen teich.

14.

Allein, gleich wieder wirft ihn Obrons wort danieder; Und da er schon, durch ihre güte dreist, An seine brust sie ziehen will, entreißt Er schnell sich ihrem kuß, sich ihrem Busen wieder; Will fliehn, bleibt wieder stehn, kommt rasch auf sie zurük In ihre arme sich zu stürzen, Und plözlich starrt er weg, mit wildem rollendem blik, Als wünscht’ er seine qual auf einmal abzukürzen.

15.

Sie sinkt aufs lager hin, hoch schlägt ihr volles herz Durchs weichende gewand, und stromweis stürzt der schmerz Aus ihren schmachtenden vor Liebe schweren augen. Er sieht’s; und länger hält die menschheit es nicht aus; Halb sinnlos nimmt er sie (werd’ auch das ärgste draus!) In seinen arm, die glühnden lippen saugen Mit heißem durst den thau der Liebe auf, Und ganz entfesselt strömt das herz in vollem lauf.

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16.

Auch Rezia, von Lieb und wonne hingerissen, Vergißt zu widerstehn, und überläßt, entzükt, Und wechselsweis’ ans herz ihn drückend und gedrükt, Sich ahnunglos den langentbehrten küssen. Mit vollen zügen schlürft sein nimmersatter mund Ein herzberauschendes wollüstiges vergessen Aus ihren lippen ein; die sehnsucht wird vermessen, Und ach! an Hymens statt krönt Amor ihren bund.

17.

Straks schwärzt der Himmel sich, es löschen alle sterne; Die Glüklichen! sie werden’s nicht gewahr. Mit sturmbeladnem flügel braußt von ferne Der fessellosen winde rohe schaar; Sie hören’s nicht. Umhüllt von finsterm grimme Rauscht Oberon vorbey an ihrem angesicht; Sie hören’s nicht. Schon rollt des Donners droh’nde stimme Zum drittenmal, und ach! sie hören’s nicht!

18.

Inzwischen bricht mit fürchterlichem sausen Ein unerhörter sturm von allen seiten los; Des Erdballs axe kracht, der wolken schwarze schoos Gießt feuerströme aus, das Meer beginnt zu brausen, Die wogen thürmen sich wie berge schäumend auf, Die Pinke treibt in ungewissem lauf, Der Bootsmann schreyt umsonst in sturmbetäubte ohren, Laut heult’s durchs ganze schiff, weh uns! wir sind verloren!

19.

Der ungezähmten winde wut, Der ganze horizont in einen höllenrachen Verwandelt, lauter glut, des schiffes stetes krachen, Das wechselsweis bald von der tiefsten flut Verschlungen scheint, bald, himmelan getrieben, Auf wogenspitzen schwebt, die unter ihm zerstieben: Dies alles, stark genug die Todten aufzuschrecken, Mußt endlich unser Paar aus seinem taumel wecken.

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20. Amanda fährt entseelt aus des Geliebten armen, Gott! ruft sie aus, was haben wir gethan? Der Schuldbewußte fleht den Schuzgeist um erbarmen, Um hülfe, wenigstens nur für Amanden, an; Vergebens! Oberon ist nun der unschuld rächer, Ist unerbittlich nun in seinem strafgericht; Verschwunden sind das hifthorn und der becher, Die pfänder seiner huld; er hört, und rettet nicht. 21.

Der Hauptmann ruft indeß das ganze volk zusammen; Ihr, spricht er, seht die allgemeine noth; Mit jedem pulsschlag wird von wasser, wind und flammen Dem guten schiff der untergang gedroht. Nie sah ich solchen sturm! Der Himmel scheint zum tod, Um Eines schuld vielleicht, uns alle zu verdammen; Um Eines frevlers schuld, zum untergang verflucht, Den unter uns der bliz des Rächers sucht.

22. So laßt uns denn durchs Loos den Himmel fragen, Was für ein opfer er verlangt! Ist einer unter euch, dem vor der wage bangt? Wo jeder sterben muß hat keiner was zu wagen! Er sprachs, und jedermann stimmt in den vorschlag ein. Der Priester bringt den kelch: man wirft die loose drein; Rings um ihn her liegt alles auf den knieen, Er murmelt ein Gebet, und heißt nun jeden ziehen. 23. Geheimer ahnung voll, doch mit entschloßnem mut, Naht Hüon sich, den zärtlichsten der blicke Auf Rezia gesenkt, die, bang und ohne blut, Als wie ein Gipsbild steht. Er zieht, und — o! Geschicke! O Oberon! — er zieht mit frost’ger bebender hand Das Todesloos. Verstummend schaut die Menge Auf ihn; er ließt, erblaßt, und, ohne widerstand, Ergiebt er sich in seines schiksals strenge.

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24. Dein werk ist dies, ruft er zu Oberon empor, Ich fühl, obwohl ich dich nicht sehe, Erzürnter Geist, ich fühle deine nähe! Weh mir! du warntest mich, du sagtest mir’s zuvor, Gerecht ist dein gericht! Ich bitte nicht um gnade Als für Amanden nur, denn Sie ist ohne schuld! Vergieb ihr! Mich allein belade Mit deinem ganzen zorn, ich trag ihn mit geduld! 25.

Ihr, die mein tod erhält, schenkt eine fromme zähre Dem Jüngling, den der sterne mißgunst trift! Nicht schuldlos sterb ich zwar, doch lebt ich stets mit ehre; Ein augenblik, wo ich, berauscht von süßem gift, Des wort’s vergaß, das ich zu rasch geschworen, Der warnung, die zu spät in meinen bangen ohren Izt widerhallt — das allgemeine loos Der menschheit, schwach zu seyn — ist mein verbrechen bloß!

26. Schwer büß’ ichs nun, doch klaglos! denn, gereuen Des liebenswürdigen verbrechens soll michs nicht! Ist lieben schuld, so mag der Himmel mir verzeyhen! Mein sterbend herz erkennt nun keine andre pflicht. Was kann ich sonst als Liebe dir erstatten, O du, die mir aus Liebe alles gab? Nein! diese heil’ge glut erstikt kein wellengrab! Unsterblich lebt sie fort in deines Hüons schatten. 27.

Hier wird das herz ihm groß; er hält die blasse hand Vor’s aug, und schweigt. Und wer im kreise stand, Verstummt; kein herz so roh, das nicht bey seinem falle Auf einen augenblik von mitleid überwalle. Es war ein bliz, der im entstehn verschwand; Sein tod ist sicherheit, ist leben für sie alle; Und da der Himmel selbst zum opfer ihn ersehn, Wer dürfte, sagen sie, dem Himmel widerstehn?

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28. Der sturm, der seit dem ersten augenblicke Da Hüon sich das todesurtheil sprach, Besänftigt schien, kam izt mit neuem grimm zurücke. Zersplittert ward der mast, das steuer brach. Laßt, schreyt das ganze Schiff, laßt den verbrecher sterben! Der Hauptmann nähert sich dem Ritter: junger mann, Spricht er, du siehst, daß dich verzug nicht retten kann, Stirb, weil es seyn muß, frey, und rett uns vom verderben! 29. Und mit entschloßnem schritt naht sich der Paladin Dem Bord des schiffs. Auf einmal stürzt die Schöne, Die eine weile her lebloser marmor schien, Gleich einer rasenden durch alles volk auf ihn: Es weht im sturm ihr haar wie eines Löwen mähne; Mit hochgeschwellter brust und augen ohne thräne Schlingt sie den starken arm in liebevoller wut Um Hüon her, und reißt ihn mit sich in die flut. 30. Verzweifelnd will ihr nach die treue Fatme springen; Man hält sie mit gewalt. Sie sieht die holden Zwey, So fest umarmt, wie reben sich umschlingen, Schnell fortgewälzt, nur schwach noch mit den wogen ringen, Und da sie nichts mehr sieht, erfüllt ihr angstgeschrey Das ganze Schiff. Wer kann ihr wiederbringen Was sie verliehrt? Mit ihrer Königin Ist alles was sie liebt und hofft auf ewig hin. 31.

Indessen hatte kaum die aufgebrachten wogen Des Ritters haupt berührt, so legt, o wunder! sich Des Ungewitters grimm! Der donner schweigt; entflogen Ist straks der winde schaar; das meer, so fürchterlich Kaum aufgebirgt, sinkt wieder bis zur glätte Des hellsten teichs, wallt wie ein lilienbette: Das schiff sezt seinen weg mit rudern munter fort, Und, nur zween tage noch, so ruht’s im sichern port.

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32. Wie aber wird es dir, du holdes Paar, ergehen, Das, ohne hoffnung, nun im offnen meere treibt? Erschöpft ist ihre kraft; besinnen, hören, sehen Verschwand; nur das gefühl von ihrer liebe bleibt. So fest umarmt, als wären sie zusammenGewachsen, keines mehr sich seiner selbst bewußt, Doch immer noch im andern athmend, schwammen Sie, mund auf mund, dahin, und brust an brust. 33.

Und kannst du, Oberon, sie unbeklagt erbleichen, Du, einst ihr freund, ihr schuz, kannst sie verderben sehn? Du siehst sie, weinst um sie, und läßst dich nicht erweichen? Er wendet sich und flieht — es ist um sie geschehn! Doch, sorget nicht! der Ring läßt sie nicht untergehn, Sie werden unverlezt den nahen strand erreichen; Sie schüzt der magische geheimnisvolle ring, Den Rezia aus Hüons hand empfieng.

34.

Wer diesen ring besizt, das allgewaltge Siegel Des großen Salomons, dem löscht kein Element Das lebenslicht; er geht durch flammen ungebrennt; Schließt ihn ein kerker ein, so springen schloß und riegel, Sobald er sie berührt; und will er von Trident Im Nu zu Memphis seyn, so leyht der ring ihm flügel: Nichts ist was der, der diesen Talisman Besizt und kennt, durch ihn nicht würken kann.

35.

Er kann den Mond von seiner stelle rücken; Auf offnem markt, im hellsten sonnenschein, Hüllt ihn, sobald er will, auch selbst vor geisterblicken, Ein unsichtbarer nebel ein. Soll jemand vor ihm stehn, er darf den ring nur drücken, Es sey, den er erscheinen heißt, Ein mensch, ein thier, ein Schatten oder Geist, So steht er da, und muß zu seinem wink sich bücken.

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36.

In erd und luft, in wasser und in feuer, Sind ihm die Geister unterthan; Sein anblik schrekt und zähmt die wildsten ungeheuer, Und selbst der Antichrist muß zitternd ihm sich nahn. Auch kann durch keine macht im himmel noch auf erden Dem, der ihn nicht geraubt, der ring entrissen werden: Die allgewalt, die in ihm ist, beschüzt Sich selbst und jede hand, die ihn mit recht besizt.

37.

Dies ist der ring der dich, Amanda, rettet, Dich, und den Mann, der, durch der Liebe band Und deiner arme kraft an deine brust gekettet, Unwissend wie, an eines Eylands strand Dich und sich selbst, o wunder! wiederfand. Zwar hat euch hier der Zufall hart gebettet; Die ganze Insel scheint vulkanischer ruin, Und nirgends ruht das aug auf laub und frischem grün.

38.

Doch, dies ists nicht was in den taumelnden minuten Der ersten trunkenheit die Wonnevollen rührt. So unverhoft, so wunderbar den fluten Entronnen, unversehrt an troknes land geführt, Gerettet, frey, allein, sich arm in arm zu finden, Dies übermäßig große glük Macht alles um sie her aus ihren augen schwinden. Doch ruft ihr zustand bald sie zum gefühl zurük.

39.

Durchnäßt bis auf die haut, wie konnten sie vermeiden Sich ungesäumt am strande zu entkleiden? Hoch stand die Sonn’ und einsam war der strand. Allein, indeß ihr trieffendes gewand An felsen hängt, wohin dem Sonnenstral entfliehen, Der deine Lilienhaut, Amanda, dörrt und sticht? Der Sand brennt ihren fuß, die schrofen steine glühen, Und ach! kein baum, kein busch, der ihr ein Obdach flicht!

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40. Zulezt entdekt des Jünglings bangen augen Sich eine felsenkluft. Er faßt Amanden auf Und fliegt mit ihr dahin; trägt eilends schilf zu hauf’ Und altes moos (der Noth muß alles taugen) Zur lagerstatt, und wirft dann neben ihr sich hin. Sie sehn sich seufzend an, und saugen Eins aus des andern augen Trost, für jede noth Die gegenwärtig drükt und in der zukunft droht. 41.

O Liebe, süßes labsal aller leiden Der sterblichen, du wonnevoller rausch Vermählter Seelen — welche andre freuden Sind deinen gleich? — Wie schreklich war der tausch, Wie rasch der übergang, im Schiksal dieser Beyden! Einst günstlinge des glüks, von einem Fürstenthron Geschleudert, bringen sie das leben kaum davon, Das nakte leben kaum, und sind noch zu beneiden!

42. Der schimmerreichste saal, mit Königspracht geschmükt, Hat nicht den reiz von dieser wilden grotte Für Rezia — und er, an ihre brust gedrükt, Fühlt sich unsterblich, wird zum Gotte In ihrem Arm. Das halbverfaulte moos Worauf sie ruhn, däucht sie das reichste bette, Und duftet lieblicher, als wenn schasmin und ros’ Und lilienduft es eingebalsamt hätte. 43.

O daß er enden muß, so gern das herz ihn nährt, Der süße wahn! Zwar unbemerkt sind ihnen Zwoo stunden schon entschlüpft: Doch, die natur begehrt Nun andre kost. Wer wird sie hier bedienen? Unwirthbar, unbewohnt, ist dieser dürre strand, Nichts das den hunger täuscht, wird um und um gefunden; Und ach! ergrimmt zog Oberon die hand Von ihnen ab — der Becher ist verschwunden!

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44. Mit unermüdetem fuß besteigt der junge mann Die klippen ringsumher, und schaut soweit er kann; Ein schreckliches gemisch von felsen und von klüften Begegnet seinem blik, wohin er seufzend blinkt. Da lokt kein saftigs grün aus blumenvollen triften, Da ist kein baum, der ihm mit goldnen früchten winkt! Kaum daß noch heidekraut, und dünne brombeerhecken Und disteln hier und da den kahlen grund verstecken. 45.

So soll ich, ruft er aus, und beißt vor wilder pein Sich in die lippen, ach! so soll ich dann mit leeren Trostlosen händen wiederkehren, Zu ihr, für die mein leben noch allein Erhaltenswürdig war? Ich, ihre einzge stütze, Ich, der mit jedem herzensschlag Ihr angehört, bin nur um Einen tag Ihr leben noch zu fristen ihr nicht nütze!

46.

Verschmachten soll ich dich vor meinem augen sehn Du Wunder der Natur, so liebevoll, so schön! Verschmachten! Dich, die bloß um meinetwillen So elend ist! für mich so viel verließ! Dir, der das schönste loos Natur und Glük verhieß Eh dich des Himmels zorn in meine arme stieß, Dir bleibt (hier fieng er an vor wut und angst zu brüllen) Bleibt nicht soviel — den Hunger nur zu stillen!

47.

Laut schrie er auf in unnennbarem schmerz; Dann sank er hin, und lag in fürchterlicher stille. Doch endlich fällt ein stral von glauben in sein herz; Er raft sich aus des Trübsinns schwarzer hülle, Spricht mut sich ein, und fängt mit neuem eifer an Zu suchen. Lang umsonst! Schon schmilzt im Ocean Der Sonnenrand zu gold — auf einmal, o entzücken! Entdekt die schönste frucht sich seinen gier’gen blicken.

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48. Halb unter laub verstekt, halb glühend angestralt, Sah er an breitbelaubten ranken, Melonen gleich, sie auf die erde wanken, Einladend von geruch, und wunderschön bemalt. Wie hält er reichlich sich für alle müh bezahlt! Er eilt hinzu, und bricht sie; glänzend danken Zum Himmel seine augen auf, Und Freudetrunkenheit beflügelt seinen lauf. 49.

Amanden, die drey tödlichlange stunden An diesem öden strand, wo alles furcht erwekt, Wo jeder laut bedroht und selbst die stille schrekt, Sich ohne den, der nun ihr Alles ist, befunden, Ihr war ein theil der langen zeit verschwunden, Zum lager, wie es hier die noth der liebe dekt, Mit ungewohntem arm vom ufer ganze lagen Von meergras, schilf und moos der höle zuzutragen.

50. Matt wie sie war, erschöpfte diese müh Noch ihre lezte kraft; es brachen ihr die Knie, Sie sinkt am ufer hin, und lechzt mit dürrem gaumen. Vom hunger angenagt, von heissem durst gequält, An diesem wilden ort wo ihrs an allem fehlt, Wie angstvoll ist ihr loos? Wo mag ihr Hüon saumen? Wenn ihn ein unfall traf? Vielleicht ein reissend thier — Es nur zu denken, raubt den rest von leben ihr! 51.

Die schreklichsten der Möglichkeiten Mahlt ihr die Fantasie mit warmen farben vor. Umsonst bemüht sie sich mit ihrer furcht zu streiten, Ein Wellenschlag erschrekt ihr unglükahnend ohr. Zulezt, so schwach sie ist, keucht sie mit müh empor Auf eines felsen stirn, und schaut nach allen seiten, Und mit dem lezten sonnenblik Entdekt sie Ihn — er ists! er kömmt zurük!

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52.

Auch Er sieht sie die arme nach ihm breiten, Und zeigt ihr schon von fern die schöne goldne frucht. Von keiner schönern ward, in jenen kindheitszeiten Der Welt, das erste Weib im Paradies versucht. Er hält, wie im triumf, sie in den lezten strahlen Der Sonn’ empor, die ihre glatte haut Mit flammengleichem roth bemahlen, Indeß Amanda kaum den frohen augen traut.

53.

So läßt sich unsrer noth der Himmel doch erbarmen, Ruft sie, und eine große thräne blinkt In ihrem aug’; und eh die thräne sinkt Ist Hüon schon in ihren ofnen Armen. Ihr schwacher ton, und daß sie halbentseelt An seinen busen schwankt, heißt ihren retter eilen. Sie lagern sich; und, weil ein ander Werkzeug fehlt, Braucht er sein kurzes Schwert die schöne frucht zu theilen.

54.

Hier, Freunde, zittert mir der griffel aus der hand! Kanst du, zu strenger Geist, in solchem jammerstand Noch spotten ihrer noth, noch ihre hofnung trügen? Faul, durch und durch, und gallenbitter war Die schöne Frucht! — Und bleich, wie in den lezten zügen Ein sterbender erbleicht, sieht das getäuschte Paar Sich trostlos an, die starren augen offen, Als hätt’ aus heitrer luft ein Donner sie getroffen.

55.

Ein strom von bittern thränen stürzt mit wut Aus Hüons aug; von jenen furchtbarn thränen, Die aus dem halbgestokten blut Verzweiflung preßt, mit augen voller glut, Und gichtrischzuckendem mund und grimmvoll klappernden zänen. Amanda, sanft und still, doch mit gebrochnem Mut, Die augen ausgelöscht, die wangen welk, zu scherben Die lippen ausgedörrt — laß, spricht sie, laß mich sterben!

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56.

Auch sterben ist an deinem herzen süß; Und dank dem Rächer, der in seinem grimme, So streng er ist, doch diesen trost mir ließ! Sie sagts mit schwacher halberstikter stimme, Und sinkt an seine brust: so sinkt im sturm zerknikt Der Lilie sterbend haupt. Von lieb und angst verrükt Springt Hüon auf, und schließt die theure Seele In seinen arm, und trägt sie nach der Höle.

57.

Ach! Einen tropfen wassers nur, Gerechter Gott! schreyt er, halb ungeduldig, Halbflehend, auf — ich, ich allein, bin schuldig! Mich treff allein dein zorn! mir werde die Natur Ringsum zum grab, zum ofnen höllenrachen, Nur schone Sie! O leit’ auf einer Quelle spur Den dunkeln fuß! Ein wenig Wassers nur Ihr leben wieder anzufachen!

58.

Er geht aufs neu zu suchen aus, und schwört, Sich eher selbst, von durst und hunger aufgezehrt, In diesen felsen zu begraben, Eh er mit leerer hand zur höle wiederkehrt. Er, ruft er weinend, der die jungen raben Die zu ihm schreyen, mit erbarmen hört, Er kann sein schönstes werk, sein eigen bild, nicht hassen, Er wird gewiß, gewiß, dich nicht verschmachten lassen!

59.

Kaum sprach er’s aus, so kömmts ihm vor, Als hör’ er wie das rieseln einer quelle Nicht fern von ihm. Er lauscht mit scharfem ohr; Es rieselt fort — Entzükt dankt er empor, Und sucht umher; und, bey der schwachen Helle Der dämmerung, entdekt er bald die stelle. In eine muschel faßt er auf den süßen thau, Und eilt zurük und labt die fast verlechzte Frau.

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60. Gemächlicher des labsals zu genießen Trägt er sie selbst zur nahen quelle hin. Es war nur Wasser — doch, dem halberstorbnen sinn Scheint Lebensgeist den gaum hinabzufließen, Däucht jeder zug herzstärkender als wein Und süß wie milch und sanft wie öl zu seyn; Es hat die kraft zu speisen und zu tränken, Und alles leiden in vergessenheit zu senken. 61.

Erquikt, gestärkt, und neuen glaubens voll Erstatten sie dem, der zum zweytenmale Sie nun dem tod entriß, des dankes frohen zoll; Umarmen sich, und, nach der lezten schale, Strikt unvermerkt, am quell auf kühlem moos, Der süße Tröster alles kummers Das band der müden glieder los, Und lieblich ruhn sie aus im weichen arm des schlummers.

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Oberon Neunter Gesang. 1.

Kaum spielt die morgendämmerung Um Hüons stirn, so steht er auf, und eilet Auf neues forschen aus; wagt manchen kühnen sprung Wo den zerrißnen fels ein gäher absturz theilet; Spürt jeden winkel durch, stets sorgsam daß er ja Den rükweg zu Amanden nicht verliere, Und kummervoll, da er für Menschen und für Thiere Das Eyland überall ganz unbewohnbar sah.

2.

Ihn führt zulezt südostwärts von der höle Ein krummer pfad in eine kleine bucht, Und im gebüsch, das eine felsenkehle Umkränzt, entdekt sich ihm, beschwert mit reifer frucht, Ein dattelbaum. So leicht, wie auf der flucht Zum Himmel eine arme seele, Die aus des Fegfeur’s pein und strenger glut entrann, Klimmt er den baum hinauf als stieg er himmelan;

3.

Und bricht der süßen frucht, soviel in seine taschen Sich fassen ließ, springt dann herab, und fliegt, Als gält’s ein Reh in vollem lauf zu haschen, Das holde Weib, das stets in seinem sinne liegt, So wie sie munter wird, damit zu überraschen. Noch lag sie, als er kam, schön in sich selbst geschmiegt, In sanftem schlaf; ihr glühn wie rosen ihre wangen, Und kaum hält ihr gewand den busen halb gefangen.

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4.

Entzükt in süßes schau’n, den reinsten lieb’sgenuß, Steht Hüon da, als wie der Genius Der schönen Schläferin; betrachtet, Auf sie herabgebükt, mit liebevollem geiz, Das engelgleiche bild, den immer neuen reiz; Dies ist, die, ihm zu lieb, ein glük für nichts geachtet, Dem, wer’s erreichen mag, sonst alles, unbedingt Was theu’r und heilig ist, zum opfer bringt!

5.

„Um einen Thron hat Liebe dich betrogen! Und, ach! wofür? Du, auf dem weichen schoos Der Asiat’schen pracht wollüstig auferzogen, Liegst nun auf hartem fels, der weite himmelsbogen Dein Baldakin, dein bett’ ein wenig moos; Vor wittrung unbeschüzt, und jedem zufall bloß, Noch glüklich, hier, wo disteln kaum bekleiben, Mit etwas wilder frucht den hunger zu betäuben!

6.

Und ich — der, in des Schiksals strenger Acht, Mit meinem unglük, was mir nähert, anzustecken Verurtheilt bin — anstatt vor unfall dich zu decken, Ich habe dich in diese noth gebracht! So lohn’ ich dir, was du für mich gegeben, Für mich gewagt? Ich unglüksel’ger, nun Dein Alles in der welt, was kann ich für dich thun? Dem selbst nichts übrig blieb, als dieses nakte leben?“

7.

Dies quälende gefühl wird unfreywillig laut, Und wekt aus ihrem schlaf die anmutsvolle Braut. Das erste was sie sieht, ist Hüon, der, mit blicken In denen freud’ und liebestrunkenheit Den tiefern gram nur halb erdrücken, In ihren schoos des palmbaums früchte streut. Die magre kost, und eine muschelschale Voll wassers — macht die noth zu einem Göttermahle.

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8.

Zum Göttermahl! Denn ruhet nicht ihr haubt An Hüons brust? Hat Er sie nicht gebrochen, Die süße frucht? Nicht Er des schlummers sich beraubt Und ihr zu lieb so manche kluft durchkrochen? So rechnet ihm die Liebe alles an, Und schäzt nur das gering, was Sie für ihn gethan; Die wolken zu zerstreun, die seine stirn umdunkeln, Läßt sie ihr schönes aug’ ihm lauter freude funkeln.

9.

Er fühlt den überschwang von lieb und edelmut In ihrem zärtlichen betragen; Und mit bethräntem aug’ und wangen ganz in glut Sinkt er an ihren arm. O! sollt’ ich nicht verzagen, Ruft er, mich selbst nicht hassen, nicht Verwünschen jeden stern, der auf die nacht geschimmert Die mir das leben gab, verwünschen jenes licht Wo ich im mutterarm zum erstenmal gewimmert?

10.

Dich, bestes Weib, durch mich, durch mein vergehn, Von jedem glük herabgestürzt zu sehn, Von jedem glük, das dir zu Bagdad lachte, Von jedem glük, das ich dich hoffen machte In meinem väterlichen land! Erniedrigt — dich! — zu diesem dürft’gen stand! Und noch zu sehn, wie du dies alles ohne klagen Erträgst — Es ist zu viel! Ich kann es nicht ertragen!

11.

Ihn sieht mit einem blik, worinn der Himmel sich Ihm öffnet, voll von dem, was kaum ihr busen fasset, Amanda an: laß, spricht sie, Hüon, mich Aus dem geliebten mund, was meine seele hasset Nie wieder hören! Klage dich Nicht selber an, nicht den, der was uns drücket Uns nur zur prüfung, nicht zur strafe zugeschicket! Er prüft nur die er liebt, und liebet väterlich.

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12.

Was uns seit jenem traum, der wiege unsrer liebe, Begegnet ist, ist’s nicht beweis hievon? Nenn, wie du willst, den Stifter unsrer triebe, Vorsehung, Schiksal, Oberon, Genug, ein Wunder hat dich mir, mich dir gegeben! Ein wunder unser Bund, ein wunder unser Leben? Wer führt’ aus Bagdad unversehrt Uns aus? Wer hat der flut, die uns verschlang, gewehrt?

13.

Und als wir, sterbend schon, so unverhoft den wogen Entrannen, sprich, wer anders als die Macht Die uns beschüzt, hat uns bisher bedacht? Aus Ihrer brust hab’ ichs, wie lebensmilch, gesogen Das wasser, das in dieser bangen nacht Mein kaum noch glimmend licht von neuem aufgefacht? Gewiß auch dieses Mahl, das unser leben fristet, Hat eine heimliche wohlthät’ge hand gerüstet.

14.

Wofür, wenn unser untergehn Beschlossen ist, wofür wär alles dies geschehn? Mir sagt’s mein herz, ich glaub’s, und fühle was ich glaube, Die Hand, die uns durch dieses Dunkel führt, Läßt uns dem elend nicht zum raube. Und wenn die Hoffnung auch den ankergrund verliert, So laß uns fest an diesem glauben halten, Ein einz’ger augenblik kann alles umgestalten!

15.

Doch, laß das ärgste seyn! Sie ziehe ganz sich ab Die Wunderhand, die uns bisher umgab; Laß seyn, daß jahr um jahr sich ohne hülf’ erneue, Und deine liebende getreue Amande finde hier auf diesem strand ihr grab: Fern sey es, daß mich je, was ich gethan, gereue! Und läge noch die freye wahl vor mir, Mit frohem mut ins elend folgt’ ich dir!

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16.

Mich kostet’s nichts von allem mich zu scheiden Was ich besaß; mein herz und deine Lieb ersezt Mir alles; und, so tief das glük herab mich sezt, Bleibst Du mir nur, so werd ich keine neiden Die sich durch gold und purpur glüklich schäzt. Nur, daß Du leidest, ist Amandens wahres leiden! Ein trüber blik, ein ach, das dir entfährt, Ist, was mir tausendfach die eigne noth erschwert.

17.

Sprich nicht von dem was ich für dich gegeben, Für dich gethan! Ich that was mir mein herz gebot, That’s für mich selbst, Der zehenfacher tod Nicht bittrer ist als ohne dich zu leben. Was unser Schiksal ist, hilft deine Liebe mir, Hilft meine Liebe dir ertragen; So schwer es sey, so unerträglich — hier Ist meine hand! — ich will’s mit freuden tragen.

18.

Mit jedem auf und niedergehn Der sonne, soll mein fleiß sich mit dem deinen gatten; Mein arm ist stark; er soll, dir beyzustehn In jeder arbeit, nie ermatten! Die Liebe, die ihn regt, wird seine kraft erhöhn, Wird den geringsten dienst mit munterkeit erstatten. So lang ich dir zum trost zum glük genugsam bin, Tauscht’ ich mein schönes loos mit keiner Königin.

19.

So sprach das beste Weib, und drükt mit keuschen lippen Das siegel ihres worts auf den geliebten mund; Und mit dem kuß verwandeln sich die klippen Um Hüon her; der rauhe felsengrund Steht wieder zum Elysium umgebildet, Verweht ist jede spur der nakten dürftigkeit; Das ufer scheint mit perlen überstreut, Ein marmorsaal die gruft, der felsen übergüldet.

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20. Von neuem mut fühlt Hüon sich geschwellt. Ein Weib wie dies ist mehr als eine Welt. Mit hoher himmelathmender wonne Drükt er sein herz an ihre offne brust, Ruft Erd und Meer, und dich, allsehende Sonne, Zu zeugen seines schwurs: „ich schwör’s auf dieser brust, Dem heiligen altar der Unschuld und der Treue, Vertilgt mich, ruft er aus, wenn ich dies herz entweyhe! 21.

Wenn je dies Herz, worinn dein Name brennt, Der Tugend untreu wird, und deinen Werth verkennt, Dich je, so lang dies prüfungsfeuer währet, Durch kleinmut quält, durch zagheit sich entehret; Je läßig wird, geliebtes weib, für dich Das äusserste zu leiden und zu wagen: Dann, Sonne, waffne dich mit blitzen gegen mich, Und möge Meer und Land die zuflucht mir versagen.“

22. Er sprach’s, und ihn belohnt mit einem neuen kuß Das engelgleiche weib. Sie freun sich ihrer liebe, Und stärken wechselsweis einander im entschluß So hart des Schiksals Herr auch ihre tugend übe, Mit festem mut und eiserner geduld Auf beßre tage sich zu sparen, Und blindlings zu vertraun der allgewaltgen Huld Von der sie schon so oft den stillen schuz erfahren. 23. Von beyden wurde noch desselben tags die bucht, Die ihren palmbaum trug, mit großem fleiß durchsucht, Und drey bis vier von gleicher art gefunden, Die, im gebüsch zerstreut, voll goldner trauben stunden. Das frohe Paar, hierinn den kindern gleich, Dünkt mit dem kleinen schaz sich unermeßlich reich; Bey süßem scherz und frölichem durchwandern Des palmenthals verfliegt ein abend nach dem andern.

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24. Allein der vorrath schwand; ein Jahr, ein jahr mit bley An füßen, braucht’s ihn wieder zu ersetzen, Und, ach! mit jedem tag wird ihr bedürfnis neu. Arm kann die liebe sich bey wenig glüklich schätzen, Bedarf nichts außer sich, als was Natur bedarf Den lebensfaden fortzuspinnen; Doch, fehlt auch dies, dann nagt der Mangel doppelt scharf, Und die allmächtigste bezaubrung muß zerrinnen. 25.

Mit wurzeln, die allein der hunger eßbar macht, Sind sie oft manchen tag genötigt sich zu nähren. Oft, wenn, vom suchen matt, der junge mann bey nacht Zur höle wiederkehrt, ist eine handvoll beeren, Ein Möwen-ey, geraubt im steilen nest, Ein halbverzehrter fisch, vom gier’gen Wasserraben Erbeutet, alles, was das glük ihn finden läßt, Sie, die sein elend theilt, im drang der noth zu laben.

26. Doch dieser mangel ists nicht einzig der sie kränkt. Es fehlt bey tag und nacht an tausend kleinen dingen, An deren werth man im besiz nicht denkt, Wiewohl wir ohne sie mit tausend nöthen ringen. Und dann, so leicht bekleidet wie sie sind, Wo sollen sie vor regen, sturm und wind, Vor jedem ungemach des wetters sicher bleiben, Und wie des winters frost fünf monden von sich treiben? 27.

Schon ist der bäume schmuk der spätern jahrszeit raub, Schon klappert zwischen dürrem laub Der rauhe wind, und graue nebel hüllen Der Sonne kraftberaubtes licht, Vermischen luft und meer, und ungestümer brüllen Die wellen am gestad, das kaum ihr wüten bricht; Oft, wenn sie grimmbeschäumt den harten fesseln zürnen, Sprizt der zerstäubte strom bis an der felsen stirnen.

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28. Die noth treibt unser paar aus ihrer stillen bucht Nun höher ins gebürg. Doch, wo sie hin sich wenden, Umringet sie von allen enden Des dürren hungers bild, und sperret ihre flucht. Ein umstand kommt dazu, der sie mit süßen schmerzen Und banger lust in diesem jammerstand Bald ängstigt, bald entzükt — Amanda trägt das pfand Von Hüons Liebe schon drey monden unterm herzen. 29. Oft, wenn sie vor ihm steht, drükt sie des Gatten hand Stillschweigend an die brust, und lächelnd füllen thränen Ihr ernstes aug’. Ein neues zartres band Webt zwischen ihnen sich. Sie fühlt ein stilles sehnen, Voll neuer ahnungen, den mutterbusen dehnen; Was innigers, als was sie je empfand, Ein dunkles vorgefühl der mütterlichen triebe, Durchglüht, durchschaudert sie, und heiligt ihre liebe. 30. Das süße liebespfand ist ihr ein pfand zugleich, Sie werde nicht von Dem verlassen werden, Der was er schaft in seinem großen Reich Als Vater liebt. Gern trägt sie die beschwerden Des ungewohnten stands, verbirgt behutsam sie Vor Hüons blik, und zeigt ihm ihren kummer nie, Läßt lauter Hoffnung ihn im heitern auge schauen, Und nährt in seiner brust das schmachtende vertrauen. 31.

Zwar er vergaß des hohen schwures nicht, Den er dem Himmel und Amanden zugeschworen. Doch desto tiefer liegt das drückende gewicht; Denn sorgen ist nun doppelt seine pflicht. Bedarf es mehr sein herz mit dolchen zu durchboren, Als dieses rührende gesicht? Zeigt die gehofte hülf’ in kurzer zeit sich nicht, So ist sein Weib, sein Kind, zugleich mit ihm verloren.

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32. Schon viele wochen lang verstrich Kein tag, an dem er nicht wohl zwanzigmal den rücken Der felsengruft bestieg, ins meer hinauszublicken, Sein lezter trost! Allein vergebens stumpft er sich Die augen ab, im schoos der grenzenlosen höhen Mit angestrengtem blik ein fahrzeug zu erspähen; Die Sonne kam, die Sonne wich, Leer war das Meer, kein fahrzeug ließ sich sehen. 33.

Izt blieb ein einzigs noch. Es schien unmöglich zwar, Doch, was ist dem der um sein Alles kämpfet Unmöglich? Würde jedes haar Auf seinem kopf ein Tod, sein mut blieb ungedämpfet. Von diesem fels, worauf ihn Oberon verbannt, War Eine seite noch ihm gänzlich unbekannt. Ein fürchterlich gemisch von klippen und ruinen Beschüzte sie, die unersteiglich schienen.

34.

Izt, da die noth ihm an die seele dringt, Izt scheinen sie ihm leichterstiegne Hügel; Und wären’s Alpen auch, so hat die Liebe flügel. Vielleicht, daß ihm das Wagestük gelingt, Daß sein hartnäk’ger mut durch alle diese wilde Verschanzung der Natur sich einen weg erzwingt, Der ihn in fruchtbare gefilde Vielleicht zu freundlichen mitleid’gen wesen bringt.

35.

Amanden eine last von sorgen zu ersparen, Verbirgt er ihr das ärgste der gefahren, In die er sich, zu ihrer beyder Heil, Begeben will. Sie selbst trägt ihren theil Von Leiden still. Sie sprachen nichts beym scheiden, Als Lebewohl! so voll gepreßt war beyden Das herz; doch zeigt sein aug’ ihr eine zuversicht, Die wie ein sonnenstral durch ihren kummer bricht.

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36.

Da steht er nun am fuß der aufgebirgten zacken! Sie liegen vor ihm da, wie trümmern einer Welt, Ein Chaos ausgebrannter schlacken, In die ein Feuerberg zulezt zusammenfällt, Mit felsen untermischt, die, tausendfach gebrochen, In wilder ungeheurer pracht, Bald tief bis ins gebiet der alten finstern nacht Herunter dräun, bald in die wolken pochen.

37.

Hier bahnet nur Verzweiflung einen weg! Oft muß er felsenan sich mit den händen winden, Oft, zwischen schwindlicht tiefen schlünden, Macht er, den gemsen gleich, die klippen sich zum steg. Bald auf dem schmalsten pfad verrammeln felsenstücke Ihm weg und licht, er muß, so müd’ er ist, zurücke, Bald wehrt allein ein strauch, den mit zerrißner hand Er fallend noch ergreift, den sturz von einer Wand.

38.

Wenn seine kraft ihn fast verlassen will, Ruft die entflohnen lebensgeister Amandens Bild zurük. Schwerathmend steht er still, Und denkt an sie, und fühlt sich neuer kräfte meister. Es bleibt nicht unbelohnt, dein ächtes Heldenherz! Allmählich ebnet sich der pfad vor seinen tritten, Und gegen das was er bereits erstritten Ist, was zu kämpfen ihm noch übrig ist, nur scherz.

39.

Erstiegen war nunmehr der erste von den gipfeln, Und vor ihm liegt, gleich einem felsensaal, Hoch überwölbt von alten tannenwipfeln, In stiller dämmerung, ein kleines schmales thal. Ein schauder überfällt den matten Erschöpften wanderer, indem sein wankender schritt Dies düstre Heiligthum der Einsamkeit betritt, Ihm ist, er tret’ ins Reich der Schatten.

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40. Bald leitet ihn ein sanftgekrümmter pfad, Der sich allmählich senkt, zu einer schmalen brücke. Tief unter ihr rollt über felsenstücke Ein weißbeschäumter strom, gleich einem wasserrad. Herr Hüon schreitet unverdrossen Den berg hinan, auf den die brücke führt, Und sieht sich unvermerkt in felsen eingeschlossen Wo bald die möglichkeit des auswegs sich verliert. 41.

Der pfad auf dem er hergekommen Wird, wie durch zauberey, aus seinem aug’ entrükt! Lang irrt er suchend um, von stummer angst beklommen, Bis durchs gesträuch, das aus den spalten nikt, Sich eine öfnung zeigt, die (wie er bald befindet) Der anfang ist von einem schmalen gang Der durch den felsen sich um eine spindel windet, Fast senkrecht, mehr als hundert stufen lang.

42. Kaum hat er athemlos den lezten tritt erstiegen So stellt ein Paradies sich seinen augen dar: Und vor ihm steht ein Mann von edeln ernsten zügen, Mit langem weißen bart und silberweißem haar. Ein breiter gürtel schließt des braunen rockes falten, Und an dem gürtel hängt ein langer rosenkranz. Bey diesem ansehn war’s, an solchem orte, ganz Natürlich, ihn sogleich für was er war zu halten. 43.

Doch Hüon — schwach vor hunger, und erstarrt Vor müdigkeit, und nun, in diesen wilden höhen, Wo er so lang umsonst auf Menschenanblik harrt, Und von der felsen stirn, die ringsum vor ihm stehen, Uralte tannen nur auf ihn herunter wehen, Auf einmal überrascht von einem weißen bart, Der ihn so lieblich schrekt — glaubt ein Gesicht zu sehen, Und sinkt zur erde hin vor seiner gegenwart.

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44. Der Eremit, kaum weniger betroffen Als Hüon selbst, bebt einen schritt zurük; Doch spricht er, schnell gefaßt: hast du, wie mich dein blik Und ansehn glauben heißt, erlösung noch zu hoffen Aus deiner pein, so sprich, was kann ich für dich thun, Gequälter geist, wie kann ich für dich büßen, Um jenen port dir aufzuschließen Wo, unberührt von quaal, die Frommen ewig ruhn? 45.

So bleich und abgezehrt, mit noth und gram umfangen Als Hüon schien, war der Verstoß, in den Der alte Vater fiel, nur allzuleicht begangen. Allein, wie beyde sich recht in die Augen sehn, Und als der Greis aus Hüons mund vernommen Was ihn hieher gebracht, wiewohl sein anblik schon Ihm alles sagt, umarmt er ihn wie einen Sohn, Und heißt recht herzlich ihn in seiner Klaus willkommen.

46.

Und führt ihn ungesäumt zu einem frischen Quell, Der, rein wie luft, und wie krystallen hell Ganz nah an seinem Dach aus einem felsen quillet; Und während Hüon ruht und seinen Durst hier stillet, Eilt er und pflükt in seinem kleinen Garten In einen reinlichen korb die schönsten Früchte ab, Die, für den fleis sie selbst zu bauen und zu warten, Nicht kärglich ihm ein milder Himmel gab;

47.

Und hört nicht auf ihm sein erstaunen zu bezeugen, Wie einem, der sich nicht zween flügel angeschraubt, Es möglich war die felsen zu ersteigen Wo dreißig jahre schon er sich so einsam glaubt Als wie in seinem grab. „Es ist ein wahres zeichen Daß euch ein guter Engel schüzt; Allein, sezt er hinzu, das nöthigste ist izt Dem jungen Weib die hand des trosts zu reichen.

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48. Ein sichrer pfad, wiewohl so gut verstekt, Daß ohne mich ihn niemand leicht entdekt, Soll in der hälfte zeit, die du heraufzudringen Gebrauchtest, dich zu ihr, zurük euch beyde bringen. Was meine hütte, was mein kleines paradies Zu eurer nothdurft hat, ist herzlich euch erboten; Glaubt, auch auf Heidekraut schmekt ruh der unschuld süß, Und reiner fließt das blut bey kohl und magern schoten.“ 49.

Herr Hüon dankt dem gütigen alten Mann, Der seinen stab ergreift ihm selbst den weg zu zeigen, Und, daß der rükweg ihn nicht irre machen kan, Bezeichnet er den pfad mit frischen tannenzweigen. Noch eh ins abendmeer die goldne Sonne sinkt Hat den erseufzten berg Amanda schon erstiegen, Wo sie mit durstigen weitausgeholten zügen Den milden strom des reinsten Himmels trinkt.

50. In eine andre welt, ins Zauberland der Feen, Glaubt sie versezt zu seyn; ihr ist als habe sie Den Himmel nie so blau, so grün die Erde nie, Die Bäume nie so frisch belaubt gesehen. Denn hier, in hoher felsen schuz Die sich im kreis um diesen lustort ziehen, Beut noch der Herbst dem wind von Norden truz, Und Feigen reiffen noch, und Pomeranzen blühen. 51.

Mit ehrfurchtbebender brust, wie vor dem Genius Des heil’gen orts, fällt vor dem eisgrau’n Alten Amanda hin, und ehrt die dürre hand voll falten, Die er ihr freundlich reicht, mit einem frommen kuß. In unfreywilligem erguß Muß ihn ihr herz für einen Vater halten. Die furcht ist schon beym zweiten blik verbannt; Ihr ist sie hätten sich ihr lebenlang gekannt.

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52.

In seinem Ansehn war die angeborne Würde, Die, unverhüllbar, auch durch eine kutte scheint; Sein ofner blik war aller Wesen freund, Und schien gewohnt, wiewol der jahre bürde Den naken sanftgekrümmt, stets himmelwärts zu schau’n: Der innre friede ruht auf seinen augenbrau’n, Und wie ein fels, zu dem sich wolken nie erheben, Scheint überm erdentand die reine stirn zu schweben.

53.

Den rost der welt, der leidenschaften spur, Hat längst der fluß der zeit von ihr hinweggewaschen. Fiel’ eine Kron’ ihm zu, und es bedürfte nur Sie mit der hand im fallen aufzuhaschen, Er strekte nicht die hand. Verschlossen der Begier, Von keiner furcht, von keinem schmerz betroffen, Ist nur dem Wahren noch die heitre seele offen, Nur offen der Natur, und reingestimmt zu ihr.

54.

Alfonso nannt’ er sich, bevor er aus den wogen Der welt geborgen ward, und Leon war das land Das ihn gebahr. Zum fürstendienst erzogen, Lief er mit tausenden, vom schein wie sie betrogen, Dem blendwerk nach, das immer vor der hand Ihm schwebt, und immer im ergreiffen ihm entschwand, Dem schimmernden gespenst, das ewig opfer heischet, Und, gleich dem stein der Narr’n, die hofnung ewig täuschet.

55.

Und als er dergestalt des Lebens beste zeit Im rausch des selbstbetrugs an Könige verpfändet, Und gut und blut, mit feur’ger willigkeit Und unerkannter treu, in ihrem dienst verschwendet: Sah er ganz unverhoft, im schönsten morgenroth Der gunst, durch schnellen fall sich frey von seinen ketten; Noch glüklich, aus der schifbruchsnoth Das leben wenigstens auf einem Bret zu retten.

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56.

In diesem sturm, der alles ihm geraubt, Blieb ihm ein schaz, wodurch (ganz gegen hofes sitte) Alfonso sich vollkommen schadlos glaubt, Ein liebend weib, ein freund, und eine hütte. Laß, Himmel, diese mir, war nun die einz’ge bitte Die sein befriedigt herz zu wagen sich erlaubt. Zehn jahre lang ward ihm was er sich bat gegeben. Allein, sein schiksal war auch dies zu überleben.

57.

Drey söhn’, im vollen trieb der ersten jugendkraft, Der eignen jugend bild, die hofnung grauer jahre, Sie wurden durch die pest ihm plözlich weggeraft; Bald legt auch schmerz und gram die Mutter auf die bahre. Er lebt! — und niemand ist der mit ihm weint, Denn ach! verlassen hat ihn auch sein einzger freund! Er steht allein. Die welt die ihn umgiebet Ist Grab — von allem grab, was er, was ihn geliebet.

58.

Er steht, ein einsamer, vom sturm entlaubter baum, Die quellen sind versiegt wo seine freuden quollen. Wie hätt ihm izt die hütte, wo er kaum Noch glüklich war, nicht schreklich werden sollen? Was ist ihm nun die Welt? Ein weiter leerer raum, Des Glückes spielraum, frey ihr rad herumzurollen; Was soll er länger da? Ihm brach sein lezter stab, Er hat nichts mehr zu suchen — als ein grab.

59.

Alfonso floh in dieses unwirthbare Verlaßne Eiland, floh mit fastzerstörtem sinn In dies gebürg, und fand mehr als er suchte drinn, Erst ruh’, und mit dem stillen fluß der jahre Zulezt zufriedenheit. Ein alter Diener, der Ihn nicht verlassen wollt’, die einzge treue seele Die ihm sein unglük ließ, begleitet’ ihn hieher, Und ihre wohnung war nun eine felsenhöle.

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60. Allmählich hob sein herz sich aus der trüben flut Des Grams empor; die nüchternheit, die stille, Die reine freye luft, durchläuterten sein blut, Entwölkten seinen sinn, belebten seinen mut; Er spürte nun, daß, aus der ewgen fülle Des lebens, balsam, auch für Seine wunden, quille; Oft brachte die Magie von einem sonnenblik Auf einmal aus der gruft der Schwermut ihn zurük. 61.

Und als er endlich dies Elysium gefunden, Das, rings umher mit wald und felsen eingeschanzt, Ein milder Genius, recht wie für ihn, gepflanzt, Fühlt’ er auf einmal sich von allem gram entbunden, Aus einer ängstlichen traumvollen fiebernacht Als wie zur dämmerung des ewgen Tags erwacht. Hier, rief er seinem Freund, vom unverhoften schauen Des schönen orts entzükt, hier laß uns hütten bauen!

62. Die hütte ward erbaut, und, mit verlauf der zeit, Zur nothdurft erst versehn, dann zur gemächlichkeit, Wie sie dem alter eines Weisen Geziemt, der minder stets begehret als bedarf. Denn, daß Alfons, als er den ersten plan entwarf Von seiner flucht, sich mit geräth und eisen, Und allem was zur hülle nöthig war, Versehen habe, stellt von selbst sich jedem dar. 63.

Und so verlebt’ er nun in arbeit und genuß Des lebens späten herbst, beschäftigt seinen garten, Den quell von seinem armen überfluß, Mit einer müh’, die ihm zur wollust wird, zu warten. Vergessen von der welt, und nur, als an ein spiel Der kindheit, sich erinnernd aller plage, Die ihm ihr dienst gebracht, beseligt seine tage Gesundheit, unschuld, ruh, und reines selbstgefühl.

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64.

Nach achtzehn jahren starb sein redlicher Gefährte. Er blieb allein. Doch desto fester kehrte Sein stiller geist nun ganz nach jener Welt sich hin, Der, was er einst geliebt, izt alles angehörte, Der, auch er selbst schon mehr als dieser angehörte. Oft in der stillen nacht, wenn vor dem äußern sinn Wie in ihr erstes Nichts die körper sich verlieren, Fühlt’ er an seiner wang’ ein geistiges berühren.

65.

Dann hört’ auch wohl sein halbentschlummert ohr, Mit schauerlicher lust, tief aus dem hayn hervor, Mit Engelsstimmen sanft zu ihm herüber hallen. Ihm wird als fühl er dann die dünne scheidwand fallen, Die ihn, noch kaum, von seinen Lieben trennt; Sein Inners schließt sich auf, die heilge flamme brennt Aus seiner brust empor; sein Geist, im reinen lichte Der unsichtbaren welt, sieht himmlische gesichte.

66.

Sie dauren fort, auch wenn die augen sanftbetäubt Entschlummert sind. Wenn dann die morgensonne Den schauplatz der Natur ihm wieder aufschließt, bleibt Die vor’ge stimmung noch. Ein glanz von Himmelswonne Verkläret fels und hayn, durchschimmert und erfüllt Sie durch und durch; und überall, in allen Geschöpfen, sieht er dann des Unerschaffnen Bild, Als wie in tropfen thau’s das bild der sonne, wallen.

67.

So fließt zulezt unmerklich Erd und Himmel In seinem geist in Eins. Sein Innerstes erwacht. In dieser tiefen ferne vom getümmel Der leidenschaft, in dieser heil’gen nacht Die ihn umschließt, erwacht der reinste aller sinne — Doch — wer versiegelt mir mit unsichtbarer hand Den kühnen mund, daß nichts unnennbars ihm entrinne? Verstummend bleib ich stehn an dieses abgrunds rand.

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68.

So war der fromme Greis, vor dem mit kindestrieben Amanda niederfiel. Auch Er, so lang entwöhnt Zu sehn, wornach das herz sich doch im stillen sehnt, Ein menschlich angesicht! — erlabt nun an dem lieben Herzrührenden, nicht mehr gehoften anblik sich, Und drükt die sanfte hand der Tochter väterlich, Umarmt den neuen Sohn zum zweitenmal, und blicket Sprachlosen dank zu Dem, Der sie ihm zugeschicket.

69.

Und führt sie ungesäumt nach seiner ruhestatt, Zu seinem quell, in seine gartenlauben, Bedekt mit goldnem obst und großen purpurtrauben, Und sezt sie in besiz von allem was er hat. Natur, spricht er, bedarf weit minder als wir glauben; Wem nicht an wenig gnügt, den macht kein reichthum satt; Ihr werdet hier, solang die prüfungstage währen, Nichts wünschenswürdiges entbehren.

70.

Er sagte dies, weil ihm der erste blik gezeigt Was er nicht fragen will und Hüon ihm verschweigt. Denn Beyde, hatte gleich das elend ihre blühte Halb abgestreift, verriethen durch gestalt Und sinnesart, wo nicht ein königlich geblüte, Doch, sichrer, einen Wehrt, dem selbst die Allgewalt Des glüks nichts rauben kann vom reinen vollgehalt Der innern angebornen güte.

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Oberon Zehnter Gesang. 1.

Schon dreymal wechselte der tag sein herbstlich licht, Seit diese freystatt sie in ihrem schooße heget, Und beyde können noch sich des gedankens nicht Entschlagen, daß der Greis, der sie so freundlich pfleget, Kein wahrer Greis, daß er ein Schuzgeist ist, Vielleicht ihr Ob’ron selbst, der ihres fehls vergißt, Und da sie schwer genug, däucht sie, dafür gebüßet, Bald wieder glüklich sie zu machen sich entschließet.

2.

Nun schwindet zwar allmählich dieser wahn, Und ach! mit ihm stirbt auch, nicht ohne schmerzen, Die hoffnung die er nährt; doch schmiegen ihre herzen Sich an ein Menschenherz nur desto stärker an. Es war so sanft das herz des guten Alten, So zart sein mitgefühl, sein innrer sinn so rein, Unmöglich konnten sie sechs tage um ihn seyn Und länger sich vor ihm verborgen halten.

3.

Der junge Mann, im drang der dankbarkeit Und des vertrau’ns, zumal da ihn zu fragen Sein Wirth noch immer säumt, eröfnet ungescheut Ihm seinen namen, stand, und was, seit jener zeit, Da er zu Montlery des Kaysers sohn erschlagen, Bis diesen tag mit ihm sich zugetragen: Durch welchen Auftrag Karl den tod ihm zugedacht, Und wie er glüklich ihn mit Ob’rons schuz vollbracht:

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4.

Und wie in einem Traum die liebe sich entsponnen, Die ihn beym ersten blik mit Rezia vereint; Wie er mit ihr aus Babylon entronnen, Und das Verbot, das sein erhabner Freund Ihm auferlegt, und wie, sobald er dessen In einem augenblik von liebesdrang vergessen, Die ganze Natur sich gegen sie empört Und ihres Schützers huld in rache sich verkehrt.

5.

Wohl, spricht der edle Greis, wohl dem, den sein Geschik So liebreich, und zugleich so streng erziehet, Den kleinsten fehltritt ihm nicht straflos übersiehet, Wohl ihm! Denn ganz gewiß, das reinste erdenglük Erwartet ihn. Auf herzen wie die euern Zürnt Oberon nicht ewig. Glaube mir, Mein Sohn, sein auge schwebt unsichtbar über dir; Verdiene seine huld, so wird sie sich erneuern!

6.

Und wie verdien ich sie? Mit welchem opfer still’ Ich seinen zorn? fragt Hüon rasch den Alten; Ich bin bereit, es sey so schwer es will; Was kann ich thun? — Freywillig dich enthalten, Antwortet ihm Alfons: Was du gesündigt hast Wird Dadurch nur gebüßt. — Der junge Mann erblaßt. Ich fühl es, spricht der Greis mit sanfterröthender wange; Allein, ich weiß von Wem ich es verlange!

7.

Ein edles selbstgefühl ergreift den jungen Mann: „Hier hast du meine hand!“ — Mehr ward kein wort gesprochen. Und wohl ihm, der, nach mehr als hundert wochen, Sich selbst das zeugniß geben kann, Er habe sein gelübde nicht gebrochen! Es war der schönste sieg, den Hüon je gewann. Doch hat er oft die furcht vorm Alten zu erröthen, Oft Rezia’s standhaftern ernst vonnöthen.

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8.

Nichts unterhält so gut (versichert ihn der Greis) Die sinnen mit der pflicht im frieden, Als fleißig sie durch arbeit zu ermüden; Nichts bringt sie leichter aus dem gleis Als müß’ge träumerey. Um der zuvorzukommen, Wird ungesäumt, sobald der tag erwacht, Die scharfe axt zur hand genommen, Und holz im hayn gefällt bis in die dunkle nacht.

9.

Noch eine hütte für Amanden aufzurichten, Und dach und wände wohl mit leim und moos zu dichten, Dann zum Kamin, der immer lodern muß, Und für den heerd, den nöthigen überfluß Von fettem kien und kleingespaltnen fichten Hoch an den wänden aufzuschichten, Dies und viel anders giebt dem Prinzen viel zu thun: Allein, es hilft ihm nachts auch desto besser ruhn.

10.

Zwar anfangs will es ihm nicht gleich nach wunsch gelingen, Die holzaxt statt des ritterschwerts zu schwingen; Die ungewohnte hand greift alles schwerer an, Und in der halben zeit hätt’ es ein knecht gethan. Doch täglich nimmt er zu, denn übung macht den meister; Und fühlt er dann und wann sich dem erliegen nah, So wehet der gedank, es ist für Rezia, Sein feuer wieder an, und stärkt die matten geister.

11.

Indessen Hüon sich im wald ermüdet, pflegt Der edle Greis, der mit noch festem tritte Die schwere last von achtzig jahren trägt, Der ruhe nicht; nur daß er von der hütte Sich selten weit entfernt. Kein heitrer tag entflieht, Der nicht in seinem lieben garten Ihn dies und das zu thun beschäftigt sieht. Amandens sorge ist des kleinen heerds zu warten.

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12.

Da sähe man (wiewohl, wenn Engel nicht Mit stillem blik ihr ebenbild umweben, Wer sieht sie hier?) mit heiterm angesicht, Auf dem die sorgen nur wie leichte wölkchen schweben, Die Königstochter gern sich jeder niedern pflicht Der kleinen wirtschaft untergeben: Auch was sie nie gekannt, viel minder je gethan, Wie schnell ergreift sie es, wie steht ihr alles an!

13.

Oft schürzt sie, ohne mindsten harm Daß ihre zarte haut den schönen schmelz verliere, Beym wassertrog, vor ihrer hüttenthüre, Den schlanken schwanenweißen arm. Die freud’ (ihr süßer lohn) den väterlichen Alten Und den geliebten Mann in einem stand zu halten, Der von dem drückendsten der armut sie befreyt, Veredelt, würdigt ihr des tagwerks niedrigkeit.

14.

Und sieht sie dann (auch Er ist jener Engel einer!) Der heilge Greis, der von der arbeit kehrt, Und segnet sie: o dann ist ihre freude reiner Und inniger, als würd’ ihr dreymal mehr verehrt Als sie zu Bagdad ließ. Wenn dann bey sternenlichte Die nacht sie alle drey am feuerheerd vereint, Und auf Amandens lieblichem gesichte, Das halb im schatten steht, die flamme widerscheint:

15.

Dann ruht, mit stillem liebevollen Entzükten blik, der junge Mann auf ihr, Und seine seele schwillt, und süße thränen rollen Die dunkle wang’ herab. Tief schweiget die begier! Sie ist ein überirdisch Wesen Das ihm zum trost erscheint — er ist beglükt genug, Daß er sie lieben darf, und o! in jedem zug, In jedem keuschen blik, daß er geliebt ist, lesen!

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16.

Oft sitzen sie, der fromme freundliche Greis In ihrer mitt’, Amanda seine rechte In ihrer linken hand, und hören halbe nächte Ihm zu, von seiner langen lebensreis’ Ein stük, das ihm lebendig wird, erzählen. Vom antheil, den die warmen jungen seelen An allem nehmen, wird’s ihm selber warm dabey, Dann werden unvermerkt aus zwoo geschichten drey.

17.

Zuweilen, um den geist des trübsinns zu beschwören, Der, wenn die flur in dumpfer stille traurt, Im schneegewölk mit eulenflügeln laurt, Läßt Hüon seine kunst auf einer harfe hören, Die er von ungefähr in einem winkel fand, Lang ungebraucht, verstimmt, und kaum noch halb bespannt: Doch scheint das schnarrende holz von Orfeus geist beseelet, Sobald sich Rezia’s gesang mit ihm vermählet.

18.

Oft lokte sie ein heller wintertag, Wenn fern die see von strenger kälte rauchte, Der blendendweiße schnee dicht auf den bergen lag, Und izt die abendsonn’ ihn wie in purpur tauchte, Dann lokte sie der wunderschöne glanz Im reinen strom der kalten luft zu baden. Wie mächtig fühlten sie sich dann gestärkt! wie ganz Durchheitert, neubelebt, und alles grams entladen!

19.

Unmerklich schlüpfte so die winterzeit vorbey. Und nun erwacht aus ihrem langen schlummer Die Erde, kleidet sich aufs neu In helles grün; der wald, nicht mehr ein stummer Verödeter Ruin, wo nur die pfeiler stehn Der prächtgen laubgewölb’ und hohen schattengänge Des Tempels der Natur, steht wieder voll und schön, Und laub drükt sich an laub in lieblichem gedränge.

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20. Mit blumen decket sich der busen der Natur, Aufblühend lacht der garten und die flur; Man hört die luft von vogelsang erschallen; Die felsen stehn bekränzt; die fließenden krystallen Der quellen perlen wieder rein Am frischem moos herab; den immer dichtern hayn Durchschmettert schon im lauen mondenschein, Die stille nacht hindurch, das lied der nachtigallen. 21.

Amanda, deren ziel nun immer näher rükt, Sucht gern die einsamkeit, sucht stille dunkle steige Im hayn sich aus, und dichtgewölbte zweige. Da lehnt sie oft, von ahnungen gedrükt, An einem blühnden baum, und freuet sich des webens Und sumsens und gedrängs und allgemeinen lebens In seinem schoos — und drükt mit vorempfundner lust Ein lieblich Kind im geist an ihre brust.

22. Ein lieblich kind, das ihre mutterliebe Mit jedem süßen reiz verschwenderisch begabt, Sich schon voraus an jedem zarten triebe, Der ihm entkeimt, sich schon am ersten lächeln labt, Womit es ihr die leiden alle danket Die sie so gern um seinetwillen trug; Sich labt an jedem schönen zug Worinn des vaters bild sanft zwischen ihrem schwanket. 23. Allmählich wird der wonnigliche traum Von schüchternen beängstigungen Und stillem gram, den sie vor Hüon kaum Verbergen kann und doch verbergen will, verdrungen. O Fatme, denkt sie oft, und thränen stehen ihr Im auge, wärest du in dieser noth bey mir! Getrost, o Rezia! Das schiksal das dich leitet Hat dir zu helfen längst die wege vorbereitet!

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24. Titania, die Elfenkönigin, Sie hatte seit dem tag, da troz und widersinn So unvermuthet sie um Oberons herz betrogen, Sich in dies nemliche gebürg zurükgezogen. Mit dem Gemal, der ihr durch einen Schwur entsagt, Den unterm unbegrenzten bogen Des himmlischen azurs kein Geist zu brechen wagt, Mit seiner lieb und ihm war all ihr glük entflogen. 25.

Zu spät beweint sie nun die unbesonnene That Des raschen augenbliks; fühlt mit beschämten wangen Die größe ihrer schuld, den schweren hochverrath Den sie an ihm und an sich selbst begangen. Vergebens kämpft ihr stolz der stärkern zärtlichkeit Entgegen! — Ach! sie flöge himmelweit Und wärfe gern, um ihr vergehn zu büßen, In thränen sich zu des Erzürnten füßen.

26. Was hälf es ihr? Er schwur, in wasser noch in luft, Noch wo im blühtenhayn die zweige balsam regnen, Noch wo der hagre Greif in ewigfinstrer gruft Bey zauberschätzen wacht, ihr jemals zu begegnen! Vergebens käm ihn selbst die späte reue an, Auf ewig fesselt ihn der schwur den er gethan. Ihn auszusöhnen bleibt ihr keine pforte offen; Die einz’ge die ihr bleibt, was ist von der zu hoffen? 27.

Sie ist auf ewig zu. Denn nur ein liebend paar Wie keines ist, wie niemals keines war Noch seyn wird, schließt sie auf. Von schwachen Adamskindern Zu hoffen eine Treu — die keines sturmwinds stoß Erschüttert, eine treu, die keine probe mindern Kein reiz betäuben kann — Unmöglich! — Hoffnunglos Sinkt in der fernsten Zukunft dunkeln schoos Ihr thränenschwerer blik — nichts kann ihr elend mindern!

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28. Verhaßt ist ihr nunmehr der Elfen scherz, der tanz Im mondenlicht, verhaßt in seinem rosenkleide Der schöne May; ihr schmükt kein myrtenkranz Die stirne mehr; der anblik jeder freude Reißt ihre wunden auf. Sie flattert durch das Leer Der weiten luft im sturmwind hin und her, Findt nirgends ruh, und sucht mit trübem blicke Nach einem ort, der sich zu ihrer schwermut schicke. 29. Zulezt entdekt sich ihr im großen Ozean Dies Eyland. Aufgethürmt aus schwarzen ungeheuern Ruinen, lokt es sie durch seine schwärze an Den irren flug dahin zu steuern. Es stimmt zu ihrem sinn. Sie taumelt aus der luft Herab, und stürzet sich in eine finstre gruft, Um ungestört ihr daseyn wegzuweinen, Und unter felsen, selbst, wo möglich, zu versteinen. 30. Schon siebenmal, seitdem Titania Dies traurige leben führt, verjüngte sich die erde Ihr unbemerkt. Als wie auf einem opferheerde Liegt sie auf einem stein, den Tod erwartend, da; Der tag geht auf und sinkt; die holde schattensonne Beleuchtet zauberisch die felsen um sie her; Vergebens! Strömten auch die quellen aller wonne Auf einmal über sie, ihr herz blieb’ wonneleer. 31.

Das einz’ge, was ihr noch mit einem traum des schattens Von trost ihr ewig leid versüßt, Ist, daß vielleicht der zustand ihres Gattens Dem Ihren gleicht, und Er vielleicht noch härter büßt. Gewiß, noch liebt er sie, und o! wofern er liebet, Er, durch sich selbst verdammt zum schöpfer Ihrer pein Und seiner eignen quaal, wie elend muß er seyn! So elend, daß sie gern ihm ihren theil vergiebet!

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32. Doch, da für jede seelenwunde Wie tief sie brennt, die Zeit, die große trösterin, Den wahren balsam hat: so kam zulezt die stunde Auch bey Titania, da ihr verdumpfter sinn Sich allgemach entwölkt, ihr herz geduldiger leidet, Und ihre Fantasie in grün sich wieder kleidet: Sie giebt den schmeicheleyn der Hoffnung wieder raum, Und was unmöglich schien wird izt ihr Morgentraum. 33.

Auf einmal grauet ihr vor diesen düstern schlünden, Worinn sie einst sich gern gefangen sah; Schnell muß aus ihrem aug’ ein theil der klippen schwinden, Und ein Elysium steht blühend vor ihr da. Auf ihren leisen ruf erschienen Drey liebliche Sylfiden, die ihr dienen; Ein schwesterliches Drey, das ihren gram zerstreut, Und der Verlaßnen, mehr aus lieb als pflicht, sich weiht.

34.

Das Paradies, das sich die Elfenkönigin In diese felsen schuf, war eben das, worinn Alfonso schon seit dreyßig jahren wohnte; Und, ihm unwissend, war’s die grotte, wo sie thronte, Woraus ihm, durchs gebüsch vom nachtwind zugeführt, Der liebliche gesang, gleich Engelsstimmen, hallte; Sie war’s, die ungesehn bey ihm vorüber wallte, Wenn er an seiner wang’ ein geistig weh’n verspürt.

35.

Auch unsre Liebenden, vom tag an, da die wogen An dieses Eyland sie getragen, hatte sie Bemerkt, und täglich spät und früh Erkundigung von ihnen eingezogen. Oft stand sie selbst, wenn jene sich allein Vermeynten, ungesehn, sich näher zu belehren; Und was sie hört und sah gab ihr den zweifel ein, Ob sie vielleicht das paar, das sie erwartet, wären.

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36.

Je länger sie auf ihr Betragen merkt, Je mehr sie sich in ihrer hoffnung stärkt. Sind Hüon und Amanda die getreuen Probfesten seelen nicht, die Oberon begehrt, So muß sie ihrer nur auf ewig sich verzeihen. Von nun an sind sie ihr wie ihre augen wehrt, Und sie beschließt, mit ihren kleinen Feen Dem edeln jungen Weib unsichtbar beyzustehen.

37.

Die stunde kam. Von dumpfer bangigkeit Umhergetrieben, irrt Amanda im gebüsche, Das, um die hütten her, ein liebliches gemische Von wohlgeruch zum morgenopfer streut. Sie irret fort, so wie der schmale pfad sich windet, Bis sie sich unvermerkt vor einer grotte findet, Die ein geweb von epheu leicht umkränzt, Auf dessen dunkelm schmelz die morgensonne glänzt.

38.

Alfonso hatte oft vordem hineinzugehen Versucht, und allemal vergebens; eben dies War seinem alten Freund, war Hüon selbst geschehen, So oft er, um des wunders sich gewiß Zu machen, es versucht. Sie hatten nichts gesehen; Sie fühlten nur ein seltsam widerstehen, Als schöbe sich ein unsichtbares thor, Indem sie mit gewalt eindringen wollten, vor.

39.

Schnell überfiel sie dann ein wunderbares grauen, Sie schlichen leise sich davon Und keiner wollte sich der probe mehr getrauen. Man weiß nicht, ob Amanda selbst es schon Zuvor versucht; genug, sie konnte dem gedanken Die erste, der’s geglükt, zu seyn Nicht widerstehn; sie schob die epheuranken Mit leichter hand hinweg, und — gieng hinein.

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40. Kaum sah sie sich darinn, so kam ein heimlich zittern Sie an; sie sank auf einen weichen siz Von rosen und von moos. Izt fühlt sie, bliz auf bliz, Ein schneidend weh gebein und mark erschüttern. Es gieng vorbey. Ein angenehm ermatten Erfolgte drauf. Es ward wie mondenschein Vor ihrem blik, der stets in tiefre schatten Sich taucht’, und, sanft sich selbst verlierend, schlief sie ein. 41.

Izt dämmern liebliche verworrene gestalten In ihrem Innern auf, die bald vorüberfliehn, Bald wunderbar sich in einander falten. Ihr däucht, sie seh drey Engel vor ihr knien, Und ihr verborgene Mysterien verwalten; Und eine Frau, gehüllt in rosenfarbes licht, Steh neben ihr, so oft der athem ihr gebricht Ein büschel rosen ihr zum munde hinzuhalten.

42. Zum leztenmal beklemmt ihr höherschlagend herz Ein kurzer sanftgedämpfter schmerz; Die bilder schwinden weg, und sie verliert sich wieder. Doch bald, erwekt vom nachklang süßer lieder Der halbverweht aus ihrem ohr entflieht, Schlägt sie die augen auf, und sieht Die drey nicht mehr, sieht nur die Königin der Feen In ihrem rosenglanz sanftlächelnd vor ihr stehen. 43.

Auf ihren armen lag ein neugeboren kind. Sie reichts Amanden hin, und, wie verweht vom wind, Entschwebt die Göttin ihrem blicke; Doch blieb noch lang ein rosenduft zurücke. Im gleichen Nu erwacht Amand’ aus ihrem traum, Und strekt den arm empor, als wollte sie den saum Des rosigten gewandes noch erfassen; Umsonst! sie greift nach luft, und ist allein gelassen.

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44. Doch, einen pulsschlag noch, und wie unnennbar groß Ist ihr erstaunen, ihr entzücken? Kaum glaubt sie dem gefühl, kaum traut sie ihren blicken! Sie fühlt sich ihrer bürde los, Und zappelnd liegt auf ihrem sanften schoos Der schönste Knabe, frisch wie eine morgenros’ Und wie die Liebe schön! Mit wonnevollem beben Fühlt sie ihr herz sich ihm entgegenheben. 45.

Sie fühlt’s, es ist ihr Sohn! Mit thränen inniger lust Gebadet, drükt sie ihn an wange, mund, und brust, Und kann nicht satt sich an dem knaben sehen. Auch scheint der knabe schon die Mutter zu verstehen. Laßt ihr zum mindsten den genuß Des süßen wahns! Er schaut aus seinen großen augen Sie ja so sprechend an — und scheint nicht jeden kuß Sein kleiner mund dem ihren zu entsaugen?

46.

Sie hört den stillen ruf — wie leise hört Ein mutterherz! — und folgt ihm unbelehrt. Mit einer lust, die, wenn sie neiden könnten, Die Engel, die auf sie herunter sahn, Die Engel selbst beneidenswürdig nennten, Legt sie an ihre brust den holden säugling an. Sie leitet den Instinkt, und läßt nun an den freuden Des zartsten mitgefühls ihr herz vollauf sich weiden.

47.

Indessen hat im ganzen Hain umher Ihr Hüon sie gesucht, zwoo ängstlich lange stunden, Und, da er nirgends sie gefunden, Führt ihn zulezt sein irrer fuß hieher. Er nähert sich der unzugangbarn Grotte; Nichts hält ihn auf, er kommt — o welch ein augenblik! Und sieht das holde Weib, mit einem Liebesgotte An ihrer brust, vertieft, verschlungen in ihr glük.

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48. Ihr, denen die Natur, beym eingang in dies leben, Den überschwenglichen Ersaz Für alles andre glük, den unverlierbarn schaz, Den alles gold der Aureng-Zeben Nicht kauffen kann, das Beste in der welt Was sie zu geben hat, und was ins beßre leben Euch folgt — ein fühlend herz und reinen sinn gegeben, Blikt hin und schaut! — Der heil’ge vorhang fällt!

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Oberon Eilfter Gesang. 1.

Es ist nun zeit, uns auch nach Fatme umzuschauen, Die wir, seit Rezia mit Hüon sich ins meer Gestürzt, im schiff, allein und alles trostes leer Gelassen, tag und nacht das schiksal ihrer Frauen Beweinend, und ihr eignes freylich auch. Denn ach! sie weint, sie schreyt, sie rauft ihr haar vergebens; Er ist verweht, mit einem einzigen hauch Verweht, der ganze Bau der ruhe ihres lebens.

2.

Was soll nun aus ihr werden, so allein In einem schiff, von zügellosen söhnen Des rauhen meers umringt, die ihren jammer höhnen, Mit frechen augen schon, berauscht in feurigem wein, Verschlingen ihren raub — was wird ihr schiksal seyn? Zum glük erbarmet sich der schuzberaubten Schönen Ein unverhofter sturm, der in der zweyten nacht Die see zum tummelplaz empörter wogen macht.

3.

Die Pinke treibt, indeß ein allgemeines zagen Das volk entnervt, auf ungewissem meer Herumgejagt, bald west bald südwärts hin und her; Bis, da der winde wut in sieben schreklichen tagen Erschöpft ist, an den strand von Tunis sich verschlagen Der Hauptmann sieht. Den zufall der ihn sehr Zur unzeit überrascht, in vortheil zu verwandeln, Beschließt er Fatmen hier als Sclavin zu verhandeln.

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4.

Denn Fatme, die kaum fünf und dreißigmal Den May sein blumenkleid entfalten Gesehn, war eine aus der zahl Der lange blühenden Gestalten Die nicht so leicht verwittern noch veralten, Und die mit Reizen von gewicht, Viel feu’r im blik, viel grübchen im gesicht, Euch für den rosenglanz der jugend schadlos halten.

5.

Des Königs Gärtner kam, durch zufall, auf den plaz Wo alles das um vierzig Sultaninen Zu kauffen war. Es schien betrachtung zu verdienen; Er trat hinzu, besah, und fand es sey ein Schaz. Sein grauer kopf ward nicht zu rath gezogen. Es fehlte, dünkt ihn, nichts in seinem Gulistan Als eben dies. Das gold wird hurtig vorgewogen, Und Fatme duldet still was sie nicht ändern kann.

6.

Indeß verfolgt mit stets gewognem winde Der treue Scherasmin den anbefohlnen lauf. Kaum nahm Massiliens Port ihn wohlbehalten auf, So sezt er sich zu pferd, und eilt so schnell, als stünde Sein Leben drauf, zum Kayser nach Paris. Er hatte schon die nächste höh’ erstiegen Und sah im morgenroth die stadt noch schlummernd liegen, Als plözlich sich sein kopf an einen zweifel stieß.

7.

„Halt, sprach sein geist zu ihm, und eh wir weiter traben, Bedenke wohl was du beginnst, mein sohn! Zwar sollte das dein weiser schädel schon Zu Askalon erwogen haben, Wiewohl der wind, der dort in Hüons segel blies, Dir wenig zeit zum überlegen ließ. Doch, wenn wir ehrlich mit einander sprechen wollen, Du hättest damals dich ganz anders sträuben sollen.

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8.

Denn, unter uns gesagt, es ist doch offenbar Kein menschensinn in dieser Ambassade. Den Kayser, der vorhin uns nie gewogen war, Erbittert sie gewiß im höchsten grade. Am ende wär es nur um’s reiche kästchen schade! Denn, wahrlich, mit der handvoll ziegenhaar, Und mit den zähnen da, Gott weis aus welchem rachen, Wird deine Exzellenz sehr wenig eindruk machen.

9.

Ja, wenn Herr Hüon selbst, mit stattlichem geleite Von reisigen Trabanten, und sofort, Und mit der Tochter des Kalifen an der seite Hereingeschritten wär’, und hätte selbst das wort Geführt, und mit gehörigen grimassen, Wie einem Ritter, Düc und Pair Geziemt, auf rothem Sammt, von goldnen quasten schwer, Die sachen überreicht — da wollt’ ichs gelten lassen!

10.

Da kommt des aufzugs pracht, die fey’rlichkeit, der glanz Der Sultanstochter, an der hand des stolzen Gatten, Kurz, jeder umstand kommt dem andern da zu statten, Und trägt das seine bey, die Sache rund und ganz Zu machen. Karlen bleibt nichts weiter einzuwenden, Er hat den glauben in den augen und in händen; Der Ritter hat sein wort gehalten als ein Mann, Und fodert frey was ihm kein Recht versagen kann.

11.

Das alles geht auf einmal in die brüche, Freund Scherasmin, wenn du nicht klüger bist Als der dich abgeschikt. Wohlan, was raths? was ist Zu thun? — Das beste wär, auf allen fall, er schliche Mit seinem kästchen sich ganz sachte wieder ab Eh jemand ihn bemerkt, und ritt’ im großen trab Geradenwegs nach Rom, dem freyport aller frommen, Wo hoffentlich sein Herr inzwischen angekommen.“

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12.

So sprach zu Scherasmin sein beßrer Genius: Und da er ihm, nach langem überlegen Der sache, klügers nichts entgegen Zu setzen hatte, war sein endlicher entschluß Der guten stadt Paris das schulterblat zu weisen Und sporenstreichs nach Rom zu seinem Herrn zu reisen. Er übersteigt die Alpen, langet an, Und gleich sein erster gang ist nach dem Lateran.

13.

Allein, umsonst ermüdet er mit fragen Nach seinem Herrn den Schweizer, der die wach’ Am thore hat, umsonst das ganze vorgemach, Kein mensch kann ihm ein wort von Ritter Hüon sagen. Vergebens rennet er die Stadt von haus zu haus Und alle Kirchen und Spitäler fragend aus, Und schildert ihn vom fersen bis zur scheitel Den leuten vor — all seine müh ist eitel.

14.

Vier ewige wochen lang, und dann noch zwo dazu, Verweilt er sich in stets betrognem hoffen, Läßt keinen tag sich selbst noch andern ruh Mit forschen, ob sein Prinz denn noch nicht eingetroffen; Und, da kein warten hilft, beginnt er überlaut Ein großes Ventregris, nach Basquen art, zu fluchen, Und schwört, so weit der Himmel blaut, In einem pilgerkleid den Ritter aufzusuchen.

15.

Was konnt er anders thun? Sein geld war aufgezehrt, Und eine perle nur vom kästchen anzugreiffen, (Das billig hundertfachen wehrt In Hüons augen hat, weil ihm’s der Zwerg verehrt) Eh ließ er sich den balg vom leibe streiffen! Von einem pilgersmann wird weder gold begehrt Noch silbergeld; er kann mit Muschelschalen Und Litaneyn die halbe welt bezalen.

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16.

So bettelt nun zwey jahre lang, und mehr, Der treue unverdrossne Alte Sich durch die welt, die länge und die queer’, Und macht an jedem port, auf jeder insel halte; Fragt überall vergebens seinem Herrn Und seiner Dame nach — bis ihn zulezt sein stern, Und ein geheimer trieb, der seine hoffnung schüret, Nach Tunis vor die thür des alten Gärtners führet.

17.

Er sezt sich vor die thür auf eine bank von stein, Um, müde wie er ist und schwach von langem fasten, Im schatten da ein wenig auszurasten, Und eine Sclavin bringt ihm etwas brod und wein. Sie sieht dem Mann im braunen pilgerkleide Erstaunt ins aug’, und Er der Sclavin ebenfalls, Und, sich mit einem schrey des schreckens und der freude Erkennend, fallen sie einander um den hals.

18.

Bist du es, Fatme, ruft an ihrer nassen wange Der Pilger freudig aus; ist möglich? — Ach! schon lange Ließ Scherasmin die hoffnung sich vergehn — Ists möglich daß wir uns zu Tunis wiedersehn? Was für ein wind hat euch in diese Heydenlande Verweht? Und wo ist Hüon und Amande? Ach, Scherasmin, schreyt Fatme laut, und bricht In thränen aus — Sie sind — Ich Arme! — Frage nicht!

19.

Was sagst du, ruft der Alte, — Gott verhüte! Was sind sie? Sprich! — „Ach Scherasmin, sie sind“ — Mehr bringt sie nicht heraus! Das stockende geblüte Erstikt die red’ in ihrer brust — Sie sind? — O Gott! schluchzt Scherasmin, und weinet wie ein kind An Fatmens hals — In ihrer vollen blüthe! Es ist zu hart! Allein mir schwahnte lang vorher Nichts gutes! Fatme — ach! die Probe war zu schwer!

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20. Sobald die gute Frau zum kläglichen berichte Nur wieder athem hat, erzählt sie stük vor stük, Von seiner abreis’ an bis auf den augenblik Der schreckennacht, da, beym auffackelnden lichte Der blitze, Rezia, durch alles volk, das dichte Auf Hüon drängt, sich stürzt, den arm in liebeswut Um den Geliebten schlingt und in die wilde flut Ihn mit sich reißt — die traurige geschichte. 21.

Drauf sitzen sie wohl eine stunde lang Beysammen, sich recht satt zu klagen und zu weinen, Und beyde sich, aus treuem liebesdrang, Zum preis des schönsten Paares zu vereinen, Das je die welt geziert. Nein, ruft sie vielmals, nie, Nie werd’ ich eine Frau, wie diese, wiedersehen! Noch ich, ruft Scherasmin in gleicher melodie, Je einem Fürstensohn wie Er zur seite stehen!

22. Zulezt, nachdem er sich wohl dreymal sagen lassen Wie alles sich begab, geht ihm ein schwacher schein Von Glauben auf, und läßt ihn hoffnung fassen, Sie könnten beyde doch vielleicht gerettet seyn. Je mehr er es bedenkt, je minder geht ihm ein, Daß Oberon auf ewig sie verlassen; In allem dem, was er für sie gethan, War absicht, wie ihn däucht, und ein geheimer plan. 23. Bey diesem schwachen hoffnungsschimmer, Der, wie ein fernes licht in tiefer nacht, ihm scheint, Entschließt er sich, von Fatme nun sich nimmer Zu trennen, und, mit ihr durch gleichen schmerz vereint, Des Schiksals aufschluß hier in Tunis abzuwarten. Durch ihren vorschub tauscht er pilgerstab und kleid Mit einem sclavenwamms und einem grabescheid, Und dient um tagelohn im königlichen garten.

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24. Indessen Fatme und der wakre Scherasmin Die blumenfelder, die sie bauen, Wie ihrer Lieben grab, mit thränen oft bethauen; Sieht Hüon, seit sein prüfend schiksal ihn In diese Einsiedley voll anmuth und voll grauen Verbannt, nicht ohne gram den dritten frühling blühn. Unmöglich kann er noch sein heldenherz entwöhnen Ins weltgetümmel sich mit Macht zurükzusehnen. 25.

Der kleine Hüonnet, das schönste mittelding Von mütterlichem reiz und väterlicher stärke, Das je am hals von einer Göttin hieng, Und wahrlich doch zu anderm tagewerke Bestimmt, als mit der axt auf seiner schulter einst Ins holz zu gehn, vermehrt nur seinen kummer. Auch dich, o Rezia, in nächten ohne schlummer, Belauscht dein Engel oft, wenn du im stillen weinst.

26. Tief fühlt ihr beyd’, in dieser jugendblühte, Daß abgeschiedenheit euch unnatürlich ist; Fühlt kraft zu edlerm thun in eurer brust, vermißt Des heldensinns, der unbegrenzten güte Gleich unbegrenzten kreis! — Umsonst bemühn sie sich Die thräne, die dem abgewandten aug’ entschlich, Dem alten Vater zu verheelen: Ihr lächeln täuscht ihn nicht, er ließt in ihren seelen. 27.

Und ob ihm Diese welt gleich nichts mehr ist, doch stellt Er sich an ihren plaz, in das was sie verloren, Was ihnen zugehört, wozu sie sich geboren Empfinden — fühlt aus Ihrer brust, und hält Die thräne für gerecht, die sie vor ihm aus liebe Verbergen, tadelt nicht die unfreywill’gen triebe, Und frischt sie nur, solang’ als ihren lauf Das Schiksal hemmt, zu stillem hoffen auf.

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28. An einem abend einst — das tagwerk war vollbracht, Und alle drey, (Amande mit dem Knaben Auf ihrem schoos) um an der herrlichen pracht Des hellgestirnten Himmels sich zu laben, Sie saßen vor der hütt’ auf einer rasenbank; Versenkten sich mit ahnungsvollem grauen In dieses Wundermeer, und blikten stillen dank Zu Ihm, der sie erschuf, gen himmel aufzuschauen: 29. Da fieng der fromme Greis, mit mehr gerührtem ton Als sonst, zu reden an, von diesem erdenleben Als einem Traum, und vom hinüberschweben Ins wahre Seyn — Es war, als wehe schon Ein hauch von himmelsluft zu ihm herüber, Und trag ihn sanft empor indem er sprach. Amanda fühlts; die augen gehn ihr über, Ihr ist’s, als sähe sie dem Halbverschwundnen nach. 30. Mir, fuhr er fort, mir reichen sie die hände Vom ufer jenseits schon — Mein lauf ist bald zu ende; Der Eurige beginnet kaum, und viel Viel trübsal noch, auch viel der besten freuden, (Oft sinds nur stärkungen auf neue größre leiden) Erwarten euch, indeß ihr unvermerkt dem ziel Euch nähert. Beydes geht vorüber, Und wird zum traum, und nichts begleitet uns hinüber; 31.

Nichts als der gute schaz, den ihr in euer herz Gesammelt, wahrheit, lieb, und innerlicher frieden, Und die erinnerung, daß weder lust noch schmerz Euch nie vom treuen hang an eure pflicht geschieden. So sprach er vieles noch; und als sie endlich sich Zur ruh begaben, drükt er, wie sie dünkte, Sie wärmer an sein herz, und eine thräne blinkte In seinem aug’, indem er schnell von ihnen wich.

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32. In eben dieser Nacht, von dunkeln vorgefühlen Der zukunft aufgeschrekt, erhub Titania Die augen himmelwärts — und alle rosen fielen Von ihren wangen ab, indem sie stand, und sah, Und las. Sie rief den lieblichen Gespielen, Mit ihr zu sehen was in diesem nu geschah, Und wie zu unglükschwangern zügen Amandens Sterne schon sich an einander fügen. 33.

Und, dicht in schatten eingeschleyert, fliegt Sie schnell dem lager zu, wo zwischen mandelbäumen (Der Knabe neben ihr) die Königstochter liegt, Aus ihrem schlaf von ahnungsvollen träumen Oft aufgestört. Titania berührt Die brust der Schläferin (damit die unruh schweige Die in ihr klopft) mit ihrem rosenzweige, Und raubt den knaben weg, der nichts davon verspürt.

34.

Sie kommt zurük mit ihrem schönen Raube Und spricht zu ihren Grazien: ihr seht Das grausame gestirn, das ob Amanden steht: Eilt, rettet dieses kind in meine schönste laube, Und pfleget sein, als wär’s mein eigner sohn. Drauf zog sie aus dem kranz um ihre stirne Drey rosenknospen aus, gab jeder holden Dirne Ein knöspchen hin, und sprach: hinweg, es dämmert schon!

35.

Thut, wie ich euch gesagt, und alle tag’ und stunden Schaut eure Rosen an; und wenn ihr alle drey Zu Lilien werden seht, so merket dran, ich sey Mit Oberon versöhnt und wieder neuverbunden. Dann eilet mit Amandens sohn herbey, Denn mit der meinen ist auch Ihre noth verschwunden. Die Nymfen neigten sich, und flohn In einem wölkchen schnell hinweg mit Hüons sohn.

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36.

Kaum war der Morgen aufgegangen, So sucht mit bebendem unruhigem verlangen Amanda ihren Freund, der seine lagerstatt Fern von Alfons und ihr in einem felsen hat. So hastig eilt sie fort, daß sie (was nie geschehen Seitdem sie Mutter war) vor lauter eil vergißt, Nach ihrem sohn, der noch ihr schlafgeselle ist, Und ruhig (glaubt sie) schläft, vorher sich umzusehen.

37.

Sie findet ihren Mann, im garten irrend, auf, Und beyde nehmen auf der stelle, Was sie besorgen sich verbergend, nach der zelle Des alten Vaters ihren lauf. Wie klopft ihr herz, indem sie seinem lager Sich langsam nahn! Er liegt, die hände auf sein herz Gefaltet, athemlos, sein antliz bleich und hager, Doch edel jeder zug, und rein, und ohne schmerz.

38.

Er schlummert nur, spricht Rezia, und legt Die hand, so leicht daß sie ihn kaum berühret, Auf seine hand; und da Sie kalt sie spüret Und keine ader mehr sich regt, Sinkt sie in stiller wehmut auf den blassen Erstarrten leichnam hin; ein strom von thränen bricht Aus ihrem aug und badet sein gesicht; O Vater, ruft sie aus, so hast du uns verlassen?

39.

Sie rafft sich auf, und sinkt an Hüons brust. Und beyde werfen nun sich bey der kalten Hülle Der reinsten Seele hin, in ehrfurchtsvoller stille, Und sättigen die schmerzlichsüße lust Zu weinen; drücken oft, um endlich wegzugehen, Auf seine hand der liebe lezten zoll, Und bleiben immer, nie gefühlter regung voll, Bey dem geliebten Bild als wie bezaubert stehen.

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40. Es war als sähen sie auf seinem angesicht Die dämmerung von einem neuen leben, Und wie von reinem Himmelslicht Den Widerschein um seine stirne weben, Der schon zum geist’gen leib den erdenstoff verfeint, Und um den stillen mund, der eben Vom lezten Segen noch sich sanft zu schließen scheint, Ein unvergängliches kaum sichtbar’s Lächeln schweben. 41.

Ist dirs nicht auch (ruft Hüon, wie entzükt, Amanden zu, indem er aufwärts blikt) Als fall’ aus Jener welt ein stral in deine Seele? So fühlt’ ich nie der menschlichen Natur Erhabenheit! Noch nie dies Erdeleben nur Als einen weg durch eine dunkle höle Ins Reich des Lichts, nie eine solche stärke In meiner brust zu jedem guten werke:

42. Zu jedem opfer, jedem streit Nie diese kraft, nie diese munterkeit Durch alle prüfungen mich männlich durchzukämpfen! Laß seyn, Geliebte, daß der trübsal viel Noch auf uns harrt — sie nähert uns dem ziel! Nichts soll uns mutlos sehn, nichts diesen glauben dämpfen! So spricht er, sich mit ihr von diesem heilgen ort Entfernend — und ihn nimmt das Schiksal gleich beym wort. 43.

Denn, wie sie hand in hand nun wieder Hervorgehn aus der zell’, und ihre augenlieder Erheben — Gott! was für ein anblik stellt Sich ihren augen dar! In welche fremde welt Sind sie versezt? Verschwunden, ganz verschwunden Ist ihr Elysium, der Hayn, die Blumenflur. Versteinert stehn sie da. Ists möglich? Keine spur, Sogar die stätte wird nicht mehr davon gefunden?

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44. Sie stehn an eines abgrunds rand, Umringt, wohin sie schaudernd sehen Von überhangenden gebrochnen felsenhöhen; Kein gräschen mehr, wo einst ihr garten stand! Vernichtet sind die lieblichen gebüsche, Der dunkle Nachtigallenwald Zerstört! Nichts übrig, als ein gräßliches gemische Von schrofen klippen, schwarz und öd und ungestalt! 45.

Zu welchen neuen Jammerscenen Bereitet sie dies grause schauspiel vor? Ach, rufen sie, und heben, schwer von thränen, Den kummervollen blik zum heil’gen Greis empor: „Ihm wurde dies gebürg in frühlingsschmuk gekleidet, Dies Eden Ihm gepflanzt; um seinetwillen nur Genossen wir’s; und Schiksal und Natur Verfolgen uns aufs neu’, sobald er von uns scheidet!“

46.

Ich bin gefaßt, ruft Rezia, und schlingt Ein Ach zurük, das ihrer brust entsteiget. Unglükliche! der tag, der all dies unglük bringt, Hat dir noch nicht das schreklichste gezeiget! Sie eilt dem Knaben zu, den sie vor kurzem, süß Noch schlummernd (wie sie glaubt) verließ; Er ist ihr Lezter trost: des schiksals härtsten schlägen Geht sie getrost, mit Ihm auf ihrem arm, entgegen.

47.

Sie fliegt dem lager zu, wo er An Ihrer seite lag, und, wie vom bliz getroffen, Schwankt sie zurük — der Knab ist weg, das lager leer. „Hat er sich aufgerafft? fand er die thüre offen Und suchte Sie? O Gott! wenn er verunglükt wär’?“ Entsezlich! — Doch vielleicht hat um die hütte her (So denkt sie zwischen angst und hoffen) Vielleicht im garten nur der Kleine sich verloffen?

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48. Im garten? Ach! der ist nun felsichter Ruin! Sie stürzt hinaus, und ruft mit bebenden lippen Dem Knaben laut beym namen, suchet ihn Ringsum, mit todesangst, in hölen und in klippen. Der Vater, den ihr schreyn herbeygerufen, spricht Umsonst den trost ihr zu woran’s ihm selbst gebricht, „Er werde sich gewiß in diesen felsgewinden Gesund und frisch auf einmal wiederfinden.“ 49.

Zwo stunden schon war alle ihre müh Vergeblich. Ach! umsonst, lautrufend, irren sie Tief im gebürg umher, besteigen alle spitzen, Durchkriechen jeden busch und alle felsenritzen, Und lassen sich, um wenigstens sein grab Zu finden, kummervoll in jede kluft hinab: Ach! keine spur von ihm entdekt sich ihrem blicke, Und von den felsen hallt ihr eigner ton zurücke.

50. Das unbegreifliche des zufalls, daß ein kind Von seinem alter sich verliere, An einem ort, wo weder wilde thiere Noch menschen (wilder oft als jene) furchtbar sind, Mehrt ihre angst; doch nährt es auch ihr hoffen: „Es kann nicht anders seyn, er hat sich nur verloffen, Und schlief vielleicht, auf irgend einem stein, Vom wandern müd, in seiner unschuld ein.“ 51.

Aufs neue wird der ganze felsenrücken, Wird jeder winkel, jeder strauch Der ihn vielleicht verstekt, durchsucht mit Falkenblicken. Die unruh treibt sogar, wie unwahrscheinlich auch Die Hofnung ist ihn dort lebendig aufzuspüren, Sie bis zum strand herab, wo, unter dem gemisch Von aufgethürmtem sand und sumpfichtem gebüsch, Sie endlich unvermerkt einander selbst verlieren.

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52.

Auf einmal schrekt Amandens stilles ohr Ein ungewohnter Ton: ihr däucht, es glich dem schalle Von stimmen; doch, weil’s wieder sich verlohr, Und sie bey einem wasserfalle, Der mit betäubendem getöse übern rand Von einem hohen felsenbogen Herunterstürzt, sich ziemlich nah befand, Glaubt sie, sie habe sich betrogen.

53.

Ihr schwanet nichts von größerer gefahr, Ihr einziger gedank ist ihres sohnes leben: Und plözlich, da sie kaum um einen hügel, neben Dem wasserfall, herumgekommen war, Sieht sie bestürzt, von einer rohen schaar Schwarzgelber Männer sich umgeben, Und hinter einem hohen riff Erblikt sie in der Bucht ein ankernd ruderschiff.

54.

Sie hatten kurz zuvor, um wasser einzunehmen, Vor anker hier gelegt, und waren noch damit Beschäftigt, als, mit schnellgehemmtem schritt, Auf einmal eine Frau vor ihre augen tritt, Gemacht beym ersten blik die Schönsten zu beschämen. Erstaunen schien sie alle schier zu lähmen, An diesem öden ort, den sonst der schiffer fleucht, Ein junges weib zu sehn, die einer Göttin gleicht.

55.

Der Schönheit anblik macht sonst rohe seelen milder, Und Tyger schmiegen sich zu ihren füßen hin: Doch Diese fühlen nichts. Ihr stumpfer räubersinn Berechnet sich den Werth der schönsten Frauenbilder (Von Marmor oder Fleisch, gleichviel!) mit kaltem blut Blos nach dem marktpreis, just wie anders kaufmannsgut. Hier, ruft der Hauptmann, sind zehntausend Sultaninen, Mit Einem griff, so gut wie hundert zu verdienen.

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56.

Auf, Kinder, greifet zu! So ein gesicht wie dies Gilt uns zu Tunis mehr als zwanzig reiche Ballen: Der König, wie ihr wißt, liebt solche nachtigallen; Und dieser Wilden hier gleicht von den Schönen allen In seinem Harem nichts: Ihr reicht Almansaris, Die Königin, so schön sie ist, gewiß Das wasser kaum. Wie wird der Sultan brennen! Der zufall hätt’ uns traun! nicht besser führen können.

57.

Indeß der Hauptmann dies zu seinem volke sprach, Steht Rezia, und denkt zween augenblicke nach Was hier zu wählen ist. „Sind diese leute feinde, So hilft die flucht mir nichts, da sie so nahe sind: Vielleicht daß edelmut und bitten sie gewinnt. Ich geh, und rede sie, mit zuversicht, als freunde, Als retter an, die uns der Himmel zugesendet. Vielleicht ists unser glük, daß sie hier angeländet.“

58.

Dies denkend, geht, mit unschuldsvoller ruh Im ofnen blik, und mit getrosten schritten, Das edle schöne Weib auf die Korsaren zu: Allein sie bleiben taub bey ihren sanften bitten. Die sprache, die zu allen herzen spricht, Rührt ihre eisernen entmenschten seelen nicht. Der Hauptmann winkt; sie wird umringt, ergriffen, Und alles läuft und rennt die Beute einzuschiffen.

59.

Auf ihr erbärmliches geschrey, Das durch die felsen hallt, fliegt Hüon voller schrecken Den wald herab, zu ihrer hülf herbey. Ganz außer sich, sobald ihm was es sey Die bäume länger nicht verstecken, Ergreift er in der noth den ersten knot’gen stecken Der vor ihm liegt, und stürzt, wie aus der wolken schoos Ein donnerkeil, auf die Barbaren los.

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60. Sein holdes Weib zu sehn, die mit blutrünst’gen armen Sich zwischen räubertatzen sträubt, Der anblik, der zu Tygerwut ihn treibt, Macht bald den eichenstok in seiner faust erwarmen. Die streiche fallen hageldicht Auf köpf’ und schultern ein mit stürzendem gewicht. Er scheint kein Sterblicher; sein aug’ sprizt feuerfunken, Und sieben Mohren sind schon vor ihm hingesunken. 61.

Bestürzung, schaam und grimm, von einem einz’gen mann Den schönen raub entrissen sich zu sehen, Spornt alle andern an, auf Hüon loszugehen, Der sich, so lang’ er noch die arme regen kann, Unbändig wehrt; bis, da ihm im gedränge Sein stok entfällt, die überlegne menge, Wiewohl er rasend schlägt und stößt und um sich beißt, Ihn endlich übermannt und ganz zu boden reißt.

62. Mit einem schrey gen Himmel sinkt Amande In Ohnmacht, da sie ihn erwürgt zu sehen glaubt. Man schleppt sie nach dem schiff, indeß das volk am strande Auf den gefallnen stürmt, und tobt, und rache schnaubt. Ihm einen schnellen tod zu geben, Wärs auch der blutigste, däucht sie gelindigkeit; Nein, ruft der Hauptmann aus, um desto längre zeit Der tode grausamsten zu sterben, soll er leben! 63.

Sie schleppen ihn tief in den wald hinein, So weit vom strand, daß auch sein lautstes schreyn Kein ohr erreichen kann, und binden ihn mit stricken Um arm und bein, hals und rücken, An einen baum. Der unglükselge blikt Zum Himmel auf, verstummend und erdrükt Von seines elends last; und lautfrohlockend fahren Mit ihrem schönen raub nach Tunis die Barbaren.

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Oberon Zwölfter Gesang. 1.

Schon sinkt der tag, und traurend wirft die nacht, (Ach! nicht vertraulich mehr in süßer herzensfülle Von Liebenden und Freunden zugebracht) Mitleidig wirft sie ihre trübste hülle Ums öde Eyland her, wo aus der tiefen stille Nun keinen morgen mehr der freude lied erwacht; Nur Ein Verlaßner noch von allem was er liebet Der pflichten schreklichste durch stilles dulden übet.

2.

Ihn hört Titania, in ein gewölk verhüllt, Tief aus dem wald herauf in langen pausen ächzen, Sieht den Unglüklichen in stummer angst verlechzen, Und weint und flieht. Denn, ach! vergebens schwillt Ihr herz von mitgefühl! Ein eisernes geschicke Stößt sie, sobald sie sich ihm nähern will, zurücke. Sie flieht, und wie sie nach dem einst geliebten strand Noch einmal umschaut, blinkt ein goldring aus dem sand.

3.

Amanda hatte ihn, im ringen mit den Söhnen Des raubes, unvermerkt vom finger abgestreift. Die Elfenkönigin, indem sie ihn ergreift, Erkennt den Talisman, dem alle Geister fröhnen. Bald, ruft sie freudig, ist das maas des schiksals voll! Bald werden wieder dich die sterne mir versöhnen Geliebter! Dieser Ring verband uns einst; er soll Zum zweytenmal zu meinem Herrn dich krönen!

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4.

Inzwischen hatte man im schiff, mit großer müh, Amanden, die in ohnmacht lag, ins leben Zurükgerufen. Kaum begonnte sie Die schweren augen trostlos zu erheben; So fiel vor ihr der Hauptmann auf die knie, Und bat sie, sich dem gram nicht länger zu ergeben: Dein glük ists, sprach er, bloß wovon ich werkzeug bin; In wenig tagen bist du unsre Königin.

5.

Besorge nichts von uns, wir sind nur dich zu schützen Und dir zu dienen da: Dich, Schönste, zu besitzen Ist nur Almansor wehrt, der dir an Reizen gleicht. Er wird beym ersten blik in deinen fesseln liegen, Und, glaube meinem wort, du wirst ihn mit vergnügen Zu deinen füßen sehn. Der Hauptmann sprichts, und reicht, (Um allen argwohn, den sie hegen mag, zu stillen) Ein reiches tuch ihr dar, sich ganz darein zu hüllen.

6.

Der ist des todes (fährt er fort, Mit einem blik und ton, der alles volk am bord Erzittern macht) der je des frevels sich verwäget Und seine hand an diesen schleyer leget! Betrachtet sie von diesem augenblik Als ein juwel, das schon Almansorn angehöret. Er sagts, und zieht, damit sie ungestöret Der ruhe pflegen kann, kniebeugend sich zurük.

7.

Amanda, ohne auf des räubers wort zu hören, Bewegunglos, betäubt von ihrem unglük, sizt, Die hände vor der stirn, die arme aufgestüzt Auf ihre knie’, mit starren, thränenleeren Erloschnen augen da. Ihr jammer ist zu groß Ihn auszusprechen, ihn zu tragen Ihr starkes herz zu schwach. Nur diesen lezten stoß Erträgt sie nicht. Sie sinkt; doch sinkt sie ohne klagen.

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8.

Sie schaut nach trost sich um, und findet keinen — leer Und hoffnunglos und nacht, wie ihre seele, Ist alles, alles um sie her; Die ganze welt verkehrt in eine mörderhöle! Sie starrt zum Himmel auf — auch Der Hat keinen trost, hat keinen Engel mehr! Am abgrund der verzweiflung, wo sie schwebet, Steht noch der tod allein, der sie im sinken hebet.

9.

Mitleidig reicht er ihr die abgezehrte hand, Der lezte, treuste Freund der leidenden! Sie steiget Hinab mit ihm ins stille Schattenland, Wo aller schmerz, wo aller jammer schweiget; Wo keine kette mehr die freye Seele reibt, Die scenen Dieser welt wie kinderträume schwinden, Und nichts aus ihr als unser herz uns bleibt: Da wird sie alles, was sie liebte, wiederfinden!

10.

Wie ein verblutend Lamm, stillduldend, liegt sie da, Und seufzt dem lezten augenblik entgegen: Als, in der stille der nacht, sich ihr Titania Trostbringend naht. Ein unsichtbarer Regen Von schlummerdüften stärkt der schönen Dulderin Mattschlagend herz, und schläft den äußern sinn Unmerklich ein. Da zeigt sich ihr im traumgesichte Die Elfenkönigin in ihrem rosenlichte.

11.

Auf! spricht sie, fasse mut! Dein Sohn und dein Gemahl Sie athmen noch, sind nicht für dich verloren. Erkenne mich! Wenn du zum drittenmal Mich wiedersiehst, dann ist, was Oberon geschworen, Erfüllt durch eure Treu. Ihr endet unsre pein, Und wie Wir glüklich sind, so werdet Ihr es seyn. Mit diesem wort entschwebt die Göttin ihrem blicke, Doch bleibt noch, wo sie stand, ihr rosenduft zurücke.

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12.

Amand’ erwacht, erkennt an ihrem duft Und rosenglanz, die nur allmählich schwanden, Die göttergleiche Frau, die in der felsengruft Gleich unverhofft ihr ehmals beygestanden. Gerührt, beschämt von diesem neuen schuz, Ergreift ihr herz mit dankbarlichem beben Dies pfand von ihres sohns und ihres Hüons leben, Und beut mit ihm nun jedem schiksal truz.

13.

Ach! wüßte sie, was ihr (zu ihrem glücke) Verborgen bleibt, wie trostlos diese nacht Ihr unglükselger Freund, mit siebenfachem stricke An einen eichenstamm gebunden, zugebracht, Wie bräch ihr herz! — Und Er, vor dessen augenblitze Nichts dunkel ist, der gute Schuzgeist, weilt? Er steht, am quell des Nils, auf einer felsenspitze Die, ewig unbewölkt, die reinsten lüfte theilt.

14.

Den ernsten blik dem Eyland zugekehrt, Wo Hüon schmachtet, steht der Geisterfürst, und hört Sein leises ächzen, das aus tiefer ferne Zu ihm herüberbebt — schaut nach dem Morgensterne, Und hüllt sich seufzend ein. Da nähert, aus der Schaar Der Geister, die theils einzeln, theils in Ringen, Ihn überall begleiten und umschwingen, Sich einer ihm, der sein Vertrauter war.

15.

Erblassend, ohne glanz, naht sich der Sylfe, blikt Ihn schweigend an, und seine augen fragen Dem kummer nach, der seinen König drükt; Denn ehrfurcht hemmet ihn die frage laut zu wagen. Schau auf, spricht Oberon. Und mit dem worte weist In einer wolke, die mit ausgespanntem flügel Vorüberfährt, sich dem bestürzten Geist Des armen Hüons bild, als wie in einem spiegel.

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16.

Versunken in der tiefsten noth, An seines herzens offnen wunden Verblutend, steht er da, verlassen und gebunden Im öden wald, und stirbt den langen martertod. In diesem hoffnunglosen stande Hebt seine Seele noch das zürnende gefühl: „Verdient’ ich das? Verdiente das Amande? Ist unser Elend nur der höhern Wesen spiel?

17.

Wie untheilnehmend bleibt bey meinem furchtbarn leiden, Wie ruhig alles um mich her? Kein Wesen fühlt mit mir; kein sandkorn rükt am meer Aus seinem plaz, kein blat in diesen laubgebäuden Fällt meinetwegen ab. Ein scharfer kiesel wär’ Um meine bande durchzuschneiden Genugsam — ach! im ganzen raum der zeit Ist keine hand, die ihm dazu bewegung leiht!

18.

Und doch, wenn meine noth zu wenden Dein wille wär’, o Du, der mich dem tod so oft Entrissen wenn ich es am wenigsten gehofft, Es würden alle zweig’ in diesem wald zu händen Auf deinen wink!“ — Ein heilger schauder blizt Durch sein gebein mit diesem himmelsfunken; Die stricke fallen ab; er schwankt, wie nebeltrunken, In einen arm, der ihn unsichtbar unterstüzt.

19.

Es war der Geist, dem Oberon die geschichte Der beyden Liebenden im bilde sehen ließ, Der diesen dienst ihm ungesehn erwies. Der Sohn des lichts erlag dem kläglichen gesichte. Ach! rief er, inniglich betrübt, Und sank zu seines Meisters füßen, So strafbar als er sey, kannst du, der ihn geliebt, Vor seiner noth dein großes herz verschließen?

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20. Der Erdensohn ist für die Zukunft blind, Erwiedert Oberon: Wir selbst, du weist es, sind Des Schiksals diener nur. In heil’gen finsternissen, Hoch über uns, geht sein verborgner gang; Und, willig oder nicht, zieht ein geheimer zwang Uns alle, daß wir ihm im dunkeln folgen müssen. In dieser kluft, die mich von Hüon trennt, Ist mir ein einzigs noch für ihn zu thun vergönnt. 21.

Fleug hin, und mach ihn los, und trag ihn auf der stelle, So wie er ist, nach Tunis, vor die schwelle Des alten Ibrahims, der nahe bey der stadt Die gärten des Serai’s in seiner aufsicht hat. Dort leg ihn auf die bank von steinen, Hart an die hüttenthür, und eile wieder fort; Doch hüte dich ihm sichtbar zu erscheinen, Und mach es schnell, und sprich mit ihm kein wort.

22. Der Sylfe kommt, so rasch ein pfeil vom bogen Das ziel erreicht, bey Hüon angeflogen, Lößt seine bande auf, beladet sich mit ihm, Und trägt ihn, über meer und länder, durch die lüfte Bis vor die thür des alten Ibrahim; Da schüttelt er von seiner starken hüfte Ihn auf die bank, so sanft als wie auf pflaum. Dem guten Ritter däucht was ihm geschieht ein traum. 23. Er schaut erstaunt umher, und sucht sichs wahr zu machen; Doch alles was er sieht bestättigt seinen wahn. Wo bin ich? fragt er sich, und fürchtet zu erwachen. Indem beginnt, nicht fern von ihm, ein hahn Zu krähn, und bald der zweyte und der dritte; Die stille flieht, des himmels goldnes thor Eröfnet sich, der Gott des tages geht hervor, Und alles lebt und regt sich um die hütte.

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24. Auf einmal knarrt die thür, und kömmt ein langer Mann Mit grauem bart, doch frisch und roth von wangen, Ein grabscheit in der hand, zum haus herausgegangen: Und beyde sehn, zugleich, was keiner glauben kann, Herr Hüon seinen treuen Alten In einem sclavenwams — der gute Scherasmin Den werthen Herrn, den er für tod gehalten, In einem aufzug, der nicht glükweissagend schien. 25.

Ists möglich, rufen alle beyde Zu gleicher zeit — Mein bester Herr! — mein Freund! Wie finden wir uns hier? — Und außer sich vor freude, Umfaßt der alte Mann des Prinzen knie, und weint Auf seine hand. Ihn herzlich zu umfangen Bükt Hüon sich zu ihm herunter, hebt Ihn zu sich auf, und küßt ihn auf die wangen: Gott Lob, ruft Scherasmin, nun weiß ich daß ihr lebt!

26. Was für ein guter wind trug euch vor diese schwelle? Doch zum erzählen ist der ort hier nicht geschikt; Kommt, lieber Herr, mit mir in meine zelle, Eh jemand hier beysammen uns erblikt. Auf allen fall seyd Ihr mein Neffe Hassan (flüstert Er ihm ins ohr) ein junger handelsmann Von Halep, der die welt zu sehn gelüstert, Und schiffbruch lidt, und mit dem leben kaum entrann. 27.

Ja, leider! blieb mir nichts, seufzt Hüon, als ein leben Das keine wohlthat ist! — Das wird sich alles geben, Erwiedert Scherasmin, und schiebt sein kämmerlein Ihm hurtig auf, und schließt sich mit ihm ein. Da, spricht er, nehmet plaz; bringt dann auf einem teller Das beste was sein kleiner vorrathskeller Vermag, herbey, oliven, brod und wein, Und sezt sich neben ihn, und heißt ihn frölich seyn.

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28. Mein bester Herr, daß wir, nach allen streichen Die uns das Glük gespielt, so unvermuthet hier Zu Tunis, vor der hüttenthür Des gärtner Ibrahims uns finden, ist ein zeichen Daß Oberon ganz unvermerkt und still Uns alle wiederum zusammenbringen will. Noch fehlt das Beste; doch, zum pfande für Amanden Ist wenigstens die Amme schon vorhanden. 29. Was sagst du? ruft herr Hüon voller freuden. Demselben Ibrahim, dem ich bedienstet bin, Dient sie als Sclavin hier, erwiedert Scherasmin. Wie wird das gute Weib die augen an euch weiden! Drauf fängt er ihm bericht zu geben an, Was er, in all der zeit, gelitten und gethan, Und was ihn, unverrichter sachen, Bewogen, von Paris sich wieder wegzumachen. 30. Und wie er ihn zu Rom im Lateran gesucht, Und, seiner dort viel wochen ohne frucht Erwartend, unvermerkt sein bischen geld verzettelt, Und wie er drauf, mit muscheln ausstaffiert, Sich durch die halbe welt als Pilger durchgebettelt, Bis ihn sein guter Geist zulezt hieher geführt, Wo Fatme, die er unverhoft gefunden, Auf bessre zeit mit ihm zu harren sich verbunden. 31.

Zum glük ist immer unversehrt (Sezt er hinzu) das kästchen mitgezogen Das euch der schöne Zwerg zu Askalon verehrt; Denn, wie ich sehe, Horn und Becher sind entflogen. Verzeiht mir, lieber Herr! ich traf den wunden ort; Es war nicht hübsch an mir so frey herauszuplatzen: Die freude, daß ich euch gefunden, macht mich schwatzen; Allein, ihr kennt mein herz, und weiter nun kein wort!

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32. Der edle Fürstensohn drükt seinem guten Alten Die hand, und spricht: ich kenne deine Treu’, Sollst alles wissen, Freund! ich will dir nichts verhalten, Allein, vor allem, steh in Einem ding mir bey. Das Kästchen, das du mir erhalten, Ist an Juwelen reich; denkst du nicht auch, es sey Am besten angewandt, mir eilends pferd und waffen Und ritterlichen schmuk in Tunis anzuschaffen? 33.

Es sind zwölf stunden kaum, seit eine räuberschaar Amanden mir entriß, mir, der am ödsten strande Allein mit ihr und unbewafnet war. Sie führen sie vielleicht in diese lande, Nach Maroc oder Fez, gewiß nach einem plaz Wo hoffnung ist, sie theuer zu verkaufen: Allein kein Harem soll mir meinen höchsten schaz Entziehen, sollt ich auch die ganze Welt durchlaufen.

34.

Der Alte sinnt der sache schweigend nach. „Die Gegend, wo ihr euch mit Rezia befunden, Ist also wohl nur wenig stunden Von hier entfernt?“ — Nicht daß ich wüßte, sprach Der junge Fürst; vielleicht sinds tausend stunden: Mich trug, unendlich schnell, ich weiß nicht wer, (Doch wohl ein Geist) aus einem Wald hieher, Wo mich das räubervolk an einen Baum gebunden.

35.

Das hat, ruft jener aus, kein andrer Arm gethan Als Oberon’s. Ich selber, spricht der Ritter Ich trau ihm’s zu, und nehm’s als ein Versprechen an, Er werde mehr noch thun. So bitter Die Trennung ist, so schreckenvoll das bild Des holden Weibs in wilden räuberklauen; Dies neue Wunder, Freund, erfüllt Mein neubelebtes herz mit hoffnung und vertrauen.

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36.

Der müste nur ganz herzlos, ganz von stein, Und ohne sinn, und gänzlich unwerth seyn Daß sich der Himmel seinetwegen Bemühe, hätt er auch von dem die Hälfte nur Erfahren was mir wiederfuhr, Der kleinmuth und verdacht zu hegen Noch fähig wär’. Es geh durch feuer oder flut Mein dunkler weg, ich halte Treu und Mut!

37.

Nur, lieber Scherasmin, wenns möglich ist, noch heute Verschaffe mir ein Schwert und einen Gaul. Zu lang’ entbehr ich beydes! — an der seite Der Liebe zwar — Doch izt, in dieser Weite Von Rezia, däucht mir mein herzblut stehe faul Als wie ein sumpf, bis ich die schöne beute Den Heiden abgejagt. Ihr leben und mein glük, Bedenk’ es, hangt vielleicht an einem augenblik.

38.

Der Alte schwört ihm zu, es sollt’ an ihm nicht liegen Des Prinzen ungeduld noch heute zu vergnügen. Doch unverhoft hält seines eifers lauf Am ersten abend schon ein leidiger zufall auf. Denn Hüon fühlte von soviel Erschütterungen, Die schlag auf schlag gefolgt, auf einmal sich bezwungen, Und brachte, matt und glühend, ohne ruh, Die ganze nacht in Fieberträumen zu.

39.

Die Bilder, die ihm stets im sinne lagen, Beleben sich; er glaubt mit einem schwarm Von feinden sich ergrimmt herumzuschlagen; Dann sinkt er kraftlos hin, und drükt im kalten arm Die leiche seines Sohn’s! Bald kämpft er mit den fluten, Hält die versinkende Geliebte nur am saum Des kleides noch; bald, fest an einen baum Gebunden, sieht er sie in Räuberarmen bluten.

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40. Erschöpft von grimm und angst stürzt er aufs lager hin Mit starrem blik. Dem treuen Scherasmin Kömmt seine Wissenschaft in dieser noth zu statten. Denn dazumal war’s eines Knappen amt Die Heilkunst mit der kunst der Ritterschaft zu gatten, Ihm war sie schon vom Vater angestammt, Und viel geheimes ward auf seinen langen Reisen Ihm mitgetheilt von Rittern und von Weisen. 41.

Er eilt, sobald der schöne morgenstern Am himmel bleicht (indeß bey dem geliebten herrn Als wärterin sich Fatme emsig zeiget) Den gärten zu, worinn noch alles ruht und schweiget; Sucht kräuter auf, von deren wunderkraft Ein Eremit auf Horeb ihn belehret, Und drükt sie aus, und mischet einen saft, Der binnen kurzer frist dem stärksten fieber wehret.

42. Ein sanfter schlaf beginnt schon in der zweyten nacht Auf Hüons stirne sich zu senken. Mit liebevoller treu gepfleget und bewacht, Und, reichlich angefrischt mit kühlenden getränken, Fühlt er am vierten tag so gut sich hergestellt, Um sich, sobald der mond die laue nacht erhellt, In einem gärtnerwams, womit man ihn versehen, Mit Scherasmin im garten zu ergehen. 43.

Sie hatten in den rosenbüschen, Nah an der hütte, noch nicht manchen gang gethan, So kommt die Amme (die, was neues aufzufischen Sich oft dem Harem naht) mit einer zeitung an, Die kräft’ger ist als irgend ein Laudan Des Kranken blut und nerven zu erfrischen; Es sey, versichert sie, beynahe zweifelfrey Daß Rezia nicht fern von ihnen sey.

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44. Wo ist sie? wo? ruft Hüon, mit entzücken Und ungeduld, auffahrend — hurtig! sprich! Wo sahst du sie? — Gesehn? erwiedert Fatme, ich? Das sagt ich nicht; allein, ich lasse mich zerstücken Wenn’s nicht Amanda ist, die diesen abend hier Gelandet. Höret nur, was, die minute, mir Die Jüdin Salome, die eben Vom innern Harem kam, für ganz gewiß gegeben. 45.

Kurz, sprach sie, vor der abendzeit Ließ auf der höh’ sich eine Barke sehen; Sie flog daher mit vogelsschnelligkeit, Die segel schien ein frischer wind zu blähen. Auf einmal stürzt aus wolkenlosen höhen Zikzak ein feur’ger stral herab, Und mit dem ersten stoß, den ihm ein sturmwind gab, Sieht man das ganze schiff in voller flamme stehen.

46.

An löschen denkt kein mensch in solcher noth. Das feuer tobt. Vom fürchterlichsten tod Umschlungen, springt aus seinem flammenrachen Wer springen kann, und wirft sich in den nachen. Der wind macht bald sie von dem schiffe los, Treibt sie dem ufer zu; doch, eine viertelstunde Vom strand, ergreift den kahn ein neuer wirbelstoß, Und stürzt ihn um, und alles geht zu grunde.

47.

Die leute schreyn umsonst zu ihrem Mahom auf, Arbeiten, mit der angestrengten stärke Der todesangst, umsonst sich aus der flut herauf! Nur eine einzge Frau, die sich zum augenmerke Der Himmel nahm, entrinnet der gefahr, Wird auf den wellen, wie auf einem wagen, Ganz unversehrt, und unbenezt sogar, Dem nahen ufer zugetragen.

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48. Von ungefehr stand mit Almansaris Der Sultan just auf einer der Terrassen Des Schlosses, die hinaus ins Meer sie sehen lies, Erwartungsvoll den Ausgang abzupassen. Ein sanfter Zefyr schien die Frau herbeyzuwehn. Doch, um sich nicht zuviel auf Wunder zu verlassen, Winkt izt Almansaris, und hundert Sclaven gehn Bis an den hals ins meer, der Schönen beyzustehn. 49.

Man sagt, der Sultan selbst sey an den strand gekommen, Und habe sie von einem Asmoglan Der aus dem strudelnden schaum bis zur Terraß hinan Sie auf dem rücken trug, selbst in empfang genommen. Man konnte zwar nicht hören was er sprach, Doch schien er ihr viel höfliches zu sagen, Und, weil’s an zeit und freyheit ihm gebrach, Sein herz ihr, wenigstens durch blicke, anzutragen.

50. Wie dem auch seyn mag, dies ist ganz gewiß (Fährt Fatme fort) daß sich Almansaris Der schönen Schwimmerin gar freundlich und gewogen Bewiesen hat, und ihr viel schönes vorgelogen, Wiewohl der Fremden seltner reiz, Ihr gleich beym ersten blik Almansors herz entzogen; Und daß sie ein gemach bereits Im Sommerhaus der Königin bezogen. 51.

Angst, freude, lieb und schmerz, mahlt, während Fatme spricht, Sich wechselsweis in Hüons angesicht. Daß es Amande sey, scheint ihm, je mehr er denket, Je minder zweifelhaft. Es zeigt sich sonnenklar, Daß Oberon, wiewohl noch unsichtbar, Die zügel seines schiksals wieder lenket. Wohlan dann, Freunde, spricht er, rathet nun, Was meynet ihr? Was ist nunmehr zu thun?

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52.

Dem Sultan mit gewalt Amanden zu entreißen, Das würde Roland selbst kaum wagen gutzuheißen, Erwiedert Scherasmin; wiewohl es rathsam ist, Uns ingeheim, auf alles was geschehen Und nicht geschehen kann, mit waffen zu versehen. Doch, vor der hand, versuchen wirs mit list! Wie, wenn ihr, da ihr euch doch nicht des grabens schämet, Beym Ibrahim als gärtner dienste nähmet?

53.

Gesezt, der Alte macht auch anfangs schwierigkeit, Er sieht euch schärfer an, und schüttelt Sein weises haupt; mir ist dafür nicht leid; Ein schöner diamant hat manches schon vermittelt. Laßt diese sorge mir, Herr Ritter! Zwischen heut Und morgen sehn wir euch, troz aller schwierigkeit, Zum nettsten gärtnerschurz betittelt; Das weitre überlaßt dem Himmel und der zeit.

54.

Der vorschlag däucht dem Ritter wohl ersonnen, Und wird nun ungesäumt und klüglich ausgeführt. Der alte Ibrahim ist bald so gut gewonnen, Daß er den Paladin zum Neffen adoptirt, Zu seinem schwestersohn, der von Damask gekommen, Und in der blumenzucht besonders viel gethan; Kurz, Hüon wird zum Gärtner angenommen, Und tritt sein neues amt mit vielem anstand an.

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Oberon Dreyzehnter Gesang. 1.

Die Hoffnung, die ihr schimmerndes gefieder Um Hüon wieder schwingt, Sie, die er einzig liebt, Bald wieder sein zu sehn, die goldne hoffnung giebt Ihm bald den ganzen glanz der schönsten jugend wieder. Schon der gedanke bloß, daß sie so nah ihm ist, Daß dieses lüftchen, das ihn kühlet, Vielleicht Amandens wange kaum geküßt, Vielleicht um ihre lippen kaum gespielet:

2.

Daß diese blumen — die er bricht, Und malerisch in kränz’ und sträusse flicht, Um in den Harem sie, wie üblich ist, zu schicken, Vielleicht Amandens locken schmücken, Ihr schönes leben vielleicht an ihrer lieblichen brust Verduften — der gedank erfüllt ihn mit entzücken; Das schöne roth der sehnsucht und der lust Färbt wieder seine wang’ und stralt aus seinen blicken.

3.

Die heiße tageszeit vertritt das amt der nacht In diesem land’, und wird verschlummert und verträumet. Allein, sobald der abendwind erwacht, Fragt Hüon, den die Liebe munter macht, Schon alle schatten an, wo seine Holde säumet. Er weiß, die nacht wird hier mit wachen zugebracht; Doch darf sich in den gärten und terrassen Nach sonnenuntergang nichts männlichs sehen lassen.

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4.

Die Damen pflegen dann, beym sanften rosenglanz Der dämmerung (die hier sich niemals ganz Verliert) bald paarweis, bald in rotten, Die blühenden alleen zu durchtrotten. Oft kürzt gesang und saitenspiel und tanz Die schnelle nacht; drauf folgt in stillen grotten Ein bad, zu dem Almansor selbst (so scharf Gilt hier des wohlstands pflicht) sich niemals nähern darf.

5.

Amanden (die, wie unser Ritter glaubte, Im Harem war) zu sehn, blieb keine möglichkeit, Wofern er nicht sich um die dämmrungszeit Im garten länger säumt als das Gesez erlaubte. Er hatte dreymal schon die unruhvollste nacht In einem busch, bey dem vorbeyzugehen Wer aus dem Harem kam genöthigt war, durchwacht, Gelauscht, gegukt, und ach! Amanden nicht gesehen!

6.

Fußfällig angefleht von Fatme, Ibrahim, Und Scherasmin, ihr und sein eignes leben So offenbar nicht in gefahr zu geben, Wollt’ er, wiewohl der sonnenwagen ihm Zu schnell hinabgerollt, am vierten Abend (eben Zur höchsten zeit) sich noch hinwegbegeben, Als plözlich, wie er sich um eine Hecke dreht, Almansaris ganz nahe vor ihm steht.

7.

Sie kam, gelehnt an ihrer Nymfen eine, Um, lechzend von des tages strengem brand, Im frischen duft der Pomeranzenhayne Sich zu ergehn. Ein leichtes nachtgewand, So zart als hätten Spinnen es gewebet, Umschattet ihren leib, und nur ein goldnes band Schließts um den busen zu, der durch die dünne wand Mit schöner ungeduld sich durchzubrechen strebet.

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8.

Nie wird die Bildnerin Natur Ein göttlicher modell zu einer Venus bauen Als diesen leib. Sein reizender Kontur Floß wellenhaft, dem feinsten auge nur Bemerklich, zwischen dem Genauen Und Überflüßigen, so weich, so lieblich hin, Schwer war’s dem kältsten Josephssinn, Sie ohne lüsternheit und sehnsucht anzuschauen!

9.

Es war, in jedem theil, was je die Fantasie Der Alkamenen und Lysippen Sich als das Schönste dacht’ und ihren Bildern lieh, Es war Helenens Brust, und Atalantens Knie, Und Leda’s Arm, und Erigonens Lippen. Doch bis zu jenem reiz erhob die kunst sich nie, Der stets, sobald dazu die lust in ihr erwachte, Sie zur Besiegerin von allen herzen machte.

10.

Der Geist der Wollust schien alsdann Mit ihrem athem sich den lüften mitzutheilen Die um sie wehn. Von Amors schärfsten pfeilen Sind ihre augen voll, und wehe dann dem Mann, Der mit ihr kämpfen will! Denn, könnt’ er auch entgehen Dem feurigschmachtenden Blik, der ihn so lieblich kirrt, Wie wird er dieses Mund’s verführungen, wie wird Er ihrem Lächeln widerstehen?

11.

Wie dem Syrenenton der zauberischen stimme, Der des gefühls geheimste saiten regt? Der in der seele schooß die süße täuschung trägt Als ob sie schon in wollustseufzern schwimme? Und wenn nun, eh vielleicht die Weisheit sichs versehn, Verräthrisch jeder sinn, zu ihrem sieg vereinigt, Den lezten augenblik der trunkenheit beschleunigt: Wie kann, o sagt, wie kann er widerstehn?

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12.

Doch, ruhig! Fern ist noch, und ungewiß vielleicht Der Schiffbruch, der uns izt fast unvermeidlich däucht; Zu fliehen (sonst auf alle fälle Das klügste) gieng in diesem augenblik Nicht an — Sie war zu nah — wiewohl an Hüons stelle Ein wahrer gärtner doch geflohen wär’. Zum glük Hilft, falls sie fragt, ein korb mit blumen und mit früchten, Den er im arme trägt, ihm, eine antwort dichten.

13.

Natürlich stuzt die schöne Königin, In ihrem wege hier auf einen Mann zu treffen. Was machst du hier, fragt sie den Paladin Mit einem blik, der iedem andern Neffen Des alten gärtners tödlich war. Doch Hüon, unterm schirm gesenkter augenlieder, Läßt auf die kniee sich mit edler ehrfurcht nieder, Und stellt den blumenkorb ihr als ein opfer dar.

14.

Er hatte (spricht er) bloß es ihr zu überreichen Die zeit versäumt, die allen seinesgleichen Die gärten schließt. Hat er zuviel gethan, So mag sein kopf den raschen eifer büßen. Allein die Göttin scheint in einen mildern plan Vertieft, indeß zu ihren füßen Der schöne Frefler liegt. Sie sieht ihn gütig an, Und scheint mit mühe sich zum fortgehn zu entschließen.

15.

Den schönsten Jüngling, den sie jemals sah — und schön Wie Helden sind, mit kraft und würde — fremde Der farbe nach — in einem gärtnerhemde — Dies schien ihr nicht natürlich zuzugehn. Gern hätte sie mit ihm sich näher eingelassen, Hielt nicht der strenge zwang des wohlstands sie zurük. Sie winkt ihm endlich weg; doch scheint ein Seitenblik, Der ihn begleitet, viel, sehr viel in sich zu fassen.

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16.

Sie schreitet langsam fort, stillschweigend, dreht sogar Den schönen hals, ihm hinten nach zu sehen, Und zürnt, daß er dem wink so schnell gehorsam war. War er, den blik, der ihn erklärte, zu verstehen, Zu blöde? Fehlt’s vielleicht der reizenden gestalt An seele? Trügt das ungeduld’ge feuer In seinem blik? Macht die gefahr ihn kalt? Wie, oder sucht’ er hier ein Anders abenteuer?

17.

Ein anders? — Dieser zweifel hüllt Ihr plözlich auf, was sie sich selber zu gestehen Erröthet. Unruhvoll, verfolgt von Hüons bild, Irrt sie die ganze nacht durch lauben und alleen, Horcht jedem lüftchen das sich regt Entgegen, jedem blat das an ein anders schlägt; Still! spricht sie zur Vertrauten, laß uns lauschen! Mir däucht, ich hörte was durch jene hecke rauschen.

18.

Es ist vielleicht der schöne Gärtner, spricht Die schlaue Zof’: er ist, wofern mich alles nicht An ihm betrügt, der Mann sein leben dran zu setzen, Um hier, im hinterhalt, an einen busch gedrükt, Mit einem anblik sich noch einmal zu ergötzen Der ihn ins Paradies verzükt. Wie wenn wir ihn ganz leise überraschten, Und auf der frischen that den schönen Frefler haschten?

19.

Schweig, Närrin, spricht die Haremskönigin, Du faselst, glaub ich, gar im traume? Und gleichwohl richtet sie geradenwegs zum baume, Woher das rauschen kam, die leichten schritte hin. Es war ein Eidechs nur gewesen, Der durchs gesträuch geschlüpft. — Ein seufzer, halb erstikt, Halb in den strauß, den sie zum munde hielt, gedrükt, Bekräftigt was Nadin’ in ihrem blik gelesen.

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20. Unmuthig kehrt sie um und mit sich selbst in zwist, Beißt sich die lippen, seufzt, spricht etwas und vergißt Beym dritten wort schon was sie sagen wollte, Zürnt, daß Nadine nicht die rechte antwort giebt, Und nicht erräth, was sie errathen sollte; Die schöne Dame ist, mit Einem wort — verliebt! Sogar ihr blumenstrauß erfährts — wird, ohn’ ihr wissen, Zerknikt, und, blat vor blat, verzettelt und zerrissen. 21.

Drey Tage hatte nun das Übel schon gewährt, Und war, durch zwang und widerstand genährt, Mit jeder nacht, mit jedem morgen schlimmer Geworden. Denn, sobald der abendschimmer Die bunten fenster mahlt, verläßt sie ihre zimmer, Und streicht, nach Nymfen art, mit halbentbundnem haar, Durch alle gartengäng’ und felder, wo nur immer Den Neffen Ibrahims zu finden möglich war.

22. Allein, vergebens lauscht’ ihr blik, vergebens pochte Ihr busen ungeduld: der schöne Gärtner ließ Sich nicht mehr sehn, was auch die ursach heissen mochte. Unglükliche Almansaris! Dein stolz erliegt. Wozu dich selbst noch länger quälen, (Denkt sie) und was dich nagt Nadinen, die gewiß Es lange merkt, aus eigensinn verheelen? Verheimlichung heilt keinen schlangenbiß. 23. Sie wähnt sie suche trost an einer Freundin busen, Doch was sie nöthig hat ist eine Schmeichlerin. In dieser hofkunst war Nadine meisterin. Der saft von allen Pompelmusen In Africa erfrischte nicht so gut Der wollustathmenden Sultanin gährend blut, Als dieser Freundin rath und zärtliches bemühen Den Mann, den sie begehrt, bald in ihr netz zu ziehen.

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24. Um Mitternacht und bey verschloßnen thüren Ihn in den theil des Harems einzuführen Worinn Almansaris ganz unumschränkt befahl, Schien nicht so schwierig, seit der Sultan, ihr gemahl, Der leidenschaft zur schönen Zoradinen (Wie sich die junge Fremde hieß, Die durch ein wunder jüngst an diesem strand erschienen) Ganz öffentlich und frey sich überließ. 25.

Die Amme hatte sich im schließen nicht betrogen, Es war Amande selbst, die aus der räuber Macht Titania durch einen bliz gezogen Und unverlezt an diesen strand gebracht. Ihr wißt, was sich begab als sie ans land gekommen; Wie ihr Almansor straks sein flüchtig herz geweiht, Und wie mit neidischer verstellter zärtlichkeit Almansaris sie aufgenommen.

26. Der Sultan war vielleicht der allerschönste Mann Auf den die Sonne je geschienen, Und wußte dessen sich so siegreich zu bedienen, Daß ihm noch nie ein weiblich herz entrann. Zum erstenmal bey dieser Zoradinen Verlohr er seinen ruhm. Für Sie ist nur Ein mann Auf erden; Sie hat keine augen, keinen Gedanken, keinen sinn, als nur für diesen Einen. 27.

Die Würde ohne stolz, die edle sicherheit, Die anstandvolle, unverstellte Gleichgültigkeit und ungezwungne kälte, Womit sie ihn, der hier befehlen kann, so weit Von sich zu halten weiß, daß er wie sehr er brennet Ihr kaum durch einen stummen blik Zu klagen wagt, — dies alles sieht und nennet Almansaris der Buhlkunst meisterstük.

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28. Gewohnt, des Sultans herz nach ihrer lust zu drehen, Zu herrschen über ihn, im Harem unbeschränkt Zu herrschen, könnte sie den Szepter ungekränkt Von dieser Fremden aus der hand sich spielen sehen? Zwar leyht sie ihrem haß ein lächelndes gesicht, Und thut als zweifle sie an Zoradinen nicht; Doch überall ist’s in des Harems mauern Verborgner augen voll, die all ihr thun belauern. 29. Allein, seitdem des schönen Gärtners reiz Mit Amors schärfstem pfeil ihr stolzes herz durchdrungen, Hat lustbegier die eifersucht verschlungen. Ihr ehrgeiz weicht nun einem süßern geiz, Dem geiz nach seinem kuß. Ihn wieder zu besiegen Ist nun ihr einz’ger stolz. Mag doch die ganze welt Zu Zoradinens füßen liegen, Wenn Sie nur den sie liebt in ihren armen hält. 30. Sie selbst befördert nun den anschlag — Zoradinen, Entfernt von ihr, in einem andern theil Des Harems, den Almansor schon in eil Für sie bereiten ließ, anständ’ger zu bedienen. Der Fremden wahrer stand, wiewohl sie ihn noch nicht Gestehe, mache dies zu einer art von pflicht; Beym ersten anblik könn’ es keinem aug’ entgehen, Sie sey gewohnt nichts über ihr zu sehen. 31.

Indem Almansaris, mit list’ger höflichkeit, Auf diese weise sich in ihren eignen zimmern Von einer Zeugin, die ihr lästig ist, befreyt: Läßt, ohne sich um sie, und wie sie sich die zeit Vertreiben kann und will, im mindesten zu kümmern, Almansor, der nun ganz sich seiner Liebe weiht, Ihr freyen raum, Entwürfe auszubrüten, Wozu im Harem ihr sich hundert hände bieten.

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32. Unmäßig grämt indeß der schöne Gärtner sich, Daß ihm — der schon seit mehr als sieben tagen Die mauern, wo Amande traurt, umschlich, (Denn daß sie traurt, das kann sein eignes herz ihm sagen) Das holde Weib auch durch ein Gitter nur Zu sehn, nur ihres leichten fußes spur, (Er würd’ ihn, o gewiß! aus tausenden erkennen!) Die unmitleidigen gestirne noch mißgönnen. 33.

Er wirft sich unmuthsvoll bey seinen freunden hin; „Könnt ihr, wenn ihr mich liebt, denn keinen weg ersinnen, Nur einen einz’gen mund im Harem zu gewinnen, Der meinen namen nur, und daß ich nah ihr bin Ins ohr ihr flüstre? —“ Still! da kömmt mir was zu sinn, Ruft Fatme aus: Ihr sollt ihr einen Selam schicken! Geht nur, die blumen die uns nöthig sind zu pflücken; In dieser sprache bin ich eine meisterin.

34.

Und Hassan eilt, wie Fatme ihm befohlen, Ein myrtenreis, und liljen, und schasmin, Und rosen und schonkiljen herzuholen. Drauf heißt sie ihn ein haar aus seinen locken ziehn, Nimmt dünnen goldnen drat, und windet Und dreht das haar mit ihm zusammen, bindet Den strauß damit, und d’rein ein lorberblat Worauf er A und H, verschränkt, gekritzelt hat.

35.

Nun, spricht sie, wenn ichs noch mit zimmetwasser netze, So ists der schönste brief, den je ein herzensdieb Von eurer art an seine Liebste schrieb. Wollt ihr, daß ichs geschwind euch übersetze? Verliere keine zeit, ruft Hüon, tausend dank! Du kannst nicht bald genug mir eine antwort bringen; Die liebe schütze dich und laß es dir gelingen! Geh, wir erwarten dich auf dieser rasenbank.

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36.

Die gute Fatme gieng. Allein, weil ihr kein zimmer Im innern theil des Harems offen stand, So lief der strauß durch manche sclavenhand, Und ward zulezt (wie sich der zufall immer In alles ungebeten mischt) Durch einen irrthum von Nadinen aufgefischt, Und ihrer Königin, nachdem sie erst durch fragen Das wie und wann erforscht, frohlockend zugetragen.

37.

Weil Fatme diesen brief gebracht, Die Sclavin Ibrahims, so konnte der verdacht Auf keinen andern als den schönen Hassan fallen. Und daß er aus des Harems Schönen allen Der Schönsten gelten muß, scheint eben so gewiß; Zumal nach dem was jüngst sich zugetragen. Was könnte denn das A und H sonst sagen, Als — Hassan und Almansaris?

38.

Und hätte sie, wiewohl es nicht zu glauben, Auch eine Nebenbulerin; Nur destomehr triumf für ihren stolzen sinn, Der Feindin mit gewalt die beute wegzurauben! Die eyfersucht, die dies auf einmal rege macht, Vereinigt sich mit andern sanftern trieben, Nicht länger als bis auf die nächste nacht Den schönen sieg, nach dem sie dürstet, zu verschieben.

39.

Indessen kommt, entzükt von ihres auftrags glük, Und ohne argwohn, hintergangen Zu seyn, fast athemlos, mit glühend rothen wangen Vor freud und hast, die Amme nun zurük. Ihr blik ist schon von fern als wie ein sonnenblik Aus wolken, die sich just zu theilen angefangen. „Herr Ritter (raunt sie ihm ins ohr) was gebt ihr mir? So öfnet heute noch sich euch die Himmelsthür?

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40. Mit Einem wort, Ihr sollt Amanden sehen! Noch heut’, um mitternacht, wird euch die kleine thür In’s myrtenwäldchen offen stehen: Der Sclavin, die euch dort erwartet, folget ihr Getrost wohin sie geht, und fürchtet keine schlingen; Sie wird euch unversehrt an ort und stelle bringen.“ Das gute weib, dem nichts von arglist schwahnt, Hält sich des weg’s gewiß, den sie ihm selbst gebahnt. 41.

Wie hoch, o Fatme! bin ich dir verbunden! Ruft Hüon aus — ich soll sie wiedersehn! Noch Diese nacht! Und wär’s durch tausend wunden Unmittelbar von Ihr, in meinen tod zu gehn, Kaum würde weniger die nachricht mich erfreuen! Mein bester Herr, ich habe guten mut; Die sterne sind uns hold, ihr werdet Sie befreyen, (Spricht Scherasmin) und alles wird noch gut!

42. Gebt mir drey tage nur, um heimlich eine Pinke Zu miethen, die nicht fern in einer sichern bucht Vor anker liegen soll; bereit, beym ersten winke, Sobald der augenblik zur flucht Uns günstig wird, frisch in die See zu stechen. Noch läßt’s das kästchen uns an mitteln nicht gebrechen; Nur gold genug, so ist die welt zu kauf; Ein goldner schlüssel, Herr, schließt alle schlösser auf! 43.

Indeß daß unser Held die zeit von seinem glücke Mit ungeduld an seinem pulse zählt, Und, weil sein puls mit jedem augenblicke Behender schlägt, sich immer überzählt: Seufzt, nicht geduldiger, die reizende Sultane, Gerüstet schon zum sieg, die mitternacht herbey. Gefällig bot der Zufall ihrem plane Die hand, und machte sie von allen seiten frey.

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44. Ein großes Fest, der schönen Zoradinen Zu ehren im palast vom Sultan angestellt, Wobey die Odalisken all’ erschienen, Gab ihr, in ihrem theil des Harems, offnes feld. Daß sich Almansaris für überflüßig hält Bey dieser lustbarkeit, schien keinem ungebührlich; Im gegentheil, man fand das kopfweh sehr natürlich, Das, wie gebeten, sie auf einmal überfällt. 45.

Die stunde ruft. Der schöne Gärtner nahet Sich leise durchs gebüsch der kleinen gartenthür. Wie klopft sein herz! Ihm fehlt der athem schier, Da eine weiche hand im dunkeln ihn empfahet, Und sanft ihn nach sich zieht. Stillschweigend folgt er ihr, Mit leisem tritt, bald auf bald ab, durch enge Sich oft durchkreuzende lichtlose bogengänge, Und nun entschlüpft sie ihm vor einer neuen thür.

46.

Wo sind wir, flüstert er, und tappt mit beyden händen. Auf einmal öfnet sich die thür. Ein matter schein, (Wie wenn sich, zwischen myrtenwänden Mit epheu überwölbt, in einem frühlingshayn Der tag verliert) entdekt ihm eine reyhe zimmer Die ohne ende scheint; und, wie er vorwärts geht, Wird unvermerkt das matte licht zu schimmer, Der schimmer schnell zum höchsten glanz erhöht.

47.

Er steht betroffen und geblendet Von einer pracht, die alles, was er ie Gesehn, beschämt; so sehr ist gold und Lazuli Und was Golcond und Siam reiches sendet, Mit stolzer üppigkeit hier überall verschwendet. Doch unbefriedigt sucht sein liebend auge — Sie. Wo ist Sie, seufzt er laut. Kaum ist sein ach! entflogen, So wird, in einem bliz, ein vorhang weggezogen.

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48. Zu beyden seiten rauscht der reiche goldstoff auf, Und welch ein schauspiel zeigt sich seinen starren blicken! Ein goldner thron, und eine Dame drauf So wie ein Bildner sich, verloren in entzücken, Die Liebesgöttin denkt. Zwölf Nymfen, jede jung Und voller reiz, wie Amors Schwestern, schweben In Gruppen um sie her — um, gleich der dämmerung, Den steigenden triumf der Sonne zu erheben. 49.

Von rosenfarbner seide kaum Beschattet, schienen sie, zu ihrer Dame füßen, Wie wölkchen, die in einem Dichtertraum Um Cythereens wagen fließen. Sie selbst, im reichsten puz und mit Juwelen ganz Belastet, zeigt ihm bloß, daß all dies bunte funkeln Nicht fähig ist, den angebohrnen glanz Von ihrer schönheit zu verdunkeln.

50. Herr Hüon (der sich nun der gärtner Hassan nennt) So wie sein auge sich zu ihr erhebt — erkennt Almansaris, erschrikt, verwirrt sich, wankt zurücke. Dies allverblendende wollüst’ge traumgesicht Was soll es ihm? — Er sieht Amanden nicht! Sie suchte hier sein herz, Sie suchten seine blicke. Almansaris, die sehr verzeyhlich irrt, Glaubt, daß ihr glanz allein ihn blendet und verwirrt. 51.

Sie steigt vom thron herab, kömmt lächelnd ihm entgegen Und nimmt ihn bey der hand, und scheint bereit, für ihn Die Majestät, vor der ihm schwindelt, abzulegen, Und allen vortheil bloß von ihrem Reiz zu ziehn. Unmerklich wird ihr anstand immer freyer; In ihren augen brennt ein lieblichlodernd feuer Und spielt elektrisch sich in seinen busen ein; Sie drükt ihm sanft die hand, und heißt ihn frölich seyn.

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52.

Halb unentschlossen scheint sein blik ihr was zu sagen; Sie winkt die Nymfen weg, und weg ist auch sein mut. Er scheint zu furchtsam, nur die augen aufzuschlagen. Die scene ändert sich. Ein zweyter vorhang thut Sich auf. Almansaris führt ihren blöden Hirten In einen andern saal, wo rings umher die wand Bekleidet war mit rosen und mit myrten, Und mit erfrischungen ein tisch beladen stand.

53.

Beym eintritt werden sie mit sang und klang empfangen, Aus saiten und gesang ertönt der freude geist: Und Hassan sezt, wie ihm’s die Dame heißt, Ihr gegenüber sich. Erröthendes verlangen Und schöne ungeduld bekennet, furchtsamdreist, In ihrem schwimmenden blik, auf ihren glühenden wangen, Ihm seinen sieg: Allein, aus seinen augen bricht Wie aus gewölk ein traurigdüstres licht.

54.

Zwar irrt, nicht blöde mehr, sein blik von freyen stücken Auf ihren reizungen umher; Doch nicht aus Liebe, nicht mit schmachtendem entzücken, Nicht, wie sie wünscht, vom thau wollüst’ger thränen schwer. Er ist zerstreut, er scheint sie zu vergleichen, Und jeder reiz, der ihm nachstellend sich enthüllt, Mahlt nur lebendiger Amandens edles bild, Und muß, beschämt, den keuschen reizen weichen.

55.

Vergebens reicht sie ihm den blinkenden pocal Mit einem blik, der Amors ganzen köcher In seinen busen schießt. Beym frohsten Göttermahl Reicht ihrem Herkules den vollen Nektarbecher Mit süßerm lächeln selbst die junge Hebe nicht. Umsonst! Mit frostigem gesicht Nimmt er den becher an, den kaum ihr mund berührte, Und trinkt, als ob er gift auf seiner zunge spürte.

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56.

Die Dame winkt: und schnell schlingt sich die schwesterschaar Der Nymfen, die vorhin den goldnen thron umgaben, In einen tanz, der Todte auf der baar Mit neuen seelen zu begaben, Und Geister zu verkörpern fähig war. In Gruppen bald verwebt, bald wieder paar und paar, Sieht Hüon hier die lieblichsten gestalten In tausendfachem licht freygebig sich entfalten.

57.

Vielleicht zu deutlich nur, scheint alles abgezielt Begierden ihm und ahnungen zu geben: Er fühl’ es immerhin, denkt sie, wenn er nur fühlt. Wie reich das schauspiel ist das hier die Schönheit spielt! Wie reizend ist der Arme leichtes schweben, Der Hüften üppiger schwung, der Knöchel wirbelnd beben! Wie schmachtend fallen sie, mit halbgeschloßnem blik, Als wie in süssen Tod izt stufenweis zurük!

58.

Unwillig fühlt die überraschten sinnen Der edle Mann in dieser glut zerrinnen. Er schließt zulezt die augen mit gewalt, Und ruft Amandens bild zum mächt’gen gegenhalt; Amandens bild, aus jener ernsten stunde Als er, den druk noch warm auf seinem munde Von ihrem kuß, zu Dem, der die Natur Erfüllt und trägt, den eid der Lieb und Treue schwur.

59.

Er schwöret ihn, aufs neue, in gedanken Auf seinen knie’n vor diesem heil’gen bild: Und plözlich ists als hielt ein Engel seinen schild Vor seine brust, so matt und kraftlos sanken Der Wollust pfeile von ihr ab. Almansaris, die acht auf alles gab Was ihr sein blik verrieth, klopft schnell in ihre hände, Und macht in einem wink dem üpp’gen tanz ein ende.

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60. Und ob sie gleich mit müh kaum über sich gewann Dem marmorharten jungen Mann In ihren armen nicht empfindung abzuzwingen, Versucht sie doch noch eins, das schwerlich fehlen kann; Sie läßt sich ihre Laute bringen. Auf ihrem polstersiz mit reiz zurükgelehnt, Und, zum bezaubern fast, durch ihre glut verschönt, Was wird ihr durch die gunst der Musen nicht gelingen? 61.

Wie rasch durchläuft in lieblichem gewühl Der rosenfinger flug die seelenvollen saiten! Wie reizend ist dabey, aus ihrem offnen weiten Rükfallenden gewand, der schönen arme spiel! Und, da aus einer brust, die Weise zu bethören Vermögend war, das mächtige gefühl Sich in gesang ergießt, wie kann er sich erwehren Auf seinen knie’n die Göttin zu verehren?

62. Süß war die Melodie, bedeutungsvoll der Sinn: Es war das lied von einer Schäferin, Die lange schon ein feu’r, das keine rast ihr gönnet, Verbarg — doch nun dem allgewalt’gen drang Nicht länger widersteht, und dem, der sie bezwang, Erröthend ihre pein und seinen sieg bekennet. Das lied stand zwar im buch; allein, so wie sie sang, Singt keine, die nicht selbst in gleichen flammen brennet. 63.

Hier weicht die stolze Kunst der siegenden Natur; So lieblich girrt der Venus Taube nur! Die sprache des gefühls, so mächtig ausgesprochen, Der schönen töne klarer fluß Durch kleine seufzerchen so häufig unterbrochen, Der wangen höhers roth, des busens schnellers pochen, Kurz, Alles ist vollströmender erguß Der leidenschaften, die in ihrem Innern kochen.

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64.

Im übermaas von dem was sie empfand Fällt ihr zulezt die Laute aus der hand. Die Arme öffnen sich — Doch, Hüon, dem es graute, Greift eilends noch im fallen nach der Laute Wie ein Begeisterter, und stimmt mit mächt’gem ton Die antwort an; gesteht, daß eine Andre schon Sein herz besizt, und daß im Himmel und auf Erden Ihn nichts bewegen kann ihr ungetreu zu werden.

65.

Fest war sein ton, und unbestechlich streng Sein edler blik. Die Zauberin, wider willen, Fühlt seine obermacht. Sie blaßt, und thränen füllen Ihr zürnend aug; die lust kömmt ins gedräng Mit ihrem stolz. Sie eilt sich zu verhüllen; Verhaßt ist ihr das licht, der weite saal zu eng: Mit einem kalten blik auf ihren Rebellen, winket sie, ihn schleunig abzuführen.

66.

Die gipfel glänzten schon im ersten purpurlichte, Als unser Held, die stirn in finstern gram Gehüllt, zurük zu seinen Freunden kam. Erschrocken lasen sie in seinem angesichte Beym ersten blik die hälfte der geschichte. Unglükliche, spricht er zu Fatmen, die vor schaam Zur erde sinkt, wohin war dir dein sinn entflogen? Doch — dir verzeyh ich gern — du wurdest selbst betrogen.

67.

Und als er drauf, was ihm in dieser nacht Begegnet war, erzählt, faßt er den guten Alten Vorn an der brust, und schwört: ihn soll die ganze Macht Von Africa zurük nicht länger halten, Mit schwert und schild, wie einem Rittersmann Geziemt, in den palast zu dringen, Und seine Rezia dem Sultan abzuzwingen. Du siehst nun, spricht er, selbst, was ich mit list gewann!

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68.

Zu seinen füßen fleht ihm Scherasmin, und lange Vergebens, nur drey tage noch dem zwange Der nöthigen verborgenheit Sich in geduld zu untergeben, Und nicht durch einen schritt, den selbst die tapferkeit Verzweifelt nennt, sein und Amandens leben Zu wagen; bittet nur um diese kurze zeit, Um jedes hinderniß von seiner flucht zu heben.

69.

Auch Fatme fleht auf ihren knieen, strekt Ihr haupt der rache dar, wofern sie zu Amanden Ihm binnen dieser frist den zugang nicht entdekt. Sie schwört, zum zweitenmal soll kein betrug zu schanden Sie machen — Kurz, der Ritter selber fühlt Daß ihm sein unmuth nicht den besten weg empfiehlt: Er giebt sein wort, und kehret in den garten Zurük, um seines diensts und des erfolgs zu warten.

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Oberon Vierzehnter Gesang. 1.

Indessen sucht auf polstern von damast Almansaris, mit Amors wildstem feuer In ihrer brust, umsonst nur eine stunde rast. Ists möglich, oder hat das schnöde abenteuer Der lezten nacht ihr nur geträumt? Ein Mann Verachtet dich, Almansaris? Er kann Dich sehen und für eine andre brennen, Kann dich verschmähn, und darf es dir bekennen?

2.

Zur wut treibt der gedanke sie; Sie schwört sich grenzenlose Rache. Wie häßlich wird er ihr! Ein ungeheu’r, ein drache, Ist lieblicher, als ihre fantasie Den Undankbaren mahlt — Wie lang’? — In zwo minuten Ist sie des vorigen sich schon nicht mehr bewußt; Bald soll er tropfenweis im staub vor ihr verbluten, Bald drükt sie ihn entzükt an ihre brust.

3.

Nun steht er wieder da in seiner ganzen Schöne, Der erste aller Erdensöhne, Ein Held, ein Gott! — Unmöglich ist er nur Der Neffe Ibrahims — In seinem ganzen wesen, In seinem ton und anstand ist die spur Von dem, was er umsonst verbergen will, zu lesen; Wo ist der stempel der Natur Der einen König macht sichtbarer je gewesen?

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4.

Er, er allein, ist Ihrer werth, Ist werth, in ihrem arm sich zu vergöttern. Und, o! ihr fehlt ein bliz, die Feindin zu zerschmettern, Die ihn bezaubert hält, und ihr den sieg erschwert? Doch, wie? Almansaris? Fühlst du dich selbst nicht besser? Gönn ihm den kleinen stolz sich pfauengleich zu blähn In seinem heldenthum! Selbst Dir zu widerstehn! Das alles macht doch nur die lust des sieges grösser!

5.

Bestürm’ ihn erst, eh du den mut verlierst, Mit jedem reiz, auf den sich wahre schönheit brüstet; Begieb, damit du ihn um so viel sichrer rührst, Der fremden waffen dich, womit die Kunst uns rüstet; Er fühl und seh’ was Götter selbst gelüstet! Und wenn du dann sein herz noch nicht verführst, Er dann dich noch verschmäht — dann, Königin, erwache Dein stolz, und schaffe dir die süße lust der Rache!

6.

So flüstert ihr aus einer Zofe mund Der kleine Dämon zu, den ihr, mit vollem Köcher, Gebietrisch sitzen seht auf diesem Erdenrund! Der alle welt aus seinem zauberbecher Berauscht, und den, wer ihn nicht besser kennt, Zur ungebühr, den Gott der Liebe nennt: Denn — jeder jungen unerfahrnen Dame Zur nachricht sey es kund! — Asmodi ist sein name.

7.

Almansaris, in deren warmen blut Schon ein Verführer schleicht, ist gegen den Betrüger Von Außen, weniger als jemals auf der hut; Sein anhauch nährt und fächelt ihre glut, Und kaum daß sie, zur zier, dergleichen thut Als widerstünde sie, so ist Asmodi Sieger. Die Zofe Schmeichlerin, sein würdiges Organ, Legt den entwurf sogleich mit vieler klugheit an.

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219

8.

O! raubet nun dem bliz die feuerschwingen, Ihr stunden, ihn herbeyzubringen, Den süßen Augenblik! Zu langsam schleichet ihr (Wie schnell ihr eilt!) der lechzenden Begier! Doch — Sie ists nicht allein, die izt Secunden zählet: Auch Hüon überlebt, von ungeduld gequälet, Den trägen Gang der drey verhaßten tage kaum, Und wachend und im schlaf ist Rezia sein traum.

9.

Der zweyte morgen war dem sehnlichen verlangen Der Haremskönigin nun endlich aufgegangen; Goldlockicht, schön und rosenathmend stieg Er, wie der Herold, auf, der ihr den schönsten sieg Verkündigte: schon säuselt durch die Myrten Die, dicht verwebt, der Grotten schönste gürten, Ein leichter morgenwind, und tausendstimmig schallt Der vögel frühes chor im nahgelegnen wald:

10.

Doch um die grotte her ist unterm myrtenlaube In ew’ger dämmerung das heiligthum der Ruh. Hier girret nur die sanfte Turteltaube Dem Tauber ihre sehnsucht zu. In diesen lieblichen gebüschen, Dem dunkeln siz verborgner einsamkeit, Pflegt öfters sich zur stillen morgenzeit Almansaris mit baden zu erfrischen.

11.

Der anmutsvolle morgen rief Den schönen Hassan auf, indeß noch alles schlief, Die blumenkörbe voll zu pflücken, Die er, mit jedem tag, dem Harem zuzuschicken Verbunden war: als ihm ein Sclav entgegenlief Und keuchend ihm befahl die grotte aufzuschmücken. Der Neger fügt, zur eil’ ihn anzuspornen, bey, Daß eine Dame dort zu baden willens sey.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

12.

Verdrossen geht Herr Hüon, auszurichten Was ihm befohlen war. Er füllt mit bunten schichten Von blumen, Florens ganzem schaz, Den grösten korb, und eilt zum angewiesnen plaz. Fern ists von ihm, der sache mißzutrauen. Allein, beym eintritt in die grotte, fällt auf ihn Ein dumpfes wunderbares grauen, Und ein verborgner Arm scheint ihn zurükzuziehn.

13.

Betroffen sezt er seine blumen nieder, Doch faßt er augenbliks sich wieder Und lächelt seiner furcht. Das zweifelhafte licht, Das unter tausendfachem flittern In diesem labyrinth mit sichtbarm Dunkel ficht, War ohnezweifel schuld an diesem kind’schen zittern, Denkt er, und geht getrost, bey immer hellerm schein, Mit seinem blumenkorb ins Innerste hinein.

14.

Hier herrscht ein Tag wie zu verstohlnen freuden Die schlaue Lust ein zauberlicht sich wählt, Nicht tag nicht dämmerung; es schwebte zwischen beyden, Nur lieblicher durch das was ihm zu beyden fehlt. Es glich dem Mondschein, wenn durch Rosenlauben Sein silberlicht zerschmilzt in blasses roth. Der Held, wiewohl ihm hier noch nichts gefährlichs droht, Erwehrt sich kaum bezaubert sich zu glauben.

15.

Was er am wenigsten sich überreden kann, Ist, daß man hier, wo alles um und an Von blumen strozt, noch blumen nöthig hätte; Doch, wie sein auge nun auf alle seiten irrt, O wer beschreibt wie ihm zu mute wird, Da ihm auf einem ruhebette Sich eine Nymf’ aus Mahoms Paradies Im vollen Glanz der reinsten Schönheit wies!

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221

16.

In einem licht, das zauberisch von oben Wie eine Glorie auf sie herunterströmt, Und, durch die dunkelheit des übrigen erhoben, Mit ihres Busens schnee die lilien beschämt: In einer lage, die ihm reizungen entfaltet Wie seine augen nie so schön entschleyert sahn; Mehr werth als alles, was zum Farren und zum Schwan Den Jupiter der Griechen umgestaltet.

17.

Die Gase, die nur, wie ein leichter schatten Auf einem Alabasterbild, Sie hier und da umwallet, nicht verhüllt, Scheint mit der naktheit selbst den reiz der schaam zu gatten. Weg, feder, wo Apell und Titian Bestürzt den pinsel fallen ließen! Der Ritter steht, und bebt, und schaut bezaubert an, Wiewohl ihm besser war die augen zuzuschließen.

18.

In süßem irrthum steht er da Und glaubt (doch nur zween Augenblicke) So schön ist was er sieht, er sehe Rezia. Allein, mit Recht mißtrauisch einem glücke Das ihm ungläublich däucht, tritt er ihr näher, sieht, Erkennt Almansaris, und wendet sich und flieht. Er flieht, und fühlt im fliehn von zween elastischrunden Milchweißen armen sich gefangen und umwunden.

19.

Er kämpft den schwersten kampf, den je, seit Josephs zeit, Ein Mann gekämpft, den edeln kampf der Tugend Und Liebestreu und feuervollen Jugend Mit Schönheit, Reiz und heißer Üppigkeit. Sein Will’ ist rein von sträflichem entzücken; Allein, wie lange wird er ihrem süßen flehn, Den küssen voller glut, dem zärtlichwilden drücken An ihren busen, widerstehn?

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20. O Oberon, wo ist dein lilienstängel, Wo ist dein horn in dieser fährlichkeit? Er ruft Amanden, Oberon, alle Engel Und Heilige zu hülf’ — Und noch zu rechter zeit Kömmt hülf’ ihm zu. Denn just, da jede Sehne Ermatten will zu längerm widerstehn, Und mit wollüstger wut ihn die erhizte Schöne Fast überwältigt hat — läßt sich Almansor sehn. 21.

Gleich einem angeschoßnen Wild, Und wütend, eine Frau die ihn verschmäht zu lieben, Hat er, verfolgt von Zoradinens bild, Schon eine stunde sich im garten umgetrieben: Der zufall leitet ihn in dieses myrtenrund; Er glaubt die stimme von Almansaris zu hören, Und, weil die Grottenthür nur angelehnet stund, Geht er hinein, sich näher zu belehren.

22. Der Dämon, der durch seiner Priesterinnen Gefährlichste des Ritters Treu’ bestritt, Wird schon von fern an seinem Sultansschritt Almansors nahe ankunft innen. O hülfe, hülfe! schreyt das schnellgewarnte Weib, Und wechselt straks mit Hüon’s Ihre rolle, Stellt sich, als kämpfte sie um ihren eignen leib Mit einem Wütenden, der sie entehren wolle. 23. Ihr wilder blik, ihr halbzerrissenes gewand, Ihr fliegend haar, des jungen Gärtners schrecken, Der von der unversehnen kecken Beschuldigung wie blizgetroffen stand, Der ort, wo ihn der Sultan fand, Kurz, alles schien in ihm den Frefler zu entdecken. O! Alla sey gelobt, rief die Betrügerin, Daß ich Almansorn selbst die rettung schuldig bin!

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24. Drauf, als sie schamhaft sich in alle ihre schleyer Gewickelt, lügt sie, mit dem ton Der unschuld selbst, ein falsches abenteuer: Wie dieser schändliche verkappte Christensohn, Da ihr die lust im kühlen sich zu waschen Gekommen, sich erfrecht sie hier zu überraschen, Und wie sie mit gewalt sich seiner kaum erwehrt, Als ihn, zu größtem glük, der Sultan noch gestört. 25.

Um von dem häßlichen verbrechen, Deß er beschuldigt wird, den Ritter loszusprechen, Bedurft’s nur Einen unbefangnen blik; Doch seinem Richter fehlt auch dieser einzge blik. Der Held verachtet es, mit einer Frauen schande Sich selbst vom tode zu befreyn; Er schmiegt den edeln Arm in unverdiente bande, Und hüllet schweigend sich in sein bewußtseyn ein.

26. Der Sultan, den sein Unmut zum verdammen Noch rascher macht, bleibt dumpf und ungerührt. Der Frefler werd’ in ketten weggeführt, (Herrscht er den sclaven zu, die sein befehl zusammen Gerufen) werfet ihn in eine finstre gruft; Und morgen früh, sobald vom thurm der Iman ruft, Werd’ er, im äußern hof, ein raub ergrimmter flammen, Und seine asche streut mit flüchen in die luft! 27.

Der Edle hört sein urtheil schweigend, — blitzet Auf das verhaßte Weib noch Einen blik herab, Und wendet sich, und geht in fesseln ab, Auf einen Mut, den nur die unschuld giebt, gestützet. Kein sonnenblik erfreut das fürchterliche grab Worinn er nun tief eingekerkert sitzet. Der nacht des Todes gleicht die nacht die auf ihn drükt Und jeden hoffnungsstral in seinem geist erstikt.

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28. Ermüdet von des Schiksals strengen schlägen, Verdrossen, stets ein ball des wechselglüks zu seyn, Seufzt er dem augenblik, der ihn befreyt, entgegen. Schrekt ihn das Vorgefühl der scharfen feuerpein? Die Liebe hilft ihm’s übertäuben. Sie stärkt mit Engelskraft die sinkende Natur. Bis in den tod (ruft er) getreu zu bleiben Schwur ich, Amanda, dir, und halte meinen schwur! 29. O daß, geliebtes Weib, was morgen Begegnen wird, auf ewig dir verborgen, Auf ewig auch, Dir, treuer alter Freund, Verborgen blieb’! — Wie gern erlitt’ ich unbeweint Mein traurig Loos! Doch, wenn ihr es erfahret, Erfahret wessen ich beschuldigt ward, und mit Dem schmerz um meinen tod sich noch die schande paaret, Zu hören, daß ich nur was ich verdiente litt — 30. O Gott! Es ist zuviel auch dies noch zu erdulden! Es büße immerhin für meine sündenschulden Der strengste tod! Ich klage niemand an! Dies einz’ge nur, o Oberon, gewähre Dem, den du liebtest, noch — beschütze meine Ehre, Beschütze Rezia! — Du weist, was ich gethan! Sag’ ihr, daß ich den heil’gen Schwur der Treue Zu halten, den ich schwur, den Feuertod nicht scheue. 31.

So ruft er aus, und, vom Vertraun gestärkt Daß Ob’ron ihn erhört, berührt ihn unvermerkt Der mohnbekränzte Geist des Schlummers Mit seinem stab, dem Stiller alles kummers, Und wieget ihn, wiewohl nur harter stein Sein Küssen ist, in leichte träume ein. Hat ihm vielleicht, zum pfand, daß bald sein leiden endet, Der gute Schuzgeist selbst dies labsal zugesendet?

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32. Noch lag die halbe Welt mit finsterniß bedekt Als ihn aus seiner ruh ein dumpfes klirren wekt. Ihn däucht er hör’ im schloß die schweren schlüssel drehen; Die eisenthür geht auf, des kerkers schwarze wand Erhellt ein blasser schein, er höret jemand gehen, Und stemmt sich auf — und sieht — in schimmerndem gewand, Die krone auf dem haupt, die lampe in der hand, Almansaris zu seiner seite stehen. 33.

Sie reicht die lilienhand ihm, reizvoll lächelnd, dar, Und — wirst du, spricht sie, mir vergeben Was nur die schuld der not, nicht meines herzens, war? O du Geliebter, hängt an Deinem schönen leben Mein eignes nicht? Ich komme, der gefahr Dich zu entziehn, (troz deinem widerstreben!) Vom Holzstoß dich, wozu dich der Barbar Verdammt’, auf einen Thron, den du verdienst, zu heben!

34.

Die Liebe öfnet dir der Hoheit sonnenbahn: Auf, mache sie von deinem ruhm erschallen! Nimm diese hand, die dir sich schenket, an; In einem wink soll dein Verfolger fallen, Und all sein volk, wie staub, um deine füße wallen. Im ganzen Harem ist mir alles unterthan; Vertraue dich der Liebe sichern händen, Und, was sie wagte, wird dein eigner mut vollenden!

35.

„Hör’ auf! o Königin, dein Antrag häuffet bloß Mein leiden, durch die qual Dir alles abzuschlagen. O! warum zwingst du mich’s zu sagen? Ich kauffe mich durch kein Verbrechen los!“ Ists möglich? ruft sie, kann so weit der unsinn gehen? Unglüklicher, im angesicht Der flamme, die bereits aus deinem holzstoß bricht, Kannst du Almansaris und einen Thron verschmähen?

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36.

Sag mir, versezt er, Königin, Ich könne dir mit meinem blute nützen, So soll die lust, womit ich eil’ es zu versprützen, Dir zeigen, ob ich unerkenntlich bin! Ich kann, zum danke, dir mein herzensblut, mein leben, Nur meine ehre nicht, nur meine treu nicht geben. Wer Ich bin weist du nicht, vergiß nicht wer Du bist, Und mute mir nichts zu, was mir unmöglich ist.

37.

Almansaris, aufs äußerste getrieben Durch seinen widerstand, sie wendet alles an, Was seine Treu durch alle stufen üben Und seinen mut ermüden kann. Sie reizt, sie droht, sie fleht, sie fällt, verloren In lieb’ und schmerz, vor ihm auf ihre kniee hin; Doch unbeweglich bleibt des Helden fester sinn, Und rein die Treu, die er Amanden zugeschworen.

38.

So stirb dann, weil du willst! ruft sie, des athems schier Vor wut beraubt; ich selbst, ich will an deinem leiden Mein gierig aug mit heißer wollust weiden! Stirb als ein thor! des Starrsinns opferthier! Schreyt sie mit funkelndem aug’, und flucht der ersten stunde Da sie ihn sah, verwünscht mit bebendem munde Sich selbst, und stürmt hinweg, und hinter ihr Schließt wieder, klirrend, sich des kerkers eisenthür.

39.

Inzwischen hatte das gerüchte, Das Unglüksmähren gern verbreitet und verziert, Von ihrem Herrn die traurige geschichte Auch Scherasmin und Fatmen zugeführt. Der schöne Hassan, hieß es, sey im bade Vom Sultan mit Almansaris allein Gefunden worden, und morgen, ohne gnade, Werd’ er, im großen hof, ein raub der Flammen seyn.

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40. Ob Hüon schuldlos sey war ihnen keine frage; Sie kannten ja der sachen wahre lage. Doch, hätt’ er auch gefehlt, so war er mitleidswerth. In fällen dieser art wird ächte Treu bewährt. Anstatt die zeit mit jammern zu verderben, Beschlossen sie, das äusserste für ihn Zu wagen, um ihn noch aus dieser noth zu ziehn, Und, schlüg’ es fehl, mit ihrem Herrn zu sterben. 41.

Kurz eh der tag begann, gelingt es Fatmens mut Und wachsamkeit die Hüter zu betrügen, Und unerkannt sich bis ins schlafgemach zu schmiegen Wo Rezia, von Hüon träumend, ruht. Des unverhoften wiedersehens freude Macht einen augenblik sie sprachlos alle beyde. Das erste wort das Fatme sprechen kann, Ist Hüon, ist bericht von dem geliebten Mann.

42. Was sagst du, goldne Amme, ruft Amande, Und fällt ihr um den hals — mein Hüon, mir so nah? Wo ist er? — Ach! Prinzessin, was geschah! (Schluchzt jene weinend) hilf! zerreisse seine bande! Spreng seinen kerker auf! dem Unglükselgen droht, Aus liebe bloß zu dir, ein jämmerlicher tod. Und drauf erzählt sie ihr genau die ganze sache, Und ihres Ritters Treu, und der Sultanin rache. 43.

Schon, ruft sie, steht der holzstoß aufgethürmt, Nichts rettet ihn, wenn ihn nicht Zoradine schirmt! Mit einem schrey der angst, halbsinnlos, fährt Amande In wilder Hast von ihrem lager auf, Wirft, wie sie steht, im leichten Nachtgewande, Den Curdee um, und eilt in vollem lauf Des Sultans zimmer zu, durch alle Sclavenwachen, Die sie mit wunder sehn, und schweigend plaz ihr machen.

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44. Sie dringt hinein, nichts achtend daß es früh Am tage war, und wirft mit lilienblassen wangen, Und haaren, die zerstreut um ihre schultern hangen, Sich vor dem Sultan auf die knie’. Almansor, spricht sie, wenn mein Leben dir Erhaltenswürdig scheint, so laß mich nicht vergebens Dir knieen — Schwöre, daß du was ich bitte mir Gewähren willst! Es gilt die ruhe meines lebens! 45.

Begehr, o Schönste, spricht erstaunt und froh zugleich, Der Sultan: laß mich nicht in Ungewisheit schweben! Dir zu gefallen ist mein feurigstes bestreben; Begehre frey! Mein Schaz, mein Thron, mein Reich, Nichts ist zuviel, was Du verlangst und ich zu geben Vermag. Ein einzigs nur behält sich Mansor vor, Dich selbst! — „Du schwörst es mir? —“ Der liebestrunkne Mohr Beschwörts — „So schenke mir des gärtners Hassan leben!“

46.

Wie, ruft der Sultan mit bestürzter mine, Welch eine bitte, Zoradine? Was geht das leben dich von diesem Sclaven an? „O viel, Almansor, viel! Mein eignes hängt daran!“ Sprichst du im Fieber? Schwärmest du? Verzeihe, Doch, du mißbrauchst des unbegrenzten Rechts Das dir die Schönheit giebt — Am leben eines knechts Der sein Verbrechen büßt? — „Er büßt für seine Treue!

47.

Mir ist sein herz bekannt, er hält an seiner pflicht, Ist schuldlos, ist ein Mann von unverlezter Ehre; Und doch — o Mansor! — wenn er schuldig wäre, So räche sein vergehn an Zoradinen nicht!“ Mit augen die von kaum verhaltnem grimme funkeln, Ruft Mansor: Grausame, was quält dein zögern mich? Welch ein geheimnis dämmert aus dem dunkeln Verhaßten räthsel auf? Was ist dir Hassan? Sprich!

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48. „So wiß es dann, weil mich die not zum reden zwinget, Ich bin sein Weib! Ein Band, das nichts zerreissen kann, Ein band, gewebt im Himmel selber, schlinget Mein glük, mein Alles fest an den geliebten Mann. Uns drükt mit seiner ganzen furchtbarn Schwere Des Schiksals arm — Wer weiß, wie bald an dich Die reyhe kommt? — du siehst mich elend — ehre Mein leiden, Glüklicher! — Du kannst es, rette mich!“ 49.

Wie? du bist Hassans weib, und liebst ihn? — „über alles!“ Unglükliche, er ist dir ungetreu! „Er ungetreu? Die ursach seines falles, Ich bins gewiß, ist einzig seine Treu.“ Ich glaube was ich sah! — „So ward er erst betrogen, Und du mit ihm?“ — Mit zürnendem gesicht Spricht Mansor: spanne nicht den bogen, Zu stolz auf deinen reiz, so lange bis er bricht!

50. Dein Hassan stirbt — und ich kann nichts, als dich beklagen. Er stirbt, schreyt Rezia — Tyrann, Hast du ein herz mir das zu sagen? Er, dem ein Wort von dir das leben schenken kann, Er stirbt? — So ist es! wer des Harems zucht verlezt, Erwiedert Mansor kalt, dem ist der Tod gesezt. Doch, weil du willst, so sey des Sclaven leben, Sein Leben oder Tod, in deine hand gegeben! 51.

Gieb, Schönste, mir ein beyspiel edler huld, Gieb mir die ruh, die du mir raubtest, wieder! Ich lege Kron’ und Reich zu deinen füßen nieder, Ergieb dich mir, so sey dem frefler seine schuld Geschenkt! Er zieh, mit königlichen gaben Noch überhäuft, zu seinem volk zurük! O zögre nicht, die Güte selbst zu haben Die du begehrst! — Ein wort macht mein und sein geschik.

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52.

Unedler, ruft mit eines Engels zürnen Das schöne Weib, so theuer kauft der Mann Den Zoradine liebt sein leben nicht! — Tyrann, Kennst du mich so? — Die schlechteste der Dirnen Die mich bedienten einst, verschmähte deinen thron Und dich um solchen Preis! Zwar steht, uns zu verderben, In deiner macht: doch, hoffe nicht davon Gewinn zu ziehn — Barbar, auch Ich kann sterben!

53.

Der Sultan stuzt. Ihn schrekt des edeln weibes mut. Sein feiges herz wird mehr von ihrem Dräun gerühret Als da sie bat; doch, ihre Schönheit schüret Das feuer der begier zugleich in seinem blut. Was sagt’ er nicht, ihr herz mit liebe zu bestechen? Wie bat er sie? Wie schlangenartig wand Er sich um ihren fuß? — Umsonst! Ihr Widerstand War nicht durch drohungen, war nicht durch flehn zu brechen.

54.

Sie bleibt darauf, ihr soll der tod willkommner seyn. Der Sultan schwört mit fürchterlicher stimme Bey Mahoms Grab, nichts soll vor seinem grimme Sie retten, geht sie nicht sogleich den antrag ein. Ists nicht mein leztes wort, soll Alla mich verdammen! Hört man den Wütenden bis in dem Vorsaal schreyen: Entschließe dich, sey auf der stelle mein, Wo nicht, so stirb mit dem Verworfnen in den flammen!

55.

Sie sieht ihn zürnend an, und schweigt. Entschließe dich, Ruft er zum zweytenmal. — O! so befreye mich Von deinem anblik, spricht die Königin der Frauen, Des Todes grinsen selbst erwekt mir minder grauen. Almansor ruft, und giebt, von wut erstikt, Den grausamen befehl, und höllenfunken sprühen Aus seinem aug. Der Schwarzen Erster bükt Sich bis zur erde hin, und schwört, ihn zu vollziehen.

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56.

Schon steht der gräßliche Altar Zum opfer aufgethürmt; schon drängt sich, schaar an schaar, Das Volk herzu, das, gern in angst gesetzet, An trauerspielen dieser art Die augen weinend labt, und schauernd sich ergötzet. Schon stehn, zum leiden und zum tode noch gepaart, An Einen Marterpfahl gebunden, Die einzgen Liebenden die Ob’ron rein erfunden.

57.

Ein edles paar in Eins verschmolzner Seelen, Das treu der ersten Liebe blieb, Entschlossen, eh den tod in flammen zu erwählen, Als ungetreu zu seyn selbst einem Thron zu lieb! Mit nassem blik, die herzen in der klemme, Schaut alles volk gerührt zu ihnen auf, Und doch besorgt, daß nicht den freyen lauf Des trauerspiels vielleicht ein zufall hemme.

58.

Den Liebenden, wie sie gebunden stehn, Ist zwar der trost versagt einander anzusehn; Doch, über alles, was sie leiden Und noch erwarten, triumfiert Die reinste seligste der freuden, Daß ihre Lieb’ es ist, was sie hieher geführt. Der tod, der ihre Treu mit ew’gem Lorbeer ziert, Ist ihres herzens Wahl, sie konnten ihn vermeiden.

59.

Inzwischen siehet man mit fackeln in den händen Zwölf Schwarze sich dem Opfer paarweis nahn. Sie stellen sich herum, bereit es zu vollenden, Sobald der Aga winkt. Er winkt. Sie zünden an. Und straks erdonnerts laut, die Erde scheint zu beben, Die Flam’ erlischt, der strik, womit das treue Paar Gebunden stand, fällt wie versängtes haar, Und Hüon sieht — das Horn an seinem halse schweben.

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60. Im gleichen augenblik, da dies Geschah, zeigt sich von fern mit lautem Schreyen Almansor hier, und dort Almansaris. Sie eilen hastig an, in zwo verschiednen reyhen, Er Zoradinen, Sie den Hassan zu befreyen; Und beyden folgt ein Trupp, bewehrt mit Dolch und Spies. Auch stürzt mit bloßem Schwert durch die erschrokne menge Ein schwarzer Rittersmann sich mitten ins gedränge. 61.

Doch Hüon hat das pfand, daß nun sein Oberon Versöhnt ist, kaum mit wonnevollem schaudern An seinem hals erblikt, so sezt er ohne zaudern Es an den mund, und lokt den lieblichsten ton Daraus hervor, der je geblasen worden. Sein edles herz verschmäht ein feiges volk zu morden; Tanzt, ruft er, tanzt, bis euch der tanz den athem raubt! Dies soll die Rache seyn, die Hüon sich erlaubt.

62. Und wie das Horn ertönt, ergreift der Zauberschwindel Zuerst das volk, das um den holzstoß steht, Schwarzgelbes, lumpichtes, halbnackendes gesindel, Das plözlich sich, wie toll, im schnellsten wirbel dreht; Bald mischet sich mit allen seinen Negern Der Aga drein; ihm folgt was füße hat, Bey Hof, im Harem, in der Stadt, Vom Sultan an bis zu den wasserträgern. 63.

Unlustig faßt der Schach — Almansaris beym arm; Sie sträubt sich, doch was hilft sein unmut und ihr sträuben? Der taumel reißt sie fort, sich mitten in den schwarm Der Walzenden mit ihm hineinzutreiben. In kurzem ist ganz Tunis in allarm, Und niemand kann auf seiner stelle bleiben: Selbst podagra, und zipperlein, und gicht Und todeskampf befreyt von dieser Tanzwut nicht.

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64.

Indessen, ohne auf das possenspiel zu blicken, Hält das getreue Paar, in seligem Entzücken, Sich sprachlos lang’ umarmt. Kaum hat ihr busen raum Für diesen überschwang von freuden. Er ist nun ausgeträumt der prüfung schwerer traum! Nichts bleibt davon als was ihr glük verschönt. Gebüßt ist ihre schuld, das Schiksal ausgesöhnt, Aufs neu von ihm vereint, kann nun sie nichts mehr scheiden!

65.

Theilnehmend inniglich, sieht, noch auf seinem roß, Der biedre Scherasmin (er war der schwarze Ritter) Der Wonne zu, worinn ihr herz zerfloß. Er ists, der wie ein ungewitter Vorhin dahergestürmt, um das geliebte Paar Zu retten aus der feigen Mohren händen, Und, schlügs ihm fehl, ein leben hier zu enden, Das, ohne sie, ihm unerträglich war.

66.

Er springt herab, drängt durch den tollen reigen Mit Fatme, die ihm folgte, sich hinan, Den Liebenden von ihrem Throne steigen Zu helfen, und sie im Triumfe zu empfahn. Groß war die freude — Doch, sie schwoll noch höher an, Da sie den wohlbekannten Wagen, Von Schwanen, durch die luft, stets niedriger, getragen, Zu ihren füßen nun auf einmal halten sahn.

67.

Sie stiegen eilends ein — Die Mohren mögen tanzen So lang es Oberon gefällt! (Wiewohl der Alte raspeln oder schanzen Für eine beßre kurzweil hält.) Der lüftge Faeton fliegt, leicht und ohne schwanken, Sanft wie der schlaf, und schneller als gedanken, Mit ihnen über land und meer, Und silberwölkchen wehn, wie fächer, um sie her.

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68.

Schon tauchte sich auf bergen und auf hügeln Die Dämmerung in ungewissen duft; Schon sahen sie den Mond in manchem see sich spiegeln, Und immer stiller wards im weiten Reich der luft; Die Schwanen ließen izt mit sinkendem gefieder Allmählich sich bis auf die erde nieder: Als plözlich, wie aus abendrot gewebt, Ein schimmernder Pallast vor ihren Augen schwebt.

69.

In einem lustwald, mitten zwischen Hochaufgeschoßnen vollen rosenbüschen, Stand der Palast, von dessen wunderglanz Der stille hayn und das gebüsche ganz Durchschimmert schien — Wars nicht an diesem orte, Spricht Hüon leis’ und schaudernd — Doch, bevor Ers ausspricht, öfnet schnell sich eine goldne Pforte, Und zwanzig Jungfraun gehn aus dem palast hervor.

70.

Sie kamen, schön wie der May, mit ewigblühenden wangen, Gekleidet in glänzendes Lilienweiß, Die Erdenkinder zu empfangen Die Oberon liebt. Sie kamen tanzend, und sangen Der reinen Treue unsterblichen Preis. Komm, sangen sie (und goldne zymbeln klangen In ihren süßen gesang, zu ihrem lieblichen tanz) Komm, trautes Paar, empfang den schönen Siegeskranz!

71.

Die Liebenden — sich kaum besinnend — in die wonne Der andern Welt verzükt — sie wallen, hand in hand, Den doppelreyhen durch: als, gleich der Morgensonne In ihrem Bräut’gamsschmuk, der Geist vor ihnen stand. Nicht mehr ein schöner Zwerg, ein Knäblein, wie er ihnen In lieblicher verkleidung sonst erschienen — Ein Jüngling, ewig schön und ewigblühend, stand Der Elfenkönig da, den Ring an seiner hand.

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72.

Und ihm zur seite glänzt, mit ihrer rosenkrone Geschmükt, Titania in milderm Mondesglanz. In beyder Rechten schwebt ein schöner myrtenkranz. Empfange, sprechen sie mit liebevollem tone, Du treues Paar, zum edeln Siegeslohne, Aus deiner Freunde hand den wohlverdienten Kranz! Nie wird von euch, solang ihr dieses zeichen Von unsrer Liebe bewahrt, das Glük des Herzens weichen.

73.

Kaum daß das lezte wort von Oberons lippen fiel, So sah man aus der luft sich eine wolke neigen, Und aus der wolke schoos, bey goldner harfen spiel, Mit lilien vor der brust, drey Elfentöchter steigen. Im arm der dritten lag ein wunderschöner Knab, Den sie, auf ihren knie’n, Titanien übergab. Süßlächelnd bükt zu ihm die Königin sich nieder, Und giebt, mit einem kuß, ihn seiner Mutter wieder.

74.

Und, unterm jubelgesang der Jungfraun, die in Reyhn Vor ihnen her den weg mit rosen überstreun, Ziehn durch die weite goldne pforte Die Glüklichen hinein in Oberons Freudenhaus. Was sie gesehn, gehört, an diesem schönen orte, Sprach ihre zunge niemals aus; Sie sahn nur himmelwärts, und freudenthränen brachen Aus ihren augen aus, so oft sie davon sprachen.

75.

In einen sanften schlaf verlohr sich wonniglich Der sel’ge Traum. Und mit dem Tage fanden Sie beyde, Arm in Arm, wie neugeboren, sich Auf einer bank von moos. Zu ihrer seite standen, Reich aufgeschmükt, vier wunderschöne pferde, Und ringsum lag, bey hauffen, im gebüsch Ein prächtig schimmerndes gemisch Von waffen, schmuk und kleidern auf der erde.

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76.

Herr Hüon, dem das herz von freude überfloß, Wekt seinen Alten auf; Amande Sucht ihren Sohn, der noch auf Fatmens schoos Sanftschlummernd lag. Sie sehn sich um. Wie groß Ist ihr Erstaunen! — Herr, in welchem lande Glaubt ihr zu seyn? ruft Scherasmin entzükt Dem Ritter zu — Kommt, seht von diesem stande Nach westen hin, und sagt, was ihr erblikt?

77.

Der Ritter schaut hinaus, und traut Dem anblik kaum. — Er, der so viel erfahren, Und dessen augen so gewöhnt an wunder waren, Glaubt kaum was er mit augen schaut. Es ist die Sein’, an deren bord sie stehen! Es ist Paris, was sie verbreitet vor sich sehen! Er reibt sich aug und stirn, schaut immer wieder hin, Und ruft: ists möglich, daß ich schon am ziele bin?

78.

Nicht lange schaut er hin, vor freude ganz betroffen, So stellt sich ihm ein neues Schauspiel dar. Ihm däucht, daß alles um die Burg in aufruhr war, Man hört trompetenschall, und eine Ritterschaar Trabt dem turnierplaz zu, die schranken stehen offen. Mein glük, ruft Hüon, läßt mein hoffen Stets hinter sich. Geh, Freund! wofern nicht alles mich Betrügt, giebt’s ein Turnier; geh, und erkund’ge dich.

79.

Der Alte geht. Inzwischen wird Amande Von Fatmen angekleidt. Denn, was sie haben muß Sich mit dem glanz, der ihrem hohen Stande Und ihrer schönheit ziemt, in diesem fremden lande Zu zeigen, fanden sie im reichsten überfluß Gehäuft zu ihren füßen liegen. Herr Hüon läßt indeß, mit manchem Vaterkuß, Den kleinen Hüonnet auf seinem knie sich wiegen.

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80. Und sieht, mit inniglicher lust, Das schöne Weib, durch alles fremde Zieren Und Schimmern nichts gewinnen noch verlieren. Ob eine rose ihre brust Umschattet, ob ein strauß von blitzenden juwelen In glanz sie hüllt — stets durch sich selber schön Und liebeathmend, scheint durch Den Ihr nichts geliehn, bey Jener nichts zu fehlen. 81.

Der Alte kommt izt mit der nachricht an, Drey tage sey bereits der Schranken aufgethan. Karl (spricht er) immer noch durch seinen groll getrieben, Hat ein Turnier im Reiche ausgeschrieben; Und rathet, welchen Dank der Sieger heut’ erhält? Nichts kleiners, Herr, als — Hüons Land und Lehen! Denn, euch aus Babylon mit ruhm gekrönt zu sehen, Ist was dem Kayser nicht im schlaf zu sinne fällt.

82. Auf, wafne mich, ruft Hüon voller freuden, Willkomner konnte mir kein’ andre botschaft seyn. Was die Geburt mir gab, sey nun durch Tugend mein! Verdien’ ich’s nicht, so mag’s der Kayser dem bescheiden Der’s würdig ist! — Er sagt’s, und siehet Rezia Ihm lächelnd stillen beyfall nicken. Ihr Busen klopft ihm Sieg! — In wenig augenblicken Steht glänzend schon ihr Held in voller rüstung da. 83.

Sie schwingen sich zu pferd, die Ritter und die Frauen, Und ziehen nach der Stadt; und allenthalben schauen, Vor ihrer pracht entzükt, die Leute nach, und wer Die gassen müßig tritt, läuft hinter ihnen her. Bald langt mit Rezia Herr Hüon vor den planken Der stechbahn an. Er läßt, nachdem er sich bey ihr Beurlaubt, Scherasmin zu ihrem schützer hier, Zieht sein Visier herab, und reitet in die schranken.

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84. Ein lautes lob verfolgt von beyden seiten ihn, Ihn, der an anstand und an stärke Den Besten, die der ritterlichen werke Bisher gepflegt, weit überlegen schien. Scheelsehend stand am ziel, auf seinem stolzen roß, Der Ritter, der in diesen dreyen tagen Des Rennens preis davon getragen, Und mit den Fürsten sah der Kayser aus dem Schloß. 85.

Herr Hüon neigt, nach ritterlicher weise, Sich vor dem Kayser tief, dann vor den Damen und Den Richtern — tummelt drauf im kreise Den muth’gen hengst herum, und macht dem Sieger kund Daß er gekommen sey, den Dank ihm abzujagen. Er sollte zwar erst Stand und Namen sagen; Allein sein schwur, daß er ein Franke sey, Und seines aufzugs pracht, macht vom gesez ihn frey.

86.

Er wiegt und wählt aus einem hauffen speere Sich den, der ihm die meiste schwere Zu haben scheint, schwingt ihn mit leichter hand, Und stellt, voll zuversicht, sich nun an seinen stand. Wie klopft Amandens herz! Wie feurige gebete Schikt sie zu Oberon und allen Engeln ab, Als izt die schmetternde trompete Den Ungeduldigen zum rennen urlaub gab!

87.

Dem Ritter, der bisher die Nebenbuler alle Die Erde küssen hieß, schwillt mächtiglich die galle, Daß er gezwungen wird, auf diese neue schanz Sein glük und seinen ruhm zu setzen. Er war ein Sohn des Doolin von Maganz, Und ihm war lanzenspiel kaum mehr wie hasenhetzen. Er stürmet, wie ein stral aus schwarzer wolken schoos, In voller wut, auf seinen gegner los.

O b e r o n¼.½ V i e r z e h n t e r G e s a n g

239

88.

Doch, ohne nur in seinem siz zu schwanken, Trift Hüon ihn so kräftig vor die brust, Und wirft mit solcher macht ihn seitwärts an die planken, Daß alle rippen ihm von seinem fall erkranken. Zum kampf vergeht ihm alle weitre lust. Vier Knappen tragen ihn ohnmächtig aus den schranken. Ein jubelnd Siegsgeschrey prallt an die wolken an, Und Hüon steht allein als Sieger auf dem plan.

89.

Er bleibt am ziel noch eine weile stehen, Ob jemand um den Dank noch kämpfen will, zu sehen; Und da sich niemand zeigt, eilt er mit schnellem trab Amanden zu, die, hoch auf ihrem schönen rosse, Wie eine Göttin glänzt, und führt sie nach dem Schlosse. Sie langen an. Er hebt gar höflich sie herab, Und führt sie, unter stetem Vivat rufen Des Volks, hinauf, die hohen marmorstufen.

90. Wie eine Silberwolk umwebt Amandens angesicht ein undurchsichtger schleyer, Durch den sich jedes aug umsonst zu bohren strebt. Voll ungeduld, wie sich dies Abenteuer Entwickeln werde, strömt die Menge, ohne zahl, Dem edlen Paare nach. Izt öfnet sich ein Saal; Hoch sizt auf seinem Thron, von seinem Fürstenrathe Umringt, der alte Karl in Kayserlichem staate. 91.

Herr Hüon nimmt den Helm von seinem haubt, Und tritt hinein, in seinen schönen locken Dem Gott des Tages gleich. Und alle sehn erschrocken Den Schnellerkannten an. Der alte Karlmann glaubt Des Ritters Geist zu sehn. Und Hüon, mit Amanden An seiner hand, naht ehrerbietig sich Dem Thron, und spricht: Mein Lehnsherr! Siehe mich, Gehorsam meiner pflicht, zurük in deinen Landen!

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

92. Denn, was du zum Beding gemacht Vor meiner wiederkehr, mit Gott hab ichs vollbracht! In diesem kästchen sieh des Sultans Bart und Zähne, An die, o Herr, nach deinem wort, ich Leib Und Leben aufgesezt — und sieh, in dieser Schöne, Die Erbin seines throns, und mein geliebtes Weib. Mit diesem worte fällt von Reziens angesichte Der schleyer ab, und füllt den Saal mit neuem lichte. 93.

Ein Engel scheint, in seinem himmelsglanz, (Gemildert nur, damit sie nicht vergehen,) Vor den Erstaunten dazustehen: So groß, und doch zugleich so lieblich anzusehen, Glänzt Rezia, in ihrem myrtenkranz Und silbernen gewand. Die Königin der Feen Schmiegt ungesehen sich an ihre Freundin an, Und alle Herzen sind ihr plözlich unterthan.

94.

Der Kayser steigt vom Thron, heist freundlich sie willkommen An seinem Hof. Die Fürsten drängen sich Um Hüon her, umarmen brüderlich Den edeln jungen Mann, der glorreich heimgekommen Von einem solchen zug. Es stirbt der alte groll In Karlmanns brust. Er schüttelt liebevoll Des Helden hand, und spricht: Nie fehl’ es unserm Reiche An einem Fürstensohn, der dir an Tugend gleiche!

O b e r o n¼.½ V i e r z e h n t e r G e s a n g

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Druckfehler. Vierter Gesang. Stanze 22. Vers 1. leset: g e s o g e n anstatt gesehen.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang März 1780)

Der Teutsche Merkur vom Jahr 1780. Ihro Römisch-Kayserlichen Majestät zugeeignet. Mit Königl. Preuß. und Churfürstl. Brandenburg. gnädigstem Privilegio.

Zweytes Vierteljahr. Weimar.

Der Teutsche Merkur. April 1780.

Auf den Te u t s c h e n M e r k u r kann man sich, bekanntermaaßen, bey allen L . P o s t ä m t e r n in Teutschland abonniren; auch wird solcher ferner wie bisher in allen Buchhandlungen, und in H a m b u r g auf dem Kayserl. privilegierten Addreß- und Zeitung-Ccomtoir zu haben seyn. Preis des ganzen Jahrgangs. In Weimar 1 Thlr. 16 Ggr. Leipziger Courant. Postfrey durch ganz Teutschland ½ Louisd’or, oder 2 Thlr. 12 Gr. L. C.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende April /Anfang Mai 1780)

Über eine Anekdote von J. J. Rousseau. (an einen Freund.) Wie bald das Publikum die Memoiren des J . J . R o s s e a u , oder die geheime Geschichte seines eigenen Lebens, die dieser ausserordentliche Mann in der Handschrift hinterlassen hat, zu sehen bekommen wird, kann ich Ihnen nicht sagen. Ehmals war mein Verlangen nach diesen Memoiren so ungeduldig als

Ä n eis eëayton von ganz das Ihrige nur immer seyn kann. Ich erwartete ein tv andrer Wichtigkeit als des guten Kaysers M a r c u s A u r e l i u s seines; wenigstens eben so frey und offenherzig wie des weisen Narren C a r d a n o’ s Buch de 10

vita propria, und um ein großes Theil erbaulicher für die gefühlvolle und unterhaltender für die philosophische Klasse von Lesern. Was kann für einen denkenden Menschen, der im ganzen Weltall nichts nähers hat, nichts größers kennt als seine eigene Gattung, interessanter seyn, als von einem Menschen wie Rousseau in das Heiligthum seiner Seele eingeführt, zum Vertrauten seines Selbstbewustseyns gemacht, und zu den Geheimnissen eines Herzens zugelassen zu werden, das in einer Zeit, wo Tugend für die meisten ein leerer Name ist, so voll Glauben an die Tugend, in einer Zeit, wo der Wiz alles zur Wahrheit oder Lüge stempeln darf, so voller Liebe zum Wahren und Guten gewesen war. Wer wollte nicht einen Mann kennen lernen, der mitten im acht-

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zehnten Jahrhundert, mitten in Paris, den Muth hatte, mit dem Wiz und der Wohlredenheit eines Seneca, ein zweyter Epiktet zu seyn — der Muth hatte allen den Vortheilen freywillig zu entsagen, die ihm die seltensten Talente durch einige Gefälligkeit gegen den Geist und die Sitten seiner Zeit hätten verschaffen können — einen Mann der es wagen durfte sich allen Folgen der P a r a d o x i e auszusetzen in einem Zeitalter wo ein freyer, wahrer und guter Mensch selbst das gröste Paradoxon ist; wo conventionelle Begriffe alles entscheiden, wo sogar Augen und Ohren bestochen sind immer auf die Seite der Mode zu stimmen, und nichts für schön gilt w e i l e s s c h ö n i s t , sondern weil es für die nächsten acht Tage d a z u e r w ä h l t i s t , kurz, wo reine Wahrheit,

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reiner gerader Menschensinn, dem feinern Theil der Welt oft lächerlich, und immer anstößig ist — einen Mann der ohne jemand zu beleidigen, noch etwas

Über eine Anekdote von J. J. Rousseau

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von den Menschen zu verlangen, unter denen er lebte, bloß dadurch mit jedermann in Collision kam, weil er nach seinem eignen Herzen lebte und nach seiner innern Überzeugung schrieb; einen Verehrer des Christenthums, den alle Religionspartheyen von sich stießen, einen Philosophen, der allen Philosophen, einen freydenckenden Mann, der allen Freygeistern, einen frommen Mann, der allen Andächtigen verhaßt war — einen Mann den alle Welt viele Jahre durch verfolgte, verlästerte, verdammte und verbannte, ohne einen andern Grund angeben zu können, als weil er in seinem Leben das war, was man nun nach seinem Tode bewundert und was sein Andenken izt selbst der Nation, die ihn einst verkannte, ehrwürdig macht — kurz einen Mann, den man vor

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10 Jahren gekreuzigt haben würde, wenn kreuzigen noch Mode wäre, und zu dessen Grabe man izt wallfahrtet — wer wollte einen solchen Mann nicht kennen lernen? nicht von ihm selbst hören, mit was für Anlagen, durch was für Umstände, durch welche Stufen und geheime Entwiklungen, mit welchen Gefahren, Aufopferungen, Kämpfen, Abwechselungen von moralischem Gewinn und Verlust, u. s. w. er das geworden, was er war? Wie lehrreich, wie interessant muß es seyn, diesen Mann seinen Zeitgenossen und allen folgenden Jahrhunderten, mit jener ihm so ganz eigenen Freymüthigkeit, mit jener alle Eitelkeit und Selbstheit überwiegenden Wahrheitsliebe die geheime Geschichte seines Lebens, das zarte Gewebe der Entwiklungen seines Geistes

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und Herzens, die unverfälschte Geschichte seiner Erfahrungen und Wahrnehmungen, seiner Verirrungen, Fehler und Tugenden, seiner Leiden und Freuden, kurz die Geschichte nicht dessen was er s c h i e n , oder g e r n e g e w e s e n w ä r e , sondern was er wirklich in seinem eignen Bewustseyn w a r , erzählen zu hören! So dacht ich ehmals mit Ihnen, und hätte gerne (mit Ihrer Erlaubniß) alle philosophische Werke des leztverwichnen Jahrzehents darum gegeben, Rousseaus Memoiren nur einen Tag früher lesen zu können. Aber, ich gestehe Ihnen unverhohlen, seitdem ich die unselige A n e k d o t e v o n J . J . R o u s s e a u im ersten Stück der Ephemeriden der Menschheit vom Jahre 1 7 8 0 gesehen habe, hat sich meine Ungeduld mächtig abgekühlt; und ich fürchte mich izt, aus aufrichtiger Theilnehmung an der Ehre der Menschheit, eben so sehr vor der Bekanntmachung der geheimen Beichte, welche dieser ausserordentliche Mann von seinem Leben hinterlassen haben soll, als ich solche vormals beschleunigt zu sehen wünschte. Welch eine Anekdote, großer

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Gott! Und was wird aus dem moralischen Nutzen der Schriften und des Beyspiels des weisesten und tugendhaftesten Mannes unsrer Zeit (wofür ihn so viele gehalten haben) werden, wenn er uns — wie nach einer solchen Probe nur allzusehr zu besorgen ist — noch mehr dergleichen geheime Geschichtchen zu vertrauen hat? Alle die erbaulichen Betrachtungen und Nutzanwendungen, womit der vortrefliche Herausgeber der Ephemeriden diese Anekdote begleitet, und wodurch er das darinn liegende Gift unschädlich zu machen gehoft hat, können und werden dem ersten Eindruk einer so abscheulichen That weder zuvorkommen (denn die Anekdote geht vorher) noch den einmal ge10

machten Eindruk jemals wieder auslöschen können. Und wem kann die Beschaffenheit der menschlichen Natur so unbekannt seyn, daß er nicht wissen sollte, was die Folgen dieses Eindruks bey dem größern Theil der Leser, zumal der jungen Leser der Rousseauischen Schriften seyn müssen? Die Menschen sind nun einmal so gemacht. — Der reiche Seneca, der mit dem Vermögen eines Generalpachters verächtlicher vom Reichthum spricht, als Epiktetus selbst, wird uns nie überzeugen; und der Mann, von dem man weiß, daß er sich von einer H** loßgeschworen hat, wird nie mit Frucht von der Keuschheit predigen. Wir wollen, daß der Lehrer der Tugend selbst untadelich sey. Wir verzeyhen ihm (und auch dies nicht gerne)

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Schwachheiten, Übereilungen, Mißtritte; aber es giebt Laster, deren uns kein guter Mensch fähig zu seyn scheint; und der widrige Eindruk, den eine mit Falschheit und Grausamkeit verbundne überlegte Schandthat auf das allgemeine natürliche Gefühl macht, ist unauslöschlich. Und er muß um so stärker seyn, wenn man bedenkt, daß diese schwarze That in einem Alter begangen wurde, wo die Menschen sonst am besten sind; wo das Herz am weichsten, das Gefühl am zartesten ist, und alle die Triebe, die unsrer Seele zu Wächtern und Schutzengeln ihrer Unschuld gegeben sind, noch mit ihrer ursprünglichen vollen Kraft wirken. Wer in d i e s e m Alter einer überlegten Bosheit, einer Lüge, von der er weiß, daß sie einen Unschuldigen unglücklich

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machen wird, fähig ist, ist ein hassenswürdiges Geschöpf; das allgemeine Menschengefühl spricht das Urtheil über ihn: daß er ein äußerst boshaftes Herz haben müsse; man fühlt sich geneigt, ihn, um einer einzigen solchen Handlung willen, der Giftmischerey, des Vatermords, und jeder andern Unmenschlichkeit fähig zu halten; und von diesem Augenblik an ist es um alles moralische Gute geschehen, das ein solcher Mensch als Schriftsteller, als Sit-

Über eine Anekdote von J. J. Rousseau

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tenlehrer, als Zeuge und Beyspiel der Wahrheit und Tugend hätte wirken können. Ich frage einen jeden, der sich von seinen eignen innersten Gefühlen Rechenschaft geben kann — wenn er sich z. B. den S o k r a t e s von Jugend an als den weisesten und tugendhaftesten Mann seiner Zeit gedacht, und sich (wie bey den meisten, die einige Erziehung genossen haben, der Fall seyn wird) an diese Vorstellungsart nun einmal gewöhnt hat — ich frage, wie wird ihm zu Muthe, wenn er ließt; der Physiognomist Zopyrus, der (ohne zu wissen, daß der Mann, den er vor sich hatte, Sokrates war) befragt wurde, was er, nach seiner Physiognomie, von ihm halte, habe geurtheilt, daß er nichts bessers, als

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e i n d e r U n z u c h t u n d d e m Tr u n k e r g e b n e s B r u t u m sey? — Die Rede ist hier nicht, ob und wiefern aus dieser Anekdote Einwürfe gegen die Zuverläßigkeit der Physiognomik gemacht werden können — ein Punkt, welchen L a v a t e r , wie mich däucht, in seinem VIIIten Fragment, bis zur völligsten Befriedigung erörtert hat — sondern bloß davon, ob nicht bey jedem, der die besagte Anekdote in seinem Cicero ( d e F a t o c. 5.) oder anderswo gelesen hat, sogleich eine widrige unangenehme Empfindung und der Gedanke entstehe: es sey nicht wahr! Sokrates könne nicht so ausgesehen haben; Zopyrus habe sich entweder schlecht auf die Physiognomik verstanden, oder die ganze Erzählung sey eins von den albernen Mährchen, deren das lügenvolle Grie-

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chenland so viele auf Unkosten ihrer Weisen ausgehekt? — Und ich frage ferner: ob nicht eine Antwort, welche Sokrates (nach dem Zeugnis des Philosophen A l e x a n d e r v o n A p h r o d i s i a s ) gegeben haben soll: „er sey alles das, was Zopyrus von ihm sage, v o n N a t u r gewesen, und bloß durch die Philosophie zu einem bessern Manne gemacht worden“ einen n o c h w i d r i g e r n Eindruk auf uns macht, als selbst das physiognomische Urtheil des Zopyrus? Ob es uns nicht unangenehm und beynahe unmöglich ist, uns den Sokrates als einen Mann zu denken, der v o n N a t u r , und wenn ihn die Zauberin Philosophie nicht umgeschaffen hätte, ein viehischer Kerl gewesen wäre? — Und, falls wir uns genöthigt sähen, die historische Wahrheit der Erzählung anzuerkennen, ob Sokrates durch dieses Geständnis nicht einen großen Theil unsrer Achtung und unsers Glaubens an seine Tugend verliehren würde? — Und gleichwohl sind die n a t ü r l i c h e n Laster, zu denen er sich, vermöge dieser Anekdote bekannt haben soll, nicht (wie jenes dessen sich Rousseau selbst angeklagt) von der schwarzen Art, die unsern ganzen innern

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Menschen empört, und uns an einem Wesen unsrer Gattung so unnatürlich dünkt, daß wir sie nur mit einer durchaus bößartigen t e u f l i s c h e n N a t u r ohne Mühe zusammendenken können! Ich gestehe Ihnen, daß ich mich mit dieser Vorstellung, beym ersten Anblik der Rousseauischen Anekdote, in eine Verlegenheit gestürzt sah, aus der ich mir nicht anders zu helfen wußte, als mir die Wahrheit des Facti geradezu wegzuläugnen. „Es k a n n nicht wahr seyn, rief ich, und ich will es nicht glauben, wenn auch zehntausend Zeugen aufträten, und es aus Rousseaus eignem Munde gehört zu haben versicherten!“ — Allein dieser Unglaube war am Ende 10

doch ein zu schwacher Behelf, als daß ich, bey etwas kühlerm Blute, mich nicht genöthigt fühlen mußte, anzuerkennen, es könnte d o c h wahr seyn, und der merkwürdige Reisende, dem die geheime Geschichte des menschlichen Herzens „ein Gegenstand der ernsthaftesten Betrachtung ist“, könnte doch wohl Glauben verdienen, wenn er versichert, diese häßliche Anekdote in den Rousseauischen Memoiren selbst gelesen zu haben — und er verdiene wirklich um so mehr Glauben, da es ihm anfangs damit ergangen war wie mir auch, und „sein Herz sich bey Erzählung dieser Anekdote so empört hatte, daß er sich geneigt gefunden, sogar die Existenz der Memoiren zu bezweifeln.“ Sie begreiffen nun leicht, wie mir zu Muthe werden mußte, da ich mir den

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einzigen Ausweg abgeschnitten sah, auf dem ich der abscheulichen Association zweyer so unverträglicher Ideen, wie R o u s s e a u und ein B ö s e w i c h t , entfliehen konnte. Die Traurigkeit, die mich überfiel, hatte etwas schmerzhafters als ich Ihnen zu beschreiben im Stande bin. Nicht als ob es mir just um J. J. Rousseau selbst so sehr zu thun gewesen wäre, mit dem ich, wie Sie wissen, niemals in einiger Verbindung gestanden. Aber es schmerzte mich um des schwarzen Schattens willen, den es nicht nur (nach Hrn. B. Ausdruk) auf die Jugendgeschichte dieses d e n n o c h g r o ß e n Mannes, sondern auf seinen ganzen Charakter, und auf die wohlthätigsten seiner Schriften wirft. Was hilft uns daß Rousseau dennoch ein g r o ß e r Mann war, wenn er nicht ein g u t e r Mann

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war? Es kränkte mich um der Menschheit willen, für deren Zierde ich ihn gehalten hatte. Es kränkte mich, daß für die Leute, die nicht an die Tugend glauben, ein Beyspiel w e n i g e r in der Welt seyn sollte, welches sie, auch wider ihren Willen, genöthigt hatte h e i m l i c h z u g l a u b e n u n d zu zittern. Nur die durch Eifersucht vergiftete Liebe hat die Art, alles begierig aufzuraffen, was den Eifersüchtigen in einem Argwohn besteifen kann, dessen Ge-

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wisheit er doch für sein größtes Unglük hält. Er fürchtet sich vor der schaudervollen Entdeckung, und hat doch keine Ruhe in seinen Gebeinen, bis er sie gemacht hat. Da dies hier nicht mein Fall seyn konnte: so fieng ich an, mich auf allen Seiten nach einem Schimmer von Möglichkeit umzusehen, die That, die ich nun nicht länger läugnen konnte, auf eine nur einigermaaßen l e i d l i c h e Art zu erklären, mir wenigstens nur in etwas begreiflich zu machen, wie ein Mann wie Rousseau, in seiner Jugend, dazu habe kommen können, sie zu begehen. Natürlicherweise war izt mein erster Gedanke die Anekdote noch einmal und mit kälterm Blute, als es das erstemal möglich war, durchzulesen; und da

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mußte mir dann freylich in die Augen leuchten, daß der A b s c h e u , von dem sich das tugendhafte und menschenfreundliche Herz des Erzählers beym Anblik einer so auffallend häßlichen Handlung durchdrungen fühlte, vermuthlich unvorsetzlicherweise, sich in die Erzählung selbst ergossen — und daß er sie also nicht mit der philosophischen Kälte, welche Lucian mit so vielem Recht von jedem Geschichtserzähler fodert, und welche hier ganz vorzüglich nöthig war, sondern mit der Wärme eines gefühlvollen Sittenpredigers, und beynahe möcht ich sagen, in dem Ton eines Advokaten, der die Sache des beleidigten Mädchens vor Gericht zu führen gehabt hätte, vorgetragen habe. Urtheilen Sie selbst! Hier ist die Erzählung, wie sie in den Ephemeriden zu

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lesen ist, von Wort zu Wort. „Rousseau entwendete in seinen jüngern Jahren einem vornehmen Manne, in dessen Hause er sich befand und zum Theil erzogen ward, ein prächtiges mit Gold gestiktes Band. Das Band wurde bald vermißt. Man faßte Verdacht wider Rousseau; man stellte Untersuchungen an, und war wirklich soweit gekommen es bey ihm zu entdecken. Man stellte ihn darüber zur Rede; aber er verantwortete sich mit einer Dreistigkeit, d i e o f t e b e n s o g u t d i e L a r v e eines s i c h e r n B ö s e w i c h t s als das G e s t ä n d n i ß d e r r u h i g e n U n s c h u l d ist. Rousseau schien wegen des wider ihn gehabten Verdachts ganz befremdet, sagte mit ü b e r z e u g e n d e r Gelassenheit aus, er habe das Band von einem Dienstmädchen des Hauses, welches sich Mariane nennte, zum Geschenk erhalten, und bürdete also dieses Laster derjenigen auf, die er liebte, und der er das nemliche Band zugedacht hatte, v i e l l e i c h t u m s i e d a durch zu unedeln Gunstbezeugungen geneigt zu machen ; denn eine so lasterhafte Handlung hätte sich sonst unmöglich mit ei-

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n e r t u g e n d h a f t e n L i e b e v e r t r a g e n k ö n n e n . Mariane ward also des Diebstals beschuldigt, und Rousseau k o n n t e s o s e h r B ö s e w i c h t s e y n , seine Aussage gegen sie ihr ins Gesicht zu bestättigen. „Das arme unschuldige Mädchen, d a s v i e l l e i c h t die e d e l s t e n E m p f i n d u n g e n f ü r R o u s s e a u g e f ü h l t h a t t e , stand da wie vom Blitz gerührt; ihr Gesicht erblaßte, sie zitterte am ganzen Körper; ihre Wehmuth brach in Thränen aus, ihre schluchzende Stimme stammelte einige schwache Entschuldigungen und Versicherungen ihrer Unschuld *). Aber das half nichts. Mariane ward verkannt. Ihres s c h u l d l o s e n Herzens Äusserungen von n a m e n l o s e m Erstaunen und 10

Entsetzen wurden für untrügliche Merkmale eines überführten und strafbaren Gewissens angenommen. Rousseau sah Marianen leiden und schwieg. Die Bosheit siegte und die Unschuld ward gänzlich zu Boden ged r ü k t . Das u n g l ü k l i c h e Dienstmädchen w u r d e mit S c h i m p f u n d S c h a n d e b e l e g t , u n d sogleich aus dem Hause gejagt. E s h a t a l s d a n n niemand mehr erfahren, wo sie hingekommen noch was aus ihr geworden ist.“ Erlauben Sie mir zuförderst etliche Bemerkungen über diese Erzählung und die Art des Vortrags. Fürs e r s t e fällt sogleich in die Augen, daß die Erzählung nicht ganz un-

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mittelbar und lauter, ohne Beymischung fremder Zusätze, aus der Q u e l l e , nemlich aus Rousseaus Memoiren selbst, geflossen. Sie ist nicht daraus a b g e s c h r i e b e n ; sondern scheint aus einem nicht mehr ganz getreuen Gedächtniß erzählt, und schon durch mehr als Einen Mund, oder mehr als Eine Feder gegangen zu seyn. Daher die beyden v i e l l e i c h t , welche wohl schwerlich in einer reinen und simpeln Geschichtserzählung zu billigen sind, und hier einen desto schlimmern Effect machen, da sie offenbar dazu dienen, weichmüthige Leser noch mehr für die leidende Mariane einzunehmen, und wider den jungen B ö s e w i c h t Rousseau aufzubringen. Z w e y t e n s ist nicht aus der Acht zu lassen, daß w i r von Marianens Un-

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schuld keinen andern Beweis haben, als R o u s s e a u s S e l b s t a n k l a g e und freywilliges Bekenntniß. Wäre dieses nicht da, so möchten alle die rührenden Farben und Ausdrücke, womit das Bild dieses Mädchens und ihres unglükli*)

Ein rührendes Gemählde! aber auch alles dies ist bey Kreaturen dieser Art oft eben so gut

die Wirkung der überraschten Schuld als der verschüchterten Unschuld.

Über eine Anekdote von J. J. Rousseau

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chen Schiksals ausgemahlt ist, gebraucht worden seyn, und Mariane könnte doch die Diebin gewesen seyn. Ein französischer Sachwalter, der die Vertheidigung einer s c h u l d i g e n M a r i a n e , unter den nemlichen Umständen, übernommen hätte, würde sich eben dieser Farben, eben dieser schönen und herzrührenden Prosopopöie bedient haben, um die Richter zu ihrem Vortheil einzunehmen. Der getreue und ganz unpartheyische Geschichtserzähler hätte sich also entweder dieser Farben und Figuren gänzlich enthalten, oder D r i t t e n s auch dem sich selbst anklagenden Rousseau gleiche Gunst wiederfahren lassen, und uns mit eben so starken und rührenden Bildern das Schrekliche S e i n e r Lage schildern sollen — Seine Bangigkeit am Rande des

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Abgrunds, in welchen er durch eine einzige leichtsinniger- und unüberlegterweise begangne Sünde zu stürzen, so nahe war — den entsetzlichen, vielleicht mit Höllenquaalen verbundnen Kampf, in seiner Seele zwischen dem, was einem edeln Gemüthe das Schreklichste ist, F u r c h t v o r S c h a n d e und Ve r n i c h t u n g s e i n e r g a n z e n m o r a l i s c h - b ü r g e r l i c h e n E x i s t e n z , und dem natürlichen Abscheu vor dem Gedanken, sich auf Kosten einer armen Unschuldigen zu retten, ja, ein Mädchen, d a s e r l i e b t e , zum Schlachtopfer für seine Selbsterhaltung zu machen. Ich, meines Orts, gestehe, daß ich mir keinen entsetzlichern Gemüthszustand zu denken weiß, als denjenigen, worinn ein Mensch, wie Rousseau, in dieser Klemme zwischen zwey s o l c h e n

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wider einander drückenden Gewichten seyn mußte — und es war um so billiger, daß der Erzähler auf diesen gewiß höchst n a t ü r l i c h e n und zur Sache gehörenden Umstand hätte Rüksicht nehmen sollen, da V i e r t e n s der arme Rousseau s e i n e i g n e r A n k l ä g e r , d. i. zugleich Kläger und Beklagter, und also alles Schutzes, aller Vertheidigung, welche die Gesetze sonst dem Beklagten angedeyhen lassen, beraubt ist; folglich auf unsrer Seite eine Art von P f l i c h t d e r M e n s c h l i c h k e i t obwaltet, uns seiner g e g e n i h n s e l b s t anzunehmen. Ich will izt diesen Gedanken nicht so weit treiben, als er sich, wenn es hier nicht bloß um reine Wahrheit zu thun wäre, treiben ließe. Aber wir können uns doch nicht enthalten zu denken, daß ein Mensch — und, was die Sache noch viel bedenklicher macht, ein Mensch, w i e R o u s s e a u , ein Mann von so feuriger Einbildungskraft, von so zartem und gleichsam wundem Gefühl, ein so sonderbarer, so paradoxer, dabey so äusserst h y p o c h o n d r i s c h e r Mann — der sich selbst eines schändlichen und grausamen Verbrechens beschuldigt, mehr als irgend ein andrer eines Advo-

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caten bedarf, der alles geltend mache, was dem sich selbst verlassenden, sich selbst h a s s e n d e n , und also nichts weniger als unpartheyischen Beklagten zum Vorstand gereichen, und seine Schuld, wo nicht heben, doch in etwas erleichtern kann. Aber so sehr hatte sich der Abscheu vor der That selbst (ein an sich höchst löblicher Affect, und dessen Übermaaß also auch leicht zu verzeihen ist) und das Mitleiden mit der armen Mariane (an deren statt ihn seine Einbildung, wie es scheint, ein gar rührendes I d e a l unterschob) so sehr hatte sich dieser doppelte Affect des Erzählers bemächtigt, daß er, anstatt nur Einen Ausdruk, nur Ein Wort zu Gunsten des armen Rousseau einfließen zu 10

lassen, F ü n f t e n s so gar den Verdacht in uns erwekt, daß R. die schwarze That ohne Kampf mit sich selbst, ohne innerliches Leiden, nicht im Drang der äussersten Noth, worinn sich ein junger Mensch seiner Art sehen kann, sondern mit kaltblütiger Bosheit und mit einer Gleichmüthigkeit, die unter den vorliegenden Umständen mehr teuflisch als s t o i s c h scheinen muß, zu begehen fähig gewesen sey — wie die Ausdrücke: Rousseau k o n n t e s o s e h r B ö s e w i c h t s e y n — Rousseau s a h M a r i a n e n l e i d e n u n d s c h w i e g — d i e B o s h e i t s i e g t e — deutlich genug (däucht mich) zu erkennen geben. Ich glaube also, liebster Freund, daß wir erstlich und vor allen Dingen das

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Factum, worauf doch alles ankommt, von allen fremden nicht dazu gehörigen, oder wenigstens die Sache gar zu e i n s e i t i g vorstellenden Ausdrücken und Einschiebseln, die ich zu solchem Ende (wiewohl ich mir diese Mühe bey Ihnen hätte ersparen können) unterstrichen habe *), r e i n i g e n müssen; und dann möcht es wohl auch Pflicht, nicht gegen Rousseau wenn Sie wollen, aber gewiß Pflicht gegen die M e n s c h h e i t seyn, die a n i h m so gut beleidigt werden kann, als er sie a n M a r i a n e n beleidigte — die Erzählung durch Hinzudenkung alles dessen, was uns eine lebendige und psychologisch-wahre Vorstellung von der Lage, von dem Gemüthszustand, worinn Rousseau die That begangen, geben kann, z u e r g ä n z e n . Sie wird noch immer schwarz genug

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bleiben, um gerechten Abscheu zu erwecken, wenn ich auch alles gesagt habe, was sich, nach m e i n e r Vorstellungsart, nicht sowohl zur Entschuldigung Rousseaus, als zu dem Ende sagen läßt, damit begreiflich werde, wie E r unter d i e s e n Umständen, ohne darum ein hartherziger Bösewicht, ein Teufel in *)

Man hat sie, wie der Leser gesehen hat, hier mit andern Littern abdrucken lassen.

Über eine Anekdote von J. J. Rousseau

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Menschengestalt, ja, (vielleicht) wie er, ohne darum weniger R o u s s e a u zu seyn, eine solche That habe begehen können.“ (Die Fortsetzung und der Beschluß nächstens.)

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende April /Anfang Mai 1780)

Über Eine Anekdote von J. J. Rousseau. (Fortgesezt von Seite 90 des lezten Stüks.) Sie haben, werther Freund, die Anekdote von Rousseau in den Ephemeriden der Menschheit nun selbst gelesen, und Sie geben in einem Ton, worinn ich ein wenig Ironie zu spüren glaube, zu erkennen, daß Sie kaum erwarten könnten, wie ich es machen würde um meinen Clienten (wie Sie sagen) von dem schwarzen Flecken, den er seiner Ehre durch die Offenbarung der abscheulichen Anekdote zugezogen, weis zu waschen. Nicht weis zu waschen, M. Freund, dazu habe ich mich nicht anheischig gemacht! Die Frage soll auch hier nicht 10

seyn, ob S i e oder i c h in dem nemlichen Falle das nemliche gethan, oder uns auf eine ehrlichere Weise aus dem Handel gezogen hätten. Vielleicht ja — wiewohl die gute Meinung, die wir von unsrem eignen Herzen haben mögen, in Rüksicht auf einen besondern Fall, w o r i n n w i r u n s n i e b e f u n d e n , nichts entscheidet — also vielleicht ja, oder, wenn Sie wollen, nicht v i e l l e i c h t , ohne daß wir darum Ursach hätten uns über Rousseau zu erheben. Rousseau war nicht weniger M e n s c h , als irgend einer von denen, die seine That abscheulich finden — noch mehr, Rousseau war gewiß in einem hohen Grade m e h r M e n s c h , d. i. hatte mehr von dem was, in Einem einzigen Individuo vereinbart, den Edelsten und Vollkommensten unsrer Gattung aus-

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machen würde, als neun und neunzig von Hunderten, die über ihn urtheilen. Und doch konnte Rousseau — s o s e h r B ö s e w i c h t s e y n ? — Nicht B ö s e w i c h t , lieber Freund — nur so sehr Mensch! — und ich bitte Sie, ärgern und entsetzen Sie sich nicht über diesen Ausdruk. Es ist der Ausdruk einer durch die Annalen der Menschheit, und die Biographien der besten Menschen (insofern man keine moralischen Romane daraus gemacht hat) längst bestättigten Wahrheit. „Wer ist so weise daß er nicht zuweilen ein Thor sey? wo ist der Tugendhafte der nicht zuweilen lasterhaft handle? —“ sagt einer der tiefsten Kenner und wärmsten Liebhaber der Menschheit die jemals gelebt haben. — Eine aufs äusserste gestiegene Leidenschaft kann jeden Menschen, der nicht

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zu schwach zu einer solchen Leidenschaft ist, auf e i n e n A u g e n b l i k zum

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Unmenschen machen. Aber ein junger Mensch, der aus Furcht der Schande die Handlung eines Bösewichts begeht, ist darum noch kein Bösewicht. „Dieselbe Kraft, die dies Laster hervorgebracht — gebt ihr nur andre Richtung, andre Gegenstände, und sie wird Wundertugenden verrichten *) —“ Ein wahres und wichtiges Wort! Möcht es nur besser erkannt und rechter Gebrauch davon gemacht werden! Ich möchte wohl wünschen, damit wir uns um soviel richtiger in die Lage des jungen Rousseau hineindenken könnten, daß man uns von seinem eigentlichen Alter zur Zeit, da sich diese Begebenheit zutrug, etwas Bestimmteres gesagt hätte. Denn auch das ist doch wahrlich nichts weniger als gleichgültig,

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ob er zwanzig, funfzehn oder zwölf Jahre alt war, als er die böse That begieng. Mir scheint es vermuthlich, daß er noch sehr jung, vielleicht noch unter 14, gewesen; und der Umstand, daß er in dem Hause des vornehmen Mannes, wo er sich damals befand, „ z u m T h e i l e r z o g e n w u r d e , “ ingleichen die Entwendung eines g o l d g e s t i k t e n B a n d e s , um ein Dienstmädchen des Hauses, in welches er verliebt war, damit zu beschenken, ja selbst diese sogenannte Liebe zu e i n e m D i e n s t m ä d c h e n i m H a u s e , scheint dieser Vermuthung keinen geringen Grad von Wahrscheinlichkeit zu geben. Es braucht eben keines großen Aufwands von Einbildungskraft, um zu begreiffen, wie der Instinct in einem jungen Menschen von diesem Alter sich (ohne daß er selbst

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recht wußte was es war) für ein vielleicht ganz artiges, sanftes, junges Dienstmädchen, mit dem er in einem Hause lebte, determiniren konnte. Vielleicht (weil wir uns doch in Ermanglung genauerer Nachrichten mit dergleichen Vielleichts behelfen müssen) spielte der Instinct dem guten Mädchen den nemlichen Streich; eines verführte das andre ohne es zu wollen, ohne zu verstehen was sie fühlten, ohne zu wissen, wohin es sie führen konnte. Kurz, der junge Mensch war dem Mädchen gut, und das Mädchen war dem Jungen gut, ohne daß man nöthig hätte zu vermuthen, daß es Zaubermittel oder besonderer Verführungskünste dazu gebraucht hätte. Der junge Mensch hätte, wie auch dies sehr natürlich ist, dem Mädchen gerne was schenken mögen; und weil er so arm als eine Kirchenratte war, und vermuthlich die Begriffe, die er dreißig oder vierzig Jahre später in seinem Discours sur l’inegalitè entwikkelte, damals schon in ihm keimten, so glaubte er in einem Augenblik von *)

Physiogn. Fragmente IIter Band S. 38.

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Leichtsinn vielleicht nicht sehr unrecht, oder nur ein sehr kleines Sündchen zu thun, wenn er den vornehmen und (wenigstens in s e i n e n Augen) reichen Leuten, bey denen er wohnte, ein g o l d n e s Band — dessen Abwesenheit sie schwerlich vermissen würden, das vielleicht lange ungebraucht in einer Schachtel gelegen — entwendete, um es einem artigen Mädchen zu schenken, bey dem es besser angelegt wäre. Ich will nicht hoffen, daß mich jemand beschuldigen werde, ich wolle dem Diebstahl das Wort reden. Aber, da es hier um eine etwas genauere Erörterung eines nicht unwichtigen moralischen Phänomens zu thun ist, so wird mir doch wohl erlaubt seyn, zu erinnern: daß 10

die Entwendung einer Kleinigkeit dieser Art, und überhaupt jede Zueignung einer Sache die uns gefällt oder die wir gebrauchen können, ohne Rüksicht wessen Eigenthum sie sey, nicht unter diejenigen Verbrechen gehöre, mit denen ein n a t ü r l i c h e r A b s c h e u , ein n a t ü r l i c h e s Gefühl von Unrecht und Schändlichkeit verbunden ist. Im Gegentheil alle Menschen sind (wie man an den Kindern sieht) von Natur geneigt, die ganze Welt mit allem was drinnen ist, für ihr Eigenthum anzusehen; die Heiligkeit des Unterschieds zwischen Mein und Dein, ist ein Sentiment factice, ein Gefühl, das erst durch die Association entsteht, erst durch die Erziehung in den Menschen gebracht wird, so wie jener Unterschied selbst, ohne die Sanction positiver Gesetze, nur etwas

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sehr schwankendes ist. Daher ganz allein kommt es, daß die Einwohner der Südseeinseln, weil sie noch immer in einer Art von Kindheitsstande und auf einer der ersten Stufen des geselligen Lebens stehen, so gutherzig, unschuldig und von aller Übelthätigkeit entfernt sie in andern Stücken seyn mögen, durchaus so schwer dazu zu bringen sind, den Diebstahl für ein Verbrechen zu halten, oder die Idee des Unrechts und der Schande damit zu verbinden. Blos durch diese Association, an welche wir unsre Kinder von der zartesten Jugend an gewöhnen, und gewöhnen m ü s s e n , und durch den Eindruk, den die Verknüpfung der Vorstellungen von Zuchthaus, Halseisen, Staupbesen und Galgen mit dem Wort Diebstahl und jeder Verletzung der Eigenthumsrechte na-

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türlicherweise auf ihre Einbildungskraft macht, bringen wir es dahin, sie von der otahitischen Gleichgültigkeit gegen diese Rechte ab zu gewöhnen; und es ist daher begreiflich, wie sogar Kinder aus den höhern Klassen der Gesellschaft, bey denen dieser Theil der Erziehung zufälligerweise verabsäumt worden, oder welche nie Gelegenheit gehabt, von der Unverletzlichkeit des Eigenthums eines andern sehr tiefe sinnliche Eindrücke zu bekommen (ein Fall der,

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wenigstens zur Seltenheit, begegnen kann) selbst in dem Alter, worinn wir uns hier den jungen Rousseau denken, und ungeachtet sie freylich das Gebot D u s o l t n i c h t s t e h l e n , oft gehört und hergebetet haben, gleichwohl, ohne darum ein bösartigeres Herz zu haben als andre, sich wenig Bedenken machen werden, in einem Hause wo sie erzogen worden, und daher gewohnt sind tausend Dinge, deren Gebrauch ihnen freysteht, als ihr Eigenthum zu betrachten, etwas Eßbares, oder ein Band, oder eine andre solche Kleinigkeit sich heimlich zuzueignen, wenn sie große Lust dazu haben, und sich einbilden, daß die Entwendung unentdekt bleiben werde. Doch wozu halte ich mich so lange bey diesem Umstand auf? Der junge

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Rousseau that unstreitig sehr unrecht daran, daß er das goldgestikte Band entwendete, um sein Mädchen damit zu beschenken: aber das ist es nicht was die Herzen aller, welche die Anekdote hören oder lesen, gegen ihn empört. Blos die Niederträchtigkeit — sich, da der Verdacht der Entwendung auf ihn fiel, von der Schande und Strafe, die er zu befürchten hatte, durch falsche Anklage des armen unschuldigen Dienstmädchens, los zu lügen — die Hartnäckigkeit, bey dieser Lüge im Angesicht des Mädchens zu beharren — die Hartherzigkeit und Grausamkeit, die (wie uns däucht) dazu erfodert wurde, ihn fähig zu machen, Marianen — deren Unschuld er kannte, die er liebte, von der er geliebt war, und die er vorsetzlich zum Schlachtopfer für seine eigne

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Sicherheit machte — leiden, unterdrücken, mit Schimpf und Schande aus dem Hause jagen, und dadurch wahrscheinlicherweise auf immer unglüklich machen zu sehen und unbewegt zu bleiben — dies ists, was jedes Herz gegen den jungen Menschen, der dessen fähig war, aufbringen muß, was uns mit Abscheu und Grausen erfüllt, was wir ihm nicht verzeihen können. Und doch — die That ist freylich von der häßlichsten Art, (und wehe ihm, wenn er sie jemals in seinem ganzem Leben sich selbst hätte verzeihen können!) — aber doch — versuchen wir’s wenigstens, ob es uns möglich ist, uns an seine Stelle zu setzen, und ob wir nicht finden werden, daß er, aller Einwendung unsers Gefühls ungeachtet, noch weit mehr m i t l e i d e n s - als verdammenswürdig ist. Es giebt von Zeit zu Zeit U n g l ü k l i c h g e b o h r n e , die vom Schiksal recht ausdrüklich zu einem immerwährenden L e i d e n an ihrem ä u s s e r n und i n n e r n Menschen verurtheilt zu seyn scheinen; Leute, die man versucht ist, für lebendige Beweise des alten Brachmanischen Glaubens anzusehen, und,

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zu Rechtfertigung der Härte des Schiksals gegen sie, beynahe selbst glauben möchte, daß sie blos zur Abbüßung ihrer in einem vorigen Leben begangnen Verbrechen wieder in einen menschlichen Leib eingekerkert worden. Von Geburt an scheinen sich alle Umstände wider ihr Glük verschworen zu haben. Mit einem angebohrnen edeln Stolz, mit der stärksten Neigung zur Unabhänglichkeit, mit der feurigsten Ruhmbegierde, mit einem gefühlvollen, zum Wohlthun, zur Freygebigkeit, zu einer gewissen Großheit in allen Dingen geneigten Seele, kurz mit dem was unsre Alten ein F ü r s t l i c h e s Herz nannten — mit Eigenschaften des Geistes und Herzens, die den Sohn eines Königs 10

zieren würden, i h n e n aber zu ihrem Unglük verliehen scheinen — sind sie, von Kindheit an, zu einer Abhänglichkeit und Beschränktheit verdammt, die, in dem Maaße daß ihr Charakter sich entwikelt und erstarkt, zu einer ewigen Quelle von Demüthigungen und Leiden werden. Alle Augenblicke werden ihre innersten Gefühle bald gegen ihr Schiksal, bald gegeneinander selbst empört; und ihr Leben ist ein immerwährender Streit ihrer edelsten Neigungen mit ihrem Unvermögen, des lebendigsten Selbstgefühls mit einem nicht weniger mächtigen Gefühl für Andre, ihres Edelmuths mit ihrer Armuth, ihres Stolzes mit ihrer Dankbarkeit, ihrer unbiegsamen Seele mit der Nachgiebigkeit, die ein Wohlthäter immer von demjenigen zu erwarten sich be-

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rechtigt hält, der seiner Gnade leben muß. Man stelle sich einen jungen Menschen vor, der das Unglük hat, mit einer s o l c h e n i n n e r n A n l a g e , ohne Eltern, ohne Freunde, ausser dem Schooße seines Vaterlandes, in einem Zustande, wo seine ganze Existenz von fremder Wohlthätigkeit abhängt, in dem Hause eines vornehmen Mannes erzogen zu werden — und erzogen zu werden, n i c h t z u r D i e n s t b a r k e i t , sondern auf eine l i b e r a l e Art, zu einer künftigen edeln Bestimmung, auf eine Art, die jede schöne und große Neigung in ihm entwickelt, seine Seele mit den erhabensten Ideen und Beispielen der alten Griechen und Römer erhizt, kurz, erzogen zu werden, wie ein Sohn vom Hause — und sich gleichwohl durch tausend kleine Umstände, alle Augen-

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blicke erinnert zu sehen, daß dies alles nur f r e m d e Wo h l t h a t , nur A l l m o s e n ist — daß es mit jedem Augenblik aufhören kann — daß der kleinste Zufall, der Tod des Wohlthäters, oder eine Veränderung in seinen Umständen, eine Erkaltung seiner Zuneigung gegen ihn, ein Fehltritt der ihn seiner Gunst beraubt, hinlänglich ist, ihn in die weite Welt hinaus, in die Klasse der Elenden zu schleudern, die nicht wissen, woher sie morgen ihren Hunger stillen sol-

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len — welch eine Lage für einen Jüngling von d e r Art wie wir ihn vorausgesezt haben! Und was müssen die natürlichen Folgen dieser Abhänglichkeit und Ungewißheit seines Schiksals, dieses bänglichen Schwebens zwischen Furcht und Hoffnung, (denn mit 16 Jahren ist man noch kein S t o i k e r ) dieses unaufhörlichen Widerspruchs zwischen seinem Herzen und seinen Umständen seyn? — Man denke nur einen Augenblik an die C o l l i s i o n e n , die in einer solchen Lage bey tausend Gelegenheiten entstehen müssen! Gesezt auch daß der Wohlthäter ein edler und gutgesinnter Mann ist, der überhaupt die Hochachtung und Liebe des jungen Menschen eben so sehr verdient, als seine Dankbarkeit: am Ende ist er doch ein Mensch, wie andre: er wird seine Fehler,

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Ungleichheiten, Launen und Mucken haben, sein Verstand ist vielleicht beschränkter, sein Herz enger als des jungen Menschens — und wenn das auch nicht wäre: so macht schon die Verschiedenheit des Alters und der Umstände, und der große entscheidende Umstand, daß jener der Wo h l t h ä t e r , und dieser der C l i e n t , jener also der a g i r e n d e und dieser der l e i d e n d e Theil ist, einen sehr wichtigen Unterschied. Der Fall wird also, vielleicht sehr oft, kommen, wo die Ehrerbietung und Dankbarkeit die der junge Mensch seinem Wohlthäter schuldig ist, mit seiner eignen Überzeugung, seinem Gefühl, seinen Neigungen in Zusammenstoß gerathen wird. Er wird sich zuweilen vergessen, und die Rechte seiner Vernunft, seines Herzens hitziger und stand-

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hafter behaupten, als es jene Pflichten zulassen, oder als es die Ausdehnung zuläßt, die ihnen der Wohlthäter giebt. In solchen Fällen wird man ihn vielleicht durch Vorwürfe zur Gebühr weisen, die für seinen Stolz um so kränkender seyn müssen, da er sich bewußt ist, daß sein Herz keiner Undankbarkeit fähig ist. Öftere Kränkungen dieser oder ähnlicher Art werden eine gedoppelte Folge bey dem jungen Menschen haben: sie werden ihn, trotz seines natürlichen Stolzes, oder vielmehr eben deßwegen, schüchtern und behutsam machen; und das unangenehme Gefühl dessen was es ihm kostet, Verbindlichkeiten zu haben, die er nicht anders als auf Unkosten des empfindlichsten Theils seiner Eigenliebe erwiedern kann, wird ihm endlich die Dankbarkeit zu einer Last machen, die desto schwerer auf ihm liegen wird, je mehr er die Unentbehrlichkeit der Wohlthaten fühlt, die ihm diese Pflicht auflegen. Diese Schüchternheit, die so übel zu seiner natürlichen Freymüthigkeit paßt — dieses demüthigende Gefühl einer Abhängligkeit, die ihn in seinen eignen Augen erniedrigt — die Vorwürfe, die ihm vielleicht zuweilen sein ei-

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genes Herz macht, wenn er die Unmöglichkeit fühlt, seinen hohen und ungeschmeidigen Geist zu einer Gefälligkeit zu bringen, die er aus Liebe zu seinem Wohlthäter zu haben wünscht, wiewohl der bloße Gedanke ihn empört, daß sie als Schuldigkeit gefodert wird: alles dies wird eine Art von geheimen Unmuth, und eine Disposition zu Bitterkeit, Misanthropie und übermäßiger Empfindlichkeit der Eigenliebe hervorbringen; die Energie seiner Seele wird sich mehr in sich selbst concentriren, und das Gefühl für andre, das sonst bey edeln Gemüthern in der ersten Jugend so lebhaft ist, wird unvermerkt von einem immer stärkerwerdenden Selbstgefühl überwogen werden, das in seiner Lage 10

das Einzige ist, was ihn aufrecht erhalten kann. Aber auch das ist noch nicht alles. Der junge Mensch, von dem hier die Rede ist, bleibt mit aller seiner großen Anlage doch allen seinem Alter und Geschlecht eigenen Fehlern unterworfen — aber in dem Stande von Abhängligkeit, worinn er lebt, wird gewöhnlich alles genauer genommen; man fodert mehr, und übersieht weniger; alles was im Hause ist, bis auf die geringsten vom Gesinde, glaubt sich berechtigt, seine Aufführung zu controliren, und er ist überall, (und um so mehr, weil sein Stolz, seine Ungeschmeidigkeit ihm öfters auch unverdienterweise Feinde machen) von Schalksaugen und Aufpassern umgeben, welche bereit sind, seinen kleinsten Vergehungen einen häßlichen Anstrich zu geben, und

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ihm durch geheime Anklagen oder laute Beschwerden Verdruß und Strafe zuzuziehen. Auch dieser Umstand kann nicht ohne schlimme Folgen für seine Gemüthsart seyn, und sehr leicht zu einer Fertigkeit sich zu v e r b e r g e n , oder im Nothfall s i c h m i t l ä u g n e n z u h e l f e n , Anlaß geben; wie man, unter ähnlichen Umständen, nur allzuhäufig an Kindern wahrnehmen kann, deren angebohrne Aufrichtigkeit auf diese Art gleichsam erschrekt wird, den natürlichen Abscheu vor der Unwahrheit verliehrt, und durch unmerkliche Stufen endlich, zumal wo es auf Selbstvertheidigung ankömmt, der entschlossensten Lüge fähig wird. Und dies wird bey unserm jungen Menschen um so gewisser der Fall seyn, wenn diejenigen, von denen seine Erziehung

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abhängt, vielleicht aus misverstandnem Wohlmeinen, bey einem so eigenwilligen, stolzen und der Hand, die ihn biegen will, so kräftig widerstehenden Subject, eine Strenge vonnöthen glauben, die, wenn sie nicht mit der behutsamsten Weisheit gebraucht wird, gerade bey einem solchen Subject äusserst nachtheilig und oft grundverderblich ist. Ich bin mit den besondern Umständen von J. J. Rousseau’s Erziehung und

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erster Jugend nicht bekannt genug, um m i t Z u v e r s i c h t sagen zu können, daß E r der junge Mensch sey, von dem ich hier gesprochen habe: aber auch das Wenige was ich davon weiß, mit dem was sich aus verschiedenen Briefen, die er in seiner Jugend geschrieben, abnehmen läßt, und mit dem Bilde seines Charakters, das allen seinen Werken eingeprägt ist, verglichen, macht es mir sehr w a h r s c h e i n l i c h ; und ich glaube, daß wir bey dieser Erörterung, wo sich selbst Herr B. in den Ephemeriden ein paar V i e l l e i c h t erlaubt hat, wenigstens als Hypothese annehmen können, daß Rousseau in dem Hause, wo er die häßliche That begangen, ungefehr in einer solchen Lage gewesen sey. Dies vorausgesezt, denken wir uns, wo möglich, in sein individuelles Selbst

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hinein, und stellen uns vor wie, nachdem die leidige Entwendung des prächtigen goldgestikten Bandes und die noch fatalere Entdeckung des corporis delicti geschehen war, einem jungen Menschen, wie J. J. Rousseau, einem Jüngling von 15 oder 16 Jahren, in welchem der Keim von allem dem was er in der Folge war schon liegen mußte, dem sein innrer Genius, wiewohl noch mit dumpfer Stimme schon sagte, was er werden könnte; der einen angebohrnen Stolz, ohne den sich kein Cato, kein Epiktet, kein Ximenes, kein Rousseau, kein großer Mensch, von welcher Art es sey, denken läßt, durch diese Entdeckung der allerschmählichsten Demüthigung ausgesezt sah; in Einem Augenblik, durch eine einzige unbesonnene That, aber eine That, an welche die

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eiserne Nothwendigkeit, die Erhaltung und das allgemeine Beste der menschlichen Gesellschaft, das was einem edelgebohrnen Menschen das entsetzlichste ist, S c h a n d e , u n a u s l ö s c h l i c h e Schande geheftet hat; und der in diesem Einen Augenblik, durch diese einzige Vergehung, sein ganzes gegenwärtiges und künftiges Glük, seine Erwartungen und Hoffnungen, alles was er ist und noch werden kann, mit einem Worte, seinen guten Namen, seine Ehre, und mit ihr seine ganze bürgerliche und moralische Existenz unwiederbringlich zu Grunde gerichtet sieht — denken wir ihn in dieser Klemme, und stellen uns vor, wie einem Jüngling von d i e s e r Art, mit dieser Empfindlichkeit, mit dieser äusserst wirksamen Einbildungskraft zu Muthe seyn mußte? Ob sich eine grausamere Lage für ihn denken läßt? Und wenn er nun, im ersten Augenblik der höchsten Verlegenheit, am Rande des Abgrunds in den er den Augenblik drauf stürzen wird, in einem Moment, wo keine Überlegung, kein Streit der edlern Seele mit der selbstigen statt findet — wenn er da hastig nach dem einzigen Rettungsmittel greift, das sich ihm darbeut — läugnet —

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und, weil er nicht läugnen kann, ohne die erste Lüge mit einer zweyten zu unterstützen, eine andre Person des Vergehens beschuldiget, dessen Geständnis ihm ärger als Tod ist — Muß ich mich n o c h e i n m a l verwahren, daß ich durch all dies seine Schuld nicht vernichten, nicht sagen will, daß er durch einen unwiderstehlichen innern Zwang schlechterdings s o habe handeln müssen? — Alles was ich abzwecke, ist blos, daß man sich lebhaft genug in seine Lage hineindenke, und nichts vergesse, was seine Schuld erleichtern kann. Man v e r z e i h t einem Menschen, der mitten in den Wellen sein Leben auf 10

einem Brete rettend das nur Eine Person tragen kann, in dieser äussersten Noth einen andern, der eben dies Bret ergreifen will, mit Gewalt in die See zurükstößt — Alle Lehrer des Naturrechts erklären es sogar für rechtmäsig — Soll ich Ihnen n a c h m e i n e m H e r z e n sprechen? In m e i n e m Inwendigen ist etwas das allen diesen Herren widerspricht; und ich kann dem Menschen nicht verzeihen, der nicht fähig ist, es darauf ankommen zu lassen, ob dies Bret nicht zween Menschen retten könne; dem sein eigen Leben so wichtig ist, daß er es nicht an die a u c h n u r v i e l l e i c h t mögliche Erhaltung eines andern setzen will. Aber welchem edeln Menschen ist sein guter Name nicht lieber als sein

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Leben? In welchem edeln Menschen ist nicht die Furcht der Schande die heftigste, die unbezwinglichste, die grausamste aller Leidenschaften? Freylich ist ein Unterschied zwischen dem, der das einzig übrige Rettungsmittel seines Lebens, gegen einen der es ihm entziehen will vertheidiget, wiewohl die gewisse Folge davon ist, daß dieser lezte umkommen muß: und zwischen unserm Jüngling, der eine unschuldige Person anklagt, um sich selbst der Schande zu entziehen. Aber können wir ohne Unbilligkeit vergessen, daß die Furcht vor dieser Schande eine Leidenschaft bey ihm seyn mußte, die alle andre Gefühle unterdrükte, ihn zu jeder Betrachtung, jeder Überlegung unfähig machte? Oder, wenn er in diesem Zustande ja noch einiger Gedanken

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fähig war, so halfen diese Gedanken blos den Widerstand vernichten, den ohne Zweifel die Menschlichkeit in seinem Herzen gegen die Entschließung that, die er in der äussersten Verzweiflung genommen hatte. Wenigstens war es sehr n a t ü r l i c h (zumal in Rüksicht dessen was ich vorhin von den vermuthlichen Wirkungen seiner Umstände auf seine Sinnesart gesagt habe) daß er ein unendlich stärkeres Gefühl von der Wichtigkeit der Erhaltung seiner eignen

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Ehre, von welcher, in seiner Lage, seine ganze Existenz abhieng, haben mußte, als von der Wichtigkeit der Ehre des Dienstmädchens. Ein Flecken dieser Art konnte von der leztern abgewaschen werden; bey Ihm war er unauslöschlich. Im Grunde betraf die Mauserey, deren er sie beschuldigte, eine Kleinigkeit. So kostbar das goldgestikte Band seyn mochte, so war es am Ende doch nur ein goldgestiktes Band. Das Mädchen stund vermuthlich bisher in gutem Ruf; dies war das erstemal daß sie sich vergangen hatte, und er k o n n t e hoffen, daß man i h r verzeihen würde, was man I h m nicht verziehen haben würde. Und wenn er auch Verzeihung hätte hoffen können; wer sieht nicht, daß es einem jungen Menschen wie Rousseau unerträglich, u n m ö g l i c h hätte seyn

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müssen, mit dem Bewußtseyn, d a ß m a n i h m e i n e s o l c h e H a n d l u n g z u v e r z e i h e n g e h a b t h a b e , mit der täglichen Furcht, bey der kleinsten Gelegenheit, wo er sich das Mißvergnügen des Wohlthäters zugezogen hätte, Vorwürfe deßwegen hören zu müssen, mit dem Gefühl wie sehr ihn das bloße M i t w i s s e n des ganzen Hauses in allen Augen erniedrigen mußte — wer sieht nicht, sage ich, daß es ihm unmöglich seyn mußte, unter solchen Umständen länger in des vornehmen Mannes Hause zu bleiben? — Freylich alles dies fand auch bey dem Dienstmädchen statt; aber doch gewiß, der mächtige Unterschied zwischen einem Jüngling wie Rousseau und einem alltäglichen Dienstmädchen machte auch hier einen großen Unterschied. Ich weiß wohl daß

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dieser Unterschied vor dem bürgerlichen und peinlichen Richter in keine Betrachtung kommt, noch kommen darf: aber vor dem philosophischen Richtstuhl soll und muß er in Betrachtung kommen. Ich sagte mit Bedacht einem a l l t ä g l i c h e n Dienstmädchen; denn allerdings hätte das Mädchen, möglicherweise, eine P a m e l a seyn können; und das hätte freylich ganz andre Verhältnisse gegeben. Aber dann wäre, wahrscheinlich, auch der Erfolg ganz anders ausgefallen. Wir müßten eine sehr schlimme Meinung von dem Verstand und Charakter des vornehmen Mannes, in dessen Hause die Scene dieser Geschichte lag, haben, oder er würde solchenfalls die Unschuld des Mädchens entdekt, und Rousseau in dem unrechtmäßigen Mittel, wodurch er sich zu retten hoffte, sein Verderben gefunden haben. — Doch, wie wenn der vornehme Mann sich in dieser Sache wirklich einer unverzeihlichen Übereilung schuldig gemacht, und das Mädchen wirklich eine Art von Pamela gewesen wäre? — Mich dünkt, m. Fr., ich sehe Sie sehr geneigt, sich diese Mariane unter einem Ideal zu denken, das ihrem Herzen

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nicht erlaubt ganz unpartheyisch zu seyn. Das rührende Gemählde, das Herr B. in den Ephemeriden von ihr macht, hat ihre Imagination bestochen; und wer steht mir dafür, daß nicht sogar der sanfte liebliche Name M a r i a n e , mit dem, sobald man ihn hört, so viele schöne Eindrücke von zwanzig p o e t i s c h e n und r o m a n t i s c h e n M a r i a n e n (die neueste Mariane im S i e g w a r t nicht zu vergessen) in der Seele anklingen, nicht Mehr, als Sie selbst glauben, dazu beyträgt, Sie zu Gunsten dieses Dienstmädchens einzunehmen? Bald wollte ich wetten, daß Sie nicht halb so viel für sie empfinden würden, wenn Sie Ursel, oder Margot, oder Kunigunde geheißen hätte! — Allein (ernsthaft zu 10

bleiben!) wir müssen uns in einem Falle wie dieser, vor unsrer eignen Gutherzigkeit in acht nehmen; und dem Interesse, daß uns d i e l e i d e n d e U n s c h u l d einflößt, darf, wo es um unpartheyische Gerechtigkeit zu thun ist, kein Einfluß gestattet werden. Wir wissen nichts avthentisches von der Person dieser Mariane, als daß sie ein Dienstmädchen im Hause war. Selbst der Umstand, daß der junge Rousseau eine Neigung auf sie geworfen hatte, beweißt kaum, daß sie ein h ü b s c h e s Mädchen war. — „Aber sie war u n s c h u l d i g . “ — Unschuldig an dem Diebstahl, dessen R. sie beschuldigte; dies ist gewiß, da er selbst es sagt — aber s o unschuldig konnte die gemeinste Stallmagd auch seyn; und dies ist noch kein Grund, sie für etwas mehr zu hal-

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ten. — Verstehen Sie mich nicht unrecht, lieber Freund; ich bin nicht so von Menschlichkeit entblößt, daß ich ein armes niedriges Dienstmädchen d e ß w e g e n weil sie a r m , oder n i e d r i g , oder ein D i e n s t m ä d c h e n ist, für ein corpus vile halten sollte, an welchem man sich nicht versündigen, oder nur peccadilla begehen könne. Es giebt einen innern Adel, der sich wohl zuweilen auch bey einem armen niedrigen Dienstmädchen findet, einen Adel, der sie zwar nicht stiftsmäsig, aber auf der Wage des Heiligthums wichtiger macht als manche Königstochter. Allein wir haben nicht den geringsten Grund von der besagten Mariane so gros zu denken; und was ich hier sagen will, ist blos: daß diese Mariane, weil sie ein menschliches Geschöpf, ein Mädchen, und an

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dem Banddiebstahl unschuldig war, darum noch kein sehr vorzügliches, sehr liebenswürdiges und vortrefliches Mädchen seyn mußte — und, daß die Beschaffenheit der Personen, an denen eine Sünde begangen wird, in der Sünde selbst einigen Unterschied macht. Denn das Stoische a l l e S ü n d e n s i n d g l e i c h ist ein Paradoxon, das auf willkührlichen Abstractionen beruht, und in der Natur und Wahrheit ungegründet ist. Ich will gerne zugeben; daß, wenn

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wir alle Umstände wüßten, wenn wir das Mädchen, von dem die Rede ist, genau kennten — Rousseau’s Sünde v i e l l e i c h t ungleich schwerer befunden würde, als izt, da wir so wenig wissen. Aber diese bloße Möglichkeit berechtigt uns nicht, sie zum Nachtheil des armen Rousseau durch einen Dichter-Kunstgriff in Wirklichkeit zu verwandeln — Kurz, wir haben keinen hinlänglichen Grund zu glauben, daß Mariane N. N. etwas mehr gewesen sey, als ein gewöhnliches Dienstmädchen, wie es deren bey Hunderttausenden giebt; aber wir wissen, daß in dem jungen Rousseau schon damals der Embryo von einem so herrlichen Menschen lag, als unter Zehnmalhunderttausenden kaum Einer gefunden wird; und dies macht, nach m e i n e m Gefühl, einen Unterschied.

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Ich gestehe Ihnen, daß ich — vermöge einer Denkart, die ich für höchst menschenfreundlich halte — zwanzig solche Dienstmädchen im Nothfall darum gäbe, einen einzigen Rousseau zu erhalten; und daß ichs also dem Rousseau selbst um so eher v e r z e i h e n kann, wenn er, in der verzweifeltsten Lage, worinn sich ein junger Mensch seiner Art nur immer denken läßt, den Wehrt seiner eignen Erhaltung so stark fühlte, daß dies Gefühl selbst das Gefühl der Ungerechtigkeit des Mittels überwog, wodurch er sich zu retten suchte. Ich bedaure ihn herzlich; denn ich bin gewiß, die innre Quaal die er dabey ausstund, w a r u n s ä g l i c h , wiewohl seine Furcht vor der Schande noch heftiger war: ich beklage ihn, denn das Bewußtseyn, seine Existenz durch eine Übel-

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that, vielleicht (wiewohl wider seine Absicht) mit dem gänzlichen Verderben eines armen unschuldigen Geschöpfs, erhalten zu haben, war hinlänglich, die Ruhe seines ganzen Lebens zu vergiften — ich beklage ihn — und muß ihm verzeihen, was ich mir selbst, was ich vielleicht Zehntausend andern nicht verzeihen könnte. Aber, hab’ ich, mit allem was ich bisher als sein Fürsprecher vorgebracht, erhalten, daß auch Sie, m. Fr., von der Strenge Ihres Urtheils nachlassen, daß auch Sie ihm verzeihen? daß auch Sie finden, daß er, bey Begehung der traurigen That, kein B ö s e w i c h t , sondern nur d e r i n d i v i d u e l l e M e n s c h J . J . R o u s s e a u war? — Ich sehe Sie (däucht mich) verlegen — aber — „Nein, hör’ ich Sie ausrufen — es ist unmöglich ihn zu entschuldigen! Man entschuldigt wohl zuweilen sogar einen Mörder — (und war nicht Rousseau hier ein Mörder? Ermordete er nicht die Ehre des armen Mädchens, an der ihr ganzes Glük hieng?) — Aber wenn zu einer an sich selbst schon verdammenswürdigen Handlung noch ganz besonders hassenswürdige Umstände, wie z. B. Un-

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dankbarkeit, Grausamkeit, kaltblütige fühllose Grausamkeit, hinzukommen: so wird die That ganz abscheulich; die Menschheit empört sich gleichheftig wider den Thäter und die That. Und war dies nicht (fahren Sie fort) der Fall des jungen Menschen? Er l i e b t e Marianen, wurde v i e l l e i c h t aufs zärtlichste von ihr wiedergeliebt — und konnte das unschuldige Mädchen, das er liebte, eines Diebstahls anklagen, den er selbst begangen hatte? Er konnte ihr in die Augen sehen, konnte ihr Leiden, ihre Thränen sehen, und unbeweglich auf seiner Aussage bleiben? Konnte sehen, wie sie mit Schimpf und Schande aus dem Hause ins Elend gejagt wurde, und schweigen! — Wenn derjenige, der 10

dies kann, kein Unmensch ist“ — Verzeihen Sie, mein Freund, daß ich Ihnen ins Wort falle! Lassen Sie uns das Factum, das Wenige was wir davon wissen, gereinigt von Einschiebseln und Vermuthungen, die der Erzähler um die Sache rührender zu machen hinzugethan, unpartheyisch erwägen — vielleicht findet sich, daß es blos unsre Einbildung ist, die diese Umstände hinzudichtet, welche, wie Sie sagen, das Verbrechen so äusserst grausam und den Thäter so hassenswürdig machen. „Er liebte Marianen, und wurde vielleicht aufs zärtlichste v o n i h r w i e d e r g e l i e b t . “ Ich brauche nicht zu wiederholen, daß ich eine Ve r m u t h u n g , die zu nichts dient, als einen desto schwärzern Schatten auf

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Rousseau zu werfen, nicht gelten lassen kann. Daß Rousseau ein Auge auf das Mädchen geworfen hatte, scheint sich auf sein eigen Bekenntnis zu gründen, und kann also nicht geläugnet werden. Wenn man diese Art von Zuneigung, die unter jungen Leuten verschiednen Geschlechts so gewöhnlich ist, und in diesem Alter eben so leicht auf dies oder jenes Object fallen kann, je nachdem sie durch die Umstände geleitet wird — wenn man, sage ich, dies L i e b e nennen will, so muß ichs leiden; und alles was ich dabey erinnern möchte, ist — daß Herr A d e l u n g , indem er von dem alten Wort M i n n e (in seinem W ö r t e r b u c h e ) sagt: der Misbrauch den man davon gemacht, habe verursacht, daß es mit allen seinen Ableitungen nach und nach verächtlich worden, und

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endlich gar veraltet sey — großes Recht hat hinzu zu setzen: daß ein ähnliches Schiksal unserm Wort L i e b e bevorzustehen scheine. — Wenn es also L i e b e heißen soll, was der junge Rousseau (man vergesse nicht daß er ein Knabe von 15 oder 16 Jahren war) für das Dienstmädchen Mariane fühlte, so war es wenigstens, wie Hr. B. sehr wohl anmerkt, keine t u g e n d h a f t e Liebe; wiewohl ich darum nicht gleich so weit gehen möchte zu vermuthen, daß Rousseau das

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goldgestikte Band dem Mädchen anfangs zugedacht habe, „vermuthlich um sie dadurch zu unedeln Gunstbezeugungen geneigt zu machen.“ S o arg war’s doch wohl v e r m u t h l i c h nicht! Denn eine Liebe, die nicht rein und edel genug ist, um den Namen einer t u g e n d h a f t e n zu verdienen, ist darum noch nicht l a s t e r h a f t . Kurz, diese Liebe war die Liebe eines jungen Menschen zu einem — Dienstmädchen im Hause; dies ist alles was sich davon sagen läßt, und ein Wörtchen mehr würde zuviel seyn. Es läßt sich also von diesem Umstande keine Folgerung, um Rousseau’s Verbrechen schwärzer zu machen, ableiten. Daß das Mädchen „ v i e l l e i c h t d i e e d e l s t e n E m p f i n d u n g e n f ü r i h n g e f ü h l t , “ wird ohne allen Grund

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vorgegeben; und was E r für das Mädchen fühlte, war doch wohl nur Liebe in dem Sinn, wie dies Wort im XXVIsten Buche der teutschen Übersetzung von Hallers Physiologie gebraucht wird. Wäre es eigentliche Liebe, Liebe in der einzigen Bedeutung, welcher dieses schöne Wort geheiligt seyn sollte, gewesen: so hätte ihm auch nur der bloße Gedanke sie anzuklagen nie zu Sinne kommen können; er würde sogar, wenn sie wirklich schuldig gewesen wäre, lieber jede Todesart erlitten, eher sich selbst des Diebstahls angeklagt, als sie verrathen haben. „Aber so war es doch abscheulich, daß er fähig war, seine Aussage ihr ins Gesicht zu bestätigen — noch abscheulicher, daß er sie leiden sah und schwei-

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gen konnte. Wenn sie ihm auch ganz gleichgültig, wenn sie das geringste aller menschlichen Wesen gewesen wäre — er wußte daß sie unschuldig war — und da er nun die unglüklichen Folgen seiner Anklage (die er in der ersten Bestürzung vielleicht nicht vorhergesehen hatte) mit Augen sah: hätten nicht ihre Thränen seine Seele schmelzen, hätt’ ihn ihr Leiden nicht rühren, ihre schimpfliche Verstoßung nicht überwältigen sollen, lieber sich selbst aufzuopfern, als die Wahrheit länger zu verheelen?“ — Lassen Sie uns vergessen, m. Freund, was Sie oder ich in einem solchen Falle gethan hätten. Rousseau’s U n g l ü k war, daß der Banddiebstahl entdekt wurde, und sein Ve r b r e c h e n , daß er, um sich selbst von der Schande zu retten, das unschuldige Dienstmädchen anklagte. Dies Verbrechen ist, selbst bey allem was ich zum Behuf des Verbrechers angeführt habe, häßlich genug. Aber daß er, nachdem ers einmal begangen, fest bey seiner Aussage beharrte — sagt uns weiter nichts als daß es ihm nun moralisch unmöglich war, durch ein sich selbst gegebnes Démenti seine Schande und seine Strafe zu

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verdoppeln. Die Furcht vor der Schande treibt ihn, in der Verzweiflung sich auf eine andre Art zu helfen, zu einem falschen Zeugnis; eben diese Furcht, die stärkste Leidenschaft, deren er nach seinem individuellen Charakter fähig ist, wirkt nun natürlicherweise fort, aber wirkt mit immer wachsender Stärke in dem Maaße, wie die Umstände seine Schande vergrößern würden, wenn er sich selbst verriethe. S t ä r k e des Geistes war, das, womit ihn die Natur am reichlichsten begabt hatte. Was Wunder, daß er, in einer so dringenden Noth, alle seine Stärke zusammennimmt, um sich selbst nicht zu verlassen? Was für Ursache haben wir uns einzubilden, daß es ihm nichts gekostet habe? Daß er 10

nicht beym Anblik des unschuldig leidenden Schlachtopfers unaussprechliche Quaal in seiner Seele ausgestanden? — Wir haben keine, dies nicht zu glauben; denn daß er demungeachtet fest bey seiner Aussage beharrte, beweiset nur, daß diese Quaal, mit aller ihrer Heftigkeit nicht fähig war, seine s t ä r k s t e Leidenschaft zu überwältigen. Sagen Sie mir nicht, wir haben auch keine Ursache zu glauben, daß ihm Marianens Leiden s o v i e l gekostet habe. Allerdings haben wir eine, und eine ganz unläugbare: Rousseau war ein M e n s c h , war in einem Alter, wo sichs sogar von demjenigen, der in der Folgezeit der entschlossenste Bösewicht wird, nicht denken läßt, daß sein Herz schon verhärtet sey. Oder, wofern ja zuweilen solche U n g e h e u e r ge-

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bohren werden, denen es, von Kindheit an, an allem n a t ü r l i c h e n Gefühl für Andre gebricht, so war doch Rousseau wahrlich keines von diesen Ungeheuern. Daß ein in der Bosheit graugewordner Straßenräuber und Mörder bey dem Leiden der Unglüklichen, die er aufopfert, g l e i c h g ü l t i g seyn kann, beweißt nicht daß es der junge Rousseau auch seyn k o n n t e ; so wenig als sein Beharren auf seiner Aussage beweißt, daß er es w a r . Wer in sein Inwendiges hätte schauen können, würde aller Wahrscheinlichkeit nach gefunden haben, daß er bejammernswürdiger war, als das unglükliche Dienstmädchen selbst, die in ihrem Leiden doch den unverlierbaren Trost der Unschuld hatte.

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Ich weiß nur zuwohl, m. Freund, wie leicht der große Hauffe daherfährt, um über die Sittlichkeit der Handlungen ihrer Nebenmenschen abzusprechen, und wie wenig Bedenken die Meisten sich daraus zu machen pflegen, durch eilfertige unüberlegte Urtheile dieser Art Schaden zu thun. Wir aber nicht also! — Ich erinnere dies nicht gegen den mir unbekannten Erzähler der Anekdote: denn dieser hat offenbar die redlichste Absicht; und der Abscheu,

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womit diese Anekdote jeden Leser, der Menschengefühl hat, beym ersten Anblik erfüllen muß, entschuldigt ihn hinlänglich, wenn ihn solcher auch zu sehr gegen den unglüklichen Rousseau erbittert hätte. Aber das vorliegende Beyspiel würde einen über alle Maaßen wichtigen moralischen Nutzen stiften, wenn auch nur Einige veranlaßt würden, durch die ausnehmende Schwierigkeit eine individuelle sittliche Handlung richtig zu beurtheilen, von der tiefen Weisheit des Christlichen „ R i c h t e t n i c h t “ sich besser zu überzeugen. Werfe den z w e y t e n Stein auf den Unglükseligen wer da will! Und werfe wer Lust hat auch den dritten auf mich — der, in diesem pharisäischen Zeitalter, den Muth hat, sich seiner anzunehmen, und den Edeln und Starken, den Mann,

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dem die billige Nachwelt einen Platz unter den H e r o e n unsers Jahrhunderts gewiß nicht versagen wird, wegen eines Verbrechens, dessen ein schwächerer, kleinerer Mensch nicht fähig gewesen wäre, mehr beklagens- als hassenswürdig zu finden! Mit einer von den alltäglichen Seelen, die es ertragen können, unter die werthlosesten Anthropomorpha die auf ihre bürgerliche Unbescholtenheit trotzen dürfen, sich gedemüthigt zu sehen, mit einem weniger scharfen Gefühl für Ehre und Schande, mit weniger Stärke und Ausdaurungskraft würde Rousseau dies Verbrechen — nicht begangen haben — aber auch — nicht Rousseau gewesen seyn. Das Buch der Schiksale ist vor uns verschlossen, mein Freund; und würde

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auch zuweilen einem Sterblichen ein Blik in seine geheimnisvollen Blätter erlaubt, so würd’ er sich wohl hüten, ihre aÆrrëhta rëhmata durch profanes Ausschwatzen zu entheiligen. Also nur noch Eins, mein Bester! — Auch der Umstand, daß, nachdem die arme Mariane aus dem Hause des vornehmen Mannes gejagt worden, „niemand mehr erfahren hat, wo sie hingekommen noch was aus ihr geworden“ ist (allem Ansehn nach) in der Absicht angeführt worden, wo nicht Rousseau’s Schuld zu vergrößern, doch gewiß sein Verbrechen um soviel schwärzer zu machen. Aber gesezt auch diese tiefe Nacht, die von nun an auf Marianens Schiksal lag, bedecke das Ärgste — das arme verstoßene Mädchen sey hülflos umgekommen, oder habe sich selbst ein Leid angethan, oder sey (was noch ärger wäre) aus Noth und Elend unter die Unglüklichen gerathen, deren e i g e n t l i c h e Benennung die keuschen Ohren so mancher — Lucrezien an denen sonst nichts keusch ist, beleidiget, und deren Anblik auch die reinsten und

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sanftesten Seelen ihres Geschlechts zu einem das Mitleiden überwiegenden Abscheu nöthiget — und wenn noch was schlimmers als dies seyn kann, gesezt, auch dies sey Marianen wiederfahren — wär’ es gerecht, wär’ es billig, den armen Rousseau dafür zur Verantwortung zu ziehen? So wie zween Menschen, indem sie das Nemliche thun, eine sehr verschiedene Handlung begehen können; so hängt oft auch an dem nemlichen Faden Glük oder Unglük. Da man von Marianens Schiksal n i c h t s weiter erfahren hat, und also weder Böses noch Gutes weiß, bleibt es nicht eben sowohl möglich, daß es glüklich war? Daß gerade diese unverschuldete Verstoßung ihr, 10

gegen alles Vermuthen und Hoffen, den Weg dazu gebahnt hatte? Wär’ es etwa das erstemal, daß die Vorsehung, durch eine ganz natürliche Verbindung von Mittelursachen, wieder gut gemacht hätte, was menschliche Leidenschaften und Verirrungen schlimm gemacht? Und gesezt nun, Rousseau hätte auf solche Weise, wider Wissen und Hoffen, die erste Veranlassung zu Marianens Glük gegeben — würden wir’s i h m zum Verdienst anrechnen? Warum soll er also die unglüklichen Zufälle, die ihr v i e l l e i c h t begegnet seyn mögen, zu verantworten haben? War ihre schimpfliche Verstoßung aus dem Hause des vornehmen Mannes etwan eine nothwendige, vorhergesehene, oder abgezwekte Folge seiner Anklage? Ist es nicht, im Gegentheil, sehr vermuthlich,

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daß Rousseau sich eingebildet haben mochte, die angebliche Entwendung des goldgestikten Bandes werde ihr um so eher verziehen werden, da sie, allem Ansehn nach, bisher immer ein gutes unbescholtnes Mädchen gewesen war? Wenn jemand die vielleicht unglüklichen Folgen ihrer Verstoßung vor dem Richtstuhl der Menschlichkeit zu verantworten hätte, so wär es, däucht mich, der vornehme Mann selbst, der so streng und hartherzig war, ein armes Geschöpf, das sich immer wohl aufgeführt hatte, und izt zum erstenmal der Entwendung einer solchen Kleinigkeit nicht einmal überwiesen, sondern blos beschuldiget wurde, ohne alles Mitleiden, und selbst wider alles Recht (denn das Zeugnis des einzigen jungen Menschen machte doch keinen genugsamen

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Beweis wider sie) mit Schimpf und Schande ins Elend zu jagen. Soll hiebey ja etwas auf Rousseau’s Rechnung kommen, so ist es wahrlich an dem was die n ä c h s t e , wiewohl weder nothwendige noch abgezielte, Folge seiner That war, mehr als genug: aber ihm auch noch die zufälligen, von der Dazwischenkunft andrer Ursachen, von einem Zusammenhang der Dinge, in welchem wir alle nur blinde Werkzeuge sind, und (was nicht zu vergessen ist) auch von

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Marianens eigner Aufführung abhangenden entfernten Folgen zur Last zu legen, wäre wider alle Billigkeit, und wider alle gesunde Begriffe von der moralischen Zurechnung. Ich überlasse es nun, m. w. Freund, dem Urtheil Ihres Verstandes und Herzens, in wiefern ich das wozu ich mich anheischig gemacht geleistet habe. Aber eh ich Sie ganz entlasse, muß ich Ihnen noch einen Zweifel von der erheblichsten Art bekannt machen, der mir dieser Tage gegen die Wahrheit der ganzen Anekdote, wovon bisher die Rede war, mitgetheilt worden ist. Der Erzähler der Anekdote sagt: „diese Begebenheit ward ihm (dem Rousseau) d u r c h s e i n g a n z e s ü b r i g e s L e b e n z u e i n e r b e s t ä n d i g e n F o l -

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t e r ; alle Freuden der Jugend die er genoß wurden ihm verbittert, so oft ihm sein a l l z u g e t r e u e s G e d ä c h t n i s an das arme schuldlose Mädchen erinnerte, das er vielleicht ganz zu Grunde gerichtet; ü b e r a l l , w o e r n u r h i n blikte, schwebte ihm das Bild der unglüklichen Mariane vor Augen.“ Ist dies Wa h r h e i t ? — Nun, so sagen Sie mir was wir von der folgenden Anekdote halten sollen, welche gleichwohl der rechtschafne Herausgeber des c h r i s t l i c h e n M a g a z i n s würdig gefunden hat, sie aus einem Briefe eines ungenannten Freundes von Rousseau, worinn die Umstände seines Todes erzählt werden, in das 1ste Stük des IIten Bandes seiner Sammlung einzurük-

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ken — „Welch ein Glük (läßt der Verf. des Briefes den s t e r b e n d e n R o u s s e a u zu seiner Ehgattin sagen) welch ein Glük, meine Beste, zu sterben, w e n n m a n s i c h n i c h t s v o r z u w e r f e n h a t . . . E w i g e s We s e n , d i e s e S e e l e , die ich dir nun wiedergebe, i s t i n d i e s e m A u g e n b l i k e b e n s o r e i n , a l s d a s i e aus deinem Schooße kam.“ Merken Sie, l. Freund, daß dies aus einer G e s c h i c h t e der wahren Umstände von Rousseau’s Tode genommen ist, die der Verfasser derselben den Herausgebern des Journal de Paris zusandte, um solche bekannt zu machen; wiewohl diese Bedenken trugen, solche einrücken zu lassen. Der soll mir der große Apollo seyn, der diese zwey angebliche T h a t s a c h e n als wahr zusammendenken kann! — Wie? dem Mann, dem überall, wo er nur hinblikte, das Bild der unglüklichen Mariane vor Augen schwebte, sollte sein a l l z u g e t r e u e s G e d ä c h t n i s nun auf einmal so ungetreu geworden seyn, daß er fähig wäre, dem Ewigen Wesen im dem lezten feyerlichen Augen-

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blik seines Lebens ins Angesicht zu sagen: ich gebe dir meine Seele so rein wieder zurük, wie ich sie von dir empfangen habe? Wenn beyde Anekdoten wahr sind, so sind nur zwey Fälle möglich, worinn Rousseau das Ewige Wesen so zu apostrophiren fähig seyn konnte: entweder er war in diesem Augenblicke schon aller Besinnung beraubt, und sprach im Wahnwiz — und daß dies der Fall n i c h t s e y n k o n n t e , beweiset der ganze Zusammenhang der Erzählung (S. 194 195 196 l. c.) augenscheinlich — oder Rousseau, der liebenswürdige Enthusiast für Wahrheit und Tugend, war der schändlichste Heuchler und der entschlossenste Atheist, den die Erde jemals 10

hervorgebracht hat. O Ihr Anekdotenkrämer! welch ein schweres Gericht wird einst über euch ergehen, wenn ein Tag kömmt, wo die so oft von euch mißhandelte, verunstaltete, und zur Lügen gemachte Wahrheit auftreten, und um Rache wider euch schreyen wird! Wenn werdet ihr, von so häufigen täglichen Erfahrungen gewarnt, Behutsamkeit lernen! Welcher von diesen beyden Erzählungen, die uns beyde für Wahrheit gegeben werden, sollen wir nun glauben? Welche ist wahr? Soll ich Ihnen meines Herzens Meinung unverholen sagen, mein Freund — keine von beyden!

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Der sterbende Rousseau hat die vorgebliche pralerhafte Apostrophe an das Ewige Wesen n i c h t gesagt! k a n n sie nicht gesagt haben! kein Mensch, kein Tugendhafter, kein Heiliger k a n n das zu seinem Schöpfer sagen! Denn noch keiner von ihnen allen hat seine Seele so rein zurükgegeben, als er sie empfangen hat. Und wenn es jemals einen ganz reinen Menschen gegeben hätte, so w ü r d e er so was nicht sagen. Der einzige vollkommen reine Mensch, der je gewesen ist, sagte ganz einfältig: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist — Dies ist w a h r e R e i n h e i t ! Aber es ist eben so wenig wahr, „daß die Begebenheit mit dem Dienstmädchen Mariane dem Rousseau sein ganzes Leben durch zur beständigen

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Folter geworden; daß ihm überall wo er hingeblikt, das Bild der unglüklichen Mariane vorgeschwebt“ — Das sind rednerische sentimentalische Vergrößerungen! das hat der m e r k w ü r d i g e R e i s e n d e , d e m d i e g e h e i m e G e schichte des menschlichen Herzens ein Gegenstand der ernsth a f t e s t e n B e t r a c h t u n g e n i s t , gewiß nicht in R o u s s e a u’ s M e m o i r e n gelesen! Denn wenn ihm die geheime Geschichte des menschlichen Herzens

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so wichtig ist, so wird er wahrscheinlicherweise auch in der natürlichen Geschichte der menschlichen Seele so unerfahren nicht seyn, daß er nicht wissen sollte, was v e r m ö g e d e r m e n s c h l i c h e n N a t u r möglich ist oder nicht. So gefühlvoll wir uns auch einen Rousseau denken müssen, so lebhaft und energisch seine Einbildung war, so war er doch — kein s c h w a c h e r Mensch: seine Seele hatte innres Leben und Kräfte genug, um eine Wunde wieder zuzuheilen, die sie in der ersten Jugend empfangen hatte, so tief sie auch seyn mochte. Eine N a r b e mußte wohl zurükbleiben; und dies war mehr als genug, ihm, so oft er sich dieser Begebenheit erinnerte, das Bewußtseyn seiner selbst zu verbittern: aber so weit als es Hr. B. treibt, konnt’ es nicht gehen. Das wäre alles

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was man sagen könnte, wenn Rousseau das unschuldige Mädchen erst durch eine Reihe betrügerischer Kunstgriffe verführt, und dann, um seine Schande zu verbergen, ermordet hätte. — Er hatte sie, in einem Alter, wo er kaum mehr als ein Knabe war, fälschlich der Entwendung eines goldgestikten Bandes beschuldiget, und sie war deßwegen aus dem Hause, wo sie diente, gejagt worden. Dies war sein ganzes Verbrechen, und er mußte sich bewußt seyn, daß er es nicht aus muthwilliger Bosheit sondern im Drang der Noth, und in einer Leidenschaft, die ihm die Augen vor den Folgen seiner Lüge verschloß, begangen hatte. Das nachmalige Schiksal des Mädchens war unbekannt. Einige Jahre lang konnte sein innrer Schmerz selbst durch diesen Umstand geschärft

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werden. Aber natürlicherweise mußten alle diese Bilder, durch die Manchfaltigkeit und Wichtigkeit so vieler nachfolgenden Scenen seines Lebens, durch den vieljährigen Auffenthalt in Paris, durch die innre Stärke und immer angestrengte Wirksamkeit seines Geistes, u. s. w. binnen 30, 40 und mehr Jahren nach und nach sehr viel von ihrer ersten Lebhaftigkeit verliehren; und da es überdies eben so möglich war, daß Mariane nicht unglüklich durch diesen Zufall geworden: so war es vermöge der Natur der Seele unmöglich, daß ein bloßes v i e l l e i c h t nach so vielen Jahren eine Wirkung auf ihn hätte thun sollen, die das ärgste ist was er hätte leiden können, wenn er der v o r s e t z l i c h e muthwillige Mörder oder Zerstörer eines schuldlosen Geschöpfes gewesen wäre. Vergeben Sie, m. Fr. daß ich mich so lange bey etwas aufgehalten, das kaum so viel Aufmerksamkeit werth war. Wer weiß nicht, daß gerade um deswillen beynahe keine einzige Begebenheit in der Welt rein erzählt wird, weil in der sehr natürlichen Absicht die Zuhörer desto besser zu unterhalten und die

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Sache desto rührender zu machen, jeder Erzähler, auch ohne sich dessen als einer ausdrücklichen Absicht bewußt zu seyn, die Backen voller nimmt; immer mehr von dem seinigen hinzuthut, je mehr die Sache seine eigne Einbildung erhizt — mit Einem Worte, unvermerkt zum Dichter wird. Möchten die guten Leute nur auch so billig seyn, und sich nicht der Erlaubniß quidlibet audendi, die Horaz den Dichtern giebt, anmaaßen wollen; oder wenigstens nur die Bedingung nicht vergessen, wodurch er diese Freyheit in die Grenzen der Natur und Wahrheitsähnlichkeit einschließt! Als ich Ihnen vorhin sagte: Rousseau könne dem lieben Gott das pharisäi10

sche Compliment unmöglich gemacht haben, womit ihm ein sogenannter Freund (einer von den dienstfertigen Freunden, deren Unverstand oft mehr schadet, als aller böse Wille eines Feindes) noch in seiner lezten Stunde Ehre machen wollte — erinnerte ich mich nicht sogleich, daß in der Relation des derniers jours de Mr. J . J . R o u s s e a u et des circonstances de sa Mort, welche Hr. l e B e g u e d e P r e s l e , Doctor der Arzneywissenschaft von der Facultät zu Paris und Königl. Bücher-Censor, im abgewichnen Jahre zu Neuschatel drucken lassen, eine Stelle ist, die, wofern sie sich nicht ausdrüklich auf jene Ausstreuung und ähnliche, womit das Publikum hintergangen worden, bezieht, wenigstens demjenigen ein neues Gewicht giebt, was ich darüber ge-

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sagt habe. Der ganze Aufsatz ist sehr lesenswürdig. Alles was uns H r . l e B e g u e von den letzten Tagen des edeln und in seinem Leben so sehr mißkannten und mißhandelten Mannes sagt, scheint aus den lautersten Quellen geflossen zu seyn; und selbst die Kürze seiner Nachricht von Rousseaus letzter Stunde leistet die Gewähr für seine Glaubwürdigkeit. Madame Rousseau (sagt er) die in dieser Stunde ganz allein bey dem Sterbenden war, war viel zu unruhig und betrübt, um die eignen Worte und Ausdrücke der moralischen oder religiösen Gesinnungen, die ihr Mann noch äußerte, zu behalten. (Von ihr kommt also die emphatische Anrede an den Ewigen nicht her, die er in dieser lezten Stunde noch gehalten haben soll? Und wer konnte sie denn gehört ha-

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ben, da Sie, die doch allein bey ihm war, nichts davon gehört hatte?) Ich bin, sezt der Doctor l e B e g u e hinzu, durch die genauesten Erkundigungen, die ich noch an seinem Todestage und an den nächstfolgenden eingezogen, gewiß worden, daß Rousseau in seinen lezten Augenblicken w e d e r P r a h l e r e y (ostentation) n o c h S c h w a c h h e i t von sich blicken lassen; alles was er äußerte, war Zuneigung zu seiner Ehgattin, Vertrauen zu Herrn G e r a r d i n

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(oder, dem Grafen von Gerardin, auf dessen Gute zu Ermenonville er starb) und Hoffnung auf die Barmherzigkeit Gottes. Ich brauche Ihnen nun weiter nichts hierüber zu sagen, als daß Herr l e B e g u e d e P r e s l e ein Mann von bekanntem Ansehen, und von solchen Eigenschaften des Geistes und Herzens ist, die keinen Zweifel zulassen, ob das wahr sey, was er für historische Wahrheit giebt; und daß seine Nachrichten, noch zu allem Überfluß, von Hrn. J . H . d e M a g e l l a n , einem gelehrten Portugiesischen Edelmann, bekräftigt werden, dessen Anhang zu denselben so ungemein interessant ist, daß ich ihn im nächsten Stücke des T. M. denjenigen, denen das Original nicht zu Gesichte gekommen (und deren unter unsern Lesern viele seyn mögen) in einem Auszuge mitzutheilen gedenke. W.

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Nachtrag zur Anekdote von J. J. Rousseau im T . M e r k u r vom A p r i l dieses Jahrs S. 90. „Ein verehrenswürdiger Greis“, den der Herausgeber der E p h e m e r i d e n d e r M e n s c h h e i t mit den Buchstaben Sch. W . . . . bezeichnet *) — ein Mann, „dem die Gerechtigkeit über alles heilig gewesen und der in einem vierzigjährigen Richteramte den beneidenswürdigen Ruhm davongetragen, ihr immer getreu geblieben zu seyn — hatte es für Unrecht gehalten, die jugendliche Missethat eines großen Mannes bekannt gemacht zu haben.“ Sie hätte (so 10

glaubte der verehrenswürdige Greis) mit besserm Rechte in die Nacht der Vergessenheit versenkt werden sollen, und Hr. I. hätte deshalb übel gethan, die Anekdote von J. J. Rousseau in die Ephemeriden aufzunehmen. Gegen dieses Urtheil rechtfertigt nun Hr. I. zuförderst sowohl seine A b s i c h t (an deren Reinheit wohl niemand zweifeln wird, der es in der Menschenkenntnis und Menschenliebe so weit gebracht hat zu wissen, d a ß w i r ü b e r A b s i c h t e n g a r n i c h t u r t h e i l e n s o l l e n ) als die H a n d l u n g s e l b s t und die G r u n d s ä t z e a u s w e l c h e n s i e g e f l o s s e n , als worüber allerdings jeder Leser der Ephemeriden zu urtheilen berechtigt ist; und nachdem er sich selbst hierüber m e h r a l s g e n u g gerechtfertigt zu haben glaubt,

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sezt er hinzu: „allein ich soll nicht weniger dem Andenken des Mannes Gerechtigkeit wiederfahren lassen, dessen S c h a t t e n durch eine e t w a s u n r i c h t i g e Erzählung einer seiner jugendlichen S c h w a c h h e i t e n könnte beleidiget worden seyn. Es sind darinn z w e e n m i l d e r n d e U m s t ä n d e vergessen, die b e y d e w i c h t i g sind; und es h a t s i c h e i n e e r s c h w e r e n d e M u t h m a ß u n g e i n g e s c h l i c h e n die es nicht weniger ist. Die leztere besteht darinn; d a ß n u r u n r e i n e L i e b e d e m a r m e n J ü n g l i n g d i e s e L ü g e k ö n n t e e i n g e g e b e n h a b e n — Allein einer der w e g g e l a s s e n e n U m s t ä n d e entkräftet diese Muthmaßung in so weit, indem er zeigt daß der *)

S. N. I. im S i e b e n t e n Stük der E p h e m e r i d e n d . M . von 1780.

Nachtrag zur Anekdote von J. J. Rousseau

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M i s s e t h ä t e r in diesem Stücke k e i n e r S c h u l d f ä h i g w a r . E r w a r n o c h e i n K i n d , und, wo ich nicht irre, k a u m d r e y z e h n J a h r e a l t . “ „Noch wichtiger (fährt Hr. I. fort) ist der zweyte in dieser Erzählung v e r g e s s e n e Umstand. Der junge Rousseau wurde durch h a r t e s und d r o h e n d e s Z u r e d e n in die äusserste Angst versezt. E r s a h S c h a n d e u n d S c h m a c h vor sich, und diese machten ihn jeder andern Betrachtung unfähig. Er stund so e i n e A r t v o n F o l t e r aus, die für e h r l i e b e n d e o d e r ehrgeizige Seelen abscheulicher ist als körperlicher Schmerz. Er sah als ein Kind f ü r s i c h s c h r e k l i c h e n a h e F o l g e n v o r ; die, welche seine Lüge für ihn und für M a r i a n e n haben k o n n t e , w a r e r n i c h t f ä h i g

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einzusehen.“ Niemand, der dies ließt, wird nach den Ausdrücken, deren sich Hr. I. bedient, zweifeln können, daß diese m i l d e r n d e U m s t ä n d e (wie er sie nennt) nicht etwa nur bloße Muthmaßungen, sondern würkliche T h a t s a c h e n sind. Der Verfasser der im Monat A p r i l und M a y enthaltnen S c h u z s c h r i f t f ü r R o u s s e a u , (oder vielmehr f ü r d i e M e n s c h h e i t , die er durch d i e A r t w i e d i e A n e k d o t e quæstionis i n d e n E p h e m e r i d e n d e r M e n s c h h e i t e r z ä h l t w o r d e n w a r , für beleidigt hielt) konnte damals möglicherweise nicht weiter gehen, als m u t h m a ß l i c h und w a h r s c h e i n l i c h zu finden, daß das Verbrechen des jungen R. wohl bey weitem nicht so groß gewesen

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seyn dürfte, als es der Erzähler und Commentator der Anekdote vorgestellt. Er gab die Gründe an, warum ihm die Art, wie dieser Erzähler das Factum dargestellt hatte, u n r i c h t i g , ü b e r t r i e b e n , u n b i l l i g g e g e n R o u s s e a u und p a r t h e y i s c h f ü r M a r i a n e n vorkomme; und diese Gründe sind, wenn ich mich nicht sehr irre, so beschaffen, daß sie jeden unbefangenen Leser überzeugen müssen. Er zeigte auf eine einleuchtende Art: daß das Factum, sobald es nur in seiner nakten Wahrheit, von allen rednerischen Zusätzen des Erzählers entblößt, betrachtet werde, nicht so beschaffen sey, daß der junge Rousseau deswegen schlechterdings den Namen eines B ö s e w i c h t s verdiene; sondern daß sich gar wohl solche Umstände als m ö g l i c h denken ließen, wodurch seine Schuld ungemein vermindert würde; Umstände, die ihn vielmehr zu einem Gegenstande des Mitleidens als des Abscheues edler und gutherziger Menschen machen müßten. Er zeigte daß es (unter den vorliegenden Umständen, und da der Erzähler der Anekdote keinen h i s t o r i s c h e n G r u n d angegeben habe, warum die besagten mildernden Umstände n i c h t

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende August 1780)

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angenommen werden könnten) Pflicht der Menschenliebe, Pflicht gegen die Menschheit überhaupt sey, diese m ö g l i c h e n Umstände, wenigstens solange bis man des Gegentheils historisch überzeugt wäre, als w ü r k l i c h anzunehmen; und dies um somehr, da es (wie er ebenfalls bewies) nicht an guten Gründen fehle, eine solche Voraussetzung s e h r w a h r s c h e i n l i c h zu machen. In allem diesem nun findet sich der Verfasser der besagten Rousseauischen Apologie durch den historischen Nachtrag, welchen Hr. I. zu seiner Anekdote neuerlich geliefert hat, vollkommen gerechtfertigt; und es kann ihm und sei10

nen Lesern nicht anders als angenehm seyn, sich in den Grundsätzen, auf welche sich jene Apologie stüzte, auch durch diese neue Erfahrung bestätiget zu sehen. Hingegen läßt die Art, wie der Herausgeber der Ephemeriden theils sein Verfahren selbst, theils die Gründe desselben rechtfertigt, einige Zweifel übrig, welche ich offenherzig mitzutheilen um so weniger Bedenken trage, da bey dieser ganzen Sache nicht de lana caprina, sondern von sehr erheblichen Punkten der praktischen Sittenlehre und von sehr wesentlichen Pflichten sowohl des M e n s c h e n als des B ü r g e r s die Rede ist. Also zuerst meine Zweifel über die Art wie Hr. I. sein Verfahren in dieser

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Anekdotensache entschuldigt. Ist der Ausdruk: „Rousseaus Schatten k ö n n t e durch eine e t w a s unrichtige Erzählung einer seiner j u g e n d l i c h e n S c h w a c h h e i t e n beleidigt worden seyn,“ wohl der Sache angemessen? — So könnte man sich allenfalls ausgedrükt haben, wenn der Erzähler der Anekdote uns einen k l e i n e n Jugendfehler Rousseaus auch würklich a l s e i n e n k l e i n e n J u g e n d f e h l e r verrathen hätte; und nun — nachdem er hinterdrein in Erfahrung gebracht, daß er das Factum nicht ganz richtig erzählt habe, daß der jugendliche Fehler noch unbedeutender sey als er ihn anfangs vorgestellt — aus zartem Gefühl für Wahrheit und Gerechtigkeit auch diese kleine Unrichtigkeit heben und

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berichtigen wollte. Aber ist denn dies würklich der Fall des Erzählers? Hat er uns nicht die That des jungen Rousseau, als eine s e h r l a s t e r h a f t e Handlung, und den jungen Rousseau um dieser That willen, als einen h a r t h e r z i g e n g r a u s a m e n B ö s e w i c h t abgeschildert? Hat er nicht, um uns wider Rousseau für das Dienstmädchen Mariane einzunehmen, zwey v i e l l e i c h t , zwey b l o ß m ö g l i c h e Umstände hinzugedichtet, die, wenn sie als wahr vor-

Nachtrag zur Anekdote von J. J. Rousseau

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ausgesezt werden, die Schuld und das Verbrechen des jungen Menschen ungemein vergrößern? Wie hat sich nun auf einmal d a s Ve r b r e c h e n e i n e s B ö s e w i c h t s i n j u g e n d l i c h e S c h w a c h h e i t e n verwandelt? — Oder wie kann von einer Erzählung, die das Factum in w e s e n t l i c h e n Puncten v e r f ä l s c h t ; die aus einer bloßen jugendlichen Schwachheit eines der schwärzesten Verbrechen, eine Handlung, deren nur ein Bösewicht fähig seyn kann, macht, nur e t w a s u n r i c h t i g genennt werden? — Rousseaus S c h a t t e n müste alles Gefühl und Bewustseyn seiner ehmaligen Menschheit aus dem Lethe weggetrunken haben, wenn er, durch eine, auch etwas unrichtige, Erzählung einer seiner jugendlichen Schwachheiten, beleidigt werden sollte;

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aber um nicht davon beleidigt zu seyn, wenn uns jemand um einer solchen Schwachheit willen zum Bösewicht macht, müste man noch weniger als ein S c h a t t e n seyn. Ich drücke mit Vorsaz auf das Wort S c h a t t e n , nicht um ein unzeitiges Ärgernis über den Gebrauch dieses Wortes, wenn die Rede von einem Verstorbnen ist, damit auszudrücken (wiewohl ich gestehe, daß ich diesen Gebrauch desselben, zumal in Prosa, nicht liebe) sondern weil mich dünkt daß es hier an einem ganz unschiklichen Orte steht. Rousseaus Geist oder Rousseaus Schatten, wenn’s ja Schatten seyn soll, kann nun, nachdem das I n d i v i d u u m J . J . R o u s s e a u aus dieser Welt verschwunden ist, nicht mehr beleidigt wer-

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den. Ihn kümmerts nun nichts mehr, ob wir Gutes oder Böses von ihm sagen, ob wir ihm Recht oder Unrecht thun. Aber die Menschen, die ihn überlebt haben, haben sich darum zu bekümmern. Sein Charakter, seine Schriften und alle seine übrigen Handlungen gehören der Menschheit an; und keinem Menschen, der selbst noch kein Schatten ist, kann und soll es gleichgültig seyn, ob dem Charakter eines Menschen, zumal eines der sich nicht mehr vertheidigen kann, auch nur um ein Tantillum unrecht geschieht. Von wem sollte man weniger erwarten, als von dem Herausgeber der Ephemeriden, daß er dies nicht lebhafter als Tausend andre fühlen sollte? Aber dies ist noch nicht alles. Wie kann Hr. I. die zween Umstände, welche das ganze Factum so w e s e n t l i c h ändern, daß aus dem, was erst die That eines Bösewichts war, nur eine jugendliche Schwachheit geworden ist, bloß m i l d e r n d e Umstände nennen? Mildernde Umstände verändern, nach dem gemeinen Sprachgebrauch, nicht die Natur des Verbrechens sondern nur den Grad der Strafbarkeit desselben.

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Und wie war es doch immer möglich, daß zween so wichtige Umstände, Umstände die das ganze Factum so wesentlich ändern, von dem Erzähler v e r g e s s e n werden konnten? — Aus dem Gebrauch des Worts v e r g e s s e n muß ein Jeder schließen, daß sie dem Erzähler n i c h t u n b e k a n n t gewesen. Denn, wären sie ihm unbekannt gewesen, warum hätte Hr. I. dies nicht lieber geradezu gesagt? nicht lieber offenherzig gestanden, daß ihm und dem Erzähler B. diese Umstände erst bekannt geworden, nachdem die Anekdote schon in den Ephemeriden abgedrukt gewesen? Wußte Hr. B. sie aber damals schon; welch eine leidige Untreue begieng sein Gedächtnis an ihm, während 10

der ganzen Zeit, da er diese Anekdote mit so großer Wärme hinschrieb, ihm gerade die wichtigsten Umstände, gerade die, welche zur Entschuldigung des armen Knaben Rousseau dienten, so hartnäckig zu verbergen? — Und wie konnte s i c h eine w i c h t i g e , die Schuld des angeklagten und verurtheilten Knaben ungemein e r s c h w e r e n d e M u t h m a ß u n g e i n s c h l e i c h e n ? Welch eine seltsame Art von Unaufmerksamkeit sezt die Möglichkeit, auf eine solche Art ü b e r s c h l i c h e n zu werden, bey dem Erzähler einer Thatsache, die der Ehre eines verdienstvollen Mannes nachtheilig ist, voraus? Aber diese Muthmaßung wird durch den weggelaßnen Umstand daß der angeklagte Missethäter noch — ein Kind war, nicht nur e n t k r ä f t e t , (wie

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Hr. I. sagt) sondern vernichtet; denn Er selbst gesteht unmittelbar darauf: dieser Umstand zeige daß der M i s s e t h ä t e r i n d i e s e m S t ü c k e k e i n e r S c h u l d f ä h i g g e w e s e n . — Wie war es möglich, ich frage nochmals, daß, da sich eine die Schuld des Knaben so sehr erschwerende Muthmaßung bey dem Erzähler e i n s c h l e i c h e n wollte, nicht eben dadurch sein Gedächtnis erwachte und ihn plözlich an den Umstand des Facti erinnerte, der diese fatale Muthmaßung sogleich wieder erstikt haben würde? Ich gestehe aufrichtig, daß ich mich in diese ganze Apologie oder Entschuldigung des E r z ä h l e r s B . nicht zu finden weiß; und mich dünkt, d e r A p o l o g i s t f ü r R o u s s e a u habe diesen Erzähler, ohne ihn zu kennen oder

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die mindeste Rechnung auf seinen Dank zu machen, weit besser entschuldiget, da er sagt: „Vermuthlich müsse sich der Abscheu, der das tugendhafte Herz des Erzählers beym Anblik einer so auffallendhäßlichen That durchdrungen, unvorsezlicherweise in die Erzählung selbst ergossen haben, dergestalt daß er sie, anstatt der philosophischen Kälte, die von jedem Geschichtschreiber gefodert werden könne, eher mit der Wärme eines gefühlvollen

Nachtrag zur Anekdote von J. J. Rousseau

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Sittenpredigers, ja beynahe in dem Ton eines Advocaten der die Sache des Dienstmädchens vor Gerichte zu führen gehabt hätte, vorgetragen habe *).“ Ich unterschreibe übrigens aus vollem Herzen die moralische Nutzanwendung, womit Hr. I. seine Rechtfertigung beschließt, indem Er sagt: Wieviel Behutsamkeit ist also nöthig, wenn man in Beurtheilung der Menschen und der Zeiten nicht ungerecht seyn soll — Aber das v e n i a m d a m u s petimusque vicissim, hätte ich, ich gesteh’ es unverhohlen, bey d i e s e r Gelegenheit, nicht erwartet. Wenigstens verlange ich, meines Orts, unter s o l c h e n Umständen keine veniam; oder wenn ja unter solchen Umständen um Nachsicht gebeten wird, sollte es nicht nach einer s o l c h e n Apologie geschehen. Meine Bedenklichkeiten gegen die Gründe, welche Hr. I. dem Urtheil des verehrenswürdigen Greises, daß er die nachtheilige Anekdote von Rousseau lieber in die Nacht der Vergessenheit hätte versenken sollen, entgegensezt, sollen im nächsten Stücke des T. Merkurs einen Plaz erhalten. W.

*)

S. T. Merkur, April 1780. S. 84.

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Über die Frage: In wiefern es gut sey, die Übelthaten vortreflicher Menschen bekannt zu machen? als eine Fortsetzung des Nachtrags zur A n e k d o t e v o n J . J . R o u s s e a u . (S. T . M e r k u r April, S. 90. und August S. 146. d. J.) Ich habe den Lesern dieses Journals, denen die genauere Erörterung der Frage: was in einem gewissen Falle recht oder unrecht sey? nicht gleichgültig ist, am Schlusse des im August d. J. abgedrukten Nachtrags zur Anekdote 10

von J . J . R o u s s e a u , die Mittheilung meiner Bedenklichkeiten gegen die Gründe zugesagt, womit der berühmte Herausgeber der E p h e m e r i d e n d e r M e n s c h h e i t im 7ten Stücke d. J. sein Verfahren in dieser Anekdotensache gegen das Urtheil eines seiner Freunde rechtfertigt. „Ein verehrenswürdiger Greis hatte es nemlich für Unrecht gehalten, daß die jugendliche Missethat eines großen Mannes in den Ephemeriden bekannt gemacht worden, anstatt daß sie mit besserm Rechte in der Nacht der Vergessenheit hätte begraben werden sollen.“ (Ephemer. 7. St. S. 3.) Da keine Gründe angegeben sind, warum der ehrwürdige Greis so geurtheilt, so ist sich um so weniger zu verwundern, daß Hr. I . in der bloßen

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Autorität desselben, so groß auch sonst seine Verehrung für ihn war, noch keinen genugsamen Beweggrund fand, den Gesichtspunct zu ändern, aus dem Er die Sache ansah. „Wenn ein Vergehen an sich selbst oder durch seine Folgen so beschaffen ist, daß es für die Nachwelt lehrreich werden kann, so däucht es mir P f l i c h t (sagt Hr. I . ) es der Welt nicht zu verhalten; so scheint es mir eine Art von Söhnopfer zu seyn, das der Urheber davon leidet, für den Schaden den er dadurch verursacht hat, und durch das er beiträgt, die durch ihn gestörte Ordnung wieder herzustellen, die durch ihn verminderte Masse des Guten wieder zu ergänzen. Wenn also (fährt er fort, indem Er die Anwendung dieses Grundsatzes auf

Über die Frage

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den vorliegenden Fall macht) eine Handlung von J. J. Rousseau herauskäme, welche wirklich zeigte, daß seine Tugend nicht so unbeflekt gewesen wäre, als seine Verehrer sie dargeben: so würde ich kein Bedenken finden sie bekannt zu machen, sobald ich glauben würde, daß ihre Bekanntmachung irgend einen Menschen von einem Irthum heilen oder vor einer bösen Handlung warnen würde.“ — Da Ihm nun der Fehltritt, wovon die Rede ist, von dieser Natur zu seyn schien; so glaubte Er nicht nur recht daran gethan zu haben, daß Er sie bekannt machte, sondern Ihm däucht sogar, „ e s w ü r d e S ü n d e g e w e s e n s e y n diese Geschichte vor der Welt zu verbergen, wenn sie auch dem Andenken ihres Urhebers noch so nachtheilig seyn könnte; “ und Er „konnte sich

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auch anbey nicht die geringste schädliche Folge für die gute Sache der Tugend und der Wahrheit von dieser Bekanntmachung vorstellen.“ Aber auch das Andenken des großen Mannes konnte, nach Hrn. I. Urtheil, nicht so sehr dadurch beschimpft werden, daß der Werth seiner Verdienste dadurch verdunkelt werden sollte. „Wenn die Jugendgeschichten aller großen und bewunderten Männer ausführlich aufgezeichnet wären, so würden wir wenige finden, welche nicht durch solche Züge entziert wären; und wir würden sie gebrauchen, nicht der Jugend Verachtung für diese Männer einzuflößen, sondern sie aufzumuntern sich vor Fehlern zu hüten u. s. w.“ Dies sind also die Gründe und Betrachtungen, wodurch Hr. I. s i c h m e h r

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a l s g e n u g g e r e c h t f e r t i g t z u h a b e n g l a u b t , und durch deren nähere Beleuchtung ich die oben rubrizierte Frage — als ein, meines Bedünkens, gar nicht unerhebliches Problem aus der Sitten-Philosophie — so weit es bey moralischen Problemen möglich ist, der Auflösung nahe zu bringen hoffe. Man wird beym ersten Anblik gewahr werden, daß es hier zuförderst auf eine genauere Bestimmung der beyden Termen ankomme, nemlich: was wir unter einem großen Mann verstehen, oder von welcher Art großer Männer die Rede sey? — sodann, was eigentlich mit den Worten, Vergehen, Fehltritt, jugendliche Missethat, gesagt werden wolle, und ob von a l l e n Arten der Übelthaten oder nur von einigen derselben behauptet werde, daß ihre Bekanntmachung der Welt nüzlich sey? Man kann auf mancherley Art ein großer Mann seyn. Ehe ganz neuerlich die berühmte Entdeckung gemacht worden, daß Alexander nur ein Polisson, Cäsar nur ein glüklicher Galgenschwengel, und Ludwig XIV. nur ein windichter Petit-Maitre war, hatte die ganze Welt wenigstens die beyden ersten für

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große Männer in ihrer Art gehalten, und in einer Art wo die Individua sehr selten sind. Scipio Africanus, Cato, Cicero, Livius, Virgil, Plinius der Ältere, gelten für große Männer wiewohl auf v e r s c h i e d n e Art und in sehr verschiednen Fächern. Denn es ist schon ein alter Gebrauch jeden einen großen Mann zu nennen, der in irgend einer Art von Würksamkeit, welche die Menschen mit öffentlicher Hochachtung belohnt zu werden würdig halten, der Vollkommenheit nahe kömmt. Daher ist ein großer Luftspringer, nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, kein g r o ß e r M a n n , wiewohl er seiner Art ein g r o ß e r M e i s t e r ist; denn gerade die A r t ists was man v e r a c h t e t , wie10

wohl man die Vo l l k o m m e n h e i t in derselben schäzt. Hingegen wird ein großer F e l d h e r r , ohne Rüksicht ob er immer, nach moralischem Maasstab, den besten Gebrauch von seinem Talent gemacht hat, ein großer Mann genennt; weil man (aus guten Ursachen) gewohnt ist, die A r t , worinn er groß war, hochzuschätzen. Eben so ists mit dem großen Staatsmann; eben so mit dem großen Naturforscher, Arzt, Geschichtschreiber, Dichter u. s. w. Eben so mit dem großen Mahler, Bildhauer, Schauspieler u. s. w. In allem diesem wird die Art hochgeschäzt, und wer in irgend einem dieser Talente sehr vortreflich ist, wird unter den großen Männern seiner Zeit und Nation, wer aber unter allen den großen Männern seiner Art noch hervorragt, wie z. B. Homer unter

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den Dichtern, Aristoteles und Newton unter den Philosophen, Cäsar unter den Feldherrn, Heinrich IV. von Frankreich unter den Königen, der wird unter den Magnaten des ganzen Menschengeschlechts genennt. Bey allen diesen großen Männern kömmt, wenn die Rede von ihrer G r ö ß e ist, der moralische Charakter eigentlich gar nicht in Anschlag. Raphael von Urbin würde der Fürst der Mahler, wie Homer der Fürst der Dichter, bleiben, wenn gleich in diesem Augenblik eine glaubwürdige geheime Geschichte entdekt würde, die uns die ärgerlichsten Dinge von ihrem ehmaligen Lebenswandel erzählte. Elisabeth von England war mit allen ihren Schwachheiten eine große Königin, und der Graf Moriz von Sachsen mit allen den seinigen ein

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großer Feldherr. Von dieser Art großer und bewunderter Leute mag immer wahr seyn, daß, wenn ihre Jugendgeschichten ausführlich aufgezeichnet wären, wir wenige darunter finden würden, die nicht durch häßliche Züge entziert wären; wenigstens ist dies um soviel mehr zu glauben, weil selbst die Geschichte ihrer reifen Jahre nicht immer die erbaulichste ist. Aber, da man schon einmal gewohnt ist, sich bey ihrer Größe keine moralische Vollkom-

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menheit zu denken, so ärgert sich niemand daran; und die Todesart R a f a e l s , zum Exempel, wiewohl sie keine Folge seiner K e u s c h h e i t war, schadet ihm nicht nur nichts in dem Urtheil aller K u n s t v e r s t ä n d i g e n , sondern es ist auch nicht zu besorgen, daß die Offenbarung derselben die n o t h w e n d i g e Ursache irgend eines sittlichen Übels seyn werde. Ich begehre hiemit keineswegs zu läugnen, daß alle die erwähnten Arten von großen Männern uns nur desto schäzbarer und liebenswürdiger seyn würden, wenn wir gewiß wären, daß sie auch sehr weise und tugendhafte Menschen gewesen seyen. Auch wird einem jeden seine eigne Erfahrung sagen, daß es uns immer unangenehm ist, wenn man uns, z. B. von einem unsrer

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Lieblingsschriftsteller, einen schlechten Charakter macht, oder Anekdötchen von ihm herumgehen, die seinem Herzen oder seinen Sitten keine Ehre machen. So ergieng es mir der dies schreibt mit poor Yorik-Sterne, von dessen Sitten ganz neuerlich soviel nachtheilige Erzählungen, in allerley gedrukten Urkunden, von falschen Brüdern in die Welt geschikt worden. Nicht als ob Tr i s t r a m S h a n d y oder Yo r i k s R e i s e durch alle diese, vielleicht hämische, schiefe und verschnittelte Silhouetten von dem moralischen Gesichte ihres Verfassers, wenn sie auch wahr wären, nur um einen Sonnenstaub auf meiner Wage leichter würden; sondern weil ich den Mann liebe, dessen Geist, Herz und Sinn mir so traulich und ohne Falsch aus diesen Werken entgegen-

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kommt; und weil es natürlich ist, daß wir das was wir lieben gern von aller Makel und Vermailigung rein sehen möchten. Indessen bleibt doch richtig: daß die Welt um aller solcher Anekdoten willen, so geneigt sie auch immer für den Augenblik seyn mag sie zu glauben, im Grunde doch nicht desto schlimmer von großen oder sehr vorzüglichen Männern denkt; und dies gerade darum, weil ihre Hochachtung für dieselbe nicht auf ihre gute Meynung von ihren Sitten, sondern bloß auf das, worinn sie groß oder vortreflich sind, gegründet ist. Allein es giebt, so Gott will! noch eine Art von großen Männern, wie klein auch ihre Z a h l seyn mag, mit denen es eine ganz andre Bewandtnis hat. — Es hat — (wenigstens sollte uns die Ehre der Menschheit nahe genug am Herzen liegen, um zu w ü n s c h e n daß es so sey) es hat zu allen Zeiten einige wenige gegeben, die durch Weisheit und Tugend groß waren: oder, von denen wenigstens höchstglaublich ist, daß ihre Tugend keine Maske war; daß sie würklich, aus reiner inniger Liebe zu dem hohen Ideal der sittlichen Vollkommenheit

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das vor ihrem Geiste schwebte, ihr Inneres ganz nach dieser himmlischen Form zu bilden, und also auch ihr äusserliches Leben, zu einem Abdruk derselben zu machen, über alles beflissen waren. Niemand ärgere sich daran, daß ich von der Existenz dieser seltnen Art von Menschen, zweifelhaft zu reden scheine. Beweisen, nach der Schärfe beweisen läßt sie sich freylich keinem, der nicht einheimische Ursachen hat an die Tugend zu glauben. S o k r a t e s , C a t o , E p i k t e t (um izt nur Namen zu nennen, die Jedermann kennt und mit Ehrerbietung zu nennen gewohnt ist) so groß sie als weise und gute Menschen waren, konnten es doch nicht so sehr seyn, daß es 10

einem R o c h e f o u c a u l t , einem M a n d e v i l l e , und (wenn es anders erlaubt ist, diesen Männern einen solchen Sophisten beyzustellen) einem L i n g u e t nicht möglich seyn sollte, den Glanz ihrer Tugend zu verdunkeln, ihren innern Werth abzuwürdigen, und sogar die Aufrichtigkeit derselben zweifelhaft zu machen. Wie dem aber auch seyn mag, soviel ist wohl gewiß, daß uns in der Geschichte (und vielleicht auch jedem der dies ließt in dem Kreise seiner eignen Erfahrung) Menschen aufstoßen, die uns durch die stille Größe einer reinen, edeln, ruhigen, prunklosen, wenig schimmernden, aber immer in That und Wahrheit sich erweisenden Tugend — Liebe, Zutrauen und Ehrerbietung ab-

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nöthigen. Giebt es aber solche Menschen, und ist es wahr, daß ihr Einfluß und Beyspiel die Liebe zur Tugend kräftiger befördert als irgend ein anderes Mittel: so ist der menschlichen Gesellschaft an dem Glauben an die Existenz solcher Menschen, die als Beyspiele und Muster der Vortreflichkeit wohlthätig sind, um so mehr gelegen, je mehr man immer viele geschäftig sieht, die Advocaten des Teufels dabey zu spielen, und je leichter es ist, an der reinsten Tugend Flecken zu finden und den edelsten Charakter durch lügenhafte, oder (was noch ärger ist) durch halbwahre Geheimnachrichten anzuschmitzen. Ob ein Mann, der wie ein Epiktet spricht und wie ein Epiktet zu leben

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scheint, würklich der Mann sey der er scheint, oder ob seine Weisheit, seine Wahrheitsliebe, sein brennender Eifer für das Gute, sein eben so heißer Haß des Bösen, die Hoheit seiner Gesinnungen, die Einfalt seines Lebens, die Reinigkeit seiner Sitten, nur Maske und Kunstgrif, oder wenigstens nur Declamation, Prunk, falsche Anmaßung und Selbstbetrug des Eigendünkels sey — ist eine Frage, die dem Interesse der Menschheit unendlich näher liegt, als

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Neun und Neunzig Hunderttheile aller Fragen, deren Auflösung die scharfsinnigsten Köpfe seit zwey bis drey Jahrtausenden beschäftigt hat. Der bloße Name S o k r a t e s hat den Hippiassen aller Zeiten mehr heimliche Ehrfurcht eingedrükt, sie mehr beunruhigt und kräftiger widerlegt als alle moralische Theorien und Dissertationen der Akademie und der Stoa. Hingegen ist auch ein einziger S e n e c a wieder genug, um unzähliche schwächere Seelen irre — und beynahe jeden, der die Sprache der Weisheit und Tugend im höhern Tone spricht, verdächtig zu machen. Der Jüngling, der noch mit ungewissem Blik und Herzen auf dem Scheideweg des Herkules steht, und hört einen so großscheinenden Mann von der Würde des Menschen, von der Göttlichkeit seiner Natur und Bestimmung, wie einen Gott

sprechen *)

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und hört eben diesen Mann einem verächtlichen Sclaven des noch verächtlichern Claudius, und diesem Claudius selbst, dem Unwürdigsten unter allen die jemals einen Thron geschändet haben, so unmäßig, so über allen Ausdruk schändlich schmeicheln — hört ihn von eben diesem Elenden, den er nach dessen Tode als den untersten aller Narren und Bösewichter schaugiebt, hört ihn von eben diesem Claudius sagen: „ O daß wir nur dies einzige vom Schiksal erflehen mögen, daß wofern es den gänzlichen Untergang des menschlichen Geschlechts noch nicht beschlossen hat, wenn es noch mit Gnade auf den Römischen Namen herabblikt, e s d i e s e n F ü r s t e n , d e r d e r s i n k e n d e n

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We l t g e g e b e n i s t s i e w i e d e r a u f z u r i c h t e n , sich eben s o h o c h h e i l i g seyn lasse w i e E r a l l e n S t e r b l i c h e n i s t . “ * * ) — der Jüngling, sage ich, *)

Man lese z. B. nur den 41sten und 66sten der Briefe dieses spruchreichen Mannes, gegen den

der ehrliche Atheniensische Bürger Sokrates so ein armer — S p r e c h e r war. **)

Ich kenne kein abscheulicheres Document gegen den moralischen Character irgend eines

Menschen als die Tr o s t s c h r i f t a n d e n P o l y b i u s , aus welcher die hier angeführten Züge genommen sind, verglichen mit der sogenannten Apokolokyntosis Claudii Caesaris, beyde von ebendemselben Verfasser. Man kann und muß, nur zu oft in seinem Leben, Gesichtspunct, Ton, Verhältnisse, Zuneigung und Abneigung, Urtheile und Meynungen ändern; aber die wesentlichen Züge, die den Redlichen und Guten auszeichnen, und wodurch er, unter allen natürlichen oder zufälligen Umgestaltungen und Veränderungen dem Selbstredlichen und Guten immer kennbar, immer Ebenderselbe bleibt, diese Züge sind unauslöschlich. Wenn ich etwas gewiß zu wissen glaube, so ists dies: daß es Stufen von Niederträchtigkeit giebt, zu denen ein edler Mensch nie herabsinken kann; und daß die unmäßigen Schmeicheleyen, welche Seneca an den feigen Tyrannen Claudius und seinen Freygelaßnen Polybius verschwendet, unter diese Niederträchtigkeiten gehören. Ich kann mir nicht sehr begreiflich machen, wie diejenigen denken, die ihn entschuldigt zu haben glauben, wenn sie sagen, daß er die schändliche Urkunde, wovon die Rede ist, während

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der dies ließt, was kann, was muß er von dem großen Manne denken? Was für Eindrücke werden nun die erhabnen Grundsätze, die schönen epigrammatischen Sprüche, die begeisterten Declamationen (freylich ists nur g e m a c h t e s We t t e r ) dieses mächtigen Sprechers auf ihn machen? Oder ist es zu verwundern, wenn ihm jeder höhere Schwung der Seele, jeder Charakter der über das Pygmäen-Maß dessen was man im gemeinen Leben einen ehrlichen Mann nennt, emporragt, kurz, wenn ihm aller Enthusiasmus, alle anscheinende Anmaßung mehr als gewöhnlicher moralischer Stärke und Vollkommenheit, durch ein einziges solches Beyspiel verdächtig wird? Und wieviel 10

liegt also daran, ob ein Beyspiel dieser Art mehr oder weniger in der Welt ist? Ich nehme mir nicht heraus, entscheiden zu wollen, in wieferne J. J. Rousseau unter den Männern, die durch die sittliche Vollkommenheit ihres Charakters g r o ß waren, einen Plaz behaupten könne. Man kann in der Anwendung der theoretischen Grundsätze der Ethischen Metaphysik auf einzelne Personen und Fälle nicht behutsam genug seyn, und es ist damit vollkommen wie mit der Anwendung der mathematischen Wahrheiten auf verwickelte Naturerscheinungen. So leicht es ist, sich die Idee eines vollkommnen Weisen, oder die Idee eines E d e l g u t e n , (kalow kÆagauow) vorzubilden: so schwer ist es, wenn wir ganz unbefangen sind, zu sagen: D i e s i s t d e r M a n n ! Die Wage

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dieses Gerichts ist nicht für unsre zitternde Hand. Auch hat sich Rousseau wenig in den manchfaltigen Verhältnissen des Lebens, und gar nicht, oder nur auf kurze Zeit und in einer sehr subalternen Rolle, auf dem Schauplaz des öffentlichen Lebens und der Weltgeschäfte gezeigt; und kann also mit den Helden Plutarchs, oder den Neuern, die eines Plutarchs würdig waren, nicht wohl verglichen, geschweige in Eine Klasse gestellt werden. Aber dies wenigstens kann ich sagen: Nach allem was ich von J. J. Rousseau weiß, bin ich überzeugt, daß er Wahrheit und Tugend aufrichtig liebte; daß sein Enthusi-

seiner Verbannung nach Korsica, d a e r a n L e i b u n d S e e l e z u B o d e n g e l e g e n , geschrieben habe. Denn was sollen wir von dem Manne sagen, der ein prächtiges Buch v o n d e r S t a n d h a f 30

t i g k e i t d e s We i s e n schreibt, und bey der ersten Probe, worauf er gestellt wird, so schändlich unterliegt? Aber auch das arme Recht an diese kahle Entschuldigung hat er sich selbst benommen. Denn, war es nicht aus Korsica, woher er die eben so prächtige Tr o s t s c h r i f t a n s e i n e M u t t e r schrieb, worinn er in den witzigsten Wendungen die erhabensten Gesinnungen auskramt, und sie am Ende versichert „daß er so fröhlich und munter sey als ob seine Sachen zum Besten stünden?“

Über die Frage

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asmus für beyde weder Affectation noch zufälliges Aufbrausen war; daß er so ehrlich gegen sich selbst, als gegen andre Menschen, kurz daß er der Mann würklich war oder wenigstens e r n s t l i c h s e y n w o l l t e , für den er sich gab, und für den ihn jeder u n e i n g e n o m m e n e , selbst edle und gute Leser seiner Schriften, durch den fast unwiderstehlichen Zwang des Gefühls, zu halten genöthigt ist. Und eben daher werde ich eine vielleicht nicht geringe Anzahl unsrer Zeitgenossen in dieser Meynung von seinem Charakter auf meiner Seite haben; einer Meynung, worinn mich sogar die neulich erschienene Schrift, Rousseau Juge de Jean-Jaques, wiewohl ich ihre Bekanntmachung beklage, so wenig gestört hat, daß ich vielmehr (selbst in der Voraussetzung

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daß sie würklich von Ihm herrühre) dadurch in meiner Überzeugung von der Wahrheit seines Charakters befestiget worden bin. *) Nun könnte Rousseau der tugendhafteste Mensch von der Welt gewesen seyn; wäre er, wie so manche die es sind und von denen außer dem kleinen Kreise ihres Privatlebens Niemand etwas weiß, der Welt unbekannt geblieben: so würde der Welt wenig daran gelegen seyn, ob er würklich der vortrefliche Mann gewesen sey, wofür er in seinem kleinen Winkel vielleicht gehalten worden wäre. Aber Rousseau war und bleibt für alle künftige Jahrhunderte e i n g r o ß e r S c h r i f t s t e l l e r , noch groß unter den größten unsers Jahrhunderts; und diese einzige Qualification macht einen gewaltigen Unterschied. Denn

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nun ist der Welt gar sehr daran gelegen, ob der Enthusiasmus für Wahrheit, Tugend und Religion, den dieser Mann — ein Mann von den seltensten Talenten, ein Geist der ersten Größe, ein Schriftsteller vom ersten Rang — sein ganzes Leben durch in seinen Handlungen wie in seinen Schriften zeigte, und wodurch er sich eben so sehr vor allen großen Geistern der Nation, in deren Schoß er lebte, auszeichnete, als er sich durch die Energie seiner Einbildungskraft, die Stärke seines Verstandes, und die hinreissende Beredsamkeit seiner *)

Der Augenschein muß jeden Leser der genannten Schrift überzeugen, daß sie in einer

traurigen Art von Krankheit, die ich Anthropophobie nennen möchte, geschrieben sey. In einem Fieber, worinn die Seele ihrer eignen Einbildungen nicht mehr mächtig ist, und sich, mitten unter Menschengesichtern, von Teufelslarven und Schrekgespenstern umgeben glaubt, in solchem Zustande hört alle künstliche Verstellung auf. Wer aus einer solchen Seelenverfinsterung noch s o l c h e Stralen von Güte, Wahrheit, Unschuld und Trost auf sein Selbstbewustseyn, von sich wirft, ist wahrlich kein Heuchler — oder es giebt gar kein Kennzeichen, woran man Natur und Kunst, Wahrheit und Lüge an einem Menschen unterscheiden kann.

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Schreibart über die meisten derselben erhob — es ist, sage ich, sehr viel daran gelegen, ob der Eifer, den e i n s o l c h e r M a n n , zu einer Zeit wie die unsrige, für Wahrheit und Tugend öffentlich bewiesen hat, ob der Eifer womit er sich gleichsam vor den Augen der ganzen Welt dem Dienst dieser verlaßnen und unbekannten Gottheiten geweyht hat, aufrichtig war oder nicht? Ob er würklich so völlig von seinen Grundsätzen überzeugt, so innigst von den Empfindungen, die er so schön auszudrücken weiß, belebt war, daß er l e b t e w i e e r s c h r i e b ; oder ob es nur Eigensinn und Widersprechungsgeist, nur die sophistische Eitelkeit war, einer beynahe von Allen verlaßnen Sache durch die 10

Stärke seiner Beredsamkeit wieder aufzuhelfen, um seinen Vorzug über seine Mitwerber um den öffentlichen Beyfall desto auffallender zu machen? Aus diesem Gesichtspunct (oder ich müßte mich sehr irren) muß Rousseaus Charakter und die fast allgemeine Meynung welche der unpartheyische Theil der Welt bisher von ihm gehegt hat, und die nun, seit seinem Tode, auch in Frankreich, wo er so lange verkannt worden, die Oberhand zu gewinnen scheint, betrachtet werden: — Nicht, als ob die g u t e S a c h e d e r Wa h r h e i t u n d Tu g e n d etwas dabey zu gewinnen hätte: denn diese bleiben was sie sind, wenn es auch möglich wäre daß sie von allen Menschen verläugnet und verstoßen würden. Die Güte ihrer Sache gründet sich auf die ewigen Gesetze der

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Natur und die Constitution des ganzen Weltalls, die darum nicht anders werden wird als sie ist, wenn wir uns verkehrte oder kindische Vorstellungen von ihr machen: sondern, weil es jedem, dem der sittliche Zustand der Welt nicht gleichgültig ist, wünschenswürdig seyn muß, daß ein Mann wie Rousseau würklich so edel und rechtschaffen und untadelich gewesen seyn möchte, als er seyn mußte, wenn er mehr als die Seneca’s unsrer Zeit würken, wenn er seine Lehre durch sein Leben bestättigen, und dadurch die mächtigen Eindrücke seiner Schriften tief und unauslöschlich machen sollte. Ich berufe mich auf das innere Bewustseyn aller, die mit einem dem Wahren und Guten ofnen Herzen seine Schriften gelesen haben, ob sie sich da-

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durch nicht immer besser gefühlt haben als sie waren? Ob diese Lectüre nicht Stacheln in ihrem Innwendigen zurückgelassen? Ob sie nicht ergriffen, festgehalten, beschämt, überzeugt, durchdrungen von dem Adel der menschlichen Natur, erfüllt mit Abscheu vor allem was ihrer unwürdig ist, erhizt von der heiligen Flamme der Liebe zur Weisheit, gestärkt in dem Entschluß jeder Pflicht getreu zu seyn, jedem Ruf zum Guten zu folgen, aus dem Umgang mit

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Rousseaus Geiste weggegangen sind? Wo ist der Schriftsteller unsers Jahrhunderts von dem sich dies, in gleich hohem Maße, sagen läßt? Welcher Mann hat je geschrieben wie dieser Mann? — Und es sollte nichts daran gelegen seyn, ob der moralische Charakter eines solchen Schriftstellers so rein und tadelfrey war, als jeder der ihn ließt es zu glauben oder doch zu wünschen gedrungen ist? Ich will nicht wiederholen, was ich schon anderswo ( T . M e r k u r , April 1780. Seite 78—81.) über diesen Punct gesagt; aber berufen muß ich mich darauf, weil ich so lange überzeugt seyn werde, daß ich Wahrheit gesagt habe, bis mich jemand eines andern belehrt haben wird.

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Man vergesse aber ja nicht, daß die Rede damals war (und noch izt ist) n i c h t von einer gemeinen menschlichen Schwachheit, einer Übereilung, einem Mißtritt, wovon auch die Edelsten und Besten nicht frey sind, und wo das veniam damus petimusque vicissim Statt findet; sondern NB. von einer ü b e r l e g t e n , m i t F a l s c h h e i t u n d G r a u s a m k e i t v e r b u n d n e n S c h a n d t h a t , die dem jungen Rousseau in der von Hrn. I. publicierten Anekdote in den stärksten Ausdrücken aufgebürdet wurde. „Es war die Handlung eines Jünglings — der mit der Dreistigkeit, die oft eben so gut die Larve eines sichern Bösewichts als das Gepräge der ruhigen Unschuld ist, einen von ihm begangnen Diebstal auf ein unschuldiges Mädchen, das er liebte, wälzte;

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der s o s e h r B ö s e w i c h t seyn konnte, seine Aussage gegen sie ihr ins Gesicht zu bestättigen; der sie durch die Folgen seiner s i e g e n d e n B o s h e i t leiden sah und schwieg, u. s. w.“ — Und man sollte sich nicht die geringste schädliche Folge für die gute Sache der Tugend und der Wahrheit vorstellen können, wenn eine solche That von einem Mann wie J. J. Rousseau bekannt gemacht wird? Es sollte sogar S ü n d e g e w e s e n s e y n , sie vor der Welt zu verbergen? Wir spielen hier, denke ich, nicht mit den Worten. Die Sache der Wahrheit und Tugend bleibt freylich die beste Sache von der Welt, wenn Rousseau auch der größte Bösewicht und Heuchler gewesen und bis an seinen Tod geblieben wäre. Ein solcher Fall wäre doch weiter nichts als eine unbegreifliche Naturerscheinung mehr, und Wahr bliebe wahr, Gut bliebe gut in omnia secula seculorum. Aber daß es für die Stralen und Funken von Wahrheit und Tugend, die aus den Werken eines allgemein gelesenen und bewunderten Schriftstellers in die Köpfe und Herzen andrer Menschen fallen, um jene zu

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erleuchten und diese zu entzünden — daß es, in Rüksicht auf die Würkung dieser Stralen und Funken, gleichgültig seyn sollte, wenn von diesem Schriftsteller eine That bekannt gemacht wird, die seinem Charakter einen unauslöschlichen Schandflek einbrennt — dies ist was ich mir nicht als möglich denken kann. Von einem Menschen, der es einmal über sein Herz bringen konnte, eine überlegte Bosheit zu verüben, wird präsumirt, daß er deren noch mehr begangen habe, und bey jeder stärkern Versuchung immer begehen werde. Man sage mir nicht: „der Mann konnte sich ja bessern!“ — Die Welt glaubt nie mit innerer Überzeugung an die Besserung eines Bösewichts. 10

S o k r a t e s soll freylich dem Physiognomen Zopyrus gestanden haben, daß er ohne die Philosophie ein Vieh gewesen seyn würde; und P a u l u s der Apostel war vor seiner Erleuchtung ein Verfolger der Heiligen. Aber, außerdem daß das Histörchen vom Zopyrus eine alberne Fabel ist, gesezt auch es wäre keine Fabel, so zeigt uns doch die Geschichte im würklichen Leben des weisen B ü r g e r s v o n A t h e n keinen einzigen Zug der seinen Charakter entzieren könnte; und wenn P a u l u s vor seiner Erleuchtung die Jünger Christi verfolgte, so glaubte er recht daran zu thun, und sündigte bloß weil ihn ein irrender Eifer leitete. Aber wer sich vor den Augen der ganzen Welt zu einer so niedrigen und grausamen Bosheit bekennen müßte, wie diejenige die dem

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großen B ü r g e r v o n G e n f angeschuldet wurde, hätte auf ewig das Recht verlohren, die Sprache in seinen Schriften zu führen, welche Rousseau bis an seinen Tod geführt hat; die gute Meynung, so die Welt von seinem Herzen und Charakter gehegt hätte, wäre unrechtmäßig erworbnes Gut; und von dem Augenblik an, da sie belehrt worden wäre, von was für einer schwarzen Seele sie unter dem Mantel Epiktets hintergangen worden, würde alle moralische Würkung seiner Schriften aufhören. Er möchte mit Engelzungen reden, man würde die Ohren vor ihm verstopfen; und wenn man sich auch der Gewalt seiner hinreissenden Beredsamkeit nicht erwehren könnte: so würde man doch nur getäuscht zu seyn glauben, und der Gedanke „er war ja

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doch nur ein Heuchler — alle diese erhabnen Empfindungen sind ja doch nur R e d n e r f i g u r e n , all dieser Enthusiasmus ist doch nur Gaukelspiel und natürliche Zauberey“ — würde die wärmsten Leser wieder eiskalt machen, würde jeden guten Eindruk — wenigstens gerade bey denen, welchen solche Eindrücke am nöthigsten sind — wieder auslöschen — ja wohl gar, gleich dem Mittel gegen die Taubheit von einem tauben Arzt, die erhabne Philosophie

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verdächtig machen, die an ihrem eignen Lehrer keine bessere Probe dargelegt hätte. Wenn aber dies die natürlichen unausbleiblichen Folgen der Bekanntmachung einer solchen Anekdote sind, sobald die Anekdote einen moralischgroßen Mann, einen Mann wie Rousseau war, betrift; wenn wahr ist, daß ein solcher Mann, wenn er, einem ungläubigen, üppigen, kalten und nervenlosen Zeitalter Wahrheit und Tugend predigen will, seine Sendung durch seine eigne Tugend rechtfertigen, und (wie St. Paulus von einem Bischof fodert) selbst unsträflich seyn muß, wenn er anders Eindruk machen und nicht tauben Ohren predigen will: so braucht es, denke ich, keines weitern Beweises, daß es am

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Ende doch wohl besser gethan wäre, die Vergehungen, deren ein solcher Mann sich schuldig gemacht haben kann, wofern sie noch unbekannt sind, nach dem Rath des weisen und ehrwürdigen Greises, in die Nacht der Vergessenheit zu versenken. Aber wird nicht aller dieser Schaden — der doch v i e l l e i c h t nicht so groß ist als er hier gemacht wird, der v i e l l e i c h t nur bey wenigen, an denen ohnehin nicht viel zu verderben ist, erfolgen wird — wird er nicht reichlich dadurch vergütet, „wenn wir die geheimen Übelthaten der großen und bewunderten Männer gebrauchen, nicht der Jugend Verachtung gegen diese Männer einzuflößen, sondern sie aufzumuntern sich vor Fehlern zu hüten“ u. s. w.

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Ich denke — Nicht! denn auch dieser gehofte Nutzen hängt an einem bloßen v i e l l e i c h t . Oder steht es etwa bloß und lediglich bey uns, der Jugend einzuflößen was wir wollen? Machen die Nutzanwendungen, die ein Lehrer aus einer Geschichte zur Erbauung seiner Schüler zieht, etwa die einzige Würkung aus, die diese Geschichte auf sie machen kann und wird? Hat die Jugend immer einen solchen Lehrer zur Seite? Wird es nicht den meisten jungen Leuten, anstatt sich vor der Sünde zu hüten, weil auch ein Rousseau gesündigt hat, weit natürlicher seyn, mit dem leichtfertigen Terenzischen Jüngling auszurufen: wenn ein so großer Mann das gethan hat — oder, wenn aus dem Jüngling, der ein solcher Bösewicht war, noch so ein vortreflicher Mann werden konnte: warum sollte ich Homuncio nicht desgleichen thun dürfen? u. s. w. Überdies, ist denn etwa d i e J u g e n d der einzige Theil des Menschengeschlechts, der hier in Betrachtung kömmt? Lesen heutigs Tages nicht Personen von allen Altern, Ständen und Geschlechtern, und ließt nicht jedes nach

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s e i n e r Weise? Überlassen sich nicht die meisten dem ersten Eindruk? Und ist nicht mit bestem Grunde zu behaupten, daß der natürlichste Eindruk nicht derjenige sey der aus der Reflexion entsteht, sondern der, den eine Sache von sich selbst und ohne Zuthun des Willens, beym ersten Anblik macht? — Freylich lassen sich eine Menge lehrreicher Nutzanwendungen aus Rousseaus Fehltritt und aus jeder andern laster- oder tugendhaften Handlung ziehen. Aber, ungeachtet des höchst ungewissen moralischen Nutzens der im vorliegenden Falle davon zu hoffen steht — und der NB. durch die unzählichen Beyspiele ähnlicher und überhaupt aller nur möglichen Vergehungen 10

großer und vortreflicher Menschen, wovon leider! alle Geschichtbücher wimmeln, eben so gut und mit weit weniger Risico erzielt werden kann — möchte es doch wohl nicht nur ganz u n s ü n d l i c h , sondern selbst weislich und für das wahre Beste der Menschheit zuträglich gehandelt seyn, wenn man die so wenigen lebendigen Beyspiele von Weisheit und Tugend die unser Jahrhundert aufzuweisen hat (ich sage nur darum s o w e n i g e , weil die m e i s t e n und b e s t e n der Welt verborgen bleiben) stehen ließe wie sie stehen; und, gesezt auch daß man von einem Manne, der durch seine moralische Größe, als eine seltne und wunderbare Erscheinung, auf die Welt würkt — und von dem man selbst überzeugt ist daß er rechtschaffen und edel war — häsliche Anek-

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doten offenbaren könnte, sie (mit allem moralischen Nutzen der daraus zu ziehen ist) lieber für sich behielte, als durch ihre Offenbarung die Welt eines Beyspiels beraubte, über welches sich alle Gute freuen, und vor dem allen Bösen graut. Dieser lezte Umstand däucht mich wichtiger als er vielleicht obenhin betrachtet scheinen möchte. Mich dünkt, es ist sehr viel daran gelegen, daß den Bösen die Freude nicht gemacht werde, sich selbst sagen zu können: „also war auch der weise Rousseau, der Sokrates, der Epiktet unsrer Zeit, im Grunde doch nur w i e e i n u n s e r e i n e r ! “ — Es ist denen, welche nicht Gelegenheit gehabt haben Erfahrungen dieser Art zu machen, vielleicht unglaublich, wie

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sehr ein Mann wie Rousseau einer gewissen Art von Weltleuten (zumal in der lezten Epoke des Lebens) i m p o n i e r t ; wie schwer sie dran gehen, sich einzugestehen, daß er a u f r i c h t i g gewesen, und wie tief d e r S t a c h e l ist, den diese Überzeugung, wenn sie sich deren nicht länger erwehren können, in ihrem Busen zurükläßt: aber es ist auch unsäglich, wie leicht ihnen wieder ums Herz wird, wenn sie sich durch so ein w i l l k o m m n e s A n e k d ö t c h e n

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von der Nothwendigkeit befreyt sehen, an die Tugend zu glauben und zu zittern. *) Ich will gerne gelten lassen, daß es Fälle geben könne, wo der moralische Nutzen, den die Bekanntmachung der Jugend- oder Alters-Sünden eines bewunderten Mannes zufälligerweise stiften kann, dem zufälligen Schaden die Wage halten oder ihn wohl gar überwiegen mag (wiewohl ich glaube daß nur ein Gott diese Art von Wage zu führen wisse) — Aber in dem vorliegenden Falle wird das Gegentheil von mehr als Einer Seite augenscheinlich. Denn die Moral, die unsre Jugend daraus ziehen soll, ist: zu sehen, „wie e i n a n s i c h s e h r v e r z e y h l i c h e r F e h l e r durch seine Folgen das ganze Leben eines Men-

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schen vergiften und mit Bitterkeit überstreuen kann —“ Aber gerade dies ist, was sie, wenn sie die Augen recht aufthun, n i c h t darinn sehen werden. Denn fürs erste, kann eine That, die ihrem Thäter den Namen eines Bösewichts verdient, kein an sich sehr verzeyhlicher Fehler seyn; und fürs zweyte, zeigt sich in allen Werken Rousseaus nicht nur nicht die mindeste Spur von der vorgeblichen Bitterkeit, womit das Bewustseyn dieser That das Leben dieses Weisen überstreut haben soll, sondern gerade das Gegentheil: Immer und überall der Ton und die Sprache, und fast möcht ich sagen, der Trotz eines Mannes, der sich der Unschuld seines Herzens bewußt ist, der mitten unter ein verdorbenes Geschlecht getrost hintreten und sagen kann: welcher unter

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euch kann mich einer Sünde zeyhen? — B i t t e r k e i t ist freylich genug in mancher seiner Schriften; aber wahrlich nicht diejenige, die einen heimlichen Gewissenswurm zur Ursache hat; es ist die Bitterkeit oder vielmehr Erbitterung eines guten Menschen, der, vor allzuzarter aber immer gereizter und verwundeter Empfindlichkeit, mit dem wärmsten, offensten, liebevollsten Herzen, unter Menschen die seine Erwartung immer getäuscht haben endlich zum hypochondrischen M e n s c h e n s c h e u e r geworden ist; — denn ich will lieber ein neues Wort wagen, als M e n s c h e n h a s s e r sagen, was Rousseau weder war noch seyn konnte. Wer also die obige Moral aus diesem Geschichtchen ziehen soll, muß Rous*)

Ich habe mich dieses Ausdruks, der auf eine bekannte biblische Stelle anspielt, schon im

1. Schreiben über diese Anekdote (T. M. A p r i l S. 83.) bedient, er ist aber dort durch eine E m e n d a t i o n des Setzers oder Correctors, welche das Wort u n d in o d e r veränderten, ganz verunstaltet worden; denn, bekanntlich, liegt der ganze Sinn just in dem Wörtlein u n d . Es geht dem Merkur öfter so, ohne daß ich es verhüten kann.

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seaus Schriften nicht gelesen haben, muß nichts von ihm gelesen haben als die Anekdote in den Ephemeriden; oder er wird eine ganz entgegengesezte Moral daraus ziehen; nemlich eins von beyden: entweder daß Rousseau ein entschiedner Heuchler gewesen sey; oder, daß man sich eines schändlichen Bubenstüks bewußt seyn, und sich dennoch alle Vorrechte und Vortheile der reinsten Unsträflichkeit öffentlich und ungestört zu erfreuen haben könne. Auch die zweyte Lehre, die wir aus dieser Anekdote ziehen sollen, nemlich „wie durch eine sehr kleinscheinende Abweichung von der Wahrheit und Rechtschaffenheit man eine unschuldige Person für ihr ganzes Leben un10

glüklich machen könne,“ mag vielleicht aus andern Beyspielen ersichtlich zu machen seyn, aber gerade aus diesem N i c h t ; denn es ist eine bloße Voraussetzung, ohne irgend einen hinlänglichen Grund, daß das Dienstmädchen M a r i e A n n a durch ihre Verstoßung aus dem Hause des hartherzigen vornehmen Mannes für ihr ganzes Leben unglüklich gewesen sey. Aber noch ist ein Argument übrig, daß nicht nur die Bekanntmachung der Rousseauischen Anekdote zu rechtfertigen, sondern überhaupt die Publication aller Sünden, die jemals von großen oder kleinen, guten oder bösen Menschen begangen worden, zur P f l i c h t zu machen scheint. — „We n n ein Vergehen a n s i c h s e l b s t o d e r durch s e i n e F o l g e n so beschaffen ist, daß es

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für die Nachwelt lehrreich werden kann, so scheint es mir eine Art von Söhnopfer zu seyn, das der Urheber des Vergehens für den Schaden den er dadurch verursacht hat, leidet, und durch das er beyträgt, d i e d u r c h i h n g e s t ö r t e O r d n u n g wieder herzustellen, die durch ihn verminderte M a s s e d e s G u t e n wieder zu ergänzen. “ Die Bescheidenheit, womit dies ausgedrükt ist, hätte mich beynahe zurükgehalten, meine Gedanken davon zu sagen. Allein, was einem Manne von ausgebreitem Ruhm und Ansehen, zumal in moralischen Dingen nur s c h e i n t , kann leicht für Tausende, welche gewohnter sind sich leiten zu lassen, als ihren Weg selbst zu suchen, A u t o r i t ä t werden; und die Sache überhaupt

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däucht mir zu erheblich, als daß persönliche Achtung mich abhalten dürfte, die Gründe anzugeben, warum dies ganze Argument mir das was es beweisen soll nicht zu beweisen scheint. Dem prüfenden Leser bleibt sein Urtheil frey, und mir soll jede Belehrung eines bessern willkommen seyn. Ich sage also: Nicht nur e i n i g e Vergehen sind e n t w e d e r an sich selbst o d e r durch ihre Folgen so beschaffen, daß sie für die Nachwelt l e h r r e i c h

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werden können — sondern A l l e Vergehen, von der ersten Sünde des ersten Menschen an bis zu der lezten, die der lezte seiner Nachkommenschaft begehen wird, sind s o w o h l an sich selbst a l s durch ihre Folgen so beschaffen, daß sich moralische Lehrsätze und praktische Kautelen daraus ziehen lassen; sind so beschaffen daß sie, indem sie uns vorhalten, was wir thun oder unterlassen sollen, exemplarisch, und indem sie uns die Entstehungsart und die Folgen der Sünden zeigten, lehrreich werden können. Dies ist so klar, daß es jedem, der nur die Worte versteht, einleuchten muß, und daß aller weitere Beweis überflüßig ist. Das Argument müßte also nicht bedingungsweise, sondern absolut und allgemein ausgesprochen werden; aber so bewiese es frey-

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lich mehr, als Hr. I. vermuthlich damit beweisen wollte. Hingegen, in Betracht der Gründe, womit es unterstüzt wird, scheint es mir auch wieder n i c h t s zu beweisen, so gut diese Gründe beym ersten Anblik in die Augen fallen. „Wer eine Sünde begeht, ist der Welt ein Söhnopfer für den Schaden schuldig den er dadurch verursacht hat — und ist verbunden die Masse des Guten wiederherzustellen, die dadurch vermindert worden. Dies kann durch die Bekanntmachung seiner Sünde geschehen, wofern sie der Welt unbekannt ist. Er ist also schuldig sie bekannt zu machen; und es ist für jeden andern Pflicht, sie möglichst auszubreiten. Oder sollte Einer allein um das geheime Verbrechen

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eines Andern wissen: so ist er schuldig, es zu publicieren, und es würde Sünde seyn, wenn er’s nicht thäte; denn die gestörte Ordnung verlangt ein Söhnopfer, und die Masse des verminderten Guten im Weltall muß durch den moralischen Unterricht, den die Welt aus Bekanntmachung der besagten Sünde ziehen kann, wieder ergänzt werden.“ Dies ist, däucht mich, der aufrichtigste und simpelste Vortrag der Grundsätze des Hrn. I. Wenigstens kann ich sie mir auf keine andre Weise vorstellig machen. Mich dünkt aber ich sehe hier einen juristischen und einen mechanischen Begriff, wovon weder der eine noch der andere in die Moral gehört. Immerhin mag ein Theil der peinlichen Gesetze in der bürgerlichen Gesellschaft auf den Begriff eines Söhnopfers welches der Beleidiger der Gesellschaft schuldig seyn soll, gegründet seyn. Dies geht mich hier nichts an. Genug, daß ich die Anwendung dieses Begrifs auf die allgemeine S t a d t G o t t e s nicht für gültig halten kann.

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Wir wissen alle das Gesetz; denn es ist mit dem Finger dessen, der alles gemacht hat, in unser Herz geschrieben, und wir haben Vernunft, die es uns deutlich machen und uns überzeugen kann, daß es würklich Gesetz der Natur ist, daß wir nach dieser Vorschrift leben müssen wenn wir recht leben wollen. Indessen weichen wir alle manchfaltig von diesem Gesetz ab, und da es G e s e t z d e r N a t u r ist, so werden wir auch alle durch die natürlichen Folgen unsrer Abweichungen gestraft. Derjenige aber der alle Faden des allgemeinen Zusammenhangs in seiner Hand hat, hat auch schon dafür gesorgt, daß, ungeachtet aller einzelnen Abweichungen und ihrer Folgen, das Gleichgewicht 10

oder die Ordnung des Ganzen ungestört, und die Masse des Guten im Ganzen unvermindert bleibt. Von dieser O r d n u n g d e s G a n z e n , und von dieser M a s s e des G u t e n aber verstehn wir H o m u n c u l i auf unserm Erdkügelchen, das für uns eine so unübersehbare Welt und im Ganzen so ein unendlichkleines Stäubchen ist, N i c h t s , und können also auch nicht davon sprechen. Nur der Einzige, der das Ganze gemacht hat, das Ganze durchschaut, das Ganze bewegt, beseelt und zusammenhält, weiß was das Ganze ist; und also weiß auch Er allein, ob eine Begebenheit, die uns H o m u n c u l i s die Ordnung zu stören, die Masse des Guten zu vermindern scheint, die Ordnung würklich stört, die Masse des Guten würklich vermindert: oder ob nicht vielmehr ge-

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rade durch die Folgen dieser Begebenheit, wenn sie gleich, nach dem Gesetz, oder wenigstens nach unsrer Vorstellungsart davon, Abweichung im Einzelnen ist, die Masse des Guten vermehrt, und die Ordnung des Ganzen befördert wird. Wir H o m u n c u l i wandeln in dieser Rüksicht immer im Dunkeln; wissen, auch wenn wir’s am besten überlegen, nie gewiß und vollständig was wir machen; kennen oft nicht einmal die nächsten, geschweige die entferntern Folgen unsrer Handlungen; machen’s oft gerade am schlechtesten wenn wir’s am besten zu machen dachten. Aber nicht nur dies: oft ist die rechtmäßige oder ungerechte Handlung eines Einzigen die Quelle einer ungeheuren Masse von großen in die Augen fallenden Folgen von Gutem und Bösem (nach

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unserm Maasstab nemlich) über deren Gegeneinanderwiegung und Schätzung auch dem scharfsichtigsten H o m u n c u l u s alle Sinnen vergehen. Die redlichsten wohlgemeyntesten Handlungen ziehen oft gegen alles Vermuthen ihres Urhebers die abscheulichsten Folgen nach sich, und die grösten Verbrechen werden nicht selten in ihren Folgen wohlthätig und den wichtigsten Anstalten zum Besten der Welt beförderlich. So bahnte das abscheuliche Tri-

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umvirat dem Octavius Cäsar den Weg zur einzelnen Herrschaft über das Reich, und diese Monarchie wurde unter den Trajanen, Hadrianen und Antoninen ein Segen für die Welt. So beförderte hingegen des großen und redlichen Luthers rechtmäßige Protestation gegen den Ablaskram durch seine Folgen die unmenschlichen Greuel des Bauernkriegs; und etliche hunderttausend unschuldige Menschen würden unzerfleischt, ungehenkt, ungerädert und unverbrennt geblieben seyn, wenn er seine Überzeugung, daß man ohne einen Paß von Rom in den Himmel eingehen könne, für sich behalten hätte. Überhaupt ist offenbar, daß man von den F o l g e n einer Handlung nie richtig urtheilen kann, wenn man nicht a l l e Folgen derselben in ihrem wahren Zu-

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sammenhang sieht. Eine schlimme Handlung kann durch ihre guten Folgen am Ende eben soviel zur Masse des Guten beytragen, als eine gute Handlung mit allen ihren schlimmen Folgen. Und was folgt nun aus diesem allen? Eine sehr große, sehr heilsame Moral folgt daraus — und ganz genau die nemliche, von deren Vortreflichkeit nie mehr Rühmens gemacht worden ist als seitdem sie unter die verlohrengegangene Dinge zu gehören scheint. Es folgt daraus, daß wir uns an das weise Gebot halten sollen: n i c h t z u r i c h t e n d a m i t a u c h w i r n i c h t g e r i c h t e t w e r d e n . Da wir schlechterdings unfähig sind die Masse des Guten und Bösen in der Welt zu berechnen; so kann es nie Pflicht für uns seyn alles Unrecht zu vergüten das andre gethan haben, zumal da wohl

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jeder genug mit Vergütung seines eignen zu thun hat. Was würde aus der menschlichen Gesellschaft werden, wenn in Kraft jenes Grundsatzes von Söhnopfern, die jeder Mensch für seine Fehler dem menschlichen Geschlecht schuldig seyn soll, jedermann sich nun in seinem Gewissen verbunden halten wollte, alles Böse was er von seinen Nebenmenschen, Mitbürgern, Freunden, Nachbarn und deßgleichen entweder selbst wüßte, oder von glaubwürdig scheinenden Personen gehört hätte, ungesäumt nach Möglichkeit auszubreiten; in der wohlmeynenden Absicht, die Masse des Guten wieder zu ergänzen, die von besagten Nebenmenschen, Mitbürgern, Freunden u. s. w. vermindert worden wäre? Was für eine Sündflut von Ärgernissen, Verläumdungen, Ungerechtigkeiten, Erbitterungen, Feindschaften und bösen Händeln würde auf einmal über diese Menschen daherstürzen, die izt wenigstens in l e i d l i c h e r Eintracht und Ruhe beysammenleben? Die Erdenkinder sind weder weise noch gut genug, um nach so feinen und gefährlichen Grundsätzen handeln zu dürfen.

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Was bey Bekanntmachung der Anekdote von Rousseau dem vortreflichen Herausgeber der Ephemeriden selbst begegnet ist, kann uns zum Beyspiel dienen, wie es erst zugehen würde, wenn die Publication solcher Anekdoten von jedermann für indispensable Pflicht erkannt würde. Das Geschichtchen, das erzählt werden sollte, war so einfach, dem Gedächtnis so wenig lästig; es war so leicht es rein und unverfälscht zu erzählen! Und gleichwohl sind, in einer so kleinen so simpeln Erzählung, (nach des Hrn. Herausgebers eignen Geständnis) z w e e n m i l d e r n d e U m s t ä n d e v e r g e s s e n w o r d e n , w e l c h e b e y d e w i c h t i g s i n d , und e s h a t s i c h e i n e e r s c h w e r e n d e (nem10

lich das Verbrechen des armen Rousseau erschwerende) M u t h m a ß u n g e i n g e s c h l i c h e n , d i e n i c h t w e n i g e r w i c h t i g i s t . Geschieht das am grünen Holze, was würde erst am dürren werden! Wie vergeßlich würden die Leute, vor lauter Begierde, schöne Sittenlehren auszuziehen, rührende Declamationen anzubringen, und die Masse des Guten zu ergänzen, gegen die mildernden Umstände seyn! Wie viel erschwerende Umstände würden sich immer in die Erzählungen einschleichen! Wahrlich, anstatt als S ö h n o p f e r würden wir als wahre S c h l a c h t o p f e r fallen, und, was das schlimmste ist, dies Schiksal würde gerade die Besten am meisten und am grausamsten treffen. Und wer sollte alsdann die Ordnung wiederherstellen, die durch dieses so

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wohlgemeynte aber so übel ausschlagende moralische Verfahren in allen Häusern, Familien, Gesellschaften, Gemeinheiten und Staaten, weit mehr als durch alle unbekannt bleibende Verbrechen, gestört würde? Das sicherste also, däucht mich, wäre, uns zu überzeugen, daß wir nicht zu Redresseurs des Torts in der moralischen Welt gesezt sind; und uns damit zu beruhigen, daß Einer ist, der für die Erhaltung der allgemeinen moralischen Ordnung und der Masse des Guten besser sorgt, als wir es zu thun fähig seyn können. Es bleibt uns soviel Gutes zu thun übrig, ohne daß wir uns noch aus der Bekanntmachung fremder Sünden eine neue Pflicht machen! Eine Pflicht, mit welcher, meines Wissens, weder die weisesten der vorigen Zeiten, noch

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derjenige, der uns die Gesetze der reinsten und menschlichsten Sittenlehre gegeben hat, uns nirgends beladen haben. Oder, glauben wir ja, daß es der Welt heilsam sey, Vergehungen, um ihrer lehrreichen Beschaffenheit willen, bekannt zu machen; so seyen es unsre eignen! — theils weil wir sie am besten wissen, theils weil wir dabey am wenigsten Gefahr lauffen, die mildernde Umstände zu vergessen, oder wichtige erschwerende einschleichen zu lassen.

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Wenn es wahr ist, daß Rousseau eine geschriebne Geheimgeschichte seines eignen Lebens hinterlassen hat, so hat man alle Ursache von der Welt, zu erwarten, daß sie mit Aufrichtigkeit geschrieben sey; so ist nicht zu zweifeln daß er auch von seinen Fehltritten und Vergehungen, und überhaupt von seiner b l i n d e n S e i t e mit so vieler Unpartheylichkeit gesprochen haben werde als man von einem so großen Manne billigerweise nur immer erwarten kann. Denn freylich auch der große Mann ist — ein Mensch, und also den Täuschungen unterworfen, worinn die Eigenliebe die Künste der schlausten und behendesten Taschenspieler zu Schanden macht. Dem ungeachtet ist es gewiß daß es großen und edeln Menschen am wenigsten kostet, ihre Fehler freymüthig zu

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gestehen. Aber daß Rousseau den Gedanken gehabt hätte, seine Memoiren dem menschlichen Geschlecht als ein Söhnopfer zu heiligen (wie sich Hr. I . ausdrükt) ist schwerlich zu glauben; wenigstens ist nicht zu vermuthen, daß er viele Handlungen von sich zu erzählen gehabt haben könnte, wodurch er sich an der Menschheit versündigt haben sollte. Überhaupt muß ich bekennen, daß ich mir keinen Begriff davon machen kann, warum wir dem menschlichen Geschlechte für unsre Vergehungen ein Söhnopfer schuldig seyn sollten? Jeder von uns leidet unendlich mehr von den Sünden, deren sich das ganze menschliche Geschlecht seit so manchen Jahrtausenden schuldig gemacht hat, als das menschliche Geschlecht unter denen,

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die jeder von uns begangen haben mag; und alles Böse das w i r E i n z e l n e n der ganzen Gattung zufügen könnten, ist nur eine Kleinigkeit gegen alles Böse was sie u n s zugefügt hat. Da also jeder Einzelne ein eben so begründetes Recht hätte, ein unermeßliches Söhnopfer von dem menschlichen Geschlecht für die ganze ungeheure Masse der S ü n d e n d e r We l t zu fodern, deren immerwährender unaufhaltbarer Druk keinen von uns so vollkommen und glüklich werden läßt als wir vermuthlich sonst werden konnten: so ist klar, daß sich nicht nur Schuld gegen Schuld aufhebt, sondern daß, wenn wir genau rechnen wollten, jedem Einzelnen von der ganzen Gattung noch ein großer Saldo heraus gebührte. Das Bild vom Söhnopfer scheint also keine in der Sittenlehre, und am allerwenigsten i m L e b e n sonderlich brauchbare Idee darzubieten. Denn w e r soll versöhnt werden? und w a s soll versöhnt werden? Und w a r u m ? und w o z u soll versöhnt werden? Fehlen wir gegen u n s s e l b s t , so werden wir, vermöge der moralischen Ordnung und ihres engen Zusammenhangs mit der physischen, auf die eine oder andere Weise, unfehl-

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bar durch die Folgen dafür bestraft; oft so hart, daß die Strafe die Schuld weit überwiegt. Fehlen wir g e g e n d i e G e s e l l s c h a f t , so folgt auch da die Strafe dem Vergehen auf dem Fuße nach; und auch hier ist sie meistens überwichtig. Die Welt weiß sich für die kleinste Beleidigung, die sie von uns empfangen zu haben glaubt, sehr nachdrüklich Genugthuung zu verschaffen: unbekümmert, wer u n s Genugthuung für alles Unrecht, allen Schaden, alle Beleidigungen verschaffe, so Sie u n s zufügt? Haben wir irgend einem e i n z e l n e n Menschen Unrecht gethan, so ists nicht die Welt, nicht das menschliche Geschlecht, sondern der Beleidigte, der etwas an uns zu fodern hat; und dies 10

etwas ist kein Söhnopfer, sondern G e n u g t h u u n g , d. i. m ö g l i c h s t e Ve r g ü t u n g (nicht zu vergessen, daß hier immer von moralischen nicht von bürgerlichen Verhältnissen die Rede ist.) Ist es nun nicht in unsrer Gewalt, ihm d i e s e zu leisten: so bleibt uns, zu unsrer eignen Erleichterung, freylich nichts übrig, als sonst soviel Gutes zu thun als wir nur immer können. Aber dazu waren wir ohnehin, vermöge unsrer Natur, verbunden; und alles Gute was wir sonst thun können hilft doch demjenigen nichts, den wir (nach der Voraussetzung) auf eine unwiderbringliche Art beschädigt haben. — Doch, was es auch mit den moralischen Söhnopfern für eine Beschaffenheit haben mag, genug, Rousseau war der Welt keines s c h u l d i g ; und wenn er bey Abfassung seiner

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Memoiren, außer seiner eignen Rechtfertigung, und dem guten Gebrauch, den vielleicht Andere von seinen Erfahrungen machen könnten, noch die Darbringung einer öffentlichen Expiation der Missethaten seines Lebens zur Absicht gehabt hätte: so würde ihm von dem menschlichen Geschlechte nicht mehr Dank dafür gebühren, als irgend einem frommen Fakir, der seine eigne oder fremde Sünden durch freywillige Martern an seinem Leibe abzubüßen vermeynte. Ich hoffe, man werde, soviel auch bisher immer die Rede von R o u s s e a u gewesen ist, nicht übersehen haben, daß meine ganze bisherige Betrachtung eine Auflösung der Frage ist, die ich aufzulösen versuchen wollte. Die genaue-

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re Erörterung irgend eines besondern Falles, wenn er nur so beschaffen ist, daß sich die Anwendung von ihm sehr leicht auf alle übrigen machen läßt, ist, däucht mich, die beste Art, dergleichen Aufgaben zu beantworten. Ich denke gezeigt zu haben, daß die gute Absicht, moralischen Nutzen zu stiften, kein hinlänglicher Grund ist, überhaupt die unbekannten Vergehungen irgend einer Art von Menschen zu publizieren; am allerwenigsten wenn es Menschen

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betrift, welche besonders dazu berufen scheinen als Lehrer der Weisheit und Tugend beydes durch ihr Leben und durch ihre Schriften auf ein ganzes Zeitalter zu würken — daß bey Männern von dieser Art der ungewisse und unbedeutende Nutzen, den die Bekanntmachung ihrer Vergehungen veranlassen könnte, gegen die nachtheiligen Folgen, so mit bestem Grunde davon zu besorgen sind, in keine Betrachtung kömmt — daß es, so wie die Menschen nun einmal sind, weit besser für sie ist, wenn sie z u g u t von dem Charakter und Leben eines s o l c h e n Mannes denken, als wenn sie Handlungen von ihm erfahren, die ihn nicht nur zum großen Haufen niederziehen, sondern noch gar unter die Meisten derselben, wenigstens in i h r e r Schätzung (denn darauf

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kömmts doch in praxi an) heruntersetzen — und daß es also, alles wohl erwogen, immer sichrer und besser gethan ist, dergleichen Anekdoten zu verheimlichen als bekannt zu machen. Ganz ein anders aber wäre, wenn einer w ü ß t e , g e w i ß w ü ß t e , d. i. durch T h a t e n , durch eine R e y h e z u s a m m e n h ä n g e n d e r T h a t e n , beweisen könnte, daß der Mann, der sich öffentlich zur Tugend und Weisheit bekennte, der sie nicht nur mit großem Gepränge und scheinbarem Eyfer predigte, sondern auch allen Kunstgriffen aufböte, um von der ganzen Welt für einen durch seine Weisheit und Tugend über alle seine Zeitgenossen hoch erhabnen Mann angesehen zu werden — daß, sage ich, dieser Mann, sein Name werde nun mit

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noch soviel Ehrerbietung, und mit noch so schönen Beywörtern genennt — nur ein Heuchler, nur ein Betrüger, oder (wie St. Paul von denen welche mit Menschen und Engelzungen redeten, alle ihre Haabe den Armen gäben und ihren Leib brennen ließen, a b e r d e r L i e b e n i c h t h ä t t e n , spricht) ein tönendes Erz und eine klingende Schelle wäre. Von dieser Art Menschen kann man ohne Bedenken alles Böse, was man von ihnen weiß (doch gleichwohl n i c h t m e h r a l s m a n w e i ß ) bekannt machen; ja man ist es dem gemeinen Besten der Menschheit schuldig: und hier tritt der Fall ein, wo es S ü n d e wäre zu schweigen oder zu schonen. Christus selbst, der so sanftmüthig, barmherzig und voller Duldung war, so herablassend und gütig gegen Zölner und Sünder! Christus, der den Schriftgelehrten und Pharisäern die das im Ehebruch begriffne Weib vor ihn stellten, und ihn fragten: M o s e s hat uns im Gesetz geboten, solche zu steinigen; was sagst D u ? — die eines Gottes so würdige Antwort gab: Wer unter euch ohne Sünde ist werfe den ersten Stein auf sie! — und da sie, von ihrem Gewissen gestraft, stillschweigend einer nach dem an-

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dern davon giengen, anstatt der Ehebrecherin eine schöne pathetische Zuchtund Strafpredigt zu halten, oder das Volk herbeyzurufen, und das arme beschämte Weib als ein warnendes Beyspiel aufzustellen (wiewohl diese ihre Beschämung gute moralische Eindrücke veranlassen und etwas beytragen konnte die durch sie gestörte Ordnung wieder herzustellen u. s. w.) sich begnügte sie mit den Worten zu entlassen: gehe hin, und sündige fort nicht mehr! — Eben dieser in seinem eignen Leben so untadeliche, aber gegen die Schwachen so sanfte, gegen die Gefallnen so nachsichtvolle Christus — entbrennt fast immer in stärkstem Eifer wenn er von der Gleißnerey der Phari10

säer spricht. Mit diesen allein ist er immer im Streit, gegen diese gehen fast alle seine Strafpredigten; ihnen zieht er ohne Verschonen die Larve ab, womit sie das Volk und die Schwachköpfe ihrer Zeit hintergiengen. Bey ihres gleichen würden die Gründe, warum es besser ist die Vergehungen edler und guter Menschen zu verschweigen als ans Licht zu ziehen, sehr übel angebracht seyn. Denn alles Gute, was die unächte Tugend des Heuchlers stiften kann ist ein Geringes gegen den Schaden, den er unter diesem Dekmantel thut; und der Gewinn von seinem täuschenden Beyspiel eine Kleinigkeit gegen die Vortheile so die Welt von seiner Entlarvung ziehen kann. Es ist besser falsche Tugenden, gleich schlechtem Gelde, in Zeiten mit einigem Verlust ausser

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Cours zu setzen, als sie, mit langsamern aber desto größern Schaden, unter der guten Münze mitlaufen zu lassen. Doch genug, und vielleicht schon zu viel über eine Materie, worüber es, ohne diese sonderbare Veranlassung, schier überflüßig hätte scheinen mögen, zu schreiben. Habe ich, in der Meynung den geradesten Weg zu gehen, dennoch geirrt — welches immer ein möglicher Fall, und etwas sehr menschliches ist — so werde ich mich gerne zu rechte weisen lassen. Sollten aber Leser, die etwas nährenders als bloßen Zeitvertreib suchen, diese Art zu moralisiren würklich für praktischer halten, als manche andre Arten: so wird es nicht an Stoff und Gelegenheit zu ähnlichen Betrachtungen fehlen.

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W.

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Patriotischer Beytrag zu Teutschlands höchstem Flor (wenn es will.) So haben wir sie denn endlich erlebt, diese von Barden und Allraunen geweissagte, aber selbst von Barden und Allraunen nicht so nahe geglaubte Zeit! Nicht erst unsre Urenkel oder die Enkel unsrer Urenkel, nein, wir selbst werden sie sehen! Es nähert sich das goldne Alter Teutschlands — ja, was sag ich? Es ist schon da! Magnus ab integro seclorum nascitur ordo! redeunt Saturnia regna! Te u t s c h l a n d i n s e i n e m h ö c h s t e n F l o r , in einem Flor worinn noch kein Land, kein Volk der Erde gestanden, seitdem es Völker auf Erden

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giebt — in einem Flor, der G e r m a n i e n zur Königin der Länder, die zukünftige Te u t s c h e A k a d e m i e zur Königin aller Akademien, und das Neue Reichs-Cammergerichts-Archiv zum Urbild aller Archive machen wird. Seelige, goldner als goldne Zeit! Eilet, sagten die Parzen zu ihren Spindeln, die schönen Tage zu spinnen! —

Und dreymal glücklich wir, daß wir sie erlebt haben! Und o! des glorreichen, vor allen andern Jahrhunderten verherrlichten achtzehnten Jahrhunderts, dessen leztes Fünftel ausersehen ist, seine zahlreichen Wunder mit dieser unsre verwegensten Wünsche übertreffenden Fülle von immerdaurender, immersteigender Nationalglükseeligkeit zu krönen! Sage mir niemand: „Es ist ja nur ein Vo r s c h l a g “ — Was Vorschlag! Alles ist so gut als ob es schon wäre. Das Neue Reichs-Cammergerichts-Archiv steht schon, in Altgothischer Majestät, vor meinen Augen da! Schon seh ich die zehn oder zwölf Mitglieder der teutschen Akademie pragmatischer Wissenschaften ihre jährlichen Pensionen von 10,000 Fl. einstreichen! Schon haben die teutschen Fürsten und Herren, (die Reichsstädte hoffentlich mit eingeschlossen) von dem ihnen so edelmüthig zu 2 ½ pro Cent vorgestrekten Kapital der

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72 Millionen Gulden ihre Schulden bezahlt! Kurz, w a s i n 6 o d e r 1 0 o d e r 1 2 J a h r e n unfehlbar seyn wird, ist soviel als ob es izt schon wäre. Te u t s c h l a n d i n s e i n e m h ö c h s t e n F l o r w e n n e s w i l l ! Da haben wirs mit klaren Worten! Te u t s c h l a n d d a r f n u r w o l l e n . Denn der Mann mit der wundervollen Nasenwurzel sagte: M a n k a n n A l l e s w a s m a n w i l l ; und alles Volk sprach Amen! und seitdem sagen und glauben Leute mit allerley Nasenwurzeln, daß man n u r w o l l e n dürfe! — Und, wer wollte nicht wollen? Was ist leichter, und mehr in eines jeden Gewalt als wollen? Und, falls es auch eines Bewegungsgrundes bedürfte, was für ein stärkerer Antrieb zum wollen, 10

als A l l e s k ö n n e n s o b a l d m a n w i l l ? Unsre schwachmüthigen, einfältigen Vorfahren, nun ja, die liessen sich freylich so was nicht träumen. Die würden sich eingebildet haben, daß ein solcher Vorschlag zu den süßen patriotischen Träumen gehöre, deren man sich in guter Laune auf Einen Tag bey Dutzenden und Schocken träumen lassen kann, weil man nur t r ä u m e n w o l l e n darf — und gegen die weiter nichts einzuwenden ist, als nur daß sie — in dieser Werkeltagswelt — moralisch- politisch- und oekonomisch-unmöglich sind. Aber, seitdem uns die große Wahrheit geoffenbart ist, daß man Alles kann was man will, seitdem kann von einer so schwachherzigen Einwendung nur die Rede nicht mehr seyn. Te u t s c h l a n d i n s e i n e m h ö c h s t e n F l o r

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w e n n e s w i l l — Zweifeln Sie nicht, edler, vaterländischer teutscher Mann! Te u t s c h l a n d w i l l . Warum sollte es nicht wollen? Wer sollte nicht den höchsten Flor seines Vaterlands wollen? O ganz gewiß es will! Die herrlichen Zeiten! Ich seh sie schon! Sie sind da! Teutschland will! Die allgemeine Freude, die allgemeine Schwärmerey, womit dieser eben so unverhofte als glüklich ersonnene Vorschlag aufgenommen worden, ist uns Bürge dafür. Kayser und Reich, an welche derselbe gerichtet ist, können unmöglich die s o o f f e n b a r e n , s o e i n l e u c h t e n d e n Vo r t h e i l e , die ihnen dargeboten werden, von sich weisen! Und es ist gar nicht zu zweifeln, daß sie, sobald das Ratificationsgeschäfte des Teschner Friedens und die Westphälische Grafensache

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beendiget sind, nichts dringenders haben werden als zu w o l l e n „ d a ß Te u t s c h l a n d d i e h ö c h s t e S t u f e s e i n e s G l ü k s u n d A n s e h e n s e r r e i che.“ Und man bedenke, n u r m i t e i n e m F o n d v o n H u n d e r t M i l l i o n e n G u l d e n R h e i n i s c h ! Welch ein geringer Aufwand, welch ein kleines, leichtes, in unsrer aller Taschen (so wenig auch darinn seyn mag) liegendes Mittel

Patriotischer Beytrag

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zu einem so großen Zwek! Was sind hundert Millionen Gulden? Was sind sie für ein s o r e i c h e s Land wie Te u t s c h l a n d ? Für ein Land, dessen Einwohner, wenn man auch nur 40 fl. auf jeden Kopf im Durchschnitt rechnet, wenigstens 1000 Millionen jährlicher Einkünfte haben? Welcher Ehrenmann, der z. B. Tausend Gulden jährlich einnimmt, wird nicht mit Freuden 10 fl. hergeben wollen, um d i e s ä m t l i c h e n t e u t s c h e n R e i c h s l a n d e i n d i e a l l e r b l ü h e n d s t e U m s t ä n d e z u s e t z e n ? Hat der edle Erfinder des Vorschlags also nicht vollkommen Recht zu sagen, daß Teutschland n u r w o l l e n dürfe? Indessen, so e i n l e u c h t e n d dies alles ist, so ist doch nicht zu bergen, daß

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sein Vorschlag über die Art und Weise, wie diese wahre Kleinigkeit der 100 Millionen Gulden zusammengebracht werden soll, in der Ausführung mehr Schwierigkeiten finden dürfte, als sich der Patriotische Verfasser im ersten Feuer der Erfindung vielleicht vorgestellt haben mag. — „Man hebt, (spricht er) im D u r c h s c h n i t t , von jedem Morgen Land, 5, 6 oder 10 Kreutzer; so geben die 90 Millionen Morgen, die in Teutschland wirklich angebaut werden, gerade 90 Millionen Gulden.“ — Das ist freylich leicht zu sagen; und eben so leicht ists in der Vorstellung, „ d i e t e u t s c h e n Z i n s u n d Z e h n t h e r r e n , die Juden, die getauften Handels- und Gewerbsleute, die Inhab e r d e r F i s c h w a s s e r , und d i e g e s a m m t e D i e n e r s c h a f t d e r t e u t -

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s c h e n S t a a t e n , binnen 12, 10 oder 6 Jahren mit einer Abgabe von 12 Millionen zu belegen.“ Aber Sie glauben nicht, werthester Herr, was diese Auflage, in concreto, in den Zehn Reichskreisen, rüksichtlich auf die (wie Sie wissen) so sehr verschiedene physisch-ökonomische und noch ungleich verschiednere und zum theil (wie Sie gleichfalls wissen) höchst verwickelte bürgerliche Verfassung und Verhältnisse der unzählichen teutschen Staaten, bey der Ausführung für leidige Schwierigkeiten und Hindernisse finden würde. Ich habe daher aus patriotischem Verlangen, das Meinige nach Möglichkeit zu Beschleunigung eines so erwünschten Werkes beyzutragen, auf einen kürzern, einfachern und nicht der geringsten erheblichen Schwierigkeit ausgesezten Modum gedacht, wie die hundert Millionen Gulden quæst. zusammengebracht werden könnten, und mein unmaßgeblicher Vorschlag wäre folgender: Man rechnet bekanntermaßen die Anzahl der sämmtlichen Bewohner des Heil. Röm. Reichs teutscher Nation auf 24 Millionen. Wahrscheinlich ist diese

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Zahl zu gering, und ein berühmter Gelehrter ist der Meinung, daß bey einer genauern Zählung des Volkes wohl 27 bis 28 Millionen herauskommen dürften. Wir wollen es aber, um desto weniger einer Übereilung beschuldiget zu werden, bey der runden Zahl der besagten 24 Millionen lassen. Diese 24 Millionen Menschen vel quasi würden, w e n n Te u t s c h l a n d (wie nicht zu zweifeln) w i l l , auf die noch übrigen 20 Jahre dieses gegenwärtigen Jahrhunderts mit einer K o p f s t e u e r von e i n e m P f e n n i g w ö c h e n t l i c h belegt, welcher an jedem Orte auf die bequemste Weise erhoben, und der ganze Betrag quartaliter von den höchsten und hohen Ständen an die allge10

meine R e i c h s - F l o r - C a s s a franco abgeliefert würde. Die 24 Millionen Pfennige, welche solchergestalt wöchentlich erhoben werden, machen 6 Millionen Kreuzer, und diese 6 Mill. Kreuzer geben just die runde Summe von H u n d e r t Ta u s e n d G u l d e n R h e i n l . Diese Kopfsteuer würde also in Einem Jahre just 5 Millionen und 200 Tausend Gulden abwerfen; folglich in 20 Jahren die von dem Hrn. Erfinder des Projekts verlangten 100 Millionen, mit einem Überschuß von vier Millionen, über deren Anwendung ich mich im folgenden erklären werde. Einem jeden muß sogleich in die Augen leuchten, daß die jährlichen 5’200 000 Fl. unmöglich auf eine einfachere und das werthe Publikum weni-

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ger belästigende Weise erhoben werden können, als durch die vorgeschlagene wöchentliche Pfennigsteuer. Einzelnlebende Personen zahlen für sich selbst; jeder Hausherr oder Hausvater für sich und seine sämmtlichen Hausgenossen. Ich gestehe, daß dies bey den Personen von den obersten Classen jährlich eine Abgabe von 6, 8 bis 10 Fl. machen kann. Allein, wer ein großes Haus halten kann, hat auch Einkünfte dazu; und ich halte mich versichert, daß sich in ganz Germanien kein einziger Bidermann befindet, der den höchsten Flor des lieben teutschen Vaterlandes nicht durch einen zwanzigjährigen wöchentlichen Beytrag von etlichen Pfennigen mit Tausend Millionen Freuden bewirken helfen wollte. Schreibern dieses, der nur einen sehr unbedeutenden Bür-

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ger des heil. Reichs vorstellt, würde es wöchentlich mit 16 pf. und also jährlich mit 3 fl. 28 kr. betreffen: er erklärt sich aber hiemit bereit, nicht nur diese 3 fl. 28 kr. sondern selbst das Duplum und Triplum, wenn’s nöthig seyn sollte, willigst beyzutragen, wenn dadurch auch nur d e r h ö c h s t e F l o r v o n N e u h o l l a n d , N e u s e e l a n d , F e u e r l a n d , oder C a l i f o r n i e n bewirkt werden könnte; geschweige denn zu einem Institut, wo es um nichts geringers als den

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höchsten Flor von Te u t s c h l a n d zu thun ist. Und welcher teutscher Patriot sollte nicht eben so denken, und allenfalls nicht lieber zwier in der Wochen fasten oder ohne Frühstük bleiben, als sich seinem Beytrage zu einem so glorreichen Werke entziehen wollen? Was diejenigen anbetrift, die so arm sind, daß sie auch nicht einmal einen Pfennig wöchentlich entbehren können, so versteht sich von selbst, daß ihnen (übrigens der Bettelordnung jedes Ortes in allewege unbeschadet) erlaubt seyn müsse, ihren Pfennig von wohlthätigen Herzen zu erbetteln: da dann mit nichten zu zweifeln ist, daß sich nicht unter den Reichen und Vermöglichen ihrer genug und überflüssig finden sollten, die einander das Vergnügen noch

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streitig machen werden, ihre dürftige Mitbürger durch ein so geringes Allmosen in den Stand zu setzen, zu Te u t s c h l a n d s h ö c h s t e m F l o r Praestanda zu prästiren. Da nun, nach diesem meinem Vorschlag, zu Ende des bevorstehenden Jahrs 1781 bereits 5 Millionen und 200 Tausend Gulden erhoben seyn werden: so kann sogleich im Jahre 1782 mit Erbauung des R e i c h s - C a m m e r g e r i c h t s K a n z l e y - u n d A r c h i v g e b ä u d e s der Anfang gemacht, d i e z u S t r a s burg und Aschaffenburg zerstreuten Cammergerichts-Acten h e r b e y g e s c h a f t , das teutsche R i c h t e r - u n d A d v o c a t e n - S e m i n a r i u m , wie auch d i e z w e y g r o s s e P h i l a n t h r o p i n e in j e d e n d e r Z e h n

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R e i c h s k r e i s e e r b a u t , das C a m m e r g e r i c h t m i t d e n F r i e d e n s schlußmäßigen 50 Beysitzern und übrigen zugehörigen hohen u n d n i e d e r n P e r s o n e n b e s e z t , und das sehr respectable b e s o n d e r e E x e c u t i o n s - R e g i m e n t z u m G e b r a u c h d e s C a m m e r g e r i c h t s aufgerichtet werden. Da alles dies inclusive der z u B e z a h l u n g d e r p h i l a n t h r o p i n i s c h e n L e h r e r , u n d Ve r s o r g u n g a r m e r P h i l a n t h r o p i n i s t e n jährlich erfoderlichen 200 T. Gulden, nach dem Anschlag des Hrn. V., erst 4 Millionen wegnehmen wird: so könnte, ohnmaaßgeblich, w e n n Te u t s c h l a n d w i l l , von der noch übrigen Million noch im Jahr 1782 d a s b e t r ä c h t l i c h e L a n d g u t , d a s t ü c h t i g e G e b ä u d e , und d a s L a b o r a t o r i u m , f ü r d i e Te u t sche Akademie erkauft, erbaut, und mit den nöthigen Geräths c h a f t e n v e r s e h e n w e r d e n . Mit den noch übrigen 200 T. Gulden müßten sich d i e B e d i e n t e u n d C o m m i s s a r i e n z u r A u s f ü h r u n g u n d B e s o r gung dieser wichtigen Geschäfte, der Casse und Rechnungen,

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anstatt der ihnen ausgeworfenen 250 Tausend einsweilen begnügen lassen; jedoch mit dem ausdrüklichen Beding, daß ihnen der Abgang von dem Ertrag der künftigen Jahre baldmöglichst erstattet werde. Die im Jahr 1782 eingehenden 5 Millionen könnten (nach dem Vorschlag des Hrn. V. S. 6. n. 9.) im Jahre 1783 z u Ve r m e h r u n g d e s n ö t h i g e n V i e h s t a n d e s im Heil. Röm. Reich, verwandt werden. Den Spöttern, welche bey diesem Artikel einwenden könnten, daß es nöthiger seyn dürfte, auf Ve r m i n d e r u n g des V i e h s t a n d e s , zumal in einigen Reichskreisen, den Bedacht zu nehmen — gebührt gar keine Antwort. 10

Im Jahr 1784 können d i e z w e y A r b e i t s - u n d M a n u f a c t u r h ä u s e r i n j e d e m K r e i s e , und im Jahre 1785 auch die für jeden Kreis zu erbauenden b e y d e n A r m e n h ä u s e r zu Stande kommen; und wenn dann der Überschuß, nebst dem Ertrag der Jahre 85 und 86 auf die U r b a r m a c h u n g u n d resp. Austroknung und Anbauung der morastigen Gegenden u n d ö d e n D i s t r i c t e verwandt würde: so würde man im Jahr 1787 bereits mit allem fertig seyn, wozu der Hr. V. die ersten 28 Millionen bestimmt hat; und so könnte gleich im Jahr 1788 mit d e n A n l e h e n an die höchsten und hohen Stände z u E r l e i c h t e r u n g i h r e r s. v. S c h u l d e n l a s t der Anfang gemacht werden.

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Mein teutsch-patriotisches Herz wallet und überwallet mir vor Freuden, wenn ich an den blühenden, glüklichen und ehrenvollen Zustand denke, worinn ich mein geliebtes Vaterland noch vor Abfluß dieses Jahrzehnts zu sehen hoffen kann. Und wenn ich mir erst vorstelle, wie die leidigen Franzosen vor Neid über unsre Vorzüge gelb werden, wie die stolzen Engländer uns anstaunen, kurz, wie Sonne Mond und Sterne kommen, und sich vor uns zur Erde neigen werden: so verjüngt sich meine Seele in mir, und ich fange an vor Freuden zu springen und zu jubeln, und kann mich nicht enthalten, Te u t s c h l a n d hiemit stehendes Fußes um Erlaubnis zu bitten, daß ich d e m U r h e b e r u n s r e r G l ü k s e e l i g k e i t , dem preiswürdigen Erfinder dieses weisen und

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unvergleichlichen Vorschlags, von den ersten eingehenden 5 Millionen eine jährliche Pension von 25000 f. sage F ü n f u n d Z w a n z i g Ta u s e n d G u l d e n R h e i n i s c h , für Ihn und seine ehliche Leibeserben, männlicher und weiblicher Linien, schöpfe und auswerfe, zu einem, wiewohl geringen, Zeichen der unendlichen Dankbarkeit der ganzen Nation für eine Wohlthat, welche nur durch das in-

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nere Bewußtseyn des verdienstvollen Urhebers nach Würden belohnt werden kann. Sollte Te u t s c h l a n d noch überdies w o l l e n , daß Ihm, etwa auf dem Platze des neuen Cammergerichts, Canzley- und Archivgebäudes, dessen Stifter er ist, oder im Vorhofe der teutschen Academie eine metallene Colossalische Bildsäule errichtet würde: so würde ich einer solchen Auswirkung vaterländischen Enthusiasmus und verdienstelektrisirender Nationaldankbarkeit nicht anders als meinen wärmsten Beyfall zujauchzen können. Auch ist zu vermuthen, daß der B u r g u n d i s c h e K r e i s , dem der Herr V. über alles billige Verhoffen, eben so gut wie dem Schwäbischen und Westphälischen,

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zwey Philantropine, zwey Armenhäuser, zwey Arbeits- und Manufacturhäuser, 1200 Tausend Gulden für Urbarmachung und Grundverbesserung, und 500 Tausend Gulden zu Vermehrung des nöthigen Viehstandes angewiesen hat, für diese großmüthige Gleichstellung eine besondere verhältnißmäßige Erkenntlichkeit zufliessen lassen werde. Der ganze Ertrag, den die vorgeschlagene P f e n n i g s t e u e r in 20 Jahren abwirft, macht (wie schon gesagt) 104 Millionen, und also v i e r b a a r e M i l l i o n e n mehr als der Herr Verfasser nöthig hat. Hierzu kommen noch die binnen 20 Jahren beyzurechnenden 5 S c h a l t t a g e , als welche noch 5⁄7 einer Woche, und also 71’428 Gulden 3 Kreutzer, und ich weiß nicht wie viele Heller

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eintragen werden. Allein wir brauchen wegen dieses Überschusses im mindesten nicht verlegen zu seyn. Ich will vor der Hand nur zwey Vorschläge, wie solche gemeinnützig angewandt werden könnten, in Anregung bringen, wiewohl sie vielleicht unter diejenigen gehören, die der Hr. Verfasser des Projects S. 6 seines Werkes in petto behalten hat. Der erste betrift die vermuthliche Nothwendigkeit, außer dem obenbemeldten b e s o n d e r n E x e c u t i o n s r e g i m e n t z u m G e b r a u c h d e s H ö c h s t p r e i s l . C a m m e r g e r i c h t s , noch ein besonderes Executionsregiment zu allfallsiger Eintreibung der jährlichen Interessen, welche die teutschen Fürsten und Herren von denen ihnen zu 2 ½ pro Cent vorgestrekten Capitalien zu bezahlen haben werden, aufzurichten — wozu ich unmaaßgeblich die jährlichen Interessen von 3 Millionen vorgeschlagen haben wollte. Sodann und zweytens möchten wohl die noch übrigen 1071’428 Fl. 3 Kr. schwerlich besser, und gemein-ersprieslicher benuzt werden können, als zu Erbauung und reichlicher Dotierung e i n e s a l l e n z e h n R e i c h s k r e i s e n

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende April /Anfang Mai 1780)

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g e m e i n s c h a f t l i c h e n H o s p i t a l s , worinn alle die wackern Leute, die vor übermäsiger Weisheit, Teutschheit, Empfindsamkeit, Menschen- und Vaterlandsliebe in Abfall ihres Verstandes gekommen sind, lebenslänglich und standesgemäß versorgt würden. Sollte dieser mein Bey- und Nachtrag zu Beförderung des g r o ß e n We r k e s , dessen Ausführung gewiß jeder wakre teutsche Landsmann mit mir aufrichtig wünschen wird, etwas beytragen können — wer würde glücklicher seyn als ich? — Ich muß indessen, unter der Hand gestehen, daß ich selbst desfalls in gewissen Augenblicken etwas schwachgläubiger bin, als einem tap10

fern Manne ziemt, und mich nicht ganz von der albernen Furcht losmachen kann, Teutschland möchte etwa am Ende wohl gar nicht — w o l l e n wollen. Das wär ein desperater Streich! — Und doch — warum sollten wir uns solche kleinmüthige Gedanken machen? Daß der Vorschlag Teutschlands höchsten Flor wirklich bewirken würde, daran kann ja gar kein Zweifel seyn. Die hundert Millionen sind auch da. Woran sollt es also liegen? Ist denn Teutschland nicht eine moralische Person? Kann Teutschland, als eine solche, nicht wollen, was zu seinem Besten dient? Und da dieser große m o r a l i s c h e C o l o ß 48000000 Arme hat (sind freylich auch einige Millionen Ärmchen drunter!) warum sollte er nicht alles können, was er will? — Also, wer ein ächter blau-

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äugiger und goldhaariger Teutscher ist *), ziehe seinen Seckel, und die Spötter sollen bald zu Schanden werden! Te u t o b o l d v o n A l t E i c h .

*)

C a e r u l e i Germanis o c u l i , r u t i l a e c o m a e . Tacitus.

Patriotischer Beytrag

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Der Teutsche Merkur. May 1780.

Drukfehler. Im Monat April d. J. S. 83 Z. 12 leset u n d statt oder.

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Der Teutsche Merkur. Junius 1780.

Auszug aus Herrn Magellans Zusatz zu des Hrn. Le Begue de Presle Relation des derniers jours de M. Jean Jacques Rousseau. Ich war im verwichnen Junius (1778) zu Paris, und wollte, eh ich wieder nach England reißte, erst einen kleinen Umweg machen, um den Hrn. Marquis v o n G e r a r d i n , mit dem ich seit einiger Zeit in Briefwechsel gestanden, zu besuchen. Er hatte mich auf sein Landgut Ermenonville eingeladen, und als ich zu gleicher Zeit erfuhr, daß Hr. Rousseau, auf das edle Anerbieten, das ihm der Marquis deshalb gemacht, sich gegenwärtig daselbst aufhalte, war

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dies ein Bewegungsgrund mehr zu meinem Entschluß. Noch nie hatte ich diesen ausserordentlichen Mann gesehen, der, unerachtet der Verirrungen, zu denen seine Einbildungskraft, die lebhaften Bewegungen seiner Seele, die äusserste Reizbarkeit seines Herzens ihn einigemal verleitet haben, doch immer unserm Jahrhundert Ehre macht. Diese Verirrungen wird ihm aber auch der vernünftige Theil der Welt gerne verzeihen, weil er am Ende doch nur M e n s c h war; und im übrigen sollt’ ich meynen, man hätte mehr Ursach, sich vor denen in Acht zu nehmen, die sich über die menschlichen Schwachheiten erhaben zu seyn dünken, als vor dem, der nicht mehr als unser Einer seyn will, und Aufrichtigkeit genug hat sich der Welt zu zeigen wie er ist.

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Ich darf allen, welche diesen Aufsatz lesen werden, versichern, daß mein Verlangen, Hrn. Rousseau persönlich kennen zu lernen, nichts weniger als die alberne Neugierde einen großen Mann zu begaffen, oder die Eitelkeit mich ihm bekannt zu machen zum Grunde hatte. Nein! Die Widerwärtigkeiten dieses berühmten Mannes, die Verfolgungen, die er geduldet, der Neid, den er erwekt, seine Verdienste, seine ausnehmenden Talente, sogar seine Irrthümer — alles war mir an ihm wichtig; alles machte mich ungeduldig ihn zu sehen und persönlich kennen zu lernen. Es hat von jeher in der Klasse der Gelehrten solche Unglükliche gegeben, denen das Unvermögen ihre Zeitgenossen in irgend einer Art von Geistes-

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producten zu übertreffen, das Herz abgenagt hat. Zu dieser Klasse gehören auch die, deren schwarze Seelen keine andre Empfindung als Eifersucht — eine bösartige und übelthätige Eifersucht — gegen diesen unnachahmlichen Schriftsteller kannten; die sich ein Geschäft daraus machten ihn zu quälen, und denen es auch endlich gelang, die äusserste Reizbarkeit seines Characters, die sehr wahrscheinlich eine Folge seiner physischen Organisation war, zu ihrer boshaften Absicht zu mißbrauchen, und ihn unvermerkt zu jenen Ergießungen des Herzens zu dringen, die der unverständige Haufe Unvorsichtigkeiten nennt, und nach den Begriffen der habituellen Sclaverey, worinn 10

er in der bürgerlichen Gesellschaft aufgewachsen ist, zu Verbrechen macht — die aber Leute von gesunderm Urtheil weder verdammen können noch mögen. Ich hatte hier in London gesehen, wie weit es die Feinde Rousseau’s mit ihren Kabalen brachten. Unter dem Schein als ob sie ihm Gutes thun wollten, hörten sie nicht auf die Zartheit seines Gefühls zu verletzen, um ihn hernach für einen Thoren, für einen Menschenhasser, ja sogar für einen Undankbaren (das Schmählichste und Unerträglichste, was man ein empfindendes und edles Herz nur immer schelten kann) ausschreyen zu können. Durch diese geheimen boshaften Kunstgriffe brachten sie es endlich dahin, daß sie ihn aus

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einer Freystatt trieben, die er im Schooße der Freyheit selbst, mitten unter einer Nation gefunden hatte, die man mit Recht philosophisch nennt, ob es gleich sehr lächerlich seyn würde, zu glauben, daß darum jeder einzelne Mann ein Philosoph seyn müsse. Ich gestehe, daß ich damals über dies unwürdige Verfahren äusserst ungehalten war; denn jeder rechtschafne Mann hat ein Recht an mein Mitleiden; und wär ich im Stande gewesen, Hrn. R. einige Dienste zu leisten — ob ich gleich selbst sehr eingeschränkt lebte, und so gut als er ein Fremder im Lande war — so würd’ ich nicht ermangelt haben alles anzuwenden, um mich mit ihm in ein näheres Verhältniß zu setzen und sein Zutrauen zu gewinnen. Un-

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gefehr eben dieselben Umstände verhinderten mich in der Folge seine Bekanntschaft zu Paris zu erlangen, ob ich gleich schon die Freundschaft zweyer Männer, die seine Vertraute waren, nemlich des Hrn. L e B e g u e d e P r e s l e , und des Hrn. A u b l e t , Herausgebers der G e s c h i c h t e d e r P f l a n z e n v o n G u i a n e , genoß. Hr. R. vermied seit langer Zeit alle neue Bekanntschaften. Er hatte die Bosheit der mehrsten, die sich das Ansehen seiner Freunde hatten

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geben wollen, nur zu deutlich erfahren. Seine Zurükhaltung hatte demnach ihre guten Gründe; und ich meines Orts schätze die Freyheit nach eignen Grundsätzen zu handeln an andern gerade so hoch, als ich selbst, in Dingen die mich allein betreffen immer mein eigner Herr zu seyn wünsche. Nun wieder zur Sache; obgleich dieser Absprung hier eben nicht allzusehr am unrechten Ort stehen möchte. Die Verfassung und Umstände, worinn Hr. R. im verwichnen Junius lebte, waren ganz das Gegentheil von seinen sonstigen. Er fand sich glüklich mitten unter Freunden, die er bewährt gefunden; im Schooß einer eben so liebenswürdigen und edeln, als ansehnlichen Familie; und in dieser Rüksicht glaubte ich recht zu thun, wenn ich mir das

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Vergnügen nicht länger versagte, diesen Philosophen aufzusuchen, der nun endlich doch wenigstens am Ende seiner Laufbahn das Glük des Lebens kostete. Ich theilte meinen Vorsatz dem Hrn. Le Begue de Presle mit, und da er selbst nach Ermenonville zu reisen beschlossen hatte, begleitete er mich am 21sten Junius dahin, und unsre kleine Reise geschah auf eben die Art, wie Hr. Le Begue auf der 13ten S. seiner Nachricht schreibt, daß er Hrn. Rousseau dahin geführt habe. Diejenigen, welche die Fabel erfunden haben, Hr. R. sey zu Fuß nach Ermenonville gereißt, müssen sehr unverschämte und abgeschmakte Leute gewesen seyn *). Wir kamen zu Mittag kurz vor Tafel auf dem Schloß an, und fanden eine

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Gesellschaft, die den Hrn. Marquis von Gerardin und seine Familie zu besuchen gekommen war. Als wir abgespeißt hatten, kam Hr. R. zu uns, eben da wir im Begriff waren, einen Spaziergang zu machen, und schon auf der Brücke des Schloßgrabens standen. Er hatte nichts in seiner Physionomie, das ihn angekündigt hätte, es müßte denn die Lebhaftigkeit seiner Augen gewesen seyn. Seine Mine war so simpel und bescheiden, ohne irgend eine Pretension auszuhängen, oder die Vorzüge seines Geistes nur im mindsten zu verrathen, daß ihn Niemand für das würde angesehn haben, was er war. Ich erinnerte mich einiger Stellen seiner Schriften, wo es scheint, als ob die Seele aus ihrer Sphäre trete, und in die höchste Begeisterung einer durchaus *)

Die Stelle, auf die sich Hr. Magellan hier bezieht, lautet in der Nachricht des Hrn. Le Begue

de Presle von den lezten Tagen des Hrn. R. also: „Herr Rousseau gieng am 20sten May nach Ermenonville ab, nicht zu Fuß aus Mangel an Geld, wie es geheißen hat, sondern in einer Chaise, die uns bis Louvres brachte, wo wir eine Carosse und Pferde des Hrn. Marq. von Gerardin fanden.“

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reinen und vollkommnen Tugend hingerissen, oder im Anschauen der erhabensten Wahrheiten, die er enthüllen und den übrigen Sterblichen anschaulich machen wollte, verschlungen würde. Allein meine Einbildungskraft behielt noch immer die Oberhand über meine Augen, und konnte sich kaum überreden lassen, daß der Mann, den ich vor mir sah, wirklich dieser anziehende Schriftsteller, dieser bewundernswürdige Mahler der zartesten Empfindungen des menschlichen Herzens wäre. Indem ich dies sage, dünkt mich, ich seh sie alle, die kleinen Geister, die Fanatiker, und, die noch ärger sind, die Tartüffen und Andächtler sich erhe10

ben, um sich zu den Verkleinern der Verdienste und Talente dieses großen Mannes zu gesellen, und aus Einem Munde das Verdammungsurtheil über seine Schriften auszurufen. Ich höre sie nichts als Irrthümer, Paradoxen und verkehrte Meinungen, sowohl in Ansehung der Moral als der Religion darinn finden, und die erhabensten Stellen, die richtigsten Grundsätze, die hellsten Wahrheiten, ohne sie sehen, ohne sie erkennen zu wollen, vorbeygehen. Aber Wehe dem, der in Rousseau’s Schriften nichts, als was fehlerhaft darinn seyn mag, sehen kann! Nach und nach, und wie von ungefehr, gerieth ich mit Hrn. R. in Conversation, und ich hatte die unaussprechlichste Freude, ihn in einem so geruhi-

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gen Zustande, und so ganz à son aise zu finden. Die Ruhe seiner Seele und die Zufriedenheit seines Herzens leuchtete aus seinem Gesicht und aus allem was er sprach hervor. Er ließ sich, sobald man sich an ihn wandte, oder die Reyhe der Unterhaltung ihn traf, auf die gleichgültigsten Gegenstände ein — es war die Einfalt selbst; er drükte sich immer mit der reizenden Kunstlosigkeit aus, die das natürlichste Kennzeichen eines aufrichtigguten Herzens ist. Ich bemerkte mit dem größten Vergnügen, daß selbst die Kinder des Hrn. Marquis aufmerksam waren, seiner Liebe zur Botanik zu schmeicheln, indem sie ihm Pflanzen zutrugen, die sie auf dem Spaziergange gefunden hatten. Er unterhielt sich mit ihnen davon; gab ihnen die Charactere der botanischen

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Klassification an, und zeigte ihnen ihre specifischen Unterscheidungszeichen. Indeß liefen doch auch von Zeit zu Zeit, obgleich sehr selten, diese und jene Ausdrücke mitunter, die durch einen Lakonismus voll Energie und Gefühl d e n R o u s s e a u verriethen. Als mir, z. B., ich weiß nicht mehr bey welcher Gelegenheit, der Ausdruk entfuhr: die Menschen wären böse. D i e M e n s c h e n ? antwortete Hr. R. — J a ! a b e r , d e r M e n s c h ist gut!

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Ein Punct hauptsächlich war es, der seine Empfindlichkeit reizte, und diesen Philosophen kenntlich machte. Die Unterhaltung kam nemlich von ungefehr auf die Widerwärtigkeiten des menschlichen Lebens, und ich führte bey dieser Gelegenheit die schreklichen Scenen an, von denen ich, während des Erdbebens zu Lisabon (im Jahr 1755) ein Augenzeuge gewesen war. Sobald ich dies sagte, heftete Hr. R. seinen Blik auf mich. „ W i e , sagte er, S i e w a r e n d a z u g e g e n ? “ Ja, antwortete ich, und ich kann nie ohne Schaudern an diese schrekliche Begebenheit denken. Mitten unter dieser entsetzlichen Zerstörung, ließ mir die Mannchfaltigkeit des Elends, wovon ich Augenzeuge war, beynahe nichts als ein Einziges betäubtes Gefühl eines schneidenden Schmer-

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zes, den der Anblik einiger meiner Freunde, die ihr Grab ebenfalls in dem allgemeinen Verderben fanden, auf einen Grad erhöhte, den ich nicht mit Worten auszudrücken im Stande bin. Unter andern erinnere ich mich einer Scene, deren Andenken noch izt das rührendste Gemählde vor meine Sinne stellt. Ein Bürger aus Lisabon befand sich ausser seinem Hause, als die mehrsten Gebäude auf den dritten Stoß zusammenstürzten, nachdem die beyden ersten den Grund und die Mauren bereits erschüttert hatten. Er eilte, sobald er ans Zurükkommen denken konnte, herbey, seine Frau und seine Kinder, um deren Schiksal ihm bange war, zu retten. In dieser Angst sprang er über den

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Schutt, von dem die Straßen voll lagen, und seine Herzhaftigkeit wurde verdoppelt, da er sah, daß sein Haus nicht mit gefallen war, obgleich Thür und Fenster von den Ruinen der gegenüberstehenden verschüttet waren. Er rief den Seinen aus allen Kräften, und sie antworteten ihm auch, nur konnten sie nicht heraus, weil alle Ausgänge verstopft waren. Der unglükliche Mann fieng an den Schutt beyseite zu räumen, und bat alle, die nur in einiger Entfernung vorüber giengen, ihm eine Öfnung machen zu helfen, durch welche seine Familie aus dieser Art von Grabe gehen könnte. Aber unglüklicherweise brach so nah neben seinem Hause Feuer aus, daß alle Rettung unmöglich war, und ihm nun nichts weiter übrig blieb, als in das Schreyen und Weinen seiner Familie einzustimmen, die er vor seinen Augen lebendig verbrennen sehen mußte. Bey diesen Worten that Hr. R., der meiner Erzählung sehr aufmerksam zugehört hatte, einen hastigen Schritt beyseite, und blieb, wie vom Blitz gerührt, einige Augenblicke unbeweglich stehen. Den Ausdruk seiner Physio-

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nomie in diesem Augenblik bin ich nicht im Stande zu beschreiben, so vollkommen stellte sie das dar, was in seinem Inwendigen vorgieng. Gegen Abend, als wir wieder auf das Schloß zurükgekommen waren, regalierte uns der Hr. Marquis mit einem Concert, an dem Hr. R. selbst einigen Theil nahm. Besonders erinnere ich mich, daß er das Lied v o n d e r We y d e aus Schakespear’s O t h e l l o , das er selbst ganz neuerlich componiert hatte, auf dem Pianoforte accompagnierte. Ich erhielt mit seiner Erlaubniß eine Abschrift davon; es ist ganz in dem wahren simpeln und pathetischen Geschmak seines Verfassers. Wahrscheinlicherweise ist dies seine lezte Compo10

sition gewesen. Den Tag darauf, als am 22sten Junius speißte Hr. R. auf Einladung des Hrn. Marquis zu Mittag bey Ihm. Allein es traf sich eben, daß seine Frau nicht mit von der Gesellschaft seyn konnte, und also wurde ich des Vergnügens auch Sie kennen zu lernen beraubt. Die Dienste, die sie ihm so viele Jahre geleistet, und die treue Ergebenheit, womit sie diesem Philosophen in einer so langen Reyhe unangenehmer Umstände zugethan geblieben, müssen sie billig allen guten Menschen schätzbar machen. Als wir abgespeißt hatten, machte Hr. R. auch einen Spaziergang mit, und der übrige Theil des Tages verstrich eben so angenehm, wie der vorhergehende.

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Hätt’ ich bloß meine Neigung zu Rathe ziehen dürfen, so würde ich, dem Anerbieten des Hrn. Marquis zufolge, mich noch einige Tage bey Ihm aufgehalten haben. Allein da ich nicht länger von London abwesend seyn konnte, mußte ich den folgenden Tag diese angenehme Gesellschaft verlassen, wo man mir nichts als Liebe erwiesen, und wo ich die Tugenden der edelsten Gastfreyheit, und achtungsvollsten Zärtlichkeit gegen diesen ausserordentlichen Mann, der so lange der Gegenstand des Neides und das Spiel des Schiksals gewesen war, hatte ausüben gesehen. Da man vielleicht hier eine Beschreibung des schönen Landgutes Ermenonville, wo Hr. R. seine lezte Wohnung mit so viel Wohlgefallen aufschlug von

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mir erwarten dürfte: muß ich zu meiner Entschuldigung sagen, daß ich so eben nicht Muße habe, das Gemählde davon zu unternehmen. Wer die vortrefliche Abhandlung des Hrn. Marq. von Gerardin über die Gartenkunst, oder de la composition des paysages, wie er sie nennt, gelesen hat, der wird sich leicht überreden können, daß ein Geschmak, der sich nach so wahren Grundsätzen und gleichsam in der Schule der schönen Natur selbst gebildet,

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in der Ausübung die Regeln nicht verfehlt haben werde, deren Kenntniß er nicht anders als durch eine mit dem feinsten Gefühl und anhaltenden Nachdenken begleitete Erfahrung, und nachdem er alles, was in Europa das Schönste genannt werden kann, selbst gesehen, erlangen konnte. Um indeß die Neugier des Lesers nicht ganz zu täuschen, will ich aus dem Brief eines meiner Freunde, welcher diesen lieblichen Ort länger als ein Jahr vorher, eh Hr. R. sein Wohnsitz daselbst nahm, besucht hatte, einen kleinen Auszug hersetzen, der schon hinreichend seyn wird, einigen Begriff von Ermenonville zu geben. „Das schöne Landgut Ermenonville, schreibt mein Freund, das auf neun Meilen von Paris liegt, und dem Hrn. von Gerardin gehört, ist das einzge, wo

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die Franzosen sich einen Begriff von einer englischen Landschaft machen können, und das diese vielleicht noch übertrift. Dafür ist aber auch dort ein immerwährender Zulauf von Einheimischen und Ausländern, welche die Neugierde dahinführt. Vor kurzem ist auch der Kayser da gewesen, und hat die schöne Natur an diesem Ort überraschender und angenehmer gefunden, als die durch Kunst ausgeschmükte Natur zu Chantilly. Der Park ist ein Theil eines Waldes, von dem er 1000 bis 1200 Morgen ausmacht, und dieser Strich Landes stellt durch seine schöne Unordnung und Manchfaltigkeit lauter Gemählde und sehr mahlerische Scenen dar, die man mit eben so viel Geschmak als Aufwand auszubilden gewußt hat. Ein Bach, der auf 300 Schritte seitwärts

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vom Eingang des Schlosses entfernt ist, und, indem er 15 Schuh hoch zwischen Felsen herabstürzt, dieselbe Wirkung wie die Cascade zu Tivoli thut, fließt rings um den Vorhof herum, und macht alsdann eine zwote eben so ländliche Cascade, indem er in die Graben fällt, womit das Schloß umgeben ist. Wenn er durch alle diese geflossen ist, nimmt er seinen Lauf der zwoten Faßade des Schlosses gegenüber, durch eine schöne Wiese, wo er immer in ebenem Boden hinfließt. Die Wiese selbst ist von zwey schönen Gehölzen begrenzt, und über diese ragen die Gipfel wenig entfernter Berge hervor, deren einige kahl, andere mit Holz bedekt sind. Zwischen diesen Massen von Gehölzen und hinter den Bergen finden sich schöne Seeen, Baumgärten, Saatfelder, Mäyerhöfe, alle Arten von Anpflanzungen u. s. w. Die Spaziergänge an diesem schönen Ort sind, wegen der vortreflichen Musik, die man da hört, dem Ohr nicht weniger angenehm, als den Augen; denn der Hr. von Gerardin unterhält eine Anzahl von geschikten Tonkünstlern, die sich bald in den Wäldern, bald an den Ufern der Gewässer, bald auf den Ge-

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wässern selbst, einzeln oder concertirend, hören lassen, und, Abends, sich versammeln, um in dem Saal, der an denjenigen stößt, wo sich die Gesellschaft des Hrn. Marquis aufhält, die besten musikalischen Sachen aufzuführen. Nirgends findet man das Ungezwungne im Umgang, die Freyheit in der Lebensart, die Einfalt in den Sitten sowohl als in der Kleidung, in einem höhern Grad als hier. Die Frau von Gerardin und ihre Töchter sind en Amazones in den gewöhnlichsten braunen Zeug gekleidet, und haben einen schwarzen Hut statt aller Coeffüre. Ihre Knaben tragen die einfachste Kleidung, und 10

können deswegen eben so leicht für Bauernkinder angesehen werden u. s. w.“ Ich habe dieser Nachricht nichts als die Versicherung hin zu fügen, daß ich selbst alles so befunden habe, wie es hier beschrieben ist. Es schien mir, als hätte der Hr. Marq. von Gerardin alle die schönen Gemählde der Dichter von den glüklichen Gefilden Arabiens und den Haynen von Cythere und Gnidos zu Ermenonville realisiren wollen. An diesem bezaubernden Ort also verließ ich Hrn. R. in einem Zustande, welcher der glüklichste, vielleicht von seinem ganzen Leben, war; bey Menschen, die ihm auf die edelste Art seinen Aufenthalt angenehm machten, die ihn liebten und ehrten ohne den künstlichen Prunk von Complimenten, die der wahre Weise verachtet, weil sie im Grunde

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nichts als Zeichen — ohne Bedeutung sind. Kurz darauf als ich wieder zu London angekommen war, las ich in der Zeitung die Nachricht, daß Hr. Rousseau zu Ermenonville gestorben sey; aber mit Umständen, von deren Unwahrheit ich größtentheils versichert war. Um nun in Ansehung der übrigen, bey denen ich noch in Zweifel stund, eben so gewiß zu werden, schrieb ich aus dieser Absicht sogleich an unsern gemeinschaftlichen Freund nach Paris. Hauptsächlich wünscht’ ich diese zwey Puncte zuverläßig zu erfahren: ob Hr. Rousseau vor und in seinem Sterben viel gelitten, und ob er seiner Wittwe zu leben hinterlassen hätte. Denn das Grab wird nie die Grenze meiner Freundschaft seyn.

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Was übrigens die Reden und Worte eines Sterbenden betrift: so hangen diese wohl gänzlich von der gegenwärtigen physischen Beschaffenheit des Körpers ab. Es ist demnach nichts ungereimter und trüglicher (so häufig es auch geschieht) als aus den lezten Handlungen und Reden eines Sterbenden, wer er auch sey, auf die eigentlichen Gesinnungen seiner Seele schließen zu wollen. Alle Fibern, alle Triebfedern des Lebens sind da schon in einem con-

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vulsiven Zustande, worinn die ganze Maschine die Annäherung ihrer Zerstörung ankündigt. Es ist also nicht mehr derselbe Mensch, welcher spricht; es sind nicht mehr s e i n e Gesinnungen, die er äussert *). Schon dies sollte hinreichend seyn, diejenigen, welche den Einfluß der physischen Organisation auf die intellectuellen Kräfte des Menschen kennen, eines bessern zu überführen. Ich empfieng von seinem und meinem Freunde, dem Hrn. Le Begue de Presle folgendes zur Antwort: „Sie können sich leicht vorstellen, wie sehr ich es beklage, daß Hr. Rousseau die Ruhe, die er an Seel und Leib in einer so schönen ländlichen Gegend und bey Personen gefunden hatte, die sich bestrebten ihn so glüklich zu machen, als sein Character und das Andenken an seine vorigen Leiden es nur immer erlauben konnten, nicht länger genossen habe. Auf seinem Todesbette hat er sehr wenig gelitten, denn er lebte von dem ersten Anfang seines Kopfwehs an nur noch vier Stunden — Madame Rousseau hat zu leben u. s. w.“

*)

Diese Behauptung des Hrn. Magellan, so wahr sie auch in den meisten Fällen seyn mag,

leidet doch sehr viele Ausnahmen, und ist überhaupt viel zu allgemein und unbestimmt ausgedrükt.

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¼Fortsetzung der Bilanz der schönen Literatur im Jahre 1779.½ Zusatz des Herausgebers. Daß dieser zweyte Theil der Bilanz der Literatur des vorigen Jahres von einem andern Verfasser herrühre als der erste, den ich im April-Monat gegeben, würden die Leser vielleicht auch ohne meine Erinnerung wahrgenommen haben. Da der V. des ersten Theils derselben mit den meisten Producten unsrer neusten schönen Literatur nicht sehr bekannt zu seyn gestund, und eine kurze Anzeige derselben gleichwohl vom T. M. erwartet werden konnte: so 10

trug ich diese Arbeit einem Gelehrten auf, dessen Aufmerksamkeit in diesem Fache nicht leicht etwas zu entgehen pflegt. An beyden Aufsätzen kann ich mir kein andres Verdienst anmaaßen, als daß ich der Herausgeber bin. Da die Verfasser, eingedenk des Xenophontischen Dicti, d a ß s i c h l o b e n h ö r e n d e r a n g e n e h m s t e O h r e n s c h m a u s s e y , mit Lob und Beyfall nicht sparsam gewesen sind: so nöthigt mir meine Aufrichtigkeit diese Erklärung ab, weil ich nicht zu erndten verlange wo ich nicht gesäet habe. — Den A r i s t a r c h e n liegt die Pflicht der Wahrheit ob — heißt es irgendwo; aber u n s r e Aristarchen, Q u i n t i l i a n e und L o n g i n e sollen noch gebohren werden. Mittlerweile ists ganz in der Ordnung, daß die Sonne über Gerechte und Un-

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gerechte scheine; daß jeder producire was er kann, und so gut er’s kann, und von dem was da ist, jeder genieße was er mag, und was er nicht genießen kann, andern überlasse, die es können. Das Schlechte ist noch immer gut genug, bis was Bessers kömmt; aber auch das Beste ist nur für die Besten gemacht; und von Lesern wie von Schriftstellern gilt der Spruch: viele beruffen, wenige auserwählt!

Z u s a t z d e s H e r a u s g e b e r s ¼zu Schmid: Bilanz½

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Schreiben eines Nachdruckers an den Herausgeber des T. M. Hochgeehrtester Herr, Ich setze ein so großes Vertrauen in Ihre Gerechtigkeitsliebe, daß ich mir schmeichle, Sie werden mich keine Fehlbitte thun lassen, wenn ich Sie hiemit dienstgeflissenst ersuche, gegenwärtiges Schreiben, worinn ich, im Namen aller meiner Mitbrüder, unsre gerechten Beschwerden über das unartige Verfahren der Herren Schriftsteller (worunter ich jedoch nicht alle gemeynt haben will) gegen uns Nachdrucker in den Schoos des Publici auszuschütten, und die Gerechtigkeit unsrer guten Sache allen unbefangnen Gemüthern ein-

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leuchtend zu machen willens bin, in Dero beliebte Monatsschrift einrücken zu lassen. In der That, (verzeyhen Sie mir meine Freymüthigkeit!) die Herren Autoren machen es uns Nachdruckern so arg, daß wir eine dickere Haut haben müßten, als der Rhinozeros, wenn wir es länger ertragen könnten, uns die unleidlichsten Injurien in die Zähne stoßen, uns, als den elendesten und verworfensten unter allen Menschen begegnen, und geradezu für l i t e r a r i s c h e S t r a ß e n r ä u b e r , für D i e b e , d i e i h r e m N e b e n m e n s c h e n d a s B r o d a u s d e m M u n d e s t e h l e n , kurz für B e t r ü g e r , S c h u r k e n und S p i t z b u b e n in öffentlichem Druk erklären zu lassen. Gestehen Sie, m. H., daß

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dergleichen Titulaturen und Vorwürfe einen ehrlichen Mann, der weiter nichts thut, als daß er seiner bürgerlichen Nahrung nachgeht, und, seinen Privatnutzen mit dem möglichsten Vortheile des gemeinen Wesens zu verbinden sucht, in der Seele kränken müssen; und daß es kein Wunder wäre, wenn uns endlich die Geduld ausgienge, und wir den Herren Autoren auch unsers Orts Wahrheiten in die Ohren raunten, die ihnen vielleicht nicht die angenehmsten seyn möchten. Krümmt sich doch ein Wurm, wenn er getreten wird; und wir Nachdrucker sollten uns unaufhörlich, bey jeder vom Zaun abgerißnen Gelegenheit, so gröblich verunglimpfen, und mit den ehrenrührigsten Benennungen gleichsam öffentlich an den Pranger stellen, auspeit-

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schen und brandmarken lassen, ohne nur einen Laut von uns zu geben? — Und das alles unschuldiger unverdienterweise, bloß weil wir unsern ordentlichen Beruf treiben; ja um eines Gewerbes willen, wodurch wir uns offenbar um das ganze Publicum und sogar um diejenigen selbst, die uns so übel mitspielen, durch mehrere Ausbreitung ihrer Werke und Vermehrung der Anzahl ihrer Bewunderer, die unläugbarsten Verdienste machen. Mein Herr H., Sie sind zwar selbst ein Autor, und werden mich also als einen sich selbst angebenden Nachdrucker für ihren n a t ü r l i c h e n F e i n d halten. Aber ich traue Ihnen doch Ehre und Billigkeit genug zu, auch einem 10

Feinde sein Recht widerfahren zu lassen. Ja, möchte ich, als Nachdrucker, in Ihren Augen sogar ein Teufel seyn: so werden Sie sich des Brocardicums (oder wie man’s nennt) erinnern, ne Diabolo quidem neganda est justitia. Sie wissen vermuthlich, daß aus Anerkennung dieser großen Wahrheit, bey jedesmaliger Heiligsprechung eines Kandidaten des Heiligenstandes, und bey dem öffentlichen feyerlichen Gerichte, das vorher über den Lebenswandel und die Erforderlichkeiten eines solchen Kandidaten zu Rom gehalten wird, dem Te u f e l , (weil es sich in einer so vornehmen Versammlung nicht wohl schikken würde ihn in Person vorzuladen) aus dem Mittel des heil. Collegii ein Advocat zugegeben wird, der seine, des besagten Teufels, Ansprüche, Rechte

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und Gerechtsame in Obacht nehme, und nicht zugebe, daß das mindeste zum Präjudiz seiner an die Seele des künftigen Heiligen allenfalls habenden oder zu haben vermeynenden Foderungen, verfügt und abgeurtheilt werde. Sie werden mir hoffentlich zugeben, m. H., daß dies ein höchstruhmwürdiges Beyspiel einer äusserst gewissenhaften Justizverwaltung ist, welches billig in allen Gerichtshöfen, ja überhaupt von allen, die sich eines Urtheils über die Handlungen ihrer Nebenmenschen anmaaßen, zum Muster genommen werden sollte. Darf nun, ohne Verletzung der unpartheyischen Gerechtigkeit, dem Teufel selbst, das Recht, entweder in Person oder durch einen dazu Bevollmächtigten, oder ex nobili officio judicis ihm freywillig constituierten

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Anwald, zu erscheinen, und seine allenfalsige rechtliche Nothdurft vorzubringen, nicht versagt werden: so werden doch wohl die Herren Schriftsteller nicht so unmenschlich seyn wollen, uns Nachdruckern — die wir am Ende doch keine Teufel, sondern ihre Nebenmenschen, Mitbürger und Mitchristen sind, so gut als ihre sogenannten rechtmäßigen Verleger — unsere sowohl im Naturgesetz, als in allen geistlichen und bürgerlichen Rechten, wohlgegrün-

Schreiben eines Nachdruckers

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dete Selbstvertheidigung zu versagen, oder es Ihnen, m. H., übel zu nehmen, daß sie die Menschlichkeit an uns thun, unsre Defension und gerechte Gegenklage an unsern hunderttausendköpfigen gnädigen Herrn, das Publicum, hochgeneigt gelangen zu lassen. Sie könnten uns zwar die Einwendung machen: daß wir uns an dem stillschweigenden Beyfall, womit uns wohlersagtes Publicum beehrt, und an dem öffentlichen Schutz, den große, erleuchtete, und gerechtigkeitsliebende Fürsten uns gönnen, vollkommen genügen lassen sollten, und da wir in possessorio manuteniert würden, nicht einmal nöthig hätten, uns auf eine allezeit mißliche Erörterung der Frage, ob und wiefern wir uns in r e c h t m ä ß i g e m

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Besitze befänden, einzulassen. Allein, was es um den stillschweigenden Beyfall des Publicums für eine Sache ist, das mögen Sie, m. Hr., vermuthlich besser wissen als wir. Die Herren Leser, die sich um die Schriftsteller selbst wenig genug bekümmern, werden es wahrlich uns Nachdruckern nicht besser machen. Von Verdiensten, die man sich um sie erworben, hören sie just so gerne reden als die großen Herren. Alles was man für s i e thut ist Schuldigkeit; alles was sie für u n s thun, ist Gnade: das wird sobald nicht anders werden! Sie kaufen unsre Nachdrücke, weil sie 200 und mehr Procent dabey gewinnen: aber daß sie uns dafür die mindeste Verbindlichkeit haben sollten, kömmt ihnen gewiß nicht zu Sinne — Ich trage allen Respect für das Publicum — aber

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es ist (wie D’ A u b i g n é von H e i n r i c h dem I V ten sagte) der ärgste Knauser und das undankbarste Wesen auf Gottes weitem Erdboden. Das weiß die ganze Welt; und weil es von jeher so gewesen ist, so wirds wohl auch so bleiben in Secula Seculorum. Wie insbesondere über unser Kapitel von denen selbst, die z. E. durch Ankaufung des spottwohlfeilen Nachdruks der sogenannten schönen Geister Teutschlands etliche Dutzend Ducaten mehr in der Tasche behalten haben, als wenn sie den Schmeer der Katze hätten abkaufen müssen — gesprochen wird, ist mir nur zu wohl bekannt. Wer nimmt sich die Mühe, die großen Abhandlungen zu prüfen, die gegen uns geschrieben worden sind? Lieber nimmt man den kürzern Weg; die Herren haben recht, sagt man, es ist ein unverschämtes Gesindel um die Nachdrucker, und es wäre den armen Autoren und Verlegern recht wohl zu gönnen, wenn sie sich gegen solche Räubereyen sicher stellen könnten. — Wahr ists, man kauft, dieses Mitleidens mit den Autoren und Verlegern ungeachtet, unsre Nachdrücke nichts desto weniger, weil man’s noch ohne Gefahr thun kann und seinen Vortheil dabey

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findet: aber ich möchte doch nicht dafür stehen, daß nicht über eine Weile, und wenn durch irgend einen Zufall der Proceß gegen uns Nachdrucker eine nachtheilige Wendung nehmen sollte, der größte Theil eben derjenigen, die sich um Zwey und Dreisig Gülden eine ganze Bibliothek teutscher Schriftsteller angeschaft haben, nicht undankbar genug seyn könnte, mit unsern Gegnern Chorus zu machen, oder wenigstens nicht dankbar genug, um bey Kayser und Reich zu unsern Gunsten interveniendo einzukommen. Und was den Schutz betrift, den uns unsre gnädigsten Landesherren bis dato haben angedeyhen lassen – so erkennen wir zwar solches, wie billig, mit unterthä10

nigstem Dank; indessen können wir uns doch nicht verbergen, daß wir diesen Schutz mehr dem allgemeinen Landesväterlichen Grundsatz — „jeden Bürger sein Gewerbe ungestört treiben zu lassen so lange der Staat keinen Schaden davon hat —“ als der rechtlich anerkannten Güte unsrer Sache, mit Einem Wort, daß wir unsre Sicherheit mehr einer bloßen Duldung als einem feststehenden und öffentlich garantierten Rechte zu danken haben. Es ist also nichts weniger als überflüßig, wenn wir uns, wie ich hiemit zu thun gesonnen bin, bemühen, sowohl das lesende Publicum, als die ganze ehrbare und unpartheyische Welt zu überzeugen: daß die Herren Autoren, ungeachtet sie so laut schreyen, und uns Nachdruckern nicht anders begeg-

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nen, als ob wir gerichtlich überwiesene Diebe und Straßenräuber, ja als ob wir bereits förmlich in die Reichsacht und für Vogelfrey erklärt wären, und nun einem jeden frey stünde, uns ungestraft zu mißhandeln, zu schimpfen, oder vor den Kopf zu schlagen, wo er uns fände — daß sie, sage ich, noch weit davon entfernt sind, ihre Sache ausser allen rechtlichen Zweifel gesezt zu haben; und daß es mit ihrem vermeyntlichen Eigenthumsrecht an die Werke ihres Kopfes oder ihrer Hände bey weitem nicht die Bewandtnis hat, wie mit irgend einer andern Sache, die vermöge des natürlichen oder bürgerlichen Rechts im Eigenthum steht. Ehe ich mich hierüber einlasse, erlauben Sie mir, m. H. H., Ihnen meine

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Verwunderung darüber zu bezeugen: daß, ungeachtet beynahe so lange die Welt stehet, über M e i n u n d D e i n gestritten wird, und unter den alten Griechen und Römern gewiß so viel Bücher geschrieben wurden als bey uns; gleichwohl sich, meines Wissens, nicht die mindeste Spur findet, daß die alten Schriftsteller sich selbst oder ihren Verlegern ein solches ausschließendes Dominium über ihre Schriften beygelegt, oder sich eines Monopoliums mit den-

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selben angemaaßet hätten; und woher es also wohl kommen möge, daß diese Controvers zwischen Autoren und Nachdruckern, in diesen unsern Tagen, so neu, und ohne Beyspiel oder Präjudicium aus ältern Zeiten ist, als ob man erst seit 10 Jahren angefangen hätte, das Buchmacherhandwerk zu treiben? Da ich nur ein unbedeutender Nachdrucker bin, so kömmt es mir keinesweges zu, (auch maaße ich mich dessen nicht an) ein so gelehrtes und knotichtes Problem auflösen zu wollen. Nur wird mir erlaubt seyn, in aller Demuth zu fragen: ob es etwa daher komme, daß die alten Schriftsteller, Dichter, Philosophen, Geschichtschreiber u. s. w. als da sind Summus Aristoteles, Plato und Euripides, Sappho und Anakreon, etc. etc., mit ihren Schriften kein Gewerbe

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getrieben, sondern bloß um die Ehre oder zu ihrem eignen Vergnügen, oder aus Liebe zu den Wissenschaften, oder aus göttlicher Eingebung der Musen, oder aus irgend einem andern Bewegungsgrund, der mit dem (übrigens an sich untadelichen) Verlangen nach zeitlichem Gut und baarem Geld in keiner unmittelbaren Beziehung steht, geschrieben hätten? Mir wenigstens kommt dies, aus vielerley Ursachen, so wahrscheinlich vor, daß ich meinen ganzen Verlag daran wetten wollte, es sey dem wirklich so gewesen, und z. E. Cicero, Sallustius, Julius Cäsar, oder Catullus, Tibullus und Propertius hätten für ihre Schriften, wiewohl die gelehrte Welt sie bis auf diese Stunde in großen Ehren hält, weder von einem Verleger noch auf Subscription, keinen Heller Hono-

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rarium bekommen. Wenn diese Herren was geschrieben hatten, das sie der Welt zum Besten geben wollten, so ließen sie entweder ihre Freunde Abschrift davon nehmen, und nun schrieb ab oder ließ abschreiben wer konnte und wollte; oder sie gaben’s einem S o s i u s , der zwar so viel geschriebne Copieen davon verkaufte als er Abnehmer fand, aber nichts einwenden konnte, wenn andre Leute von ihrem gekauften Exemplar wieder soviel neue Abschriften machten und verkauften als ihnen beliebte. Ich lasse mich gern bescheiden, daß sich die Umstände seit jenen Zeiten sehr geändert haben, und daß unsre Gelehrten und Schriftsteller nicht zu verdenken sind, wenn sie von ihren Werken so vielerley Vortheil zu ziehen suchen, als nur immer möglich seyn will. Bücher sind nun einmal eine Waare geworden, so gut wie Zucker, Caffee, Schnupftobak, oder irgend eine Art von Handels- und Fabriksartikeln; und es ist nicht mehr als billig, daß derjenige, der die Waare mit Fleiß, Mühe, Unkosten und Zeitaufwand auf seinem Grund und Boden gezogen, oder auf seinem Werkstuhl fabriciert hat, sie s o t h e u e r zu verkauffen sucht, als es nur

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immer gehen will. Aber, sobald die Herren die Sache aus diesem kaufmännischen Gesichtspunct betrachten, sollten sie nicht vergessen, daß andre Leute auch leben wollen, und daß nichts natürlichers ist, als wenn das Publicum eine Waare, die sich, ohne Abbruch ihrer innern Güte, auf unzähliche Art und Weise vervielfältigen läßt, gerne s o w o h l f e i l kauft als nur immer möglich ist. Gut, sagen die Herren; „aber wir haben ein ausschließendes Recht an unsre Werke, weil sie unsre Werke sind; so gut als der Schuster ein ausschließendes Recht an die Stiefeln hat, die er gemacht hat; von uns allein hängt es ab, ob und 10

unter welcher Bedingung wir unser Recht an das, was wir im allerstrengsten Verstand unser Eigenthum nennen können, einem andern übertragen wollen oder nicht; und haben wir es einmal cum omni jure et actione an Jemanden übertragen; so tritt dieser in alle unsre Rechte ein; unser Werk wird sein Eigenthum, und niemand kann ihn dessen berauben ohne einen Diebstahl zu begehen.“ Ich will nicht schicanieren (wiewohl ich mich hierinn auf ansehnliche Beyspiele berufen könnte) sonst möchte sich wohl gegen das Eigenthumsrecht der meisten Herren Schriftsteller auf ihre Werke, insofern es die eignen, ächten und ehlichen Kinder ihres Geistes seyn sollen, verschiedenes einwenden las-

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sen. Wir wollen’s aber hier so genau nicht nehmen; sondern, unbekümmert, wieviel jedem Autor von der Materie und selbst von der Form und Faßon seines Werks eigenthümlich angehöre, ohne Bedenken zugeben: daß jeder Autor sein Manuscript, und alle die gedrukten Copieen die er davon auf seine Kosten machen läßt, als sein Eigenthum anzusehen berechtigt sey. Hierüber ist auch so wenig jemals ein Streit gewesen: daß vielmehr ein jeder der einem Autor sein Manuscript, oder ein gedruktes Exemplar desselben entwendet, nach den Gesetzen deßhalben belangt werden kann, und wie ein andrer Dieb dafür bestraft wird. Das nemliche findet auch statt, wenn ein Autor oder Verleger sich von sei-

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ner höchsten Landesobrigkeit ein Privilegium erworben hat, durch welches Männiglichen, bey Strafe so und soviel Mark löthigen Goldes, verboten wird, ihm sein Buch nachzudrucken. Endlich begehre ich auch nicht zu läugnen, daß, wofern ein Autor oder Verleger mit jedem der ihm ein Exemplar seines Verlagsbuches abkaufte, einen besondern Contract schlösse, vermöge dessen der Abnehmer sich anhei-

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schig machte, besagtes Exemplar niemals weder zu veräußern noch abzuschreiben, nachzudrucken oder von einem andern abschreiben oder nachdrucken zu lassen, daß, solchenfalls, jeder Käuffer, der sich zu dieser Bedingung ein für allemal ausdrüklich verstanden hätte, wenn er derselben zuwider handelte, unrecht daran thun würde, und deßwegen von dem Verleger gerichtlich belangt werden könnte. Allein ich habe nie gehört, daß jemals ein solcher Vertrag zwischen einem Verleger und seinen Käuffern geschlossen worden wäre. Es ist aber auch hier von keinem dieser drey Fälle die Rede: sondern das was ich läugne und bestreite, ist bloß — das anmaaßlich-ausschließliche Recht,

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welches die Herren Schriftsteller, nicht in Kraft eines besondern Vertrags oder eines erlangten Privilegii, sondern vermöge des Naturrechts und der allgemeinen Grundgesetze des Eigenthums an ihre Werke zu haben vermeynen, und Kraft dessen sie sich berechtigt halten, uns Nachdruckern als Dieben und Mördern zu begegnen. Was hier gleich beym ersten Anblik jedem in die Augen leuchten muß, ist dies: daß nicht nur kein Gesetz in Teutschland vorhanden ist, vermöge dessen das Nachdrucken eines nicht privilegierten Buches verboten wäre; sondern, im Gegentheil, daß eben die Nothwendigkeit sich ein Privilegium zu verschaffen, wenn man sich gegen den Nachdruk sicher stellen will, der offen-

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barste Beweis ist „daß jedes unprivilegierte Buch von jedem, der dazu Belieben hat, nachgedrukt werden darf.“ Solchemnach — hätte der Streit auf einmal ein Ende, wenn sich die Advocaten unsers hochgeehrtesten Gegentheils nicht auf das natürliche und allgemeine bürgerliche Recht berieffen, und die Gesetzgebung unsers werthen Vaterlandes eben darum, weil die Bücherschreiber nicht durch ein ausdrükliches Gesetz bey ihrem Eigenthum geschüzt würden, einer höchstbeschwerlichen Unvollkommenheit und Ungerechtigkeit beschuldigten. Wir müssen also schon die Mühe nehmen, ein wenig näher nachzusehen, was es mit diesem natürlichen Eigenthumsrecht der Autoren an ihre Werke für eine natürliche Beschaffenheit hat. Mir däucht, mit Ihrer Erlaubnis, m. H., es sey mit einem Buche wie mit einem Geheimnis. So lange ich mein Geheimnis bey mir behalte, ists m e i n , und niemand kann mirs nehmen; aber so bald ichs ausgeplaudert habe, wär’ es auch nur gegen eine einzige Person: wie kann ich verlangen, daß es länger ein Geheimniß, d. i. länger ausschließlicherweise M e i n bleibe? Unstreitig

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sind unsre Gedanken unser natürlichstes und innigstes Eigenthum: aber wenn wir sie auf öffentlichem Markte ausruffen, oder, was der Wirkung nach einerley ist, wenn wir sie drucken lassen: so haben wir sie publici juris gemacht; sie sind nun nicht mehr unser, sondern gehören einem jeden, der sie gekauft oder gelesen hat, und er kann damit machen was ihm beliebt. Das bringt die Natur der Sache so mit sich; und es ist kein ander Mittel, dies zu verhindern, als daß wir — unsre Gedanken für uns behalten. „Aber, sagen die Herren Schriftsteller, unsre Werke sind Produkte unsrer Kunst und unsers Fleißes; warum sollten wir nicht eben so viel Recht daran 10

haben, als wenn unsre Bücher — Strümpfe, Hüte, Handschuhe oder Fußschuhe von unsrer Fabrik wären? —“ Wer läugnet dies? Aber was folgt daraus gegen uns Nachdrucker? Setzen Sie einmal den Fall, ein Schuster zöge mit 2000 Paar Schuhen von seiner Fabrik bey einem Volke zu Markte, das noch nichts von Schuhen gewußt hätte — so ist natürlich, daß jedermann, der sich mit Schuhen versehen wollte, zu ihm kommen müßte, weil er der einzige wäre der damit handelte. Nun lassen Sie uns aber setzen, einer von den Käuffern betrachte seinen gekauften Schuh so lange, bis er die Kunst ebendergleichen nachzumachen, ausfindig gemacht: mit welchem Rechte könnte nun jener Schuster oder Schuhhändler diesem leztern verbieten, ihm so viele Schuhe als

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er wollte nachzumachen, damit zu Markte zu kommen, und sie um beliebigen Preiß zu verkauffen? Oder mit welchem Rechte könnte er diesen Schuhnachmacher beschuldigen, daß er ein D i e b sey, weil er ihm seine eigenthümlich angehörigen Schuh verkauffe? — Omne simile claudicat. Aber die Bewandtnis mit dem ersten Verleger eines Buchs und dem Nachdrucker desselben ist im Grunde vollkommen die nemliche, wie mit meinem Schuhhändler und Schuhnachmacher. Das Papier, worauf der Nachdrucker drukt, ist s e i n Papier; die Schriften, die Farbe, sind s e i n e Schriften, s e i n e Farbe; Schriften, Farbe und Papier sind gegen das, was damit und darauf gedrukt werden mag, völlig gleichgültig; warum sollte also der Nachdrucker nicht eben so gut die

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Reyhen von Worten, die auf seinem dem Verleger abgekauften Exemplar stehen, auf sein eigenthümlich Papier drucken dürfen, als jede andre Reyhen von Worten? Nun bringt er sein gedruktes Papier zu Markte, und weil es den Liebhabern die nemlichen Dienste thut wie des Verlegers seines, und überdies noch um 100 oder 200 Pro Cent wohlfeiler ist: so findet es Absatz, und dem Verleger bleiben vielleicht 1000 oder mehr von seinen Exemplaren liegen.

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Desto schlimmer für ihn, so wie in oben geseztem Falle, desto schlimmer für den Schuhhändler! Aber der Buchverleger kann den Nachdrucker so wenig anklagen, daß er ihm s e i n B u c h g e s t o h l e n habe, als der Schuhverleger den Schuhnachmacher, daß er ihm seine Schuhe gestohlen habe. Der Fall ist der nemliche mit jedem unprivilegierten Monopolio. Sollte der Buchverleger sich mit Recht über den Verkäuffer des Nachdruks seines Verlagsartikels beschweren können: so müßte das Buch von einer solchen Natur seyn, daß es nicht anders als d u r c h Ve r f ä l s c h u n g nachgemacht werden könnte, und auch in diesem Falle müßte der Nachdrucker seine Waare für die O r i g i n a l a u s g a b e verkauffen; welches der Fall mit den nachgemachten und ver-

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fälschten Universalpillen und Wunderessenzen ist, wofür wir so oft in den Zeitungen gewarnt werden. Aber wenn es den Käuffern bloß darum zu thun ist, die nemliche Reyhe von Worten, die der Autor, als s e i n G e h e i m n i s , durch öffentlichen Druk nun einmal ausgeplaudert hat, zu erhalten, und ihm gar nichts verschlägt, wem das Papier, worauf sie gedrukt sind, zugehört, ob Lettern und Format größer oder kleiner sind, u. s. w. — wer in der Welt kann ihm wehren, einzukauffen, wo und von wem er will? Und mit welchem Schatten eines Grundes kann sich der Verleger beschweren, wenn ihm seine Waare liegen bleibt, da der Nachdrucker keine verfälschte Waare für ächt verkauft, sondern bloß eine Waare zu Markte bringt, welche den Liebhabern die nem-

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lichen D i e n s t e t h u t , wie die seinige, wiewohl’s nicht die nemliche Waare ist. Aber, sagt der Verleger, ich habe das Manuscript dem Hrn. Autor um so oder so viel Gulden, Thaler, Ducaten, Louisd’or oder Carolins abgekauft — es ist also m e i n E i g e n t h u m . — Das Manuscript? Concedo! — Die sämtlichen Exemplare die er davon abdrucken läßt? Concedo abermals! — Und was folgt nun daraus? — Daß der Verleger also das dem Autor gegebne Honorarium auf die Waare schlagen muß, und diese folglich um so viel theurer wird? Auch das geb’ ich zu! Der Verleger kann n o c h m e h r thun; er kann das Buch auf holländisch Papier mit B a s k e r v i l l i s c h e n Typen drucken, kann Kupfer von C h o d o w i e c k y oder B a r t o l o z z i dazu machen lassen, kann es mit Vignetten von M e i l und G e y s e r n auszieren; und so das Buch noch um die Hälfte oder um soviel er will theurer machen — Kauft nun wer Lust hat! Aber folgt daraus, daß er, vermöge der Natur der Sache, ein Recht hat, denjenigen für einen Dieb zu erklären, der uns dies Buch, das so bald es publiciert ist dem

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Publico zugehört, ebenfalls auf eigne Kosten und eigne Gefahr, ohne dem Autor ein Honorarium dafür zu geben, und ohne Kupfer und Vignetten, auf weißes oder graues Papier nachdrucken läßt, und an jeden verkauft, der dazu Belieben hat? Nego et pernego! Ob der Verkäuffer einer Waare wohlfeil oder theuer eingekauft hat; ob er seinen Fabricanten viel oder wenig Lohn gegeben hat, u. s. w. das ist s e i n e Sache: aber weder der Concurrent, der mit gleichbrauchbaren Waaren handelt, noch das Publicum hat sich was darum zu bekümmern. Lassen Sie uns, mit Ihrer Erlaubnis, die Sache noch von einer andern Seite 10

betrachten. Der erste Aufsatz oder die erste Copie eines Buchs ist wie ein O r i g i n a l g e m ä h l d e anzusehen. Der Mahler verkauft es an wen er will, und so hoch er kann. Gesezt er verkaufte es an einen Bilderhändler, der durch einen geschikten Copisten eine beliebige Anzahl Copieen davon machen ließe, die so gut wie das Original selbst wären, und der sie nun a l s C o p i e e n desselben verkaufte. Steht es nun nicht einem jeden frey, von einer solchen Copie, die er gekauft hat, wieder soviel Copieen machen zu lassen als er mag, und sie auf seine eigne Rechnung für Copieen zu verkauffen wo und wie und an wen er will? Wem ist jemals in den Sinn gekommen, es zu läugnen? Man wende dies nun auf den Druk und Nachdruk eines Buches an, und sehe ob nicht das nem-

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liche Facit herauskommt! Ich habe gesagt, ein jedes Buch, sobald es publiciert sey, gehöre nun, i n s o f e r n e s e i n B u c h ist, nicht mehr dem Autor sondern dem Publico zu. Als Wa a r e betrachtet ists ein anders; in d i e s e r Rüksicht besteht es aus einer gewissen Anzahl Exemplaren oder Kopeyen, die der Verleger (es sey nun der Autor selbst oder ein andrer dem er seine Handschrift a l s Wa a r e verkauft hat) auf seine Kosten und Gefahr drucken lassen; und da versteht sichs unstreitig von selbst, daß diese Anzahl von Exemplaren, insgemein A u f l a g e genannt, des Verlegers Eigenthum ist, und daß er sein Eigenthumsrecht an jedes einzelne Exemplar (den Fall der Confiscation ausgenommen) nicht an-

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ders als durch Verkauf, Tausch, Schenkung oder irgend eine andre von seinem freyen Willen abhangende Weise verliehren kann. Indessen ist und bleibt sein Buch eine Waare, und, was für ihn das schlimmste ist, eine Waare, die von einer solchen Natur ist, daß sie von jederman nachgemacht werden kann. Wie viel oder wenig er davon verkauffen, wie viel oder wenig er damit gewinnen werde, ist also etwas was ihm niemand garantieren wird. Seine Waare, inso-

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fern sie ein Buch ist, gehört dem Publico; jeder kann mit seinem Exemplare machen was er will — darf es ungestraft verschenken, verkauffen, vertauschen, versetzen, vermachen, von Motten oder Mäusen zernagen lassen, in Fidibus verwandeln, recensiren, Käse drein wickeln, oder es gar dazu gebrauchen, wozu G a r g a n t u a einst (Experiments halben) eine j u n g e G a n s gebrauchte, und vorzüglich bequem gefunden zu haben versichert. Und er, der das alles damit thun darf, sollt’ er es nicht so oft er will, zehnmal, hundertmal, tausendmal a b s c h r e i b e n , oder (was seit Erfindung der edeln Buchdrukkerkunst das nemliche besagt) a b d r u c k e n lassen, und seine Abdrücke, die nun s e i n e Waare, s e i n Verlag sind, verkauffen dürfen wie er will? wer sollt

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es ihm (in so fern sich der erste Verleger nicht durch ein Privilegium ein Alleinhandelsrecht erworben hat) wehren dürfen? Etwa der Autor? — Der hat sich, wie gesagt, seines Eigenthums durch die Publication ipso actu begeben. — Oder der erste Verleger? — Dessen Eigenthumsrecht kann sich, vermöge der Natur der Sache, nicht weiter erstreken als auf das Manuscript, und die Auflage die er davon gemacht hat. — Oder, vielleicht das Publicum? — Dies findet seine Rechnung besser dabey, wenn es die nemliche Waare an mehr als einem Orte, und, durch die Concurrenz, um einen billigern Preiß erhalten kann, als wenn es genöthigt ist, sich von einem Monopolisten übertheuren zu lassen.

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„Aber I c h finde meine Rechnung nicht dabey“, sagt der e r s t e Ve r l e g e r . „Und I c h noch weniger, sagt der A u t o r : denn natürlicherweise ist meine I n t e n t i o n , mein Werk so vortheilhaft zu verkauffen als möglich; das geht aber nicht an, wenn ich selbst oder mein Verleger in Gefahr sind, durch einen diebischen Nachdrucker nicht nur um unsern billigen Profit, sondern vielleicht wohl gar um einen Theil der Auslagen selbst gebracht zu werden! —“ Das Beywörtchen diebisch ausgenommen, habe ich kein Wort gegen das Alles einzuwenden. Die Intention der Herren mag freylich seyn, je mehr je lieber zu gewinnen; es mag sogar, wie einige meynen, die stillschweigende Bedingung seyn, unter welcher der Herr Autor sein Werk unternommen hat, oder doch ins Publicum ausgehen läßt. Aber wie kann er hoffen oder verlangen, daß sich das Publicum durch diese vorgebliche stillschweigende Bedingung gebunden halte? Wo sind die Autoren, deren Werk oder Werke, das Publicum ausdrüklich verlangt hat? Oder wie viele sind wohl derer, nach deren Werken es sich sehnt? — Und wenn nun die Herren (verzeyhen Sie mir diese petite Saillie de

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gayeté ) sich alle auf einen Tag zusammen verschwüren, ihre Strahlen einzuziehen, und das undankbare Publicum von nun an darben zu lassen: würde etwa darum weniger Gras wachsen? Und bliebe unter den Millionen Büchern in so vielerley Sprachen und Formaten, die schon vorhanden sind, nicht für die nächsten 100 Jahre noch genug zu lesen übrig? Was für Ursache sollte also das Publicum haben, um der vorbesagten löblichen I n t e n t i o n der Herren Autoren willen, seiner Freyheit, seiner Convenienz, seinem unverlierbaren Recht an ein publiciertes Buch zu entsagen? Ich schreibe mit gutem Bedacht, seinem u n v e r l i e r b a r e n Recht; denn der Autor verliert sein Recht an sein 10

eigen Werk indem er es der Welt Preis giebt: aber das Publicum k a n n sein Recht an ein Werk, das einmal publiciert ist, nicht verlieren. Dies liegt schlechterdings in der Natur der Sache; und eben daher werden auch Drukkerprivilegien, weil sie den Rechten des Publici abbrüchig sind, nicht auf immer, oder auf lange Zeit, sondern nur auf wenige Jahre ertheilt — und überdies ists noch eine Frage, ob und wiefern dergleichen Ausübungen der höchsten Gewalt, durch welche ein einzelnes Glied der Gesellschaft zum offenbaren Präjudiz des Beutels vieler Tausende b e g ü n s t i g e t wird, an sich selbst zu rechtfertigen seyen? Vergönnen Sie mir, m. H., hinzuzusetzen, daß ich mit allem dem gar nicht

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gesagt haben wolle, daß es nicht billig und edel gedacht wäre, wenn sich etwa das Publicum, mehr als es zu thun scheint, verbunden hielte, Werke, die der Nation wirklich Ehre, Nutzen und Vergnügen machen, durch etwas substantiellers als durch einen Beyfall zu belohnen, wobey sich der Verfasser am Ende doch nicht viel besser steht, als ein Diener, den sein gnädiger Fürst und Herr wöchentlich oder quartaliter mit einem „Wir bleiben euch in Gnaden wohl gewogen“ salariren wollte. Aber — wenn das Publicum nun n i c h t w i l l ? — wer kann es zwingen? Gleichwohl steht jedem Autor frey, sein Heil zu versuchen, wie er kann und weiß. Wem sind die Beyspiele mit Hrn. Legationsrath Klopstocks G e l e h r t e n r e p u b l i k und Hrn. Amtmann Bürgers G e d i c h t e n

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unbekannt? Freylich, non cuivis licet adire Corinthum — Und wir haben auch der Beyspiele genug, daß Männer von sehr vorzüglichen Talenten mit Werken von unläugbaren Werthe auf dem Strande sitzen geblieben sind. Wie gesagt, auch Bücher haben ihren Genius und ihr Schiksal — est fatum in partibus illis — Milton bekam nicht einmal 100 f. für sein göttliches Gedicht, womit lange nach seinem Tode Tonnen Goldes von Buchhändlern gewonnen worden

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sind. — Es hängt je und allezeit von einer Nation ab, wie und wie weit sie Künste und Wissenschaften aufmuntern, und diejenigen begünstigen will, die sich von dieser Seite Verdienste machen. Teutschland könnte viel, w e n n e s w o l l t e — wie neulich der wackere Herr Te u t o b o l d v o n A l t e i c h in Ihrem Merkur gar stattlich dargethan hat. Allein einem geringen Nachdrucker meinesgleichen kömmt es nicht zu, seinen Obern und Bessern Weisungen zu geben; genug für uns, daß wir uns, durch bestmögliche Bedienung eines geehrtesten Publici mit schleunigen und wohlfeilen Nachdrücken aller neuherauskommender Schriften, zu denen dasselbe Lust und Belieben zeigt, soviel in unsern Kräften ist um das liebwerthe Vaterland verdient zu machen suchen —

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Wie ich denn E. E. nicht bergen will, daß auch Dero beliebter Oberon, in dieser Rüksicht, nächstens die Presse verlassen wird, und (das Exemplar um a c h t l e i c h t e K r e u z e r ) bey allen den Tabuletkrämern, die mit der schönen Melusina, den vier Haymons Kindern, und andern lehrreichen und anmuthigen Historien dieser Art auf den Märkten herumziehen, zu bekommen seyn wird. Womit mich zu Dero Gewogenheit empfehle, und mit vieler Consideration beharre, Eu. Wohledeln, ** den 12ten Jun. 1780. dienstbereitwilliger N. N. Bürger und Nachdrucker zu * *.

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N. S. Ich war eben mit diesem Briefe an E. E. zu Stande gekommen, als ein angesehener Herr aus unsrer Stadt (der hier zu Lande für einen gelehrten Mann paßiert, wiewohl er ausser seiner Inauguraldisputation und einer kleinen Epistola gratulatoria an einen Universitätsfreund als er Magister wurde, in seinem Leben keine Zeile drucken lassen) in mein Schreibstübchen kam, und, weil er Gevatter zu meinem ältesten Sohn ist, und mir die Ehre erweißt auf einen vertraulichen Fuß mit mir umzugehen, und mir vielleicht an der Nase ansehen mochte, daß ich eine wichtigere Mine machte, als zu Besorgung einiger alltäglicher Geschäftsbriefe vonnöthen war, zu wissen verlangte, was ich da vorhätte. Ich zeigte ihm mein Geschrieb, und nachdem er die Augen

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flüchtig darüber hatte hinlauffen lassen, und mir ein kleines Compliment über mein schriftstellerisches Talent (das er vermuthlich nicht hinter mir gesucht haben mochte) gemacht: geriethen wir in ein Gespräch über die Fehde zwischen Autoren und Nachdruckern, die dermalen, auf der einen Seite wenigstens, mit so vieler Hitze geführt wird. Er sagte mir, die Sache hätte noch verschiedene andre Seiten, die ich entweder nur beyläufig berührt oder gänzlich übersehen hätte, wiewohl sie mir, seiner Meynung nach, zu gar nicht unerheblichen Betrachtungen Stoff hätten geben können. (Der ehrliche Mann hatte freylich, da er selbst kein Autor ist, gut sprechen, und konnte, auf andrer 10

Leute Unkosten, sehr wohlfeil den Großmüthigen machen.) Er meynte, unter andern, die Herren Autoren hätten nicht klüglich gehandelt, daß sie die Sache auf den kaufmännischen Fuß genommen, und dem Publico so gar deutlich zu verstehen gegeben hätten, daß das ganze Verdienst, das sie sich als Schriftsteller um die Welt machten, lediglich auf dem Contract Facio ut Des beruhe. Sie hätten sich, meynte er, dadurch, wider ihre Absicht, in den Augen der Welt ganz entsetzlich herabgewürdiget. Von Lehrern der Weißheit, Priestern der Musen, Ärzten der Seele, Gesetzgebern des Geschmaks und der Sitten, Bekämpfern der Barbarey, des Aberglaubens, der Thorheit, und des Lasters, Verfechtern der heiligsten und edelsten Vorrechte der Menschheit, mit Einem

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Wort, von Wo h l t h ä t e r n des m e n s c h l i c h e n G e s c h l e c h t s , wofür ihre Zunft in alten Zeiten und bisher immer gehalten worden — wären sie nun in die Klasse der ehrlichen Leute herabgesunken, welche ihre Producte aus der Erde ziehen, oder die Producte der ersten Hand verarbeiten, oder sie von einer Nation zur andern verführen — Alles lediglich in der Absicht, Geld zu verdienen. Ein vortrefliches, oder doch in seiner Art und Zeit brauchbares Buch sey immer ein wichtiges Geschenk, das der Autor dem Publiko mache, und ein Geschenk, dessen Werth nie mit Gulden und Thalern aufgewogen werden könne. Das Publikum müßte ohne alles Gefühl von Ehre und Dankbarkeit seyn, wenn es sich nicht verbunden halten sollte, einem Schriftsteller, der sich wirk-

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liche Verdienste gemacht, und die Hochachtung und Liebe des edlern Theils seiner Zeitgenossen erworben, bey jeder auf eine anständige Art dargebotnen, dem Schriftsteller nützlichen, und ihm, dem Publiko, nicht allzulästigen Gelegenheit, seine Erkenntlichkeit zu erkennen zu geben. Beyspiele davon wären in Frankreich und England häufig, und sogar in Teutschland (wo die t h e o k r a t i s c h e Reichsverfassung und der Mangel eines gemeinsamen Mittel-

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puncts, einer allgemeinen Hauptstadt, den Wissenschaften und Künsten so wenig günstig sey) nicht selten — Beyspiele die wenigstens den guten Willen des Publici bewiesen, und häufiger seyn würden, wenn die Zudringlichkeit auf Seiten der Autoren nicht gar zu beschwerlich fiele, und tagtäglich so viele Aspiranten sich hervorthäten, welche sogar für z u k ü n f t i g e Verdienste (die man ihnen zum Theil nicht einmal z u t r a u e n könnte) vorausbezahlt seyn, und erndten wollten wo sie nicht gesäet hätten. Es ist wahr, sagte er, ich begreife gar wohl, wie der Gedanke — das Wenige, was einer etwa über den Papierwerth und Druckerlohn seiner Schriften von den Käufern erhält, als eine Art von Gnadengeschenke vom Publico zu empfangen, und sichs noch

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von jedem Schuft auf eine niederträchtige Art vorrücken lassen zu müssen — einem ehrlichen Mann unleidlich seyn muß; und daß er also seine Forderungen lieber auf das Eigenthumsrecht gegründet, und sich solchergestalt mit jedem andern Gliede der Gesellschaft, das von den Producten seines Fleißes lebt, auf gleichen Fuß gesezt zu sehen wünschen mag. Aber wie leicht hätten die Herren voraussehen können, daß alle mögliche Deductionen ihres Eigenthumsrechts auf ihre Werke, so meisterhaft diese Deductionen auch immer seyn mögen, schlechterdings ohne Effect bleiben müssen, bis Ihnen durch ein allgemeines und von allen Ständen ohne Ausnahme angenommenes Reichsgesetz dieses Eigenthumsrecht wirklich auf eine so ausschließliche Art, daß

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niemanden sie daran zu kränken erlaubt bliebe, zuerkannt und versichert wäre. Dies werde aber, meynte er, aus unzählichen politischen und finanzischen Ursachen, nie geschehen; und so was zu hoffen, wäre nicht viel besser als sich einzubilden, daß der Vo r s c h l a g z u Te u t s c h l a n d s h ö c h s t e m F l o r m i t H u n d e r t M i l l i o n e n G u l d e n R h e i n l . jemals realisiert werden dürfte. Solange aber kein solches Gesetz vorhanden sey, sey und bleibe jedes gedrukte Buch schon von darum publici juris, weil es unmöglich sey, den Nachdruk desselben anderst zu verhindern, als durch Privilegien, welche z u m T h e i l nur unter Bedingungen zu erhalten seyen, zu denen sich nicht jeder Ehrenmann, dem Wahrheit und Freyheit keine leere Namen seyen, verstehen könne. Bey so bewandten Umständen, sezte er hinzu, wollte ich, wenn ich das Unglük hätte ein Schriftsteller zu seyn — anstatt Rechte geltend zu machen, wovon sich das Publicum um so weniger überzeugen lassen wird, weil es dabey zu verliehren hat — es lieber darauf ankommen lassen, was etwa Glük und Zeit zu meinem Vortheil verhängen möchten: und die Nachdrucker,

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weil ich ihnen doch weder durch Vernunftschlüsse noch Schimpfworte das Handwerk legen könnte, lieber für Beförderer und Herolde meines Ruhms, die meine Verdienste um die Welt zu vervielfältigen beflissen wären, als für Diebe und Räuber ansehen, was sie im Grunde doch nicht sind; zumal, da ich nie beweisen könnte, daß ich, wenn s i e nicht gethan hätten, desto mehr Exemplare von meiner eignen Auflage verkauft hätte: denn vielleicht hätten die Leute, die izt durch den wohlfeilern Preiß, und die mehrere Nachfrage die der Nachdruk eines Buchs in ihren Gegenden veranlaßt, zum Kauffen angelokt werden, das Buch, ohne diese Veranlassung, gar nicht gekauft. Überdem, fuhr 10

mein Herr Gevatter fort, möcht’ ich doch wohl wissen, aus welchem Vorrecht die Herren Büchersteller, wenn sie denn ja den Verlag ihrer Werke als eine Eigenthumssache betrachtet wissen wollen, eine Sicherheit verlangen, die kein andrer Eigenthümer in der Welt bey seinem Gewerbe hat? Oder ist der arme Landmann, dessen Producte dem Staat unentbehrlicher sind, als die besten Bücher, und der sein bischen Leben saurer dabey verdienen muß, als der müh- und schreibseligste unter allen gelehrten Taglöhnern, ist er dem zufälligen Verlust der Früchte seines Schweißes und seiner Seufzer, der tröstenden Hoffnung eines ganzen arbeitvollen Jahres, nicht eben so wohl und auf eine weit grausamere Art ausgesezt? Ein einziges Hochgewitter, eine ein-

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zige Überschwemmung verursacht ihm, trotz alles seines Eigenthumsrechts an die Früchte seiner Felder und Matten, einen empfindlichern Schaden als jemals ein Autor von seinem Nachdrucker erlitten hat. Riskiert nicht der Fabrikant oder Waarenverleger, der mit einem Sortiment guter Waaren, die ihn sein baares Geld gekostet haben, auf die Messe zieht, seiner Concurrenten wegen, weniger zu verkauffen und zu gewinnen, als wenn er allein wäre? Lauft nicht oft der Kaufmann Gefahr, durch einen Sturm, der keinen Respect für das Eigenthumsrecht hat, um sein ganzes Vermögen zu kommen? Wahr ists, die leztern können sich durch Assecuranz helfen; aber wer hindert die Herren Autoren und Verleger, sich durch eine ähnliche Einrichtung vor Scha-

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den vorzusehen? Ein solches Assecuranzinstitut könnte um so leichter zu Stande kommen, weil die unzählichen Bücher, die z u s c h l e c h t — und die wenigen, die z u g u t sind, um nachgedrukt zu werden, keiner Assecuranz bedürften. Der Herr Gevatter sagte noch allerley drollichtes Zeug über diese Materie, und kam endlich auch auf den Kameralgesichtspunct, woraus das Nachdruks-

Schreiben eines Nachdruckers

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wesen, zumal in den vordern Kreisen, wo es eigentlich seinen Sitz hat, anzusehen sey. Beym Lichte besehen, sagte er, ist die Einfuhr der fremden Bücher in diese Kreise, kein geringfügiges Object. Es ließe sich leicht berechnen, daß seit 50 Jahren aufs wenigste für eine Million Gulden Bücher aus Ober- und Nieder-Sachsen nur allein in den schwäbischen Kreis eingeführt worden. Der Nutzen den unsre wakern Schwaben von dieser Einfuhr für ihren Verstand und Witz gezogen haben mögen, dürfte wohl schwerlich mit einer so ansehnlichen Summe baaren Geldes, das dafür ausser Landes gegangen, in gehörigem Verhältnis stehen. Indessen, weil ausser den Büchern, die als gelehrter Handwerkzeug unentbehrlich sind, noch eine unendliche Menge sehr ent-

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behrlicher Bücher nun einmal schlechterdings zum L u x u s unsrer Zeit gehören, und die Leute für Gewalt Romanen, Andachtsbücher, Blumenlesen, Reisebeschreibungen und alle Arten von witzigen und unwitzigen Modebüchern und Broschüren lesen wollen: was Wunder, daß man in unsern Gegenden endlich auf den Einfall gekommen ist, sich alle diese Bedürfnisse wohlfeiler im Lande selbst anzuschaffen? Überall in jedem kleinen Winkel Teutschlands ist man auf diese Art von Ersparnis, auf eigene Fabriken und Manufakturen so wohl für die nothwendigen als eingebildeten Bedürfnisse, kurz, auf Beförderung der Industrie und Circulation in allen nur ersinnlichen Artikeln, gestellt — wie sollten also nur u n s r e Fürsten zu verdenken seyn,

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wenn sie eine so patriotische und unserm Lande so augenscheinliche Vortheile bringende Unternehmung, wie der wohlfeilere Nachdruk der gangbarsten Bücher ist, wonicht öffentlich begünstigen, doch wenigstens nicht, wie die Herren Autoren ihnen zumuthen wollen, mit Gewalt verhindern? Denn das wäre doch, cameralistisch betrachtet, nicht um ein Haar klüger, als wenn sie eine einheimische Strumpf-Fabrik unterdrücken wollten, aus der großmüthigen Absicht, damit nicht etwa den sächsischen Fabriken Abbruch dadurch gethan werden möchte. Diese Betrachtungen meines Herrn Gevatters gefielen mir so wohl, und schienen mir die gute Sache des Nachdruckerwesens vollends in ein so helles Licht zu setzen, daß ich mich nicht entbrechen konnte, solche sogleich, nachdem er wieder seinen Abschied genommen, zu Papiere zu bringen; und wenn E. E. (wie ich von Dero mir von vielen angerühmten Billigkeit nicht anders erwarten kann) diesen meinen Brief im T. Merkur bekannt zu machen belieben wollen, so hoffe, daß Sie auch dieser N. S. um so mehr einen Platz gönnen

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werden, als sie die Gedanken eines völlig unpartheyischen Gelehrten enthält, der es mit den Herren Bücherstellern aufrichtig wohlmeynt, und, wie ich bey meinem Eyd versichern kann, weder direkte noch indirekte an meiner Drukkerey und Handlung Antheil hat. Il medesimo.

Schreiben eines Nachdruckers

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H i r z e l an G l e i m , über S u l z e r den Weltweisen. Z w e y t e A b t h e i l u n g . Zürich und Winterthur, bey J. C. Füeßli, und Heinr. Steiner und Comp. 1780. (8. S. 278.) Hr. H. vollendet in diesem zwoten Theile das angefangene Sulzerische Denkmal, bey welchem Wahrheit und Freundschaft gemeinschaftlich Hand angelegt, und wovon wir bereits im December des leztverwichnen Jahres die erste Abtheilung mit dem verdienten Beyfall angezeigt haben. Beyde sind vollkommen aus Einem Stük, und werden sowohl den Verehrern des verdienstvollen Weltweisen durch eine Menge Charakterzüge aus Briefen an seine Vertrautesten in wichtigen Auftritten seines Lebens, als denjenigen, welche seine

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Schriften und was er darinn wichtiges und gemeinnütziges geleistet, mit Einem Blicke übersehen wollen, durch die mit großer Deutlichkeit und Nettigkeit abgefaßten Schattenrisse derselben schätzbar seyn. Das einzige, was uns so stark aufgefallen ist, daß wir uns nicht entbrechen können dessen zu erwähnen, ist das diesem Theile vorgesezte Bildnis der sel. Sulzerin, worinn wir (von dem Mangel an Charakter und Bestimmtheit in der Gesichtsbildung und von der h ä ß l i c h e n M a m m o s i t ä t nichts zu sagen) das A n s t ä n d i g e für eine Frau, und für die Frau eines Weisen sehr vermissen. Wir erinnern uns wohl, die N i n o n L’ E n c l o s ungefehr so abgebildet gesehen zu haben: aber daß eine Jungfrau oder eine Matrone sich freywillig in einer so unziemlichen

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Naktheit vor die Augen der Welt hinstellen werde, ist nicht zu glauben; und ist also um so viel widerlicher, weil es einer von plündernden Kosaken an der armen Frau verübten gewaltsamen Entblößung ähnlich sieht. Was Horaz von der Kleidungsart der römischen Matronen sagt, Matronæ præter faciem nil cernere possis, im Gegensatz mit dem Aperte quod venale habet ostendit, sollte doch wohl billig bey Abbildung respektabler Frauen ein allgemeines Gesetz seyn; und wenn den Grazien, als den Kammermädchen der Schönheit, ja etwas erlaubt ist, so ist es doch gewiß nicht mehr, als sich z. E. R e y n o l d s in dem unübertreflichen Bilde der Lady Dutcheß of Ancaster erlaubt hat, welches, auch in diesem Stük, immer ein Muster des edelsten Styls in weiblichen Bildnissen bleiben wird.

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Der Teutsche Merkur vom Jahr 1780. Ihro Römisch-Kayserlichen Majestät zugeeignet. Mit Königl. Preuß. und Churfürstl. Brandenburg. gnädigstem Privilegio.

Drittes Vierteljahr. Weimar.

Der Teutsche Merkur. Julius 1780.

Entschuldigung der Atheniensischen Nußkrämerinnen. In einem gedrukten Aufsaz, worinn der ungenannte Verfasser gelegenheitlich u n s e r n S c h ö n e n den nicht allzuhöflichen Vorwurf macht, d a ß s i e e s nicht für Schande halten, keine Zeile ihrer eigenen Mutters p r a c h e r i c h t i g z u b u c h s t a b i r e n , u n d m i t Ve r s t a n d z u s a m m e n s e t z e n z u k ö n n e n , lese ich unmittelbar darauf folgende Stelle: „In Athen war es wohl übertrieben, wenn jede Nußkrämerin und Näscherin des Markts konvulsivische Bewegungen machte, sobald ein Wort des attischen Dialekts von einem Fremden unrichtig gedehnt oder falsch ausgesprochen wurde.“

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Allein u. s. w. Aus dieser Art sich auszudrücken schließe ich (und vermuthlich muß jeder Leser so schließen) daß der Ungenannte sich hier auf eine T h a t s a c h e berufe. Denn wenn es nicht seine historische Richtigkeit damit hätte, daß j e d e N u ß k r ä m e r i n u n d N ä s c h e r i n d e s M a r k t s in Athen k o n v u l s i v i s c h e B e w e g u n g e n gemacht hätte, sobald ein Fremder ein Wort des attischen Dialekts mit einem falschen Accent in ihrer Gegenwart ausgesprochen: mit welchem Grunde hätte der Ungenannte sagen können, daß dies ü b e r t r i e b e n gewesen sey? In der That, gesezt auch, daß man, der Schärfe nach, eine so ungemein zarte

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und reizbare Organisation der Atheniensischen Nußkrämerinnen nicht eben ü b e r t r i e b e n nennen könnte; so wird doch ein jeder gerne gestehen, daß es eine sehr ausserordentliche und wunderbare Eigenschaft der besagten Nußkrämerinnen gewesen wäre. Konvulsivische Bewegungen machen, wenn ein Fremder einen falschen Accent auf ein Wort legt, oder einen Vocal zu hell oder zu dunkel, zu lang oder zu kurz ausspricht, u. dgl. ist kaum weniger außer dem ordentlichen Lauf der Natur, als sein Wasser nicht halten können, wenn man den Dudelsack blasen hört, oder vor einer Kreuzspinne in Ohnmacht fallen. Es ist sehr möglich, daß mir in einer ziemlich langen Bekanntschaft mit den Alten, der Autor und die Stelle entwischt seyn kann, womit der U. vermuthlich die historische Wahrheit eines so seltsamen Phänomens zu erweisen im

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Stande ist. Indessen wäre doch keine Unmöglichkeit, daß ihm sein Gedächtnis — und noch eine andre bekannte Ursache, weswegen fast alle Erzählungen in jedem Munde durch den sie gehen einen Zusaz erhalten — wider Wissen und Willen einen kleinen Streich gespielt hätte; und daß er, wenn er seinen Beweis vor Gericht stellen müste, am Ende doch wohl kein gültigeres Zeugniß anzuführen hätte, als die Stelle in C i c e r o’ s Buche de Claris Oratoribus (c. 46.) wo dieser, aus Gelegenheit des zwar sehr empfindbaren aber doch unerklärbarn Dinges, das er d i e F a r b e d e r U r b a n i t ä t nennt, die Bemerkung macht: daß dieß quiddam urbanius, das die eigentlichen Römer von Römischspre10

chenden Ausbürgern unterscheide, nicht nur an den Rednern, sondern überhaupt im gemeinen Leben merklich sey. Cicero erläutert dieses durch ein Beyspiel, das uns izt nicht mehr so verständlich ist als dem Brutus, mit dem er sprach, und fügt dann hinzu: ut ego jam non mirer illud Theophrasto accidisse, quod dicitur: cum percunctaretur ex anicula quadam quanti aliquid venderet, et respondisset illa atque addidisset, h o s p e s , n o n p o t e m i n o r i s : tulisse illum moleste, se non effugere hospitis speciem, cum ætatem ageret Athenis, optimeque loqueretur. — Die Anekdote läuft (um uns mit keiner wörtlichen Übersetzung zu prostituiren) darauf hinaus: Theophrast habe einsmals ein alte Höckenfrau zu Athen (denn so was scheint wohl die Anicula

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gewesen zu seyn) gefragt, wie theuer sie ihre Waare gebe; die Frau, die ihn nicht gekannt, und ihn, seinem Accent nach, für einen Fremden gehalten, habe ihn in ihrer Antwort, nach damaliger Gewohnheit, F r e m d l i n g geheissen, und Theophrast (der würklich ein Eresier, aus der Insel Lesbos war) habe sich nicht wenig darüber geärgert, daß er sein ganzes Leben zu Athen zugebracht haben, für einen der beredtesten Männer seiner Zeit gehalten werden, und es doch in der Eleganz der attischen Mundart nicht weiter gebracht haben sollte, als nur den Mund aufzuthun, um von einer alten Höckenfrau für einen Ausbürger erkennt zu werden. Herr R o l l i n , dem, durch eine ganz natürliche Association, bey dieser An-

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ekdote seine Parisischen Poissardes einfallen mochten, hat nicht unrecht, wenn er mit einer Art von Erstaunen ausruft: Quel gout il y avoit à Athenes jusque dans le plus petit peuple! Das Geschichtchen ist artig genug; und doch scheint auch Cicero es nicht ganz richtig erzählt zu haben. Denn aus dem Q u i n c t i l i a n , der dessen auch Erwähnung thut (L. VIII. c. 1.) ist zu ersehen, daß der Grund, warum die alte Höckin entdekte, daß Theophrast kein gebohr-

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ner Athenienser sey, nicht sowohl in der ausserordentlichen Zartheit ihres Ohrs als in Theophrasts Affectation, recht rein attisch zu sprechen, lag. Denn, da sie (vermuthlich von ihm selbst) gefragt wurde, woran sie denn merken könne, daß er fremd sey? antwortete sie: an nichts anderm als daß er g a r z u a t t i s c h spreche, quod n i m i u m a t t i c e loqueretur. Gerade das B e s t r e b e n , den attischen Accent, der ihm nicht natürlich war, zu treffen, verrieth ihn. Doch, wieder auf unsern Ungenannten zu kommen, wird es wohl erlaubt seyn zu fragen: wie aus der Anicula quadam eine N u ß k r ä m e r i n oder N ä s c h e r i n d e s M a r k t s geworden sey? Es konnte ja eben sowohl eine Trödle-

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rin, ein Kräuterweib, eine Fisch- oder Käsekrämerin gewesen seyn? — Und warum j e d e Nußkrämerin? Woher die k o n v u l s i v i s c h e n B e w e g u n g e n , welche die armen Nußkrämerinnen über den falschen Accent des Fremden gemacht haben sollen? Und auf welchem Grunde beruhet also der Vorwurf einer ü b e r t r i e b n e n Verzärtlung der Nußkrämerinnen zu Athen, in Rüksicht auf den attischen Dialekt? Es ist am Ende nur eine Kleinigkeit — ganz gewiß; aber es wäre doch zu wünschen, daß diese flüchtige und unzuverläßige Art, Gebrauch von Anekdoten oder historischen Zügen aus alten Schriftstellern zu machen, nicht (wie wir aus manchen Beyspielen zeigen könnten) auch bey uns immer stärker einrisse. An Französischen Schriftstellern von einem

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gewissen Schlage, selbst an einigen der besten, ist man sie zwar schon lange gewohnt. — Aber ich sehe nicht, was wir dabey gewinnen werden, wenn wir es ihnen in dieser witzig seynsollenden Art zu bavardiren gleich oder noch zuvor thun lernten. Daß ich einem großen Theil der neuesten französischen Belletristen kein Unrecht thue, wenn ich ihnen diese Art von Nachläßigkeit, besonders in Dingen die sich auf die alte Litteratur beziehen, Schuld gebe, bedarf wohl keines Beweises. Doch sey mir erlaubt, nur ein Paar Beyspiele davon zu erwähnen, die mir in dem Auszug aus einer französischen Übersetzung des Agathon, den der Augustmonat der Bibliotheque universelle des Romans vom Jahr 1778 liefert, aufgestoßen sind. Wie lächerlich das ganze Werk in diesem Auszug m i ß v e r s t a n d e n und d e f i g u r i e r t worden, davon will ich lieber gar nichts sagen; da es nichts mehr ist, als was beynahe allen Werken des nemlichen Schriftstellers in Französischen Übersetzungen und in den Auszügen, welche die Bibl. des Romans davon giebt, begegnet ist. Schwerlich ist jemals einem

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Autor, den man noch dazu ehren wollte, schlimmer mitgespielt worden; und man muß gestehen, daß die Art, wie der Übersetzer oder der Auszieher, oder alle beyde die Geschichte zwischen Agathon und Danae m o d e r n i s i r e n und in Caricatur verwandeln, alles übertrift, was ihre Landesleute in dieser Art noch geleistet haben. Aber wenn der Übersetzer den Agathon, der ein Zeitgenosse von Dionysius und Plato ist, der Danae d e n H i r t e n r o m a n d e s L o n g u s v o n D a f n i s u n d C h l o e v o r l e s e n läßt, und wenn der Auszieher am Schlusse sagt: „Agathon wünschte sich Glück, den Maximen des Plato und Z e n o wenigstens eine Zeitlang gefolgt zu haben. Die S t o i s c h e n G r u n d 10

s ä t z e hatten ihn fähig gemacht, einige Unglücksfälle mit Standhaftigkeit zu ertragen, und die Platonische Liebe hatte ihm den Greuel einer blutschänderischen Liebe erspart“ — was soll man von einem Gelehrten sagen, der in Plato’s Zeiten von S t o i s c h e n Grundsätzen spricht, und den Roman von Dafnis und Chloe, fünf oder sechs Jahrhunderte früher vorlesen läßt, als der Verfasser desselben gebohren war — und was von einem Übersetzer, der seinem unschuldigen Autor solche Schnitzer aufheftet? — So grobe Anachronismen, in einem Werke, wo beynahe alle Personen aus der Geschichte genommen, und in den nemlichen Zusammenhang, worinn sie würklich gelebt haben, gesezt sind, lassen sich durch die Anachronismen, die man einem Virgil zu gut

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hält, oder durch diejenige, die in einem Gedichte, dessen Subject aus einem alten Ritterbuche genommen ist, mit Wissen und Willen gemacht werden — nicht rechtfertigen. Das Beste, was man davon sagen kann, ist: daß derjenige, der den Zeno zum Zeitgenossen von Plato macht, es nicht besser gewußt habe — und daß er freylich, dieser Unwissenheit ungeachtet, übrigens doch ein ehrlicher Mann seyn, und am Ende so gut in den Himmel kommen könne als P e t a v i u s und S c a l i g e r .

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Was Tarpa für ein Ding ist. Im zehnten Capitel des XIten Buchs vom Gil-Blas de Santillane sagt der Poet Fabricio Nun ˜ e z von einem gewissen Haushofmeister, der, seiner Unwissenheit ungeachtet, den Kunstrichter machte: quoiqu’il ait un babil imposant, ce n’est point un connoisseur. Il ne laisse pas de se donner pour un Ta r p a . — Der neueste Übersetzer des G i l - B l a s giebt dies: „Ein mächtiger Schwadronör ist er, aber nicht Kenner. Demungeachtet macht er den S c h n i t l e r — “ und sezt in einer Note untern Text hinzu: „Im Original steht Tarpa. Ich bekenne öffentlich, nicht zu wissen, was dies eigentlich sey; weder S o b r i n o noch V i c t o r haben mir hierüber das mindeste Licht verschaft. —

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Wie mein Englischer Vorgänger sichs bequem zu machen und zu sagen: he sets up for a Tarpa, fand ich nicht rathsam (der Engländer hatte seine guten Ursachen!) Hin und her über das Tarpa sinnend, fiel mir das Italienische Tarpare ( v e r s c h n e i d e n , a b s t ü m p f e n ) ein, wovon sich jenes Wort füglich herleiten liesse u. s. w. Tarpa bedeutete alsdann einen Kunstrichter gewöhnlichen Schrots, der alle Feinheiten und Schönheiten eines Werks des Witzes so lange verschneidet und verstümpft, bis sie seinem Stumpfsinn gänzlich angemessen sind u. s. w. —“ Und nun fährt der Übersetzer in seiner Note fort, ganz diensame Sachen über die Bedeutung der Worte, S c h n i t l e r und K r i t l e r zu sagen — um derentwillen aber freylich seine Ableitung des Worts Tar-

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pa von dem Italienischen tarpare allen ehrlichen Schulcollegen in ganz Germanien nicht weniger ein herzliches Lachen zubereitet haben würde, falls solchen wackern Leuten eine teutsche Übersetzung eines französischen Romans in die Hände käme. Ich weiß nicht ob ihm etwa jemand das Räthsel schon aufgelößt hat; auf allen Fall will ichs hier thun. Wer Tarpa sey, darüber konnte ihm freylich weder Victor noch Sobrino Licht verschaffen; aber ein gewisser alter lateinischer Autor, Namens H o r a t i u s , hätt’ es können. Denn ich wollte, wenn ich Korporal Trim wäre, meine Reitmütze dransetzen, daß Le Sage (der in dem ganzen Werke voll dergleichen Anspielungen ist, und seinen Schulsak immer auf der Schulter trug) unter diesem Tarpa keinen andern Menschen meynte noch meynen konnte, als den nemlichen Ta r p a , dessen

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Horaz in der 10ten des Isten Buchs seiner Satyren in folgenden Versen erwähnt: Turgidus A l p i n u s jugulat dum Memnona, dumque Diffingit Rheni luteum caput, hæc ego ludo, Quæ nec in æde sonent certantia, j u d i c e Ta r p a ˆ, Nec redeant iterum atque iterum spectanda theatris.

Zu besserm Verständniß dieser Verse merkt der alte Scholiast an: daß damals die Dichter zu Rom (die d r a m a t i s c h e n , nehmlich) ihre Werke im Tempel des Apollo oder der Musen, f ü n f dazu von Policey wegen bestellten K u n s t 10

r i c h t e r n vorlesen, und den Beyfall derselben (vermuthlich galt die Mehrheit der Stimmen dabey) erhalten haben mußten, eh sie auf den Schauplatz gebracht werden durften. Zu Horazens Zeit war S p u r i u s M e t i u s Ta r p a einer dieser Kunstrichter, und man hat nicht die mindeste Ursache zu vermuthen, daß er seinem Amte nicht mit Ehren vorgestanden. L e S a g e , der (ohne deßwegen weniger Bel-Esprit zu seyn) dies so gut wußte als sein Schulmeister, wollte also durch Ta r p a keinen S c h n i t l e r oder K u n s t r i c h t e r v o n g e w ö h n l i c h e m S c h r o t , sondern einen Kunstrichter vom ersten Rang, oder was man sonst einen A r i s t a r c h zu nennen pflegt, andeuten. — Sapienti pauca!

Wa s Ta r p a f ü r e i n D i n g i s t

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Noch ein kleiner Advice to an Autor. Wir bitten, uns (wo möglich) nicht übel zu nehmen — Aber da die Gewohnheit s i c h s e l b s t n i c h t s ü b e l z u n e h m e n in der gelehrten Republik so sehr überhand nimmt, und die übergroße Höflichkeit der meisten Zeitungs-Kritiker, Fehler die würklich gar nicht verzeyhlich sind zu übersehen, zu nichts dienen kann, als Übel ärger zu machen: so können wir nicht umhin (da wir doch einmal am Schulmeistern sind) noch eine böse Mode zu rügen, die einige neueste teutsche Schriftsteller den Franzosen unvermerkt abgesehen zu haben scheinen — nehmlich: die Gewohnheit, sehr bekannte Griechische Namen f a l s c h z u s c h r e i b e n . Sollte einer, der für einen Gelehrten passiren will,

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nicht eben so gut verbunden seyn, zu wissen, daß der Vater der Arzneykunst sich nicht H y p o k r a t e s sondern H i p p o k r a t e s nannte, als überall zu wissen, daß ein Hippokrates in der Welt war? Gleichwohl finde ich in einem der neuesten teutschen Bücher diesen Namen, so oft er vorkömmt, immer H ü p o k r a t e s gedrukt. Vermöge der neuen Mode anstatt des seit uralten Zeiten in unser Alphabet aufgenommenen y ein ü zu setzen, schrieb der Autor H ü p o k r a t e s , weil er glaubte, der Mann hieße auf Griechisch H y p o crates; denn was hätte ihn sonst abhalten können, H i p p o k r a t e s zu schreiben, wenn er jemals — ich will nicht sagen, nur die Aphorismen dieses Fürsten der Ärzte, zu Gesichte bekommen *), sondern nur — einen Blik in ein Gelehrten-

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Lexikon nach ihm gethan hätte? In neuesten französischen Büchern ist uns freylich Hypocrate mehr als hundertmal vorgekommen; und daher hatte wohl unser Ungenannter auch sein H ü p o k r a t e s . Eben so finden wir gar häuffig Hyppolite, statt daß es just umgekehrt Hippolyte heissen sollte. Wenn solche Schnitzer nicht als eine Folge der bis zum Unglaublichen zunehmenden *)

Noch vor 40 — 50 Jahren war nicht leicht ein Studirender, der nicht des Hippokrates A p h o -

r i s m e n und Epiktets E n c h i r i d i o n als ein Taschenbüchlein bey sich führte. Das waren noch gute Zeiten! Heutigs Tags führen wir freylich ganz andre Taschenbüchlein; dafür sind wir aber auch so viel witziger, naseweiser, schreibseliger, und über alle gelehrten Kleinigkeiten erhabener als die Pedanten, unsre Väter und Grosväter, die lieber gar keine Bücher geschrieben, als Schnitzer gemacht hätten.

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Unwissenheit unsrer meisten jungen Studirenden in allem was man sonst Philologie nannte und auf Schulen zu lernen pflegte, anzusehen wären: so würde ich die Sache nicht für wichtig genug halten, irgend einen ehrlichen Muttersohn deßwegen zu beschämen. Derjenige, den dies zunächst angeht, ist mir von Person ganz unbekannt. Vielleicht hat er den Vortheil einer gelehrten Erziehung gar nicht genossen; und so wäre er um so eher zu entschuldigen; aber doch würde jeder Schriftsteller oder Übersetzer, der sich seiner Schwäche in diesem Stücke bewußt wäre, wohl thun, so oft ihm so ein H ä r e t i s c h e r Griechischer Name in den Wurf käme, vorher in H e d e r i c h’ s Notitiam Auc10

torum oder H a m b e r g e r s Nachrichten von alten Schriftstellern zu — l u g e n . Wie gesagt, den Franzosen (wenn sie nicht wenigstens Mitglieder der Academie des Belles-Lettres zu Paris sind) ist in solchen Dingen nicht zu trauen. Denn wenn ein Blinder einem Blinden den Weg weißt, so werden sie beyde in die Grube fallen, L u c ä 6 , 3 9 .

Noch ein kleiner Advice to an Autor

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Die Wunderflasche des Heil. Remigius. Der goldne Becher, womit H ü o n von Bordeaux, Herzog von Guienne (der fabelhafte Held eines alten welschen Ritterbuchs und eines noch nicht sehr alten teutschen Gedichts) von dem Geisterkönig O b e r o n beschenkt wird, ist weder eine Erfindung, die der altwelsche Romancier aus seinem eignen Gehirne gezogen, noch eine Nachahmung des wundervollen Trinkgeschirrs, womit in den P e r s i s c h e n E r z ä h l u n g e n der Kaufmann Abulkasem den ihm unbekannten Kalifen Harun Alreschid beschenkt. Wenigstens ist nicht zu vermuthen, daß das Persische Mährchen, gesezt auch daß seine Ächtheit nicht zu bezweifeln wäre, dem Romancier bekannt gewesen. Wahrscheinlicher hat

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ihm die Flasche des H e i l . R e m y , oder R e m i g i u s , zum Urbild gedient, welche (mit Erlaubnis der Unglaubigen und Ketzer!) nicht etwa ein erdichteter Wunderbecher, sondern so historisch und glaubwürdig ist, als alle die übrigen Wunder wovon die erbauliche Lebensgeschichte des besagten heiligen Bischofs wimmelt; deren Verfasser und Gewährsmann nicht etwa ein lügenhafter Romanschreiber oder Poet, sondern kein geringerer ist, als M e s s i r e H i n c m a r , E r z b i s c h o f v o n R h e i m s und P r i m a s v o n G a l l i e n , der zu K a r l d e s K a h l e n Zeiten floriert hat, und, kraft eines dreyfachen Titels, als M ö n c h , als P r i e s t e r und als E r z b i s c h o f , der Mann nicht war, der so was erzählt hätte, wenn es nicht wahr wäre.

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Die Geschichte mit der Flasche ist diese. Als König C l o v i s gegen den A r i a n e r Alarich zu Felde zog, gab ihm der heilige Remigius ein Gefäß „quod vulgaris consuetudo F l a s c o n e m ( flacon, Flasche) appellat,“ voll Weins, worüber der heilige Mann den Segen gesprochen hatte, mit der Vorschrift: daß er, König Clovis, so lange auf den Feind loßgehen sollte, als diese Flasche für ihn und die seinigen, wem er davon geben wollte, Wein’s genug haben würde. „Und so trank nun der König, und die königliche Familie, und das zahlreiche Heer das mit ihm war, und stillten ihren Durst reichlich aus dieser Flasche, und die Flasche versiegte niemals, sondern füllte sich, durch Gottes Segen, den ihr der H. Remigius mitgetheilt, immer wieder, nicht anders, als ob eine lebendige Quelle Weins darinn verborgen wäre —“ lauten, verdolmetschet, die

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eignen Worte des belobten Erzbischofs Hincmar, dessen Seele in Frieden ruhen möge! *) Wie gesagt, es ist nicht unwahrscheinlich, daß der alte Verfasser des Romans Huon de Bordeaux den wundervollen Hanap Oberons dem Bischof Hincmar abgeborgt haben mag; nur hat der Romanmacher, (wie den Leuten seines Gelichters gewöhnlich ist) sein Original noch zu übertreffen gesucht, und Oberons Gefäß ist also keine bloße Flasche, sondern ein Hanap d’or; und darf nicht daraus trinken wer will, sondern nur Personen, die sich im S t a n d d e r G n a d e befinden; ist hingegen der Trinker im Stand einer To d s ü n d e , 10

so giebts nicht nur nichts zu trinken für ihn, sondern der Becher trocknet auf und glüht in seiner Hand.

Was das H o r n v o n E l f e n b e i n betrift, welches jedermann, der nicht (wie der Romancier sagt) en Etat de Grace war, tanzen machte; so findet sich zwar nicht, daß der H. Remigius auch so ein Horn gehabt habe; aber es hat doch, von dem berühmten Horn der Amalthea, bis zu dem Horn, das der Prinzessin Agrippina vor der Stirne wuchs, als sie von Andolosia’s rothem Apfel gegessen, in dem Corpus der Geschichten, die sich nie begeben haben, Hörner genug, die mit dieser oder jener Wunderkraft begabt waren. Wiewohl wir nicht in Abrede seyn wollen, daß Oberons Horn Vorzüge hat, für die man dem alten 20

Romancier verbunden ist. Wir bemerken dies nur im Vorbeygehen, damit diejenigen, die in dem Gedicht Oberon nichts gesehen haben, als d a s H o r n und d e n B e c h e r , sich nicht etwa einbilden, als ob der Verfasser den mindesten Anspruch an das Verdienst, sie e r f u n d e n zu haben, mache.

*)

Bibit ergo inde Rex et regalis familia et numerosa turba populi, et exinde uberrime sa-

tiantur, et vas vini detrimentum non patitus, sed benedictione Dei per S. Remigium indita more fontis inundatione repletur. H i n c m a r in V i t a S . R e m i g i i . vid. D u C h e s n e Reg Franc. T. I. 527.

D i e Wu n d e r f l a s c h e d e s H e i l . R e m i g i u s

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Der Caloyer von Pathmos. Pathmos, berühmt durch den Umstand, daß der Evangelist Johannes, während seiner Verweisung auf diese Insel, seine Offenbarung daselbst aufgeschrieben, ist nichts, als ein Haufen unfruchtbarer Felsen. In der Mitte erhebt sich ein Berg, der eine kleine Stadt gleiches Namens, wie die Insel, trägt, die Spitze des Berges nimmt ein großes dem heiligen Johannes gewidmetes Kloster Griechischer Mönche ein, welchen die ganze Insel zugehört. Die Mönche würden sich aber darum nichts desto besser befinden, wenn sie nicht noch ansehnliche Güter in einigen benachbarten Inseln besäßen; und was ihnen allenfalls noch abgeht, ersezt die gutherzige Einfalt der Griechischen Glau-

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bigen, die, dem heil. Johann zu Ehren, diesem Kloster reichlichen Tribut bringen, wiewohl die C a l o y e r s oder Mönche die darinn gefüttert werden, größtentheils nichts bessers als dumme Thiere und faule Bäuche sind. Das 6te Heft des bekannten Kupferwerks, Voyage Pittoresque de la Grece liefert auf der 56sten Kupfertafel eine Aussicht auf dieses Kloster zu Pathmos; und bey dieser Gelegenheit erzählt der Voyageur folgende Anekdote, welche seltsam genug ist, um wahr zu seyn. — „Indem ich den Berg hinauf stieg, (sagt er) erblikte ich einen herabsteigenden Caloyer, der, sobald er mich gewahr wurde, eilfertig auf mich zukam, und mich auf Italienisch fragte: aus welchem Lande ich wäre, wo ich herkäme, und was sich seit sieben Jahren, in

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welchen kein fremdes Schiff an diesen Felsen gelandet hätte, in Europa zugetragen? Kaum hörte er, daß ich ein Franzose sey, so rief er: L e b t Vo l t a i r e n o c h ? — Voll Verwunderung, fragt’ ich ihn hinwieder, wer er selbst wäre, der in einer Caloyerskutte auf dem Berge Pathmos so hitzig nach Voltairen fragte? — Ein Unglüklicher, versezte der Mönch; aber vor allem beruhigen Sie mich, und sagen Sie mir, sind Voltaire und Rousseau noch am Leben? — Ja, sagte ich. (Sie lebten damals noch.) An der übertriebnen Hitze, womit er mir seine Freude darüber ausdrükte, erkannte ich einen warmen Kopf, dem Unglük und Einsamkeit die Imagination überspannt haben mochten. Ich bat ihn, mir die Geschichte seiner L e i d e n zu erzählen. — Ich bin aus einer Insel des Archipel’s gebürtig, (war seine Antwort) aber von meiner ersten Jugend an,

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Juli 1780)

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fühlt’ ich einen Trieb in mir, mich aus der Unterdrückung des Geistes, worinn wir Griechen schmachten, emporzuarbeiten. Ich gieng nach Italien, studierte da, und machte einen starken Fortgang in den Wissenschaften. — In diesen Felsen, aus denen ich nie wieder herauskommen werde, kann ich das ohne Eitelkeit *) sagen. Da ich endlich von allen Mitteln entblößt war, suchte ich eine Versorgung; auch zeigte sich etwas für mich; ein Cardinal wollte mich zu seinem Bibliothekar machen — „Und was hinderte Sie, die Stelle anzunehmen? —“ Se. Eminenz selbst, die mir zumuthete, die Griechische Religion zu verlassen, in der ich gebohren bin. Ich konnte mich nicht dazu verstehen. 10

Mangel und Elend trieben mich nach Griechenland zurük, und ich fand endlich eine Freystatt in dem Kloster, welches Sie besuchen wollen. Unter achtzig Mönchen, die hier leben, sind unser nur drey, welche l e s e n k ö n n e n . Der Vortheil ist sehr unbedeutend. Wir haben nur wenig Bücher, und auch die wenigen, wozu nützen sie uns? Man nimmt wenig Antheil am Vergangenen, wenn das Gegenwärtige nichts für uns ist. Handarbeiten, die mich vom Denken abhalten, schiken sich besser für meinen Stand; auch weiß ich mir auf keine andre Art zu helfen. — Als ich ihm mein Mitleiden deßwegen bezeugte — bedauren Sie mich nicht so sehr, (sagte der Caloyer) mein Schiksal wird von Tag zu Tag erträglicher. In den ersten Jahren meiner Gefangenschaft war

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ich das unglüklichste aller Wesen, und zwanzigmal auf dem Sprung, mir selbst das Leben zu nehmen: izt ist mir’s ganz anders. „Ich habe nach und nach vergessen, was ich ehmals wußte; es fehlt noch wenig, so hab’ ich sogar den Sinn verlohren, womit mich die Natur ausgesteurt hat: täglich werd’ ich den Geschöpfen ähnlicher, mit denen ich zu leben verdammt bin, und s o w i e i c h i h n e n v ö l l i g g l e i c h e , w e r d’ i c h n i c h t m e h r u n g l ü k l i c h s e y n . “ * * ) — Alles (fährt der Voyageur fort) was mir dieser sonderbare Mensch sagte, vermehrte den Antheil, den ich an ihm nehmen mußte, und der noch höher stieg, da er Geld ausschlug, das ich ihm anbot. Ich war nahe dabey, ihm den Vorschlag zu thun, daß ich ihn aus diesen

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Felsen erlösen wollte; aber der Verfolg unsrer Unterredung machte mich glauben, daß es wohl nie recht richtig in seinem Kopfe gewesen seyn möchte.

*) **)

Darinn irrte sich wohl der Kaloyer? O der großen herrlichen goldnen Wahrheit! Der Caloyer verdient um dieses einzigen

Spruchs willen den achten Platz neben den S i e b e n We i s e n a u s G r i e c h e n l a n d .

Der Caloyer von Pathmos

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Seine Reden, seine Blicke wurden mit jedem Augenblicke wilder; sein Herz ergoß sich mit einem Ungestüm das mich erschrekte. — Wir giengen mit einander nach dem Kloster, wo ich von dem Abt empfangen wurde, der mir ein ganz vollständiges Brutum zu seyn schien. Ich wollte einige Nachrichten von den Handschriften, die sich vielleicht in diesem alten Mönchszwinger finden mochten, aus ihm ziehen: aber er antwortete mir sehr vornehm „er k ö n n e n i c h t l e s e n “ und das war alles was ich von ihm herausbringen konnte.“ Wer hat Lust einen Preiß von 10 Ducaten auf die Frage zu setzen: ob der Herr Abt von Pathmos desto — dummer war, weil er nicht lesen konnte?

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Juli 1780)

Eine neue prächtige Ausgabe der G e ß n e r s c h e n We r k e , von Hrn. Huber ins Französische übersezt. Der Mahler l e B a r b i e r ist im Begrif diese neue Ausgabe mit 74 Kupfern von seiner Arbeit, deren jedes ein interessantes Gemählde des Helvetischen Dichters darstellen soll, heftweise auf Subscription herauszugeben. Ich unterschreibe mit Vergnügen alles, was ein Ungenannter in einem Schreiben an die Herausgeber des Journal de Paris von den Schönheiten der Geßnerschen Werke und den Vorzügen seiner poetischen Mahlerkunst mit einer Beredsamkeit, 10

die aus dem lebhaftesten und tiefsten Gefühl geflossen zu seyn scheint, gesagt hat; wiewohl die Bescheidenheit des Dichters durch das hyperbolische Epigramm, „daß er doppelte Talente des H o m e r und des A p e l l e s in sich vereinige“ eher beleidigt als geschmeichelt seyn dürfte. Das erste Heft enthält ausser dem Titelkupfer noch fünf Blätter, in deren jedem ein Süjet aus den I d y l l e n behandelt ist. So zeigt, z. B. das d r i t t e Blat den Augenblick, wo C h l o e zu M i l o n sagt: F ü h r e m i c h i n d e i n e G r o t t e ; s ü ß e r i s t m i r d e i n K u ß a l s H o n i g . Das v i e r t e stellt die Hirten I d a s und M y l o n unter Palämons Eiche sitzend vor, in dem Augenblik, da Idas singt: D i e i h r e u c h ü b e r m i r w ö l b t , s c h l a n k e Ä s t e , i h r s t r e u t

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m i t e u e r m S c h a t t e n e i n h e i l i g e s E n t z ü c k e n a u f m i c h . Das fünfte den D a f n i s , der seiner Fyllis eine Meise bringen will, die er gestern gefangen hat, indem er sagt: O w i e w i r d s i e d i c h p f l e g e n , w e i l d u v o n m i r kömmst ! In wiefern Herr l e B a r b i e r die Lobsprüche verdiene, die ihm der Ungenannte über die sinnreiche und geschmakvolle Composition und sehr fleißige Ausführung dieser Blätter macht, überlassen wir Künstlern und Kennern zu entscheiden. Auch maßen wir uns nicht an, Mahler und Kupferstecher in ihrem althergebrachten Rechte, Süjets zu Gemählden und Kupferstichen aus D i c h t e r n zu nehmen, beeinträchtigen zu wollen. Nur wünschen wir, daß sie

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nie aus der Acht lassen möchten, was sie selbst am besten wissen sollten — daß

¼Rezension von Hubers Übertragung der½ G e ß n e r s c h e n We r k e

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sehr oft, was in dem Dichter ein herrliches poetisches Gemählde ist, durch die pittoreske Behandlung zu einem sehr frostigen und unbedeutenden wird; und daß ein Künstler, der über einen guten Dichter arbeiten will, nicht darstellen w o l l e n sollte, was der Dichter g e m a h l t hat, sondern gerade das, was er n i c h t gemahlt hat, und mit s e i n e n Farben, s e i n e m Pinsel n i c h t m a h l e n k o n n t e — oder doch zur unmittelbaren Erweckung einer bestimmten sinnlichen Vorbildung in einem bestimmten wichtigen Augenblik n i c h t s o g u t mahlen konnte, als der Künstler. Von dieser lezten Art ist z. Ex. das über alle Beschreibung schöne Bild der v e r l a ß n e n O l y m p i a , zum 10ten Gesang des O r l a n d o F u r i o s o , * ) zu dem Augenblik, da der Dichter sie ausrufen

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läßt: Che debbo far? che poss’io far quì sola? Chi mi da ajuto? oimè, chi mi consola?

Die Künstler, C i p r i a n o und B a r t o l o z z i , liessen sich zwar nicht einfallen, i m A u s d r u k d e s A f f e c t s mit dem Dichter ringen zu wollen; denn dies ist gerade wo der Dichter triumphiert: aber sie stellen uns diese Olympia, für die der Dichter seine Zuhörer so sehr einzunehmen gewußt hat, würklich vor die Augen, und just hierinn sezt ihre Kunst sie in den Stand, in Einem Augenblik eine unendlichmal bestimmtere Würkung hervorzubringen, als A r i o s t mit seiner ganzen langen, wiewohl in ihrer Art sehr schönen, Recension der

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Schönheiten der O l y m p i a in der 67 bis 72sten Stanze des eilften Gesangs. Man braucht ihre Olympia nur anzusehen, um den Mann, der sie verlassen konnte, zu verabscheuen, und man glaubt nun gerne, wenn der Dichter sagt: Jo non credo che mai Bireno nudo Vedesse quel bel corpo, ch’io son certo Che stato non saria mai cosi crudo Che l’avesse lasciata in quel deserto.

Aber daß der Augenblik, wo eine Schäferin zu ihrem Schäfer sagt: „süßer ist mir dein Kuß als Honig, so lieblich rauscht mir nicht der Bach“ ein Kupfer *)

In der prächtigen B a s k e r v i l l i s c h e n Ausgabe.

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v o n n ö t h e n h a b e n , oder eines Kupfers w e r t h s e y n sollte, oder wie es der Künstler machen könnte, um dem Mädchen eine Mine zu geben, die ihrem Liebhaber sagt, w i e s ü ß ihr sein Kuß sey — oder wie der Hirt Dafnis dastehen und aussehen, und wie er die Meise (die der Kupferstecher schwehrlich für eine Meise wird kenntlich machen können) in der Hand halten müßte, um zu sagen: wie wird sie dich pflegen, weil du von mir kömmst! — Kurz, wie Chodowiecky selbst, so ein großer Meister in der Kunst kleinen Figuren eine bestimmte Bedeutung zu geben er ist, dergleichen zarte leichtschwebende Nüancen sanfter Empfindungen aus einem idealischen Arkadien auf eine un10

zweydeutige Art sichtbar machen könnte — dies, ich gestehe es, geht über meinen Begriff; und Herr le Barbier müßte Wunder gethan haben, wenn der Dichter nicht durch ihn verliehren sollte. Indessen muß man gestehen, daß dies selbst in den kostbarsten Kupferwerken dieser Art fast immer der Fall ist. Es scheint aber auch, daß die Liebhaber von dergleichen schönen Ausgaben ihre Forderung an die Künstler nicht so hoch spannen. Sie sind doch wenigstens ein Artikel mehr in dem aufs äusserste getriebnen Luxus unsrer Zeit; und wenn die Kupfer nur, für sich betrachtet, mit Verstand komponiert, gut gezeichnet und mit Geschmak ausgeführt sind (wiewohl man auch hierinnen oft mit weniger vorlieb nimmt) so

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ist der Liebhaber schon zufrieden. Warum sollte es also der Kunstrichter, dessen Stimme in Modesachen ohnehin nie gezählt wird, nicht auch seyn? Denn, wenn er den Leuten auch noch so scharf bewiese, daß die besten Dichter gerade die sind, die der Kupfer am wenigsten nöthig haben — was geht dies den Liebhaber an? Wer will jemanden wehren, seinen Heering mit Salz zu essen, wenn er Lust dazu hat? Oder vielmehr, da die Kupfer izt bey einem Modebuch das sind, was vor 300 Jahren die vergoldeten oder kostbar gemahlten Anfangsbuchstaben und übrige Zierrathen, Schnörkel, Grotesken u. s. w. waren: warum sollte den Leuten, die zuviel Geld haben, nicht auch dieser Weg, ihren Überfluß dem industriösen Theil der Nation zufließen zu lassen, offen

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erhalten werden? Die unerschöpfliche Erfindsamkeit und unermüdete Geschäftigkeit der leztern, um die eingebildeten Bedürfnisse der erstern zu befriedigen und täglich zu vermehren, ist doch beynahe das einzige Mittel, wodurch dem Unheil der übermäßigen Ungleichheit gesteurt und das große Rad im Gang erhalten wird, von dessen beständigem Umwälzen das Leben der politischen Körper abhängt.

¼Rezension von Hubers Übertragung der½ G e ß n e r s c h e n We r k e

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Zu Paris wird dermalen noch an zween Ausgaben berühmter Dichter gearbeitet, die durch Kupfer sehr kostbar gemacht werden. Die eine von den Werken des M e t a s t a s i o wird in zwölf Quartbänden bestehen. Pappier, Lettern und Kupfer sollen von der äussersten Schönheit seyn; und man hat Ursache desto mehr von den leztern zu erwarten, da Herr M a r t i n i (dem die Besorgung derselben übergeben ist) die berühmtesten Künstler, z. B. einen B a r t o l o z z i , P o r p o r a t i , Vo l p a t o u. dergl. zu Gehülfen angenommen hat. Die andre ist eine neue Übersetzung des O r l a n d o F u r i o s o , von dem durch seine Contes bekannten M r . d’ U ß i e u x . Die größten Künstler in Europa sind aufgeboten worden, dieses Werk zu verschönern, und der Verleger hat

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(wie Hr. d’Ußieux versichert) bereits gegen 80000 Livres daran gewendet, ohne am Ende seiner Ausgaben zu seyn. Es ist also nicht zu zweifeln, daß es darauf abgesehen ist, sogar der prächtigen Birminghamer-Ausgabe des Originals den Vorzug streitig zu machen. Das sonderbarste dabey ist, daß der alte G r a f v o n Tr e s s a n — der durch seine Auszüge aus einigen alten Ritterromanen und durch seine neue Einkleidung des Amadis de Gaule Mittel gefunden hat, noch in einem sehr hohen Alter sich der schönen Hälfte seiner Nation, und in der That allen Leuten von Geschmak überall angenehm und werth zu machen — ebenfalls im Begriff ist, eine Übersetzung des Ariosts in s e i n e r M a n i e r herauszugeben. Der gute Monsieur d’Ußieux hätte keinen gefährli-

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chern Mitwerber bekommen können als diesen schmucken alten Ritter, dem es wahrscheinlicherweise ein leichtes seyn wird, in ganz schlechten Waffen (wie ehmals G e r o n und sein Freund D a n a y n auf dem Turnier der drey Schwestern) seinen Gegner, trotz seiner emaillierten Rüstung und seines prächtig gestikten Wappenroks, und seiner Decke mit goldnen Trotteln und Quasten, aus dem Sattel zu heben — ein Schiksal, worauf Hr. d’Ußieux zwar zum voraus gefaßt ist, aber auch, mit einer den kleinen Leuten seiner Nation ganz eignen Art, kleinen Dingen durch prächtige Vergleichungen aufzuhelfen, sich mit dem edeln Gedanken tröstet: „Daß H e k t o r , wiewohl von A c h i l l überwunden, darum nicht weniger Recht an die Hochschätzung seiner Zeitgenossen behalten habe.“ — Mit dieser feinen Wendung ist doch wenigstens soviel gewonnen, daß Tr e s s a n - A c h i l l der h ö f l i c h e R i t t e r nicht seyn müßte, der er ist, wenn er d’ U ß i e u x - H e k t o r n , der auf eine so polite Art um sein Leben bittet, nicht schonen würde.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Juli 1780)

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Der Teutsche Merkur vom Jahr 1780. Ihro Römisch-Kayserlichen Majestät zugeeignet. Mit Königl. Preuß. und Churfürstl. Brandenburg. gnädigstem Privilegio.

Viertes Vierteljahr. Weimar.

Der Teutsche Merkur. Oktober 1780.

Dialogen. Die Scene dieser Dialogen ist im Elysium.

1. Diokles. Lucian. *) Di o k l.

(Noch allein.)

Wie ist mir? Wo bin ich? Ist dies Elysium? Die s c h ö n e

I n s e l d e r S e l i g e n , wo goldne B l u m e n g l ü h e n ? Wo ein e w i g e r F r ü h l i n g v o n F r ü c h t e n a l l e r A r t e n ü b e r f l i e ß t ? — Wo sind die r e i n e n K r y s t a l l b ä c h e ? Wo die i m m e r g r ü n e n b l u m e n v o l l e n W i e s e n , die mir von Dichtern und Weisen **) versprochen wurden? Wo d i e S o n n e d i e Ta g e n u n d N ä c h t e n i m m e r g l e i c h l e u c h t e t ? — — Nichts als Dämrung und Dämrung! — und eine Stille, so still, so still, daß

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ich das wiegende Schwanken einer Lilie auf ihrem Stängel hören könnte. — Ein wahres Schattenland! — Und bin Ich denn auch ein Schatten? — I c h ? — Was nennst Du D i c h ? I c h kenne D i c h nicht mehr! — Ah! welch ein seltsames Drängen und Winden und Schneiden und Absondern fühl ich in mir? — Mir däucht, ich bin mir das nicht mehr bewußt was ich mir kaum noch bewußt war, und doch fühl ich noch daß ich Diokles bin. — Wunderbar! Mir ist alle Augenblicke es falle was von mir ab, bald wie Schuppen, bald wie ein Nebel den die Sonne niederdrükt. — Ein seltsamer Zustand! So leer! so leicht! so durchsichtig! — Es ist nicht ganz recht mit mir — gar nicht wie ich mirs dachte — und doch bin ich eher wohl als übel. — — Aber seh ich nicht dort einen Schatten gegen mich her schweben? — Sein Ansehen ist frey und ruhig und edel. Gewiß einer von den Weisen eines bessern Zeitalters! — Ich will ihn anreden; er soll mir sagen, ob dies Elysium ist? — Darf ich dich anreden? Darf ich dich fragen, wie du genennt wirst? Lu c i a n . Du darfst alles was du kannst. Wir sind hier alle gleich, und haben,

*)

Dieser kleine Dialog kann als eine Art von Prolog oder Einleitung zu einigen andern, die

nach und nach folgen sollen, angesehen werden. **)

P i n d a r . Olymp. 2. A e s c h i n , Dial. III. 20.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang /Mitte November 1780)

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wie die alten A t l a n t e n , keine besondere Namen, als wenn wir uns von unserm vormaligen Leben untereinander besprechen. Da ich noch auf der Oberwelt war, nannten sie mich Lucian. *) Diok le s

(ein wenig zusammenfahrend.)

Lucian? — So bitt ich dich, schone mei-

ner! Lu c i a n . Warum bittest du mich das? Diok le s . Weil du mich ohnezweifel noch schärfer sehen wirst als ich mich selbst sehe. Ich bin gar nicht mit mir selbst zufrieden. Lu c i a n . Du bist also e i n n e u e r A n k ö m m l i n g ? Habe Muth! Es wird 10

immer besser mit dir werden. Diok le s . Sage mir doch, bin ich würklich im Elysium? Ist dies Elysium wo wir sind? Lu c i a n . Du bist im Elysium; aber deine Sinnen sind noch nicht ganz gereinigt. Diok les . Das muß es seyn! Nun versteh ichs — der Fehler muß an mir liegen, daß mir alles so trüb, so schattenmäßig, so öde und todt vorkömmt. Lu c i a n . Du wirst ja diesen Augenblik erst gebohren; deine Augen sind noch dunkel, deine Ohren noch schlaf; du bist unsrer Luft, unsers Lichts noch ungewohnt. Aber das wird sich bald geben.

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Diok le s . Sag mir doch, was ist das, das sich fast alle Augenblicke — just izt da ich mit dir rede — wie von mir ablößt, und wie Lappen eines zerrißnen wollichten Nebels, seitwärts an mir niederwallt? Lu c i a n . Dünkt dich nicht du werdest bey jeder dieser Abschälungen leichter, freyer, dir selbst durchschaulicher? Diokles . So däucht mich — und nur gar zu leicht, gar zu durchsichtig! Denn ich merke wohl, es wird vor lauter Abschälungen, wie du’s nennst, beynahe nichts von mir übrig bleiben. Lu c i a n . Sey unbekümmert! Es wird sich nichts abschälen, um was du dich nicht desto besser befinden wirst. Es sind nur d i e T ä u s c h u n g e n d e s

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E i g e n d ü n k e l s die dich bisher umwickelten und die Ursachen deiner meisten Leiden und — Freuden waren. *)

Eigentlich hieß der Mann freylich Loykianow und sollte also, nach der neusten Mode, L u -

k i a n o s heissen. Aber man ist seiner schon so viele hundert Jahre unter dem Namen Lucian gewohnt, daß niemand wissen würde, wer der Lukianos sey; und so haben wirs, wie mit dem x, y, tz des ehrlichen Mönchs O t t f r i e d , lieber beym Alten lassen wollen.

D i a l o g e n . 1 . ¼Dialog ½

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Dio k le s . Hilf Himmel! Wenn dies ist, was für ein Puppen- und Fratzenspiel von Täuschung und Blendwerk war das was ich mein Leben nannte! Lu c i a n . Merkst du was? Und doch wird es dir nicht an einem Biographen fehlen, der eine gar feine Komposition daraus zu machen wissen wird. Dio k les . O das ist häßlich! Meine Vorzüge, meine Tugenden, meine Freuden, beynahe alle — vielleicht g a r A l l e s z u s a m m e n — lauter T ä u schungen ! Lu c i a n . Dafür warens aber deine Leiden auch. Dio k les . Desto schlimmer! desto schlimmer! — Ich fühlte mich so stark, so groß, wenn ich sie standhaft, edel, wie ein Weiser zu tragen glaubte — — wie

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lächerlich ich dir vorkommen muß! Lu c i a n . Gar nicht! Die Last die ein Mann kaum auf seinen Schultern fühlt, würde ein Kind niederdrücken. Hierinn liegt die Täuschung nicht, Bruder. Aber, wenn du deine Leiden so standhaft, so edel, so heldenmüthig zu tragen glaubtest, davon geht nun wohl etwas ab? Dio k le s . Ich litt freylich nur was ich nicht ändern konnte, und ächzte, klagte, schrie so gut wie ein g e m e i n e r M e n s c h , wenn mich niemand hörte vor dem ich mich schämte nur ein gemeiner Mensch zu seyn. Lu c i a n . Das mag wohl die dikste, häßlichste von allen Schuppen seyn, kein gemeiner Mensch seyn zu wollen, wenn man im Grunde doch nur ein ge-

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meiner Mensch ist. Siehst du, was für ein Klumpen wieder von dir fällt? Dio k les . Hilf mir! Ich zerfalle! Zerfließe in Dunst und Schlacken! Lu c i a n . Das ärgste wird nun bald vorüber seyn. Sey ruhig. Wir waren alle nur gemeine Menschen — mehr oder weniger Häute, schlechtere oder buntere Schuppen, machten den ganzen Unterschied. Dio k le s . Und die g r o ß e n , die h e r r l i c h e n Menschen sollten keine Ausnahme machen? Lu c i a n . Frage sie selbst wenn du einst zu ihnen gekommen seyn wirst. Dio k le s . Ihr lebt also hier frey von allem was die Sinnen der Sterblichen fälscht? Jeder erscheint dem andern wie er i s t ? Lu c i a n . Und sich selbst wie er w a r . Dio k le s . Und ihr seyd glüklich? Lu c i a n . Eben darum. Auf Erden würde das freylich anders seyn. Aber hier, wo alles in vollkommnem Gleichgewicht, alles in Ruhe ist, wo keiner von dem andern was zu fürchten noch zu hoffen hat, wo keine Schiefheit, keine

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Vorurtheile, kein Neid, keine Scheelsucht, keine Rachgier mehr Platz hat, wo also schlechterdings keine Ursache ist was anders oder bessers scheinen zu w o l l e n , oder zu m ü s s e n als man ist: hier kann man niemand täuschen wenn man auch w o l l t e , und nicht täuschen w o l l e n wenn man auch k ö n n t e . Auch s i c h s e l b s t nicht; denn man ist nur falsch gegen sich selbst, wenn man nicht wahr gegen andre seyn darf. Kurz, bey uns ist alles w a h r , und eben darum sind wir glüklich. Diokle s . Mir däucht, es wird Mühe kosten, bis ich mich an eure Glükseligkeit werde gewöhnen können — 10

Lu c i a n . Warst du etwa ein König? Diok le s . Ein König? — Zuweilen, ja, aber nur in der Einbildung; und das endete immer damit daß ich Satyren auf die Könige machte die es würklich waren. Lu c i a n . Hast du jemals gehört, daß ein Günstling eh er in Ungnade fiel, oder ein Officier wenn er ein Regiment erwartete, oder ein Poet wenn er eine Pension erhielt, eine Satyre auf die Könige gemacht habe? Diok les . Ich verstehe dich; aber das war doch bey mir die Ursache nicht — Lu c i a n . Nimm dich in Acht! Diok les . Ich war, zum Glük, in einer Lage, daß ich ihrer Gnade entbehren

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konnte. Lu c i a n . Du bildetest dir also vielleicht ein, du würdest es an ihrem Platze besser gemacht haben? Diok les . Das war freylich auch eine häßliche Täuschung. Aber mein Haß gegen die Könige floß wahrlich aus einer reinern Quelle. Lu c i a n . Nimm dich in acht, Bruder! Diok les . Es war würkliches Mitleiden mit dem armen Menschengeschlechte — Lu c i a n . Und aus würklichem Mitleiden mit dem armen menschlichen Geschlechte — hättest du s e l b s t König seyn mögen?

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Diok le s . Ich läugn’ es nicht — aber bloß um Gutes zu thun! Lu c i a n . Hättest oberster Herr über den ganzen Erdboden seyn mögen? Diok le s . Bloß um desto Mehrern Gutes zu thun. Lu c i a n . Und unumschränkter Selbstherrscher? Diok le s . Bloß um das Gute desto ungehinderter zu thun. Lu c i a n . Im Ernste, das konntest du dir einbilden?

D i a l o g e n . 1 . ¼Dialog ½

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Dio k le s . O weh! — — Lu c i a n . Da schupte sich wieder eine garstige dicke Haut ab! Dio k le s . Ach! was wird aus allen den Tugenden werden, in deren Bewustseyn ich mir oft so gütlich that! Lu c i a n . Das war wohl eine sanfte Wiege? Dio k le s . Wie glüklich ich mich dann fühlte! — Nein! Ich bin nicht im Elysium. — Mir ist hier ganz anders — Lu c i a n . Du büßest hier für — deine Tugenden. Dio k le s . Die ich zu haben wähnte und nicht hatte, meynst du? Lu c i a n . Und die dich weder Anstrengung, noch Opfer kosteten. — Du warst

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da oben wohl ein D i c h t e r , nicht so? Dio k les . Und liebte die Wahrheit über alles — Lu c i a n . Und belogst dich selbst und die Welt dein ganzes Leben lang? Dio k le s . Du bist noch immer Lucian, wie ich höre. Lu c i a n . Bruder, es steht noch nicht recht mit dir. — Geh dem schlängelnden Fußpfad zwischen diesen Platanen nach! Er wird dich zu einer Grotte führen, in deren Inwendigem du eine Art von warmen Bade bereitet finden wirst. Bediene dich dessen ungescheut; es wird dich erweichen und dir eine Ausdünstung verschaffen, nach welcher du dich viel besser befinden wirst. Wenige kommen hieher, die dieses Bades nicht eine Zeitlang bedürfen, und niemand, dem nicht gerathen würde, es zur Vorsicht wenigstens Einmal zu gebrauchen. Geh, weil es doch seyn muß! Wenn wir uns wiedersehen, wirst du fühlen, daß du im Elysium bist. W.

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Dialogen. 2. Lucian, Diokles, hernach Panthea. Lu c i a n . Nun, wie gewohnst du in deinem neuen Zustand an? Bist du nun besser mit dir selbst zufrieden? Diok . Immer besser mit den andern, und immer schlechter mit mir selbst. Es geht noch nicht recht, wie du siehst. Lu c. Im Gegentheil; du bist auf dem nächsten Wege zur Genesung. In deinem vorigen Leben wars just umgekehrt, nicht wahr? Diok . Ich kanns nicht läugnen. 10

Lu c. Damals verglichst du immer die andern mit D i r , und glaubtest dabey zu gewinnen, weil du dich selbst in dem täuschenden Spiegel des Eigendünkels sahst. Was du Dich Selbst nanntest, war nur deine Meynung von dir selbst; ein Gewand, aus tausend bunten glänzenden, erborgten Lappen zusammengeflickt, das du dir so gut du konntest anzupassen suchtest. Nun, da diese Lappen einer nach dem andern von dir abfallen, schämst du dich deiner Naktheit — mehr, weil du nicht gewohnt bist dich nakt zu sehen, als weil du dich deiner eigenthümlichen Gestalt zu schämen hast. Daher die Unzufriedenheit mit dir selbst. Die Veränderung ist noch zu neu. Du bist wie einer, der den Arm, den er verlohren hat, instinktmäßig immer noch

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gebrauchen will, weil er immer wieder vergißt daß er ihn nicht mehr hat. Deine Lappen sind durch den Mechanismus der Gewohnheit Theile von deinem vermeynten Selbst geworden — und es geht dir izt wie dem nakten Indianer, da er zum erstenmal einen Europäer sich entkleiden sah. Diok . Du wirst mir doch gestehen, daß es nicht angenehm ist sich auf einmal so arm zu finden; zu sehen, daß beynah alles was man für Eigenthum, Vorzug, Vorrecht, Verdienst ansah — nur Täuschung war. Du wirst mich schwerlich überreden können, daß ich durch die Entdeckung meiner Naktheit gewonnen habe; und ich begreiffe nicht, wie ihr andern Einwohner Elysiums glücklich seyn könnt. Ihr müßt ein Geheimnis besitzen, zu wel-

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chem man mich noch nicht zugelassen hat.

D i a l o g e n . 2 . ¼Dialog½

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Luc . Ganz und gar keines. Alles was w i r haben um glücklich zu seyn, hast du auch. Dio k . Und bin n i c h t glücklich! Luc . Das wird sich geben, Bruder. Du bist noch wie ein Kind, das zwar Augen und Ohren, Hände und Füße so gut wie ein Erwachsner hat, aber sie nur noch nicht zu gebrauchen weiß. Dio k . Es m u ß wohl so seyn; aber, ich sehe noch nicht, w i e es so ist. Sage mir nur eins, Lucian. Wie könnt ihr einander lieben, da, wie du sagst, jeder den andern ohne alle Täuschung sieht, folglich just so arm und nakt, als er seyn muß wenn er von dem allen entkleidet ist was du fremde Lappen nennst.

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Wenn, z. E. der Diogenes, den du einst bewundertest — Luc . Daran that ich freylich unrecht; ich hätt’ ihn nicht bewundern sollen! — oder, richtiger zu reden, ich hätte mir nicht einbilden sollen, daß ich ihn bewundere. Dafür bin ich aber auch izt von dergleichen Einbildungen von Grund aus geheilt. Dio k . Was ist er dir denn izt? Luc . Ein Mensch wie ein andrer. Dio k . Du liebst ihn also auch nicht mehr als jeden andern der weiter nichts als ein Mensch ist? Luc . Als ob das nicht das beste und herrlichste wäre, was einer seyn kann der

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kein Gott ist? Siehst du, guter Diokles, wir sind hier alle nichts als Menschen, und die Menschheit ist das einzige was wir an einander hochachten und lieben. Dio k . Die Vorzüge also, die ein Mensch in seinem Leben gehabt, die Verdienste, die er sich um die Welt gemacht hat, helfen ihm hier nichts? Luc . Wenn er einmal hier ist, nicht einen Deut. Dio k . Das ist mir unbegreiflich. Luc . Ich glaub es gerne; wenn du länger unter uns gewesen seyn wirst, wird dir nichts unbegreiflich vorkommen. Dio k . Also, d e i n e P a n t h e a , zum Exempel, diese Panthea, die, wenn du ihr nicht entsetzlich geschmeichelt hast, so schön, so gut, so vollkommen war — Luc .

(Lächelt.)

Dio k . — daß du, um sie zu schildern, nicht nur die größten Bildner und Mahler, ja die göttlichsten der Dichter, Homer und Pindar selbst, sondern

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um alle Schönheiten und Gaben ihrer Seele darzustellen, sogar die Aspasien und Theano’s und Sappho’s und die Sokratische Diotima selbst herbeyruffen mußtest, um aus allem, was an den schönsten Bildern und den schönsten Charaktern, die jemals gewesen sind, das schönste war, wie ein andrer Z e u x e s , das Bild dieser vollkommnen Frau zusammenzusetzen — diese deine Panthea also gilt hier nicht mehr als die erste beste Bürgersfrau von Smyrna, ihre Landsmännin, von der sich weiter nichts sagen läßt, als daß sie eine liebe gute ehrliche Frau war? Lu c. Nun, ja, wenn die Bürgersfrau von Smyrna das alles war, wozu die Natur 10

das Weib bestimmt hat, und wodurch sie ihrem Hauswesen nüzlich seyn konnte, ihrem Mann hold und treu, die Mutter schöner und gutartiger Kinder, eine verständige Hauswirthin, eine gute Spinnerin, Würkerin, Stickerin, — wenn sie, wie Homers göttliche Penelope, lieber in ihrem Gynäceon unter ihren Mägden oder Töchtern saß und arbeitete, als schalen Ergötzlichkeiten nachlief, oder ihre Zeit in zwecklosen Gesellschaften, mit Plaudern und Verläumden, und Müßiggang tödtete u. s. w. — kurz, wenn sie jede Tugend ihres Geschlechts und Standes besaß, mehr w a r als s c h e i n e n wollte, und in einem engern Kreise von Würksamkeit, vielleicht nur desto mehr Gutes stiftete — welches alles, wie du siehst, ein sehr möglicher Fall

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ist: so hat Panthea, mit allen ihren Gaben, hier keinen Vorzug vor ihr; und, was dir vielleicht noch seltsamer vorkommen wird, so maßt sie sich auch keinen an. Di o k l. Da muß etwas seyn, worinn wir uns nicht verstehen. Aber, ich glaube dich zu merken. Deine Panthea war — nicht so vollkommen als du sie darstelltest. Du hast die Erlaubnis, die man den Porträtmalern giebt — zu verschönern ohne unkenntlich zu machen — ein wenig weiter getrieben als recht ist. Lu c. Daß das ganze Spielwerk, nach Zeuxis Art, aus lauter Bildern zusammengesezt, d. i. ein I d e a l seyn sollte, sagt die Überschrift. Aber um dem

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Ganzen doch eine Art von poetischer Wahrheit zu geben, suchte ich mir das vollkommenste Weib dazu aus, die ich kannte, und dies Weib war Panthea. Sie war würklich eine sehr schöne, und (was nicht alle Schönen sind) eine sehr liebenswürdige Frau; und das war schon viel. Aber sie war noch überdies die Geliebte eines Kaysers. Dies stellte sie in einen Lichtstrom, worinn auch Flecken zu Schönheiten werden; wie vielmehr mußte der Glanz so

D i a l o g e n . 2 . ¼Dialog½

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vieler Vortreflichkeit dadurch erhöht werden! Aber auch dies war noch nicht alles. Ich hatte freyen Zutritt bey ihr; sie schäzte meine Talente; zählte mich unter ihre Freunde. Rechne nun die Würkung zusammen, die so vielerley zugleich würkende täuschende Ursachen machen mußten. Der Reiz einer Schönen ist an sich selbst schon ein so mächtiges P h i l t r o n ! Ihre Gunst, auch der kleinste Antheil daran, ein noch mächtigers! Nimm noch dazu die geheimen Hoffnungen, die mit der Gewogenheit der Großen verbunden sind, und unvermerkt zu leisen Triebfedern eines Selbstbetrugs werden, den wir um so weniger gewahr werden, weil wir ihn nicht sehen w o l l e n . — Ich rede izt als ob wir noch da oben lebten, wo man betrügt und

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betrogen wird. — Wir hielten uns nicht für Schmeichler, weil wir in einem verfälschenden Helldunkel die Vollkommenheiten würklich zu sehen glaubten, die wir anpriesen. Gleichwohl, so viele täuschende Umstände auch hier zusammen kamen, war meine Verblendung doch nicht groß genug, daß ich mir nicht bewußt hätte seyn sollen, daß Panthea weder ein überweibliches noch überirdisches Wesen sey. Aber, ich wollte mir eine Art von Verdienst um sie machen, und ich wußte ungefähr, wieviel die Eitelkeit einer schönen Frau ertragen kann. Panthea war würklich eine so bescheidne Schöne als vielleicht wenig andre in ihren Umständen gewesen wären; und doch — solltest du es glauben? — hatte sie gegen eine Abbildung, wor-

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inn sie als das Urbild aller Vollkommenheiten, die in einem weiblichen Wesen beysammen gedacht werden können, aufgestellt wird, nichts ernstlichers einzuwenden, als — die aberglaubische Furcht, die Göttinnen, mit denen ich sie verglichen hatte, möchten ihr, die doch nur eine Sterbliche wäre, die Vergleichung übelnehmen und es ihr entgelten lassen. Dio k . Wahrlich, ein wohl angebrachter Zug von Gottesfurcht! Luc . Glüklicherweise seh’ ich Sie selbst hinter den Myrten dort hervorkommen — Wir wollen ihr entgegen gehen! — Du wirst sehen, daß sie kein Bedenken tragen wird, noch freyere Geständnisse zu thun, als ich in ihrem Namen hätte thun dürfen. — Wir sprachen eben von dir, schöne Panthea. Pa n t.

(lächelnd)

Von mir?

Luc . Die Wahrheit zu sagen, nicht sowohl von dir als von dem Ideal einer vollkommnen Schönen, dem ein gewisser Lucian von Samosata, der sich für mich ausgab, deinen Namen lieh — weil das Bild doch einen Namen haben

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mußte, und weil er im ganzen Reich der Cäsarn keinen andern fand, der ihm mehr Ehre und Beglaubigung geben konnte. Panth. Und, wenn mir recht ist, lebte damals eine gewisse Panthea von Smyrna, die sich für m i c h ausgab, und sich sehr geschmeichelt fand, ihren Namen unter das Meisterstük eines so berühmten Redekünstlers gesetzt zu sehen. Diok .

(vor sich)

Wie ich höre sind die hübschen Leute sogar im Elysium noch

nicht ganz von der Schwachheit frey einander Schmeicheleyen zu sagen. Panth. Aber wir waren doch beyde sehr alberne Kinder, Du, da du mich 10

bereden wolltest, deine Panthea für mein Bildnis zu halten; und Ich, da ich mir einbildete, daß du es wohl selbst dafür halten könntest. Lu c. Du verschweigst doch noch das Beste, schöne Panthea. Panth. Wie so? Lu c. Daß die Dame, die sich für dich ausgab, sich würklich überreden ließ, das Götterbild für das ihrige zu halten. Panth. Siehe, lieber Lucian, wir haben hier keine Geheimnisse mehr für einander. Eine schöne Frau auf der Oberwelt hört sich wenigstens eben so gerne loben als ein Philosoph oder ein witziger Schriftsteller. Lob, so unverdient es auch seyn mag, klingt in jenem Lande der Täuschungen immer

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angenehmer als der heilsamste Tadel. Und dann mußt du auch bedenken, daß es nur von dir abhieng, anstatt der witzigen Lobschrift eine eben so witzige Satyre auf mich zu machen — und daß ich dies wußte. Dir kostete das Eine nicht mehr Wiz als das Andre, und der Welt würde der Spötter Lucian unfehlbar mehr Vergnügen gemacht haben als der Schmeichler Lucian. War es nicht billig von mir, dir das Opfer, das du mir dadurch brachtest, zum Verdienst anzurechnen? Lu c. Es war mehr als billig, schöne Panthea, es war sogar großmüthig. Denn es kam doch nur auf dich an, zu sehen, daß ich ziemlich gewiß berechnen konnte, das was ich mit diesem Opfer bey dir gewann, sey mehr werth als

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was ich beym Publico dadurch verlohr. Panth. Am Ende wird denn wohl herauskommen, daß wir uns beyde in unsrer Rechnung betrogen. Lu c. Oder, daß wir just so handelten als ob wir einander in’s Spiel gukten. Denn, ungeachtet des Verdiensts, das die schöne Panthea mir so hoch in Rechnung brachte, erinnere ich mich doch nicht, daß ich viel mehr da-

D i a l o g e n . 2 . ¼Dialog½

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durch bey ihr gewonnen hätte, als mit einem paar Versen um einen Blumenstraus, den ich ihr zu ihrem Geburtstag gegeben hätte — Pa n t h . Und Lucian würde sein schönes Ideal nicht um ein Haar schlechter gemacht haben, wenn er auch weniger auf meine Dankbarkeit gerechnet hätte. Denn, er machte es doch mehr sich selbst zu gefallen als mir. Di o k l.

(vor sich)

Sie sind offenherziger als ich dachte!

Luc . Wie dem auch seyn mag, das solltest du uns doch gestehen, daß du nicht ganz aufrichtig warst, als du mir wissen liessest, du wärest gar keine Freundin von übertriebnen Schmeicheleyen. Pa n t h . Da irrst du dich doch wohl ein wenig, Lucian.

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Luc . Wer war denn die Dame, die mir sagen ließ: sie sey versichert, ich würde sie nicht so sehr gelobt haben, wenn es mir nicht von Herzen gegangen wäre? Pa n t h . Und gerade daraus solltest du geschlossen haben daß ich aufrichtig war. Allerdings war ich keine Freundin von ü b e r t r i e b n e n Schmeicheleyen; aber ich hielt die deinigen n i c h t f ü r ü b e r t r i e b e n . Luc .

(lachend)

O, o, das ist allerdings woran ich nicht dachte. Das verschließt

mir den Mund auf einmal. Pa n t h . Was willst du, Lucian? Ich war ein Weib — — Luc . Und, aufrichtig zu seyn, meine Schmeicheleyen waren wenigstens so

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scheinbar, so wahrscheinlich — — Pa n t h . Spötter! — wenigstens mit so viel Wiz und Feinheit angebracht, so neu und gefällig eingekleidet, so schön gesagt! — Das Vergnügen von einem Mann der s o loben kann gelobt zu werden ist ein zu berauschender Trank, um das Bisgen Vernunft nicht zu übertäuben, das der Eitelkeit in dem Kopfe eines schönen Weib’s die Wage halten soll. — Doch, vergieb, Lucian, daß ich dir nicht länger das Vergnügen machen kann, dich und deinen Freund hier auf Kosten meiner ehmaligen Thorheit zu belustigen. Ich muß einen kleinen Flug nach der Oberwelt thun. — — (Sie verschwindet.) Di o k l.

zu Luc.

Einen Flug nach der Oberwelt? Sie wird doch nicht spüken

wollen? Wenigstens hab ich nie gehört, daß sich jemand gerühmt hätte, ein so liebliches Gespenst gesehen zu haben. Luc . Das ist ein Räthsel, das ich dir vielleicht ein andermal auflösen darf. Sag mir izt, wie gefiel dir Panthea? Ist sie nicht schön? Di o k l. Noch liebenswürdiger als schön wie du sagtest. Aber noch immer

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sehr schön, wiewohl der Contur ihrer Wangen nicht ganz so sanft abgeründet ist als an der Venus des Alkamenes. Und, wenn ich dirs frey gestehen darf, der Zug ihrer Augenbrauen däuchte mir gerade darum desto geistreicher, weil er nicht so mit dem Zirkel gezogen ist wie an dem Meisterstük des Praxiteles. Auch ihre Stirne schien mir merklich breiter, als sie seyn müßte, um der Knidischen Venus so gleich zu seyn, und ihre Lippen länger und schmaler als die den Kuß herausfodernden Lippen der Roxane des Aetion. Und doch däuchte mir, andre Lippen und eine andre Stirne würden ihrem Gesichte nicht so gut anstehen als ihre eignen. 10

Lu c. So, daß du also findest, ich habe ihr gerade dadurch Unrecht gethan, daß ich sie schöner mahlen wollen als sie ist? Di o k l. Ich denke, dies mag beym Verschönern wohl oft der Fall seyn. Lu c. Da hast du recht. — Aber wie gefällt dir die Aufrichtigkeit, die unter uns eingeführt ist? Dünkt dich nun nicht, daß wir sehr angenehm zusammen leben? Und fühlst du nicht, daß du die schöne Panthea lieben könntest, wiewohl du sie ohne irgend eine Art von Täuschung siehst? Denn du wirst vermuthlich wahrgenommen haben, daß die Begierde, die dort oben die natürliche Würkung der Schönheit hindert, unter die Dinge gehört, die wir zurükgelassen haben.

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Di o k l. Ich hatte immer gehört, die Schönheit sey das was die Begierde reitze: Izt erklärt mir meine eigne Erfahrung warum du sagtest, die Begierde hindre die natürliche Würkung der Schönheit. Ich denke du hast vollkommen recht. Schönheit für sich allein würkt bloßes Wohlgefallen und gewährt reinen ruhigen Genuß. Begierde hingegen ist körperlicher Reiz, der, auch ohne von der Schönheit erregt zu werden, für sich selbst würken kann und durch die unruhige Bewegung, wodurch er die Heiterkeit der Seele trübt, der reinen Würkung des Schönen nothwendig hinderlich ist. Lu c. So ists, denke ich: wiewohl, so lange wir unter den Sterblichen leben, geheime Triebfedern, von der Natur zu gemeinnüzlichen Endzwecken an-

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gebracht, auch die Schönheit zu einem natürlichen Mittel machen, die Begierde zu erwecken. Daher ist es zwar unschiklich, Reiz und Schönheit zu verwechseln; aber eben so unläugbar, daß Schönheit reizt, als daß Reiz verschönert. Da dies lezte aber bloß Täuschung ist: so erscheint uns andern Elysiern nichts schöner als es würklich ist; und die Schönheit erzeugt in uns reine Liebe, ohne fremdes Zugemisch. Kurz, die berühmte P l a t o n i s c h e

D i a l o g e n . 2 . ¼Dialog½

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L i e b e , die auf der Oberwelt den Meisten lächerlich, bey manchen betrügerische Anmaßung, bey einigen schuldloser Selbstbetrug, bey andern verdienstlose Wahrheit, und nur bey sehr wenigen verdienstliche Täuschung ist — diese Platonische Liebe ist die einzige, deren wir fähig sind — das Schwärmerische ausgenommen, welches, als fremder unreiner Zusaz, von ihr abgeschieden wird. Dio k . Aber gerade diese Schwärmerey, diese schöne Seelentrunkenheit, die uns die Gegenstände unsrer Bewundrung, unsrer Liebe, unsers Verlangens, in einem so zauberischen Lichte zeigte, machte die höchste Wonne unsers vorigen Zustandes aus —

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Luc . Und seine bittersten Qualen. Denn die unglüklichsten Menschen die ich je gekannt habe, waren gerade diese so leicht zu berauschenden Seelen, die, in ihrer Trunkenheit, sich, wie Bacchanten, stark genug fühlten Eichen zu entwurzeln, und, wenn der Taumel vorüber war, von einem Strohhalm zu Boden fielen; die jeder Genuß zu Göttern machte, und jeder Verlust an Ixions Rad heftete. Dio k . Aber kannst du läugnen, daß es eine Art von Schwärmerey giebt, die uns würklich veredelt, würklich glüklich macht? Luc . Glüklich? Ja, so glüklich als ein Bacchusfest machen kann; denn, was auch die Ursache seyn mag die uns berauscht, die Trunkenheit selbst ist —

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Trunkenheit, und die Würkungen sind ungefehr die nemlichen. Dio k . Ich hatte unrecht, mich eines Wortes zu bedienen, das mich unverständlich macht. Ich wollte sagen, giebt es nicht eine Art von Begeistrung, wo das Anschauen der Schönheit, der Vollkommenheit — des G ö t t l i c h e n — wo es auch sey — die Seele ergreift, erhebt, über alles Irdische, Körperliche, Beschränkte und Vergängliche emporreißt; sie, so lange dies Anschauen dauert, (wär’s auch nur auf Augenblicke) ganz durchglüht, verherrlicht, beseligt, vergöttert? Luc . Aus m e i n e m Munde sollte es dich wohl befremden j a zu hören. Aber bilde dir ein, daß es P y t h a g o r a s oder P l a t o sey, der dir durch mich antwortet. Ja, Diokles, es giebt einen solchen Zustand; und er ist uns Bewohnern Elysiums viel weniger fremde, als er’s dort oben ist, wo ein Becher Wein von Chios, der Kuß einer Glycerion, das Lächeln eines Großen — freylich nur Narren, aber wer ist dort n i e Narr gewesen? — zu Göttern machen kann. Nur, was bey den Menschen fast immer ganz oder doch zum Theil

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bloßes Spiel der Sinne und des wallenden Blutes, oder Blendwerk der Einbildungskraft und Überspannung der Seele ist, ist hier Wa h r h e i t ; und wenn d o r t o b e n jeder, der etwas von dieser Art erfahren zu haben meynt, nicht laut genug krähen, nicht hyperbolisch genug davon schwatzen kann: so sind h i e r die heiligsten Augenblicke der Freundschaft, der reingestimmtesten Sympathie, kaum heilig genug, von Empfindungen oder Erscheinungen dieser Art, auch nur in abgebrochnen Lauten, zu reden. Es sind Mysterien, in welchen wir alle initiirt sind, wiewohl nicht in einerley Graden — aber aus dem Heiligthum der Menschheit plaudern nur Schwät10

zer, die kaum hineingeblikt haben, und werden dafür gestraft, daß sich die Thüre vor ihnen zuschließt eh sie hineingekommen sind. Diok . Aber woran erkennt ihr, daß es nicht auch bey euch Täuschung ist, was ihr in einem Zustande, wovon sogar zu reden verboten ist, zu erfahren glaubt? Lu c. In jedem gesunden Zustande der Seele — wie vielmehr in der tiefen Stille und reinen Klarheit, worinn die Weisen im Elysium leben, ist nichts untrüglicher als der Charakter, welcher Wahres und Falsches unterscheidet. Licht und Finsternis sind einander nicht mehr entgegen. Wahres Gefühl des Göttlichen unterbricht die Stille der Seele nicht — es macht sie vielmehr

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noch stiller, kehrt sie noch unverwandter in ihr Innerstes. Derjenige, dem dieser Sinn aufgeschlossen ist, spricht nicht von dem was er sieht, was er fühlt: aber sein ganzes Wesen, seine ganze Art zu seyn und zu würken spricht davon. Du kannst etwas diesem Ähnliches an den großen Menschen wahrnehmen, denen die Natur das Geheimnis der Künste entsiegelt hat. Homer schrieb kein Buch von der Dichtkunst, aber er machte seine Ilias; Phidias, Praxiteles, Apelles, schrieben keine Theorien, definierten das Erhabne, die Schönheit, die Grazie, nicht: aber ihre Werke spiegeln die Idee des Göttlichen zurük, die sich ihrer Seele eingesenkt hatte. Sie schwazten eben darum nicht davon, weil sie g e s e h e n hatten was die Schwätzer nie

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sahen; versuchten’s eben darum nicht zu erklären weil sie es als unerklärbar f ü h l t e n : sie machten’s, und stellten’s dar — denen welche sehen können. Dies ist der Charakter des Poeten, des wahren Machers; und in diesem Sinn ist jeder ächte Künstler Poet — ein kläglich entweyhtes, beynahe schambares Wort, aber ehrwürdig dem der seinen Sinn umfassen kann, wie es unsern Alten war — Bloß aus diesem Grunde läßt sich das was in der

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Kunst das höchste ist, was der wahre Künstler selbst mehr fühlt als erkennt, oft nur vorüberblitzen sieht, nur von fernher ahndet, eben darum läßt sich das nicht lehren. Kein Fleiß, keine Nachtwachen, keine Nachahmung, kein Studium wird es dem erforschlich noch erreichbar machen, dem es die Natur nicht offenbart. Und aus eben diesem Grunde können alle Schriften eines Plotinus und Jamblichus wohl eine Menge Theosophischer Schönredner und Großsprecher — vielleicht auch einige Schwärmer, Träumer, und Narren — aber keinen A p o l l o n i u s machen. Dies ist alles, Diokles, was ich dir izt über diese Sache sagen kann — Dio k . Und ist genug. W.

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Der Teutsche Merkur. November 1780.

Lucians Panthea. Von neuem übersezt. Lucians Eikonew, oder B i l d e r , die ich hier Panthea überschreibe, und die man auch schiklich die Vo l l k o m m n e S c h ö n e hätte betiteln können, sind nicht nur eines der Meisterstücke dieses liebenswürdigen und in seiner Art einzigen griechischen Schriftstellers; sondern (die dazu gehörige Apologie mitgerechnet) überhaupt eines der schönsten Denkmäler des griechischen Witzes, und derjenigen Urbanität, deren feinste Blüthe die Alten mit dem Worte A t t i c i s m u s * ) bezeichneten, und wovon uns, da wir die Werke des *)

Es ist uns Teutschen, mit Erlaubnis zu sagen, vielleicht schwerer als andern Nationen, die

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den zwar theuer erkauften aber unschäzbaren Vortheil einer allgemeinen Hauptstadt haben, uns von der Urbanität der Römer und dem Atticismus der Athenienser einen treffenden Begriff zu machen. Quintilian selbst (unter allen Kunstlehrern die ich kenne, derjenige der am besten über die Materien s c h r e i b t , von welchen nur ein richtiges Gefühl zu haben schon ein seltner Vorzug ist) da er die Urbanität charakterisiren will, sieht sich genöthigt, sich durch lauter Ausdrücke zu erklären, welche sagen was sie n i c h t ist. Sie bestehe, sagt er, nicht sowohl in einzelnen feinen Ausdrücken und glüklichen Einfällen oder Wendungen als i m g a n z e n To n und K o l o r i t der Rede; so wie bey den Griechen der Atticismus eine Art sich auszudrücken sey, aus der, so zu sagen, der eigenste Geist von Athen duftet — redolens Athenarum proprium saporem. I n s t i t . O r a t . VI. 4. Was er damit meyne sagt er noch deutlicher an einem andern Orte; die Urbanität

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nemlich, sey eine Art sich auszudrücken, die in der Wahl der Worte, in dem Ton der Stimme und im ganzen Anstand des Redenden proprium quendam gustum urbis et sumtam ex conversatione doctorum tacitam eruditionem, „einen gewissen Geschmak der Hauptstadt und eine feine kaum merkliche Tinctur von Gelehrsamkeit, die man aus dem Umgang mit aufgeklärten und cultivierten Personen angenommen“ verrathe — kurz, die just das Gegentheil der Rusticität, oder der Art zu reden, wodurch sich Personen, die immer auf dem Lande gelebt haben, kennbar machen. In so fern kann man also sagen, daß Urbanität eine Eigenschaft der Einwohner aller großen, reichen, durch Künste, Geschmak und Luxus verfeinerten Städte sey, und daß sie bey jeder Nation nur in der Hauptstadt und nur in der Epoke ihrer äussersten Verfeinerung zur höchsten Vollkommenheit kommen könne. Beyspiele, die dies anschaulich machen, finden sich auch in Teutschland genug; aber der Hauptgrund warum wir gegen einige andre Nationen, in diesem wie in so vielen andern Stücken, zurükbleiben, ist der Mangel einer Stadt die uns das sey, was Paris und London nicht nur in Frankreich und England, sondern in der ganzen Welt sind. Die Griechen hatten zwar

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Menander, leider! nicht mehr haben, vielleicht kein andrer attischer Schriftsteller einen so anschaulichen Begriff geben kann als Lucian, wiewohl er kein gebohrner Bürger der M i n e r v e n s t a d t war. Die Übersetzung, die ich hier wage, ist wenigstens die dritte, die wir in unsrer Sprache aufzuweisen haben; und vielleicht wird, ungeachtet meiner Bestrebung dem Charakter meiner Umschrift und dem was Quintilian dicendi c o l o r e m und s a p o r e m sermonis nennt näher zu kommen als meine Vorgänger, gleichwohl künftig eine fünfte und sechste nicht überflüßig seyn. Wenn Übersetzungen von Werken des Geschmaks höchstens wie Kupferstiche 10

von vortreflichen Gemählden zu betrachten sind: so können neun leidliche Übersetzer, von denen immer der jüngste just g u t g e n u g geschienen hat, dem Zehnten noch viel zu thun übrig lassen. Über die Art meines Verfahrens in diesem Versuche hoffe ich hier keine Rechenschaft geben zu müssen. Ich habe sie mir selbst mit aller Strenge, die der Gegenstand zuließ, abgefodert. — Als ich vor einigen Jahren einige B r i e f e d e s P l i n i u s , als eine Probe wie Plinius (meines Bedünkens) in unsrer Sprache reden müßte, in den Merkur einrükte: kam ein Schulmeister, und bewies mir, ich weiß nicht mehr in welcher gelehrten Zeitung, mit einem großen Aufwand von Wortgelehrsamkeit, daß ich den Plinius — wie ein Schulmeister

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hätte übersetzen sollen. Das nemliche wird mir leicht auch bey dieser Gelegenheit begegnen können. Aber jeder hat seine eigne Weise. Der eine übersezt wie ein Schulknabe, ein andrer wie ein Schulmeister. Ich, meines Orts, würde zufrieden seyn, wenn ich den Lucian so reden lassen könnte, wie er sich etwa ausgedrükt haben möchte, wenn er ein Teutscher — aus meinem Antheil an unserm achtzehnten Jahrhundert — und dem ungeachtet L u c i a n gewesen wäre. An Atticismus ist indessen gar nicht zu gedenken. — D e r duftet einem armen Übersetzer unter den Händen weg, ohne daß man eben einer von den Glüklichen zu seyn braucht, denen alles verdorrt was sie anrühren. Der Unterschied ist gar zu groß zwischen der Sprache der Musen und der unsrigen,

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die, ungeachtet aller von fruchtbringenden und unfruchtbaren teutschen Geso wenig eine gemeinsame Hauptstadt als wir; aber Athen war der eigentliche Sitz der Künste, der Wissenschaften, des Geschmaks, der Mittelpunkt aller Personen die sich durch Ta l e n t e hervorthaten, und in s o fern doch würklich die Metropole von Griechenland und der Ort, wohin alle Fremden zusammenfloßen, um ihren Geschmak zu bilden, den Studien obzuliegen, und artige Leute zu werden — hierinn liegt der Unterschied.

Lucians Panthea

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sellschaften bisher an sie verwendeten Arbeit, ihr ursprüngliches W i e h e r n wohl sobald noch nicht verliehren wird. Ich will nicht hoffen, daß mir dieses aufrichtige Geständnis, worinn Italiener, Franzosen und Engländer nichts als bloße Ehrlichkeit sehen werden, von den Herren die so stolz auf die Ehre Teutsche zu seyn *) sind, für einen Muttermord werde ausgedeutet werden. Q u i n t i l i a n , der nicht weniger ein Römer war als ich ein Teutscher, machte sich kein Bedenken zum Nachtheil seiner Muttersprache eben so aufrichtige Geständnisse zu thun, ohne daß er (meines Wissens) deßwegen eines Verbrechens gegen die Majestät des Römischen Namens angeklagt worden wäre. Er bekennt z. B. daß die Lateiner die

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zween lieblichsten Buchstaben oder vielmehr Sprachtöne der Griechen, y und

f gar nicht haben, und daß das lateinische F ein sonus t r i s t i s ac h o r r i d u s , und, so wie es zwischen den Zähnen hervorgeblasen werde, k a u m e i n e m m e n s c h l i c h e n To n ä h n l i c h sey, und, wenn er an einen andern Consonanten anstoße und ihn gleichsam breche, noch gräßlicher werde. Er gesteht, daß der Kuhmäßig brüllende Buchstabe M , der die lateinischen Worte so häufig und die griechischen niemals endigt — das harte quackende und quickende *)

Mich däucht, weil der Lappländer und Ostiake gerade soviel Recht hat auf seine Nation stolz

zu seyn als der Schineser oder Araber, d. i. weil ein jeder sich auf das Volk, wozu seine Wenigkeit gehört, just soviel einbilden kann als ihm beliebt: so wäre es wohl eben so gut sich gar nichts

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darauf einzubilden. Wenn indessen der Mann, der auf seine Nation stolziert, ein Mann ist, auf den seine Nation hinwieder stolz ist: oder wenn er sich wenigstens in Kraft alter Pergamente und vorväterlicher Thaten, unter ihre Matadoren rechnen kann; so mag eine solche Schwachheit vielleicht noch verzeyhlich seyn. Aber daß, z. E. jeder werthlose Erdensohn, der sich, unbeschadet, in jedem andern Winkel der Welt gebähren lassen konnte, und gegen den vielleicht Hundert an Eins zu setzen ist, daß er, mit allem seinem Nationalstolz, von der Geschichte und Verfassung der Nation just soviel weiß als die Nation von ihm — bloß darum weil Arminius den Varus schlug, oder Bertold Schwarz das Pulver, Faust die Buchdruckerkunst und Meister Rudolf von Nürnberg das Dratziehen erfunden, oder weil Kepler und Leibnitz große Köpfe waren, oder weil die teutsche Nation, seiner Meynung nach, gar mächtig viel thun würde wenn sie k ö n n t e oder thun k ö n n t e wenn sie das Vermögen hätte zu w o l l e n — daß solche Leutchen sich mit ihrer Teutschheit breit machen, und andre, uns fast in allen Stücken augenscheinlich überlegne, Nationen über die Achseln ansehen wollen: dies ist wenigstens eben so albern, als die übertriebene Verehrung auswärtiger und unbillige Geringschätzung einheimischer Dinge, welche das andere Extremum ist, worein wir so gerne zu fallen pflegen. Denn beydes bekräftigt bey Gelegenheit die Ausländer in der schlechten Meynung, die sie vorlängst von unsrer Nation überhaupt gefaßt haben, und zu welcher, so gerne sie auch einer bessern Plaz geben möchten, sie immer wieder durch unsre eignen G e r m a n i s m e n zurückgestossen werden.

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qu, und die häufige Endung der Sylben in die rauhen und klanglosen Mitlauter B und D, u. s. w. der Sprache seines Vaterlandes zu schlechtem Vortheil gereiche; er gesteht daß sie ungeschmeidig, arm an Worten, und sehr oft genöthigt sey bey der griechischen zu borgen oder verstummen zu müssen. Ja er geht so weit, zu behaupten, daß die Römer, bloß wegen dieser Unfähigkeit ihrer Sprache die Schönheit und Anmuth die den attischen Komödiendichtern ausschließlich eigen sey, zu erreichen, ungeachtet ihres Plautus, Cäcilius und Terentius, kaum den Schatten des griechischen Lustspiels hätten. Was würde der gute Mann erst von unsern so häufigen s c h l , s c h r , s c h t , m p f , r f t , f z t , 10

p f l , und andern solchen lieblichen Articulationen sagen, durch welche sich unsre Hochteutsche Sprache (freylich können die alten Minnesänger und die Niedersachsen nichts dafür!) wie durch eben so viele schrofe Felsenstücke, mit bald bellendem, bald zischendem, bald dumpf knurrendem Geräusche mühsam durchzwängen muß! — und, Er, dem Terenz noch nicht G r a z i e genug hatte, was, um aller Musen und Grazien willen! würde er von den Lastwagen voll neuer Lustspiele geurtheilt haben, die uns seit einigen Messen nicht etwa in teutscher Sprache — die, so weit sie auch immer von M e n a n d e r s seiner abstehen mag, noch immer gut genug seyn möchte — sondern in einer Sprache die gar keine Sprache ist, in dem geist- und geschmaklosen

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Rothwelsch ihrer eignen Verfasser, zugeführt worden sind? Natio comoeda est, sagten die Römer mit Naserümpfen von den Griechen, und erleichterten sich dadurch das Gefühl eines Vorzugs den sie nicht läugnen konnten: aber was soll man von einer Nation sagen, die mit aller Gewalt der Natur zu Trotz comoeda seyn w i l l , und doch bey jeder Gelegenheit wieder eingesteht, daß das schöne Komische in keinem Betracht ihre Sache sey? *) Die Moral indessen, welche Q u i n t i l i a n aus jener patriotischen Vergleichung seiner Sprache mit der Sprache der Musen und Grazien zieht, ist gut, und auch für uns andre Abkömmlinge der alten Cherusker, Quaden, Mark*)

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Was man von ihr sagen soll? — Nichts als daß sie — unendlich duldsam ist; daß unter ihren

geduldigen Flügeln jeder D u n c e so sehr D u n c e seyn darf als er will. Denn das f e i n e r e Publicum bekümmert sich um solche Dinge gar nicht; und das G r o ß e Publicum theilt sich wieder in so viele hundert kleine und noch kleinere, daß am Ende jeder Pfuscher, so schlecht er auch seyn mag, unterkömmt, und noch wohl Mittel findet, wenigstens in irgend einer kleinen Provinz, in dem Städtchen wo er lebt, oder in dem Zirkelchen seiner F r e u n d e u n d F r e u n d i n n e n , auch für Etwas zu passiren.

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männer, Franken, Alemannier, Wenden und Slaven, nicht ganz unbrauchbar. Sie enthält einen Tr o s t und eine Ve r m a h n u n g . Zuerst den Trost — M a n kann nicht von uns fodern was wir nicht empfangen haben ! — „Wer die Grazie der attischen Diction von uns verlangt, der gebe uns erst die Musik ihres Wohlklangs und ihren Reichthum!“ — Und nun die Vermahnung — „Da dies aber nicht angeht, so wollen wir uns wenigstens bemühen, unsre Gedanken den Worten die wir h a b e n anzupassen. Je weniger uns die Sprache zu statten kömmt, je mehr wollen wir uns durch die Kräfte des Genies, durch Erfindung der Sachen, Erregung der Leidenschaften, durch große und starke Gedanken, durch den Reichthum und Glanz der Bilder, zu helfen

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suchen. Können wir nicht so zart und geschmeidig seyn, so seyen wir desto stärker! Werden wir an Feinheit übertroffen, so sey unser Vorzug im Gewicht!“ u. s. w. Gut! Vortreflich! — Aber, was hilft das alles dem Unvorsichtigen, der sich an ein Werk wie Lucians Panthea gewagt hat? Hier ist kein Mittel das zu ersetzen und zu vergüten, was zurükbleibt, was zu fein ist, um mit einem s o l c h e n Werkzeug ergriffen zu werden. Einem Ritter, der sich nun einmal, zur bösen Stunde, in einen Zweykampf, wo er seine Niederlage vorhersieht, eingelassen hat, bleibt nichts übrig, als alle seine Stärke und Geschiklichkeit zusammenzunehmen, damit er wenigstens — nicht mit Schande falle.

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* * * Lycinus und Polystratus.

Ly c . Nun, wahrhaftig, gerade so muß es denen ergangen seyn, die das Unglük hatten die Gorgone anzuschauen, wie mirs neulich ergieng, da mir das schönste Weib, das Augen sehen können, zu Gesichte kam! Ich versichre dich, es fehlte nur wenig, daß ich die Fabel wahr gemacht hätte, und vor Bewunderung und Erstaunen auf der Stelle zum Stein hingefroren wäre. Po l y s t r. Ey, zum Herkules! da muß freylich ganz was Übernatürliches und Allgewaltiges zu sehen gewesen seyn, wenn es sogar auf Dich eine solche Würkung gemacht hat. Mit schönen Knaben pflegt dir wohl gar leichtlich so was zu begegnen. Da geht’s meistens soweit, daß einer eher den ganzen Sipylus *) von der Stelle rücken, als dich, wenn dir so ein Adonis oder Narcissus in den Wurf kommt, zurükhalten könnte, nicht auf der Stelle, mit

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ofnem Munde, oder wohl gar, wie eine andre Niobe, mit thränenden Augen vor ihm stehen zu bleiben und ihn anzustarren. Aber daß eine w e i b l i c h e Schönheit solche Wunder an Lycinus thun sollte, ist etwas unerhörtes. Und wer war denn, ich bitte dich, diese allversteinernde Medusa, und von wannen ist sie uns gekommen, daß ich auch hingehe und schaue? Denn ich will nicht hoffen, wenigstens, daß du uns andern diese Augenlust mißgönnen oder eyfersüchtig werden wirst, wenn auch Wir dieser wunderthätigen Schönheit zu nahen, und, in ihrem Anschaun, neben dir versteinert zu werden wünschen. 10

Ly c . O, du kannst dich darauf verlassen, daß sie dich, wenn du auch nur von einer Thurmzinne auf sie herunter blicken solltest, aller Sinne berauben, und unbeweglicher als eine Bildsäule hinstellen wird. Gleichwohl, wenn du Sie ja sehen willst, wäre dies noch immer das Mittel am erträglichsten und mit der wenigst tödtlichen Wunde wegzukommen. Denn wenn du dich in Gefahr gäbest auch von I h r erblikt zu werden; welche Kraft, armer Polystratus, könnte dich wieder von ihr entfernen? Sie würde dich überall, wohin sie gienge, nicht anders als wie der Heraklische Stein **) das Eisen, mit sich ziehen. Polys tr. Nun, Lycinus, ich dächte du hättest mich lange genug mit deinem

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Ungeheuer von Schönheit aufgezogen; und es wäre einmal Zeit, daß du mir sagtest, wer denn die wundervolle Dame war. Ly c . Du glaubst ich übertreibe: aber meine einzige Furcht ist, du werdest finden, daß ich nur ein armseliger Lobredner sey, wenn du sie selbst sehen wirst; soviel schöner wird sie dir erscheinen als ich dirs ausdrücken kann. Allein wer sie sey kann ich dir nicht sagen. Alles was ich davon weiß, ist, daß sie einen großen Hof, eine Menge Verschnittner und viele Aufwärterinnen um sich hatte, und überhaupt einen viel glänzendern Aufzug machte, als daß man sie für eine Privatperson hätte halten können. *)

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Ein Berg in Lydien, auf welchem N i o b e in einen Fels verwandelt worden. Da dieser Fels

ungefehr die Gestalt einer Kolossalischen Frau hatte, so zeigte man ihn noch lange nach der Heroischen Zeit den Reisenden unter dem Namen der Niobe; und die Quelle, die an ihm herabträuffelte, hiessen die unversiegbaren Thränen, die diese unglückliche Mutter, noch als Stein, um ihre Kinder weine. Dies ists worauf Polystratus scherzweise anspielt. **)

So nannten die Griechen den Magnet, nicht nach dem Herkules, sondern nach der Stadt

Heraklea in Lydien, wo viele Magnete gefunden worden, sagt H e s y c h i u s .

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Po l y s t r. Hast du nicht ihren Namen wenigstens erfragt? Ly c . Nichts als dies einzige hab ich erfahren können daß sie aus Jonien ist. Denn einer von den Zuschauern wandte sich, indem Sie vorbeyzog, zu seinem Nachbar und sagte: „solche Gestalten giebts nur zu Smyrna! Es ist aber auch kein Wunder daß die schönste Stadt in Jonien auch das schönste Weib hervorbringt.“ — Daraus schloß ich nun gleich, daß der Mann selbst von Smyrna seyn müße, der sich soviel auf sie einzubilden schien. Po l y s t r. Demnach du dich dann hierinn würklich wie ein Stein aufgeführt hast, indem dir weder soviel Besonnenheit übrig blieb ihr nachzugehen,

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noch den Smyrner zu fragen wer sie sey: So beschreibe mir wenigstens, so weit es mit Worten möglich ist, wie sie aussah, ob ich sie dadurch vielleicht erkennen werde. Ly c . Bedenkst du auch, daß du etwas von mir verlangst, das weder in der Macht der Sprache, noch am allerwenigsten in der Meinigen ist? Dir ein Bild darzustellen, dessen sich kaum ein Apelles oder Zeuxes oder Parrhasius unterfangen würde, oder irgend ein Phidias oder Alkamenes selbst, wenn es noch einen gäbe! Po l y s t r. Gleichwohl, lieber Lycinus, sag mir nur davon was du kannst. Das Wagestük ist ja so groß nicht; wir sind unter Freunden, und ich will mir zur

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Noth auch an einem bloßen Umriß begnügen lassen. Ly c . Wenigstens werd’ ich, däucht mir, sichrer gehen, wenn ich von jenen großen alten Meistern einige zu Hülfe rufe, die mir die Schöne bilden helfen sollen. Po l y s t r. Wie willst du das machen? Du wirst sie doch nicht von den Todten herauf citieren wollen? Ly c . Warum nicht, wenn es dir nur nicht entgegen ist, mir auf eine Frage zu antworten? Po l y s t r. Frage! Ly c . Bist du jemals zu Knidus gewesen? Po l . O ja. Ly c . So hast du unfehlbar die Venus dort gesehen? Po l . Das hab ich, beym Jupiter, das schönste aller Werke des Praxiteles. Ly c . Gut! — Nun sag mir auch noch, ob du auch die Venus in d e n G ä r t e n zu Athen, die vom Alkamenes, gesehen hast?

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Pol . Da müßt ich ja der gleichgültigste unter allen Menschen seyn, wenn ich das schönste aller Bilder des Alkamenes hätte übersehen können! Ly c . So brauche ich wohl nicht erst zu fragen, ob du, da du doch wohl öfters auf die Burg gestiegen bist, auch die S o s a n d r a des Kalamis betrachtet hast? Pol . Auch diese hab ich vielmals gesehen. Ly c . Gut! Aber unter den Werken des Phidias, welches hat am meisten deinen Beyfall? Pol . Nun, was sonst für eines als die Lemnia *) welche Phidias selbst würdig 10

gefunden, ihr seinen Namen einzugraben? Und dann beym Jupiter! die Amazone die sich auf ihren Speer lehnt. Ly c . Beyde sind würklich äußerst schön. Nunmehr, mein Freund, hätten wir, denke ich, keiner andern Künstler mehr vonnöthen. Wohlan denn, aus allen diesen Bildern will ich versuchen dir durch eine geschickte Zusammensetzung ein einziges Bild darzustellen, welches von jedem das auserlesenste haben soll. Pol . Und wie soll das zugehen? Ly c . Sehr leicht, lieber Polystratus, indem wir dem Verstand Vollmacht über diese Bilder geben; ihm erlauben die einzelnen Theile aus einander zu le-

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gen, zu versetzen und wieder so passend und symmetrisch zusammen zu fügen und in einander zu schmelzen, daß die Mannichfaltigkeit der Einheit des Ganzen keinen Schaden bringe. Pol . Schön! So laß ihn dann die Probe machen! Ich will doch sehen, wie er’s angreiffen wird, um aus so Vielen Ein Werk zusammen zu setzen, ohne etwas mißtönendes hervorzubringen. Ly c . Nun, so sieh zu, wie er das neue Bild, vor deinen Augen, nach und nach ausarbeiten wird — indem er damit anfängt, ihm den Kopf der Knidischen Venus anzupassen; denn von dem übrigen Körper, da er nakend ist, wird er nichts gebrauchen können. Den ganzen Haarschmuk, die Stirne, und den

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schönen Zug der Augenbraunen laß ihr, wie es Praxiteles gemacht hat; auch *)

Eine Minerva, ebenfalls auf der Akropoliw oder Burg zu Athen, nach dem Pausanias, Lemnia

genannt, weil sie von der Kolonie zu Lemnos gestiftet worden. Von den hier angeführten großen Meistern und Werken ist (um die Leser nicht mit entlegnen Citationen zu bemühen) in der Abhandlung von den I d e a l e n d e r A l t e n , im 3. u. 4. Q u a r t a l d e s T . M . 1 7 7 7 . verschiedenes gesagt, dessen man sich vielleicht gern wieder bey dieser Gelegenheit erinnern wird.

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die schlüpfrige Beweglichkeit und liebliche Heiterkeit der Augen soll sie von diesem Meister behalten. Die Backen aber und die vorstehenden Theile des Gesichts überhaupt mag sie von der Venus des Alkamenes entlehnen; wie auch die schöne Bildung und Proportion der Hände, und das fein gezogne der unvermerkt schmaler werdenden Finger. Doch den Umriß des ganzen Gesichts, und die sanfte Abrundung der Wangen, und das schöne Ebenmaas der Nase soll ihr die L e m n i a des Phidias geben; und die A m a z o n e eben dieses Meisters die Bildung des Mundes und den Nacken. Kalamis aber soll sie mit der holden Schaam seiner S o s a n d r a bekleiden, und mit ihrem leisen verborgenen Lächeln, und mit der edeln Zierlichkeit im

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Anwurf ihrer Kleidung, ausgenommen daß die Unsre unverschleyert bleiben muß. Und was für ein bestimmtes Maas des Jugendalters meynst du daß wir ihr geben wollen? Unfehlbar nach der Gnidischen; auch hierinn soll uns Praxiteles zum Muster dienen. Und nun, Polystratus? was dünkt dich? Traust du’s unserm Bilde zu, daß es schön werden könne, wenn wir es erst aufs sorgfältigste ausgeputzt und vollendet haben werden? Po l . Wie, du großer Wundermann, so hättest du noch etwas Schönheit außerhalb deinem Bilde übrig gelassen, du der so emsig Alles in dasselbe zusammengetragen hat? Ly c . O wir sind noch lange nicht fertig, mein guter Herr; du müßtest denn

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nur der Meynung seyn, daß die F a r b e wenig zu einer schönen Gestalt beytrage; und zwar besonders, daß jedes seine eigne habe, so daß alles was dunkel ist würklich dunkel, was weiß ist, würklich weiß, und, wo es sich gehört, mit blühender Röthe untermischt sey? Es wird sich also finden, daß uns vielleicht gerade noch das Wichtigste fehlt. Aber woher nehmen? Wie, wenn wir nun d i e M a h l e r zu Hülfe riefen, und zwar gerade diejenigen, welche die grösten Meister in der Mischung und dem Auftrag der Farben gewesen sind — also den P o l y g n o t u s und den E u p h r a n o r und A p e l l e s und A e t i o n . Diese mögen die Arbeit dergestalt unter sich theilen, daß Euphranor das Haar mahle, just so wie er der J u n o ihres gemahlt hat, und Polygnotus die Augbrauen und die zarte Röthe der Wangen, wie er sie der C a s s a n d r a in der L e s c h e zu Delphi *) gegeben. Eben diesem *) Die L e s c h e war ein öffentlicher Sprachsaal zu Delphi, wo eine große Menge von Gemählden des Polygnotus, welche die Knidier dahin gestiftet hatten, aufgestellt waren. Pausanias liefert ein Verzeichnis davon, worin auch diese Cassandra nicht vergessen ist.

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wollen wir auch die Kleidung zu mahlen geben; so zart als möglich ausgewebt, so daß was sich gebührt anschließe, das meiste aber wie von einem sanften Winde aufgehaucht zu wallen scheine. Das übrige, was sichtbar werden darf, soll uns Apelles, nach dem Muster seiner K a m p a s p e * ) zeigen, vornehmlich damit es nicht allzuweiß scheine, sondern das warm in den Adern rinnende Blut verrathe. Die Lippen mag ihr Aetion nach seiner R o x a n e * * ) machen. Vor allen aber vergessen wir den Homer nicht zu Hülfe zu nehmen, den besten aller Mahler, sogar noch wenn Euphranor und Apelles zugegen sind! Denn die Farbe die er den (von herabrinnendem 10

Blute gefärbten) Schenkeln des schönen Menelaus giebt, da er sie mit Elfenbein vergleicht, in dessen Weisse eine leichte Purpurröthe getuscht ist, soll hier das Ganze haben. Auch soll uns eben dieser große Meister die Augen mahlen, groß und majestätisch wie die so er der Juno giebt; und wir wollen ihm den Thebanischen Dichter ***) zum Gehülfen geben der sie d u n k e l b r a u i c h t (schwarz von Augenbrauen) mahle. Auch soll Homer *)

So muß, ohnezweifel, das Wort im Text gelesen werden, und nicht P a k a t e , wie die Hand-

schriften sagen. Diese Kampaspe, wie sie Plinius, oder Pangkaste, wie sie Aelianus nennt, war unter den Damen des Harems, welchen Alexander der Eroberer Persiens von seinem Vorfahren Darius geerbt hatte, diejenige die er am meisten liebte. Sie war so schön, daß er dem Apelles 20

(seinem Cabinetsmahler, nach heutiger Weise zu reden) auftrug, sie, nicht bekleideter als die Grazien zu seyn pflegen, abzumahlen. Apelles war weder alt noch unempfindlich genug, um ein so schwehres Abentheuer zu bestehen. Der Pinsel fiel ihm aus der Hand, und Alexander fand ihn zu den Füßen der schönen Kampaspe. Aber der Monarch war edel und billig; er sah, daß er dem Künstler mehr zugemuthet hatte als man einem Menschen geschweige einem Künstler, zumuthen soll; er schenkte ihm die Schöne, deren Werth niemand besser schätzen und benutzen konnte als er; und begnügte sich, zu seinem Antheil, an ihrem Bilde, welches ihm Apelles vermuthlich bey ruhigern Sinnen vollenden mußte. **)

Aetion, ein Zeitgenosse Lucians, hatte die Vermählung Alexanders mit Roxanen gemahlt,

und durch dies Gemählde, da er es öffentlich zu Olympia ausstellte, sich dem Proxenidas, der 30

damals die Würde eines Hellanodikes oder Richters der Olympischen Kampfspiele bekleidete, in einem so hohen Grade empfohlen, daß er ihm seine Tochter zur Ehe gab. Lucian beschreibt dies Gemählde in seinem H e r o d o t u s , und von dieser Roxane ist ohnezweifel hier die Rede. Man kann durch diese von Lucian garantierte Anekdote berichtigen, was W i n k e l m a n n von der Verachtung sagt, in welche die Kunst und der Stand der Künstler in den Zeiten der A n t o n i n e n gefallen seyn soll. ***)

P i n d a r . Das Wort Ioblefarow, welches Lucian hier von ihm borgt, findet sich in keinem

seiner noch vorhandnen Gesänge; es ist aber klar, daß er es in einem der verlohren gegangnen von irgend einer Göttin oder Göttertochter gebraucht haben muß.

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sie s ü ß l ä c h e l n d und w e i ß a r m i c h t , und r o s e n f i n g e r i g , und mit viel größerm Recht als seine B r i s e i d e , g a n z d e r g o l d n e n Ve n u s ä h n l i c h machen. Alles dieses nun, mein Lieber, werden uns Bildner, Mahler und Dichter zu stande bringen. Aber sie die über dies alles emporblüht, die Grazie, oder vielmehr die Grazien soviel ihrer sind, allesammt, und alle um sie her tanzenden Liebesgötter, wer wird diese nachzubilden vermögend seyn? Po l y s t r. Du sprichst von einer ausgemachten Göttin, Lycinus; mich däucht, ich sehe sie aus den Wolken herabsinken, schön wie nur eine Himmelgebohrne seyn kann. *) Aber was that sie, wie du sie sahest? Ly c . Sie hatte ein doppelt aufgerolltes

Buch **)

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in Händen, und schien im

Lesen des einen Theils noch begriffen zu seyn, den andern aber schon gelesen zu haben. Im Fortgehen sprach sie etwas zu einem ihrer Begleiter; aber nicht laut genug, daß ich etwas davon hätte hören können. Aber im Lächeln zeigte sie ihre Zähne — Zähne, o Polystratus — wie werd’ ich dir beschreiben können, wie weiß, wie gleich, wie zierlich zusammengefügt! Hast du jemals ein Halsband von den schönsten und gleichsten Zahlperlen gesehen? So glänzten sie, so waren sie an einander gereyht! Ihre Schönheit wurde durch die Röthe ihrer Lippen noch mehr erhöht. Denn sie glänzten zwischen ihnen hervor wie H o m e r s geschnittnes Elfenbein, ***) nicht die

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einen breiter als die andern, oder hervorstechend, oder auseinanderstehend, wie bey den Meisten; sondern alle von gleicher Form und Farbe, alle gleich groß und gleich an einander stehend; kurz, es war ein wunderschöner und alle menschliche Wohlgestalt übertreffender Anblik! Po l y s t r. Sey ruhig! Ich sehe nun wer die Frau ist von der du sprichst; wenn ich alles was du mir von ihrer Gestalt gesagt hast mit ihrer Vaterstadt zusammennehme, und mit dem Gefolge von Verschnittnen — *)

Man vergleiche mit diesem Bilde die Beschreibung der schönen Fatima in L a d y Wo r t h -

l e y s Briefen, um zu sehen, daß es noch immer Schönheiten giebt, welche zu dergleichen Bildern gesessen zu haben scheinen. **)

Nehmlich, die Eine Rolle war was sie schon gelesen hatte und die andre was noch gar nicht

abgerollt worden. ***)

Eine Anspielung auf die schöne Stelle im 18ten Buche der Odyssee, wo Minerva über die

schlummernde Penelope ambrosialische Schönheit gießt und sie höher und stärker scheinen macht, und weisser als g e s c h n i t t n e s E l f e n b e i n .

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Ly c . O, zum Jupiter, nun besinn ich mich erst, daß auch Soldaten dabey waren. *) Polys tr. Kurz, die Dame, die du glüklicher Sterblicher gesehen hast, ist keine andre als die berühmte Favoritin des Kaysers — **) Ly c . Und ihr Name? Polys tr. Der schönste, lieblichste von der Welt; denn es ist der nemliche, den Xenophon der schönen Gemahlin des Abradates giebt. Du erinnerst dich doch wohl der Abschilderung, die er ( i n d e r C y r o p ä d i e ) von der tugendhaften und schönen P a n t h e a macht? 10

Ly c . O gewiß; und mir ist ich sehe sie vor mir stehen, so oft ich an die Stelle komme, und höre sie reden, was er sie reden läßt, sehe sie wie sie ihren Mann mit eignen Händen wafnet, und mit welcher Entschlossenheit sie ihn von sich läßt, da er in die Schlacht zieht. ***) Polys tr. Aber freylich, mein Bester, hast du, der sie nur ein einzigmal wie einen Blitz vorbeyfahren sah, nichts als was straks in die Augen fällt, ihre äusserliche Gestalt, preiswürdig finden können. Von den Vortreflichkeiten *)

Ich habe diese Worte, nach J o h . M a t t h . G e ß n e r s Meynung, dem Lycinus, dem sie au-

genscheinlich zugehören, zurükgegeben; wiewohl die Handschriften, durch den Verstoß eines einzigen sorglosen Kopisten den alle übrige abgeschrieben haben, den Polystratus ohnunterbro20

chen fortreden lassen. Verbesserungen, die aus Unsinn Sinn machen, sollten, wenn sie gleich von keiner Lesart unterstüzt sind, immer ohne Bedenken in den Text aufgenommen werden. **)

Ich bin genöthigt gewesen, aus Mangel eines andern anständigen Wortes für das sehr de-

cente thn basilei synoysan, das ohnehin durch den Gebrauch längst naturalisierte Wort Favoritin beyzubehalten. Wer übrigens der Kayser gewesen sey, dem diese Smyrnische Panthea ungefehr das gewesen was die Marquisin von Pompadour Ludwig dem XV. war, davon findet sich so wenig als von der Dame selbst, bey keinem Geschichtschreiber noch andern Autor die mindeste Nachricht. Einer von den A n t o n i n e n muß es gewesen seyn; denn die Gründe, womit R e i z beweisen will, daß, unter dem Kayser, Av i d i u s C a s s i u s gemeynt sey, der sich, ungefehr drey Jahre vor Marc-Aurels (oder Antonin. Philosophus) To d e , wiewohl mit kurzdauerndem Erfolg, zum Ge30

genkayser aufgeworfen hatte, sind sehr unzulänglich. Wenn es also einer von den Antoninen war, so ist noch immer am wahrscheinlichsten, daß es Marc-Aurels Bruder und Mitregent L u c i u s Ve r u s gewesen. ***)

Auch hier sey es mir erlaubt, die Leser, welche die C y r o p ä d i e nicht gelesen haben, an

den Aufsaz v o n s c h ö n e n S e e l e n im März 1774 des Te u t s c h . M e r k . S. 310. seqq. und allenfalls an A r a s p e s u n d P a n t h e a , ein Werk meiner Jugend zu erinnern, von welchem ich aber nicht sagen kann, ob es in der leztern Auflage, welche die Herren Orell, Geßner und Comp. in Zürich, o h n e m e i n W i s s e n , von meinen ältern prosaischen Schriften gemacht haben sollen, befindlich ist.

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ihrer Seele sahst du nichts, und weißt nicht, um wieviel diese unsichtbare Schönheit an ihr vorzüglicher und göttlicher ist als die körperliche. Aber ich kann das wissen, da ich so glüklich bin mit ihr bekannt zu seyn, und als ihr Landsmann sie oft und viel zu sprechen Gelegenheit gehabt habe. Du kennst das an mir, daß ich einen sanften, menschenfreundlichen, großmüthigen Charakter, kurz, die Tugenden einer edelmüthigen Sinnesart und die Talente eines durch Erziehung gebildeten Geistes, über alle Schönheit schätze; denn wahrhaftig, diese verdienen den Vorzug vor den körperlichen, und es wäre unvernünftig und lächerlich das Kleid mehr zu bewundern als den Leib. Eine Person aber, in welcher sich die Eigenschaften des Geistes und

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Herzens mit der Wohlgestalt des Leibes beysammen finden, verdient, meines Bedünkens, allein den Preis der vollkommnen Schönheit. Wie viele könnte ich dir zeigen, die zwar gut aussehen, aber durch alles übrige ihre Schönheit beschämen, so daß sie, sobald sie nur den Mund aufthun, sogleich stirbt und dahinwelkt, und durch das schlechte Betragen dieser Personen überwiesen wird, daß sie unverschuldeterweise unter einer schlimmen Gebieterinn stehe. Solche Leute kommen mir vor wie die Egyptischen Tempel, welche an sich selbst ungemein groß und schön, mit kostbaren Steinen bekleidet, und mit Gold und Gemählden ausgeziert sind; gehst du aber hinein und schaust dich nach der Gottheit eines so herrlichen Ortes um, so ists ein

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Affe, oder ein Ibis, oder ein Bock oder eine Katze. Dergleichen Schönen bekömmt man oft genug zu sehen. Es ist also an der Schönheit noch nicht genug, sondern sie selbst bedarf noch anderer Auszierungen; ich meyne nicht Purperkleider und Juwelen, sondern die vorerwähnten Eigenschaften, Verstand, Klugheit, Leutseligkeit, anständiges Betragen, und alles übrige was unter den Begriff der sittlichen Vollkommenheit gehört. Ly c . Wie wär’ es also, lieber Polystratus, wenn du mir Beschreibung um Beschreibung baar zurükgäbest; oder vielmehr, weil du doch reich genug dazu bist, mit Zinsen, indem du mir nun auch ein Bild ihrer Seele vormahltest, damit ich Sie nicht nur zur Hälfte bewundre? Po l y s t r. — — Fortsetzung und Beschluß nächstens. W.

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Lucians Panthea. Fortgesezt. Polystratus. Lycinus.

Poly s tr. Es ist kein geringes, Freund, was du mir auferlegst; denn es ist ein großer Unterschied, von Dingen zu sprechen die in Jedermanns Augen fallen, oder, was nicht gesehen werden kann, dem Verstande sichtbar zu machen. Mir däucht, auch ich werde nicht nur Bildhauer und Mahler sondern sogar die Philosophen zu Hülfe rufen müssen, um mein Bild nach ihren Modellen *) abzuzirklen, und zu zeigen, daß es im ächten a l t e n S t y l gear10

beitet sey. — Um also zur Sache zu schreiten, und bey der Rede anzufangen, so ist die ihrige wohlklingend, fliessend und rein, und jenes Homerische Süßer als Honigseim rinnt von seiner Zunge die Rede

scheint vielmehr von ihr als von dem guten alten N e s t o r gesagt zu seyn. Der ganze Ton und Klang ihrer Stimme **), ist, wie er seyn muß um der anmuthigste zu seyn; weder so tief, daß er ins männliche fällt, noch so dünn und zart, um bis zur Weichlichkeit weiblich zu seyn: sondern wie die Stimme eines noch nicht mannbaren Knabens, lieblich und schmeichelnd und ins Ohr sich einstehlend; so, daß wenn sie auch zu reden aufhört, man sie noch zu hören glaubt, und die lezten Töne noch immer, wie ein sanft ver20

schwebend Echo, die Wölbungen des Ohrs umsäuseln, und gleichsam ho*)

Kanonew — Anspielung auf den berühmten K a n o n des Polykletus, der zum Gesetz und

Modell der folgenden Bildhauer wurde. **)

Shakespear scheint einem schönen Ton der Stimme bey einem Frauenzimmer eben soviel

Werth beygelegt zu haben wie Lucian. Daher läßt er seinen alten König Lear an Cordelia, die er todt in seinen Armen herbeygetragen, noch vorzüglich diese Annehmlichkeit rühmen: — — — Her voice was ever soft Gentle and low; an excellent thing in Woman!

Lucians Panthea. Fortgesezt

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nigsüße und überredungsvolle Spuren ihrer Worte in der Seele zurüklassen. Wenn aber das schöne Geschöpf vollends erst zu singen anfängt, zumal wenn sie zur Cither *) singt; o dann, wahrlich dann ists für die Halcyonen ( E i s v ö g e l ) Grillen und Schwanen Zeit zu schweigen; denn das alles ist unmusikalisch gegen sie; und wenn du mir auch Pandions Tochter nenntest ( d i e N a c h t i g a l l ) auch sie würde, mit allen schönen Wirbeln ihrer vielstimmigen Kehle, nur eine Stümperin gegen Sie seyn: ja, Orpheus und Amphion selbst, welche so große Gewalt über ihre Zuhörer ausübten, daß sie sogar die leblosen Dinge zu ihrem Gesang herbeyzogen, Sie selbst, glaube ich, würden ihre Cithern aus den Händen fallen lassen, und schweigend

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neben ihr stehen und horchen. Denn diese genaue Beobachtung der Harmonie, diese Geschiklichkeit den Rhythmus nie zu überschreiten, diese richtige Mensur und daß die Cither mit dem Gesang immer zusammentrift, und das P l e k t r o n immer mit der Zunge gleiches Zeitmaas beobachtet, **) und die Behendigkeit der Finger, und die anmuthigen Beugungen der *)

Die Kiuara der Griechen, war ein ganz anders und weitvollkommneres Sayteninstrument, als was man izt die Cither (Guitarre) nennt. Ungeachtet der Verschiedenheiten, welche Hr. B ü r e t t e in seiner Abhandl. von der Symphonie der Alten zwischen dieser C i t h a r a und der L y r a angiebt, scheint es doch daß diese beyden Instrumente von den Schriftstellern häufig verwechselt werden. Beyde wurden mit einem Stäbgen von Elfenbein oder hartem Holze gespielt, welches P l e k t r o n genennt wurde.

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**) Ich hoffe, wiewohl diese Stelle keine wörtliche Übersetzung zuzulassen schien, den Sinn derselben nicht verfehlt zu haben. Sollte es aber Jemand, der von der Musik der Alten mehr Kenntniß hat als ich, anders finden, so würde ich Demselben verbunden seyn, wenn er die Güte

haben wollte, mir seine Meynung wie diese Stelle zu übersetzen sey, schriftlich, für den Merkur, mitzutheilen. Sie scheint mir aus einem doppelten Grunde vorzüglich merkwürdig zu seyn, wiewohl ich mich nicht erinnere, daß Hr. B ü r e t t e Gebrauch von ihr gemacht. Einmal, weil daraus klar ist, daß Lucian unter dem Wort H a r m o n i e bloß das r i c h t i g e Tr e f f e n der vorgeschriebnen Töne der M e l o d i e und des Tacts, und das Zusammentreffen mit dem Sayteninstrument (so erkläre ich mir das synvdon ì einai thn kitaran) und also ganz was anders versteht, als was man in der jetzigen Musik die Harmonie nennt; und dann, weil mir die Art, wie er die musikalische Virtù dieser Dame herausstreicht, ein ganz entscheidender Beweis scheint, daß die Musik der Alten, aller wundervollen Würkungen ungeachtet, die man ihr damals zugeschrieben, unendlich weit unter dem war, was unsre großen Meister seit hundert Jahren aus ihr gemacht haben. Izt würde man eine S c h ü l e r i n n ungefehr so loben, wie Lucian eine V i r t u o s i n seiner Zeit lobt. Indessen muß man auch nicht vergessen, daß die Tablatur der griechischen Musik unendlich schwieriger und verwickelter war als die unsrige, und folglich das Verdienst Noten und Rhythmus immer richtig zu t r e f f e n , woraus Lucian soviel Wesens macht, in den Augen eines Mannes, der vielleicht nicht selbst musikalisch war, desto größer scheinen müsse.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang Januar 1781)

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Modulationen. — — Woher sollte dies alles jenem T h r a z i e r , oder d i e s e m ehrlichen B ö o t i e r , der seine Kühe auf dem Cithäron mit seiner Cither amüsierte, gekommen seyn? Du kannst dich also darauf verlassen, lieber Lycinus, daß es dir, wenn du Sie jemals solltest singen hören, nicht nur wie denen ergehen wird, die den Gorgonen zu nahe kamen; sondern daß du auch verstehen lernen wirst, was man von den Syrenen erzählt. Denn ich bin gewiß, du wirst in wollüstigem Entzücken dastehen, wie Ulysses, deines Vaterlands und deiner Anverwandten vergessend; und wenn du die Ohren auch mit Wachs verstopftest, auch durch das Wachs wird der liebliche Ge10

sang sich hindurchschleichen. Du wirst eine Terpsichore oder Melpomene oder Kalliope zu hören glauben, oder wenigstens eine, die von diesen Musen selbst die Gabe empfangen hat, Tausend Zauberreize aller Art in ihrer Kehle zu vereinbaren. Mit Einem Wort, denke dir einen Gesang, wie er seyn muß, um würdig zu seyn aus s o l c h e n Lippen, und durch solche Perlenzähne hervorzugehen. Du hast Sie gesehen; um so leichter wird dirs seyn, dir einzubilden, daß du sie auch hörest. Was übrigens die Richtigkeit und das reine Jonische ihrer Aussprache betrift, und die Behendigkeit ihrer Zunge, und daß sie so voller Attischen Grazien ist, darüber ist sich nicht zu verwundern; denn das ist etwas einheimisches und angebohrnes. Wie sollt

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es anders seyn können, da Sie als Bürgerin von Smyrna *) gewissermaßen eine Athenienserin ist? Auch möchte ich mich darüber eben nicht verwundern, wenn sie die Poesie liebt und sich viel mit ihr unterhält, da sie eine Mitbürgerin des Homerus ist. **) Dies, lieber Lycinus, wäre also das Bild ihrer schönen Stimme, in Rede und Gesang, so gut als eine Stimme, freylich immer mit großem Verlust, geschildert werden kann. Aber eh ich fortfahre, muß ich mir die Freyheit ausbedingen, von deiner mahlerischen Methode, aus vielen Bildern nur Eines zu machen, abgehen zu dürfen. Denn der *)

Smyrna war eine Colonie der Athenienser, deren Stiftung nach F r e r e t s Berechnung in das

Jahr 1114 vor C. G. fällt. 30

**)

Die nächsten zween Perioden im Original sind, die Wahrheit zu sagen, ziemlich platt und

unverständlich ausgedrükt; auch scheint der Grund warum er die Tugenden seiner Dame nicht in Ein Bild vereinigen will (nemlich, weil eine die andre verdunkeln möchte) entweder übel räsonniert, oder wenigstens nicht deutlich genug angegeben. Ich habe mir hier also kein Bedenken gemacht, den Buchstaben des Textes fahren zu lassen, und wie Hagedorns M e l s o n , unbekümmert ob er das würklich gesagt, was ich ihn sagen lasse, mich damit zu beruhigen, daß ers hätte sagen sollen.

Lucians Panthea. Fortgesezt

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Schönheiten, die ich dir zu mahlen habe, sind zu viel und mancherley, als daß ich nicht Gefahr liefe, auf diese Art nur ein verworrnes Ganzes herauszubringen. Ich will also jeder Vollkommenheit ihrer Seele ihr völliges Recht anthun, und von jeder ein besonderes Bild, dem Urbild so ähnlich als mir nur immer möglich seyn wird, darzustellen suchen. Ly cin . Du versprichst mir ja ein rechtes Fest, Polystratus, und das nenn’ ich in der That (wie Hesiodus sagt) nicht nur mit dem nemlichen Maaß sondern noch besser zurükmessen. *) Miß also immer zu; du könntest nichts in der Welt thun, wodurch du mich mehr verbinden würdest. Po l y s t r. Demnach also die Gelehrsamkeit billig an der Spitze aller Vollkom-

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menheiten steht, wenigstens derjenigen, die von der Übung des Verstandes abhangen: wohlan, so laß uns mit d i e s e m Bilde beginnen, welches so manchfaltige und vielartige Schönheiten in sich begreift, daß wir auch in diesem Stücke nicht weit hinter Deiner Bildnerey zurükbleiben werden. Stelle dir’s also vor als mit allen Schätzen des Helikons zusammen begabt; nicht, wie Klio, oder Polyhymnia, oder Kalliope, oder die übrigen Musen, deren jede sich nur auf Eines versteht, sondern daß es die Talente ihrer aller, ja noch die des Merkurs und Apollo’s dazu besitze. Denn was nur jemals Dichter in schöne Verse eingekleidet, oder Geschichtschreiber erzählt, oder Philosophen gelehrt haben, mit dem allen sey unser Bild ausge-

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schmükt; nicht daß es nur leicht damit übertüncht sey, sondern daß es das alles, wie ein reiner gutgefärbter Stoff, tief und bis zur völligen Sättigung in sich gesogen habe. — Übrigens würde mirs zu verzeyhen seyn, wenn ich kein Urbild zu diesem Gemählde zeigen könnte. Denn bey den Alten würde man ein Beyspiel solcher Gelehrsamkeit vergebens suchen. Wie dem auch sey, stellen wir’s immer auf; denn mich dünkt es ist nichts daran auszusetzen. Ly cin . Es ist vollkommen schön, und untadelich. Po l y s t r. Die Reyhe kömmt nun an das Bild der Weisheit und Klugheit. Hierzu werden wir aber viele Vorbilder nöthig haben; die meisten aus dem Alterthum, und Eines auch selbst aus Jonien wie S i e ; und die Mahler und Werkmeister desselben keine geringern als A e s c h i n e s , des Sokrates

*)

Eine Anspielung auf ein Paar Verse in des H e s i o d u s Ergoiw v. 347. 48. Miß dem Nachbar, von dem du geborgt, mit dem nemlichen Maaße Wieder zurük, und, wenn du es kannst, so miß ihm noch besser.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang Januar 1781)

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Freund *) und S o k r a t e s s e l b s t , die größten Meister in dieser Art von Schildereyen, und hier um so mehr, da sie mit L i e b e * * ) mahlten. Ich meyne die berühmte A s p a s i a v o n M i l e t u s , mit welcher jener, selbst so bewundernswürdige, O l y m p i u s * * * ) lebte; — und von welcher, als keinem gemeinen Beyspiel der Klugheit, wir Alles was sie von Erfahrung in Geschäften, u. Einsicht in die Staatsverwaltung, und von Besonnenheit und Scharfsinn besaß, ganz genau in unser Bild übertragen wollen; wiewohl mit vergrößertem Maaßstab, insofern Jene nur auf einem kleinen Täfelchen gemahlt war, Diese aber von Kolossalischer Größe ist. 10

Ly c . Wie meynst du das? Poly s tr. Ich meyne, daß die Bilder, wiewohl sie ähnlich sind, darum nicht auch von gleicher Größe seyen; denn es fehlt viel, daß die damalige Republik von Athen auch nur von ferne mit der gegenwärtigen Römischen Macht in Vergleichung gestellt werden könnte. So daß also d i e s e , ( P a n t h e a ) wiewohl sie der Ähnlichkeit nach die nemliche ist, an Größe doch, als auf eine geräumigere Tafel gemahlt, den Vorzug hat. Das zweyte und dritte Vorbild aber sey jene Pythagorische T h e a n o , und die L e s b i s c h e L i e d e r d i c h t e r i n ( S a p p h o ) und die Sokratische D i o t i m a * * * * ) über beyde. Theano soll ihren großen Sinn, und Sappho die Artigkeit ihrer Sitten

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zu unserm Bilde beytragen; der Diotima aber soll es nicht nur in allem, weswegen Sokrates sie gepriesen hat, sondern auch in ihrer übrigen Klugheit und Rathseligkeit ähnlich seyn. Und so wären wir denn, lieber Lycinus, auch mit d i e s e m Bilde fertig. Ly c . Es verdient, beym Jupiter, alle Bewunderung. Aber nun, däucht mich wär’ es Zeit, mein Freund, daß du auch die Tugenden des Herzens, ihre Güte und Menschenfreundlichkeit, die Leutseligkeit ihrer Sinnesart und ihre Neigung den Nothleidenden zu helfen mahltest. *)

Aeschines hat einen eignen Tractat (vermuthlich einen Dialog) über diese A s p a s i a ge-

schrieben, welche unsern meisten Lesern aus dem IVten Theile des A g a t h o n bekannt genug ist. 30

**)

Bis jemand ein älteres Beyspiel beybringt, wird also Lucian für den Erfinder der Redensart

con amore m a h l e n , gelten können. ***)

Perikles, der diesen Beynahmen von den Komödienschreibern seiner Zeit erhielt. Es sollte

ein S o b r i q u e t seyn: Aber die Nachwelt machte einen Ehrennamen daraus. **** )

Diejenige, von welcher Sokrates, in Platons Gastmal, als seiner Lehrmeisterin in d e r

(sogenannten Platonischen) L i e b e und überhaupt als einer gelehrten Frau und sogar als einer Wahrsagerin spricht.

Lucians Panthea. Fortgesezt

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Po l y s t r. Hierinn sey also jene T h e a n o A n t e n o r s * ) ( G e m a h l i n ) unser Muster, und A r e t e und ihre Tochter N a u s i c a a , und wenn noch eine andre wegen ihrer Mäßigung in glüklichen Umständen Lob verdient hat. Ihre häuslichen Tugenden aber und ihre Keuschheit und Treue gegen den, dem Sie sich zu eigen ergeben hat, abzubilden, wo könnten wir ein vollkommres Vorbild finden als die To c h t e r d e s I k a r i u s ( P e n e l o p e ) die von Homer immer durch diese Tugenden **) charakterisiert wird, oder auch, beym Jupiter, ihre Namensverwandtin, jene vortrefliche G a t t i n d e s A b r a d a t e s , deren wir vorhin schon Erwähnung gethan haben! Ly c . Auch diesem Bilde hast du alle mögliche Schönheit gegeben, lieber Po-

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lystratus, und nun dächt ich könntest du es dabey bewenden lassen; denn ich wüßte nicht was dir an ihrer Seele mehr zu mahlen oder zu loben übrig wäre. Po l y s t r. O noch viel, noch das größte von allem! Ich meyne, daß sie, ungeachtet das Schiksal sie auf diesen hohen Gipfel erhoben hat, weder von ihrem Glücke aufgeblasen ist, noch aus den Grenzen der Menschheit hin*)

Diese Theano ist nicht die oben erwähnte Gemahlin oder Tochter des Pythagoras, sondern

die Homerische Theano, die Gemahlin Antenors, und Minervens Priesterin zu Troja, welche Vater Homer in der Vten Ilias im Vorbeygehen mit Einem einzigen Charakterzug mahlt, der das beste Bild in Lebensgröße werth ist. Es geschieht, da er unter den Erschlagnen auch des P e d ä u s

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erwähnt: Ausser der Ehe gezeugt, doch von der schönen Theano, Ihrem Mann zu Ehren, mit ihren eigenen lieben Kindern erzogen, nicht anders als hätte sie selbst ihn gebohren. Denn dieser drey Verse bedarf es, um im H o l z s c h n i t t einer t e u t s c h e n Ü b e r s e t z u n g (weiter werden wir’s doch mit Homer schwerlich bringen) auszudrücken, was Homer in diesen zween Versen sagt:

ëOw rëa nouow men ehn, pyka dÆ etrefe dia Ueanv Isa filoisi tekessi, xarizomenh poseiÈ vìë . Arete, die Gemahlin des Königs Alcinous, und Nausicaa ihre Tochter sind aus der Odyssee bekannt genug. **)

Auch hier must’ ich (wie öfters) wider Willen u m s c h r e i b e n ; unsre Sprache hat kein

Wort, das den ganzen Umfang der Bedeutung des Worts svfrosynh ausdrükt. Denn die Griechen verbanden mit diesem einzigen Wort den Begriff der Nüchternheit, Keuschheit, Züchtigkeit, Bescheidenheit, Mäßigung im Zorn und überhaupt in allen Begierden, kurz alle Tugenden, die sich auf die Beherrschung der Sinnlichkeit und der Leidenschaften beziehen. Wenn es von Personen des andern Geschlechts gebraucht wird, kann es daher öfters überhaupt durch Tu g e n d , zuweilen aber, wie hier, schiklicher, durch h ä u s l i c h e Tu g e n d e n gegeben werden.

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austritt, gleich als ob sie das, was sie ist, durch ein unverlierbares Naturrecht wäre: sondern sich vollkommen in ihrem vorigen wagerechten Stand’ erhält; nichts unschikliches noch ausschweiffendes beginnt; denen die sich ihr nähern auf den Fuß als ob sie ihresgleichen wären begegnet, ihre Bekannten bey der Hand nimmt und aufs freundlichste grüßt; kurz, in ihrem ganzen Betragen eine Leutseligkeit und Bescheidenheit zeigt, wodurch diejenigen die mit ihr umgehen sich um so mehr geschmeichelt finden, je größer die Person ist, die, anstatt wie die Könige und Helden im Trauerspiel auf K o t h u r n e n einherzuschreiten, sich durch ein so einnehmendes Be10

zeugen mit ihnen in Gleichheit sezt; welches dann gerade das ist, wodurch Personen, die sich eines großen Ansehens und Vermögens nicht zur Hoffart sondern zum Wohlthun bedienen, der Vorzüge, die ihnen das Glük zugetheilt hat, auch von jedermann würdig geachtet werden. Auch sind es diese allein, welche dem Neid entgehen, und von rechtswegen; denn niemand wird denjenigen beneiden, den er in einem hohen Glüksstande sich mäßigen, und nicht, gleich der Homerischen A t e * ) über die Häupter der Menschen einherschreiten und alles was niedriger ist als er zertreten, sieht; wie dies schlechtdenkenden Leuten, aus Unverstand, zu begegnen pflegt, wenn ein unverhoftes Glük sie plötzlich auf seinen geflügelten Luftwagen erhebt.

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Denn da kommen solche Leute auf einmal aus aller vorigen Fassung, schauen nie herab, sondern streben mit Gewalt immer über sich. Aber daher kommt es auch, daß sie, wie jener I k a r u s , wenn ihre wächsernen Flügel auf einmal schmelzen und herunterträufeln, durch ihren Fall in die Wellen anstatt Bedauren zu erwecken, zum Gelächter werden. Diejenigen hingegen, die sich ihrer Flügel wie D ä d a l u s bedienen, und nie vergessen daß sie nur von Wachs sind, sich nicht zu hoch erheben, sondern ihren Flug so wie Menschen gebührt nehmen, zufrieden sich nur eben über den Wellen zu erhalten, doch so daß ihre Flügel immer davon angesprizt und feucht erhalten werden, nicht aber sie immer nur der Sonne allein entgegen zu brei-

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ten: Diese fliegen sicher und ohne Gefahr, weil sie verständig fliegen. Und dies ist was an der Dame, von der wir reden, ganz vorzüglich zu loben ist. Dafür erhält sie aber auch, als die schönste Frucht ihrer Mäßigung, den *)

I l i a s IX. v. 502. Das Homerische Bild hat unter Lucians Händen Kolorit gewonnen, wie

man aus der Vergleichung sehen kann.

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allgemeinen Wunsch, daß ihre Flügel dauerhaft seyn, und immer mehr Glükseligkeiten ihr zuströmen mögen. Ly c . Das gebe der Himmel! denn sie verdient es, da Sie nicht nur, wie H e l e n e , dem Leibe nach schön ist, sondern mit diesen äusserlichen Reizen eine noch schönere und liebenswürdigere Seele dekt. Es gebührte sich aber auch, daß dem großen König, der so mild und gut ist, neben so vielen andern Begünstigungen des Glüks auch diese wiederführe, daß in seinem Reich ein solches Weib gebohren, und für Ihn gebohren würde! Denn ich wüßte kaum was das Glük Einem Bessers geben könnte als die Liebe einer Frau, von der man mit Wahrheit jenes Homerische *) sagen kann: d a ß s i e d e r g o l d n e n

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Ve n u s d i e S c h ö n h e i t s t r e i t i g m a c h e , u n d M i n e r v e n i n We r k e n g l e i c h k o m m e . Denn schwerlich ist unter allen Weibern in der Welt eine (um wieder mit H o m e r zu reden) **) an B i l d u n g , S c h ö n h e i t , Ve r s t a n d u n d We r k e n d e r H ä n d e ,

mit dieser zu vergleichen. Po l y s t r. Du sagst nicht mehr als wahr ist, Lycinus. So mischen wir dann, wenn dir’s beliebt, du das Bild, das du von ihrem Leibe, ich diejenigen, die ich von ihrer Seele entworfen habe, in Eines zusammen, und übergeben es allen zu bewundern, die izt leben, und künftig leben werden. Denn es wird bleibender seyn als alle Werke des Apelles, Parrhasius und Polygnotus; und

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dies um so mehr, da es den Vorzug hat, nicht aus Holz, Wachs und Farben, sondern aus Gedanken, die uns von den Musen eingegeben worden, gebildet zu seyn, und zugleich im schönsten Leib’ auch die schönste Seele darzustellen. W. *)

In der Stelle, wo Achill sagt: Seine Tochter möcht ich nicht freyen, und wenn sie der Schönheit Preis auch Aphroditen, der goldgelokten, bestritte; Wär sie auch kündig der weiblichen Arbeit wie Pallas Athene, Freyt ich sie nicht — I l i a s IX. v. 375. f. nach G r a f S t o l b e r g s Übers.

**)

Il. I. v. 115. nach der S t o l b . Ü b e r s .

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang Januar 1781)

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¼Konrad von Adlerberg und Leonore von Lichtenau. Ein Erziehungsmährchen* )½ *)

Es sind schon Jahr und Tag verflossen, seit der H. bey Gelegenheit der von

einem übellaunigen Ungenannten eingereichten Petition, „ d a ß d o c h , a n s t a t t d e r f r i v o l e n M ä h r c h e n (Pervonte, Schach-Lolo u. s. w.) w o m i t d e r T. M. e r n s t h a f t e n L e s e r n E k e l u n d G ä h n e n z u b e r e i t e , h ü b s c h e A b h a n d l u n g e n ü b e r d a s E r z i e h u n g s w e s e n (als woran wir bekanntermaßen so großen Mangel leiden wie die alten Athenienser an Nacht10

eulen) e i n g e r ü k t w e r d e n m ö c h t e n “ — sich gutherzigerweise zu einem Erziehungs-Mährchen anheischig gemacht hat. Da nun gegenwärtige Erzählung, wegen der wichtigen Lehren so sich Gouverneurs und Gouvernannten daraus abziehen können, ganz füglich die Stelle eines Erziehungsmährchens vertreten kann: so bittet der H. den geneigten Leser damit einstweilen vorlieb zu nehmen; zumal, da die Fortsetzung des, ohne Schuld des Verf. und Herausgebers, unterbrochnen D o r f p h i l a n t h r o p i n s , erst im künftigen Monat erscheinen kann. Daß übrigens dieses Stük nicht von eignem Gewächse ist, thut nichts zur Sache; genug daß es unterhaltend, lehrreich und den meisten Lesern so neu ist, als ob es aus dem Ethiopischen übersezt wäre. Weil der H. in

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ganz gleichgültigen Dingen sich recht gerne, wo es nur irgend schiklich ist, nach dem herrschenden Geschmak richten mag: so hat man nicht ermangeln wollen, die Scene in einen der vordern Kreise des T. Reichs zu verlegen, und den Personen teutsche Namen zu geben. Die Übersetzung ist dadurch überhaupt etwas frey geworden; jedoch will man nicht dafür stehen, daß das Costüme des XV. Jahrhunderts viel genauer darinn beobachtet sey, als in den meisten unsrer aus teutschem Saamen gezognen neuesten Trauerspielen. Auch ist dies, wie bekannt, weder in Mährchen noch Trauerspielen, zu Erreichung des Endzweks schlechterdings nöthig. Übrigens wolle niemand an dem einfältigen Worte Mährchen Ärgernis nehmen, und um dessentwillen schlech-

¼Anmerkung 1 zu Michaelis?½ K o n r a d v o n A d l e r b e r g

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ter von der Sache denken. Denn, in so ferne nur mutato nomine de Te fabula narratur, so thut eine nicht garantierte Erzählung eben so gute Dienste als ob sie von zehn Zeugen beschworen wäre.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang Dezember 1780)

Auszüge aus den Melanges tirés d’une grande Bibliotheque. Der Herr M a r q u i s d e P a u l m y , ehemaliger Französischer Staatsminister, ist der Besitzer einer der größten und reichsten Büchersammlungen, die jemals ein Privatmann zusammengebracht hat. Er besizt sie aber nicht wie etwa ein alter morgenländischer Monarch seinen H a r e m ; er weiß sie auch zu genießen. Sie ist der Kreis seiner liebsten Beschäftigungen, und die Quelle seines angenehmsten Zeitvertreibs; kurz er lebt und webt in seinen Büchersälen. Unter der Menge von kostbaren und seltnen Büchern und Handschrif10

ten, womit sie prangen, sind wo nicht die kostbarsten, doch gewiß die seltensten in ihrer Art, eine erstaunliche Anzahl geschriebner Hefte von seiner eignen Hand, welche die Beweise enthalten, wie lange und genau er mit seinen litterarischen Schätzen bekannt sey. Diese Hefte enthalten vornemlich Auszüge aus seltnen und interessanten Werken, und Nachrichten von einer Menge von Büchern, die, nach Hrn. Dorville’s Versicherung, der Aufmerksamkeit und Nachforschung der berühmtesten Bibliographen entgangen sind. Sie breiten sich über alle Zweige der Gelehrsamkeit, hauptsächlich aber über die sogenannten Belles-Lettres, über die Geschichte überhaupt, und besonders über die Litterärgeschichte aus; und sind so zahlreich, daß besagter Herr

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Contant d’Orville (dem der Herr Marquis de P. erlaubt hat, diese verborgnen Schätze nach und nach den Liebhabern der Litteratur durch öffentlichen Druk mitzutheilen) versichert: sie böten ihm, bey bloßer Auswahl des besten, Materialien genug dar, um unter dem Titel Melanges oder M i s c e l l a n i e n , 24 große Octavbände anzufüllen. Jeder Band wird, der Ordnung nach, mit einem Buchstaben des Alphabets bezeichnet, und es sind, seit dem vorigen Jahre bis izt, bereits acht Bände, von A bis zu H erschienen, welche die Erkenntlichkeit des Französischen Publicums gegen den edeln und gelehrten Besitzer dieser Bibliothek vollkommen rechtfertigen.

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Von diesem weitschüchtigen Werke gedenken wir nun nach und nach Auszüge zu liefern, dessen, was uns in jedem Bande am geschiktesten scheinen

Auszüge aus den Melanges

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wird, den größern Theil unsrer Leser auf eine angenehme und — wenigstens nach unserm Begriff vom Nüzlichen — nicht unnüzliche Weise zu unterhalten; und wir hoffen uns ihnen durch diese Arbeit um so mehr gefällig zu machen, da vermuthlich nur die Wenigsten unter ihnen Gelegenheit und Willen haben werden, sich diese weitläuffige Compilation selbst anzuschaffen. * * * Der erste Band oder der Buchstabe A dieser Melanges besteht aus einem einzigen großen Memoire des Hrn. Marq. von P** a n e i n e D a m e , enthaltend einen Vorschlag zu einer historischen Bibliothek zum Gebrauch der Damen, oder einen räsonnierten Katalog aller Bücher, welche nöthig sind um

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einen vollständigen Curs der Geschichte, in französischer Sprache, zu machen; nebst zwoo Beylagen von Auszügen aus einem Paar merkwürdiger Urkunden des dreyzehnten Jahrhunderts. Der Herr Marquis will die Dame, zu deren Wegweiser im Studio der Geschichte er sich anbietet, gründlich anführen. Er verschont sie zwar, wie billig, mit der fürchterlichen Galeerenarbeit, alle Bücher, die in einer g r o ß e n Bibliothek die historischen Fächer ausfüllen, durch zu lesen; zumal die gute Dame wenigstens die Lebenslänge der Cumäischen Sybille nöthig haben würde, um damit fertig zu werden, und sich alsdann gleichwohl noch ein neues Leben à conto nuovo ausbitten müßte, um nun auch von ihrer so sauer erworbenen Weisheit einigen Gebrauch zu ma-

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chen: aber er erlaubt ihr doch nicht, nach Art und Weise der meisten Gens du Monde und besonders der Damen, alles ohne Wahl und Ordnung unter und über einander wegzulesen; und sich dann einzubilden, daß ihnen dies nun ein vollständiges Recht gebe, von Geographie und Weltgeschichte, vom Ursprung, Dauer und Fall der Völker und Reiche, von ihren Kriegen, ihrer Stärke und Schwäche, ihren Verfassungen, Gesetzen, Sitten und Gebräuchen u. s. w. in Gesellschaften mit entscheidendem Ton zu sprechen, und sich dadurch in den Ruf vorzüglicher Kenntnisse und Einsichten zu setzen. Er giebt also seiner Dame nicht nur den Leitfaden in die Hand, der sie sicher durch den ungeheuren und verworrenen Labyrinth der Geschichte des menschlichen Geschlechts leiten könne: sondern nennt und charakterisiert ihr auch, der Ordnung nach, alle die allgemeinen und besondern historischen Werke, Memoiren, Lebensbeschreibungen und Anekdoten aus allen Zweigen der Geschichtkunde, und von allen Völkern und Zeiten, welche sie würklich lesen

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang Dezember 1780)

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soll. Diese machen nun freylich nur eine mäßige Lectüre aus in Vergleichung mit derjenigen die der Abbe L e n g l e t d u F r e s n o y in seiner Methode pour etudier l’Histoire, (wiewohl nicht den Damen) vorschlägt: gleichwohl beträgt dies Verzeichnis noch immer mehr als 520 Werke, und überhaupt etliche tausend Bände in Quart, Octav und Duodez; und wenn man bedenkt, daß einer Parisischen Dame (man müßte denn nur eine Leidenschaft für die Geschichtskunde bey ihr voraussetzen, welche alle andre kleine Leidenschaften für Gesellschaft, öffentliche und Privat-Schauspiele, Soupees, Kartenspiel, Bal, Colisee, Vaux-Hall, Boulevards, Concert Spirituel etc. etc. die geheimen Her10

zensangelegenheiten, den Putz und den Schlaf nicht zu vergessen, zu verdrängen fähig wäre) ich sage, wenn man bedenkt, daß einer Parisischen Dame, die der Welt noch nicht abgesagt hat, zu diesem historischen Studio nicht viel mehr Zeit übrig bleibt als diejenige wo sie unter den Händen des Friseurs ist — denn die täglichen, wöchentlichen und monatlichen Feuilles, Journale, und die Brochures du Jour, wollen doch auch überlesen oder wenigstens durchblättert seyn: so hat man immer Mühe zu begreiffen, wie das Leben einer Dame, — wenn sie auch in einem Alter zu lesen anfienge, wo z. Ex. F l e u r y’ s Kirchengeschichte in 20 Bänden, oder des P e r e L a f i t e a u s Geschichte der Bulle Unigenitus nicht halb so anlockend sind als die Historie des

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Prinzen T i t i und der Princeßin B i b i — zureichen sollte, mit einem so weitläuftigen Cours d’Histoire glüklich zu Ende zu kommen. Doch, wie dem auch seyn mag, die Anzahl der teutschen Damen, die sich der Hülfe des Hrn. M. D. P. zu Anlegung einer historischen Handbibliothek vielleicht bedienen möchten, ist zur Zeit noch so klein, daß man sicher darauf rechnen kann, diese wenigen werden den Anfang damit machen, sich den Katalogen des Hrn. Marquis selbst anzuschaffen; und wir überheben uns also um so eher mehr davon zu sagen, als die Werke, wovon die Rede ist, selbst, größtentheils sehr bekannt, die Urtheile des Hrn. von P. aber nicht immer die zuverläßigsten, und oft ein wenig cavalierisch, wie man zu sagen pflegt, aus-

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gesprochen sind. So sagt er z. Ex. von K ä m p f e r s Beschreibung des Japanischen Reichs, sie sey trocken und gehe zu sehr ins kleine, wiewohl er gesteht daß sie in einigen Stücken c ü r i ö s und sehr schäzbar sey. Überhaupt bedient er sich des curieux, fort curieux, tout à fait curieux, sehr häufig, um Bücher zu characterisiren, die er zum Lesen empfehlen will; wir gestehen aber, daß wir keinen bestimmten Begriff damit zu verbinden wissen, wenn er z. Ex. von

Auszüge aus den Melanges

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des Abbe I r a i l Geschichte der Vereinigung von Bretagne mit der Krone Frankreich weiter nichts sagt, als: curieuse. Im Vorbeygehen bemerken wir nur noch, daß er von unsers verdienstvollen Hrn. D. Büschings Erdbeschreibung mit ganz besonderer Hochachtung spricht; und bey Gelegenheit der teutschen Geschichte aufrichtig gesteht, daß es der Französischen Litteratur an einem guten Original-Werke in diesem Fache noch gänzlich mangle. Wenn man bedenkt wie nahe Nachbarn beyde Nationen sind, und wie viel sie, seit Jahrhunderten, wiewohl fast immer zu Teutschlands Unglük, mit einander zu thun gehabt haben: so ist würklich nichts seltsamers als die äusserst gleichgültige Unwissenheit der meisten französischen G e l e h r t e n in unsrer Ver-

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fassung, Geschichte, Sprache und Litteratur, die so völlig das Ansehen hat, als scheine es ihnen nicht der Mühe werth, von Teutschland nur so gut unterrichtet zu seyn als sie es von Lapland oder Kamtschatka sind. Noch ganz neulich hat sich ein berühmter Schriftsteller in einem Werke, wo die Natur seiner Untersuchungen und Behauptungen nothwendig einige Bekanntschaft mit den nordischen Sprachen voraussezte, *) nicht geschämt, auf eine sehr handgreifliche Art zu verrathen, daß das Wort B e r g das einzige teutsche Wort ist, von dem er weiß was es auf Französisch heißt. Nun auch etwas von den beyden Auszügen, welche Hr. v. P. seinem Catalogue raisonné beygefügt hat!

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Der erste ist aus V i l l e h a r d o u i n s Geschichte der Eroberung von Konstantinopel **) durch die zum vierten Kreuzzug verbundenen Franzosen und Venetianer, unter Anführung des 90jährigen tapfern und schlauen D o g e H e i n r i c h D a n d o l o , des Grafen B a l d u i n v o n F l a n d e r n , und des Marggrafen B o n i f a z v o n M o n t f e r r a t . Er enthält zwar keine historischen Umstände, die wir nicht, z. B. aus M e u s e l s Geschichte von Frankreich, oder dem Auszug derselben in der Gebauerschen Allgemein. Welthistorie (XVI. B. S. 468. u. f.) unendlichmal besser lernen könnten: doch ist es dem Menschenforscher angenehm, den ehrlichen M a r s c h a l l v o n V i l l e h a r d o u i n , der selbst einer der obersten und tapfersten Anführer bey dieser wunderbaren Expedition war, in seiner barbarischen Sprache, und noch barbarischern Vor-

*) **)

Mr. Bailly in seinen Lettres sur l’Atlantide. D ü C a n g e hat sie mit historischen Anmerkungen und einem Glossario im J. 1657. in

einem Folianten herausgegeben.

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stellungsart, von diesen Auftritten, welche in der ganzen Geschichte der Menschheit schwerlich ihres gleichen haben, in eigner Person reden zu hören. Der gute Mann war eine seltsame Composition von einem äusserst unwissenden, aber braven, nichts scheuenden, loyalen Rittersmann, von einem, nach damaliger Art orthodox-aberglaubischen stokdumpfen Christen, und von einem ganz nahe an Cannibalische Wildheit angrenzenden Altfranken. Doch in allem diesem hat er nichts besonders; das waren die übrigen ritterlichen Herren, die sich zu diesem Kreuzzug verbunden hatten, allesammt so gut als er. Vermuthlich würden sie auch keine bessere Geschichtschreiber 10

abgegeben haben; denn platters kann man sich schlechterdings nichts denken als seine Manier zu erzählen. Die französische Sprache war freylich im 12ten und 13ten Jahrhundert noch sehr plump, ungelenkig und ungeschliffen; indessen war’s doch die nemliche, in welcher König Thibaut seine lieblichen naiven Minnelieder sang, und so viele andre Dichter die artigsten Lays und Fabliaux machten. Gottfried von Villehardouins Sprache ist also weniger die Sprache seiner Zeit als seines Standes; die Sprache eines Mannes der weder reden noch schreiben gelernt hat, und keine andre Werkzeuge zu führen weiß als seine Lanze und seinen Degen. Aber das was ihn demungeachtet interessanter macht als

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den zierlichsten Schönschreiber, ist d i e Vo r s t e l l u n g s a r t e i n e s E d e l m a n n s a u s d e r w ü r k l i c h e n R i t t e r z e i t , der, unbekümmert um die geheimern und politischen Springfedern der Weltbegebenheiten, und so unwissend als sein Reitknecht in der Geschichte und Geographie seiner Zeit, den ganzen Erdboden für nichts als einen großen Tu m m e l p l a z ansieht; von einer Staatsrevolution im Morgenländischen Kayserreich nur wie von einem g u t e n A b e n t e u e r spricht; nicht einmal den Namen des Fürsten weiß, für den er Leib und Leben wagt; und auf Ansuchen eines unbekannten Menschen, der sich für einen Kayserssohn ausgiebt, nach Constantinopel zieht, um einen Kayser zu dethronisiren, wie Lanzelot oder Parzifal auf Ersuchen eines fuß-

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fälligen Fräuleins ausreiten, irgend einen ungeschlachten Riesen oder Heyden in seinem Schloßhof aus dem Sattel zu werfen. — Vielleicht ist es einigen unsrer Leser angenehm, wenn wir ihnen ein Paar kleine Capitel von den 257, woraus das ganze Werk besteht, zur Probe vorlegen.

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Das XXXV. Kapitel. *)

Or oiez une des plus grant merveilles et des greignors aventures que vos

onques oissiez al cel tems. Or ( f u t ) un Empereor en Constantinoble, qui avoit nom Sursac ( I s a a c A n g e l u s ) et si avoit un Frere qui avoit a nom Alexis, qui il avoit rachaté de prison de Turs. Icil Alexis si prist son frere Empereor, si li traist les iaulz ( y e u x ) de la teste et se fist Empereor. En tel raison com vos avez oi. En si le tint longuement en prison et un suen fil qui avoit nom Alexis. Ici filz si eschappa de la prison et si s’enfui en un vassel trosque à une cité sour mer qui eut nom Ancone. Enki s’en alla al Roi Phelippe d’Alemaigne, qui avoit sa seor à fame, si vint a Verone en Lombardie et

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herberja en la ville et trova des Pelerins assez qui s’en alloient en l’ost; et cil qui l’avoient aidié a ˆ s’eschapper, qui etoient li distrent: Sire, veez ci un Ost en *)

„Nun höret eine von den größten Wundergeschichten und besten Abentheuern die ihr je

gehört habt zu dieser Zeit. Denn da war ein Kayser in Constantinobel, nahmens Sursac (Isaac) und der hatte einen Bruder, hieß Alexis, den er gelößt hatte aus der Gefangenschaft der Türken. Dieser Alexis fieng seinen Bruder den Kayser, riß ihm die Augen aus dem Kopf, und machte sich zum Kayser, solchermaßen wie ihr eben gehört habt. Und so hielt er ihn lang im Gefängnis und seinen Sohn, dessen Nahmen was Alexis. Dieser Sohn entwischte aus dem Gefängnis, und entfloh in einem Nef bis zu einer Stadt am Meer deren Nahme was Ancona. Von dorten gieng er zum König Phelipp von Allemannien, der seine Schwester zum Weibe hatte, kam dann nach Verona in der

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Lombardey, und herbergete in der Stadt, und fand der Pilgramme nicht wenig, die zum Heer ( d e r K r e u z f a h r e r ) zogen; und die Männer die ihm geholfen hatten aus dem Gefängnis waren da und sagten zu ihm: Sire, seht da ein Kriegsheer zu Venedig, nicht weit von uns, aus den besten Rittern in der Welt, die über Meer ziehen. Demnach ruffet sie um Hülf an, daß sie Mitleiden haben mit dir und deinem Vater, die ihr mit solcher Unbild enterbt worden seyd; und wenn sie dir helfen wollten, so solltest du thun alles was sie dir sagen würden. Da faßte er wieder Muth, und sagte, er wollte es recht gern thun, und der Rath sey gut.“ Das CCXXXII. Kapitel. „Und die übrigen, die in der Stadt zerstreut waren, erbeuteten fast viel, und war die Beute die da gemacht ward so groß, daß niemand aussprechen konnte die Menge Goldes und Silbers und Silber-Geschirrs und Edelgesteins, und Sammet und seidne Kleider, und Röcke von feinem Grauwerk und Hermelin, und alle die köstlichen Sachen, die je auf Erden gefunden worden. Und dies bezeuget hiemit Gottfriede von Villeharduin, der Marschalk von Schampagne, wissentliche wie es denn die Wahrheit ist, daß seitdem die Welt erschaffen worden, keine so große Beute gemacht worden ist in keiner Stadt.“

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Venise prés de nos, des meillors Chevaliers del monde, qui vont oltre mer. Quar lor criez merci, que il aient de toi pitié et de ton pere, qui à tel tort i estes deserité; et se il te voloient aidier, tu feras quanque ils deviseront. Lors espoir en prendrai et il dit que il fera mult volentiers, et que cist conseils est bons.

Das CCXXXII. Kapitel. Plünderung von Konstantinopel. Et les autres gens qui furent espandus parmi la ville gaaignirent affez et fu si granz la gaaiez fait, que nus ne vos en sauroit dire la fin, d’or et d’argent et de vassellement et de pierres precieuses et de samiz et de dras de soie et de 10

robes vaires et grises et hermines et tos les chiers avoirs qui onques furent trové en terre. Et bien tesmoigne Joffroi de Villehardoin li Marschaus de Champaigne, a son escient por la verité, que puis que li siecles fu estorez ne fu si tant gaaigné en un ville. Die Beschreibung der viehischen Unthaten, die diese mit dem heil. Kreuz gezeichneten frommen (sich so nennenden) Christen bey dieser Plünderung und Verwüstung der Hauptstadt der Morgenländischen Christenheit, verübten, macht einem die Haare zu Berge stehen, wiewohl man sich nichts kaltblütigers denken kann, als die Gelassenheit womit Villehardouin davon spricht. Dafür aber hatten die wackern Leute auch vorher gar andächtig ge-

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beichtet und communiziert, und glaubten durch diese nemliche Eroberung der Stadt Konstantinopel, die in ihren Augen bloß eine rechtmäßige Bestrafung des mörderischen und unrechtmäßigen Besitzers M u r z u f l u s war, ein Gott wohlgefälliges Werk zu verrichten, und den herrlichen trostvollen Ablas zu gewinnen, den ihnen P. Bonifaz III. zu diesem Ende reichlich übermacht hatte. Aber das allertollste, und was die unbegreifliche Barbarey dieser Zeiten am stärksten bezeichnet, ist dies: daß diese Plünderung von Konstantinopel nicht etwa eine unvorgesehene Folge der unaufhaltbaren Wuth des Kriegsvolks, sondern eine unter den Heerführern selbst wohl überlegte und abgeredete Sache war; und daß sie vorher einen förmlichen Theilungstractat unter

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einander geschlossen, vermöge dessen einer von ihnen das Kayserthum und

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⅔ von Konstantinopel, die Venetianer *) das übrige drittel der Stadt und ungefehr das beste drittel des Reichs haben, das übrige unter gewissen Bedingungen zwischen den andern Interessenten und dem neuen Kayser, die in der Stadt selbst gemachte Beute aber unter allen zu gleichen Theilen getheilt werden sollte. Auch hielten sie als ächte Biedermänner so scharf über diesem Vertrag, daß der Graf von St. Pol einen von seinen Rittern, der etwas von der Beute zurükbehalten, ohne weiters aufhängen ließ. Denn damals hatte der Adel das Vorrecht, n i c h t g e h a n g e n w e r d e n z u d ü r f e n , noch nicht erlangt; und der ganze Vorzug, dessen sich ein Ritter in solchem Falle von einem Villain zu erfreuen hatte, war daß er zum Zeichen seines ehrenvollen Standes,

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m i t d e m S c h i l d a m H a l s aufgeknüpft wurde. * * * Die zwote Beylage zu der historischen Damenbibliothek, ist ein Auszug aus des J o h a n n , S i r e v o n J o i n v i l l e Lebensbeschreibung des h e i l . L u d w i g s — die den Geschichtschreibern als Q u e l l e , aber doch wohl den wenigsten Gelehrten aus dem Original bekannt ist. Dieser Sire von Joinville stellte zu seiner Zeit einen ziemlich großen Herrn in Champagne vor, wovon er S e n e s c h a l war. Sein Urgroßvater war ein Neffe G o t t f r i e d s v o n B o u i l l o n , und er selbst war, von seiner Mutter her, mit Kayser Friedrich II. verwandt. Er widmete sich dem König Ludwig IX. aus

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Neigung, war sein Kämerer, begleitete ihn auf seinem Kreuzzug nach Palästina, überlebte ihn aber beynahe um 50 Jahre, indem er erst unter Philipp dem Langen im Jahr 1318. mehr als 90 Jahre alt, verstarb. Die lezte Erbtochter seiner Descendenz Margareta von Joinville, Gräfin von Vaudemont, vermählte sich mit Ferri von Lothringen, Herrn von Guise, von welchem die in Frankreich etablierte Prinzen von Lothringen-Guise und Elbeuf abstamten. Die Herrschaft Joinville, welche schon im J. 1522. zu einem Fürstenthum erhoben wurde, hat dermalen der Herzog von Orleans im Besiz, in dessen Haus sie durch eine Prinzessin von Guise gekommen ist. Man hat keine Ausgabe dieses Werkes des Sire von Joinville, worinn die Sprache der Originalhandschrift unverändert beybehalten wäre; wiewohl *)

Die einzigen, die im ganzen Handel nicht dupe waren, oder vielmehr die ehrlichen Franken

dabey an der Nase zogen.

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man sich bey der neuesten Ausgabe älterer Handschriften bedient hat, als bey den vorhergehenden. Es ist in zwey Theile abgetheilt, wovon der erste und kürzeste bloß einige einzelne erbauliche Züge und Anekdoten den heil. Ludwig betreffend, der andere aber seine Geschichte, von seiner Volljährigkeit an bis an seinen Tod, und hauptsächlich von dem Kreuzzug, den der Verf. selbst mitgemacht, enthält. Da die Frömmigkeit und andre löbliche Tugenden dieses guten Königs, der die Ehre der Apotheosierung, auch als König, wenigstens so gut verdient hat, als der Beste von den römischen A u g u s t e n , bekannt genug sind: so wird es vielleicht für unsre Leser unterhaltender seyn, wenn 10

wir uns begnügen einige Anekdoten auszuziehen, die den Geist, die Sitten und die Vorstellungsart der damaligen Zeiten mit starken Zügen zeichnen. 1. Das folgende Geschichtchen erzählt der Sire de Joinville aus seines guten Königs eignem Munde. Es wurde einst in der Abtey zu Clügny (deren Abt damals nebst dem zu St. Denys einer der mächtigsten Baronen des Reichs war) eine große öffentliche Disputation zwischen einigen Mönchen und einigen gelehrten Juden angestellt. Unter andern Zuhörern, welche die Neugier herbeygerufen hatte, befand sich auch ein guter Ritter aus König Ludwigs des VII. Zeiten, der sich vor hohem Alter und Unvermögenheit auf einen Krückenstok lehnte, und an der Art wie man bey dieser Disputation zu Werke gieng, kein

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sonderliches Wohlgefallen zu tragen schien. Er hörte eine Weile um so ungeduldiger zu, je weniger er, allem Ansehen nach, davon verstehen konnte; als es ihm aber zu lange währte, bat er den Abt um Erlaubnis, auch ein Wort sprechen zu dürfen; und da er solche erhalten, sagte er: man sollte ihm von diesen Juden denjenigen der für den Gelehrtesten unter ihnen passierte herbringen, und schwur bey seinen Ritterlichen Ehren und Treuen, er wollte ihn bald zur Räson bringen. Der Jude kam herbey, und der Ritter legte ihm gar höflich folgende Fragen vor: „Meister, glaubt ihr an die heilige Jungfrau, die unsern Herrn Jesum Christ erst unter ihrem Herzen und hernach auf ihren Armen getragen, und daß sie ihn als Jungfrau gebohren hat, und daß sie die Mutter

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Gottes ist?“ — Der Jude, wie leicht zu erachten, antwortete hierauf: daß er dies alles n i c h t glaube. Was? sagte der alte Ritter, indem er seinen Krückenstok aufhub; du glaubst es Nicht? Ich will dich glauben lehren! Und damit schlug er den Juden so derb über die Ohren, daß ihm Hören und Sehen vergieng. Wie die übrigen Juden sahen, daß die Disputation einen solchen Schwung nahm, lieffen sie hinzu, luden den Rabbiner mit einem tüchtigen Loch im Kopf auf

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ihre Schultern, und lieffen davon; so daß der theologische Kampf zwischen den Mönchen und Juden auf einmal ein Ende hatte. Da trat der Abt zum alten Ritter und sprach: Sire, ihr habt da eine Thorheit begangen, daß ihr so zugeschlagen habt! „ E y w a s , antwortete der Ritter, i h r h a b t e i n e n o c h g r ö s sere begangen, daß ihr eine solche Disputation angestellt.“ — Die Art des alten Ritters seine Religionsgegner zu überzeugen, war freylich ziemlich Ritter- oder, wenn man lieber will, ein wenig Pferdemäßig; aber in seiner kurzen Antwort ist doch mehr Sinn, als in des Abts von Clügny ganzer feyerlicher Disputationshandlung. 2. Heinrich Graf von Champagne, der Großvater des berühmten Königs

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T h i b a u t v o n N a v a r r a , wurde wegen seiner Freygebigkeit le Large zubenahmst; und würklich hatte der gute Fürst so schöne Kirchen und Klöster gestiftet, und mit allen Arten von Würkungen seiner Gutherzigkeit und Neigung zum Verschenken seine Schätze so erschöpft, daß ihm endlich nichts mehr zu geben übrig blieb. Er hatte einen Secretär oder Maitre Clerc, wie man damals sagte, Namens A r t h a u d v o n N o g e n t , der von Geburt ein Villain (d. i. vom Bauernstande) und sogar ein L e i b e i g n e r seines Fürsten war. Da er diesen Secretär vorzüglich liebte, so nahm sich dieser zuweilen die Freyheit, seinem Herrn wegen seiner übermäßigen Freygebigkeit nachdrückliche, wiewohl immer fruchtlose, Vorstellungen zu thun. Eines Tages, da der Graf aus

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der Kirche gieng, warf sich ihm ein armer Ritter zu Füßen, und rief mit lauter Stimme und weinenden Augen: Sire Comte, ich bitte Euch um Gottes willen, wollet so gnädig seyn, und mir soviel geben, daß ich meine beyde Töchter, die ihr da sehet, ausstatten könne; denn ich vermag’s nicht aus eignen Mitteln. Arthaud von Nogent, der hinter dem Grafen stund, sprach zum Ritter: Sire, ihr thut unrecht, daß ihr meinem gnädigen Herrn was abbetteln wollt; denn er hat bereits so viel verschenkt, daß er nichts mehr zu verschenken hat. Der Graf, der dies hörte, drehte sich mit zornigem Gesichte gegen Arthaud um, und sprach: Sire Villain, ihr spart die Wahrheit, wenn ihr sagt ich habe nichts mehr zu verschenken; denn ich habe wenigstens Euch noch, und schenk’ euch hiemit dem Ritter. Da, Herr Ritter, nehmet ihn hin, er soll euch geschenkt seyn, und ich leiste euch die Gewähr für ihn. Der arme Ritter pakte so fort Meister Arthauden beym Wamms, mit der Versicherung, er würde ihn nicht loß lassen, bis er sich freygekauft hätte; und so mußte sich der gute Clerc gefallen lassen dem Ritter für seine Freyheit

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Fünfhundert Pfund zu bezahlen; eine Summe, die nach damaligem Gelde, und nach damaliger Art zu leben, mehr als hinlänglich war, ein Paar mannbare Ritterstöchter mit Ehren unter die Haube zu bringen. 3. Aus der Geschichte ist bekannt daß Margareta von Provence, König Ludwigs Gemahlin, ihren Gemahl auf seinem unglüklichen Kreuzzug nach Palästina begleitete; wo gleich Anfangs der tapfere Graf von Artois, sein Bruder, das Leben verlohr, und er selbst bald darauf in die Gefangenschaft des Egyptischen Sultans Turan-Schah gerieth. Die Königin hielt sich damals zu Damiette auf, wo sie, wenige Tage, nach erhaltner Nachricht von der Gefangenschaft 10

des Königs, von einem Prinzen entbunden wurde, der den Namen Johann, und wegen der traurigen Umstände, unter denen er gebohren wurde, den Beynamen Tr i s t a n erhielt; einen Namen, den der Roman Tr i s t a n v o n L e o n n o i s damals berühmt machte. Als die Königin das Unglük ihres Gemahls erfuhr, gerieth sie (um die Anekdote soviel möglich mit Joinville’s eignen Worten zu erzählen) in eine so heftige Unruhe an Leib und Gemüth, daß ihr auch bey Nacht im Schlaf immer vorkam, sie sehe die Kammer voller Saracenen die sie erwürgen wollten; Und schrie unaufhörlich: Hülfe, Hülfe! wo doch keine Seele bey ihr war, als ein alter mehr als vier und achtzigjähriger Ritter, der aus Furcht, daß ihrer Leibesfrucht kein Unfall zustoße, die ganze Nacht am Fuß

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ihres Bettes wachen muste. Und so oft die Königin schrie, hielt er sie bey den Händen, und sagte: Madame, beruhigt euch, es ist niemand da als ich, fürchtet nichts! Und kurz zuvor eh die gute Dame niederkam, hieß sie alle Anwesenden aus der Kammer gehen, außer dem besagten alten Ritter. Da fiel die Königin auf die Kniee vor ihm und bat ihn, daß er ihr d i e G a b e verwilligen möchte, um die sie ihn bitten würde; und der Ritter sagte ihrs zu bey seinem Eyd. Da sprach zu ihm die Königin: Herr Ritter, ich bitte euch, bey der eydlichen Zusage die ihr mir gethan habt, w e n n d i e S a r a c e n e n d i e s e S t a d t e i n nehmen, daß ihr mir den Kopf abschlaget, eh sie mich in ihre G e w a l t b e k o m m e n k ö n n e n . Und der Ritter antwortete ihr: „er woll’ es

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willig und gerne thun, und sey ihm schon selbst in die Gedanken gekommen, es so zu machen, wenn sich der Fall begeben sollte.“ Züge von dieser Stärke, die in den h i s t o r i s c h e n Urkunden dieser Zeiten nicht selten sind, beweisen, daß die Verfasser der alten Ritterromane die edeln Gesinnungen, so sie ihrem Helden und Heldinnen geben, nicht aus der Luft gegriffen. Überhaupt läßt sich wohl, zur Ehre der Menschheit, zuversichtlich behaupten, daß kein

Auszüge aus den Melanges

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Dichter fähig ist eine so schöne Gesinnung oder Handlung zu ersinnen, die nicht eine würkliche Person irgendwo würklich gehabt oder gethan hätte. 4. Izt nur noch einen Zug der erstaunlichen Dumpfheit, und Leichtglaubigkeit der damaligen bravsten Leute. Joinville spricht vom N i l , dessen sonderbare Eigenschaften vor andern Flüssen in der Welt, in den Augen unsrer wackern Franken ein gar seltsames Wunder waren; und erzählt, mit der treuherzigsten Einfalt von der Welt: er komme aus dem irdischen Paradies. „Und wenn der Fluß (so fährt er fort) in Egypten eintritt; so giebt es da im Lande eine Menge Leute die sich auf dies Geschäfte verstehen, etwan wie die Fischer auf unsern Flüssen; die werfen des Abends ihre Netze in den Fluß, und des

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Morgens finden sie solche voll Gewürze, als da sind, Caneel, Ingwer, Rhabarber, Nelken, Aloeholz und viele andre gute Sachen, die man hier zu Lande gar theuer verkauft; und sagt man, daß diese Sachen alle aus dem irdischen Paradiese kommen, wo der Wind sie von den schönen Bäumen abwirft, die im irdischen Paradiese sind; eben so wie der Wind in unsern Wäldern das dürre Holz herabwirft. Und alles was nun davon ins Wasser fällt, das führt das Wasser fort, und die Kaufleute sammeln’s und verkauffens uns um schwer Geld.“ — Es ist (wie Herr v. P. anmerkt) sehr wahrscheinlich, daß die Egyptischen, Arabischen, und Indianischen Kaufleute unsern Europäern dieses Mährchen aufhefteten, um den Specereyen, welche sie theils aus Arabien,

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theils aus Indien zogen, in ihren Augen einen desto größern Werth zu geben, und ihnen die wahre Quelle, woraus sie diese Reichthümer schöpften, zu verbergen. 5. In eben diesem Geschmack erzählt der ehrliche Joinville auch die vorgebliche Gesandschaft, die der Kan der Tartarn an den H. Ludwig geschickt haben soll, um ihn um seine Freundschaft zu bitten, und ihm seine Neigung zum Christ-Katholischen Glauben anzuzeigen. Es ist schwer zu sagen, wie es mit dieser unglaublichen Gesandschaft hergegangen seyn mag; aber daß der gute König dabey betrogen worden ist ziemlich handgreiflich. Genug, er nahm die Farce für Ernst, und schikte dem Kan hinwieder eine Ehrengesandschaft in den Personen zweener Bettelmönche, eines Franziscaners und eines Dominicaners, welche drey Jahre mit ihrer Reise zubrachten. Was Joinville davon erzählt, muß aus des Bruder W i l l h e l m R ü b r ü q u i s , des einen von diesen seltsamen Ambassadoren, eigener (aus der a l l g e m . G e s c h . a l l e r R e i s e n bekannten) Relation berichtigt werden, und macht eine so widersinnische

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Geschichte aus, als nur immer eine in den Romanen dieser Zeiten zu finden ist. Die beyden Mönchischen Excellenzen überbrachten dem Kan im Namen ihres Herrn unter andern ein kostbares Zelt von Scharlach, in Form einer Capelle, i n w e l c h e s (nach Joinvilles eignen Worten) „der ganze Christliche Glaube gestikt war, unter anderm, wie der Engel Gabriel der heil. Jungfrau erscheint, und wie unser Herre Gott gebohren worden, und seine Taufe, Passion, Auferstehung, u. s. w.“ nebst einer vollständigen Garnitur aller Erfoderlichkeiten um die Messe zu singen. Die beyden Mönche erschienen bey der Audienz in ihrem priesterlichen Ornat, der eine mit einem Cruzifix, der andre 10

mit einem Marienbild in der Hand, und proponierten dem Kan, im Namen seines guten Bruders des König Ludwigs IX. — ein Christ zu werden; und, um ihm desto mehr Lust dazu zu machen, stimmten sie mit großen Feyerlichkeiten ein helles Salve regina an. Unglüklicherweise verstanden sie gerade soviel vom Tartarischen, als man an des Kans Hofe von ihrem Latein verstand. Die ganze Gesandschaft war also ein immerwährendes Mißverständnis, und die Anreden der Abgesandten, so wie die Antworten der Tartarn, wahre Coq-àl’ane. Denn der tartarische Kayser (vermuthlich einer von den Söhnen oder Enkeln des großen Gengiskan) nahm das alles für eine Art von feyerlicher Huldigung an, die ihm Gott weiß welch ein Heidenkönig vom Ende der Welt

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her durch diese Wunderthiere von Abgesandten leisten lasse. Er schien sehr vergnügt darüber zu seyn, ließ die Herren nach Tartarischer weise mit saurer Pferdemilch bedienen, und schikte Sie mit einem Geschenke von verschiednen schönen Pferden, und einem Schreiben an den guten König Ludwig zurük, worinn Se. tartarische Hoheit sich den Titel eines Sohnes Gottes, und obersten Kan und Selbstherrscher über alle Könige und Herren des Erdbodens giebt, und dem heil. Ludwig befiehlt sich in allem dem Glauben und den Gesetzen des großen Gengiskan zu fügen, wenn er Theil an seiner Huld und Freundschaft haben wollte. Die beyden Mönche brachten diesen Brief zurük, und versicherten den K. Ludwig, daß der Kan sie vollkommen wohl aufgenommen

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habe, und daß nichts leichters seyn würde, als die ganze Tartarey zum christlichen Glauben zu bekehren, und dem heil. Stuhl zu unterwerfen — in so fern nur der König und der Pabst in die Projecte eingehen wollten, welche der ehrliche Rübruquis in der Einfalt seines Herzens entworfen hatte, und die zum wenigsten eben so klug ausgedacht waren, als die ganze Ambassade. W. Auszüge aus den Melanges

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Fortsetzung der Auszüge aus den Melanges tirés d’une grande Bibliotheque. Die zweyte Lieferung, oder der Theil B. der Melanges des Hrn. Marquis von P** führt den besondern Titel, M a n u e l d e s C h a t e a u x , (comme qui diroit Handbuch für den Adel auf dem Lande) oder Vo r s c h l ä g e eine B i b l i o t h e k v o n R o m a n e n zu formiren, ein L i e b h a b e r - T h e a t e r einzurichten, und die Ergözlichkeiten eines G e s e l l s c h a f t s - S a a l s manchfaltiger zu machen; in Briefen an eine Dame. Man sieht schon aus dem Titel, daß sich dieses Handbuch wieder in drey verschiedne Abhandlungen theilt. Die erste besteht aus einem sogenannten Catalogue raisonné von 600 Stük

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alter und neuer Romanen, welche in dem Boudoir der F r a u v o n * * * Plaz bekommen sollen. Diese F r a u v o n * * * hatte nemlich dem Herrn Marquis geschrieben (und ihr Brief macht würklich das c u r i ö s e s t e Stück in diesem Theile der Melanges aus) sie hätte seinen Catalogue raisonné über alle h i s t o r i s c h e n B ü c h e r , welche er den Französischen Damen zu lesen anrathe, mit vielem Vergnügen gesehen; und wäre sehr entschlossen, ihre W i n t e r - L e c t ü r e s , oder, welches eben so viel sey, ihre e r n s t h a f t e n L e c t ü r e s nach dem Plan des Hrn. Marquis einzurichten. Izt aber sey die Rede von einem andern Dienst, den sie sich von ihm ausbitten müße; nemlich, nun auch für ihre S o m m e r -

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und H e r b s t - L e c t ü r e n zu sorgen; das heißt, für Lectüren a u f d e m L a n d e , der Jahrszeit angemessen, die den Promenaden und der Zerstreuung gewidmet sey — bey welchen das s e n t i m e n t (vulgo, d a s H e r z ) zwar j u s q u’ à u n c e r t a i n p o i n t i n t e r e s s i r t wäre, der Ve r s t a n d aber nie e r n s t h a f t a t t a s c h i r t würde; mit einem Wort, (sagt M a d a m e d e * * * ) für Lectüren, wie sie sich für die Lebensart schicken, welche ich in der s c h a r m a n t e n Maison de Campagne *) zu führen gedenke, die m e i n M a n n u n d ich zu *** gekauft haben. *)

Wir biten alle patriotischen Eiferer für die Reinigkeit unserer Sprache (die uns gewiß nicht

weniger als irgend einem unter ihnen am Herzen liegt) an diesem etwas kauderwelsch tönenden

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Wenn es erlaubt seyn könnte, an eine Französische Dame eine i n d i s c r e t e Allemannische Frage zu thun, so möchte man hier wohl (ohne just ein S c h a c h B a h a m zu seyn) fragen dürfen: w i e w e i t allenfalls das Sentiment einer e l e g a n t e n und liebenswürdigen Parisischen Dame i n d e r s c h ö n e n J a h r s z e i t interessirt werden dürfe, um nur jusqu’ à un certain point und nicht etwa, Unglüklicherweise, ein paar Linien Pariser Maas weiter, interessirt zu werden? Denn, wo das Sentiment so genau und haarscharf, wie an einem Englischen Barometer, abgemessen werden muß, da könnten ein paar Linien über den g e w i s s e n Punct großes Unheil anrichten. Überhaupt 10

Mischmasch von Teutsch und Französisch kein unzeitiges Ärgernis zu nehmen. Da wir bey allen unsern Lesern (beyderley Geschlechts) soviel Französisch voraussetzen dürfen, um ohne Sorge zu seyn, Ihnen durch die hier beybehaltnen französischen Worte u n v e r s t ä n d l i c h zu werden: so glaubten wir, gerade um d e s t o b e s s e r verstanden zu werden, gewisse französische Worte, die sich nicht so übersetzen lassen, daß man bey den teutschen Worten, die man für jene geben könnte, völlig das nehmliche denke was eine Parisische Dame bey den französischen denkt, lieber als eine Art von Kunstwörtern, die zur Te r m i n o l o g i e d e s f r a n z ö s i s c h e n G u t e n To n s gehören, beybehalten zu müssen. So wär es z. Ex. leicht gewesen une maison de Campagne charmante, in der gemeinen Übersetzungs-Fabrikmanier, durch ein a l l e r l i e b s t e s L a n d h a u s zu dollmetschen: aber f ü r s e r s t e hätte man dem ungeachtet bey weitem in dem größten Theile

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von Teutschland keinen rechten Begriff von der Sache, weil es in dem größten Theile von Teutschland keine a l l e r l i e b s t e L a n d h ä u s e r giebt; und zweytens wäre zwischen einer Maison de Campagne charmante, so wie es deren zehn Meilen in die Runde um Paris eine Menge giebt, und zwischen einem a l l e r l i e b s t e n , oder r e i z e n d e n , oder w u n d e r a r t i g e n t e u t s c h e n L a n d h a u s e noch immer ein großer Unterschied: und, wenn es auch in der Gegend von einigen Hauptstädten des Heil. Röm. Reichs teutscher Landen hier und da (welches wir nicht zu läugnen begehren) ein nach dem neuesten Französischen Geschmak gebautes, distribuirtes, und möblirtes Landhaus giebt: so ist das doch, eben deßwegen, kein teutsches Landhaus, sondern eine s c h a r m a n t e Maison de Campagne. Eben so verhält es sich mit dem serieusement attacher l’Esprit und mit dem interesser jusqu’ à un certain point. — Solche G a l l i z i s m e n k ö n n e n nicht ganz

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und rein verteutscht werden; und ich glaube auch nicht daß wir viel dabey gewinnen würden, wenn wir unsre Sprache damit, als mit einer unsern alten bösen Nachbarn abgejagten Beute, bereichern wollten. Wir Te u t s c h e lesen entweder ohne alles attachement (wie gemeiniglich; daher uns auch meistens Besseres und Schlechteres gleichviel, oder wenigstens in Ermanglung des Vortreflichen, alles was uns in die Hände fällt, willkommen ist) oder wir attaschiren uns serieusement an das was wir lesen; und werden daher, ordentlicherweise, von einer Lectüre entweder g a r n i c h t oder m i t L e i b u n d S e e l e , und nie jusqu’ à un certain point interessirt; kurz, ächte teutsche Biedermänner und Biederweiber denken sich bey einem attachement, das nicht e r n s t h a f t attaschirt, und bey einem I n t e r e s s e b i s a u f e i n e n g e w i s s e n P u n c t soviel als N i c h t s : und wohl ihnen, und ihren Kindern, wenn sie diesen Nationalzug noch lange

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beybehalten!

¼1.½ F o r t s e t z u n g d e r A u s z ü g e

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scheint M a d a m e d e * * * diesen Brief wenigstens im Anfang der schönen Jahrszeit geschrieben, und also nicht e r n s t h a f t genug überlegt zu haben, wie mißlich es sey, sich in der Sommerszeit, als der eigentlichen Saison de l’Amour, wo alles was lebt und webt, sich liebt und lokt und schnäbelt und paart — und noch dazu a u f d e m L a n d e , wo dies allgemeine Beyspiel der ganzen Natur desto gefährlicher ist, weil man ihm dort gar nicht ausweichen kann — kurz, in einer Jahrszeit, wo alles bis auf die Luft Liebe athmet — sich mit keiner andern Lectür als Romanen, Feenmährchen und galanten Novellen unterhalten zu wollen. Freylich will M a d a m e d e * * * als eine vorsichtige Frau, nur jusqu’ à un certain point interessirt werden; aber — schönste M a -

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d a m e d e * * * ! wo sind die Romanen, die ohne e i n e D a m e d’une certaine sensibilité vor L a n g e w e i l e vergehen zu machen, nur genau bis auf den oftbelobten g e w i s s e n P u n c t , welcher, mit Dero Erlaubniß, ein sehr u n g e w i s s e r Punct ist, interessiren dürften? Es ist eine höchst kizlichte Sache; und ich möchte nicht derjenige seyn, der Ihnen Ihre S o m m e r - L e c t ü r e n vorschlagen, und noch weniger derjenige, der einen Roman für Sie schreiben müßte; das kann ich Ew. Gnaden versichern. — In ganzem Ernste! Die Sache ist um so weniger leichtsinnig zu nehmen, weil M a d a m e d e * * * alle Hofnung von der Welt hat, sehr i n t e r e s s a n t e G e s e l l s c h a f t in ihrem Landhause zu sehen. „Denn, wir haben (sagt sie dem Hrn. Marquis von P**) zwan-

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zig Betten für Herrschaften; wir loschieren unsre Gäste; und zwoo Meilen in die Runde liegen z w a n z i g artige Häuser, aus deren Bewohnern wir uns eine d e l i z i ö s e Gesellschaft formiren können. Wir werden (fährt sie fort) einen sehr großen und schön bepflanzten Park haben, anmuthige Gärten, schönes springendes Wasser, prächtige (superbes) Küchengärten, Basse-Cours, eine Menagerie, und eine Jagd von ziemlichem Umfang. Alles das betrift und interessirt d e n H e r r n v o n * * * (Schon wieder etwas das sich nicht recht auf teutsch geben läßt; denn eine teutsche Frau würde gesagt haben, m e i n e n M a n n ; in Frankreich sagen die Bauerweiber so). Aber was mir am Herzen liegt, das sind die drey Piec¸en in meinem Appartement, auf die ich meine größten

Belustigungen *)

gründe.“ — M a d a m e d e * * * läßt sich in eine ziem-

lich umständliche Beschreibung dieser drey Piec¸en ein, wovon die eine ihr *)

Amusemens eigentlich; aber nicht einmal für Amusement haben wir ein Wort; denn der

Teutsche amusirt sich nicht.

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G e s e l l s c h a f t s s a a l , die andre ihre B i b l i o t h e k , und die dritte ein S c h a u s p i e l s a a l ist. Von diesen ist nun die Bibliothek ihr Lieblingszimmer; es ist, (nach ihrem Ausdruk) ein s c h a r m a n t e s Boudoir; und außer einer Menge Tabletten, die zum Empfang der Bücher welche Herr von P. vorschlagen soll bereit sind, m i t e i n e r w o h l g e p o l s t e r t e n O t t o m a n e v e r s e h e n , auf welcher M a d a m e d e * * * ihre S o m m e r - L e c t ü r e n zu machen, ja wo sie sogar mit denjenigen r ä s o n n i e r e n will, (nur ihrer immer aufs wenigste z w e e n , — denn in einem so s c h a r m a n t e n Boudoir, in dem elegantsten Deshabillé von der Welt, mit einem interessanten Roman in der 10

Hand, und in einer so gefährlichen Jahrszeit, Madame, möchte es auch wohl nur jusqu’ à un certain point zu räsonniren rathsam seyn —) welche sie h o c h g e n u g s c h ä t z e n wird, um ihnen ihre Betrachtungen (über den besagten Roman) mitzutheilen. Die Frage ist also, womit M a d a m e d e * * * die Tabletten ihres Boudoirs ausfüllen soll? oder vielmehr, dies ist keine Frage; „denn womit könnte man sie ausfüllen, sagt sie, als mit Romanen?“ — Die Frage ist also nur, mit was für Romanen? Und dies ists, worin Ihr der Herr Marquis von P**, dessen unendliche Belesenheit auch in diesem Fache ihr angerühmt worden, mit seinem guten Rath an die Hand gehen soll. Vermöge einer sehr exacten Ausmessung

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und Berechnung, welche Sie von ihrem Valet de Chambre-Tapissier erhalten hat, hat sie, wenn man auf jeden Band in 8° und 12° (denn mit Folio’s und Quarto’s will Sie nichts zu thun haben) einen in den andern acht Daumen Höhe und anderhalb Daumen Dicke rechnet, in ihrem besagten Boudoir just für 600 Bände Plaz; und bittet also den Hrn. M. ihr unverzüglich das Verzeichnis derselben zu schicken, damit sie sogleich gekauft und eingebunden werden können, und Sie auf Pfingsten alles schon an seinem Platze finden möge. Natürlicherweise fällt Ihr bey dieser Gelegenheit ein Histörchen ein, das ehmals auf Unkosten eines gewissen General-Pachters, Namens B o u r v a l a i s , erzählt wurde. Dieser wakre Mann hatte sich, in Kraft der Millionen die

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er im Dienste des Königs und der Nation gewann, ein prächtiges Haus gebaut, und der Baumeister hatte nicht ermangelt, l’Appartement de Monsieur auch mit einem sehr schönen Büchersaal zu versehen. Einen Büchersaal? sagte Herr von Bourvalais: was will der Herr daß ich mit einem Büchersaal anfange? Um Vergebung, antwortete der Baumeister; ein Büchersaal ist eine eben so nothwendige Piec¸e in dem Hòtel eines Mannes w i e S i e , als ein Boudoir in

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dem Appartement einer Dame. Sie werden sehen, was für eine prächtige Tapisserie diese Tabletten machen werden, wenn sie mit schön eingebundnen Büchern angefüllt sind. Gegen dieses Argument war nichts einzuwenden. Herr v. Bourvalais ließ also seinen Tapezierer herbeykommen. Meß’ er die Höhe und Länge dieser Tabletten, sagte Herr v. Bourvalais, und bestell’ er mir soviel Ellen Bücher als er nöthig hat; aber daß sie alle aufs magnifikste und nach der neusten Mode eingebunden seyen! Versteht er mich? — Der Tapezier nahm sein Maas, gieng zum nächsten Buchhändler und verlangte für die Bibliothek des Herrn Generalpachters so und soviel hundert Ellen Bücher von allen Formaten. Der Buchhändler sah sogleich mit wem ers zu thun hatte; und

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weil er eben mit einer neuen Auflage der A n d a c h t s ü b u n g e n f ü r d i e h e i l . C h a r w o c h e , (la S e m a i n e s a i n t e genannt) die keinen sonderlichen Abzug hatten, beladen war: so lieferte er dem Tapezier, unter andern, auch ein paar Schok Ellen Semaines saintes ab. Die Bücher machten in ihrem vergoldeten Band eine so gute Figur, daß Herr von Bourvalais ganz stolz auf seine Bibliothek war, und nichts angelegners hatte, als jedermann in seine Bibliothek zu führen. Der Buchbinder wurde sehr bewundert; wie man aber genauer nachsah, so waren die Octav-Fächer mit lauter H e i l i g e n Wo c h e n angefüllt. — Madame von *** erklärt sich also, zu Verhütung alles Mißverständnisses, daß sie, nach der Berechnung ihres Tapezierers, zwar 600 Stük

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Romanen nöthig habe: aber daß sie sich ausdrüklich von jedem Roman nur Ein Exemplar ausgebeten haben wolle; auch sollten es lauter solche seyn, „die entweder durch die Schönheit der Sentimens ihr Herz (jusqu’ à un certain point) interessiren, oder durch die Kunst der Komposition und das Sonderbare der Begebenheiten ihren Geist (nicht serieusement) attaschiren, oder durch die Eleganz der Schreibart ihren Geschmak befriedigen, oder sie wenigstens zu lachen machen könnten.“ Der Herr v. P. ist zwar keiner von den jüngsten Rittern mehr; aber doch viel zu l o y a l und g a l a n t , um sich im Dienst einer schönen und tugendhaften Dame de par le Monde (wie der alte B r a n t o m e spricht) irgend eine Mühe dauren zu lassen. Er übersendet also d e r F r a u v o n * * * ungesäumt das verlangte Verzeichnis der 600 Stück Französischer Romane; mit der Versicherung, daß er solche aus mehr als 6000 Stücken ditto ausgelesen; und, weil Eins ins Andre höchstens einen kleinen Thaler Einkauf kosten kann, so werden Ew. Gnaden, sagt er, Band und Provision des Kommissionärs mit einge-

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rechnet, für h u n d e r t L o u i s die interessanteste Garnitur für Ihr Boudoir — und, wenn Sie auch, die schöne Jahrszeit durch, jährlich 50 Bände lesen, für 12 Jahre genug und satt zu lesen haben. Und da unter den 5400 Romanen, welche in der F r a u v o n * * * Boudoir keinen Plaz finden konnten, noch manche sind, die soviel Recht gelesen zu werden haben als andre; überdies auch zu hoffen steht, daß die Herren Gens de Lettres und Beaux-Espris, in Paris und in den Provinzen, es binnen der 12 nächsten Jahre an neuen Producten in diesem beliebten Fache nicht fehlen lassen werden: so zweifelt er nicht, daß er überflüssig im Stande seyn werde, sie, nach Verfluß dieser Zeit, mit einer neuen 10

G a r n i t u r versehen zu können. Das Verzeichnis selbst ist nach dem Plan der ersten Jahrgänge der Bibliotheque Universelle des Romans eingerichtet, von welcher der Herr von P** gewissermaßen der Stifter war, und welche einige Jahre lang unter seiner Oberaufsicht fabrizirt wurde. Es enthält also I. übersezte G r i e c h i s c h e und L a t e i n i s c h e R o m a n e . II. R i t t e r r o m a n e , und zwar von allen drey Klassen, die von der Ta f e l r u n d e , die von d e r R i t t e r s c h a f t K a r l d e s G r o ß e n , und die ganze Familie der A m a d i s e . Anhangsweise fügt er noch eine hübsche Anzahl Ritterromane und Rittermährchen bey, die zu keiner von diesen Hauptklassen gerechnet werden können, als z. Ex. die Geschichte von

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R o b e r t l e D i a b l e und seinem Sohn R i c h a r d o h n e F u r c h t , die von der schönen M e l u s i n e und von G o t t f r i e d m i t d e m g r o ß e n Z a h n , ihrem Sohne; von P e t e r v o n P r o v e n c e u n d d e r s c h ö n e n M a g e l l o n e ; von G e r h a r d v o n N e v e r s und d e r s c h ö n e n E u r i a n t v o n S a v o y e n , s e i n e m L i e b c h e n ; vom k l e i n e n J o h a n n v o n S a i n t r é u n d d e r Dame aux belles Cousines u. s. w. Von den drey leztern hat der Graf von Tressan, seitdem, in der Bibliotheque des Romans überaus angenehme Auszüge, oder vielmehr Umschmelzungen (wenn man so sagen darf) gegeben. III. H i s t o r i s c h e R o m a n e , vom Triomphe des neuf Preux bis zu Marmontels Belisaire, besonders die Romane, die sich auf die französische Geschichte gründen, und deren eine

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ungeheure Menge sind; sodann auch die kleinere Anzahl derjenigen, die in die Geschichte der übrigen Völker einschlagen. Von allen, deren der Hr. v. P. erwähnt, giebt die Bibliotheque des Romans Nachricht und Auszüge. IV. L i e b e s r o m a n e . Zweyhundert an der Zahl; wovon ein beträchtlicher Theil in den großen Samlungen, die den Namen der L a n d b i b l i o t h e k e n (Bibliotheque de Champagne) führen, Plaz gefunden haben. V. G e i s t l i c h e , M o -

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r a l i s c h e und P o l i t i s c h e R o m a n e n — von dem ziemlich abgeschmakten alten B a r l a a m bis zum vortreflichen Te l e m a c h des in seiner Art und in seinem Stande einzigen F e n e l o n ; vom G u s m a n d’ A l f a r a s c h e bis zum S e t h o s des Abts Te r r a s s o n ; und vom Wa h r h e i t s b r u n n e n des D ü f r e s n y bis zum E w i g e n J u d e n (Juif errant) der Bibliotheque bleue. VI. K o m i s c h e und S a t y r i s c h e R o m a n e n , vom P e t r o n bis zum E u l e n s p i e g e l , oder Tiel l’Espiegle, der dem teutschen Originalgeist soviel Ehre macht, und unter den Händen seines neusten Verschönerers soviel gewonnen hat! VII. N o v e l l e n u n d E r z ä h l u n g e n , ein unermeßliches Feld! VIII. R o m a n s m e r v e i l l e u x , eine Klasse, unter welche in der Bibl. d. R. alle Mor-

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genländische Geister-Erzählungen, Feenmährchen, und Reisen im Lande der Ideen gebracht sind. Endlich IX. A u s l ä n d i s c h e R o m a n e n . Unter diesen Neun Rubriken rezensiert Herr von P** nicht nur alle Romanen, womit Madame de *** ihre Tabletten garniren soll; sondern auch noch eine Menge andrer, die sich, seiner Meynung nach, in den Auszügen so die Bibl. des R. davon giebt, besser lesen lassen als im Original; und von jenen liefert er, zu Ende seines Catalogue raisonné, noch ein simpel Verzeichnis, worinn bloß Titel, Ausgabe, Format, und Anzahl der Theile angegeben sind. Seine Urtheile sind größtentheils ziemlich zuverläßig, wiewohl meistens zu unbestimmt, und oft, bey wahren Meisterstücken des Genies, bis auf dem Gefrierpunct kalt; doch

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kann seine Arbeit überhaupt Allen, die sich in dem Romanesken Fache das Beste was die Französische Sprache aufzuweisen hat, anschaffen wollen, nützlich seyn; ist aber keines Auszugs fähig, als in so fern uns etwa eine teutsche Dame auftragen sollte, durch eine neue Auswahl die 600 Stücke des Hrn. v. P** auf den dritten oder vierten Theil zu vermindern. Wir bemerken also nur noch, daß Er auf der 75sten Seite auch der Contes des jüngern Crebillon erwähnt, unter denen er dem Ecumoire, oder Ta n z a i und N e a d a r n e (so im Jahr 1734 zum erstenmal erschien) den Vorzug zu geben scheint. Er gesteht daß diese sogenannte Japanische Geschichte z u f r e y sey; meynt aber doch, man könne nicht umhin anzuerkennen, es sey sehr viel Witz und viel Imagination in allen ihren details. Indessen ist er so weit entfernt, weder diesem witzigen S c h a u m l ö f f e l , noch dem S o p h a , oder d e r N a c h t u n d d e m A u g e n b l i k , oder dem Ah! quel Conte eben desselben Verfassers — der unstreitig nicht für junge Damen geschrieben hat — einen Plaz in dem Boudoir d e r F r a u v o n * * * einzuräumen: daß er sogar Bedenken trägt, Ihr, auch nur

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im Vorbeygehen, von diesen allzumuthwilligen Jeux d’Esprit eines Mannes zu sprechen, der mit sehr großen Talenten das Unglük gehabt zu haben scheint, nicht in der besten Gesellschaft zu leben. Vielleicht könnte uns diese Zurükhaltung über das jusqu’ à un certain point, bis zu welchem Madame de *** sich durch Romane interessiren lassen will, einigen Aufschluß geben. Wiewohl wir nun, wie gesagt, aus dem Romanen-Register des Hrn. von P** keinen eigentlichen Auszug geben können: so glauben wir doch, daß vielen unsrer Leser ein Verzeichnis derjenigen Französischen D a m e n , welche sich als Schriftstellerinnen im Fache der Romanen, Novellen und Mährchen, her10

vorgethan haben, nicht unangenehm seyn würde. Wir gedenken also, weil unser diesmaliger Raum dazu nicht hinreichend ist, Ihnen im nächstkommenden Jenner mit einem solchen Verzeichnis aufzuwarten. Wir werden es mit Hülfe des Hrn. von P** so vollständig zu machen suchen als uns immer möglich seyn wird; und der Anzeige der Werke selbst, entweder das Urtheil dieses gelehrten Weltmanns, oder (soweit unsre eigne Belesenheit in diesem Fache reicht) das Unsrige, für welches wir eher stehen können, nebst einer kurzen Nachricht von jeder Verfasserin, beyfügen. * * * Die Frau von *** hat, wie man noch nicht vergessen haben kann, auch einen

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S c h a u s p i e l s a a l in ihrem Schlosse, und ist sehr entschlossen, ihn nicht unbenuzt zu lassen; zumal, da ihre Nachbarn und Nachbarinnen auf dem Lande Verstand oder Witz (man weiß selten welches von diesen beyden nicht ganz gleichbedeutenden Wörtern man nehmen soll, wenn im Französischen von Leuten qui ont de l’Esprit die Rede ist) und Talente, und Welt, und eben so wie Madame de *** große Lust zum Komödiespielen haben. Das einzige, was sie ein wenig verlegen macht, ist die Wa h l d e r S t ü c k e . Sie erwartet also von der unerschöpflichen Gefälligkeit des Hrn. von P** daß er sie, auf allen Fall auch mit einem d r a m a t i s c h e n R e p e r t o r i o versehen werde. Zu gutem Glücke hat der Hr. Marquis schon so etwas fertig liegen, welches er vor einiger

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Zeit unter dem Titel: Etrennes dramatiques de Societé, zum Gebrauch der Liebhaber hatte drucken lassen wollen. Er versichert, daß es nicht ganz seine eigene Arbeit, sondern daß der Fonds aus einer Handschrift, die vor mehr als 20 Jahren in einem Landhause gefunden worden, gezogen sey; wiewohl er gesteht, daß er vieles daran habe ändern müssen, um es für gegenwärtige Zeit

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und Umstände brauchbar zu machen. Dieses Werk macht also unter dem Titel: „Räsonnirtes Verzeichnis aller Tragödien und Komödien des Französischund Italienischen Theaters zu Paris, wie auch aller Actes d’Opera, Komischen Opern, Schauspielen mit Gesang und P r o v e r b e n (in dramatische Handlung gesezte Sprüchwörter) welche sich dazu schicken auf kleinen GesellschaftsSchaubühnen vorgestellt zu werden“ den zweyten Theil des Manuel des Chateaux aus; und enthält ein Repertorium von 2 0 Tr a u e r s p i e l e n , 2 4 L u s t s p i e l e n und D r a m e n in fünf Aufzügen, 22 ditto in dreyen, 1 in zween, und 12 in einem Aufzug, sämmtlich aus dem Theatre Franc¸ois; 6 ditto von drey, und einem Dutzend von Einem Aufzug, aus dem Theatre Italien; Eben so-

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viel Actes d’Opera, 7 K o m i s c h e O p e r n , 1 7 S t ü c k e m i t A r i e t t e n , 7 S p r ü c h w ö r t e r , und, zu allem Überfluß, auch eine P a r a d e . Jeder dieser Gattungen sowohl als dem Ganzen sind einige Vorerinnerungen vorangeschikt. Zur Probe, wie der Herr von P** dieses R e p e r t o r i u m eingerichtet, wird folgendes mehr als genug seyn.

I p h i g e n i e von Racine. „In diesem Stücke sind f ü n f schöne Rollen, zwoo M ä n n e r r o l l e n , nemlich A g a m e m n o n und A c h i l l , und drey Frauenzimmerrollen, C l y t e m n e s t r a , I p h i g e n i e und E r i p h i l e . Diese leztere scheint beym ersten Anblik wenig interessant; aber mit Talenten kann es nicht fehlen, Beyfall darinn zu erhalten. Des U l y s s e s seine ist mehr schwer als schimmernd; sie erfodert eine gewisse Herbe (Austerität) und viel Kunst; aber wie gut ein Acteur sie auch machen mag, auf großen Beyfall darf er niemals rechnen. Jede Actrice, die sich zur Clytemnestra entschließt, muß in ihr Gedächtnis zurükrufen, wie Mademoiselle D ü m e s n i l sie spielte. Zur Iphigenia ist eine junge und hübsche Person vonnöthen, die eine zärtliche Seele, ein ungekünsteltes Spiel und einen rührenden Ton der Stimme hat. Eben diese Eigenschaften sind auch zur Eriphile nöthig; ja es bedarf noch mehr Seele und Talent, um solche geltend zu machen. Überhaupt fünf Mannspersonen und zwey Frauenzimmer.“

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Le Cercle, von Poinsinet. „Dieses Stük (in zwey Aufzügen) ist ein leicht hingeworfnes Gemählde der Sitten und gewisser R i d i c ü l e n * ) unsrer Zeit. Die Rollen des Lisidor, des Marquis und des Barons sind ziemlich artig; die des Arztes, des Abbé und des Schöngeists sind piquant **) wiewohl kurz. Unter den Frauenzimmer-Rollen ist A r a m i n t e n s die vornehmste. Diese kleine Komödie wird immer gut gespielt werden, wenn die Acteurs dasjenige erwischen können, was man das Ensemble nennt, †) etwas, das nur durch viele Repetitionen (oder Proben, wenn man will, wiewohl Eins so teutsch ist als das Andre) zu erhalten steht. In 10

allem sechs Manns- und fünf Frauenspersonen.“ * * * Viele unsrer Leser, denen es ganz und gar keine Schande ist nicht zu wissen was eine P a r a d e für ein Ding sey, möchten’s doch vielleicht nicht ungerne sehen, wenn sie es bey dieser Gelegenheit erführen. Eine Parade also ist eine Art von Possenspiel, wie man sie auf den Boulevards zu Paris zu sehen bekömmt, calculiert für eine Art von Zuschauern, welche gewöhnlich nicht zur guten Gesellschaft gerechnet werden, woran sich aber doch auch zuweilen die s e h r g u t e G e s e l l s c h a f t zu belustigen geruht. Weil es da bloß darum zu thun ist, die Lungen und Zwerchfelle der Badauds de Paris zu erschüttern, so

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ist gesunde Vernunft, Wahrscheinlichkeit und Anständigkeit ordentlicher Weise gänzlich aus dieser Art von Possen verbannt; und alle Arten von gröberm Wiz, (Zweydeutigkeiten und Zoten n i c h t ausgenommen) sind da willkommen; je ungereimter und leichtfertiger je besser; kurz, Herr von P. versichert selbst, daß in der ganzen Sammlung, le Theatre des Boulevards genannt, nicht ein einziges Stük sey, das man v o r D a m e n spielen könnte. Indessen kann sich doch (wie er hinzusezt) das Theatre Italien rühmen, ein *)

Dafür giebts bey uns auch kein Wort; denn ein teutscher Narr oder Fat ist ordentlicherweise

zu p l a t t oder zu p l u m p um Ridicules zu haben. **) 30

†)

Da fehlts schon wieder an einem teutschen Worte. Dies müßte wohl von allen Stücken gelten, wenn das Publicum es scharf mit den Schau-

spielern nehmen wollte. Denn warum sollte ein Schauspiel ohne das was man das Ensemble nennt, besser seyn, als ein Gemählde ohne Haltung und Ton?

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Stük zu besitzen, das zwar weder mehr noch weniger als eine P a r a d e , aber doch, von Seiten der Decenz, w e n i g s t e n s e r t r ä g l i c h i s t ; und dies ist: das r e d e n d e G e m ä h l d e , welches, wenn ich nicht irre, auch in Teutschland Beyfall gefunden hat. Herr von P. meynt, mit gutem Fug, es ließen sich dergleichen F a z e t i e n noch viele erfinden, und giebt folgendes zu einem kleinen Beyspiel.

Isabelle-Haubenstok, eine Parade. Personen: I s a b e l l e , L e a n d e r , die Ta n t e , und N a c h b a r T i l l (in Oberteutschland kann er auch S e p p oder L i p p e r l heißen.) Canevas des Stüks. I s a b e l l e , im Begriff mit Einwilligung ihrer Tante L e -

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a n d e r n zu heurathen, muß noch vorher mit besagter Tante eine Reise machen; trägt also Nachbar Tillen auf, während ihrer Abwesenheit Leandern zu beobachten, und ihr von der Treue, so er ihr beym Abschied geschworen, Rechenschaft zu geben. Bey ihrer Zurükkunft ist das erste was sie zu thun hat, sich bey Nachbar Tillen nach der Beständigkeit ihres Liebhabers zu erkundigen. Die Nachrichten, so sie von ihm erhält, lauten nicht zum Besten. Leander ist zwar selten aus seinem Zimmer gekommen; man hat ihn aber alle Morgen und Abend mit einer Unbekannten, die er seine Allerschönste, seine Allerliebste nannte, in großer Conversation gehört; man konnte zwar nicht alles aber doch soviel davon verstehen, daß er ihr die zärtlichsten Dinge von der Welt

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vorsagte; und, was bey dieser geheimen Intrigue das Wunderbarste ist, man hat gleichwohl weder Mann noch Frau bey ihm ein- oder ausgehen gesehen. Isabelle fängt über diese Nachricht Feuer; die Tante bestärkt sie in ihrem Argwohn; man macht einen Anschlag den Ungetreuen zu überraschen; die beyden Frauenzimmer verstecken sich; und Nachbar Till soll ihnen heimlich Nachricht geben, wenn Leander wieder zu Hause seyn wird. Isabelle macht sich, in der Wuth ihrer Eyfersucht, ein rechtes Fest daraus, ihn bey ihrer Nebenbulerin zu überfallen. Leander kommt nach Hause, geht in sein Zimmer, verschließt sich; bald darauf hört man ihn sehr zärtlich und feurig mit einem Frauenzimmer sprechen, welches keine Antwort giebt. Die Sache wird immer verdächtiger. Isabelle und die Tante stürmen wie zwoo rasende Medeen hervor, sprengen die Thür ein, und finden den getreuen Schäfer Lean-

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dern auf den Knien vor einem — Haubenstok, den er auf ein Tischchen gestellt und mit einer von Isabellens abgetragnen schmutzigen Nachthauben coeffiert hat. Diese Entwiklung befestigt, wie billig, das gute Vernehmen der beyden Verliebten, und sie können nun, der Zuschauer halben, Hochzeit machen wenn sie wollen. — Man sieht, daß eine Parade in diesem Geschmak, eine kleine dramatische Schnurre ist, deren Werth von Ort und Augenblik, einem guten Einfall, und einer lebhaften Ausführung abhängt; und derjenige, der Wiz und Laune genug hätte, etliche Duzend dergleichen Dinge zu erfinden, würde sich um die kleinen Theatres de Campagne, die auch in Teutschland 10

immer mehr Mode werden, kein geringes Verdienst machen. Doch, wir haben uns vielleicht schon zu lange bey einem Gegenstande aufgehalten, der unsern theatralischen Journalen und Allmanachen angehört, und denen wir auch die Anecdotes dramatiques de Societé, par u n A c t e u r , a n c i e n a m a t e u r d e c e g e n r e d’ A m u s e m e n t (ohnezweifel der Herr M. v. P** selbst) gerne überlassen, welche dem vorbesagten Repertoire angehängt sind. Sie sind meistens, was man ein wenig platt nennen möchte, und der ancien Amateur scheint dabey vergessen zu haben, daß er sie nicht etlichen alten Cameraden oder Gevatterinnen an seinem Camin, sondern dem Publico erzählt. Das Beste davon ist eine Beschreibung einer ziemlich artigen

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F e e n m ä ß i g e n Feˆte, die der Frau Marquisin von *** während ihrem Wochenbette auf einem schönen Landhause nicht weit von Paris, von ihrem Gemahl, und einer auserlesenen Gesellschaft von Freunden und Verwandten gegeben wurde, und wobey D e m o g o r g o n , der König der Genien, und die F e e C a r a b o s s e , sich mächtig viel zu thun machen. Vermuthlich war der ancien Amateur selbst eine Hauptperson in diesem romantischen Wochenstuben-Feste; doch muß man gestehen, daß es lustiger ist, bey dergleichen Gelegenheiten Acteur oder Zuschauer, als geneigter L e s e r zu seyn. W. (Die Fortsetzung nächstens.)

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Auszüge aus den Melanges tirés d’une grande Bibliotheque. (Fortgesezt von S. 269. des lezten Stüks vom vorigen Jahr.) Das Boudoir, und der Schauspielsaal der Frau von *** sind nun besorgt; aber die Forderungen, welche diese Dame an die Dienstfertigkeit des Herrn von P** zu machen hat, sind noch nicht zu Ende. Noch ist eine Piece ihres Landhauses übrig, die ihr ganz vorzüglich am Herzen liegt; es ist die schönste unter allen, es ist diejenige, wo sie sich am häufigsten zu amüsieren *) gedenkt; mit Einem Wort, es ist ihr g r o ß e r S a a l , der der Mittelpunct der Vergnügungen ihrer Gesellschaft seyn soll. Hier soll man (sagt Sie) v o r und n a c h der Mit-

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tagstafel S p i e l t i s c h e von allen Gattungen finden, wo jedes sich nach seinem Geschmacke wird b e s c h ä f t i g e n können. Wenn es nicht genug ist, daß von 20 oder 25 Personen, welche gewöhnlich zum Essen bey mir seyn werden, viere in die Galerie auf dem B i l l i a r d spielen gehen, zwoo andre S c h a c h , zwoo Tr i c t r a c spielen, und verschiedne von der übrigen Gesellschaft immer sicher seyn können, eine Partie W i s c h , eine Partie P i q u e t und Tr i s e t , und eine Partie B e r l a n zu finden: so werden wir noch ein L o t t o , ein C a v a g n o l , und auch wohl ein F a r a o haben. Aber, mein Herr (fährt sie fort) bedenken Sie doch, daß die Herbsttage immer kürzer werden; daß diese Jahrs*)

Dies Wort werde ich nie versuchen durch ein gleichbedeutendes teutsches Wort zu geben;

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denn w i r h a b e n k e i n e s . Sich a m ü s i e r e n heißt nicht sich e r g ö t z e n , oder v e r g n ü g e n , oder b e l u s t i g e n — es heißt s i c h a u f e i n e a n g e n e h m e A r t u m s e i n e E x i s t e n z b e t r ü g e n . Dies ist seine wahre eigentliche Bedeutung. Der Teutsche beschäftigt sich im Ernst, vergnügt sich im Ernst, hat Langeweile im Ernst, und amüsiert sich selten, oder nie. Der Franzose sagt, er ennuyi re sich à perir und gebehrdet sich so lustig dazu als ob nichts angenehmers wäre als sich zu ennuyiren. Wenn hingegen der Teutsche Langeweile hat, so sieht er entweder dumm oder grißgrämisch dazu aus; er leidet im Ernst, und kann’s noch weniger verbergen als körperlichen Schmerz. Die Franzosen amüsiren und ennüyiren sich also ganz anders als wir; und daher können auch die Worte, so sie dazu gebrauchen, nicht al pari mit den unsrigen gehen. So ists noch mit vielen andern Worten; wir befinden uns hierinn völlig mit ihnen im nehmlichen Falle, wie die alten Römer mit den Griechen.

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zeit gewöhnlich den Nebeln unterworfen ist, und, kurz, d a ß w i r u n s z u weilen lediglich auf die Bewohner des Schloßes reduziert befinden könnten. — Iuste Ciel! welch ein Zustand! Was sollen die Leute mit einander anfangen? — Man möchte sich über den bloßen Gedanken zu Tode gähnen. — Sie werden N o t h s c h ü s s e thun müssen, um die ganze Nachbarschaft zu avertiren, daß sie im Begriff sind de p e r i r d’ennuy t o u t d e b o n . Doch es giebt noch andre Mittel eh man zu diesem äussersten schreitet. „An solchen Tagen, sagt M a d a m e d e * * * werden wir s o n d e r b a r e r und n e u 10

e r Amusemens höchlich vonnöthen haben, um mit ihrer Hülfe, ohne ennuy, und ohne die traurige Ressource, h o c h z u s p i e l e n , die unter Verwandten und Freunden etwas Grausames hat, die Zeit nach dem Soupee g a y e m e n t hinzubringen.“ Eine Bidermännische teutsche Familie, so vornehm sie auch seyn mag, weiß sich da leicht zu helfen; nach dem Abendessen werden wir (betrunken oder unbetrunken) ordentlicherweise noch schläfriger als wirs schon den Tag über sind, und dann gehen, wackeln oder kriechen wir zu Bette. Aber so ist’s nicht im Hause der Frau von ***, welches, wie wir sehen, auf den besten französischen Ton gestimmt ist: da muß man noch einige Stunden nach dem

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Soupee gayement passiren — — und Madame de *** b e s c h w ö r t a l s o den Hrn. von P. in ganzem Ernste, Ihr diese Amusemens anzuzeigen. „Sie, der Sie so viel nüzliche und unnütze, langweilige und angenehme Dinge wissen, so viel Gelehrsamkeit haben mit der ich nichts zu machen weiß, und den Kopf mit soviel Kleinigkeiten möbliert haben, die ich weit höher schätze, — leisten Sie mir noch diesen lezten Dienst: und ich verspreche Ihnen, Sie sollen für dies ganze Jahr Ruhe vor mir haben.“ — Der Herr von P** antwortet seiner Freundin, wie man sichs zu seiner rühmlichen Gefälligkeit versehen kann. „Ich könnte mich zwar, sagt er, als einer der standhaftesten Bewohner der Stadt, mit gutem Fug entschuldigen,

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daß mir alle die Amusemens und kleine — beynahe hätte ich gesagt Kinderspiele, wovon man gewöhnlich auf dem Lande Gebrauch macht, unbekannt seyen: aber was würde ich nicht thun Ihnen zu gehorchen und Ihnen zu g e fallen ?“ Dies ist wieder ein Charakterzug unsrer westlichen Nachbarn, und gewiß nicht derjenige der das wenigste beyträgt, sie zu der liebenswürdigsten unter

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den Europäischen Nationen zu machen. Ein Teutscher *) muß mächtig verliebt in eine Dame seyn, um sich eine Angelegenheit daraus zu machen, ihr gefallen zu wollen, oder, was eben soviel sagt, sich ihr gefällig zu machen; und wenn er über 50 ist, so ist daran gar nicht mehr zu denken. Ein Franzose kann 70 und 80 Jahre alt seyn, ohne darum den Gedanken de plaire aux Dames aufzugeben; und da es tausend Wege giebt, sich noch durch andre Dinge als Figur und Jugend angenehm zu machen: so fehlt es ihm selten an glüklichem Erfolg. Herr von P. versichert also, daß er alle mögliche Erkundigungen eingezogen habe. Er hat sich bey denen, die in diesen k l e i n e n M y s t e r i e n i n i t i i r t sind, Raths erhohlt: und aus dem, was er auf diese Weise zusammengebracht,

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ist das Memoire entstanden, welches den dritten Theil seines Manuel des Chateaux ausmacht, und von allen Arten von S p i e l e n handelt. Da sich diese in zwoo Hauptclaßen, in Bewegungsspiele, Ieux d’Exercice, und in sitzende Spiele, Ieux sedentaires, theilen: so rezensiert Herr von P. zuerst, wiewohl nur ganz kurz die verschiednen Arten der noch heutigs Tags üblichen Spiele, welche zu den Leibesübungen gehören — und von denen man überhaupt sagen kann, daß sie, im Verhältnis mit der zunehmenden Weichlichkeit und Schwäche, den natürlichen Folgen der immer zunehmenden Verfeinerung, immer ungewöhnlicher werden; zumal in Gesellschaften von beyderley Geschlecht, und unter einer Nation, wo Damen von einem g e w i s s e n Rang, ohne die

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Anständigkeit und den guten Ton zu verletzen, sich weder starken Bewegungen noch der freyen Luft, (wenigstens keiner als die nur eben schwer genug ist, um die leichten Seufzer eines Verliebten zu tragen) aussetzen dürfen. Herr von P. schränkt sich daher bloß auf diejenigen ein, die im Innern eines Schlosses, in einem Saale oder einer Galerie, oder höchstens, während der schönsten Tageszeit, in den zunächst am Hause gelegenen Alleen und Bosquets, gespielt werden. Das Maljespiel (Ieu du Mail) ist heutigs Tages gänzlich aus der Mode gekommen, wiewohl es noch in Ludwig XIV. Zeiten das Favoritspiel großer Herren war. Da es das heftigste unter allen ist, so haben sich die Damen (einige M ä n n i n n e n etwa ausgenommen) nie damit abgegeben. Auch die vier Arten von

*)

Die Rede ist bey solchen Vergleichungen nie von Allen; denn es giebt A u s n a h m e n , das

versteht sich von selbst; auch nicht vom M e h r oder We n i g e r ; sondern von dem, was ordentlicher weise von den Meisten, im Durchschnitt genommen, wahr ist.

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B a l l s p i e l , welche hier erwähnt werden, bleiben billig den Männern überlassen; und kommen auch bey uns immer mehr ab, so wie wir dem berühmten Wunderjahr, wo die Männer in Weiber verwandelt werden sollen, näher kommen. An die Stelle dieser Leibesspiele, welche sich besser für die Schultern der H e r k u l e s s e und die Arme der P e n t h e s i l e e n schicken, als für die schmächtigen, zarten, mit Rosen genährten Männerchen und Weibchen, für welche Hr. von P. hauptsächlich zu sorgen hat, sind das B i l l i a r d (eine Art von M a i l s p i e l i m Z i m m e r ) das Trou-Madame, dem ich keinen andern teutschen Namen kenne als den sehr unhöflichen — N a r r e n s p i e l , und der 10

Vo l a n t gekommen, von denen das letztere als eine der zartern Leibesbeschaffenheit der Damen vorzüglich angemessene Leibesübung, durch den Umstand, daß es Gelegenheit giebt die Grazien der Figur und eines schönen Arms auf tausenderley Art zu ihrem Vortheil zu entwikeln, einen neuen Werth erhält. Einiger Kinder-Spiele, wobey es hauptsächlich auf die Behendigkeit ankommt, als da sind das Jeu des Barres, (zu teutsch, K ä m m e r c h e n s p i e l e n ) die Quatre- Coins ( w i e g e f ä l l t d i r d e i n N a c h b a r ? oder, w o i s t g u t B i e r f e i l ? ) Colin-Maillard ( b l i n d e K u h , in Oberteutschland auch b l i n d e M a u s ) Main-chaude, dem ich keinen teutschen Namen weiß, erwähnt Hr. v. P. wie billig nur im Vorbeygehen. Letzteres ist bekanntermassen eine Art

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von blinder Kuh, wo derjenige, dem die Augen verbunden werden, die flache Hand auf den Rücken halten und sich von den übrigen ebenfalls mit der flachen Hand tüchtige Schmitze geben lassen muß, bis er erräth wer sie ihm gegeben hat. Die Damen, um an ihren weichen Händchen nicht so leicht erkannt zu werden, sind nicht diejenigen, die bey diesem Spiel des Patienten am meisten schonen. Aber dafür (sagt Hr. v. P**) hat er auch den Trost, sein Haupt auf den Knieen seiner Verfolgerinnen liegen zu haben — ein Glück, dessen hoher Werth, wie es scheint, erst dann recht geschäzt wird, wann man keine Ansprüche auf die Vortheile desselben mehr zu machen hat. Doch, es ist keineswegs unsre Meynung, dem Hrn. von P** in seiner Rezen-

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sion aller Jeux d’Exercice et d’addresse und aller Arten von Hasard- und Commerzspielen zur Seite zu gehen. Die bloßen Nahmen dieser Spiele, von denen die meisten nicht mehr üblich sind, würden etliche Seiten anfüllen; und man sollte denken Hr. von P** hätte sich viele unnöthige Mühe ersparen können, wenn er die Frau von *** geradezu auf die Academie des Jeux, ein bekanntes und nichts weniger als seltnes Buch, verwiesen hätte. Wir unterbrechen uns

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also hier eine Weile in einer Arbeit, die unsern Lesern eben so lästig fallen möchte als uns selbst; und hoffen, statt eines trocknen und wenig unterrichtenden Nahmenregisters, sie mit einigen Historischen Nachrichten und Anekdoten von den ältesten Arten der Zeitkürzungsspiele, vornehmlich dem Schachspiel, als dem König von allen, auf eine angenehmere Art unterhalten zu können; wiewohl wir uns bey dieser (wenn man will) m i k r o l o g i s c h e n Arbeit von der Hülfe unsers gelehrten Marquis, der bloß für Madame de *** schrieb, gänzlich verlassen finden. Die Erfindung der W ü r f e l , und eines bey den Griechen üblichen Jeu d’Addresse, welches mit unserm Kegelspiele einige Ähnlichkeit hat, wurde

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keinem geringern als dem Erfinder aller Künste und Wissenschaften, dem T h e u t oder Hermes (Merkur) der Egypter zugeschrieben. Wir haben davon das Zeugnis des P l a t o , der in seinem P h ä d r u s dem Sokrates eine Unterredung zwischen diesem Theut und dem Egyptischen Könige Thamus in den Mund legt, welche er, ohne seinen Gewährsmann zu nennen, gehört zu haben vorgiebt. So wenig Beweiskraft diese Stelle hat, so beweißt sie doch, daß die Erfindung dieser Spiele sich in dem grauesten Alterthum verliert. Ein anders bey den Alten sehr übliches F i n g e r s p i e l , welches die Franzosen la Mourre, die Italiener la Mora, die Lateiner digitis micare nennen, und welches, aller Vermuthung nach mit einer gewissen sehr alten Art m i t

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d e n F i n g e r n z u r e c h n e n , zusammenhieng, soll die schöne H e l e n a , um sich und den Trojanischen Damen während der langweiligen Belagerung von Troja die Zeit zu vertreiben, erfunden haben. Diese ohnezweifel älteste Art zu rechnen, weil sie die natürlichste ist, wurde nach und nach immer weiter und endlich so weit getrieben, daß man durch die verschiedene Articulirung und Stellung der Finger bis auf eine Million zählen konnte *); ich vermuthe also, daß das Feine dieses Spiels in der Behendigkeit bestanden habe, womit man mit den Fingern gewisse Zahlen andeutete, welche der andere eben so behende errathen mußte. Doch wird dieses Spiel auch auf eine Art, welche keine Kent*)

Der berühmte B e d a , Ve n e r a b i l i s zugenahmt, ein Brittischer Mönch, der im 7ten Jahr-

hundert gelebt hat, und der gelehrteste Mann seiner ungelehrten Zeit war, hat einen Tractat über diese Art zu rechnen geschrieben, nach dessen Anweisung ein gewisser J o h a n n B o g a r d die sämtlichen Figuren derselben von 1 bis 1000000 in Kupfer gestochen i. J. 1544 zu Paris herausgegeben; aus welchem Werke sie seitdem in verschiedene andre, die von den geheimen Künsten handeln, gekommen sind.

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nis der Fingerrechenkunst voraussezt, gespielt: indem man blos so behend als möglich mehr oder weniger Finger auf und zuklappt, und den andern g e r a d o d e r u n g e r a d ? rathen läßt. Von welcher dieser Spielarten die schöne Tochter der Leda Erfinderin gewesen seyn mag, kann ich nicht sagen; immer ist gewiß, daß derjenige, der ihr diese Erfindung zugeschrieben, den Prinzen, Rittern und edlen Herren am Hofe des alten Priamus wenige Ehre dadurch angethan hat. Auf der andern Seite soll P a l a m e d e s , im Lager der Griechen vor Troja, zum Behuf der Griechischen Feldherren und Officiers, denen die zehnjährige 10

Belagerung dieser Stadt, wie es scheint, nicht weniger müßige Stunden ließ als die Blocade von Gibraltar den Spanischen, die nehmlichen Spiele erfunden, oder vielleicht nur eingeführt haben, welche Platon dem Egyptischen Theut beylegt. H e r o d o t (den die treuherzige Art womit er seine Mährchen, so wie er sie gehört hatte, nacherzählt, in den Augen verschiedner Historischer Kunstrichter nur desto glaubwürdiger macht) schreibt die Erfindung der meisten Ergötzungsspiele, die bey den Griechen üblich waren, einem uralten Lydischen König, Nahmens A t y s zu, der, nach Hrn. F r e r e t s Ausrechnung wenigstens Dritthalbhundert Jahre vor dem Trojanischen Kriege gelebt hat. Eine große

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Hungersnoth hatte das Reich dieses Fürsten aufs äusserste gebracht. Die Unmöglichkeit der gemeinen Noth abzuhelfen, veranlaßte ihn endlich auf ein Mittel zu denken, dem Volke wenigstens d a s G e f ü h l seines Elendes zu benehmen. Zu diesem Ende erfand er (vermuthlich mit Hülfe seiner Minister, Philosophen und schönen Geister) die besagten Spiele, als ein Zerstreuungsmittel, das durch die Leidenschaften, welche mit ins Spiel gezogen werden, geschickt schien, ihre Aufmerksamkeit von den Gedanken an ihren Zustand abzukehren. Das Volk wurde in zwoo Klassen abgetheilt, welche Tag um Tag entweder zu essen bekamen oder spielten. Heute spielte die eine Klasse während die andre gespeißt wurde; den folgenden Tag wurde der Tisch für die

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gestrigen Spieler gedekt, und jene mußten indeßen ihrem Magen mit Würfeln oder Ball schlagen die Zeit vertreiben. Herr F r e r e t , der dieser Anekdote in seiner Abhandlung über die Zeitrechnung des Lydischen Reiches Erwähnung thut, meynt, es sey nicht natürlich, eine Hungersnoth für die Mutter von Ergötzlichkeiten zu halten. Aber es ist wenigstens nicht unnatürlicher als die Dürftigkeit zur Mutter der Liebe zu machen, wie Plato in seinem Gastmal

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thut. Und wer weiß ob nicht wir selbst die Zeit noch erleben, wo irgend ein schlauer Plusmacher auf den Einfall kommt, diese alte Erfindung des Königs Atys von Lydien zur Grundlage einer neuen Finanzspekulation zu machen, welche die Einkünfte seines Herrn, durch die bloße Abschaffung von 182 ½ Mahlzeiten des Jahrs, wenigstens um 3 bis 400 Prozent vermehren würde. Wie dem auch seyn mag, soviel ergiebt sich aus Homers erster Odyssee, daß das Spiel mit einer Art von steinernen Kegeln, die man Pessow nannte, (und welches das einzige ist, an dessen Erfindung die Lydier, nach Herodots ausdrüklicher Bemerkung, keinen Anspruch machten) zu den Zeiten des Trojanischen Krieges unter den Griechen schon so gewöhnlich war: daß Minerva,

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wie sie in Gestalt des Königs Menthes Ulyssens Palast besucht, die Sponsierer der göttlichen Penelope vor der Thüre über diesem Spiele antrift. Athenäus giebt uns in seinen g e l e h r t e n T i s c h r e d e n eine sehr deutliche Beschreibung, wie die besagten Freyer dieses Spiel gespielt hätten; und führt zu seinem Gewährsmann einen gewissen Appion von Alexandria an, der es von einem Ithazenser Nahmens Kteson unmittelbar gehört zu haben versicherte. Es waren nehmlich Hundert und acht Edle Herren, theils aus Ithaka, theils aus den nächst gelegnen Inseln, welche auf die Gemalin und Güter des Ulysses Anspruch machten; und eben so viele Pessoi oder länglichte, unten vierekichte, und oben zugeründete Steine brauchten sie zu diesem Spiele. Die Freyer

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stellten sich in zwo Reyhen gegen einander über, 54 gegen 54, und eben so wurden auch ihre Steine gesezt, so daß zwischen den beyden Schlachtordnungen ein leerer Plaz blieb, in dessen Mitte ein besonderer Stein gesezt wurde, der den Nahmen P e n e l o p e bekam. Diese Penelope war nun das Ziel, wornach die Herren in einer bestimmten Entfernung werfen mußten; und die Ordnung des Werfens wurde durchs Loos entschieden. Der erste warf also nach der besagten Penelope, und wenn er so geschikt oder so glüklich warf, sie zu treffen und von ihrer Stelle wegzurücken, so wurde sein Stein an ihren Plaz gesezt, und er warf nun von diesem Standpunct zum zweytenmale nach der Penelope. *) Traf er sie ohne einen von den andern Steinen zu berühren, so hatte *)

So verstehe ich wenigstens den Text des Athenäus, und begreiffe nicht wie er anders ver-

standen werden könne; wiewohl Herr J a c o b D a l e s c h a m p , der Lateinische Übersetzer, ich weiß nicht wie, Mittel gefunden hat, aus der ganz klaren Erzählung des Texts, ich weiß nicht was zu machen, das gar keinen Sinn hat. Ich weiß nichts zu seiner Entschuldigung zu sagen, als daß dies so ziemlich gewöhnlich bey ihm ist.

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er gewonnen, und hielt’s für eine Vorbedeutung, daß er der glükliche sey, der zulezt die Braut heimführen werde; und je öfter Einer in diesem Spiele obgesiegt hatte, je höher stieg seine Hofnung. Dieses Spiel war also zugleich eine Art von Sortilegium, und wurde, wie es scheint, bey den Alten auch öfters zu diesem Ende gebraucht. Homer gedenkt auch noch andrer Spiele, mit denen sich die Freyer der schönen Penelope die Zeit kürzten: aber da sie von der kriegerischen und gymastischen Art sind, welche bey den Griechen, außer den lieblichen Spielen der M u s e n , und G r a z i e n — Gesang, Tanz, Musik und Theaterspiele — fast 10

alle andre Spiele verdrängten: so gehören sie nicht zu unserm dermaligen Gegenstand. Die vorerwähnte Sage, die den P a l a m e d e s zum Erfinder des beschriebnen Spiels mit den steinernen Kegeln macht, hat durch einen lächerlichen Irthum viele Gelehrte veranlaßt, diesen Griechischen Prinzen für den Erfinder des S c h a c h s p i e l s auszugeben. Denn es ist nicht abzusehen was diesen Irthum hätte veranlaßen können, wenn er nicht daher entstanden ist, daß irgend einer (z. Ex. der lateinische Übersetzer des Aelians) das griechische Pessoi durch Latrunculi übersezt hat; und daß unsre neuern Lateiner das Schachspiel ludum l a t r u n c u l o r u m zu nennen pflegen, wiewohl das Sol-

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datenspiel (welches bey den Römern diesen Nahmen führte und viele Ähnlichkeit mit unserm sogenannten Damenspiel gehabt zu haben scheint) von dem Spiele der Homerischen Freyer eben so verschieden ist als vom Schachspiel; wie wir besser unten zeigen werden. Das wahre Schachspiel ist aus einer viel spätern Zeit, und war in Europa bis auf die Zeit der Kreuzzüge unbekannt. Es ist ein M o r g e n l ä n d i s c h e s Spiel. Die ersten Abendländischen Schriftsteller, welche dessen erwähnt haben, sind die Verfasser der Rittergeschichten von der Tafelrunde; und unter den Griechen ist die berühmte Prinzessin A n n a C o m n e n a die erste, die davon unter dem Nahmen Z a t r i k i o n als von einem Spiele spricht das von den Persern zu

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den Griechen gebracht worden. Aber auch die Perser gestehen *) daß sie nicht die Erfinder desselben sind, sondern es erst in den Zeiten des großen K h o s *)

Daß Meiste was wir hier vom Schachspiel sagen werden, ist theils aus H y d e n s Buch v o n

d e n S p i e l e n d e r M o r g e n l ä n d e r , theils aus einer Akademischen Vorlesung des F r e r e t , gezogen, welche man im 3ten Theile der Histoire de l’Acad. des Inscriptions, vom Jahr 1731 finden kann.

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r u , oder K o s r o e s , also gegen die Mitte des 6ten Jahrhunderts, aus Indien erhalten haben. Ungefehr um eben diese Zeit, nehmlich unter der Regierung des Wu - T i haben es auch die Schineser, laut ihres eignen Bekentnisses, von den Indianern erhalten. Unter diesen soll es, zu Anfang des 5ten Jahrh. unsrer Zeitrechnung, ein Bramin, Nahmens N a s s i r D a h e r s S o h n , erfunden haben: um einen damaligen jungen und mächtigen König von Indien, Nahmens B e h i i b , oder B e h r a m , der in den ziemlich gewöhnlichen Fehler der Könige, von sich selbst zu groß und von den Menschen unter ihm zu gering zu denken, gefallen war, mit guter Art von der Wahrheit zu überzeugen: daß ein König m a t werden muß, sobald er von seinen Unterthanen verlassen wird,

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oder keine mehr hat. Hundert andre wakre Leute, Raja’s und Braminen, hatten dies dem jungen Fürsten gerade zu gesagt; aber er hatte es auch so übel genommen, daß alle die guten Leute, die es gewagt, seine tyrannische Regierung zu mißbilligen und ihm dagegen Vorstellungen zu thun, ihre Freymüthigkeit mit dem Leben hatten bezahlen müßen. Die natürlichen Folgen einer solchen Art zu verfahren blieben nicht lange aus. Die unterdrückten Völker gaben bereits durch gefährliche Zeichen zu erkennen, daß ihre Geduld erschöpft war, und die zinßbarn Fürsten kehrten schon Anstalten vor, sich diesen Umstand zu nutze zu machen — als N a s s i r * ) der Sohn D a h e r s , gerührt von dem Elend worunter sein Vaterland seufzte, und von dem noch größern so

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ihm bevorstand, auf den Gedanken kam, seinem König über die unglüklichen Folgen, welche sein Betragen unfehlbar nach sich ziehen würde, die Augen zu öfnen. Aber die Beyspiele seiner Vorgänger belehrten ihn, daß seine Lection auf keine andre Weise von gutem Erfolg seyn würde, als wenn der Fürst sich solche selbst zu geben, und nicht, sie von einen andern zu empfangen, glauben würde. Zu diesem Ende also ersann er das Königspiel: wo der Schach oder König, wiewohl der Wichtigste unter allen Steinen, und der zu dessen Beschützung alle übrigen da sind, doch weder zum Angriff geschikt ist, noch sich selbst gegen seine Feinde beschützen kann, wenn seine Unterthanen nicht das Beste dabey thun: und wo die gemeinen Soldaten die wichtigsten Dienste thun, und eben deßwegen auch auf alle mögliche weise geschont werden müssen; weil der unzeitige Verlust eines einzigen genug ist, den Untergang des Königs nach sich zu ziehen oder zu beschleunigen. Das neue Spiel wurde bald *)

Die Araber nennen ihn S i s s a .

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überall bekannt. Der König hörte davon sprechen, und bekam bald Lust es von dem Erfinder selbst zu lernen. Der Bramine wurde nach Hofe berufen, und hatte, unter dem Vorwand dem König die Regeln des Spiels zu erklären, Gelegenheit genug, ihm auf eine feine und seine Eitelkeit nicht beleidigende Art alle die großen Wahrheiten beyzubringen, die er aus dem Munde der hofmeisterlichen Rajas und Braminen nicht hatte annehmen wollen. Kurz, der Fürst, dem es weder an Verstand noch Anlage zu edeln Gesinnungen fehlte, machte die Anwendung der Spiellectionen des Braminen Nassir auf sich selbst, änderte sein Betragen, gewann das Herz seiner Unterthanen wieder, 10

und wandte dadurch all das Unglück ab, das sich über ihm zusammengezogen hatte. So erzählen die Arabischen Autoren die Geschichte der Erfindung des Schachspiels: und man muß gestehen, wenn es nur ein Mährchen seyn sollte, so ists wenigstens gut erfunden: und die ganze Beschaffenheit dieses edeln Spiels stimmt aufs vollkommenste mit dem Endzweck überein, der dem Erfinder beygelegt wird. Doch — wir müssen nicht vergessen, unsern Lesern auch (aus dem Munde eines ungenannten Rabbinen in H y d e’ s Werke de Ludis Orientalium) zu erzählen, wie der König von Indien den Braminen S i s s a (oder N a s s i r ) für eine

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so schöne Erfindung belohnte. S o h n D a h e r s , sagte B e h r a m zu ihm, ich erkenne, daß du ein Mann bist, in welchem der Geist der Weisheit wohnt; begehre nun frey, was ich dir geben soll, es sey so tief oder so hoch du willst; fodre bis zur Hälfte meines Reichs; es soll dir werden. Sissa, der Weise, beugte sich mit seinem Antliz zur Erde, und antwortete dem König: Mein Herr König, wenn ich Gnade funden habe vor deinen Augen, so gewähre mich dessen, was ich von dir bitten will. Siehe, ich habe die Tafel meines Spiels, die hier vor dir liegt, in 64 Felder abgetheilt. So befiehl nun deinen Knechten, welche über deine Getraide-Häuser gesezt sind, daß sie auf das erste Feld legen Ein Waizenkorn, auf das andre zwey, auf das dritte vier, auf das vierte acht, und so

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immer auf das nächstfolgende noch einmal soviel als auf das vorgehende, bis zum lezten der 64 Felder; und mein Herr der König lasse dies meine Belohnung seyn. Wie der König dies hörte, gerieth er in einen großen Zorn, und verachtete den Braminen in seinem Herzen, sprechend: Du hast nicht gefodert wie ein weiser Mann, sondern wie ein Narr. Meynst du etwa, daß ich nicht Macht genug habe, dir etwas Großes zu geben, daß du etwas so geringes von

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mir verlangst? Aber der Bramine blieb dabey, daß ihm an der gebetnen Belohnung vollkommen genüge; und sezte hinzu: wenn es Sr. Hoheit ja zu wenig dünke, so möchte er ihm doppelt soviel geben lassen. Der König ließ also den Oberaufseher über seine Kornhäuser kommen, und befahl ihm, dem Braminen zu geben, was er begehrt hatte. Aber es zeigte sich bald, daß der weise S i s s a seinem Herrn in dieser Bitte abermals eine indirecte Lection hatte beybringen wollen. Denn der Oberaufseher über die Kornhäuser kam in kurzem wieder zurück, und versicherte: er habe zwar die Summe der Waizenkörner, die der König dem Braminen zu geben befohlen, auszurechnen angefangen; aber solche, eh er noch über die Hälfte der Zahl 64 gekommen, so

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ungeheuer groß gefunden, daß es ihm unmöglich sey fortzurechnen. Alles was er davon sagen könne, sey: daß alles Korn im ganzen Reiche nicht hinlänglich wäre nur die Hälfte des Getraides zu bezahlen, welches der Bramine, nach dem Versprechen des Königs zu fodern habe *). Nun gieng dem König auf einmal ein Licht auf; er merkte was ihm der Sohn Dahers durch diese Bitte zu verstehen gegeben hatte, ließ ihn zu sich holen, umarmte und küßte ihn, und sprach: Nun sehe ich, daß die Weisheit Gottes in dir ist; von Stund an soll nach deinem Munde mein Volk regiert werden, und du sollst das Brod an meinem Tische essen! Und der weise Sissa (sezt der Ungenannte hinzu) lebte mit dem Könige, und war ihm wie sein Freund und Bruder alle Tage seines Lebens.

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Ich finde nicht, wie dieses Spiel in Indien und von seinem Erfinder genennt worden. Als es nach Persien kam, erhielt es daselbst den Namen S c h a t r e n g oder S c h a t r a n g s c h i , das K ö n i g s s p i e l ; und diesen Namen behielt es auch bey den Arabern, durch welche es vermuthlich in den mittlern Zeiten zu den Spaniern gekommen, die es X a t r a n g , oder auch mit dem Arabischen Artikel A l X a d r e s und A x a d r e s nennen. Die Griechen, die es vermuthlich erst von den Arabern, vielleicht in den Zeiten der Kalifen zu Bagdad, kennen lernten, nannten es Z a t r i k i o n ; die Franzosen le Jeu des Echecs, die Teutschen das Schachspiel (jene von dem Arabischen S c h e k oder S c h e i k , diese von dem Persischen S c h a h oder S c h a c h ) die neuern Lateiner Ludum Scacchorum, und die Italiener Scacchi. Es ist unbegreiflich, wie ein so gelehrter *)

Man hat ausgerechnet, das die ganze Summe nicht weniger erfodern würde als 16384 Städ-

te, in deren jeder 1024 Kornhäuser, in jeden Kornhause 174,762 Maas Waizen, und in jedem Maas 32,768 Körner wären; welches freylich mehr Waizen wäre, als alle Kornböden des ganzen Erdbodens seit Erschaffung der Welt enthalten haben mögen.

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Mann als S a u m a i s e war, ohne den Schatten eines Beweises aus Griechischen Schriftstellern, die Griechen zu Erfindern eines Spiels machen konnte, in welchem alles Morgenländisch ist. Denn sein ganzer Beweis ist die seltsame Frage: We r w e i ß n i c h t , d a ß m a n d i e E r f i n d u n g d i e s e s S p i e l s d e n G r i e c h e n s c h u l d i g s e y ? Von ihnen, sezt er eben so entscheidend hinzu, kam es zu den Persern. (Exercit. in Solin. p. 795.) Die Princeßin A n n a C o m n e n a , die doch wohl besser wissen konnte, was an der Sache war, sagt gerade das Gegentheil. Denn da sie, in der Erzählung der Verschwörung der Vier Gebrüder A n e m a d e n und des schwachköpfigen Senators Salomon gegen 10

den Kayser Alexius ihren Vater, den Umstand, welchem dieser Kayser die Entdeckung der Verschwörung und sein Leben zu danken hatte, erwähnt — nemlich, daß er gewohnt gewesen sey, wenn er des Nachts nicht schlafen konnte, mit einem seiner nächsten Verwandten Schach zu spielen — (welches sie to Zatrikion paizein nennt) — sezt sie hinzu: „ein Spiel, welches bey den Assyriern (denn so nannten die Griechen damals gewöhnlich die Araber, die im Besiz des alten Assyrischen und Persischen Reiches waren) erfunden worden, und von ihnen auf uns gekommen *).“ Daß diese Princeßin von dem wahren Erfinder nicht genauer unterrichtet war, benimmt ihrer Glaubwürdigkeit in der Hauptsache nichts; denn das bleibt immer gewiß, daß sie es hätte wissen müs-

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sen, wenn das Spiel, daß sie Z a t r i k i o n nennt, Griechischen Ursprungs gewesen wäre; und daß sie solchenfalls nicht daran gedacht hätte, es den Assyriern zuzuschreiben. Ob der gute Bramine Nassir die Könige durch sein Königsspiel viel weiser und besser gemacht habe, wollen wir — nicht fragen: aber wenigstens darinn hat er seinen Endzwek erreicht, daß es viele Jahrhunderte lang ein Lieblingsspiel der Morgenländischen Fürsten und Großen gewesen, und es vielleicht noch auf diesen Tag ist. Von dem K a l i f e n A l - A m i r , dem sechsten unter den Abbassiden, erzählt der Geschichtschreiber E l m a k i n , eine Anekdote, die für einen sehr heroischen Beweis seiner Passion für dieses Spiel gelten kann.

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Er spielte eben im Innersten seines Palasts mit seinem Liebling K u t e r im Schach, da einer von seinen Officiren ihn erinnerte, daß es izt Zeit wäre, seine Aufmerksamkeit wichtigern Angelegenheiten zu geben; denn die Feinde, welche Bagdad schon seit geraumer Zeit belagerten, wären im Begriff, sich von *)

Alexiad. L. XII. p. 360. edit. Possini.

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derselben Meister zu machen. Gut, ich komme ja, sagte der Kalif zu dem Officier laß mich nur erst Kutern schachmat machen. — Man erzählt von unserm standhaften C h u r f ü r s t e n v o n S a c h s e n , J o h a n n F r i e d r i c h I . einen ähnlichen Zug, aber unter Umständen, die seinem Character mehr Ehre machen. Als ihn K a y s e r K a r l V . nach der unglüklichen Schlacht bey Mühlberg in seine Gewalt bekommen, und, der Grund-Geseze des Reichs und seiner Wahlcapitulation uneingedenk, ihm durch ein aus Spanischen und Italienischen Officieren bestehendes Kriegsgericht unter dem Vorsiz des abscheulichen Duca d’Alva den Prozeß machen ließ: spielte der Churfürst eben mit H e r z o g E r n s t v o n B r a u n s c h w e i g , seinem Freund und Mitgefang-

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nen, im Schach, da ihm Karl das von jenem sinnlosen Kriegsgericht über ihn gefällte Todesurtheil ankündigen ließ. Der Churfürst hielt einen Augenblik inn, aber ohne den mindesten Anschein von Bestürzung blicken zu lassen, gab die Antwort eines Helden und eines guten Vaters, hieß darauf Herzog Ernsten, an dem der Zug war, fort ziehen, spielte mit seiner gewöhnlichen Aufmerksamkeit heiter und kaltblütig fort, und freute sich, da er Herzog Ernsten matt gemacht, seines Siegs eben so herzlich, als ob gar nichts widriges vorgegangen wäre. *) Auch der große Asiatische Eroberer T i m u r , vulgo Tamerlan genannt, war ein passionierter Liebhaber vom Schachspiel. Er spielte aber nur das G r o ß e ,

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das auf 132 Feldern mit 33 Figuren auf jeder Seite gespielt wird; das gewöhnliche mit 16 Figuren war ihm zu klein. Die Geschichte nennt sogar diejenigen mit denen ers gewöhnlich zu spielen pflegte; und unter diesen auch den A l a e d d i n oder A l a d d i n , der so geübt darinn war, daß er immer ohne sich einen Augenblick zu besinnen, zog, und doch immer allen andern überlegen war. *)

Robertsons Gesch. Karl V. Th. 3. S. 184. Diese Anekdote bringt mir eine andre ins Gedächt-

nis, welche S e n e c a von C a n u s J u l i u s , erzählt, einem edeln Römer, welchen der blutdürstige Tollhäusler K a l i g u l a , ohne eine andre Ursache als weil C a n u s noch eine altrömische Seele hatte, ermorden ließ. Caligula hatte es ihm 10 Tage vorhergesagt, daß sein Nahme auf der Todesliste stehe, und war der Mann, dem man so was glauben konnte. Als nach 10 Tagen der Hauptmann, der ihn nebst einigen andern zum Tode führen sollte, in sein Haus kam, fand er ihn ganz ruhig beym S o l d a t e n s p i e l . Folge mir, rief ihm der Hauptmann zu, und wies seine Ordre. C a n u s steht auf, zählt seine Steine, und — daß du mir nicht, sagt er zu seinem Kammeraden, nach meinem Tode sagst du habest gewonnen! Hier, spricht er darauf zum Hauptmann, sey du Zeuge, daß ich einem Stein mehr habe als er. Seneca Epist. XIV. Die Anekdote ist eben so herrlich, als die Moralische Brühe detestabel ist, welche Seneca darüber gießt.

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Timur, der sich auch im Schachspiel nicht gerne überwinden ließ, war doch billig genug, dem Aladdin seine Überlegenheit zu verzeyhen. Da ihm dieser einst in einem Meisterspiel viel zu schaffen machte und er ihm zuletzt doch den Sieg lassen mußte, rief Timur lachend aus: Aladdin, du hast gewonnen; du bist unter den Schachspielern so einzig als Timur unter den Königen. Hingegen wird von dem berühmten Sultan M a h m u d , S e b u k t e g h i n s S o h n , Gahsni genannt, erzählt, das er im Schachspiel eben so unerschöpflich an Kriegslisten und eben so unüberwindlich gewesen, als in dem ernsthaften Königsspiel, welches er mit den Morgenländischen Fürsten seiner Zeit spielte. 10

Dies gab einem Persischen Dichter, Nahmens O n s o r i , Anlaß ihm in zween Versen ein sehr grosses Compliment zu machen: Der König Mahmud spielt’ im Schach mit tausend Königen, Und jeden König macht er auch auf andre Weise mat.

Das Schachspiel ist, von den Zeiten an, da die abendländischen Fürsten und Ritter es von ihren unglücklichen Zügen nach dem Heil. Grabe mitgebracht, auch in Europa Jahrhunderte durch ein Lieblingsspiel der Großen gewesen. Daher kam es auch, daß man einem so Königlichen Spiele durch die Kostbarkeit und künstliche Arbeit des Schachbrets und der Figuren oder Steine Ehre anzuthun suchte, und hierinn mit den Morgenländern gleichsam wetteiferte; 20

als wovon man in Königlichen und Fürstlichen Kunst- und Schazkammern, so wie auch noch in manchen altedeln teutschen Familien, wo man die Reliquien der Vorfahren in gebührenden Ehren hält und aufbewahrt, noch häuffige Beweise findet. Im Orient wurde die Pracht auch in diesem Stücke so weit getrieben, daß, nach dem Geschichtschreiber Medschdi, der Persische König K o s r u , P e r v i z Sohn, ein Schachspiel, wo die eine Hälfte der Piec¸en von Hyazinth und die andre von Smaragd war, und ein andrer Persischer Monarch eines besaß, dessen mindester Stein 3000 goldne Dinars werth war. Einer von den alten Romanciers, deren Einbildungskraft immer noch über das was sie vor Augen hatten, hinausgieng, giebt uns in einer Erzählung von

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den Abentheuern, welche den vier Brüdern und Königssöhnen, G a u v a i n (oder Galwin) A g r a v a i n , G u e r e t , und G a l l e r e t auf ihrem Zug den verlohrnen L a n z e l o t zu suchen aufgestoßen, eine Beschreibung eines Schachbrets und einer Art dieses Spiel zu spielen, die in einem romantischen Gedich-

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te keine schlechte Figur machen würde. G a l l e r e t , der jüngste und artigste von diesen Brüdern, erblickt eines Tags, indem er aus einem Wald herausreitet, auf einem nicht weit entfernten Hügel ein prächtiges Schloß; und, indem er es mit Verwunderung betrachtet, sieht er ein Fräulein auf ihn zu kommen, die ihn sehr höflich anredet, und ihn im Nahmen ihrer Dame, der Gebieterin des besagten Schlosses, einladet, bey ihr auszuruhen, und nach der Tafel eine Parthie Schach mit ihr zu spielen. Denn, sezte sie hinzu, vermöge der guten Erziehung, die ein Ritter von euerm Ansehen ohnezweifel erhalten hat, kann euch dies Spiel nicht unbekannt seyn. Galleret erwiedert mit aller Courtoisie eines Ritters von der Tafelrunde; er sey zwar kein großer Meister in diesem

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Spiele; wiewohl ers öfters an König Artus Hofe spielen gesehen habe, wo der König, und die Königin Genievre, und Lanzelot, und Galwin, und die übrigen Ritter, in müßigen Stunden, sich gewöhnlich mit diesem Spiele zu ergötzen pflegten: indessen sey er auf allen Fall bereit, dem Fräulein zu folgen, wohin sie ihn führen würde. Diese brachte ihn also nach dem Schlosse, wo er von der Fee F l o r i b e l l e , einer großen, schönen und sehr muntern Dame, freundlichst empfangen wurde. Nach der Tafel führte ihn die Dame in einen prächtigen Saal, wo er, wie sie sagte, alles zu dem Schachspiel, wozu sie ihn eingeladen hatte, bereit finden würde. Galleret machte ein paar Augen von der ersten Größe, wie er einen Echiquier vor sich sah, dergleichen er noch keinen

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in seinem Leben gesehen hatte; denn der ganze Saal stellte das Schachbret vor. Er war mit großen Quadersteinen von schwarzem und weißem Marmor gepflastert, welche die Felder des Schachbrets vorstellten; und die Figuren, welche theils von Elfenbein, theils von Ebenholz zu seyn schienen, waren alle in Lebensgröße, und außerordentlich prächtig aufgeschmükt *). Ihre Waffenrüstungen waren von geschmelztem Golde, und, eben so wie ihre Kleidung, mit Perlen und Edelgesteinen von großem Werth reichlich besezt. Vorzüglich schimmerten die beyden K ö n i g e und ihre K ö n i g i n n e n in einer ganz verblendenden Herrlichkeit. Die L ä u f e r , die man damals A l s i n s oder B a n n e r t r ä g e r nannte, stellten Soldaten zu Fuß vor, aber vom Kopf zu Fuß be*)

D o n J u a n d i A u s t r i a (Philipp IV. Sohn) soll einen S c h a c h - S a a l von der nehmlichen

Einrichtung gehabt, und sich zum spielen statt der Steine lebendiger hiezu abgerichteter Personen bedient haben. War dies Nachahmung des Schachspiels der Fee Floribelle? Es ist kaum zu vermuthen, daß D . J u a n dieses Fabliau, welches Hr. v. Sainte Palaye erst kürzlich aus einer Handschrift ans Licht gezogen, bekannt gewesen seyn sollte.

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wafnet, und trugen prächtige Fahnen, von zwoo verschiedenen Farben in der Hand, in welche zwoo verschiedne Devisen mit Gold und Perlen gestikt waren. Die S p r i n g e r saßen als Ritter auf Pferden von gediegnem Golde, und man konnte nichts reichers sehen, als ihre Rüstungen, Waffen und Pferdedecken. Die T h ü r m e wurden von goldnen Elephanten getragen. Die simpeln Pions oder Bauern wurden endlich durch Soldaten zu Fuß vorgestellt, die mit Streitäxten bewafnet waren, und so martialisch aussahen, als ob sie das Zeichen zum Angriff kaum erwarten könnten. Aber das seltsamste bey dem allen war, daß der große Zauberer, der Werkmeister dieses wundervollen Schachspiels, 10

eben so geschikt wie Homers Vulkan, diesen Figuren die Eigenschaft gegeben hatte, sich auf bloße Berührung mit einem Stäbchen, welches der Spielende in der Hand hatte, von selbst nach dem Befehl desselben zu bewegen, und den Plaz einzunehmen, den ihnen dieser anwies. Die Dame des Schlosses unterrichtete den Ritter zu seinem großen Erstaunen von dieser eben so bequemen als wunderbaren Art, Schach zu spielen; und trug ihm hierauf ein Spiel an, mit der Bedingung: daß, wofern er obsiegen würde, er diesen kostbaren Eschiquier zusamt dem Schloß und der Dame oben drein gewonnen haben, hingegen wenn er das Spiel verlöhre, auf lebenslang ihr Sclave seyn sollte. Der junge Ritter erschrak zwar ein wenig über diesen Antrag; doch ermannte er sich

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sogleich wieder, und erklärte sich bereit, das Abentheuer zu untergehen; voller Hoffnung (wie die Jugend übermüthig ist und sich immer mehr zutraut als sie sollte) daß ihm der Eschiquier, das Schloß und die Dame nicht entgehen könnte. Das Spiel fieng also an. Die Dame gab ihm ein weißes Stäbchen, mit welchem er die Figuren berührte, und ihnen befahl, wie sie gehen sollten: ein gleiches that die Dame mit einem schwarzen Stäbchen. So wie die Figuren berührt wurden, schienen sie sich zu beleben, hoben ihre Streitäxte, Lanzen, Fahnen oder Schwerdter, und bewegten sich mit kriegerischen Gebehrden an den angewiesnen Plaz, als ob sie auf ihre Gegner loßgiengen; trafen aber einander nicht eher, bis in dem Augenblik, da nach den Gesetzen des Spiels eine

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Figur genommen werden mußte. Diese Art zu spielen gefiel dem jungen Ritter so wohl, daß er immer frischer auf seine Gegnerin loßgieng; aber nicht lange, so nahm das Spiel eine Wendung, die seiner Geschiklichkeit nicht soviel Ehre machte als seinem Muth. Kurz, er befand sich matt eh er’s sich versah, und es blieb ihm also kein andrer Ausweg übrig, als seine Rewangsche von der Dame zu verlangen. Sie bewilligte ihm solche zwar, doch mit der Erklärung: daß sie

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nicht länger als bis zu Sonnenuntergang, und also höchstens drey Parthien würden spielen können; auch haben wir, sezte sie hinzu, hier noch ein andres Gesez, und das ist: daß wer eine Parthie auf den vierten Zug verliert, keine Rewangsche fodern kann. Der junge Galleret ließ sich alles gefallen, spielte mit aller Aufmerksamkeit, deren er fähig war, gewann die Parthie, verlohr aber die dritte, als die entscheidende, und mußte sich also gefallen lassen, entwafnet und in ein Gefängnis abgeführt zu werden, wo er zu seiner großen Verwunderung eine Menge andrer Ritter antraf, die auf gleicheweise ihre Freyheit an die Dame des wunderbaren Schachspiels verlohren hatten. Der alte Verfasser dieses Fabliau fährt nun fort, mit einer Umständlich-

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keit, welche man uns gerne erlassen wird, zu erzählen: wie, binnen etlicher Monate, ein andrer Ritter von der Tafelrunde, Nahmens S a c r e m o r , sich in dieses Schloß verirrt, Schach gespielt, und das nehmliche Schiksal gehabt habe, wie Galleret; und wie endlich G a u v a i n selbst gekommen, die Dame auf den vierten Zug m a t t gemacht; (ein Echec, der daher auch lange Zeit l’ E c h e c d e G a u v a i n hieß, dermalen aber unter dem Nahmen l’Echec du Berger allzu bekannt ist, um von einigem Gebrauch zu seyn) alle gefangnen Ritter in Freyheit gesezt, und nach einigen andern Abentheuern, die mit diesem verflochten sind, seinen Bruder Gatheret in den Besiz des Eschiquier, des Schlosses und der schönen Fee Floribelle, der Dame desselben, gesezt — Wir merken aber, daß es hohe Zeit ist, in den Weg zurük zulenken, von welchem uns das Schachspiel der Fee Floribelle auf die Seite geführt hat; wiewohl man zu sagen pflegt, daß dem, der nur spazieren geht, (und dies ist doch hier unser Geschäfte) jeder Weg der rechte ist. (Die Fortsetzung nächstens.) W.

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Auszüge aus den Melanges tirés d’une grande Bibliotheque *). (Fortgesezt von S. 70. des vorigen Monats.) Wenn die Ritterbücher und F a b l i a u x , des 12ten und 13ten Jahrhunderts historischen Glauben in irgend einem Puncte verdienen könnten, so wäre das Alter des Schachspiels in Europa um viele Jahrhunderte früher hinauszusetzen, als wir es neulich nach F r e r e t s Meynung angegeben haben. Aber die gröbsten Verstoße wider die Chronologie, Geographie und Geschichte sind diesen Romandichtern so gewöhnlich: daß es ihnen nicht mehr Mühe gekostet 10

hat, die Ritter an Königs Artus Hofe Schach spielen zu lassen, als Babylon nach Egypten zu versetzen, die Emirn der Araber in Admirale zu verwandeln, und Carl dem Großen eine Kreuzfarth nach Palästina anzudichten. Es war ihnen genug, daß das Schachspiel zu Ihren Zeiten an den Höfen der großen Herren in Frankreich gespielt, und die Geschiklichkeit in demselben für eine Zuständigkeit eines wohlerzogenen Ritters angesehen wurde: um sich versichert zu halten, daß es den Rittern der Tafelrunde, als den wahren und vollkommensten Modellen aller ritterlichen Eigenschaften und Tugenden, auch a n d i e s e r nicht habe fehlen können. Einen stärkern Beweis gegen die Meynung des Hrn. F r e r e t würde das

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Schachspiel mit großen elfenbeinernen Figuren und Arabischen Charakteren abgeben, welches in dem Schaz der Abtey St. Denys gezeigt wird: wenn das Vorgeben gegründet wäre, daß es Karl dem Großen zugehört, der es aus dem Orient (vermuthlich unter den Geschenken des Kalifen H a r u n A l R e s c h i d ) erhalten habe. Allein die Arabischen Charakteren geben dieser Tradition um so weniger Gewicht, weil die Figuren nicht Morgenländisch sondern nach Europäischer Art gebildet sind. Dieser lezte Umstand, und der Nahme des Künst*)

Wir fahren fort, die Aufsätze, die wir unter dieser Rubrik geben, A u s z ü g e a u s d e n

Melanges etc., zu nennen, wiewohl wir, so oft wir uns dazu veranlaßt und aufgelegt finden, von dem Wege des Hrn. M. v. P. abschweiffen und unsern eignen gehen. Wenn nur der Zwek, unsre 30

Leser zu unterhalten, erreicht wird, so ists gleichviel, unter welchem Titel es geschieht.

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lers, J o s e p h N i c o l a u s , könte eher die Vermuthung erwecken, daß es das Werk eines spätern G r i e c h i s c h e n Meisters gewesen. Wenn Karl das Schachspiel gekannt oder geliebt hätte, so würde sich doch wohl im E g i n h a r d , der so sehr ins Dedail seines häuslichen Lebens geht, eine Spur davon finden. Noch weniger Aufmerksamkeit verdient die Anekdote, die in des berühmten G u s t a v u s S e l e n u s , oder Herzogs A u g u s t v o n L ü n e b u r g , A u s f ü h r l i c h e r B e s c h r e i b u n g d e s S c h a c h - o d e r K ö n i g s s p i e l s , pag. 14. aus zwoen ungedrukten Bayerischen Chroniken angeführt ist, „von dem Sohn eines Herzogs Okar in Bayern, der an dem Hofe Königs Pipins von Frankreich gelebt haben, und von dem Sohn des Königs erschlagen worden seyn soll, weil

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dieser nicht habe leiden können, daß ihm jener im Schachspiel immer überlegen gewesen.“ Eine andre handschriftliche Chronik, auf welche sich Herz. A u g u s t beruft, erzählt die Sache folgendermaßen: „ D i e z w e e n F ü r s t e n , Herzog A l b r e c h t und Herzog O k a r , h a t t e n n i t m e h r d e n n e i n e n S u n (haben sie ihn mit einander gehabt?) D e r w a r d e r s c h l a g e n i n s e i n e n j u n g e n Ta g e n m i t e i n e m S c h a c h z a b e l b r e t a n K ö n i g P i p i n u s H o f e v o n F r a n k r e i c h v o n e i n e m a n d e r n j u n g e n F ü r s t e n . “ Der Sohn des Königs P i p i n u s , den der Sohn dieser beyden angeblichen Herzoge von Bayern mit einem Schachbret erschlagen haben soll, müßte nur einer von den vielen natürlichen Söhnen gewesen seyn, die ihm von einigen Genealogisten

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zugeschrieben werden, wiewohl die gleichzeitigen Geschichtschreiber ihrer keine Meldung thun. Denn von den drey Söhnen, die er von seiner Gemahlin B e r t h a hatte, wurde keiner mit einem Schachzabelbret erschlagen. Die beyden ältesten K a r l und K a r l m a n n regierten nach ihrem Vater, und der jüngste, P i p i n , starb, eh er wußte was Schachspiel war, in seinem dritten Jahre. Die erste Chronik spricht aber so, als ob Pipin nur Einen Sohn gehabt hätte; die andre hingegen sagt gar nichts von einem Sohn des Pipinus. Überdies kommen in der Geschichte dieser Zeit wohl ein paar edle Bayrische Herren, Nahmens A d e l b e r t und O t t k e r vor, welche mit dem Bayrischen Hause verwandt, aber darum weder Herzog von Bayern waren, noch so genennt wurden. Die ganze Anekdote sieht also einem Mährlein sehr ähnlich, und scheint für das Alterthum des Schachspiels nicht viel mehr zu beweisen, als die Geschichte der vier Haymons Kinder: wo Kayser Karls Neffe Reinholden von Montauban ebenfalls wegen eines überm Schachspiel entstandenen Haders das Schachzabelbret an den Kopf wirft, dieser aber den Spaß unrecht versteht,

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und mit dem nehmlichen Schachbret dem Prinzen einen solchen Schlag vor die Stirne giebt, daß er gählings todt zu Boden fällt. Etwas ist an dergleichen alten Volksromanen und Traditionen immer historisch; aber da es selten möglich ist, es von dem erdichteten zu unterscheiden; so können die daraus hergenommene Zeugnisse in zweifelhaften historischen Fällen von keinem Gewichte seyn. Gesezt also, daß eine würkliche Begebenheit an König Pipins Hofe zu jener Anekdote den Anlaß gegeben hätte: könnte das Spiel, worüber die jungen Fürstensöhne sich entzweyten, nicht das alte Römische Soldatenspiel (ludus latrunculorum) gewesen seyn? — welches von den Römern zu den 10

Galliern und von den Galliern zu den Franken übergegangen, bey diesen aber nach und nach aus der Gewohnheit gekommen, und endlich, da das Schachspiel im zwölften Jahrhundert den Weg nach Europa gefunden, von diesem nicht nur gänzlich verdrungen, sondern auch in der Folge von den unwissenden Schriftstellern dieser Zeiten mit demselben verwechselt worden? Da beyde Spiele, so wesentlich auch ihre Verschiedenheit ist, doch in verschiednen Stücken, und hauptsächlich darinn übereinkommen, daß beyden der Name von K r i e g s - oder S o l d a t e n s p i e l e n ganz eigentlich zukommt: so war diese Verwechslung bey Romanschreibern, die wenig oder gar keine Kenntnis des Alterthums hatten, um so leichter möglich, als von jenem Rö-

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mischen Spiele sich immer noch einige Erinnerung und Tradition erhalten haben mochte. Aber wie beynahe alle Neuern Philologen sich so fest haben in den Kopf setzen können, die dem Palamedes (wiewohl ohne Grund) zugeschriebne petteia der Griechen (oder, das oben beschriebne Kegelspiel der Homerischen Freyer) und den ludum latrunculorum der Römer mit dem Morgenländischen Schachspiel zu vermengen: würde unbegreiflich seyn, wenn man nicht wüßte, daß ein einziger Mann wie S a u m a i s e Ansehen genug hatte, hundert andre auf sein blosses Wort irre zu führen. Das wenige was man aus Zusammentragung und Vergleichung aller Stellen, worinn in den alten Römischen Schriftstellern des L a t r o n e n - oder L a -

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t r u n k e l n - S p i e l s beyläufig Erwähnung geschieht, herausbringen kann, ist zwar nicht hinreichend, uns einen ganz deutlichen und kunstmäßigen Begriff davon zu geben: aber doch mehr als vonnöthen ist, um einen jeden, der bloß sehen will was da ist, zu überzeugen, daß zwischen diesem Römischen und dem Schachspiel nicht mehr Ähnlichkeit war, als zwischen dem Schach und dem Damenspiel. Da wir izt doch einmal über diese Materie gerathen sind, so

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werden diejenigen Leser, die für A l l e s M e n s c h l i c h e — und also auch für die Spiele der Menschen einige C u r i o s i t ä t haben, uns gerne erlauben, auch bey dem Spiele, das einst so viel Reiz für d i e H e r r e n d e r We l t hatte, uns noch ein wenig zu verweilen. Und warum sollten die Spiele der Menschen der Aufmerksamkeit des Philosophen unwürdig seyn? Spielen ist die erste und einzige Beschäftigung unsrer Kindheit, und bleibt uns die angenehmste unser ganzes Leben durch. Arbeiten wie ein Lastvieh ist das traurige Loos der niedrigsten, unglüklichsten und — zahlreichsten Classe der Sterblichen; aber es ist den Absichten und Wünschen der Natur zuwider. Der Mensch ist nur dann an Leib und Seele

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gesund, frisch, munter und kräftig, fühlt sich nur dann glüklich im Genuß seines Daseyns, wenn ihm alle seine Verrichtungen, geistige und körperliche, zum S p i e l e werden. Die schönsten Künste der Musen sind S p i e l e , und ohne die keuschen Grazien stellen auch die Götter (wie Pindar singt) weder Tänze noch Feste an. Nehmet vom Leben weg, was erzwungner Dienst der eisernen Nothwendigkeit ist, was ist in allem übrigen nicht S p i e l ? Die Künstler spielen mit der Natur, die Dichter mit ihrer Einbildungskraft, die Philosophen mit Ideen und Hypothesen, die Schönen mit unsern Herzen, und die Könige leider! mit unsern Köpfen. Wo ist je ein Fest, ein Tag öffentlicher geselliger Freude, ohne Spiele gewesen? Und wie oft ist nicht (wie das Sprüch-

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wort sagt) aus Spiel Ernst, und das was schuldloser Scherz und Nepenthe der Sorgen des Lebens seyn sollte, zur Quelle des bittersten Kummers geworden? Wie oft haben ganze Völker ihre Freyheit, ihren Ruhm, ihr Glük, im eigentlichen Verstande v e r s p i e l t ? Blos in der Beschaffenheit der Spiele und in der Art zu spielen, liegt der Unterschied, der ihren guten oder bösen Einfluß, ihre heilsamen oder verderblichen Folgen bestimmt: Aber eben dies ists, was sie in der Charakteristik der Völker und Zeiten bedeutend und merkwürdig macht. Ein aufgeklärter Geist verachtet nichts. Nichts was den Menschen angeht, nichts was ihn bezeichnet, nichts was die verborgene Federn und Räder seines Herzens aufdekt, ist dem Philosophen unerheblich. Und wo ist der Mensch weniger auf seiner Hut als wenn er spielt? Worinn spiegelt sich der Charakter einer Nation aufrichtiger ab, als in ihren herrschenden Ergötzungen? Was Plato von der Musik eines jeden Volkes sagte, gilt auch von seinen Spielen; keine Veränderung in diesen (wie in jener) die nicht die Vo r b e d e u t u n g oder die F o l g e einer Veränderung in seinem sittlichen oder politischen Zustande

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sey! — Wir würden es also als eine selbst des scharfsinnigsten Menschenforschers keineswegs unwürdige Beschäftigung ansehen, wenn ein solcher sich entschließen würde, die G e s c h i c h t e d e r S p i e l e , nach dem ganzen Umfang der Zeiten und Völker, mit philosophischen Auge betrachtet, zum Gegenstande einer genauen und vollständigen Untersuchung zu machen. Und wiewohl gegenwärtiges zu unbeträchtlich ist als ein Beytrag zu einer solchen Geschichte angesehen zu werden: so würden wir uns wenigstens erfreuen, wenn es eine Veranlassung werden könnte, einen geschikten Mann, an einem mit allen hiezu erfoderlichen litterarischen Hülfsmitteln versehenen Orte, zu 10

Unternehmung eines solchen Werkes aufzumuntern. * * * Zu P l a u t u s und E n n i u s Zeiten — wo die Römische Sprache von der Sprache des Augustischen Jahrhunderts eben so verschieden war als die Teutsche unter F r i e d r i c h II. von der unter J o s e p h II. verschieden ist — hieß Latro ein Soldat und Fur ein Knecht. Schon in Cicero’s Zeit hatten beyde Wörter (vermuthlich aus Schuld der Soldaten und Knechte) ihre erste Bedeutung im gemeinen Leben verlohren, und jenes war in R ä u b e r , dieses in S p i z b u b e ausgeartet. Aber als der Ludus latronum oder latrunculorum bey den Römern aufkam und das gewöhnlichste Spiel wurde, womit sich Officiers und

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Soldaten im Lager die Zeit vertrieben, stand das Wort Latro noch in gutem Ruf; und das Spiel behielt seinen alten Namen, auch nachdem das Wort seine alte Würde überlebt hatte. Es wurde auf einer Art von Dambret, welches beym Seneca tabula latruncularia heißt, mit Steinen (calculi) gespielt, welche latrunculi oder Soldätchen, genennt wurden. Der Name, S o l d a t e n s p i e l , unter welchem wir seiner schon einigemal erwähnt haben, ist also eine wörtliche Übersetzung seines römischen Namens; und bezeichnet zugleich einen wesentlichen Charakter des Spieles selbst: welches seiner Natur und Absicht nach ein militarisches Spiel seyn sollte, und in der Art wie beyde Spieler (denn es wurde unter Zween gespielt) nach den Gesetzen desselben, ziehen und

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schlagen mußten, eine Menge Gelegenheiten darbot, seinen Gegner in die Enge zu treiben, zu überlisten *), zu überfallen, oder sich selbst aus einer *)

I n s i d i o s o r u m si ludis bella latronum Gemmeus iste tibi miles et hostis erit. Martial.

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schlimmen Lage herauszuziehen, einen begangnen Fehler wieder gut, oder einen Fehler des Gegners sich zu nutze zu machen u. s. w. Kurz, es kam dabey, wie im Krieg, auf A n g r i f f und Ve r t h e i d i g u n g an, und war also insoferne dem Schachspiel ähnlich: aber sonst sowohl in der Beschaffenheit der Steine, als in der Art, wie es gespielt wurde, von demselben ganz verschieden. Die Steine waren zwar auch von zweyerley Farbe, nemlich weiß und schwarz, (und musten es seyn, damit jeder von den Spielenden die seinigen bequemer erkennen und übersehen konnte) aber sie waren weder an Figur noch Gang von einander unterschieden. Sie rükten in gerader Linie vor, und es wurden immer zween erfodert, um dem Feind Einen nehmen zu können *). Daher mußte

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jeder vorrückende oder sich zurükziehende Stein von einem hinter ihm stehenden bedekt seyn **). Die angeführten Stellen sind nicht hinlänglich, um daraus zu sehen, unter welchen Umständen ein Stein genommen wurde oder sich noch zurükziehen konnte; aber dies ist gewiß, daß der Erfolg des ganzen Spiels darauf beruhte, dem Feinde so viele Steine zu nehmen als möglich, oder seine Steine so einzuschließen, daß er nicht mehr ziehen konnte, welches sie a n b i n d e n (alligare) nannten ***); daß hingegen wieder allerley Mittel waren, einen angebundnen Stein wieder in Freyheit zu setzen; und daß in der Bemühung dieses auf der einen Seite zu bewürken und auf der andern Seite zu verhindern, die hauptsächlichste Finesse des Spiels lag. Auf dies deutet die

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Stelle im S e n e c a (Ep. 117.) wo er sagt: „Wem in dem Augenblik da er einen Latrunkelnspiel zusieht, angesagt wird, sein Haus brenne: der hält sich nicht auf, vorher das Spiel zu übersehen, und bekümmert sich nun wenig mehr darum, wie der angebundne Stein sich wieder herauswickeln werde.“ Die lezthin ebenfalls aus dem S e n e c a angezogne Stelle (de Tr a n q u i l . A n . c. XIV.) beweißt, daß wer einen Stein m e h r hatte als sein Gegner, sich schon größere Hoffnung machen konnte die Parthie zu gewinnen. Aus einer andern Stelle in des Vo p i s c u s Nachrichten vom Leben des Gallischen Gegenkaysers P r o *)

Cautaque non stulte latronum prælia ludat, U n u s cum gemino d i s c o l o r hoste perit! O v i d . Arte Amandi L. III.

**)

Nec tuto fugiens i n c o m i t a t u s eat. i d . Trist. II. v. 480.

***)

Ut niveus nigros, nunc ut niger a l l i g e t albos. E c l o g a a d P i s o n e m in C a t a l e c t i s Ve t . P o e t a r .

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c u l u s zeigt sich, daß der Sieger I m p e r a t o r hieß; und daß also, wie es im Schachspiel darauf ankommt, wer den andern Mat macht: es in diesem darauf an kam, wer von beyden Imperator würde, quis I m p e r a t o r exiret? P r o c u l u s , der sich durch einen unternehmenden Geist, und eine körperliche Stärke von der seltensten Art, von einem gebohrnen Räuber (denn seine Vorfahren hatten dies Handwerk schon von langem her getrieben) zum Anführer einiger römischen Legionen in Gallien in den verworrnen Zeiten des Kaysers Aurelianus geschwungen hatte: wurde (wenn Vopiscus und sein Gewährsmann Onesimus glauben verdienen) von den Lugdunensern bey einer solchen 10

Gelegenheit zum Kayser ausgerufen. Er spielte nemlich bey einem großen Gastmale ad latrunculos, und war bereits zehnmal hinter einander Imperator in diesem Spiele worden: als einer von den Gästen den Einfall hatte, ihn deßwegen scherzweise mit einem Ave Auguste! zu complimentiren. Um den Spaß rund zu machen, brachte der scherzhafte Gallier ein Purpurkleid herbey, warf es dem Sieger um die Schultern, und verehrte den neuen August mit der gewöhnlichen Kniebeugung. Die Lugdunenser, welche sich zu dem damaligen Kayser P r o b u s nicht viel Gutes zu versehen hatten, und vermuthlich mit dem Gedanken, den Proculus ihm entgegenzustellen, schon länger umgegangen waren, ergriffen das Omen. Der Spaß also wurde Ernst, und

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Proculus, wiewohl nicht auf lange Zeit, zum Römischen Imperator ausgerufen — weil er zehnmal Imperator im Soldatenspiel worden war. Aus allen den Stellen, wo dieses Spiels in den alten Römischen Schriftstellern gedacht wird und wovon wir die meisten angeführt haben, ist ersichtlich: daß es, zu Augusts Zeiten, eines der gewöhnlichsten und beliebtesten Spiele in Rom war. Ovid in seiner leichtfertigen Arte amandi macht es seinen Schülerinnen zur Pflicht, nicht unerfahren darinn zu seyn. Hingegen empfiehlt er auch dem Liebhaber, der auf eine Dame Absichten hat, seine Geschiklichkeit nicht zur Unzeit zu zeigen, und die Dame mit guter Art gewinnen zu lassen. Sive latrocinii sub imagine calculus ibit,

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F a c p e r e a t vitreus m i l e s ab hoste t u u s . L. II. 306.

Aus einer andern Stelle in der Elegie, die das zweyte Buch seiner Tristium ausmacht, erhellt, daß damals auch schon ein Buch vorhanden war, das die

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Theorie dieses Spiels abhandelte, und Vorschriften, es gut zu spielen, gab; und aus etlichen Stellen des Seneca sehen wir, daß es zu seiner Zeit Leute gab, die ihr ganzes Leben an der tabula latruncularia verspielten.*) Der gelehrte D. Hyde schließt aus allem was man von der Beschaffenheit dieses alten Spiels herausbringen kann, daß es mit unserm D a m e n s p i e l einerley gewesen sey; oder, daß der Unterschied zwischen diesem leztern und dem Römischen Soldatenspiel wenigstens nicht größer gewesen sey als der Unterschied zwischen dem Morgenländischen und Europäischen Schachspiel. Wie es aber gekommen, daß es aus einem Soldatenspiel ein Damenspiel geworden, können wir nicht sagen. Indessen scheint die Erklärung, welche

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Hyde davon giebt, indem er diese leztere Benennung von dem teutschen Wort Damm, oder D a m (wie die Engländer, Schweden und Dänen es schreiben) ableitet, der Aufmerksamkeit eines Etymologisten nicht unwerth zu seyn. Die ursprüngliche Bedeutung des Worts D a m m verliehrt sich zwar in dem frühesten Alter unsrer Sprache; scheint aber doch, so wie das Zeitwort Dammen oder D ä m m e n und das davon abstammende D ä m p f e n , sich auf etwas Kriegerisches bezogen zu haben. Denn vermuthlich ist es mit dem griechischen Wort damein einerley Ursprungs. Es ist aber nicht wohl möglich etwas bestimmtes hierüber zu sagen, da die Zeit, wann dieses Spiel unsern alten Vorfahren bekannt worden, unbekannt ist. Ta c i t u s berichtet uns zwar, daß

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sie dem Würfelspiel mit einer solchen Leidenschaft ergeben gewesen, daß sie nicht nur oft Haab und Gut dabey verspielt, sondern, wenn sie alles verlohren, zulezt sogar das, was ihnen sonst so lieb als das Leben war, ihre Freyheit selbst auf den lezten Wurf gesezt: aber von dem Soldaten- oder Damspiel erwähnt er nichts; wie er, so bekannt als ihm ihre Sitten waren, gewiß gethan hätte, wenn es ein gewöhnliches teutsches Spiel gewesen wäre. Das Damenspiel, das schon längst bey allen Europäischen Völkern üblich war, ist auch zu den Türken übergegangen, bey denen es A t l a n b a s c h i , gewöhnlicher aber, D a m a , oder D a m a O j u n i heißt. Die Griechen haben es nicht gekannt. Es war, allem Vermuthen nach, eine Erfindung der Römer, und wenigstens 800 Jahre älter als das Schachspiel, mit welchen es, so ganz ohne

*)

Persequi singulos longum est, quorum aut l a t r u n c u l i , aut pila, aut excoquendi in sole

corporis cura, consumpsere vitam. S e n . de brev. vitæ. c. XIII.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Februar 1781)

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Grund, von den meisten Gelehrten, und noch neuerlich, nachdem H y d e die Geschichte desselben schon so überzeugend ins Klare gesezt hatte, von dem französischen Herausgeber der Alexias der Cäsarissa A n n a C o m n e n a , dem Jesuiten P o s s i n , vermengt worden. Natürlicher wenigstens wäre es, zu glauben, daß der Erfinder des Schachspiels von dem Römischen Soldatenspiel einige Kenntnis gehabt, und solches, durch die vorgenommenen Veränderungen, theils zu einer größern Vollkommenheit habe bringen, theils der Morgenländischen Staats- und Kriegsverfassung, und seiner besondern Absicht auf seinen König, gemäßer einrichten 10

wollen. W.

¼3. Fortsetzung der½ A u s z ü g e

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Fortsetzung der Auszüge aus den Melangés tirés d’une grande Bibliotheque. Wir glauben für das Vergnügen unsrer meisten Leser zu arbeiten und zugleich etwas nicht unnützliches zu thun, wenn wir ohne uns an eine gewisse Ordnung zu binden, oder dem Herrn von P. in einer bereits auf 16 Bände angewachsnen Compilation Schritt vor Schritt zu folgen, Ihnen dasjenige davon mitzutheilen fortfahren, was uns im Durchlaufen besonders aufgefallen und auf die eine oder andre Art interessant vorgekommen ist. Es giebt Dinge die a n s i c h s e l b s t unendlich tief unter aller Betrachtung vernünftiger Menschen sind, aber durch Zeit und Umstände Würkungen ge-

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than haben, wodurch sie unsrer Aufmerksamkeit sehr würdig werden. Ein Buch voll platter kindischer Ammen-Mährchen ist freylich keine Unterhaltung für gesezte Leute: aber wenn eine Zeit gewesen wäre, wo diese platten Mährchen von dem größern Theil der Christenheit andächtiglich geglaubt, und durch Association mit ehrwürdigen Gegenständen und Eindrücken zu einer Grundlage gemacht worden wären, worauf gewisse Leute unter dem Schirm des öffentlichen Zutrauens eine Brustwehr für Mißbräuche aufgeführt hätten, die nur ihnen nüzlich, dem Staat hingegen und der Menschheit überhaupt unendlich nachtheilig gewesen wären; wenn diese dummen Ammenmährchen die sittlichen Begriffe des Volkes verfälscht, seinen Menschen-

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verstand abgestumpft, und dasselbe an eine Vorstellungsart gewöhnt hätten, die dem Licht der Vernunft in Dingen von der größten Wichtigkeit der Zugang auf viele Jahrhunderte verwehrt hätte — Dann wäre es doch wohl der Mühe werth, daß vernünftige Leute Notiz davon nähmen. Unter den vielen Mährchenbüchern dieser Art, womit die Christenheit im 13ten, 14ten und 15ten Jahrhundert überschwemmt wurde, hält sich Hr. v. P. (im Vten Theile der Melang.) am längsten bey einem auf, welches unter dem Titel T h r e s o r d e l’ a m e , S e e l e n s c h a z , gegen das Ende des 15ten Jahrhunderts gedrukt worden; und aus einer Menge erbaulich seyn sollender Histörchen besteht, die der Verfasser aus verschiednen in lateinischer Sprache geschriebnen ältern Legenden und Mirakelbüchern zusammengetragen und

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang August 1781)

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unter gewisse Rubriken gebracht — nichts desto weniger aber in der Vorrede gar treuherzig versichert, unter allen seinen Historien sey nicht eine einzige die nicht aus der heil. Schrift oder andern ehr- und glaubwürdigen Autoren gezogen wäre. Wir wollen ihm, zur Probe, einige von den frappantesten nacherzählen und soviel möglich seine Manier beyzubehalten suchen; wenn es anders bloß Manier war: denn der gute Mann erzählt die unglaublichsten und albernsten Wunderdinge mit einem so naiven Ton von Wahrhaftigkeit und Überzeugung, daß er entweder ein sehr guter Poet, oder, wenn er alles selbst glaubte, eine gar einfältige Seele gewesen seyn muß. 10

Der Hr. v. P. glaubt, daß folgende Geschichte zur Erfindung des sogenannten R o s e n k r a n z e s * ) Gelegenheit gegeben haben könnte, von welchem er sonst in diesem Buche keine Spur gefunden hat. Ein andächtiger junger Mönch hatte sichs aus besonderer Devotion gegen die heil. Jungfrau zum Gesez gemacht, ihr Bild, den ganzen Sommer durch, alle Morgen mit frischen Blumen zu bekränzen. Wie nun der Winter kam, und der junge Mönch in große Traurigkeit darüber verfiel daß er keine Blumen mehr finden konnte, sagte ihm der Novizen-Meister, es würde der H. Jungfrau eben so angenehm seyn, wenn er sie alle Tage anstatt mit fünfzig Rosen mit fünfzig Av e M a r i a beschenken würde. Der junge Mensch gehorchte seinem Obern, und nach

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einiger Zeit zeigte sichs daß er wohl daran gethan hatte. Denn da er einsmal in einem Walde, durch welchen er in Geschäften seines Klosters gehen mußte, von Räubern angehalten wurde, ließen diese auf einmal von ihm ab, weil sie *)

Der Rosenkranz ist eine Art von Andachtsübung, wobey in einer gewissen Ordnung das Av e

M a r i a oder der Englische Gruß, das Va t e r u n s e r und das C r e d o hergesprochen und sehr oft theils hintereinander theils wechselsweise wiederhohlt werden. Das älteste Modell zu dieser Art zu beten konnte der Erfinder desselben, wer er auch seyn mag, in den Acclamationen des Senats bey Bestätigung der spätern Kayser gefunden haben, wo gewiße Lob- und Gebetsformeln so und so oft wiederhohlt wurden, z. B. A u g u s t e C l a u d i , d i e G ö t t e r e r h a l t e n d i c h (wurde sechzigmal wiederhohlt) C l a u d i A u g u s t e , i m m e r h a b e n w i r d i c h o d e r e i n e n w i e d u z u m 30

F ü r s t e n g e w ü n s c h t (wurde vierzigmal wiederhohlt) C l a u d i A u g u s t e , d i c h b e d u r f t e d a s g e m e i n e We s e n (vierzigmal wiederhohlt) C l a u d i A u g u s t e , d u b i s t e i n g u t e r B r u d e r , Va t e r , F r e u n d , d u b i s t e i n g u t e r S e n a t o r , d u b i s t e i n ä c h t e r F ü r s t (wurde achtzigmal wiederhohlt) C l a u d i A u g u s t e , b e f r e y e u n s v o m A u r e o l u s (wurde fünfmal wiederhohlt) C l a u d i A u g u s t e , r e t t e u n s v o n d e n P a l m y r e n e r n (auch fünfmal) C l a u d i A u g u s t e , e r l ö s e u n s v o n d e r Z e n o b i a u n d V i c t o r i a (wurde siebenmal wiederhohlt) C l a u d i A u g u s t e , Te t r i c u s i s t n i c h t s g e w e s e n , (auch siebenmal) Tr e b e l l . P o l l i o in Vita Divi Claudii conf. F l a v . Vo p i s c . in Tacito c. 5. u. s. w.

¼4.½ F o r t s e t z u n g d e r A u s z ü g e

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die Jungfrau Maria erblikten, die auf seinen Schultern saß und einen Kranz von Rosen flocht, den sie ihm auf den Kopf sezte. Die Diebe wurden von diesem Mirakel so gerührt, daß sie sich auf der Stelle bekehrten; und wie der junge Mönch in sein Kloster zurükkam, zeigte sichs, daß er würklich einen Rosenkranz auf dem Kopfe hatte. Der Autor des S e e l e n s c h a t z e s führt noch mehr dergleichen Beyspiele an, wie nüzlich die Andacht zu der H. Jungfrau besonders auch für große Sünder ist. Es war einmal ein Clericus, sagt er, der leider! ein so ruchloses Leben führte daß weder Frau noch Jungfrau, die ihm in den Weg kam, vor seinen Anfällen sicher war. Bey allem dem hatte er noch soviel Gnade, daß er

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sehr andächtig gegen die Mutter Gottes war; er unterließ nie, sich vorher um den Taufnamen derjenigen die er verführen oder nöthen wollte zu erkundigen, und wenn sie M a r i e hieß, ließ er sie ungekränkt ihres Weges gehen. Unsre liebe Frau nahm ihm diesen Beweis von seiner Ehrerbietung so wohl auf, daß sie durch ihre Fürbitte seine Bekehrung und Seligkeit bewürkte. Eine Nonne, Namens B e a t r i x war Küsterin in einem gewissen Stift von Klosterfrauen, und trug immer ganz besondere Sorge die Marienbilder im Kloster und in der Kirche reinlich zu halten und herauszuputzen. Einsmals sezte der leidige Satan dieser armen Nonne so heftig zu, daß sie über die Klostermauern stieg, um auch einmal zu versuchen wie sichs in der Welt lebte.

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Würklich trieb sie es darinn sieben Jahre auf eine Art die nicht die erbaulichste war, aber keine Seele im Kloster merkte was davon; denn unsre l. Frau hatte die Gütigkeit und vertrat ihre Stelle diese ganze Zeit über; dergestalt, daß wie sie nach sieben Jahren voller Reue über ihr geführtes Sündenleben ins Kloster zurük kam, sichs sogleich zeigte daß man ihre Abwesenheit gar nicht wahrgenommen hatte. Daß die h. Jungfrau, nach der Vorstellungsart unsers guten Mönchs, nicht gleichgültig darüber ist, ob ihrer Schönheit Gerechtigkeit erwiesen wird oder nicht, ist aus folgender Geschichte zu ersehen. Ein geschikter Mahler hatte übernommen ein Bild der Maria, wie sie den Satan mit Füßen tritt, zu mahlen. Der Künstler glaubte aus guter frommer Meynung die Mutter Gottes nicht zu schön und den alten Drachen nicht abscheulich genug machen zu können; und es glükte ihm in beyden über alle maßen. Beelzebub fand sich selbst so wenig geschmeichelt, daß er aus Ingrimm über seine Häßlichkeit auf den Mahler loßstürzte und ihm den Hals umdrehen wollte. Aber unsre liebe Frau, die mit

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ihrem Bilde sehr wohl zufrieden war, nahm den Mahler in ihren Schuz, und der Teufel mußte mit einer langen Nase abziehen. Der Kirchenbann, oder die Excommunication ist in den Augen dieses Verfassers eine ganz entsezliche Sache; zum Beweis führt er (nach dem Ausdruk des Hrn. Marq. v. P.) zwey erschrekliche Begebenheiten an, welche zweyen Excommunicirten zugestoßen seyn sollen. Der eine von ihnen hatte eine große Menge Vogelnester unter seinem Dache, die sich da immer wohl befunden und ansehnlich vermehrt hatten: aber kaum war der Herr des Hauses im Bann, so flogen alle Vögel miraculoser weise auf einmal davon, weil sie mit einem Men10

schen, auf dem der Fluch des Ernulfus lag, nicht unter Einem Dache leben wollten. Ein andrer hatte ein Schwein welches gewohnt war Brodt aus seiner Hand zu fressen: aber sobald der unglükliche Mann excommuniciert war, hätte sich das Schwein eher lebendig brühen lassen eh es ihm wieder aus der Hand gefressen hätte. Uns däucht, die Absicht des wackern Mönchs, von welchem sich dieses Werk allem Ansehen nach herschreibt, war bey Anführung dieser beyden Exempel ernsthafter als der Hr. v. P. zu denken scheint. Die schreklichste Folge des Bannfluchs bestand darinn, daß der Unglükliche, der damit belegt war, von allen Menschen, selbst von seinen eignen Kindern und nächsten

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Blutsfreunden, verlassen werden mußte. Wer ihn nur unter sein Dach aufnahm, ihm nur einen Bissen Brodt, nur einen Trunk Wassers reichte, war selbst ein Kind des Verderbens, und in Gefahr, wie die Rotte Koran Datan und Abiram, von der Erde verschlungen zu werden. Da die politischen Wunder, die man durch dieses Mittel that, unsäglich groß waren, und gleichwohl lediglich von der M e y n u n g die das Volk davon hatte abhiengen: so war der Klerisey ja wohl daran gelegen, dem Volk den äußersten Abscheu vor aller Gemeinschaft mit einem Excommunicierten einzudrücken; und wie konnte dies besser geschehen, als wenn man ihnen Exempel erzählte, daß die Würkung des Bannfluchs sich sogar auf die unvernünftigen Thiere die bey einem

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excommunicirten Menschen leben erstrecke, so daß sie es entweder gar nicht mehr unter seinem Dache aushalten können, oder wenigstens durch den Instinct selbst von aller unmittelbaren Gemeinschaft mit ihm zurükgehalten werden. Noch ein andrer Punct, der unserm wohlmeynenden Autor sehr am Herzen liegt, sind die Zehenden der Klerisey. „Wer seine Zehenden richtig giebt, sagt

¼4.½ F o r t s e t z u n g d e r A u s z ü g e

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der theure Mann, dem gedeyht sein zeitlich Gut. Cäsar berichtet uns *) daß einst ein Ritter was, der sichs gar fast zu Herzen nehmen thät seine Zehenden fleißig abzutragen, und hätt große Andacht zu solchem Werk. Nun hätt er unter anderm auch einen sehr guten Weinbergk, der trug gar reichlich jedes Jahrs, also daß dem Priester allemal ein ganz Fuder Weins zu seinem Theil am Zehenden ward. Es begab sich aber einsmals daß der Wein mißrieth, und der ganz Weinbergk nit mehr trug als ein einzig Fuder. Da nun der Ritter gesah daß er nit mehr Wein bekommen hätt als er jeweilen an Zehenden zu geben pflag, sprach er zu sich selbst: Obschon mir unser Herre Gott genommen hat was er mir sonst zu schicken pflag, will ich doch I h m nichts nehmen von

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seinem Zehnten, sondern ihn bezahlen wie ich immer gethan hab. Einige Zeit darnach gieng der Priester in den Weinbergk und sah daß er voller Trauben was. Begab sich demnach zum Ritter und begann ihn zu schelten daß er seinen Wein noch nicht gelesen hätt; und der Ritter antwortete, er sey schon gelesen, und hab ihm seinen Zehenden bezahlt. La! verjähte der Priester, er sieht nicht so aus als ob eine Traube weggekommen wär. Da gingen sie zur Stund in den Weingarten, und fanden ihn so voll als er noch nie in einem Jahr getragen hätt. Daraus möcht ihr sehen, daß unser Herre Gott honett ist, und sich nichts umsonst thun läßt, und sollet wissen, wenn Leute B s c h o r i s machen und ihre Zehenden schlecht bezahlen, daß solche Leute gemeinklich von Vermögen

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fallen, und kommen auf kein grün Zweig, und was am schlimmsten ist fahren zur Hölle noch oben drein.“

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Hier ist zu, einer Probe des Styls, diese Stelle im Original. Qui bien paye ses dixmes, les biens

temporels en multiplient. Cesar nous racompte que il fut ung Chevallier qui estoit moult curieulx de bien payer ses dismes et grant devotion y avoit. Si avoit entre les aultres une tres bonne vigne qui portoit largement chacun an, tant que le Prestre en avoit une charetée de vin á sa part pour la dixme. Advint une année que la vigne faillit que il n’y eust partout que une charetée. Quant le Chevallier vist, que il n’y avoit fors ce qu’ il avoit acoustumé de payer pour la disme, si dist: Se Dieu m’a tollu (oté) ce que il me souloit envoyer, pourtant si ne touldrai-je mie sa disme telle come je la souloie payer. Quant se vint un pou aprés, le Prestre alla en la vigne et la vit toute pleine de raisins. Si s’en vint au Chevallier, et comenc¸a à blasmer de ce que il n’ avoit vendangé sa vigne; et le Chevallier dist que elle avoit èté vendangé et que il lui avoit paiée sa disme. La! dist le Prestre, que il ne sembloit pas que on y eust touché: et allerent en la vigne et la trouverent tant chargée, que oncques tant n’y en avoit eu pour une année. Or povés voir q u e D i e u e s t c o u r t o i s , et saichez que celux qui font Barat et paient mal leur dismes, communement leurs biens faillent et ne peulvent venir à plenté de biens et ils se dampnent qui pis vault.

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Der Hr. von P. schließt seinen Auszug aus diesem S e e l e n s c h a z mit der Anmerkung, daß man sehr unrecht daran thun würde, wenn man dergleichen Züge von Unwissenheit und Einfalt der heutigen Klerisey oder gar der katholischen Kirche zur Last legen wollte; und wir sind allerdings seiner Meynung, wenn seine Meynung ist, daß heutigs Tags wie damals und damals wie heutigs Tags verständige Männer sehr wohl gewußt haben daß ein Mährchen weder mehr noch weniger als ein Mährchen ist. Indessen sey uns (wiewohl wir die Betrachtungen und Nutzanwendungen, wozu diese Dinge Gelegenheit geben, gerne denen überlassen, denen am 10

meisten daran gelegen ist) nur diese einzige kleine Betrachtung erlaubt. Gut und Böse (wenigstens das Mehr oder Weniger von beyden) steht immer mit Zeiten und Umständen in Verhältnis. Gewisse Vorstellungsarten können unter einer rohen, unwissenden, äusserst sinnlichen Art von Menschen wohlthäthig seyn, die unter einem aufgeklärten Volke ungebührlich, schädlich, und gar nicht zu dulden sind. Wer ein unverdorbenes Gefühl und reine Begriffe vom Wahren und Guten hat, dem muß freylich der ruchlose Clericus, der aus besonderer Andacht zu Maria nur der Weiber und Mädchen schont die ihren Namen führen, sehr anstößig seyn. Aber in einer Zeit, wo die Religion (so aberglaubisch sie immer seyn möchte) beynahe das einzige war was zü-

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gellose Menschen respectierten, war es wenigstens für alle Marien in Frankreich sehr glüklich, daß der gewaltthätige Clerc doch noch soviel Respect vor ihrem Namen hatte. Indessen wollen wir damit nicht sagen, daß die Beförderer des Aberglaubens Ursache haben, sich auf diesen Nutzen desselben viel zu gut zu thun. Es ist damit ungefehr wie mit der Q u a k s a l b e r e y . Die hilft zuweilen auch, wenigstens für den Augenblik: aber welche verständige Obrigkeit wollte deßwegen unwissende Marktschreyer und Empyriker gegen die wahren Ärzte in ihren Schuz nehmen, oder diesen lezten gar das Handwerk niederlegen, damit Jene freye Hand und ofnes Feld behielten, die Dummheit des Volks, das zu

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Saalbadern, alten Weibern und Scharfrichtern immer mehr Zutrauen als zu wahren Ärzten hat, in Contribution zu setzen, und, mit ihren Pillen Pulvern, Salben und Wundertincturen auf gut Glük zu heilen oder zu vergiften wer ihnen in die Hände fiele? In unsern Zeiten ist es mit der Aufklärung schon so weit gekommen, daß man ihr, wofern sie nicht schädlich werden soll, den freyesten Lauf und Fortgang lassen muß. Wer dem Fortgang der Wissenschaf-

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ten Grenzen setzen will; wer den Leuten Gehör giebt, denen daran gelegen ist daß ein Volk ewig dumm bleibe; wer sich von ihnen bereden läßt, daß es den Menschen besser sey, sich mit verbundnen Augen führen zu lassen, als mit ofnen selbst zu sehen: der kennt weder das wahre Interesse seines Staats noch sein eigenes — und muß wohl sehr wenig daran denken was er in den Augen der Nachwelt für eine Figur machen werde! * * * Unter die seltsamsten Producte der finstern Zeiten und diejenigen die den Geist derselben am stärksten charakterisieren, gehört unstreitig eine der ersten Stellen dem P r o c e ß L u c i f e r s gegen J e s u s C h r i s t u s , womit ein ge-

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wisser Iacobus de Ancharano sich gegen des 14ten Jahrhunderts um die Christliche Welt verdient zu machen glaubte. Die Narrheiten der Menschen in allen Zeiten haben einander im Grunde nicht viel vorzuwerfen: und wenn unser mit allen Arten von Schellen reichlich behangnes achtzehntes Jahrhundert sich über die Thorheiten irgend eines seiner Vorgänger lustig macht, so ists immer der Premierminister, der sich über die Dame moquirt, die vor einer Spinne in Ohnmacht fallen wollte. E y M a d a m e , w e r w i r d u m e i n e r e l e n d e n S p i n n e w i l l e n e i n e n s o l c h e n L e r m a n f a n g e n ? — „Aber sie lieffen ja selbst so stark daß sie mich zu Boden rennten?“ — A h d a s glaub ich wohl, Madam, ich dachte auch es wäre eine Fleder-

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m a u s . * ) — Bey allem dem, werden unsre Leser kaum begreiffen können, wie ein so abgeschmaktes Werk als dieser Belialsproceß jemals eine so starke Sensation habe machen können als es ehmals gemacht hat. Da die litterarische Notiz, welche der Hr. v. Paulmy im Vten Bande der Melanges davon giebt, sich eigentlich nur auf die französische Übersetzung desselben erstrekt und übrigens sehr unvollständig ist, so wollen wir solche zuförderst, aus den Nachrichten die wir haben zusammenbringen können, zu ergänzen suchen. Der Verfasser wird von einigen Iacobus de Ancharano, von andern Iacobus de Theramo genannt. Er qualificiert sich selbst in der Zueignungsschrift an Pabst U r b a n VI. als Priester, Archidiaconus und Canonicus zu Aversa, (unweit Neapel) wie auch Canonicus A p r u c i n u s , das ist, Canonicus zu Te r a *)

Die Anekdote ist aus einem Buch das man nie aufhören sollte zu lesen, und das ich hoffent-

lich nicht zu nennen brauche.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang August 1781)

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m o . Denn Teramo, eine Stadt in der Neapolitanischen Landschaft A b r u z z o U l t r a , wurde ehmals auch Abruzzo oder Apruzzo genennt; und so ist klar, woher er den Beynamen de Theramo hatte. Auch findet sich am Schluß des Buchs das Datum 1368, als die Zeit worinn er es zu Stande gebracht. Die erste lateinische Ausgabe Consolatio Peccatorum, sive Liber Belial, Processus Luciferi contra Jesum, ist vom J. 1482. *) Es existierte aber um diese Zeit schon eine teutsche Übersetzung, d a s B u c h B e l i a l g e n a n n t , e i n h o c h g r ü n d t u n d l o b e s a m We r k (wie es am Schluß genennt wird) bey Johannes B ä m l e r in A u g s b u r g im Jahr 1473 **) gedrukt. Es ist mit vielen Holzschnitten geziert. 10

Der Verfasser ist unbekannt; man kann ihn aber, wenigstens so gut als aus der besten Silhouette, aus dem Anfang seiner Vorrede kennen lernen, welche also lautet: „In dem Namen der allmächtigen und ungeteylten Trivältikeyt und marie der ewigen maget zu lob und zu eren aller himlischen höre Ich hab gedacht ich wölle mich versuchen ob ich ze tewtsch mäg pringen das buch das da trachtet ob Jhesus marie sun des recht hab gehebt daß er die helle und die tewfel hab beraubet an dem tag da Got für alle Menschen gelyten hat mit dem bitren Tod des krewzes, und davon ist gesezt ein lands und ein kriegisch recht, und daß han ich mir darum fürgesezt in tewtsch ze pringen etc.“ ***) Der Verfasser der französischen Übersetzung war, nach F a b r i z i u s , ein

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Doctor der Sorbonne, Namens P e t e r F e r g e t ; der Hr. v . P a u l m y nennt ihn P . J u l i a n F e r g e t , A u g u s t i n e r O r d e n s . Seine Übersetzung erschien, nach Jenem im Jahr 1585. nach Diesem, im Jahr 1482. zu Lyon und wurde 1584 wieder aufgelegt. Sie ist wie die Teutsche mit Holzschnitten geziert, welche (wie Hr. v. P. sagt) in sehr poßierlichen aber überaus netten Figuren den ganzen Gang der gerichtlichen Procedur darstellen. Man sieht da die Teufel als Gerichtsdiener, Waibel, Procuratoren, Advocaten, Actuarien und Notarien der Hölle, nach damaliger französischer Weise gekleidet. S a l o m o n ist Oberrichter, und M o s e s der Sachwalter auf Seiten Christi. Der Teufel als Kläger fühlt sich in der Schicane stark genug um seine Sache selbst vorzutragen.

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D a v i d , J e s a i a s , E z e c h i e l , und J o h a n n e s d e r T ä u f e r werden nebst *)

F a b r i c . Bibl. Med. et Inf. Latinit. L. IX. p. 7.

**) ***)

F a b r i c i u s l. c. giebt das Jahr 1493. an. Dies Buch, welches unter die seltnen gehört, war ehmals in der Bibliothek des berühmten

Altdorfischen Polyhistors Chr. Gottl. S c h w a r z ; und was wir davon angezogen ist aus der P a r t e II. Bibl. Schwarz, sive Catalogo etc. pag. 129. genommen.

¼4.½ F o r t s e t z u n g d e r A u s z ü g e

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mehr andern als Zeugen abgehört. Ihr Zeugnis fällt zu Gunsten des Beklagten aus; aber Kläger B e l i a l wehrt sich wie — ein Teufel. Der Proceß wird in Possessorio und Petitorio geführt: endlich spricht Richter S a l o m o n zu Gunsten des Beklagten: Aber der böse Widersacher hat die Unverschämtheit an den höchsten Richter zu appelliren. Da dies kein andrer als Gott Vater selbst seyn kann, so scheint der Umstand, daß derselbe so nahe mit seinem Gegentheil verwandt ist, anfangs einige Schwierigkeit zu machen. Belial untersteht sich zwar nicht, Gott Vatern deßwegen geradezu zu recusieren; jedoch schlägt er ein Compromiß vor, welches vom andern Theil angenommen wird. A r i s t o t e l e s wird auf Seiten Christi, J e r e m i a s auf Seiten des Teufels,

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und J e s a i a s , um den Ausschlag zu geben, von Beyden als Schiedsrichter genehmiget. Man kan leicht denken, daß Belial endlich den Proceß mit allen Kosten und Schäden verliehrt. Die Juden und Heyden, die auf Anstiften des höllischen Wurms Interveniendo eingekommen waren, fallen in die gleiche Verdammnis; ja es würde den christlichen Sündern von allen Ständen nicht viel besser ergangen seyn, wenn die heilige Jungfrau nicht eine sehr ernstliche Fürbitte für sie eingelegt hätte. Dies (sagt Hr. v. P.) ist die Substanz dieses Buchs, welches zu seiner Zeit nicht nur für eines der unterhaltendsten, sondern auch für eines der lehrreichsten, und also, nach der bekannten Horazischen Regel, für ein höchst vortrefliches Werk paßierte.

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Außer den vielen Ausgaben und den Übersetzungen, die davon gemacht wurden, ist als ein Beweis der großen Achtung worinn es stund anzusehen, daß der teutsche Rechtsgelehrte J a c o b A y r e r ihm noch im Jahr 1611 die Ehre angethan, es mit eignen Zusätzen und Anmerkungen, und mit des berühmten Bartolus de Saxoferrato P r o c e ß des S a t a n s gegen die h e i l . J u n g f r a u vor dem R i c h t e r J e s u s , zu Hanau von neuem herauszugeben. *) Dieses Werk des Fürsten der Rechtsgelehrten (wie Bartolus zu seiner Zeit genennt wurde) hat aller Wahrscheinlichkeit nach dasjenige von J a c o b d e A n c h a r a n o veranlaßt, und in so fern d i e I d e e eines solchen Proceßes Ehre machen kann, ist jener als Erfinder und dieser bloß als Nachahmer zu betrachten; **) wiewohl der Nachahmer sowohl in Kühnheit des Plans als Subtilität der Ausführung sein Urbild zu verdunkeln gesucht hat. *) **)

F a b r i c . l. c. C a t a l . B i b l . B o d l e j . p. 27. B a r t o l u s starb i. J. 1356. also 30 Jahre zuvor eh der Canonicus von Teramo mit seinem

Belials-Proceß fertig war.

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Da wir nicht Gelegenheit gehabt haben diese seltsamen Bücher selbst in Augenschein zu nehmen, so ist dies alles was wir aus Veranlassung der Melanges des Hrn. v. P. davon haben auftreiben können. Wir bitten also die Liebhaber von dergleichen Curiositäten damit vorlieb zu nehmen, und überlassen es Ihnen, wieviel oder wenig Sie die Reflexion gelten lassen wollen, womit wir diesen Artikel schließen. So finster ehmals d i e Z e i t e n seyn mochten, d. i. so groß die Unwissenheit und Dumpfheit d e r L e u t e , die darinn lebten, war, und so sehr Erziehung, Lebensart, Sitten, Religions- und Staatsverfassung auf den Menschenverstand 10

dieser guten Leute drükten: so blieb ihnen doch, als ein unverlierbares Erbgut der Menschheit, noch immer soviel von besagtem Menschenverstand übrig, daß man mit bestem Fug voraussetzen kann, daß sie, nach ihrer Vorstellungsart die sich auf ihre Lage und Bedürfnisse gründete, immer eben so gute Ursachen etwas zu thun oder zu lassen, etwas hochzuschätzen oder zu verachten, gehabt haben, als die Menschen in den aufgeklärtesten Zeiten nach i h r e n Bedürfnissen und i h r e r Weise. Das Buch des Canonicus Jacob von Ancharano, das u n s so abgeschmakt vorkommt, hätte dem Publico des vierzehnten und funfzehnten Jahrhunderts unmöglich intereßant und lehrreich vorkommen können, wenn es nicht f ü r s i e würklich intereßant und lehrreich g e -

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wesen wäre. Und wie war das möglich? fragt mich vielleicht jemand, der sich nicht gerne die Mühe nimmt, sich solche Fragen selbst zubeantworten. Das war sehr möglich! Der B e l i a l s p r o c e ß war eine Art von poetischer Composition, eine nach damaliger Weise sinnreiche Art von Einkleidung solcher Religionsbegriffe, welche für das äußerst unwissende Volk einen desto anziehendern Reiz der Neuheit hatte, weil es so lange fast allein auf Mirakelund Marterbücher, mechanische Gebetsformeln, und äußerliche Übung eines mit Schaugepräng und mystischen Vorbildungen überladenen Gottesdienstes eingeschränkt gewesen war. Man weiß wie sehr die sogenannten Mysterien,

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oder religiose Schauspiele von Erschaffung der Welt, vom Sündenfall, von der Geburt und dem Leiden Christi, u. s. w. in diesen Zeiten durch die ganze Christenheit im Schwange giengen. Der Belialsproceß des Jacob von Ancharano war ein Drama von dieser Art, aber von einer r e i c h e r n C o m p o s i t i o n , und ebendadurch für die armen Layen instructiver als Hundert andre vom gewöhnlichen Schlage. Ich denke aber, es kam noch ein andrer Grund dazu, der

¼4.½ F o r t s e t z u n g d e r A u s z ü g e

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in der Justizverfassung dieser Zeiten lag. Denn da das Römische bürgerliche Recht in Teutschland und Frankreich je mehr und mehr in Ansehen kam, und zur Entscheidung der vorkommenden subtilern und verwickelten Rechtsfragen zu Hülfe genommen wurde, auch überhaupt die Gerichtsordnung und Form der Proceße nach und nach viele Veränderungen erlitten hatte: so mußte in diesen Zeiten der Unwissenheit, wo es dem Volke noch so sehr an Hülfsmitteln sich über die angelegensten Dinge zu unterrichten fehlte, ein Buch, worinn das damalige Verfahren beym Civilproceß auf eine p o p u l a r e Art eingekleidet und auf ein so allgemein bekanntes und intereßantes Factum angewendet war, nothwendig mit der größten Begierde aufgenommen wer-

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den. * * * Noch ein Beyspiel, wie groß in diesen Zeiten das Verlangen nach Schriften gewesen, woraus man etwas Praktische Philosophie und Menschenkenntnis, so wenig es auch seyn mochte, schöpfen konnte, giebt uns die außerordentliche Achtung, worinn das Speculum vitæ humanæ des R o d o r i c u s Bischof von Z a m o r a gestanden; ein Buch worinn der Plan des Verfassers, das Gute und Böse aller Stände und Conditionen der Menschen vom König bis zum Taglöhner und vom Pabst bis zum Layenbruder mit dem Bettelsack, als in einem Spiegel darzustellen, zwar sehr intereßant, die Ausführung aber (nach Hrn. von P. Versicherung) so schlecht ist, daß es sich gar nicht mehr lesen läßt. Gleichwohl hatte dies Buch nur in dem letzten Viertel des 15ten Jahrhundert fünf lateinische Ausgaben und zwey in der französischen Übersetzung. Ob auch eine Teutsche davon gemacht worden, können wir nicht sagen, es ist wenigstens sehr zu vermuthen; denn die Übersetzungssucht ist sogar in unsern Tagen nicht größer, als sie es bey unsern Vorfahren von Anbeginn der löblichen Buchdruckerkunst war.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang August 1781)

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An den Herrn Herausgeber der Hamburgischen Neuen Zeitung. Mit vielem Befremden lese ich so eben in der B e y l a g e zu No. 187. I h r e r N e u e n Z e i t u n g vom Mittwoch den 22. Novemb. d. J. unter der Rubrik G e l e h r t e S a c h e n und We i m a r , eine Nachricht, worinn dem Publico gesagt wird: „Der H o f r a t h W i e l a n d lasse durch s e i n e n S e c r e t ä r G l ü s i n g eine neue Sammlung einiger Gedichte ankündigen, welche theils ungedrukt seyen, theils im Merkur stehen. Sie werde 18 Bogen betragen und mit musicalischen Compositionen begleitet seyn. Man pränumeriere 12 gGr. und sub10

scriebiere 14 gGr. und das hamburgische Addreß-Comtoir sey erbötig, Pränumerationen und Subscriptionen auf diese Gedichte anzunehmen.“ Da ich nicht glauben kann, daß der dienstfertige Herr Verfasser dieser Nachricht mit dem Worte l a s s e n spielen wolle, und seine Meynung bloß sey, ich lasse diese Gedichte ankündigen wie ich regnen und schneyen lasse; oder, da wenigstens das Publicum diesen Ausdruk schwerlich in einem so kurzweiligen Sinne nehmen möchte: so sehe ich mich genöthigt hiemit zu erklären, daß sich in obige Nachricht zween nicht ganz unwesentliche Umstände e i n g e s c h l i c h e n haben, die in facto keinesweges begründet sind; nemlich: I c h h a b e k e i n e n S e c r e t ä r G l ü s i n g , und i c h h a b e w e d e r d u r c h d e n S e -

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cretär Glüsing, noch durch irgend einen andern Secretär in der We l t e i n i g e G e d i c h t e , d i e i c h m i t o d e r o h n e m u s i k a l i s c h e K o m p o s i t i o n h e r a u s g e b e n w o l l e , a n k ü n d i g e n l a s s e n — und, kurz und gut, diese ganze Ankündigungssache geht den Hofrath Wieland in Weimar ganz und gar nichts an. Überhaupt stehe ich mit dem Publico noch auf keinem so vornehmen Fuß, daß ich durch meinen Secretär mit demselben sprechen sollte; sondern wenn ich etwas anzukündigen habe, so thue ichs selbst. Was aber auf dem blauen Umschlag des T. Merkurs angekündigt wird, das kündige nicht i c h an, sondern derjenige, dessen Name unter der Ankündigung steht. Es ist nicht sehr angenehm, solche Dinge erst sagen zu müssen. Weil man aber

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doch vielleicht neugierig seyn mag, wie ich zu der Ehre komme, die mir der Verfasser jener g e l e h r t e n N a c h r i c h t so unvermuthet zu erweisen beliebt

An den Herrn Herausgeber

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hat, so muß ich noch beyfügen: daß eine gewisse Ankündigung, welche, ohne mein Vorwissen und in meiner Abwesenheit, auf den blauen Umschlag des Merkurs im verwichnen S e p t e m b e r - M o n a t gesezt worden, und den Herrn J . G . D . M i c h a e l i s zum Verfasser hat, allem Ansehen nach, die unglükliche, wiewohl unschuldige Veranlassung zu diesem quiproquo gewesen ist. Ich habe dem Herrn M i c h a e l i s die Erlaubnis (die in einem Journal, wie der Merkur ist, nicht immer versagt werden kann) einige seiner Lieder und musikalischen Kompositionen in den Merkur zu setzen, und sich dem Publico dadurch bekannt zu machen, nicht verweigern wollen; aber, da ich es schlechterdings nicht auf meinem Gewissen haben mag, mich der A u f m u n t e r u n g

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irgend eines jungen Dichters oder Dichterlings weder schuldig noch verdächtig zu machen: so finde ich für nöthig hier diese gedoppelte Erklärung auszustellen: 1) Daß ich an der angekündigten Ausgabe der Gedichte des Herrn M i c h a e l i s keinen Theil habe noch nehme: und 2) daß ich mir f ü r s k ü n f tige alle sogenannte poetische, gereimte oder ungereimte, Beyt r ä g e von a n g e h e n d e n P o e t e n , sonderlich von M i n d e r j ä h r i g e n und U n g e n a n n t e n , und von solchen, w e l c h e g e h o r s a m s t a n f r a g e n , o b sie fortfahren sollen, sich der edeln Dichtkunst zu befleißigen ein für allemal öffentlich, und mit allem Respect, den ich diesen Herren schuldig bin, hiemit verbeten haben will: Weimar, den 27. Nov. 1780. Wieland.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang Dezember 1780)

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Der Teutsche Merkur. December 1780.

¼Über einige Merkwürdigkeiten von Cassel. Aus einem Schreiben an den Herausgeber des T. M. … Die Künste haben hier einen mächtigen Beförderer gefunden; insbesondre aber scheint die jetzige Hauptneigung des Landgrafen auf die Bildhauerey sich einzuschränken, ob Er gleich einer der aufgeklärtesten Kenner der Mahlerey und der Kupferstecherkunst ist. Seine Antiken vermehren sich täglich. … Die Anzeige dieser Kunstwerke wird Ihnen wenigstens noch aus den Göttinger gelehrten Anzeigen erinnerlich seyn.* )½ *)

Es ist ihrer auch vor Jahren im T . M e r k u r selbst erwähnt worden. H.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang Januar 1781)

Noch bitte ich unsre schönen Leserinnen um Erlaubnis, ihnen zum Beschluß dieses Jahres mit einem Römischen Liedchen, und einer neuen Melodie dazu aufzuwarten, die wenn (ich nicht sehr irre) in die angenehm tändelnde und geistreich scherzende Laune des Dichters sehr glüklich einstimmt. Die Dollmetschung hat keine andre Prätension als das Verständnis des Textes denjenigen zu erleichtern, die des Italienischen nicht sehr mächtig sind. Wer diese Canzonette in gleicher Versart und ohne sonderlichen Verlust m i t R e i m e n übersetzen kann, soll mir der große Apollo seyn!

Canzonetta Romana. 10

Quelle piume, bianche e nere

Diese Federn, weiss’ und schwarze,

Che nel capo voi portate,

Die ihr auf den Häuptern traget,

Belle Donne inamorate,

Holde Herzensköniginnen,

Vi fan crescer la Beltá.

Ihr erscheinet unsern Augen

Tante lodole fastose,

So viel aufgepuzte Lerchen,

Pavoncelle, che pompose

So viel Pfauen, die stolzierend

Van sul prato in libertà.

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Eure Schönheit mehren sie:

Rassembrate á chi vi mira

Auf der Wies’ in Freyheit gehn.

Nello scorso Carnovale

Prächtig war’s am Carnavale

Bel vedervi in Argentina!

In der Oper euch zu sehen,

Chi Sovrana della China,

Wie erhabne Sultaninnen,

Chi Soltana rassembrò:

Wie des Mogols Herrscherin:

Chi nel Basso delle Scene

Nur wer in den hintern Bänken

Non poteva ben vedere,

Nichts vom Schauspiel sehen konnte,

L’indiscrete Pennachiere

Zog die unbescheidnen Federn

Sotto voce taroccò.

Sotto voce weidlich durch.

¼Einleitung und Übersetzung der Canzonetta Romana½

1—16

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Cosi bella e Strana usanza

Diese schöne fremde Sitte

Non ne venne di Bretagna,

Kam aus England nicht herüber,

Non di Francia, non di Spagna,

Nicht aus Frankreich, nicht aus Spanien,

Non di Persia, o dal Perù:

Nicht aus Persien, noch Catay:

La portò fra voi, Romane,

Unter unsre Römerinnen

Capo in giù Mercurio alato,

Schnell sich vom Olympus stürzend

Delli Dei Corrier pennato,

Brachte sie der Götterbote

Che dal Cielo scese in giù.

Der geflügelte Merkur.

Raccontò, che nelle stelle

Er erzählte, daß da droben

Ogni Diva ha per costume

Jede Göttin ihre Locken

Di portar sul crin le piume

Hoch und breit mit Federn zieret,

Quando bella si vuol far:

Wenn sie schön sich machen will:

E Minerva modestina,

Daß Minerva die Bescheidne,

Occhi azurri, Verginetta,

Jüngferlich und blau von Augen,

Spennachiò la sua civetta

Diese Mode mit zu machen

Per poter sen’ adornar.

Ihren armen Kauz gerupft.

E d’Amor la Madre bella

Daß der Liebe schöne Mutter

Le colombe avea pelate,

Selbst ihr Taubenpaar entfiedert,

E le penne ancor rubate

Ja die Federn von dem Helme

Sopra l’Elmo al Dio Guerrier:

Ihres Kriegesgotts entwandt:

E la moglie ancor di Giove

Und daß sich die hohe stolze

Superbissima Giunone,

Juno, Jupiters Gemahlin,

Colla coda di pavone

Von den Schweiffen ihrer Pfauen

Se ne ha fatto un bel cimier.

Billig reizt euch das Verlangen,

Care figlie Tiberine,

Holde Töchter unsrer Tiber

Colle piume sopra il crine

Mit den Federn in den Locken Götterfrauen gleich zu seyn.

Ma nascosto dietro un olmo

Aber hinter jener Ulme

Veggo un Satiro maligno,

Seh ich einen Satyr lauschen,

Che vi burla con un ghigno,

Der, euch ins Gesichte lachend,

E lo sento mormorar:

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Einen Federbusch gemacht.

Cosi voi vorreste ancora,

Tante Dee rassomigliar.

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Unterm Ziegenbarte knurrt:

D e r Te u t s c h e M e r k u r (Anfang Januar 1781)

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E vi dice: care Donne,

Und euch zuruft: „liebe Damen,

Quelle piume che portate

Diese Federn, die ihr traget,

Volan certo, e voi volate,

Fliegen freylich, doch Ihr flieget

Coll Cervello assai di più.

Sind nicht bunte Pfauenfedern,

Di colombe, in aria erranti;

Nicht die Federn weisser Tauben,

Son le penne degli Amanti

Sind die Federn der Verehrer

Che pelate tutto il dì.

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Mit dem Hirnchen weiter um:

Non son penne di pavone,

Die ihr jeden Tag berupft.“

Chiudi, o Satiro maligno

Unverschämter Satyr schließe

Il tuo labro infame ed empio!

Deine tükisch bittre Lippe!

Le Romane son d’essempio

Unsre schönen Römerinnen

Di costume ed onestá:

Sind so tugendreich als schön.

Ancor bolle loro in petto

Izt noch kocht in ihrem Busen

Di Lucrezia il sangue antico,

Der Lucrezia alt Geblüte

Hanno un’ Alma e il Cor pudico

Und ihr Herz und ihre Seele,

Pien d’amor e fedeltá.

Sind voll Zärtlichkeit und Treu.

¼Einleitung und Übersetzung der Canzonetta Romana½

17—64

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Der Teutsche Merkur vom Jahr 1781. Ihro Römisch-Kayserlichen Majestät zugeeignet. Mit Königl. Preuß. und Churfürstl. Brandenburg. gnädigstem Privilegio.

Erstes Vierteljahr. Weimar.

Der Teutsche Merkur. Januar 1781.

Auf den Tod d e r K a y s e r i n - K ö n i g i n . Teutsche Harfen, Gallische Guitarren drängen sich zu Deinem Sarg hinan; Alle Lauten klagen, alle Leyern schnarren, und die Weyhrauchwolken steigen Himmelan: Nur die Seufzer des Gefühls ermatten, ungehört, im allgemeinen Drang. Dir die lezte Pflicht, stillthränend, zu erstatten, Schweigt die Muse, die Dir, H e i l’ g e r S c h a t t e n , einst der Gottesmutter Schmerzen sang. *)

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In der Mitternächte todter Stille, ohne Kranz, mit loßgebundnem Haar, naht sie sich der Gruft, wo Deines Geistes Hülle ruht, und schaudernd schwebt sie über Deiner Baar; Sieht die heissen Thränen, hört die Schmerzen aller Waysen, deren Mutter — aller Herzen, deren Trösterin T h e r e s a war. Aber mitten aus dem dumpfen bangen Stöhnen hört ihr Ohr, dem Engelssprache nicht unvernehmlich ist, ertönen was aus Wolken eine Stimme spricht: „Von den Weisen, Guten, Tapfern, Klugen, wenig Männer welche Kronen trugen

*)

Anspielung auf eine, der Musik des P e r g o l e s i anpassende teutsche Übersetzung des Sta-

bat Mater Dolorosa, welches der Höchstsel. Kayserin in der Charwoche 1779. überreicht wurde, und wir unsern Lesern vielleicht in künftigem Monat mittheilen können.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Januar 1781)

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waren diesem großen Weibe gleich! Spart den Marmor! I h r e r K ö n i g s t h a t e n Ewigs Denkmal glänzt aus Ihren Staaten, lebt und wächst und daurt mit Ihrem Reich. Aber, o! d e r C h r i s t i n T h a t e n , aus der Fülle Ihres frommen Herzens, in der Stille der Verborgenheit geübt, zahllos schwangen, um den Himmelswagen der ins Reich der Engel S i e getragen, 10

sie sich auf zu Gott, den Sie geliebt. Die ihr Thränengüsse Ihrem Grabe weyhet, Völker, hört mit Klagen auf! Erfreuet Euch vielmehr der neuen Schützerin! Ließ Sie nicht, um euern Schmerz zu lindern, euer Glük zu fest’gen, I h r e n K i n d e r n Ihre holde Güte, Ihren großen Sinn? Ja, Sie lebt noch fort in Ihren schönen Töchtern, lebt in Ihren großen Söhnen, und, im Tempel der Gedächtnis aufgestellt,

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glänzt, wohlthätig noch, Ihr Bild von Welt zu Welt.“

A u f d e n To d d e r K a y s e r i n - K ö n i g i n

1—42

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Lucians Vertheidigung seiner Panthea. Polystratus. Lycinus.

Po l y s t r. Ich bin überzeugt, sagte die Dame, *) daß dieser Aufsaz eine Frucht seiner Freundschaft gegen mich ist, und erkenne die Ehre, die er mir damit hat erweisen wollen. Denn wer würde so übermäßig loben, wenn er’s nicht aus Zuneigung thäte? Aber mir ists lieb, sezte sie hinzu, dich bey dieser Gelegenheit wissen zu lassen, wie ich über solche Dinge denke. Überhaupt muß ich dir sagen, daß ich keine Freundin von Leuten bin, welche Profession davon machen, einem schön zu thun, und daß ich mir nicht verwehren kann, solche Leute für falsch und unedel zu halten. Am allerwenigsten aber

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kann ichs leiden, wenn mir einer mit Hyperbolischen Figuren und Superlativen Ehre anzuthun vermeynt: ich werde roth dabey, und möchte mir lieber die Ohren zustopfen; denn so etwas sieht mehr einer Verspottung als einem Lobe ähnlich. Gelobt zu werden kann nur insofern erträglich seyn, als der Gelobte sich bewußt ist, daß er das alles würklich besizt was ihm beygelegt wird: was darüber hinausgeht, geht ihn nichts an, und ist offenbare Schmeicheley. Gleichwohl, sezte sie hinzu, kenne ich manche, denen es ganz angenehm ist, wenn der Lobredner ihnen auch mit Eigenschaften so sie n i c h t haben Ehre macht. So giebt es z. E. alte Leute, die sich wegen ihrer Stärke glüklich preisen lassen, und häßliche, die man, ohne Gefahr sie

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erröthen zu machen, mit der Schönheit des N i r e u s oder P h a o n * * ) begaben darf. Man sollte denken, sie glauben das Lob habe eine Art von Zau*)

Dieser Anfang des Dialogs sezt voraus, daß Lycinus von seinem Freunde zu wissen begehrt,

wie Panthea sein Ideal einer schönen Frau aufgenommen habe. Polystratus mochte ihm erwiedert haben: Sie hätte vieles mit ihm darüber gesprochen. Was sagte sie denn, fragt Lycinus; und mit der Antwort seines Freundes beginnt nun dieser Dialog. Diese Art anzufangen ist dem Lucian sehr gewöhnlich; S t e r n e ist also nicht der E r f i n d e r davon. **)

Nireus, der schönste der Männer, die gegen Ilion zogen, Nächst dem untadelichen Peliden der schönste von allen,

wie Homer sagt, und P h a o n , dessen Schönheit die unglükliche Liebe und die schönen Gesänge, die er der Dichterin Sappho einflößte, unsterblich gemacht haben.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Januar 1781)

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berkraft ihre Bildung umzugestalten, und sie hoften, wie P e l i a s * ) , wieder jung dadurch zu werden. Freylich, wenn es diese Bewandtnis damit hätte, und man einen nur recht tapfer zu loben brauchte, um ihm jeden Vorzug würklich mitzutheilen, den er gerne haben möchte; so wäre gelobt zu werden eine köstliche Sache. Aber da dies nicht ist, so kommen mir solche Personen just so vor, als wenn jemand einem häßlichen Menschen eine schöne Maske umgebunden hätte, und dieser wollte sich nun große Stücke *)

Wir können diesen Zug der Geschichte dieses alten Thessalischen Königs nicht besser er-

zählen als mit den Worten des gelehrten und spaßliebenden Hrn. H e d e r i c h s , Schol. Hayn. 10

Rectoris, der zwischen 1730 und 40 ein s c h ö n e r G e i s t s e i n e r Z e i t war, und ohnezweifel auch die Ehre erhalten haben würde, in dem Memoire sur la Litterature Allemande &c. als ein solcher angeführt zu werden, wenn er dem Verfasser bekannt gewesen wäre. P e l i a s hatte, aus Staatsursachen, deren Deduction man uns gerne erlassen wird, seines Neffen, des berühmten Argonauten Jasons, Vater, Mutter und Bruder, hinrichten lassen, und usurpierte dessen Fürstenthum. Als J a s o n mit der schönen Medea und dem goldnen Vlies aus der Colchide zurükkam, beschloß er Rache an dem alten Pelias zu nehmen. Zu Vermeidung aller unangenehmen Weitläuftigkeiten, erbot sich M e d e a , welche bekanntermaßen eine große Fee war, dem Alten mit guter Art vom Brod zu helfen. „Sie verstellte sich daher (sagt der vorbelobte Herr H e d e r i c h ) in eine alte Frau und Priesterin der Dianæ, nahm dieser Göttin Bild, und begab sich damit nach J o l c o (zum

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Pelias) woselbst sie s o v i e l L e r m s m i t i h r e r G ö t t i n m a c h t e , daß die ganze Stadt zusammenlief; und, n a c h d e m sie mit s e l b i g e r a u c h zum Pelia kam, p l a u d e r t e s i e i h m s o v i e l v o r , daß er sich für den glükseligsten König hielt, die Dianam bey sich zu beherbergen; zumal da Medea z u g l e i c h vorgab, wie sie Befehl habe d e n P e l i a m w i e d e r j u n g z u m a c h e n . W i e a b e r d o c h s o l c h e r ü b e r l e z t e n e i n i g e n Z w e i f e l h e g e t e , machte Medea an sich die Probe, ließ sich frisch Wasser geben, gieng damit in ein Nebenzimmer, wusch sich ihre S c h m i r a l i e n wieder ab, und erschien d a r a u f wieder in ihrer wahren und g a r a n n e h m l i c h e n Gestalt, w o m i t sie denn alle in Erstaunen sezte. Als sie d a r a u f a u c h gemacht, daß sich allerhand Schlangen und Drachen vor des Peliæ und andrer Anwesenden Augen präsentirten, gab ihr der König vollkommnen Glauben, und befahl seinen Töchtern, alles zu thun was ihnen Medea

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befehlen würde. Um nun diese noch mehr zu bethören, nahm sie in ihrer Gegenwart einen alten Widder, zerstükte ihn, kochte ihn darauf in einem Kessel, und machte daß ein junges Lamm dafür wieder heraussprung. Weil nun die Princessinnen dadurch auch vollens eingenommen wurden, machten sie sich insgesammt über den Peliam her, schlugen ihn todt, hieben ihn in Stücken, und thaten solche in einen Kessel um sie zu kochen“ u. s. w. — Daß aber kein junger Pelias dafür wieder herausgesprungen sey, brauchen wir den geneigten Lesern wohl nicht erst aus Hrn. Hederichs Munde zu versichern; doch wird ihnen hoffentlich nicht unangenehm zu vernehmen seyn, „daß Jason, nachdem er sich h i e r a u f der Stadt und des Schlosses J o l c o s bemächtiget, gleichwohl nicht nur d a s R e i c h (das Reich von Jolcos nemlich, welches aber nicht viel größer als das R e i c h v o n A a c h e n war) dem Sohne des Pelias wieder zugestellt, s o n d e r n a u c h h o c h e r w ä h n t e

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Princessinnen an anständige Männer versorgt habe.“

L u c i a n s Ve r t h e i d i g u n g s e i n e r P a n t h e a

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auf seine Schönheit einbilden; da es doch in eines jeden Gewalt wäre, ihm die Larve abzuziehen, und er dann nur desto lächerlicher würde, wenn er nun mit seinem eignen Gesicht dastünde, und jedermann sähe, was für einer Fratze er unter der schönen Maske verbergen wollen *) — oder als wenn sich ein kleiner Mensch Kothurnen umbände, und wollte nun mit Leuten, die auf ebnem Boden eine ganze Elle größer sind als er, um den Vorzug der Größe streiten. Ich erinnere mich, sagte sie, eines Geschichtchens, das hieher gehört. Ein Poet hatte auf eine vornehme Dame, die zwar schön von Gesicht, und überhaupt eine sehr angenehme Person, aber ausserordentlich klein war, ein Lobgedicht verfertiget, worinn er sie unter

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andern auch wegen ihrer Schönheit und besonders wegen ihrer schlanken und majestätischen Gestalt erhob. Der Mensch hatte die Unverschämtheit sie deßwegen mit einer Pappel zu vergleichen; und die Dame, weit entfernt, das Gleichnis übertrieben zu finden, hörte mit allen Zeichen des lebhaftesten Vergnügens zu; sie bewegte die Hand, als ob sie die Mensur dazu schlüge, und es war als ob sie sich selbst unter dem Gesang zu wachsen scheine, und mit jedem Fuß des Sylbenmaßes um einen Daumen größer werde. Der Poet, da er sah, wie viel Vergnügen ihr diese Stelle machte, wiederhohlte sie zum zweyten und drittenmal, bis ihm endlich einer von den Anwesenden ins Ohr raunte: So höre doch auf, guter Freund, oder du wirst noch machen,

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daß sie aufsteht! Etwas diesem ähnliches, aber noch viel lächerlichers, sagte sie, sey der Königin Stratonike, des Seleukus Gemahlin, begegnet. Diese Dame hatte so wenig e i g e n e Haare, daß sie beynahe kahl war, und sezte demungeachtet **) den Poeten ihres Hofes einen Preis von Tausend Thalern aus, wer das schönste Lobgedicht auf ihre Haare machen könnte: und, wiewohl sie sich selbst bewußt war, wie es auf ihrem Kopfe stund, und jeder*)

Dies ist im Original durch das unübersezliche oëiow vn yëf oëiv kekrypto kürzer und feiner

gesagt. Umschreibungen sind allemal für den Übersetzer, dem sein Original lieb ist, wahres Leiden; aber es ist mit den Worten nicht wie mit den Farben, und ein wenig Untreue ist in Übersetzungen oft das einzige Mittel getreu zu seyn. Dies war ganz besonders bey dieser Conversation der schönen Panthea der Fall. **)

Vermuthlich that sie es eben deswegen, weil sie kahl war. Sie verließ sich darauf, daß unter

einer Million Menschen vielleicht nicht Hundert sind, die einen Begriff davon haben, daß man kahl seyn, und gleichwohl das Lob seiner schönen Haare zu einer akademischen Preisaufgabe machen könne. Sie hätte also kein geschikteres Mittel als dieses erfinden können, um die Welt zu überreden, daß die geborgten Haare, womit ihr Kopf aufgeschmükt war, ihre eignen seyen.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Januar 1781)

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mann wußte, daß ihr die Haare in einer langwierigen Krankheit ausgefallen: hörte sie doch den verruchten Poeten zu, wie sie ihre H y a z i n t h n e n Haaren in die Wette besangen, und Locken, die nicht waren, in die schönsten Knoten und Zöpfe durcheinander flochten, ja die Unverschämtheit hatten, sie, ihrer üppigen Fülle wegen, sogar mit Eppichkränzen zu vergleichen. Sie lachte herzlich über alle die sich auf eine so grobe Art den Schmeichlern bloß geben, und sezte hinzu: es gebe Leute, die sogar in ihren Bildnissen (wo der Betrug doch ersten Anbliks entdekt wird) auf diese Weise geschmeichelt und betrogen seyn wollten. Wenn sie sich mahlen liessen, so 10

sey ihnen der Mahler immer der liebste, der am wenigsten Bedenken trage sie schöner zu machen als sie seyen. Ja es giebt sogar welche, sagte sie, die den Künstlern ausdrüklich befehlen, entweder etwas von der Nase abzunehmen, oder ihnen schwärzere Augen zu machen, oder ihnen sonst zu geben, was sie am liebsten haben möchten: und, was das lustigste dabey ist, wenn das Bild nun fertig ist, so scheinen sie auf einmal zu vergessen *), daß sie selbst es so bestellt haben; sie krönen ein f r e m d e s B i l d mit ihrem Beyfall, und sehen nicht, oder wollen nicht sehen, wie wenig es ihnen ähnlich ist. Dies und viel anders dergleichen sagte die Dame. Sie sprach übrigens von deiner Schrift mit vielem Lobe: konnte aber dies einzige nicht

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leiden, daß du sie den Göttinnen, Juno und Venus, gleich geschildert hättest. Das, sagte sie, ist nicht nur mehr als Mir, sondern mehr als der menschlichen Natur überhaupt gebührt. Ich an meinen Theil möchte nicht einmal gerne mit Frauen aus der Heldenzeit, wie Penelope und Arete und Theano, verglichen seyn, geschweige mit den Vornehmsten unter den Göttinnen. Ich muß dir meine Schwachheit gestehen, sagte sie, wenn es anders eine Schwachheit ist; aber ich kann mir nicht helfen, sobald Götter mit im Spiele sind, bin ich ein wenig abergläubisch und schrekhaft; und ich besorge es möchte mir wie der Kassiepeia ergehen **) wenn ich ein solches Lob *)

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Das einzige Wort lanuanein machte hier eine große Umschreibung nothwendig, wenn d e r

G e d a n k e des Autors, oder das was Panthea nur andeutet, aber doch gewiß im Sinne hatte und sagen w o l l t e , im Teutschen deutlich ausgedrukt werden sollte. **)

Diese K a s s i e p e i a , oder K a s s i o p e a , wie sie gewöhnlicher genennt wird, die Gemahlin

des Äthiopischen Königs Cepheus, und Mutter der schönen Andromeda, hatte sich erfrecht, ihre Tochter, oder (wie A p o l l o d o r mit mehr Wahrscheinlichkeit angiebt) sich selbst für schöner als die Nereiden zu halten. Die Nereiden waren schwach genug sich dadurch beleidiget zu finden,

L u c i a n s Ve r t h e i d i g u n g s e i n e r P a n t h e a

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annähme. Und gleichwohl hatte Kassiepeia sich bloß den N e r e i d e n vorgezogen; für Juno und Venus trug sie alle geziemende Ehrfurcht. Sie verlangt also ausdrüklich, mein lieber Lycinus, daß du diese Stellen in deinem Aufsatz ändern sollst; widrigenfalls rufe sie die Göttinnen selbst zu Zeugen an, daß du gegen ihren Willen geschrieben; und daß du gar wohl wissest, wie unangenehm es ihr sey, wenn das Werkchen, so wie es izt ist, in der Welt herumwandre, und durch so unziemliche und irreligiöse Ausdrücke Ärgernis anrichte. Denn sie glaubte, es würde ihr für Mangel an Religion und zur größten Sünde angerechnet werden, wenn sie zuliesse, daß sie der Venus zu Gnidos und der in den G ä r t e n zu Athen ähnlich genennt würde.

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Auch solltest du dich, sagte sie, nur dessen erinnern, was du zu Ende des Buches von ihrer Bescheidenheit angerühmt; wie sie sogar nicht aufgeblasen sey, noch über das Maas der Menschheit sich auszudehnen trachte, sondern immer so nah als möglich an der Erde hinfliege. Und kaum hättest du dies gesagt, so erhebest du sie, schier in dem nemlichen Athemzug, über den Himmel selbst, und unterstehest dich, Sie sogar mit Göttinnen in Eine Reyhe zu stellen. Sie ersuchte dich ferner, Sie nicht für unverständiger zu halten als Alexandern, der — als ihm ein gewisser Baumeister anbot, daß er den ganzen Berg Athos umschaffen, und zu einer Bildsäule dieses Königs, die in jeder Hand eine Stadt trüge, aushauen wolle — weit entfernt einem so

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abentheurlichen Project seinen Beyfall zu geben, es für eine Sache hielt, deren kein Sterblicher sich erkühnen müsse, und dem unzeitigen Kolossenmacher befahl, den Athos zu lassen wie er sey, anstatt einen so großen Berg zur Ähnlichkeit mit einem kleinen Menschenkörper herabwürdigen zu wollen. Sie lobte Alexandern wegen dieses Beweises einer großen Seele, und glaubte daß er sich in dem Urtheil aller, die dessen noch in den spätesten Zeiten gedenken würden, eine größere Statue als der Athos selbst aufgerichtet habe. Denn es sey gewiß ein Zeichen eines nicht gemeinen Geistes, sich über eine so ausserordentliche Ehre wegsetzen zu können. Auch Sie könne nicht umhin, deine Komposition, und den Einfall mit den Bildern zu loben; aber die Ähnlichkeit erkenne sie nicht; denn es fehle viel, daß Sie, auch nur von ferne, ja daß irgend eine Frau in der Welt werth sey, mit und rächten sich für die Eitelkeit der Königin an Cepheus und seinem ganzen Volke, indem sie das ganze Land den Verwüstungen eines ungeheuren Meerdrachen preiß gaben.

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solchen Idealen zusammengestellt zu werden. Sie erläßt dir also die Ehre, die du Ihr dadurch erweisen wollen, und beugt ihre Kniee vor deinen erhabnen Urbildern. Wenn du sie ja loben wollest, möchtest du innerhalb der Schranken der Menschheit bleiben, und den Schuh nicht größer machen als der Fuß sey; damit ich, sagte sie, nicht auf die Nase falle, wenn ich darinn gehen will. Noch eins befahl sie mir dir zu sagen, das ich schier vergessen hätte. Ich habe, sprach sie, öfters gehört (ob es wahr ist, müßt ihr Männer am besten wissen) daß nicht einmal zu Olympia erlaubt sey, den Siegern Statuen ü b e r L e b e n s g r ö ß e zu setzen; sondern daß die H e l l a n o d i 10

k e n * ) große Sorge trugen, daß keiner die Wahrheit überschreite, und daß man bey Prüfung der Kämpfer selbst nicht so scharf verfahre als bey Untersuchung ihrer Bildsäulen. Sorge also dafür, sagte Sie, daß man uns nicht beschuldigen könne, das rechte Maas überschritten zu haben, und dann die Hellanodiken sich bemüßigt finden, unser Bild herunterwerfen zu lassen. Dies, lieber Lycinus, sagte die Dame zu deinem Buche; und es wird nun deine Sache seyn, es umzuschmelzen, und alle die Stellen wegzulassen, wodurch du dich an den Göttern versündiget hast; wenn es auch nur aus Achtung gegen die schöne Panthea wäre. Denn ich kann dich versichern, daß sie sehr ungehalten darüber war, und unterm Vorlesen etlichemal ganz er-

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schrocken zusammenfuhr, und die Göttinnen anrief, ihr gnädig zu seyn. Und in der That, es ist ihr als einem Frauenzimmer um so eher zu verzeyhen, da ich selbst, die Wahrheit zu sagen, mich nicht erwehren konnte, ihrer *)

Die H e l l a n o d i k e n waren Männer von Stand und Ansehen, die bey den Olympischen

Spielen das Vorsteher- und Richteramt verwalteten. Ihre vornehmsten Verrichtungen waren die Athletischen Gesetze und die Policey dieser feyerlichen Kampfspiele zu handhaben, die Übertreter derselben zu strafen, die Preise auszutheilen, und Sorge zu tragen, daß die Bildsäulen, die den Siegern gesezt wurden, die Lebensgröße nicht überschritten; ohnezweifel damit sie in der Folge nicht mit den Bildern der Götter und Göttersöhne verwechselt werden könnten. Vor allem aber lag ihnen ob, die Ta u g l i c h k e i t derjenigen zu untersuchen, die sich unter die Zahl der 30

Athleten bey diesen Spielen stellen wollten; nemlich ihre Geburt und ihre Sitten zu untersuchen; weil niemand zu der Ehre um den Preis zu kämpfen zugelassen wurde, der nicht ein freyer Mann von unbescholtnem Ruf und ein gebohrner H e l l e n e war. Auch über diesem lezten Puncte wurde so scharf gehalten, daß der Macedonische Prinz Alexander, des Königs Amyntas Sohn, als er sich unter die Mitbewerber um den Preis im Wettlauf stellen wollte, abgewiesen, und nicht eher zugelassen wurde, bis er in bester Form erwiesen hatte, daß er kein Macedonier, sondern ein gebohrner Argier sey. S. Hrn. B ü r e t t e zwoote Abhandlung über die Athleten, im 1sten Th. der Memoires de l’Acad. des Inscr. et B. L.

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Meynung zu seyn; wiewohl ich nichts anstössigs an deinem Gemählde finden konnte, da du mirs zuerst mündlich vortrugst. Aber nachdem Sie mich aufmerksam darauf gemacht hat, so finde ich die Sache eben so wie Sie; und es ergeht mir dabey, wie es uns zu gehen pflegt, wenn wir einen Gegenstand den wir betrachten sollen gar zu nah unter den Augen haben: wir sehen dann nichts deutlich und können kein richtiges Urtheil davon fällen; treten wir aber ein wenig zurük, und betrachten die Sache in der gehörigen Entfernung, so erscheint uns alles klar und deutlich, was daran schön und was tadelhaft ist. Denn, sage mir selbst, ein sterbliches Weib mit Juno und Venus zu vergleichen, was ists anders als die Göttinnen herabwürdigen? Denn da

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wird durch die Entgegenstellung nicht sowohl das Kleine größer gemacht, als das Große, indem es zu dem Geringern herabgezogen wird, verkleinert. Es ist gerade so, als wie wenn ihrer Zween mit einander giengen, von denen der eine sehr lang, und der andere winzig klein wäre; und gleichwohl sollte der Lange nicht über den Zwerg emporragen. Was wäre da zu thun? Da es nicht angienge, den Kleinen, wenn er sich gleich noch so sehr rekte und nur auf den Zehenspitzen einherschwebte, zum Großen hinaufzudehnen: so bliebe kein ander Mittel, als der Große müßte sich ducken und zusammenkauzen, um soviel kleiner zu scheinen als er würklich größer wäre. Die natürliche Würkung solcher Vergleichungen der Menschen mit den Göt-

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tern wird also immer diese seyn, nicht daß der Mensch größer, sondern daß der Gott kleiner dadurch erscheint und gleichsam zusammengedrükt wird. Und doch, wenn man, in dem Falle worinn du warst, aus Mangel irdischer Bilder, sich genöthigt sähe himmlische dazu zu nehmen, so möchte man dem Vorwurf, daß es aus Geringschätzung der Religion geschehe, noch entgehen können: Aber da es soviele schöne Weiber giebt, die du zu deinen Bildern gebrauchen konntest, so war es, mit deiner Erlaubnis, bloßer Muthwillen, daß du Pantheen, ohne alle Noth, mit Aphrodite und Hera *) in Vergleichung stelltest. Mache dir also um so weniger Bedenken, lieber Lycinus, diese übertriebnen und anstößigen Züge auszulöschen: da es ja ohnehin deine Sache gar nicht ist, rasch und freygebig mit Loben zu seyn; und jedermann sich verwundert, dich, der in diesem Stücke sonst immer so geizig war, nun auf einmal in einen solchen Verschwender verwandelt zu sehen. *)

Juno.

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Auch kann es dir gar nicht zur Schande gereichen, deine Schrift zu verbessern, wiewohl sie schon in der Welt herumgeht; denn man erzählt ja sogar vom Phidias, daß er das nemliche an dem Jupiter gethan habe, den er für die E l e i a t e n gearbeitet. Denn er habe sich, da er das Werk zum erstenmale öffentlich sehen lassen, hinter die Thüre gestellt, um zu hören, was man daran tadeln oder loben würde. Da nun der eine die Nase zu dick befunden, ein anderer das Gesicht zu lang, kurz, der eine dies der andre jenes getadelt: habe Phidias, wie sie fortgegangen, sich wieder eingeschlossen, und das Bild nach dem Urtheil der mehrern Stimmen verbessert. Er hielt also das 10

Urtheil eines ganzen Volks für keine Kleinigkeit, und glaubte, Viele müßten nothwendig immer mehr sehen als einer, und wenn es gleich ein Phidias wäre. Dies, lieber Lycinus, ist es, was ich dir in ihrem Namen habe sagen sollen, und wozu ich selbst als dein Freund wohlmeynend gerathen haben will. Ly c i n u s . Ey, ey, Freund Polystratus! wußte ich doch nie daß du ein so großer Redner wärest! Du hast so lange gesprochen und, eine so mächtige Klage gegen mein Werklein erhoben, daß mir nur nicht die Hoffnung, mich verantworten zu können, übrig gelassen ist. Gleichwohl habt ihr, und vornemlich du, darinn nicht gar gesezmäßig verfahren, daß ihr die Sache, auf Klä-

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gers bloßes An- und Vorbringen, und ohne meinem armen Büchlein einen Fürsprecher zu verwilligen, abgeurthelt habt. Wer allein läuft, hat gut siegen, sagt man im Sprüchwort. Es ist also auch kein Wunder, wenn wir unsern Proceß verlohren haben, da wir weder vorgeladen noch zur Verantwortung gelassen worden sind. *) Überdies seyd ihr, was noch das Schlimmste ist, Kläger und Richter zugleich gewesen. Es wird also nun darauf ankommen, ob du willst, daß ich, mit demüthiger Submission unter euern Spruch, die Sache auf sich beruhen lasse: oder ob ich, gleich dem D i c h t e r *)

Die Redensart des Originals (oyde yëdatow hëmiÄn egxyuentow) bezieht sich auf eine bey den

griechischen Gerichten eingeführte Förmlichkeit, mittelst einer Wasseruhr, dem Kläger, dem 30

Beklagten, und dem Richter die Zeit zur Klage, zur Verantwortung, und zur Entscheidung vorzumessen. Eine gewisse Portion Wassers wurde zu diesem Ende dreymal aufgegossen; daher das

prvton, deyteron, triton yëdvr bey den Griechen, und die Sprüchwörtlichen Redensarten aquam perdere, (die Zeit verderben) und aqua hæret, bey den Römern. Die leztere bezieht sich darauf, daß die Uhr so lange gestellt wurde, als die Zeugen abgehört oder Urkunden verlesen wurden. Zuweilen lief das Wasser eher ab als der Advocat mit seiner Rede fertig war; von einem solchen Falle sagt Q u i n t i l i a n : actionem aqua deficit.

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v o n H i m e r a , eine Palinodie singen soll *), oder ob ihr mir im Wege der Appellation meine rechtliche Nothdurft zu beobachten erlauben wollt? Po ly s tr a t . Von Herzen gerne, wenn du was Rechtsbeständiges beyzubringen hast; zumal, da du deine Verantwortung nicht gegen Widersacher, wie man aus deinen Reden schließen sollte, sondern vor Freunden führen wirst, und ich bereit bin, dir gleichfalls zu Rechte zu stehen. Ly cin . Ich bedaure nur, daß die Dame nicht selbst bey meiner Verantwortung zugegen ist. Für mich wär’ es immer besser, als, wie ich nun thun muß, meine Sache durch Procuration zu führen. Indessen, wenn du so treulich mein Wortführer bey i h r seyn willst als du der ihrige bey m i r gewesen

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bist, so will ich es darauf ankommen lassen. Po l y s t r. Darüber mache dir keinen Kummer. Deine Schuzrede soll ihr getreulich vorgetragen werden — nur suche dich kurz zu fassen, damit ich alles fein wohl behalten kann. Ly cin . Auf eine so schrekliche Anklage hätte sich zwar billig eine weitläuftige Verantwortung gebührt; jedoch will ich sie, dir zu gefallen, so kurz als möglich zusammenfassen. Melde Ihr also in meinem Namen — *)

H i m e r a war, nach Diodors von Sicilien Bericht, eine der mächtigsten Städte in dem alten

freyen Sicilien, berühmt wegen der nahe dabey befindlichen mineralischen Bäder, und die Vaterstadt des lyrischen Dichters S t e s i c h o r u s , eines Zeitgenossen des Alcäus und der Sappho. Die

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P a l i n o d i e , auf welche hier angespielt wird, war einer der berühmtesten Gesänge dieses Liederdichters. Er hatte sich die Freyheit genommen, in einer seiner Oden lästerlich von der schönen Helena zu sprechen, und war dafür auf der Stelle mit Blindheit gestraft worden. Kaum merkte er die Ursache seines Unglüks; so stimmte er seine Leyer um, und sang in einer andern Ode, die P a l i n o d i e betitelt, soviel Schönes von dieser Tochter Jupiters, daß sie sich nicht entbrechen konnte, ihm sein Gesicht wiederzugeben. Ausser der Ehre, welche Stesichorus seiner Vaterstadt als Dichter machte, hatte sie seinem Witze, auch die Erhaltung ihrer Freyheit zu danken. Die Himerenser hatten, in einem Kriege, den sie mit ihren Nachbarn führten, den berüchtigten Phalaris, Tyrannen von Agrigent, zu Hülfe gerufen, und ihm das Obercommando über ihr Kriegsvolk, mit einer fast unumschränkten Vollmacht, übergeben. Stesichorus, um seinen Mitbürgern mit guter Art zu verstehen zu geben, wie übel sie daran gethan hätten, erzählte ihnen die Fabel vom Pferde, welches in seiner Fehde mit dem Hirsch den Menschen um Hülfe angesprochen; der sich zwar dazu willig gebrauchen ließ, aber so, daß jenes darüber um seine Freyheit kam. Die Himerenser liessen sichs gesagt seyn, dankten dem Phalaris für seine Dienste, und schikten ihn noch zu rechter Zeit wieder nach Hause. — Himera wurde von den Karthaginensern zerstört, und bald darauf wieder von den Römern aufgebauet und unter dem Namen Thermæ Himerenses zu einer römischen Kolonie gemacht. Der Ort heißt izt noch Termine, und ist, wie ganz Sicilien, nur noch das modernde Gerippe eines ehmals blühenden Körpers.

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Po l y s t r a t. Nein, Lycinus, so ists nicht gemeynt; du sollst deine Rede just so halten als ob Sie selbst gegenwärtig wäre; und ich will dann vor Ihr das Nemliche an deiner Stelle thun. Lyci n . Gut, Polystratus, wenn du es so haben willst. Sie ist also gegenwärtig, hat das alles selbst gesprochen, was du bereits in ihrem Namen vorgebracht, und die Reyhe ist nun an mir, meine Antwort anzufangen — wiewohl ich dir unverhohlen gestehen will, daß du mir den Handel durch diese Vorstellungsart ungleich schwehrer gemacht hast. Denn der Angstschweis steht mir, wie du siehst, auf der Stirne, ich zittre und bebe, und es fehlt 10

wenig, daß ich sie nicht in vollem Ernst vor mir stehen sehe; kurz ich bin in eine Unruhe gesezt, die meiner guten Sache gar nicht vortheilhaft ist. Indessen werde daraus was will, ich will anfangen; denn es wäre doch nun zu spät mich wegschleichen zu wollen, da Sie Selbst zugegen ist. Polys tr. O, beym Jupiter, du hast gar keine Ursache, dir so bange seyn zu lassen. Schau ihr nur ins Gesichte; Nichts kann, wie du siehst, heitrer und leutseliger seyn. Fang’ also immer ganz getrost zu reden an. Lyc in . Ich sehe nicht ab, o Vortreflichste der Frauen, daß ich, den du eines Übermaßes im Lobpreisen beschuldigest, dich so sehr gelobt habe, als du selbst, durch die große Ehrfurcht, die du den göttlichen Wesen beweisest,

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dich über alles andre Lob, ja über dich selbst, erhebst. Denn dieses einzige ist größer beynahe als alles übrige, was ich von dir gesagt, zusammengenommen; und ich habe um Verzeyhung zu bitten, daß ich diesen schönsten Zug an deinem Bilde weggelassen: zwar aus bloßer Unwissenheit; denn sonst sollte er gewiß vor allen andern gemahlt worden seyn. In diesem Stükke glaube ich also, anstatt das Maas überschritten zu haben, vielmehr weit weniger gesagt zu haben, als sich gebührt hätte. Denn erwäge nur selbst, welch ein wichtiges und entscheidendes Stük an deinem sittlichen Charakter ich ausgelassen habe: wenn es richtig ist, daß diejenigen, bey denen die Gottesfurcht mehr als bloßes Beywerk ist, auch in allen menschlichen Ver-

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hältnissen die besten seyn sollen. Wenn ich also ja an meinem Bilde was verbessern sollte, so würd’ ich mir nicht beygehen lassen etwas davon wegzunehmen: sondern ich würde blos dieses, als den zur Vollkommenheit des Ganzen noch fehlenden schönsten Zug, hinzuthun. Indessen bekenne ich, daß ich dir gleichwohl, was diesen Punct betrift, den größten Dank schuldig bin. Denn da ich vorzüglich die Mäßigung und Bescheidenheit an dir ge-

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rühmt, und daß die dermalige Größe deiner Umstände weder Übermuth noch Schwulst in dir hervorgebracht: so hat die Klage, die du über meine Schrift geführt, gerade die Wahrheit des Lobes bestättigt. Denn dergleichen Lobsprüche nicht begierig hinunter schlingen, sondern davon beschämt werden, und sie für größer erkennen als uns gebührt, eben dies ist Beweis einer sittsamen, und, wenn ich so sagen darf, popularen Denkart. Aber je mehr du gegen Lobpreisungen so gesinnt bist, je würdiger zeigst du dich derselben; und es trift hier zu, was Diogenes zur Antwort gab, als er gefragt wurde: wie man’s machen müßte, um berühmt zu werden? Den Ruhm verachten, sagte Diogenes. Eben so möchte ich einem der mich fragte: wer

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sind die so am meisten Lob verdienen? zur Antwort geben: die nicht gelobt werden wollen. *) Doch, dies gehört vielleicht nicht eigentlich zur Sache. Denn das worüber ich mich verantworten soll, ist dies: daß ich in der Abbildung deiner Gestalt, dich mit der Venus zu Gnidos und in den Gärten, und mit Juno und Minerva verglichen; denn dies findest du übertrieben und über alles Maas. Nun könnt’ ich mich zwar auf den alten Spruch berufen, daß Dichter und Mahler, in ihren Metier, keiner Rechenschaft unterworfen seyen — eine Befreyung, deren die Lobredner, wie mir däucht, sich noch mit besserm Grunde zu erfreuen haben sollten, wiewohl sie nur (wie Ich) zu Fuße gehen, und nicht, wie die Poeten, auf den Stelzen des

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Sylbenmaßes daherschreiten. Denn das Lob ist etwas freyes, und ich kenne kein Gesetz, wodurch ihm ein bestimmtes Maas der Größe oder Kleinheit

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Wir besorgen, daß man unsern Lucian, für einen so sinnreichen und eleganten Schriftstel-

ler, wofür er paßiert, hier, und überhaupt in diesem ganzen Stücke, ein wenig g e s c h w ä t z i g finden werde. Er war freylich ein R h e t o r von Profeßion, und kann das Charakteristische derselben nicht ganz verläugnen. Wir haben aber auch diese beyden Stücke nicht als untadeliche Meisterwerke an sich selbst, sondern bloß als Proben gegeben, woraus man sich von der Urbanität, dem guten Ton, und, wenn man mir dieses Wort hier erlauben will, von der Galanterie gegen die Damen, wie sie in den Zeiten der A n t o n i n e n , besonders in dem Griechischen und Asiatischen Theile des Römischen Reichs Mode war, einen anschauenden Begriff machen könnte. Verfeinerung und Luxus war damals höher getrieben als je zuvor. Man kann also richtig annehmen, daß eine Schrift, die keine andre Absicht hatte, als einer Dame Cour zu machen — von dem elegantesten Schriftsteller dieser nemlichen Zeit, an die Favoritin eines Kaysers, die eine Frau von den größten Vorzügen war — den feinsten Schwung und den besten Ton dessen was damals für Politesse, Witz und Artigkeit galt, gehabt habe; und also zu einer Probe in dieser Art ganz vorzüglich geschikt sey.

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vorgeschrieben wäre; sondern es hat lediglich darauf allein zusehen, daß die gelobte Person so bewunderns und beneidenswürdig als möglich dargestellt werde. Ich will aber diesen Weg nicht betreten, damit du nicht etwa glaubest, ich thue es, weil ich mir nicht anders zu helfen wisse. Ich will also lieber sagen: Bilder und Vergleichungen gehören nun einmal zu den Wendungen und Kunstvortheilen, deren Gebrauch den Verfassern von Lobschriften je und allezeit zugestanden worden. *) Dies vorausgesezt, kömmt es bloß darauf an, g u t zu vergleichen; und dies g u t wird darnach beurtheilt, wenn man den Gegenstand, welcher gelobt werden soll, nicht sei10

nesgleichen oder gar geringern gegenüberstellt, sondern ihn einem Höhern so nah als möglich zu bringen sucht. So würde z. Ex. einer, der einen Hund loben wollte, seine Sache schlecht gemacht haben, wenn er ihn größer nennte als ein Fuchs oder eine Katze; und wenn er ihn auch dem Wolf vergliche, würde der Hund noch immer wenig dabey gewonnen haben. Man sage aber, er gleiche dem Löwen an Größe und Stärke — wie der Dichter thut, da er den Hund des O r i o n den L ö w e n b ä n d i g e r nennt: das nenn’ ich das höchste Lob das man einem Hunde beylegen kann. Eben so, wenn jemand den M i l o n von Krotona, **) oder den G l a u k u s v o n K a r y s t o s * * * ) oder *)

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Diese Stelle hat im Original allen den Gelehrten, die am Lucianischen Text gekunstrichtet

haben, viel zu schaffen gemacht. Wir haben ihre Zweifel und Vorschläge wohl erwogen, und am Ende uns an die Auslegung des sel. J. M. Geßners gehalten, deren Richtigkeit ganz einleuchtend scheint. Wenn im Text ja etwas verdorben ist, so ists bloß in den ersten Worten Ekeino de se Fhmi, wo das se gar keinen Sinn hat, und statt ekeino füglicher einai gelesen werden könnte: der Sinn der ganzen Periode leidet aber unter diesen allenfallsigen Schreibfehlern nichts, und kann, ohne dem Zusammenhang und der Sprache selbst Gewalt anzuthun, kein andrer seyn als derjenige, den wir gegeben haben. **)

Milon von Krotona ist seiner Stärke und Gefräßigkeit wegen gleich berühmt; beyde waren

groß genug, um den lügenhaften Griechen zu der Sage Anlaß zu geben, er habe einen Ochsen mit der bloßen Faust zu Boden geschlagen, und diesen nemlichen Ochsen (gebraten oder gekocht, 30

versteht sich) auf Eine Mahlzeit aufgegessen. Pausanias versichert, daß er die Statüe, die ihm zu Olympia gesezt worden, auf seinen eignen Schultern an Ort und Stelle getragen. Er siegte sechsmal in den Olympischen Spielen im Faustkampf, und das siebentemal wurde er als Sieger gekrönt, weil niemand da war, der sich mit ihm messen wollte. ***)

Dieser Glaukus ist weder Bellerophons Vater, noch Bellerophons Enkel, (der Homerische

Glaukus) noch Glaukus, der Verfasser eines verlohrnen Buchs von den alten Dichtern und Musikern, noch Glaukus der Dichter, von welchem in der B r u n k i s c h e n Ausgabe der A n t h o l o g i e T. II. p. 347. 78. sechs Epigrammen vorkommen; noch viel weniger der mythologische Glaukus, der aus einem Fischer in einen Meergott verwandelt worden: sondern ein wegen seiner Leibes-

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den P o l y d a m a s * ) loben wollte, und spräche: diese Athleten seyen stärker gewesen als ein Weib: würde er mit einem so albernen Lob nicht ausgelacht werden? Und wenn er auch sagte, jeder von ihnen sey einem einzelnen Manne überlegen gewesen, so würde das noch wenig gesagt seyn. Aber wie lobte den Glaukus der berühmte Dichter? We d e r d e r g e w a l t i g e P o l y d e u k e s , spricht er, w ü r d e i h m s e i n e H ä n d e z u m K a m p f e n t g e g e n s t r e c k e n w o l l e n , n o c h A l k m e n e n s e i s e r n e r S o h n . * * ) Du siehst, welchen Göttern er diesen Sterblichen entgegenstellt, oder vielmehr überlegen erklärt. Gleichwohl hat es weder Glaukus selbst übel genommen, daß er auf Unkosten der Schutzgötter der Athleten gelobt worden;

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noch haben diese sich weder an ihm noch an dem Dichter gerochen, als ob er sich durch diese Art zu loben, an ihrer Gottheit versündiget hätte: hingegen sind beyde, der Athlet und der Dichter, von allen Griechen in hohen Ehren gehalten worden; jener, wegen seiner ausserordentlichen Stärke, dieser seiner übrigen, und besonders auch dieses nemlichen Gesanges wegen. Wundre dich also nicht, daß auch ich, da ich dich, wie es einem Lobredner zusteht, vergleichen mußte, mich eines erhabnern Gegenbildes dazu bedient habe; denn dies brachte, wie du siehst, die Natur der Sache so stärke berühmter Athlete, der in der 25sten Olympiade den Preis im Pugilat, und den Beynamen

Pykthw, der B a x e r , par excellence, davon trug. *)

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Polydamas war, nach der Versicherung des Pausanias, der stärkste, und, der Länge und

Breite nach, der größte Mann seiner Zeit; ein zweyter Herkules. Auch hatte er, wie dieser, einen Löwen auf dem Berg Olympos, ganz allein und ohne Waffen, überwältigt; wogegen die Löwen, wenn sie Geschichtschreiber unter sich hätten, vermuthlich einige Einwendungen machen würden. Er trug in der 43sten Olympiade den Sieg im P a n k r a t i o n davon. Die Berührung seiner Bildsäule zu Olympia wurde für ein Mittel gegen das Fieber gehalten. Darius Nothus ließ ihn nach Susa kommen, um sich der Wunder, die man von diesem Kraftsmann erzählte, mit eignen Augen, zu versichern. Er stellte ihm die drey stärksten Helden von seiner Leibwache entgegen; Polydamas nahm alle drey zugleich auf sich, und legte sie so zu Boden, daß sie nicht wieder aufstunden. Das zu große Vertrauen auf seine Leibesstärke schlug endlich zu seinem Verderben aus. Da er einsmals mit etlichen guten Freunden, um vor der Sonnenhitze Schutz zu suchen, in einer Höle untergestanden war, gab die Wölbung der Höle auf einmal nach, und drohte einzustürzen. Die übrigen entflohen über Hals und Kopf; aber Polydamas, der eine so übereilte Flucht einem Manne wie Er unanständig hielt, hofte den einstürzenden Berg mit seinen beyden entgegengestämten Händen noch aufzuhalten, und wurde unter dem Schutt desselben begraben. **)

Vermuthlich hat P i n d a r dies in irgend einem verlohren gegangnen Siegesliede auf einen

Verwandten, Abkömmling oder Mitbürger dieses Glaukus gesagt, zwischem welchem und der Zeit, wo Pindar die Olympischen Sieger besang, über 150 Jahre verflossen sind.

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mit sich. Da du aber auch der Schmeicheley erwähnt hast: so lobe ich zwar sehr daß du die Schmeichler, wie sichs gebührt, verabscheuest: glaube aber, daß sich der Unterschied zwischen der Art wie der Lobredner, und wie der Schmeichler lobt, sehr genau angeben lasse. Der Schmeichler, der bloß seines Vortheils wegen lobt, und auf die Wahrheit wenig Rüksicht nimmt, glaubt er könne im Loben nie zuviel thun; läßt sichs nicht leyd seyn, den Thersites für schöner als den Achilles, und Nestorn unter allen die vor Troja gefochten haben für den jüngsten auszugeben; und würde schwören der taube Sohn des Krösus höre besser als Melampus *), und der 10

*)

Melampus gehört unter die merkwürdigern Männer der Zeit, welche bey den Griechen der

historischen Zeitperiode vorgieng, und deren Geschichte daher durch das Medium der mündlichen Überlieferung und der Imagination der Poeten, zum Mährchen geworden. Er war der jüngere Sohn eines jüngern Sohns von C r e t h e u s , dem Erbauer der Stadt Jolkos in Thessalien, einem Sohn des Neptuns oder Aeolus, d. i. einem Seefahrer und Abentheurer, dessen Herkunft unbekannt war. Melampus wurde auf dem Lande, nach Art der damaligen Zeit erzogen, wo der Reichthum der H i r t e n d e r V ö l k e r noch in zahlreichen Heeren bestund, und die jüngern Söhne der Ochsen und Schafe ihres Vaters hüteten. Bey dieser Lebensart hatte er Gelegenheit einige medicinische Entdeckungen zu machen. Er bemerkte z. Ex. daß seine Ziegen, wenn sie von Elleborus gegessen hatten, stark purgierten. Dies brachte ihn auf den Einfall, die Töchter des 20

Prötus (die mit der seltsamen Tollheit behaftet waren, sich in Kühe verwandelt zu glauben) mit der Milch von Ziegen, welche Elleborus gegessen hatten, zu curiren. Es gelang ihm, und diese Cur sezte ihn in großen Ruf, und erwarb ihm den Beynamen Kauarthw, der Purgierer, der in der Folge (aus Mißverständnis, wie es scheint) so ausgedeutet wurde, als ob er sich dafür ausgethan hätte, die Menschen durch mystische Reinigungen mit den Göttern auszusöhnen. Das Mißverständnis mag daher entstanden seyn, weil er sich bey seinen Curen auch religiöser Ceremonien, Gebetsformeln, Räucherungen und dergl. bediente, um die Götter oder Geister zu besänftigen und günstig zu machen, von denen, nach der damaligen Vorstellungsart, alle Krankheiten den Menschen, als Strafen, zugeschikt wurden; Begriffe, deren Spuren sich bis auf diesen Tag unter dem gemeinen Volke überall erhalten haben. Ein Arzt war, in jenen heroischen Zeiten, ein Wunder-

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thäter, ein Mann, der mit den Göttern in Gemeinschaft stund, eine Art von Zauberer, der über die Kräfte der Natur Gewalt hatte, das Künftige vorhersah, die Sprache der Vögel verstund, u. dergl. Dieses leztere Talent wurde also auch dem M e l a m p u s zugeschrieben; und, da er zu einer so wunderbaren Gabe auch auf eine wunderbare Art gekommen seyn mußte: so erzählte man daß es auf folgende Art geschehen sey. Seine Knechte hatten in einer alten Eiche, die beym Hause stund, ein Schlangennest gefunden. Melampus kam eben dazu, als sie die alten Schlangen tödteten. Er rettete die Jungen, nährte sie, und zog sie mit großer Sorgfalt auf. Vermuthlich hatte Melampus damals schon einen höhern Begriff von der Natur der Schlangen als seine Sclaven. Denn die Schlangen stunden in diesen uralten Zeiten in dem Ruf, mehr vom Zukünftigen zu wissen als die Menschen, und mit den Vögeln, als den unmittelbaren Dienern und Confidenten der Götter, ich

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weiß nicht in welcher geheimen Verbindung zu stehen. Eines Tages, da Melampus unter der Eiche

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blinde P h i n e u s sehe schärfer als der Luchsaugige L y n c e u s * ) wenn er nur mit seiner Lüge etwas zu gewinnen Hoffnung hat. Jener hingegen lobt zwar auch, aber nicht so, daß er dem Gelobten Vollkommenheiten andichte, die er gar nicht hat; er vergrößert und erhöht nur die Vorzüge welche würklich da sind, gesezt auch daß sie sogar ausserordentlich nicht wären; und er wird sich kein Bedenken machen, von einem Pferde das er loben will als von einem der leichtesten und schnellesten Thiere die wir kennen, zu sagen: Wenn es mit flüchtigen gleitenden Füßen die Äcker berührte, Streifte es leise die nickenden Ähren, und bräche den Halm nicht. **)

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Eben so wird er ohne Bedenken den Lauf schneller Rosse mit dem Sturmwinde vergleichen, oder von einem schönen und prächtig möblirten Hause sagen: So glänzt Zevs, des Olympiers, Hof — ***)

lag und schlief, kamen die Schlangen und lekten ihm beyde Ohren so rein aus, daß er, von Stund an, nicht nur schärfer hörte als andre Menschenkinder, sondern auch die Sprache der Vögel verstund, und dadurch zu Kenntnissen gelangte, welche andern Menschen verborgen waren. Dieser Umstand ists, warum Lucian seiner hier Erwähnung thut. Nach dem Scholiasten des Euripides (ad Hecubam v. 87.) sollen die beyden Kinder des Königs Priamus, H e l e n u s und C a s s a n d r a , durch eben dieses Mittel, nemlich, daß ein Paar dem Apollo geheiligten Schlangen ihnen in

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ihrer Kindheit im Tempel dieses Gottes die Ohren ausgelekt, und daß ihr Gehör dadurch gereinigt und exaltirt worden, die Gaben empfangen haben, die Berathschlagungen der Götter zu hören, und durch dieses unfehlbare Mittel vorherzusagen was geschehen werde. *)

P h i n e u s , König zu Salmydessus in Thrazien, lebte zur Zeit der Argonauten und spielt eine

große Rolle in ihrer Geschichte. Warum er das Gesicht verlohren, wäre hier zu weitläuftig, dem Apollodorus oder Hyginus oder Herrn Hederich nachzuerzählen. Der L y n c e u s , von welchem hier die Rede ist, war einer von den Argonauten, aus deren Geschichte die Alten ein so wunderbares Feenmährchen zu machen gewußt haben. Wie beynahe jeder dieser Abentheurer irgend etwas außerordentliches hatte, so besaß dieser Lynceus die Gabe, nicht nur, wie Varro versichert, auf 130000 Schritte weit, sondern sogar durch Stöcke und Steine, ja d u r c h d i e E r d e bis in ihr Eingeweide zu sehen, und die darinn verborgenen Schätze zu entdecken. Vermuthlich war er einer der ersten in Griechenland, der sich einige Kenntnis in Bergwerkssachen erworben hatte. **) ***)

Ilias XX. v. 217. 18. nach der S t o l l b e r g . Übersetzung. Odyssee IV. v. 74.

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Aber der Schmeichler wird diesen Vers auch auf die Hütte eines Schweinhirten anwenden, wenn er nur vom Schweinhirten etwas zu bekommen hoft. Fand doch Cynäthus, der Hofschranz des Demetrius Poliorcetes, nach dem er alle Gemeinplätze und Wendungen der Schmeicheley aufgezehrt und erschöpft hatte, noch Mittel etwas Neues in dieser Art zu sagen, da er den König, als er vom Husten geplagt war, lobte, daß er melodisch huste. Die Lober *) sind aber nicht nur daran von den Schmeichlern zu erkennen, daß diese kein Bedenken tragen sich durch Lügen bey der gelobten Person in Gunst zu setzen, da hingegen jene nur zu erheben suchen was würklich 10

da ist: sondern auch dies macht keinen geringen Unterschied unter ihnen, daß die Schmeichler, soviel ihnen nur immer möglich ist, Hyperbeln gebrauchen, die Lober hingegen im Gebrauch derselben bescheiden sind, und immer in den Schranken bleiben. Diese wenige Unterscheidungs-Merkmale der Schmeicheley und des wahren Lobes mögen für izt genug seyn, damit du nicht alle Lober für verdächtige Leute ansehest, sondern einen billigen Unterschied machest, und jedes mit seinem eignen Maaße messest. So lege dann nun, wenn es dir gefällig ist, beyde Maaße an meine Schrift an, um zu sehen, welchem von beyden sie entspricht. Denn wenn sich fände, daß ich irgend eine ungestalte Person der Gnidischen Bildsäule ähnlich

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genennt hätte, würde ich mit Recht für einen Betrüger und für einen unverschämtern Schmeichler als Cynäthus selbst passieren: habe ich es aber von der Person gesagt, die jedermann für das was sie ist anerkennt: so wird *)

Der L o b e r , derjenige der einen andern lobt, ein im Hochdeutschen ungewöhnliches Wort

(sagt Hr. A d e l u n g in seinem Wörterbuche) welches nur S p r ü c h w . S a l o m . 2 7 . v. 21. (der Lutherischen Bibelübersetzung) vorkommt. Aber dies, däucht mich, mit Erlaubnis unsers verdienstvollen Sprachforschers, gerade Autorität genug, um ein Wort, wie dies, dessen man gleichwohl sehr oft vonnöthen hat, für Hochteutsch gelten zu lassen, und durch öftern Gebrauch gewöhnlicher zu machen. Es ist bekannt, wie ungemein sorgfältig L u t h e r war, keine Worte noch Redensarten in seine Bibelübersetzung aufzunehmen, von denen er nicht gewiß war, daß sie ächt 30

teutsch seyen. Gesezt aber auch, er wäre der erste, der dies Nennwort ausgemünzt hätte: ist der Stempel eines so großen Mannes nicht ehrwürdig genug, um es gangbar zu machen? Wir empfehlen es also allen unsern guten Schriftstellern; denn diesen kommt es doch wohl am Ende allein zu, ungewöhnliche Wörter gewöhnlich zu machen — ein Recht, wofür Herr A. überhaupt zu wenig Achtung zu haben scheint, wiewohl H o r a z (der hierinn der Worthalter der gesunden Vernunft und des allgemeinen Gebrauchs bey allen gelehrten Völkern ist) solches den Schriftstellern in seiner Epistel an die Pisonen (der wahren Magna Charta der Autoren und Kunstrichter) auf eine Art, die keinen Widerspruch Plaz läßt, zugestanden hat.

L u c i a n s Ve r t h e i d i g u n g s e i n e r P a n t h e a

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der Unterschied wohl so groß nicht seyn, daß ich bey diesem Unterfangen viel gewagt hätte. Aber du möchtest vielleicht sagen, oder du hast vielmehr schon gesagt: daß ich dich der Schönheit wegen gelobt, möchte noch hingehen; aber ich hätte dich auf keine verhaßte Art loben, und eine Sterbliche nicht mit Göttinnen vergleichen sollen. — Wohlan dann, Meine Gnädigste, weil ich doch dahin getrieben bin die Wahrheit rund heraus zu sagen — so muß ich Dir sagen, daß ich dich nicht mit Göttinnen, sondern nur mit Kunstwerken guter Meister aus Stein, Erzt und Elfenbein gearbeitet, verglichen habe. Menschenwerk aber mit Menschen zu vergleichen, halte ich für nichts unreligiöses; Du müßtest denn nur glauben, Minerva und das

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Gebilde des Phidias sey Eins, oder das sey die himmlische Venus, was Praxiteles vor nicht gar vielen Jahren zu Gnidos verfertigte. Aber siehe zu, daß du nicht durch eine solche Vorstellungsart dich selbst an den Göttern versündigest, deren wahre Bilder, wie mich dünkt, ausser den Grenzen der menschlichen Nachahmung sind. Wenn ich dich aber auch mit den Göttinnen selbst verglichen hätte, so wäre ich nicht der erste gewesen, der diesen Weg betreten, sondern hätte viele gute Dichter, und vornemlich deinen Landsmann Homerus, zu Vorgängern; denn diesen werde ich izt zu meinem Fürsprecher aufruffen, so daß du keine Möglichkeit finden wirst ihn freyzusprechen, wenn du mich verdammest. Ich will ihn also fragen, oder

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vielmehr dich an seiner statt (denn ich weiß, und lobe dich darum, daß dir die anmuthigsten Stellen aus seinen Rhapsodien alle gegenwärtig sind) was dünkt dir davon, wenn er von der Sclavin Briseis sagt, sie habe d e r g o l d n e n Ve n u s g l e i c h g e s e h e n , als sie den Tod des Patroklus beweinte; und wenn er bald darauf, als ob es noch nicht genug wäre, wenn sie nur der Venus gliche, noch hinzusezt: und so sprach lautweinend das Mädchen den Göttinnen ähnlich.

Wenn er nun dergleichen Ausdrücke gebraucht, erzürnst du dich über ihn und wirfst das Buch weg, oder gestehst du ihm zu, seine Personen zu loben wie ers am besten findet. Doch, wenn auch Du es ihm nicht zugestehen wolltest, so haben’s ihm nun bereits so viele Jahrhunderte zugestanden, und niemand hat ihn jemals über diesen Punct zur Rede gesezt, auch sogar der nicht, der sein Bildnis zu geiseln die Verwegenheit hatte *) noch jener,

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Januar 1781)

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der die Verse, die ihm nicht gefielen, als unächt, mit beygesezten Strichen bemerkte. **) Soll nun dem Homer erlaubt seyn, eine

Ungrie-

c h i n * * * ) ein rohes Phrygisches Mädchen, und zwar gerade da sie heulte, mit der goldnen Venus zu vergleichen: und ich (um von der Schönheit nichts zu sagen, weil du nichts davon hören willst) sollte eine freundliche und fast immer lächelnde Frau (etwas worinn alle Menschen mehr oder weniger den Göttern ähnlich sind) nicht einmal mit Götterbildern vergleichen dürfen? Aber in seiner Abschilderung des Agamemnon, siehe, mit welcher Sparsamkeit er da die Götter gebraucht, und wie er von jedem nur 10

das schönste nimmt, gleich als ob einer nicht hinreichte, um uns ein vollkommnes Bild von diesem großen Sterblichen zu geben — — — unter den Führern der Fürst Agamemnon, Ähnlich an Augen und Haupt dem Blitzeschleudernden J o v i s , Um den Gürtel dem Mars, die Brust dem Meeresgott ähnlich. ****)

Wie er den Mann zergliedert, um ihn gleichsam aus Bruchstücken von Götterbildern wieder zusammenzusetzen! — An einem andern Orte nennt er eben diesen Agamemnon ä h n l i c h d e m m e n s c h e n w ü r g e n d e n M a r s ; an einem andern d e n P h r y g i e r Priamus, G ö t t l i c h v o n A n s e h n , und sehr häufig G o t t ä h n l i c h den Sohn des Peleus. Aber, um 20

wieder zu den weiblichen Beyspielen zurükzukehren, erinnerst du dich nicht des Verses: Ähnlich Dianen, oder der goldenen Aphrodite,

und jenes andern:

*)

Zoilus.

**)

Aristarchus.

***)

Barbaron gynaika. Bekanntermaßen nannten die Griechen alle Ungriechen aus Verach-

tung Barbaren, und wollten damit ungefehr eben soviel ausdrücken als (nach Z i m m e r m a n n s Bericht) die stolzen Bürger eines gewissen Schweizer-Cantons, wenn sie von einem Fremden sagen: e r i s c h t e i n U s b u r g e r 30

**** )

Ilias II. v. 478. 79.

L u c i a n s Ve r t h e i d i g u n g s e i n e r P a n t h e a

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Wie auf waldichtem Berge Diana dahergeht — *)

Er vergleicht aber nicht nur die Menschen selbst mit Göttern, sondern sogar das blutbeflekte Haar des Euphorbus mit den Grazien; und überhaupt sind ihm diese Vergleichungen so geläufig, daß kein Buch in seinem ganzen Werke ist, das nicht mit solchen Götterbildern ausgeziert wäre. Entweder müssen also diese alle ausgelöscht, oder auch uns das nemliche zu wagen erlaubt werden. Es ist aber dieses ganze Bilder- und Vergleichungswesen sogar keiner Censur unterworfen, daß Homer kein Bedenken trug Göttinnen selbst durch Bilder, die von irdischen und gemeinen Dingen hergenommen sind, zu loben; als wenn er die Augen der Juno mit Kuhaugen ver-

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gleicht; so wie ein andrer die Venus Violenbrauicht (ioblefaron) nennt. Und wer kennt die r o s e n f i n g r i c h t e nicht, der nur einen flüchtigen Blik in Homers Werk gethan hat? Und gleichwohl kann es noch hingehen, wenn jemand in Absicht auf die Gestalt mit einem Gott verglichen wird: aber wie viele haben wir nicht, die sich sogar der eignen Namen der Götter angemaßt haben, indem sie sich D i o n y s i u s , H e p h ä s t i o n , Z e n o n , P o s e i d o n i u s , H e r m ä u s u. s. w. nannten? Die Gemahlin des Königs Evagoras von Cypern nannte sich L a t o n a , ohne daß ihrs die Göttin übel nahm, der es doch ein leichtes gewesen wäre, sie, gleich der Niobe, in Stein zu verwandeln. Nichts von den Ägyptern zu sagen, die ungeachtet ihrer unmäßigen

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D e i s i d ä m o n i e * * ) sich der Götternahmen bis zum Überdrus bedienen. Denn fast alle Namen sind bey ihnen aus dem Himmel gehohlt. Ich sehe also nicht was du für Ursache haben solltest, dir durch die Art wie ich dich gelobt habe eine solche Furcht einjagen zu lassen. Denn wofern auch in meiner Schrift gegen die Religion gesündigt wäre so wärest du ja ganz unschuldig daran; es müßte denn nur strafwürdig seyn, der Vorlesung derselben zugehört zu haben. Mich aber werden die Götter strafen, wenn sie vorher an Homer und einer Menge andrer Dichter Rache genommen haben werden. Aber haben sie sich doch nicht einmal an dem Besten aller Philosophen ***) gerochen, welcher sagte: der Mensch sey ein Bild der Gottheit. — *)

Odyss. XVII. v. 37. u. VI. v. 102.

**) ***)

Abergläubische G ö t t e r - oder D ä m o n e n f u r c h t . Ob Plato, wie Geßner vermuthet, oder Diogenes Cynicus unter diesem Besten oder Ersten

der Philosophen gemeynt sey, läßt sich nicht mit Gewisheit sagen. Das lezte könnte wahrschein-

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Ich hätte dir noch viel andres zu sagen; aber ich muß diesem gegenwärtigen Polystratus zu Lieb aufhören, damit er desto eher behalten könne was er dir wieder vortragen soll. Polys tr. Ich stehe dir nicht dafür, daß ich es können werde, mein lieber Lycinus; denn du hast eine mächtig lange Rede gehalten, und das ein gut Theil über das vorgegossene Wassermaas. Ich will mich indessen doch bemühen, alles soviel möglich im Gedächtnis zu behalten; und ich eile also unverzüglich zur Panthea, mit verstopften Ohren, wie du siehest, damit nichts anders hineinfalle, das eine Verwirrung in der Ordnung der Begriffe 10

anrichten könnte, und ich denn die Schande erleben müßte, von den Zuhörern ausgezischt zu werden. Lyc in . Ich verlasse mich darauf, Polystratus, daß du schon selbst bedacht seyn wirst, deine Sachen gut zu machen. Das Geschäfte ist nun in deinen Händen, und ich habe nichts weiter dabey zu thun; sobald aber das Urtheil publiziert werden soll, werd’ ich mich wieder einfinden, um zu sehen, was dieser Handel für einen Ausgang nehmen wird. W.

licher scheinen, weil Lucian überall in seinen Werken ungleich mehr Hochachtung für den Diogenes blicken läßt als für den Plato. Man führt auch zu diesem Ende eine Stelle aus dem Diogenes 20

Laertius an, wo dieser Compilator unter andern Lehrsprüchen des berühmten Cynikers auch diesen anführt:

toyw agauoyw andraw uev Ä n eikonaw einai. Dieser Saz sagt aber etwas ganz anders als der, auf welchen sich Lucian beruft. Diogenes spricht von g u t e n Menschen; der Beste der Philosophen, wer er auch sey, v o m M e n s c h e n , d. i. von der Menschlichen Natur ü b e r h a u p t .

L u c i a n s Ve r t h e i d i g u n g s e i n e r P a n t h e a

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An Olympia. Über eine Handzeichnung von O e s e r n , die H. Marie Magdalene nach Cignani vorstellend. Wie? Dieser Talisman in deinem Cabinette, O l y m p i a , dies schöne Götterkind, an welchem — wie wir Weisen sind! — der weise Nestor selbst (mit Mir) sich vollends blind an Seel und Leib gesehen hätte; dies Nymfchen, das, so lieblich hingeschmiegt, wie auf dem weichsten Rosenbette

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auf hartem Felsengrunde liegt, so zauberlich, und doch zugleich so edel und ohne List, wiewol mit ofnem Busen, liegt, (mit halbgeschloßnem Blik den dummen Todtenschädel belauschend, der vielleicht sein schwärmend Herz betrügt) und seine schöngewundnen Arme so liebevoll zusammenschließt als ob, in süßem Traum, ein Amor drinn erwarme; (wie D i d o , beym Virgil, ihr Leiden sich versüßt) kurz, dieses Ebenbild der Griechischen H e l e n e ,

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aus dem die Sehnsucht sich in jedes Aug ergießt, wie? dies, Olympia, wär’ eine Magdalene, die, reuvoll, weinend Thrän auf Thräne, vom Fasten abgezehrt, und aller ihrer Schöne beraubt, in düstrer Gruft für ihre Sünden büßt? Nein, nimmermehr! — Troz ihrem Todtenschädel, Troz dem Brevier (worinn sie wenig ließt) auf ihrem Schoos — Freund O e s e r sey gegrüßt und hochgelobt! Allein, in seinen Griechschen Mädel erkennt gewiß kein Bruder Serafin

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die heil’ge Sündenbüßerin. Die Grazien Apells (sie mögen mirs vergeben! die Muse hat von ferne zugeschielt) die Grazien, die immer ihn umschweben, sie haben ihm den losen Streich gespielt. Denn, wie er just mit angelweiten Augen gen Himmel sah, den Crayon in der Hand, das hohe Bild der Heilgen aufzusaugen die wie ein Bliz erschien, und wie ein Bliz verschwand; 10

flugs unterschob sich seinen innern Sinnen an Magdalenens statt, die ihm zu schnell entschwand, die lieblichste der Charitinnen. Freund O e s e r , der, den Crayon in der Hand, mit des Genies treuherzig schlauer Mine, entzückt, noch immer aufwärts sah, erhascht auf Einen Zug die ganze Eufrosyne, und — Amors Schwester lag als M a g d a l e n e da! W.

An Olympia

1—44

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Wie man ließt; eine Anekdote. Es würde wenig helfen, dem Publico eine Confidenz von meinen eignen Erfahrungen, w i e m a n g e l e s e n w i r d , zu machen; viele davon würden hinlänglich seyn, den entschlossensten und harthäutigsten Autor auf ewig abzuschrecken — „Und haben euch gleichwohl nicht abgeschrekt“ grinßt mir ein Satiro maligno zu. — Ich bekenne gerne, daß ich ihm lieber nichts antworten als die Schuld auf das Schiksal schieben will. Aber dieser Tage las ich in einem französischen Buche eine Anekdote diesen Artikel betreffend, womit ich — wie sich alles Gute gerne mittheilt — meine Leser, zu eignem beliebigen Nachdenken, regaliren will. Facta sind immer lehrreicher als Declamationen. Der

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Autor — sein Name thut nichts zur Sache, aber er ist, in meinem Sinne, noch einer von den besten, die sich izt zu Paris von der Bücherfabrik nähren — spricht von den manchfaltigen Ungemach, dem die Schriftsteller ausgesezt sind, bis der Tod ihrem Leiden ein Ende macht, und die Zeit ihre Werke entweder in den Abgrund der Vergessenheit gestürzt, oder, zu spät für den armen Autor! mit Preis und Unsterblichkeit krönt. Das Unglük, obenhin, unverständig, ohne Geschmak, ohne Gefühl, mit Vorurtheilen, oder gar mit Schalksaugen und bösem Willen gelesen zu werden — oder, wie die meisten Leser, die nur zum Zeitvertreib in ein Buch gucken — oder zur Unzeit, wenn der Leser übel geschlafen, übel verdaut, oder unglüklich gespielt, oder sonst Mangel an

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Lebensgeistern hat — oder gelesen zu werden, wenn gerade d i e s e s Buch, d i e s e A r t von Lectüre unter allen möglichen sich am wenigsten für ihn schikt, und seine Sinnesart, Stimmung, Laune, mit des Autors seiner den vollkommensten Contrast macht — das Unglük, s o gelesen zu werden, ist, nach der Meynung des besagten Autors, keines von den geringsten, welchen ein Schriftsteller (zumal in Zeiten, wie die unsrige, wo Lesen und Bücherschreiben einen Hauptartikel des National-Luxus ausmacht) sich und die armen ausgesezten Kinder seines Geistes täglich und unvermeidlich bloßgestellt sehen muß. Unter hundert Lesern kann man sicher rechnen von achtzig s o gelesen zu werden; und man hat noch von Glük zu sagen, wenn unter den Zwanzig übrigen etwan Einer ganz in der Verfassung ist, welche schlechter-

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dings dazu gehört, um dem Werke das man ließt (und wenn’s auch nur ein Madrigal wäre) sein völliges Recht anzuthun. Was Wunder also, wenn den besten Werken in ihrer Art, und in einer sehr guten Art, oft so übel mitgespielt wird? Was Wunder, wenn die Leute in einem Buche finden was gar nicht drinn ist; oder Ärgernis an Dingen nehmen, die, gleich einem gesunden Getränke in einem verdorbnen Gefäße, bloß dadurch ärgerlich werden, weil sie in dem schiefen Kopf oder der verdorbnen Einbildung des Lesers dazu gemacht werden? Was Wunder, wenn d e r G e i s t eines Werkes den Meisten so lange, und fast immer unsichtbar bleibt? Was Wunder, wenn dem Verfasser oft Absich10

ten, Grundsätze und Gesinnungen angedichtet werden, die er nicht hat, die er, vermöge seines Charakters, seiner ganzen Art zu existiren, gar nicht einmal haben k a n n ? Die Art, wie die Meisten lesen, ist der Schlüssel zu allen diesen Ereignissen, die in der litterarischen Welt so gewöhnlich sind. Wer darauf acht zu geben Lust oder innern Beruf hat, erlebt die erstaunlichsten Dinge in dieser Art. Die ungerechtesten Urtheile, die widersinnigsten Präventionen, die oft für eine lange Zeit zur g e m e i n e n S a g e werden, und zulezt, ohne weitere Untersuchung, f ü r e i n e a b g e u r t h e l t e S a c h e passiren, wiewohl kein Mensch jemals daran gedacht hatte, die Sache gründlich und unpartheiisch zu untersuchen — haben oft keine andre Quelle als diese. Der Autor und sein

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Buch werden, mit Urtheil und Recht, aber nach eben so feinen Grundsätzen, nach einer eben so tumultuarischen und albernen Art von Inquisition, kurz mit eben der Iniquität oder Sancta Simplicitas verdammt, wie ehmals in ganz Europa, und noch heutigs Tages in einigen hellen Gegenden unsers lieben teutschen Vaterlandes — d i e H e x e n verbrannt werden. Hier ist das Exempelchen, womit wir diese kleine vorläufige und vergebliche Betrachtung krönen wollen. Rousseaus N e u e H e l o i s e war vor kurzem ans Licht getreten. In einer großen Gesellschaft behauptete Jemand, Jean-Jaques hätte in diesem Buche den S e l b s t m o r d gepredigt. Man hohlte das Buch herbey; man laß den Brief

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vom S t . P r e u x wo die Rede davon ist. Alle Anwesenden schrien überlaut, man sollte ein solches Buch durch den Henker verbrennen lassen; und den Autor — es fehlte wenig, daß sie nicht auch den mit ins Feuer geworfen hätten. Indessen, da J. J. Rousseau gleichwohl für einen großen Mann passirt, so fanden sich einige, denen es billig dünken wollte, ehe man zur Execution schritte, die Sache näher zu untersuchen. Sie lasen den vorgehenden Brief, und dann

Wie man ließt ; eine Anekdote

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den folgenden: und da fand sich, daß gerade dieser Brief ganz entscheidende Gründe gegen den Selbstmord gab, und daß J. J. Rousseau über diesen Punct ganz gesunde Begriffe hatte. Aber die Sage des Gegentheils hatte nun einmal überhand genommen; die Gansköpfe hielten fest, und fuhren fort mit ihrer eignen Dummdreistigkeit zu versichern, Jean-Jaques predige auf d e r und d e r Seite seines Buchs den Selbstmord, wiewohl er auf d e r und d e r Seite just das Gegentheil that. „Was ist nun mit solchen Leuten anzufangen?“ Nichts. „Was soll ein Schriftsteller, der das Unglük hat in einem solchen Fall zu kommen, zu Rettung seiner Unschuld und Ehre sagen?“ Nichts.

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„Was hätte ihn davor bewahren können?“ Nichts. „Sollte denn kein Mittel seyn?“ — O ja, ich besinne mich — er hätte selbst ein Ganskopf seyn — oder auch gar nichts schreiben — oder, was das sicherste gewesen wäre, beym ersten Hineingucken in die Welt den Kopf gleich wieder zurükziehen und hingehen sollen woher er gekommen war — „Das sind Extrema —“ So denk ich auch. Ja, freylich ist der Menschen kurzes Leben Mit Noth beschwehrt, wie Avicenna spricht.

Mit den Autoren ist kein Mitleiden zu haben — und den Lesern ist nicht zu helfen. Aber gleichwohl wäre zu wünschen, daß die Leute b e s s e r l e s e n lernten.

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Moralische Probleme. *) 1. In wiefern es Pflicht sey, eines allgemein geliebten großen Sittenlehrers bey seinen Lebzeiten zu schonen, aus Besorgnis dem Nutzen seiner Lehren möchte geschadet werden? An M. B. G****. Ich sehe aus dem ganzen Inhalt des Briefes, worinn Sie mir, mein Bester, die vorstehende Frage zur Beantwortung vorlegen, daß Sie durch den Saz, den ich 10

im T. M. auf der 66 und 67 Seite des Monatsstüks vom October 1780 behauptet habe, dazu veranlaßt worden sind. Ich glaube Ihnen daher eine öffentliche Antwort auf eine Frage, wozu ich selbst öffentlich Gelegenheit gegeben, um so mehr schuldig zu seyn, als vermuthlich diese Erörterung mehrern unter den Lesern jener Abhandlung angenehm seyn wird. Indessen scheinen mir doch bey dem Problem welches Sie mir vorlegen, sowohl die Zweiffels- als Entscheidungsgründe, in den verschiednen Aufsätzen im T. Merkur, zu welchen die bekannte Anekdote von J . J . R o u s s e a u Anlaß gegeben, schon so deutlich und bestimmt enthalten zu seyn: daß ich es kaum möglich finde, die Sache von einer neuen Seite oder in einem neuen Lichte zu zeigen. Ich werde mich also

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desto kürzer fassen können, da ich im Grunde weiter nichts als Ihnen die kleine Mühe ersparen kann, jene Gründe auf die vorgelegte Frage selbst anzuwenden. *)

Unter dieser Rubrik gedenken wir unsern Lesern in diesem Jahrgang einige kleine Abhand-

lungen über problematische Fragen die sittliche Schönheit und Güte besonderer, meistens e i n z e l n e r Handlungen, betreffend, mitzutheilen. Diejenige, womit hier der Anfang gemacht wird, ist weniger aus eigner Bewegung, als aus Gefälligkeit gegen einen verehrenswerthen Freund, entstanden, welcher diese Frage von dem H. d. M. erörtert zu sehen wünschte. Sollte zuweilen in einem unsrer Leser ein ähnlicher Wunsch entstehen: so wird es dem Herausgeber allezeit angenehm seyn, durch Fragen, oder Zweifel, zu nüzlichen und unterhaltenden Untersuchungen ver30

anlaßt zu werden.

Moralische Probleme

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Der vorhin angezogene *) Saz: „daß es e r l a u b t , ja sogar P f l i c h t wäre, e i n e m m o r a l i s c h e n H e u c h l e r und B e t r ü g e r , welcher Weisheit und Tugend nicht nur mit großem Gepränge und scheinbarem Eifer predigte, sondern auch allen Kunstgriffen aufböte um von der Welt für einen durch Weisheit und Tugend hocherhabenen Mann angesehen zu werden, die L a r v e a b z u z i e h e n , und ohne Bedenken alles Böse, was man von ihm wißte, bekannt zu machen — in sofern man g e w i ß w ü ß t e , und d u r c h e i n e R e y h e z u s a m m e n h ä n g e n d e r T h a t e n b e w e i s e n k ö n n t e , daß er ein Heuchler und Betrüger sey:“ scheint mir, so wie ich diesen Saz bestimmt habe, und aus dem von mir angegebnen Grunde, noch immer eine unwidersprechliche

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Wahrheit zu seyn. Dieser Grund war: „daß alles Gute was die unächte Tugend des Heuchlers stiften könne ein Geringes gegen den Schaden sey, den er unter diesem Dekmantel anrichte; und daß die Vortheile, welche die Welt von seiner Entlarvung ziehen könne, den allenfalsigen Gewinn von seinem täuschenden Beyspiele weit überwiege.“ Ich glaube noch immer man werde diese beyden Sätze, in abstracto genommen, bey der schärfsten Untersuchung wahr befinden. Ihre Frage, mein Freund, wäre also im Allgemeinen gar bald entschieden. Wenn nehmlich der allgemein beliebte große Sittenlehrer e r s t e n s , würklich und e r w e i s l i c h e r m a ß e n ein H e u c h l e r wäre; und z w e y t e n s sich dar-

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an nicht begnügte ein großer S i t t e n l e h r e r zu seyn, sondern auch nach a l l e n m ö g l i c h e n K u n s t g r i f f e n a u f b ö t e , um für einen der w e i s e s t e n u n d b e s t e n M e n s c h e n angesehen zu werden; hätte auch d r i t t e n s , durch diese Kunstgriffe allgemeine Liebe und Achtung erschlichen; und bediente sich nun, v i e r t e n s , aller dieser Vortheile, desto sicherer Böses zu thun: so gälte auch von d i e s e m a l l g e m e i n b e l i e b t e n S i t t e n l e h r e r , was vorhin von dem Moralischen Betrüger überhaupt gesagt worden. Auch hier könnte das Betragen Christi gegen die heuchlerischen Priester und Schriftgelehrten seiner Zeit alle andre Gründe überflüßig machen. Vermuthlich gab es auch unter Diesen a l l g e m e i n b e l i e b t e g r o ß e S i t t e n l e h r e r : aber Christus schonte ihrer darum nichts desto mehr, wiewohl er für ihre Lehren (insofern sie Wahrheit lehrten) alle gebührende Achtung zeigte. Sie sitzen auf Mosis Stuhl, sagt er; alles nun was sie euch sagen, das ihr halten *)

T. Merkur, October, S. 64. 65.

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sollt, das haltet, und thuts: aber nach ihren Werken sollt ihr nicht thun! ( M a t t h . XXIII. 2. 3.) Mich dünkt indessen, es sey hier ein in der Sache selbst gegründeter Unterschied zu machen. Ein großer Sittenlehrer, den die Welt bloß als solchen, z. Ex. bloß als Schriftsteller kennt, — gehört, insofern, mit allen andern Arten von speculativen Philosophen in Eine Categorie; und da verschlägts dem Nutzen den er als Sittenlehrer stiften kann (und welcher, alles genau berechnet, immer s e h r w e n i g auf sich hat) nichts, ob er ein guter oder böser Mensch ist. Des A r i s t o t e l e s P o e t i k und E t h i k a n d e n N i k o m a c h u s würden 10

immer vortrefliche Werke bleiben, wenn Aristoteles auch ein Atheist, oder (was noch schlimmer ist) der lasterhafteste aller Rechtgläubigen gewesen wäre. Die herrlichen moralischen Wahrheiten, welche den S e n e c a zu einem der lehrreichsten Schriftsteller machen, verliehren durch unsre Gewisheit, daß er nicht Stärke genug hatte nach den Grundsätzen, von deren Wahrheit er überzeugt war, zu leben, noch weniger von ihrer Kraft, als durch die witzelnde Art seines Vortrags. Ganz anders aber verhält es sich mit einem Weisen, der eben so sehr durch sein B e y s p i e l als durch seine Schriften, würkt, und würken w i l l . — Bey jenem bleibt alles wie es war, wir mögen eine gute oder schlechte Meynung

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von dem sittlichen Charakter des Mannes hegen. Bey diesem hingegen geht das Wichtigste von dem Nutzen, den er stiften könnte, verlohren, sobald die Welt in der guten Meynung, die sie von seinem Herzen, von seiner Redlichkeit und i n n e r n Wa h r h e i t , gefaßt hat, irre gemacht wird. Gehörte also der allgemein geliebte große Sittenlehrer in die e r s t e Classe: so würde die Besorgnis, d e m N u z e n s e i n e r L e h r e n m ö c h t e g e s c h a d e t w e r d e n , in keine Betrachtung kommen. Denn keine persönliche Achtung noch Liebe zu einem L e h r e r , soll in unsre Überzeugung von der Wahrheit seiner Lehre den mindesten Einfluß haben (oder der Nutzen, den er schafte, würde bloße Täuschung seyn.) Er soll u n s e r n Ve r s t a n d ü b e r z e u g e n ,

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nicht u n s e r H e r z g e w i n n e n , nicht u n s r e L e i d e n s c h a f t e n b e s t e c h e n . Moralische Wahrheiten sind, als solche, von keiner andern Natur als historische, physische, oekonomische, u. s. w. Der Mann, der mich die Pflichten des Lebens l e h r t , hat, dazu allein, nicht nöthig unsträflicher zu seyn, als einer der mich von der Natur der Polypen, oder von den Erscheinungen der Elektricität unterrichtet.

Moralische Probleme

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So leicht aber die obige Frage, in abstracto genommen, zu beantworten scheint: so hätten wir doch, sobald die Anwendung auf irgend einen einzelnen Fall zu machen wäre, noch wenig gewonnen. Denn jeder einzelne Fall wird wieder zu einem neuen Probleme, das, wegen der Menge und Manchfaltigkeit der besondern Umstände, die dabey zu betrachten und in Anschlag zu bringen sind, oft so verwickelt seyn kann, daß eine völlig befriedigende Auflösung nur demjenigen möglich wäre, der Herzen und Nieren prüfen, und den Zusammenhang der Dinge deutlich durchschauen könnte. Hauptsächlich käme es in jedem besondern Falle darauf an: ob der Mann, von welchem die Rede wäre, würklich ein Heuchler, ein moralischer Betrüger sey? Ohnezweifel, M. L. sind

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Sie darinn mit mir einig, daß man nicht behutsam und zurükhaltend genug seyn kann, ehe man sich erkühnt, einen Menschen mit diesem schändlichsten aller schändlichen Nahmen zu brandmarken. Ich denke, Sie stimmen mir auch darinn bey, daß man nur denjenigen einen Heuchler nennen kann, der es w i s s e n t l i c h ist — z. B. einen Mann, der mit den Grundsätzen eines H i p p i a s den Archytas oder Plato spielte; der öffentlich den Enthusiasten der Tugend machte, an die er nicht glaubte, und, während daß er sich heimlich den sträflichsten Befriedigungen schändlicher und übelthätiger Leidenschaften überließe, die Welt durch Reden und Handlungen zu betrügen, und den Ruhm eines Tugendhaften, blos um der damit verbundnen Vortheile willen,

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zu erschleichen wüßte. Kurz, mein Bester, sagen Sie mir, b e w e i s e n Sie mir, Cajus sey würklich ein Ta r t ü f f e , von der Art des Molierschen, d. i. ein Mensch, der sich bewußt ist daß er ein moralischer Betrüger ist, so gut als ein Mörder weiß, daß er ein Mörder ist: so mag Cajus immerhin der beliebteste, der gepriesenste, der größte unter allen Sittenlehrern seyn; dies soll ihm nichts helfen! Wer ihm die Larve abzieht, wenn er’s auch nur in dem Wege der erlaubten Nothwehre gethan hätte, hat der Welt einen Dienst gethan, und, wenn ers bloß in dieser leztern Absicht, ohne persönliche Rüksicht, oder Veranlassung gethan hätte, so verdient er wenigstens eine B ü r g e r k r o n e . Aber, ich wiederhohl es, es ist schwehr, es ist unendlich schwehr, sich selbst, in seinem eignen innersten Grunde des Herzens, gewiß zu machen, daß Cajus ein Tartüff sey. Ich brauche einen Mann, wie Sie, nicht zu erinnern, welch ein manchfaltiges, unstetes, verwickeltes, sich selbst widersprechendes, räthselhaftes Ding der Mensch ist. Ebenderselbe Mensch doch in sovielen Augenblicken seines

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Januar 1781)

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Lebens nicht ebenderselbe. Wie ungleich sich selbst in seinen Meynungen und Urtheilen! wie ungleich in seiner Liebe und in seinem Haß! wie gut, wie schlimm! wie groß, wie klein! wie stark, wie schwach! — Und doch immer der nehmliche Mensch — nur in verschiednen Zeiten, Lagen, Verhältnissen. Wie oft betrügen s i c h a n d r e an uns, und schreyen darüber, daß W i r S i e betrogen haben? Wie oft betrügen wir uns selbst, und glauben’s recht ehrlich zu meynen? Wie häuffig kommen im täglichen Leben die Fälle vor, daß wir, aus bloßem Mangel an Selbsterkenntnis, die Fehler an uns selbst nicht gewahr werden, die uns an andern aufs lebhafteste beleidigen? Was ist schwehrer, was 10

ist seltner unter den Menschen als S e l b s t e r k e n n t n i s ? Seitdem Apollo das göttliche Gnv Ä ui seaytoÂn mit goldnen Buchstaben über die Pforte seines Tempels setzen lies, von welchem Weisen ist uns dieser goldne Spruch nicht als der geradeste Weg zur Weisheit und Tugend vorgezeichnet und empfohlen worden? Lerne dich selbst kennen, predigen sie uns immer in die Ohren, und immer mit eben so gutem Erfolg, als wenn die Herren von der Akademie der Wissenschaften den Quinze-Vingts zu Paris alle Morgen und Abend zuriefen: hebet eure Augen auf und sehet! Hören Sie mich noch einen Augenblik länger an. Es ist dem Menschen natürlich, die Hochachtung Andrer zu wünschen, in der bürgerlichen Gesellschaft ist sie vollends eine ganz unentbehrliche Sache.

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Natur und Erziehung vereinigen sich also, uns von Kindheit auf eine Aufmerksamkeit zu geben, unsre vortheilhafte Seite zu zeigen, und die blinde möglichst zu verbergen. Unvermerkt wird diese Aufmerksamkeit zur Fertigkeit und endlich zur andern Natur. Nichts s c h e i n e n zu wollen, was man nicht ist; nicht besser, nicht weniger unvollkommen scheinen zu wollen als man ist — O mein Freund, wie liebe ich die reine, schuldlose, edle Seele, von der sich dies sagen läßt! Die, nicht aus einem groben C y n i s m u s — nicht aus Verachtung andrer Menschen, oder Verläugnung des ewigen Unterschieds zwischen Recht und Unrecht, gleichgültig gegen die Urtheile der Welt ist — sondern, aus innerer Lauterkeit und Wahrheit des Herzens, nicht mehr Beyfall von andern

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verlangt, als sie von ihrem eignen Gewissen erhält. Aber wie selten sind die Menschen, von denen sich dies mit voller Wahrheit sagen läßt! Und wie wenig werden die übrigen, durch die Nachtheile, die mit einem solchen Grade von Aufrichtigkeit im gesellschaftlichen Leben gewöhnlich verbunden sind, aufgemuntert, nach einer Tugend zu streben, die ihrem Besitzer in tausend Fällen gegen Einen mehr schädlich als nüzlich ist!

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Nehmen Sie hierzu Alles, was ich schon an einem andern Orte von der unendlichen Schwierigkeit gesagt habe, sogar aus H a n d l u n g e n und T h a t s a c h e n immer ein gerechtes Urtheil über unsre Nebenmenschen zu fällen: und Sie werden es immer weniger möglich finden, in einem besondern und individuellen Falle sich selbst gewiß machen zu können, ob jemand ein H e u c h l e r sey; nehmlich Heuchler in dem strengen Sinn, worinn ich das Wort nehme, und worinn ich es nehmen m u ß , wofern nicht alle Menschen, mehr oder weniger, Heuchler seyn sollen. Ich fodre nicht zuviel, wenn ich von demjenigen, der in einem solchen Fall richtig urtheilen soll, soviel fodre, als Lucian von einem glaubwürdigen Geschichtschreiber. Das kleinste Vorur-

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theil, das leichteste Wölkchen von Leidenschaft ist hinlänglich unsern innern Sinn zu trüben: Und wir wagen es alle Augenblicke über die Moralität der Handlungen unsrer Mitmenschen zu richten? Über Gegenstände, die fast immer das hellste Auge, das reinste Medium, die schärfste Beobachtung, die kaltblütigste Beurtheilung, und das genaueste Verfahren im Abmessen, Abwägen, und Berechnen aller Umstände, voraussetzen? Ich denke also, Sie werden mit mir einstimmig seyn, daß derjenige, der in unserm vorausgesezten Falle, einen allgemein beliebten Sittenlehrer entlarven sollte, vor allen Dingen von aller persönlichen Erbitterung oder Erinnerung irgend eines von demselben erlittenen sehr empfindlichen Unrechts,

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gänzlich frey seyn müßte: und daß wir dies also, bey jeder Anwendung des allgemeinen Satzes auf einen besondern Fall, zum e r s t e n G e s e t z werden machen müssen. Denn auch der beste Mann — wenn er das gehörige Mistrauen in sich selbst sezt, welches, als eine unentbehrliche Einschränkung, mit dem eben so nothwendigen Glauben an sich selbst immer verbunden seyn muß — soll nicht hoffen, daß er so vollkommen Herr über seine Einbildung und über sein Herz sey, um von dem Charakter und den Handlungen einer Person, die ihn empfindlich beleidigt hat, so unpartheyisch und richtig urtheilen zu können, als ein A r e o p a g i t e . Der Umstand, daß der Mann, von dem die Rede ist, und den wir, Kürze halben, ein für allemal C a j u s nennen wollen, a l l g e m e i n g e l i e b t ist, sezt Naturgaben und Fertigkeiten bey ihm voraus, deren anziehende und einnehmende Macht den künstlichen Bemühungen zu statten kommen, durch welche er die Hochachtung der Welt erschlichen hat. Diese liebenswürdigen Eigenschaften sind freylich von keiner solchen Natur, daß nicht auch ein

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Heuchler sie theils würklich besitzen, theils mit Erfolg affectiren könnte: auch gestehe ich Ihnen unverhohlen, daß ich mich nicht erwehren kann, in den Character eines großen Sittenlehrers, der a l l g e m e i n g e l i e b t i s t , bloß dieses Umstands wegen, einiges Mistrauen zu setzen. Aber gleichwohl sind die Vorzüge, welche Cajus besitzen muß, um das zu seyn was er ist, groß genug, eine Verdopplung unsrer Behutsamkeit bey Untersuchung seines Characters nothwendig zu machen. Noch bedenklicher würde die Sache, wenn der Sittenlehrer Cajus zu dem Orden gehörte, der von jeher so eminente Verdienste um die menschliche 10

Gesellschaft gehabt hat, daß sie sogar all dem Übel und Unheil, das die Geschichte demselben zur Last legt, das Gleichgewicht zu halten scheinen. Ein solcher Sittenlehrer vereiniget zugleich die ehrwürdigen Characteren eines Priesters und eines Vaters in sich. Der N i m b u s , den er, unter der Begünstigung seiner Würde (die vielleicht noch mit politischem Ansehn und Einfluß verbunden ist) um sich her verbreitet haben wird, ist schwehr zu zerstreuen; und gesezt auch, daß derjenige, der es übernehmen wollte, sich vor der Gefahr, ein Märtyrer seiner guten Sache zu werden, nicht scheute: so müßte er doch vorher moralisch gewiß seyn, daß er durchdringen werde; und daß nicht mehr Böses aus seinem Unternehmen erfolgen werde, als er sich wahrschein-

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licherweise Gutes davon versprechen kann. Ich habe mich anderswo schon erklärt, daß ich weit entfernt bin, diese leztern Kautele zu einem allgemeinen Grundsaz zu machen. Bey sehr vielen Handlungen ist es genug, daß dasjenige, was wir thun, an sich selbst und in seiner Art gut und schiklich ist, ohne daß wir uns um die zufälligen Folgen zu bekümmern haben. Aber wo es um A n g r e i f f e n , N i e d e r r e i s s e n und Z e r s t ö r e n zu thun ist, müssen wir, däucht mich, gewiß seyn, daß wir nicht größeres Unheil anrichten, als das Übel ist dem wir abhelfen wollen. In Kraft aller dieser Betrachtungen, M. F., werden vermuthlich die Tartüffen, C a j u s , P a m p o s i u s , S t r o b y l u s , D i d i u s , G a s t r i p h e r e s , K y s a r -

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c i u s , u . s . w . so große und beliebte Sittenlehrer sie auch immer seyn mögen — vor Ihnen und mir guten Frieden haben, und unserthalben noch lange in heiler Haut schlafen können. Lassen Sie uns immerhin d e m C h a r a c t e r d e s Ta r t ü f f kein Quartier geben, wo wir nur Gelegenheit haben, ihn zu entlarven, und, mit I t u r i e l s goldnem Speer *), in seine eigne diabolische Gestalt *)

In M i l t o n s verlohrnen Paradiese.

Moralische Probleme

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zurükzunöthigen. Aber die individuellen Tartüffen, die vorbesagten, Strobylus, Didius, Gastripheres, u. s. w. werden sich entweder mit der Zeit selbst entlarven, oder w i r werden schwehrlich damit zu Stande kommen. Ich nehme jeden Fall aus, wo eines Mannes Amt und Plaz in der bürgerlichen Gesellschaft es zur Pflicht machen, in Dingen, wo es auf Recht und Wahrheit ankömmt, einem Gegner dieses Schlags Widerstand zu thun; und wo irgend ein großes Unrecht nicht anders zu verhüten wäre als durch die Demaskirung des Moralischen Betrügers, so beliebt, groß und vielvermögend er auch immer seyn möchte. In einem solchen Falle wäre dies nicht nur Pflicht, sondern es könnte, nach Verhältnis der Gefahr, die man dabey lieffe, sogar eine der edel-

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sten und heldenmüthigsten Thaten seyn. Aber dann sezte sie nicht nur den Muth zum Unternehmen, sondern auch Kraft und Weisheit zum Aushalten und Ausführen voraus. Niemand ist verbunden ein Held zu seyn: aber wer Heldenthaten beginnt die er nicht ausführen kann, wird verächtlich; und ich zweifle sehr, daß das Bewußtseyn einer guten Absicht eine hinlängliche Hülle gegen das Ungemach seyn dürfte, das er sich durch eigne Schuld zugezogen haben könnte. Nicht als ob ich einer jeden edeln That deßwegen ihr Verdienst absprechen wollte, weil der Erfolg unglüklich ist. Denn es geschieht zuweilen, (wiewohl solche Fälle seltner sind als man gewöhnlich glaubt) daß alle menschliche Weisheit und Tugend gegen die überlegne Gewalt des Schiksals

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zu kurz fällt. Dies war C a t o’ s Fall, w e i l d i e G ö t t e r , (wie Lucan sagt) a u f C ä s a r s S e i t e waren. Soviel Ehre dies für Cäsarn ist, so verliehrt doch Cato nichts dadurch, daß er endlich Cäsarn und den Göttern weichen mußte: denn er that, was sich für C a t o zu thun geziemte, und hörte auf zu leben, sobald ihm nicht länger erlaubt wurde Cato zu seyn. Aber wie wenig solcher Fälle hat die ganze Geschichte der Menschheit aufzuweisen? Nur noch zwey Worte, M. F., eh ich meine Antwort Ihrem Urtheil überlasse. Ich habe bisher vorausgesezt, daß der große Sittenlehrer, von welchem die Frage war, in den Augen dessen, der solche aufwirft, ein B e t r ü g e r ist. Und, dies vorausgesezt, habe ich — (ganz besonderen Fällen, als Ausnahmen, ihr eignes Recht vorbehalten!) — mehr Gründe für den Rath gefunden, einen solchen Mann in ruhigem Besitz der guten Meynung, welche die Welt von ihm hat, zu lassen, als für das Gegentheil. Ich hätte die Sache noch von mancherley Seiten betrachten können, wenn es die Zeit zugelassen hätte; vornemlich, wenn ich die M i t t e l und We g e hätte durchgehen wollen, welche man ein-

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schlagen müßte, um einen solchen ehrwürdigen Betrüger in seiner wahren Gestalt darzustellen; Mittel, welche fast alle so beschaffen sind, daß man Gefahr läuft — entweder den gesuchten Zwek zu verfehlen, und Pfeile abzuschiessen, die auf uns selbst zurükprallen — oder aus einem kleinern Übel ein größeres zu machen. Die vorgelegte Frage scheint aber auch noch eine andre Deutung zuzulassen, und könnte s o verstanden werden: In wiefern’ es Pflicht sey, eines großen und allgemein beliebten Sittenlehrers zu s c h o n e n , wenn er sich — es sey nun aus Irrthum, oder Übereilung, oder aus irgend einer Unlauterkeit, deren auch 10

die besten Menschen in unglüklichen Augenblicken schuldig werden können — öffentlich gegen die Wa h r h e i t vergangen hätte. Ich würde auf diese Frage ganz kurz antworten: In so fern, als es m i t d e r P f l i c h t g e g e n d i e Wa h r h e i t , dem Heiligsten und Angelegensten was die Menschen haben, dem P a l l a d i u m der Menschheit, bestehen kann. Wollen Sie durch s c h o n e n soviel sagen als: d i e A u g e n z u t h u n u n d s c h w e i g e n : so sag’ ich ohne Bedenken, N e i n ! Wo es auf Wahrheit und Recht ankömmt, gilt kein Ansehen der Person; und die Summe des Guten in der Welt wird nicht um eine Pflaumfeder leichter, wenn gleich Dieser oder Jener d u r c h s e i n e e i g n e S c h u l d etwas von dem Surplus von Hochachtung verliert, so die Welt über

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die Gebühr für ihn hegen mag. Verstehen Sie aber unter s c h o n e n : die Behutsamkeit, den Fehler, den einer begangen haben kann, vielmehr zu entschuldigen als zu vergrößern; die Ehrlichkeit, alle Behelfe in Anschlag zu bringen, die ihm zu seiner Rechtfertigung zu statten kommen können; kurz, die Pflichten der Gerechtigkeit, Billigkeit, Höflichkeit und verdienstmäßigen Ehrerbietung, die ein Ehrenmann dem andern in allen möglichen Vorfallenheiten s c h u l d i g ist: so kann es gar keine Frage seyn, ob man verbunden sey, auch in vorbesagtem Falle des Andern zu schonen. Die Ausgelassenheit unsrer Zeiten, wo ein unflätiger Cynismus in der gelehrten Demokratie die Oberhand gewonnen hat, und die ungezogenste Grob-

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heit und Frechheit von vielen für edle Freyheit des Geistes und Beweis einer großen Thatkraft gehalten wird, läuft zwar in praxi diesen Grundsätzen geradezu entgegen. Aber diese schaambare Epidemie ist nun wohl, hoffentlich, bald vorbey; und Männer von Gefühl und Ehre werden ihre Sorgfalt verdoppeln, selbst in Fällen wo der Gebrauch der strengsten Geisel zu rechtfertigen wäre, den Verbrecher, aus Achtung für die Welt und sich selbst, lieber unge-

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züchtigt hingehen zu lassen, als sich von dem Ton der guten Gesellschaft zu entfernen; zu welcher doch wohl jeder Schriftsteller gehören sollte, der nicht ausdrüklich, und aus Trieb der Sympathie und Verwandschaft, für eine Art von Lesern schreibt, die ausser dem Gesichtskreis ehrlicher Leute ist. Leben Sie wohl, M. B., und nehmen mit dem Wenigen für lieb, was ich diesmal, etwas eilfertig, zu geben hatte. W.

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¼Übersetzung der Römischen Canzonette, Quelle piume etc. in Reimen mit beybehaltner Versart des Originals. Von einem Ungenannten.

An den Herausgeber des T. M. Die Schwürigkeit, welche im T. M. Dec. 1780. dem vorgelegt worden, wer das dort gegebene artige Römische Liedchen in gleicher Versart und ohne sonderlichen Verlust mit Reimen übersetzen will, hätte billig eher abschrecken, als aufmuntern sollen. Indessen hat nachstehende Übersetzung R e i m u n d Ve r s a r t des Originals und, so viel möglich, die Vorarbeit im T. M.

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beybehalten. Ist das wenigstens ihr Verdienst, so hat der T. M. Anspruch auf sie zu machen; dem sie sich daher zum Januar oder Februar anbietet. Den 10ten Januar 1781. **i**

* * * Diesen Federn, weißen, schwarzen, Die auf euren Scheiteln wanken, Habt ihr neuen Reiz zu danken, Damen, liebevoll und schön! So viel aufgepuzte Lerchen,

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Scheint ihr da uns, so viel Pfauen, Die in Freyheit auf den Auen //

Sich mit vollem Pompe drehn.

¼Zusatz und Anmerkung zu von Voigt½ Ü b e r s e t z u n g

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Bey dem Carnevalls-Theater Mußte euer Blik gewinnen, Glichet China’s Herscherinnen, Stelltet Sultaninnen vor. Über unbescheidnen Zierrath Flüstert’ etwa, wer inzwischen Wenig sah vor Federbüschen, Spötterey in’s Nachbars Ohr.

Nicht aus Persien noch aus Peru Kam die schöne fremde Sitte,

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Spanier, Franzmann nicht, und Britte War es auch nicht, der sie gab. Nur Merkur, der Götterbote, Brachte sie nach Rom hernieder, Wohlversehen mit Gefieder Stürzt’ er selbst sich Himmelab:

Sprach, daß, wenn sie schön sich machten, Längstens alle Götterdamen Federn zu dem Haarschmuk nahmen, Schon zur Mode würden die;

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Daß die jüngferliche Pallas, Die doch blaue Augen schmücken, Um bescheidner zu entzücken, Federn von dem Kauze lieh;

Daß der Liebe schöne Mutter Federn gar von ihren Tauben, Von des Kriegs-Gotts Helm zu rauben, Sich im mindsten nicht bedacht; Daß selbst Jupiters Gemahlin, Wohl die stolzeste der Frauen,

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Sich vom Schweife ihrer Pfauen Einen Federbusch gemacht.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Januar 1781)

//

Holde Töchter unsrer Tiber, Billig reizt euch das Verlangen Auch wie Göttinnen zu prangen Mit dem Federbusch im Haar. Aber hinter jener Ulme Hält ein Satyr sich verborgen, Der belachet eure Sorgen, Spottet *) knurrend eurer gar:

Ruft euch zu: ihr lieben Damen, Federn, auf das Haupt gefüget,

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Fliegen zwar, doch weiter flieget Euer Hirnchen überall. Sind nicht bunte Pfauenfedern, Sind von Tauben nicht erzupfet, Sind Verehrern ausgerupfet, Jeder Tag macht einen kahl.

Satyr, schließ die bittre Lippe! Tücke nur ist dein Beginnen; Musterhafter Römerinnen Tugend kömmt der Schönheit bey.

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Noch ists altes Blut Lucreziens, Das in ihrem Busen fliesset, Denn ihr keusches Herz ergiesset Ächte Zärtlichkeit und Treu.½

Der Unbekannte Verfasser dieses Versuchs hat, däucht mich, ein Recht an den Beyfall, den man jedem schuldig ist, der etwas mit vieler Schwierigkeit verbundnes nicht unglüklich zu Stande bringt. Da das Eis nun einmal gebrochen ist, findet sich vielleicht ein andrer, dem es gelingt, oder der V. dieses Versuchs

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Die Handschrift sagte, H ö n e t , dagegen würde aber Herr A d e l u n g die rechtliche Ein-

wendung machen, daß der Sprachgebrauch, Quem penes arbitrium est et jus et norma loquendi, nicht erlaube, dieses Zeitwort anders als mit der v i e r t e n Endung des Nennworts zu construiren.

¼Zusatz und Anmerkung zu von Voigt½ Ü b e r s e t z u n g

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selbst findet nun vielleicht Mittel, aus dem nemlichen Sylbentanz, mit den nemlichen Reimfesseln an Händen und Füßen, sich mit noch mehr L e i c h t i g k e i t herauszuziehen. Reime sind, auch in Liedern, nur dann eine Art von Verdienst, wenn sie den Dichter nicht scheniert zu haben scheinen, wenn sie sich unvermerkt wie von selbst an ihren Ort stellen, keine Flikwörter, keine schleppende harte oder gewaltsame Wendungen und Wortfügungen veranlassen u. s. w. Der Versuch des Ungenannten hat meinen Unglauben, daß eine a u f s o l c h e A r t g e r e i m t e Übersetzung dieser Canzonette, in der nemlichen Versart, möglich sey, eher bestärkt als vermindert; ich werde mich aber mit Vergnügen durch den Augenschein eines andern überzeugen lassen. W.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Januar 1781)

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Cantate auf den 30sten Jenner 1781. Im grauen Dunkel der schauervollen Mitternacht, im brausenden Sturm, auf einer schwarzen Wolke Rand standen die T ö c h t e r d e s S c h i k s a l s , die goldnen Harfen in der Hand. Tief unter ihrem Fuß umdonnerte der Felsen kahle Stirne der wilde Sturm,

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und schüttelte die eisbeladnen Wipfel des Fichtenwalds. Da fuhr aus den Harfen ein mächtiger Ton. Der Sturmwind floh, die Wolken theilten sich, die schlummernde Natur im weißen Schneegewande, vom stillen Mond sanft angeblikt, erwacht, und horcht dem himmlischen Gesang: Geheimnis des Schiksals, Wir beten dich an. Thronen steigen, Thronen sinken,

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Steigen Sinken

unter deinen Winken

in der Zeiten stilles Grab: Völker und Geschlechte keimen Gleich den Blättern auf den Bäumen; Gleich den Blättern auf den Bäumen //

Welken sie, und fallen ab.

Cantate „Im grauen Dunkel …“

1—25

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Sie wandeln im Dunkeln, Die Kinder der Erden: Vergebens, und ewig vergebens ergründet Ihr spähendes Auge die furchtbare Tiefe Von Deinem Plan: Sie wandeln im Dunkeln, Die Kinder der Erden; Uns aber erhellt sich das heilige Dunkel; Schon funkelt aus Wolken der Tempel der Zukunft, Die ehernen Pforten erklingen, sie werden

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Uns aufgethan. Geheimnis des Schiksals Wir beten dich an. Mit welchem Götterkind im Arme Asträa, steigest du herab? Wo eilst du hin, zu welchem glüklichen Volke, mit diesem Pfande goldner Zeiten? In welchen Heldenstamm gepfropft wird einst dies edle Reis Zur Zeder wachsen, unter deren Zweigen

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Die Völker wohnen? — — Doch — schon schließen sich Des Tempels Pforten donnernd wieder zu. Wir schweigen — Aber Ihr, Schließt eure Brust der süßen Hofnung auf, Und jeder Mund Eröfne sich zum jubelnden Gesang. Mit welchem Götterkind im Arme Asträa, stiegest du herab?

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C a n t a t e (Ende Januar 1781)

//

Heil dem Tage! Heil der Stunde! Dreymal Heil dem schönen Bunde, Der zum Pfand der goldnen Zukunft Uns die b e s t e F ü r s t i n gab.

Cantate „Im grauen Dunkel …“

26—58

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¼Incerta½

Vorschlag Eines gelehrten Ritterordens. Vor einiger Zeit hat ein französischer Patriot, der sich R*** unterzeichnet, die Errichtung eines O r d e n s f ü r d a s g e l e h r t e (oder, wenn man lieber will, l i t e r a r i s c h e ) Ve r d i e n s t , bey seiner Nation in Vorschlag gebracht *). Da die Gelehrten (Gens de Lettres) von einem g e w i s s e n Rang (sagt er) eine K l a s s e v o n A d e l (Corps de Noblesse) ausmachen, dessen Titel auf das Verdienst, sich mit der Aufklärung und dem Glük der Menschen auf eine besondere Art zu beschäftigen, gegründet ist: so sind sie auch berechtigt, d i e n e m l i c h e n A u f m u n t e r u n g e n , d i e n e m l i c h e n E h r e n z e i c h e n vom 10

Staat zu fodern, die man der andern Klasse, nemlich „demjenigen Adel, der durch dem Staat geleistete wichtige Dienste erworben wird, und dessen verschiedene Grade durch Diplomen und besondere Vorrechte und Vorzüglichkeiten, constatiert werden, zugestanden hat.“ Diesem Raisonnement zufolge wäre also ein Gelehrter, der eine genauere Bestimmung des Mondlaufs oder der Erdgestalt gefunden, oder die Art wie sich die Blatläuse vermehren zur Gewisheit gebracht, oder einen schweren Knoten in der Chronologie aufgelößt hätte, eben so berechtigt den freyen Zutritt in die Zimmer des Königs zu verlangen, als ein Düc und Pair; Monsieur D u c i s könnte wegen seiner Trauerspiele, oder Mr. D o r a t wegen seiner poetischen Talente in allen Arten

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eben so gut an das große Kreuz des Ordre du St. Esprit Anspruch machen, als irgend ein Marschall von Frankreich; und Madame R i c c o b o n i hätte durch ihre Werke wenigstens eben so gutes Recht zu einem Tabouret bey der Königin, als die erste aller Düschessen in Frankreich. Doch Hr. R*** ist viel zu bescheiden, alles zu fodern, wozu er nach der Strenge berechtigt wäre. Er findet nur unbillig, daß alle Zeichen von Distinction auf der Einen Seite verschwendet worden, und daß gar nichts auf die andre Seite gefallen sey. „Ohne just für die Gelehrten jene Vorrechte zu fodern, die eine so gewaltig abfallende Distanz zwischen Mensch und Mensch setzen, und womit den Gelehrten vielleicht nicht einmal gedient wäre: ist man nicht begründet, sagt er, zu verlan-

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*)

S. Journal de Paris de 1780 N. 2.

Vo r s c h l a g E i n e s g e l e h r t e n R i t t e r o r d e n s

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gen, daß sie m i t s i c h t b a r e n Z e i c h e n d e c o r i e r t w e r d e n m ö c h t e n , woran man sie sogleich für das was sie sind erkennen könnte ?“ Die Billigkeit dieser Foderung, zumal bey einer Nation, bey welcher auf die D e c o r a t i o n so viel ankommt, fällt in die Augen; und das Project selbst hat den schäzbaren Vortheil, „daß es bloß die Genehmhaltung des Fürsten vonnöthen hat, ohne dem Staat einen Heller zu kosten. Das Gesez, sagt Hr. R*** welches den Ordre pour le merite literaire errichtete, würde die Statuten desselben in wenig Worten verfassen können. E i n e M i n e r v a z w i s c h e n z w e y L o r b e e r z w e i g e n , nach Art und Weise der andern Ordenszeichen, i m K n o p f l o c h g e t r a g e n , würde eine Distinction seyn, die den Gelehrten

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hinlänglich von andern Ordensrittern unterscheiden würde.“ Ob diese Minerva zwischen zwey Lorbeerzweigen, in Form eines Sterns oder en medaillon, auf einem goldnen, silbernen oder zinnernen Schaupfennig, oder in Email, oder auf Papier maché gemahlt seyn soll, bestimmt der Verfasser nicht; genug, daß eine Minerva im Knopfloch einen ohnehin eleganten, wohlgepuderten, rothbackigten Abbee recht artig putzen sollte. Nun wäre also nur noch die Frage, was für besondre Titel ein Gelehrter, oder Homme de Lettres, müßte produciren können, um berechtigt zu seyn, Minerven im Knopfloch zu tragen. Der Verfasser hatte gleich im Eingang seines Vorschlags gesagt, die Gelehrten hätten oft keine andre Ehrenzeichen zu

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gewarten, als diejenigen, womit ihre Verdienste von der N a c h w e l t gekrönt werden; und aus der Art, wie der wakre Mann von dieser Ehre nach dem Tode spricht, sieht man leicht, daß er sie für Nichts ansieht, was einen Gelehrten für den Mangel des Vortheils, ein sichtbares Zeichen dessen was er ist im Knopfloch zu tragen, entschädigen könnte. Wahrscheinlicherweise denken diejenigen, die eine gegründete Anwartschaft auf die Hochachtung der Nachwelt haben, hierinn nicht ganz wie Hr. R***. Da ihre Anzahl unter jeder Generation nur sehr gering zu seyn pflegt, und der Anspruch auf die Lorbern, welche die Nachwelt austheilt, sich ordentlicherweise auf eine Art von Verdiensten gründet, die sich weder vor dem eignen Bewußtseyn noch vor dem Mitwissen der Zeitgenossen verbergen können: so ist zu vermuthen, daß diese We n i g e n sich hieran genügen lassen, und keinen Anspruch auf eine Decoration machen werden, die ihnen zu nichts helfen könnte, als sie den Herren gleich zu stellen, die ein sichtbares Zeichen nöthig haben, um für das was sie sind erkannt zu werden. In der That scheint Hr. R. selbst hierauf gerechnet zu haben;

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Mai 1780)

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denn, bey Bestimmung der Frage, wer das Recht haben sollte dieses Unterscheidungszeichen zu tragen, wird auf Genie, Talente und eminente Geistesprodukte gar nicht gesehen; sondern er glaubt, daß man bey a l l e n M i t g l i e d e r n d e r A k a d e m i e n d e r H a u p t s t a d t , den S e c r e t a i r e n d e r ü b r i g e n A k a d e m i e n , den B i b l i o t h e k a r i e n der öffentlichen sowohl weltlichen als geistlichen Büchersäle, bey allen welche beweisen könnten daß sie M i t g l i e d e r v o n d r e y auswärtigen oder einheimischen A k a d e m i e n wären, und endlich bey denen, w e l c h e d r e y a k a d e m i s c h e P r e i s e e r h a l t e n h ä t t e n , hinlängliche Titres zu solchem finden würde — und darinn 10

hat er auch vollkommen Recht. „Die Aufnahme in den Orden du Merite literaire machte sich also von selbst; man hätte dazu weiter nichts nöthig als seine Titres zu produziren und sich in ein Register ad hoc, das in den Akademien geführt werden müßte, einschreiben zu lassen. Übrigens verstehe sich, daß d e r R e g i e r u n g , auch ohne diese Formalitäten, d i e M a c h t v o r b e h a l t e n bleiben müsse, Personen, die sie dazu würdig finde, zu Rittern dieses Ordens zu ernennen.“ Wir können nicht umhin, dem Urheber dieses Projects zu einer so schönen Erfindung, und dem ganzen französischen Corps de Noblesse Literaire zu dieser ihnen zugedachten neuen Decoration, unsern aufrichtigen Glük-

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wunsch abzustatten; und wir zweifeln nicht, daß dieser Vorschlag auch in Teutschland Eindruk machen, ja vielleicht Anlaß geben werde, den Franzosen mit Stiftung eines solchen gelehrten Ritterordens noch zuvor zu kommen; und dies um so mehr, da wir unstreitig, was die Anzahl der Gens de Lettres betrift, welche ein sichtbares Zeichen dessen was sie sind vonnöthen haben, uns einer großen Überlegenheit rühmen können, und es dermalen wirklich an einem solchen Zeichen fehlt. Vor 25 oder 30 Jahren war es ein andres. Damals waren beynahe alle unsre schönen Geister und Gens de Lettres im engern Verstande, M a g i s t e r — und ein neues Lust- Trauer- oder Schäferspiel, das nicht unter dem Namen eines b e r ü h m t e n H r n . M a g i s t e r s N. N. ange-

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kündiget wurde, hatte damals Noth einige Sensation zu machen, und schien gleichsam des wesentlichsten Beweises s e i n e r e h r l i c h e n G e b u r t zu ermangeln. Seitdem aber haben die Sachen eine ganz andre Wendung genommen. Unsre meisten Gens de Lettres und Schöngeister haben Mittel gefunden, zu ihrer großen Bequemlichkeit sich der Wissenschaften, wodurch man ehmals zu dem großen M berechtigt wurde, zu überheben, und ein Roman, ein

Vo r s c h l a g E i n e s g e l e h r t e n R i t t e r o r d e n s

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Trauerspiel oder ein empfindsames Drama, unter dem Namen eines Hrn. Magisters angekündiget, würde izt so wenig Vortheil dadurch erhalten, daß die Verfasser, wenn sie auch wirklich die Ehre haben Magister zu seyn, dennoch klüglich zu handeln glauben, lieber ohne alle Decoration vor dem Publico zu erscheinen, als sich eines Titels zu prävaliren, mit welchem die Begriffe von E l e g a n z und g u t e m To n nicht mehr, wie vor 30 Jahren, verbunden sind. Bey solcher Bewandtnis der Sachen würde uns ein gelehrter Ritterorden allerdings sehr zustatten kommen; und (mit allem schuldigem Respekt, den wir für die höchste Würde in der Philosophie tragen, gesagt) die akademischen Herren selbst werden nicht in Abrede seyn können, daß (auch

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wenn alles übrige gleich ist) R i t t e r S t i f e l i u s doch ein ganz ander Ansehen giebt, als M a g i s t e r S t i f e l i u s . Übrigens zweifeln wir nicht, daß die patriotischen Teutschen, denen wir diese Sache hiemit zu näherer Beherzigung überlassen, ohne unser Erinnern sehen werden, daß der Vorschlag den der wakre Mr. R*** seinen gelehrten Landesleuten thut, noch einiger Verbesserungen fähig seyn dürfte; besonders was den Gedanken betrift, der Regierung die Macht einzuräumen, eignen Gefallens so viel M i n e r v e n - R i t t e r zu ernennen, als ihr belieben möchte — eine allerunterthänigste Gefälligkeit, die, wie wir befürchten, leicht den Zwek des ganzen Instituts vereiteln könnte. Denn es ist klar, daß jedermann, der

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sich ausser Stande fände, einen von den übrigen zur Aufnahme qualifizirenden Titeln aufzuweisen, seine Zuflucht zum briguiren und intriguiren nehmen, und sich durch Empfehlung und Gunst die Nomination eines Ministers oder einer Favoritin zu verschaffen suchen würde. Mr. R*** meint zwar, dies würde schon darum nicht statt finden, weil die Regierung nur w ü r d i g e S u b j e c t e vorschlagen könnte; aber wer weiß nicht, daß diejenige, denen die Hofgunst einen Platz verschaft, allemal w ü r d i g g e n u g sind? Überdieß hat der Erfinder des Projects selbst ein Pförtchen aufgethan, wodurch sich eine unendliche Menge Prätendenten einschleichen werden, die sonsten große Gefahr gelauffen wären, das alte Sprüchwort Sus Minervam unter ihre Bitte pro receptione geschrieben zu sehen. Denn da seinem in Vorschlag gebrachten Gesetz schon genug geschieht, wenn der Candidat nur ein Mitglied von drey einheimischen oder auswärtigen Akademien oder gelehrten Gesellschaften ist: wer sieht nicht, daß auf diese Weise ein jeder, der sich einmal Protection zu verschaffen gewußt hat, auch leicht Mittel finden wird, sich in drey von den

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Mai 1780)

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fast unzählichen gelehrten Gesellschaften, wovon es in Europa wimmelt, aufnehmen zu lassen? Hr. R. hat also seinen Weg zum gelehrten Ehrentempel so breit und die Pforte so weit gemacht, daß die Aspiranten Platz genug haben, ohne an einander anzustoßen, schaarenweise hinein zu wallen; und die natürliche Folge davon wird seyn, daß, um nicht für einen Menschen ohne Esprit, ohne Geschmak und Kenntnisse, kurz für eine Beˆte angesehen zu werden, jederman auf die eine oder andre Art das Recht erwerben wird, eine Minerva in sein Knopfloch zu hängen. Das gelehrte Ordenszeichen wird also gar bald aufhören, eine D i s t i n c t i o n und ein Zeichen d e s s e n w a s m a n i s t , zu 10

seyn; im Gegentheil, es wird ein sehr unzweydeutiges Zeichen dessen was man n i c h t i s t , werden; und um zu sehen, welches die besten Köpfe der Nationen sind, wird man sich bloß nach denen umzusehen brauchen, die keine Minerva im Knopfloch haben. Indessen, weil doch, gerade durch diesen Umstand, der Zwek des Erfinders auf eine n e g a t i v e Weise erreicht würde; weil überdies ein solches quasiRitterzeichen den Herren Gens de Lettres doch unläugbar ein eleganteres Ansehen und also den Vortheil, mit mehr Anstand in artigen Gesellschaften zu erscheinen, geben würde; und endlich weil die endlosen Briguen und Cabalen um die Aufnahme in diesen Orden den wohlersagten Herren keine Zeit übrig

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lassen würde, das Publicum fernerhin mit den Ergießungen ihres Witzes und ihrer Gelehrsamkeit zu überschwemmen: so dünkt uns, nach reifferer Überlegung, es werde wohl eben so gut seyn, das Projekt des Hrn. R. zu lassen wie es ist; zumal, da es, in allen Betrachtungen, eines von den unschuldigsten Projekten ist, die zum Besten des gemeinen Wesens, zu Flor und Aufnahme der Wissenschaften, auch zu Veredlung und Beglükseligung der armen Menschheit überhaupt, seit vielen Jahren zu Tag gefödert worden sind.

Vo r s c h l a g E i n e s g e l e h r t e n R i t t e r o r d e n s

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Anekdoten. Ein gewisser Französischer Herr, der durch die Anfangsbuchstaben M. L. C. D. M. bezeichnet wird, paßierte vor einiger Zeit die Seine zwischen dem Invalidenhause und dem Pont-Royal, mit einer Frau vom gemeinen Volke im nemlichen Nachen. Um sich in Conversation mit dieser guten Frau einzulassen, fragt’ er sie, ob sie verheurathet sey? — J a , m e i n H e r r , war die Antwort. — Und was macht Ihr Mann? — „Er arbeitet auf dem Flusse.“ — In welchem Quartier der Stadt wohnt Sie? — „Im Gros-Caillou; “ — Und wo gedenkt Sie hinzugehen? — „Nach der Barriere du Roule.“ — Da hat Sie einen 10

weiten Weg zu machen. — „Es ist um Brod zu kauffen.“ — Brod? Giebts denn in Gros-Caillou kein Brod zu kauffen? — „Um Vergebung!“ — Es ist also au Roule besser oder wohlfeiler? — „Auch das nicht, mein Herr.“ — Was kann sie denn für eine Ursache haben, alle Wochen wenigstens zweymal eine so weite Reise zu machen? — „Eh mein Mann zu seinem itzigen Verdienst kam, waren wir im Elend. Der Becker, der izt au Roule wohnt, wohnte damals au GrosCaillou; und er war so gut, und gab uns Brod auf Borg, wenn wir kein Geld hatten. Seitdem ist er von uns weggezogen, und wir sind in bessere Umstände gekommen.“ — Nun weiter? — „Lieber Herr, man ist erkenntlich wie man kann. Ich kauffe izt mein Brod bey unserm alten Nachbar, um ihm für das zu

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danken, das er mir so lange Zeit auf Borg gegeben hat.“ Das schöne von dieser Anekdote ist, daß sie nicht in irgend einem empfindlenden Hirnchen ausgebrütet, sondern eine wahre Geschichte ist, und das Gepräge ihrer Wahrheit an der Stirne trägt. Den P e n d a n t dazu können unsre Leser, im 3ten Stück der E p h e m e r i d e n d e r M e n s c h h e i t d. J. S. 269 finden. „So f e i n e s Gefühl unter Leuten vom gemeinen Volk!“ — werden manche mit Verwunderung ausrufen; aber gewiß nur solche, denen es an den Gelegenheiten fehlt, sich durch die Erfahrung zu überzeugen: daß die reinsten, zartesten und edelsten Gefühle der Menschheit nirgends häufiger sind als

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unter dieser am wenigsten angestekten, am wenigsten verkünstelten, und der großen Quelle der Empfindsamkeit, dem Elend, am nächsten wohnenden Klasse von Menschen. A n e k d o t e ¼„Ein gewisser Französischer Herr …“½

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* * * Das Tagbuch der Menschheit hat uns neulich eine Anekdote von dem berühmten J . J . R o u s s e a u bekannt gemacht, die weder ihm noch der Menschheit Ehre bringt. Hier ist dafür eine andre, die uns in etwas schadlos halten kann. Man hatte sonst immer geglaubt, J. J. Rousseau ziehe seinen nothdürftigen Unterhalt bloß vom Musikabschreiben. Aber nach seinem Tode hat sich gezeigt, daß man sich hierinn geirret. Rousseau lebte von einer sehr mäßigen Leibrente, welche zwar für die wenigen körperlichen Bedürfnisse eines Epiktets, aber nicht für die edelsten Bedürfnisse seines Herzens zureichte. Um auch d i e s e einigermaaßen befriedigen zu können, hielt er die kleinen Sum-

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men die er mit Musikschreiben, als seiner gewöhnlichen Arbeit, verdiente, sorgfältig zusammen, und verwendete sie dazu, gewisse ihm bekannt gewordene Personen, die durch Unglük in unverschuldete Dürftigkeit gerathen waren, heimlich zu unterstützen. Wie endlich alles auskommt, so wurde nach Rousseau’s Tod auch dieser edle Zug seines Charakters bekannt. Man erzählt noch eine hieher gehörige Anekdote, welche glaubwürdige Personen zu Gewährsleuten haben soll. Rousseau that (während seines lezten Aufenthalts auf dem Gute des Hrn. Gerardin) einer armen alten Frau aus dem Dorfe viel Gutes. Nach seinem Tode fand man einsmals diese gute Bauersfrau in großer Betrübnis vor seinem Grabe knien. Die Personen, welche sie da von ungefehr überraschten, fragten sie, warum sie hier kniete? Ach, lieber Gott! antwortete die arme Frau, ich weine und bete. — Aber, gute Frau (sagte man ihr) Herr Rousseau war ja kein Catholik — Aber, er hat mir viel Gutes gethan, erwiederte die Frau, und ich kann nichts für ihn thun, als weinen und beten. — Man hatte Mühe, das arme Weib, das in Thränen zerfloß, von dem Grabe wegzubringen. Diese Anekdoten von Rousseau sind so schön, daß es Jammer und Schade wäre, wenn sie nicht wahrer seyn sollten als — die meisten Anekdoten.

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M a g a z i n d e r S p a n i s c h e n und P o r t u g i e s i s c h e n L i t e r a t u r , herausgegeben von F . J . B e r t u c h . 1 s t e r B a n d mit dem Bildnis des Dichters L o p e d e Ve g a . 8. 360 S. ohne die Vorrede. 2 t e r B a n d , mit dem Bildnis des C a m o e n s . 412 S. Weimar 1780. in der Hoffmannischen Buchhandlung. Die Absicht des Herausgebers und etlicher seiner Freunde, die, von gleicher Liebe zu den Spanischen und Portugiesischen Musen beseelt, zu gegenwärtiger Unternehmung sich mit ihm verbunden haben, ist „einen Versuch zu machen, ob sie durch P r o b e n und B r u c h s t ü c k e d e r b e s t e n S c h r i f t s t e l l e r b e y d e r N a t i o n e n , das teutsche Publicum auf ihre Literatur auf10

merksam machen können.“ Dieser Zwek erfodert weder Plan noch chronologische oder wissenschaftliche Folge und Ordnung in vorliegender Sammlung; auch würden diese bey der großen Schwierigkeit, spanische Bücher und gerade die, welche man sucht, in Teutschland aufzutreiben, kaum möglich seyn. — „Wir liefern also (sagt der Herausgeber) was wir haben, und uns Achtung zu verdienen scheint; kleinere literarische Produkte vielleicht ganz, von größern Werken aber Bruchstücke und Auszüge, interessante Nachrichten von beyden Nationen und allem was sie angeht. Wir versprechen dafür zu sorgen, daß Leser aller Art Etwas für sich darinn finden und keine Wissenschaft, von der wir etwas Interessantes, in Beziehung auf beyde Nationen oder

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das Lokale der Länder liefern können, ist ausgeschlossen.“ Endlich erklärt sich Hr. B e r t u c h (nach dem er einem sehr lebhaften aber, leider! nur allzugerechten Unwillen, über den Unfug, der je länger je mehr mit der Übersetzerey getrieben werde, und über die Bereitwilligkeit unsers Publicums solchen F a b r i k e n p l u n d e r zu kauffen auf der IVten S. Luft gemacht) auch über das W i e der Arbeiten, die in diesem Magazin geliefert werden sollen — „Ein anders ist (sagt er) ein gerichtliches Document, ein Actenstük übersetzen; ein Anderes aber ein Werk von Genie, Geschmak oder Laune. Meist schadet man seinem Schriftsteller mit zu großer Genauigkeit, und wirkt nichts als Trockenheit und Langeweile. —“ Wir sind hierinn, und auch darinn völlig

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seiner Meinung, daß es „ein gewisses Gefühl gebe, w i e man mit einem Schriftsteller, den man überträgt, umgehen müsse;“ und wir setzen nur hinzu (worinn Hr. B . unfehlbar auch mit uns einverstanden ist) daß d i e s e s G e -

¼Rezension: Bertuch½ M a g a z i n

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f ü h l wohl nichts anders seyn kann, als das Resultat eines nicht gemeinen Grades von Scharfsinn, Urtheilskraft, Geschmak und Sprachkenntniß überhaupt, und einer gewissen Ähnlichkeit und Verwandtschaft des Geistes mit dem Originale, das man aus einer fremden Sprache in die seinige überträgt. Finden sich diese Eigenschaften bey einem Übersetzer, so wird die Tr e u e , womit er übersezt, zwar nicht die ängstliche Treue eines Schulexercitiums oder einer wörtlichen Dollmetschung seyn, aber die Treue der L i e b e , womit der Übersetzer an einem Werke, von dessen Werth er die stärkste Empfindung hat, arbeitet, und der G e w i s s e n h a f t i g k e i t , womit er die eigenthümliche Schönheit und das Charakteristische desselben zu erreichen sucht, weil ihm

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auch das geringste Opfer, wozu er sich durch die Verschiedenheit beyder Sprachen gezwungen sieht, schmerzlich ist. Wenn wir die Sache aus dem Gesichtspunkt des Lesers betrachten, wer wollte nicht lieber eine vollkommen g e t r e u e K o p i e von dem Gemählde eines großen Meisters haben, als den besten Kupferstich? Aber welcher Kunstliebhaber wird, wenn er keine g u t e K o p i e haben kann, nicht mit einem g u t e n K u p f e r s t i c h wohl zufrieden seyn? — Wir erinnern dies bloß um dem Misbrauch vorzubeugen, der, ganz gegen die Absicht und das Beyspiel des Herrn B . , von dieser Erklärung, worinn Treue und wörtliche Dolmetschung nicht genug unterschieden scheinen, gemacht werden könnte. Seine Absicht (oder man müßte ihn sehr unrecht verstehen)

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geht bloß gegen diejenigen, welche Tr e u und w ö r t l i c h e D o l l m e t s c h u n g für gleichgeltende Worte halten, und sich, ohnezweifel, hierinn mächtig irren. Man kann bey einer wörtlichen Übersetzung sehr u n g e t r e u , und ohne solche (in allen Fällen nemlich, wo durch die wörtliche Übersetzung der Natur der Sprache Gewalt angethan oder der Geist des Originals verlohren würde) sehr g e t r e u übersetzen. Dies ists was Hr. B . sagen wollte, was aber von so vielen unverständigen Nachahmern oder eilfertigen Übersetzungsfabrikanten so häufig, und oft auf eine solche Art aus den Augen gesezt wird, daß mancher Autor sich selbst in der Übersetzung gar nicht mehr kennen würde. Wir erhalten in den beyden ersten Bänden dieses Magazins verschiedene beträchtliche Stücke und selbst einige größere Originalwerke von den vornehmsten Span. und Portug. Schriftstellern älterer und neuerer Zeiten, C e r v a n t e s , L o p e d e Ve g a , Q u e v e d o , C a m o e n s , C l a v i j o . Von dem leztern, (dessen Name durch die Trauerspiele, worinn er der unglükliche Held ist, in Frankreich und Teutschland so bekannt worden) finden wir hier einige

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Stücke seines berühmten P e n s a d o r s so gedolmetschet, daß wir nach einer Übersetzung des Ganzen, wodurch wir in eine sehr genaue Bekanntschaft mit dem gegenwärtigen Zustand der Aufklärung, des Geschmaks und der Sitten in Madrid kommen würden, gelüstig werden müssen. C e r v a n t e s hat zum Isten Band das w u n d e r t h ä t i g e P u p p e n s p i e l , eine Farce, die neben den Besten des M o l i e r e stehen kann, und L o p e d e Ve g a seinen K a t z e n k r i e g beygetragen, ein bürleskes Heldengedicht, eine Art von Nachahmung der Batrachomyomachie, die aber durch die ganz eigene Laune und den üppiglich verschwendeten Wiz des Spanischen Dichters zum drolligsten Original ge10

worden ist. Hier schlägt der Fall ein, wo der Liebhaber, in der Unmöglichkeit einer Kopie, mit einem Kupferstich, und allenfalls auch mit einem Holzschnitt zufrieden ist. Hr. B . verspricht uns in der Folge auch mit den übrigen besten komischen Epopeen der Spanier bekannt zu machen, deren sie keine kleine Anzahl besitzen. Wir wünschen aber, daß es entweder in guten, mit Geschmack gemachten Knittelreimen (der Reim scheint bey m e t r i s c h e n Übersetzungen bürlesker Gedichte fast unentbehrlich zu seyn) oder wenigstens in der zehn und eilfsylbigen Jambischen Versart geschehen möge; denn die ungleichen, bald drey bald vier bald fünf und sechsfüßigen Jamben, ohne Reime und ohne Rhythmus, lassen sich nicht allzugut lesen. Vom Q u e v e d o

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liefert der Iste Band den Tr a u m v o m j ü n g s t e n G e r i c h t e , und die B r i e f e d e s R i t t e r s v o n S p a r g u t , der IIte aber die G e s c h i c h t e d e s G r a n Ta c a n ˜ o , eine Art von niedrigkomischen Roman, der an Zeichnungen und Gemählden im callotischen und ostadischen Geschmacke sehr reich, und in seiner Art eines der seltsamsten und meisterlichsten Originalwerke ist, die irgend eine Sprache aufzuweisen hat. Wie aber die H . I n q u i s i t i o n , die in unsern Tagen dem unglüklichen O l a v i d e s seine Meinung von den Kreuzzügen (welche die Meinung aller vernünftigen Menschen in der Christenheit ist) zur G o t t e s l ä s t e r u n g gemacht, zu Quevedo’s Zeiten den häuffigen Mißbrauch heiliger Namen und Sachen zu Scherzen, die zuweilen äusserst auffal-

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lend sind, habe verzeihlich finden können — scheint uns eine Frage, deren Beantwortung eben nicht zur Ehre der H. Inquisition ausfallen dürfte. Wenigstens hätten wir wünschen mögen, daß der Übersetzer bey solchen Stellen, so wie auch bey verschiedenen Gemählden, wodurch sich Quevedo ein wohlverdientes Recht an den Beynamen eines rëyparografow, oder Peintre de Vilenies, erworben, sich der ihm in der Vorrede des Isten Bandes ertheilten Freyheit

¼Rezension: Bertuch½ M a g a z i n

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bedient hätte, sie d e m G e s c h m a k u n s r e r N a t i o n und Zeit a n g e n e h m e r zu machen. Von C a m o e n s , dem bisher noch kein Andrer die Oberstelle unter den Portugiesischen Dichtern streitig gemacht, hat uns der Freyherr Siegmund v o n S e c k e n d o r f im Isten Bande dieses Magazins mit einer freyen Übersetzung etlicher sehr schönen Lyrischen Stücke, und im IIten mit dem e r s t e n G e s a n g der berühmten L u s i a d e in einer neuen Art achtzeiliger Stanzen beschenkt, die eine neue Probe davon sind, daß den Verfasser, der sich durch seine Lieder zum Forte Piano alle Freunde und Freundinnen des schönen Gesangs so verbindlich gemacht hat, mehr als Eine Muse begünstige. Die bey-

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gefügten historischen Nachrichten und Anmerkungen enthalten viel Merkwürdiges. — Was u n s aber das Interessanteste in diesem Magazin ist, sind die ganz vortreflichen, und vorzüglich gut übersezten Vo l k s r o m a n z e n im Isten Bande ( v o m G r a f e n G u a r i n o s d e m A d m i r a l , von D o n n a B e l e r m a u n d D u r a n d a r t e , und von D o n G a y f e r o s u n d M e l i s a n d r a , besonders die beyden ersten) und d a s F r a g m e n t a u s d e r G e s c h i c h t e v o n G r a n a d a , oder der Historia de los Vandos de los Zegris y Abencerrages des G i n e s P e r e z . — Ohne von den Gründen völlig überzeugt zu seyn, womit der Übersetzer die historische Ächtheit und Glaubwürdigkeit dieser Geschichte der bürgerlichen Kriege der Zegris und Abencerragen gegen den Verfasser der

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Bibliotheca Hispanica behauptet, oder, (genauer zu reden) in der Meinung, daß Hr. B. der Sache zu viel und D. Niklas A n t o n i o s zu wenig gethan habe; sind wir doch ganz mit Hrn. B . einig: daß dieser historische Roman (wobey allem Vermuthen nach Romanzen und mündliche Sagen hauptsächlich als Urkunden gedient haben) so wie er ist, vornemlich wegen der vielen dareingewebten Volkslieder ein höchstschätzbares Denkmal der Sitten, des Geistes, der ritterlichen Verfassung, und andrer charakteristischen Besonderheiten der spanischen Mohren sey; und wir können nicht umhin zu wünschen, daß Hr. B . die Hoffnung die er uns gemacht, in einem der folgenden Bände dieses Magazins das ganze Büchlein „mit all seinem hohen romantischen Geiste der so lieblich darüber weht“ zu liefern, recht bald zu erfüllen aufgemuntert werden möge.

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M a g a z i n d e r I t a l i e n i s c h e n L i t t e r a t u r und K ü n s t e , herausgegeben von C . J . J a g e m a n n . Weimar 1780. In der Hoffmannischen Buchhandlung. 8vo. S. 368. Dies ist der erste Band eines Magazins, dessen gelehrter und in Italien, besonders in Toskana, so sehr einheimischer Herausgeber, zur Absicht hat, die Kenntnis der Italienischen Literatur und Künste, seitdem sie im XIVten Jahrhundert in Italien wieder aufgelebt, nach Möglichkeit unter uns zu befördern. Da ihm Auszüge und Übersetzungen zu vollständiger Erreichung dieser nüzlichen Absicht nicht hinreichend schienen, so hat er für nöthig erachtet, 10

die Hälfte eines jeden Bandes kürzern Nachrichten und Anzeigen zu widmen. Auch will er die in seinen Plan einschlagende Lateinische Werke Italienischer Gelehrten nicht übergehen. Jeder Band dieses Magazins wird aus 6 Abtheilungen bestehen. Die e r s t e wird Auszüge und freye Übersetzungen prosaischer Werke aus verschiedenen Fächern der Literatur und aus verschiednen Jahrhunderten, auch zuweilen eigene oder Andrer ungedrukte Aufsätze; und die z w e y t e , Übersetzungen der besten poetischen Werke Italiens liefern, entweder ganz auf einmal, oder, wenn sie hierzu zu lang sind, stükweise, oft mit der Lebensbeschreibung eines oder des andern Dichters. Die d r i t t e Abtheilung ist zu Anzeigen und kurzen Nachrichten nicht nur von den neuesten

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Büchern bestimmt, sondern soll auch nach und nach bis zur Mitte unsers Jahrhunderts zurükgehen. Hr. J . wird sich hierzu der besten italienischen Journale bedienen, und wenn Werke von besonderer Wichtigkeit vorkommen, vollständigere Auszüge davon durch seine Correspondenten verfertigen lassen, die er sodann der e r s t e n Abtheilung einverleiben wird. Die v i e r t e Abtheilung ist den vornehmsten gelehrten Werken gewidmet, welche seit der zweyten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gedrukt worden sind; und Hr. J . bedient sich dazu der ältern Journale, besonders des Giornale de’ Letterati, welches im Jahr 1668 zu Rom, unter Direction des Abbate R i c c i , angefangen, und in der Folge, bey verschiednen Unterbrechungen, theils zu Parma, theils

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zu Modena bis ins Jahr 1698 fortgesezt wurde; sodann des im Jahr 1710 zu Venedig angefangenen, und bis 1724 fortgedauerten Giornale de’ Letterati d’ Italia, welches als eine Fortsetzung des erstern angesehen werden kann;

¼Rezension: Jagemann½ M a g a z i n

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und verschiedner andrer die seit dieser Zeit erschienen sind. Das Versprechen des Hrn. J . auf diese Weise eine zusammenhangende Folge der vornehmsten Schriften von 1668 bis gegen die Hälfte unsers Jahrh. in dieser Abtheilung bekannt zu machen, kann dem größten Theil unsrer Gelehrten, welche diese italienischen Journale nicht selbst besitzen, nicht anders als sehr willkommen seyn. Wiewohl nun in diesen vier Abtheilungen ein großer Theil der italienischen Werke des XIVten XVten und XVIten Jahrhunderts nach und nach bekannt werden wird; so würde doch auch viel Merkwürdiges unberührt bleiben, wenn der H. nicht, um uns (nach seinem Ausdruk) den fast unermeßnen Reichthum der italienischen Gelehrsamkeit dieser Zeiten übersehbar zu ma-

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chen, in der f ü n f t e n Abtheilung, unter dem Titel B ü c h e r k e n n t n i s ein wohlgeordnetes und aus den besten Quellen geschöpftes Verzeichnis der vornehmsten Werke der ital. Literatur besagter Zeiten, von der Mitte des XVIIten rükwärts bis in die Zeiten des D a n t e und P e t r a r c a , in die Hände gäbe. Um begreiflich zu machen, wie nützlich den Liebhabern der ital. Sprache und Literatur ein solches Verzeichnis sey, bemerkt Hr. J . den Unterschied, den alle Leute von Geschmak in Italien zwischen dem buon Secolo della lingua, d. i. dem Jahrhundert des Petrarca und Boccaz, den Autori del cinque cento, oder aus dem Jahrhundert des Leo X. wo die Sprache durch die wieder aufblühende ächte Gelehrsamkeit noch mehr verfeinert und verschönert wor-

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den, und den Autori del Seicento (d. i. des Siebzehnten Jahrh.) von deren größtem Theil Italien mit Schwulst und falschem Witz überschwemmt, folglich die Sprache sehr verdorben worden, zu machen pflegen. Man muß alles Lesenswürdige, was Hr. J . über die Ursachen dieses Verfalls der ital. Sprache und Literatur sagt, in seinem Vorbericht selbst nachlesen, und wird sich dadurch leicht überzeugen lassen, daß ein Verzeichnis, worinn nur solche ital. Werke, welche rein und zierlich geschrieben sind, und nur die guten Ausgaben derselben vorkommen, nichts weniger als überflüßig sey. Endlich widmet Hr. J . die s e c h s t e Abtheil. seines Magazins zu vermischten Nachrichten von Kunstsachen, Alterthümern, Erfindungen und andern nützlichen Dingen aus verschiedenen Zeiten. — Es ist schwer, mit einem Werke dieser Art, oder mit irgend einem Werke, es jedermann recht zu machen. Aber wir müßten uns sehr irren, wenn sich Hr. Jagemann durch die Ausführung dieses Plans nicht einen großen Theil unsrer Gelehrten und andrer Liebhaber der schönen Sprache eines Petrarca, Ariosts, Metastasio und Algarotti verbindlich machen soll-

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Mai 1780)

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te. Er gesteht, daß ein nach diesem Plan angelegtes Magazin auswärtiger Literatur nicht ohne Fehler seyn könne: er glaubt aber auch, und mit Recht, daß man solche Werke entweder nicht wünschen, oder mit Bescheidenheit beurtheilen müsse. Dieser erste Band kann durch alle sechs Abtheilungen als eine Probe der folgenden dienen. Da wir zu einer Specification des ganzen Inhalts hier keinen Raum haben, so begnügen wir uns, den Inhalt der beyden ersten Abtheilungen anzuzeigen. I. 1) Va l o r i’ s Leben L o r e n z o d e’ M e d i c i , des Großmüthigen. 2) Geschichte G u i s k a r d s und S i g i s m o n d e n . 3) Briefe v o m I n q u i s i t i o n s g e r i c h t ü b e r den berühmten G a l i l e i . 10

4) A l g a r o t t i’ s Versuch über die Mahlerkunst. 5) H a m i l t o n s Samlung Hetrusk. Griech. und Röm. Alterthümer. 6) Des Abbts B o v i Abh. über die Entstehung der Korallen. 7) Lobschrift auf die berühmte L a u r a B a s s i Ve r a t t i . 8) Geschichte der Chemie in Toskana, aus Hrn. B r a n c h i d e l l a To r r e Einleitung in diese Wissenschaft gezogen. 9) Hrn. G o u d a r s Versuch den Weltlichen Staat der Kirche zu verbessern. 10) Die Briefe des B e r n a r d o Ta s s o . II. 11) Das Leben und die Schriften des besagten B e r n a r d o , Verfassers des großen Rittergedichts Amadigi (Amadis von Gallien) und (was für die Welt ungleich wichtiger war) Vater des großen Dichters To r q u a t o Ta s s o . Hr J. hat diesen Nachrichten einige Proben aus seinem Amadis und eini-

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ge seiner lyrischen Gedichte in einer prosaischen Übersetzung beygefügt. 12) F r a c a s t o r s Sonnet auf eine Schöne. 13) Die drey ersten Gesänge der H ö l l e des D a n t e A l i g h i e r i , in reimfreyen Jamben, mit vieler Treue übersezt. Tadeln ist hier leicht; aber schwer b e s s e r zu machen, wo es so unsäglich schwer ist, nur leidlich gut zu machen. Der Übersetzer hat doch sein Original, das sogar den meisten Italienern ein versiegeltes Buch ist, v e r s t a n d e n , und sein Versuch, der alles Dankes und der Aufmuntrung zum Fortfahren werth ist, kann denen, welche sich in das Original selbst wagen wollen, wenigstens zum Ariadnes-Faden dienen.

¼Rezension: Jagemann½ M a g a z i n

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M a g a z i n d e r F r a n z ö s i s c h e n L i t e r a t u r , herausgegeben von W i l h e l m G o t t l i e b B e c k e r . Erstes Stük (92 Seiten haltend) Leipzig bey Joh. Gottl. Immanuel Breitkopf 1780. Jedes Stük erscheint in einen gelben Umschlag geheftet. Hr. Becker hält (in der Vorrede) dafür, daß die e r s t a u n e n d e (sollte e r s t a u n l i c h e heißen, S. A d e l u n g s Wörterbuch, beym Worte e r s t a u n e n d ) Menge von Übersetzungen ausländischer Bücher, womit das heil. röm. Reich teutscher Nation überschwemmt werde, gleichwohl nicht zureichend sey, den Zustand der Literatur und Gelehrsamkeit eines Landes zu 10

ü b e r s c h a u e n . „Weit eher (sagt er) bewirken dieses Journale, Magazine und Bibliotheken; und daneben entsteht hieraus noch der Vortheil, daß dadurch die Übersetzung einer Menge Bücher unnöthig gemacht wird, welche das Publicum gern entbehrt, wenn es nur ihren innern Gehalt kennen lernt.“ Da wir nun ein B r i t t i s c h e s M u s e u m , und nun auch ein Italienisches, und ein Spanisch-portugiesisches Literatur-Magazin haben, die Französische Literatur aber bisher eines solchen ermangelt hat: so hat Hr. B . sich entschlossen, diesem Abgang abzuhelfen. Seinen ehmaligen Vorsatz, bey diesem Magazin den Plan des J a g e m a n n i s c h e n italien. Magaz. einzuschlagen, hat er insoweit abgeändert, daß er d i e K ü n s t e , als für welche wir schon eigene Jour-

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nale haben, ganz davon entfernen will. Alle Monate soll ein Stük von 6 Bogen erscheinen; doch bittet der Herausg. um Entschuldigung, wenn die monatliche Ablieferung, so lange er sich noch auf Reisen aufhalten wird, nicht so ordentlich sollte gehen können. Die Innre Einrichtung dieses Magaz. ist folgende. Jedes Stük enthält v i e r R u b r i k e n . 1) A u s z ü g e aus den interessantesten Schriften, in welchen, so zu sagen, die Werke i m K l e i n e r n geliefert werden. (Wozu denn auch nur solche Werke genommen werden müssen, die sich im Kleinern liefern lassen; weil es sehr interessante Werke giebt, wobey dies gerade so wenig angeht, als wenn uns ein Kupferstecher das große jüngste Gericht von Rubens en mignature liefern will.) 2) K u r z e N a c h r i c h t e n von

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weniger interessanten Schriften, oder solchen, die dem H. nicht zu Gesichte kommen. S c h l e c h t e sollen nur dann angezeigt werden, wenn es nöthig scheinen sollte, das Publicum davor zu warnen. 3) Ü b e r s e t z u n g e n , nem-

¼Rezension: Becker½ M a g a z i n

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lich, Nachrichten von Werken jeder Literatur, die ins Französische übersezt werden, um zu sehen, was für Zuwachs die französische Literatur von der ausländischen erhält. 4) Ein A n h a n g von M a n c h f a l t i g k e i t e n , die neuesten Vorfälle, Einrichtungen u. s. w. der französ. Gelehrtenrepublik betreffend. Da bey einer Unternehmung dieser Art alles von der guten Ausführung abhängt, und es zu voreilig wäre, von d i e s e r nach dem ersten Stücke zu urtheilen: so begnügen wir uns, dem Herausgeber, dem am meisten daran gelegen ist, sich Beyfall und Ruhm zu erwerben, die ruhige und glükliche Lage zu wünschen, die neben den Eigenschaften, die er schon besizt, zur möglichst guten Ausführung eines solchen Werkes vonnöthen ist. Dem Vorhaben an sich selbst wird es bey einem so lehrbegierigen Publico, wie das unsrige ist, nicht an Aufmuntrung fehlen.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Mai 1780)

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Johann Reinhold F o r s t e r s R e i s e u m d i e We l t , während den Jahren 1772 bis 1775. Beschrieben und herausgegeben von dessen Sohn und Reisegefährten G e o r g F o r s t e r , Prof. der Naturgeschichte in Cassel, etc. Z w e e t e r B a n d . Berlin bey Haude und Spener 1780. Endlich ist das Verlangen des Publikums nach der Fortsetzung dieses Forsterischen Werks, das unstreitig unter den lesenswürdigsten Lesebüchern unsrer Zeit mit obenan steht, und dessen E r s t e n B a n d wir schon im Jul. und August d. J. 1778 durch Auszüge bekannter zu machen gesucht haben, durch diesen Zwoten Band befriedigt worden, der die Beschreibung der fernern von 10

den Herrn Forstern, unter der Führung des großen Wellenbändigers C o o k , gemachten Reisen vom Merz des Jahres 1774 bis zu ihrer Zurükkunft nach Spithead im Jul. 1775 enthält. Alles Gute, was wir ehmals von dem Isten Theil dieses Werks gesagt haben, gilt auch von diesem zwoten, und in noch vollerm Maaße. Die schätzbarste aller Kenntnisse, die Menschenkenntnis erhält durch selbiges einen gewiß nicht unbedeutenden Zuwachs, und die mit Scharfsinn, Unbefangenheit und Gefühl gemachten Bemerkungen und mitgetheilten Nachrichten (desto schätzbarer, da sie durchaus aus eigner Erfahrung geschöpft sind, und auf eine Menge individueller Characterzüge und Begebenheiten gegründet sind) von den Bewohnern der G e s e l l s c h a f t s - und

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f r e u n d s c h a f t l i c h e n I n s e l n , der n e u e n H e b r i d e n , der Ins. C a l e d o n i e n , der Neuseeländer u. s. w. durch so mancherley Stufen von Modification, deren die Menschheit auch in einem rohen nur wenig gebildeten Zustande fähig ist, bis zu den unglüklichen Halbmenschen von F e u e r l a n d herab — bieten einem nachdenkenden Leser reichhaltigen Stoff zu Betrachtungen an, und können demjenigen, der uns dereinst eine nicht auf Hypothesen, vorgefaßte Meynungen und einseitige kyriaw dojaw, sondern bloß auf Thatsachen und Erfahrungssätzen beruhende Geschichte der Menschheit geben wird, von großem Nutzen seyn. Vorzüglich ist Recensent seines Ortes dem Hrn. F. für die umständliche Erzählung ihres zwoten Besuchs zu O t a h i t i und in den

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G e s e l l s c h a f t s - I n s e l n verbunden, welche dem Verstande und Herzen des Erzählers eben so viel Ehre macht, als sie uns für die Gutartigkeit dieser unverdorbensten und glüklichsten aller dermaligen Erdenbewohner ein-

¼Rezension:½ F o r s t e r s R e i s e u m d i e We l t

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nimmt. Auch ist uns besonders angenehm gewesen, in der großen Meynung, die wir von der vortreflichen Naturanlage der N e u s e e l ä n d e r (der leidigen Menschenfresserey ungeachtet) und von dem hohen Grade von Vorzügen, wozu sie durch Kultur und Polizierung gelangen könnten, schon ehmals geäussert hatten, durch Alles was uns Hr. F. aus Veranlassung ihrer abermaligen Besuche auf Neuseeland von diesen merkwürdigen Menschen sagt, von neuem bestätiget zu werden. Wir widerstehen der Neigung, abermals einige Auszüge der interessantesten Stellen dieses Buches zu geben, bloß um der Hoffnung willen, daß es in kurzer Zeit in jedermanns Händen seyn werde; und dies um so mehr, da es auch für diejenigen, die bloß zum Zeitvertreib lesen, die Stelle des unterhaltendsten Romans vertreten kann.

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D e r Te u t s c h e M e r k u r (Ende Juni 1780)

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B e r n h a r d v o n F o n t e n e l l e , D i a l o g e n über die M e h r h e i t d e r We l t e n . Mit Anmerkungen und K u p f e r t a f e l n von Johann Elert B o d e , Astronom der K. Akad. der Wis. zu Berlin. B e r l i n , bey H i m b u r g 1780. Da dieses, zu seiner Zeit in ganz Europa mit dem lautesten Beyfall aufgenommene, und (wie Voltaire sagt) in seiner Art einzige Werk des sinnreichen Fontenelle einem Manne, wie Herr Astronom Bode, „dieses gegenwärtige, von Hrn. Himburg nach dem neuesten Geschmak veranstaltete teutsche Gewand zu verdienen schien,“ so haben wir weiter nichts davon zu sagen, als daß diese Übersetzung, durch die von Hrn. B o d e dazu gegebnen erläuternden Anmer10

kungen und Zeichnungen, Berichtigung der häufig im Original vorkommenden irrigen Meynungen, und Beyfügung der seit Fontenellens Zeit gemachten astronomischen Entdeckungen, eine Vollständigkeit und einen Werth erhält, der sie weit über das Original erhebt. Ohne diese Anmerkungen und Zusätze würde Lucians Reise in den Mond (in seiner w a h r e n G e s c h i c h t e ) ein angenehmers und, weil es Niemanden irre führen kann, unschädlichers Buch seyn, als diese berühmten We l t e n des Hrn. v. Fontenelle, der so oft zur Unzeit witzelt, und so oft unrecht hat. Durch die gegenwärtige Ausgabe hingegen wird es für den größern Theil des lesenden Publicums ein unterhaltendes, lehrreiches, und gewissermaaßen unentbehrliches Buch.

¼Rezension von J. E. Bodes Übersetzung: Fontenelle½ D i a l o g e n

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D i e We l t , eine Wochenschrift von A d a m F i t z - A d a m . Aus dem Englischen verdeutscht. Z w e y t e r B a n d . Altenburg, bey Richtern. 1780. (gr. 8. S. 424.) Die We l t scheint uns unter der Menge von Wochenschriften, die der Tattler, Spectator, und Guardian in Cours gebracht hat, den nächsten Platz an jenen so allgemein geschäzten und noch von keinem nachfolgenden verdunkelten Originalen zu behaupten. Auch dieser zwote Band erhält sich immer in dem Geiste und in der Laune, die den ersten so vortheilhaft auszeichnen; die Verfasser haben die große Gabe, zu e r g ö t z e n , indem sie unterrichten und 10

warnen, und n i c h t z u b e l e i d i g e n , auch wenn sie spotten und strafen, in einem seltnem Grade. Aber ein Glük ist es auch für Herrn Adam Adams-Sohn und seine teutschen Leser, daß seine Blätter keinem gewöhnlichen Übersetzungsfabrikanten, sondern einem Manne, der sich ganz in seinen Autor hineinzudenken weiß, beyde Sprachen in seiner Gewalt hat, und mit immer richtigem Gefühl beyde Abwege, in deren einem oder andern unsre meisten Übersetzer zu verirren pflegen, gleich geschikt zu vermeiden weiß, mit Einem Wort, d e m Ü b e r s e t z e r Tr i s t r a m s u n d H u m p h r e y K l i n k e r s in die Hände gefallen sind. Eine Übersetzung wie diese hat den Werth und das Verdienst eines Originals; und oft ein größers, in so fern es leichter ist, aus seinem

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eignen Kopf und Herzen abzuschreiben, als sich in die Seele eines andern hineinzuarbeiten, und Producte des feinsten Witzes und origineller Laune, ohne merklichen Verlust, in eine fremde Sprache umzusetzen.

¼Rezension von J. J. Ch. Bodes Übersetzung: Fitz-Adam½ D i e We l t

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G e s c h i c h t e d e s To m J o n e s e i n e s F ü n d l i n g s v o n H e i n r i c h F i e l d i n g . Neu übersezt. Erster und Zwoter Theil. Nürnberg bey J. G. Lochner und Grattenauer, 1780. Eine Übersetzung, die sich den Liebhabern vorzüglich durch ihre Treue empfiehlt. Der Hr. Verfasser hat sein Original nicht ohne sinnliche Darstellung gelesen; er hat alles anschaulich gesehen und empfunden, und mit dem festen Vorsatz, das più und meno sorgfältigst zu vermeiden, übersezt. Daher kömmt jene wörtliche Treue in Stellen, wo durch sie der Leichtigkeit des teutschen Ausdruks nichts benommen wurde; daher kommen aber auch jene Ab10

weichungen, wo der Sinn eine Treue erfoderte, die durch die Treue des Ausdruks, wenn dieser auch nichts weniger als ängstlich gewesen wäre, viel verlohren haben würde. Den allerdeutlichsten Beweiß, daß der V. sein Original viel zu sehr geliebt habe, als daß er eigenmächtig mit ihm hätte schalten und walten sollen, giebt er in den mancherley komischen Auftritten, wo die beym Übersetzen erfoderliche Laune ihn leicht auf diesen Abweg hätte verleiten können. Beyspiele anzuführen würde hier zu weitläuftig seyn; statt dessen wollen wir nur einige Kleinigkeiten, die dem Übersetzer hie und da entgangen zu seyn scheinen, kürzlich anzeigen. — Auf der 2ten S. Th. I. des Originals würde die Stelle: To prevent therefore giving Offence to their Cus-

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tomers by any such D i s s a p p o i n t m e n t , statt: u m n u n i h r e K u n d e n d u r c h k e i n e v e r g e b l i c h e H o f f n u n g a u f z u b r i n g e n , besser: um nun ihre Kunden durch keine g e t ä u s c h t e E r w a r t u n g unzufrieden zu machen, übersezt worden seyn. — S. 7 möchte Trained-Bands, nach seiner zwoten Bedeutung, durch L a n d m i l i z übersezt, die Plaisanterie der Stelle des Originals genauer umfassen. — Mossy Stones, S. 13, sind nicht m o r a s t i g e sondern b e m o o s t e Steine. — S. 14 Z. 9 v. u. vermissen wir nach den Worten: in adorning herself, in der Übersetzung folgende Stelle: I say in Complacence to him, because she allways exprest the greatest Contempt for Dress, and for those Ladies, who made it their Study. — Base-born, S. 17, heißt nicht n i e -

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d e r t r ä c h t i g sondern u n e h l i c h g e b o h r e n . — S. 30 Z. 12 v. u. sind die Worte: through the conveyance of a key-hole ausgelassen. — S. 31 muß es statt: m i t S c h a k e s p e a r a u s z u r u f e n heißen: m i t T h i s b e i m Schake-

¼Rezension von Schmits Übersetzung: Fielding½ G e s c h i c h t e

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spear auszurufen. — Auf eben dieser Seite Z. 6 v. u. ist nach den Worten: from Venus ausgelassen: when he calls her the laughter-loving Goddeß. — S. 33 fehlt nach den Worten with all my heart wieder eine Stelle von sechs Zeilen. — In a Bridewell, S. 36, heißt nicht in B r i d e w e l l , sondern in einem Zuchthause. — S. 83 würden die Odd Fellows (in der Übersetzung s e l t s a m e P u r s c h e ) besser durch a b g e s c h m a k t e Bursche (nicht mit dem P ) übersezt worden seyn; da in jener Bedeutung mehrentheils whimsical dabeysteht, und überdies hier nicht von seltsamen oder wunderlichen Köpfen, sondern von Leuten die Rede ist, die den Tic haben, immer, (nach dem eignen Ausdruk des Übers.) mit ihrer Herzensmeynung herauszuplatzen. — Kleinigkeiten dieser Art finden sich hin und wieder, die der geschikte Verfasser in den künftigen Theilen um so leichter vermeiden wird, da es ihm an keiner zu einem Übersetzer erfoderlichen Eigenschaft zu fehlen scheint.

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P h a e d r i A u g u s t i L i b e r t i F a b u l a r u m A e s o p i a r u m L i b r i V . ex recensione B u r m a n n i , cum selectis Variorum notis et suis observationibus edidit. I o . G o t t l . S a m . S c h w a b e , scholae Buttstadiensis Rector. Pars prior. Lib. I. et II. continens. Halae apud Ioh. Iac. Gebauer. 1779. Dieser erste Theil einer neuen Ausgabe des Phädrus, durch welche der Hr. Verfasser dem Publico einen glüklichen Beweiß seiner Bekanntschaft mit den lateinischen Musen giebt, enthält, nach einer kurzen Vorrede, welche den Plan und die Absicht des Ganzen näher bestimmt, zugleich das Leben, eine vollständige Nachricht der Editionen und Versionen, wie auch älterer und neue10

rer Gelehrten Beurtheilungen des Phädrus und Zeugnisse für denselben. Der Herr Verfasser wollte diese seine Ausgabe Lehrern und Schülern gleich nützlich machen; und daher kann es ihm nicht zum Vorwurf gereichen, wenn man in den beygefügten kritischen Noten manches findet, das er in Ansehung der erstern hätte voraussetzen, manches hinwiederum, wobey er auf eingeschränktere kritische Fähigkeiten und Kenntnisse hätte Rüksicht nehmen können. Vielmehr finden wir das Bestreben des Hrn. V. keinem Theile zu wenig zu leisten, desto lobenswürdiger, da Jünglinge das, was ihnen vor der Hand zu weitläufig scheinen möchte, nach dem stufenweisen Fortgang ihrer Kräfte immer brauchbarer finden werden, und die eignen Erläuterungen des

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Hrn. V. sich denen, die ihrer eigentlich entbehren könnten, doch durch ihren kritischen Sinn empfehlen. Mehreres zum Lobe dieser so brauchbaren Ausgabe zu sagen, würde überflüssig seyn, da sie bereits die Stimmen aller billigdenkenden Freunde der lateinischen Literatur auf ihrer Seite hat.

¼Rezension: Schwabe½ P h a e d r i ¼…½ F a b u l a r u m A e s o p i a r u m L i b r i V

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Etwas von dem Französischen Dichter Dorat. (Zum Theil aus einem Schreiben eines seiner Freunde, an die Herausgeber des Journal de Paris N. 153. d. J. ausgezogen.) Herr D o r a t war zu Paris aus einer ansehnlichen gelehrten Familie gebohren. Er zeigte von Jugend auf eine große Neigung für den Kriegsstand, und gieng frühzeitig unter die M o u s q u e t a i r e s . Ein gewisses Air de Mousquetaire, das seine ersten Schriften auszeichnet, und ihnen nicht immer vortheilhaft ist, war eine natürliche Folge der freyen Lebensart, welche dieser Stand ver10

anlaßt, und der Gesellschaft, mit der er damals am meisten lebte. An dem schmucken cavalierischen Ton, an der Liebe zum Vergnügen, und dem eben so leichtfertigen als eleganten Persiflage, welche, zusammengenommen, den Hauptcharacter seiner ersten Producte ausmachen, war es leicht ein verzärteltes Kind des Mars, der Venus und des Apoll in ihm zu erkennen. Allein da man so vielen Gottheiten nicht auf einmal dienen kann: so entsagte er bald dem Dienst des erstern, um sich gänzlich den beyden leztern zu widmen; zumal da sie ihm mit den schmeichelhaftesten Liebkosungen entgegenzukommen schienen. Er erwarb sich in wenigen Jahren den Ruhm eines der witzigsten und elegantesten *) Dichter, welche Frankreich seit dem glän-

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zenden Jahrhundert Ludwigs des XIVten hervorgebracht. Verschiedene H e r o i d e n , mit denen er debütiert, hatten seine Talente für die Versification bereits aufs vortheilhafteste angekündigt; und er schien wirklich lange Zeit im Gebiete der flüchtigen Poesien mit Hrn. v o n Vo l t a i r e , so viel dies auch sagen wollte, gemeinschaftlich zu regieren. Keine nur einigermaßen merkwürdige Begebenheit, es sey in der politischen Welt, oder im Reich der Galanterie und der schönen Literatur entwischte ihrer leichten und schimmernden Muse; und kaum waren ihre Producte aus der Feder, so flogen sie schon in der Hauptstadt, und aus dieser in die Provinzen umher. *)

Wir haben, meines Wissens, kein Wort in unsrer Sprache für e l e g a n t .

¼Übersetzung: Sautreau de Marsy½ E t w a s v o n ¼…½ D o r a t

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Man bewarb sich um Abschriften derselben mit einer Begierde, die man immer als den schmeichelhaftesten und unzweydeutigsten Lobspruch ansehen kann. Wenn Voltairen niemand den Vorzug in allen Gattungen groß zu seyn streitig machen konnte: so empfieng Hr. Dorat hingegen auf eine noch mehr besondere und vorzügliche Art den Titel des F r a u e n z i m m e r d i c h t e r s — Ein Titel, der in Frankreich mit größern Vortheilen als in irgend einem andern Lande der Welt verbunden ist, aber auch zu leicht verführen kann, der Gunst eines kleinen schimmernden Zirkels den dauerhaftesten Beyfall der Zukunft aufzuopfern. Man machte ihm zwar wohl den Vorwurf, daß er dem Ton der Natur nicht immer getreu bleibe, und das e p h e m e r i s c h e Rothwälsch (le

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jargon ephemere) einer gewissen Gattung von Leuten, die man damals noch P e t i t m a i t r e s nannte, nicht sorgfältig genug zu vermeiden suche. Allein diese Fehler waren bey ihm oft so verführerisch, die Blumen, die er mit vollen Händen auswarf, hatten so lebendige Farben, und der Witz, der aus seinen Gedichten funkelte, war so blendend, daß selbst die strengsten Richter sich nicht erwehren konnten, der Vereinigung so vieler Grazien mit so viel Geist und Talent Beyfall zuzuklatschen. Ein zweyter unläugbarer Beweis, wie sehr Hr. Dorat in dieser Dichtungsart berühmt gewesen sey, ist dieser, daß man ihn unter diejenigen Meister zählt, die so zu sagen eine eigne Schule gestiftet haben. Man sah auf einmal einen

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großen Schwarm junger Dichterlinge, die in seine Fußstapfen traten, und gern auch seinen Ton hätten treffen mögen. Aber unglücklicherweise fand sich’s, daß seine Fehler bey einem großen Theil derselben eben so viel gewonnen, als seine Schönheiten verlohren hatten. Mitten unter diesen glänzenden Versuchen rüstete sich Herr Dorat zu einem höhern Flug. Von dem berühmten C r e b i l l o n aufgemuntert, wagte er sich mit seinem Trauerspiel Z u l i k a auf die französische Bühne; erhielt aber die günstige Aufnahme nicht, die ihm dieser große Meister der tragischen Kunst versprochen hatte. Allein fast um die nemliche Zeit erschien ein Gedicht von ihm, das diese kleine Scharte vollkommen wieder auswezte, und ihm bey den Gelehrten eben den Ruhm erwarb, den er mit seinen Heroiden bey den Damen und Weltleuten eingeerndtet hatte. Es ist leicht zu errathen, daß hier von dem G e d i c h t ü b e r d i e D e c l a m a t i o n die Rede sey, welches die Kenner immer als einen der hauptsächlichsten Titel des poetischen Ruhms unsers Autors angesehen haben. Verse voll Energie, Gemählde, die bis

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auf die kleinsten Züge vollendet sind, und eine meisterhafte Entwiklung der Geheimnisse der Kunst, die er darinn lehren will, haben diesem Gedicht einen Platz unter den vorzüglichen Werken des gegenwärtigen Jahrhunderts verschaft. Da Herr Dorat bey einer bewundernswürdigen Leichtigkeit eben soviel angebohrne Thätigkeit besaß: war es ihm schwer (um nicht zu sagen u n m ö g l i c h ) den Ruhm zu verachten. Vergebens hatte er sich ein System gemacht, das diese Leidenschaft der Ruhe und dem Vergnügen unterwerfen sollte: ein unwiderstehlicher Hang führte ihn bald über alle seine Grundsätze weg. Jedes 10

Jahr und oft jeden Monat erschienen neue Producte seines Geistes — Erotische Gedichte, Erzählungen in Prosa und in Versen, Fabeln und Romane waren immer von Zeit zu Zeit (so sehr er auch anfangs das Gegentheil versichert hatte) neue Beweise, daß die Begierde nach Ruhm und eine Art von literarischem Ehrgeiz die einzige Triebfeder seiner Thätigkeit sey. Unter seinen Erzählungen hat man, um des launigten Süjets und der piquanten Manier willen, den A l p h o n s ausgehoben. Ein großer Theil seiner Fabeln ließt sich selbst neben den Fabeln des l a F o n t a i n e mit Vergnügen; und seine beyden R o m a n e haben, einer wie der andre, Beyfall gefunden — und verdient.

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Mitten unter diesen Arbeiten war er weit entfernt, den Ruhm eines dramatischen Schriftstellers zu vernachlässigen; im Gegentheil dieser Titel war vielleicht unter allen derjenige, nach dem er am meisten geizte. Es vergieng nicht leicht ein Jahr, ohne daß er irgend ein neues Lust- oder Trauerspiel aufs französische Theater beförderte. Einigemal gieng der Erfolg über alles, was er erwarten und sogar wünschen konnte. Das doppelte Glück seines R e g u l u s und seiner Fainte par Amour, indem sie beyde an einem Tage auf eben demselben Theater aufgeführt wurden, war faßt ohne Beyspiel. Hauptsächlich wurde der Betrug aus Liebe sehr applaudiert, indem das schöne Geschlecht an den glänzenden Gemählden und feinen Nüancen, von denen dies kleine Lust-

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spiel voll ist, abermal seinen Dichter erkannte. Zwey Jahre darauf hatte sein Celibataire ein eben so schmeichelhaftes Schiksal. Möchten diejenigen, die ihm den Vorwurf machen, daß er zuviel fürs Theater geschrieben habe, in ihren Busen greifen und fühlen, ob sie, an seiner Stelle, so mächtigen Anlockungen würden haben widerstehen können! Ich meines Orts kann mich nicht überwinden, die M a n e s dieses schäzbaren

¼Übersetzung: Sautreau de Marsy½ E t w a s v o n ¼…½ D o r a t

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Schriftstellers zu betrüben, wenn ich mich bey denjenigen von seinen dramatischen Werken aufhielte, die einen weniger vollkommenen Beyfall gefunden haben. Nur dies will ich anmerken: daß, so schwach auch verschiedene derselben von Seiten des Plans und der Charactere sind, doch nicht ein einziges leer von schönen Versen und Tiraden und sogar von interessanten Scenen ist. Die unbarmherzigsten Kunstrichter gestehen, daß Dorat’s größter Fehler darinn bestanden, daß er zu viel geschrieben habe, und daß man seine sämmtlichen Schriften, wenn man das Vortrefliche aushübe, auf drey bis vier Bände bringen könnte; — aber waren drey bis vier Bände nicht hinreichend unsern ersten Schriftstellern die Unsterblichkeit zu versichern?

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Gleichwohl mußte Herr Dorat erfahren, daß der größte Theil derer, die ihn vor 8 oder 10 Jahren bis in den Himmel erhoben hatten, ihm zulezt beynahe alles Talent absprachen, und ihre Fahnen blos nach dem Winde einiger Gelehrten richteten, deren Eitelkeit er nicht genug geschont hatte, wie er doch hätte thun sollen, da er einmal schwach genug war, einen Theil seines Glüks in den literarischen Belohnungen zu setzen, deren Ausspender diese Herren sind. Natürlicherweise mußte dies einen Mann, der sich seines Werths bewußt war, unmuthig machen. Er sträubte sich gegen diese Ungerechtigkeit, indem er seinen Eifer im Arbeiten verdoppelte; allein unglüklicherweise zeigten fast alle seine lezten Schriften die Schwäche einer täglich mehr abnehmenden

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Gesundheit. Und so endigte er endlich am 29sten April des verwichnen Jahres an einer zehrenden Krankheit eine Laufbahn, an deren Ende er noch einige Dornen fand, die ihn nur allzuschmerzlich verlezten. Er starb zu Paris im 45 oder 46sten Jahr eines Lebens, dem seine Talente, die Liebenswürdigkeit seines sittlichen Characters und die Wünsche seiner Freunde billig eine längere und glücklichere Dauer hätten erhalten sollen — Vitaque cum gemitu fugit indignata sub umbras.

Ob sein abgeschiedner Geist durch die flebiles Elegos seiner Freunde und die zum Theil mit ausschweifendem Lobe angefüllten Apotheosen, wovon die meisten französischen Journale wimmeln, zufrieden gestellt werden möge, wissen wir nicht. Es muß immer noch eine ziemliche Zeit nach dem Tode eines Schriftstellers, der Aufsehens in der Welt gemacht hat, verflossen seyn, bis seine Zeitgenossen fähig werden, ihm Gerechtigkeit wiederfahren zu lassen.

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Aber gewiß wird die Nachwelt, die noch allemal recht gerichtet hat, dem in seinem Leben bald zu sehr erhobnen, bald zu sehr niedergedrükten Dorat unter den besten französischen Dichtern des Jahrhunderts, worinn Voltaire auf der Spitze ihres Pindus stund und herrschte, seinen Platz nicht versagen.

¼Übersetzung: Sautreau de Marsy½ E t w a s v o n ¼…½ D o r a t

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Anekdote. Ein Knabe und ein Mädchen, deren Eltern zu A r c h a m p s , einem Kirchspiel in N i e d e r m a i n e , wohnten, waren von ihren frühsten Jahren an zusammen erzogen worden, und hatten unter sich jenes Bündniß der Seelen geschlossen, das zwar durch Umstände getrennt werden kann, aber dessen Andenken, selbst wenn die Empfindungen davon bereits verloschen sind, immer angenehm bleibt. Sie sahen sich alle Tage, und wurden nicht satt, einander zu sehen. Sie wuchsen mit den Jahren, und liebten sich noch; nur fiengen sie an sich mit andern Empfindungen zu lieben. Was sie izt fühlten, war Liebe, da es 10

sonst nur Freundschaft gewesen war. Sie selbst kannten indeß ihr gegenwärtiges Gefühl noch nicht, da ihre Eltern schon anfiengen, die Folgen desselben zu fürchten. Diese kamen zusammen, um miteinander sich über die Art ihres Verfahrens mit den beyden Liebenden zu unterreden. Sie würden sie an einander verheyrathet haben; allein da sie gleich alt waren, fand man den Burschen zu jung, und das zärtliche Paar wurde mit Untersagung des fernern Umgangs getrennt. Der junge Mensch, voll Verzweiflung, entschloß sich zu sterben, oder wenigstens sein Vaterland zu verlassen; und hierzu wuste er kein andres Mittel, als in den Krieg zu gehen. Er hatte von einem Regimente, das aus F r e y w i l -

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l i g e n bestünde, reden gehört; und da er eigentlich nur so lange zu dienen gesonnen war, als es ihm gefallen würde, erklärte sich dies der junge Mensch, der keine Begriffe und überhaupt nicht den mindesten Unterricht genossen hatte, zu Gunsten seines Entschlusses, und engagierte sich unter die F r e y w i l l i g e n zur See. — Ein Engagement, das wirklich nicht länger als Einen Feldzug dauert, aber nichts destoweniger eine förmliche Entlassung nothwendig macht. — Er gieng zu seinem Corps und wurde mit eingeschift. Die Ermüdungen der Reise und noch mehr der Schmerz über die Trennung von seiner Geliebten machten einen nachtheiligen Erfolg auf seine Gesundheit; er wurde krank, und nach einer Seereise von 3 Monaten war man genöthigt, ihn

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auf dem festen Lande auszusetzen, und ins Hospital des P o r t d e l’ O r i e n t zu befördern.

¼Übersetzung einer½ A n e k d o t e ¼über einen fahnenflüchtigen Bräutigam½

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Nach einigen Monaten fühlte er sich wieder im Stande zu reisen; und da er in Ansehung seines Engagements, das er im buchstäblichen Verstande nahm, noch immer in seinem vorigen Irrthum stund, gieng er, ohne weitere Formalitäten zu beobachten, oder jemanden nur ein Wort zu sagen, fort; nahm seinen Weg gerade nach seiner Heymath zu, und kam zu eben der Zeit an, als ein Nebenbuhler, der sich erst seit seiner Abwesenheit erklärt hatte, um seine Geliebte anwarb und anwerben ließ. Das junge Mädchen, von der Gegenwart ihres alten Liebhabers angefeuert, widersezte sich aus allen Kräften, ihre Hand einem andern zu geben; und ihr wahrer Geliebter wuste es endlich durch Bitten und Flehen bey seinen und ihren Eltern so weit zu bringen, daß er

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einen Vorzug empfieng, an den er so viele gerechte Ansprüche machen konnte. Der Verlöbnistag wurde festgesezt; die Eltern kamen zusammen, und gaben einen kleinen Schmaus. Aber mitten unter der allgemeinen Freude wurde der glükliche Bräutigam auf Anstiften seines abgewiesenen Nebenbuhlers, (welcher seine Nachhausekunft, mit der es ihm nicht ganz richtig zu seyn schien, einer Brigade der Marechaussee angezeigt und diese zu dem Orte der Lustbarkeit geführt hatte) aus den Armen seiner Geliebten und seiner Eltern gerissen, und als Deserteur in Verhaft genommen. Die Verzweiflung der beyden Liebenden bedarf keiner Beschreibung. Das Mädchen, in der Heftigkeit ihres Schmerzes, weinte und schrie, sie wollte entweder sterben, oder Begnadigung

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für ihren Geliebten erhalten. Sie wandte sich an den Kerkermeister, an die Marechaussee, an jedermann, von dem sie Hülfe erlangen zu können glaubte; und erhielt den Bescheid, daß niemand als der König begnadigen könne, und daß sie sich mit ihrem Gesuch lediglich an den Minister wenden müßte. Alles bedauerte das zärtliche Paar, jedermann wollte ihm helfen; aber niemand wuste Mittel dazu. Nach vielen Rathschlägen und Bemühungen fiel man darauf, sie an einen Mann aus eben derselben Provinz zu empfehlen, der in Paris wohnte, und von dem man vermuthete, daß er einigen Zutritt bey dem Minister der Marine, und bey dem Oberaufseher des Polizeywesens habe. Der Richter ihres Orts schrieb einen Brief, worinn er den Verstand und die Tugend des Mädchens sowohl, als die Vorzüge und den guten Lebenswandel ihres Liebhabers bezeugte. Dieser Brief wurde ihr eingehändigt, aber blos mit der Aufschrift des Namens, weil niemand aus ihrem Orte jemals so nahe Geschäfte mit dem Hrn. ** gehabt hatte, um seine Addresse zu wissen. Auf eine so wichtige Empfehlung pakte das Mädchen ihr schönstes Kleid, ihr bestes Paar

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Schuh, nebst einem weissen Hemde zusammen; reißte zu Fuß mit einem Reichthum von 18 Franken in der Tasche fort, und kam nach Paris auf den Plaz Ludwig des XIVten. Sie fragte alle Welt, wo Hr. ** wohne; aber da war niemand, der ihn kannte. Endlich machte ihn ein Savoyard ausfindig, und brachte sie Abends um neun Uhr zu seiner Wohnung. Hr. ** war über die Annehmlichkeit des jungen Mädchens nicht weniger als über ihre Erzählung verwundert, und führte sie zu seiner Frau. Beyde versicherten sie des zärtlichsten Antheils, und nöthigten sie einmüthig, bey Ihnen zu bleiben, um den Erfolg ihres Gesuchs abzuwarten. 10

Den Tag darauf präsentierte sie Hr.** an den Ober-Polizeyaufseher. Sie warf sich ihm zu Füßen, und nachdem sie von der Absicht ihrer Reise Bericht abgestattet hatte, bat sie ihn, ihr die Begnadigung ihres Geliebten auszuwirken. Sie wurde den Sonntag nach Ve r s a i l l e s beschieden; erhielt aber daselbst die Nachricht, daß sie erst den Montag früh dem Minister vorgestellt werden könnte. Anstatt nun, wie es eigentlich hätte seyn sollen, dies zu Versailles abzuwarten, gieng sie, aus Furcht ihren Beschützern zu Paris durch ihr Aussenbleiben Unruh zu machen, wieder zurück; schlief die Nacht bey Ihnen, und den andern Morgen früh um vier Uhr brach sie schon wieder nach Versailles auf. Um 12 Uhr zumittag empfieng sie von dem Minister die erfreuli-

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che Nachricht von der Begnadigung ihres Geliebten. Kaum hatte sie diese, so gieng es den Augenblik wieder fort nach Paris, und an eben demselben Tage wollte sie auch noch in ihre Heymath. Allein da Hr. ** befürchtete, so viele Ermüdungen, und noch mehr die heftigen Erschütterungen ihres Herzens, möchten ihrer Gesundheit nachtheilig seyn, ließ er sie nicht zu Fuß wieder fort, sondern verschafte ihr einen Plaz auf einem Postwagen, auf dem sie zur großen Freude ihrer Eltern und aller derjenigen, die die Verbindung eines so zärtlichen Paars gewünscht hatten, wieder in ihrer Heymath anlangte. Wer diese Anekdote ließt, wird die Geschichte des D e s e r t e u r s von Herrn S e d a i n e zu lesen glauben; und es ist seltsam genug, daß das, was Hr. Sedaine

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nur zu dichten glaubte, sich einige Jahre später wirklich zugetragen hat. Genug, die Begebenheit ist wahr und hat sich erst kürzlich zugetragen. Der junge Mensch nennt sich J o s e p h P a l l i c o t , und ist ein Schustergeselle; das Mädchen A n n e B r o u i l l e , ist Spinnerin für die Manufacturen. (Aus dem Journal de Paris Nr. 181. d. J.)

¼Übersetzung einer½ A n e k d o t e ¼über einen fahnenflüchtigen Bräutigam½

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Etwas von Helvetius. Helvetius ist einer der schönsten Menschen gewesen, und hatte Eine der schönsten Frauen. Er war in seiner Jugend der beste Tänzer, und tanzte in der Opera. Seine Wohlthätigkeit übertrift alles. Er gab bis gegen 30000 Liv. jährlich an die Dürftigen, ohne daß die Seinigen es wußten. Seine Töchter haben izt jede 50000 Liv. Revenüen. Er hatte die älteste an Mr. Bertin bestimmt, dieser machte ihr auch die Cour. Als er aber die jüngste sah, zog er diese vor, und verließ die älteste. Helvetius war weiter darüber nicht betroffen, und sagte zu Madam Helvetius: Mais Diable pourquoi aussi n’a-t-elle pas des Teˆ10

tons. Er war bey 120000 Liv. Renten sehr mäßig in seinem Aufwand, und hielt nicht einmal einen Valet de Chambre. Seine Tafel war aber allen Leuten von Verdiensten offen. Er war so simpel, daß wenn zuweilen, um dem Caffee Platz zu machen, der Tisch mußte weggerükt werden, er selbst angriff, und der Erste, der sich bey der Hand fand, und wär’ es ein Officier General gewesen, mit Hand anlegen mußte. Als er am Ende seines Lebens war, ließ er seine Frau rufen: Madame, sagt’ er zu ihr, je compte que vous me defendrés contre les Pretres. Sie hielt auch Wort, und als die Anverwandten mit den Priestern hereinstürmten, so sezte sie eine Pistole auf den Tisch, mit der Versicherung, daß sie Gewalt mit Gewalt vertreiben würde. Sie hält selbst so wenig von der

20

Bigotterie, daß sie öfters sagt, wenn von einer guten Handlung aus dieser Absicht, die Rede ist: Ne me parlés pas de l’humanité qui est faite (eingemacht) avec de la Religion. Man kann so was nur Französisch sagen.

Etwas von Helvetius

569

K l o p s t o c k . Er; und über ihn, herausgegeben von C. F. Kramer. Erster Theil. 1724 — 1747. Hamburg, gedruckt bey G. F. Schniebes. 1780. Der Titel dieses Werkchens hätte auch ohne ausdrükliche Unterschrift schon den jugendlichen Verfasser der erstern Fragmente über Kl. zu erkennen gegeben. Die Art und Weise wie er schreibt, ist nicht Klopstocks, und wir glauben es von ganzen Herzen, daß der Mann, von dem hier die Rede ist, nichts von dem Manuscript eher gesehen hat, als die übrigen Leser. Der wahren Anekdoten von ihm können nicht genug seyn. Dazu dients gewiß, uns von neuem an den hohen Werth des menschlichen Geistes zu erinnern, wenn man 10

die wahre Bestimmung der Natur von der ersten Jugend an, immer in demselben Gleise, an einem der sichersten und ausgezeichnetesten Charaktere wahrnimmt. Das schätzbarste von allem ist unstreitig, die Abschiedsrede Kl. als er die Schulpforte verließ. Er weissagte hier, wie alle ausserordentliche Menschen, von sich selbsten, vielleicht ohne es zu wollen. Die Aufklärungen der sogenannten dunklen Stellen in Kl. Oden, werden den meisten Lesern willkommen seyn, obgleich diejenigen, die dergleichen bedürfen, keinen Schritt ohne einen solchen Führer weiter zu kommen, Hoffnung haben möchten. Alle diejenigen, welche nicht über die Sache selbst anders, sondern nur

20

nicht in des Verf. Manier denken und schreiben, warnen wir zum voraus, sich künftig hierüber bescheiden auszudrücken; denn sie werden sonst für Weltleute oder Franzosen angesehen, und, noch poetischer, unter das F r o s c h g e s c h l e c h t gesezt.

¼Anzeige: Cramer½ K l o p s t o c k

571

¼Konrad von Adlerberg und Leonore von Lichtenau. Ein Erziehungsmährchen. … In diesem Ton dauerte die nonsensicalische Unterhaltung noch eine geraume Zeit fort, und der Erfolg derselben war, daß Herr Hieronymus Spät sowohl getröstet nach Hause kam, als wenn er in A n t i p h o n s Bude gewesen wäre.* )½ *)

Man erzählt von diesem Antipho, einem Atheniensischen Redner aus So-

krates Zeit, daß er zu Korinth auf öffentlichem Markte eine Bude aufgeschlagen, und alle betrübten Seelen eingeladen habe, herbey zu kommen, und 10

von seiner Panacee gegen die Traurigkeit zu kaufen; mit der Versicherung daß kein Schmerz so groß sey, den er nicht durch die bloße Gewalt seiner Beredsamkeit heilen wolle. Von den Reden, die noch von ihm vorhanden sind, würde man diese Würkung vergebens erwarten.

¼Anmerkung: Michaelis?½ K o n r a d v o n A d l e r b e r g

573

Inhaltsverzeichnis [277]

Der Teutsche Merkur vom Jahr 1780. Erstes Vierteljahr

.....

1

[277.1]

¼Debitanzeige½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

[277.2]

Oberon. Ein Gedicht in vierzehn Gesängen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4

[277.2.1]

Erster Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4

[277.2.2]

Zweyter Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

[277.2.3]

Dritter Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

[277.2.4]

Vierter Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

[277.2.5]

Fünfter Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

[277.2.6]

Sechster Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

[277.2.7]

Siebenter Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

[277.2.8]

Achter Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

[277.2.9]

Neunter Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

[277.2.10]

Zehnter Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

[277.2.11]

Eilfter Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

[277.2.12]

Zwölfter Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

[277.2.13]

Dreyzehnter Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200

[277.2.14]

Vierzehnter Gesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 Druckfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242

[278]

Oberon¼.½ Ein Gedicht in Vierzehn Gesängen [  277.2] Der Teutsche Merkur vom Jahr 1780. Zweytes Vierteljahr

[279]

Der Teutsche Merkur. April 1780

. . 243

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

[279.1]

¼Debitanzeige½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

[279.2]

Über eine Anekdote von J. J. Rousseau (an einen Freund.) . . . . . . . . . . . 247

[279.2.1]

Über eine Anekdote von J. J. Rousseau (an einen Freund.) . . . . . . . . 247

[279.2.2]

Über Eine Anekdote von J. J. Rousseau (Fortgesezt von Seite 90 des lezten Stüks.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

Inhaltsverzeichnis

575

[279.2.3]

Nachtrag zur Anekdote von J. J. Rousseau im T. Merkur vom April dieses Jahrs S. 90 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

[279.2.4]

Über die Frage: In wiefern es gut sey, die Übelthaten vortreflicher Menschen bekannt zu machen? als eine Fortsetzung des Nachtrags zur Anekdote von J. J. Rousseau. (S. T. Merkur April, S. 90. und August S. 146. d. J.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285

[279.3]

[280]

Patriotischer Beytrag zu Teutschlands höchstem Flor (wenn es will.) 308

Der Teutsche Merkur. May 1780

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

[280.1]

¼Debitanzeige½ [  279.1]

[280.2]

Über Eine Anekdote von J. J. Rousseau. (Fortgesezt von Seite 90 des lezten Stüks.) [  279.2.2]

[280.3]

Vorschlag Eines gelehrten Ritterordens [  Incerta]

[280.4]

Anekdoten

[280.4.1]

Anekdote ¼„Ein gewisser Französischer Herr …“½ [  Incerta]

[280.4.2]

Anekdote ¼„von dem berühmten J. J. Rousseau …“½ [  Incerta]

[280.5]

¼Rezension: Friedrich Justin Bertuch½ Magazin der Spanischen und Portugiesischen Literatur [  Incerta]

[280.6]

¼Rezension: Christian Joseph Jagemann½ Magazin der Italienischen Litteratur und Künste [  Incerta]

[280.7]

¼Rezension: Wilhelm Gottlieb Becker½ Magazin der Französischen Literatur [  Incerta] Drukfehler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

[281] [281.1] [281.2]

Der Teutsche Merkur. Junius 1780

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319

¼Debitanzeige½ [  279.1] Auszug aus Herrn Magellans Zusatz zu des Hrn. Le Begue de Presle Relation des derniers jours de M. Jean Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . . 320

[281.3]

¼Christian Heinrich Schmid: Fortsetzung der Bilanz der schönen Literatur im Jahre 1779.½ Zusatz des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

[281.4]

Schreiben eines Nachdruckers an den Herausgeber des T. M. . . . . . . . 330

[281.5]

¼Rezension: Georg½ Forsters Reise um die Welt [  Incerta]

[281.6]

¼Rezension von Johann Elert Bodes Übersetzung: Bernard le Bovier de Fontenelle½ Dialogen über die Mehrheit der Welten [  Incerta]

576

Inhaltsverzeichnis

[281.7]

¼Rezension½ Hirzel an Gleim, über Sulzer den Weltweisen. Zweyte Abtheilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

[281.8]

¼Rezension von Johann Joachim Christoph Bodes Übersetzung: Adam Fitz-Adam½ Die Welt [  Incerta]

[281.9]

¼Rezension von Johann Christoph Schmits Übersetzung: Henry Fielding½ Geschichte des Tom Jones eines Fündlings [  Incerta]

[281.10]

¼Rezension: Johann Gottlieb Samuel Schwabe½ Phaedri Augusti Liberti Fabularum Aesopiarum Libri V [  Incerta]

Der Teutsche Merkur vom Jahr 1780. Drittes Vierteljahr [282]

Der Teutsche Merkur. Julius 1780

. . . 349

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

[282.1]

¼Debitanzeige½ [  279.1]

[282.2]

Entschuldigung der Atheniensischen Nußkrämerinnen . . . . . . . . . . . . . 352

[282.3]

Was Tarpa für ein Ding ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356

[282.4]

Noch ein kleiner Advice to an Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358

[282.5]

Die Wunderflasche des Heil. Remigius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360

[282.6]

Der Caloyer von Pathmos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362

[282.7]

¼Rezension zu Michael Hubers Übertragung der½ Geßnerschen Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

[282.8]

¼Übersetzung: Claude-Sixte Sautreau de Marsy½ Etwas von dem Französischen Dichter Dorat. (Zum Theil aus einem Schreiben eines seiner Freunde, an die Herausgeber des Journal de Paris N. 153. d. J. ausgezogen.) [  Incerta]

[282.9]

¼Übersetzung einer½ Anekdote ¼über einen fahnenflüchtigen Bräutigam½ [  Incerta]

[283]

Der Teutsche Merkur. August 1780

[283.1]

¼Debitanzeige½ [  279.1]

[283.2]

Das lezte Kapitel der Abderiten [  191.I.3.16]

[283.3]

Nachtrag zur Anekdote von J. J. Rousseau im T. Merkur vom April dieses Jahrs S. 90 [  279.2.3]

[283.4]

Etwas von Helvetius [  Incerta]

[283.5]

¼Anzeige: Carl Friedrich Cramer½ Klopstock. Er; und über ihn [  Incerta]

Inhaltsverzeichnis

577

[284]

Der Teutsche Merkur. September 1780

[284.1]

¼Debitanzeige½ [  279.1]

[284.2]

Fortsetzung und Beschluß des lezten Kapitels der Abderiten [  191.I.3.17]

[284.3]

Nachschrift des Herausgebers an die sämmtlichen S. T. Herren Nachdrucker im H. R. Reich, in specie die zu Carlsruh und Tübingen [  191.I.3.18]

Der Teutsche Merkur vom Jahr 1780. Viertes Vierteljahr [285]

Der Teutsche Merkur. Oktober 1780

. . . 369

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371

[285.1]

¼Debitanzeige½ [  279.1]

[285.2]

Über die Frage: In wiefern es gut sey, die Übelthaten vortreflicher Menschen bekannt zu machen? als eine Fortsetzung des Nachtrags zur Anekdote von J. J. Rousseau. (S. T. Merkur April, S. 90. und August S. 146. d. J.) [  279.2.4]

[285.3]

Dialogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

[285.3.1]

1. Diokles. Lucian . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

[285.3.2]

2. Lucian, Diokles, hernach Panthea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377

[286]

Der Teutsche Merkur. November 1780

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387

[286.1]

¼Debitanzeige½ [  279.1]

[286.2]

Lucians Panthea. Von neuem übersezt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388

[286.2.1] [286.2.2] [286.3] [286.3.1] [286.4]

Lucians Panthea. Von neuem übersezt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 Lucians Panthea. Fortgesezt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401 Dialogen 2. Lucian, Diokles, hernach Panthea [  285.3.2] ¼Anmerkungen zu Jakob G. D. Michaelis?½ Konrad von Adlerberg und Leonore von Lichtenau. Ein Erziehungsmährchen . . . . . . . . . . . . . . 409

[286.4.1] [286.4.2] [286.5]

¼Anmerkung 1½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 ¼Anmerkung 2½ [  Incerta] Auszüge aus den Melanges tirés d’une grande Bibliotheque . . . . . . . . . . . 411

[286.5.1]

Auszüge aus den Melanges tirés d’une grande Bibliotheque . . . . . . . . 411

[286.5.2]

Fortsetzung der Auszüge aus den Melanges tirés d’une grande Bibliotheque . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424

578

Inhaltsverzeichnis

[286.5.3]

Auszüge aus den Melanges tirés d’une grande Bibliotheque. (Fortgesezt von S. 269. des lezten Stüks vom vorigen Jahr.) . . . . . . . 436

[286.5.4]

Auszüge aus den Melanges tirés d’une grande Bibliotheque. (Fortgesezt von S. 70. des vorigen Monats.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

[286.5.5]

Fortsetzung der Auszüge aus den Melangés tirés d’une grande Bibliotheque . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 462

[286.6]

[287] [287.1]

An den Herrn Herausgeber der Hamburgischen Neuen Zeitung . . . . 473

Der Teutsche Merkur. December 1780

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475

¼Debitanzeige½ [  279.1]

[287.2]

Lucians Panthea. Fortgesezt [  286.2.2]

[287.3]

¼Anmerkung zu Johann Heinrich Merck:½ Über einige Merkwürdigkeiten von Cassel. Aus einem Schreiben an den Herausgeber des T. M. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 476

[287.4]

Fortsetzung der Auszüge aus den Melanges tirés d’une grande Bibliotheque [  286.5.2]

[287.5]

¼Einleitung und Übersetzung der Canzonetta Romana½ . . . . . . . . . . . . . 477

Der Teutsche Merkur vom Jahr 1781. Erstes Vierteljahr [288]

Der Teutsche Merkur. Januar 1781

. . . . . 481

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 483

[288.1]

¼Debitanzeige½ [  279.1]

[288.2]

Auf den Tod der Kayserin-Königin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484

[288.3]

Lucians Vertheidigung seiner Panthea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486

[288.4]

An Olympia. Über eine Handzeichnung von Oesern, die H. Marie Magdalene nach Cignani vorstellend ¼„Wie? Dieser Talisman in deinem Cabinette …“½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506

[288.5]

Auszüge aus den Melanges tirés d’une grande Bibliotheque. (Fortgesezt von S. 269. des lezten Stüks vom vorigen Jahr.) [  286.5.3]

[288.6]

Wie man ließt; eine Anekdote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508

[288.7]

Moralische Probleme. 1. In wiefern es Pflicht sey, eines allgemein geliebten großen Sittenlehrers bey seinen Lebzeiten zu schonen, aus Besorgnis dem Nutzen seiner Lehren möchte geschadet werden? An M. B. G * * * * . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511

Inhaltsverzeichnis

579

[288.8]

¼Zusatz und Anmerkung zu Christian Gottlob von Voigt½ Übersetzung der Römischen Canzonette, Quelle piume etc. in Reimen mit beybehaltner Versart des Originals. Von einem Ungenannten . . . . . . . 521

[289]

Cantate auf den 30sten Jenner 1781 ¼„Im grauen Dunkel …“½ . . . . . . . . 525

Incerta [280.3]

Vorschlag Eines gelehrten Ritterordens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531

[280.4]

Anekdoten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 537

[280.4.1] [280.4.2] [280.5]

¼1. Anekdote: „Ein gewisser Französischer Herr …“½ . . . . . . . . . . . . . 537 ¼2. Anekdote: „… von dem berühmten J. J. Rousseau …“½ . . . . . . . . . 538 ¼Rezension: Friedrich Justin Bertuch½ Magazin der Spanischen und Portugiesischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 539

[280.6]

¼Rezension: Christian Joseph Jagemann½ Magazin der Italienischen Litteratur und Künste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 543

[280.7]

¼Rezension: Wilhelm Gottlieb Becker½ Magazin der Französischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547

[281.5] [281.6]

¼Rezension: Georg½ Forsters Reise um die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 ¼Rezension von Johann Elert Bodes Übersetzung: Bernard le Bovier de Fontenelle½ Dialogen über die Mehrheit der Welten . . . . . . . . . . . . . . 551

[281.8]

¼Rezension von Johann Joachim Christoph Bodes Übersetzung: Adam Fitz-Adam½ Die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553

[281.9]

¼Rezension von Johann Christoph Schmits Übersetzung: Henry Fielding½ Geschichte des Tom Jones eines Fündlings . . . . . . . . . 555

[281.10]

¼Rezension: Johann Gottlieb Samuel Schwabe½ Phaedri Augusti Liberti Fabularum Aesopiarum Libri V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 557

[282.8]

¼Übersetzung: Claude-Sixte Sautreau de Marsy½ Etwas von dem Französischen Dichter Dorat. (Zum Theil aus einem Schreiben eines seiner Freunde, an die Herausgeber des Journal de Paris N. 153. d. J. ausgezogen.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559

[282.9]

¼Übersetzung einer½ Anekdote ¼über einen fahnenflüchtigen Bräutigam½ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565

[283.4]

580

Etwas von Helvetius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569

Inhaltsverzeichnis

[283.5] [286.4.2]

¼Anzeige: Carl Friedrich Cramer½ Klopstock. Er; und über ihn . . . . . . 571 ¼Anmerkung 2 zu Jakob G. D. Michaelis?½ Konrad von Adlerberg und Leonore von Lichtenau. Ein Erziehungsmährchen . . . . . . . . . . . . . . 573

Inhaltsverzeichnis

581