Wenn Soldaten wie Gespenster sind: Literarische Verarbeitungen der Kriege des 20. Jahrhunderts [1 ed.] 9783737013765, 9783847113768, 9783847013761


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Wenn Soldaten wie Gespenster sind: Literarische Verarbeitungen der Kriege des 20. Jahrhunderts [1 ed.]
 9783737013765, 9783847113768, 9783847013761

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Veröffentlichung des Universitätsverlages Osnabrück bei V&R unipress Krieg und Literatur / War and Literature Vol. XXVII (2021)

Herausgegeben von Claudia Junk und Thomas F. Schneider Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Erich Maria Remarque-Archiv / Forschungsstelle Krieg und Literatur

Wissenschaftlicher Beirat / Advisory Committee Prof. Dr. em. Alan Bance, University of Southampton, Great Britain Dr. Fabian Brändle, Zürich, Schweiz Dr. Jens Ebert, Historiker und Publizist, Berlin, BR Deutschland Prof. Dr. em. Frederick J. Harris, Fordham University, New York, USA Prof. Dr. Christa Ehrmann-Hämmerle, Universität Wien, Österreich Prof. Dr. em. Walter Hölbling, Karl-Franzens-Universität Graz, Österreich Prof. Dr. em. Bernd Hüppauf, New York University, New York, USA Prof. Dr. em. Holger M. Klein, Universität Salzburg, Österreich Prof. Dr. em. Manfred Messerschmidt, Freiburg/Br., BR Deutschland Dr. Holger Nehring, University of Stirling, Great Britain Prof. Dr. em. Hubert Orłowski, Uniwersytet Poznan, Polska PD Dr. Matthias Schöning, Universität Konstanz, BR Deutschland Prof. Dr. Benjamin Ziemann, University of Sheffield, Great Britain

Claudia Junk / Thomas F. Schneider (Hg.)

Wenn Soldaten wie Gespenster sind Literarische Verarbeitungen der Kriege des 20. Jahrhunderts

Herausgeber / Editor Erich Maria Remarque-Friedenszentrum Erich Maria Remarque-Archiv/Arbeitsstelle Krieg und Literatur Universität Osnabrück, Markt 6, D-49074 Osnabrück Herausgebergremium / Editorial Board Claudia Junk, Thomas F. Schneider Redaktion / Editing Claudia Junk, Alena Acil, Simon Geest, Stephan Pohlmann, Marvin Schorer, Henri Schwope, Pascal Quicker Gestaltung / Layout Claudia Junk, Thomas F. Schneider Titelbildnachweis Renate Hollweg. Tierra sine aqua (Land ohne Wasser), 2020. Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.

KRIEG UND LITERATUR/WAR AND LITERATURE erscheint einmal jährlich. Preis pro Heft EUR 45,00 / Abonnement: EUR 40,00 p.a (+ Porto) © 2021 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Birkstraße 10, D-25917 Leck / Printed in the EU. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-8471-1376-8 | ISBN (E-Book) 978-3-8470-1376-1 ISBN (V&R eLibrary) 978-3-7370-1376-5 | ISSN 0935-9060

Inhalt

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Marc Hieger La guerra equivocada Der Chaco-Krieg (1932–1935) und seine Darstellung in Augusto Céspedes’ Erzählsammlung Sangre de mestizos

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Christoph Deupmann Eine verlorene Generation? Literarische Befragungen eines Generationenkonzepts in Heimkehrertexten nach dem Ersten Weltkrieg

65

Matthias Schöning Militärroman, Institutionenroman, Ludendorff-Porträt Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa – Mit einem Seitenblick auf Junge Frau von 1914 und den Roman-Zyklus

97

Bernd F. W. Springer Paul Coelestin Ettighoffers Kriegsroman Gespenster am Toten Mann – Ein Anti-Remarque-Buch?

133

Fabian Brändle Generation Aktivdienst Ostschweizer Soldaten und Unteroffiziere erinnern sich an den Militärdienst 1939–1945

6

Inhalt

141

Fabian Brändle In Diensten Uncle Sams Der Schweizer Auswanderer und Kavallerist Johann Jacob »John« Jörimann (1861–1947)

155

Alena Acil Die türkische Verfilmung Demir Perde in Anlehnung an Erich Maria Remarques Roman Liebe Deinen Nächsten



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Rezensionen/Reviews

Thoms Blubacher. Das Haus am Waldsängerpfad. Wie Fritz Wistens Familie in Berlin die NS-Zeit überlebte. (Thomas Amos) 166 Armin Fuhrer. Emil Ludwig. Verehrt, verfemt, verbrannt. Eine Biografie. (Thomas F. Schneider) 171 Peter Huber. In der Résistance. Schweizer Freiwillige auf der Seite Frankreichs (1940–1945). (Fabian Brändle) 173 Norman Ohler. Harro und Libertas. Liebe und Widerstand in Hitlers Berlin. (Thomas Amos)

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Eingegangene Bücher/Books Received Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe/ Contributors to this Edition

Marc Hieger

La guerra equivocada* Der Chaco-Krieg (1932–1935) und seine Darstellung in Augusto Céspedesʼ Erzählsammlung Sangre de mestizos

Eine der größten Tageszeitungen Boliviens, El Deber aus Santa Cruz de la Sierra, berichtete im Juli 2020 gleich zweimal von Ex-Kombattanten des Chaco-Kriegs, die hochbetagt ihren 104. bzw. 106. Geburtstag feierten: Pedro Pocubé Müller und José Pradel Loayza. Müller wurde mit 17 Jahren in Roboré und Pradel mit 20 Jahren in Potosí zum Militär eingezogen. Beide er- bzw. überlebten die letzten Jahre des Krieges und gehörten zu dem Kreis der sieben Veteranen, die noch in Bolivien lebten.1 Dass diese zwar bis in die Gegenwart als nationale Helden verehrt und gefeiert werden, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Konflikt, seine Ursprünge und dessen Konsequenzen für die bolivianische Gesellschaft zum größten Teil aus dem öffentlichen Bewusstsein und Gedächtnis verschwunden sind. In einer vor zwei Jahren in Santa Cruz de la Sierra durchgeführten Umfrage wussten manche Passanten einiges, andere hingegen überhaupt nichts zu diesem Thema zu sagen.2 Auch die Autoren, die über den Chaco-Krieg geschrieben haben, gehören heute nicht mehr zu einem festen Lektürekanon in den Schulen. In aktuellen Büchern der Sekundarstufe wird das Thema in unterschiedlicher Qualität und auch Quantität * Dt.: Der unsinnige (falsche) Krieg. 1 Nataly Carrión Cárdenas. »Pedro Pocube Müller, el excombatiente de la Guerra del Chaco que cumplirá 104 años«. El Deber, 28.06.2020, online unter: https://eldeber.com.bo/santa-cruz/pedropocube-muller-el-excombatiente-de-la-guerra-del-chaco-que-cumplira-104-anos_187816 (Stand: 21.07.2020); Alvaro Rosales Melgar. »Conoce la historia de José Pradel, el excombatiente que cumplió 106 años«. El Deber, 18.07.2020, online unter: https://eldeber.com.bo/pais/conoce-lahistoria-de-jose-pradel-el-excombatiente-que-cumplio-106-anos_191488 (Stand: 21.07.2020). 2 Eduardo Flores. »Guerra del Chaco. ¿Qué significa para los bolivianos?«, 13.08.2018, 6:20 Min., online unter: https://www.youtube.com/watch?v=f57TLmGtbSI (Stand: 05.08.2020).

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behandelt.3 Ein Merkblatt, das sich Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe in ihren Geschichtsordner heften können, erwähnt den großen Heroismus, aber auch die dramatischen Folgen des Konflikts für Bolivien.4 Es gibt militärische und zivile Einrichtungen, wie zum Beispiel das Museo Histórico Militar Héroes de la Guerra del Chaco (Santa Cruz de la Sierra), das Museo Histórico Militar de la Guerra del Chaco (Villa Montes), das Museo »Paz del Chaco« (La Paz) und natürlich die Academía Boliviana de la Historia Militar (La Paz), die die Erinnerung an diesen Konflikt im öffentlichen Bewusstsein wachhalten wollen. Die meisten dieser Einrichtungen, so auch das Museo Histórico Militar Héroes de la Guerra del Chaco in Santa Cruz de la Sierra, werden von der bolivianischen Armee unterhalten.5 Dennoch ist dieses Museum auch auf fortlaufende private Zuwendungen angewiesen, um weiterhin existieren und arbeiten zu können. Die neuere bolivianische Literatur hat einige Werke zum Thema aufzubieten, wie zum Beispiel Jesús Urzagastis De La Ventana al Parque (1992), Raúl López Sorias El keru mágico o Rosendo Villa en la Guerra del Chaco (2003), Miguel Castro Arzes Si aún queda llanto en tus ojos (2006), Miguel Lundin Peredos Carne de Cañon. ¡Ahora arde, kollitas! Diario de Guerra 1932–33 (2015) oder Wilmer Urrelo Zárates Hablar con los perros (2018). Ein weiteres Beispiel jüngerer Rezeptionen ist der 2016 erschienene Manga-Comic Epopeya II-Binacional,6 der das Thema Chaco-Krieg auch einem jüngeren und breiteren Publikum nahebringen will. An diesem Projekt arbeiteten bolivianische und paraguyaische Künstler gemeinsam, und es erregte in beiden Ländern größere Aufmerksamkeit in den Medien, die darüber ausführlich berichteten.7 Auch die paraguyaische Comic-Serie Pólvora y polvo befasst sich mit dem Thema. Hier erzählt die Folge »El Pacifista« bei3 In einem neueren Geschichtsbuch der Sek.-Stufe 6 (12. Klasse) wird der Chaco-Krieg ausführlich dargestellt und untersucht: Alcides Parejas Moreno. Historia del Hombre 6. Santa Cruz de la Sierra: Grupo Editorial La Hoguera 2017, 138–147. Dagegen umfasst das Thema in einer aktuellen Ausgabe eines Geographiebuchs der Sek. 6 nur knapp eine halbe Seite, vgl.: Rolando Ayaviri Guevara. Geografía. Geopolítica y geografía limítrofe de Bolivia. Santa Cruz: Industrias Gráficas SIRENA, 2020, 43f. 4 Álvaro Limachi. La Guerra del Chaco. Nr. 504. La Paz: Po-Li, o.J. 5 An dieser Stelle möchte ich ganz besonders den ehemaligen Direktoren des Museums, Herrn Oberstleutnant Mario Pinell Pinto sowie Herrn Oberst José Mauricio Castro Pautrat, meinen Dank aussprechen, die mir während der Recherchen vor Ort stets beratend zur Seite standen und mir Zugang zu allen Dokumenten und auch zu persönlichen Medien gewährt haben. Ohne ihre Unterstützung wäre dieser Beitrag nicht realisierbar gewesen. 6 Joaquin Cuevas (Hg.), Jorge Siles u.a. (Text), Javier Viveros, Óscar Zalles u.a. (Zeichnungen). Epopeya II–Binacional. La Guerra del Chaco vista por historietistas bolivianos y paraguayanos. O.O., o.V., 2016. 7 Vgl. z.B.: Giannina Machicado. »Historietistas bolivianos y paraguayos ›recuentan‹ la Guerra del Chaco«. Página Siete, 06.03.2016: https://www.paginasiete.bo/cultura/2016/3/6/historietistasbolivianos-paraguayos-recuentan-guerra-chaco-88892.html (Stand: 04.12.2020). Der kurze Comic Boquerón schildert die Ereignisse um die erste und eine der blutigsten Schlachten des Chaco-Kriegs, vgl. A. Fernandez A.. Boquerón. Santa Cruz de la Sierra: AFAN, 2015.

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spielsweise die Geschichte des bolivianischen Soldaten José Mercado, der zwei bedeutende pazifistische Romane bei sich trägt: Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929) und Ernest Hemingways Farewell to Arms (1929). Mercado hat mehrmals während der Boquerón-Schlacht gegnerische Soldaten vor den eigenen Truppen gewarnt, weil er so weiteres Blutvergießen verhindern wollte. Nach einer Verwundung wird er als bereits gesuchter »Verräter« enttarnt und standrechtlich erschossen. Dieser Geschichte sind zwei zentrale Zitate aus beiden Romanen vorangestellt.8 In Bolivien und Paraguay ist der Chaco-Krieg nicht nur in der Comic-Kunst ein wichtiges Thema, auch neuere Filme wie zum Beispiel Boquerón (2015),9 Chaco (2020)10 oder zwei Filme mit dem gleichnamigen Titel Tres pasos al frente (2021)11 befassen sich damit. Der Chaco-Krieg ist also weiterhin ein Teil des öffentlichen Bewusstseins in Bolivien wie auch in Paraguay.

Der Chaco-Krieg – Beginn, Verlauf und Folgen Der Gran-Chaco ist eine mit Trockenwäldern, Dornbuschsavannen und Sukkulentenbeständen bewachsene Großregion in der Mitte Südamerikas, die im Westen durch die Anden, im Osten durch die Flüsse Paraguay und Paraná begrenzt wird.12 Im Norden weist sie ein tropisches, im Süden ein subtropisches Klima auf und sie umfasst insgesamt ca. 800.000 km2 (Bolivien heute: ca. 128.000 km2).13 Bolivien und Paraguay kämpften ausschließlich um ein Teilgebiet, den Chaco-Boreal. In dieser krautigen, sandigen und unwirtlichen Umgebung leben unter anderen Vipern, Nagetiere und unterschiedlichste Insekten. Die seltenen, aber dann sehr heftigen Niederschläge überfluten die größtenteils flache Landschaft; Wege und 8 Javier Viveros (Text), Enzo Pertile (Zeichnungen). Pólvora y polvo. El pacifista. Asunción: Última hora, 2013; online unter: http://www.portalguarani.com/1594_javier_viveros/20811_el_pacifista_2013__guion_javier_viveros__dibujos_enzo_pertile.html (Stand: 05.12.2020); vgl. auch: Corven Icenail (Text), Rafaela Rada Herrera (Zeichnungen). En la guerra del Chaco. La Paz: Axcido Editores [2018]. 9 Vgl. Boquerón (2015), Regie: Tonchy Antezana, BOL, 90 min. 10 Vgl. Chaco (2020), Regie: Diego Mondaca, BOL, ARG, 77 min. 11 Vgl. Tres pasos al frente. La historia de los niños héroes (2020), Regie: Leonardo Pacheco Fernández, BOL; Tres pasos al frente (2015), Regie: Alfredo Ovando, BOL, 12:29 min. 12 Vgl. https://www.spektrum.de/lexikon/geographie/gran-chaco/3179 (Stand: 16.12.2021). 13 Der Gran Chaco unterteilt sich von Norden nach Süden in drei Regionen: den Chaco-Boreal, den Chaco-Central sowie den Chaco-Austral. Die Größenangaben des Gebietes schwanken beträchtlich zwischen 800.000–1.100.000 km2. Heute teilen vier Länder den Gran Chaco unter sich auf: Argentinien, Paraguay, Bolivien und Brasilien, vgl. dazu online: https://www.spektrum.de/lexikon/geographie/gran-chaco/3179 (Stand: 20.04.2021); https://www.britannica.com/place/Gran-Chaco (Stand: 20.04.2021) sowie Michael Herzig. Der Chaco-Krieg zwischen Bolivien und Paraguay 1932–1935: eine historisch-strukturelle Analyse der Kriegsgründe und der Friedensverhandlungen. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang, 1996 (Hispano-Americana 12), 9f.

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Pisten verwandeln sich in kürzester Zeit in einen schwer zu durchdringenden Sumpf.14 Die indigene Bevölkerung umfasst im bolivianischen Teil des Chaco heute 82.052 Menschen, die unterschiedlichen Volksgruppen angehören.15 Der Krieg verlangte den dort eingesetzten Soldaten alles ab, denn der ChacoBoreal wurde für sie zum »infierno verde«, zur grünen Hölle, in der nicht nur die Kugel des Gegners das Leben beenden konnte, sondern allein die unwirtliche, wasserlose Umgebung bereits tödlich war.16 Der Konflikt stürzte zwei Länder in einen blutigen Konflikt, der Tausende von Menschenleben kostete und als die blutigste Auseinandersetzung auf dem südamerikanischen Kontinent in die Geschichte einging.17 Er war »wie der Erste Weltkrieg als Infanteriekrieg unter enormem Einsatz von Menschen und Material geführt worden«.18 Bolivien hatte am Ende der Auseinandersetzungen zwischen 50.000–60.000 Tote,19 Paraguay 30.000–40.000 Tote zu beklagen.20 In Bezug zur damaligen Einwohnerzahl Boliviens gesetzt, sind diese hohen Verluste an Menschenleben auch mit denen europäischer Länder nach dem Ersten Weltkrieg verglichen worden, in dem fast jede Familie einen Sohn oder Vater verloren hatte.21 In älteren Darstellungen ist davon die Rede, dass Bolivien bis zu 234.000–240.000 km2 seines Territoriums an Paraguay verlor.22 Letzte Schätzungen gehen dagegen von maximal 150.000 km2 aus, eine objektive Einschätzung der Gebietsverluste scheint bis heute schwierig zu sein.23 Bolivien büßte im Pazifik- oder Salpeterkrieg (1879–1884) das Departamento24 Litoral und damit seinen maritimen Zugang zum 14 Cientistas Sociales (JISUNU). Concepción y sus comunidades. 300 años de historia y realidad. Santa Cruz de la Sierra 2009, 86. 15 Ava Guaraní, Izoceño (Tupi-Guaraní-Chané), Weenhayek (Mataco Mataguayo und Maca), Tapiete (Tupi-Guaraní); NATIVA. Naturaleza Tierra y Vida (hg. von Inga K. Olmos Castillo). El Gran Chaco Americano. ›Nuestro hogar compartido‹. Tarija, 2013, 5. 16 Roberto Quereiazu Calvo. Masamaclay: Historia política, diplomatica y militar de la Guerra del Chaco. La Paz: Liberia Editorial »G.U.M.«, 2008, 114. 17 Leslie Bethell (Hg.). The Cambridge history of Latin America. Latin America since 1930: Spanish South America. Bd. 8, Cambridge 1991, 234; Herzig, Chaco-Krieg, 10. 18 Herzig, Chaco-Krieg, 73. 19 James Dunkerly. Orígenes del poder militar. Bolivia 1879–1935. La Paz: Plural editores, 2006, 244; Herbert S. Klein. Historia de Bolivia. La Paz: Libería Editorial »G.U.M.«, 2001, 205; Calvo, Masamaclay, 405. 20 Vgl. auch: Herzig, Chaco-Krieg, 73. 21 Dunkerly, Orígenes del poder militar, 244. 22 Vgl.: Víctor Hernán Rojas Vásquez. Región y poder central en Bolivia: Santa Cruz de la Sierra 1938–1971. Santa Cruz de la Sierra: Museo de Historia UAGRM, 2015, 101. 23 Gabriel Salinas. »Desmitificarán versiones sobre la Guerra del Chaco.« Correo del Sur, 31.05.2015, online unter: https://correodelsur.com/sociedad/20150531_desmitificaran-versiones-sobre-la-guerra-del-chaco.html (Stand: 05.08.2020). 24 Der Plurinationale Staat Bolivien gliedert sich seit Verabschiedung der neuen Verfassung von 2009 in neun autonome Departamentos und 112 Provinzen; vgl.: http://www.bolivia.de/bolivien/kulturen/plurinationaler-staat/ (Stand: 15.05.2021).

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Pazifik ein und wurde zum Binnenstaat. Deshalb strebte Bolivien im Chaco-Krieg danach, sich den zentralen Wasser- und Handelsweg über den Río Pilcomayo bzw. den Río Paraguay, dem bedeutendsten Nebenfluss des Río Paraná, zu sichern. Damit wäre dann ein Zugang zum Atlantik gewährleistet gewesen.25 An keinem anderen Konflikt, an dem Bolivien beteiligt gewesen war, war ein so großer Teil der Bevölkerung aus den unterschiedlichsten Landesteilen involviert: Weiße, Mestizen und Indigene wurden eingezogen.26 Er vereinigte Menschen des Hoch- sowie des Tieflandes (»collas« und »cambas«)27 gegen einen gemeinsamen äußeren Feind.28 Dennoch war es vor allem die indigene (Land-)Bevölkerung, insbesondere Angehörige der Volksgruppen der Quechua und Aymara, die den Großteil der Einberufenen stellen mussten, somit auch die meisten Verletzten und Toten zu beklagen hatten. Diese werden bis heute als »carne de cañon« (Kanonenfutter) dieses Krieges bezeichnet.29 Die weißen Bolivianer wurden mehrheitlich als Offiziere oder auch Ärzte eingesetzt.30 Gerade die Soldaten aus den Andenregionen, aus der sich die Mehrheit der einfachen Soldaten rekrutierte, litten unter den klimatischen Bedingungen. Sie waren Kälte gewohnt und kamen, anders als der Gegner, nicht mit der sengenden, tropischen Hitze zurecht. Bei den »pilas«,31 den paraguyaischen Soldaten, handelte es sich hauptsächlich um die im ChacoBoreal ansässige Guaraní-Bevölkerung, die sich mit größerer Sicherheit durch das Terrain bewegte.32 Die erst später aus den Departamentos Beni oder Santa Cruz eingezogenen Soldaten, die ebenfalls heiße Temperaturen gewöhnt waren, adaptierten sich entschieden schneller an die extremen Klimabedingungen, Vegetation und Fauna des Chaco-Boreal.33

25 Herzig, Chaco-Krieg, 57. 26 Guy Jesús Obando Antezana. »Participación de las mujeres en la guerra del Chaco.« Revista Militar, Nr. 338, 2008, 68. 27 Bis heute besteht in Bolivien ein kultureller, mentalitätsbedingter und auch sozialer Gegensatz zwischen den Bewohnern des Hoch- und des Tieflandes. 28 Vásquez, Región y poder, 102. 29 Cientistas Sociales, Concepción y sus comunidades, 86. 30 Dunkerly, Orígenes del poder militar, 245. 31 »Pata pelada«, »pata-pila« (barfüßig) und »pilas« (die Barfüßigen). Diese umgangssprachlichen Ausdrücke umfassten im Krieg allgemein alle Paraguyaer. Im Besonderen bezogen sie sich jedoch auf die Guaraní, die bis heute an ihre Umgebung angepasst in der Chaco-Region leben. Die Paraguayer bezeichneten die bolivianischen Soldaten im Gegenzug als »bolis«; vgl.: Calvo, Masamaclay, 113. 32 Carlos D. Mesa Gisbert, José de Mesa, Teresa Gisbert. Historia de Bolivia. La Paz: Editorial Gisbert y CIA S.A., 2017, 491. 33 Dunkerley, Orígenes del poder militar, 249; Vásquez, Región y poder, 100; Herzig, Chaco-Krieg, 74.

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Abb. 1: Bolivianische Infanteriesoldaten (1930er Jahre). Museo Histórico Militar Héroes de la Guerra del Chaco, Santa Cruz de la Sierra.

Der bolivianische Soldat: selten weiß-, meist bronzehäutig, immer mit Erde und Schlamm bedeckt, [mit] gelblich, verblichenen Khakihosen, schweißgetränktem, einfachem Hemd [und mit einer] Kappe ohne Mützenschirm.34

In den Jahren 1934/35 kam es zu gewaltsamen Aufständen unter den Bergarbeitern im Altiplano, die sich gegen die rigorose Politik der Zwangsrekrutierung zur

34 Augusto Céspedes. »El pila y el boli: dos soldados de América«. La Nacion (1935). Ders. Retratos de frente y perfil. Selección, prólogo y notas de Mariano Baptista Gumucio. La Paz: Plural editores, 2019, 75.

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Wehr setzten. Die Proteste wurden mit Gewalt niedergeschlagen.35 Die indigene Landbevölkerung war von Verfolgungen und Repressionen betroffen, mit denen die konservative Regierung unter Daniel Domingo Salamanca Urey36 gleichzeitig die »kommunistische Gefahr« im Land bekämpfen und so politische Gegner in den Gewerkschaften und anderen indigenen Organisationen ausschalten und die Arbeiterschaft schwächen wollte.37 Eine aggressive Außenpolitik gegenüber Paraguay schien der Regierung ein geeignetes Mittel zu sein, um von den innenpolitischen Problemen abzulenken.38 Augusto Céspedes zitiert den bolivianischen Präsidenten Salamanca und kommentiert: »Der Krieg ist die Schmiede, wo die Seele der Völker gehärtet wird.« [Dies] sagte er und transportierte das nationale Problem an die Grenze. Der Feind war nicht der mächtige Bergarbeiter und auch nicht Paraguay.39

In der bolivianischen Armee kam es zu Exekutionen gefangener Deserteure, insbesondere wenn ihnen »linke Umtriebe« unterstellt wurden.40 Diese Politik wurde von den mächtigen Oligarchen im Land, den Bergwerks- und Grundbesitzern, uneingeschränkt unterstützt.41 Im Folgenden werden einige wichtige strukturelle Faktoren innerhalb der bolivianischen Armee beschrieben, die sich ungünstig auf die Führung und somit den Verlauf des Krieges auswirkten. Das bolivianische Militär der 1930er Jahre wird als »kolonial« charakterisiert, da es sich um eine Kraft handelte, die im Wesentlichen auf interne Repression abzielte, die keine Unterstützung der Bevölkerung fand, rassistisch gespalten war und benutzt wurde, um ein politisches System zu verteidigen, das sich bereits mitten im Zerfall befand.42

35 Dunkerley, Orígenes del poder militar, 246f; Herzig, Chaco-Krieg, 95. 36 Daniel Domingo Salamanca Urey (1863–1935), Jurist, Politiker und Präsident Boliviens (1931– 1934); M. Ruiza, T. Fernández, E. Tamaro. »Daniel Salamanca«, dies. Biografías y Vidas. La enciclopedia biográfica en línea. Barcelona, 2004: vgl. unter https://www.biografiasyvidas.com/biografia/s/ salamanca_daniel.htm (Stand 15.05.2021). 37 Juan Ramón Quintana. »El servicio militar en la posguerra«. La Razón. Bolivia en transición: La Guerra del Chaco. La Paz 1999, 13f. 38 Herzig, Chaco-Krieg, 92. 39 Augusto Céspedes. El dictador suicida. (40 años de historia de Bolivia). La Paz: Libería y editorial »Juventud«, 1985, 133. 40 Dunkerly, Orígenes del poder militar, 251; Gisbert/Mesa/Gisbert, Historia de Bolivia, 491; Herzig, Chaco-Krieg, 93. 41 Herzig, Chaco-Krieg, 95. 42 Dunkerley, Orígenes del poder militar, 244.

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Abb. 2: Auszug Militärliste Benemeritos de la Guerra del Chaco (1930er Jahre). Museo Histórico Militar Héroes de la Guerra del Chaco, Santa Cruz de la Sierra. Anhand der hier vielfach angegebenen Berufsbezeichnung »Bauer« (span.: »agricultor«) ist zu erkennen, dass die Mehrheit der eingezogenen Soldaten (hier aus dem Departamento Santa Cruz de la Sierra) aus dem ländlichen Bereich stammt.

An der Front bestand ein »Kastenwesen« fort: Weiße Bolivianer besetzten, wie bereits erwähnt, höhere Offiziersposten, Mestizen dienten als Unteroffiziere, und die Mehrheit der indigenen Landbevölkerung stellte die einfachen Soldaten. Dies bewirkte maßgeblich eine Entfremdung zwischen militärischer Führung und der Truppe, was sich auf die Kampfmoral und den Einsatzwillen auswirkte. Céspedes charakterisiert den Konflikt folgendermaßen: »Der Chaco-Krieg ist für Bolivien ein kolonialer Feldzug, der von einem halbkolonialen Land […] geführt wird.«43 Desertationen waren deshalb, besonders gegen Ende des Konflikts, keine Einzelfälle mehr und wurden drakonisch mit Erschießungen geahndet.44 Die militärische Grundausbildung der bolivianischen Soldaten war mit dem weiteren Fortschreiten des Konflikts zu kurz und daher unzureichend. Sie war bestenfalls für das Ableisten eines Wehrdienstes in Friedenszeiten, nicht aber für den Kriegseinsatz geeignet.45 Auch die Mehrheit der Unteroffiziere wurde relativ unvorbereitet an die Front entsandt.46 Der deutsche General Hans Kundt47 wurde bereits 1911 und nach dem Ersten Weltkrieg in den Jahren 1921–1926 von der bolivianischen Regierung mit der 43 Céspedes, El dictador suicida, 135. 44 Klein, Historia de Bolivia, 206; Calvo, Masamaclay, 116f. 45 Dunkerley, Orígenes del poder militar, 249; Vásquez, Región y poder, 101. 46 Dunkerley, Orígenes del poder militar, 255f. 47 Vgl. dazu: Gisbert/Mesa/Gisbert, Historia de Bolivia, 494; Calvo, Masamaclay, 121f.

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Restrukturierung bzw. Reorganisation der Armee beauftragt, die erfolgreich verlief.48 Er wurde 1924 von Präsident Juan Bautista Saavedra49 sogar zum Verteidigungsminister ernannt und dies war auch ein Ausdruck des Misstrauens gegenüber der eigenen nationalen Politikelite.50 Kundt sammelte seine Kriegserfahrungen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Diese kamen in der Kriegsführung im Chaco zum Tragen, wo er 1932–1933 noch einmal den Oberbefehl über das bolivianische Militär innehatte. Demonstrationen und Unruhen setzten die Regierung unter Daniel Salamanca erheblich unter Druck, und Kundt schien der Mann der Stunde zu sein. Er sollte das Kriegsglück zugunsten Boliviens wenden, wodurch es der Politik dann erlaubt sein sollte, die innenpolitisch angespannte Lage unter Kontrolle zu bringen.51 Kundts Frontalangriffe, zum Beispiel auf die ausgebaute Festung Nanawa 1933, scheiterten blutig, es wurden dabei an die 2.000 Soldaten geopfert.52 Die angewendete Offensivstrategie erwies sich angesichts der topographischen Verhältnisse als untauglich und fatal.53 Kundt bezog sich bei seinen Planungen lediglich auf einen sehr engen Personenkreis, und es war insgesamt keine Eigeninitiative in der Armee erwünscht.54 Eine Ausnahme im Offizierskorps stellte hier Germán Busch55 dar, der spätere Präsident Boliviens, der taktisches Geschick bewies, unerwartete Angriffe auf paraguyaische Linien und die Etappe durchführen ließ und sich so den Ruf eines Guerilleros erwarb.56 Zudem war das bolivianische Offizierskorps, vom Oberkommando bis hin zum einfachen Unteroffizier, in sich uneins und zerstritten.57 Dabei spielten unterschiedliche professionelle Ansichten, 48 David H. Zook. La Conducción de la Guerra del Chaco. Ciudad del Este: Editorial El Lector, 1998 (Colección »Las Guerras del Paraguay«, 01), 114. 49 Juan Bautista Saavedra Mallea (1870–1939), Jurist, Schriftsteller, Politiker, Präsident Boliviens (1921–1925); Ruiza/Fernández/Tamaro. »Juan Bautista Saavedra.«, dies.. Biografías y Vidas. La enciclopedia biográfica en línea. Barcelona, 2004, vgl. online unter: https://www.biografiasyvidas. com/biografia/s/saavedra_juan_bautista.htm (Stand: 15.05.2021). 50 Ana María Seoane de Capra. »El despertar de las energías sociales y políticas.« Magdalena Cajías de la Vega, Florencia Durán de Lazo de la Vega, Ana María Seoane de Capra (Koord.). Bolivia, su historia. Tomo V. Gestación y emergencia de nacionalismo 1920–1952. La Paz: Coordinadora de Historia/La Razón, 2015, 35. 51 Klein, Historia de Bolivia, 202f. 52 Vgl.: Ebd., 203; Calvo, Masamaclay, 183–187. 53 Herzig, Chaco-Krieg, 73; Dunkerley, Orígenes del poder militar, 235. 54 Calvo, Masamaclay, 176f. 55 Germán Busch Becerra (1904–1939), Militär, Politiker, Präsident Boliviens (1937–1939); Ruiza/ Fernández/Tamaro. »Germán Busch«, dies.. Biografías y Vidas. La enciclopedia biográfica en línea. Barcelona, 2004, vgl. online unter: https://www.biografiasyvidas.com/biografia/b/busch_german. htm (Stand: 15.05.2021); vgl. folgende ausführliche Biografien zu dieser schillernden Persönlichkeit: Robert Brockmann. Dos disparos al amanecer. Vida y muerte de Germán Busch. La Paz: Plural editores, 2017; Marco Antonio Lora Callejas. Germán Busch: el centauro del Chaco, la legendaria vida y obscura muerte del héroe boliviano. La Paz: Scorpio, 2018. 56 Dunkerley, Orígenes del poder militar, 253. 57 Ebd., 233.

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aber auch schlicht persönliche Antipathien eine Rolle. Das Verhältnis zwischen Präsident Salamanca und seinem Militär war ebenfalls angespannt, was anhand von despektierlichen Kommentaren aus der Zeit deutlich wird.58 Das zerrüttete Verhältnis zwischen militärischer und politischer Führung führte im November 1934 in Villa Montes schließlich dazu, dass Salamanca aus dem Amt geputscht wurde. Am Staatsstreich waren die Generäle Enrique Peñaranda, José David Toro Ruilova sowie auch Germán Busch führend beteiligt.59 Eine anhaltende Konfliktserie zwischen Bolivien und Paraguay, die durch gegenseitige Provokationen, Gefangennahme von Soldaten und durch die wechselseitige Eroberung und Errichtung von weiteren Stützpunkten (vor allem 1927/28), sogenannten »fortínes« (Forts) gekennzeichnet war, eskalierte schließlich in den Monaten Juni/Juli 1932 und führte in den Krieg.60 Bereits im Jahr 1927/28 überfielen paraguyaische Soldaten bolivianische Stützpunkte, und es kam umgekehrt zu Vergeltungsaktionen.61 Auch versuchten die Regierungen beider Länder, im Vorfeld vollendete Tatsachen über Besiedlungsmaßnahmen zu schaffen. Paraguay beispielsweise forcierte bereits 1855 die Gründung von Kolonien französischer Einwanderer und unterstützte die sich etablierenden Mennonitenkolonien im Chaco.62 Über militärische Forts und die damit verbundene militärische Okkupation wollten beide Seiten im Vorfeld Gebietsansprüche sichern bzw. festschreiben. Militärische Operationen zielten vor allem auf die (Rück-)Eroberungen von Stützpunkten und damit verbundenen Geländegewinne ab. Wichtige Schlachtenorte sind deshalb nach Forts benannt: Boquerón, Saavedra, Alihuatá, Nanawa, Arce, Ballivián oder Cañada Strongest.63 Das von den Bolivianern eroberte Fort Boquerón wurde 20 Tage lang mit einer Besatzung von 500 Soldaten gegen eine Übermacht von bis zu

58 Vgl.: Alberto Taborga T.. Boquerón. Diario de Campaña. Guerra del Chaco. La Paz: Librería-Editorial »Juventud«, 1984, 99. 59 Herzig, Chaco-Krieg, 73f; Klein, Historia de Bolivia, 204. 60 Gisbert/Mesa/Gisbert, Historia de Bolivia, 491. Vgl. weiter: Luis Verón. La Guerra del Chaco (1932–1935). Ciudad del Este: Editorial El Lector, 2010 (Colección »La Gran Historia del Paraguay« 10; La Guerra del Chaco (1932–1935)), 19–28; Calvo, Masamaclay, 34ff. Weitere Darstellungen zum Chaco-Krieg und zum Kriegsverlauf: Roberto Quereiazu Calvo. Historia de la Guerra del Chaco. La Paz: Libería Editorial »G.U.M.«, 2010; Gisbert/Mesa/Gisbert, Historia de Bolivia, 485ff sowie Zook, La conducción. Zum Scheitern der diplomatischen Initiativen zur Verhinderung des Konflikts, vgl. z.B.: Herzig, Chaco-Krieg, 62-67. Auch die Film-Dokumentation von Carlos D. Mesa Gisbert bietet einen guten Ein- und Überblick: ders.: Bolivia siglo XX – La Guerra del Chaco Boquerón (1932), (2016), BOL 58:59 min, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=ZV25I3IFSPE (Stand: 15.05.2021). 61 F. William Gonzalez. Historia del petróleo boliviano y su defensa en la Guerra del Chaco. La Paz: »Renovación« Ltda., 1981, 37. 62 Herzig, Chaco-Krieg, 57; Zook, La conducción, 29f. 63 Der Krieg lässt sich grob in vier Phasen einteilen, vgl. dazu die Übersicht von Herzig, Chaco-Krieg, 72.

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Abb. 3: Militärschneiderei, Chaco-Boreal (1930er Jahre). Museo Histórico Militar Héroes de la Guerra del Chaco, Santa Cruz de la Sierra.

10.000 Paraguayern verteidigt, bis die Bolivianer schließlich kapitulieren mussten.64 Diese Schlacht war eine der blutigsten des Krieges und wird bis heute glorifiziert und als heroisches Beispiel in der bolivianischen Geschichte betrachtet. Die bolivianische Armee war mit britischen (MG Vickers MK 1), dänischen (MG Madsen) sowie deutschen Waffen (Gewehr Mauser Model 98, Erma MP 35, MP 28) ausgerüstet. Das Gewehr 98 war in vielen Ländern Südamerikas die Standardwaffe der Infanteriesoldaten. Auch die paraguayischen Soldaten verwendeten es.65 Auf beiden Seiten kamen Geschütze aus der Waffenschmiede Krupp sowie anderer europäischer und nordamerikanischer Konzerne zum Einsatz. Fast alle Rüstungsgüter beider Staaten wurden importiert.66 Es wurden aber auch Panzer und Flugzeuge auf beiden Seiten eingesetzt.67 Der Krieg im Chaco war zumeist ein Belagerungs- und Stellungskrieg mit Schützengrabensystemen, in denen Unterstände mit Geschütz- und MG-Stellungen angelegt wurden. Auch auf Quebracho-Bäumen wurden sogenannte »Mangrullos«, d.h. Posten bzw. befestigte Plattformen zur Überwachung und Verteidigung

64 Klein, Historia de Bolivia, 202; Gisbert/Mesa/Gisbert, Historia de Bolivia, 493; Roberto Querejazu Calvo. Llallagua. Trono del »Rey del Estaño« Simón I. Patiño. La Paz: Libería Editorial »G.U.M.«, 2011, 176. 65 Zur Aus- und Aufrüstung der paraguayischen Armee vgl.: Vernón, La Guerra del Chaco, 35–45. 66 Herzig, Chaco-Krieg, 70. 67 Vgl. z.B.: Gisbert/Mesa/Gisbert, Historia de Bolivia, 496.

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Abb. 4: Befestigungsarbeiten im Schützengraben, Chaco-Boreal (1930). Archivo Histórico de La Paz (ALP), Sammlung »Alberto Lanza«, Trabajos de fortificación (Kennziffer Foto: ALP_AF_HIS_9002).

des Geländes, eingerichtet.68 Auf paraguyaischer Seite höhlte man die Stämme der dickbäuchigen Toborochi-Bäume aus, damit sich darin Soldaten verbergen und den Feind beobachten konnten. Die bolivianische wie paraguyaische Armee errichtete die genannten »fortínes«, bei denen es sich um mit Schützengräben, Unterständen und Aussichtsplattformen in Bäumen erweiterte und gesicherte (Block-)Hauskomplexe handelte. Wo sind die Ursprünge dieses Konflikts zu suchen? Zu politischen und auch kleineren militärischen Auseinandersetzungen um den Chaco-Boreal kam es zwischen Bolivien und Paraguay bereits in den 1920er Jahren. Die Ursprünge der Gebietsansprüche und Grenzstreitigkeiten liegen aber noch weiter zurück. Sie beginnen bereits in der Kolonialzeit und der hier verursachten territorialen Zerrissenheit des Kontinents. Die Auseinandersetzungen um viele Gebiete gingen nach Ende der Herrschaft der Spanier weiter.69 Alle Kriege, in die Bolivien involviert war und die gravierende Territorialverluste für das Land nach sich zogen, hatten ihren 68 Vgl.: José Félix Estigarribia. Los partes del conductor. Comunicados oficiales sobre la Guerra del Chaco. Asunción: Comando en Jefe de las FF.AA. de la nación, ayudantía general, sección historia imprenta 1950, siehe die Illustration zwischen den Seiten 228–229; diese Publikation enthält einige anschauliche Fotos, vgl. online unter: https://portalguarani.com/1816_jose_felix_estigarribia/21677_los_partes_del_conductor__guerra_del_chaco__general_de_ejercito_jose_felix_estigarribia__ano_1950. html (Stand: 20.05.2021). 69 Joaquin Montano. Guerra del Chaco: antecedentes, causas, desarrollo, consecuencias, online unter: https://www.lifeder.com/guerra-del-chaco/ (Stand: 06.08.2020)

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Ursprung in der Erschließung von Bodenschätzen und Rohstoffen. Im Pazifikkrieg (1879–1884) mit dem Nachbarn Chile stritt man um Guano und Salpeter. Mit Brasilien rang Bolivien im Acre-Krieg (1900–1903) um Kautschuk bzw. Gummi und schließlich im Chaco-Krieg (1932–1935) mit Paraguay um Ölressourcen.70 Alle drei Konflikte werden deshalb auch als reine Wirtschaftskriege klassifiziert, auch wenn es vorgeblich andere Gründe gab.71 In der populistischen Schrift La Fragua wird 1932 der Krieg als unausweichlich und »natürlich« charakterisiert: Das Leben ist Schmerz und Brutalität. Das Leben ist […] ein permanenter Kampf vom Augenblick des Werdens bis zum Tod […]. Kämpfen, kämpfen, rücksichtslose Metzgerei, so ist das Leben. Krieg ist dann ein normaler Zustand. Proklamiert wird er als Verbrechen. … So ist es aber nicht!72

Diese Glorifizierung und Legitimation von Krieg ähnelt unübersehbar der zwischen und in den beiden Weltkriegen: Es sind sozialdarwinistische Töne, die hier angeschlagen werden, und die an jene erinnern, die die Nationalsozialisten in Deutschland verlauten ließen. Aus geopolitischer Sicht schien Krieg für Bolivien ein geeignetes Mittel zu sein, um sich aus der von den Nachbarländern Argentinien und Brasilien praktizierten Isolationspolitik zu lösen.73 Boliviens Wirtschaft wurde Anfang der 1930er Jahre, wie auch heute noch von der Landwirtschaft dominiert. Zwei Drittel der Bevölkerung (1931: ca. 2,5 Mill.) arbeiteten in diesem Wirtschaftszweig. Trotz seines großen Agrarsektors war Bolivien in dieser Zeit auf den Import von Nahrungsmitteln angewiesen. Daneben war damals die Minenindustrie von enormer Bedeutung, 70% der gesamten Exporte hingen damit zusammen. Der Börsencrash von 1929 und die folgende Weltwirtschaftskrise bewirkten eine verheerende Schrumpfung der bolivianischen Minenindustrie, was wiederum zu einem Rückgang der Zinngewinnung und einen Preisverfall des Metalls führte.74 Die schlechte wirtschaftliche und soziale Lage des Landes erleichterte in dieser Situation den Zugriff ausländischer Konzerne auf dort vorhandene Bodenschätze, die »Hilfen« bei der Erschließung neuer Rohstoffquellen anboten.75 Der ChacoKrieg wird auch als Ölkrieg bezeichnet, da zwei damals weltweit führende Ölkonzerne mit ihrer Politik den Ausbruch des Krieges forcierten und seinen Verlauf 70 Alipio Valencia Vega. Géopolitica en Bolivia. La Paz: Librería-Editorial »Juventud«, 1992, 293. 71 Ebd., 298. 72 Ovidio Urioste. La Fragua: comprende la primera faz de la campaña del Chaco hasta la caída de Boquerón y el abandono de Arce. O.O., o.V., 1932, 384. 73 Vásquez, Región y poder, 100. Paraguay konnte während des Krieges militärisch (z.B. durch Militärberater) und diplomatisch und auch später bei den Friedensverhandlungen auf Argentinien zählen, vgl.: Herzig, Chaco-Krieg, 70 und 73ff. 74 Gisbert/Mesa/Gisbert, Historia de Bolivia, 486; vgl. auch: Calvo, Llallagua, 171. 75 Vega, Géopolitica, 297.

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mitbestimmten: Die Royal Dutch Shell (Niederlande) und die Standard Oil of New Jersey (USA) vermuteten Ölvorkommen in der Region. Bereits in den 1920er Jahren war die bolivianische Regierung unter Präsident Saavedra daran interessiert, diese zu erschließen, weil man sich dadurch höhere Steuereinnahmen und einen Industrieaufschwung für das Land erhoffte.76 Standard Oil war bereits seit 1921 in Bolivien aktiv und wurde zu einem politischen Machtfaktor im Land.77 Pragmatisch verkaufte der Konzern ein Jahr nach Beginn der Feindseligkeiten sein Benzin an die bolivianische Armee und befand sich gleichzeitig wegen der illegalen Ausbeutung von Ölquellen als auch der Steuerhinterziehung in einem Rechtsstreit mit dem bolivianischen Staat. Im Verlauf des Krieges wurde weiter illegal Öl nach Argentinien und von dort sogar nach Paraguay verkauft.78 Bereits in den 1920er Jahren befürchtete die Regierung die politische Einmischung oder gar ihre Absetzung durch andere, vom Konzern unterstütze, politische Kräfte.79 Die Royal Dutch Shell vereinnahmte wichtige politische Repräsentanten in Paraguay für ihre Interessen, gleiches tat die Standard Oil in Bolivien.80 Beide Konzerne traten in einen Konkurrenzkampf miteinander, der die nationale Politik in Bolivien wie auch in Paraguay beeinflusste und den bewaffneten Konflikt zwischen beiden Staaten zumindest forcierte.81 Spätere Prospektionen nach dem Krieg verliefen allerdings erfolglos, größere Ölvorkommen wurden nicht entdeckt. Die letzte größere Schlacht des Krieges fand nahe der Stadt Villa Montes (Departamento Tarija, 1935), einem wichtigen Standort des bolivianischen Oberkommandos und Organisations- und Operationszentrum, unweit wichtiger Ölquellen statt. Für die Bolivianer war es ein entscheidender, notwendiger Sieg, der die Besetzung wichtiger urbaner Zentren wie Santa Cruz de la Sierra und Tarija inklusiv wichtiger Ölfelder verhinderte.82 Von Anfang an stand Boliviens Kriegsgegner Paraguay organisatorisch und strategisch besser da – sowohl was die Versorgung und den Transport der Truppen angeht als auch hinsichtlich der angestrengten (Geheim-)Diplomatie. Auf bolivianischer Seite fehlte beides: Eine adäquate Logistik und Verbündete auf dem südamerikanischen Kontinent.83 Selbst in bolivianischen, nationalistischen Publikationen werden die organisatorischen Vorteile Paraguays erwähnt, wie zum Beispiel im Kriegstagebuch von Alberto Taborga: 76 Herzig, Chaco-Krieg, 84. Vgl. dazu auch: Céspedes, El dictador suicida, 130f. 77 Vega/Vega/Capra (Koord.). Bolivia, su historia, 34f; vgl. auch: Gonzalez, Historia del petróleo, 28–30. 78 Herzig, Chaco-Krieg, 85. 79 Dunkerley, Orígenes del poder militar, 216; Herzig, Chaco-Krieg, 84f. 80 Gonzalez, Historia del petróleo, 30. 81 In der Forschung wurde die »Ölthese« bzw. der »Ölimperialismus« kontrovers diskutiert bzw. ist diese auch verworfen worden, vgl.: Herzig, Chaco-Krieg, 81–89. 82 Vgl.: Calvo, Masamaclay, 348ff. 83 Gonzalez, Historia del petróleo, 39f.

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Erstklassige Straßen, strategisch gelegene Wasserbrunnen und landwirtschaftliche Gebiete, die von russischen, englischen und deutschen Mennoniten bewohnt sind und die sich in erster Linie mit der [Truppen-] Versorgung befassen.84

Bolivien verfügte nicht über die bis in den Chaco reichenden Transportmöglichkeiten wie Paraguay (Schiffstransport über den Río Paraguay, Eisenbahn).85 Außerdem hatten die bolivianischen Truppen erheblich längere Wege in den Chaco zurückzulegen, was bereits vor dem Krieg die Versorgung der Stützpunkte äußerst schwierig machte.86 Der Transport von Truppen und Material betrug beispielsweise von La Paz bis zum Fort Nanawa 2.500 km und von der paraguyaischen Hauptstadt Asunción bis dorthin lediglich 350 km.87 Im Kriegsgebiet wurden häufig einfache, provisorische Wege angelegt, auf denen Fahrzeuge in der Regenzeit im tiefen Schlamm steckenblieben. Diese Regenfälle machte auch den Soldaten in den Schützengräben zu schaffen, denen das Wasser dann im wahrsten Sinne des Wortes bis zum Hals stand, wie es in einem Zeitungsbericht aus dem Jahre 1933 beschrieben wird.88 Angesichts der Gefahr des täglichen Verdurstens eine offensichtlich absurde Situation. Die Soldaten fuhren mit dem Zug bis Villa Montes an die bolivianisch-argentinische Grenze, setzen ihren Weg von dort aus auf LKW’s fort und erreichten schließlich oft nur zu Fuß ihre Einsatzgebiete,89 da häufig Lastwagen aufgrund von Motorenproblemen liegen blieben und deren Reparatur sich verzögerte bzw. oft auch gar nicht möglich war. Dies wirkte sich ohne Frage nachteilig auf die Mobilmachung aus. So hatte in der ersten großen Schlacht gleich zu Beginn des Konflikts in Boquerón Paraguay bereits 15.000 Soldaten mobilisiert, Bolivien lediglich 2.000.90 Céspedes kritisiert, dass der ChacoBoreal in der Vorstellung der politischen Führung, daher in der Daniel Salamancas, lediglich auf Karten in Form von geografischen Daten, nur scheinbar vorhandenen Wegen und Lagunen existierte.91 In der Tat war der Präsident erst spät persönlich im Kriegsgebiet zugegen, um sich dort mit seinen Militärs zu treffen. Obwohl Bolivien, sowohl was die Masse der Soldaten als auch das vorgehaltene Kriegsgerät angeht, gegenüber dem Gegner zu Beginn des Konflikts im Vorteil war,92 war dies letzten Endes nicht kriegsentscheidend. Wie bereits erwähnt, wur84 Taborga, Boquerón, 66, Tagebucheintrag vom 21.08.1932. 85 Vgl.: Vernón, La Guerra del Chaco, 55. 86 Calvo, Llallagua, 172. 87 Gisbert/Mesa/Gisbert, Historia de Bolivia, 491. 88 O. Verf.. »Sin Novedad en el Frente«. La República (07.01.1933), o.S. 89 Dunkerley, Orígenes del poder militar, 247. 90 Gonzalez, Historia del petróleo, 39. 91 Céspedes, El dictador suicida, 133. 92 Herzig, Chaco-Krieg, 70.

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den Boliviens Streitkräfte einer Reorganisation unter General Kundt unterzogen und genossen den Ruf, eine moderne und gut organisierte Armee zu sein.93 Paraguay machte dies durch ein geeintes Oberkommando, das strategische Anfangsfehler in der Kriegsführung schnell korrigierte und mit einer effizienten Organisation und Logistik wett.94 Für Paraguay ergaben sich weitere militärische Vorteile durch eine im Vorfeld und im Krieg selbst betriebene Geheimdienstarbeit, die zudem noch durch Argentinien und Chile unterstützt wurde. Diese Länder hatten sich zu Beginn des Konflikts offiziell zu neutralen Staaten erklärt.95 Durch chilenische Spionageberichte war man auf paraguayischer Seite jedoch über bolivianische Truppenbewegungen, Transportwege, eingesetztes Personal etc. informiert.96 Im argentinischen Generalstab dechiffrierte man z.B. auch die Korrespondenz zwischen Salamanca und Kundt.97 Der paraguayische Oberbefehlshaber José Félix Estigarribia98 brachte es auf den Punkt: »Wir stehen kurz vor einem Kommunikationskrieg, in dem die Armee, die es schafft, die Kommunikation ihres Feindes zu dominieren, siegreich sein wird.«99 Bolivien versuchte noch mit dem 1934 gegründeten Geheimdienst Service Secreto Boliviano (SSB) eine adäquate Gegenspionage betreiben zu können. Darüber hinaus lieferte Argentinien seinem Nachbarn Paraguay auch Kriegsmaterial.100 Der Konflikt endete offiziell am 12. bzw. 14. Juni 1935,101 doch die Geheimver­ handlungen zwischen Bolivien und Paraguay zogen sich bis 1938 hin. Am 21. Juli desselben Jahres wurde ein offizieller Friedensvertrag unterzeichnet und die wirklich definitive Bestätigung der verschobenen Staatsgrenzen erfolgte sogar erst am 27. April 2009. Am Ende des Krieges hieß es: »[La Guerra del Chaco era un conflicto] sin vencedores ni vencidos«.102 Nach dem Krieg musste Bolivien dennoch 93 Vgl. dazu: Zook, La conducción, 53. 94 Dunkerley, Orígenes del poder militar, 227f. 95 Vgl. weiter dazu: Vernón, Guerra del Chaco, 94–95; Calvo, Masamaclay, 149ff, 298. 96 Juan Peredo Montaño. »El espionaje chileno durante la Guerra del Chaco«. Revista Militar, Nr. 306, 1998, 25–32; Calvo, Masamaclay, 153–157. 97 Luis Bustillos Rivero. »El servicio de inteligencia en el Chaco.« Revista Militar, Nr. 304, 1996, 52–55. 98 José Félix Estigarribia (1888–1940), Militär, Politiker, Präsident Paraguays (1939–1940); Ruiza/ Fernández/Tamaro. »José Felix Estigarribia«, dies.. Biografías y Vidas. La enciclopedia biográfica en línea. Barcelona, 2004, vgl. online unter: https://www.biografiasyvidas.com/biografia/e/estigarribia. htm (Stand: 15.05.2021); vgl. auch: Roberto Quereiazu Calvo, Masamaclay, 64ff. 99 José Félix Estigarribia. The Epic of the Chaco. Marshal Estigarribia’s memoirs of the Chaco War 1932–35. Austin, 1950, 5, zitiert nach: Dunkerley, Orígenes del poder militar, 228. 100 Calvo, Masamaclay, 151. 101 Herzig, Chaco-Krieg, 72; Valeria Perasso. »Recuerdan el fin de la Guerra del Chaco«, online unter: https://www.bbc.com/mundo/america_latina/2009/06/090612_0048_bolivia_paraguay_acto_rb (BBC Mundo) (Stand: 15.05.2021). 102 Dt.: »[Der Chaco-Krieg war ein Konflikt] ohne Sieger und Besiegte.«; Gonzalez, Historia del petróleo, 39.

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große Gebiete des Chaco-Boreal an Paraguay abtreten, die ölreichen Gebiete im heutigen Departamento Santa Cruz blieben aber in bolivianischen Besitz. Der Krieg war der Katalysator [zur Lösung] der nationalen, ungelösten Fragen eines überwiegend indigenen Landes, das von einer Minderheit regiert wurde, die sie [die indigene Bevölkerungsmehrheit] ausschloss und ihr ihre Grundrechte verwehrte.103

Bolivien ging völlig verschuldet aus diesem Konflikt hervor, der eine Inflation im Land hinterließ. Wegen des Ausfalls der landwirtschaftlichen Produktion mussten von 1936–1937 sogar Grundnahrungsmittel importiert werden.104 Auch Paraguay hatte dieser Konflikt in den wirtschaftlichen und sozialen Ruin geführt. Die heimkehrenden Ex-Soldaten litten zu Tausenden an den Folgen des Krieges. Nicht nur physische Schäden infolge von Verletzungen, Verstümmelungen und Mangelernährung, sondern auch psychische Erkrankungen mussten behandelt werden.105 Viele Soldaten beider Seiten gerieten in Gefangenschaft und längst kamen nicht alle »prisioneros de guerra« (Kriegsgefangene) in den Kriegsgefangenenlagern an. Viele starben unterwegs aufgrund von Durst, Misshandlungen und Gleichgültigkeit der Bewacher und Verantwortlichen.106 Den gefangenen paraguayischen Soldaten erging es in Bolivien nicht viel anders.107 Nach dem Krieg bauten Gefangene die berühmte »La carretera de la muerte« (Straße des Todes), die von La Paz nach Coroico (Region Yungas, Amazonas) führt und heute noch in Bolivien eine touristische Attraktion ist. Der Krieg endete mit der Repatriierung ab April 1936 für die meisten Soldaten nicht. Aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen fiel es vielen also schwer, sich in der (bolivianischen) Gesellschaft zurechtzufinden bzw. sich wieder in sie zu integrieren.108 Ca. 20.000 bolivianische Kriegsgefangene sollen in Paraguay und ca. 2.000 Paraguayer in Bolivien interniert gewesen sein.109 In den folgenden Jahrzehnten zeigten sich die Folgen des Chaco-Konflikts, es kam zu gravierenden innenpolitischen Umwälzungen und Veränderungen in Bolivien. 103 Vásquez, Región y poder, 102. 104 Herzig, Chaco-Krieg, 73. 105 Vgl. dazu: Ricardo M. Setaro. Imágenes secretas de la Guerra del Chaco (documentos). Buenos Aires: Editorial Fegrabo, 1935, 14f und 17f. 106 Eugenia Bridikhina. »Prisioneros de la Guerra del Chaco«. La Razón. Bolivia en transición: La Guerra del Chaco. La Paz, 1999, 11; Setaro, Imágenes secretas, 31ff; Walter L. Bernecker, Florian B. Meister (Hgg.). Der Kampf um die »grüne Hölle«. Quellen und Materialien zum Chaco-Krieg (1932–1935). Zürich: Cronos, 1993, 236f. 107 Ebd., 12. 108 Bridikhina, »Prisioneros«, 12. 109 Sowohl die Angaben der Kriegsgefangenen als auch die der Rückkehrer schwanken erheblich. Aus Paraguay sollen ca. 17.037 und aus Bolivien 2.498 Gefangene zurückgekehrt sein, vgl. dazu: Calvo, Masamaclay, 405 und 413.

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Abb. 5: Bolivianische Soldaten, Chaco-Boreal (1933). Archivo Histórico de La Paz (ALP), Sammlung »Luís Fernando Guachalla« (Kennziffer Foto: ALP_AF_HIS_2450).

Präsident David Toro Ruilova, General und ebenfalls ein führender Militär im Krieg, verstaatlichte 1936 die Erdölindustrie und hob damit den Konzern YPFB110 aus der Taufe. Es war die erste Verstaatlichung eines Industriezweigs in Südamerika. Im Jahr 1937 wurden auch die Liegenschaften und Einrichtungen von Standard Oil nach dem Putsch von Germán Busch, der neuer Staatspräsident wurde, verstaatlicht.111 Es folgten weitere soziale und politische Reformen, sodass der klassisch-liberale Staat einem mit einer sozialistischen Programmatik weichen musste, dessen Politik in alle Bereiche des zivilen Lebens reichte.112 Dieser »socialismo militar« (Militärsozialismus) (1936–1939)113 bewirkte Sozial- und Arbeitsrechtsreformen, die in der neuen, 1938 von Busch auf den Weg gebrachten Verfassung, festgeschrieben wurden. Der Chaco-Krieg war letztlich »das Ereignis, das schließlich die schwerwiegenden

110 Span.: Yacimientos Petrolíferos Fiscales de Bolivia (Staatliche Erdölgesellschaft Boliviens). Der Konzern wurde 1996 privatisiert und 2006 durch Präsident Juan Evo Morales Ayma wiederbegründet. 111 Gisbert/Mesa/Gisbert, Historia de Bolivia, 504; Klein, Historia de Bolivia, 214. 112 Klein, Historia de Bolivia, 217; Gisbert/Mesa/Gisbert, Historia de Bolivia, 506ff. 113 Vgl. dazu u.a.: http://www.carpetashistoria.fahce.unlp.edu.ar/carpeta-2/notas/el-201csocialismomilitar201d-en-bolivia (Stand: 15.05.2021).

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Mängel eines ausgrenzenden und abwesenden Staates enthüllt hat«. Aber er war es auch, währenddessen sich die Nation wiederfand und ihre Schwächen erkannte […]. Mit der Grausamkeit der Niederlage entstanden neue Vorstellungen über die Zweckmäßigkeit [bzw. Notwendigkeit] des Aufbaus eines neuen Staates. 114

Der Chaco-Krieg brachte eine Testimonial-Literatur hervor, die das Geschehene publik machte und zur Reflexion der politischen Zustände in Bolivien beitrug. Viele ihrer Autoren, wie Augusto Céspedes oder Jesús Lara waren zugleich politische Aktivisten, die das Land demokratisieren und sozial gerecht umgestalten wollten.

La literatura combativia115 – Autoren als Kombattanten El infierno verde [...] Llorarás cuando mañana y nadie de mi se acuerde en el infierno verde solo Dios se acordárá.116

In dieser »Cueca« wird die Verzweiflung eines Soldaten thematisiert, der im Chaco den Tod finden wird. Der Text stammte von Octavio Campero Echazú, einem bekannten Dichter aus Tarija, der hier angesichts der Rückkehr vieler Soldaten seine eigenen Eindrücke dieses Krieges zum Ausdruck bringt.117 Vertont wurde er erst mehr als 50 Jahre später, und es entstand ein »Klassiker« der bolivianischen Musik, der das Thema Chaco-Krieg wieder einem breiten Publikum nahebrachte. Heute wird der Chaco-Krieg auch als »vergessener Krieg« bezeichnet, an dessen

114 Vega/Vega/Capra (Koord.), Bolivia, su historia, 17. 115 Dt.: Kombattantenliteratur. 116 Dt.: Die grüne Hölle [...] Du wirst morgen weinen / und niemand wird sich / an mich in der / grünen / Hölle erinnern / nur Gott / wird sich erinnern«. 117 Jorge Siles Salina. »Campero Echazu, el poeta de Tarija.« Anales de Literatura Hispanoamericana (ALH), Nr. 1, (1972), 386; online unter: https://core.ac.uk/download/pdf/38825581.pdf (Stand: 20.05.2021).

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Protagonisten man sich dann erinnert, wenn man sie im öffentlichen Raum eher glorifizieren, denn ihrer und ihrer grausamen Erfahrungen gedenken will. In den 1930er Jahren entstanden die unterschiedlichsten Texte, die sich mit dem Konflikt und dem ihm folgenden nationalen Trauma auseinandersetzen. Neben der Lyrik und erzählenden Literatur gibt es auch die nicht-fiktionale Literatur, wie zum Beispiel Tagebücher oder auch Briefe, die ungeschönt und kritisch von den Ereignissen des Krieges berichten. Ein bolivianischer Soldat schreibt seiner Frau folgende Zeilen nach Hause: Es wäre notwendig, dass du alles weißt, was mir hier passiert, damit du, wenn ich zurückkomme, sichergehst, dass das illusorische, romantische Kind, das von deiner Seite gewichen ist, nicht mehr dasselbe ist. Ihr und alle diejenigen in der Etappe müssen wissen, was dieser Krieg in unseren Körpern und in unseren Seelen anrichtet, damit wir bei der Rückkehr nicht als Fremde aufgenommen werden. [...] Ich sah die Silhouette eines feindlichen Soldaten, der anfing zu laufen, mit einem Gewehr in der einen Hand und einer Granate in der anderen. Er war sehr nah. Ich schloss meine Augen und drückte den Auslöser meines Maschinengewehrs, spürte, wie es sich mit seinem unheilvollen Lachen von einer halben Minute in meinen Armen schüttelte. Als ich wieder nach vorne schaute, erstickte ein Schrei des Schreckens in meinem Hals. Dort, nur wenige Schritte entfernt, lag der in seinem Todeskampf zuckende und röchelnde paraguayische Soldat. Sein rechter Arm war ausgestreckt geblieben und seine Hand, den beschuldigenden Finger auf mich zeigend..., [wies in meine Richtung]: »Du, du hast mich getötet.«118

Hier ist nicht von Heldentum und Opferbereitschaft für das Vaterland die Rede, sondern von der Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges. Der Chaco-Krieg bewirkte das Entstehen der »Generación del Chaco« (Chaco-Generation), einer Gruppe von Schriftstellern, welche die traumatischen Erfahrungen dieses Konflikts zu Selbstbetrachtung und Analyse der Ursachen und Konsequenzen des Krieges führte. In Bezug auf die erzählende Literatur wird diese als »instrumento catártico« (Kathartisches Instrument)119 charakterisiert, das die Autoren nutzen, um die politischen und sozialen Folgen für die bolivianische Gesellschaft zu reflektieren.120 Es handelte sich bei den Autoren in erster Linie um Weiße oder Mestizen aus der Mittelschicht, die selbst Soldaten gewesen waren. Sie verarbeiteten auch den Verlust 118 Calvo, Masamaclay, 119. 119 Vgl:. Jose Ortega. Temas sobre la moderna narrativa Boliviana. Cochabamba: Editorial »Amigos del Libro«, 1973, 13. 120 Ebd., 12.

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der eigenen Jugend und Unschuld im Stil der Romane von Henri Barbusse oder Erich Maria Remarque.121 Der Chaco-Krieg bewirkte das Entstehen und die Kultivierung einer umfangreichen Romanliteratur: Augusto Cespedes, Augusto Guzmán mit Prisionero de guerra; la novela de un soldado del Chaco (1936), Jesús Lara mit Repete: diario de un hombre que fue a la Guerra del Chaco (1937), Roberto Leitón mit La punta de los 4 degollados (1946), Rafael Ulises Peláez mit Cuando el viento agita las banderas (1950) oder auch Raúl Leyton Zamora mit Indio bruto y Chakani (1983) sind hier zu erwähnen. Sie zählen zu dieser Kombattanten-Generation, die in realistischer Darstellungsweise ungeschönt die Kriegsumstände und -ereignisse sowie die Lebensumstände der (indigenen) Soldaten beschreibt. Es handelt sich um Zeugnis- oder Testimonial-Literatur, die einen autobiografischen Charakter aufweist. Denn die Autoren »wollten ein wahres Zeugnis des in der unwirtlichen Ebene des Chaco Erlebten ablegen, die sich in eine Szenerie des Todes und der Verzweiflung verwandelt hatte«.122 Für sie war der Krieg eine desillusionierende Erfahrung und sie fühlten sich von dem traditionellen politischen System ihres Landes verraten bzw. von ihm marginalisiert. Deshalb blickt ihre Literatur kritisch, verbittert bis sarkastisch auf die Inkompetenz der Militärführung und die damals verbreitete Korruption innerhalb der Armee zurück.123 Natürlich gibt es ebenso wichtige Autoren, die den Chaco-Konflikt zum Thema ihrer Romane machten und die Nicht-Kombattanten waren, so z.B. Oscar Cerruto mit Aluvión de fuego (1935), dem ersten Roman des Chaco-Kriegs;124 Luis Toro Ramallos Chaco (1936), Eduardo Anze Matienzos El martirio de un civilizado. Episodios de la Guerra del Chaco (1936), Porfirio Díaz Madicaos La bestia emocional (1955) oder Adolfo Costa Du Rels’ La laguna H-3 (1967). Die Autoren der »Generación del Chaco« reihen sich damit in die Tradition der »Generation von 1880« ein. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts hatten Schriftsteller wie Armando Chirveches, Alcides Arguedas oder Jaime Mendoza Romane geschrieben, die die Korruption in der Politik, die Herrschaft der alten Eliten wie Unternehmer und Großgrundbesitzer und die Unterdrückung der Minenarbeiter und Bauern durch sie anprangerte.125 Literarische Einflüsse, die in die Literatur des Chaco-Kriegs Eingang fanden, waren unter anderem der französische Naturalismus (Émile Zola), die europäisch-pazifistische Literatur (Erich Maria Remarque, Henri Barbusse), der russische Realismus (Leo Tolstoi, Maxim Gorki), der nordamerikanische Sozialrealismus (William Faulkner, John Steinbeck, 121 Dunkerley, Orígenes del poder militar, 259. 122 Jorge Siles Salinas. La Literatura boliviana de la Guerra del Chaco 1932–1968. La Paz: Plural editores, 2013; Rolando Diez de Medina (Hg.), 2014 (Digitalversion), 5; online unter: https://www. andesacd.org/wp-content/uploads/2014/02/la-Literatura-boliviana-de-la-Guerra-del-Chaco.pdf Stand: 22.05.2021). 123 Klein, Historia de Bolivia, 206. 124 Ortega, Temas, 15ff. 125 Klein, Historia de Bolivia, 206f.

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Erskine Cladwell), oder auch die mexikanische Revolutionsliteratur oder auch die soziale, andine Erzählliteratur.126 Der Realismus der Chaco-Literatur hinterließ bei der Jugend und vielen Intellektuellen Boliviens in den 1930er Jahren und danach einen prägenden Eindruck. Obwohl diese Nachkriegsliteratur den Konflikt und seine Realitäten reflektierte, bot sie aber dennoch keine Ansätze, um die Ursachen der nationalen Katastrophe zu beheben.127 Eine vor ein paar Jahren in Asunción erschienene Anthologie vereint bekannte bolivianische wie paraguyaische Autoren, die den Krieg selbst erlebt hatten.128 Sie umfasst Kurzgeschichten von Augusto Céspedes (El pozo) sowie von Augusto Roa Bastos (La excavación), dem wichtigsten Autor der paraguyaischen Literatur. Dennoch fehlt bis heute eine weitergehende (länderübergreifende) und aktuelle literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Erzählliteratur des ChacoKriegs. Dies zeigt sich anhand neuerer literaturgeschichtlicher Darstellungen, die das Thema nur am Rande behandeln.129 Dies hängt zum einen damit zusammen, dass, wie bereits zu Beginn dieses Beitrags erwähnt wurde, nur partielle Ansätze einer kritischen Erinnerungskultur des Chaco-Kriegs vorhanden sind.

Augusto Cépedes: Sangre de mestizos (1935)130 Augusto Céspedes (1904–1997) gehörte wie Augusto Guzmán oder Jesús Lara zu den Autoren der »Generación combativa« (Kämpfergeneration). Er ist bis heute eine angesehene Persönlichkeit Boliviens und zählt zu den wichtigsten Schriftstellern des Landes im 20. Jh..131 Selbst ein ausgewiesener Anti-Militarist, wie die meisten Intellektuellen Boliviens,132 war er dennoch im Chaco-Krieg, zunächst als Korrespondent und schließlich als Soldat. Nach dem Krieg arbeitete der ausgebildete Jurist als Journalist weiter, wirkte aber auch als Diplomat und Politiker.133 126 Ortega, Temas, 12. 127 Klein, Historia de Bolivia, 206f. 128 Carlos Coello Villa, Helio Vera, Carlos Villagra Marsal. Seis cuentos bolivianos y seis paraguayos de la guerra del Chaco. Asunción: Servilibro, 2010 (Biblioteca del bicentenario 5). 129 Diego Mattos Vazualdo. »De aluviones, pozos, mutilaciónes y parques: la literatura Boliviana de la Guerra del Chaco y la poética de la ausencia«. Revista Iberoamericana, Nr. 254 (2016), 157. 130 Dt.: Mestizenblut. 131 Mariano Baptista Gumucio. Evocación de Augusto Céspedes. La Paz: Plural editores, 2019, 11. 132 Ebd., 91. 133 Ruiza/Fernández/Tamaro. »Biografia de Augusto Céspedes.«, dies. Biografías y Vidas. La enciclopedia biográfica en línea. Barcelona, 2004, vgl. online unter: https://www.biografiasyvidas.com/ biografia/c/cespedes_augusto.htm (Stand: 20.05.2021); vgl. auch: Facundo Di Vincenzo. »Bolivia. Augusto Céspedes y sus libros con ›Sangre de mestizos‹«. Resumen Latinoamericano, 27.05.2020, vgl. online unter: https://www.resumenlatinoamericano.org/2020/05/27/bolivia-augusto-cespedesy-sus-libros-con-sangre-de-mestizos/ (Stand: 20.05.2021).

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Mit seinen beiden Werken Sangre de mestizos (1935) und Metal del diablo (1946) gilt er als Instanz innerhalb der bolivianischen Literatur. Zudem verfasste er richtungsweisende politische Schriften und Biografien zu Busch, Gualberto Villarroel López und Salamanca.134 Germán Busch und Augusto Céspedes verband seit den Kriegstagen eine enge Freundschaft.135 Im Jahre 1957 erhielt Céspedes in Bolivien den Nationalpreis für Kultur.136 Bei Sangre de mestizos handelt es sich um eine Sammlung von 10 Erzählungen, die verschiedene Aspekte und Facetten des Chaco-Kriegs zum Thema haben. Der Titel Sangre de mestizos verweist auf den ersten Blick auf Blutvergießen, Krieg und Tod. Er deutet auch an, wessen Blut vor allem vergossen worden ist bzw. wer vor allem in diesen Krieg involviert war. Neben der indigenen Bevölkerung waren das die Mestizen, also Menschen mit indigenen und europäischen Vorfahren, der bis heute zweitgrößten Bevölkerungsgruppierung des Landes. Die Erzählsammlung erschien nicht in Bolivien, sondern zunächst in Santiago de Chile. Hier spielten persönliche Erwägungen eine Rolle, da Céspedes politisch tätig war, er vielleicht Bedenken hatte, sein Ansehen und seine Integrität könnten Schaden nehmen. Der Entschluss, im Ausland zu veröffentlichen, könnte auch angesichts einer möglichen Zensur im eigenen Land gefasst worden sein.137 In seinem später erschienenen und biografisch eingefärbten Roman Trópico enamorado (1968) spielt der ChacoKrieg ebenfalls eine Rolle, da die namenlose Hauptfigur Ex-Offizier, Diplomat und politischer Aktivist ist.138 Eine damalige Besprechung feiert die Erzählsammlung euphorisch: Einige Bücher müssen gelesen werden. Sangre de mestizos muss man lesen, es treibt unser Interesse an und beherrscht es. Seine Kraft des Stils […] erinnert […] an die Macht Maupassants, dem unvergleichbaren Meister, [und an] die Kraft von Erich Maria Remarque in Im Westen nichts Neues [...]. Ab jetzt müssen wir Augusto Céspedes zu den ersten Schriftstellern des Kontinents zählen.139

Die erste Erzählung mit dem Titel El pozo (Der Brunnen) ist in der Form eines Tagesbuchs geschrieben. Sie ist nicht nur innerhalb der bolivianischen Literatur 134 Gumucio, Evocación, 113. 135 Robert Brockmann. Dos disparos al amanecer. Vida y muerte de Germán Busch. La Paz: Plural editores, 2017, 111f; Céspedes verfasste nach dem frühen Tod des Freundes ein Gebet anlässlich dessen Beerdigung, in dem er Busch zu einer sakralen Figur erhebt, vgl.: Ders. Germán Busch, La Calle (1939). Céspedes, Retratos, 178f. 136 Gumucio, Evocación, 281. 137 Ebd., 19; Salinas, La Literatura boliviana, 5. 138 Ortega, Temas, 65f. 139 Gumucio, Evocación, 115f.

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von Bedeutung, sondern in der ganz Lateinamerikas.140 Bemerkenswerterweise überraschte dieser Erfolg in der Rückschau den Autor selbst. Die Erzählung beruhe nicht auf direkten eigenen Erlebnissen, sondern sei lediglich ein Ergebnis eigener Imaginationen gewesen, die ganze Welt nehme aber das Gegenteil an.141 Seine späten Crónicas heroicas de una guerra estúpida (1975) weisen ebenfalls die Form eines Tagebuchs auf. Die am meisten gefeierte Erzählung der Sammlung El pozo vermittelt die absolute Sinnlosigkeit und Absurdität des Krieges. Es ist ein Krieg, in dem Tausende Menschen mobilisiert, in eine todbringende Umgebung gebracht werden und die nicht wissen, weshalb sie dort sterben müssen. Natürlich ist es auch Céspedes Ziel, den Krieg als solchen und ganz allgemein zu verurteilen. Im Gegensatz zum Werktitel Sangre de mestizos ist der Titel El pozo unspektakulär und verschleiert die dramatischen Ereignisse, welche die Erzählung thematisiert. Der Leser verfolgt anhand von Tagebucheinträgen von Januar bis Dezember 1933 die Geschehnisse in einem unwirtlichen Landstrich des Chaco-Boreal.142 Der Text gliedert sich in drei Abschnitte, die jeweils Hauptmotive in den Blick nehmen: Umgebung/Wassermangel (Teil I), Brunnenbau (Teil II) und Angriff Paraguayer/ Hospital (Teil III). Der Erzählung ist der Report der Hauptfigur und des IchErzählers Unteroffizier Miguel Navajas vorangestellt, welcher an den schweren Folgen einer Schussverletzung leidet und rückblickend vom Krankenhausbett aus berichtet. Gleich zu Beginn erfährt der Leser, wie es um die Soldaten in dieser unwirtlichen Umgebung bestellt ist: Es regnet wenig bis gar nicht in dieser heißen, bleiernen Zone, in der (Tier-)Skelette unbestattet umherliegen. Hier »leben« die Soldaten mit »mehr Durst als Hass«143 zwischen Sträuchern, Gestrüpp und Bäumen. Die Landschaft des Chaco beschreibt Céspedes sehr knapp, aber bildhaft, findet hier eine metaphorische Sprache für eine Gegend, die heiß, trocken, staubig und vor Hitze flirrend dem Protagonisten und seinen Soldaten zu schaffen macht. Die Hitze fühlt sich auf dem Körper wie permanente Schläge an, die nur ein Luftzug lindern könnte:

140 Ruiza/Fernández/Tamaro, »Biografia de A. Céspedes«, dies.. Biografías y Vidas. La enciclopedia biográfica en línea. Barcelona, 2004, vgl. online unter: https://www.biografiasyvidas.com/biografia/c/ cespedes_augusto.htm (Stand: 20.05.2021); s. auch: o. Verf.. »Augusto Céspedes, el gran narrador«. El Deber, 16.02.2019, online unter: https://eldeber.com.bo/brujula/augusto-cespedes-el-grannarrador_33215 (Stand: 20.05.2021). 141 Gumucio, Evocación, 232. 142 Augusto Céspedes. Sangre de mestizos. La Paz: Libería Editorial »G.U.M.«, 2008, 15–31. 143 Céspedes, Sangre de mestizos, 16.

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Abb. 6: Renate Hollweg. Lazarett/Soldat mit Tuberkulose (2020) Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.

Und wieder die Hitze. Und wieder dieses unsichtbare Flackern, trocken, das unsere Körper schlägt. Mir würde es gefallen, irgendwo ein Fenster zu öffnen, um Luft hereinzulassen.144

Ein anderer repräsentativer und bereits genannter Autor der Chaco-Literatur, Augusto Guzmán, bemerkt, dass Céspedes erfolgreich das Erzähl-Genre kultiviert habe. Sein Schreiben zeichne sich im Stil durch Plastizität, Objektivität, Humor sowie Dramatik aus.145 Obwohl Guzmán sich hier auf spätere Werke (vor allem den Roman Metal del diablo) bezieht, trifft diese Aussage auch auf Céspedes’ erstes Werk, Sangre de mestizos, zu. Die vorliegende sowie die anderen im Band erhaltenen Erzählungen bestätigen diese Aussage. Der Humor nimmt in Céspedes’ Beschreibungen eher sarkastische Formen an, um die gegebenen, absurden Verhältnisse abzubilden. Ein wichtiges Motiv des Textes ist somit der Mangel an Wasser. Die Soldaten suchen es vergebens, denn die Brunnen, die sie graben, werden kein Wasser füh-

144 Ebd., 17f, vgl. dazu: Salinas, La Literatura boliviana, 20ff. 145 Augusto Guzmán. »Daniel Salamanca y Simón Patiño«. Mariano Baptista Gumucio. Mis hazañas son mis libros. Vida y obra de Augusto Guzmán. La Paz: Plural editores 2000, 99.

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ren. Es ist also nicht nur ein Kampf, den man gegen den Feind bestehen muss, sondern auch gegen die Natur. Die Wasserration, die ein LKW zu Anfang der Erzählung heranschafft, reicht nicht aus. Es ist ein Vormarsch geplant und ein junger Soldat fragt: Und, wird es Wasser geben? Weniger als hier. Weniger als hier? Werden wir von Luft wie die Carahuatas146 leben?147

In den extremsten Situationen standen den bolivianischen Einheiten tatsächlich größere Coca-Vorräte148 als Trinkwasser zur Verfügung. Die Wasserknappheit und die Gefahr des Verdurstens war allgegenwärtig, ebenso wie der Hunger.149 In dem bereits zitierten Kriegstagebuch von Taborga heißt es: Der […] Brunnen von Boquerón ist von den Pilas verschlossen worden, dieser Ort wird von […] Maschinengewehren beherrscht. Im Schlamm liegen mehrere Leichen: Bolivianer und Paraguayer, es sind Soldaten, die verrückt vor Durst auf der Suche nach ein paar Tropfen Wasser bis hierher kamen. […] Die Dehydrierung wird zunehmen und viele Männer zugrunde richten. Der Durst wird der Verbündete des Hungers werden. 150

In Céspedes’ Erzählung destillieren die Soldaten etwas Wasser in zwei Benzinkanistern, um überhaupt etwas trinken und kochen zu können, aber es deckt den Bedarf natürlich ebenso wenig.151 In Berichten ist die Rede davon, dass Soldaten selbst Kakteen aufschnitten, um an den zähflüssigen Kaktussaft zu gelangen, mit dem man den Mund benetzte, ohne den Durst tatsächlich zu stillen. In schwierigen Situationen wurde selbst das LKW-Kühlwasser für den Mate-Tee verwendet. Es wurden auch extreme Fälle berichtet, in denen Soldaten ihren eigenen Urin oder sogar das eigene Blut tranken.152 Ein Glücksfall waren dann gefundene Yby’a-Wur-

146 Dt.: Strauchpflanze mit Dornen. 147 Céspedes, Sangre de mestizos, 16. 148 Im Andenhochland (Altiplano) und auch in anderen Teilen Boliviens werden bis heute traditionell die Blätter des Coca-Strauchs gekaut, die eine vitalisierende und auch schmerzstillende Wirkung haben. 149 Dunkerley, Orígenes del poder militar, 248; Calvo, Masamaclay, 114. 150 Taborga, Boquerón, 105, Tagebucheintrag vom 22.09.1932. 151 Céspedes, Sangre de mestizos, 17. 152 Ovidio Urioste. La Encrucijada. Cochabamba, 1942, 97, zitiert nach: Dunkerley, Orígenes del poder militar, 248.

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zeln, da diese bis zu 5 Liter sauberes Wasser enthalten können.153 Die Gedanken des Protagonisten drehen sich somit oft um das wertvolle, lebenswichtige Nass, das man nicht hat. Stattdessen gibt es Insekten en masse: Manchmal entscheide ich mich dafür, eine Handvoll Wasser zu verschwenden, sie mir in den Nacken schütten, und einige Bienen, von denen ich nicht weiß, wovon sie leben, kommen auf mich zu und verfangen sich in meinen Haaren.154

Die lebensfeindliche Umgebung des Chaco-Boreal machte den Soldaten das tägliche (Über-)Leben zur Hölle, es gab keinen Schutz vor den extremen Klimaschwankungen in Zelten oder improvisierten Unterkünften. Die brennende Hitze tagsüber war unerträglich, nachts machte die klirrende Kälte den Soldaten zu schaffen.155 Die Fauna des Chaco stellte ebenfalls eine Bedrohung dar, waren es nun giftige Tiere wie z.B. Schlangen oder große Insekten. Taborga beschreibt dies so: DIE GRÜNE HÖLLE IST GRAUENHAFT! Würmer und Parasiten […] [aus dem] Urwald fallen überall ein. Augenblicklich legen sie ihre Eier in die Wunden. Winzige Mücken dringen in die Augenlider ein und infizieren sie. Schweiß tränkt die Augen, da die Temperatur nicht unter 42 Grad im Schatten fällt; im Gegensatz dazu peitschen die Surazos156 mit ihren eisigen Winden die Natur des Chaco. Malaria dezimiert die kräftigsten Körper, die Avitaminose fordert ungestraft ihre Opfer. Bei regnerischem Wetter verschließen die [entstehenden] Sümpfe Wege und Pfade; in der Herbstzeit verschwindet das Wasser. Der Chaco ist die offene See der Leiden.157

Die Soldaten leben eine karge Routine voller Langeweile, ohne tiefgreifende Gespräche oder Gedanken starren sie vor sich hin: Wir leben ein dürftiges Leben ohne Worte, ohne Gedanken; Stunden um Stunden, in den farblosen Himmel schauend, dem wiegenden Flug der

153 Cándido A. Vasconsellos. »El tormento de la sed«. Boletín Informativo, o.J., 13 (der zitierte Textauszug ist Vasconsellos Buch entnommen, ders.. Guerra Paraguay – Bolivia, 15 junio 1932 – 12 junio 1935: mis memorias de la sanidad en campaña. Asunción: La Colmena S.A., [1935?]. Der Autor war Generaldirektor des Sanitätsdienstes der bolivianischen Armee. 154 Céspedes, Sangre de mestizos, 17. 155 Dunkerley, Orígenes del poder militar, 249. 156 Span. (chilen.): »Surazo«, ein starker, eisiger, häufig schneebegleiteter Südwind auf dem südamerikanischen Kontinent bzw. ein südamerikanisches Wetterphänomen. 157 Taborga, Boquerón, 115, Tagebucheintrag vom 27.09.1932.

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Geier folgend, die in meinen Augen wie dekorative Vögel auf einer endlosen Tapete erscheinen.158

Aus dieser Einöde und dem Krieg kann man nur in seinen Gedanken flüchten. In schneller Abfolge, daher kurzen Tagebucheinträgen, wird beschrieben, wie die Soldaten schließlich weiter in Richtung Feind verlegt werden (6.–26. Februar). Die dort vorhandenen Lagunen sind ausgetrocknet und das Wasser muss weiterhin und über lange Wege transportiert werden, was sich als sehr schwierig bis unmöglich herausstellt. Als der Wasserversorger mit seinem LKW schließlich eintrifft, entsteht ein gewalttätiger Tumult unter den Soldaten, in den der Protagonist gerät und den er beenden muss. Die Soldaten streiten sich verzweifelt um eine kleine Ration Wasser: Diesen Morgen kam der Wasserversorger und um das Fass herum entstand ein Tumult von Händen, Kannen und Trinkflaschen, die zusammenstießen; es gab eine Schlägerei, die mein Eingreifen erforderlich machte.159

In seiner bereits erwähnten historischen Darstellung El dictador suicida bemerkt Augusto Céspedes zur Absenz des Wassers: »Es ist ein Wasserkrieg.« Ein Transportweg war bis zu 80 Kilometer lang, für ihn benötigte man 12–20 Stunden mit dem LKW, und häufig musste man den Fahrzeugen den Weg zu ihren Zielen bahnen.160 In der in Sangre de mestizos enthaltenen Erzählung Humo de petroleo wird von einem Fahrer namens Pampino und dessen traurigem Schicksal berichtet. Der Protagonist und seine Soldaten in El pozo sehen sich vor die unmögliche Aufgabe gestellt, um jeden Preis Wasser zu finden. In den Einträgen vom 2. März bis zum 29. Juli wird das unmenschliche wie am Ende sinnlose Unterfangen des Brunnenbaus beschrieben. Die Soldaten – und am Ende der Protagonist selbst – graben sich unter großen Anstrengungen und mit improvisierten Werkzeugen in die Erde, und die zu Beginn herausbeförderte feuchte Erde um das Loch herum scheint auf den baldigen Erfolg hinzudeuten, daher auf Wasser zu stoßen: Die Soldaten mit nacktem Oberkörper leuchten wie Fische. Schweißströme, die wie Schlangen mit erdfarbenen Köpfen aussehen, laufen über die Körper. Die ausgehobene Erde ist dunkel, sehr weich. Ihre optimistische Farbe erscheint wie eine frische Neuheit an den Rändern des Brunnenlochs.161

158 Céspedes, Sangre de mestizos, 18f. 159 Ebd., 20f. 160 Céspedes, El dictador suicida, 140. 161 Céspedes, Sangre de mestizos, 22.

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Abb. 7: Wassertransport und Wegarbeiten, Chaco-Boreal (1930). Archivo Histórico de La Paz (ALP), Sammlung »Alberto Lanza«, El heroico chofer (Kennziffer Foto: ALP_AF_HIS_8997).

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Leider ist dies ein Trugschluss und ein Irrweg, den der Leser in Etappen mitverfolgt. Immer weiter graben sich die Soldaten in die Tiefe, Tag für Tag, bis sie schließlich bei 50m angelangt sind. Die Feuchtigkeit im Brunnenloch verspricht immer wieder den Fund von Wasser, und je weiter man in die Tiefe dringt, desto mehr weicht die Welt außerhalb des Lochs einer klaustrophoben Dunkelheit, in der der Protagonist mit seinen Fantasien und Ängsten allein ist.162 Céspedes bildet die Realität, die Ängste und die Verzweiflung der Soldaten, sehr eindrücklich ab. Der von den Soldaten betriebene Brunnenbau war beschwerlich und häufig wenig erfolgreich, sodass das lebensnotwendige Nass über lange Strecken auf LKW transportiert werden musste, was häufig aufgrund der schlechten Wegverhältnisse ebenfalls zum Scheitern verurteilt war. Die bolivianische Armee besaß keine auf Brunnenbau spezialisierte Einheiten.163 Die Hauptfigur muss ihre Arbeit mit den ihr unterstellt Soldaten fortsetzen, trotz fehlender Erfolgsaussichten und gegen jegliche Vernunft. Dies wird in dem kurzen Gespräch mit dem Kommandanten, der auf eine Fortführung der Arbeiten besteht, deutlich: Hauptmann – sagte ich dem Kommandanten – wir haben 30 Meter erreicht und es ist unmöglich auf Wasser zu stoßen. Aber wir brauchen trotzdem Wasser, antwortete er. Lassen Sie es [uns] an einem anderen Ort probieren, Hauptmann. Nein, nein, macht mit diesem weiter. Zwei 30-Meter-Brunnen geben kein Wasser, aber einer von 40 Metern kann es. Ja, Hauptmann. Also, eine letzte Anstrengung. Unsere Leute verdursten.164

Man stirbt im Chaco nicht sofort und ausschließlich aufgrund von Durst. Die Agonie und Aufgabe des Einzelnen sind ein Prozess, der mit der täglichen Tortur im Brunnenloch einhergeht. Die Soldaten empfinden diese Arbeit als Folter, die jeden Tag mit einer Kanne Wasser aufrechterhalten wird, d.h. da die Soldaten gerade so am Leben bleiben. Im Loch hat man durch den Staub und die Arbeit noch mehr Durst als draußen, aber das Ausschachten geht weiter. Angesichts des stummen Protests der Soldaten stellt der Kommandant eine größere Cocaund Wasserration zur Verfügung. Der Autor beabsichtigt eine Personifizierung des Brunnenlochs, das immer tiefer wird. Es scheint sich nach und nach in eine schreckliche Persönlichkeit zu verwandeln, quasi ein Eigenleben zu entwickeln. Er wird als vertikale Höhle beschrieben, die die in ihm arbeitenden Soldaten ver-

162 Ebd., 23. 163 Dunkerley, Orígenes del poder militar, 248. 164 Céspedes, Sangre de mestizos, 24.

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schluckt, die in ihr fast ersticken.165 Diese Sisyphosarbeit in der dunklen Röhre provoziert Phantastereien und Albträume bei den Betroffenen. Ein Kamerad der Hauptfigur, Cosñi Herbozo, sieht sich mit einem Male von Bäumen umgeben, die Wasser spenden. Soldaten baden sich im Schatten von Weidenbäumen in einer vollen Lagune. Dann, plötzlich, ereignet sich ein Überfall der Feinde, die dieser Traumidylle mit ihren Maschinengewehren ein Ende bereiten und alles niedermähen.166 Am Ende des Tages stellt sich heraus, dass Herbozo fiebert und deshalb wird er in ein Lazarett gebracht. Der Eintrag am 16. Juli macht deutlich, dass die Soldaten am Ende ihrer Kräfte und viele krank sind. Die Arbeiten werden aber dennoch fortgesetzt, darüber hinaus soll Navajas Einheit bald an die Kampflinie verlegt werden. Der Protagonist stellt fest: »Diese Erde des Chaco hat etwas Seltsames an sich, etwas Verdammtes.«167 Augusto Céspedes verdeutlicht mit Hilfe des Motivs des scheiternden Brunnenbaus, dass die Menschen in dieser Einöde und in diesem Krieg nichts zu suchen haben. Dieses sinnlose Graben ist eine Metapher, ein Sinnbild menschlichen Scheiterns. Es steht für eine sinnlose, menschenunwürdige Existenz, wie sie der Krieg fordert und hervorbringt. Der funktionslose Brunnen ist ein geschaffenes, menschliches Faktum wie der Krieg, der ebenso alle menschliche Energie und Kraft verschlingt und dem niemand entgehen kann: »Hier oben hat der Brunnen das Aussehen von etwas Unvermeidlichem, Ewigem und Mächtigem wie der Krieg angenommen.«168 Die Erzählung schließt damit, dass der Protagonist – wie zu Beginn der Erzählung – rückblickend davon berichtet, dass das Lager mit dem Brunnen schließlich von den Paraguayern attackiert worden ist. Die Ausschachtung der Bolivianer hatte sich bis zum Feind herumgesprochen, die die Brunnenanlage am liebsten erobert hätten. Der Erzähler und seine Soldaten haben den Brunnen so verteidigt, als habe er tatsächlich Wasser geführt, sie gaben nicht einen Meter Boden preis.169 Nach dem Gefecht werden alle Toten, Bolivianer und Paraguayer, im Brunnen verscharrt. Diese Schlussepisode ist also der Kulminationspunkt des Absurden und der Sinnlosigkeit. Der Brunnen, der Wasser spenden und Leben erhalten sollte, wird zu einem Massengrab. Er ist es eigentlich schon die ganze Zeit über gewesen, nur mit lebenden Toten in seinem Innern. Die Soldaten haben hier (im Nichts) ein Nichts geschaffen, dass sie mit ihrem Leben verteidigten.170 Augusto Céspedes macht in der Erzählung El pozo, wie auch in Humo de petroleo, Las ratas oder El milagro des Erzählbandes deutlich, dass es in einem Krieg 165 Ebd., 24f. 166 Ebd., 26. 167 Ebd., 28. 168 Ebd., 29. 169 Ebd., 30. 170 Vazualdo, »De aluviones, pozos, mutilaciónes y parques«, 166.

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Abb. 8: Renate Hollweg. Soldaten und Geier (2020). Mit freundlicher Genehmigung der Künstlerin.

nur Verlierer geben kann, soweit es zumindest die Mehrheit der einfachen Soldaten betrifft. Die Erzählung La paraguaya hebt im Stil Remarques den Menschen, das Menschliche im Feind hervor, und diese Erzählung hat insbesondere pazifistischen Charakter. Aber im Gegensatz zu Remarque hatte sich Céspedes nicht zum Pazifismus bekannt, im Gegenteil, als politischer Aktivist sah er in der Gewalt ein legitimes Mittel. Alle Erzählungen dieser Sammlung handeln vom Krieg, aber sie thematisieren zugleich auch andere Probleme und Missstände der bolivianischen Zivilgesellschaft. In La coronela zum Beispiel ist es der »machismo« (Männlichkeitswahn, männlicher Chauvinismus) und die aus ihm resultierende Ungleichheit von Frauen und Männern sowie soziale Ungleichheit.

Schlussbetrachtung Der Stellenwert der Chaco-Kriegsliteratur ist nicht auf die Jahrzehnte nach dem Ende des Konflikts beschränkt geblieben.171 Auch wenn sie heute nicht mehr den Bekanntheitsgrad, geschweige denn die Popularität genießt, die ihr zustünden, 171 Vazualdo, »De aluviones, pozos, mutilaciónes y parques«, 167.

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so ist sie ohne Zweifel nach wie vor innerhalb der bolivianischen Literatur von großer Bedeutung. Es wird immer wieder betont, dass Bolivien als Nation im Chaco-Krieg geboren wurde.172 Ursachen, Verlauf und Auswirkungen des Konflikts hatten die radikale Umgestaltung der bolivianischen Gesellschaft zur Folge: Im Jahre 1952 kam es nach politisch unruhigen Jahrzehnten schließlich zu einer alles umwälzenden Revolution, in deren Verlauf man die Zinnminen verstaatlichte, die Leibeigenschaft innerhalb der indigenen Bevölkerung abschaffte und eine Agrarreform durchführte.173 Viele Aspekte des Chaco-Kriegs sind von bolivianischen Forschern eingehend beleuchtet und analysiert worden, seien es politische, geografische, soziale oder auch kulturelle Punkte.174 Aber es ist nach wie vor, nicht nur in der Literaturwissenschaft, eine Tatsache, dass das normale Leben (bzw. Überleben) der einfachen Soldaten wieder eingehender in den Blick genommen und untersucht werden müsste. Dem Chaco-Krieg sollte heute nicht mehr ein »unverhältnismäßiger Heroismus« zuteilwerden, sondern die nicht heldenhafte Realität müsste wieder eingehender betrachtet werden,175 mit dem ihr zustehenden Interesse und Respekt. Die Chaco-Kriegsliteratur bildet, wie in diesem Beitrag dargestellt wurde, nicht nur den Kriegs­alltag ab, sondern sie liefert zugleich auch ein indirektes Bild der bolivianischen Gesellschaft. Augusto Céspedes entblößt beispielhaft in seinen Sangre de mestizos-Erzählungen den falschen Heroismus des Krieges und eine despotische Politik bzw. feudale Gesellschaftsordnung. In Bolivien wie auch in Paraguay gedenkt man bis heute des Chaco-Kriegs und seiner Opfer. Angesichts der zeitlichen Distanz von über achtzig Jahren scheint es in der Gegenwart umso wichtiger zu sein, genaue Überlegungen anzustellen, wessen und welchen Ereignissen man gedenken will. Zu Anfang dieses Beitrags wurden in den vergangen Jahren erschienene Romane erwähnt, die den Chaco-Krieg zum Thema haben. Erwähnenswert ist auch die Kurzgeschichte Conversación en el desierto (2017) von Rodrigo Urquiola Flores, welche inhaltlich und stilistisch an Augusto Céspedes Erzählung El pozo anknüpft. Die Hauptfigur namens Panigua bekommt von seinem Unteroffizier Céspedes den Befehl, den Brunnen aus der berühmten Erzählvorlage zu suchen, und schließlich findet sie ihn auch.176 Dem Autor ist nicht nur an einer Hom172 Ebd., 167. 173 Vgl.: http://www.quetzal-leipzig.de/lexikon-lateinamerika/revolution-von-1952-in-bolivien-19093. html (Stand: 15.04.2021). 174 Freddy Zárate. »La Guerra del Chaco a través de Repete«. Página Siete, 18.08.2015, online unter: https://www.paginasiete.bo/revmiradas/2015/8/23/guerra-chaco-traves-repete-67041.html (Stand: 22.05.2021). 175 Ebd. 176 Alex Salinas. »Augusto Céspedes, estela y vigencia.«, online unter: https://ecdotica.com/augustocespedes-estela-y-vigencia/ (Stand: 20.05.2021); Rodrigo Urquiola Flores. Conversación en el desierto,

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Marc Hieger

mage an das berühmte Vorgängerwerk gelegen. Er baut auch eine Brücke in die literarisch-kulturelle Gegenwart Boliviens: Die Texte der Chaco-Kriegs- bzw. Anti-Kriegsliteratur sollen wieder mehr wahrgenommen und gelesen werden. Sie könnten und müssten Teil einer modernen, friedvollen Erinnerungskultur sein. Diese Literatur hat ganz klar den Menschen und seine Leiden im Blick. Auch wenn sie sich nie explizit als pazifistische Literatur definierte bzw. ihre Autoren dies herausstellten, so regt sie doch ganz erheblich dazu an, über Frieden und Völkerverständigung nachzudenken. Carlos Mesa Gisbert, Historiker und bolivianischer Ex-Präsident (2003–2005) äußert sich zur Bedeutung des Chaco-Konflikts in seiner Film-Dokumentation wie folgt: Für die Bolivianerinnen und Bolivianer von heute ist es entscheidend, sich an den Chaco-Krieg zu erinnern, um viele der wesentlichen Probleme zu verstehen, die wir gelöst haben, und andere, die noch immer ungelöst sind.177

Diese Aussage kann und sollte man auf die zeitgenössischen Romane und andere Texte der damaligen Zeit beziehen. Die Chaco-Kriegsliteratur sollte also wieder mehr in den Fokus des öffentlichen Interesses rücken, im kulturellen Leben wie auch in den Bildungsinstitutionen erneut eine größere Rolle spielen. Der Stellenwert, den Céspedes’ Erzählung El pozo nicht nur in der bolivianischen, sondern in der lateinamerikanischen Literatur hat, zeigt, dass noch weitere Werke dieser Literatur internationale Wertschätzung erfahren könnten. Die Diskussionen um weltliterarische Kunst oder Weltliteratur sind hilfreiche Debatten, um über eine Neubewertung der bolivianischen und auch paraguayischen Chaco-Kriegs- bzw. Anti-Kriegsliteratur nachzudenken.

2017, online unter: https://palabrabierta.com/conversacion-en-el-desierto/ (Stand: 20.05.2021). 177 Mesa, La Guerra del Chaco, (02.19–02.31 min).

Christoph Deupmann

Eine verlorene Generation? Literarische Befragungen eines Generationenkonzepts in Heimkehrertexten nach dem Ersten Weltkrieg*

Erzählen vom Krieg Der oft gestellten und immer wieder aktuellen Frage, w ie vom Krieg authentisch Rechenschaft abgelegt werden kann,1 ist eine andere Frage gewissermaßen vorangestellt: wer zu Bericht und Urteil über den Krieg eigentlich berechtigt sei. In Erich Maria Remarques 1956 erschienenem Roman Der schwarze Obelisk gibt eine der Figuren – Georg Kroll, Überlebender des Ersten Weltkriegs und bezeichnenderweise Mitinhaber einer Grabstein-Firma in einer norddeutschen Kleinstadt  – auf die letztere Frage eine radikale Antwort: »Wirklich über den Krieg könnten eigentlich nur die Toten urteilen; sie allein haben ihn ganz erlebt.« Der Ich-Erzähler Ludwig Bodmer, Kriegsheimkehrer aus demselben Regiment, erwidert darauf sarkastisch: »Erlebt? [...] erstorben.«2 Seine Erwiderung ist treffend, denn sie exponiert eine Aporie des Erzählens von Sterben und Tod: Weil Erzählen Überleben voraussetzt, lässt sich nur vom Sterben und Tod anderer berichten. Wenn sich Erfahrung aber erst mit der Möglichkeit des Erzählens, also der sprachlichen Verarbeitung des Erlebten konstituiert, kann der Tod auf den * Der folgende Beitrag fasst Überlegungen und Ergebnisse der Monografie zusammen: Christoph Deupmann. Die verlorene Generation. Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg in der deutschsprachigen Literatur. Heidelberg: Winter Universitätsverlag, 2019 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, 399). 1 Vgl. dazu etwa Steffen Hendel. Den Krieg erzählen. Positionen und Poetiken der Darstellung des Jugoslawienkrieges in der deutschen Literatur. Göttingen: V&R unipress, 2018 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs, 33). 2 Erich Maria Remarque. Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1989 (kiwi 1585), 420.

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Schlachtfeldern des Krieges gar nicht zur Erfahrung werden, von der mündlich oder schriftlich Auskunft gegeben werden könnte. Dass Erlebnis und Erzählung nicht zusammenkommen, kennzeichnet allerdings auch die Situation vieler Überlebender des Ersten Weltkriegs. Ihnen fiel die Verständigung mit den Daheimgebliebenen oft schwer: Allzu verschieden waren die Erlebniswelten an den Fronten und daheim. Gelingende Heimkehr aber setzt nicht zuletzt die Integration in eine gemeinsame, intakt gebliebene oder erneut gefundene Sprache voraus. Die aber war nach den traumatischen Erfahrungen des Krieges, nach propagandistischem Pathos und gründlicher Desillusionierung an den Fronten, nur schwer zu finden. »Wenn ich zurückkommen werde«, meint einer der Soldaten in Ernst Johannsens Roman Vier von der Infanterie (1929), wird es sein, als käme ich aus einer anderen Welt, wir werden uns schwer verstehen. Ihr, die Ihr nur Worte kennt für das, was wir erleben, und wir, die wir keine Worte mehr dafür finden, wir werden um ein Etwas getrennt sein voneinander: vom Erlebnis der Front nämlich.3

Am Ende des Romans stellt sich die Frage des wechselseitigen Verstehens nicht mehr, denn keiner der vier Infanteristen kommt lebend in die Heimat zurück. Aber die Figur in Johannsens Roman antizipiert bereits eine Fremdheit bei der Heimkunft, die in der Sprache nicht mehr ausgeglichen werden kann, weil das ›Fronterlebnis‹ im Überlebensfall gar nicht vermittelbar erscheint. Grammatisch richtet sich die zweite Person Plural dieser Sätze an die Angehörigen daheim, mittelbar aber auch ans Lesepublikum. Ob literarische Texte die Erlebnisse der Frontsoldaten den Daheimgebliebenen würden vermitteln können, stand beim Erscheinen der ›veristischen‹ Kriegs- bzw. Anti-Kriegs-Romane, zu denen neben Remarques Im Westen nichts Neues und Ludwig Renns Krieg (beide 1928) auch Johannsens Vier von der Infanterie gehört, gerade auf der Probe. Mit der behaupteten Unmöglichkeit der Verständigung ist aber nicht nur die einschlägige Literatur, die wahrhaftig vom Grauen der Schlachtfelder berichtet, sondern die Möglichkeit der Heimkehr selbst in Frage gestellt, die auf die Möglichkeit und Verständlichkeit des Erzählens angewiesen war. Zurückkehren und Heimkehren sind nämlich nicht dasselbe: In Joseph Roths Die Flucht ohne Ende (1927) ist ausdrücklich von Weltkriegsteilnehmern die Rede, die »zurückkehrten, aber nicht mehr heimkehrten«.4

3 Ernst Johannsen. Vier von der Infanterie. Ihre letzten Tage an der Westfront 1918. Hamburg-Bergedorf: Fackelreiter, 1929, 90. 4 Joseph Roth. »Die Flucht ohne Ende«. Werke. Bd. 4: Romane und Erzählungen 1916–1929. Ed. und mit einem Nachwort von Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1989, 389–496, hier 486.

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Heimat ist, wie Ansgar Nünning schreibt, für lange Abwesende wie für die Soldaten des Ersten Weltkriegs oft »ein nostalgisches Phantasma, das in die Vergangenheit projizierte Sehnsüchte real einzulösen verspricht«.5 Das gilt auch für die Figuren der Kriegs- und Heimkehrerromane, denen ihre Heimat weit mehr als das propagandistisch ausgeflaggte Land war, das an den Fronten jenseits der eigenen Grenzen zu verteidigen war. Ihnen war sie vor allem ein Anker der Hoffnung auf ein Jenseits des Krieges, in das man nach seinem Ende wieder würde eintreten können. Viele literarische Heimkehrerfiguren müssen freilich die Erfahrung machen, dass ihnen die Heimat wenig heimisch vorkommt. Ernst Birkholz in Remarques Der Weg zurück (1930/31) erscheint alles, was ihm bei seiner Rückkunft in die Heimatstadt vor Augen kommt, plötzlich so wenig vertraut, daß ich es beinah nicht wiedererkenne. Hat dieses nasse, schmutzige Stück Rasen vor mir denn wirklich die Jahre meiner Kindheit umfaßt, die so beschwingt und strahlend in meiner Erinnerung sind? Ist dieser leere, nüchterne Platz mit der Fabrik davor tatsächlich der stille Fleck Welt, den wir Heimat nannten und der allein in der Flut des Entsetzens draußen Hoffnung bedeutete und Rettung vor dem Ertrinken?6

Die Heimatvorstellungen während des Krieges und die desillusionierenden Erfahrungen der Heimkehr gehören daher eng zusammen. Tatsächlich hatte Remarque schon bei Vertragsabschluss mit dem Ullstein-Verlag ein »Fortsetzungswerk zu dem vorliegenden Kriegsbuch« geplant, das dann zwischen Dezember 1930 und Januar 1931 in der Vossischen Zeitung und im selben Jahr in der Buchfassung beim zu Ullstein gehörenden Propyläen-Verlag unter dem Titel Der Weg zurück erschien. Das Schicksal, dass der zweite Teil des geplanten Fortsetzungswerks7 nicht annähernd so viel gelesen wurde wie Remarques Kriegsroman, teilt er mit Ludwig Renns Roman Nachkrieg (1930), der Fortsetzung seines 1928 erschienenen Romans Krieg. Remarque bestand dagegen in einem Interview mit dem Literaturkritiker Friedrich Luft 1963 darauf, dass Krieg und Heimkehr kaum voneinander zu trennen sind. Wirkliche Relevanz für die Erfahrungen seiner Teilnehmer erhält der Krieg eigentlich erst bei der Rückkehr. 5 Ansgar Nünning. »Vorwort«. Evi Fountoulakis, Boris Previsic (ed). Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in der Literatur. Bielefeld: transkript, 2011, 7–8, hier 7. 6 Erich Maria Remarque. Der Weg zurück. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (kiwi 1365), 166. 7 Auf den Kriegsroman Im Westen nichts Neues sollte ein Roman über die »Heimkehr der Korporalschaft V«folgen. Der dritte, Anfang der 1930er Jahre entstandene Roman trug zunächst den Titel Pat und wurde 1936 zunächst auf Dänisch unter dem Titel Kammerater und 1938 auf Deutsch unter dem Titel Drei Kameraden veröffentlicht. Zur Entstehungsgeschichte vgl. Thomas F. Schneider: »›Das Leben wiedergewinnen oder zugrundegehen‹. Zur Entstehung und Publikation von Erich Maria Remarques ›Der Weg zurück‹«. Remarque, Der Weg zurück, 395–411, hier 395ff.

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Der Erfolg von Im Westen nichts Neues war auch nach meiner Ansicht vielmehr der eines Nachkriegsbuches, eines Buches, in dem diese Frage eben gestellt wird: »Was ist aus diesen Menschen geworden?« Es wurde auch zum ersten Male gefragt: »Haben nicht Menschen einen Schaden davongetragen oder irgend etwas davongetragen, daß sie im Krieg gewesen sind und alle ihre sogenannten sittlichen Grundsätze umschmeißen mußten?« Man hat ihnen gesagt: »Du darfst nicht töten.« Aber man hat ihnen auch gesagt: »Du mußt gut zielen, damit du triffst.«8

Die Rezeption setzte dagegen eigene Prioritäten zugunsten der Kriegsdarstellungen. Mit ihrer Hilfe verständigte man sich über das, was als Einheitsmoment und Initiationserlebnis einer ganzen Generation junger Kriegsteilnehmer begriffen werden konnte. 85 % aller deutschen Männer im wehrfähigen Alter zwischen 17 und 49 Jahren – etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung des Deutschen Reichs im Jahr 1914 –9 hatte im Weltkrieg gedient, im Durchschnitt fünfzehn Monate, was natürlich auch an den vielen Kriegsverletzten und -toten lag. Etwa 70% davon waren unter 35 Jahre alt, 50% der Gefallenen machten die meist direkt an den Fronten eingesetzten 19- bis 24jährigen aus. Die literarischen Heimkehrertexte,10 um die es in diesem Beitrag geht, thematisieren dagegen die höchst heterogenen, problematischen, oft vorläufigen oder sogar katastrophal scheiternden RückkehrErfahrungen der Soldaten eines geschlagenen Heeres, über die eine Verständigung offenbar weit weniger erwünscht war. Während die Teilnahme am Krieg je nach Positionierung im politischen Spektrum von ›rechts‹ bis ›links‹ als nationalheldenhafte oder zum Klassenkampf qualifizierende, am häufigsten aber vielleicht als intensive, erlebnisgesättigte Erfahrung empfunden wurde, konnten die Schwierigkeiten der Reintegration in die Nachkriegsgesellschaft leicht als Schwäche oder persönliches Versagen ausgelegt werden. Das Schweigen, das viele Heimkehrer gegenüber ihren Angehörigen über das Erlebte breiteten, bedeckte daher auch die schwierigen Bedingungen ihres Heimkommens selbst.

8 Erich Maria Remarque im Interview mit Friedrich Luft. »Das Profil: Erich Maria Remarque.« SFB Fernsehen, 03.02.1963. Zitiert nach Thomas F. Schneider. »Nachwort«. Erich Maria Remarque. Der Feind. Sämtliche Erzählungen zum ersten Weltkrieg. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (kiwi 1364), 105–127, hier 116. 9 Vgl. Richard Bessel. »Demobilmachung«. Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (ed.). Enzyklopädie Erster Weltkrieg. Paderborn: Schöningh, 2009, 427–430, hier 428. 10 Als ›Heimkehrertexte‹ werden hier solche Erzähltexte, Dramen und Gedichte verstanden, in denen die Heimkehr aus dem Krieg als Thema oder tragendes Narrativ ausgemacht werden kann.

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Schweigen vom und über den Krieg Vor den Lippen vieler literarischer Heimkehrerfiguren liegt daher das Schweigen wie eine »unsichtbare Hand«.11 Dieses Schweigen gegenüber den Angehörigen und Daheimgebliebenen hat seinen Grund nicht zuletzt darin, dass an der Front und in der Heimat unterschiedliche »Sagbarkeitsregeln« galten.12 Daheim und an der Front sprach und schrieb man auf unterschiedliche Weise über den Krieg: In der ›Heimatliteratur‹, die weit hinter den Fronten verfasst wurde (und daher in den mitgeführten, durch Spenden finanzierten Feldbibliotheken bei den Frontsoldaten unbeliebt war), herrschte das Bild des heroischen Kriegers vor, während es in den auf den Schlachtfeldern verfassten Gedichten und Erzählungen, die oft in Frontzeitungen veröffentlicht wurden, kaum vorkam. Die Gründe für diese erschwerte Verständigung hat der Soziologe Alfred Schütz in einem 1945 erschienenen Aufsatz – angesichts zahlreicher Heimkehrer aus dem folgenden Weltkrieg – analysiert. Schütz definiert die Heimat nach dem Muster des mathematischen Koordinatensystems als ›Origo‹, also den sozialen Ursprungs- und Ausgangspunkt jedes Menschen, von dem aus sich alle seine weiteren gesellschaftlichen Beziehungen entwickeln. Im Krieg jedoch entwickelt sich das »Relevanzsystem«13 der Kriegsteilnehmer und der Daheimgebliebenen asymmetrisch. Daher decken sich die Normen des sozialen Miteinanders daheim keineswegs mehr mit dem, was die Heimkehrer an den Fronten des Krieges gelernt und erfahren hatten. Diese Abweichung aber beeinträchtigte die Chance der Reintegration der Weltkriegsteilnehmer, und sie zeigte sich zuerst in der Sprache. Die Rede über den Krieg und die Opfer, die in ihm gebracht wurden, unterschied sich dem Zeugnis der literarischen Heimkehrertexte zufolge beträchtlich von derjenigen, welche die zurückkehrenden Soldaten selbst an den Fronten im Osten und im Westen erlernt hatten. Remarque erzählt in Der Weg zurück von einer konfliktträchtigen Konfrontation dieser beiden Sprachen des Krieges und über den Krieg. Wenn sich die ohne Notexamen an die Front geschickten ehemaligen Schüler eines Lehrerseminars wie ABC-Schützen auf ihren Schulbänken wieder einfinden – denn es hatte »Weltkrieg statt der Großen Ferien«gegeben –14 und der Direktor jene »[e]inundzwanzig Helden« rühmt, die »in fremder Erde [...] unterm grünen Rasen« 11 Joseph Roth. »Das Spinnennetz«. Werke. Bd. 4: Romane und Erzählungen 1916–1929. Ed. und mit einem Nachwort von Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1989, 63–146, hier 66. 12 Svenja Goltermann. Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalt­ erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München: DVA, 2009, 386ff. 13 Alfred Schütz. »Der Heimkehrer«. Peter-Ulrich Merz-Benz, Gerhard Wagner (ed.). Der Fremde als sozialer Typus. Klassi­sche soziologische Texte zu einem aktuellen Phänomen. Konstanz: UVK, 2002, 93–110, hier 96. 14 Erich Kästner. »Kurzgefaßter Lebenslauf«. Gesammelte Schriften für Erwachsene. Bd. 1: Gedichte. München, Zürich: Knaur, 1969, 184.

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schlummern, antwortet ihm ein »kurzes, brüllendes Gelächter«. Der Frontsoldat und ehemalige Küchenbulle Willy erklärt: »Im Trichterdreck liegen sie, kaputtgeschossen, zerrissen, im Sumpf versackt –.«15 Die »Frontsprache«,16 welche die meist jungen Kriegsteilnehmer von der Front nach Hause mitbrachten, konterkariert die daheim gesprochene, ideologisch aufgeladene Bildungssprache ziemlich radikal: »Scheiße, Scheiße und nochmals Scheiße!« ist keineswegs der Ausdruck eines ›restringierten‹ Jargons, sondern das insistierend wiederholte Hauptwort der situativ angemessenen, »alten ehrlichen Soldatensprache«17 im Gegensatz zu den verlogenen Euphemismen der Heimatsprache. Die Realitätsprüfung ›draußen‹ hatte für die Kriegsteilnehmer »die großen Worte klein« gemacht.18 Über eine eigene, authentische Sprache, mit der sie die Erfahrungen des Krieges den Daheimgebliebenen hätten mitteilen können, verfügten aber auch sie nicht: »Ein starkes Gefühl brodelt unklar in uns, – – aber gleich Worte? Worte haben wir dafür noch nicht. Vielleicht werden wir sie später einmal haben.«19 Öfter als von solchen Konflikten in der Sprache ist in den Heimkehrertexten der zwanziger und dreißiger Jahre deshalb vom Verstummen die Rede: vom Beschweigen der Kriegserfahrungen, die man den Familienangehörigen nicht zumuten wollte oder an deren Mitteilbarkeit die Zurückgekehrten nicht zu glauben vermochten. »War es sehr schlimm draußen, Paul?«, fragt die Mutter Paul Bäumers in Remarques Im Westen nichts Neues beim Heimaturlaub ihren Sohn. »Mutter, was soll ich dir darauf antworten! Du wirst es nicht verstehen und nie begreifen. Du sollst es auch nie begreifen.«20 In Jakob Wassermanns Roman Faber oder die verlorenen Jahre (1924) antwortet der nach einer abenteuerlichen Reise spätheimkehrende Flüchtling aus einem sibirischen Kriegsgefangenenlager auf die Fragen seiner Mutter »meist nur halbe Sätze [...]. Er sagte, er habe das Reden verlernt.«21 Und in Alfred Döblins Erzählwerk November 1918 begründet ein Arbeiter seine anhaltende Schweigsamkeit mit seiner Waffengattung, der Artillerie: »Wir von der Artillerie erzählen überhaupt nicht viel [...]. Die meisten von uns sind außerdem schwerhörig. Bei mir ist’s das rechte Trommelfell.«

15 Remarque, Der Weg zurück, 136f. 16 Johannsen, Vier von der Infanterie, 19 (mit einigen beispielhaften Ausdrücken). 17 Remarque, Drei Kameraden, 140. 18 Ernst Toller. Eine Jugend in Deutschland. Ed. und kommentiert von Wolfgang Frühwald. Stuttgart: Reclam, 2013, 77. 19 Remarque, Der Weg zurück, 140. 20 Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. 2. Auflage Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (kiwi 1367), 145. 21 Jakob Wassermann. Faber oder Die verlorenen Jahre. Nachwort von Insa Wilke. Zürich: Manesse, 2016, 7.

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»Ist mir schon aufgefallen«, meinte die Mutter; »wenn man dich rechts was fragt, antwortest du nicht.« »Auch links nicht, Mutter«, lachte der Soldat.22

Das Schweigen über das an der Front Erlebte ist zweifellos der häufigste Topos in jenen Texten, die von der Heimkehr aus dem Weltkrieg literarisch Zeugnis ablegen. Dieses Schweigen der Kriegsrückkehrer war offenbar so auffällig, dass Joseph Roth in den schwer entstellten Gesichtsverletzten »ohne Lippen« in einem 1920 erschienenen Zeitungsessay »[l]ebende Kriegsdenkmäler« sah.23 Eher als diese zum Schweigen verurteilten Invaliden ist vielleicht jedoch der Kriegszitterer die ­emblematische Figur für die Ausdrucksproblematik der Kriegsheimkehrer. Ärzte, die das neue Krankheitsbild ernst nahmen, wie der Begründer der psychosomatischen Medizin Thure von Uexküll oder der am Hamburg-Eppendorfer Krankenhaus tätige Neurologe Max Nonne, beschrieben solche traumatogenen Erkrankungsformen als »Ausdruckskrankheiten«.24 Werden soziale Ausdrucksfunktionen, zu denen primär die Sprache zählt, aufgrund der Tabuisierung und Sanktionierung der überwältigenden Angsterlebnisse im Krieg blockiert, bringen sie sich in der Erschütterung des Körpers symbolisch zum Ausdruck. Unbeherrschtes Zittern kann daher als ein der Umwelt unverständliches Ausdrucksfragment einer Mitteilung gedeutet werden, die von den restriktiven Sagbarkeitsregeln der Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft nicht zugelassen wurde. Ohne die Bereitschaft und Fähigkeit zu erzählen kann Heimkehr indes kaum gelingen. Denn wenn schon »[j]ede Form von Gastlichkeit [...] – soll sie gelingen – fundamental auf wechselseitiges Erzählen (und damit Sprache) angewiesen« ist, schon um die Gefährlichkeit des Anderen einschätzen zu können,25 ist es die Heimkehr aus dem Gewaltraum Krieg erst recht. Der Heimkehrer ist allerdings kein Gast oder »Wandernde[r], der heute kommt und morgen geht, sondern [...] der, der heute kommt und morgen bleibt«.26 Unterbleibt die narrative Verständigung, verlängert sich der Status des Heimkehrers oder die für ihn typische

22 Alfred Döblin. November 1918. Eine deutsche Revolution. Erzählwerk in drei Teilen. 2. Teil, 1. Bd.: Verratenes Volk. Mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel. Frankfurt/M.: Fischer, 2013, 85f. 23 Joseph Roth. »Lebende Kriegsdenkmäler«. Werke. Bd. 1: Das journalistische Werk 1915–1923. Ed. Klaus Westermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1989, 347–352, hier 352. 24 Vgl. dazu Thure von Uexküll. Grundlagen der psychosomatischen Medizin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1963, 17. 25 Rolf Parr. »Emigranten/Kriegsheimkehrer. Zwei Modelle der (Un-)Gastlichkeit und das Phänomen der fehlenden Sprache«. Evi Fountoulakis, Boris Previsic (ed). Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in der Literatur. Bielefeld: transkript, 2011, 229–246, hier 231. 26 Georg Simmel. »Exkurs über den Fremden«. Gesamtausgabe. Otthein Rammstedt (ed.). Bd. 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 8. Auflage Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2016, 764–771, hier 764.

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›Schwellensituation‹ auf unbestimmte Zeit. Manche Heimkehrertexte stellen ihre Figuren auch räumlich auf diese Schwelle wie das explizit auf die homerische Odys­ see – den abendländischen Urtext aller Kriegsheimkehrer-Erzählungen – Bezug nehmende Drama Douaumont oder Die Heimkehr des Soldaten Odysseus (1929) des vom Expressionismus geprägten, späteren Nazi-Dichters Eberhard Wolfgang Möller: Auf dem »Treppenaufgang in einem Mietshaus«, in dem der »Soldat O.« vor dem Krieg mit Frau und Sohn wohnte, spielt die erste seiner sieben mit Zitaten aus Homers Odyssee überschriebenen Szenen. Es bedarf nicht der Verkleidung des Königs in die Bettlergestalt, um den ehemaligen ›kleinen Beamten‹, »Gehaltsstufe sieben«, beim Heimkommen aus der Gefangenschaft seiner Familie unkenntlich zu machen: »Sie kennen mich nicht mehr. Der Krieg hat ihnen zu lange gedauert.«27 Wenn der schwer traumatisierte Verdun-Veteran am Ende von den Daheimgebliebenen zum ›Erzählen‹ aufgefordert wird – »Weiter Vater! Wir hören!«–, erfährt er die wiedergefundene Sprache als buchstäbliche Befreiung aus der inneren Festung eines Schweigens, in der er seine Erinnerung verschließt: »Aussprechen können. Endlich. Einmal im Leben. Alles sagen. Wer hat jemals vom Douaumont erzählen dürfen?«28 Wie der Begriff ›Heimkehrer‹ keine zeitliche Grenze enthält, ist auch das Schweigen der Zurückgekommenen von unbestimmter Dauer. Tatsächlich verteilen sich die erzählten Schicksale in den deutschsprachigen Heimkehrertexten auf einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren. Einige wie der ehemalige Frontsoldat Ludwig Brand in Hans Sochaczewers im Jahr 1927 einsetzendem Roman Men­ schen nach dem Kriege (1929) sind seelische Spätheimkehrer. Sie sind es vor allem deshalb, weil ihnen die Heimkehr in der Sprache nicht gelingt. Ihre psychogene Ausdrucksverweigerung macht auch die nächsten Angehörigen – hier die während eines Heimaturlaubs aufgrund der erleichterten Aufgebotsbestimmungen für Frontsoldaten rasch geheirateten Ehefrau – zu Mitschweigenden über etwas, von dem sie gar nicht wissen, was es eigentlich ist: »[S]ie fragte ihn ja so gut wie nichts; und er sagte so gut wie gar nichts zu ihr.«29 Die Schweigsamkeit über das Erlebte bestimmte indes auch – dem Zeugnis der literarischen Texte zufolge – die Kommunikation mit den Kriegskameraden. Ihnen schien die Gemeinsamkeit des Kriegserlebnisses keiner sprachlichen Explikation zu bedürfen. Während das Schweigen der Heimkehrenden gegenüber den Daheimgebliebenen ein Schweigen vom Krieg war, praktizierten die Heimkehrer untereinander ein Schweigen üb er den Krieg, also eine Art ›kommunikatives 27 Eberhard Wolfgang Möller. Douaumont oder Die Heimkehr des Soldaten Odysseus. Sieben Scenen. Berlin: Verlag der Vertriebsstelle des Verbandes deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten, 1929, I, 18 und I, 14. 28 Ebd., VI, 83. 29 Hans Sochaczewer. Menschen nach dem Kriege. Berlin, Wien, Leipzig: Paul Zsolnay, 1929, 61.

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Beschweigen‹.30 Gegen die traumatische Wiederkehr des Erlebten setzen sie vor allem auf das Rezept der sprachlosen Verdrängung: »Man sollte gar nicht darüber reden«, rät eine der Figuren in Remarques Der Weg zurück.31 Ihre stumme Verständigungsgemeinschaft disqualifizierte das Sprechen mit den Angehörigen und Daheimgebliebenen über den Krieg gegenüber einem ›Tieferen‹, »das erst draußen entstanden ist« und über das man »nicht reden« könne.32 In Remarques Drei Kameraden prostet der Regimentskamerad Valentin, eine Art lebendige Kriegschronik, dem Erzähler Lohkamp nur ein Datum zu, das zur Verständigung offenbar völlig ausreicht: »31. Juli 17, Robby.«33 Am 31. Juli 1917 begann die dritte Infanterieschlacht bei Ypern in Flandern. Es ist aber zugleich das zentrale Datum in der persönlichen Kriegsgeschichte Remarques, der am selben Tag bei Ypern von Granatsplittern schwer verletzt wurde. Auf sehr diskrete Weise ist damit im Roman eine Engführung von Fiktion und autor-biografischer Wirklichkeit angelegt, deren Mitteilung lautet: ›Ich war dabei‹. Wenn die zurückgekehrten Soldaten diese sprachlose Verständigung mit den Kameraden über den Erfahrungsaustausch mit ihren Familien stellten, wird daran auch die ideologische Funktion des Kameradschaftskonzepts ablesbar. Denn die Kriegskameradschaft ist wohl das wichtigste Instrument zur Loslösung des Einzelnen aus seinen primären sozialen Bindungen an Familie und Gesellschaft. Mit Emphase unterstreicht Hanns Johsts nationalsozialistisches Drama Schlageter (1933) diese Entfamiliarisierung und Entzivilisierung, wenn es seinen Helden, den als ›ersten Märtyrer‹ des Nationalsozialismus überhöhten, von den französischen Besatzern des Rheinlands hingerichteten Saboteur im ›Ruhrkampf‹, sagen lässt: »Wir sind keine Söhne mehr, keine Brüder, keine Väter, überhaupt keine Verwandten ... Wir sind nur noch Kameraden!!«34 Je mehr also die Verständigungsgemeinschaft der Kriegskameraden dem Austausch mit den Angehörigen vorgezogen wird, desto stärker und länger entfremdet sie die Zurückgekehrten von den Lebensbedingungen daheim. Auch Ludwig Brand, der Held in Hans Sochaczewers Menschen nach dem Kriege, lebt beinah zehn Jahre nach Kriegsende weniger mit seiner Ehefrau und seinen Kindern zusammen als vielmehr »noch 30 Der Begriff wurde eingeführt von Hermann Lübbe. »Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein«. Historische Zeitschrift 236 (1983), H. 3, 579–599. 31 Remarque, Der Weg zurück, 233. 32 Ebd., 139. 33 Remarque, Drei Kameraden, 51. 34 Hanns Johst. »Schlageter. Schauspiel«. Günther Rühle (ed.). Zeit und Theater 1933–1945. Bd. V: Diktatur und Exil. Ungekürzte Ausgabe. Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein, 1980, 77–139, hier 92. – Sebastian Haffner beschreibt in seiner Autobiografie Geschichte eines Deutschen (verfasst 1939) das Kameradschaftskonzept als »Dezivilisationsmittel«. Sebastian Haffner. Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914–1933. Mit einer Vorbemerkung zur Taschenbuchausgabe und einem Nachwort zur Editionsgeschichte von Oliver Pretzel. München: dtv, 2003, 279.

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unter den Männern«, wie ihm der Ich-Erzähler und ehemalige Regimentskamerad Nock vorhält.35 Es erschwert die Verständigung mit den Nächstlebenden natürlich noch viel mehr, dass damit im Roman vor allem die toten und vermissten Kameraden gemeint sind.

Die ›verlorene Generation‹ Für jene wenig vor oder um die Jahrhundertwende geborenen Kriegsteilnehmer, die nach Joseph Roths Ausdruck zwar zurück-, aber nicht mehr heimkehrten, ist Ende der zwanziger Jahre die Rede von der ›verlorenen Generation‹ in Umlauf gekommen. »Meine Generation ist verloren, auch wenn sie zurückkommt. Sie kann sich nicht mehr zurechtfinden«, sagt Paul Bäumer in Kapitel XII des Vorabdrucks von Im Westen nichts Neues.36 Mit diesem Roman wollte Remarque »den Versuch machen über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam.«37 Gemeint sind damit die jungen Soldaten, welche das Handwerk des Tötens erlernt hatten, noch bevor sie in der Zivilgesellschaft einen Platz gefunden hatten. Wer ein Bett und einen Beruf hinterließ, in die er wieder hineinschlüpfen kann, wird sich anpassen; – und wenn es anfangs schwierig ist, dann werden Bett und Beruf ihn halten und stützen wie Zement, mit dem man ein leckes Faß ausgießt. Wir aber haben nichts hinterlassen; – unsere Eltern zwar können Mitleid für uns haben und Liebe, aber sie können uns nicht beistehen für die Zukunft.38

Während sich das Konzept der ›verlorenen Generation‹ altersmäßig von den älteren Kriegsteilnehmern abgrenzte, schloss es natürlich vor allem die Daheimgebliebenen aus, die am aktiven Kriegserlebnis nicht teilhatten. Dass sich die jungen Kriegsteilnehmer von den Daheimgebliebenen in der »schwersten Zeit, als wir uns zurückfinden mußten«, oft im Stich gelassen fühlten, verstärkte natürlich die resignativ-fatalistische Selbstdeutung der ›verlorenen Generation‹.39 35 Sochaczewer, Menschen nach dem Kriege, 63. 36 Remarque, Im Westen nichts Neues, 290. 37 Ebd., 7 (Vorspruch). 38 Ebd., 290f. 39 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 355: »Was habt ihr denn für uns getan, als wir wiedergekommen sind? Nichts! Nichts! [...] ihr habt Kriegerdenkmäler eingeweiht, ihr habt von Heldentum geredet und euch gedrückt vor der Verantwortung! Ihr hättet uns helfen müssen! Aber ihr habt uns allein gelassen in der schwersten Zeit, als wir uns zurückfinden mußten!«

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In Umlauf gebracht hat den Begriff ein Motto in Ernest Hemingways Roman The Sun Also Rises (1926; dt. Fiesta, 1928), der den amerikanischen Autor berühmt gemacht hat: »You are all a lost generation.«40 Hemingway hatte dieses Urteil über sich und alle anderen jungen Kriegsteilnehmer von seiner Pariser Mitbewohnerin Gertrude Stein Anfang der zwanziger Jahre gehört; die wiederum hatte ihn vom Inhaber einer Autowerksatt, der seinen Mitarbeiter, der die Zündung ihres Ford T nicht rechtzeitig in Ordnung gebracht hatte, mit diesen Worten abgefertigt hatte. Hemingway wies diese Etikettierung seiner Generation freilich grundsätzlich ab. Am Ende, schrieb er in seinen Erinnerungen, dachte ich, daß alle Generationen durch irgend etwas verloren waren und immer gewesen waren und immer sein würden [...]. Aber zum Teufel mit dem Gerede von der verlorenen Generation und all ihren dreckigen Phrasen.41

Dass der Begriff der ›verlorenen Generation‹ dennoch in der deutschsprachigen Literatur auf fruchtbaren Boden fiel, beruht nicht zuletzt darauf, dass man seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts historisch zunehmend in Generationen dachte. Joseph Roth schrieb 1930 sogar: »Niemals war das Schlagwort von den ›Generationen‹ so häufig und das Bewußtsein von einer Tradition so ohnmächtig.«42 Schriftsteller übernahmen dabei die Rolle von »Deutungssendern«, die in literarischen Texten über Krieg und Heimkehr ihre Interpretationen den lesenden »Deutungsempfängern«43 mitzuteilten wussten und ihre eigenen mentalen und psychischen Dispositionen und Erfahrungen häufig als durchaus ›repräsentativ‹ auffassten. Ihre Texte bildeten eine Art Resonanzraum, der mit den Worten des Soziologen Heinz Bude die »Melodie« dieser Generation hörbar machte.44 In Stefan Zweigs Erinnerungsbuch Die Welt von Gestern (postum 1942) heißt es, es sei

40 Ernest Hemingway. The sun also rises. The Hemingway Library Edition. Foreword by Patrick Hemingway. Ed. with an Introduction by Seán Hemingway. New York et al: Scribner, 2014, erstes Motto (unpag., mit der Angabe »Gertrude Stein in conversation«). 41 Ernest Hemingway. »Paris – ein Fest fürs Leben«. Gesammelte Werke in zehn Bänden. Bd. 9. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1989, 189–310, hier 210. – Vgl. Ernest Hemingway. A moveable feast. The restored edition. Foreword by Patrick Hemingway. Ed. with an Introduction by Seán Hemingway. New York et al: Scribner, 2009, 61. 42 Joseph Roth. »Schluß mit der ›Neuen Sachlichkeit‹!« Werke. Bd. 3: Das journalistische Werk 1929– 1939. Ed. und mit einem Nachwort von Klaus Westermann. Köln: 1991, 153–164, hier 153. (Zuerst erschienen in Die Literarische Welt 6 (1930), Nr. 3, 3f. und Nr. 4, 7f. vom 17. und 24.01.1930.) 43 Heinz Bude. »Soziologie der Generationen«. Georg Kneer, Markus Schroer (ed.). Handbuch spezielle Soziologien. Wiesbaden: VS, 2010, 421–435, hier 426. 44 Ebd., 427.

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eigentlich nicht so sehr mein Schicksal, das ich hier erzähle, sondern das einer ganzen Generation – unserer einmaligen Generation, die wie kaum eine im Laufe der Geschichte mit Schicksal beladen war.45

Übereinstimmend mit dem Konzept der ›verlorenen Generation‹ konstatiert der expressionistische Dichter Kasimir Edschmid 1920: »Eins jedenfalls ist sicher: die Generation ist ausgekernt.«46 Wissenschaftlich hatte sich der Begriff der Generation über die Fachdisziplinen hinweg seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts etabliert. Generationen, definierte Wilhelm Dilthey 1875, sind Kohorten etwa Gleichaltriger, die »in den Jahren der Empfänglichkeit dieselben leitenden Einwirkungen« erfahren haben.47 Dass historische Ereignisse von Angehörigen verschiedener Generationen unterschiedlich verarbeitet werden, hat der Kunsthistoriker Wilhelm Pinder 1926 auf den Begriff der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« gebracht.48 Die bis heute meistrezipierte wissenschaftliche Ausarbeitung des Generationenkonzepts wurde jedoch zehn Jahre nach Kriegsende publiziert, also gleichzeitig mit den Kriegsromanen Remarques, Renns oder Edlef Köppens:49 Karl Mannheims Aufsatz über »Das Problem der Generationen« in der Kölner Zeitschrift Vierteljahreshefte für Soziologie (1928). Für Mannheim sind Generationen ein genuiner Gegenstand der Soziologie. Konstitutiv für einen ›Generationenzusammenhang‹ ist also nicht die bloße Chronologie der Geburtsjahrgänge, sondern ein »gemeinsamer historischsozialer Lebensraum«.50 Zu unkündbaren sozialen Gemeinschaften werden Generationen durch die »Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen«.51 Kommt zu der Teilhabe an einer »historisch-aktuellen Problematik« die Verarbeitung 45 Stefan Zweig. Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1981 (Gesammelte Werke in Einzelbänden), 7. 46 Kasimir Edschmid. »Bilanz«. Die doppelköpfige Nymphe. Aufsätze über die Literatur und die Gegen­ wart. Nachdruck der Ausgabe Berlin 1920. Nendeln: Kraus-Reprint, 1973, 209–231, hier 213. – In Irmgard Keuns im Jahr 1918 spielendem Roman Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften (1936) fällt der Ausdruck wörtlich, bezieht sich jedoch auf die während des Weltkriegs aufgewachsenen Kinder und Jugendlichen: »verlorene Generation – Herr Regierungsrat, was soll daraus werden?«Irmgard Keun. Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften. Düsseldorf: Claassen, 1980, 94. 47 Wilhelm Dilthey. »Über das Studium der Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat« (1875). Gesammelte Schriften. Bd. 5: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Leipzig, Berlin: Teubner, 1924, 31–138, hier 37. 48 Wilhelm Pinder. Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas. Berlin: Frankfurter Verlags-Anstalt, 1926. 49 Edlef Köppen. Heeresbericht. Mit einem Nachwort von Jens-Malte Fischer. Stuttgart: Reclam, 2015. 50 Karl Mannheim. »Das Problem der Generationen« (1. Teil). Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7 (1928), 157–185, hier 180. 51 Karl Mannheim. »Das Problem der Generationen« (2. Teil). Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7 (1928), 310–330, hier 310.

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derselben »Erlebnisse« hinzu, wie es die Kriegsteilnahme darstellt, wird eine »Generationseinheit« erzeugt.52 Generationen sind deshalb stets auch Erinnerungsgemeinschaften – selbst dann, wenn diese Erinnerungen eher beschwiegen als kommuniziert werden. Was die Generation der jungen Kriegsteilnehmer angeht, hat Walter Benjamins knapp ein Jahrzehnt später in seinem Aufsatz »Der Erzähler« (1936/37) ihr Kennzeichen wiederum im Schweigen von ihren Kriegserfahrungen ausgemacht: »Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen? Nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung.«53 Benjamin schien »mit dem Weltkrieg [...] offenkundig zu werden«, daß es überhaupt »mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht.«54 Die jungen Kriegsteilnehmer waren Benjamin zufolge vom Verlust aller kontinuitätsverbürgenden Erfahrungen geprägt: Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschenkörper.55

Für Benjamin stellte diese Diskontinuierung der Erfahrung die Möglichkeit eines Erzählens prinzipiell in Frage, das »dem Hörer Rat weiß«.56 Solchen Rat, der sie für die Zukunft präpariert, wissen auch die literarischen Heimkehrertexte ihren Lesern tatsächlich meist nicht zu geben. Dass die Erfahrungen der ›verlorenen Generation‹ überhaupt weitergegeben und wirksam gemacht werden können, beurteilt einer der Infanteristen in Johannsens Kriegsroman mit einer Skepsis, die die Kriegs- und Heimkehrerliteratur selbst im Innersten angeht: »Worte wirken wenig«, meint Lornsen. »Das Erlebte kann man der nächsten Generation nur durch Worte andeuten. Ich fürchte, sie wird eines Tages wieder wie wir Vierzehn ›Hurra‹ schreien.«57

Mit solchen kritischen Äußerungen über die Chancen literarisch-sprachlicher Verständigung, die sie ihren Figuren in den Mund legen, befragen sich die 52 Ebd., 311. 53 Walter Benjamin. »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows«. Gesammelte Schrif­ ten. Unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Sholem ed. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Bd. II.2. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1977, 438–465, hier 439. 54 Ebd., 439. 55 Ebd. 56 Ebd., 442. 57 Johannsen, Vier von der Infanterie, 38.

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Heimkehrertexte allerdings auch selbst über das Wirkungspotenzial der Literatur und die Chancen der Weitergabe der in ihnen gespeicherten Erfahrung über die Generationengrenze hinweg. Dass die literarischen Heimkehrertexte wie etwa Remarques die Ratlosigkeit der Kriegsheimkehrer geradezu ausstellten, trug ihnen nicht nur von Seiten der politischen ›Rechten‹, denen Remarque – Kurt Tucholsky zufolge – »immer ein Stein im Schnürstiefel« war,58 erwartbare Widersprüche ein, sondern auch von Seiten einer ›linken‹ Literaturkritik, die ihnen den Mangel an politischen Idealen und Engagement ankreidete.59 Anders als Ludwig Renn in Nachkrieg erzählt Remarque in keinem seiner Romane von einer Suche nach politischem »Halt«.60 Ernst Birkholz, der Ich-Erzähler in Der Weg zurück, sucht seine Befreiung von den Schatten der Vergangenheit am Romanende in der Natur – in Bäumen, Äckern, atmender Erde –, nicht aber in der Gesellschaft der Mitlebenden oder gar in der politischen Mitarbeit an einer neuen Gesellschaft.61 Auch Drei Kameraden (1936) schließt kaum hoffnungsvoller mit dem Tod der Partnerin Pat des desillusionierten Kriegsrückkehrers Robert Lohkamp und der schon früher vorweggenommenen, »allzu schmerzhafte[n] Klarheit, daß nie etwas bleibt, kein Ich und kein Du und am wenigsten ein Wir.«62 Ihm, der auch aufgrund seiner Trinkgewohnheiten dem von Hemingway eingeführten und zugleich bezweifelten ›Label‹ der verlorenen Generation vielleicht am meisten entspricht, hält seine Zimmervermieterin vor: »Die Vergangenheit haßt ihr, die Gegenwart verachtet ihr, und die Zukunft ist euch gleichgültig. Wie soll das nur ein gutes Ende nehmen!«63 Soweit sich die Kriegsheimkehrer selbst für die »künst-

58 Ignaz Wrobel [Kurt Tucholsky]. »Der neue Remarque«. Die Weltbühne 27, 1.  Halbjahr vom 19.05.1931, Nr. 20, 732–733, hier 733. 59 Vgl. Bi [Kürzel nicht aufgelöst]. »Wirklich zurück. E. M. Remarque ›Der Weg zurück‹, PropyläenVerlag, Berlin 1931«. Die Linkskurve 3 (1931), 8 (08.1931), 24–25, hier 25: »[...] die Probleme, die er aufwirft, sind die armseligen Fantasien eines erschreckten Spießers, den die Träume der Erinnerung quälen, die Familie fremd geworden ist, dem das Mädchen kein Verständnis mehr entgegenbringt und der sich am weißgedeckten Tisch der ›besseren Leute‹ nicht mehr zu benehmen weiß.« 60 Ludwig Renn ist das Pseudonym des Autors und Oberleutnants Arnold Friedrich Vieth von Golßenau, der seine Romane unter dem Namen des proletarischen Helden seiner Romane Krieg und Nachkrieg, eines fiktiven Gefreiten und späteren Vizefeldwebels, veröffentlichte. Auch sein Alter ego im Roman bleibt freilich bis zum Ende politisch unentschlossen. In seinen Erinnerungen Anstöße in meinem Leben (1980) kennzeichnet Renn sich selbst wie einen Angehörigen der verlorenen Generation, der schließlich doch noch seine politische Heimat fand: »Ich war entwurzelt und hoffnungslos. Sieben Jahre habe ich dieses Leben geführt, bis ich endlich den Weg zum Kommunismus fand.« Ludwig Renn. Anstöße in meinem Leben. Berlin, Weimar: Aufbau, 1980 (Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 11), 393. 61 Vgl. Remarque, Der Weg zurück, 373. 62 Erich Maria Remarque. Drei Kameraden. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014 (kiwi 1366), 223. 63 Ebd., 211.

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liche Ordnung, die man Gesellschaft nennt«,64 verloren gaben, verweigerten sie der Nachkriegsrepublik in der Tat ihre Mitwirkung. Die Vorliebe für fronterprobte Kriegsteilnehmer und ›altes Militär‹ (das auch schon einmal einen früheren Meldehund einschließen kann65) und die Herablassung gegenüber den nicht im Krieg gewesenen Zeitgenossen sind auch Remarques Romanen deutlich anzumerken. Dass diese ›Verlorenheit‹ ihrer Heimkehrerfiguren für das Leben danach durchaus auch als überdeterminiert und unglaubhaft empfunden werden konnte, zeigt der folgende Satz aus einer Rezension über Remarques Drei Kameraden anlässlich der ersten westdeutschen Ausgabe im Berliner Tagesspiegel von 1951. Aber es belegt ebenso die Haltbarkeit des Topos von der ›verlorenen Generation‹ noch in der zweiten deutschen Nachkriegszeit: Hemingways verlorene Generation ist wirklich vom Nichts zu Tode getroffen; bei Remarque kokettieren die Halbwelt-Helden mit dem Nichts.66

Heimkehrversuche Dass aber die Welt jenseits des Krieges, in welche die Frontsoldaten zurückkehrten, verglichen mit den völlig devastierten Frontabschnitten und den bis dahin unbekannten militärtechnischen Destruktivkräften fast unverändert geblieben war, machte die Heimkehr dem Zeugnis der literarischen Texte zufolge nicht gerade leichter. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg (und anders als die Bewohner der französischen und belgischen Kriegsgebiete) kamen die deutschen und österreichischen Soldaten ja in weitestgehend unzerstörte Städte und Landschaften zurück. Der Heimkehrer Schlump in Grimms gleichnamigem Roman wundert sich jedenfalls, dass daheim »alles noch in solcher Ordnung lief«: Wenn er nach der teilweise chaotisch verlaufenden Heimfahrt aus dem Zug steigt, will der Schaffner seine Fahrkarte sehen.67 In Remarques Der Weg zurück wird diese Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen auf die ganze Generation der jungen Kriegsteilnehmer bezogen: »Alles ist weitergegangen und geht weiter, fast als wären wir bereits überflüssig.«68 Dass eine Generation eher eine »Einheit von Probleme[n]« als eine von Lösungen darstellt – einen »Punkt der Unruhe, der Fragen aufgibt und Antworten 64 Remarque, Der Weg zurück, 291. 65 Ebd., 260. 66 Walther Korsch. »[Rezension über Remarques ›Drei Kameraden‹]«. Tagesspiegel vom 25.01.1951. Zitiert nach Tilman Westphalen. »Der Orden der Erfolglosen. Nachwort«. Erich Maria Remarque. Drei Kameraden. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998 (kiwi 492), 384–398, hier 396. 67 Hans Herbert Grimm. Schlump. Geschichten und Abenteuer aus dem Leben des unbekannten Musketiers Emil Schulz, genannt ›Schlump‹. Von ihm selbst erzählt. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2014, 333. 68 Remarque, Der Weg zurück, 46f.

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fordert«, wie Heinz Bude formuliert69 – lässt sich an den literarischen Heimkehrertexten ablesen. Die Heimkehrertexte konkretisieren diese Fragen daraufhin, ob oder wie die von den Fronten des Krieges zurückgekehrten Soldaten daheim wieder heimisch werden konnten. Ihre Antworten darauf fallen unterschiedlich aus. Ernst Johannsen teilte den Topos der ›verlorenen Generation‹ offensichtlich nicht, wenn er der Mehrheit der Integrierten eine kleine Minderheit von Frontkämpfern entgegengesetzt sah, die dies auch in der Heimat blieben: Nur wenige fanden nicht zurück, wußten sich nicht einzuordnen, blieben ›Landsknechte‹ und Verwandelte, sitzen heute zum Teil auf Festungen und in Gefängnissen oder fielen bei nachträglichen Aufständen, Unruhen und Putschen, geachtet im Krieg, jetzt aber verachtet und preisgegeben und oft genug mit ›Gesindel‹ bezeichnet!70

Wenn ihm die Anpassung an die befriedete Normalität daheim nicht gelingt, wird der Kriegsteilnehmer zum displaced hero. Gelingt dagegen die (Re-)Integration in die Zivilgesellschaft, kann dies den Zerfall der in den Frieden herübergeretteten Kriegskameradschaft bedeuten – oder sogar eine Verkehrung der im Krieg etablierten Hierarchien. Auch bei Remarque ist von dieser Aufspaltung des Generationenzusammenhangs zu lesen, der offenbar nicht nur von den gemeinsamen Erfahrungen, sondern auch von den Chancen des Wiedereintritts in die zurückgelassenen sozialen Lebensverhältnisse abhing. Im Schützengraben hingegen kam es »nur darauf an, was er als Mann war«.71 Remarques Der Weg zurück erzählt von einem Regimentstreffen, das den im Zentrum des Romans stehenden Kriegskameraden die ganze Nachkriegsgesellschaft als ›verkehrte Welt‹ erscheinen lässt: Bosse, »der Kompagnieschussel, der stets verulkt wurde«, der »draußen schmierig und verludert« war und »mehr als einmal [...] unter die Pumpe« genommen wurde, trägt jetzt einen »pikfeinen Kammgarnanzug, eine Perle im Schlips und Gamaschen an den Füßen.« Adolf Bethke, »der im Felde himmelhoch über ihm stand, daß Bosse froh war, wenn er ihn überhaupt anredete, ist plötzlich nur noch ein armer, kleiner Schuster mit etwas Landwirtschaft.« Der im Roman zum Helden stilisierte Leutnant Ludwig Breyer trägt »seinen zu knappen, verschabten Schulanzug mit einer schief um den Hals gezerrten Jungenstrickkravatte« und muss die Jovialität seines früheren Burschen hinnehmen, der ihm »behäbig auf die Schulter« klopft. (217f.) Wenn »Ledderhose, dieser krumme Hund, [...] mit glänzender Dohle und kanariengelbem Gummimantel großspurig« neben ihm sitzt und »englische 69 Bude, »Soziologie der Generationen«, 426 und 428. 70 Ernst Johannsen. »Das Geheimnis des Weltkrieges«. Hans Tröbst (ed.). Stecowa. Phantastisches und Übersinnliches aus dem Weltkrieg. Berlin: Verlag Tradition Kolk, 1932, 11–20, hier 18. 71 Remarque, Drei Kameraden, 256.

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Zigaretten« raucht, erscheint das angesichts der britischen Seeblockade geradezu als Fraternisierung mit dem ehemaligen Kriegsgegner.72 Die Rückkehrerfahrung konnte die Erlebnisgemeinschaft der Kriegskameraden also offenbar auf eine Weise entsolidarisieren, die auch das Konzept der ›verlorenen Generation‹ in Frage stellt. Allerdings segmentierte sich die Kriegskameradschaft, die oft als einzige positive Hinterlassenschaft des katastrophalen Kriegserlebnisses angesehen wurde, schon während des Krieges. Nicht nur zwischen Offizieren und Mannschaften, die sogar in den Gefangenenlagern getrennt untergebracht waren, sondern auch zwischen Angehörigen unterschiedlicher Waffengattungen gab es Hierarchien, die das Kameradschaftskonzept aufspalteten: Ganz oben standen die ›ritterlichen‹ Kampfflieger, ganz unten stand das »Grabentier«,73 der Infanterist.74 Zudem teilten sich die Kriegsteilnehmer in ›Front-‹ und »Etappenschweine«75 auf. Bei Kriegsende und in den Monaten danach trieb die Revolution erst recht einen Spalt in die vielberufene Kriegskameradschaft, indem sie gewissermaßen die Front ins Innere verlegte. Der Versuch der Kriegsheimkehrer von der Westfront in Remarques Der Weg zurück, die »Kameraden« auf der anderen Seite an ihre Schicksalsgemeinschaft zu erinnern – »wollt ihr auf eure Brüder schießen?«– erweist sich im Roman wie in der historischen Wirklichkeit als vergeblich: Am Ende liegt ein Regimentskamerad tot auf dem Pflaster.76 Die Ansicht, dass der auf den Waffenstillstand folgende Friede überhaupt nur so etwas wie die Fortsetzung des Krieges mit anderen – gewaltsamen und rhetorischen – Mitteln sei, ist in manchen Heimkehrertexten nachzulesen. »Ein wirklicher Krieg geht nicht zu Ende«, heißt es in Alexander Lernet-Holenias Roman Die Standarte (1934),77 und in Walter Mehrings Chanson Hoppla, wir leben! (1927) liest man: »Es ist wieder ganz wie vor dem Krieg – / Vor dem nächsten Kriege eben – –«.78 Die Kriegsheimkehrer schienen dafür jedenfalls besser gerüstet zu sein als für den Frieden. Die Antworten, welche die Heimkehrertexte auf die anthropologischen und sozialen Möglichkeiten der Heimkehr geben, sind dennoch so vielfältig wie ihre Figuren und erzählten Schicksale. Die am schwersten Traumatisierten liegen als

72 Remarque, Der Weg zurück, 217f. – ›Dohle‹ war eine umgangssprachliche Bezeichnung für einen breitkrempigen hohen Hut, wie er oft von Wohlhabenden getragen wurde. 73 Johannsen, Vier von der Infanterie, 29. 74 Grimm, Schlump, 138f. 75 Vgl. etwa Renn, Nachkrieg, 287. 76 Remarque, Der Weg zurück, 297. 77 Alexander Lernet-Holenia. Die Standarte. Endgültige, vom Autor durchgesehene und ergänzte Ausgabe. Wien, Hamburg: Zsolnay, 1977, 266.  78 Walter Mehring. »Hoppla, wir leben!« Chronik der Lustbarkeiten. Die Gedichte, Lieder und Chansons 1918 – 1933. Christoph Buchwald (ed.). Düsseldorf: Claassen, 1981, 291–295, hier 294.

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Kriegszitterer in Lazaretten oder stehen »als Schüttler an den Straßenecken«,79 für manche Insassen in der »Irrenanstalt« geht der Krieg auch Jahre nach seinem Ende »immer noch weiter«.80 Ludwig Breyer hat sich in einem Frontbordell mit der Syphilis infiziert und begeht schließlich Suizid; seinen einsamen Weg in den Tod deutet der Erzähler sogar als radikale Konsequenz einer generationsspezifischen Unzugehörigkeit zur Nachkriegsgesellschaft: Ludwig, ich will nicht mehr! Was soll ich denn noch hier? Wir gehören ja alle nicht mehr hierher. Entwurzelt, verbrannt, müde – warum bist du allein weggegangen?81

Georg Rahe in Remarques Der Weg zurück drängt es bald nach der Heimkehr wieder aufs Schlachtfeld zurück, um als Freikorpskämpfer im Baltikum den Anstrengungen des Zivillebens (und seiner Ehe) jedenfalls eine Zeitlang zu entkommen.82 Denn der Krieg hatte auch den Vorzug einer großen Vereinfachung. »War alles einfacher damals. Nicht? Halb Dutzend Befehle, na, und die wurden ausgeführt. Weiter nichts. Ist heute schwerer durchzukommen.«83 Auch wenn der nach Kriegsteilnahme, sibirischer Gefangenschaft und abenteuerlicher Flucht nach Hause zurückgekommene, daheim arbeitslose Architekt Eugen Faber in Wassermanns Roman Faber oder die verlorenen Jahre seine Ehefrau als emanzipierte, rastlos karitativ tätige und sogar finanziell unabhängig gewordene Person wiedertrifft, wirft das für ihn die Frage auf, »wo man steht und ob man noch in eure Welt hineingehört.«84 Die während des Krieges gewandelten Geschlechterverhältnisse – Frauen, die ihre kriegsabwesenden Männer an den Arbeitsplätzen ersetzen und Kinder und Haushalt allein durch die Notjahre führen mussten –, machten die sozialen Verhältnisse des Zivillebens, gemessen an der reinen Männergesellschaft an den Fronten, nicht einfacher. Dass ein noch während des Krieges erschienener Text wie die Erzählung Ohne den Vater (1915) von Agnes Sapper bessere Perspektiven auf die Heimkehr bietet, obwohl der Held – ein Förster – hier nach seiner Entführung durch russische Soldaten, die er auf eine falsche Fährte geführt hat, geblendet nach Hause zurückkommt, verwundert sicherlich nicht: »Das ganze Vaterland hilft uns Invaliden,

79 Remarque, Der Weg zurück, 173; vgl. Joseph Roth. »Die Rebellion«. Werke. Bd. 4: Romane und Erzählungen 1916–1929. Ed. und mit einem Nachwort von Fritz Hackert. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1989, 243–332, hier 250. 80 Remarque, Der schwarze Obelisk, 215; vgl. auch Remarque, Der Weg zurück, 170ff. 81 Ebd., 327. 82 Remarque, Der Weg zurück, 59. 83 Ebd., 44. 84 Wassermann, Faber, 49.

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hilft vor allem, daß wir arbeiten lernen und etwas verdienen können.«85 Die propagandistische Botschaft entsprach der Devise der nationalen Invalidenfürsorge, der es nicht zuletzt auf die Erhaltung der Arbeitskraft der Kriegsverletzten ankam: »Es gibt kein Krüppeltum, wenn der eiserne Wille vorhanden ist, es zu überwinden!«86 Auch der unterschenkelamputierte Andreas Pum in Joseph Roths Roman Die Rebellion (1924) ist zu Beginn noch davon überzeugt, dass sich die Regierung die Versorgung der Invaliden »wirklich etwas kosten« lässt.87 Wenn aber sein fester Glaube an die göttlich garantierte staatliche Ordnung durch eine ›teuflische‹ Verkettung ungünstiger Umstände in Trümmer geht, gelangt Pum, ein anderer Hiob,88 zur Auflehnung gegen Gott. Leidenschaftliche und lästerliche Anklagen Gottes gibt es auch in Johannsens Vier von der Infanterie.89 Wenn aber dort der Krieg eine Schule der Gottlosigkeit ist, so ist es bei Roth der Nachkrieg.90 Weil Pums Geschichte mit dem Zerfall seiner Welt und der Anklage Gottes dem Hiob-Narrativ folgt, folgt auf seine Empörung auch die Wiedererstattung seines verlorenen, denkbar bescheidenen Besitzes: Mulis, des geliebten Esels, und seines wunderbarerweise von selbst tönenden Leierkastens. Das Wunder erweist sich freilich als Traumphantasie in der Agonie des Sterbens: Die Leiche des auch metaphysisch heimatlos gewordenen Pum wird von seinem letzten Arbeitsplatz weggeschafft, der Herrentoilette im ›Café Halali‹. Eine literarische Heimkehrerfigur aus dem Ersten Weltkrieg leidet dagegen nicht am resignativen Bewusstsein, für die Nachkriegsgesellschaft ›verloren‹ oder von ihr im Stich gelassen zu sein, sondern an der moralischen »Frage der Kriegsschuld und der persönlichen Verantwortung«.91 Der Oberleutnant und »Gymnasialoberlehrer Friedrich Becker, Doktor der Philologie« in Döblins panoramatisch 85 Agnes Sapper. Ohne den Vater. Erzählung aus dem Kriege. Stuttgart: Gundert, 1915, II., 1–119, hier 116. 86 Konrad Biesalski. Ein Aufklärungswort zum Troste und zur Mahnung. Leipzig, Hamburg 1915, 4. 87 Roth, »Die Rebellion«, 249. 88 Zum Versuch, das alttestamentliche Hiob-Geschichte als tragendes Narrativ des Romans nachzuweisen, vgl. mein Kapitel über Roths Die Rebellion in Deupmann, Verlorene Generation, 151–189. 89 »Und wenn dir in letzter Minute, kurz vor deinem Tode alle Schmerzen plötzlich vergingen und es käme einer und sagte: ›Gottes unerforschlicher Ratschluß‹ habe dich acht Stunden mit heraushängenden Gedärmen schreien lassen, bevor du endlich krepierst, du wirst ihm vielleicht mit letzter Kraft, weil du nicht sprechen kannst, als Antwort ins Gesicht spucken, so könnte es sein, dass wenigstens das nicht umsonst geschehen ist.« Johannsen, Vier von der Infanterie, 49f. 90 Ähnlich wie Roths Andreas Pum verklagt die Frau eines Kriegsinvaliden Gott in Ernst Tollers Stationendrama Die Wandlung: »Was ist das für ein Gott, der uns im Elend verkommen läßt? Der uns verhöhnt, indem er sagt: Selig sind die Armen, denn ihrer wartet das Himmelreich. Der Gott der Liebe und des Mitleids und der Wohltätigkeitsfeste. Wenn ich an erleuchteten Festsälen mich vorbei schleiche, glaube ich, ihren Gott am Dirigentenpult zu sehen und mit Konfetti um sich werfen. Wir sind Vieh ...« Ernst Toller. »Die Wandlung. Das Ringen eines Menschen«. Gesam­melte Werke. Bd. 2: Dramen und Gedichte aus dem Gefängnis (1918–1924). München: Hanser, 1978, 7–61, hier 38. 91 Döblin, November 1918, 2. Teil, 1. Bd., 233.

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breit angelegtem ›Erzählwerk‹ November 1918 kehrt nach einer Wirbelsäulenverletzung am Kriegsende körperlich fast vollständig genesen nach Berlin zurück, sieht aber erst jetzt vor seinem inneren Auge die Armee der vielen Toten im Weltkrieg, an dem er Schuld zu haben fühlt: Die einberufenen Soldaten, die jungen Reservisten, das ängstigt mich, ich muß immer sehen, wie sie über den Platz ziehen und in den Güterwagen wegfahren, und sie sind schon tot. Ich weiß da schon mehr. [...] Mein Inneres hat es ohne mein Wissen aufbewahrt, weil es wie Briefe war, die man an mich richtete, die ich aber nicht aufmachte. Und weil ich sie nicht aufmachte, muß ich jetzt Strafe zahlen. Inzwischen sind sie aber schon in den Tod gegangen. Und das ist unwiderruflich. [...] Mein Inneres weiß es. Und mein Inneres erträgt es nicht. Und darum geht es in Stücke.92

»Der Krieg«, findet auch Becker, »war eigentlich eine leichte Sache«, weil er von aller Verantwortlichkeit für sich selbst entband.93 Dass er tatsächlich Geister zu sehen vermag, stellt Döblins stilistisch denkbar vielseitiges – Satire, Dokumentmontage und Phantastik umfassendes – Romanwerk in zahlreichen metaphysischen Geistergesprächen dar: Der Streit um seine Heimkehrerseele wird zwischen dem spätmittelalterlichen Mystiker Johannes Tauler (um 1300–1361) und seinem namenlosem Gegenspieler ausgetragen, der bald die Gestalt eines südländisch aussehenden Mannes (eines »Brasilianers«), bald eines Löwen und zuletzt einer Ratte annimmt. Statt dem Licht der Liebe folgend »alle Ichheit« hinter sich zu lassen und durch das »Tor des Grauens und der Verzweiflung« auf den Heilsweg zu neuem Leben zu gelangen,94 erliegt Becker der satanischen Verführung zur radikalen ›Freiheit‹ von allen moralischen Selbstbindungen durch einen Suizid, der erneut eine lästerliche Verachtung für das göttliche Geschenk des Lebens ausdrückt: Ich speie mich aus. Ich verweigere die Annahme dieses Daseins. Ich verweigere die Annahme dieses Geschenks mit einem Schein-Ich, genannt Friedrich Becker. Das Paket geht an den Absender zurück.95

Als er den Suizidversuch knapp überlebt, erkennt er: »Dann gab es doch jemand, der stärker war als ›Jener‹. Dann war es doch keine Niederlage.«96 – Beckers Geschichte ist dennoch vielleicht die trostloseste unter allen literarischen Zeugnis92 Ebd., 206. 93 Ebd., 29. 94 Ebd., 481 und 478. 95 Ebd., 293. 96 Ebd., 302.

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sen von der Heimkehr aus dem Ersten Weltkrieg. Denn auch nach dem missglückten Versuch, sein »Ich auszurotten«,97 und der scheinbaren Überwindung seiner moralisch-religiösen Krise gelingt ihm die Heimkehr nicht. Vielmehr irrt er als eine Art obdachloser Wanderprediger durch die Welt, um erst nach seinem denkbar prosaischen Tod in einer verfallenen Garage und nach einem letzten Kampf seines Schutzengels Antoniel mit den Mächten der Hölle die metaphysische Heimkehr seiner beinah verlorenen Seele ins »himmlischen Jerusalem« zu erfahren.98 Wenn Hoffnung auf Heimkehr erst im finalen Sieg des Guten über das Böse besteht, ist die Aussicht auf diesseitige Heimkehr hoffnungslos. Freilich stellt die anspruchsvolle Heimkehrerliteratur nach dem Ersten Weltkrieg auch ermutigendere Lebensläufe dar. Nach langem Schweigen, das seine Familie beinahe zerstört, reist der seelische Spätheimkehrer Brand in Hans Sochaczewers Menschen nach dem Kriege Anfang Juni 1928 nach Dänemark, an einen Ort, an dem aufgrund der Neutralitätspolitik der skandinavischen Länder »weder Millionen Menschen getötet, noch [...] zermürbt« worden sind und das auch »die Schrecknisse und Folgerungen eines offenbar unkontrollierbaren Systems, wie Kriegsschulden und Inflation, nicht erfahren« hat. Auf dieser gewissermaßen in die Vorkriegswirklichkeit führenden Reise gelangt er nicht zuletzt – ähnlich Remarques Helden Birkholz – mit Hilfe der Natur zur Einsicht, »daß man leben darf. Und sich freuen kann.«99 Doch Brands Überwindung des »ausschließliche[n] Rückwärtsgewandtsein[s]«100 im ressentimentgesättigten Betrauern des verlorenen Krieges und der ›Schande‹ des Versailler Vertrags gelingt nicht zuletzt dank einer Rückkehr in die Sprache. Die nach zehn Schweigejahren endlich doch noch erfolgende Aussprache zwischen den Eheleuten zwingt dem zu Worten Gekommenen freilich auch die schmerzhafte Erkenntnis auf, dass er durch sein Schweigen »seiner Frau zehn Ehejahre zerstört, und daß er dadurch weder seinen Kummer gemindert noch dem Vaterlande genützt« habe.101 Die wiedergewonnene Sprache löst ihn zugleich aus der emotionalen Verhaftung an die Männergemeinschaft des Krieges: Am Ende erwarten beide ein Kind, und Brand ist »jetzt ganz anders« zu Aline; ein fürsorglicher Ehemann und Vater, der sogar in der veränderten Geschlechterordnung der Nachkriegszeit angekommen zu sein scheint, wenn er daheim den »Küchendienst« übernimmt.102 97 Alfred Döblin. November 1918. Eine deutsche Revolution. Erzählwerk in drei Teilen, 2. Teil, 2. Bd.: Heimkehr der Fronttruppen. Mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel. Frankfurt/M.: Fischer, 2013, 750. 98 Alfred Döblin. November 1918. Eine deutsche Revolution. Erzählwerk in drei Teilen, 3. Teil: Karl und Rosa. Mit einem Nachwort von Helmuth Kiesel. Frankfurt/M.: Fischer, 2013, 762. 99 Sochaczewer, Menschen nach dem Kriege, 342 und 363. 100 Ebd., 169. 101 Ebd., 293. 102 Ebd., 303 und 360.

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Die Geschichte des Heimkehrers Brand ist aber auch Gegenstand eines Films gleichen Titels in Sochaczewers Roman Menschen nach dem Kriege. An ihm reflektiert der Ich-Erzähler Nock, ein Filmregisseur, über die Mediendifferenz hinweg die Möglichkeit der narrativen Darstellung eines individuellen Heimkehrerschicksals; denn »das Schicksal einer Generation« zu zeigen sei schlechterdings unmöglich.103 Das trägt in den Roman eine selbstreflexive Schleife ein. Der Verweiszusammenhang zwischen dem Wortkunstwerk und dem fiktiven Film verdichtet sich auf raffinierte Weise, indem sich der Roman über den Heimkehrer Brand gewissermaßen selbst als einzig mögliche Vorlage für Nocks Filmprojekt ins Spiel bringt.104 Indirekt unterstreicht der Erzähler damit den innovativen Anspruch des eigenen Erzählens, also des vor Renns Nachkrieg und Remarques Der Weg zurück erschienenen Romans Menschen nach dem Kriege:105 Niemand bisher hatte sich das Schicksal einer Familie Brand zum Vorwurf eines Romanes genommen; merkwürdig, wahrlich, wenn man bedachte, daß es nicht fehlte an solchen Existenzen, und daß ihr Leben reich genug, armselig genug, verwirrt genug, empört genug, sehnsüchtig genug verlief: ja, das eine wie das andere. Nock für sein Teil hätte es insbesondere begrüßt, wäre aus einem derartigen Buche etwas für den geplanten Film zu schöpfen gewesen, denn nun, da es nicht vorhanden, mußte er selber das Manuskript aufbauen [...].106

Fazit Die Provokation (und möglicherweise auch Attraktion) des Konzepts der lost generation bestand offenbar darin, dass es in aller Schärfe die Unmöglichkeit erneuter Selbstanpassung an ein ziviles Gesellschaftsleben nach den traumatischen Kriegserfahrungen beschrieb. Dass es indes nicht unmittelbar als Wirklich keitsbeschreibung gelten kann, zeigen nicht zuletzt f i kt iona le Texte mit der Vielfalt der scheiternden oder gelingenden Heimkehrversuche. Sie antworten damit auf vielstimmige Weise auf die wichtigste Frage der ›verlorenen Generation‹ und indirekt auch aller nachfolgenden, die ähnlich traumatische Erfahrungen machen mussten: Wie Heimkehr in (den) Frieden möglich sei. Auch dann, wenn 103 Ebd., 95. 104 Vgl. ebd., 170. 105 Heimkehrerschicksale thematisieren früher als Romane in der deutschsprachigen Literatur jedoch bereits Dramen wie Bertolt Brechts Trommeln in der Nacht (1919, UA 1922) oder Ernst Tollers Der deutsche Hinkemann (1923/24). 106 Sochaczewer, Menschen nach dem Kriege, 151.

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sie von letztlich gelingender Heimkehr erzählen, stellen sie die im begrifflichen Konzept der ›verlorenen Generation‹ enthaltene Unwahrs cheinlichkeit dieser Heimkehr aus. In jedem Fall befragen die Erzählungen von der Heimkehr aus dem Ersten Weltkrieg implizit das Konzept der ›verlorenen Generation‹ selbst. Indem die meisten dieser Texte in der »Einheit von Probleme[n]«,107 die eine Generation konstituieren, nicht zuletzt das Problem der sprachlichen Verständigung als zentrales Hindernis der Heimkehr aus dem Krieg ausmachen, thematisieren sie ebenso implizit die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit und Wirksamkeit.

107 Bude, »Soziologie der Generationen«, 426.

Matthias Schöning

Militärroman, Institutionenroman, Ludendorff-Porträt Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa – Mit einem Seitenblick auf Junge Frau von 1914 und den Roman-Zyklus

Arnold Zweigs Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa setzt einen echten Kontrapunkt zum typischen Kriegsroman der Weimarer Republik.1 Das mehrheitlich verwendete Konzept der literarischen Kriegsdarstellung hat zwar den Vorzug der Eindrücklichkeit durch Simulation von Authentizität. Die Kultur der Weimarer Republik zahlt jedoch einen hohen Preis. In der Perspektive der Frontkämpfer, im narrativen Modus Interner Fokalisierung, sind nur Grabenkrieg und Materialschlacht von Interesse. Wenige Kilometer hinter der Front, in der Etappe und bei den Stäben beginnt in der Logik des typischen Kriegsromans bereits die Welt der Ahnungslosen, die sich nur im Grad der Korruption unterscheiden. Das Spektrum reicht von den Maulhelden, die ihre Schutzbefohlenen in den Krieg treiben, über die Schinder in den Kasernen bis zu den Kriegsgewinnlern unter den Drückebergern. Das alles hat es zweifellos gegeben, aber mit der Dichotomie von Front und allem anderen geht eine massive Mythisierung der Kriegserfahrung einher. Die politischen und militärischen Entscheidungsprozesse, die ihr vorausgehen, geraten dagegen aus dem Blick. Das schlägt zurück auf die Texte selbst, wenn die Gestaltungsmacht der narrativen Verfahren unterschlagen und Fragen der Fiktionalität in Nebel gehüllt werden. Ambivalente Pragmatik und verleugnete Artifizialität sind gewichtige Schwachpunkte dieses Literaturkonzepts. Der ästhetischen Konformität entspricht ein

1 Der Standardisierung im Diskurs der Kriegsliteratur der Weimarer Republik auf der Spur war als erster Hans-Harald Müller. Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik. Stuttgart: Metzler, 1986.

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eigenartiger Konformismus der Anschauungen. Es kostet Remarque, Renn oder auch Köppen2 große Anstrengungen, sich und ihre Bücher kriegskritisch oder gar pazifistisch zu positionieren. Wie das Beispiel von Ludwig Renn und seinem Roman Krieg zeigt, kann zwischen der engagierten Haltung des kommunistischen Autors und seiner Darstellung der Leiden und Leistungen des deutschen Frontsoldaten eine Kluft entstehen, die sich ein Leben lang nicht schließt.3 Noch in der DDR muss der gegenüber der Partei stets loyale Autor sich zum allzu unparteilichen Charakter seines erfolgreichsten Buches erklären.4 Arnold Zweig, der sich nach dem Exil in Palästina ebenfalls für die DDR entscheidet, hat es da leichter.5 Sein Romanzyklus Der große Krieg der weißen Männer weist zwar viele Spuren der Zwänge eines linken Autors im Zeitalter der Ideologien auf. Doch nicht nur sein erfolgreichstes Buch Der Streit um den Sergeanten Grischa, der zuerst veröffentlichte Band des genannten Zyklus, bemüht sich erkennbar um einen kritischen Blick auf die deutsche Heeresleitung. Im 1931 erschienen zweiten Teil Junge Frau von 1914 werden die Illusionen der Zivilisten aufgedeckt und die Verblendung der Intellektuellen dargestellt. Ist in Zweigs Romanprojekt eine alternative Poetik der Kriegsdarstellung wiederzuentdecken? Oder scheitert er nur auf anderem Wege an einer adäquaten Kriegsdarstellung? Wie sind die noch zur Zeit der Weimarer Republik entstandenen Romane Arnold Zweigs überhaupt zu charakterisieren? Wie verhalten sie sich zueinander und was kann man aus ihrem Verhältnis lernen?

2 Vgl. Martin Morth. Der Diskurs des Dokumentarischen. Konjunkturen des Faktischen in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. im Entstehen, erscheint voraussichtlich 2022. 3 Vgl. Andrea Jäger. »›Ich wollte den wahren Helden zeigen‹. Ludwig Renns Antikriegsroman ›Krieg‹«. Sabina Becker, Christoph Weiss (eds.). Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Stuttgart/Weimar: Metzler, 1995, 157–175, hier: 163ff. und Jürgen Rühle. »Offizier des Kaisers – Soldat der Komintern«. ders. Literatur und Revolution. Die Schriftsteller und der Kommunismus. Köln, Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 1960, 232–274, und Jan Süselbeck. »Böse Blicke. Kodierte Gefühle in den frühen Kriegsromanen Ludwig Renns und in Wolfgang Koeppens ›Jugend‹«. Literaturkritik.de (8). URL: https://literaturkritik.de/id/19415 (letzter Zugriff: 20.04.2020). 4 Vgl. Müller, Krieg, 196. 5 Zum Verhältnis der Romane von Renn und Zweig vgl. auch – mit entgegengesetzter Wertung – Klaus Hammer. »Autobiographie in versteckter und offener Form. Ludwig Renns Krieg im Urteil der Zeitgenossen«. Joana Flinik (ed.). Faktizität und Fiktionalität. Formen autobiographischen Schreibens. Słupsk: Wydawnictwo Naukowe Akademii Pomorskiej, 2010, 80–90, hier: 82f. Allerdings klassifiziert Hammer den Roman von Renn als »Reportage« (ebd., 84) und schlägt ihn damit umstandslos einem faktualen Genre zu.

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Einleitung Im Zentrum von Der Streit um den Sergeanten Grischa steht der willkürliche Justizmord an einem russischen Kriegsgefangenen, dessen Name nicht nur im Titel steht, sondern der mit großer Sympathie dargestellt wird. Es gibt auch hier einen realen Fall, auf den der Autor aufmerksam geworden ist, nachdem es ihn während seiner langen Kriegsdienstzeit nach ›Ober-Ost‹, ins Hauptquartier von Hindenburg und Ludendorff, verschlagen hat.6 Zweig verfolgt jedoch keine quasidokumentarischen Absichten, sondern nutzt die großen Gestaltungsmöglichkeiten des Romans für eine panoramatische Sichtung der Entscheidungsstrukturen im deutschen Heer. Dabei löst Zweigs Roman die Darstellung des Krieges aus dem Bann der Front und schafft eine Alternative zum Frontkämpferroman einerseits und dem Zeitroman der Zivilisten andererseits. Bei ihm steht weder der Frontsoldat im Zentrum, noch der Kriegsschauplatz im Westen. Die Gestaltungsfreiheit, die er dadurch gewinnt, kommt einem mehrsträngigen Roman zugute, der das Militär vor allem als Organisation beleuchtet. In gewisser Weise ist Zweigs Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa weniger ein Kriegs- als vielmehr ein Militärroman. Und ebenso wie das Militär als mächtiger sozial und kulturell prägender Teilbereich des deutschen Kaiserreichs 1871–1918 zu verstehen ist, so ist auch der Militärroman Zweigs als Untergruppe des Gesellschaftsromans zu verstehen – oder besser noch als Institutionenroman über das die Gesellschaft des Kaiserreichs stark prägende Militär. Der »Institutionenroman« im Sinne Rüdiger Campes7 ist das konzeptuelle Komplement zum Bildungsroman aus der Perspektive eines stärker von Foucault geprägten Macht- und Subjektivierungskonzepts. Anders als im Falle des Bildungsromans steht bei der Bestimmung eines Erzähltextes als Institutionenroman nicht die mehr oder minder selbstmächtige Entfaltung des Individuums im Vordergrund. Das Augenmerk wird vielmehr auf den institutionellen Korridor zwischen Ermächtigung und Beschränkung gelegt, in dem Subjektivierung stattfindet. Dieser Korridor ist für Angehörige der Institution Militär besonders eng. Die Erfahrungen von Ermächtigung und Ohnmacht liegen besonders nah beieinander – zumal im 6 Vgl. Bodo Pieroth. Recht und Literatur. Von Friedrich Schiller bis Martin Walser. München: C.H. Beck, 2015, 154. 7 Vgl. Rüdiger Campe. »Kafkas Institutionenroman. ›Der Process‹, ›Das Schloss‹«. Rüdiger Campe, Michael Niehaus (eds.). Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider. Heidelberg: Synchron, 2004, 197–208, ders.: »Robert Walsers Institutionenroman ›Jakob von Gunten‹«. Rudolf Behrens, Jörn Steigerwald (eds.). Die Macht und das Imaginäre. Eine kulturelle Verwandtschaft in der Literatur zwischen Früher Neuzeit und Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2005, 235–250, sowie ders. »James Joyces ›A Portrait of the Artist as a Young Man‹ und die zwei Seiten des Romans: Bildung und Institution«. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 41 (2016), 2, 356–375.

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Krieg. Das prägt zweifellos den Kriegsroman insgesamt, egal ob das Handeln des Frontsoldaten im Westen oder – wie hier – eines Kriegsgefangenen im Osten den Gegenstand der Darstellung bildet. Die Besonderheit von Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa liegt jedoch darin, dass er die Institution selbst, der die Gestaltung des Korridors obliegt, zum Thema macht. Das Schicksal des Sergeanten Grischa, kein Millionenschicksal, sondern tragischer Einzelfall und trotzdem exemplarisch für die Gewalt, die den Menschen angetan wird, ist für die Charakteristik des Textes und zumal für den Romanzyklus insgesamt letztlich weniger wichtig als der Streit um ihn, den konträr gesinnte Teile der Institution Militär mit allen Finessen austragen. Der Titel des Romans könnte insofern nicht präziser sein. Eine wichtige Voraussetzung des Militärromans als Facette des Gesellschaftsoder Institutionenromans ist, angesichts des Ersten Weltkriegs, die Verlegung des Schauplatzes von der West- an die Ostfront. Realgeschichtlich betrachtet, wird dort tatsächlich ein anderer Krieg geführt. Die Front ist weniger erstarrt. Der Krieg ist wenigstens phasenweise Bewegungskrieg.8 Das Geschehen konzentriert sich weniger in der Materialschlacht. Natürlich wird an der Ostfront nicht weniger Material eingesetzt. Aber weil es sich nicht im gleichen Maße wie im Westen um einen Stellungskrieg handelt, verteilt sich das Material anders im Raum. Der Krieg ist darum nicht menschlicher, aber in seiner sinnlichen Gewalt weniger bestürzend. Die Grausamkeit erscheint weniger absurd, und das Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag ist weniger grotesk. Und weil der Krieg dadurch weniger ikonisch wirkt, bleibt der Darstellung mehr künstlerischer Gestaltungsspielraum. Der Blick löst sich von diesem eigenartigen Geburtsort neuer Identitäten wie dem »Frontsoldaten« oder »Frontkämpfer«. Arnold Zweig erinnert daran, dass der Kriegsroman R oman ist bzw. sein könnte und nicht bloß echtes oder vermeintliches Kriegstagebuch. Der fiktionale Roman in einem vollgültigen Sinne kennt gegenüber dem Standardmodell des Kriegsromans der Weimarer Republik mehrere Handlungsstränge, eine komplexe Figurenkonstellation und eine dargestellte Welt, die weniger zentriert ist.9 Bei Remarque (Im Westen nichts Neues) oder Jünger (In Stahlgewittern) ist es gleichgültig, ob im Hintergrund der dargestellten Handlung – gleichsam of f st age  – irgendwelche Entscheidungen getroffen werden. Mit interner Fokalisierung folgt die Erzählperspektive immer der einen Hauptfigur und ihrer soldatischen

8 Vgl. Christian Th. Müller. Jenseits der Materialschlacht. Der Erste Weltkrieg als Bewegungskrieg. Paderborn: Schöningh, 2018, insb. ab 129. 9 Vgl. mit Blick auf den Grischa-Roman und vor allem dessen Figurenkonstellation: Jörg Schönert. »... mehr als die Juden weiß von Gott und der Welt doch niemand. Zu Arnold Zweigs Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa«. Gunter E. Grimm, Hans Peter Bayerdörfer (eds.). Im Zeichen Hiobs. Jüdische Schriftsteller und deutsche Literatur im 20. Jahrhundert. Königstein/Ts.: Athenäum, 1985, 223–242, hier 228f.

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Primärgruppe. Arnold Zweigs Romane unterscheiden sich vom dominierenden Konzept dadurch, dass sie den gattungspoetischen Gestaltungsspielraum offensiv nutzen10 und so ein ganzes Spektrum an Handlungsdimensionen und Handlungsräumen für die Darstellung öffnen. Im Resultat stehen seine Texte zwischen der klassischen Kriegsliteratur und einem Zeitroman à la Thomas Mann und seinem Zauberberg. Nach einer Rekapitulation der Entstehungsgeschichte der noch in der Weimarer Republik erscheinenden Romane Der Streit um den Sergeanten Grischa und Junge Frau von 1914 und einigen Hinweisen zum Zyklus insgesamt sind zunächst die Beobachtungen zur Romanpoetik zu vertiefen, bevor Leistung und Grenzen des Unternehmens genauer bestimmt werden. Weil dazu nicht zuletzt die LudendorffPorträts beider Romane herangezogen werden, sind allgemeine Bemerkungen zur Referenzialität des historischen Romans ebenso nötig wie ein Rekurs auf das zeitgenössische Ludendorff-Bild. Dazu wird im Speziellen Max Weber herangezogen. Am Schluss steht die ins Resümee mündende Frage, wie Zweig die Institution Militär als Kollektivkörper darstellt.

Der Romanzyklus Der große Krieg der weißen Männer Eine wichtige Erklärung für Zweigs abweichendes Konzept dürfte sein, dass er bereits vor dem Ersten Weltkrieg als Schriftsteller reüssiert hat und nicht erst durch den Krieg zum Autor wurde, wie das etwa für Remarque oder Jünger gilt. Nachdem Arnold Zweig bereits vor dem Ersten Weltkrieg mit den Aufzeichnungen über eine Familie Klopfer und Das Kind zwei Erzählungen in einem Band veröffentlicht (1911) und mit den Novellen um Claudia (1912) einen ersten Erfolg gefeiert hat, trägt er 1914 erst einmal zur literarischen Kriegspropaganda bei. Als übles Machwerk muss vor allem die Kurzgeschichte Die Bestie des gleichnamigen Bandes in der Reihe Langens Kriegsbücher vermerkt werden.11 Während die Gegenpropaganda, die den Band insgesamt prägt, sich meist mit idealisierten Darstellungen deutscher Rechtschaffenheit auch und insbesondere unter seinen Soldaten begnügt, wird hier eine blutige Franktireur-Geschichte erzählt: Ein belgischer Bauer schächtet drei arglose deutsche Soldaten, die bei ihm übernachten.12

10 Vgl. auch die Einschätzung von Joachim Fest. »Parabel von Macht und Moral. Joachim Fest über Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa«. Marcel Reich-Ranicki (ed.). Romane von gestern, heute gelesen. Bd. 2. 1918–1933. Frankfurt/Main: S. Fischer, 1989, 98–106, hier 98. 11 Arnold Zweig. Die Bestie. Erzählungen. München, Albert Langen Verlag, 1914, 7–22. 12 Zur verwickelten Forschungslage bzgl. belgischen Freischärlern und deutscher Vergeltung vgl. Ulrich Keller. Schuldfragen. Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung im August 1914. Paderborn 2017.

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Ihn ereilt die gerechte Strafe, jedoch ohne, dass die deutschen Soldaten, die seine Tat aufdecken, sich von seinem Hass anstecken ließen. Bald danach verschiebt sich der Fokus. Nicht mehr der imaginären Volksgemeinschaft gilt Zweigs Aufmerksamkeit, sondern ihrem gefährdetsten Teil, noch widmet er sich während des Krieges und in den ersten Jahren danach in Drama und Essayistik dem Judentum. Ein Thema, das ihn bis in seine Exilzeit in Palästina beschäftigen wird und für das er den Romanzyklus, den er mit dem Streit um den Sergeanten Grischa begonnen hat, unterbrechen wird: De Vriendt kehrt heim (1932). Seine literarische Produktion nach dem Ersten Weltkrieg schließt ästhetisch zunächst an seine Anfänge an. Es entstehen verschiedene Erzählungen bis er sich dann dem Grischa-Stoff zuwendet, der nicht erfunden ist, wie Zweig beteuert.13 Zunächst entsteht ein Drama mit dem Titel Der Bjuschew. Als er von Lion Feuchtwanger erfährt, dass seinem Roman Jud Süß ein ungespieltes Drama zugrunde liege, fasst er den Entschluss, dasselbe zu probieren und arbeitet sein Drama zum Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa um. Mit den Misserfolgen ist es allerdings noch nicht vorbei. Der Weg zur Publikation ist ähnlich holprig wie bei Remarque. Der Ullstein-Verlag, der ein gutes Jahr später Remarques Im Westen nichts Neues herausbringen wird, tritt vom Vertrag zurück. Zweig wechselt zum Verlag Kiepenheuer, wo der Roman schließlich als Buch erscheint, nachdem er in der Frankfurter Zeitung vorabgedruckt worden war.14 Erst nach dem Erfolg des Romans wird auch das Drama aufgeführt – nun unter dem ähnlich klingenden Titel Das Spiel um den Sergeanten Grischa. Ort der Uraufführung ist am 31. März 1930 das Berliner Theater am Nollendorfplatz.15 Heute gilt Arnold Zweigs Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa als wichtigster Text des Autors. Interessant ist er allerdings nicht nur als Einzeltext, sondern auch als Bestandteil eines groß angelegten Romanprojekts über den Ersten Weltkrieg, das schließlich sechs Bände umfassen wird und sowohl hinsichtlich seiner langen Entstehungszeit als auch seiner Länge wohl seinesgleichen sucht. Auch wenn hier nur die Auftaktbände untersucht werden, lohnt sich ein Überblick über den Zyklus. Das ist erhellend einerseits mit Blick auf Arnold Zweig, dessen Zyklus drei sehr unterschiedliche Epochen der deutschen Literaturgeschichte tangiert, und andererseits für die Stellung der Texte darin. Arnold Zweigs Zyklus trägt den Titel Der große Krieg der Weißen Männer. Den Anfang machen Der Streit um den Sergeanten Grischa, aus dem Jahr 1927, und Junge Frau von 1914, erschienen 1931. Interessant wird es nun, wenn man 13 Vgl. Müller, Krieg, 162. Siehe außerdem Wilhelm von Sternburg. Arnold Zweig. Frankfurt/Main: Anton Hain, 1990, 96. 14 Vgl. ebd., 163. 15 Heinz Ludwig Arnold (ed.). Kindlers Literaturlexikon (KLL). Stuttgart, Weimar: Metzler, ³2009, Bd. 17, 824.

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der Reihenfolge der Entstehung die Chronologie der dargestellten Handlung gegenüberstellt:16 Nachdem Arnold Zweig zur Gattung des Romans zurückgekehrt ist – bereits seine Novellen um Claudia waren trotz des irreführenden Titels ein Roman –, plant er zunächst eine Trilogie, deren Mitte der bereits fertige GrischaRoman darstellen soll. Den ersten Teil soll der Roman Erziehung vor Verdun bilden. Dessen Beginn wächst sich allerdings zu einem eigenständigen Text aus, wird abgekoppelt und 1931 unter dem Titel Junge Frau von 1914 publiziert. Die in einer auf den 11. November 1931 datierten Nachbemerkung zu diesem Roman angekündigten Titel Erziehung vor Verdun und Einsetzung eines Königs erscheinen in der Zeit des Exils 1935 und 1937. Wiederum ganz anders sind die Produktions- und Rezeptionsbedingungen der beiden letzten Teile des auf schließlich sechs Werke angewachsenen Romanzyklus Der große Krieg der weißen Männer. Die Romane Die Feuerpause und Die Zeit ist reif entstehen und erscheinen 1954 und 1958 in der DDR, in der Arnold Zweig von der Rückkehr aus dem Exil bis zu seinem Tod 1968 leben wird. Er stirbt einundachtzigjährig in Ost-Berlin.17 Neben den sehr unterschiedlichen Kontextbedingungen ist das Verhältnis zwischen der Stellung der Texte im Zyklus und der Reihenfolge des Erscheinens zu beachten. Liest man den Romanzyklus am chronologischen Leitfaden der dargestellten Handlung, die 1914 beginnt und die Jahre 1916 bis 1918 ins Zentrum stellt, dann kommt man erst im vierten Band zum Streit um den Sergeanten Grischa, der doch 1927 als erstes erschienen war. Nachdem der Leser zuvor beobachten konnte, wie die Figur des Bertin durch die harte Erziehung vor Verdun gegangen ist, scheint es, als falle Bertin hinter das dort erreichte Niveau, insbesondere hinter das dort erlangte kritische Bewusstsein gegenüber dem Krieg, zurück. Man kann sich durchaus den Worten von Georg Lukács anschließen, der bereits 1939 mit Blick auf die bis dato vorliegenden vier Werke des Zyklus bemerkt, dass Zweig Bertins ›Erziehung‹ an der Verduner Front viel weiter, auf eine viel höhere Stufe der Bewußtheit führt, als jene ist, auf der wir ihn im Roman über Grischa kennenlernen. Und sehr vieles, was er dort tut und empfindet, erscheint als bedenklicher Rückfall, wenn man diesen als Zyklusfortsetzung von jenem aufaßt und nicht berücksichtigt, daß er früher entstanden ist.18 16 Eine tabellarische Übersicht findet sich bei Eberhard Hilscher. Arnold Zweig. Leben und Werk. Berlin (Ost): Volk & Wissen, 1985, 75. 17 Vgl. Sascha Kiefer. »Ein Kriegsbuch? Ein Friedensbuch. Arnold Zweigs Streit um den Sergeanten Grischa (1927)«. Reiner Wild (ed.). Dennoch leben sie. Verfolgte Bücher, verfolgte Autorinnen und Autoren. Zu den Auswirkungen nationalsozialistischer Literaturpolitik. München: Edition Text + Kritik, 2003, 433–440, hier 436f. 18 Georg Lukács. »Arnold Zweigs Romanzyklus über den imperialistischen Krieg 1914–1918«. Ders. Schicksalswende. Beiträge zu einer neuen deutschen Ideologie. Berlin (Ost): Aufbau, 1956, 162–189, erweitert um ein Nachwort 1952 (189–198), hier: 185.

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Während Lukács normativ argumentiert, erscheint es für die Klärung der Sachlage dienlicher, erst einmal die historische Situation mit ihrem anderen Rezeptionshorizont für die genannten Unterschiede haftbar zu machen. 1927, noch in den so genannten goldenen Ja hren der Weimarer Republik und vor Remarques großem Erfolg, trifft der Roman auf eine eher offene, ideologisch weniger polarisierte Situation, in der für das Thema Weltkrieg als Gegenstand von Romanliteratur stärker geworben werden muss. Eine weniger zugespitzte, sondern partiell schelmisch erzählte Handlung kann als Ausdruck einer situationsadäquaten Pragmatik verstanden werden. 1935 dagegen geht es darum, aus dem Exil heraus und mit den bescheidenen Waffen des Romans gegen Militarismus und Nationalismus zu kämpfen. Graustufen machen jetzt wenig Sinn. Es gilt, den Verbrechern in Uniform, die sich einstweilen durchgesetzt zu haben scheinen, letzte Exponenten der Rechtschaffenheit gegenüberzustellen, um wenigstens im Bereich des Fiktiven an einem besseren Deutschland festzuhalten. Zu dieser Zielsetzung passt der Rückgriff auf Verdun als Handlungsort, denn die Blutmühle von Verdun19 fordert schnelle Entscheidungen und entschiedene Haltung. Zum umständlichen Kleinkrieg zwischen Militärs mit unterschiedlichem Ethos, das den Roman von 1927 prägt, passt besser das Jahr 1917 mit einer durch die russische Februar-Revolution beruhigten Front. Sollte diese Einschätzung zutreffen, dann bietet Arnold Zweigs Zyklus nicht zuletzt ein starkes Beispiel dafür, wie sich die realgeschichtliche Situation vermittels der Pragmatik der Publikationshandlung auf den literarischen Text auswirkt.20 Unverändert geblieben ist demgegenüber der panoramatische Anspruch des Romanprojekts insgesamt. Will man dessen eigene Poetik herausarbeiten, lohnt es sich, zunächst einen Blick auf den Roman Junge Frau von 1914 zu werfen, den in der Chronologie der histoire für lange Zeit ersten Teil.21

Zur Romanpoetik am Beispiel von Junge Frau von 1914 Junge Frau von 1914, erschienen 1931 als, der Entstehung und Publikation nach, zweites Werk des Romanzyklus’ Der große Krieg der weißen Männer, macht auf verhältnismäßig engem Raum deutlich, was Zweig vorhat. Bereits der Auftakt verrät 19 Zu Verdun vgl. Olaf Jessen. Verdun 1916. Urschlacht des Jahrhunderts. München: C.H. Beck, 2014. 20 Das könnte in diesem Einzelfall gegen Alexander Honold. Einsatz der Dichtung. Literatur im Zeichen des Ersten Weltkriegs. Berlin: Vorwerk 8, 2015, 139f., eingewendet werden, der behauptet: »Wo der Krieg intentional und thematisch derart im Vordergrund steht, ist über Verarbeitungsmuster und über die Veränderung des Kulturellen insgesamt durch die Kriegserfahrung weniger zu erfahren als in Texten, deren Darstellungsintention sich nicht erschöpft in der expliziten Bezugnahme auf den Krieg.« 21 Erst mit dem zuletzt fertig gestellten Band Die Zeit ist reif von 1957 erhält Junge Frau von 1914 noch eine Vorgeschichte und wird zum zweiten Teil des Zyklus.

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poetisches Konzept und politische Stoßrichtung. Vermerkt man diese, dann sollte man jedoch auch die gleichermaßen deutlichen Hinweise zur Form der literarischen Gestaltung nicht unterschlagen. Los geht es mit einer ganz unbedeutenden Nebenfigur, die jedoch auch im Grischa-Roman als Nebenfigur wieder auftaucht (s.u.), in einem Geflecht von potentiellen Figuren und Erzählmöglichkeiten: Der Briefträger Schmielinsky ordnete auf seinem abendlichen Bestellungsweg im Eingang des Hauses Brixenstraße 6 mit geübten Fingern seine Post. Ein »Einschreiben« oben an den Maler, zwei Feldpostbriefe an die Dame im dritten Stock, einer davon unheilverkündend amtlich; eine Ansichtskarte für die lustige Köchin bei Zimmermanns, und unter anderer Durchschnittsware für den Studenten, Hochparterre rechts, der Gestellungsbefehl. Schmielinsky betrachtete ihn mit stillem Haß. Auch ihm, gedientem Mann, blühte, wer weiß wie bald, solch ein Wisch, da ja die Herren Abgeordneten, die reichen Leute und die kleinen Sparer der Regierung die zweite Kriegsanleihe nur so hingepfeffert hatten. Neuntausendachtzig Millionen Mark, – neun Milliarden! Alle wollten also, daß es weiterging. Da ließ sich nichts machen.22

Der Überbringer der Nachricht dient dem Adressaten als Kontrastfigur. Werner Bertin, eine der Hauptfiguren des Zyklus, ist ein junger jüdischer Schriftsteller und Lebensgefährte, später Ehemann, der jungen Frau von 1914, Lenore Wahl. Bei Erhalt seines Gestellungsbefehls erblasst Bertin minimal, im weiteren Verlauf jedoch macht er an sich selbst genau die Gemeinschaftserfahrungen, die den Ide en von 1914 ihre vermeintliche Erlebnisqualität verleihen. Der allwissende Erzähler hält fest: Er genoß die Lust, Teil eines riesigen Gesamtkörpers zu sein, mit verantwortlich für eine festgefügte Gruppe, mit der man zu einer Einheit verschmolz: die Kompanieehre des Soldaten. Der geistige Mensch war nicht mehr einsam, erste Quelle des Glücks.23

Das muss man kaum erläutern. Das Thema der kollektiven Identität wird auf den ersten Seiten des Romans gut erkennbar aufgenommen. Verstärkt wird es dadurch, dass unter anderem auch die Eltern Lenores, großbürgerliche Berliner Juden, die Bertin nur widerstrebend als Schwiegersohn akzeptieren, mit dem Krieg 22 Arnold Zweig. Junge Frau von 1914. Berlin, 1932: Büchergilde Gutenberg, 8 (Kap. I/1). (Um zwischen verschiedenen Ausgaben navigieren zu können, gebe ich für Zweigs Romane neben den Seitenzahlen der benutzen Ausgabe auch die Kapitelnummern an.) 23 Ebd., 30 (I/4).

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die Hoffnung auf stärkere Vergemeinschaftung verbinden.24 Die Überhöhung des Krieges zum Motor besserer Integration verbindet verschiedene unterschiedlich stark marginalisierte Gruppen mit den tonangebenden Eliten des Kaiserreichs.25 Die genannten Komponenten der Figurenkonstellation deuten bereits an, dass die wichtigsten gesellschaftlichen Konfliktlinien mit Ausnahme von Klassenkämpfen stark reflektiert werden.26 Die Mehrsträngigkeit der dargestellten Handlungen und das damit korrespondierende Mosaik der Bildausschnitte sind die bevorzugten Mittel einer Diskurskritik mittels Relativierung. Anders als im einsträngigen Frontsoldatenroman in der Nachbarschaft zum Kriegstagebuch erlaubt es die Verknüpfung verschiedener Handlungsstränge, die dominierenden Muster der Konfliktwahrnehmung und deren politische Aufladung zu konterkarieren. Die Heimat erscheint nicht nur als das negative Gegenbild zur Front, das der Soldat typischerweise kurz tangiert, um sie schnell wieder zu fliehen. Dieser Topos wird durchaus auch zitiert.27 Den Unterschied macht vor allem, dass die Heimat im Gegensatz zur Front als der einzige Ort bestimmt wird, an dem die gesellschaftlichen Kosten des Kriegs bilanziert werden können. Ohne die Heimat ist das Bild nicht nur unvollständig, schief oder ungerecht. Zweig macht deutlich, dass Heimat, Etappe und all die anderen Orte fernab vom Schuss, wo der Krieg ziviler erscheint, epistemisch unverzichtbar sind. Für ein besseres Verständnis des Krieges ist es notwendig, den Bann zu lösen, in dem die Westfront das Denken und Schreiben über den Krieg seinerzeit gefangen hält. Der Dezentrierung der dargestellten Welt entspricht der nicht-lineare ­d iscours, der parallel verlaufende Handlungsstränge hintereinanderschaltet und durch den wiederholten Wechsel des Fokus ein polyvalentes Bild vom Krieg zeichnet, ohne forciert pazifistisch sein zu müssen. Es reicht erst einmal, den Blick auszuweiten und der Front ihr vermeintliches Privileg streitig zu machen, um der Polarisierung des Diskurses entgegenzuwirken. Junge Frau von 1914 erzählt einerseits, wie Bertin in den Krieg zieht, sich am Soldatenleben berauscht und seine Lebensgefährtin vergewaltigt. Mehr Raum nimmt die Geschichte Lenores, des Vergewaltigungsopfers, ein, die sich zu einer genau geschilderten Abtreibung entschließt, Bertin aber keineswegs verstößt, son24 Vgl. ebd., 32 (I/5) u. 44 (II/1). 25 Vgl. dazu Matthias Schöning. Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–1933. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, 256ff. – Wie wenig davon die Rede sein kann, bringt Kiefer, »Ein Kriegsbuch?«, 434, in Erinnerung, wenn er an die Rezeption durch Hermann Pongs erinnert. 26 Zu Milieu, Generation und der Differenz zwischen Front und Heimat kommt die Abstammung hinzu. Charakteristisch sind jedoch weniger die Anspielung oder explizite Erwähnung realer Konfliktdimensionen einer Gesellschaft im Krieg. Diesbezüglich eignet dem Text für meinen Geschmack etwas zu viel rückblickende Weisheit. 27 Vgl. Zweig, Frau, 40–43 (II/1).

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dern zum Objekt ihrer eigenen Lebensplanung macht. Nachdem sie sich von der Abtreibung erholt hat, organisiert sie Fronturlaub und Eheschließung. Während Lenore sich zu einer ungewöhnlich realitätstüchtigen Person entwickelt, genießt Bertin die orientalische Atmosphäre auf dem Balkan. Der Kontrast ist ausgeprägt. Kurz bevor ihn Lenores schriftliche Abrechnung erreicht, die eigentlich gar nicht abgeschickt werden sollte, lässt die Komposition des Romans Bertin in die Atmosphäre des Balkans eintauchen: Fast ein Dutzend Minaretts schraubten sich wie weiße steingewordene Rauchnadeln in das makellose Blau des Vormittags. Man hatte Zeit herumzustrolchen, die Moscheen mit ihren grau glänzenden Kuppeln, ihren schneeweißen Mauern in Flieder, Rosen und Jasmin lockten die Blicke und die Schritte. Er war kein Soldat mehr. Mit jedem Augenblick stärker tauchte aus versunkenen Zonen seiner Seele der künstlerische Mensch auf, durchdrang ihn, sah aus seinen Augen. Ein unverwöhnter Reisender, den kleinen Erlebnissen der Stunde offen, war plötzlich im Orient gelandet und gab sich heftig atmend den neuen Eindrücken hin […].28

Der Zweck wird auch hier schnell klar und ist nicht frei von Stereotypen. Die Atmosphäre auf dem Balkan, wo Bertin »verreist« spielt29 und sich »hingibt«, wie es ausdrücklich heißt, ist der ideale Kontrast zur zielgerichteten Ernsthaftigkeit Lenores, die sich dem zugleich verrohten und verträumten Bertin einmal eben nicht hingegeben hat, auf dass er sie vergewaltigte. Diese Rollenverteilung setzt sich fort, als die Verlegung nach Verdun angekündigt wird. Bertin freut sich ganz naiv, endlich richtig dabei zu sein. Lenore sorgt sich realistischerweise, er könnte als Versehrter heimkommen, wenn überhaupt. Das treibt die Handlung voran. Je mehr der Krieg ihren künftigen Mann bedroht, desto mehr schrumpfen die persönlichen Befindlichkeiten und lassen Lenore um Urlaub kämpfen. Keine Figur darf bleiben was sie ist, jeder wird weitergetrieben, so dass sich die Wirklichkeit des realistischen Romans Facette um Facette enthüllt.

In ›Ober-Ost‹ – Zweigs Ludendorff-Porträt von 1931 Selbst Lenores Eltern geht es nicht anders. Das großbürgerliche Bankiersehepaar wird Bertin, den hoffnungsvollen Schriftsteller lediglich kleinbürgerlicher Herkunft als Schwiegersohn akzeptieren müssen. Immerhin hat man damit ein 28 Ebd., 164 (V/8). 29 Ebd., 165.

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Familienmitglied im Krieg und muss nicht befürchten, scheel angesehen zu werden. Schließlich sind wir 1916 im Jahr der Judenzählung.30 Die Zustimmung zur Heirat wird von einer ganz anderen Erfahrung befördert, die Lenores Vater machen muss. Eine kleine Episode führt ihn in den Kreis des »Oberbefehlshabers Ost«,31 kurz ›Ober-Ost‹, was in der fiktiven dargestellten Welt der Generalmayor Schieffenzahn ist, in der realen aber Erich Ludendorff.32 Hier – im zweiten Roman des Zyklus – erhält die in Romanform porträtierte historische Person einen ungleich problematischeren Zug als im früher publizierten, jedoch später situierten Streit um den Sergeanten Grischa. Geplant nämlich wird von Schieffenzahn/Ludendorff in Junge Frau von 1914 eine Völkerverschiebung großen Ausmaßes: die Zwangsaussiedelung der osteuropäischen Juden mittels zweifelhafter Transportschiffe ohne klares Ziel. Das ist vor allem für spätere Leser schockierend und zeigt, inwiefern der Krieg im Osten seinerseits ein Experimentierfeld späterer Kriege war33 – und nicht nur das partiell idyllische Gegenstück zu Stellungskrieg und Materialschlacht im Westen. Womit die zur Beratung herangezogenen Exponenten des preußischen Judentums34 jedoch gar nicht rechnen, ist, dass die Herren Offiziere sie nach dem offiziellen Teil genauso schnell loswerden wollen wie die Ostjuden, über deren Schicksal man gerade ergebnislos beraten hat.35 Der Antisemitismus ist ostentativ und gipfelt in der Perfidie, die deutschen Juden für das Schicksal ihrer östlichen Glaubensbrüder in Mithaftung zu nehmen. Da wir den Herrschaften im vierten, allerdings zuerst publizierten Teil wiederbegegnen, bietet sich ein kurzer Vergleich an, der auf die Unterschiede in der literaturgeschichtlichen Situation zwischen den benachbarten Romanen abzielt. 30 Vgl. auch Arnold Zweig. »Die Judenzählung. 1. November 1916«. Ludger Heid, Julius H. Schoeps (eds.). Juden in Deutschland. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart. München: Piper, 1994, 224–227. Vgl. historiographisch Jacob Rosenthal. »Die Ehre des jüdischen Soldaten.« Die Judenzählung im Ersten Weltkrieg und ihre Folgen. Frankfurt/Main u.a.: Campus, 2007. Zur antisemitischen Radikalisierung der zuvor inklusiven »Ideen von 1914« vgl. Schöning, Gemeinschaft, 57ff. 31 Arnold Zweig. Der Streit um den Sergeanten Grischa. Berlin: Aufbau, 1994, 71 (Kap. I/7). 32 Ich spreche daher im Folgenden von Schieffenzahn/Ludendorff, widme Zweig und dem realen ›Ober-Ost‹ dieses Unterkapitel, dessen Darstellung im Grischa-Roman das nächste Kapitel zum Thema hat und problematisiere die Beziehung zwischen einer fiktiven und einer realen Person methodologisch im darauffolgenden siebten Unterkapitel. 33 Vgl. Matthias Schöning. »Moderne Kehrseiten des modernen Krieges. Die Ostfront im Roman der Weimarer Republik«. Beate Störtkuhl, Jens Stüben, Tobias Weger (eds.). Aufbruch und Krise. Das östliche Europa und die Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg. München: Oldenbourg, 2010, 523–541. 34 Zum preußischen Judentum Zweigs selbst vgl. Marcel Reich-Ranicki. »Der preußische Jude Arnold Zweig«. Ders. Deutsche Literatur in Ost und West. Prosa seit 1945. München: Piper, 1966, 305–353. Vgl. weiterhin die beiden Beiträge zu Zweig in Jost Hermand. Judentum und deutsche Kultur. Beispiele einer schmerzhaften Symbiose. Köln u.a.: Böhlau, 1996. 35 Vgl. dazu jetzt auch Arkadiusz Stempin. Das vergessene Generalgouvernement. Die deutsche Besatzungspolitik in Kongresspolen 1914–1918. Paderborn: Schöningh, 2020, insb. 466f. u. 493, wo auch Arnold Zweig einen kurzen Auftritt hat.

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Vergleicht man den Schieffenzahn/Ludendorff in der kurzen Generalstabsepisode in Junge Frau von 1914 mit der Darstellung im Grischa-Roman, dann hat sich an dessen moderater Charakteristik auf den ersten Blick wenig geändert. Als Ludendorff-Porträt gelesen, ist die »Charakteristik des Diktators im Ersten Weltkrieg«36 tatsächlich zahm. Doch immerhin schärft Zweig 1931, in der Krisenzeit der Weimarer Republik, die bereits durch die antisemitische Hetze der Nationalsozialisten mitbestimmt wird, die Darstellung des Allmachtgebarens der Generalität nach. Die entscheidende Sequenz hat den Charakter schärfster Desillusionierung. Zunächst ist Herr Wahl, der Vater von Lenore, der Hauptfigur von Junge Frau von 1914, der in seiner Eigenschaft als Bankier und Jude ins Hauptquartier nach Kowno reist, ganz hingerissen von Schieffenzahn/Ludendorff, dem er nicht zum ersten Mal persönlich begegnet: Von der Schmalseite des Tisches aus eröffnete Generalmajor Schieffenzahn die Sitzung und gab ihren Gegenstand an. Seine verbindliche Sprechart, seine leichten Bewegungen verhinderten nicht, daß jeder in ihm das geistige Haupt eines großen Landes erkannte, verehrte, vor allem Herr Wahl.37

Die Verehrung steigert sich noch, als sich der Grund für ihre Einladung abzeichnet. »Herr Wahl« ist ohne jeden Argwohn, wie er seinem kritischeren Vater nach seiner Rückkehr »beichtet«.38 Den Erzählerbericht löst jetzt direkte Rede ab: Wir […] sahen einander an, beinahe erschüttert […] Dieser Mann verwaltete jetzt den ganzen Aufbau eines Heeres und eines Landes. Erst hatte er gesiegt wie der alte Fritz […]. Jetzt teilten hundert Einzelfragen seinen Tag ein, bis auf die Viertelstunde genau, wie wir gesehen hatten. Und dieser Mann fand Zeit, sich den Kopf über die Juden dieser schmutzigen kleinen Flecken zu zerbrechen, damit sie nicht verhungerten.39

Die Lösung, die Schieffenzahn/Ludendorff und seinem Stab vorschwebt, liegt allerdings in einer Richtung, die Wahl in seiner deutschnationalen Verehrung nicht antizipieren kann, ja nicht einmal versteht, bevor er in die aschfahlen Gesichter seiner beiden Mitreisenden schaut. Eine Bemerkung über die »Untugenden« der jüdischen Bevölkerung »verh[eißt] nichts Gutes«, dann wird der Plan vorgestellt,

36 So der Untertitel der aktuellsten Ludendorff-Biographie von Manfred Nebelin. Ludendorff. Diktator im Ersten Weltkrieg. München: Siedler, 2010. 37 Zweig, Frau, 196 (VI/5). 38 Ebd., 195. 39 Ebd., 197.

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die Juden der Region mit mehr oder weniger Druck zur Auswanderung nach Amerika zu bewegen: »Man denke sich das in etwa so«, referiert der jüngere, aktive Bankier seinem Vater: Die überschüssige Bevölkerung werde in Sammellagern gesichtet, in Libau auf Schiffe gesetzt und in die Ostsee geführt, dort von amerikanischen Geleitfahrzeugen übernommen und weitergeschleppt.40

Wie Nachfragen zeigen, liegt die Zustimmung der Amerikaner keineswegs vor und man interessiert sich auch gar nicht dafür. Hauptsache weg mit den Juden: »›Auf Schiffe setzen, treiben lassen, man gab sie gleichsam in Gottes Hand, verstehst Du‹, sagte Herr Hugo Wahl.«41 Die kurze Episode des späteren Textes, der zwar von Beginn an von Kriegszeiten handelt, aber mehr Heimatfront als Kriegsgeschehen darstellt, beruht nicht zuletzt auf Zweigs persönlicher Kenntnis des »Besatzungsregimes« im Herrschaftsbereich von ›Ober-Ost‹. Der in seinen Ausmaßen nicht geplante Erfolg konfrontierte das deutsche Militär […] mit einer ganz neuen Situation: Zu den neuen Herrschaftsräumen kam eine ausgesprochen multiethnische und multikonfessionelle Bevölkerungsstruktur mit Esten, Letten, Litauern und Baltendeutschen, mit Weißrussen und Ukrainern, mit Polen und Russen und anderen Minoritäten wie etwa den Tataren. Neben Katholiken und unterschiedlichen Orthodoxen wurde vor allem die Begegnung deutscher Militärs mit den zahlreichen Ostjuden prägend.42

Zumal Hindenburg, der nominelle Oberbefehlshaber, und sein Generalstabschef Ludendorff, die durch den Wechsel in der Obersten Heeresleitung (OHL) vom jüngeren Moltke zu Falkenhayn etwas ins Abseits geraten waren, widmeten sich akribisch der Verwaltung in den besetzen Gebieten. Zunächst »verlegten Hindenburg und Ludendorff ihr Hauptquartiert am 21. Oktober 1915 von Lötzen in das erst wenige Wochen zuvor eroberte Kowno.«43 Dort baute Ludendorff eine Verwaltung nach preußischem Vorbild auf, ließ ein Übersetzungshandbuch für den 40 Ebd., 197f. 41 Ebd., 199. 42 Jörn Leonhard. Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. München: C.H. Beck, 2014, 285. 43 Nebelin, Ludendorff, 191. Wolfram Pyta. Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. München: Siedler, 2007, Kap. 7, spricht sogar von einer »Abschiebung nach Kowno«.

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Verkehr mit den verschiedensprachigen Bewohnern erstellen und beförderte das Kulturleben. In der Amtssprache wurde das besetze Gebiet als »Neuland« bezeichnet. Als Vorbild seiner Besatzungspolitik dienten Ludendorff die »Methoden der Kolonialherrschaft in Afrika«.44 Das besetze Gebiet sollte also keineswegs nur temporär verwaltet werden, sondern nach dem Krieg zu deutschem Siedlungsgebiet werden. »Um einen Teil ›seiner‹ Offiziere und Soldaten ansiedeln zu können, verwehrten die deutschen Behörden mit Billigung Ludendorffs den einst vor den Deutschen Geflüchteten die Rückkehr in ihre Heimat.«45 Ludendorffs Besatzungsregime kann in seiner historischen Stellung als eine Art vermittelndes Glied zwischen den Praktiken der Kolonialherrschaft in Afrika und der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik im Zuge des »Unternehmens Barbarossa« verstanden werden. Man darf trotz mancher Kontinuitätslinien jedoch nicht die Unterschiede aus den Augen verlieren. Auf der einen Seite tut sich ein Möglichkeitsraum auf, in dem ohne Rücksicht auf die angestammte Bevölkerung und ihre Kulturen imperiale Phantasien ausgelebt werden können. Auf der anderen Seite jedoch bedeute die tatsächliche Praxis »weder qualitativ noch quantitativ eine einfache Vorwegnahme der gewaltsamen Deportationen von Zwangsarbeitern während des Zweiten Weltkriegs.«46 Bevor man Arnold Zweigs Darstellung Verharmlosung vorwirft, sollte man bedenken, dass er vom nationalsozialistischen Besatzungsregime aus Entrechtung, Deportation und Exekution47 zum damaligen Zeitpunkt noch nichts wissen konnte. Außerdem war er selbst vor Ort und konnte sich ein eigenes Bild der Lage machen. Der Leiter der Presseabteilung von ›Ober-Ost‹, Friedrich Bertkau, verstand es nämlich, »eine Fülle hochkarätiger Literaten und Künstler […] zu reklamieren und auf diese Weise vom stumpfsinnigen Kasernendienst oder lebensgefährlichen Frontdienst zu erlösen.«48 Zu den Schriftstellern und Künstlern, die für ›Ober-Ost‹ arbeiteten, gehörte ab dem Frühjahr 1917 auch Arnold Zweig.49 Auch hier steht Zweig unter Befehl, aber die schwere körperliche Arbeit, die er bisher als Armierungssoldat verrichten musste, genau wie die Figur des Werner Bertin, ist immerhin vorbei. Zu seinen Dienstaufgaben gehört jetzt das Lesen und Schreiben. Die politische Linie ist natürlich vorgegeben, aber immerhin: »Da die Presseabteilung auch eine Art Zensurbehörde ist, erreicht Zweig eine Fülle neuer, verbotener Literatur, die über die Schweiz zur Heeresleitung gelangt.«50 Und 44 Nebelin, Ludendorff, 194. 45 Ebd. 46 Leonhard, Büchse der Pandora, 287. 47 Vgl. Timothy Snyder. Black Earth. Der Holocaust und warum er sich wiederholen kann. Übers. v. Ulla Höber, Karl Heinz Siber und Andreas Wirthensohn. München: C.H. Beck, 2015. 48 Pyta, Hindenburg, 185. 49 v. Sternburg, Arnold Zweig, 93ff. 50 Ebd., 94.

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niemand kann einen dreißigjährigen Intellektuellen daran hindern, sich seine Gedanken zu machen. Die Situation dürfte für Zweig ambivalent gewesen sein, aber immerhin nicht mehr rein negativ wie zuletzt an der Westfront. Einerseits, so heißt es, hat »selbst der spätere Judenhasser Ludendorff […] in Kowno das inspirierende Zusammensein mit […] herausragenden Vertretern der deutschjüdischen Kultursymbiose« genossen.51 Andererseits erhält Zweig offensichtlich Einblick in die kolonialistischen Bestrebungen und erfährt in der Justizabteilung von Ober-Ost […] von der Erschießung eines russischen Kriegsgefangenen […], der Opfer einer politischen Rechtsprechung geworden war, obwohl sich ein kommandierender General aus Gründen der ›Gerechtigkeit‹ intensiv für den Angeklagten eingesetzt hatte.52

Sicher war Arnold Zweig froh, der Hölle von Verdun entkommen zu sein. Vielleicht war er dankbar, für die Presseabteilung von ›Ober-Ost‹ arbeiten zu können. In jedem Fall war ihm 1927, zum Zeitpunkt der Grischa-Publikation, genauso bekannt wie 1931, dem Erscheinungsjahr von Junge Frau von 1914, dass sein ehemaliger oberster Dienstherr Ludendorff 1920 am Kapp-Putsch und 1923 am Hitler-Putsch gegen die Weimarer Republik teilgenommen hatte. Auch wird Zweig nicht entgangen sein, dass Ludendorff nach diesen gewaltsamen Umsturzversuchen seit 1924 als Rechtsaußen im Reichstag saß und ein Jahr später als NSDAP-Kandidat für das Amt des Reichspräsidenten antrat, bevor er sich mit Hitler mehr oder weniger überwarf und »von der großen politischen Bühne« zurückzog.53 Wenn Arnold Zweig Gründe sah, die Darstellung Schieffenzahn/Ludendorffs zwischen 1927 und 1931 kritisch zu verschärfen, dann dürften diese kaum in einer veränderten Informationslage bezüglich des Porträtierten gelegen haben. Plausibel ist dagegen die Annahme, dass sich die politischen Rahmenbedingungen in der Wahrnehmung Zweigs dahingehend verändert hatten, dass eine kritischere Darstellung zentraler Funktionsträger des Militärs jetzt angezeigt war. – Sollte diese Interpretation im Prinzip in eine richtige Richtung weisen, dann leisten die Romane Arnold Zweigs, auch und gerade durch die Verknüpfung zum Zyklus, wenigstens zweierlei: Sie beharren zurecht auf der epistemischen Relevanz aller Fronten und auch der Heimatfront für die Bewertung der gesellschaftlichen Kriegskosten. Und sie zeigen auf, wie die literaturgeschichtliche Situation mitbestimmt, was wann und wie dargestellt wird.

51 Pyta, Hindenburg, 185. 52 v. Sternburg, Arnold Zweig, 96. 53 Nebelin, Ludendorff, 519.

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Der Streit um den Sergeanten Grischa Beziehen wir nun den bislang zurückgestellten Grischa-Roman ein. Der Roman ist trotz seines panoramatischen Charakters einfach und klar aufgebaut. Die ersten drei der sieben Bücher, wie Zweig seine übergeordneten Kapitel nennt, haben eine expositorische Funktion. Es beginnt zunächst abenteuerlich. Der russische Kriegsgefangene Grischa Iljitsch Paprotkin ergreift die Flucht. Von Heimweh gepackt, bricht er wohl vorbereitet aus einem deutschen Kriegsgefangenenlager aus, reist versteckt in einem Güterzug zunächst seiner Heimat entgegen, muss dann abspringen und schlägt sich durch die winterlichen Wälder Russlands. In diesen ersten Kapiteln klingt an, was für die ganze Geschichte wichtig sein wird: die Macht der Natur, insbesondere des russischen Winters, die Weite des Territoriums und die technischen Maßnahmen, beidem zu begegnen: die Drähte der Telegraphie vor allem und die Züge, die Holz, Menschen und Post befördern. Wichtiger als die Leitmotive, die auch später hätten eingeführt werden können, ist die folgenreiche Begegnung mit Babka,54 nach der das ganze erste Buch benannt ist. Dass sich zwischen der mit einigen anderen partisanenhaft im Wald lebenden Frau und Grischa eine zarte Liebesgeschichte entwickelt, darf getrost ausgeblendet werden, auch wenn Babka bis zum Ende hin immer wieder auftaucht. In Grischas Leben greift sie nur einmal entscheidend ein – aber leider unheilvoll. Weil sie sein Leben schützen will, überredet sie ihn, eine falsche Identität anzunehmen, und bringt ihn eben dadurch in Gefahr. Grischa soll sich als der Überläufer Ilja Pawlowitsch Bjuschew ausgeben, der sich durch die Stellungen hindurch auf das von Deutschen besetzte Territorium durchgeschlagen habe, weil er endlich nach Hause will.55 Was Babka nicht weiß, der Leser aber im Zweiten Kapitel des Zweiten Buches erfährt, ist, dass es ein »neue[s] Gesetz« gibt, wonach Überläufer als Spione zu behandeln und mithin zu erschießen sind.56 Anstatt Grischa zu retten, bringt Babka ihn also in Gefahr. Mit Blick auf die Komposition des Romans wird so die Voraussetzung dafür geschaffen, dass es einen Streit um den Sergeanten Grischa überhaupt geben kann. Es kommt nämlich, wie es kommen muss. Grischa wird auf seinem Weitermarsch geschnappt. Er tut wie ihm geheißen, wird entsprechend der neuen Gesetzeslage zum Tode verurteilt und erklärt sich, als er begreift, was ihm widerfahren ist. Die zuständige Dienststelle bemüht sich um Aufklärung, und als die gesicherte Erkenntnis vorliegt, dass Grischa tatsächlich Grischa ist und nicht Bjuschew, ist alles dafür bereitet, dass sich zwei Dienststellen des preußischen Heeres darum 54 Vgl. Thomas Becker. Literarischer Protest und heimliche Affirmation. Das ästhetische Dilemma das Weimarer Antikriegsromans. Butzbach-Griedel: Afra-Verlag, 1994, 144f. 55 Vgl. Zweig, Streit, 60 (I/6). 56 Vgl. ebd., 95ff. (II/2).

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streiten, ob sie gemäß eigenem Recht verfahren oder die Gelegenheit nutzen, um ein Exempel zu statuieren gegen die wachsende Kriegsmüdigkeit auf allen Seiten. Die Protagonisten auf Seiten des Truppen-Kommandeurs Lychow, in dessen Einzugsbereich Grischa gefangengenommen wurde, sind dessen Adjutant und Neffe Oberleutnant Winfried, der Kriegsgerichtsrat Posnanski und dessen Schreiber Werner Bertin, der männlichen Hauptfigur aus Junge Frau von 1914. Ihnen steht als Antagonist eben der Generalmajor Schieffenzahn gegenüber. Ihr Ringen um Grischa beginnt im zweiten Kapitel und treibt die Handlung bis zum Ende voran. Der Gegensatz verleiht dem Roman seine analytische Stärke und – als deren Voraussetzung – seine Referenzialität. Denn im Gegensatz zwischen seiner Exzellenz, dem General von Lychow, Befehlshaber einer Division, die als eigenständige Kampfgruppe für einen Abschnitt der Ostfront zuständig ist, und Generalmajor Schieffenzahn, dem unbestrittenen Herrscher über ›Ober-Ost‹, stellt Zweig mit »altpreußische[m] Adel und neupreußische[r] Militärbürokratie«57 zwei Seiten preußischer Militärkultur gegenüber, deren Kampf um die Hegemonie über die Zielsetzung des Krieges insgesamt und die Zweck-Mittel-Relationen im Einzelnen entscheidet.58 Das Dritte Buch, das den bereits en p ass ant eingeführten Schieffenzahn, anfangs noch Generalleutnant,59 erstmalig als Gegner der Gruppe um Lychow in Stellung bringt, beginnt in einer für den ganzen Text charakteristischen Weise. Das erste Kapitel beginnt als Revue durch die allgemeine Weltlage, springt dann unvermittelt zu Werner Bertin, um als dessen Helfer kurz Grischa einzublenden, der sich wiederum an Babka erinnert. Danach kehrt der Text zu Bertin als Garanten des roten Fadens zurück, lässt diesen Soldatengespräche auf einer Zugfahrt quasi protokollieren und verwickelt ihn schließlich selber in Gespräche unter Intellektuellen-Kollegen. Charakteristisch ist daran die Verknüpfung unterschiedlicher Dimensionen des Wissens. Der allgemeinen Nachrichtenlage im Stile eines journalistischen Newsrooms steht am anderen Ende der Skala der Einzelfall gegenüber, der an sich unbedeutend ist, aber Dank der Geschichte, die mit ihm verbunden wird, als Exempel fungiert, das schlaglichtartig erhellt, wie es um die deutsche Militärkultur steht. Zwischen beiden Seiten die Mitte hält die Hauptfigur des Werner Bertin. Er ist der Durchschnittstypus, in dessen Biographie sich Stärken und Schwächen, Größe und Leid des namenlosen deutschen Soldaten spiegeln.

57 Dieter Mayer. »Legendendichtung in wüster Zeit: Arnold Zweigs Roman ›Der Streit um den Sergeanten Grischa‹«. Sabina Becker, Christoph Weiß (eds.). Neue Sachlichkeit im Roman. Stuttgart/ Weimar: Metzler, 1995, 131–156, hier 147. 58 Vgl. Bernd Hüppauf. »Versuchte Aufklärung über Krieg und Frieden: Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa und Howard Fast: The Hessian«. Walter Veit (ed.). Antipodische Aufklärungen. Frankfurt/Main u.a.: Lang, 1987, 141–54, hier 143f., 148. 59 Vgl. Zweig, Streit, 84 (I/7).

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Dreh- und Angelpunkt ist jedoch die Figur Schieffenzahn. Er ist der Verantwortliche für den Justizmord am russischen Kriegsgefangenen Grischa. Durch ihn kanalisiert sich die Vielzahl der dargestellten Handlungen in der semantisch leitenden Opposition Schieffenzahn versus Lychow und seinen Jungs. Zudem ist es Schieffenzahns zwischenzeitlicher Widerruf, an dem sich die Friktionen zeigen, mit denen jede Verwaltung zu rechnen hat, auch eine minutiös durchstrukturierte Militärverwaltung. Darüber hinaus steigert die Tatsache, dass die Darstellung Schieffenzahns als literarisches Ludendorff-Porträt gelesen werden will, die Relevanz des Textes. Arnold Zweig reiht sich mit seinem Roman in die durchaus stattliche Zahl literarischer und intellektueller Bezugnahmen auf Ludendorff ein, zu denen z.B. Sven Hedin, Max Weber und Thomas Mann gehören.60 Ähnlich Weber (s.u.) und Mann zeichnet auch Zweig ein ambivalentes Bild, in dem Größe und Unvermögen, Souveränität und »Blindheit«61 kontrastieren. Sein »Bildnis eines Selbstherrschers« überschriebenes Porträt beginnt entsprechend: Generalmajor Schieffenzahn, im blauen Friedensrocke arbeitend, sah ausgezeichnet aus, von vorn. Dann lastete eine mauerartige Stirn über kleinen grauen Augen, die Nase wies ihren breiten herrscherhaften Ansatz, und fein und klug bog sich der Mund […]. Im Profil gesehen aber […] verlor er für den Kenner; die ganze Herrlichkeit fiel befremdend, nahezu peinlich ab. Er zeigte dann die feisten Wangen einer alten Dame und zu runde Schultern, Stirn und Kinn lagen gegeneinander in schlaffem Bogen […]. […] kurzbeinig in seinen schwarzen, rotgestreiften Hosen, allerdings mit kleinen Händen und Füßen, enthüllte er sich als Sitzriese, der gehend nicht größer war als ein durchschnittlich gewachsener Mann.62

Dass damit Ludendorff gemeint ist, wird in der folgenden Passage nahezu expliziert, wenn Schieffenzahn in ein Verhältnis zu seinem Vorgesetzten gerückt wird, das nur als Analogie zum historischen Gespann Ludendorff/Hindenburg gelesen werden kann.63 Dass Schieffenzahn, der doch als Selbstherrscher dargestellt wird, noch einen Vorgesetzten hat, ist für die Handlung des Romans ohne Belang. Der Leser bekommt diesen nicht einmal zu Gesicht. Dass der Umstand trotzdem erwähnt wird, kann nur so interpretiert werden, dass der Autor die Analogie zwischen fiktiver und realer Figur aktiv nahelegen will. 60 Vgl. Nebelin, Ludendorff, 8, 11 u. 13. 61 Max Weber hatte trotz seiner Faszination durch Ludendorff alltestiert: »Ludendorff ist in allem Nichtmilitärischen völlig blind« (ebd.). 62 Zweig, Streit, 193 (III/3). 63 Vgl. ebd., 194.

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Disziplin und Friktion – Zweigs Ludendorff-Porträt von 1927 Mit Blick auf die Grischa-Handlung ist Schieffenzahn vor allem Gegenspieler. Trotz seiner Machtvollkommenheit hat er die Gegner jedoch nicht einfach im Griff. Ganz zufällige Umstände und sachfremde Faktoren führen dazu, dass Schieffenzahn von der Angelegenheit Grischa alias Bjuschew überhaupt etwas mitbekommt. Beim Kaffee macht man sich lustig über Lychow, den alten »Soldatenpapa«, gegenüber dessen Unzeitgemäßheit die verstrittenen Technokraten gerne Einvernehmen herstellen. Im Gestus einer herablassenden Machtdemonstration zieht Schieffenzahn den Fall an sich, um ihn politisch zu entscheiden. Damit scheinen alle Bemühungen von Oberleutnant Winfried, Kriegsgerichtsrat Posnanski und seinem Schreiber Werner Bertin am Ende. Es gibt nur noch eine Möglichkeit. In der Mitte des Buches kommt es dann zur direkten Konfrontation zwischen Schieffenzahn und Lychow. Auf der Durchreise zwecks Erholungsurlaubs sucht Lychow Schieffenzahn auf. Natürlich muss sich auch der General einer an der Front liegenden Division beim Generalquartiermeister, so die Bezeichnung des Dienstrangs von Schieffenzahn,64 anmelden. Dieser weiß also Bescheid und kann sich vorbereiten. Mehr noch: Schieffenzahn stellt Lychow vor vollendete Tatsachen. Bevor er seinen Konkurrenten empfängt, lässt er »drahten«, dass der Fall »Bjuschew in besprochenem Sinne« zu regeln sei und zwar mit »Vollzug innerhalb vierundzwanzig Stunden.« Zudem weist er an, bis »vor halb fünf die Meldung des Telegrafisten vom Dienst« zu erhalten, »daß der Befehl durchgesagt« sei.65 Einen Augenblick verspürte er einen Druck am Herzen zugleich mit der grimmigen Befriedigung, daß Herr von Lychow jetzt einen langen Schwanz daher reden werde über längst Abgetanes. Dann horchte er einige Pulsschläge diesem Gefühl, dieser Beklommenheit nach und erkannte: es kam von dem schweren Kaffee.66

Schieffenzahn täuscht sich. Sein Herz, die ganze Körperlichkeit, die bis zum Ende des Romans und bis zum Fußvolk hinab immer wichtiger werden wird, steht nicht nur unter dem Eindruck von Kaffee. Die Ursachen sind gravierender. Es deutet sich bereits hier an, dass Zweig die militärische Organisation als Organismus ana-

64 Und auch Ludendorffs. Ein Unterschied, der die Differenz zwischen historischer Figur und fiktivem Pendant markiert, liegt in der Jahreszahl. Das dargestellte Geschehen spielt sich bei Zweig im Jahr 1917 ab. Da ist Ludendorff bereits seit knapp einem halben Jahr »der führende Kopf der OHL« (Ch. Th. Müller, Materialschlacht, 161), die beim großen Hauptquartier angesiedelt war. Dieses wiederum befand sich 1917 in Bad Kreuznach. 65 Zweig, Streit, 310 (V/1). 66 Ebd.

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lysieren wird, als Verbund von Körpern, die durch Disziplin in eine gemeinsame Form gebracht werden. Dem entsprechend zeigt der »Druck am Herzen« den unkollegialen Affront an, den Schieffenzahn Lychow bereitet, indem er entscheidet, bevor er ihn angehört hat. Nach Plan lässt der Generalquartiermeister den General auflaufen. Man tauscht die unterschiedliche Sicht der Dinge sehr energisch aus. Dann lässt Schieffenzahn wissen, was er bereits befohlen hat. Er lässt Lychow nur mehr die Wahl zu Subordination oder Insubordination: »alle Folgen klar vor Augen, Widerstand leisten, offene Gewalt, sich weiter Hieb für Hieb für das einsetzen, was er […] für Recht erachte«.67 Lychow kapituliert. Er stammelt bloß noch, dass er preußischer General sei. Implikation: Befehlsverweigerung bzw. Intervention in die Befehlskette kommt für ihn natürlich nicht in Frage. Der hier kam, um Argumente in der Sache auszutragen, sieht sich düpiert durch das unverblümte Machtgebaren des Chefs. Er geht als Besiegter. Doch auch das Siegen ist nicht immer leicht. Schieffenzahn muss begreifen, »woher die Urvölker glaubten, ein Körper beherberge mehrere Seelen, deren sich leicht eine von ihm lösen und an Orten zurückbleiben vermochte«.68 Sprich: Lychow und sein Ansinnen lässt sich nicht einfach abtun. Es verfolgt den Generalstabschef. Nach gehöriger Auseinandersetzung mit sich selbst besitzt er Größe genug, seine eigene Entscheidung wieder umzustoßen. Er verlangt mit Merwinsk, der Adresse seines vormaligen Befehls, verbunden zu werden. Beim Warten darauf aber schläft er ein. Feldwebel Matz wiederum lässt ihn rücksichtsvollerweise schlafen, als er ins Dienstzimmer schaut. Schieffenzahn hat zwar den Entschluss gefasst, seinen eigenen Befehl wieder aufzuheben, zur Umsetzung aber kommt es nicht mehr. Das heiß nun aber nicht, dass Grischa in den nächsten 24 Stunden schon erschossen wird. Starker Schneefall und doppelte Kontingenz verschaffen Aufschub. Ein weiterer Faktor, der den Vollzug des Urteils in weiter Ferne belässt, ist die Gestaltung der Erzählzeit. Nachdem ein kurzes Kapitel die Wirkung starken Schneefalls auf Bäume und Schneebruchs auf Telefonkabel und Telegraphendrähte referiert hat, wird die erzählte Zeit um einige Stunden zurückgespult. Erst dreißig Seiten später, nachdem das Gespräch mit Lychow und Schieffenzahns späte Revision sowie der Schneefall und auch etwas von Grischa erzählt worden sind, geht in Merwinsk, wo Schieffenzahns Gegner logieren, der ursprüngliche Befehl von halb fünf ein. Der Telegraphist sticht Grischas Verteidigern, die dem Divisionsstab angehören, durch, dass die Ortskommandantur, die wiederum ›Ober-Ost‹ untersteht, angewiesen wurde, das Urteil zu vollstrecken bzw. Grischa hinzurichten. 67 Ebd., 318. 68 Ebd., 319.

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Auf Seiten der Verteidiger Grischas bemerkt Oberleutnant Winfried, der Adjutant des Generals und zugleich dessen Neffe, sehr klug, dass der Befehl vor dem Zusammentreffen der beiden Streithähne gegeben worden sein muss: Um halb fünf also, denkt Winfried; er kommt doch erst in drei Viertelstunden hin! Und indem er ein Auge zukneift, zielt er mit dem anderen, wenn man so sagen darf. Empfindliche Menschen erkennt er plötzlich, schaffen vollzogene Tatsachen, bevor sie mit stärkeren Leuten zusammengeraten. Schieffenzahn hat Bange vor dem Onkel! Und ein Aufatmen der Befreiung fällt von seinen leidenschaftlich zusammengepressten Mienen.69

Der Oberleutnant schätzt die Sache kommunikativ ganz richtig ein. Weil Schieffenzahn erwarten kann, was ihn erwartet, greift er der Auseinandersetzung vor, um sich am Ende einzugestehen, dass er doch besser gewartet hätte. Und weil sein Beobachter in Merwinsk das unmittelbar versteht, erwartet man dort zu Recht, »daß dieses Kabel widerrufen wird – und zwar noch vor dem Abendbrot«.70 Womit man jedoch nicht rechnet: dass diese Metonymie »Kabel«, die hier statt des gekabelten Inhalts steht, sich vom uneigentlichen Ausdruck zum eigentlichen Faktor des Geschehens entwickelt. Weil nämlich die Kabel gerissen sind, der Riss erst von mühsam durch den Schnee sich kämpfenden Patrouillen gefunden und geflickt werden muss, bleibt der zurecht erwartete Widerruf aus. Erst als Grischa schon tot ist, wäre auch die Kommunikation wieder möglich. Aber selbst wenn zeitlich noch etwas Spielraum geblieben sein sollte, inzwischen ist es Schieffenzahn schon wieder egal. Endlich einmal ausgeschlafen, hat sich sein Herz beruhigt. Damit sind auch die Skrupel Schieffenzahns verflogen.71 Vor allem aber die Schneelast, die Statik der Bäume und die Materialqualität der Kabel, die im vierten Kriegsjahr auch nicht mehr so gut ist, bedingen die Vollstreckung des Urteils, weil der Widerruf in der gesetzten Frist nicht eintreffen kann. Ohne Medien keine Message. Da können auch die klugen Interpreten der Kommunikationssituation nichts machen. »›Um Himmels willen‹, stotterte Winfried, ›dann ist der Kerl verloren‹«.72

69 Ebd., 343 (V/4). 70 Ebd., 353. 71 Vgl. ebd., 423 (VII/1): »In diesem Augenblick zerriß drüben in der Schreibstube von Brest Feldwebel Matz einen gelblichen Bleistiftzettel, die Vormerkung des Gesprächs, das gestern abend für Schieffenzahn nicht mehr gelang. Der Generalmajor hat nicht mehr danach gefragt. Den Bescheid, die Leitung sie unterbrochen, hat er mit gleichgültigem Nicken hingenommen. Dann also nicht, dachte er ruhig. Die Sache sollte also der Ordnung nach erledigt werden. Überhaupt begriff er die Erregung nicht mehr, in der er sich gestern des Widerrufs seines Telegramms schuldig machen wollte.« 72 Ebd., 353 (V/4).

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Genauso »materialistisch«73 wie die Befehlslage wird die Vollstreckung des Urteils selbst beschrieben. In sprichwörtlich epischer Breite verfolgt das fünfte Kapitel des letzten der sieben Bücher des Romans die finalen Stunden im Leben des Sergeanten Grischa. Das Leitmotiv des Stuhlgangs rhythmisiert den Erzählerbericht und die Neue Sachlichkeit als literarische Strömung der Weimarer Republik erreicht einen ersten Höhepunkt, wie Helmut Lethen in seinen legendären Verhaltenslehren der Kälte herausgearbeitet hat: Arnold Zweigs Roman spielt uns […] Bilder von erschreckender Modernität zu, in denen das Funktionieren der Kreatur in einer ›künstlichen Masse‹ (Freud) wie dem Heer in einer Mischung aus Institutionenlehre und Tierverhaltensforschung erläutert wird.74

Die Pointe der Zweigschen Darstellung ist tatsächlich, dass eines der Pferde, auf denen sitzend die höherrangigen Soldaten das Erschießungspeloton begleiten, »taktloserweise von [seinem] Kot fallen«75 lässt und damit eine Disziplinlosigkeit an den Tag legt, die den beteiligten Soldaten, den Verurteilten eingeschlossen, scharf kontrastiert. Im Gegensatz zu der anderen Kreatur, die – wie auch bei Remarque vermerkt – unter dem diesem Krieg besonders zu leiden hatte, dem Pferd,76 formieren die Menschen sich widerstandslos zu der künstlichen ­M asse, dem Kol lekt iv kör p er Mi lit är bzw. seinen Armen, Händen, Beinen und anderen Organen. Damit trifft Zweig durchaus einen Kern des Phänomens Krieg. Denn ohne diese Disziplin, mit deren Darstellung der Roman schließt, könnte das dargestellte Militär seinen Zweck, Krieg zu führen, nicht erfüllen. Bereits im ersten Roman seines Zyklus analysiert Arnold Zweig eine wesentliche Eigenschaft des Militärs. Eine zweite Motivkette des entscheidenden Kapitels, das Lederzeug als essentieller Teil der Uniform, macht das deutlich. Zunächst tauscht Grischa im Zuge seiner Vorbereitungen »die Wolljacke […], die nicht verdorben werden soll« gegen den »Waffenrock«.77 Später dann, als klar ist, dass er seinen letzten Gang tatsächlich antreten muss, macht Grischa in Gegenwart des wachhabenden Unteroffiziers Schmielinsky – des Briefträgers aus Junge Frau von 1914 – »die Gebärde des Koppelumschnallens«:

73 Jost Hermand. »Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927). Eine ›systemkritische‹ Analyse«. Thomas F. Schneider, Hans Wagener (eds.). Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Amsterdam, New York: Rodopi, 2003, 195–205, hier 199. 74 Helmut Lethen. Verhaltenslehren der Käte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1994, 253. 75 Zweig, Streit, 463 (VII/5). 76 Vgl. Erich Maria Remarque. Im Westen nichts Neues. Berlin: Propyläen, 1929, Kapitel 4 (5. Abschnitt). 77 Zweig, Streit, 457 (VII/5).

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Er will nicht ungegürtet und unsoldatisch davongehen, ganz mechanisch faßt er nach dem breiten, ehemals schwarze Infanterieriemen, den er mit anderen Sachen zurückbekommen und noch nicht verschenkt hat, und schnallt ihn um. Dann zieht er den Mantel in die vorgeschriebenen Falten am Rücken, streift ihn vorne glatt, setzt seine Mütze auf, […] gibt sich einen Ruck, salutiert auf russische Weise […] und verabschiedet sich von dem Unteroffizier. »Wenn Zeit, dann Zeit«, stottert er, »hab auch Dank, Kamerad.«78

Wenn Grischa auf den letzten Stationen seines Leidenswegs schwindelt angesichts des Kommenden, hilft ihm die soldatische Körperhaltung dabei, die Fassung zu bewahren: »Kinn vorgestreckt«.79 Abermals kommt Leder ins Spiel. Weil ein Verurteilter gefesselt zum Richtplatz geführt werden muss, bindet Schmielinsky ihm »einen schmalen Kochgeschirrriemen um die Handgelenke, die er auf dem Rücken zusammengelegt hat. Das ist gut für Haltung, denkt er. Brust raus, wenn die Arme auf dem Rücken liegen.«80 Tatsächlich lässt die Angst langsam etwas nach. Grischa fürchtet sich vor dem Tod, vor dem »Wahnsinn, der hier geschieht«,81 kann jetzt aber wahrnehmen, was um ihn herum passiert, und wird zum Reflektor des ganzen Vorgangs: Großer Gott, denkt er, großer Gott. Der einzige Trost, den er verspürt, kommt von dem breiten Riemen um seine Lenden; solch ein Gürtel strafft. Die klägliche Lüge des Stolzes, Ehre zu machen vor Fremden durch tapferen Tod in der Verbannung, gleicht diesem Gürtel; auch sie hält zusammen. Dennoch muß Grischa fortwährend Speichel verschlucken, der bitter schmeckt, und während seine Augen rechts und links spähen, zählen, merken, lauert in der Ecke unter Herz der Druck, der den überanstrengten Muskel gleichsam an die Wölbung der Rippen preßt. Das Reitzeug klinkert, Kettchen schlagen an Leder, die Schnürschuhe der Mannschaft, sechzehn Paar, knirschen gleichmäßig im hier kälteren Schnee, die Seitengewehre schlagen taktfest an die Schenkel, und auf den Schultern, manchmal an die Helme stoßend, klacken und knistern die Gewehre. Dieser schreitende Körper hat seine eigenen Geräusche und sein eigens angstvolles Herz, Grischa.82

78 Ebd., 459. 79 Ebd., 460. 80 Ebd., 460. 81 Ebd., 462. 82 Ebd., 463.

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Der letzte Satz ist explizit. Er formuliert die Subscriptio, die Unterschrift zum Bild, das zuvor gezeichnet wurde, weitgehend aus. Das Erschießungspeloton ist ein Kollektivkörper mit Grischa als dessen angstvollem Herz. Zusammengehalten wird er atmosphärisch. Grischa muss nicht vorwärts gestoßen werden. Er hält genauso Disziplin wie das ganze Kommando. Dabei sind falsche Gefühle im Spiel und Anklänge an die Ehre als einer für Korporationen spezifischen Vergemeinschaftungsform.83 Vor allem aber die gleichförmige Bewegung, die als Musi k aus Geräuschen des Klinkerns, Knirschens, Klackens und verschiedener leichter rhythmischer Schläge auf Leder, an Schenkel und Helme an die marschierende Gruppe zurückvermittelt wird, produziert Gemeinschaftlichkeit. Das in doppelter Funktion firmierende »Herz« als symbolisches Zentrum der Gruppe und »überanstrengter Muskel« des Verurteilten, schlägt motivisch den Bogen zurück zu Schieffenzahn als Kopf der Armee und seinem Herz. Grischas Herz funktioniert genauso wie Schieffenzahns. Durch Schmerzen zeigt es Belastungen an, die noch darauf warten, Bewusstheit zu erlangen. Diese Egalität zwischen dem obersten Feldherrn und dem untersten Muskoten unterstreicht den Organizismus der Darstellung militärischer Vergemeinschaftung. Man kann beklagen, dass Zweig sich nicht auf seine Darstellung bzw. den Bericht seines Erzählers verlässt, sondern meint, diesen doppeln zu müssen. Aber das macht wenigstens klar, was seine Darstellung bedeutet und auch was sie bedeuten soll. Es ist offensichtlich Zweigs Intention, protosoziologisch zu analysieren, wenn er den Letzten in diesem Zug, den Feldwebel Pont, »nachdenklich im Sattel«84 sitzen lässt. Dessen Gedanken nämlich sind diese: Wie allen andern strafft sich ihm der Kinnriemen des Helms die Backen entlang. Aber er ist der einzige, der sich darüber Rechenschaft gibt, welch martialisches Gefühl, welchen Beitrag zu männlicher Empfindung dieser Kinnriemen leistet. Alles, was Soldatenspielen auszeichnet und bemerkenswert macht, sieht er vor sich und an sich vereinigt: das Kriegerische, Spielerische, den marschierenden Körper, die Gruppenseele, wenn man so sagen darf, denkt er; Abenteuer, Männlichkeit und den wichtigen Ernst einer Amtshandlung, die einem Menschen das Leben kostet.85

Ausgangspunkt ist abermals ein Lederstück der Uniform. Nur geht es diesmal nicht von dort in bewusstseinsferne Daseinsschichten, sondern zu höherer Reflexivität. Nun wird eine Figur zum Träger des Wissens, das sich zuvor nur angedeutet hatte, 83 Vgl. Georg Simmel. Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung. Gesamtausgabe 11. v. Otthein Rammstedt (ed.). Frankfurt/Main: Suhrkamp, 72013, 595–603. 84 Zweig, Streit, 464 (VII/5). 85 Ebd.

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dem Wissen um die Sozialtechnologie des Militärs. Den Schlusspunkt der Episode setzt die Erschießung. Grischa erträgt den »Augenblick des Todes«86 mit Fassung. Der Arzt diagnostiziert »Hippokratisches Lächeln«.87 Nur der Körper der Kreatur zeigt an, dass die Steigerung der Disziplin Grenzen hat.88 Nachdem Grischa sich das Koppel hat aufhaken lassen müssen, ist es im Augenblick der Erschießung mit der Körperkontrolle vorbei. Der Halt, den Uniform und Disziplin geben, reicht nicht über die Schwelle des Todes.

Methodologische Zwischenbemerkung In der Abteilung Lehrbuchwissen ist zunächst festzuhalten, dass von einem Ludendorff-Por t rät genau genommen keine Rede sein kann. Wenn die narratologische Forschung recht damit hat, dass selbst die Eigennamen realhistorischer Personen ihre Referenz verlieren, wenn Träger dieses Namens als Figuren der fiktiven Welten fiktionaler Texte auftreten,89 wie z.B. Napoleon in Tolstois Krieg und Frieden, so das klassische Beispiel, dann hat eine Figur aus der fiktiven Welt eines fiktionalen Texte, die zusätzlich auch noch einen fiktiven Namen trägt, erst recht keinen realhistorischen Bezug – eigentlich. Die Relativierung durch das nachgeschobene Wort ist nötig, weil die reine Lehre von der Kappung der Referenz durch Fiktionalität kaum befriedigen kann. Richtig ist daran zunächst, dass sich fiktionale Texte, wenn man ihnen überhaupt einen Bezug auf die reale Welt zuschreiben will, anders auf diese beziehen als faktuale Texte. Sobald Literatur Fiktionalität in Anspruch nimmt, begibt sie sich der Möglichkeit, Tatsachenaussagen zu machen. Wenn ein Biograph über Ludendorffs Vorgesetzten Hindenburg schreibt, dieser sei »militärisch ohne genuinen Feldherrnehrgeiz«,90 dann wird damit eine Aussage über Eigenschaften einer realen Person gemacht, die sich an den Tatsachen zu bewähren hat und entsprechend geprüft werden kann. Fänden sich anders lautende Quellen, womit an dieser Stelle freilich nicht zu rechnen ist, müsste das Bild korrigiert werden. Tätigt der von Arnold Zweig eingesetzte fiktionale Erzähler eine ähnliche Aussage über die fiktive Figur Schieffenzahns, wie z.B.: »Seine Mitarbeiter vergötterten ihn«,91 dann gibt es hier nichts zu überprüfen. Der reale Autor hat sich 86 Ebd., 467. 87 Ebd., 469. 88 Vgl. Ulrich Bröckling. Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion. München: Fink, 1997. 89 Vgl. Wolf Schmid. Elemente der Narratologie. Berlin, New York: de Gruyter ²2008, 37: »Unabhängig von ihrer Herkunft werden alle thematischen Einheiten beim Eingang in das fiktionale Werk zu fiktiven Elementen.« 90 Pyta, Hindenburg, 47. 91 Zweig, Streit, 196 (III/3).

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entschieden, seinem fiktionalen Erzähler ein solches Detail in den Mund zu legen, um die dadurch dargestellte fiktive Figur entsprechend zu charakterisieren. Diese Entscheidung des Autors kann man in ästhetischer Hinsicht oder mit Blick auf Plausibilität in Frage stellen, aber das Merkmal der Figur steht mit der Entscheidung des Autors ein für alle Mal fest. Es gibt über die dargestellte Welt hinaus keine Realität, an der diese überprüft werden könnte. Wenn wir einem fiktionalen Text attestieren wollen, dass er auf die Wirklichkeit Bezug nimmt, dann geht es jedoch auch gar nicht um die Frage, ob er ein richtiges Bild von einem realen Sachverhalt zeichnet, sondern, dass er den existierenden Bildern von diesem Sachverhalt ein weiteres Bild zur Seite stellt. Insofern nimmt der fiktionale Text nicht auf die Realität direkt Bezug, sondern auf die Bilder von dieser Realität, die bereits in Umlauf sind. Die Bezugnahme aufs Reale ist also vermittelt. Insofern ist es richtig, dass alle Elemente eines fiktionalen Textes »beim Eingang in das fiktionale Werk« – oder besser: beim Eingang in die fiktive Welt – »zu fiktiven Elementen« werden.92 Nicht richtig ist hingegen die Behauptung, die »referentiellen Signifikanten des fiktionalen Textes verw[ie]sen nicht auf bestimmte außertextliche«93 Sachverhalte. Vereinfacht gesagt hängt die Bezugnahme auf die Realität selbstverständlich nicht von den Figuren der fiktiven Welt ab, diese sind und bleiben fiktiv. Gleichwohl aber kann der Text, auch der fiktionale Text, der als Text (egal ob fiktional oder faktual) selbst Bestandteil der realen Welt ist, zu anderen Artefakten der realen Welt in eine Beziehung treten. Schieffenzahn darf demnach nicht mit Ludendorff verwechselt werden, denn Schieffenzahn ist fiktiv, während Ludendorff real ist. Aber ein Text über Schieffenzahn kann mit einem Text über Ludendorff in Beziehung treten. Sie sind als Texte aus demselben ontologischen Holz und es ist keine gegen die Gesetze der Logik verstoßende Frage, ob der fiktionale Text über einen fiktiven Schieffenzahn der einer realen Person Ludendorff in ausgewählten Aspekte sehr ähnlich ist, die reale Person besser porträtiert als manch faktualer Text über den realen Ludendorff, der von diesem ein verklärtes Bild zeichnet. Wenn fiktionale Texte mit faktualen Texten in Konkurrenz treten, dann nicht auf dem ontologischen Schauplatz, auf dem ihre Differenz für die ganze Problematik konstitutiv ist, sondern auf dem epistemischen Schauplatz der Erkenntnisleistung. Erkenntnis befördern oder kognitiv anregen aber kann fiktionale Literatur ebenso gut wie faktuale. Darüber entscheidet nicht der ontologische Status, sondern die Qualität der Darstellung, die sich nicht bloß an der Wiedergabe von Fakten bemisst, sondern der Erschließung der historischen Bedeutung.

92 Schmid, Narratologie, 37. 93 Ebd., 38.

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Zum historischen Verstehen dieser Art kann z.B. ein spezifischer Sinn für das Passungsverhältnis zwischen Situation und Person gehören, welches dieser einen Aufstieg ermöglicht und jene historisch werden lässt. Arnold Zweig hat begriffen und Max Weber belegt unfreiwillig, dass es die Institution Militär ist, die eine Karriere wie die Ludendorffs ermöglicht, dessen große Fähigkeit zur Initiative das Exoskelett einer voll durchstrukturierten Organisation zur Voraussetzung hat, die in einer wohl kartierten Situation zum Einsatz gebracht wird, während dieselben Fähigkeiten sofort versagen, wenn die Situation mehrdimensional oder multilateral ist. Zweig – nun dürfen wir so sprechen – p or t rät ier t in Schieffenzahn/Ludendorff einen wichtigen Entscheidungsträger der Realgeschichte. Sein Roman vermittelt damit zwischen dem typischen Kriegsroman aus subalterner Perspektive und den Selbstdarstellungen der Generale, einem Genre, zu dem auch Erich Ludendorff mit Meine Kriegserinnerungen, ein gewichtiges Buch beigetragen hat. Der Selbstdarstellung Ludendorffs setzt Zweig mit seiner Schieffenzahn-Figur eine alternative und durchaus objektivierende Darstellung entgegen. Ihr pragmatischer Zweck ist offensichtlich. Es geht darum, der Selbstdarstellung des Diktators im Rang eines Chefs der OHL entgegenzutreten und die Monopolisierung des Geschichtsbildes zu unterbinden.

Zum Vergleich: Max Weber besucht Ludendorff Ein erhöhter Bedarf an Kritik besteht durchaus, denn nicht erst die Selbstdarstellung Ludendorffs betreibt Propaganda in eigener Sache. Es ist ein entscheidendes Charakteristikum des Duos Hindenburg/Ludendorff, dass ihr »OberOst in puncto medialer Selbstvermarktung allen anderen Heeresverbänden turmhoch überlegen« ist.94 »Seit 1916 lud die Presseabteilung verstärkt journalistische Multiplikatoren gezielt zu sogenannten Pressefahrten nach OberOst ein, wovon reger Gebrauch gemacht wurde.«95 Zur »Diktatur der Obersten Heeresleitung«,96 von der bereits Arnold Zweig explizit spricht, gehört auch die Herrschaft über die öffentliche Meinung. Und tatsächlich hat der ›Held von Lüttich‹, den seit dem Sieg bei Tannenberg der Nimbus eines ›Retters des Vaterlandes‹ umgibt, zahlreiche Bewunderer. Unter seinen Verehrern sind so illustre Zeitgenossen wie Sven Hedin, der schwedische Entdecker und Reiseschriftsteller,97 zeitweise Max Weber, der berühmte Soziologe mit einer Schwäche für Starke und Mächtige, und der Kaiser höchstselbst, der 94 Pyta, Hindenburg, 187. 95 Ebd. 96 Zweig, Streit, 277 (IV/6). 97 Nebelin, 8.

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Ludendorff laut Berliner Lokalanzeiger vom 21. September 1917 den »Siegfried unserer Zeit« nennt.98 So weit würde Max Weber sicher nicht gehen, aber er erinnert an Ludendorffs strategische Fähigkeiten als es populärer ist, ihn mit Dreck zu bewerfen. Leider ist ein entsprechender Artikel, der von der Frankfurter Zeitung nicht angenommen wurde, verloren gegangen.99 Aber auch aus den erhaltenen Dokumenten geht hervor, wie Weber zwischen militärischer Kompetenz und politischer Inkompetenz unterscheidet.100 Er sieht neben den Stärken Ludendorffs auch dessen Schwäche klar und deutlich, bevor er sich nach einer persönlichen Unterredung mit Ludendorff auf eine negative Charakteristik festlegt. Der Vorgang ist nicht nur als Anekdote interessant, sondern bildet einen erhellenden Kontrast zu Arnold Zweigs Herangehensweise. Max Weber hatte Ludendorff geschrieben, bevor er zu den Friedensverhandlungen nach Versailles fuhr. Sein Anliegen: Er wollte Ludendorff davon überzeugen, sich den Siegermächten auszuliefern, da »die Führer nun von sich aus den Kopf hinhalten müßten, um die Ehre Deutschlands wiederherzustellen.«101 Ludendorff antwortet auch kurz. Da Weber dessen Schreiben aber vor der Abreise aus Versailles nicht mehr erreicht, wird er am 30. Mai 1919 auf der Rückfahrt bei Ludendorff in dessen Privatwohnung in der Nähe von Berlin vorstellig. Über das Gespräch gibt es leider keinen Bericht Webers, aber zwei erhaltene Nachschriften von Gesprächspartnern, Richard Thomas und Emil Lederer, auf deren Basis Marianne Weber wiederum die entsprechende Darstellung ihres Lebensbildes entworfen hat. Wenn man von den Schatten absieht, die dadurch auf Webers Demokratieverständnis fallen,102 ist vor allem eines klar. Der Verlauf der Unterredung war in den Augen Max Webers »vollständig negativ«.103 Ludendorff scheint nicht einmal der Sinn von Webers Vorstoß klar geworden zu sein. Ein Begriff von Ehre, der neben der bedingungslosen Zugehörigkeit zu einem Kollektiv die persönliche Haftung der Führung für Fehlentscheidungen oder auch nur Fehlentwicklungen einschließt, scheint Ludendorff völlig fremd. Er hinterlässt den Eindruck, einfach nur in Frieden leben und seine dicke Pension genießen [zu wollen]. Wie Weber feststellen mußte, fehlte ihm jeglicher Sinn für den Reiz 98 Zitiert nach Ernst Johann (ed.). Innenansicht eines Krieges. Bilder – Briefe – Dokumente 1914–1918. Frankfurt/Main: Scheffler, 1968, 290. 99 Max Weber. Gesamtausgabe Bd. I/15: Zur Politik im Weltkrieg. Schriften u. Reden 1914–1918, 782. 100 Vgl. Max Weber. Gesamtausgabe Bd. I/16: Zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden 1918–1920, 160ff., 376ff., 401ff., 410ff. 101 Wolfgang J. Mommsen. »Einleitung«. Max Weber. Gesamtausgabe I/16, 1–45, hier 34. 102 Vgl. Joachim Radkau. Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. München, Wien: Hanser, 2005, 820. 103 Mommsen, 34.

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des Selbstopfers [...]. Als es darauf ankam, entpuppte er sich als banaler Alltagsmensch – keine Spur von Charisma.104

Laut Marianne Weber soll ihr Mann geschlussfolgert haben: »Ich verstehe jetzt, warum die Welt sich dagegen wehrt, daß Menschen wie er [Ludendorff] ihr den Stiefel auf den Nacken setzen.«105 Hätte Max Weber ein Ludendorff-Bild gehabt wie Arnold Zweig, dann hätte er sich die Enttäuschung sparen können. Denn offensichtlich ist es Webers Konzept charismatischer Herrschaft,106 das die Fallhöhe für Ludendorff erzeugt. Während Weber vom Kriegshelden fordert, sein Heldentum im Selbstopfer zu verewigen, um dann von der realen Banalität des bloß vermeintlich g roßen Mannes abgestoßen zu werden, betont Arnold Zweig nicht das Heldische an Ludendorff, sondern das Technokratische. Auch wenn in seinem Fall keine persönliche Begegnung weder mit Ludendorff noch mit Max Weber überliefert ist, gelingt es Zweig besser, einen Herrscher des Typus Ludendorffs darzustellen, der vor allem ein Heer von Technikern und anderen Spezialisten beschäftigt. Das wirft ein interessantes Licht auf Zweigs Poetik und erneuert die Frage nach den Leistungsfähigkeiten dieser Form von Kriegsliteratur.

Das Militär als Kollektivkörper – Schluss Zweigs Roman erschöpft sich nicht in Porträts und Figurenkonstellationen. Wenn der Begriff »Institutionenroman« eine angemessene Kategorie sein soll, müssen auch die Sozialtechniken, die Strategien der Menschenführung und der Bildung von Kollektivkörpern Berücksichtigung finden. Richtet man den Blick darauf, tritt – neben den zwischendurch immer wieder gegebenen Informationen zu Telefonleitungen und Verkehrsadern – das Ende in den Vordergrund. Der Mittelteil ist als einziger großer Aufschub der Urteilsvollstreckung zu lesen. Menschliche Widerstände und zufällige Naturereignisse greifen ineinander und schenken Grischa noch etwas Lebenszeit. Der Aufschub erschöpft Grischa allerdings auch. Bei aller Lebenslust zerrt das Warten auf den Ausgang des Verfahrens an Grischas Nerven. Babkas Anstrengungen, eine Fluchtmöglichkeit zu finden, scheitert an Grischa Einvernehmen mit seinem Schicksal. Das ist nicht nur psychologisch plausibel, sondern entspricht auch einem Leitmotiv der Figurenzeichnung.

104 Radkau, Max Weber, 820. 105 Marianne Weber. Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen: Mohr, 1926, 665. 106 Vgl. Max Weber. Wirtschaft und Gesellschaft. 3. Kapitel, Abschnitte 4–7.

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Der allwissende Erzähler hat Grischa, gespiegelt in der Wahrnehmung der anderen Figuren, stets als Musterexemplar eines Soldaten vorgestellt. Sein Ausbruch aus dem Kriegsgefangenenlager war Ausdruck echten Heimwehs. Grischa ist kein notorischer Querulant. Kaum wieder eingefangen, zeigt er sich von seiner pflichtbewussten Seite und verdient sich die Anerkennung der deutschen Soldaten. Er erwirbt sich ihr Vertrauen, enttäuscht es zu keinem Zeitpunkt und schützt seine Bewacher sogar gegen den von Babka geplanten Giftanschlag zum Zweck seiner Befreiung. Grischa integriert sich. Er wird geradezu ein Teil des soldatischen Kollektivkörpers der preußischen Armee. Mit seiner Hinrichtung wird nicht ein gefährlicher Fremdkörper ausgemerzt, wie es die kolonisatorische Thematik nahelegen könnte. Vielmehr wird eine Art bedauerliche Prophylaxe betrieben, bei deren Durchführung sich die tatsächliche Gesundheit des Kollektivkörpers zeigt. Selbst die straffste Organisation kennt Dissens, auch deren Kopf muss sich mit manchmal mit Zweifeln rumschlagen und selbst für Zufälle besteht Spielraum. Das alles konzediert Zweig, wenn er mittels Schneemassen, die Bäume fällen, die wiederum Telegraphenkabel kappen, ein retardierendes Moment erzeugt. Am Ende jedoch greifen alle Rädchen wieder ineinander wie sie sollen. Der militärischen Apparat spult sein Programm ab und ohne weiteres Mucken, verbunden durch eine Disziplin, die keine Frage von Erwägung und Zustimmung, ja nicht einmal von Macht ist, sondern von dressierten Körpern und eingespielten Abläufen, werden Tatsachen geschaffen, auch wenn die Tatsachen Tote sind. Insofern Zweig eine Darstellung ans Ende stellt, die das bloße, von keiner Rationalität tangierte Funktionieren der Institution Militär hervorhebt, löst er tatsächlich ein, was man von einem Institutionenroman erwarten kann, der das Militär zum Gegenstand hat. Die Struktur ist insgesamt triadisch. Am Anfang wird die Opposition zwischen Schieffenzahn und der Lychow-Fraktion entwickelt. Hier geht es um Handlungsalternativen, die aus unterschiedlichen moralischen Prinzipien und divergenten Situationseinschätzungen ergeben. In der Mitte treffen Zufall und Infrastruktur aufeinander und verschaffen dem Erzählen Zeit, um Alternativen zu entwickeln und zu verwerfen. Wenn man sich an Clausewitz’ Fr i kt i one n erinnert, erkennt man in Zweigs Darstellung klassische Probleme militärischer Planung, die mit der literarischen Retardation durchaus Gemeinsamkeiten haben: Der Plan muss gegen alternative Verläufe durchgesetzt werden. Am Ende steht einerseits die Vollstreckung des Urteils und andererseits die Analyse des militärischen Kollektivkörpers und der Disziplin, die ihn erzeugt – mit Schieffenzahn als einer Art Getriebe. Im Verhältnis zu Junge Frau von 1914, dem als nächstes publizierten Teil des Zyklus Der große Krieg der weißen Männer, ist das eine Militäranalyse aus dem

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Geist der Neuen Sachlichkeit. 1931, fünf Jahre später, beginnt die Sachlichkeit der Parteilichkeit zu weichen – und aus dem Technokraten Ludendorff wird der Besatzer, der ethnische Säuberungen erwägt.

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Paul Coelestin Ettighoffers Kriegsroman Gespenster am Toten Mann Ein Anti-Remarque-Buch?

Über den Autor Paul Coelestin Ettighoffer wurde 1896 in Colmar im Elsass, das damals zum Deutschen Reich gehörte, geboren. Er wuchs zunächst bei seinen Großeltern, dann in einem Waisenhaus auf und besuchte später ein Jesuitengymnasium im belgischen Mons. 1914 trat er, achtzehnjährig, als Kriegsfreiwilliger in die deutsche Armee ein. Ende des Jahres wurde er verwundet, im Frühjahr 1915 nahm er an der Champagne-Schlacht auf der Lorettohöhe teil, wurde erneut verwundet, erhielt nach seinem Lazarettaufenthalt eine Scharfschützenausbildung und wurde im Mai 1916 an die Ostfront verlegt. Anfang 1917 kam er wieder an die Westfront, zunächst nach Verdun, wo die blutige Schlacht um das Festungswerk allerdings bereits beendet war. Bei einer Rückzugssicherungsoperation gegen Ende der gescheiterten MarneOffensive im Sommer 1918 geriet er, bis dahin mehrfach ausgezeichnet, schwer verwundet in französische Kriegsgefangenschaft. Nach zwei fehlgeschlagenen Fluchtversuchen wurde er erst im Februar 1920 nach Deutschland ausgeliefert. Ohne Berufsausbildung in das zivile Leben entlassen, wurden die 1920er Jahre für ihn zu einer ›bitteren‹ Zeit. Sofern seine halb-autobiografische Darstellung Zelt 27 wird niedergerissen zutreffend ist, hat er als Mitglied der Sicherheitspolizei an der Niederschlagung des Ruhraufstandes nach dem Kapp-Putsch im März 1920 teilgenommen und sich später vermutlich als Verkäufer und Reisevertreter mehr schlecht als recht durchzuschlagen versucht. Ende der 1920er Jahre arbeitete er als Reporter beim Kölner Stadtanzeiger, ab Mitte der 1930er Jahre als Bestseller-Autor von Büchern über den Ersten Weltkrieg bei Bertelsmann.

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Im Zweiten Weltkrieg war er als Oberleutnant im Westen stationiert. Seine Kriegserlebnisbücher waren nun weniger gefragt, und 1943 publizierte er die ebenfalls autobiografisch inspirierte Friedensidylle Peter im Glück, die die deutschen Soldaten daran erinnern sollte, was sie zu verteidigen hatten.1 In der Nacht vom 18. Oktober 1944 wurde die dort beschriebene Idylle zerstört: Bei einem Bombenangriff kam seine Familie in ihrem Haus bei Bonn ums Leben, nur eine Tochter überlebte. Auch sein Archiv verbrannte, was die Nachforschungen zu seiner persönlichen, literarischen und politischen Entwicklung in den 1920er und 30er Jahren heute sehr erschwert. Nach Einsätzen in Frankreich und Finnland geriet er im Januar 1945 in englische Kriegsgefangenschaft. Nach dem Krieg arbeitete er als Journalist für die Kölner Rundschau, als Übersetzer und als wenig erfolgreicher Autor. Er heiratete erneut, engagierte sich für die deutsch-französische Aussöhnung und starb 1975 in Zülpich. Die über ihn noch verfügbaren Informationen trug Andreas Lampert 2004 auf der Datenbank Polunbi2 zusammen.

Über sein Werk In den 1930er Jahren gelang Ettighoffer mit dem autobiographisch inspirierten Weltkriegsroman Gespenster am Toten Mann der Durchbruch als Autor von Kriegsbüchern, die Auflagen von weit über 100.000 Exemplaren erreichten. Er selber gab später eine Gesamtauflage von über vier Millionen an. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist er dagegen ein unbekannter Autor. Das hat vor allem drei Gründe. Der erste besteht in dem am 13. Mai 1946 von den Siegermächten erlassenen Befehl Nr. 4 des Kontrollrats, der die »Einbeziehung von Literatur und Werken nationalsozialistischen und militaristischen Charakters« betraf. Diese Zensurliste umfasste über 30.000 Titel. Fast auf den Tag genau dreizehn Jahre nach der Bücherverbrennung der Nazis war dies die zweite großangelegte Vernichtungsaktion gegen einen für schädlich erachteten Teil deutschsprachiger Literatur in Verlagen, Bibliotheken und Buchläden. Von Ettighoffer standen 20 Titel auf dieser Liste. Damit konnte er als NS-Schriftsteller gelten und war politisch erledigt.

1 »Der Heimat Erde erobern – höchste Ehre! Der Heimat Erde retten – höchste Pflicht!« lautet das Motto des Büchleins über einen Mann, der mit seiner Familie aufs Land zieht. Der Autor widmete es »allen Kameraden draussen an der Front« (gedruckt in Amsterdam: Bertelsmann, 5. Orthografiefehler so im Original enthalten. In der Folge werden alle Orthografiefehler in Originalzitaten beibehalten, mit einer einzigen Ausnahme: »daß« wird als »dass« der heutigen Rechtschreibung angepasst). 2 Paul Coelestin (P.C.) Ettighoffer, 1896–1975. (http://polunbi.de/)

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Merkwürdig ist allerdings, dass ausgerechnet seine Kriegsbücher über den Ersten Weltkrieg nicht auf dieser Liste standen, obwohl gerade sie militärischen Charakters waren. Stattdessen finden sich auf der Liste Bücher wie Heiß die Segel, Die Lene beißt sich durch oder So sah ich Afrika. Mit Auto u. Kamera durch unsere Kolonien. Schaut man genauer hin, muss man bei einigen Büchern andere Motive für ihr Verbot vermuten als die vom Kontrollrat offiziell vorgegebenen. So behandelt etwa Feldgrau schafft Dividende die selbst erfahrenen Leiden und Schikanen in französischer Kriegsgefangenschaft nach dem Ersten Weltkrieg, in Elsässischer Feldgrauer werden die Treue und Verlässlichkeit der Elsässer Soldaten zu Deutschland betont. Auch bei Zelt 27 wird niedergerissen, wo es um die Nachkriegserfahrungen und die Niederschlagung des Ruhr-Aufstandes geht, kann man die Beweggründe für ein Verbot in der Darstellung der Ruhrbesetzung 1923 durch französische Truppen und die positive Erwähnung des aktiven Widerstandes vermuten. In den drei genannten Beispielen liegen die Motive für die Zensur also eher auf der Ebene politischer Unerwünschtheit seitens der französischen Besatzung, als dass sich diese Werke durch »nationalsozialistischen und militaristischen« Charakter auszeichnen würden.3 Die großen Kriegsromane blieben dagegen von der Zensur unangetastet. Zu ihnen gehören: Gespenster am Toten Mann, 1931; Verdun. Das große Gericht, 1936; Sturm 1918. Sieben Tage deutsches Schicksal, 1938; Tannenberg. Eine Armee wird zu Tode marschiert, 1939. Der zweite Grund für Ettighoffers Absinken in die Vergessenheit besteht darin, dass diese Romane über den Ersten Weltkrieg, obwohl sie nicht verboten waren, nach 1945 fast niemanden mehr interessierten, so dass sie sich selbst vom Markt eliminierten. Drittens muss man für Ettighoffers Verschwinden vom Buchmarkt anführen, dass er außer Krieg und Abenteuer nicht viel anzubieten und in dem nach 1945 sich durchsetzenden post-heroischen Zeitalter literarisch wenig zu sagen hatte. Ettighoffers Werk teilt sich in Trivialliteratur und Kriegsbücher und man sucht ihn in den Literaturgeschichten vergeblich. Auch heute noch wird sein Name bestenfalls hier und da im Kontext des soldatischen Nationalismus erwähnt.

3 Das war gang und gäbe. Diese Listen enthielten unerwünschte Autoren, die oft nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun hatten. In der SBZ waren dies oft antikommunistische Bücher, teilweise sogar Bücher aus dem Widerstand gegen Hitler.

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Gespenster am Toten Mann, oder: Die Kunst, eine Niederlage in einen Sieg umzudeuten4 Entstehungssituation und grundlegende Aspekte der literarischen Gestaltung Das Buch erschien 1931, also mitten im Boom der Fronterlebnisbücher, der 1928 von Remarques Im Westen nichts Neues und Ludwig Renns Krieg ausgelöst wurde, und damit in einem Kontext, in dem die Authentizitätsfrage das entscheidende Glaubwürdigkeitskriterium war. Als glaubhaft galten vor allem eigene Kriegserlebnisse. Dieser Erwartungshaltung entsprechend erzählt Ettighoffer seine Kriegserlebnisse in Form eines spannend geschriebenen Romans mit einem IchErzähler, der zwischen fiktivem und autobiografischem Ich angesiedelt ist. Dieses Erzähler-Ich folgt den realen Stationen von Ettighoffers Kriegsteilnahme und bietet eine stilisierte und angereicherte Erinnerung an die Geschehnisse. Im Gegensatz zu seiner literarisch wenig elaborierten Sprache ist die Architektur des Buches ausgesprochen kunstvoll. Erst in der eingehenden Analyse wird die geschickte Gestaltung einzelner Szenen und ihre kapitelübergreifende Funktion in der Komposition des Ganzen deutlich. Es wird keine Aussage im Sinne eines bestimmten Weltbildes getroffen, sondern ein beeindruckendes Bild des Krieges geschaffen, das in seiner vielfachen Widersprüchlichkeit und einfachen sprachlichen Gestaltung prinzipiell allen Lesern zugänglich ist. An dieser Stelle sind zwei Bemerkungen zur Dramaturgie damaliger Frontromane angebracht. Erstens: Anders als es für Romane mit einem klassischen, an Aristoteles orientierten, dramatischen Spannungsbogen üblich ist, steht bei Romanen über den Ersten Weltkrieg der Ausgang von vornherein fest: die deutsche Niederlage. Damit verschiebt sich die Frage, w ie die erzählte Geschichte ausgeht, auf die Frage, war um sie so ausgeht. In der einen oder anderen Weise mussten sich die meisten deutschen Kriegsromane zu dieser Frage verhalten. Zweitens: Da der Ausgang der Metaerzählung nicht mehr offen und spannend gestaltet werden konnte, musste sich die Spannung vom Ganzen des Romans auf kleinere Einheiten, z.B. die Schilderung einzelner Kampfsituationen, verlagern, was wiederum nach wenigen Seiten ermüdend wirken konnte. Erfolgreiche Werke wie Im Westen nichts Neues oder auch Gespenster am Toten Mann zeichnen sich gerade dadurch aus, dass die Erzählung stets die genau richtige Dosierung von Bedrohung, Kampf, Töten, Sterben, Leid oder Trauer in Abwechslung und Kontrast mit Humor, Liebe, Kameradschaft, Heimat etc. bietet. Dosierung und Kontrast wurden 4 P.C. Ettighofer. Gespenster am Toten Mann. Köln: Gilde Verlag, 1931. Zitiert wird nach der Ausgabe Gütersloh: Bertelsmann Verlag, 1937.

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somit zu wesentlichen Gestaltungsprinzipien. Wo sie fehlten, entstanden unlesbare ›Schinken‹ mit der Kompositionsstruktur einer endlosen Aneinanderreihung von Kampfszenen ohne Unterhaltungswert.5

Pars-pro-toto-Gestaltung, Unbestimmtheit und Polysemie des Titels Den Ausgangspunkt des Romans bildet der literarische Topos von der Begeisterung und Siegeszuversicht zu Kriegsbeginn. Dabei wird repetitiv ein Detail hervorgehoben, das eine ganze Generation bis weit über den Krieg hinaus prägen sollte: das Marschieren. Im Marschieren verschmelzen bei Ettighoffer die Soldaten aller Bevölkerungsschichten zu einem Körper. Am Beginn der Erzählung steht die Aufhebung aller vertikalen Gesellschaftshierarchien und Klassenschranken zu einer horizontalen ethnischen Einheit: einem nationalen Wir.6 Dazu passen auch andere Strukturelemente der Erzählung: Nur selten werden Namen genannt, der Ich-Erzähler sagt nur wenige Male ›ich‹, sondern fast immer ›wir‹. Franz Schauwecker hatte 1927 im Vorwort zu seinem Frontbuch, einer erweiterten Neuauflage von Im Todesrachen (1919), geschrieben: »Es ist nicht das Buch eines Ich, sondern das Buch eines Wir.«7 Daran knüpfte Ettighoffer an. Es geht bei ihm nicht um Individuen mit bestimmten Charaktereigenschaften, sondern um verallgemeinerungsfähige Soldaten, die immer aufgehoben sind in einem Wir, das wiederum Teil eines noch größeren Ganzen ist: In langer Reihe gehen wir über zerschossenes Gelände nach Gremilly […]. Links und rechts von uns schreiten and e re B at ai l lone oder andere R e g i me nter dahin, mit demselben Ziel. Im Mondlicht und im Bodennebel ziehen die S ol d ate n w i e G esp enster.8

5 Ein Beispiel dafür ist Hans Zöberlein. Der Glaube an Deutschland. München: Verlag Franz Eher Nachf., 1931. 6 1920 schrieb der Bolschewik, Schiffsbauingenieur und Autor Jewgenij Samjatin einen visionären Zukunftsroman über die Menschen in einem totalitären Staat. Es war der Vorläufer für Aldous Huxley 1932 erschienene Brave New World und George Orwells 1946 bis 1948 geschriebenen Roman 1984. Und es geschah gewiss nicht aus Mangel an Ideen für einen aussagekräftigeren Titel, dass Samjatin diesen Roman schlicht und einfach Wir nannte. Der Titel verweist darauf, dass die Verabsolutierung kollektiver Identitäten im technischen Zeitalter die erste Stufe zum totalitären Staat und damit zur Entmenschlichung des Individuums ist. Er wurde für diesen Roman als Renegat und Konterrevolutionär geächtet. 7 Franz Schauwecker. Das Frontbuch. Halle a.d. Saale: Diekmann, 1927, VIII. 8 Ettighoffer, Gespenster, 217. Hervorhebungen B.S.

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Hier wird literarisch mit der Vieldeutigkeit des titelprägenden Wortes ›Gespenster‹ gearbeitet, indem die Bedeutung von ›aussehen wie Gespenster im Nebel‹ verschmilzt mit der an anderer Stelle suggerierten Bedeutung von den ›Todgeweihten‹ einer Schlacht. Auf Heimaturlaub erlebt der Frontsoldat wiederum andere »Gespenster des Grauens«,9 die ihn nicht mehr loslassen, nämlich hungernde Kinder. Diese Unbestimmtheit und Polysemie des Wortes ›Gespenster‹ ist ein bewusst eingesetztes Gestaltungsmittel. Auch das Kapitel »Gespenster am Toten Mann«, das dem Roman seinen Titel gibt, verweist auf die durchdachte Komposition des Buches: Es befindet sich genau in der Mitte, auf den Seiten 156–163 von 323 Seiten. Kurz vor dem zweiten Einsatz an der Westfront bei Verdun heißt es: »Jetzt melden sich die düsteren Gespenster, die von unseren Seelen Besitz ergreifen und uns nimmer loslassen wollen. Der große heroische Opfergang beginnt.«10 Hier liegt die Bedeutung in der Schwebe zwischen Erinnerung an bereits erlebtes Grauen und Todesahnung vor dem kommenden »Opfergang«. Die Bedeutung von erlebtem Grauen nimmt das Wort auch im folgenden Kontext an: »1000 Menschen, die alle Gespenster des Grauens erlebt und gesehen haben und den Tod nicht mehr fürchten, weil er ihnen alltäglich geworden ist.«11 Gespenster am Toten Mann ist vor allem der Versuch, die Gespenster des Krieges, im Sinne der den Autor nicht loslassenden Erinnerungen an die gefallenen Kameraden, zu überwinden, also Erinnerungsarbeit als Bewältigungsversuch. Diesen Kameraden will er ein Erinnerungsdenkmal setzen. Diese Erinnerungsarbeit wird im Titel zugleich konkret verortet: Es geht um die Westfront. Dabei verklärt Ettighoffer, erstens, s ein Westfronterlebnis zu dem Westfronterlebnis und letzteres, zweitens, zu dem Erlebnis seiner Generation schlechthin, vor dem alles Vorige klein und nichtig erscheint, womit er ein Verfahren auf die Spitze treibt, das für eine Vielzahl von literarischen Texten, Im Westen nichts Neues eingeschlossen, typisch ist: »das individuelle Kriegserlebnis zu homogenisieren und auch in der Erinnerung einem größeren Ganzen oder einer Gruppe unterzuordnen«.12 Er treibt es auf die Spitze, weil er, drittens, noch 1917, nach den Gemetzeln des Vorjahres bei Verdun, nach dem beschriebenen Hunger in Deutschland und angesichts einer allgemeinen Kriegsmüdigkeit, die sich schon in Streiks manifestiert, für eine ganze Generation einen »große[n] heroische[n] 9 Ebd., 129. 10 Ebd., 155. 11 Ebd., 253. 12 Vgl. Thomas Schneider. »Einleitung«. Ders. u.a. (Hgg.). Die Autoren und Bücher der deutschsprachigen Literatur zum Ersten Weltkrieg 1914-1939. Ein bio-bibliographisches Handbuch. Göttingen: V&R unipress, 2008 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs, 23), 9.

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Opfergang«13 beginnen lässt. Hier wird eine Verklärung betrieben, die historisch falsch ist, weil sie eine Kriegsbegeisterung suggeriert, die 1917 nicht mehr in dem Maße wie 1914 vorhanden war: Auf den Maashügeln wird eine große Schlacht erwartet. Von allen Seiten, aus allen Richtungen marschieren Menschen heran, haben nur ein Streben, nur ein Ziel: möglichst schnell jene Maashügel zu erreichen, sich in die dampfenden Schluchten und ausgebrannten Wälder zu stürzen. Als wäre dort ein Paradies.14

Das ist nicht nur einfache Kriegsverherrlichung, das ist Kitsch. Selbst wenn Ettighoffer das so erlebt haben sollte, wird gerade an diesen Zeilen die Problematik jenes pars-pro-toto-Verfahrens deutlich, in welchem in heroischer Verklärung erinnerte oder imaginierte eigene Erlebnisse einer ganzen Generation unterstellt werden. In völlig unzulässiger Verallgemeinerung führt Ettighoffer diese Verklärung fort: Und dabei wissen alle diese Marschierenden, dass nur Kampf und Tod sie erwarten. Trotzdem marschieren sie. Warum marschieren sie? Wer hat so ihren Erhaltungswillen gelähmt? Hunderttausend Mann marschieren. Und würde man einen dieser Marschierenden fragen, ob er Angst fühlt oder ein Bangen in der Seele, er würde dies mit Entrüstung verneinen und sich in die Brust werfen. Hunderttausend Menschen marschieren die Straße der Pflicht. […] Zwischen diesen hunderttausend Marschierenden sind auch wir.15

Pflichtgefühl hat es gegeben, Todesverachtung auch. Aber so, wie beide hier zu dem »großen Erleben unserer Jugend«16 und einer ganzen Armee verallgemeinert werden, kann man nur von übelstem Kriegskitsch sprechen. Dieses kurze Kapitel wirkt wie ein Fremdkörper in einem ansonsten gut geschriebenen Buch.

13 Ettighoffer, Gespenster, 155. 14 Ebd. 15 Ebd., 155f. 16 Ebd., 155.

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Ästhetik des Schreckens, Gewalterfahrungen, Angstüberwindung und psychologische Folgen Es gibt andere Stellen im Buch, die kriegsverherrlichende Szenen zwar auf eine ästhetische Weise zum Ausdruck bringen, die man aber in der Wirkung auf den Einzelnen psychologisch nachvollziehen kann: Wir sehen unsere Kameraden 1000 oder 1500 Meter vor uns im Grund. Sie breiten sich aus in Schützenlinien, nehmen ihre Kampfstellungen ein. Kompanieführer und Zugführer stehen vor der Front. Die Linien sind gestaffelt, fix und fertig zum Vorgehen. Die Stahlhelme glänzen in der Morgensonne. Ein prachtvolles Bild von Macht und Kraft. […] so weit das Auge reicht, vom Winterberg bis fast vor La-Malmaison, steht die eherne Wand der Stahlhelme und der blanken Seitengewehre.17

Solche Anblicke stehen im Kontrast zu Szenen, die die Schrecken des Krieges wiedergeben. Schon beim ersten Feindkontakt, einem langanhaltenden Feuerüberfall auf Souchez, den die Gruppe des Ich-Erzählers in »quälende(r) Dunkelheit« in einem mit beißendem Qualm erfüllten Keller übersteht, heißt es: »Unsere Herzen sind in ohnmächtiger Angst.«18 Ein Angriff auf die Lorettohöhe wird 72 Stunden lang von feindlichem Trommelfeuer gebremst: Zweiundsiebzig Stunden lang trommelt der Feind. Zweiundsiebzig Stunden in der Hölle! Zweiundsiebzig Stunden voller Verzweiflung! Zweiundsiebzig Stunden im Kessel des Vulkans!«19

Wiederholung und Ausrufezeichen verweisen auf Erlebnisse, vor denen die Sprache im Grunde versagt. Es gibt zahlreiche Opferbeschreibungen, wobei die Gefallenen oftmals erst als solche mit ihrem Namen erwähnt werden, so als wolle Ettighoffer damit ehemaligen Kriegskameraden gegenüber eine letzte Verpflichtung erfüllen, nämlich sie dem unermesslichen Vergessen zu entreißen: Am Abend des zweiten Tages fällt Fries, der Kriegsfreiwillige Peter Fries. […]

17 Ebd., 300. 18 Ebd., 23. 19 Ebd., 37.

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Das schwere Panzerschild wurde wuchtig zurückgeschlagen und hieb mit der schmalen Kante dem dahinterliegenden Fries den Kopf ab.20

Wie in vielen Kriegsromanen üblich, betont auch Ettighoffer die Beschreibung der gefährlichen Aufgabe von Kompaniemeldern: »Das ist vielfache Todesgefahr, hundertfache Todesangst. […] Meldedienst ist Wettlauf mit dem Tod.«21 Auf einem dieser Wettläufe erwischt es den jungen Dohmen: Keine Antwort. […] Drehte den Körper herum, tat einen Schrei – Dohmen lag tot da. Tot, der neunzehnjährige Abiturient Franz Dohmen, tot. Ich kann’s nicht fassen. Eben sprach er noch mit mir.22

Auf dem Rückzug durch einen unter Beschuss stehenden Schlammgraben kommt der Ich-Erzähler durch ein ihm »unbekanntes Grabenstück« voller Leichen: »Zuerst wollte ich schreien vor Angst und Grauen, ich, der einzige Lebende im Schützengraben der Leichen.«23 Da kommt ein feindlicher Vorstoß durch den Graben auf ihn zu: Und da schaudern sie beim Anblick der vielen Toten, der stummen, hilflosen Besatzung, gegen die man noch stundenlang alle Kanonen speien ließ. Wenn sie wüssten, dass wenige Schritte weiter ein Lebender liegt, ein Verängstigter, der nun nicht mehr flüchten kann, so schwach und elend in den Kniekehlen hat ihn der Schrecken gemacht.24

Panik auslösendes Grauen, lähmende Angst, aber auch Spannung durch die Erzählung im Präsens bestimmen die Darstellung. Die Folge solcher Erlebnisse: »Man wird hart inmitten dieses großen Sterbens.«25 Nach der Beschreibung des Leidens der Zivilbevölkerung resümiert der Ich-Erzähler erneut: »Wir sind hart geworden, wir Jungen, eisenhart.«26 Der sachliche, emotionslose Ton der Darstellung passt sich der Normalität des Todes an. Aber statt auf Distanz zu gehen und einen Ansatz von Reflexion zu ermöglichen, bezieht der Erzähler seine Leser lieber in das Geschehen mit ein und spricht sie direkt an: »Verdunkämpfer vom Douaumont, von Fosses, von Vaux und

20 Ebd., 38. 21 Ebd. 22 Ebd., 39f. 23 Ebd., 40. 24 Ebd., 41f. 25 Ebd., 28. 26 Ebd., 31.

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dem Chaume-Wald, ihr kennt ihn alle, den Grenadierweg«, der hier zum »Sinnbild der Verdunfront« wird: Es hat keinen Zweck dich zu verstecken, Umwege zu suchen, du musst ja doch in die rasende Hölle der Materialschlacht, und der brüllende Trommelschläger erreicht dich doch, erreicht uns alle, dich und mich und ihn. Alle sind wir gezeichnet, Kameraden, alle Verdunkämpfer. Keiner entrinnt je seinem Schicksal dort oben auf den zerpflügten Hügeln!27

Diese direkte Ansprache an überlebende Verdun-Kämpfer ist eines von vielen literarischen Mitteln, das Buch mit erzählerischer Spannung, existenzialistischem Schauder und todesmetaphysischer Ehrfurcht auszustatten. Der Krieg wird bei Ettighoffer stets als Schicksal wahr- und angenommen, einer Naturkatastrophe gleich, sinnlos, nach ihrem Sinn zu fragen.

Die Sinnfrage im Vergleich zu Remarque und dem Nationalsozialismus Diese unaufhörliche Beschreibung von Opfern, von verzweifeltem Sich-Wehren gegen eine herandrängende Übermacht, dieses ›Heldentum‹ der Verlierer weist natürlich auch mit jeder Seite des Romans auf ein Sinndefizit hin, die Frage nämlich: Soll das alles umsonst gewesen sein? Ettighoffer stellt diese Frage nicht explizit und beantwortet sie folglich auch nicht – sie harrt einer Antwort durch die Leser. In genau diese Lücke stießen diejenigen, die die offene Sinnfrage (»wofür?«) in eine offene Rechnung umdeuteten, deren Begleichung in einem neuen Krieg den Opfern des Ersten Weltkriegs nachträglich einen Sinn verleihen sollte. Man kann daraus aber nicht den Schluss ziehen, Ettighoffer habe durch diese Leerstelle in seinem Buch den Nazis zugearbeitet. Das hat er erst später, an anderer Stelle getan. Vielmehr finden sich in Gespenster am Toten Mann immer wieder Szenen, die trotz aller Abstumpfung und Härte auf eine Schicht nicht zerstörbarer Menschlichkeit verweisen. In der Mitte eines bis dahin durchaus in humanistischer Tradition stehenden Buches setzt sich Ettighoffer dann aber doch von dem Gedankengut ab, dem sich Remarque verpflichtet sah, nämlich im Kontext der Dialektik von Masse und Einzelnem. Wenn sinnloses Heldentum kein Heldentum, sondern einfach nur sinnlos ist, weil es nicht belohnt wurde – so jedenfalls konnte man Remarque interpretie27 Ebd., 220.

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ren28 –, dann kam für die Autoren des ›soldatischen Nationalismus‹ alles darauf an, t rotz der Niederlage einen Sinn in diesem Heldentum zu finden, um es wenigstens als Heldentum zu retten. Und das hieß, den Sinn vom erfolgreichen Ausgang des Krieges zu entkoppeln. Genau das versuchte Ettighoffer, wenn er darauf beharrte, dass der Sinn nicht im Sieg sondern in der Hingabe an die Gemeinschaft bestehe: Wer lebt heute noch von diesen Leuten? Viele deckt die Erde. Selbst ihre Namen sind schon aus unserem Gedächtnis gewischt. So schnell vergeht ein Mensch. Der Mensch ist nichts, das Ganze ist alles.29

Diese Zuspitzung war Remarque diametral entgegengesetzt, der das Individuum über die Ansprüche des Staates stellte. Genau in diesem Punkt unterscheidet sich eine zivile und liberale Einstellung von militärischem Denken und erst recht von den totalitären Ideologien der Nazis und Kommunisten. Dagegen lag für Ettighoffer der Sinn von Leben und Sterben des Einzelnen im Ganzen. Remarque hatte genau das in Frage gestellt, woran Ettighoffer festhalten will: Dass der Tod des Einzelnen seinen Sinn alleine in der Aufopferung für die Gesamtheit des eigenen Volkes findet, dass Heldentod folglich sinnvoll ist. Das war in Erziehung und Tradition bis dahin fast unhinterfragt. Und daran hält Ettighoffer fest. Im Zusammenhang mit seinen anderen Kriegsromanen steht fest, dass es für ihn undenkbar ist, der Einzelne könne sich aussuchen, wann es sinnvoll sei zu sterben und wann nicht. Die Opferbereitschaft ›für die Heimat‹, wie es in seinen Werken immer wieder heißt, muss absolut und unhinterfragbar sein, alles andere ist für ihn Feigheit und eines ehrenvollen Andenkens nicht würdig. Wer sich mit soldatischen Tugenden und Anstand – Ettighoffer betont immer wieder das Ideal von Ritterlichkeit – für das Vaterland opfert, hat folglich umgekehrt Anspruch darauf, von diesem als Held geehrt zu werden – das gebietet das reziproke Verhältnis von Einzelnem und Ganzem. Deswegen schreibt Ettighoffer gegen das Vergessen der Toten an, mitsamt ihren Leiden, ihrer Selbstaufopferung und ihrem Mut, dessen es bedurfte, um in der immer wieder detailreich

28 Man kann sich an dieser Stelle die, natürlich rein spekulative, Frage stellen, ob Remarque Im Westen nichts Neues jemals geschrieben hätte, wenn Deutschland den Krieg gewonnen hätte und die Überlebenden seiner Generation als Kriegshelden im Triumphmarsch heimgekehrt wären. 29 Ettighoffer, Gespenster, 198. Es handelt sich hier um die Radikalisierung eines Eindrucks, den man sehr leicht auf jedem größeren Schlachtfeld gewinnen konnte. So schrieb z.B. Henry Dunant 1862 in seiner Erinnerung an Solferino, die zur Gründung des Roten Kreuzes führte: »Was war auch jeder Einzelne von ihnen in dieser großartigen Zerrüttung? Sehr wenig. Sie litten oft, ohne sich zu beklagen, und starben in Bescheidenheit, ohne dass man weiter ihrer erwähnte.« Berlin: Omnium, 2018, 44.

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beschriebenen Hölle auszuharren. Das darf für ihn nicht vom Ausgang des Krieges abhängen. Diese Entkoppelung des Gedenkens und der Anerkennung der Opfer des Krieges von seinem siegreichen Ausgang unterscheidet ihn zugleich von der nationalsozialistischen Gedenkkultur, für die der Sinn des Opfergangs allein im Sieg bestehen kann – womit sie alles Gedenken auf einen noch nachzuholenden Sieg verpflichtet. Anders Ettighoffer, der an Völkerversöhnung denkt, für deren Möglichkeit er Anzeichen sogar schon mitten im Krieg findet: Selbst hatten die Leute nichts und wollten uns noch gut sein, weil wir uns anständig zeigten. Und da spricht man von Völkerhass und unmöglicher Versöhnung. Ein Franzosenkind zieht sich einen Leckerbissen am Mund ab, um die »Boches« damit zu füttern.30

Anstand und Ritterlichkeit gehören ebenso wie Tapferkeit, Gleichmut und Kaltblütigkeit für Ettighoffer zu den Voraussetzungen jenes Heldengedenkens, das er sich zur Aufgabe gemacht hat. Wenngleich diese Erinnerungsarbeit nicht frei bleibt von kriegsverherrlichenden Momenten, so besteht ihr eigentlicher Sinn doch in der Mahnung an die nachfolgende Generation, durch Versöhnung und durch die Überwindung von Völkerhass den Krieg zu überwinden. Denn obwohl in seiner Sicht der Krieg eine Herausforderung für abenteuerliche Männlichkeit ist, unterm Strich bleibt er doch ein Verbrechen. Das spricht Ettighoffer sogar noch deutlicher aus als Remarque, in einer Szene, die sehr an das Motiv der verlorenen Generation bei Remarque erinnert: Weißt du, wie wir ausmarschierten, alles flotte, junge Kerle, die Bäume ausreißen wollten. […] Es ist vielleicht gut, dass wir fallen und sterben, denn wir würden uns doch nie ins friedliche Leben schicken können. Unsere Grabkreuze werden eine Mahnung sein für die anderen, die Jungen. Das größte Verbrechen an Deutschland, ja, an der ganzen Menschheit, ist dieser Krieg – – .31

Spätestens hier wird deutlich, dass die Interpretation des Buches als Anti-Remarque in den Reihen des ›soldatischen Nationalismus‹ nicht haltbar ist:

30 Ebd., 193. 31 Ebd., 319.

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Der Roman galt als literarische Antwort der politischen Rechten auf Remarques Im Westen nichts Neues: »Im Osten gibt es aber auch gar nichts Neues!«, heißt es in Gespenster am Toten Mann augenzwinkernd.32

Diese Interpretation bezieht sich auf eine einzelne Szene, die an der Ostfront spielt und tatsächlich eine »augenzwinkernde« Anspielung auf Remarque darstellt, aber auch nicht mehr. Sie entbehrt jeder transzendenten Bedeutung und besagt in ihrem Kontext nur folgendes: Im Stellungskrieg des Westens gibt es nichts für die OHL relevantes Neues, und im russischen Winter schon gar nicht, nicht einmal, dass Weihnachten ist, fällt im dortigen Schnee sonderlich auf. Einen Anti-Remarque kann man aus dieser Stelle nun wirklich nicht konstruieren. Ebenso ist die gegenteilige Interpretation von Andreas Lampert, nach der Remarques Roman für Ettighoffer ein »Vorbild« war, zumindest in der Begründung etwas voreilig: Seine Gespenster am Toten Mann (1931) waren ein spannendes Kriegsbuch und eine passagenweise Kopie des Vorbilds – persönlicher und in eingeschränktem Sinne politischer durch die Frage nach dem Schicksal der Elsässer, erweitert um den Blick auf die Ostfront, platter im Auskosten von emotionalen Momenten […]. Von der Struktur her – mit dem Rhythmus Front, Heimat und nochmal Front – blieb Ettighoffer bei seinem Vorbild.33

Natürlich hatte Ettighoffer, wie wohl alle Schriftsteller, die seit Ende der 1920er Jahre über Kriegserlebnisse schrieben, Remarque gelesen, daran führte kein Weg vorbei angesichts der Reaktionen, die Im Westen nichts Neues ausgelöst hatte. In Gespenster am Toten Mann eine »Kopie des Vorbilds« zu sehen, ist aber schlichtweg falsch. Das Buch ist auch nicht »politischer« als das von Remarque. Ganz im Gegenteil, es ist unpolitischer, weil es die Frage nach der Verantwortung für die beschriebenen Leiden und Gräuel immer wieder ausblendet und sich stattdessen auf die bloßen Erlebniss e des einfachen Soldaten beschränkt, wo Remarque sich traut, gerade auch die R ef lexionen des einfachen Soldaten über Sinn und Verantwortlichkeiten einzufügen. Auch ist das Buch von Remarque bei weitem sentimentaler als die bemüht soldatische Perspektive von Ettighoffers Ich-Erzähler, der mit emotionalen Momenten äußerst zurückhaltend ist. Angesichts der durchgehenden Emotionslosigkeit, die nur angesichts des Leidens der Zivilbevölkerung unterbrochen wird, von ›plattem Auskosten‹ emotionaler Momente zu sprechen, ist

32 Tobias Schneider. »Bestseller im Dritten Reich.« Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (2004), 1, 77–97, hier 89. 33 Artikel »Ettighoffer, Paul Coelestin«. polunbi (http://www.polunbi.de/pers/ettighoffer-01.html).

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sehr bedenklich. Und schließlich ist die Unterbrechung des Fronteinsatzes durch Heimaturlaub eine gängige Kriegserfahrung, keine Kopie von Remarque.

Die Frage nach dem Grund der Niederlage Bleibt die Frage, zu der sich in der einen oder anderen Weise die meisten Kriegsromane verhalten mussten, nämlich warum die beschriebenen Leiden, Opfer und Anstrengungen der deutschen Soldaten nicht mit dem Sieg belohnt wurden. Lag es für Ettighoffer an der Revolution, den Kommunisten, den »Verhetzten«, wie er sie später immer nannte? Nein, Ettighoffer erwähnt zwar den Streik der Munitionsarbeiter aus der Perspektive der empörten Frontsoldaten, aber er wird nicht für die Niederlage verantwortlich gemacht. Mit dem Ende der Munitionssperre ist das Thema beendet. Lag es an fehlender Unterstützung in der Heimat? Nein, trotz der fürchterlichen Versorgungslage wird der Durchhaltewillen der Hungernden in der Heimat als vorbildlich dargestellt: »Ihr Aushalten war groß und heldenhaft.«34 Lag es an der fehlenden Kampferfahrung und dem fehlenden Enthusiasmus der neuen jungen Kohorten? In der Tat betont Ettighoffer diese beiden Aspekte an den jungen Rekruten, aber ohne jeden Vorwurf: Ersatz ist angekommen. »Deutschlands letzte Hoffnung«, sagen wir. Es sind lauter Achtzehnjährige und Neunzehnjährige, fast noch Kinder. Die viel zu weiten Uniformen schlottern ihnen um den Leib. Die dünnen Jungenhälse ragen lang aus dem Kragen.35

Im Grunde drücken diese Zeilen mehr Mitleid als Anklage aus. In die Melancholie angesichts des Elends der jungen Rekruten mischt sich allerdings Wut über die zunehmende Drückebergerei: Die Drückebergerei trägt üppige Blüten. […] Es ist offenes Geheimnis, dass viele maßgebende Stellen sich bestechen lassen. […] Wenn es 14 geheißen hat: Wer darf mit? Und 15 die Parole aufkam: Wer muss mit? So heißt es im Herbst 17: Wer wird sich noch drücken können? Wir Frontsoldaten möchten am liebsten ausspeien vor diesen Drückebergern.36

34 Ettighoffer, Gespenster, 134. 35 Ebd., 187. 36 Ebd., 251f.

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Nicht nur den Drückebergern, auch der Etappe gilt nach Ettighoffer die ganze Verachtung des Frontsoldaten, aber sie alle werden nicht für die Niederlage verantwortlich gemacht. Verantwortlich ist in Gespenster am Toten Mann die Kombination von zwei Faktoren. Erstens, die eigenen Versorgungsdefizite: Eine bayerische Division löst uns ab. Die Leute kommen gerade aus der Kaiserschlacht, erzählen von vollgestopften englischen Proviantämtern und gewaltigen Beutezügen. Sie tragen fast durchweg englische Hosen und englische Schuhe mit Wickelgamaschen.37

Zweitens, der Eintritt der Amerikaner in den Krieg. Es kommt zum ersten Gefecht mit amerikanischen Truppen, »der erste Kampf, bei dem wir Sieger bleiben, aber auch erkennen, dass solche Menschenmassen und solches Material uns erdrücken werden, heute vielleicht noch nicht, aber morgen.«38 Dennoch siegen sie weiter, sie siegen bis zum Ende des Buches, bis zur Gefangennahme des Ich-Erzählers, aber dies ist zugleich der Moment, an dem sich die Niederlage deutlich abzeichnet. 65 Kilometer vor Paris ist der Schlusspunkt unseres Vormarsches erreicht: Vor uns hat sich der Widerstand gewaltig verdichtet und wir sind abgehetzt, wir können nicht mehr. […] Jetzt rollen die Würfel unseres Schicksals abwärts, ganz rasch abwärts, denn vor uns tritt Amerika auf den Plan.39

Der sich abzeichnenden äußeren Niederlage stellt sich allerdings ein innerer Sieg gegenüber: statt Auflösung nimmt die Kameradschaft sogar noch zu! Überhaupt sind die täglichen Verluste an Offizieren sehr hoch. Das Gerippe des ganzen Widerstandes besteht überhaupt nur noch aus einigen Offizieren, aus Unteroffizieren und wenigen Stammmannschaften. Je toller es wird, desto inniger gestaltet sich jetzt die Kameradschaft. Unsere Frontoffiziere leben und sterben mit uns und für uns.40

So gelingt Ettighoffer am Ende die Kunst, eine militärische Niederlage in einen moralischen Sieg umzudeuten. In einen Sieg des Heldentums der deutschen Frontkämpfer, das unter den ausführlich geschilderten Leiden ein Höchstmaß erreichte, und denen hier die gebührende Ehre erwiesen werden soll, insbesondere den 37 Ebd., 291. 38 Ebd., 271. 39 Ebd., 315. 40 Ebd., 317.

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Elsässern unter ihnen, auch wenn der Sieg nicht erreicht wurde. Am deutschen Frontsoldaten, das soll jedem Leser am Ende des Buches einleuchten, hat es nicht gelegen, dass der Krieg verloren wurde, denn er hat bis zum Schluss alles Menschenmögliche gegeben. Am Ende lag es einfach an der Übermacht von Menschen und Material beim Gegner, vor allem seit dem Kriegseintritt der Amerikaner. Damit bedient diese Darstellung nicht das Verratsnarrativ, unterstützt nicht die These vom Dolchstoß und angesichts der ausführlich beschriebenen Aufopferung der Heimat auch nicht die These Hitlers, der Krieg sei an der Heimatfront verloren worden. Gespenster am Toten Mann, um es ganz deutlich zu sagen, hat mit dem ›soldatischen Nationalismus‹ einige Schnittmengen gemeinsam, vor allem die Heldenverehrung, mit dem Nationalsozialismus dagegen keine. Es ist ein durchaus eigenständiges Buch im Kontext der Fronterlebnisromane, das zwar noch in abenteuerlich-heldischem Geist geschrieben wurde und sich an einigen Stellen wie Karl May liest,41 aber eine deutliche Absage an den Krieg enthält und, bei allen Unterschieden, viele Gemeinsamkeiten aufweist mit Im Westen nichts Neues. Das gilt auf den ersten Blick auch für die beiden Autoren. Beide wurden in ihrer Biografie von der Wucht des Kriegserlebnisses nachhaltig geprägt, beide schrieben, um sich von den Schatten (»Gespenstern«) ihres persönlichen Kriegserlebnisses zu befreien, beide wurden durch den Erfolg ihres Romans zu Schriftstellern, die unter dem Druck standen, nun nachlegen zu müssen, beide blickten mit Stolz auf die Leistungen ›des deutschen Soldaten‹ im Weltkrieg42 und beide verurteilten den Krieg als Verbrechen, ohne daraus jedoch radikalpazifistische Konsequenzen zu ziehen.

Zu Ettighoffers literaturgeschichtlicher Verortung im soldatischen Nationalismus In einer fiktiven Literaturgeschichte der Weimarer Republik, die kurz vor der NSMachtergreifung und folglich in Unkenntnis der weiteren Entwicklung geschrieben worden wäre, hätte das Buch Gespenster am Toten Mann direkt neben Remarques Anti-Kriegsbestseller eingeordnet werden können. Mit anderen Worten: Dieser

41 Das war damals nicht ungewöhnlich, viele Freiwillige seines Jahrgangs haben im ›Kriegsabenteuer‹ ihr persönliches ›Karl-May-Abenteuer‹ gesucht. Auch Ernst Jünger schrieb in seinen Stahlgewittern teilweise in diesem Stil und bemerkte anlässlich seiner ersten Patrouille ausdrücklich, dass ihm dabei Karl May ins Gedächtnis kam. Vgl. Helmuth Kiesel (Hg.). In Stahlgewittern. Historisch-kritische Ausgabe. Band 1. Stuttgart: Klett-Cotta, 2014, 164. 42 Remarque wiederholte sogar die These, man sei ›im Felde ungeschlagen‹: »Wir sind nicht geschlagen, denn wir sind als Soldaten besser und erfahrener; wir sind einfach von der vielfachen Übermacht zerdrückt und zurückgeschoben.« (Im Westen nichts Neues. Köln: KiWi, 1987, 255.)

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1930 geschriebene Roman ist in seiner Bewertung zu trennen von der Anpassung des Autors an den NS-Buchmarkt ab Mitte der Dreißigerjahre. Wie gesehen, kannte und zitierte Ettighoffer das Erfolgsbuch von Remarque in seinem Roman und es macht mehr Sinn, darin eine Referenz an ein Vorbild zu sehen, als daraus einen Anti-Remarque zu konstruieren. Man geht also nicht fehl in der Annahme, dass es großen Eindruck auf ihn gemacht hat, ebenso wie Remarque seinerseits von Ernst Jüngers und Franz Schauweckers ersten Kriegsbüchern äußerst positiv angetan war. In der Sicht des Krieges als den Frontsoldaten erschütterndes und prägendes Erlebnis standen sich diese Autoren durchaus nahe. 1928 befasste sich Remarque in einer Sammelrezension mit Büchern über den Großen Krieg, in der er auch auf Ernst Jünger und Franz Schauwecker zu sprechen kam.43 Über ersteren heißt es: Die beiden Bücher Jüngers von einer wohltuenden Sachlichkeit, präzise, ernst, stark und gewaltig, sich immer weiter steigernd, bis in ihnen […] die ungeheure, alles überwindende Kraft der Vitalität und des Herzens Ausdruck gewinnen. Den Ablauf der Geschehnisse zeichnen die »Stahlgewitter« […] am stärksten, ohne jedes Pathos geben sie das verbissene Heldentum des Soldaten wieder […]. Jünger […] ist wie kaum ein anderer berechtigt, über die Schlacht und den Krieg auszusagen. Er tut es schlicht, einfach und dadurch mit großer Wucht.

Über Schauweckers Frontbuch, eine 1927 erschienene erweiterte Neuauflage seines 1919 publizierten Im Todesrachen, heißt es: » […] und so stößt auch er, grübelnder und schon didaktischer (im guten Sinne) als der prachtvoll ruhige Jünger, ebenso wie dieser zu dem neuen Menschentyp vor, der 1918 im Grabensoldaten fest geprägt war.« Es klingt wie Bewunderung für Jünger und Anerkennung für Schauwecker. Aber im Unterschied zu diesen beiden waren weder Remarque noch Ettighoffer politisch aktive, sondern eher zurückhaltende Naturen. Was die genannten Autoren verband, war das ungeheuerliche Kriegserlebnis und die gegenseitige Bewunderung dafür, wie sie das Erlebte in Worte fassten. Was sie trennte, war die politische Instrumentalisierung des Kriegserlebnisses.

43 Erich Maria Remarque. »Soldat Suhren, Roman von Georg von der Vring. Ringen an der Somme, von Otto Riebicke. Das Wäldchen 125 und In Stahlgewittern, von Ernst Jünger. Das Frontbuch, von Franz Schauwecker – Sammelrezension«. Sport im Bild (1928), 12, 895–896. Diese Ausgabe stammte von Ende Mai 1928. Damals hatte Remarque sein Manuskript von Im Westen nichts Neues gerade beim S. Fischer Verlag eingereicht, wo es abgelehnt wurde. Pfingsten las es dann Hans Ullstein. Remarque hat die rezensierten Bücher also unmittelbar nach oder sogar schon vor der Fertigstellung seines Manuskriptes gelesen.

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Schauwecker gab ab 1925 zusammen mit Ernst Jünger und anderen Die Standarte – Beiträge zur geistigen Vertiefung des Frontgedankens, eine Publikation des Stahlhelms, heraus, »die das Stammblatt an Radikalität noch weit übertraf.«44 Zweck dieser Beilage war es, über Themen wie Krieg, Kameradschaft und Freundschaft zur Schulung der ›nationalen Bewegung‹ beizutragen: Die soldatischen Werte des im Kampf ›gestählten‹ Frontkämpfers suchten die Autoren auch auf die Gesellschaft der Friedenszeit zu übertragen, um auf diese Weise eine harte, widerstandsfähige und entschlossene, von starken Einzelpersönlichkeiten, kampferprobten ›Führernaturen‹ gelenkte völkische Nation zu formen.45

Das war nicht mehr Remarques Projekt. Als der sich im Sommer 1931 eine Villa am Lago Maggiore kaufte, schrieb Ettighoffer gerade für den Kölner Stadtanzeiger seine Landstreicher-Reportage Servus Kumpel, mit der er auf die Zustände der alleruntersten Bevölkerungsschicht aufmerksam machen wollte, unter der er im Frühjahr einige Wochen gelebt hatte. Ein Buch, das von ferne an Günter Wallraffs Under-cover-Reportage Ganz unten von 1985 erinnert und auf ein soziales Anliegen des Journalisten Ettighoffer verweist, der auf gänzlich unsentimentale Weise Anklage dagegen erhebt, dass Menschen keine Arbeit haben und betteln müssen.46 Anfang 1933 wurden Remarques Romane Im Westen nichts Neues und Der Weg zurück verboten und beschlagnahmt, aber der Autor blieb merkwürdig stumm, was ihm Tucholsky schon 1931 vorgeworfen hatte: »Auf Remarque als Kämpfer können wir nicht zählen, seit er sich von dem Kammerjäger Goebbels so leicht hat besiegen lassen.«47 Auch im Frühsommer 1935 auf dem »Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur« in Paris, auf dem die internationale, linksintellektuelle Schriftstellerelite anwesend war, ließ sich Remarque zwar sehen, ergriff aber nicht das Wort. Vielleicht hatte diese Zurückhaltung die Nazi-Führung zu dem Versuch ermutigt, den international erfolgreichen Autor doch noch für das Regime einspannen zu können. Zwar hatte Fritz Büchner in den Münchner Neueste Nachrichten vom 4. April 1929 Remarque vorgeworfen, dass »er nie ein Soldat dieses Krieges war, sondern nur ein durch zufällige Umstände in Uniform gekleideter Zivilist«, und 44 Nadja Bengsch. »Franz Schauwecker – der ›Dichter des heldischen Lebens‹.« Rolf Düsterberg (Hg.). Dichter für das Dritte Reich. Band 2: Biografische Studien zum Verhältnis von Literatur und Ideologie. 9 Autorenporträts. Bielefeld: Aisthesis, 2011, 175–205, hier 182. 45 Ebd., 183. 46 Sein späteres Führerlob hat auch damit zu tun, dass er Hitler zugutehielt, diese Missstände beseitigt zu haben. 47 Ignaz Wrobel (Kurt Tucholsky). »Der neue Remarque«. Die Weltbühne, 19.05.1931, 733. Es handelte sich um die Besprechung von Remarques Roman Der Weg zurück.

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Oskar Fritsch hatte an Remarques Bestseller in Deutschlands Erneuerung48 bemängelt, dass »hinter dieser, an sich bestechenden Darstellung« eine »internationalpazifistische, gegen ›Militarismus‹ und überhaupt jede Autorität gerichtete Tendenz« stecke und vom Vaterland nirgends die Rede sei. Zwischen den Zeilen spürt man aber, dass selbst solch scharfen Kritikern das Buch streckenweise durchaus gefiel, sie aber mit der Botschaft, die es vermittelte, nicht einverstanden waren. Man sollte auch nicht außer acht lassen, dass der Kampf gegen Im Westen nichts Neues Teil des Kampfes gegen jene Tendenz war, für die das Haus Ullstein einstand und die Arthur Koestler, der dort im September 1927 seine Korrespondentenlaufbahn begann, so beschrieb: Fünf Brüder Ullstein, die Söhne des Gründers Leopold Ullstein, waren die Besitzer des Unternehmens, und wie weiland die fünf Brüder Rothschild waren sie Juden. Ihr Motto war politischer Liberalismus und moderne Kultur. Sie waren antimilitaristisch, antichauvinistisch und im besten Sinn europäisch; die große Welle deutsch-französischer Freundschaft der Ära Briand-Stresemann war zum Teil dem Einfluß der Ullstein-Presse zuzuschreiben. Das Haus Ullstein war eine politische Macht und gleichzeitig die Verkörperung des fortschrittlichen und kosmopolitischen Geistes der Weimarer Republik.49

Es versteht sich, dass das Haus Ullstein ebenso wie der S. Fischer Verlag für die Nazis ein rotes Tuch waren, und wenn es gelänge, den in die Schweiz emigrierten und politisch bislang zurückhaltenden Autor nach Deutschland zurückzuholen, wo er ja nun für einen ›arisierten‹ Verlag hätte schreiben müssen, dann, so vermutlich das Kalkül, wäre das für beide Seiten vorteilhaft. Jedenfalls schickte man im selben Jahr Hermann Görings Staatssekretär Körner als Emissär nach Porto Ronco an den Lago Maggiore, um Remarque zurück nach Deutschland zu holen, was dieser aber harsch abgelehnt haben soll.50 Ein Jahr später, 1936, erschien der erste von vier Bänden einer Anthologie unter dem Titel Die Mannschaft – Frontsoldaten erzählen vom Front-Alltag. Die Mannschaft entstand im Frühsommer des Jahres 1935, als Otto Paust im Kreis schriftstellernder Veteranen vorgeschlagen haben soll: »Kinder, eigentlich sind wir

48 Oskar Fritsch. »Im Westen nichts Neues«. Deutschlands Erneuerung (1929), 13, 320. 49 Arthur Koestler. Als Zeuge der Zeit. Das Abenteuer meines Lebens. Bern, München: Scherz, 1985, 89. 50 So jedenfalls berichtete es Robert M. W. Kempner, später US-Anklagevertreter bei den Nürnberger Prozessen. Vgl. Wilhelm v. Sternburg. »Als wäre alles das letzte Mal.« Erich Maria Remarque. Eine Biographie. Köln: KiWi, 2000, 244.

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doch noch immer die alte Mannschaft, wenn auch der eine dies Buch schreibt und der andere ein anderes … Warum schreiben wir da nicht einmal eins zusammen!«51 So unverfänglich das auch klingen mag – dass es hier um mehr ging als um ein gemeinschaftliches Veteranen-Gedenken an den Großen Krieg, wird sofort klar, wenn man weiß, dass Otto Paust nicht nur Weltkriegsteilnehmer und Freikorpsmitglied war, sondern sich auch am Kapp-Putsch beteiligte, 1930 in die NSDAP und SA eintrat und Schriftleiter des NSDAP-Organs Der Angriff wurde. Auch der Herausgeber des ersten Einzelbandes, Jürgen Hahn-Butry, schrieb seit 1931 für den Angriff. Und dieser NSDAP-Linie entsprechend suchte man sich auch die Autoren für das geplante Projekt aus: Von den 24 Beiträgern gehörten 13 der NSDAP an oder standen ihr nahe.52 Generell wollte der erste Band nicht an die »Front-Kampftage«, sondern an den »Front-Alltag« erinnern, er sollte einem »anderen Erinnern« gewidmet sein, das nicht kriegstreiberisch daherkam – es war das Jahr der Olympiade in Berlin –, aber doch in militärischem Geist verfasst war. In eben diesem wollte man in »schriftstellerischen Kampfe ein Bollwerk« errichten »gegen die volksverdummende Frontentheiligung eines Remarque und seiner Genossen im Ungeiste.«53 Nun also, nach dem gescheiterten und geheimen Versuch des Staatssekretärs Körner, war das Tischtuch endgültig zerschnitten und das alte binäre Kriegsdenken kam wieder zum Vorschein: Freund oder Feind? Tertium non datur. Die Einleitung zum zweiten Einzelband der Anthologie der Mannschaft gibt als Entstehungsgrund die positiven Rückmeldungen »in Besprechungen und Briefen« an, und man hatte daraufhin weitere Kriegsschriftsteller angesprochen, die bisher nicht zur »Mannschaft« gehörten, unter anderen Ettighoffer. Dieser verfasste seinen Beitrag folglich in der zweiten Jahreshälfte 1936 oder im Winter 1937, sehr wahrscheinlich in Kenntnis des ersten Bandes. Ettighoffers Text54 ist völlig unverfänglich und frei von NS-Gedankengut und bringt einmal mehr sein ganz persönliches Anliegen zum Ausdruck: das Gedenken an die elsässischen Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg, die, so führt der Text aus, weder auf französischer Seite geehrt werden, weil sie ja auf deutscher Seite

51 Jürgen Hahn-Butry (Hg.). Die Mannschaft – Frontsoldaten erzählen vom Front-Alltag. Berlin: Wilhelm Limpert Verlag, 1936; Einleitung zum ersten Einzelband, 8. 52 Insgesamt, auf alle Bände verteilt, kommt N. Beaupré zu dem Ergebnis, »dass mindestens ein Viertel der Autoren der NSDAP angehörten und dass etwa einer von zehn aus den Reihen der SA kam.« (Nicolas Beaupré. »Die ›Mannschaft‹ und die Erfindung des ›Frontdichters‹ des Ersten Weltkriegs«. Gerd Krumeich (Hg.). Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg. Essen: Klartext, 2010, 11–126, hier 118f.) 53 Einleitung von Jürgen Hahn-Butry zum ursprünglich ersten Band, in der NSKOV-Sonderausgabe, Berlin 1936, 9f. 54 »Vizefeldwebel Linksheraus«, im ursprünglich zweiten Einzelband, 55–69.

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kämpften, noch auf deutscher Seite in Gedenkveranstaltungen einbezogen werden, da das Elsass ja mittlerweile zu Frankreich gehörte. Mit diesem Kontakt zur ›Mannschaft‹ war Ettighoffer im Kreis der Autoren des ›soldatischen Nationalismus‹ angekommen. Sie begrüßten ihn als Autor eines vermeintlichen Anti-Remarque-Buches und eines soeben erschienenen Verdun-Buches.55 Und genau zu diesem Zeitpunkt, zwischen 1936 und 1937, kippte Ettighoffers Haltung. Er vollzog hier etwas mit, was sich par excellence an den Anthologien der Mannschaft ablesen lässt und von Nicolas Beaupré56 in aller Deutlichkeit herausgearbeitet wurde: die Gleichschaltung der Frontschriftsteller mit der NS-Bewegung. Kurz gesagt lief die Argumentation der für die Anthologie Verantwortlichen darauf hinaus, den Begriff der ›Mannschaft‹ so weit zu fassen, dass er nicht nur die »alte Mannschaft« von »schriftstellernden Kameraden der Front« einbezog, sondern als »Kameradschaft von Männern« über die Veteranen hinaus auch auf die SA anwendbar wurde.57 Dieser Vorgang verstand sich keineswegs von selbst, denn das Leiden und Grauen der Frontsoldaten, an das Ettighoffer in seinen Kriegsbüchern unentwegt erinnerte, hatte wenig bis nichts zu tun mit dem Straßenkampf der SA gegen die Weimarer Republik. Es wäre also durchaus verständlich gewesen, wenn sich alte Frontveteranen gegen eine solche Gleichstellung empört und verwahrt hätten. Dass Ettighoffer dies – anders als Ernst Jünger – nicht tat, hat mit seiner Biografie zu tun, wie wir weiter unten sehen werden. Tatsache ist, dass die ›Mannschaft‹ ihm genau das anbot, was er seit Kriegsende so schmerzlich vermisst hatte: ein ehrenvolles Andenken an die Leiden, Opfer und Leistungen im Krieg. Genauer gesagt: Sie offerierte ihm, an diesem Andenken selber mitzuarbeiten. Jemand, der wie Ettighoffer darunter gelitten hatte, dass den Überlebenden und Gefallenen die Anerkennung des Vaterlandes versagt geblieben war, hätte sich nur unter Aufgabe aller Glaubwürdigkeit diesem Ansinnen versagen können. Von nun an befand sich Ettighoffer im Fahrwasser der in solchem Sinne gleichgeschalteten ›Mannschaft‹. In seiner Broschüre Infanterie marschiert von 1937 findet sich ein deutliches Führerlob, in seinem Buch Sturm 1918 von 1938 greift er erstmalig – und zwar völlig zusammenhanglos und unglaubwürdig – das Verratsnarrativ und die Dolchstoßlegende auf: »Gesicht zum Feind, kämpfend bis zum letzten Atemzug, stirbt das unbesiegte deutsche Frontheer, den Dolch schmachvollen Verrats im Nacken … .«58

55 P. C. Ettighofer. Verdun. Das große Gericht. Gütersloh: Bertelsmann, 1936. 56 Beaupré, 118. 57 Hahn-Butry (Hg.), Die Mannschaft, Einleitung zum ersten Einzelband, 8. 58 P.C. Ettighofer. Sturm 1918. Sieben Tage deutsches Schicksal. Gütersloh: Bertelsmann, 321.

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Trotz aller Gleichschaltung und Anpassung: Das ist mitnichten die Verratsversion der Nazis, der zufolge die Juden die Schuldigen waren, sondern die national-konservative Version Hindenburgs, die der Revolution die Schuld für die ›Schmach von Versailles‹ geben wollte. Es gibt keine Hinweise auf Antisemitismus bei Ettighoffer.59 Er war nun ein Erfolgsautor auf dem NS-Buchmarkt und nahm an der geistigen Mobilmachung teil. Als solcher verschwand er nach 1945 in der Versenkung des Vergessens. Und damit auch sein Buch Gespenster am Toten Mann.

Remarque und Ettighoffer: gegensätzliche Tendenzen In seiner Autobiografie benutzte Arthur Koestler für seinen Lebensweg die Metapher eines Pfeils, der ins Blaue geschossen wird. An einem bestimmten Punkt seines Lebens hält er inne und schreibt: Vor meinen Augen steht ein lebhaftes Bild, wie sich der Pfeil […] der Länge nach in zwei Hälften spaltet. Die zwei Hälften stoßen einander ab, ihre Bahnen werden abgelenkt; sie setzen ihren Flug in entgegengesetzte Richtungen fort […].60

Die Metapher von einer Flugbahn, die sich in gegensätzliche Tendenzen auflöst, passt mutatis mutandis auch zu Remarque und Ettighoffer: Wenn Remarque 1928 noch Ernst Jünger und Franz Schauwecker bewunderte und Ettighoffer wiederum Remarque; wenn man ferner Gespenster am Toten Mann als Warnung vor dem Krieg und Verdun – Das große Gericht als Anklage gegen sinnloses Massensterben und als Aufruf zur Völkerversöhnung versteht,61 dann stellt sich die Frage, wie es kam, dass Ettighoffer im ›soldatischen Nationalismus‹ und später auf dem Index der Alliierten landete, während sein einstiges Vorbild Remarque zum Namensgeber des Friedenszentrums in Osnabrück wurde. Dabei muss man die entscheidenden Unterschiede ihrer Lebensbahnen in den Blick nehmen.

59 Allerdings gibt es an anderen Stellen einen typisch kolonialistischen Blick auf Afrikaner. Ob man den als rassistisch bewerten will, ist eine Frage der Interpretation. 60 Koestler, Als Zeuge der Zeit, 52f. 61 Auf dem Einband der 1936er-Ausgabe sind ein deutscher und ein französischer Helm zu sehen, die von zwei Lorbeerzweigen eingefasst werden – ein Symbol, das Ettighoffers Respekt vor dem Gegner zum Ausdruck bringt.

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Erfahrungen im Krieg Ettighoffer war bei Kriegsausbruch achtzehn Jahre alt und meldete sich nach dem Abitur freiwillig. Remarque war bei Kriegsausbruch sechzehn Jahre alt, wurde erst im November 1916 eingezogen und kam im Juni 1917 nach einer halbjährigen Ausbildung an die Front nach Flandern. Zwischen diesen beiden Rekrutenjahrgängen bestehen erhebliche Unterschiede, die man übrigens auch bei den Jünger-Brüdern feststellen kann: Während Ernst Jüngers Feldpostbriefe an seine Eltern lange Wunschlisten enthalten, in denen er sich mit Tabak, Zigaretten, Alkohol, Schokolade, Wurst, Strümpfen, Hemden, Zeitungen, Büchern usw. versorgen lässt, schrieb sein erst im Juli 1916 an die Front geschickter Bruder Friedrich Georg im November 1917 an seinen mittlerweile zum Leutnant beförderten Bruder: »Wenn Du im Feld mal [etwas] an Brot, Fettigkeiten oder irgendetwas Essbares über hast, so schicke es auf jeden Fall um Gottes Willen an meine jetzige Adresse, damit ich nicht ganz verhungere.«62 Ettighoffer nahm die Unterschiede zwischen den Rekrutenjahrgängen in Gespenster am Toten Mann wie folgt wahr: Auf der Bahnhofsallee […] marschieren neueingekleidete Truppen. Es sind lauter junge Burschen mit schmalen Schultern. Kein Gesang, keine Blume, nichts. Nicht mehr die hohe Begeisterung, die uns, die Kriegsfreiwilligen, ehedem beseelte.63 Ihr Soldatsein ist ohne Freude, ihre Vaterlandsliebe ohne Begeisterung. Ihnen fehlt das, was wir, die Kriegsfreiwilligen, mehr als genug besaßen, die Kampfesfreude. Zu viel Miesmacherei haben sie schon vernommen, zu viel Hunger selbst gelitten.64

Ettighoffer wurde mehrfach verwundet, ausgezeichnet und zum Leutnant befördert, Remarque bereits sechs Wochen nach seiner Ankunft an der Ypern-Front von Granatsplittern an Bein, Arm und Hals getroffen, womit sein Fronteinsatz beendet war. Bis dahin hatte er hinter der Front zerstörte Eisenbahnstrecken repariert, Munitionszüge entladen und Telefonleitungen gelegt, aber auch vor den Schützengräben Stacheldrahtzäune ziehen müssen. Bis Ende Oktober 1918 blieb Remarque in einem Duisburger Lazarett, wo er nach seiner Genesung in der Schreibstube tätig war, unter den Verwundeten 62 Heimo Schwilk (Hg.). Ernst Jünger: Feldpostbriefe an die Familie 1915–1918. Stuttgart: Klett-Cotta, 2014, 91. 63 Ettighoffer, Gespenster, 246f. 64 Ebd., 187.

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zahlreiche Informationen über ihre Erlebnisse an der Front sammelte und einen Roman begann, in dem es zehn Jahre später heißen sollte: »Erst das Lazarett zeigt, was der Krieg ist.«65 Ettighoffer geriet vermutlich Anfang August 1918 in französische Kriegsgefangenschaft und erlebte jenen Stimmungsumschwung nicht mehr mit, den Remarque so beschrieb: Jeder hier weiß, dass wir den Krieg verlieren. Es wird nicht viel darüber gesprochen, wir gehen zurück, wir werden nicht wieder angreifen können nach dieser großen Offensive, wir haben keine Leute und keine Munition mehr. Doch der Feldzug geht weiter – das Sterben geht weiter – Sommer 1918 – […] Nie ist das Leben vorne bitterer und grauenvoller als in den Stunden des Feuers, wenn die bleichen Gesichter im Schmutz liegen und die Hände verkrampft sind zu einem einzigen: Nicht! Nicht! Nicht jetzt noch! Nicht jetzt noch im letzten Augenblick!66

So dachte Remarque wohl auch, als er am 31. Oktober 1918 zum I. Ersatz-Bataillon im Infanterie-Regiment 78 nach Osnabrück kam, dessen Transport an die Front unmittelbar bevorstand. Doch elf Tage später war der Krieg zu Ende. Remarque konnte sich darüber eigentlich nur freuen und das Lehrerstudium fortsetzen, dass er im Herbst 1916 begonnen hatte. Derweil lag Ettighoffer schwer verwundet in einem französischen Gefangenenlager, wo er nach seiner Genesung bis 1920 als Arbeitskraft gefangen gehalten wurde. Von verlässlichen Informationen über das Kriegsende und die politischen Vorgänge in Deutschland war er abgeschnitten. Weder die Novemberrevolution und die Kapitulation noch die Ausrufung der Republik und die Unterzeichnung des Versailler Vertrags hat er aus der Nähe oder aus deutschen Zeitungen mitverfolgen können. Als er aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, existierte der Staat, für den er in den Krieg gezogen war, nicht mehr, die Monarchie war jetzt eine Republik, und es gab Parteien im Reichstag, von denen er noch nie etwas gehört hatte. Von den elf Parteien,67 die bei den Wahlen 1920 Sitze im Reichstag gewinnen konnten, hatten nur vier68 existiert, als Ettighoffer sich 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte, und auch über die dürfte er auf dem Gymnasium in Mons wenig bis gar nichts erfahren haben.

65 Remarque, Im Westen nichts Neues, 236. 66 Ebd., 254f. 67 SPD, USPD, DNVP, DVP, Zentrum/BVP, DDP, BVP, KPD, DHP, BB. 68 SPD, Zentrum, Deutsch-Hannoversche Partei (DHP), Bayerischer Bauernbund (BB).

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Schlimmer noch als diese völlige politische Unmündigkeit war die Tragik, dass die Generation, die von der Schulbank an die Front kam, keine Berufsausbildung hatte. Das Einzige, was sie nach der Schule gelernt hatte, war, mit Waffen umzugehen.69 Für die Aussichten nach seiner Rückkehr 1920 muss man sich einen emotionalen Zustand vergegenwärtigen, den Remarque so beschrieb: Die Angst vor dem Alleinsein steigt in mir auf. Wenn Kat abtransportiert ist, habe ich keinen Freund mehr hier. […] Was mich mit Übermacht hinzieht und erwartet, sind Gefühle. Es ist Lebensgier, es ist Heimatgefühl, es ist das Blut, es ist der Rausch der Rettung. Aber es sind keine Ziele. […] Ich bin so allein und so ohne Erwartung, dass ich […] der Zukunft entgegensehen kann ohne Furcht.70

Erfolgreiche Literatur und Dichtung, von Goethe über Heine bis zur Pop-Kultur, kodiert Emotionen so, dass Menschen darin ihre eigenen Gefühle besser ausgedrückt sehen, als sie es selbst vermocht hätten. Auch das gehört zu Remarques Erfolgsgeheimnis. Und dafür bewunderten ihn selbst jene, die mit seiner These von der Sinnlosigkeit des Sterbens nicht einverstanden waren.

Erfahrungen nach 1920 Die Kameraden von Zelt 27 hatten in Ettighoffers gleichnamigem Buch die französische Kriegsgefangenschaft – so sollte es der Titel ausdrücken – als Kameraden überstanden. Nun, nach ihrer Ankunft im Februar 1920 am Bahnhof DüsseldorfBilk, ging jeder seiner Wege. Was insbesondere Ettighoffer, den nach seiner Rückkehr keine Angehörigen oder Freunde erwarteten, bevorstand, dürfte mit der »Angst vor dem Alleinsein« in einem ihm mittlerweile völlig fremden Land sehr gut beschrieben sein. Vor dieser 69 Einer der Protagonisten aus dem autobiografischen Roman über die Rückkehr aus der französischen Gefangenschaft Kameraden von Zelt 27 stellt die Frage: »Jetzt soll ich friedlicher Zivilist werden, wo ich nichts kann als Schießen, Stechen und Handgranatenwerfen. […] soll ich alter Esel von 24 Jahren wieder die Schulbank drücken? […] Glaubst du, ich könnte je wieder los vom Waffenhandwerk?« P. C. Ettighoffer. Kameraden von Zelt 27. Deutsches Schicksal an Ruhr und Rhein 1920–1924. Gütersloh: Bertelsmann, 1939, 31. Ursprünglich 1933 erschienen unter dem Titel: Zelt 27 wird niedergerissen. Laut Vorwort 1932 geschrieben. Bei Remarque heißt es ähnlich in Bezug auf eine Berufsausbildung: »›Wie kann man das ernst nehmen, wenn man hier draußen gewesen ist.‹ […] ›Zwei Jahre Schießen und Handgranaten – das kann man doch nicht ausziehen wie einen Strumpf nachher –‹ […] ›Der Krieg hat uns für alles verdorben.‹« (Im Westen nichts Neues, 82, 84.) 70 Remarque, Im Westen nichts Neues, 257, 261ff.

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völligen Verlorenheit hatte ihn während des Krieges das in Gespenster am Toten Mann so oft betonte ›Wir‹ seiner Truppeneinheit bewahrt, das für den Waisen gewiss auch zu einer Art Familienersatz geworden war. Ettighoffers Roman hieß ursprünglich Zelt 27 wird niedergerissen, womit auf den Verlust der Kameradschaft nach der Rückkehr angespielt wurde.71 Das Buch hat etliche literarische Mängel, beginnend mit der Erzähltechnik: Oft spricht ein allwissender Erzähler, der über den Figuren und der Zeit steht und die Gedanken aller auftretenden Personen kennt, dann ein Erzähler, der einem der Protagonisten nahesteht, nämlich Reißing, dann wieder wechselt er in eine nicht näher definierte »Wir«-Perspektive. In der letzteren kann man ohne psychologische Überinterpretation eine Sehnsucht nach dem erkennen, was der amerikanische Psychiater Robert Jay Lifton als Ergebnis seiner Forschungen über US-Veteranen so formulierte: I also realized that for all of us there is some quest to be part of something larger than ourselves, whether it is a religion, a profession, a political movement, or some kind of ethical body or principle.72

Die sich trennenden Kameraden von Zelt 27 »fühlen, dass sie […] etwas verloren haben«, was, so suggeriert es jedenfalls die Erzählung, es nur unter Frontsoldaten, unter Kameraden geben kann: »einen Halt, oder sonst irgend etwas sehr Wertvolles.«73 Besonders im Krieg ist die Notwendigkeit, Teil von etwas zu sein, das größer ist als man selbst, eine absolute Grundvoraussetzung für die Stabilität soldatischer Psyche und wird in der englischsprachigen Literatur oft als »the idea greater than fear« behandelt.74 Soldaten müssen wissen, wofür sie kämpfen und sterben und an den Sieg glauben. Das war seit August 1918 vielfach nicht mehr der Fall gewesen. Was war Ettighoffer nach dem Untergang des Kaiserreiches und der Auflösung seines Regimentes geblieben? In welche regionale Heimat konnte er nach dem Verlust Elsass-Lothringens zurückkehren? Welches Wir blieb ihm nach der Auflösung der Kriegsgefangenen-Kameradschaft? Um welche biografische Kontinuität zwischen 1914 und 1920 ließ sich nun eine neue Ich-Identität und eine Perspektive konstruieren? Die Antwort Ettighoffers auf alle diese Fragen lautete: das Vaterland, Deutschland.75 71 Die Umbenennung betont also die Kameradschaft und nicht mehr ihren Verlust. 72 Rachel Peltz. »Learning from History: An Interview with Robert Jay Lifton.« Psychoanalytic Dialogues (2008), 18, 710–734, hier 729. 73 Ettighoffer, Kameraden, 33. 74 Vgl. beispielsweise Lord Moran. The Anatomy of Courage. London: Constable & Robinson, 1945, 2007, 153 und öfter. 75 Schon Dunant hatte darauf hingewiesen, dass Soldaten im Krieg fernab von der Heimat oder nach einer Schlacht mit überstandener Todesgefahr oft eine besonders starke Verbundenheit zu dieser

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Kameraden von Zelt 27 schildert die Rückkehr nach Deutschland als Erfahrung absoluter Erniedrigung und Demütigung. Außer in leeren Worten erfährt Ettighoffers alter ego Reißing keinen Respekt und keinen Dank des Vaterlandes. Die Rückkehrer erhalten Hemden und Unterhosen aus harter, grauer Papierfaser, Zivilanzüge aus Papierfaser und Abfallwolle, die nach Teer und Karbol riechen und knittern. Die Mützen sind »gelbe, aus Strohfaser oder Papierkordel gefertigte Ungetüme, die beim Schwitzen sofort einlaufen.« Die Veteranen sehen damit »ulkig«, »verboten und lächerlich«, wie »Verbrecher« und »Zuchthäusler« aus und merken erst jetzt, »wie schön und schmuck sie das alte Feldgrau gekleidet hat.«76 Der Erzähler kommt zu dem Schluss, dass im »Deutschland von 1920 […] keine Münze […] tiefer steht und wertloser ist als Frontsoldatentum.«77 Das war die Wunde D euts ch l and des ›soldatischen Nationalismus‹ der 1920er Jahre. Reißing, erfährt bei seinem Versuch, im zivilen Leben Fuß zu fassen, eine Enttäuschung nach der anderen, er wird betrogen, erlebt überall Korruption und Verlogenheit. Was er erlebt, hat für ihn einen Beigeschmack von Vaterlandsverrat und schon bald findet er die Menschen »erbärmlich«: Weil ihr einen glatten Strich unter die Jahre 14 bis 18 ziehen wollt! Weil ihr tanzen und huren könnt auf den Leibern der zwei Millionen. […] Weil ihr lebt und nicht vor Scham in die Erde gesunken seid über das Schanddokument von Versailles!78

Einer von denen, die sich nun auch wieder vergnügen wollten, war Remarque. »Lebensgier«, »Rausch der Rettung« hatte er dieses Bedürfnis genannt. Tatsächlich war bereits im Winter 1918/19 die Depression der Verlierer paradoxerweise in eine Euphorie umgeschlagen, welche völlig grotesk anmutete im Angesicht von über zwei Millionen Gefallenen des Deutschen Reiches, angesichts der Spanischen Grippe, die im Kaiserreich und der neuen Republik auf eine extrem geschwächte Bevölkerung traf und in der zweiten Jahreshälfte 1918 geschätzte 400.000 Menschen, davon allein 50.000 in Berlin, hinwegraffte. Grotesk schien manchem auch, mit welcher Tanzwut man sich nun auf die Musik der Sieger stürzte und Jazz und Shimmy tanzte, statt die Walzer und Polka der Vorkriegszeit.

entwickeln. Es erwache »die Erinnerung an die Familie und an die Heimat nie mit stärkerer Kraft als nach großen Strapazen und den Aufregungen, welche er während und nach einer Schlacht […] haben musste.« Solferino, 46. 76 Ettighoffer, Kameraden, 30f. 77 Ebd., 58. 78 Ebd., 60.

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Im Grunde genommen lässt sich dieses »Daueramüsement im Schatten der Revolution« nur als eine »kollektive Triebentladung«79 begreifen, die auf die Vergnügungsverbote der Kriegszeit folgte und nun die aufgestaute Energie und Lust angesichts des allgegenwärtigen Todes umso hemmungsloser auslebte. Wer noch zögerte, ließ sich selbst in der tiefsten Provinz bald »von der allgemeinen Zügellosigkeit […] anstecken«, wie ein ausländischer Reisender bemerkte. In dem Dorf Parchim, nordwestlich der Mecklenburgischen Seenplatte, das vor dem Krieg etwa 13.000 Einwohner hatte, entdeckte dieser Reisende »eine neue Schenke« vor deren Tür ich ein unablässiges Wirbeln von Röcken sehe, und ich beschließe hineinzugehen. Scharen von Mädchen mit einigen Jungen dazwischen sitzen bei einer Tasse Kaffee und rauchen, rauchen wie Grenadiere, was vor dem Krieg nicht vorkam. […] In der Stille der Nacht verlassen sie ihre Häuser und treffen sich mit den Galans. […] Sicher ist, daß die Mädchen, die die Jungen weit hinter sich lassen, […] in Ausschweifungen abrutschen, die in der Unordnung allenthalben beinah mild beurteilt werden. Und wenn ich mich darüber wunderte, so deshalb, weil ich noch die Veilchen gleiche Zurückhaltung und Natürlichkeit im Kopf hatte, die die Mädchen in diesem feudalen und slawischen Mecklenburg [vor dem Krieg – B.S.] ausstrahlten.80

Die Kehrseite dieser allgemeinen Zügellosigkeit und Unordnung sah dieser scharfe Beobachter der veränderten Zustände in einer »Selbstmordepidemie« und unerbittlichen Zunahme der Kriminalität, die er auf den Krieg, die Niederlage, den Versailler Vertrag und die wirtschaftliche Lage zurückführte. Nicht nur ausländische Beobachter wie Aquilino Ribeiro, der nach dem Krieg das ihm durch seine deutsche Frau vertraute Vorkriegsdeutschland nicht mehr wiedererkannte, auch deutsche Psychiater wie Emil Kraepelin (1856–1926) hatten nach dem Krieg das Gefühl tiefer Entfremdung von ihren Zeitgenossen: Die ungeheuren Erlebnisse, die über das deutsche Volk hereingebrochen sind, haben sein Seelenleben auf das tiefste erschüttert. Eine Reihe von Erscheinungen sind in dem Verhalten der Massen hervorgetreten, die, an dem Maßstabe früherer Zeiten gemessen, fremdartig und kaum begreiflich erscheinen. Wandlungen des öffentlichen Fühlens und Wollens haben

79 Heimo Schwilk. Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben. München, Zürich: Piper, 2007, 204f. 80 Aquilino Ribeiro. Deutschland 1920. Eine Reise von Portugal nach Berlin und Mecklenburg. Bremen: Atlantik, 1997, 103.

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sich vollzogen, die gänzlich aus dem Rahmen geradliniger Entwicklung herausfallen.81

Es kann also nicht verwundern, dass sich der Spätheimkehrer Ettighoffer 1920 in diesem neuen Deutschland nicht nur einsam, sondern völlig fremd fühlte. Zudem ist er als Elsässer von der Abtretung seiner Heimat an Frankreich nach dem Versailler Vertrag besonders betroffen und die französischen Bemühungen, das Rheinland und das Saarland aus dem Reich zu lösen sind ein immer wiederkehrendes Motiv in Kameraden von Zelt 27, eine Sorge mehr um Deutschland, ein Grund mehr, die »Verteidigung des Vaterlandes« über den Krieg hinaus fortsetzen zu müssen. Bei der Ankunft schwor ein Offizier die Veteranen bereits auf ihre neue Aufgabe ein: Das Vaterland wird es euch danken. Hört nicht auf die falschen Propheten, bleibt euch selbst und dem Glauben an eine Wiedergeburt Deutschlands treu. […] Ihr habt noch ungebrochen den Geist von 1914 in euch. Eure heilige Pflicht ist es, ihn den niedergeschlagenen Volksgenossen einzuimpfen, nicht zu einem neuen Waffengang, der unserem müden Volk unmöglich zugemutet werden könnte, sondern zur Wiederaufrichtung eines frischen Geistes der Gesundung. An euch soll das deutsche Volk genesen.82

Damit sind wegweisende Stichwörter der nationalen Rechten deutlich ausgesprochen: Wie dergebur t D euts ch l ands, geist ige G esundung . Und weitere kommen bald dazu. Für Reißing gibt es jetzt nur noch eine Option: von Frankfurt aus schlägt er sich nach Wesel durch, wo sein Kamerad Frohne bei der Sicherheitspolizei untergekommen ist. Dort fühlt er endlich so etwas wie Geborgenheit: »hier kann er nicht untergehen und verderben. Seine Kameraden sind ihm Heimat.«83 Die Handlung, so wie Reißing/Ettighoffer sie erlebte, geschieht vor dem Hintergrund innenpolitischer Unruhen, die zum Kapp-Putsch und zum anschließenden Ruhraufstand führen. In dieser Situation diskutieren die Offiziere im Roman über die Frage »was tut man, wen verteidigt man, wer ist Machthaber im Vaterland, und wem haben die Hundertschaften zu gehorchen?«84 Die Veteranen schenken den Offizieren »volles Vertrauen […], denn Insubordination sei in jedem Heerwesen

81 Emil Kraepelin. »Psychiatrische Randbemerkungen zur Zeitgeschichte...« Süddeutsche Monatshefte (1919), 16, 171–183, hier 171. 82 Ettighoffer, Kameraden, 12f. 83 Ebd., 92. 84 Ebd., 98.

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der Anfang vom Ende. Zuerst das Vaterland«.85 Dann erklärt ein Offizier die Lage: Die Regierung hat die Niederschlagung des Aufstandes befohlen. Welchen Aufstandes? Den der Kapp-Putschisten in Berlin? Keineswegs, gemäß jenem Satz, der Seeckt zugeschrieben wird, »Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr«, ist der Aufstand, den es zu bekämpfen galt, der Generalstreik bzw. der Ruhraufstand. Es gebe, so der Offizier, für die Truppen nur einen Weg: »Alles zum Schutze des Vaterlandes gegen den Bolschewismus!«86 So halten sie zunächst fest an dem, was seit 1914 ihr Leben bestimmt hat: »Zuerst das Vaterland und dann die eigenen Interessen.«87 Und: »ich bleibe Soldat, bis jede innere und äußere Gefahr beseitigt ist.«88 So oder so ähnlich ist es Ettighoffer ergangen, der nach seiner Heimkehr als Mitglied der Sicherheitspolizei an der Niederschlagung des Ruhraufstandes nach dem Kapp-Putsch im März 1920 beteiligt war. Obwohl er sich als Soldat von der Politik fernhalten wollte, war diese Sicherheitspolizei-Erfahrung für ihn ebenso prägend, wie für andere nach 1918 die Mitgliedschaft in einem Freikorps, viele haben sogar beides miterlebt. Damit war die politische Orientierung vorgegeben. Als mentales Kriegserbe bringt er das Führerprinzip und den Kameradschaftsgedanken mit, den selbstlosen Einsatz zur Verteidigung des Vaterlandes und eine nationalistisch aufgeheizte Identifikation mit Deutschland, ferner ein binäres Freund-Feind-Denken, das nach dem Krieg auch in anderen Ländern das innenpolitische Klima prägte und vergiftete.89 Die Jahre 1920 bis 1923, die Niederschlagung des Ruhraufstandes und die Ruhrbesetzung durch die Franzosen fügen dieser Mentalität weitere Elemente hinzu: Frankreich und der Bolschewismus als Bedrohung für Deutschland. Die Niederschlagung des Ruhraufstandes wird dabei als Fortsetzung des Krieges an der Heimatfront dargestellt, manche Szenen erinnern weniger an einen Polizeieinsatz als an Aufmarschbeschreibungen vor Verdun: Breit und massig stehen die mattglänzenden Stahlhelme über schmalen, bleichen Entbehrungsgesichtern, und an jedem Koppel, rechts und links vom Schloß, hängen vier geladene Stilhandgranaten. […] Der Tritt der Marschierenden ist fest und entschlossen.90

85 Ebd., 99. 86 Ebd., 101. 87 Ebd., 21. 88 Ebd., 32. 89 So beschrieb es Paul Fussell in The Great War and Modern Memory. Oxford: University Press, 1975, für England. 90 Ettighoffer, Kameraden, 102.

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Hier stehen Verdun-Kämpfer bereit, keine Polizisten, und als Verdun-Kämpfer werden sie jetzt für neue Aufgaben gebraucht: »Kameraden, es geht in Stellung, nicht mehr in die Schützengräben um Verdun, sondern auf viel verantwortungsvolleren Posten.«91 Die Rechtfertigung für den über einen Polizeieinsatz weit hinausgehenden Kriegseinsatz mit Maschinengewehren und Handgranaten ist auf den vorherigen Seiten vorbereitet worden: Es ist ja Bürgerkrieg. Damit wird nun auch verständlich, warum für Ettighoffer die Gleichstellung von Weltkriegsveteranen und SA-Kämpfern durch die ›Mannschaft‹ nichts Empörendes hatte: Er selber hat den innenpolitischen Kampf »zum Schutze des Vaterlandes gegen den Bolschewismus«92 als Fortsetzung der Verteidigung des Vaterlandes gegen den äußeren Feind im Westen verstanden und erlebt. Kameraden von Zelt 27 endet mit dem siegreichen Kampf gegen die von Frankreich und Belgien unterstützten Anhänger einer Abspaltung des Rheinlandes vom Deutschen Reich: »Ein großer Abschnitt der rheinischen Geschichte ist beendet. […] Eine neue Epoche meldet sich. Man spricht von einer neuen, stabilen Währung. Man spricht von einer neuen Mark.«93 Doch auch die neue Epoche wird nicht einfacher: Die Rentenmark ist da. Eine solche Rentenmark ist eine glatte Billion Papiermark wert. Schwerer Schlag für viele Schieber! Banken krachen, Wechselstuben verschwinden wie schmierig gewordener Matschschnee in der Märzsonne. Unsolide Inflationsblüten verwelken über Nacht. In Berlin und in allen anderen deutschen Großstädten hebt die Massenflucht der Ausländer an. In Deutschland soll alles stabilisiert werden. Na, dann ist’s ja im eigenen Land billiger.94

Reißing, der die Sicherheitspolizei verlassen und einen neuen Versuch gewagt hat, als Handelsvertreter im zivilen Leben unterzukommen, wird arbeitslos und muss »stempeln gehen.«95 Auf dem Arbeitsamt stehen die Leute dicht gedrängt. Alles Leute, die jetzt ihre Stelle verloren haben. Sie waren alle bei Inflationsfirmen beschäftigt und müssen sich nun eine neue Existenz suchen. […] Vorne am Schalter stempelt ein Beamter die dargereichten Papiere und Meldekarten – wupp – wupp – wupp! […] Wupp – wupp –

91 Ebd., 101. 92 Ebd. 93 Ebd., 411. 94 Ebd., 413. 95 Ebd., 416.

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wupp, das Lied der Verzweiflung, das deutsche Lied für die nächsten Jahre der Not.96

Derweil war Remarque bis Ende 1920 in verschiedenen Dörfern Niedersachsens als Volksschullehrer tätig, fernab von den kriegsähnlichen Zuständen an Rhein und Ruhr. Die geistige Enge der Verhältnisse auf dem Lande, die konservative religiöse Mentalität der Schulaufsichtsbehörden und die Sehnsucht nach einer moderneren, liberaleren Welt veranlassten ihn bald dazu, den Lehrerberuf aufzugeben. Zunächst arbeitete er bei einer Osnabrücker Steinmetz- und Grabmalfirma, dann ging er im Frühjahr 1922 als festangestellter Redakteur von Echo-Continental nach Hannover, wo er Reklametexte verfasste und 1924 Chefredakteur wurde. Im folgenden Jahr ging er nach Berlin und arbeitete als Redakteur, später als Chefredakteur bei der Zeitschrift Sport im Bild, wo er über Autos, Motoren, Sport, Liköre und andere mondäne Themen schrieb. Kennzeichnend für seinen Lebensstil wurde eine dandyhafte und snobistische Pose, womit er der nüchternen Wirklichkeit seiner bürgerlichen Existenz etwas Glanz verleihen wollte. Aber erst der überwältigende Erfolg seines Kriegsbuches erlaubte ihm, das bürgerliche Berufsleben ganz aufzugeben und zugleich seinen mondänen und exquisiten Neigungen zu folgen. 1931 siedelte er sich in Porto Ronco an, wo er eine luxuriöse Villa am Ufer des Lago Maggiore erworben hatte. Just zu der Zeit hatte sich Ettighoffer unter die Landstreicher gemischt, um eine Reportage über das Leben der unter die Räder Gekommenen zu schreiben. Er hatte mittlerweile Im Westen nichts Neues gelesen und gerade Gespenster am Toten Mann veröffentlicht. Aber zwischen dem Buch Remarques und dem Ettighoffers hatte eine Zeitenwende stattgefunden: die Reichstagswahl vom 14. September 1930. Vorher hatte die NSDAP zwölf Sitze, danach einhundertsieben. Die politische Mitte war eingebrochen und die allgemeine Stimmung brachte der damals für die Vossische Zeitung arbeitende amerikanische Journalist Hubert Renfro Knickerbocker zwei Jahre später mit dem Bestseller Germany – Fascist or Soviet? auf den Punkt. Knickerbocker, der 1922/23 in München studiert hatte und später von Berlin aus für mehrere deutsche und amerikanische Tageszeitungen arbeitete, hatte eine Szene in einer Berliner Kneipe »bei den Ärmsten der Armen im roten Herzen der rötesten Stadt Deutschlands« erlebt, die ihm zu denken gab. Ihm war aufgefallen, dass dort von etwa 500 Gästen höchstens jeder Zehnte ein Glas Bier vor sich stehen hatte und er folgerte: »Wenn der Deutsche zu arm geworden ist, um sich ein Bier zu kaufen, ist er am Verzweiflungspunkt angelangt.«97 Von dieser Erfahrung, kein 96 Ebd., 417. 97 Zitiert bei: Alexander Jung. »Sturz in den Ruin«. Spiegel Special Geschichte (2008), I, 27.

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Geld zu haben, um mit einem Mädchen ausgehen und sich ein Bier leisten zu können, hatte auch Ettighoffer verbittert berichtet. Eigentlich hatte die Zeitenwende bereits ein Jahr zuvor zwischen dem 24. und dem 29. Oktober 1929 stattgefunden, als an der Wall Street die Börsenkurse eingebrochen waren und die erste Weltwirtschaftskrise ausgelöst hatten. Damit wurde in Deutschland das Vertrauen in den Kapitalismus, in das freie Spiel der Marktkräfte und die »unsichtbare Hand«, die alles zum Besten richten würde, nachhaltig erschüttert. Der Ruf nach dem Staat, der intervenieren sollte, und nach einer starken, ordnenden Hand, wurde laut und stärkte die Kräfte, die dem kapitalistischen System den Kampf angesagt hatten. In den folgenden drei Jahren sanken alle volkswirtschaftlich bedeutsamen Parameter um über 30 Prozent: das Bruttosozialprodukt, die Einkommen, der Konsum, die Investitionen, die Aktienkurse, die Zahl der Erwerbstätigen. Hinzu kamen die Reparationsleistungen, die 1929 immerhin 17 Prozent des gesamten Werts der deutschen Exporte ausmachten. Nachdem der »Hungerkanzler« Brüning, der mit seinem gnadenlosen Deflationskurs die Krise noch verschärfte, im Mai 1932 gestürzt worden war, zeichnete der Simplicissimus im Juni eine sarkastische Satirezeichnung, auf der Brüning den Hut zum Abschied zieht und Hindenburg zuruft: »Adieu, Herr Reichspräsident, und schreiben Sie mir mal ’ne Ansichtskarte aus dem Dritten Reich.« Bei den Reichstagswahlen vom Juli 1932 erhielt die NSDAP 37,3% der Stimmen und 230 Sitze im Reichstag, also noch mehr als bei den Wahlen vom November (33,1%, 196 Sitze), die Hitler schließlich zum Reichskanzler machten. Diese tektonische Verschiebung, die sich 1930, 1931 und 1932 in Wirtschaft, Gesellschaft und politischem System der Weimarer Republik vollzog, erfasste gerade auch die politische Mitte. Die Wandlung beispielsweise in der Vossischen Zeitung, dem Banner des deutschen Liberalismus, beschrieb Koestler so: Dem Westen gegenüber versteifte sich die Haltung der Zeitung zusehends. Wir hatten dem Versailler Vertrag gegenüber immer eine kritische Haltung eingenommen; jetzt ging sachliche Kritik in selbstgerechte Anmaßung über. Die Leitartikel wurden gespreitzt, patriotisch und provinzlerisch. Es war nicht nötig, die Redakteure und Auslandskorrespondenten zu diesem Kurswechsel aufzufordern. Nachdem der Ton einmal angeschlagen war, passten sie sich an – instinktiv und automatisch. Hätte man ihnen vorgeworfen, dass sie ihren Standpunkt geändert haben, würden sie es entrüstet und überzeugt verneint haben.98

98 Koestler, Zeuge, 110.

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Ettighoffer dachte und fühlte national, sozial und soldatisch asketisch. Vor die vermeintliche Wahl gestellt, ob Deutschland nationalsozialistisch oder kommunistisch werden würde, gibt es keinen Zweifel über seine Präferenz. Zudem kam für den gedemütigten Weltkriegsveteranen Ettighoffer mit Adolf Hitler der längst überfällige Aufstieg des Frontsoldaten an die Macht, »als Erfüllung eines lange gehegten kollektiven Traums von Deutschlands Rückkehr zu Größe und Ehre.«99 Wenn wir uns also heute aus der Rückschau fragen, wie Ettighoffer nur mit den Nazis kollaborieren konnte, dann ist das im Grunde genommen die falsche Frage, denn es war aus seiner damaligen Sicht völlig folgerichtig: Endlich erhielten die Weltkriegsveteranen den gebührenden Respekt und Dank des Vaterlandes (und sei er nur symbolisch) und die Gefallenen ein ehrenvolles Andenken.100 Und Ettighoffer durfte daran mitwirken! Schließlich kam auch noch sein Erfolg auf dem Buchmarkt des Dritten Reiches hinzu, der ihm zum ersten Mal Wohlstand bescherte. Er wurde zunächst zum Erfolgsautor, dann zum Auftragsautor und später zum Angestellten von Bertelsmann mit festem Gehalt und Gewinnbeteiligung. Wenn es richtig ist, dass »die genuinen NS-Romane […] meist Propaganda­ romane [waren], die allein der Propagierung der NS-Ideologie, des Führerkultes, des Antisemitismus und der totalen Mobilmachung dienten«,101 wie etwa Hans Zöberleins Der Befehl des Gewissens von 1936, dann kann man mit Sicherheit festhalten, dass Ettighoffer nicht dazu gehörte. Ebenso sicher gehört er aber zu den Autoren, »die beispielhaft für die Kontinuität in der Kriegsliteratur von der Weimarer Republik zum ›Dritten Reich‹ stehen.«102 In dieser Kontinuität knüpfte die nationalsozialistische an die deutsch-nationale Tradition an. Die eigentliche Frage bei Ettighoffer ist, warum ein Autor, der zuvor sinnloses Massensterben angeprangert und Achtung vor dem Gegner bezeugt hatte, ab

99 Gerd Krumeich. »Zwischen soldatischem Nationalismus und NS-Ideologie. Werner Beumelburg und die Erzählung des Ersten Weltkriegs«. W. Pyta, C. Kretschmann (Hg.). Burgfrieden und Union sacrée. Literarische Deutungen und politische Ordnungsvorstellungen in Deutschland und Frankreich 1914–1933. München: Oldenbourg, 2011 (HZ Neue Folge, 54), 295–312, hier 307. 100 Auf die Bedeutung der symbolischen Anerkennung der Opfer, die Soldaten für ihr Land gebracht haben, wies damals auch der Psychiater Ernst Simmel im Zusammenhang mit den Nachkriegsneurosen hin: »Dass nach dem letzten Krieg so viele Rentenneurosen auftraten, lag an dem Bedürfnis der ehemaligen Soldaten nach Wertschätzung und Anerkennung. Das Missverhältnis, wenn Kriegsversehrte um eine kleine Rente kämpfen und durch eben diesen Kampf psychisch krank bleiben, weist darauf hin, dass Geld für sie nur ein Symbol ist.« Ernst Simmel. »Kriegsneurosen«. Ders.. Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Ausgewählte Schriften. Hg. von Ludger M. Hermanns und Ulrich Schultz-Venrath. Frankfurt/Main: Fischer, 1993, 204–226, hier 226. 101 Tobias Schneider, Bestseller, 87. 102 Thomas F. Schneider, »Einleitung«, 13.

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1937 mit Die Infanterie marschiert103 auf einen Kurs mentaler Mobilmachung einschwenkte. Denn Gefallenenehrung ist eine Sache, Kriegsvorbereitung eine andere. Die Schwierigkeit der Weimarer Republik, der Toten und Überlebenden des Ersten Weltkriegs zu gedenken und dabei weder die gebrachten Opfer als sinnlos zu deklarieren noch die Einlösung ihres Sinns auf eine Revanche zu vertagen, zeigt den langen Schatten der unbewältigten Niederlage.104 In diese emotionale Lücke stieß mit ungeheurer öffentlicher Wirkung der Gedenk-, Opfer- und Heroenkult der Nazis.

103 P. C. Ettighofer. Die Infanterie marschiert. Dortmund: Crüwelt, 1937. 104 Vgl. zu dieser Interpretation des Kriegsendes Gerd Krumeich. Die unbewältigte Niederlage. Das Trauma des Ersten Weltkrieges und die Weimarer Republik. Freiburg: Herder, 2018.

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Generation Aktivdienst Ostschweizer Soldaten und Unteroffiziere erinnern sich an den Militärdienst 1939–1945

Pünktlich zum 50. Jahrestag der Mobilmachung der Schweizer Armee vom Spätsommer des Jahres 1939 veranstaltete das damalige Eidgenössische Militär­ departement (EMD, heute VBS) eine viel kritisierte Gedenkveranstaltung namens »Diamant«.1 Die offizielle Schweiz feiere den Kriegsbeginn des Jahres 1939, nicht aber die bedingungslose Kapitulation des nationalsozialistischen »Dritten Reiches« vom 8. Mai 1945, so monierten vor allem jüngere, linksstehende schweizerische Kritikerinnen und Kritiker der bewaffneten Landesverteidigung beispielsweise der Gruppe »Schweiz ohne Armee« (GsoA) rund um den prominenten sozialdemo­ kratischen Nationalrat Andi Gross. Die damaligen Wehrmänner wurden nichtsdestotrotz seitens des Staates dazu eingeladen, sich bei »Spatz« (Siedfleisch mit Bohnen) und Bier ihres Beitrags zur erfolgreichen Landsverteidigung zu erinnern und sich freundschaftlich auszutau­ schen unter guten alten Kameraden, kurz: sich des Lebens zu freuen. Die »Gene­ ration Aktivdienst« strömte in Scharen zum staatlich organisierten Großanlass herbei, machte wiederum, wie bereits von 1939 bis 1945, aktiv mit. Ohne groß zu murren oder aufzubegehren standen die in die Jahre gekommenen Männer und Rentner noch ein letztes Mal stramm. Tatsächlich war das Diensterlebnis während des Zweiten Weltkriegs derart prä­ gend, dass man meiner Meinung nach getrost von einer »Generation Aktivdienst« sprechen kann.2 1 Vgl. allgemein Stefan Schürer. Die Verfassung im Zeichen historischer Gerechtigkeit. Schweizer Vergangenheitsbewältigung zwischen Wiedergutmachung und Politik mit der Geschichte. Zürich 2009. 2 Vgl. auch das spannende oral-history-Projekt von Christof Dejung, Thomas Gull, Tanja Wirz. Landigeist und Judenstempel. Erinnerungen einer Generation 1930–1945. Zürich 2002. Vgl. auch Dimone Chiquet. »Es war halt Krieg«. Erinnerungen an den Alltag in der Schweiz 1939–1945. Zürich 1992.

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Auch die allermeisten wehrpflichtigen Ostschweizer Männer blieben von dem Einrücken in die Armee nicht verschont, mussten Eltern, Ehefrauen, Kinder oder jüngere Geschwister für längere Zeit alleine zuhause zurücklassen und fest damit rechnen, im bewaffneten Kampf den Tod zu finden oder verstümmelt oder gefangengenommen zu werden. Dass es nicht zum vielzitierten »Ernstfall« gekommen ist, war mitunter auch ein Verdienst der kampfeswilligen Schweizer Armee, die neben der Diplomatie und neben den wirtschaftlichen und finanzi­ ellen3 Konzessionen an die beiden Achsenmächte Deutschland und Italien einen gewichtigen und nicht zu unterschätzenden Faktor darstellte, die Schweiz nicht anzugreifen und militärisch zu erobern und zu besetzen. Der genaue Beitrag der Armee lässt sich schwerlich in genauen Zahlen beziffern und ist innerhalb der Fachwelt durchaus umstritten. Zwar war die Schweizer Armee von 1939 technisch gesehen nicht auf dem neuesten Stand.4 Es gab nur einige wenige Panzer und noch weniger moderne (deutsche) Flugzeuge (Me 109). Die Festungswerke der Alpen waren wähernd des Kriegs jedoch gut ausgebaut worden und dürften dem Feind durchaus einigen Res­ pekt eingeflößt haben. Die Moral der Truppe dürfte ebenfalls als hoch veranschlagt werden. Die Chancen, dass man nach einer zu erwartenden, raschen Niederlage nach einer offenen Feldschlacht zum für den Angreifer verlustreichen Guerilla­ krieg übergegangen wäre und somit in einem beiderseits blutigen Partisanenkrieg ähnlich wie in Jugoslawien weitergekämpft hätte, waren also durchaus gegeben. Die Quellenbasis dieses kurzen Artikels bilden lebensgeschichtliche Interviews, die Mitte der 2000er Jahre von Sekundarschülerinnen und Sekundarschülern (9. Schulklasse) der Oberstufenschule der Ostschweizer Gemeinde Bütschwil (Alt-Toggenburg) mit Bewohnerinnen und Bewohnern eines lokalen Altenheims namens »Solino« geführt wurden.5 Die Lehrerin der engagierten Schulklasse, Elisabeth Dubach-Wicki, hat ihren Schülerinnen und Schülern vor dem Abhal­ ten der lebensgeschichtlichen Interviews bestimmt einiges Vorwissen über die ereignisreiche Schweizer Geschichte des 20. Jahrhunderts vermittelt und dann die gedruckten Texte wohl auch ein wenig strukturiert sowie den Fragekatalog mit ausgearbeitet. Natürlich kann nicht von einer streng wissenschaftlichen »oralhistory« ausgegangen werden, doch Eindrücke in die Lebenswelt der Interviewten lassen sich gleichwohl rekonstruieren. Bei den befragten Seniorinnen und Senioren handelt es sich um ganz »normale« kleine Leute, um Arbeiter, Bauern, Knechte oder um kleine Angestellte und nie­ 3 Vgl. Jakob Tanner. Bundeshaushalt, Währung und Kriegswirtschaft. Eine finanzsoziologische Analyse der Schweiz zwischen 1938 und 1953. Zürich 1999. 4 Zur waffentechnischen Geschichte der Schweizer Armee vgl. nun Rudolf Jaun. Geschichte der Schweizer Armee. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Zürich 2019. 5 Vgl. Elisabeth Dubach-Wicki (Hg.). Lebensgeschichten aus dem Toggenburg. Bazenheid 2006.

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dere Beamte. Bei sämtlichen interviewten Männern des Seniorenheims »Solino« Bütschwil spielte der Aktivdienst von 1939 bis 1945 eine prominente Rolle in der Erinnerung. Die meisten, aber nicht sämtliche Männer erinnern sich gerne an diese Zeit zurück, wobei sicher ein wenig Verklärung dieser prägenden Lebensphase mit von der Partie ist. Die besten Jahre des Lebens in Uniform unter strenger Disziplin und meist ohne die Gesellschaft von Frauen verbracht zu haben, ist sicher kein Zuckerschlecken, von der ständig präsenten Kriegsangst, der schalen Kost, den bescheidenen Unterkünften, den Märschen, dem Drill und dem eingeforderten Kadavergehorsam ganz zu schweigen. Doch blickte man Jahrzehnte post festum stolz zurück auf das Geleistete, vergaß den Unbill weitgehend, orientierte sich an Werten wie Kameradschaft oder daran, einen Beitrag zur Abwehr des weltbedrohenden Nationalsozialismus geleistet zu haben.

Witzchen und verlorene Zeit: Die Erinerungen Ich beginne den Hauptteil mit Erinnerungen meines eigenen Vaters, wie er sie mir in meiner Kindheit öfters mitgeteilt hat (ca. 1978 ff.). Mein Vater, Walter Alois Brändle, Jahrgang 1916, katholisch, aus Neu St. Johann (Obertoggenburg, Kanton St. Gallen), damals lediger Jurastudent im zweisprachi­ gen Fribourg i. Ue., tat insgesamt circa dreieinhalb Jahre lang Aktivdienst (circa 1.200 Diensttage) als Sanitätskorporal (Unteroffizier). Er erzählte uns Kindern viel von den Gewaltmärschen über die hohen, teils verschneiten und vereisten Pässe des Bündner- und Glarnerlands, auch von den scharf einschneidenden, allzu dün­ nen, ledernen »Rucksackriemli«, die trotz vieler Reklamationen und Beschwerden der betroffenen und an schwärenden, schlecht heilenden Schnittwunden leidenden Soldaten beibehalten wurden. Insgesamt leistete Walter Brändle senior zumindest im Rückblick gerne Dienst und seinem humorvollem Temperament entsprechend riss er gerne Witzchen, bis »die Meute grunzte«.6 Als besondere Leistung Walter Alois Brändles sollte gewürdigt werden, dass mein Vater seine juristische Doktorarbeit (Die authentische Interpretation) inner­ halb eines verlängerten Urlaubs geschrieben hat und dafür immerhin die gute Note »cum laude« (5) erreichte. Einmal erkrankte mein Vater ziemlich schwer an einer beidseitigen Lungenent­ zündung. Er kam in ein Ostschweizer Lungensanatorium, wo er mehrere Monate lang ausharren musste und seine Genesung abwartete. Gefragt nach seinem aktu­ ellen Gesundheitszustand, rauchte er flugs eine Zigarette Marke Brunette, die ihm 6 Eigene Erinnerung, ca. 1980.

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noch nicht recht schmecken wollte. Nein, seine beiden Lungenflügel seien noch gar nicht in Ordnung, Rauchen schmecke ihm nämlich nicht, es sei noch viel zu früh, um wieder einzurücken, meinte er verschmitzt. Der Bütchwiler (Alt-Toggenburg, Kanton St. Gallen) Ernst Kull-Zellweger, Jahrgang 1917, war während des Aktivdiensts unter anderem im Welschland (Unterwallis) und in der bedeutenden Grenzstadt Basel am Rheinknie stationiert. Er baute beispielsweise Kommandoleitungen von einem Posten zum anderen und leistete insgesamt nicht weniger als rund 1.100 Diensttage. Auch Ernst KullZellweger mochte sich wie mein Vater als Unteroffizier an einen befriedigenden, ja sogar insgesamt gesehen schönen Aktivdienst erinnern, denn er war in eigenen Worten meistens »ganz fidel«.7 Ernst Kull-Zellweger konnte nämlich seinen direk­ ten Untergebenen befehlen, was er wollte, was ihm sehr passte.8 Die Frauen zuhause allerdings hatten es nach der Meinung Kull-Zellwegers besonders hart, denn sie mussten zusätzlich zu ihrem ohnehin schon gewaltigen Arbeitspensum noch die gepachteten »Pflanzblätze« (große Gärten mit Gemüse, Kartoffeln etc.) bewirtschaften. Albert Braun-Krucker, ebenfalls katholisch, Jahrgang 1910 aus Flawil (Unter­ toggenburg, Kanton St. Gallen), wurde hingegen im bereits reiferen Alter, mit rund dreißig Jahren, lediglich ein einziges Mal zum Aktivdienst aufgeboten. Er leistete nur gerade einen Monat administrativen Hilfsdienst (HD)/Bürodienst auf dem Kommandoposten Willerzell am Sihlsee, Bezirk Einsiedeln, Kanton Schwyz. Albert Braun-Krucker rechnete den Sold der Kompanie akribisch genau aus und führte die Mannschaftsliste ebenso sorgfältig. Der spätere Untertoggenburger Bezirksammann (Konservative Volkspartei), damals Hilfsschreiber am örtlichen Bezirksgericht, war froh, dass er später als junger Familienvater immer über genü­ gend Rationierungsmarken für die allseits heißbegehrten Grundnahrungsmittel verfügte und dass er und seine Liebsten somit nicht darben mussten.9 Josef Dörig-Bürgi wurde im Jahre 1913 in Wilen bei Wil im Kanton St. Gallen geboren. Im Jahre 1933 absolvierte er die Rekrutenschule, um dann später im Sep­ tember 1939 in den Aktivdienst einzurücken. Dörig-Bürgi war vorerst in Benken (Gasterland, Kanton St. Gallen) stationiert, wo er mithalf, den Benkener Hügel zu befestigen. Die einzige Schusswaffe der Kompanie war vorerst lediglich ein veraltetes Langgewehr, der modernere Karabiner kam erst einige Zeit später hinzu. Im Jahre 1941 wurde Dörig-Bürgi der Fliegerabwehr zugeteilt und hatte einen Schießkurs mit der Flab am Waffenplatz Payerne, Kanton Fribourg, zu absolvieren.

7 Dubach-Wickli (Hg.), Toggenburger Lebensgeschichten, 25. 8 Ebd. 9 Ebd., 201–208.

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Das Gesamtgewicht des Tornisters, der Helm, Munition, Jacke, eine zweite Hose, Waffenrock und die Patronentasche enthielt, war sehr beachtlich, nämlich gegen 50 Kilogramm. Kein Wunder also, dass er so schwer zu heben war und für den Träger eine stete Belastung bedeutete. Die einfache Verpflegung bestand gemäß diesem Soldaten aus Kaffee, Brot, etwas Emmentalerkäse, dünner Ovomaltine. Seltener gab es Konfitüre, Pferde­ fleisch, »Spatz« oder auch Spaghetti mit Tomatensauce. Dann war allerdings das gründliche Reinigen der Gamelle (Essnapf) außerordentlich mühsam. Auch das Schlafen auf Stroh in alten Stickereilokalen empfand Josef Dörig-Bürgi als müh­ selig. Auch die Körperhygiene war ungenügend, obschon Seife abgegeben wurde. Generell gewinnt der Leser seiner Erinnerungen den Eindruck, dass DörigBürgi während des Aktivdiensts insgesamt eine mühselige Zeit verlebt hat. Es verwundert denn auch nicht, wenn der auch im Rückblick durchaus kritische Soldat in Bezug auf den Aktivdienst von einer »verlorenen Zeit« spricht.10 Der Katholik Johann Stark-Sutter wiederum wurde im Jahre 1918 in Gonten, Kanton Appenzell Innerrhoden, geboren. Er befand sich gerade im Wiederho­ lungskurs (WK), als im September 1939 die Generalmobilmachung der Armee verkündet wurde. Der Appenzeller Stark-Sutter war vorwiegend im gebirgigen Kanton Glarus stationiert, wo er Unterstände, Stellungen, Befestigungen etc. baute. Laut Johann Stark-Sutter war die Schweiz »kriegsbereit«, Hitler fürchtete man seitens der Truppe nicht. Die Deutschen hätten Respekt vor der Schweizer Armee gehabt. »Ein Angriff wäre nicht ohne Konsequenzen geblieben.«11 Der gesellige, sportliche Appenzeller Johann Stark-Sutter sah also einen höheren Sinn im Aktivdienst, zumindest nachträglich. Er half in seinem Selbstbild erfolgreich mit, die demokratische Schweiz vor Hitlers Wehrmacht zu verteidigen. Dies erfüllte ihn mit Stolz und Selbstachtung. So sprach er denn auch von einem »familiären Zusammenhang«12 innerhalb der Kompanie, von einer guten Kameradschaft, von Freundschaften innerhalb der Truppe. Diese teilweise engen Freundschaften wurden nach dem Krieg oft durch regelmäßige Treffen weiter gepflegt und trugen somit zumindest im Rückblick ihren Teil dazu bei, den Aktivdienst positiv zu erinnern. Der handwerklich geschickte katholische Toggenburger (Bütschwiler) Josef Kühne-Meier schließlich wurde bei den Sappeuren eingeteilt. Er baute unter ande­ rem zahlreiche Panzersperren aus Beton. Bei der zweiten Generalmobilmachung im Juni des Jahres 1940 (deutsche Invasion und rasche Eroberung der ebenfalls neutralen Staaten Niederlande und Belgien) wurde Josef Kühne unsanft um drei

10 Ebd., 161–167. 11 Ebd., 74. 12 Ebd., 75.

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Uhr morgens von den örtlichen Tambouren (Trommlern) geweckt und um den wohlverdienten Schlaf gebracht. In der Gegend der berühmten, gegen den Rhein gewandten Grenzfestung Sar­ gans im Kanton St. Gallen mussten Kühne und seine Kameraden anschließend den dichten Wald ausplanieren, damit das dortige, stark ausgebaute Fort freie Sicht auf die flache Rheinebene bis ins seit 1938 ebenfalls deutsche Vorarlbergische hatte. Insgesamt absolvierte Josef Kühne-Meier immerhin ganz genau 265 Diensttage, belegt durch das peinlich genau geführte amtliche »Dienstbüchlein«, was aber auch zeigt, dass die Differenzen der geleisteten Diensttage zwischen einzelnen Wehrmännern groß, ja siginifikant sein konnten. Der Westschweizer General Henri Guisan sei ein guter Oberbefehlshaber gewesen, so Josef Kühne-Meier weiter, und habe jedem einzelnen Soldaten freund­ schaftlich die Hand gedrückt, wenn er seine meist gut gelaunte Truppe inspizierte. General Henri Guisan war bereits zu Lebzeiten ein Mythos, denn er war sehr populär nicht nur bei seinen Soldaten, sondern auch bei schweizerischen Zivilis­ tinnen und Zivilisten.13 Er galt als fair, gerecht, freundlich, anständig, verständ­ nisvoll für die Sorgen seiner Untergebenen, aber auch als Verkörperung eines gut eidgenössischen, gleichsam demokratisch grundierten Wehrwillens gegen den Faschismus (und natürlich gegen den Kommunismus/»Bolschewismus«). Kritik am aristokratisch aufgewachsenen und durchaus konservativ denkenden Waadtländer General Henri Guisan und an dessen sogar bisweilen autoritären Führungsstil wurde kaum je laut, zumindest nicht zu dessen Lebzeiten. In diesem kurzen Artikel habe ich den Versuch unternommen, anhand einiger lebensgeschichtlicher Interviews ehemaliger Ostschweizer »Aktivdienstler« Ein­ blick zu gewähren, wie Soldaten und Unteroffiziere den Aktivdienst 1939 bis 1945 erinnern. Die meisten Interviewten zeichnen ein positives Bild des in der Realität doch harten Alltags. Im Rückblick machten die Strapazen Sinn, dienten sie doch in den Augen der Akteure der aktiven Landesverteidigung. So nahm man manchen Unbill getrost in Kauf. Einzig ein einziger Soldat sprach von einer »verlorenen Zeit«. Ein weiterer Soldat gehörte dem Hilfsdienst an und leistete nicht viele Diensttage. Man muss sich vergegenwärtigen, dass die »Generation Aktivdienst« auch nach dem Krieg noch Dienst leistete, sich traf, in Wirtshäusern mit begangenen Hel­ dentaten prahlte, sich überbot in guten Geschichtchen. Dies alles trug bestimmt zur Konstruktion einer männlichen Identiät dieser Generation bei. Umso emp­ findlicher reagierte diese, wenn jemand am Nimbus der Armee kratzte, wie dies 13 Vgl. Willy Gautschi. General Henri Guisan. Die schweizerische Armeeführung im Zweiten Weltkrieg. Zürich 1994.

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beispielsweise Dienstverweigerer oder später die »Gruppe Schweiz ohne Armee« (GSoA) getan haben. Solche Kritikerinnen und Kritiker wurden schon einmal als »Vaterlandsverräter« verunglimpft. Natürlich wäre es interessant, mehr Stimmen zum Aktivdienst aufzuspüren. Vielleicht kann das eine zukünftige Dissertation leisten, die sich zwischen Erin­ nerung, Erinnerungspolitik und »kulturellem Gedächtnis« (Jan Assmann) zu orientieren haben wird.

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In Diensten Uncle Sams Der Schweizer Auswanderer und Kavallerist Johann Jacob »John« Jörimann (1861–1947)

Seit dem Spätmittelalter besteht die langlebige Tradition, dass sich junge eid­ genössische Männer in fremde Dienste, in den Solddienst, begeben. Einerseits bestanden bilaterale Regelungen mit ausländischen Mächten wie Frankreich, Spanien oder Venedig, die so genannten Kapitulationen, die Schweizer Söldner in der Regel bevorzugten. Andererseits zogen die jungen Männer auch gerne auf eigene Faust los. Namentlich die idealisierten Hirten- und Sennensöhne der gebirgigen, mehrheitlich katholischen Innerschweiz standen bei den Potentaten Europas im Gerücht, kampfeslustige, tapfere, mehr oder weniger gehorsame, loyale und besonders unerbittliche Soldaten zu sein. Der Solddienst versprach einen Weg aus der trostlosen Armut, versprach er doch Geld, Gold, Beute, Plünderungen und einen Hauch von Abenteuer. Die Tatsachen freilich präsentierten sich anders: Disziplin, Drill, geringer Sold, Strafen auch für geringe Vergehen, Verwundungen, Seuchen und Krankheiten sowie immer blutigere Kriege und im Verlaufe der Frühen Neuzeit ein stetiges Mehr an Disziplin ergaben einen eher bitteren Alltag.1 Die schweizerischen einheimischen Militärunternehmer wie die Schwyzer Familien von Reding oder Ab-Yberg, die Urner Schmid und Jauch oder die Zuger Zurlauben und Brandenberg ihrerseits machten gute Geschäfte mit dem Krieg und dem Solddient und dominierten in ihren Landsgemeinde-Demokratien gegenüber einer stets misstrauischen, aber nur phasenweise erfolgreichen popularen Oppo­ sition die politische Landschaft.2

1 Benjamin Hitz. Kämpfen um Sold. Eine Alltags- und Sozialgeschichte schweizerischer Söldner in der Frühen Neuzeit. Köln: Böhlau, 2017. 2 Fabian Brändle. Demokratie und Charisma. Fünf Landsgemeindekonflikte im 18. Jahrhundert. Zürich: Chronos, 2005.

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Zwar verbot der junge schweizerische Bundesstaat von 1848 die fremden Diens­ te, doch ließen sich weiterhin viele Männer anwerben, beispielsweise seit dem Gründungsjahr 1831 von der französischen Fremdenlegion.3 Mit harten Strafen mussten sie erst ab den 1920er Jahren rechnen. Ein wichtiges Auffangbecken für mehr oder weniger gescheiterte Existenzen war seit dem späteren 19. Jahrhundert zudem die amerikanische Armee, wo neben Schweizern auch viele arme Deutsche, Iren (britische Staatsbürger) oder Italiener dienten. Diese Auswanderer hatten nirgends sonstwo Fuß fassen können, der Dienst in der US-Army war für sie so etwas wie die letzte verbliebene Lebenschan­ ce, eine aus der Not geborene Perspektive also. Seit dem Amerikanischen Bürger­ krieg der frühen 1860er Jahre und seit den so genannten »Indianerkriegen« war der Bedarf an jungen Männern bei der Armee noch einmal merklich angestiegen. Die Soldaten machten den Siedlerinnen und Siedlern den Weg gen Westen frei, sie eroberten gewaltsam jenes Land, das dann unter die landhungrigen Pionierinnen und Pioniere aufgeteilt wurde. Als Johann Jacob Jörimann (1861–1947) aus Tamins im gebirgigen, eher armen schweizerischen Auswanderungskanton Graubünden im Jahre 1881 aus Armuts­ gründen über Antwerpen nach New York aufbrach, dachte er wohl kaum daran, einmal 25 Jahre lang Dienst in der amerikanischen Armee zu leisten und in so fernen Regionen wie den Philippinen zu kämpfen oder den Suezkanal zu durch­ fahren.4 Jörimann hatte vielmehr eine relativ kurze Zeit lang versucht, durch allerlei Jobs einen Fuß in die Türe der amerikanischen Gesellschaft zu bekommen. Er hatte auch als Selbständiger Schuhe geputzt, war aber in Philadelphia auf keinen grünen Zweig gekommen. Dabei war Philadelphia eine Stadt mit vielen deutschsprachigen Auswanderern. Englisch konnte Jörimann nämlich kaum, was seine Job-Chancen mit Sicherheit vermindert hat. Der Bündner Auswanderer nagte am Hungertuch, hatte kaum genug zu essen. Zum Betteln aber war er zu stolz. Die amerikanische Wirtschaftskrise jener Jahre verdüsterte die Zukunftsperspektive zusätzlich, denn die Arbeitslosigkeit war hoch. So erheischte ein Werbeplakat der US-Army die Auf­ merksamkeit Johann Jacob Jörimanns und seines Begleiters. Das Propagandaplakat versprach Kost, Logis und einen eher geringen Sold. Die beiden abgerissenen Freunde wollten unverbindlich im lokalen Rekrutierungsbüro vorbeischauen. Wie viele andere Neugierige auch unterschrieben die beiden Arglosen nach einem 3 Christian Koller. Die Fremdenlegion. Kolonialismus, Söldnertum, Gewalt 1831–1962. Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2013. Koller arbeitet unter anderem mit vielen Selbstzeugnissen ehemaliger schweizerischer Fremdenlegionäre. 4 Die Angaben zur Biographie Jörimanns stützen sich hauptsächlich auf: Fabian Brändle, Werner Warth. Kavallerist auf zwei Kontinenten. Johann Jacob Jörimann (1861–1947) in amerikanischen Diensten. Schwellbrunn: FormatOst, 2019. Das Selbstzeugnis wurde im Rückblick, also um 1925 verdasst, nachdem sich Jörimann nach seiner Rückkehr in die Schweiz in der Kleinstadt Wil nie­ dergelassen hatte und dort von seiner Rente lebte.

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Eignungstest und nach einer strengen, demütigenden medizinischen Untersuchung für immerhin fünf Jahre. Sie waren nun Rekruten der amerikanischen Armee. Was würde aus ihnen werden, wohin würde es sie überall verschlagen? Bange Fragen, die bald unmissverständlich beantwortet wurden. Johann Jacob Jörimann war nun jedenfalls nicht mehr Schmied seines eigenen Glücks, sondern eingespannt in eine die Rekruten dominierende »totale« Struktur, in eine Organisation, die Denken und Handeln weitgehend für sie übernahm. Johann Jacob, oder »John«, wie er sich später amerikanisiert nannte, Jörimann machte durchaus Karriere im amerikanischen Militär, stieg er doch bis zum ranghöchsten Unteroffizier (Postmeister-Quartiermeister) auf. Das alles wäre an sich noch nicht besonders außergewöhnlich. Sehr außergewöhnlich ist aber, dass Johann Jacob Jörimann seine Erlebnisse schriftlich und detailliert zu Papier brachte.5 Dieser Bericht, den ich gemeinsam mit meinem Historikerkollegen und Archivar lic. phil. Werner Warth aus Wil im Kanton St. Gallen, wo das Manuskript im Stadtarchiv liegt, in Buchform (ca. 112 Seiten) mit vielen Abbildungen und Anmerkungen herausgegeben habe, erlaubt es, die verschlungenen Wege Johann Jacob Jörimanns in der amerikanischen Armee nachzuvollziehen und einige Grundüberzeugungen des Protagonisten offenzulegen, Grundüberzeugungen, die meines Erachtens als durchaus typisch für die Rekruten, Soldaten und Unteroffiziere der amerikanischen Armee der Jahre und Jahrzehnte um 1900 gelten können. So gesehen ist dieser Artikel ein kleiner Baustein für eine Men­ talitätsgeschichte der amerikanischen Berufsarmee von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg (amerikanischer Kriegseintritt 1917).

Rekrutenalltag Aller Anfang ist schwer, dies musste auch der frischgebackene Rekrut und Kaval­ lerist Johann Jacob Jörimann im Verlaufe des für ihn langen Jahres 1881 erkennen. Immerhin hatte der Bündner Auswanderer im schweizerischen Milizheer schon einige Grundregeln des Militärischen erlernt und somit wertvolle Erfahrungen gesammelt, was ihm nun sehr zugute kam. Einen noch so sinnlosen Befehl zu befolgen war ihm durchaus bereits geläufig. Dennoch setzten lange Märsche, Drill und viel teilweise monotone Arbeit wie Straßenbau dem Schweizer Kavalleristen zu. Der Zürcher Historiker Christian Koller hat in seinem maßgebenden Buch zur Geschichte der französischen Fremdenlegion anhand von Selbstzeugnissen die Übergangsriten (»rites de passage« nach dem französischen Volkskundler 5 Ebd.

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Arnold van Gennep6) von militärischen Rekrutierungen und Musterungen her­ ausgearbeitet.7 Der Übergang vom Zivilleben zum Leben in Uniform musste »von oben« symbolisch und rituell zementiert werden, so auch im Falle Johann Jacob »John« Jörimanns, der auf das oben angesprochene Plakat reagierte und den darauf versprochenen Lohn sehr positiv bewertete. Zusammen mit einem weiteren abge­ rissenen Schweizer namens Blöchlinger machte er den ersten Schritt und begab sich ins Rekrutierungsbüro der Armee. Der Werbeoffizier war ebenfalls Schweizer und bemerkte, dass die beiden Neugierigen Schweizer Neuankömmlinge waren. Er klärte sie über alles auf, bestand also vorerst nicht darauf, sie anzuwerben. Er bot ihnen an, sie bis zum nächsten Tag zu verpflegen sowie ein Bett zu stellen. Es waren bereits rund dreißig Rekrutierungswillige im überfüllten Schlafsaal anwesend. Am nächsten Tag »und mit gefülltem Magen«8 entschlossen sich Jörimann und Blöchlinger, dem verheißungsvollen Werbeangebot Folge zu leisten. Ein Sergeant Weber nahm sie in Empfang. Zuerst mussten die beiden ein Bad nehmen. Die medizinische Untersuchung war »sehr streng«.9 Jörimann und Blöchlinger wurden für tauglich befunden und mit neuen Unterkleidern, Hemd etc. »in die Uniform eines Kavalleristen gesteckt«: »Also für fünf Jahre gehörten wir nun Uncle Sam.«10 Sich nackt ausziehen, neue Kleider, eine brandneue Uniform: So gestaltete sich der Übergang vom Zivilisten zur Militärperson, der von der Leistung des Eides abgeschlossen wurde. Jörimanns Zukunft war ungewiss, »doch in der Jugend geht ja alles leicht, und somit beschlossen wir durchzuhalten, was auch kommen möge.«11 Nachdem die Zahl der Angeworbenen auf über zweihundert gestiegen war, »wurden wir unter Kommando von Sergeant Weber nach Fort Mc Henry nach Baltimore gebracht.«12 Dort gab es einen weiteren Aufenthalt von zwei Wochen, ehe es nach St. Louis (Bundesstaat Missouri) zu den Jefferson Baracks (Kavalleriedepot) weiterging. In den Jefferson Baracks wurden die Rekruten in »Troops« (Kompanien) einge­ teilt. Ein »Troop« bestand in Friedenszeiten aus 65 Mann, in Kriegszeiten aus 100. Zwölf Schwadronen bildeten ein Regiment von A bis M. Zusätzlich bestand eine Regimentskapelle aus vierzig Mann. Der Kapellmeister war meistens ein Schweizer, ein Deutscher oder ein Italiener. Allgemein taten viele Schweizer, Iren, Italiener oder Deutsche Dienst in der amerikanischen Armee und gehörten entsprechend

6 Arnold van Gennep. Übergangsriten. Frankfurt/ Main: Suhrkamp 2015. 7 Koller, Fremdenlegion, 84–88. 8 Brändle/Warth, Kavallerist, 25. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd. 12 Ebd.

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auch zu den Opfern der legendären Schlacht am Little Bighorn, die mit der totalen Niederlage von General Custers Armee geendet hatte. Das Leben als Rekrut war durchaus hart und monoton, wie Jörimann anmerkte. Ihm persönlich ging es etwas leichter, hatte ich doch in der Schweiz Rekruten Kurse für Infanterie durchgemacht und war deshalb an Ordnung und Discipline gewöhnt. Andere nahmen es aber sehr schwer, mussten jedoch dennoch gehorchen, wann sie nicht gestraft werden wollten.13

Jörimann hatte also in der Schweiz die Rekrutenschule absolviert und war von daher an militärischen Drill gewöhnt. Doch wahrscheinlich war der Dienst als amerikanischer Berufssoldat ungleich härter. Frühmorgens nach dem Appell, noch vor dem Morgenessen, hatten die Rekruten die Pferde zu reinigen. Das Morgenessen bestand »aus einer Art Goulasch mit Brot und Kaffee.«14 Nachher gab es für eine Stunde Exerzieren zu Fuß, »dann beritten zwei Stunden lang, ohne Sattel, nur mit Decke und Zaum.«15 Reiten wollte eben gelernt sein. Erst nach etwa sechs Wochen wurden der Mannschaft die Sättel verabreicht. Der Rekrutenalltag war mehr als eintönig. Jörimann erinnert sich: Das ging so Tag für Tag und liess wenig Zeit übrig seinen Gedanken nachzu­ gehen. Aller Anfang ist schwer und manchmal war man am Abend todmüde und war froh, wenn man sich auf den Strohsack legen konnte. Ausser den gewöhnlichen, militärischen Ausbildungen, wie z. B. Soldatenschule, Reiten, Wache, Küchenpolizei etc., gab es aber noch andere Arbeit, die von uns Sol­ daten gemacht werden mussten: Strassenbauten, Wasserleitungen, Holzfällen, auf der Sägmühle behilflich sein, nebenhanst gab es keine Civilisten die das machen durften.16

So mancher Rekrut wünschte sich zurück in seine Heimat, manche desertierten sogar. Die meisten wurden jedoch wieder aufgegriffen und vor ein unnachsich­ tiges Kriegsgericht gestellt, das sie zu vier bis fünf Jahren strenger Festungshaft verurteilte. Im September 1882 wurde Jörimann gemeinsam mit zweihundert weiteren Kavalleristen nach Montana an die so genannte »frontier« gesandt. Sie fuhren dorthin in einem Eisenbahnwagen. Ein längerer Halt brachte den Soldaten die 13 Ebd., 26. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd.

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Schönheiten der Stadt St. Paul, Minnesota, näher. Der Trupp passierte einige Forts, ohne – zur Enttäuschung Jörimanns – auf »Indianer« zu treffen. Allgemein lässt sich sagen, dass sich ein Großteil des Dienstes aus reichlich öden und anstren­ genden Märschen und anstrengenden Ritten von Fort zu Fort bestand. Erst am River Poplar stießen die Kavalleristen in einem Reservat auf einige wenige Lakota (Sioux):17 Wir hatten nun Gelegenheit, diese wilden, roten Gesellen zu beobachten. Die meisten waren von schönem schlankem Wuchs, sehr grosse und stäm­mige Gesellen, nur mit Lendengürtel bekleidet, bemahlt und tättowiert, eine farbige Decke über die Schulter gehängt, Federn als Kopfschmuck, Jagdmesser an der Hüfte und mit Winchester Gewehre und Tommahawks bewaffnet. Von ihren Grausamkeiten und Überfällen auf Ansiedler und Truppen hatten wir auch schon gehört.18

Die Soldaten waren also schon mündlich auf die vermeintliche Bösartigkeit des Feindes vorbereitet worden, traten ihren Feldzug gleichsam indoktriniert an. In der Beschreibung des Äußeren der Sioux zeigt sich das »Andere«, das »Fremde«, das »Wilde«, das Indianerinnen und Indianer für »Weiße« ausstrahlten. Ethnolo­ gen und andere Wissenschaftler führen ins Feld, dass dieses »Andere«, gegen das man sich abgrenzt, sehr wichtig ist für die Herausbildung einer kollektiven WirIdentität. Die vermeintliche Nacktheit der Lakota (Sioux) ist, wie mir der Experte Julius Wilm in einer Email mitteilte, wohl ein westliches Vorurteil, denn die tiefen winterlichen Temperaturen in den amerikanischen »Great Plains« erlaubten kaum ein Leben lediglich im »Adamskostüm«. Zu direkten Kampfhandlungen kam es indessen auch künftig nicht. Die »Indi­ aner« der »Great Plains« hatten ihren Widerstand aufgegeben, waren um 1892 besiegt. In solche Kampfhandlungen wurde Jörimann eigentlich erst gegen Ende seiner amerikanischen Dienstzeit um 1896 verwickelt, als er in New Mexico und Arizona gegen die aufständischen Apachen des legendären Häuptlings Geronimo vorzugehen hatte. Eine interessante Passage belegt die Belesenheit Jörimanns und die literarischen Vorurteile im westlichen Denken über Indianerinnen und Indianer. Wer Karl May oder James Fenimore Cooper gelesen habe, glaube an die Gutherzigkeit des »roten

17 Zu den oftmals gewaltsamen Begegnungen zwischen »Weißen« und »Indianern« vgl. beispielsweise Aram Mattioli. Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas. Stuttgart: Klett Cotta, 2017. 18 Brändle/Warth, Kavallerist, 28f.

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Mannes«, an dessen edle Charaktereigenschaften. Diese romantisierende Charakte­ risierung erinnert an die Aufklärung und Jean Jacques Rousseaus »edlen Wilden«.19 Die Realität sah gemäß Jörimann jedoch gänzlich anders aus. Der Schweizer Söldner führte seine Augenzeugenschaft, seine Kenntnis verschiedener Stämme von den Lakota bis zu den Apachen ins Feld, um seiner Argumentation mehr Gewicht zu verleihen. Der »Indianer« sei »von Natur aus« 20 grausam und schone deshalb weder Frau noch Kind. Gefangene martere er zu Tode. Er spreche nicht viel, sei aber ein guter Diplomat, um seine Interessen klug zu vertreten. Wenn sich die Gelegenheit biete, verlasse er seine Reservate und überfalle Postkutschen, einsam gelegene Farmen, Armeetrupps oder Meldereiter. Die »Yankees« ihrerseits, so Jörimanns ehrliche Worte, seien jedoch in vielerlei Hinsicht auch nicht viel besser. Sie hätten ihre Versprechen und ihre Verträge nicht gehalten und würden sich die Indianer durch den Verkauf von Schnaps gefügig machen. Verkaufte Waffen kämen gegen die eigenen Truppen zum Einsatz, worunter natürlich Johann Jacob Jörimann als Soldat direkt zu leiden hatte. Johann Jacob Jörimann weilte bei der Niederschrift seines Selbstzeugnisses bereits seit Jahrzehnten wieder in der alten Heimat, in der Schweiz. Er kritisierte also die amerikanischen Kriegsverbrechen gleichsam aus schweizerischer Warte. Seine eigene Rolle bei diesen Massakern und ungleichen Kämpfen indessen reflektierte er kaum. Er habe stets seine Pflicht getan, sei soldatischer Befehlsempfänger gewesen, so seine Selbsteinschätzung. Jörimann kommt dann auch auf den bei den »Indianern« geläufigen Brauch des Skalpierens als Ausdruck der Grausamkeit zu sprechen: »Ein Indianer scalpiert immer seinen Feind, damit er durch die Scalplocke beweisen kann, dass er Sieger geblieben ist.«21 Wie wir wissen, wurden die so genannten »Indianerkriege« (»Indian Wars«) seit dem 17. Jahrhundert auf beiden Seiten mit großer Härte geführt. Auch die Amerikaner schonten Frauen und Kinder kaum und begingen zahlreiche Massa­ ker wie jenes am Wounded Knee, das auch Johann Jacob Jörimann erwähnt. Die Gewalt wurde überall dort angeheizt, wo paramilitärische Milizen aufgeboten wurden und die Kontrolle übernahmen. Diese »men on the spot« (Männer vor Ort) operierten fern von Washington, D.C., sozusagen ohne Kontrolle von oben und waren für genozidale Massaker mitverantwortlich. Die »Frontiergesellschaft« war ohnehin geprägt von physischer Gewalt, auch unter den so genannten »Weißen«. Der Rechtsstaat war nur schwach ausgeprägt, und die wenigen Ordnungskräfte und Polizisten standen in der Regel auf verlorenem Posten. 19 Urs Bitterli. Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München: C. H. Beck 1991. 20 Brändle/Warth, Kavallerist, 29. 21 Ebd.

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Jörimann erwähnt auch die Jagden der »Weißen« auf Bisons in Montana und den »Great Plains« der Dakotas, das Hinschlachten der Tiere bedeutete ökonomische und kulturelle Tiefschläge für jene »Indianerstämme«, die vom Fleisch und von den Fellen der Bisons lebten. Jörimann sah die Kadaver von Tausenden von Tieren, ihrer Fellen beraubt. Ueber den Cadavern zogen die Aasgeier und die kleinen Präriewölfe (Coyotes) hatten ein üppiges Mahl. Ein Jahr später war kaum ein Büffel in Montana oder Dakota zu sehen. Die Herden waren entweder zerstört oder kleine Ueberreste hatten sich nach Kanada zurückgezogen. Der Indianer hatte sein Hauptnahrungsmittel verloren.22

Der Luzerner Historiker Aram Mattioli spricht in seinem Buch Verlorene Welten in diesem Zusammenhang mit Recht von einem »Ethnozid« an den »Indianerin­ nen« und »Indianern«, das diesen die wirtschaftlichen, religiösen und kulturellen Lebensgrundlagen entzog.23 Jörimann beobachtete auch genau einen Kriegstanz der »Indianer«. Er wun­ derte sich ob der Intensität des Tanzes, der kreisend vor sich ging. Die Tänzer drehten sich dabei auch um die eigene Achse. Sie würden die Jagd und den Krieg nachahmen, so Jörimann, dem ein gewisses ethnologisches Interesse nicht abzu­ sprechen ist. So betätigte er sich auch auf Kuba und den Philippinen als AmateurVölkerkundler. Nur wenige Jahre später als Jörimann bereiste der wohlsituierte Hamburger Kunsthistoriker und Universalgelehrte Aby Warburg New Mexico, um dort den Schlangentanz der Pueblo-Indianer zu beobachten und zu analysieren. Natürlich sind Aby Warburgs ethnographische Beobachtungen scharfsichtiger und tief­ gründiger als jene Jörimanns, ein gemeinsames Interesse an den vermeintlich urzeitlichen Tänzen der »Indianer« verband Aby Warburg mit dem Schweizer Auswanderer aber doch.24 Folgen wir nun Johann Jacob Jörimanns Schilderung des »Indianertanzes«: Zum Tanz der Indianer spielte die Tom Tom (Kriegstrommel) auf. Die Frauen kreischten dazu, die Sache machte auf den Schweizer einen unheimlichen, frem­ den Eindruck, faszinierte ihn aber auch. »Im Glanze der Fackeln, umgeben von Zuschauern war es ein imposanter Anblick, den ich und meine Kameraden noch lange im Gedächtnis behielten.«25

22 Ebd., 33. 23 Mattioli, Verlorene Welten, 17f. 24 Zu Aby Warburg in New Mexico vgl. beispiesweise Patrick Marnham. Schlangentanz. Reisen zu den Ursprüngen des Nuklearzeitalters. Berlin: Berenberg, 2015. 25 Brändle/Warth, Kavallerist, 36.

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1898: Krieg auf Kuba Die hohe amerikanische Politik war in den 1890er Jahren in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite postulierten die Isolationisten keine weitere Ausdehnung der amerikanischen Machtsphäre und eine Rückbesinnung auf den eigenen Kontinent. Die Imperialisten andererseits forderten Aufrüstung und den Erwerb von Kolonien aus wirtschaftlichen und Prestigegründen. Mit dem Sieg im Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 traten auch die USA in den Kreis der imperialistischen Weltmächte ein. Die Amerikaner gewannen durch ihren militärischen Sieg Puerto Rico, die Philippinen (durch Kauf), das Interventionsrecht in Kuba sowie Guam und einige weitere Inseln im Pazifik. Sie sahen sich als Befreier dieser Gebiete vom spanischen, katholischen Despotismus und Joch an und spannen die so genannte »schwarze Legende« der spanischen Grausamkeit weiter. Konkreter Anlass für den Krieg gegen Spanien war die folgenreiche Explosion des amerikanischen Kreuzers Maine vor der kubanischen Küste am 15. Februar 1898 (266 Tote), wohl ein tragischer Unfall, den die kriegslüsternen Amerikaner den Spaniern als böswillige Attacke unterschoben. Die allgemeine Kriegsbegeiste­ rung (»Remember the Maine«) und der Chauvinismus wurden durch die ameri­ kanische Boulevardpresse zusätzlich angeheizt, so dass sich zahlreiche Freiwillige zum Kriegsdienst meldeten. Auf Kuba setze sich eine einheimische Unabhängigkeitsbewegung seit Jahren gegen die spanische Kolonialherrschaft zur Wehr. Sie kämpfte, von den USA im Geheimen mit Waffen und Munition unterstützt, mit einer modernen GuerillaTaktik, welche die Spanier empfindlich schwächte und ihnen große Verluste beibrachte. Der langandauernde Konflikt war entsprechend blutig und verlust­ reich, setzten die Spanier doch unter anderem das bis anhin mehr oder weniger unbekannte, grausame Mittel der Deportation ein, um rebellische Territorien zu »befrieden« und sie vom Nachschub abzuschneiden. In den trostlosen Lagern und in den eigens errichteten Wehrdörfern verhungerten die malträtierten Kubanerin­ nen und Kubaner zu Tausenden oder starben an Krankheiten und an Seuchen. So sahen die Amerikaner den Krieg als eine Art »humanitäre Intervention« avant la lettre an. Den Kubanerinnen und Kubanern wollte man in ihrem gerechten Kampf gegen das »spanische Joch« beistehen. Das war natürlich mehr Ideologie und moralische Kriegslegitimation als ein echter Kriegsgrund. Für den Kriegsteilnehmer Johann Jacob Jörimann, der wie viele Berufssolda­ ten nach Kuba geschickt wurde, war vor allem das Klima mörderisch. Bereits im Ausschiffungshafen Tampa, Florida, setzten ihm Hitze, Feuchtigkeit, Fliegen und Moskitos zu. Die Pferde wurden in den meisten Fällen in den USA zurückgelassen. Die ebenfalls mobilisierten Nationalgarden waren schlecht ausgerüstet. Jörimann

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sah nur mit Knüppeln bewaffnete Regimenter exerzieren. Ihr Kampfwert war mehr als zweifelhaft. Erst nach ein paar Tagen wurden Uniformen und Waffen nachgeliefert: »Der Krieg kam eben zu schnell und Vorbereitungen waren keine­ gemacht worden. Die reguläre Armee war natürlich das Rückgrat des Ganzen.«26 Stimmt diese Einschätzung Jörimanns, so war die Masse der Nationalgardisten nicht entscheidend für den Ausgang des Feldzugs. Die Elite der Berufssoldaten war demnach kriegsentscheidend. Das amerikanische Expeditionskorps wurde durch den erfahrenen Admiral William Rufus Shafter (1835–1908) geführt, einem Veteranen der so genann­ ten »Indianerkriege«. Nach vier Tagen auf hoher See erfolgte die erfolgreiche, widerstandslose Landung an der kubanischen Küste bei Baiquiri, »ohne von den Spaniern belästigt zu werden.« Die Mahlzeiten der amerikanischen Soldaten bestanden aus Kaffee, vor Fett triefendem Chicago-Speck und steinhartem Zwieback. Das nach einiger Zeit gelie­ ferte Büchsenfleisch aus Chicago war ungenießbar und wurde von den Soldaten weggeworfen. Das Vordringen durch den Urwald ging bei teils wolkenbrucharti­ gen Regenfällen nur langsam vor sich. Vom Kampffeld in seiner Gänze sah man nichts. Ein Regiment unter dem populären Theodore Roosevelt, dem berittenen »Cowboy«, Haudegen und späteren amerikanischen Präsidenten, geriet in einen Hinterhalt und erlitt dabei schwere Verluste. Die Geschütze konnten teilweise nicht vom Fleck gebracht werden, weil sie im Morast versanken. Morast und verfaulte Vegetation säumte den Weg der Invasoren. Bei diversen Gefechten mit den in Schützengräben eingegrabenen Spaniern waren die Verluste nicht gering. Die Spanier hatten gute Verteidigungslinien, waren uns an Zahl überlegen und führten bessere Waffen als unsere dänischen Kräg Jorgensen Gewehre. Sie waren mit der besseren Schiesswaffe, dem deutschen Mausergewehr ausgerüstet. Aber durch ihre früheren langen Kämpfe, mit den cubanischen Immigranten waren sie kampfesmüde geworden. Es fehlte die Moral, und sie glaubten ihre Sache schon am Anfang verloren.27

Am 3. Juli 1898 unterzeichnete der spanische Oberbefehlshaber General Toral den Waffenstillstand. Viele Amerikaner litten trotzdem, waren durchnässt, schlecht verpflegt. Manche hatten schon Fieber, siechten an Typhus, Malaria oder an der Ruhr dahin: »Fluchen und Schimpfen über General Schäfter und das grosse Hauptquartier war Trumpf.«28 Die Malaria führte Jörimann übrigens in durchaus

26 Ebd., 52. 27 Ebd. 28 Ebd., 58.

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vormoderner Manier auf miasmische Ausdünstungen der Erde zurück (faulende Vegetation, Sumpf, Miasmentheorie). Der robuste Jörimann blieb anscheinend mehr oder weniger gesund. Jedenfalls schrieb er nichts über erlittene Krankheiten oder über Unfälle.

1905–1906: Jörimann auf den Philippinen Die Vereinigten Staaten von Amerika erwarben nach dem Sieg von 1898 die Philippinen käuflich von Spanien und reklamierten die volle Souveränität über das Inselreich. Damit nicht abfinden wollte sich die philippinische Unab­ hängigkeitsbewegug, die fortan gegen die amerikanischen Besatzer kämpfte. Erst unterlagen die »Filippinos« in offenen, für sie verlustreichen Feldschlachten, um sich dann, ähnlich wie die kubanischen Rebellen gegen Spanien, auf eine ungleich erfolgreichere Guerilla-Taktik zu verlegen. Das unwegsame Gelände (Dschungel, Hügelland) und die Hitze kamen den Unabhängigkeitskämpfern dabei zupass. Die amerikanische Armee beging zahlreiche Kriegsverbrechen, vor allem im Süden des Inselreichs, und führte den Krieg, je länger dieser sich hinzog, desto grausamer. Johann Jacob Jörimann gelangte nach langer Reise auf See im Jahre 1905 über Port Said und den Suez-Kanal auf die Philippinen. Direkt an Kamphandlungen war der zum »Post-Quartiermeister-Sergeant« beförderte Schweizer nicht. Er tat vielmehr Dienst in der Etappe. Allerdings war die regelmäßige Zustellung der Post aus der Heimat wichtig für die Moral der Truppe. Jörimanns Meinung nach waren die schlichten Truppenquartiere (Camps) nicht gerade einladend. Die einstöckigen Baracken waren aus einfachem Bambusrohr gebaut, nicht zuletzt wegen der vielen Erdbeben, welche den Inselstaat regelmäßig erschütterten. In der Etappe hatte Jörimann Zeit, sich die philippinische Hauptstadt Manila oder die um die Hauptstadt gelegenen barrios gleichsam als Tourist anzuschau­ en. Er beschrieb auch einen für ihn fremden Hahnenkampf auf der Hauptinsel Luzon, sicher nicht so »dicht« wie der berühmte amerikanische Ethnologe Clifford Geertz,29 aber doch bemerkenswert genau. Seine präzise Darstellung dieses blutigen Rituals ist eine für die Forschung wertvolle ethnographische Beschreibung »von unten«. Für Jörimann war der damalige »Filippino« grausam und hinterlistig. Es kommen also damals typische rassistische Vorurteile zur Geltung, die wiederum Massaker oder weitere Gewalttaten an der einheimischen Bevölkerung mehr oder weniger rechtfertigten.

29 Clifford Geertz. Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 2006.

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Fabian Brändle

Im Jahre 1906, nur ein Jahr nach Jörimanns Landung in Manila, war die Mission des Schweizer Söldners bereits wieder zu Ende. Dieser lobte die amerikanischen Zivilisationsmaßnahmen, sprach von einem großen Erfolg der »Mission« Der Krieg zog sich dennoch noch einige Jahre weiter hin. Jörimann quittierte indessen nach 25 Jahren ordnungsgemäß den Dienst und schiffte sich via Hawaii zurück in die Vereinigten Staaten ein. Dort wurde er zum Augenzeugen des großen Erd­ bebens von San Franciso. Wann genau er in die Schweiz zurückkehrte, ist nicht ganz sicher. Bereits in den 1920er Jahren erscheint Jörimann jedenfalls auf den Steuerlisten des Ostschweizer Kantons St. Gallen. Jörimann integrierte sich gut in seiner Heimatstadt Wil, wo er unter anderem einem Männerchor beitrat und als guter Erzähler geschätzt wurde. Johann Jacob Jörimann genoss seine für schwei­ zerische Verhältnisse gute Rente, blieb aber Junggeselle.

Schluss Johann Jacob Jörimann war weder General noch Admiral der US-Army. Aus einfachen, als illegitimes Kind aus vermögenslosen Verhältnissen stammend und in eher ärmlichen Verhältnissen aufwachsend, wagte er im Jahre 1881 wie viele Europäerinnen und Europäer die Migration in das »Land der unbeschränkten Möglichkeiten«. Dort fand er vorerst keinen Job, versuchte sich in Philadelphia als Handlanger und Schuhputzer, litt Hunger. Aus der Not heraus verpflichtete er sich gemeinsam mit einem Begleiter bei der amerikanischen Armee, wo er langsam aber stetig bis zum höchsten Unteroffiziersgrad aufstieg. Der Rekrutenalltag war hart und monoton, so dass viele junge Männer desertierten. Im amerikanischen Westen hatten die dortigen »Indianer« ihren Widerstand an der »frontier« weitgehend aufgegeben. Jörimann war in keine direkten Kampf­ handlungen mehr involviert, bewährte sich aber doch als loyaler, zuverlässiger, robuster Kavallerist. Er beschrieb gewisse Bräuche, Tänze und Rituale der »Indianer« und kritisierte auch die Doppelzüngigkeit der »Yankees«. Er war zudem gut informiert über frühere Massaker und Gefechte der Armee. Auf Kuba erlebte der Südostschweizer im Jahre 1898 seine eigentliche Feuer­ taufe. Die Moral der an sich zahlenmäßig überlegenen und teilweise moderner ausgerüsteten Spanier war gemäß Jörimann schlecht. Eher schlecht war es auch um die militärische Erfahrung und die Bewaffnung der amerikanischen Natio­ nalgarde bestellt, so dass der robuste Jörimann und weitere Berufssoldaten wohl die Differenz im Krieg gegen Spanien ausmachten. Jörimann war also nicht nur an Brennpunkten der Weltgeschichte präsent, er spielte dabei auch eine gewisse, wenn auch sicher nicht kriegsentscheidende Rolle. Das gilt auch für seinen Einsatz auf den Philippinen gegen die dortige Unabhängigkeitsbewegung, die er als »Post­

Der Kavallerist Johann Jacob Jörimann (1861–1947)

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master« aus sicherer Distanz miterlebte. Als Tourist besuchte er die Hauptstadt Manila und schaute sich auch die spektakulären Hahnenkämpfe an. Auf Kuba hatten Feuchtigkeit, Hitze und Krankheiten der Truppe teilweise mehr zugesetzt als die Spanier. Jörimann blieb von all diesem Unbill mehr oder weniger verschont, beschrieb aber den Unmut der Kameraden mit den hohen Offizieren und mit den Politikern in der Heimat. Bemerkenswert ist die geographische, transnationale, ja transkontinentale Mobi­lität, die Johann Jacob Jörimann erlebte und (mit-)gestaltete. Neben den weit­ gereisten Söldnern waren wohl nur noch christliche Missionare oder Forschungs­ reisende und einige Abenteurer so mobil. Das waren aber oft Aka­demikerinnen und Akademiker. Jörimann indessen war von einfacher Herkunft, sein Bericht dokumentiert gleichsam erlebte »Weltgeschichte von unten«. Wie repräsentativ sein Selbstzeugnis ist, muss vorderhand offen blieben. Mit Sicherheit haben auch andere Soldaten oder Unteroffiziere aus jener Zeit über ihre Erlebnisse an Front und Etappe berichtet. Solche Texte vergleichend heranzuziehen wäre ein lohnens­ wertes Unterfangen, gerade im Hinblick auf eine mögliche Mentalitätsgeschichte der amerikanischen Berufsarmee um 1900.

Alena Acil

Die türkische Verfilmung Demir Perde nach Erich Maria Remarques Roman Liebe Deinen Nächsten

Erich Maria Remarque, der am 22. Juni 1898 in Osnabrück geboren wurde, gilt als einer der einflussreichsten und ehrlichsten deutschen Schriftsteller seiner Zeit.1 Im Laufe seines Daseins schrieb der Autor zahlreiche Romane, die in erster Linie die Schwere und Schrecklichkeit von Krieg thematisieren. Neben seinem bekanntesten Werk Im Westen nichts Neues veröffentlichte er 1941 seinen Roman Liebe Deinen Nächsten.2 Dieser behandelt die gesellschaftlichen Umstände während des Nationalsozialismus (zwischen 1937–1938) und das Leben von drei Personen, die gezwungen sind, aus Deutschland zu fliehen. Ohne Ausweis-Dokumente müssen sie eine neue Heimat finden, wobei sie auf ihrer Flucht viel Leid erfahren. Dies zwingt die Männer zu illegalen Taten.3 Wie viele von Remarques schriftstellerischen Werken wurde auch Liebe Deinen Nächsten mehrfach verfilmt. Darunter eine eher unbekannte und kaum erforschte, türkische Produktion mit dem Titel Demir Perde (dt. Eiserner Vorhang) von 1951 unter der Regie und dem Drehbuch von Semih Evin. Der Film erzählt die Geschichte eines zweifachen Vaters, der von der bulgarischen Gendarmerie getötet wird und dessen Kinder ihn rächen wollen.4

1 Vgl. Kurzbiografie zu Remarque auf der Internetseite des Remarque-Friedenszentrums, https:// www.remarque.uni-osnabrueck.de/, zuletzt aufgerufen am 29.03.2021. 2 Vgl. Werke und Verfilmungen auf der Internetseite des Remarque Friedenszentrums, https://www. remarque.uni-osnabrueck.de/, zuletzt aufgerufen am 29.03.2021. 3 Vgl. Erich Maria Remarque. Liebe Deinen Nächsten. Roman. In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017 (KiWi 1575), 1. 4 Vgl. Allgemeine Informationen zu Demir Perde, http://www.sinematurk.com/film/2910-demirperde, zuletzt aufgerufen am 29.03.2021.

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Doch worin bestehen die Parallelen zwischen den vorerst sehr unterschiedlich erscheinenden Handlungen des grundlegenden Romans und der türkischen Verfilmung? Leider konnte der Film Demir Perde bisher nicht als Medium ermittelt werden und ist somit nicht anschaubar. Da viele türkische (Internet-)Ressourcen durch die politische Lage nicht genutzt werden können, konnten einige Hinweise im Rahmen dieser Informationssuche nicht nachverfolgt werden. Weiterhin ist es möglich, dass viele Informationen, Quellen und (antikommunistische) Filme, wie Demir Perde, im Laufe der Jahre durch die wechselnden türkischen Regierungen oder andere Umstände vernichtet wurden. Aber auch dies ist lediglich eine Vermutung.

Die Verfilmung Demir Perde 1951 wurden in der Türkei insgesamt 36 Filme produziert. Unter diesen Produktionen ist auch die türkische Verfilmung Demir Perde nach Remarques Liebe Deinen Nächsten aufgelistet.5 Demir Perde wurde von der ehemaligen Filmproduktionsfirma Kale Film produziert und deckt ein breites Genre über Drama, Abenteuer, Geschichte sowie Politik ab. Es handelt sich um einen 35mm Film in schwarz-weiß.6 Dieser soll ca. 105 min. Spielzeit umfassen.7 Hier ist anzumerken, dass aufgrund mangelnder Belege nicht überprüft werden kann, ob die Angabe zur Spielzeit wirklich der Wahrheit entspricht. Zur Erstaufführung in der Türkei sind ebenfalls keine Angaben zu finden. Einige Websites verweisen darauf, dass der Regisseur und Autor von Demir Perde, Semih Evin, sich für sein Drehbuch von Erich Maria Remarques Liebe Deinen Nächsten hat inspirieren lassen. Jedoch wird unbelegt angegeben, ob der Film auf dem Roman basiere oder lediglich an diesem angelehnt sei.8 Aufgrund der inhaltlichen Unterschiede des zugrunde liegenden Romans und des Films ist jedoch vorab auszuschließen, dass dieser vollkommen auf Remarques Werk basierend entstanden ist. Inhaltlich thematisiert Demir Perde das Schicksal einer türkischen Familie in Bulgarien. Der Vater zweier Geschwister wird von der bulgarischen Gendarmerie getötet. Daraufhin entschließt sich sein Sohn, der eigentlich an einer bulgarischen

5 Vgl. Tabellarische Auflistung türkischer Filmproduktionen 1951, https://tr.wikipedia.org/wiki/1951_ yap%C4%B1m%C4%B1_T%C3%BCrk_filmleri, zuletzt aufgerufen am 29.03.2021. 6 Vgl. Allgemeine Informationen zu Demir Perde, https://tsa.org.tr/tr/film/filmgoster/5482/demirperde; Informationen zum Genre, http://www.sinematurk.com/film/2910-demir-perde, jeweils zuletzt aufgerufen am: 29.03.2021. 7 Vgl. https://de.rateyourmusic.com/film/demir_perde/, zuletzt aufgerufen am 29.03.2021. 8 Vgl. http://www.sinematurk.com/film/2910-demir-perde, zuletzt aufgerufen am 01.04.2021.

Demir Perde und Liebe Deinen Nächsten

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Universität studiert, mit der Unterstützung seiner Schwester die Schuldigen ausfindig zu machen und Rache zu üben.9 Wie bereits aufgezeigt, führte Semih Evin Regie bei Demir Perde und schrieb das Drehbuch. Produziert wurde dieser von Samuel Mardo und von der Kamera begleitet durch Yoakim Filmerides. Zu den HauptdarstellerInnen zählen Zeynep Sirmali, Gürbüz Bora, Celal Balkir, Feridun Cölgecen, Kemal Edige, Kadri Öhelman, Rahmi Kafadar und Kayahan Arikan.10

Tiefergehende Recherche 2020 wurde eine Filmproduktionsfirma unter dem gleichen Namen gegründet (Kale Film Yapimi) wie die Produktionsstätte Kale Film aus dem 20. Jahrhundert. Einige Hinweise auf deren Internetseite, wie ein Bild des Patentes der Gründung in der Provinz Afyonkarahisar 2020, geben Aufschluss darüber, dass insgesamt keine Verbindung zum »Original« zu bestehen scheint.11 Eine Passage in dem Buch Işıkla Karanlık Arasında des türkischen Autors Lütfi Ömer Akdag beinhaltet grundlegende und entscheidende Informationen. Akdag erzählt in einem Kapitel von seiner früheren Tätigkeit in der Filmproduktion. Er beschreibt, wie sein Arbeitskollege Semih Evin – Regisseur Demir Perdes – die Filmfirma, in der Akdag damals tätig war, verlässt, um mit der Filmproduktionsfirma Kale Film und an einem Film namens Demir Perde zu arbeiten. Warum Evin das getan habe, verstehe Akdag nicht. Sein Vorgesetzter Hürrem Erman habe Evin nämlich vorab bei zwei Filmen Regie führen lassen. Dabei fragt Akdag sich, ob sein Vorgesetzter gerade dadurch Evin zur Kündigung gebracht habe.12 Doch was meint der Autor damit? Ein Blick in die Biografien von Semih Evin und Lütfi Ömer Akdag gibt Aufschluss über die Andeutungen. Lütfi Ömer Akdag wirkte 1950 in dem türkischen Film Lüküs Hayat mit.13 Hierbei handelt es sich um eine Produktion der Filmfirma Erman Film, die Akdag in seinem Buch kurz beschreibt, aber nicht namentlich nennt.14 Akdag war um 1950 also bei der Filmproduktionsfirma Erman Film tätig, 9 Vgl. ebd. 10 Vgl. Informationen bezüglich des Castes, http://www.sinematurk.com/film/2910-demir-perde; https://www.imdb.com/title/tt0313960/fullcredits?ref_=tt_cl_sm#cast, jeweils zuletzt aufgerufen am 01.04.2021. 11 Vgl. https://de.kalefilmyapim.com/hakkimizda, zuletzt aufgerufen am 01.04.2021. 12 Vgl. Lütfi Ömer Akdagr. Işıkla Karanlık Arasında. Istanbul: İletişim Yayınları, 2004, 119. 13 Vgl. https://tr.wikipedia.org/wiki/L%C3%BCtfi_%C3%96mer_Akad, zuletzt aufgerufen am 01.04.2021. 14 Vgl. https://tr.wikipedia.org/wiki/L%C3%BCk%C3%BCs_Hayat_(film,_1950), zuletzt aufgerufen am 01.04.2021.

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die 1946 von Hürrem Erman gegründet wurde.15 Somit klärt sich die Frage, bei welcher Filmproduktionsfirma Akdag und Evin gemeinsam tätig waren. In der zuvor beschrieben Passage erwähnt Akdag zwei Filme, für die Evin Regie geführt haben soll. Semih Evins Filmografie zeigt, dass 1950 die beiden Filme Allah Kerim und Sihirli Define produziert wurden. Es handelt sich hier nachweislich um Erman Film-Produktionen, die, kurz bevor Semih Evin 1951 zu Kale Film wechselte, entstanden.16 Folgt man den Ausführungen in Akdags Buch, müsste Evin bei diesen Filmen Regie geführt haben. Doch betrachtet man die Online-Einträge genauer, war Semih Evin bei den Filmen gar nicht als führender Regisseur, sondern lediglich als Regieassistent tätig.17 Der Grund, warum Evin also zu Kale Film wechselte, um an Demir Perde mitzuwirken, ist höchstwahrscheinlich, dass er 1951 mit der Regiearbeit die Gelegenheit bekam, in seinem Beruf aufzusteigen und endlich selbst Regie zu führen.

Demir Perde und Liebe Deinen Nächsten Ein Literaturverweis – Özgüç, Agâh (2012): Ansiklopedik Türk Filmleri Sözlüğü. İstanbul: Horizon International Yayınları, S. 55. – auf einer Website gibt an, dass Demir Perde an Remarques Roman Liebe Deinen Nächsten angelehnt sei.18 Da die Filmenzyklopädie lediglich in der Türkei käuflich zu erwerben ist und die Suche in Archiven keine Ergebnisse erzielte, kann die Vermutung, dass Demir Perde wirklich an Remarques Roman angelehnt ist, nicht bestätigt werden. In Berührung mit der türkischen Filmproduktion begegnet man immer wieder AutorInnen, die in ihren Publikationen angeben, dass Demir Perde auf Liebe Deinen Nächsten basiere. Einer davon ist Brian Murdoch, der in seinem Buch The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life (2006), hierüber schreibt. Im 4. Kapitel ist zu lesen, dass beide Remarque-Romane verfilmt wurden.19 Die erklärende Fußnote folgt erst auf S. 125. In dieser heißt es unter anderem: The 1941 silent film Flotsam listed under Remarque’s name on the Internet Movie Database is unconnected, but the 1951 film Demir Perde (The Iron

15 Vgl. https://tr.wikipedia.org/wiki/Erman_Film, zuletzt aufgerufen am 01.04.2021. 16 Vgl. https://tr.wikipedia.org/wiki/Semih_Evin; https://tr.wikipedia.org/wiki/Erman_Film, jeweils zuletzt aufgerufen am 01.04.2021. 17 Vgl. https://tr.wikipedia.org/wiki/Semih_Evin, zuletzt aufgerufen am 01.04.2021. 18 Vgl. ebd. 19 Vgl. Brian Murdoch. The Novel of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. New York: Camden House, 2006, 100.

Demir Perde und Liebe Deinen Nächsten

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Curtain) by the veteran Turkish director Semih Evin is also based on the novel.20

Ein weiterer Hinweis lässt außerdem vermuten, dass in der Ausgabe vom 24. November 1951 der türkischen Zeitschrift YILDIZ ebenfalls über Demir Perde und die Romananlehnung berichtet wurde. Da nur noch wenige Exemplare, ausschließlich in der Türkei, erhältlich sind, konnte dieser Information nicht nachgegangen werden.21 Doch woher AutorInnen, wie z.B. Murdoch, diese belegende Information zur Verbindung haben, ist – wie so häufig – nicht entnehmbar. Insgesamt kann somit nicht bestätigt werden, dass der Film an Remarques Werk angelehnt ist.

Hintergrund des Filmes Kommen wir zum (geschichtlichen) Hintergrund des Films und der Frage, wie Demir Perde und Liebe Deinen Nächsten zusammenhängen könnten, da beide doch sehr unterschiedlich erscheinen. In einem Artikel von Semih Gökatalay von 2019 ist ein entscheidender Hinweis bezüglich des Filmkontextes zu finden. Gökatalay schreibt: Yıldız sisteminin artan bilinirliğine benzer biçimde, savaş sonrası TürkAmerikan yakınlaşmasının da bir sonucu olarak, Türk sinemasındaki tarihsel filmlerin ağırlığı gittikçe artmıştır […]. Tarihsel filmlerin sayısındaki ciddi artış, dönem içerisinde gittikçe artan Sovyetler Birliği ve komünizm karşıtlığıyla açıklana bilir. Bu dönemde, Türk basını da var gücüyle Türkiye deki Sovyetler Birliği ve komünizm karşıtlığını pekiştir mektedir […]. Bu bağlamda, dönemin Türk tarihinin önde gelen kişilerin yaşamlarını ele alan filmler aracılığıyla, Türk halkındaki milliyetçi duyguların daha da fazla biçimde körüklenmesi hedef lenmiştir. Akabinde, Demokrat Partili yıllar, milli ve tarihi filmlere gebe olmuştur […].22

Der Autor beschreibt hier, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Annäherung zwischen der Türkei und Amerika kam. Infolge dessen nahmen historische Filme im türkischen Kino zu, was laut Gökatalay mit der Sowjetunion und dem 20 Ebd., 125. 21 Vgl. https://www.evvelcevap.com/demir-perde-filmi-konusu-yonetmeni/, zuletzt aufgerufen am 01.04.2021. 22 Semih Gökatalay. »Erken Soğuk Savaş Ankara’sında Sinema Kültürü (Cinema Culture in Ankara in the Early Cold War Period)«. Ankara Araştırmaları Dergisi 7 (2029), 1, 154.

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Kommunismus zusammenhing. In der Nachkriegszeit hatte die Sowjetunion Befugnisse in der Türkei, weshalb die türkische Presse daraufhin eine verstärkte antikommunistische Haltung einnahm. Durch Filme, die das Leben prominenterer Menschen in der türkischen Geschichte behandelten, sollte das Nationalgefühl im türkischen Volk geweckt werden. Die Demokratische Partei und deren relevanten Jahre wurden durch die aufrufenden und historischen Filme bestärkt. Gökatalay ergänzt in der dazugehörigen Fußnote die Information, dass zu den Filmen, die in dieser Zeit gedreht wurden, um zum intensiven Nationalgefühl aufzurufen, unter anderem der antikommunistische Film Semih Evins – Demir Perde von 1951 – gehört. Die Botschaft hinter Demir Perde war also, das türkische Volk zu unterstützen und sich gegen den sowjetischen Kommunismus zu wehren.23 Hier gilt es den beschriebenen Kontext auf den Film zu übertragen. Demir Perde thematisiert das Schicksal einer türkischen Familie in Bulgarien. Doch warum leben diese überhaupt dort? Die Balkantürken siedelten bereits seit dem 14. Jahrhundert nach Rumelien, dem europäischen Teil des Osmanischen Reiches. Vor dem Ersten Weltkrieg lebten in Bulgarien, Griechenland und Serbien viele türkische Minderheiten. Schlussfolgernd könnte es sich bei der türkischen Familie um Balkantürken handeln, die der türkischen Minderheit angehörten. Am 8. und 9. September 1944, während des Zweiten Weltkriegs, besetzte die Rote Armee Bulgarien, wodurch dieses nach dem Krieg unter sowjetischen Einfluss geriet (Warschauer Pakt). Die Bulgarisch Kommunistische Partei (BKP) wurde gegründet. Die türkischen Minderheiten, die seit Jahrhunderten in Bulgarien lebten, sollten zu guten Kommunisten »erzogen« werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Bulgarien zur realsozialistischen Volksrepublik und Teil des Ostblocks.24 1948 äußerte die Vorsitzende der BKP, Georgi Dimitrov: »An unserer südlichen Grenze haben wir eine nichtbulgarische Bevölkerung – ein chronisches Geschwür in unserem Körper.«25 Die Kommunistische Partei sah in den bulgarischen Türken eine Bedrohung, durch die eine Gefahr der Einflussnahme bestehen könnte. Um den Balkanstaat zu modernisieren und den bestehenden Rückstand einzuholen, hatte die Kommunistische Führung stets das Ziel, die lebende türkische Minderheit zu »guten« Kommunisten zu machen. An der bulgarischen Minderheitenpolitik wurde noch bis 1989 festgehalten. Durch diese Umstände flohen in mehreren Wellen Hundert-

23 Vgl. ebd. 24 Vgl. Diljana Lambreva. »Türkische Minderheit in Bulgarien. Das Erbe der Zwangsbulgarisierung«, 19.12.2020, Aufrufbar unter: https://www.deutschlandfunk.de/tuerkische-minderheit-in-bulgariendas-erbe-der.724.de.html?dram:article_id=489625, zuletzt aufgerufen am 02.04.2021. 25 Dimitrov, 1948, zit. n. ebd.

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tausende Türken aus dem sozialistischen Bulgarien.26 Hier könnte zusammenfassend eine Parallele zwischen Demir Perde und Remarques Liebe deinen Nächsten gezogen werden. Zur Zeit des Nationalsozialismus flohen viele Menschen aus Deutschland, wie Ludwig Kern und sein Vater, ein jüdischer Parfümhersteller, in Liebe Deinen Nächsten.27 Es handelt sich um eine ähnliche Situation wie in Bulgarien, Griechenland und Serbien, wo die türkischen Minderheiten im Zuge der Umstände des Zweiten Weltkriegs zur Flucht gezwungen waren, wenn sie sich nicht dem Kommunismus hingaben.28 Die Familie in der türkischen Filmproduktion, in Bulgarien lebend, könnte der türkischen Minderheit angehören, ebenso wie im Roman Ludwig Kern und sein Vater der jüdischen Minderheit Deutschlands zugehören. In Demir Perde wird der Vater der beiden Geschwister von der bulgarischen Gendarmerie umgebracht, da er sich weigert, sich dem sowjetischen Kommunismus anzuschließen. Es ist, wie Autor Gökatalay bereits schrieb, ein Aufruf zum Antikommunismus und zum türkisch-nationalen Bewusstsein.29 Weitere Parallelen könnten darin bestehen, dass im Roman von dem gebrochenen Vater Ludwig Kerns gesprochen wird. Möglicherweise ist der getötete Vater im türkischen Film an dessen Person orientiert. Im Roman lernt Ludwig Kern zudem auf seiner Flucht Ruth Holland kennen. Sie sind ein starkes Gespann, was nicht zu trennen ist.30 Eventuell verkörpert das Geschwisterpaar in dem türkischen Film ebenfalls ein starkes, unzertrennliches Gespann, da sie um jeden Preis Rache verüben möchten. Weiterhin lernt Kern auf seiner Flucht Josef Steiner in Wien kennen. Es entwickelt sich eine innige Freundschaft zwischen den beiden Männern. Josef Steiner wurde vor der eigentlichen Romanhandlung von dem Gestapomann Steinbrenner gefoltert.31 Das Familienoberhaupt in der türkischen Filmproduktion muss vermutlich vor seinem Tod durch die bulgarische Gendarmerie ebenso Qualen erleben, wie Steiner durch den Gestapobeamten. Am Ende stürzt sich Josef Steiner in den Tod und reißt seinen Folterer mit sich.32 Es könnte eine Art Racheakt sein. Ähnlich wie das Vorhaben des Geschwister-Gespanns, das in Demir Perde Rache an den Mördern ihres Vaters verüben will.

26 Ebd. 27 Vgl. Werke und Verfilmungen auf der Internetseite des Remarque Friedenszentrums, https://www. remarque.uni-osnabrueck.de/, zuletzt aufgerufen am 02.04.2021. 28 Vgl. Lambreva, »Türkische Minderheit in Bulgarien«. 29 Vgl. Gökatalay, »Erken Soğuk Savaş«, 154. 30 Vgl. Werke und Verfilmungen auf der Internetseite des Remarque Friedenszentrums, https://www. remarque.uni-osnabrueck.de/, zuletzt aufgerufen am 02.04.2021. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. ebd.

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Der türkische Film scheint die Gegebenheiten insgesamt unverblümt und auf die ehrlichste Weise darzustellen, wie Remarque die Umstände durch den Nationalsozialismus und die schreckliche Flucht der drei Männer in Liebe Deinen Nächsten schildert.

Abschließende Bemerkung Zwischen der türkischen Filmproduktion und dem grundlegenden Roman könnten noch weitere Parallelen bestehen, die aufgrund der erschwerten Recherchebedingungen jedoch nicht herausgearbeitet werden konnten. Bei den bereits aufgeführten Verbindungen handelt es sich hauptsächlich um Vermutungen, die durch die Rechercheergebnisse nur teilweise belegt werden können.

Rezensionen Reviews

Thomas Blubacher. Das Haus am Waldsängerpfad. Wie Fritz Wistens Familie in Berlin die NS-Zeit überlebte. Berlin: Berenberg, 2020, 192 pp., 22,00 € [9783-946334-79-8]. Das kulturwissenschaftliche Konzept des lieu de mémoire, das Pierre Nora in Vorwegnahme des spatial turn seit dem Ende der 1970er Jahre entwickelte, geht davon aus, dass sich an einem Erinnerungsort – darunter versteht Nora eine geographisch exakt zu verortende Stelle, sei es Gebäude oder Schauplatz zumindest eines bedeutsamen Ereignisses –, die Geschichte einer Nation konkretisiert und stark verdichtet, also besonders augenfällig wird. Ähnlich wirken die seit 1992 von dem Künstler Gunter Demnig verlegten Stolpersteine, allerdings ist hier der Erinnerungsort und damit die Ereignisgeschichte unmittelbar im Alltagsleben angesiedelt – und mithin ungleich nachvollziehbarer. In diesem Sinne außerordentlich eindrücklich wirkt der scheinbar unbedeutende Erinnerungsort, dessen Geschichte und Rolle im »Dritten Reich« Thomas Blubacher hier anhand seiner Bewohner erzählt: ein Wohnhaus im heutigen Waldsängerpfad, Hausnummer 3, im Berliner Bezirk Steglitz-Zehlendorf; bei der Gründung der Villenkolonie um die vorige Jahrhundertwende lautet die Adresse Dianastraße, in den Jahren 1939–1947 Betazeile, nach dem anti-semitischen Publizisten Ottomar Beta. 1929 errichtet der Werkbund-Architekt Peter Behrens das Haus für den Psychologen Kurt Lewin und seine Ehefrau Gertrud, die den modernistischen Baustil als Bekenntnis zur Republik begreifen und Anfang 1934 in die Staaten emigrieren werden (8f. u. 30f.; zu Architektur und Interieur 28–34). Ende März 1933 bezieht der jüdische Schauspieler Fritz Wisten, soeben von den Württembergischen Staatstheatern entlassen, mit Ehefrau Gertrud, Schwiegervater und den zwei Töchtern Susanne und Eva das Haus, denn ein deutsch-jüdischer Kulturbund verheißt in Berlin Auftrittsmöglichkeiten (19–22; zu den weiteren

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Rezensionen

Nachbarn beim Einzug der Familie Wisten, die das ganze Spektrum der Einstellungen gegenüber dem Nationalsozialismus abdecken, 32–37); im Nazi-Jargon handelt es sich, da die Töchter getauft sind, um eine »priviligierte Mischehe«, was ihnen später im November 1938 gewisse Vorteile verschafft, u. a. dürfen sie in ihrer Wohnung verbleiben (23). Aber auch hierher, in den scheinbar abgelegenen Stadtteil, dringt nun der zunehmend aggressivere Antisemitismus des »Dritten Reiches« vor: ein Besuch Hitlers bei dem General Karl Litzmann in der Nachbarschaft (39f.), anti-semitisches Verhalten der Mitschüler gegenüber Eva (42f.) und Fritz Wistens kurzzeitige Verschleppung in das Konzentrationslager Sachsenhausen einen Tag nach der »Kristallnacht« (46–52). Man erwägt die Möglichkeit der Emigration in die USA, was jedoch nach dem Einfall der Wehrmacht in die Sowjetunion 1941 endgültig unmöglich wird (55ff.). Zur gleichen Zeit verwandelt sich allmählich der Südwesten Berlins zu einer »Hochburg linientreuer Nationalsozialisten« (62–65), während die Gestapo den Jüdischen Kulturbund Berlin e. V. schließlich Mitte September 1941 auflöst (71). Als Fritz Wisten im Juni 1942 aufgrund einer Denunziation verhaftet und im Polizeipräsidium inhaftiert wird, kann eine Nachbarin aus dem Waldsängerpfad, Erika Canaris, über ihren Ehemann, den Admiral Wilhelm Canaris, die Freilassung erwirken (75–77); ebenfalls auf Canaris’ Intervention verbüßt Gertrud Wisten wegen zu Unrecht bezogener Lebensmittel eine vergleichsweise geringfügige Gefängnisstrafe (75–77): Die Familie Wisten überlebt den Krieg mithin durch eine Reihe kaum glaublicher Glücks- und Zufälle, hauptsächlich aber durch die Hilfe ihrer Berliner Freunde, die des weiteren beispielsweise die Töchter in einer Rechtsanwaltskanzlei bzw. in einer Holzfabrik einstellen (81ff.). Als schillernde Nebenfigur agiert der Anfang Februar 1943 in der Betazeile aufgenommene, als Jude und Homosexueller doppelt gefährdete Schauspieler Alfred Balthoff, der eine Affäre mit einem Wehrmachtssoldaten unterhält und sich weiterhin auf Streifzüge durch ein immer gespenstischeres Berlin begibt (77–81); eine hübsche Pointe ist, dass er in der deutschen Fassung von Billy Wilders Kömödie Some Like It Hot (1959) als Osgood Fielding III das sprichwörtlich geworden Schlusswort »Well, nobody’s perfect!« spricht (77–81 u. 91). Ein geschickter Kunstgriff des Verf. ist es, Susanne Wisten das Wort zu erteilen und der Anschaulichkeit halber für die Zeit vom 22.4.–2.5.1945 wörtliche Passagen aus ihrem (unveröffentlichten) Tagebuch zu zitieren (87–99); hier findet sich auch die groteske Episode über den Nachbarn Walter Gross, Leiter des Rassepolitischen Amtes der NSDAP, der beim Angriff auf einen russischen Panzer selbst erschossen wird (90). Der Band, der zunächst als so informativer wie spannender (wissenschaftlicher) Essay wirkt, offeriert mehrere, miteinander verschränkte Lesestrategien. Der Leser kann den Alltag einer bürgerlich-künstlerischen, deutsch-jüdischen Familie im

Reviews

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Nationalsozialismus verfolgen, wobei das spannend dargebotene Geschehen durchaus romanhafte Züge annimmt. Zugleich wird der Theaterbetrieb im Nationalsozialismus mit dem Sonderfall Jüdischer Kulturbund dargestellt, was eine exakt 619 Anmerkungen umfassende, sehr gelehrte theaterhistorische- bzw. auch sozialgeschichtlich ausgerichtete Studie ergibt. Übrigens kommt es auch realiter zu einem happy ending: Fritz Wisten leitet 1950–1954 das Theaters am Schiffbauerdamm, danach ist er Intendant der Volksbühne. Thomas Amos (Frankfurt/Main)

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Armin Fuhrer. Emil Ludwig. Verehrt, verfemt, verbrannt. Eine Biografie. Reinbek: Lau-Verlag, 2021, 618 pp., 28,00 € [978-3-95768-225-3]. Emil Ludwig (1881–1948) zählte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sicherlich zu den international renommiertesten, bekanntesten und erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellern. Bekannt und berühmt geworden durch eine voluminöse Goethe-Biografie, die zugleich den Beginn einer neuen Art von psychologisch begründeten Biografien markierte, war Ludwig zugleich ein unermüdlicher Verfechter der Weimarer Republik und erklärter Gegner von Nationalismus, Krieg und Faschismus. Ludwig kannte persönlich die führenden europäischen Persönlichkeiten aus Literatur, Wirtschaft und Politik, stand mit Ihnen in brieflichem Kontakt und wurde im Ausland als quasi offizieller Vertreter eines demokratischen Deutschland betrachtet, obwohl er zeitlebens keine politischen Ämter innehatte. Bereits vor der Machtübergabe an die Nationalsozialisten gab Ludwig aus Protest gegen antidemokratische Tendenzen in Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft ab und nahm das Schweizer Bürgerrecht an (er lebte seit 1906 in der Schweiz). In den 1930er und 1940er Jahren schrieb und arbeitete er aktiv gegen den Nationalsozialismus, warnte vor einem drohenden Krieg und sah nur in einem vereinten Europa ein Mittel für einen dauerhaften Frieden. Ab 1940 im Exil in den USA arbeitete er für die Administration des Präsidenten Roosevelt, entwickelte Pläne für Nachkriegsdeutschland und die »Re-Education« der Deutschen, die er auch dem US-Repräsentantenhaus 1943 in einem Hearing vorstellte. Mit Kriegsende kehrte er nach Europa und in die Schweiz zurück, mahnte die in seinen Augen fehlerhafte Deutschland-Politik der Alliierten an und geriet so ins politische Abseits. Sein früher Tod im September 1948 verhinderte nachhaltig eine Präsenz des Autors in Deutschland. Ludwigs Werk ist umfassend und vielfältig. Er schrieb mehr als 100 Bücher, die in über 50 Sprachen gedruckt wurden und zum Teil bis heute nicht in der Originalsprache Deutsch vorliegen. Hinzu treten an die 2.000 Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften weltweit sowie ungezählte Vortragsveranstaltungen im gesamten Europa sowie ab den 1930er Jahren verstärkt in den USA und Südamerika. Im deutschen Kontext ist Emil Ludwig heute weitgehend vergessen, was seiner Bedeutung zu Lebzeiten diametral entgegensteht. Seine Bücher sind nur antiquarisch verfügbar, die literatur- und geschichtswissenschaftliche Forschung ist, um es vorsichtig auszudrücken, überschaubar. Um so verdienstvoller ist es, dass nun endlich eine Biografie Ludwigs erschienen ist, die mit dem Anspruch auftritt, den Autor dem Vergessen zu entreißen. Armin Fuhrer, Autor und Journalist aus Berlin, hat eine umfangreiche, über weite

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Strecken gut lesbare Lebensbeschreibung geschrieben, die vorrangig chronologisch den Lebensstationen Ludwigs folgt. Im Vorwort klassifiziert Fuhrer sein Buch als »Biografie mit politischem Schwerpunkt«, die demnach außerhalb dieses Aspektes liegende Fragen nicht oder nur kaum berühren soll. Zu erwarten wäre nach dieser Klarstellung dagegen ein Fokus auf die politischen Schriften und Überzeugungen Ludwigs und sein Handeln in politischen Zusammenhängen. Diesen Anspruch kann Fuhrer aber nur bedingt einlösen. Er beklagt zwar, dass es um Ludwig »still. Sehr still« sei, was aber nicht bedeutet, dass es keinerlei wissenschaftliche Beschäftigung mit Autor und Werk gibt. Mit wenigen Ausnahmen ignoriert Fuhrer jedoch vorliegende Forschungen und Publikationen, insbesondere jene zur Diskussion um die »Historische Belletristik« ab 1930 oder die Kontexte der Kontroversen um Ludwigs Nachkriegspläne im amerikanischen Exil. Auch die Veröffentlichungen von Hans-Jürgen Perrey, der immerhin neben seinen literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen und der seit geraumer Zeit betriebenen und gepflegten Internetseite zu Ludwig einen zwar misslungenen, aber ebenfalls die Biografie darstellenden Roman (2017) vorgelegt hat, werden nicht verwendet. Die von Franklin C. West mit einer instruktiven Einleitung 1991 herausgegebene Sammlung von politischen Aufsätzen Ludwigs ist Fuhrer offensichtlich ebenso unbekannt wie die wissenschaftlichen Aufsätze speziell der letzten zehn Jahre, die zumindest das komplette Schweigen um Ludwig ein wenig aufgelöst haben. Als Materialbasis nutzt Fuhrer zentral die umfangreichen Tagebücher Ludwigs, die wie der gesamte Nachlass im Schweizer Literaturarchiv in Bern verwahrt werden und verdienstvollerweise bereits in den 1990er Jahren von Ludwigs Sohn Gordon aus einer alten Kurzschrift transkribiert wurden. Daneben treten einige Materialien aus wenigen weiteren Archiven. Diese Konzentration auf die Tagebücher hat erhebliche Konsequenzen für die Gestalt der Biografie, die sich vorrangig an der Eintragsdichte und den dort formulierten Einschätzungen Ludwigs von Ereignissen und Begegnungen orientiert. Fallen die Tagebücher als Quelle fort (wie in den frühen 1940er Jahren), ist der Autor gezwungen, auf andere Quellen zurückzugreifen und sie auszuwerten. In diesen Fällen zeigt Fuhrer eindrücklich, dass er auch eine auf einer breiteren Materialbasis fußende Biografie hätte vorlegen können, die dann zu einer verstärkten Kontextualisierung einzelner Ereignisse geführt hätte. So aber reiht sich über weite Strecken die Mitteilung, wann Ludwig wen wo getroffen hat, an Informationen, wann er wo einen Vortrag gehalten hat. Dass im Tagebuch sicherlich häufig auch über die finanzielle Situation berichtet und geklagt wurde (Ludwig war trotz immenser Einnahmen stets knapp bei Kasse), mag zutreffen, aber vor allem in der ersten Hälfte der Biografie wiederholt davon zu lesen, ist ermüdend.

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In der Darstellung des Werkes konzentriert sich Fuhrer wie angekündigt auf die nicht-belletristischen Texte (mit Ausnahme einiger Dramen) und hier vor allem auf die Buchveröffentlichungen – mit gravierenden Folgen. Mag dieses Vorgehen für den Zeitraum vor 1925 noch ausreichend sein, ist es ab diesem Zeitpunkt völlig unzureichend. Fuhrer hat die doch recht zahlreichen Veröffentlichungen, die Ludwig nicht in Deutschland oder den USA publizierte, anscheinend nicht zur Kenntnis genommen. So kann er mehrfach behaupten, Ludwig habe den Plan, ein Buch über seinen Besuch in der Sowjetunion (1925) zu schreiben, nie realisiert, obwohl der Text 1932 in Santiago de Chile erschien. Ebenso ist es unrichtig, dass Ludwigs zweite Autobiografie Geschenke des Alters nie bzw. nur postum auf Portugiesisch erschienen sei, weil Fuhrer die Ausgaben auf Spanisch (mehrere Ausgaben ab 1953) sowie die Veröffentlichungen der zu den Memoiren zugehörigen Portraits von Zeitgenossen (noch zu Lebzeiten Paris 1948, postum Milano 1949, Barcelona 1950, auf Albanisch Boston 2002 sowie Tunis 2003) nicht kennt. Die Liste dieser nicht unerheblichen Fehler ließe sich verlängern, treten aber zurück vor einem fundamentalen Manko der Biografie: Sie lässt Ludwigs Veröffentlichungen in Zeitungen und Zeitschriften ebenso weitgehend unberücksichtigt wie seine extensive Vortragstätigkeit, die zwar erwähnt wird, jedoch nahezu ohne Angabe des jeweiligen Inhalts bleibt. So wäre es im Hinblick auf eine »politische Biografie« schon zielführend gewesen, wenn der Autor beispielsweise erwähnt hätte, dass die europäische Vortragstournee 1932/33 unter dem Thema »Die Vereinigten Staaten von Europa« stand und die USA-Tournee von 1935 unter dem Thema »The Fate of Europe 1914–1940«. Evident ist, dass Ludwig solche Details im Tagebuch nicht erwähnt, weil er um die Themen ja wusste, sondern sich auf Erfolg, Misserfolg und Reaktionen des Publikums beschränkte. Mehrfach in seinem Leben nutzte Ludwig das Medium der Zeitungs- und Zeitschriftenveröffentlichung gezielt, um seine Position zu verdeutlichen und in politische Prozesse direkt einzugreifen. Stets positionierte er sich dabei eindeutig als Humanist und Demokrat, der nachdrücklich für eine demokratische Entwicklung im jeweiligen Kontext eintrat. So erscheinen dann Ludwigs Buchpublikationen während des Ersten Weltkriegs als zumindest systemstabilisierend (unter Zensurbedingungen!) – Fuhrer bemüht sich, ihren neutralen Charakter aufzuzeigen –, wenn man die mehr als 500 Artikel des Korrespondenten Ludwig für das Berliner Tageblatt und die Vossische Zeitung außer Acht lässt. Immerhin brachten ihm seine Artikel (von denen Fuhrer behauptet, nur einer sei der Zensur zum Opfer gefallen) und speziell die vom Jahresanfang 1916 über deutsches Engagement im neutralen Griechenland eine Anklage wegen Hochverrats ein, die nur auf Intervention Walter Rathenaus abgewehrt werden konnte, aber zur Versetzung Ludwigs von der diplomatischen Balkan-Front nach Wien führte.

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Ludwigs weltweites publizistisches Engagement gegen die Sklaverei in Abessinien 1935/36 (im Kontext des Abessinienkrieges und des Nil-Buches) ist Fuhrer kein Wort wert wie auch nahezu alle Veröffentlichungen in nicht gänzlich unbedeutenden Zeitungen wie Schaubühne, Weltbühne, Tagebuch, Neues Tagebuch, Aufbau, Prevent World War III und viele viele andere. In Fuhrers Darstellung entsteht der Eindruck, als habe Ludwig auf die Machtübergabe an die Nationalsozialisten publizistisch nicht reagiert, tatsächlich aber nahm Ludwig direkt 1933 Stellung zu »Les juifs et l’Allemagne« (Marianne, Paris), »Fighting the Jewish Case« (Chicago Sentinel) oder zu »O predeominio do ›Nazismo‹« (Diario de Noticias, Rio de Janeiro), und so fort. Ludwig war über seine Artikel und Beiträge ein international tätiger und wahrgenommener Kommentator des Zeitgeschehens, nur darauf ist seine Reputation zurückzuführen, die ihn bis zu Roosevelt ins Weiße Haus brachte, und eben nicht auf seine Buchveröffentlichungen und weil Politiker ihre Biografien von Ludwig geschrieben haben wollten, wie Fuhrer insinuiert. Ludwigs Artikelserie »Gedanken und Hoffnungen« zum Kriegsausbruch 1939 im Pariser Neuen Tagebuch ignoriert Fuhrer wie auch Ludwigs Entwurf einer Verfassung der »Vereinigten Staaten von Europa« 1940 im gleichen Blatt, die Ludwig international auch als Broschüre streute. So entgeht Fuhrer Ludwigs Orientierung auf eine internationale Nachkriegsordnung bereits vor und zu Kriegsbeginn, die auch sein politisches und publizistisches Engagement in den USA prägte und hätte verständlicher machen können. Mehr noch jedenfalls als die breit dargelegte Kontroverse zwischen Ludwig, Paul Tillich, Hannah Arendt und anderen, die jedoch nur auf die Emigrantenzirkel beschränkt und von Eifersüchteleien geprägt war, wie die Forschung bereits seit langem dargelegt hat. Die Liste dieser Unzulänglichkeiten, die schlicht auf mangelnder Recherche über den Nachlass hinaus zurückzuführen sind, ließe sich verlängern. Hinzu treten aber Defizite, die zutiefst unverständlich erscheinen. So behauptet Fuhrer, Ludwig habe unter Pseudonym als fiktiver Paris- und London-Korrespondent für das Acht-Uhr-Abendblatt geschrieben, ohne dass er das Pseudonym auflöst; Fuhrer wertet das Stalin-Interview von 1931 an mehreren Stellen als nicht bedeutend, obwohl Ludwig hier Stalin die Bestätigung entlockt, dass er Regime-Gegner jeglicher Art töten lasse. Eine gleiche Fehleinschätzung sind Aussagen zu Ludwigs vermeintlicher Stalin- und Mussolini-Bewunderung, die Ludwig allerdings in den Zeitungsartikeln und für ersteren in einer Vortrags- und Artikelreihe noch kurz vor seinem Tod nachdrücklich revidiert hat. Schließlich beschränken viele sachliche Detailfehler, Verschreibung von Eigennamen und unrichtige Zeitangaben die Zuverlässigkeit des Gesamtwerks doch erheblich, wenn es penetrant »Bertold« Brecht heißt oder Erich Maria Remarque bereits ab 1938 (statt recte im September 1939) dauerhaft in die USA übergesie-

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delt sein soll. Diese Fehler schmälern die Leistung Fuhrers, denn seine Biografie enthält selbstverständlich eine Vielzahl von neuen Informationen, Details und zutreffenden Einschätzungen, die in dieser Form der Wissenschaft, geschweige denn der breiten Öffentlichkeit bislang völlig unbekannt waren. Um diese Informationen auch im Text wieder auffindbar zu gestalten, wäre es allerdings sehr hilfreich gewesen, das Personenregister um ein Werk- und Stichwortregister und eine Zeittafel zu ergänzen. Eine erste Biografie über Emil Ludwig hätte eine wahre Bereicherung und ein echter publizistischer Coup sein und einen zu unrecht vernachlässigten Autor wieder ins Bewusstsein auch einer breiteren Öffentlichkeit rücken können. Diese Chance hat Armin Fuhrer vertan, Ludwigs politische Arbeit und seine Überzeugungen bleiben blass, ganz zu schweigen von einer grundsätzlichen Bewertung seiner vielfältigen persönlichen Kontakte zu Meinungsmachern und Entscheidern in Europa und Übersee, die bei Fuhrer zum reinen inhaltslosen Namedropping verkommen. Fuhrer enthält sich über die kurze Einleitung hinaus jeglicher Gesamteinschätzung der zeitgenössischen und aktuellen Bedeutung Emil Ludwigs. Zu recht, denn sie steht noch aus. Thomas F. Schneider, Osnabrück

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Peter Huber. In der Résistance. Schweizer Freiwillige auf der Seite Frankreichs (1940–1945). Zürich: Chronos, 2020, 304 pp., Ill., 38,00 € [978-3-0340-1596-7]. Wohl kaum eine Institution in der jüngeren französischen Geschichte ist von dermaßen vielen Mythen umrankt wie die Résistance. Tapfere junge Männer (weniger Frauen) hatten die angekratzte französische Ehre gegen die »Barbaren« aus Nazideutschland verteidigt, unter Einsatz von Leib und Leben. Dass am inneren (FFI) und äusseren (FFL) Kampf auch viele Ausländer, unter anderem maßgeblich Spanier, Polen und Belgier, aktiv beteiligt waren, wurde in Frankreich auch von der historischen Forschung lange Zeit geflissentlich übersehen. Auch beinahe 500 Schweizer schlossen sich freiwillig den FFI oder den FFL de Gaulles an. Ihre Kollektivbiographie hat der Basler Historiker Peter Huber minutiös aus der hervorragenden Quellenlage, die auch Quantifizierungen erlaubt, heraus rekonstruiert. Peter Huber, der mit ähnlichen, vergleichbaren Arbeiten zur Kriegsfreiwilligkeit (Schweizer Fremdenlegionäre, Schweizer Spanienkämpfer) hervorgetreten ist, lässt aber auch Einzelschicksale sprechen: Der gemeine Soldat und Unteroffizier, der ansonsten oftmals in der Anonymität der Zahlenberge untergeht, erhält somit ein Gesicht, seine Motivation, freiwillig in den Krieg zu ziehen, einen biographischen Hintergrund. Peter Hubers Arbeit ist auch in einem politischen Zusammenhang zu sehen. Die Rehabilitierung der in der Schweiz abgstraften französischen Widerstandskämpfer steht im Gegensatz zu den Spanienfreiwilligen, die namentlich im linken Lager einflussreiche Fürsprecherinnen und Fürsprecher gefunden hatten, noch aus. Zwar setzten sich Nationalräte und Nationalrätinnen wie der Genfer Sozialdemokrat Nils de Dardel oder die Grüne Pia Hollenstein für die Rehabilitierung ein. Der schweizerische Bundesrat jedoch gab zu bedenken, dass die Gründe für den Kampf der Résistants noch weitgehend unbekannt seien (finanzielle Interessen?). Nun füllt Peter Huber, der immerhin auf Vorarbeiten des Genfer Historikers Luc van Dongen aufbauen kann, eine Forschungslücke. Den »typischen« Schweizer Widerstandskämpfer gab es gemäß Huber nicht. Viele Kämpfer waren ehemalige Fremdenlegionäre, die im Jahre 1940 nach der verunglückten Norwegenexpedition in England gestrandet waren und sich den FFL General Charles de Gaulles anschlossen. In Nordafrika wechselten viele Fremdenlegionäre die Fronten von Vichy-Frankreich auf die Seite der Allierten. Diesen Söldnern wird man kaum höhere, hehre Motive zugestehen können. Sie kämpften, um zu überleben, für Geld und Brot, möglicherweise auch aus Abenteuerlust. Für die zahlenmässige Minderheit der Auslandsschweizer aber war der militante Kampf von Idealen begleitet: Viele von ihnen waren nämlich überzeugte Antifaschisten, nicht nur aus dem linken Lager, andere waren französische Patrioten, die gegen die Invasoren und gegen die Fremdherrschaft des »Dritten Reichs«

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kämpften. Die Mehrheit der Widerstandskämpfer war jung, ledig und kam aus der französischsprachigen Westschweiz (Romandie), von wo aus der Gang über die »grüne Grenze« nahe lag. Eine erkleckliche Zahl der Résistants war vorbestraft (Fremdenlegionäre, aber nicht nur), einen höheren Schulabschluss hatten die wenigsten Kämpfer. Viele hatten wenig zu verlieren und viel zu gewinnen. Im Gegensatz zu ehemaligen Spanienkämpfern haben schweizerische französische Widerstandskämpfer kaum Selbstzeugnisse hinterlassen. In der unmittelbaren Nachkriegszeit galten sie nämlich in breiten Kreisen als »Verräter«, welche die bedrängte Schweizer Armee in Zeiten der Not im Stich gelassen hätten. Viele Résistants wollten nach 1945 unentdeckt bleiben, ein unauffälliges Leben führen. Dass nun eine politisch einflussreiche Lobby für ihren wichtigen Einsatz besteht, ist nicht zuletzt akribisch arbeitenden Historikern wie Peter Huber zu verdanken. Fabian Brändle, Zürich

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Norman Ohler. Harro und Libertas. Eine Geschichte von Liebe und Widerstand. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2019, 492 pp., 24,00 € [978-3-462-00150-1]. Eine bedeutende, indes auch heute noch im Bewusstsein der Öffentlichkeit kaum präsente Widerstandgruppe gegen den NS-Staat ist trotz namhafter Mitglieder (z.  B. Peter Suhrkamp, Günther Weisenborn, Werner Krauss) der im GestapoJargon als »Rote Kapelle« (kommunistische Funker) bezeichnete, seit dem Herbst 1939 hauptsächlich in Berlin tätige Kreis aus etwa 150 Personen um das Ehepaar Harro und Libertas Schulze-Boysen. Zu den vielfältigen Tätigkeiten der Roten Kapelle gehören: die von Schulze-Boysen und dem Amerikaner John Graudenz verfasste Flugschrift Die Sorge um Deutschlands Zukunft, die 1942 an Auslandskorrespondenten und diplomatische Vertretungen versandt wurde (262–270), der Offene Brief an die Ostfront über die Wehrmachtsverbrechen (zu ausführlichen Textauszügen 270–277), aber auch wagemutige Aktionen im Alltag, so eine Klebezettelaktion gegen die NS-Propagandaschau Das Sowjet-Paradies (1942; 290–297) oder die Unterstützung französischer Kriegsgefangener (260–262). Abgesehen von diesen teils spektakulären, zudem in der »Reichshauptstadt« durchgeführten Widerstandshandlungen, erregte die Wut der NS-Behörden insbesondere der hohe Frauen- und Intellektuellenanteil der Roten Kapelle und nicht zuletzt auch die Tatsache, dass der Oberleutnant der Luftwaffe Schulze-Boysen in Görings Reichsluftfahrtsministerium beschäftigt war. Geradezu exemplarisch lässt sich am Beispiel der Roten Kapelle die zeitgebundene Wahrnehmung des Widerstands durch Geschichtswissenschaft und (Nachkriegs-)Politik in den beiden deutschen Staaten belegen samt einer hier besonders manifesten Verurteilung bzw. Instrumentalisierung. So bewirkte die von der Gestapo aufgrund eines im Sommer 1942 abgehörten Funkspruchs fälschlicherweise angenommene politische Nähe zur Sowjetunion lange Zeit eine weitgehende Missachtung seitens der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit (435–438), während die Deutsche Demokratische Republik eine Glorifizierung betrieb, etwa im DEFA-Film KLK an PTX. Die Rote Kapelle (1971; auch 435–438). Weitere Charakteristika der Roten Kapelle, die den im Kontext einer Erinnerungskultur erforderlichen Bezug zu einer Zielgruppe erschweren, sind die sozial wie weltanschaulich bemerkenswert heterogene Zusammensetzung der Roten Kapelle und womöglich auch der fehlende zentrale Erinnerungsort, liegt doch die Gedenkstätte Plötzensee weniger zentral als der Bendlerblock. Da der Widerstand der Roten Kapelle von den Anfängen bis zu ihrer Auf­ deckung im Sommer 1942 und den Hinrichtungen in Plötzensee (Dezember 1942 bis September 1943) längst in historiographischen Darstellungen ausführlich dargestellt und valide dokumentiert vorliegt, hat der Verf. eine andere Vorgehensweise gewählt: Um seiner Zielgruppe, interessierten Laien, die Geschichte der Roten

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Kapelle in größter Anschaulichkeit zu erzählen, wählt er die Hybridform der historischen (Dokumentar-)Erzählung. Tatsächlich liegt die überaus beachtliche Leistung des Bandes, der den programmatischen Untertitel »Eine Geschichte von Liebe und Widerstand« trägt, in der so präzisen wie lebendigen Darstellungsweise der historischen Ereignisse, wozu beispielsweise das historische Präsens als Erzähltempus oder eingearbeitete Dialoge beitragen. Angesichts der identifikationsstiftenden Vermischung von Ereignisgeschichte und Alltags- bzw. Sozialgeschichte, auch dies einer seiner Kunstgriffe, verweist der Verf. in der Vorbemerkung darauf, dass es, so ungewöhnlich manches auch erscheinen mag, »sich nicht um einen fiktionalen Text« (19; Hervorhebung NO) handle; Quellen- und Literaturverzeichnis (445–452) sowie der noch umfangreichere Anmerkungsteil (453–481) genügen vollkommen wissenschaftlichen Anforderungen. Besonderes Augenmerk legt der Verf. darauf auszuführen, wie das dem oberen Bürgertum entstammende und – hierin durchaus typisch für ihre Generation – beim Machterhalt Hitlers politisch nicht festgelegte Paar Harro und Libertas Schulze-Boysen im Laufe der Zeit und als Reaktion auf den immer brutaler agierenden NS-Staat einen Entwicklungsprozess zu Widerstandskämpfern durchmacht. Indem der Verf. keine quasi-übermenschlichen Heldengestalten zeigt, wie es andere Narrative des Widerstandes tun (und wogegen sich die Mitglieder der Roten Kapelle ohnehin verwahrt hätten), bietet sich dem Leser eine vorzügliche Identifikationsmöglichkeit, und ganz beiläufig regt der Verf. auch zu einer (Neu-) Definition des Helden bzw. des Heldischen an. Das als Prolog konzipierte Eröffnungskapitel »Sprung mitten hinein« (21–33) erzählt sehr souverän davon, wie Harro Schulze-Boysen das Wesen des Nationalsozialismus erkennt, als Ende April 1933 ein SS-Kommando die Redaktionssitzung seiner Zeitschrift der gegner stürmt, Unterlagen konfisziert und ihn und seinen jüdischen Freund Henry Erlanger in eines der rasch eingerichteten Konzentrationslager verschleppt. Henry stirbt an den Misshandlungen, Harro wird ein Hakenkreuz in den Oberschenkel geschnitten (22); schließlich gelingt es seiner Mutter, über den Berliner Polizeipräsidenten die Freilassung ihres Sohnes zu erreichen (26–33). Diese Erlebnisse müssen auf den Studenten der Staatswissenschaften Schulze-Boysen umso prägender wirken, als er selbst teils mit rechtem Gedankengut sympathisiert und in seiner Zeitschrift Autoren wie dem Nationalbolschewisten Ernst Niekisch ein Sprachrohr gibt (vgl. 38f.). Im Kapitel »Gegner (1932–1933)« (37–83) evoziert der Verf. dann ausführlich die turbulente Atmosphäre (»manische Tage«, 47) kurz vor und nach der so genannten Machtergreifung, wozu auch eine öffentliche Diskussion von Ernst Jüngers Buch Der Arbeiter (64) gehört; allerdings verkennt »die lustige Clique: Künstler, Schwule, schwule Künstler, Revolutionäre, Bohemiens« (43), deren Zentrum eine WG in Kreuzberg bildet, völlig Wesen und Absichten des Nationalsozialismus. Erstaunlicherweise kann das Ehepaar Schulze-

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Boysen auch unter der Diktatur seinen unkonventionellen, anti-bürgerlichen Lebensstil, einschließlich außerehelicher Beziehungen, weitgehend fortführen und sich gewisse Frei- und Rückzugsräume bewahren; auch dieser Non-Konformismus im Privaten ist als politisches Statement lesbar, und ein groteskes Moment scheint auf, wenn die irritierte Gestapo bei ihren Ermittlungen der Berliner Boheme gegenüberzustehen glaubt (316). Verdienst des Bandes, wissenschaftlich valides Sachbuch im besten Sinne des Wortes und spannender historischer Roman zugleich, ist es, der Widerstandsgruppe Rote Kapelle den ihr gemäßen Rang zu verschaffen, so dass die pointierte und provokativ-ironische Schlussformel des Verf. von einer »Geschichte des deutschen Widerstands, die so umstritten ist wie wenige Geschichten sonst« (439) nicht länger zutrifft. Thomas Amos (Frankfurt/Main)

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Marcel Berni. Außer Gefecht. Leben, Leiden und Sterben »kommunistischer« Gefangener in Vietnams amerikanischem Krieg. Hamburg: Hamburger Edition, 2020, 442 pp., Ill., 28,00 € [978-3-86854-348-3]. Marcel Berni analyses the treatment of prisoners of war in South Vietnam, based on a wide variety of empirical evidence. First, he deals with the legal background, in particular the role of the US military and guidelines given to the soldiers. Based on this, he examines how these guidelines and instructions were undermined by the troops and how practice differed from theory, focusing on how prisoners were treated in the context of military operations. The book provides an analysis of different kinds of violence under consideration of theoretical concepts of violence as well as the reasons behind it. In addition, the role of the South Vietnamese military and their relationship with the US military and the CIA is taken into account. The author also takes a look at the victims and how they experienced the treatment in internment camps and interrogation centres. Furthermore, he examines the work of humanitarian organisations as well as the press. Towards the end, Berni also takes a closer look at how the war crimes were dealt with in the United States. The book contains an index of sources and literature, as well as a list of relevant military law guidelines. Marcel Berni analysiert auf Grundlage von breiten empirischen Untersuchungen den Umgang mit Kriegsgefangenen in Südvietnam. Dabei werden zunächst die juristischen Grundlagen behandelt, vor allem die Rolle des US-Militärs und die vorgegebenen Richtlinien an die Soldaten. Darauf aufbauend beschreibt der Autor, wie die Anweisungen und Richtlinien der Streitkräfte untergraben wurden und sich die Praxis deutlich von der Theorie abhob. Im Zentrum steht dabei der Umgang mit Kriegsgefangenen im Rahmen militärischer Operationen. Hinzu kommt eine Analyse der verschiedenen Formen angewandter Gewalt, wobei theoretische Konzepte der Gewaltforschung hinzugezogen werden, sowie eine Analyse der Gründe hinter der Gewalt. Dabei fällt der Blick auch auf die südvietnamesische Armee und die Beziehung zwischen ihr und der CIA sowie dem US-Militär. Nicht nur die Täterseite wird von Berni beleuchtet, sondern auch die Sicht der Opfer, wobei der Alltag

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in den Gefangenenlagern und in den Verhörzentren geschildert wird. Zudem wird auf die Arbeit humanitärer Organisationen eingegangen, ebenso auf die Berichterstattung in der Presse. Schließlich wird auch der Umgang mit den Verbrechen in den USA behandelt. Abgerundet wird das Buch durch ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie durch eine Aufstellung militärrechtlich relevanter Leitfäden. Peter Black, Béla Rásky, Marianne Windsperger (eds.). Mittäterschaft in Osteuropa im Zweiten Weltkrieg und im Holocaust. Collaboration in Eastern Europe during the Second World War and the Holocaust. Wien, Hamburg: new academic press, 2019 (Beiträge des VWI zur Holocaustforschung 7), 382 pp., Ill., 29,90 € [978-3-7003-2073-9]. The essays in this book deal predominantly with the role of Eastern and Middle Eastern European states during the Holocaust. The book begins with an analysis of the difficulties which these states, considering the additional historical strain of communist rule, have had in reflecting on various forms of previous collaboration with the NS regime. Different manifestations of such collaboration are examined, ranging from administrative and institutionalised collaboration to regional and local cooperation with the National Socialists. In addition, the essays deal with the treatment of minorities in the occupied territories, in this particular case, the Roma. At the end, the book analyses reappraisal processes of Nazi occupation that were later initiated under communist rule. The book contains both German and English texts. Die Beiträge in diesem Band behandeln vorwiegend die Rolle ost- und mittelosteuropäischer Staaten während des Holocaust. Behandelt wird zunächst kurz die Problematik der Aufarbeitung von Kollaboration mit dem NS-Regime unter Berücksichtigung der zusätzlichen historischen Belastung durch die kommunistische Herrschaft. Untersucht werden verschiedene Formen der Mitarbeit und Mittäterschaft, von administrativer und institutionalisierter Kollaboration bis hin zu regionaler und lokaler Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten. Auch wird der Umgang mit Minderheiten in den besetzten Gebieten behandelt, hier am Beispiel der Roma. Zum Schluss wird zudem die spätere Aufarbeitung des Nationalsozialismus unter der kommunistischen Herrschaft näher beleuchtet. Das Buch enthält sowohl deutsch- als auch englischsprachige Beiträge. Rolf von Bockel. Kurt Hiller und die Gruppe Revolutionärer Pazifisten (1926–1933). Ein Beitrag zur Geschichte der Friedensbewegung und der Szene linker Intellektueller in der Weimarer Republik. Neumünster: von Bockel, 2019, 443 pp., Ill., 29,80 € [978-3-95675-018-2]. The Revolutionary Pacifists Group (Ger.: Gruppe Revolutionärer Pazifisten [GRP]), founded in 1926 around left-wing intellectual Kurt Hiller, united well-known personalities such as Kurt Tucholsky, Hans Bauer or Ernst Toller. In the turbulent times of the Weimar Republic, the protagonists of the group sought political and philosophical orientation within the framework of a Marxist worldview. Rolf von Bockel’s research sheds light on this community and makes a new contribution to the history of the peace movement in the Weimar Republic. In addition to genealogical studies devoted to reconstructing the formation, development and break-up of

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the circle, this work puts a research focus on the ideas and reasoning of the protagonists. The Revolutionary Pacifists discussed the possibility of revolution and the question of legitimate means, in addition to day-to-day political issues. May violence be used to realise a pacifist society? This was only one of the controversial questions the group debated. In addition to analytical insights into the nature and thinking of the group, the author sheds light on the personality and works of Kurt Hiller. This reissue contains a bibliography, a detailed list of names and literature, and an appendix including Hiller’s writings as well as documents of the GRP. Die Gruppe Revolutionärer Pazifisten (GRP), die sich 1926 um den linken Intellektuellen Kurt Hiller gründete, vereinte bekannte Persönlichkeiten wie z.B. Kurt Tucholsky, Hans Bauer oder Ernst Toller. In den unruhigen Zeiten der Weimarer Republik suchten die Protagonisten der Gruppe im Rahmen einer marxistischen Weltanschauung nach politischer und philosophischer Orientierung. Die Forschungsarbeit von Rolf von Bockel beleuchtet diese Szene und leistet einen ergänzenden Beitrag zur Geschichte der Friedensbewegung in der Weimarer Republik. Neben genealogischen Untersuchungen, die sich der Rekon­ struktion der Entstehung, der Entwicklung und dem Auflösen des Zirkels widmen, legt diese Arbeit einen Forschungsschwerpunkt auf die Ideen und das Denken der Protagonisten. Die Revolutionären Pazifisten diskutierten neben tagespolitischen Themen auch die Möglichkeit einer Revolution und die Frage nach legitimen Mitteln. Darf Gewalt angewendet werden, um eine pazifistische Gesellschaft zu verwirklichen? Das war nur eine der kontroversen Fragen, welche die Gruppe beschäftigte. Neben einem analytischen Einblick in das Wesen und Denken des Zusammenschlusses beleuchtet der Autor die Persönlichkeit und das Wirken Kurt Hillers. Diese Neuauflage enthält eine Bibliografie, ein ausführliches Namensund Literaturverzeichnis sowie einen Anhang, der Schriften Hillers und Dokumente der GRP bereitstellt. Bjarte Bruland. Holocaust in Norwegen. Registrierung, Deportation, Vernichtung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019, 839 pp., 60,00 € [978-3-525-31077-9 ]. In his historical study, which was first published in 2017, Bjarte Bruland outlines the history of the Shoa in Norway, covering the years from the beginning of German occupation of the country in 1940 to its liberation on 8 May 1945. At the focus of Bruland’s research interest are the questions how anti-Jewish policies were driven forward, who the specific perpetrators were, and how they cooperated. The book’s nine thematic chapters demonstrate that the events in Norway can, on the one hand, be interpreted as an example of developments that proceeded in a different way compared to those in other occupied countries of Western Europe. On the other hand, the reasons for this different development – inter alia, the comparatively small number of Jews deported from Norway – also enables another interpretation, according to which the situation in Norway can be viewed as a microcosm of the same crimes that happened at the broader pan-European level. Bruland’s analysis is very detailed, providing a multitude of contemporary quotes and often illustrating the fate of selected individuals. At the end of the book,

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there is a concluding chapter as well as three appendices – on the book’s sources, on the database on Jews in Norway 1939–1945, and on the deported and the dead – as well as a register. In seiner 2017 publizierten und 2019 erstmals in deutschsprachiger Fassung veröffentlichten, historischen Studie schildert Bjarte Bruland detailgetreu die Geschichte der Shoa in Norwegen von der Besetzung des Landes durch Nazi-Deutschland 1940 bis zu dessen Befreiung am 8. Mai 1945. Im Fokus des Erkenntnisinteresses stehen die Fragen, wie die antijüdische Politik vorangetrieben wurde, wer die Täter waren und wie deren Kooperation funktionierte. Die Geschehnisse in Norwegen können dabei, wie die neun thematischen Kapitel des Buches deutlich machen, einerseits als Beispiel für eine Entwicklung betrachtet werden, die anders vonstattenging als in den anderen besetzten Ländern Westeuropas. Die Gründe hierfür – darunter besonders die vergleichsweise geringe Anzahl der aus Norwegen deportierten Juden – können andererseits jedoch auch einen Blickwinkel ermöglichen, durch welchen sich die Situation im Land als ein Mikrokosmos dessen betrachten lässt, was auf gesamteuropäischer Ebene an Verbrechen begangen wurde. Bruland geht bei seiner Beschreibung insgesamt sehr detailliert vor, verwendet viele Zitate und legt den Fokus oft auch auf Einzelschicksale. Am Ende des Buches finden sich ein zusammenfassendes Schlusskapitel sowie drei Anhänge zu den genutzten Quellen, zur Datenbank über Juden in Norwegen 1939–1945 und zu den Deportierten und den Toten, außerdem abschließend ein Register. Bruno Cabanes (ed.). Eine Geschichte des Krieges. Vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Hamburg: Hamburger Edition, 2020, 903 pp., 39,00 € [978-3-86854-346-9]. This book contains essays by 57 authors dealing with various aspects of the last 200 years in the history of war. There is a total of four chapters, each dedicated to a specific overarching topic. The first chapter focusses on the changing perception of war and illustrates how warfare has evolved. The essays investigate, inter alia, technological advancements, environmental destruction, guerilla warfare and terrorism, while also addressing pacifism and martial law. The second part deals with the changing role of the soldier. Subjects discussed in this context include militias, conscription, partisans and resistance fighters, child soldiers, prisoners of war, and female soldiers. The third chapter’s focus is on experiences of soldiers and civilians in war. Here, different forms of experienced violence are discussed, from bombing campaigns to weapons of mass destruction and traumatizing experiences in general. Furthermore, war crimes and civil wars are being investigated. The last chapter deals with consequences of war, including peace treaties as well as war returnees, war crimes and genocide, consequences of civil war and the destruction brought about by war. Each contribution is followed by a list of references. At the end there is an index of names and places. Insgesamt 57 Autorinnen und Autoren schreiben in diesem Buch über die letzten 200 Jahre in der Geschichte des Krieges. Dafür ist das Buch in vier Kapitel unterteilt, wobei jedes einen größeren übergreifenden Aspekt behandelt. Das erste Kapitel befasst sich mit der sich wandelnden Vorstellung von Krieg und der Art und Weise, wie Kriege geführt werden. Die einzelnen Beiträge gehen dabei auf technologische Fortschritte, Umweltzerstörung,

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Guerillakrieg sowie Terrorismus ein. Dabei befassen sie sich auch mit Pazifismus und dem Kriegsrecht. Im zweiten Teil geht es um die sich verändernde Rolle des Soldaten. Dies reicht von den Bürgersoldaten und der allgemeinen Wehrplicht zu Partisanen und Widerstandskämpfern, von Kindersoldaten hin zu Frauen als Soldatinnen sowie zu Kriegsgefangenen. Der dritte Teil behandelt die Erfahrungen von Soldaten und Zivilisten im Krieg. Hier wird unter anderem auf verschiedene Gewalterfahrungen eingegangen, etwa den Bombenkrieg, den Einsatz von Massenvernichtungswaffen, aber auch traumatische Erlebnisse im Allgemeinen. Ebenfalls werden Kriegsverbrechen und Bürgerkriege thematisiert. Der vierte Teil befasst sich mit den Folgen des Krieges. Dabei werden einerseits die klassischen Friedensverträge behandelt, andererseits der Umgang mit Kriegsheimkehrern und auch der Umgang mit Kriegsverbrechen und Völkermord. Ebenfalls thematisiert werden die Folgen von Bürgerkriegen, sowie die Auswirkungen der Zerstörung durch den Krieg. Jedem einzelnen Beitrag folgen Literaturhinweise. Am Ende gibt es ein Orts- und Namensregister. Ioana Craciun (ed.). Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Musen nicht. Der Erste Weltkrieg im Spiegel der deutschen Literatur. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2021 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 413), 226 pp., 36,00 € [978-3-8253-4813-7] This anthology, compiled by various authors, examines the influence of the First World War on german literature in the period that encompasses the Great War. In doing so, the authors deal academically with accounts of experiences and legacies in the form of poetry, prose, and drama. For starters, poems written before and during the World War are examined and analyzed in detail. In other chapters, philosophical currents derived from personal wartime experiences emerge. In addition, the anthology also offers international perspectives on the events of World War I, providing an opportunity to become better acquainted with other points of view. The volume then concludes with a chapter that, based on Remarque’s »All Quiet on the Western Front,« deals with the perception of time at the war front. Finally, the appendix contains more detailed information about the authors and an index of persons for the individual chapters. Der von verschiedenen Autor:innen zusammengetragene Sammelband untersucht den Einfluss des Ersten Weltkrieges auf die deutschsprachige Literatur in der Zeitspanne , die den Weltkrieg umfasst. Dabei setzen sich die Autor:innen wissenschaftlich mit Erfahrungsberichten und Hinterlassenschaften in Form von Lyrik, Prosa und Dramen auseinander. Zum Einstieg werden Gedichte vor und während des Weltkrieges genauer betrachtet und analysiert. In anderen Kapiteln zeichnen sich wiederum philosophische Strömungen ab, die aus persönlichen Kriegserlebnissen abgeleitet werden. Darüberhinausgehend bietet der Sammelband auch internationale Perspektiven auf die Geschehnisse des Ersten Weltkrieges und bietet damit die Möglichkeit, andere Standpunkte besser kennenzulernen. Der Band mündet dann in einem Kapitel, dass sich aufbauend auf Remarques Im Westen nichts Neues mit dem Zeitempfinden an der Front auseinandersetzt. Im Anhang finden sich schließlich noch detailliertere Erläuterungen der Autor:innen und ein Personenverzeichnis zu den einzelnen Kapiteln.

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Sophia Dafinger. Die Lehren des Luftkriegs. Sozialwissenschaftliche Expertise in den USA vom Zweiten Weltkrieg bis Vietnam. Stuttgart: Franz Steiner, 2020 (Transatlantische Historische Studien 59), 362 pp., Ill., 66,00 € [978-3-515-12657-1]. In her monograph, which was published as part of the German Historical Institute Washington’s book series »Transatlantic Historical Studies« (THS), Sophia Dafinger retraces the chequered history of socio-scientific expertise on aerial warfare, on the basis of several expert studies for the Second World War, the Korean War, and the Vietnam War respectively. Attempting to provide insights beyond just the history of the scientific discipline, Dafinger analyses how the cooperation between social scientists and politicians resulted in a variety of methodological innovations and disciplinary shifts. The book’s main goal is to illustrate the ways of thinking and the common basis through which the specific entanglement of science, the military, and the American government became possible in the first place. Beginning with an evaluation of the American social sciences during the time of the Second World War, of the history of the »United States Strategic Bombing Survey«, and of its consequences in the post-war period, the author examines the continuation of this empirical work on the effects of strategic aerial warfare during the Korean and the Vietnam War. She also, in a more abstract way, outlines the lessons learned from aerial warfare in World War II, which were formulated, learned, and soon forgotten after 1945. At the end of the book, a bibliography and an index can be found. In ihrer als Teil der Reihe Transatlantische Historische Studien (THS) des German Historical Institute Washington erschienenen Monographie zeichnet Sophia Dafinger in sechs thematischen sowie einem abschließend resümierenden Kapitel die wechselvolle Geschichte der sozialwissenschaftlichen Expertise für den Luftkrieg anhand diverser Analysen von Luftkriegsexperten zum Zweiten Weltkrieg, zum Koreakrieg sowie zum Vietnamkrieg nach. Wie sich aus der Kooperation zwischen Sozialwissenschaftlern und Politik vielfältige methodische Innovationen und disziplinäre Verschiebungen ergaben, untersucht die Historikerin dabei nicht mit der Zielsetzung, eine reine Wissenschaftsgeschichte zu formulieren. Stattdessen stehen im Mittelpunkt ihrer Arbeit Fragen nach den handlungsbestimmenden Denkmustern der beteiligten Akteure sowie jener gemeinsamen Basis, durch welche eine solche Verschränkung von Wissenschaft, Militär und amerikanischer Regierung überhaupt erst ermöglicht wurde. Nach eingehender Evaluation der amerikanischen Sozialwissenschaften im Zweiten Weltkrieg sowie der Geschichte des United States Strategic Bombing Survey und dessen Fortwirken bis hinein in die Nachkriegszeit wird zum einen die Fortführung jener im Zweiten Weltkrieg begonnenen, empirischen Arbeit über die Effekte von strategischen Luftkriegen in Korea- und Vietnamkrieg behandelt, zum anderen, stärker abstrahierend, die nach 1945 formulierten, gelernten, und teils schnell wieder vergessenen Lehren des Luftkriegs. Am Ende der Arbeit stehen ein Quellen- sowie ein Literaturverzeichnis und ein Index.

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Benjamin Dürr. Erzberger, der gehasste Versöhner. Biographie eines Weimarer Politikers. Berlin: Christoph-Links-Verlag, 2021, 311 pp., 25,00 € [978-3-96289-116-9] Matthias Erzberger was considered by some to be a co-founder of the Weimar Republic. His biography deals with a politician who advocated peace and reconciliation and whose policies actively favored the end of World War I and the conclusion of the Treaty of Versailles. Tracing his career, the biography takes the reader through the various stages of his life and places them in a larger political and cultural context. It begins by outlining Erzberger’s career rise, then his political figure as a populist. Following on from this, the author illuminates how Erzberger developed into the political position of a realist, and finally his persona as a visionary is paraphrased. The biography is brought to a close with the classification of the political assassination that ended Erzberger’s life. The author brings the assassination into a higher political level and in the course of this goes into more detail about the effect of Erzberger‘s death. In the supplement, the biography is supplemented by notes, a bibliography and an index of persons. Matthias Erzberger galt manchen als Mitbegründer der Weimarer Republik. Seine Biographie beschäftigt sich mit einem Politiker, der für Frieden und Versöhnung eingetreten ist und mit seiner Politik aktiv das Ende des Ersten Weltkrieges und den Abschluss des Versailler Vertrag begünstigte. Seinen Werdegang verfolgend, führt die Biographie den Leser durch die verschiedenen Stationen seines Lebens und ordnet diese in einen größeren politischen und kulturellen Zusammenhang ein. Zu Beginn wird Erzbergers Karriereaufstieg skizziert, dann seine politische Figur als Populist. Daran anknüpfend beleuchtet der Autor wie sich Erzberger in die politische Position eines Realisten entwickelt und schließlich wird seine Person als Visionär umschrieben. Zum Abschluss gebracht wird die Biographie mit der Einordnung des politischen Attentats, das Erzebergers Lebensweg beendet hat. Der Autor bringt das Attentat in eine höhere politische Ebene und geht im Zuge dessen noch näher auf die Wirkung von Erzbergers Tod ein. Im Nachtrag wird die Biographie noch durch Anmerkungen, ein Literaturverzeichnis und ein Personenregister ergänzt. Jörg Echternkamp (ed.). Militär und Gesellschaft in Ost- und Westdeutschland 1970–1990. Berlin: Cristoph-Links-Verlag, 2021, 648 pp., 55,00 € [978-3-96289-119-0]. Published on behalf of the Center for Military History and Social Sciences of the German Armed Forces, the authors of the publication attempt to historically review the role of the military in East and West Germany. The focus is particularly on the interactive relationship between the military and the people. First, German military history is placed in a political dimension. In doing so, the social and political division in East and West Germany will be given greater consideration. In the further course, German defense and security policy is examined in more detail from various perspectives and in comparison to other nations. Following on from this historical and political analysis is a multifaceted examination of peace movements in the general context of German history and peace movements with Christian religious backgrounds. This publication concludes with a review of the relationship between the military

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and civilian society, looking back at the influences of the Cold War. The supplement includes a bibliography and an index of persons. Herausgegeben im Auftrag des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, versuchen die Autor:innen der Publikation die Rolle des Militärs in Ostund Westdeutschland historisch aufzuarbeiten. Dabei wird der Fokus besonders auf die wechselwirkende Beziehung zwischen Militär und Gesellschaft gelegt. Zunächst wird die deutsche Militärgeschichte in eine politische Dimension eingeordnet. Dabei wird die gesellschaftliche und politische Spaltung in Ost- und Westdeutschland verstärkt berücksichtigt. Im weiteren Verlauf wird die deutsche Verteidigungs- und Sicherheitspolitik aus verschiedenen Perspektiven und im Vergleich zu anderen Nationen näher beleuchtet. Anknüpfend an diese historische und politische Analyse folgt eine facettenreiche Auseinandersetzung mit Friedensbewegungen im allgemeinen deutsch-geschichtlichen Kontext und Friedensbewegungen mit christlich-religiösen Hintergründen. Zum Abschluss gebracht wird diese Publikation mit einer Bilanz zur Beziehung zwischen Militär und ziviler Gesellschaft mit Rückblick auf die Einflüsse des Kalten Krieges. Im Nachtrag enthalten sind ein Literaturund Personenregister. Albert C. Eibl. Der Waldgang des »Abenteuerlichen Herzens«. Zu Ernst Jüngers Ästhetik des Widerstands im Schatten des Hakenkreuzes. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2020 (Beiträge zur Neueren Literaturgeschichte 395), 183 pp., 36,00 € [978-3-8253-6957-6]. The author of this study attempts to reconstruct Ernst Jünger’s intellectual and poetic resistance at the time of National Socialism and is guided by the intention of highlighting the regimecritical potential of his writings. The controversial and ambivalent literary figure Ernst Jünger developed a poetic programme in the times of National Socialism which the author interprets as an intellectual form of resistance against the moral decline and tyranny of the Hitler regime. The word as a »weapon« against oppression: Jünger coined a »concealed style of writing« in a time of absolute censorship as a hidden but at the same time debunking form of criticism, thus escaping the censorship policy of the Third Reich. The book provides an insight into Jünger’s protest against the Nazi tyranny in his career and in the development of an intellectual opposition. A detailed bibliography can be found at the end of the book. Der Autor dieser Untersuchung versucht den intellektuellen und poetischen Widerstand Ernst Jüngers zur Zeit des Nationalsozialismus nachzuzeichnen und ist von der Intention geleitet, das regimekritische Potential seiner Schriften hervorzuheben. Der kontroverse und ambivalente Literat Ernst Jünger entwickelte in den Zeiten des Nationalsozialismus ein poetisches Programm, welches der Autor als eine intellektuelle Widerstandsform gegen den moralischen Niedergang und die Tyrannei des Hitlerregimes deutet. Das Wort als »Waffe« gegen die Unterdrückung: Jünger prägte in einer Zeit der absoluten Zensur die »verdeckte Schreibweise« als verhüllte, aber zugleich entlarvende Kritikform und entging damit der Zensurpolitik des Dritten Reichs. Das Buch gibt einen Einblick in Jüngers Protest gegen die

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Gewaltherrschaft der Nazis, in seinen Werdegang und in die Entwicklung einer geistigen Opposition. Am Schluss des Buches finden sich ein ausführliches Literaturverzeichnis. Sebastian Elsbach, Marcel Böhles, Andreas Braune (eds.). Demokratische Persönlichkeiten in der Weimarer Republik. Stuttgart: Franz Steiner, 2020 (Weimarer Schriften zur Republik 13), 241 pp., Ill., 50,00 € [978-3-515-12799-8]. The volume brings together contributions of the Third Conference for Junior Researchers, organised by the Weimar Republic Research Centre at the Friedrich Schiller University Jena and the Weimar Republic Registered Society, which in August 2018 took place in Jena under the title »Democratic Personalities in the Weimar Republic«. The authors’ main objective is to debunk the widespread narrative according to which the Weimar Republic was a »Republic without Republicans« – and, therefore, doomed to failure from the start – by presenting »democratic personalities« who actively stood up for democracy, from the second and third row of politics and society, or on a regional or municipal level. These individuals are not just portrayed on a personal level, but contextualised in their indivisible connection to academic, party-political, journalistic or cultural networks, which in turn formed important parts of the diverse political milieus. Thus, shedding light on personalities beyond just the major players of »big politics«, the approach contributes to an often-neglected field of research. The volume is divided up into three main chapters which each introduce »democratic personalities« from one of three sub-areas of the Weimar republic. Following a foreword by the editor and an introduction which outlines the main question of the volume – »who carries the Republic?« –, six essays discuss »Parliamentarianism in turmoil« by looking at Weimar Republic politicians; among them, for example, the DDP minister Hermann Dietrich, the DVP delegate Katharina von Kardorff-Oheimb, and Hubertus, Prince of Löwenstein, who would later become a Member of the German Bundestag for the Free Democrats (FDP), but, as a young man, received his early political education in the Weimar republic. In the second chapter, four contributions examine the broader field of education in general and political education in particular. By discussing personalities such as the Social Democrat itinerant teacher Albert Rudolph, they investigate the gap between the political elite and the broader public in Germany’s first democratic system. The four essays of the third chapter then cover »Republican culture and journalism«. Even though the parliamentary democracy, through the abolition of censorship and implementation of freedom of speech and press, had only just allowed this sector to thrive, the Weimar republic was under constant fire from its cultural critics from the political right and left, throughout the fourteen years of its existence. The contributions to this subject discuss, inter alia, Thomas Mann’s relationship with the Republic, or the journalistic reception of German-Baltic impostor Harry Domela’s »Köpenickiade«. Each article is completed by a bibliography and the volume concludes with an overview of the contributing authors. Der Sammelband vereinigt die Beiträge der dritten Konferenz für den wissenschaftlichen Nachwuchs der Forschungsstelle Weimarer Republik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und des Weimarer Republik e.V., die im August 2018 in Jena unter dem Titel »Demo-

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kratische Persönlichkeiten in der Weimarer Republik« stattfand. Sein Ziel besteht darin, das weitverbreitete Narrativ von der Weimarer Republik als »Republik ohne Republikaner«, deren Ende scheinbar unausweichlich war, als überholte Sichtweise zu entlarven, indem »demokratische Persönlichkeiten« vorgestellt werden, welche sich aus der zweiten oder dritten Reihe oder auf regionaler oder kommunaler Ebene aktiv für die Demokratie einsetzten. Dabei werden diese Einzelpersonen nicht nur als solche, sondern in ihrer untrennbaren Verknüpfung mit Netzwerken akademischer, parteipolitischer, publizistischer und kultureller Natur betrachtet, welche wiederum Teile der verschiedensten politischen Milieus waren. Diese Herangehensweise, Akteure abseits der großen Politik der Weimarer Republik zu untersuchen, leistet einen Beitrag zu einem noch kaum beschrittenen Forschungsfeld. Der Band ist in drei Kapitel untergliedert, welche sich jeweils »demokratischen Persönlichkeiten« aus einem von drei Teilbereichen der Weimarer Gesellschaft widmen. Im Anschluss an ein Vorwort der Reihenherausgeber sowie eine Einleitung, welche die zentrale Frage – »wer trägt die Republik?« – vorgibt, setzen sich sechs Beiträge zunächst mit dem »Parlamentarismus im Umbruch« auseinander, wobei politische Kräfte der Weimarer Republik betrachtet werden; darunter beispielsweise der DDP-Mann Hermann Dietrich, die DVP-Vertreterin Katharina von Kardorff-Oheimb oder aber der spätere FDP-Bundestagsabgeordnete Hubertus Prinz zu Löwenstein, welcher als junger Mann seine frühe politische Bildung in der Weimarer Republik erfuhr. Im zweiten Teil werden in vier Beiträgen das weite Feld der Bildung im Allgemeinen sowie der politischen Bildung im Speziellen beleuchtet. Die Beiträge über Persönlichkeiten wie den sozialdemokratischen Wanderlehrer Albert Rudolph verdeutlichen dabei besonders eindringlich die Diskrepanz zwischen politischer Elite und breiteren Bevölkerungsschichten in der ersten deutschen Demokratie. In den vier Aufsätzen des dritten Teils wird sich schließlich mit der »Republikanische[n] Kultur und Publizistik« auseinandergesetzt. Zwar wurde deren Aufblühen erst durch die parlamentarische Demokratie und die damit einhergehende Abschaffung von Zensur sowie Einführung von Meinungs- und Pressefreiheit möglich gemacht, jedoch stand die Weimarer Demokratie während ihrer vierzehnjährigen Existenz nichtsdestotrotz dauerhaft unter Beschuss ihrer Kulturkritiker von rechts und links. Die Beiträge zu diesem Thema behandeln unter anderem das Verhältnis von Thomas Mann zur Republik oder die publizistische Rezeption der Köpenickiade des deutsch-baltischen Hochstaplers Harry Domela. Jeder Artikel wird ergänzt durch ein Literaturverzeichnis. Beschlossen wird der Band durch einen Überblick über die in ihm publizierenden Autorinnen und Autoren. Trond Berg Eriksen, Håkon Harket, Einhart Lorenz. Judenhass. Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2005, 678 pp., 39,99 € [978-3-525-36743-8]. Anti-Semitism is deeply engraved in the history of Europe. The hatred against Jews culminated in the Shoa and the murder of more than six million people. The roots of this hostility, however, did not lie in the »Third Reich«, but can be traced back further, and through the

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ages the manifestations of discrimination and the demonisation of »the Jew« have manifested themselves in numerous forms of expression: hatred against Jews has had many faces and has accompanied Europe like a shadow, often changing but never entirely disappearing. In a historical-chronological approach, the authors of this study illustrate the history of anti-Semitism, its development and its manifestations, in order to analyse the phenomenon of hatred towards Jews from antiquity to the present. The various phases and forms of anti-Semitism are being investigated in their respective historical, ideological and literary contexts. The book contains an extensive bibliography and an index. Antisemitismus ist tief in die Geschichte Europas eingeschrieben. Der Judenhass gipfelte in der Shoa und der Ermordung von mehr als sechs Millionen Menschen. Die Wurzeln der Judenfeindlichkeit liegen aber nicht im »Dritten Reich«, sondern sind viel früher aufzuspüren, und die Ausprägungen der Diskriminierungen und die Dämonisierung »des Juden« zeigen sich seit jeher in zahlreichen Ausdrucksformen. Judenhass hat viele Gesichter und begleitet Europa wie ein Schatten, der sich zwar wandelt, aber nie ganz verschwindet. Die AutorInnen der vorliegenden Untersuchung zeichnen die Geschichte des Antisemitismus, seine Entwicklung und seine Ausdrucksformen geschichtlich-chronologisch nach, um das Phänomen der Judenfeindlichkeit von der Antike bis zur Gegenwart zu analysieren. Die verschiedenen Ereignisse und Formen des Antisemitismus werden von den Autoren in ihrem jeweiligen historischen, ideologischen und literarischen Kontext betrachtet. Das Buch enthält ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie ein Register. Horst Gies. Richard Walther Darré. Der »Reichsbauernführer«, die nationalsozialistische »Blut und Boden«-Ideologie und Hitlers Machteroberung. Köln: Böhlau, 2019, 746 pp., Ill., 32,99 € [978-3-412-50291-1]. In this publication on the National Socialist »Reichsbauernführer« (engl.: »Reich Farmers’ Führer«) and Reich Minister of Food and Agriculture, Richard Walther Darré, historian Horst Gies updates and expands on research results which he in parts had first presented in his 1965 dissertation. Elaborating on his thesis that, especially in rural environments, propaganda with Darré’s adjusted version of the »Blood and Soil« ideology played a decisive role for Hitler’s rise to power, Gies calls for the agricultural sectors to be taken into account when analysing how this political takeover became possible – especially since this area of research is still underrepresented in scientific literature. The main objective of Gies’ publication is to analyse Darré’s adaption of the »Blood and Soil« ideology by investigating the politician’s biography and to then put it into context with the respective history of ideas. Furthermore, in the three sections of the book, which are each divided into several chapters, Gies examines whether – and if so, how – this ideology was intended to be realised by Nazi agricultural policy. With respect to Darré’s personal biography, it is examined how the later minister first came into contact with the NSDAP and soon rose through the ranks, what life circumstances and ideologemes influenced him in particular, and what role he eventually played in the Nazi party’s seizure of power. Furthermore, an attempt is made to understand the »Blood and Soil« ideology itself

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in the context of the history of ideas, as well as in the deeper historical dimension, in order to then assess its compatibility with the nationalist and rural zeitgeist and an interest-driven agricultural policy. At the end of the book there is an extensive appendix, including a register of sources and a bibliography as well as an index of persons. Mit seiner Publikation zu Richard Walther Darré, dem nationalsozialistischen »Reichsbauernführer« und Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft, schließt der Historiker Horst Gies an seine bereits 1965 in Teilen veröffentlichte Dissertationsschrift an, erweitert und aktualisiert diese. Seiner These, dass bei der nationalsozialistischen Machtergreifung besonders im dörflichen Milieu Propaganda mit der – eben von Darré maßgeblich an die Rassenideologie der Nationalsozialisten angepassten – »Blut und Boden«-Ideologie eine ausschlaggebende Rolle spielte, schließt Gies die Forderung an, dass bei Fragen nach der Ermöglichung der Machtergreifung der Agrarsektor nicht außer Acht gelassen werden dürfe. Jedoch bestehe, in Hinblick auf die unterrepräsentierte Stellung der NS-Agrarpolitik in der wissenschaftlichen Literatur zur NS-Zeit, in dieser Hinsicht akuter Nachholbedarf. Diesem Umstand möchte Gies mit der vorliegenden Monografie nun Abhilfe schaffen, indem er die Entstehung von Darrés Variante der »Blut und Boden«-Ideologie aus dessen Biographie heraus zu analysieren und anschließend ideengeschichtlich zu kontextualisieren versucht. Außerdem soll in den drei, wiederum in mehrere Kapitel untergliederten Teilen der Arbeit die Frage verfolgt werden, ob – und wenn ja, wie – diese Ideologie mittels der NS-Agrarpolitik realisiert werden konnte. Dabei wird hinsichtlich Darrés Biografie unter anderem untersucht, wie der spätere Minister zur NSDAP kam und in ihr zu einem der wichtigsten Mitarbeiter Hitlers aufsteigen konnte, von welchen Lebensumständen und Ideologemen er beeinflusst wurde und welchen Beitrag er schließlich zur Machtergreifung leistete. Außerdem soll die »Blut und Boden«-Ideologie vor ihrem ideengeschichtlichen Hintergrund sowie in ihrer historischen Tiefendimension verstanden und anschließend deren Anschlussfähigkeit für »völkische« und rurale Zeitströmungen und landwirtschaftliche Interessenpolitik geprüft werden. Der Arbeit angehängt finden sich ein umfangreicher Anhang, inklusive Quellen- und Literaturverzeichnis, sowie ein Personenregister. Clemens Maria Haertle. Herr, mach ein Ende! Franz Xaver Haertle. Kriegstagebücher und Briefe 1936–1945. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2020, 1486 pp., Ill., 170,00 € [9783-412-51357-3]. The book deals with the war diaries and letters of Wehrmacht soldier Franz Xaver Haertle. The first part offers a scientific examination of the source material. On the basis of his writings, a characterisation of Haertle is provided, along with insights on why and under what conditions he wrote his letters and diary entries. In the process, the material is being contextualised as well as illuminated under different aspects. The second, more extensive part contains the primary source material sorted in chronological order. At the end there is an index of names and persons.

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Dieses Buch befasst sich mit den Kriegstagebüchern und Briefen des Wehrmachtsoldaten Franz Xaver Haertle. Der erste Teil ist eine wissenschaftliche Untersuchung des Quellenmaterials. Dabei wird anhand seiner Briefe und Tagebücher eine Charakterisierung Franz Xaver Haertles vorgenommen. Gleichzeitig wird darauf eingegangen, wieso und unter welchen Bedingungen die Schriften verfasst wurden. Zudem werden die Quellen kontextualisiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet. Der zweite Teil ist umfangreicher und besteht aus den Tagebucheinträgen und den Briefen Haertles, die transkribiert und chronologisch geordnet sind. Abgerundet wird das Werk durch ein Personen- und Namensregister. Dominique Hipp. Von NS-Konzentrationslagern erzählen. Angeklagte vor Gericht über Dachau, Mauthausen, Ravensbrück und Neuengamme. Bielefeld: transcript, 2020, 297 pp., 45,00 € [978-3-8376-5094-5]. On the basis of three trials dealing with crimes committed in Nazi concentration camps – the Dachau camp trial, the Austrian Volksgerichtsprozesse and trials against Nazi perpetrators of the concentration camps Ravensbrück and Neuengamme in the FGR – which took place in Germany and Austria between 1945 and 1955, literary scholar and historian Dominique Hipp addresses the question if narratology can be utilised as an interdisciplinary methodology for the source-critical examination of the statements made by Nazi criminals before court. As the self-staging of the accused is shaped by various narrative forms, application of this form of analysis of historical sources would appear to suggest itself. The three main chapters of the dissertation each discuss one of the three narrative forms which are most commonly found: the unreliable accounts given in pre-trial statements, (fragmentary) self-narration in the actual trial and, lastly, performative narration in pleas for clemency. The author begins her analyses of the perpetrators’ statements with introductory research descriptions, making the approach of the study compatible with and adaptable for further source-critical work on the topic. A bibliography concludes the publication. Anhand dreier zwischen 1945 und 1955 in Deutschland und Österreich abgehaltener NSGVerfahren zu Verbrechen in nationalsozialistischen Konzentrationslagern – dem Dachauer Hauptverfahren, der österreichischen Volksgerichtsprozesse sowie (bundes-)deutschen Verfahren zu Verbrechen in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Neuengamme – erprobt die Literaturwissenschaftlerin und Historikerin Dominique Hipp in ihrer Dissertation die Möglichkeit, die Erzähltheorie interdisziplinär als grundlegende Methodik zur quellenkritischen Untersuchung der Aussagen von angeklagten NS-VerbrecherInnen nutzbar zu machen. Da die Selbstinszenierung der vor Gericht befindlichen Täter:innen durch diverse erzählerische Formen geprägt sei, liege eine solche Analyse der historischen Quellen nahe. Dabei befassen sich die drei Hauptkapitel der Publikation jeweils mit einer der drei am häufigsten festgestellten Erzählweisen: dem unzuverlässigen Erzählen in vorprozessualen Aussagen, (fragmentarischer) Selbsterzählung in der Hauptverhandlung und schließlich performativem Erzählen in den Gnadengesuchen. Den Analysen der Täter:innen-Aussagen stellt die Autorin dabei einführende Forschungsdarstellungen voran, was die Vorgehens-

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weise der Untersuchung anschlussfähig für weitere quellenkritische Arbeiten zum Thema macht. Ein Literaturverzeichnis rundet den Band ab. icon Düsseldorf (ed.). Krieg und Migration im Comic. Interdisziplinäre Analysen. Bielefeld: transcript, 2020, 306 pp., Ill., 39,00 € [978-3-8376-5125-6]. This collectionmnm, issued by icon Düsseldorf, the interdisciplinary network for comic studies of the Heinrich Heine University, was created on the basis of a lecture series of the same name which had been delivered in the winter semester 2017/18. In spite of the scepticism which comic studies still face at many German Universities, the editors argue that the medium of the comic is perfectly suited as an object of scientific research. Caused by its medial differentness compared to, for example, exclusively textual forms of narration, it demands an interdisciplinary approach. This particular aspect becomes apparent in the academic disciplines of icon’s founding members – from history to English, Romance, Japanese, and German studies – as well as in the essays of this volume. The latter are based on lectures held during the aforementioned series and attempt to present an overview of the eponymous topic »Migration and war in graphic narrations« as well as to provide detailed analyses on the subject by investigating individual examples. Starting from an introductory article by Andreas Platthaus, in which the journalist and author of several books on comics retraces, among other things, how especially war, but also migration, has shaped the historical development of the comic as narrative form, ten more essays address a variety of related topics, from the »function of drawn objects in comics about war and migration« to »popularisation of war memories in the manga« and »refugees in francophone comics and graphic novels«. A bibliography is provided at the end of each article. At the end of the volume, an additional overview of contributing authors can be found. Der Sammelband, herausgegeben von icon Düsseldorf, dem interdisziplinären Comic-Forschungsnetzwerk der Heinrich-Heine-Universität, geht auf eine gleichnamige Ringvorlesung im Wintersemester 2017/18 zurück. Trotz des schweren Standes, den Comicforschung an deutschen Universitäten zu großen Teilen noch hat, bietet sich das Medium Comic laut den Herausgebern als hervorragender Forschungsgegenstand an. Bedingt durch seine mediale Andersartigkeit gegenüber beispielsweise rein textlichen Narrationen fordere es eine interdisziplinäre Herangehensweise geradezu heraus. Dieser Umstand lässt sich sowohl anhand der Fachgebiete der Gründungsmitglieder von icon Düsseldorf – von Geschichte über Anglistik, Romanistik und Japanologie bis hin zur Germanistik – als auch anhand der Aufsätze der vorliegenden Publikation ablesen. Diese basieren auf Vorlesungen der Beteiligten im Rahmen der eingangs erwähnten Ringvorlesung und verfolgen das Ziel, einerseits eine Übersicht über das titelgebende Thema »Migration und Krieg in graphischen Erzählungen« zu geben sowie andererseits, anhand von Einzelbeispielen, tiefergehende Analysen zu diesem vorzunehmen. Ausgehend von einem einführenden Beitrag von Andreas Platthaus, in dem der Journalist und Autor mehrerer Bücher über Comics unter anderem comic-historisch nachvollzieht, wie vor allem Krieg, aber auch Migration die Entstehung der Erzählform Comic maßgeblich mitbestimmt haben, werden in zehn weiteren Beiträgen

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Untersuchungen über verschiedene verwandte Themen vorgelegt – von der »Funktion gezeichneter Objekte in Comics über Krieg und Migration« über die »Popularisierung von Kriegserinnerung im Manga« bis hin zu »Flüchtlinge[n] in frankophonen Comics und Graphic Novels«. Jedem Beitrag ist ein Literaturverzeichnis hintenangestellt, dem Sammelband zudem ein Überblick über die beteiligten Autorinnen und Autoren. Denijal Jegić. Trans/Intifada. The Politics and Poetics of Intersectional Resistance. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2019 (American Studies – A Monograph Series 300), 329 pp., 46,00 € [978-3-8253-6958-3]. This book examines cultural, political and artistic aspects of intersectionality and transnationality, focusing on examples of Black American and Palestinian artists and activists. It describes the conflict between Palestine and Israel, as well as the role of the United States in this conflict. Furthermore, the relationship and solidarity between Black Americans and Palestinians is described, with the latter phenomenon identified to be based on similar experiences of oppression. Literary and artistic works, representing expressions of resistance against oppression, are at the centre of this examination. The author also addresses the term »Intifada« and expands on it, accessing a transnational level of meaning. The book is complemented by a bibliography. Das Buch untersucht kulturelle, politische und künstlerische Aspekte von Intersektionalität und Transnationalität. Die behandelten Akteure sind dabei schwarze US-Amerikaner und Palästinenser. Es wird der Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis beschrieben, sowie die Rolle der USA in diesem Konflikt. Weiterhin werden die Beziehungen und die Solidarität zwischen Palästinensern und schwarzen US-Amerikanern dargestellt, wobei letztere auf ähnliche Erfahrungen der Unterdrückung zurückgeführt wird. Zentral ist die Untersuchung von literarischen und weiteren künstlerischen Werken als ein Ausdruck des Widerstands gegen Unterdrückung. Der Autor greift auch den Begriff der »Intifada« auf und erweitert ihn auf eine transnationale Ebene. Das Buch enthält ein Literaturverzeichnis. Sonja Kinzler, Doris Tillmann (eds.). Die Stunde der Matrosen. Kiel und die deutsche Revolution 1918. Darmstadt: Theiss, 2018, 304 pp., Ill., 24,95 € [978-3-8062-3698-9]. This volume was published on the occasion of an eponymous exhibition, held in the Kiel Maritime Museum between 6 May 2018 and early March 2019, with which the 100th anniversary of the Kiel Mutiny of 1918 was celebrated in due accordance with its historic significance, and the uprising was to be enshrined as a positive lieu de memoire and memorial day in Germany’s culture of remembrance. This book pursues a similar objective, with scholars of various disciplines and with diverse perspectives expanding on different aspects of the exhibition’s thematic focus in their essays. In doing so, for the first time in decades an overview on the local history of the events of November 1918 is provided, several facets of which are being investigated in new ways, and they are put into context with supra-regional, as well as historic-cultural topics and questions. Thirty main contributions deal, in chronological order; with the situation in Kiel during the First World War, the spread of the revolution in Schleswig-Holstein and in the

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German Reich, and the role which the sailors from Kiel played in it. Subsequently, the political backgrounds of the events, their preconditions and aftermath between 1916 and 1923 are being discussed, as well as their reception in art and culture. A final chapter is dedicated to the remembrance of the Kiel mutiny and the revolution. More than two hundred photographic documents, historic printed documents and artistic representations of the events accompany the text contributions. In this way, the media-historical dimension of the uprisings – which were accompanied by massive propaganda – receives special attention. The volume is concluded with a list for further literature, a bibliography, a list of authors as well as a list of figures. Der Sammelband erschien begleitend zu einer gleichnamigen, vom 6. Mai 2018 bis Anfang März 2019 im Kieler Schifffahrtsmuseum abgehaltenen Ausstellung, durch die das hundertjährige Jubiläum des Kieler Matrosenaufstandes von 1918 – der historischen Tragweite des Ereignisses angemessen – gefeiert und der Aufstand als Erinnerungsort und Gedenktag positiv in die deutsche Erinnerungskultur eingefügt werden sollte. Die vorliegende Begleitpublikation verfolgt ein ähnliches Ziel, wenn in ihr die Inhalte der Ausstellung vertieft und von verschiedenen FachautorInnen aus ihren eigenen, teilweise sehr unterschiedlichen Perspektiven in Form von Essays analysiert werden. Dabei sollen die Ereignisse des Novembers 1918, zum ersten Mal in Jahrzehnten, lokalgeschichtlich überblickt, teilweise neu betrachtet und in einen Kontext überregionaler sowie kulturhistorischer Themen und Forschungsfragen eingeordnet werden. Die dreißig Hauptbeiträge behandeln dabei zunächst chronologisch die Situation in Kiel während des Weltkriegs, die Revolutionsereignisse in Kiel an sich, die Verbreitung der Revolution in Schleswig-Holstein und im Deutschen Reich sowie die Rolle Kiels und Kieler Matrosen bei dieser. Anschließend werden noch die politischen Hintergründe der Ereignisse, deren Voraussetzungen und Nachwirkungen von 1916 bis 1923 sowie die Rezeption der Revolution durch Kunst und Kultur beleuchtet. Ein abschließendes Kapitel widmet sich der Erinnerung an den Kieler Matrosenaufstand und an die Revolution. Über zweihundert fotografische Dokumente, historische Drucksachen und künstlerische Darstellungen begleiten die Textbeiträge. Somit erfährt auch und besonders die medienhistorische Dimension der von massiver Propaganda begleiteten Aufstände Beachtung. Abgeschlossen wird der Band durch Literaturhinweise und einen Überblick über die zitierte Literatur, ein AutorInnen-Verzeichnis sowie einen Nachweis über die verwendeten Abbildungen. Julia Kölbl, Iryna Orlova, Michael Wolf (eds). ¿Pasarán? Kommunikation im Spanischen Bürgerkrieg / Interacting in the Spanish Civil War. Wien, Hamburg: new academic press, 2020 (Translation 3), 224 pp., Ill., 25,00 € [978-3-7003-2179-8]. From 1936 to 1939, when civil war raged in Spain and democracy had to be defended against Franco’s fascism, this mobilised up to 35,000 volunteers from 53 different nations. The linguistic diversity of these freedom fighters presented those involved with great communicative challenges. The contributors of this volume attempt to reconstruct how the complex situation of multilingualism was met, which forms of communication were developed, and

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how it was possible to organise military operations under these conditions. The publication provides an insight into the cultural and linguistic dimension of the Spanish Civil War and thus complements the state of research with regard to these aspects. The work itself is multilingual, representing the largest linguistic groups among the freedom fighters – German, English and Spanish. Als von 1936 bis 1939 in Spanien Bürgerkrieg herrschte und es galt, die Demokratie gegen den Faschismus Francos zu verteidigen, mobilisierte das bis zu 35.000 Freiwillige aus 53 verschiedenen Nationen. Die sprachliche Vielfältigkeit der Freiheitskämpfer stellte die Akteure vor große kommunikative Herausforderungen. In diesem Band versuchen die Beitragenden nachzuvollziehen, wie der komplexen Situation der Mehrsprachlichkeit begegnet wurde, welche Formen der Kommunikation sich gebildet haben und wie es möglich war, unter diesen Bedingungen militärische Operationen zu organisieren. Die Publikation gibt hierbei einen Einblick in die kulturelle und sprachliche Dimension des Spanischen Bürgerkrieges und ergänzt dadurch den Forschungsstand hinsichtlich dieser Aspekte. Das Werk selbst ist ebenfalls multilingual verfasst und repräsentiert durch die Verwendung der deutschen, englischen und spanischen Sprache die größten Sprachgruppen der Freiheitskämpfer. Laura Lotte Lemmer, Jochen Oltmer. Exil in der Bundesrepublik Deutschland. Bedingungen und Herausforderungen für Künstlerinnen und Künstler. Osnabrück: Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien, 2020 (IMIS-Beiträge 53), 149 pp., 0,00 € [978-3-9821452-0-4]. This book deals with the situation of artists living in exile in Germany. At the beginning, there is an essay outlining the current state of research and methods used for this particular investigation, and statistics and background information are provided. Next, the specific working and living conditions of the artists are examined, as well as structures and programmes available for their support. At the end, the authors provide recommendations for further action and a conclusion. The book contains a bibliography as well as an appendix with interviews, events, and funding programmes and institutions. Der Band behandelt die Situation von Künstlerinnen und Künstlern, die im Exil in Deutschland leben. Den Beginn macht ein Beitrag zu Forschungsstand und Methodik der Untersuchungen. Zudem werden statistische Angaben gemacht und Hintergrundinformationen gegeben. Danach wird auf die spezifischen Arbeits- und Lebensbedingungen der Exilkünstler eingegangen und es werden die Förderstrukturen und -systeme thematisiert, die ihnen zur Verfügung stehen. Zum Schluss werden Handlungsempfehlungen und ein Fazit gegeben. Abgerundet wird das Buch durch ein Literaturverzeichnis und einen Anhang mit Interviews, Veranstaltungen und Verweisen auf Förderprogramme und -institutionen.

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Andreas Lienkamp. Aufstand für das Leben. »Die Bremer Stadtmusikanten« und »Der Hauptmann von Köpenick« – Zum 200. Geburtstag des Grimm’schen und zum 90. Des Zuckmayer’schen Märchens. Baden-Baden: Tectum Verlag, 2019, 610 pp., Ill., 58,00 € [978-3-8288-4383-7]. In this book, Andreas Lienkamp, professor for Christian Social Sciences at the University of Osnabrück, shows how the fairy tale »Bremen Town Musicians« by the Brothers Grimm, which had its two hundredth anniversary in 2019, is connected to Carl Zuckmayer’s »German fairy tale«, the »Captain of Köpenick«, which itself reached its ninetieth anniversary in 2020, illustrating the connections between the authors of the two stories, as well those between the two texts. Following a foreword and an introduction, the monograph is structured into six main chapters, the first five of which are subdivided in turn, outlining: (1) basic information on both texts; (2) their fundamental character as stories of exclusion; (3) the events constituting their respective plots; (4) the connection between both fairy tales and their authors; (5) further key messages in the texts; and (6) the Altenburg enactment of the »Captain of Köpenick«. The last chapter in particular takes into account the current political situation in Germany and Europe, which is in parts shaped by the newly-increased strength of right-wing populist or even extreme right-wing parties, analysing the production of the aforementioned play on an East German theatre which caused substantial conflict. The study concludes with a summarising résumé. At the end of the book, a bibliography, a register of persons, an index of abbreviations, a list of figures and tables as well as an additional appendix can be found. Der Professor für christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück, Andreas Lienkamp, zeigt im vorliegenden Band auf, wie das Märchen Die Bremer Stadtmusikanten der Gebrüder Grimm, dessen Veröffentlichung sich 2019 zum zweihundertsten Mal jährte, mit Carl Zuckmayers im Jahr 2020 sein neunzigjähriges Jubiläum feierndem »deutschen Märchen« Der Hauptmann von Köpenick zusammenhängt und was deren Autoren sowohl untereinander als auch mit den beiden Texten verbindet. Im Anschluss an ein Vorwort und eine Hinführung ist die Monographie aufgeteilt in sechs Hauptkapitel, von denen die ersten fünf wiederum untergliedert sind und die sich im Anschluss an eine Untersuchung der Rahmendaten beider Texte (1), deren grundsätzlichem Charakter als Geschichten von Exklusion (2) und des in ihnen erzähltem Geschehens (3), den Berührungspunkten zwischen den Märchen und ihren Autoren (4), weiteren zentralen Botschaften (5) sowie abschließend kurz der Altenburger Inszenierung des Hauptmanns von Köpenick (6) widmen. Besonders das letzte Kapitel hat dabei die gegenwärtige politische Lage in Deutschland und Europa – mitgeprägt vom Wiedererstarken rechtspopulistischer bis rechtsextremer Parteien – im Blick und analysiert deshalb diese besondere Inszenierung des Stücks an einem ostdeutschen Theater, welche erhebliche Konflikte auslöste. Abschließend erfolgt ein zusammenfassendes Resümee der Studie und es werden Verzeichnisse der verwendeten Literatur, der erwähnten Personen, der Abkürzungen, Abbildungen und Tabellen sowie ein ergänzender Anhang präsentiert.

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Manuel Limbach. Bürger gegen Hitler. Vorgeschichte, Aufbau und Wirken des bayerischen »Sperr-Kreises«. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2019 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 102), 577 pp., 80,00 € [978-3-525-31071-7]. In this publication, author Manuel Limbach investigates the history, actions and impact of the so-called »Sperr-Kreis«. The 66 members of this Bavarian resistance group were recruited primarily from the middle-class spectrum of society and attempted to use their social position to act against National Socialism in Germany. The author analyses the motives, goals and origins of the resistance group on the basis of a comprehensive body of source material. Within the framework of individual biographical approaches, he focuses on the most important actors and also addresses interconnections between the »Sperr-Kreis« and the attempted coup of 20 July 1944. Through this analysis, Manuel Limbach complements resistance research and provides an insight into the inner life of a hitherto largely ignored resistance circle. The volume concludes with a comprehensive list of sources and literature as well as an index of persons. Der Autor Manuel Limbach setzt sich in dieser Publikation mit der Geschichte, dem Handeln und der Wirkung des sogenannten »Sperr-Kreises« auseinander. Die 66 Mitglieder dieser bayerischen Widerstandsgruppe rekrutierten sich vornehmlich aus dem bürgerlichen Spektrum und versuchten, ihre gesellschaftliche Stellung zu nutzen, um gegen den Nationalsozialismus in Deutschland zu agieren. Der Autor analysiert auf Basis einer umfassenden Quellengrundlage die Motive, Ziele und Wurzeln der Widerstandsgruppe. Er fokussiert im Rahmen individualbiografischer Ansätze die wichtigsten Akteure und thematisiert darüber hinaus die Verflechtung des »Sperr-Kreises« mit dem Umsturzversuch vom 20. Juli 1944. Durch die Analyse ergänzt Manuel Limbach die Widerstandsforschung und gibt einen Einblick in das Innenleben eines bisher meist unbeachteten Widerstandskreises. Der Band schließt mit einem umfassenden Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einem Personenregister. Emily Löffler. Kunstschutz im besetzten Deutschland. Restitution und Kulturpolitik in der französischen und amerikanischen Besatzungszone (1944–1953). Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2019 (Brüche und Kontinuitäten. Forschung zu Kunst und Kunstgeschichte im Nationalsozialismus 3), 416 pp., 60,00 € [978-3-412-51425-9]. The overarching topic of this work is the systematic art theft and looting committed by the National Socialist Third Reich regime, and the subsequent restitution of cultural assets after the end of World War II. The author illustrates how the Allies organised and carried out this restitution process and which objects were of interest. Approaching the issue chronologically, she distinguishes between three distinct phases: the first before 1945, the second between 1945 and 1949, and the third after 1949. In doing so, cooperation between the Allied Powers, especially between France and the United States, is taken a closer look at, and differences in policy and practice are being highlighted. Furthermore, problems in the restitution process are dealt with, inter alia, the conflict between restitution and reparation claims. Moreover, several specific

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actors and their roles in the restitution process are being outlined. The book contains an index of used sources and literature as well as a name register. Dieses Buch widmet sich dem Kunstraub durch die Nationalsozialisten und der Rückführung der Kulturgüter nach dem Krieg. Dabei wird dargestellt, wie die Alliierten die Restitution organisiert und durchgeführt haben und welche Kulturobjekte in Betracht gezogen wurden. Ebenfalls wird die Zusammenarbeit zwischen den Alliierten, insbesondere zwischen Franzosen und Amerikanern behandelt. Das Buch nähert sich der Restitutionspolitik chronologisch und nimmt die Phasen vor 1945, zwischen 1945 und 1949, sowie nach 1949 jeweils einzeln in den Blick. Auch die verschiedenen Vorgehensweisen unter den Siegermächten sind Teil der Betrachtungen. Weiterhin werden verschiedene Probleme der Restitutionspolitik thematisiert, beispielsweise der Konflikt zwischen Rückführung und Reparationsforderungen. Ebenfalls werden die einzelnen Akteure und ihre Rolle bei der Restitution näher beleuchtet. Das Buch enthält ein Literatur- und Quellenverzeichnis sowie ein Personenregister. Markus Mirschel. Bilderfronten. Die Visualisierung der sowjetischen Intervention in Afghanistan 1979–1989. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2019 (Osteuropa in Geschichte und Gegenwart 5), 570 pp., Ill., 85,00 € [978-3-412-51495-2]. By targeted use of arranged and propagandistic photographs, the Soviet government tried to shape opinion on and perception of the intervention in Afghanistan (1979–1989) in its favour. The domestic population was supposed to see only selected images, pre-approved by Soviet leadership, of the war in Afghanistan. In this study, Markus Mirschel shows how the war was staged through these photographic documents, addressing the political significance of these visualisations of war. He also discusses the extent to which the Soviet leadership lost its authority to interpret the conflict and which social processes and transformations resulted as a consequence. With over 151 illustrations and a detailed analysis, the author provides an insight into the subject area and completes the research work with a detailed index of sources, subjects and persons. Die sowjetische Regierung versuchte durch den gezielten Einsatz von gestellten und propagandistischen Fotografien die Meinung und die Vorstellung über die Intervention in Afghanistan (1979–1989) zu ihren Gunsten zu bestimmen. Die heimische Bevölkerung sollte ausschließlich ausgewählte und von der sowjetischen Führung legitimierte Bilder des Krieges in Afghanistan zu sehen bekommen. Markus Mirschel zeigt in dieser Studie die Inszenierung des Krieges durch diese Fotodokumente und thematisiert die politische Bedeutung dieser Visualisierungen des Krieges. Er diskutiert hierbei aber auch, inwieweit die sowjetische Führung die Deutungshoheit über den Konflikt verlor und welche gesellschaftlichen Prozesse und Transformationen sich hieraus ergaben. Der Autor gibt mit über 151 Abbildungen und einer detaillierten Analyse einen Einblick in den Themenbereich und komplettiert die Forschungsarbeit mit einem ausführlichen Quellen-, Sach- und Personenregister.

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Christoph Nübel. Dokumente zur deutschen Militärgeschichte 1945–1990. Bundesrepublik und DDR im Ost-West-Konflikt. Berlin: Ch. Links. 2019 (Deutsch-Deutsche Militärgeschichte 1), 986 pp., 80,00 € [978-3-96289-070-4]. This research work focuses on East-West German military history from 1945 to 1990 and, with the help of over 200 previously unpublished documents, provides deep insight into the military nature and strategic importance of the Federal Republic of Germany and the GDR during the Cold War. By chronologically investigating the militarisation of the two German states, the book makes an illuminating contribution to post-war history. In the event of an actual outbreak of war, Europe, and especially Germany, would have been the primary battleground of a Third World War. Due to this strategic importance, Germany developed into a central military agglomeration area on both sides of the dividing wall, where highly-armed soldiers of the Bundeswehr and the National People’s Army stood virtually face-to-face. In addition to a document-oriented analysis of the military nature of both armies and their tactical significance for the great powers, the volume deals with the sociological implications that such militarisation entailed. The study ends with a detailed list of sources and literature as well as an index of persons and a subject index. Diese Forschungsarbeit thematisiert die deutsch-deutsche Militärgeschichte von 1945 bis 1990 und gibt anhand von über 200 bisher unveröffentlichten Dokumenten einen tiefen Einblick in die militärische Beschaffenheit und strategische Bedeutung der Bundesrepublik und der DDR im Kalten Krieg. Durch die chronologische Wiedergabe der Militarisierung der beiden deutschen Staaten leistet der Band einen erhellenden Beitrag zur Nachkriegsgeschichte. Im Falle eines tatsächlichen Kriegsausbruches wären Europa, und besonders Deutschland, das primäre Schlachtfeld eines Dritten Weltkrieges gewesen. Durch diese strategische Bedeutung entwickelte sich Deutschland auf beiden Seiten der trennenden Mauer zu einem militärischen Ballungszentrum, in dem sich Soldaten der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee hochgerüstet gegenüberstanden. Neben der dokumentgeleiteten Analyse der militärischen Beschaffenheit beider Armeen und deren taktischer Bedeutung für die Großmächte behandelt der Band die sozialwissenschaftlichen Implikationen, die eine solche Militarisierung mit sich brachte. Die Untersuchung endet mit einem ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnis sowie einen Personen- und einem Sachregister. Peter Pantzer, Nana Miyata (eds.). Mit der S.M.S. Kaiserin Elisabeth in Ostasien. Das Tagebuch eines Unteroffiziers der k.u.k. Kriegsmarine (1913–1920). Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2019, 389 pp., Ill., 45,00 € [978-3-205-23256-8]. This book is an edited and commented version of the diary of Friedrich Kirchner, who served on board the »S.M.S. Kaiserin Elisabeth« and who was later taken prisoner of war by Japanese forces in the First World War. The book begins with a historical introduction, contextualising the diary. The subsequent main body of the book is made up of the diary itself which covers a time period from August 1913 to November 1915, including the »Kaiserin Elisabeth«’s voyage in East Asia, the Battle of Tsingtau and the eventual imprisonment of the sailors.

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Kirchner’s records are supplemented with comments and illustrations. Towards the end, there is an additional, in-depth analysis illustrating the situation of prisoners of war in Japan and their subsequent return to Europe. The book contains a bibliography and a source directory, as well as a name register. Die Herausgeber stellen mit diesem Werk eine bearbeitete und kommentierte Version des Tagebuchs des Matrosen Friedrich Kirchner zur Verfügung, der an Bord des Kreuzers Kaiserin Elisabeth diente und später in japanische Kriegsgefangenschaft geriet. Das Buch beginnt mit einer historischen Einordnung, in der u. a. auf die politische Situation der damaligen Zeit eingegangen wird, und ordnet damit das Tagebuch in seinen zeitgenössischen Kontext ein. Den Kern des Werkes stellt das Tagebuch selbst dar, das den Zeitraum von August 1913 bis November 1915 umfasst. Beschrieben werden darin die Reisen der Kaiserin Elisabeth in Ostasien, die Schlacht um Tsingtau und die Gefangennahme der Matrosen. Dabei werden Kirchners Einträge durch Illustrationen und Kommentare ergänzt. Am Ende des Buches findet sich ein vertiefender wissenschaftlicher Beitrag über die Kriegsgefangenschaft in Japan und die spätere Rückkehr der Soldaten in die Heimat. Ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein Namensregister sind ebenfalls enthalten. Susanne Rohr. Von Grauen und Glamour. Repräsentationen des Holocaust in den USA und Deutschland. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2021 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 409), 386 pp., 36,00 € [978-3-8253-4755-0]. In her analysis, Susanne Rohr examines how the Holocaust is perceived in today’s society, focusing on its portrayal in Germany and the USA. While any ironic connotation with the Holocaust was still unthinkable in the 1990s, numerous concentration camp comedies have broken with this taboo. The question arose then and still arises today as to whether it is permissible to laugh about it, and Rohr focuses her analysis precisely on this taboo subject. The book’s introduction discusses the extent to which the Holocaust is still a subject of discussion at all, or whether, with a multitude of aspects extensively discussed in the past years and decades, discourse on the subject has faded out. Next, the author then analyses precisely how taboos were broken in Holocaust comedies, examining artistic, literary, and media approaches. A special focus is then placed on the topic of »dialogues in literature«, with a comparison of not only Thomas Lehr, Kevin Vennemann, and Katja Petrowskaja, but also of »Jewish-American literature« and »German-Jewish literature« in general. In an innovative way, Rohr highlights the significance of remembrance work that is becoming increasingly diverse across countries, looking at Nora Krug’s graphic memoir »Belonging«. A bibliography is provided at the end of the volume. Susanne Rohr widmet sich in ihrer Untersuchung dem Umgang mit dem Holocaust in unserer heutigen Gesellschaft. Im Fokus steht dabei, wie dieser aktuell in Deutschland und den USA dargestellt wird. Da noch in den 1990er Jahren eine ironische Konnotation mit dem Holocaust undenkbar war, dennoch zahlreiche KZ-Komödien mit diesem Tabu brachen, stellte damals und stellt sich auch heute die Frage, ob man über diesen lachen darf. Rohr richtet den Schwerpunkt ihrer Analyse gerade auf dieses Tabuthema. Der Ein-

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stieg in das Buch erörtert, inwieweit der Holocaust überhaupt noch thematisiert wird oder bereits »auserzählt« sein könnte. Anschließend analysiert die Autorin den Tabubruch der Holocaust-Komödie anhand einer Auseinandersetzung mit künstlerischen, literarischen und medialen Ansätzen. Einen besonderen Schwerpunkt erfährt anschließend das Thema »Dialoge in der Literatur«, wobei neben Thomas Lehr, Kevin Vennemann und Katja Petrowskaja auch allgemein »Jewish-American literature« der »deutsch-jüdischen Literatur« gegenübergestellt wird. Innovativ stellt Rohr die Signifikanz der länderübergreifend immer offener werdenden Erinnerungsarbeit heraus und betrachtet dabei Nora Krugs Graphic Memoir Belonging . Eine Bibliografie rundet den Band ab. Stefanie Schüler-Springorum, Jan Süselbeck (eds.). Emotionen und Antisemitismus. Geschichte – Literatur – Theorie. Göttingen: Wallstein, 2021 (Studien der Ressentiments in Geschichte und Gegenwart 5), 250 pp., 28,00 € [978-3-8353-3905-7]. In this collection, several authors examine the connections between emotions and anti-Semitism. Various case studies illustrate the consequences of hatred against Jews, from the 19th century to the present day. The authors discuss what emotions can be evoked by literary and media representations, and how anti-Semitic agents use this to their advantage. Furthermore, the emotional development with respect to anti-Semitism is explored, and the extent to which emotions can contribute to overcoming it is being examined. In addition, the question is being addressed whether a possible re-labelling of the term »anti-Semitism« would make sense, that is, whether it would be better to speak of an »anti-Jewish attitude« or »anti-Jewish aversion«. In diesem Sammelband setzen sich zahlreiche Autor:innen mit dem Zusammenhang von Emotionen und Antisemitismus auseinander. Verschiedene Fallstudien beleuchten die Auswirkungen des Judenhasses vom 19. Jahrhundert bis zur heutigen Zeit. Die Autor:innen erörtern, welche Emotionen durch die literarischen sowie medialen Präsentationen hervorgerufen werden und wie antisemitisch Handelnde dies zu ihrem Vorteil nutzen. Weiterhin wird der emotionalen Entwicklung bezüglich des Antisemitismus nachgegangen und untersucht, inwieweit Gefühle zur Bewältigung des Judenhasses beitragen können. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, ob eine mögliche Neubezeichnung des Antisemitismus sinnvoll wäre, ob also eher von einer antijüdischen Haltung, bzw. Abneigung gesprochen werden sollte. Erhard Schütz. Mediendiktatur Nationalsozialismus. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2019 (Reihe Siegen. Beiträge zur Literatur, Sprach- und Medienwissenschaft 179), 422 pp., Ill., 48,00 € [978-3-8253-4628-7]. In this study, National Socialism is examined and interpreted from an unorthodox perspective: the Hitler regime is analysed primarily as a media dictatorship. The struggle for the interpretation of reality is analysed with the help of examples that show the almost mythologising appropriation of aesthetic and cultural sections, such as the »original German« forest or the supposedly »German autobahn«. Another focus here is laid on the media staging of the »air empire« with the corresponding heroisation of aviators, e.g. in feature films and documentaries.

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On the basis of his analyses, Erhard Schütz shows that the National Socialist media dictatorship was characterised by a simultaneity of brutality and cosy harmony. These were not diametrically opposed poles of a torn society, but interwoven aspects of National Socialist tyranny. It is only by illustrating this ambivalence that the essence of aesthetic and media appropriation and of the National Socialist world itself becomes apparent. The volume concludes with an index of persons. In dieser Untersuchung wird der Nationalsozialismus aus einer unorthodoxen Perspektive beleuchtet und interpretiert. Das Hitler-Regime wird vornehmlich als Mediendiktatur analysiert. Anhand von Beispielen, welche die schon fast mythologisierende Vereinnahmung ästhetischer und kultureller Sektionen zeigen sollen, wie dem »urdeutschen« Wald oder der angeblich »deutschen Autobahn«, wird der Kampf um die Deutung der Realität nachgezeichnet. Ein weiterer Schwerpunkt ist hierbei die mediale Inszenierung des »Luft-Reiches« mit einhergehender Heroisierung der Flieger z. B. in Spiel- und Dokumentarfilmen. Anhand seiner Analysen zeigt Erhard Schütz auf, dass die nationalsozialistische Mediendiktatur sich durch eine Gleichzeitigkeit von Brutalität und gemütlicher Harmonie charakterisierte. Dies seien keine diametralen Pole einer zerrissenen Gesellschaft gewesen, sondern ineinander verwobene Aspekte der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Erst das Beleuchten dieser Ambivalenz zeigt das Wesen der ästhetischen und medialen Vereinnahmung und der nationalsozialistischen Welt selbst. Der Band schließt mit einem Personenregister. Thomas Seibert. Machtkampf am Mittelmeer. Neue Kriege um Gas, Einfluss und Migration. Berlin: Ch. Links Verlag, 2021, 240 pp., 18,00 € [978-3-96289-111-4]. The Eastern Mediterranean is currently at the focus of public attention primarily as a region of war and crisis. Examples such as the wars in Syria and Libya, the Cyprus conflict, the Israeli-Palestinian conflict, or the collapse of governmental institutions in Lebanon illustrate the situation. But the instability is not limited to the region alone. Instead, it is exported to Europe and the whole world, as the wave of migration from 2015 – which among other things caused the rise of right-wing populist parties in Europe – clearly shows. With his monograph, Thomas Seibert, who as a correspondent has been reporting from Turkey and West Asia for more than 20 years, attempts to provide a general overview on the multitude of conflicts and wars in this world region, as well as their geopolitical effects. The book, in which each chapter can be read as a stand-alone analysis in its own right, is divided into two parts. In the first part, the different roots of the many crises and problems in the Eastern Mediterranean are described. Proceeding from a historical overview, which covers the most important developments in the region from the ancient world up to modern times, and includes studies of both the so-called Arab Spring as an important trigger for the current situation and the European migrant crisis from 2015, the changing roles of the USA, Russia, and Turkey are examined. The second part provides analyses of the different conflicts which are taking place in the region at the moment, or have been taking place recently. These include the Cyprus conflict as well as the 2018 Cyprus gas dispute, the war in Syria, the crisis in Lebanon, the Israeli-Palestinian conflict, and the regime of military generals in Egypt. After a chapter on the terrorism of the IS and the PKK,

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the book concludes with examinations of the Turkish-Russian alliance and the role of the EU. At the end, a bibliography as well as maps of the region can be found. Das östliche Mittelmeer steht gegenwärtig vor allem als Kriegs- und Krisenregion im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Beispiele wie die Kriege in Syrien und Libyen, der Konflikt um Zypern, der israelisch-palästinensische Konflikt oder das Zusammenbrechen staatlicher Institutionen im Libanon machen dies deutlich. Dabei ist die Instabilität der Region jedoch keineswegs lokal begrenzt. Stattdessen wird sie in die Welt und nach Europa exportiert, wie unter anderem das Erstarken rechtspopulistischer Parteien im Zuge der Migrationswelle von 2015 zeigte. Mit seiner Monografie versucht Thomas Seibert, der in seiner Rolle als Korrespondent seit mehr als 20 Jahren über die Türkei und Westasien berichtet, einen Überblick über die Vielzahl an Konflikten und Kriegen in dieser Weltregion und deren teils geopolitische Auswirkungen zu geben. Das Buch, in dem jedes Kapitel als für sich stehende Analyse gelesen werden kann, ist dabei in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil werden die verschiedenartigen Ursprünge der vielen Krisen und Probleme im östlichen Mittelmeerraum beschrieben. Ausgehend von einem historischen Überblick, der die wichtigsten Entwicklungen in der Region von der Antike bis zur Neuzeit beschreibt, einer Einordnung des sogenannten Arabischen Frühlings als maßgeblichem Mitauslöser der gegenwärtigen Lage und einer Betrachtung der Flüchtlingskrise von 2015, werden dabei nicht zuletzt die sich verändernden Rollen der Türkei, der USA und Russlands beleuchtet. Im zweiten Teil werden anschließend die verschiedenen Konflikte analysiert, welche die Region gegenwärtig beschäftigen oder kürzlich beschäftigt haben. Dazu zählen der Zypern-Konflikt sowie der Gasstreit im Mittelmeer, der Syrien-Krieg und die Krise im Libanon sowie der israelisch-palästinensische Konflikt und die Herrschaft der Generäle in Ägypten. Nach einer Betrachtung des Terrorismus vonseiten des IS und der PKK werden abschließend das türkisch-russische Bündnis sowie die Rolle der EU untersucht. Am Ende der Arbeit finden sich ein Literaturverzeichnis und Karten der Region. Hermann Stresau. Von den Nazis trennt mich eine Welt. Tagebücher aus der inneren Emigration. Stuttgart: Klett-Cotta, 2021, 439 pp., 24,00 € [978-3-608-98329-6]. Hermann Stresau’s diaries, annotated by the editors, deal with the pre-war period and the National Socialist Party‘s rise to power. From his personal perception, he describes the change in the political climate in Germany and how this affected his own psyche in the wake of increasing right-wing influence. As a critical observer of political events, he also ends up being critical of himself. The editors of the book supplement the diary entries from 1933-1939 with previously abridged passages from Stresau’s notes and attempt to reintegrate them into the overall work. The diary entries, arranged by year, are also enriched by comments and annotations. The annotations can be found in the appendix along with an afterword, an editorial note, and an illustrated biography. Die von den Herausgebern kommentierten Tagebücher Hermann Stresaus befassen sich mit der Vorkriegszeit und der Machtergreifung der Nationalsozialistischen Partei. Aus seiner

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persönlichen Wahrnehmung heraus beschreibt er den Wandel des politischen Klimas in Deutschland und wie sich dieser im Zuge der zunehmenden rechten Einflussnahme auf seine eigene Psyche auswirkt. Als kritischer Beobachter des politischen Geschehens tritt er sich am Ende auch selbstkritisch gegenüber. Die Herausgeber des Buches ergänzen die Tagebucheinträge von 1933-1939 um bisher gekürzte Textstellen aus den Aufzeichnungen Stresaus und versuchen diese wieder in das Gesamtwerk zu integrieren. Die nach Jahren gegliederten Tagebucheinträge werden außerdem durch Kommentare und Anmerkungen bereichert. Die Anmerkungen lassen sich zusammen mit einem Nachwort, einer editorischen Notiz und einer bebilderten Biographie im Anhang finden. Felicitas Fischer von Weikersthal, Tanja Penter, Dorothea Redepenning (eds.). Oktoberrevolution 1917. Ereignis, Rezeption, künstlerische Deutung. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2020 (Heidelberger Abhandlungen zur Mittleren und Neueren Geschichte 25), 285 pp., Ill., 48,00 € [978-3-8253-6914-9]. The volume was published following a lecture series organised by the Heidelberg Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften (ZEGK) on the occasion of the 100th anniversary of the October Revolution. In the context of this series, Heidelberg scholars from history, musicology and literary studies, art history, and sinology investigated this historical event from many different perspectives. Therefore, their studies do not just focus on the immediate effects which the revolution of 1917 had on art and society of the emerging Bolshevik state, but also on its global reception by the arts as well as the constant resonance of the revolutionary events until the present day. Accordingly, following an introductory section, the publication is divided into four thematic sections, which chronologically discuss the predevelopment of the October Revolution, the event as such, its worldwide reception, and lastly, in five more articles, various questions relating to the revolution’s interpretation in literature, film, and music. Der Sammelband folgt einer 2017 anlässlich des einhundertsten Jahrestages der Oktoberrevolution vom Heidelberger Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften (ZEGK) ausgerichteten Ringvorlesung. In deren Rahmen haben sich Heidelberger Wissenschaftler:innen aus den Geschichts-, Musik- und Literaturwissenschaften, der Kunstgeschichte und der Sinologie aus verschiedensten Perspektiven mit diesem welthistorischen Ereignis auseinandergesetzt. Das Interesse der Untersuchungen gilt dementsprechend nicht ausschließlich den unmittelbaren Auswirkungen der Revolution von 1917 auf Kunst und Gesellschaft des entstehenden bolschewistischen Staates, sondern ebenso deren globaler Rezeption durch die Künste sowie daran anschließend dem fortwährenden Nachhall der Revolutionsereignisse bis in die Gegenwart. Folglich ist der Band, im Anschluss an einen einleitenden Teil, auch gegliedert in vier thematische Abschnitte, welche zuerst chronologisch »Vorspiel«, »Ereignis« und die weltweite »Rezeption« der Oktoberrevolution behandeln, sowie im Anschluss daran in fünf weiteren Aufsätzen deren Deutung durch Literatur, Film und Musik.

Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe Contributors to this Edition

Alena Acil; Studentin der Kunstgeschichte und Erziehungswissenschaften an der Universität Osnabrück / Student of Art History and Educational Science at the University of Osnabrück. Dr. Thomas Amos; Dozent für Literatuwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt/Main (Deutschland); er promovierte im Fach Romanistik über Beziehungen zwischen Phantastik, Architektur und Manierismus; derzeit Habilitationsprojekt zum Ballett­libretto / lecturer in literary studies at the Goethe University in Frankfurt/Main (Germany) and received his doctorate in Romance studies on the relationship between fantasy, architecture and mannerism; currently his habilitation project on the ballet libretto. Fabian Brändle; Historiker; er forscht und publiziert zur Geschichte der Volkskultur, zur popularen Autobiographik, zur Geschichte der demokratischen Bewegungen sowie zur Sozialgeschichte des Sports. Er lebt in Zürich (Schweiz) / historian; he researches and publishes on the history of folk culture, popular autobiography, the history of democratic movements and the social history of sport. He lives in Zurich (Switzerland). Christoph Deupmann, PD Dr.; Professor am Beijing Institute of Technology für »Neuere deutsche Literatur« (China) sowie am Institut für Germanistik des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) (Deutschland); Literatur und Zeitgeschichte im Medienzeitalter sowie das Thema »Literatur und Gewalt« zählen zu seinen Forschungsgebieten / Professor at the Beijing Institute of Technology for »Modern German Literature« (China) and at the Institute for German Studies at the Karlsruhe Institute of Technology (KIT) (Germany); Literature and contemporary history in the media age as well as the topic of »literature and violence« are among his research areas. Marc Hieger, OStR; Germanist; lehrt an der Deutschen Schule/Colégio Alemán in Santa Cruz de la Sierra (Bolivien) / Germanist; teaches at the German School/Colégio Alemán in Santa Cruz de la Sierra (Bolivia). Thomas F. Schneider, PD Dr.; Leiter des Erich Maria Remarque-Friedenszentrums Osnabrück (Deutschland); lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Osnabrück und an der Universität der Bundeswehr München (Deutschland); Arbeitsschwerpunkte:

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Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe

Neueste Deutsche Literatur; Deutsche Literatur zum I. und II. Weltkrieg; Kriegs- und AntiKriegsliteratur des 20. und 21. Jahrhunderts; Repräsentationen von Krieg und Frieden in den Medien; Erich Maria Remarque; Deutsche Exilliteratur / Director of the Erich Maria Remarque Peace Centre Osnabrück (Germany); teaches Modern German Literature at the University of Osnabrück and at the University of the Federal Armed Forces Munich (Germany); main areas of work: Modern German Literature; German Literature on I. and II. World War I and II; war and anti-war literature of the 20th and 21st centuries; representations of war and peace in the media; Erich Maria Remarque; German exile literature. Matthias Schöning, PD Dr.; Akademischer Oberrat für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Konstanz (Deutschland); zu seinen Forschungsinteressen gehören neben der Frühromantik, Romantik und Romantikritik die Themenfelder »Literatur und Krieg«, »DDR-Literatur« sowie die Betrachung von Literaturen in realgeschichtlichen Handlungszusammenhängen / Senior academic councillor for Modern German Literature at the University of Konstanz (Germany); his research interests include early Romanticism, Romanticism and Romantic Criticism, the topics of »Literature and War«, »GDR Literature« and the examination of literatures in real-historical contexts of action. Bernd F. W. Springer, Prof. Dr.; Professur an der Universitat Autònoma de Barcelona (Spanien); zu seinen Forschungsgebieten gehören neben der Historischen Kulturwissenschaft und der Romantik auch Exilliteratur und Literatur seit 1945, wobei er speziell über Deutsche Literatur und Krieg, Deutsche Kultur- und Mentalitätsgeschichte sowie interkulturelle Kommunikatione zwischen Deutschland und Spanien forscht / Professor at the Universitat Autònoma de Barcelona (Spain); in addition to historical cultural studies and Romanticism, his research areas include exile literature and literature since 1945, with special emphasis on German literature and war, German cultural and mental history, and intercultural communication between Germany and Spain.