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German Pages 156 Year 2011
Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 213
Wenn das Volk (mit)entscheidet ... Wechselbeziehungen und Konfliktlinien zwischen direkter und indirekter Demokratie als Herausforderung für die Rechtsordnung
Von
Mario Martini
Duncker & Humblot · Berlin
MARIO MARTINI
Wenn das Volk (mit)entscheidet …
Schriftenreihe der Hochschule Speyer Band 213
Wenn das Volk (mit)entscheidet … Wechselbeziehungen und Konfliktlinien zwischen direkter und indirekter Demokratie als Herausforderung für die Rechtsordnung
Von Mario Martini
Mit einem Abdruck der wichtigsten (landes)verfassungsrechtlichen und kommunalrechtlichen Bestimmungen zu Volks- und Bürgerentscheiden
Duncker & Humblot · Berlin
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Vorwort Die Auseinandersetzungen um das Projekt „Stuttgart 21“ haben die Diskussion um das Verhältnis von direkter und indirekter Demokratie neu entfacht. Manchem erscheint der Konflikt als ein „Betriebsunfall“ oder eine technische Störung eines insgesamt hervorragend funktionierenden, bewährten Systems, andere sehen demgegenüber die Demokratie insgesamt „auf dem Abstellgleis“ und meinen Verschleißerscheinungen und systemische Risiken eines politischen Ordnungsgefüges zu erkennen, das mit der dynamischen Veränderung seiner Rahmenbedingungen in einer modernen Gesellschaft nicht mehr angemessen Schritt hält. Bei vielen Bürgern ist der Eindruck entstanden, dass das gegenwärtige System parlamentarischer Demokratie und einer begleitenden Öffentlichkeitsbeteiligung von Planungsverfahren nicht in hinreichender Weise dafür bürgt, dass Hoheitsakte dem tatsächlichen Willen der Bevölkerung und damit dem demokratischen Gebot politischer Selbstbestimmung entsprechen. Die Integrations- und Legitimationskräfte der repräsentativen Demokratie scheinen zu erlahmen. Das Spannungsverhältnis zwischen direkter und indirekter Demokratie, das sich beispielhaft an der Auseinandersetzung um das Projekt „Stuttgart 21“ oder der Dresdner Waldschlösschenbrücke offenbart, haben die Landesverfassungen und Gemeindeordnungen bewusst angelegt. Sie haben den jeweiligen Repräsentativorganen Kontrastinstrumente gegenübergestellt, mit deren Hilfe das Volk in Einzelfragen Einfluss zu nehmen vermag. Aus ihrem Nebeneinander erwächst eine Fülle anspruchsvoller Rechtsfragen, die einer Klärung harren. Nicht alle sucht dieses Werk in einem Rundumschlag umfassend darzustellen und zu beantworten. Vielmehr geht es ihm um einen pointierten Überblick über die Reibungspunkte zwischen den beiden Wegen der Erzeugung demokratischer Willensentscheidungen, der schlaglichtartig die wichtigsten Konfliktlinien beleuchtet. Einen ungewöhnlichen, aber für das Verständnis des Geflechts direktdemokratischer Mitwirkungselemente hilfreichen Ansatz verfolgt das Werk insofern, als es nicht lediglich jeweils nur die kommunale oder staatliche Bürgermitwirkung in den Blick nimmt, sondern die ihnen gemeinsamen Parallelprobleme herauszuschälen und entlang dem Ablaufpfad von plebiszitären Mitwirkungsinstrumenten zu erörtern sucht.
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Vorwort
Den Mitarbeitern meines Lehrstuhls danke ich für fruchtbare Diskussionen und die gemeinsame Optimierung des Textes sowie für die redaktionelle Bearbeitung, allen voran Florian Ammerich, Corinna Aschenbrenner, Raoul Blumenberg, Julia Oberländer, Hanna Sammüller, Alexander Schuhmann und Quirin Weinzierl. Speyer, im September 2011
Mario Martini
Inhaltsverzeichnis I.
Das Volk im Nacken der classe politique – zur verstärkten Wahrnehmung von Elementen direkter Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Seitenblick in das Mutterland neuzeitlicher direkter Demokratie . . . . . . . 2. Direkte Demokratie als Herausforderung für die politische und verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland; Überblick über den Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II. Der (verfassungs-)rechtliche Rahmen plebiszitärer Elemente . . . . . . . . . . 1. Bundesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Landesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kommunale Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Europäische Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Berührungspunkte und Konfliktlinien zwischen plebiszitärer und repräsentativer Demokratie bei dem Ringen um die Vorherrschaft in der demokratischen Willensbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Eröffnung der Konkurrenz zwischen beiden Willensbildungsmechanismen der Demokratie: Die Entscheidung über die Zulässigkeit eines Volksbegehrens bzw. Bürgerbegehrens als Nadelöhr des demokratischen Teilhabeprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gebot der Sachlichkeit und Bestimmtheit; Koppelungsverbot . . . . . . b) Der Haushaltsvorbehalt als Handlungsgrenze der vox populi . . . . . . . aa) Erkenntnisse der Ökonomik zur Rolle des Bürgers als „Kämmerer“; verfassungspolitische Würdigung . . . . . . . . . . . . . . bb) Das „Haushaltsgesetz“ als plebiszitäre Handlungssperre, insbesondere im Kontext des Referendums zu dem Projekt „Stuttgart 21“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der (Staats-)Haushaltsvorbehalt und sein Inhalt . . . . . . . . . . . . . . dd) Ausschlussvorbehalt für Finanzfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erledigung des Volks- bzw. Bürgerbegehrens durch Übernahme des Anliegens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Einflussnahme durch amtliche Stellungnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Sperrwirkung von Volks- bzw. Bürgerbegehren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bindungswirkung und Rangverhältnis von Volks- bzw. Bürgerentscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Durchsetzungsmacht von Volks- und Bürgerentscheiden gegenüber bereits begründeten vertraglichen Vereinbarungen – insbesondere zum Kündigungsrecht des Landes Baden-Württemberg im Falle des Projekts „Stuttgart 21“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis aa) § 60 Abs. 1 S. 1 LVwVfG als Hebel zur Auflösung von Vertragsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kostensteigerung als wesentliche Änderung tatsächlicher Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Änderung der politischen Mehrheitsverhältnisse im Volk . . bb) Gesetzliche Aufhebung der Vertragspflichten durch Volksentscheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gesetzgebungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das Rechtsstaatsprinzip, insbesondere der Vertrauensschutz als Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verbot des Einzelfallgesetzes (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG) . . . . cc) Beschränkte Aufhebungsbefugnis von Bürgerentscheiden . . . . . . b) Durchsetzungsmacht von Volks- bzw. Bürgerentscheiden gegenüber bestehenden und späteren Parlamentsgesetzen bzw. Ratsbeschlüssen aa) Verhältnis von Bürgerentscheiden zu Ratsbeschlüssen . . . . . . . . . bb) Verhältnis von Volksentscheiden zu Parlamentsgesetzen . . . . . . . 6. Rechtsschutz – das Volk als Staats- bzw. Gemeindeorgan? . . . . . . . . . . . . a) Volksgesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bürgerentscheide . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Fazit; verfassungspolitische Desiderate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen . . I. Volksgesetzgebung – Auszüge aus den Landesverfassungen . . . . . . . . . . . a) Verfassung des Landes Baden-Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfassung des Freistaates Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verfassung von Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Verfassung des Landes Brandenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Verfassung der Freien Hansestadt Bremen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Verfassung des Landes Hessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern . . . . . . . . . . . . . . . . i) Niedersächsische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . j) Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Verfassung für Rheinland-Pfalz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l) Verfassung des Saarlandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . m) Verfassung des Freistaates Sachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . n) Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . o) Verfassung des Landes Schleswig-Holstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . p) Verfassung des Freistaats Thüringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bürgerbegehren in den Gemeinden – Auszüge aus den Gemeindeordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gemeindeordnung für Baden-Württemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97 97 97 98 99 101 102 104 106 107 108 109 111 112 113 115 116 118 119 119 121
Inhaltsverzeichnis c) d) e) f)
Gemeindeordnung für das Land Brandenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hessische Gemeindeordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunalverfassung für das Land Mecklenburg-Vorpommern . . . . Niedersachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Niedersächsische Gemeindeordnung (gültig bis 31.10.2011) . . . bb) Niedersächsisches Kommunalverfassungsgesetz (gültig ab 1.11.2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen . . . . . . . . . . . . . h) Gemeindeordnung für das Land Rheinland-Pfalz . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Kommunalselbstverwaltungsgesetz des Saarlandes . . . . . . . . . . . . . . . . j) Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . k) Gemeindeordnung für das Land Sachsen-Anhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . l) Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . m) Thüringer Gemeinde- und Landkreisordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
I. Das Volk im Nacken der classe politique – zur verstärkten Wahrnehmung von Elementen direkter Demokratie Der bekannteste deutsche Bahnhof ist ein solcher, den es noch gar nicht gibt: der Stuttgarter Durchgangsbahnhof. Landauf und landab wühlt er seit geraumer Zeit die Gemüter auf. Er war (und ist) Schauplatz eines „Staatstheaters auf der Straße“1, wie es das Ländle bislang selten gesehen hat – ähnlich wie vor nicht allzu langer Zeit die Dresdner Waldschlösschenbrücke, die die Menschen in Sachsen umtrieb und gegeneinander aufbrachte. Der Bau der Dresdner Brücke ging – insofern entgegengesetzt zum Fall des Projekts „Stuttgart 21“ – auf einen Bürgerentscheid im Jahre 2005 zurück. Die Frage: „Sind Sie für den Bau der Waldschlösschenbrücke?“, bejahten seinerzeit rund zwei Drittel der Dresdner Bürger. Damit schien der Schlussstrich unter eine Diskussion gezogen, die bereits seit 1876 geführt wird – die Elbquerung, die die Stadtteile Dresdens verbinden soll. Bislang jedoch verbindet die Brücke die Menschen in Dresden nicht, sie entzweit sie vielmehr – insbesondere seit die UNESCO dem Elbtal den Weltkulturerbe-Status aberkannt hat. Sowohl das Projekt „Stuttgart 21“ als auch die Dresdner Waldschlösschenbrücke sind zu einem Symbol geworden: zu einem Symbol für das Ringen einer Stadt um die beste städteplanerische Lösung, bei deren Findung die planfeststellungsrechtlichen Beteiligungsregeln im Gefolge ihrer Schwerfälligkeit und ihrer langen Vorlaufzeiten die erhoffte dauerhafte Befriedungswirkung nicht zu erzielen vermochten, als auch zu einem Symbol für die Wirkmächtigkeit bürgerlichen Aufbegehrens und den Mitgestaltungsanspruch des Volkes auf kommunaler bzw. Landesebene. In beiden Fällen gleicht die Kompromissfindung der Quadratur des Kreises. Sie wächst sich geradezu zum „Stresstest“ für das Modell der repräsentativen Demokratie aus. Es ist unverkennbar: Die direkte Demokratie – ihre belebende Dynamik, doch auch ihr Konfliktpotenzial – ist längst nicht nur in den Kommunen angekommen, sondern auch auf Landesebene. Ein aufmerksamer Blick auf unser Tagesgeschehen erhellt deren immer deutlicher wahrnehmbare Präsenz. Allenthalben nimmt die Zahl der Bürgerentscheide sprunghaft zu und immer häufiger geraten gewählte Regierungen und Parlamente, Gemeinde1
Leisner, NJW 2011, 33.
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räte und Bürgermeister hierdurch in Bedrängnis. Den Leitspruch des Kaisers Joseph II. „Alles für das Volk, nichts durch das Volk“ unserer Rechtsordnung eingeschrieben zu sehen, hieße einen verzerrten Blick auf unsere politische Realität werfen. Die Volksinitiative „Unser Hamburg – unser Netz“ etwa bereitet sich dieser Tage auf einen Volksentscheid vor, um einen Rückkauf der Versorgungsnetze durch die Hansestadt durchzusetzen; die Initiative „Wir wollen lernen“ hat mit Erfolg die bildungspolitischen Reformpläne des ehemaligen Hamburger Senats zerstört, die Initiative „Ja! Zum Nichtraucherschutz“ hat dem parlamentarischen Gesetzgeber in Bayern konsequenten Nichtraucherschutz verordnet. Für das Projekt „Stuttgart 21“ werden Ende November 2011 in einer Volksabstimmung die Weichen neu gestellt. Der Volksentscheid scheint zur Allzweckwaffe der „Protest-Republik“ avanciert zu sein, in dessen Lauf sich die Bürgerwut ungestaut, aber auch geordnet entladen kann.2 Einer Politik des „Durchentscheidens“ halten die Bürger den Wunsch nach einer Politik des „Gehörtwerdens“, gleichsam ein „Basta dem Basta“, entgegen, die das Lincoln’sche Demokratieideal eines „Government of the people, by the people, for the people“ zum Leben erweckt. Gleich, ob es nun die Schulpolitik, die künftige Ausrichtung der Energiepolitik oder das öffentliche Rauchverbot trifft: Es entstehen neue Architekturen politischer Teilhabe.3 Die Regierungen sind dabei vor der Empörung ihrer Bürger nicht mehr sicher.4 Das Gespenst der „Bürgerwut“ geht um in der deutschen Politik, der „Wutbürger“ („Wort des Jahres 2010“) ist zur Leitfigur eines neuen Bürgerverständnisses und einer Emanzipierung von bisherigen Politikverständnissen geworden, in der sich Unmut über eine als wachsend empfundene Kluft zwischen Regierenden und Regierten sowie der unbedingte Wille des Volkes zur Teilhabe an einer lebendigen und selbstbestimmten Demokratie breit macht. Das überkommene Modell repräsentativer Demokratie, das Vielen als Instrument der Aussperrung des souveränen Volkes aus den politischen Entscheidungsprozessen, gleichsam als eine Demokratie in homöopathischen Dosen, vorkommt,5 scheint auf dem Rückzug; das Vertrauen in die Befriedungswirkung seiner Entscheidungsmecha2 Rux, Direkte Demokratie in Deutschland, 2008, S. 906 f., spricht von einem „Veto-Instrument“. In seiner Wahrnehmung zeigt sich das Volk in dieser Form häufig als Obstrukteur notwendiger Reformen. Dessen ungeachtet möchte er die Möglichkeiten direkter Demokratie in Deutschland ausgebaut wissen, da Volkes Einfluss auf die Politik durch eher informelle Wirkungsweisen – insbesondere die befriedende Funktion direktdemokratischer Verfahren – oft auch sehr progressiv sein könne (vgl. ders., a. a. O., S. 905). 3 Sloterdijk, Der verletzte Stolz, Der Spiegel 45/2010, 136 (142). 4 Sloterdijk (Fn. 3), 142; vgl. auch die Streitschrift von Hessel/Kogon, Empört Euch!, 2011, die binnen kürzester Zeit zum Bestseller avancierte.
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nismen schwindet. In den Augen Vieler unterscheiden sich repräsentative Demokratie und das demokratische Ideal kollektiver Selbstbestimmung des Volkes etwa so, wie sich das Entbehrungsfreiheit suggerierende Werbe-Bild auf der Slimfast-Packung vom tatsächlichen Inhalt unterscheidet. Der Ruf nach einer Neujustierung und Öffnung demokratischer Legitimation für neue Mitwirkungsformen als Bedingung für die Akzeptanz von Herrschaft erschallt immer lauter. Dem Schumpeter’schen Pragmatismus, Demokratie sei nicht Regierung durch das Volk, sondern die vom Volk gebilligte Regierung, scheinen die Menschen den Wunsch nach einem Mehr an Idealismus entgegenhalten zu wollen. Eine Metamorphose der Demokratie6 zeichnet sich ab. In den bestehenden Strukturen der repräsentativen Demokratie unternommene Anpassungen haben bislang nur bedingt den gewünschte Erfolgt gezeigt: Gerade in jüngerer Zeit etablierte, verstärkte Mitwirkungsmöglichkeiten des Kumulierens und Panaschierens haben bei den Bürgern die Lust auf Wahlen nicht gesteigert – eher im Gegenteil: Der größte Verlierer der jüngsten Wahlen war jeweils die Wahlbeteiligung. Insgesamt offenbart sich in den Befunden wahrscheinlich nicht eine Krise oder ein Systemversagen der Demokratie, wohl aber das Fanal einer Entfremdung der classe politique von ihrem Volk und ein Kassandraruf für die Parteien, deren Integrationskraft als Mittler zwischen Staat und Volk die ihnen anvertraute Vermittlungsleistung nicht mehr in optimaler Weise zu erbringen vermag. Darin manifestiert sich auch ein Erosionsphänomen moderner Gesellschaften: Ließen sich ehedem noch Gruppeninteressen in einem weitgehend konsentierten politischen Programmpaket bündeln, lassen sich in einer dynamischen, fragmentierte Lebenswelten herausbildenden modernen Staatsordnung die partikularen politischen Präferenzen der Bürger in einem Pauschalangebot nur bedingt vollständig abbilden. So versteht denn der selbstbewusste Bürger die verfassungsrechtliche Formel, die Demokratie sei ein „Ausgehen“ der Staatsgewalt vom Volke, zunehmend als Anweisung, seine vier Wände zu verlassen und den Anspruch auf seine Mitwirkung an der Ausübung von Staatsgewalt offensiv zu bekunden.7 Sie halten sich unausgesprochen an das Leitmotiv Erich Kästners: „Wir müssen unseren Teil der Verantwortung, für das was geschieht und für das was unterbleibt, aus der öffentlichen Hand in die eigenen Hände zurücknehmen.“ In der repräsentativen Demokratie sehen sie sich als bloße Lieferanten von Legitimität für Parlamente und Regierungen auf eine 5 In diesem Sinne etwa statt vieler Borck, Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus . . ., in: von Arnim (Hrsg.), Systemmängel in Demokratie und Marktwirtschaft, 2011, 81 (84). 6 Klein, Metamorphose der Demokratie, FAZ vom 29.8.2011, S. 7. 7 Sloterdijk (Fn. 3), 140.
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bloße Steigbügelhalterfunktion reduziert.8 Sie geben sich nicht mehr länger mit der als Komparsenrolle wahrgenommenen Funktion zufrieden, im Wahlakt eine carte blanche in Gestalt einer Zustimmung zu einem Programmpaket auszustellen und zwischen den Wahlakten schlicht durch Schweigen ihr Systemvertrauen auszudrücken, sondern fordern eine aktive Rolle bei der politischen Mitgestaltung wichtiger Gesetzgebungsakte ein.9 Sie wollen nicht nur ihre Stimme abgeben, sondern sie erheben – getreu der Losung: „Wähle nicht, entscheide selbst!“ Es findet ein Transformationsprozess von einer Zuschauer- in eine Mitmachdemokratie statt. Demokratie wird zum politischen Orchester, in dem jeder eine Rolle einnimmt und sich aus dem Nebeneinander der vielen einzelnen Beiträge am Ende ein konzertantes Ensemble vielstimmigen Miteinanders zusammenfügt.10
1. Seitenblick in das Mutterland neuzeitlicher direkter Demokratie Deutschland sammelt gegenwärtig Erfahrungen, die das (neuzeitliche) Heimatland der Volksentscheide, die Schweiz, längst hinter sich gelassen hat. Die Schweizer sind stolz auf ihre direkte Demokratie. Drei Mal im Jahr werden sie durchschnittlich an die Urne gerufen.11 Über alle wichtigen Fragen des Staatswesens stimmen die Schweizer ab: von kantonalen Steuern über Bauprojekte, Einwanderung und die Bepreisung von Medikamenten bis hin zum Bau von Minaretten. Die Schweiz kennt dabei nicht nur die klassische Trias von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid, vermittels derer das Volk als Souverän seine Gewalt als Gesetzgeber unmittelbar ausübt und damit den von ihnen gewählten Vertretern in zentralen Fragen nicht das Entscheidungsmonopol überlässt, sondern seine Stimme selbst erhebt. Vorgesehen ist auch die Bestätigung wichtiger Gesetze durch das Volk in Gestalt von Referenden, sei es als Referendum auf Antrag, das sog. fakultative Referendum über Gesetzesänderungen und Grundsatzbeschlüsse des Parlaments sowie den Abschluss völkerrechtlicher Verträge (Art. 141 8
Ausfühlich zu den Defiziten der repräsentativen Demokratie Rux (Fn. 2), S. 58 ff. 9 Sloterdijk (Fn. 3), 142. 10 Volkmann, Die Privatisierung der Demokratie, FAZ vom 26.2.2010, S. 9. Gleichsam ein Sinnbild dieses Ensembles bilden die direktdemokratischen Erfahrungen Oberammergaus. Dort finden über die bedeutsamen Fragen der Passionsspiele regelmäßig Bürgerentscheide statt, etwa über den Spielleiter, Änderungen im Text-/ Musikkonzept oder die bauliche Ausgestaltung der Spielstätte. 11 Vgl. die Übersicht des Schweizerischen Bundesamts für Statistik, abrufbar unter: http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/17/03/blank/data/06/01. html (Abrufdatum: 16.6.2011).
1. Seitenblick in das Mutterland neuzeitlicher direkter Demokratie
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BV), sei es als obligatorisches Referendum bei Verfassungsänderungen und Beitritten zu internationalen Organisationen (Art. 140 BV). Bereits seit Verabschiedung der Bundesverfassung im Jahre 1848 kennt die Schweiz diese (zunächst auf Verfassungsfragen begrenzten) Instrumente. Sie folgt damit einer Grundphilosophie und staatspsychologischen Erkenntnis, die Cassiel Randomson treffend formulierte: „Was das Volk nicht selbst entscheidet, gleitet an ihm ab.“ Ein Selbstläufer sind Volksinitiativen freilich auch in der Schweiz nicht: Von den 76 Volksbegehren der vergangenen zehn Jahre waren gerade einmal drei an der Urne erfolgreich. So stolz die Schweizer auch auf ihre unmittelbare Mitwirkung an der Ausübung der Staatsgewalt sind, so bescheiden ist ferner regelmäßig die Stimmbeteiligung. Meist pendelt sie um 40%. Selbst die Minarettverbots-Initiative, die das ganze Land aufwühlte, lockte nur 53,4% der Bürger an die Urnen.12 Dass direkte Demokratie eine rationale Politik unterminiere, wie häufig als Kassandra-Ruf erschallt, lässt sich in dieser Allgemeinheit jedenfalls für die Schweiz nicht redlicherweise behaupten. Vor Exzessen und populistischen Ausfällen, die selbst vor den Grenzen internationaler Verpflichtungen, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem Freizügigkeitsabkommen mit der EU, nicht Halt machen, sind Volksentscheide aber auch in der Schweiz nicht gefeit. Die Volksentscheide zum Minarett-Verbot sowie zur „Ausschaffung von Ausländern“ sind dafür düstere Beispiele. Die Schweiz als kleine Staatseinheit hält für die republikanische Gemeinwohlfindung im Wege partizipativer Demokratie ideale Strukturbedingungen vor. Bevölkerungsreiche Staaten tun sich da schwerer. So räsonierte bereits Platon in seiner Politeia zu den staatsphilosophischen Hintergründen: „Die Erfahrung zeigt, dass es schwierig, wenn nicht unmöglich ist, in einem bevölkerungsreichen Staat gute Gesetze zu machen.“ Montesquieu liefert für diesen Befund gleich die politische Erklärung, indem er die Tiefengründe dieser Komplikationen aufschlüsselt: „In einer großen Republik wird“, so schreibt er in seinem De l’esprit des Lois, „das Gemeinwohl tausenderlei Rücksichten geopfert, es unterliegt Ausnahmen und hängt von Zufällen ab. In einer kleinen Republik dagegen wird das Gemeinwohl stärker empfunden, besser erkannt, dem einzelnen Bürger näher gerückt; Missbräuche sind weniger verbreitet und daher auch weniger geschützt.“13 Ohne jede Form 12 Dabei sprachen sich 57,5 Prozent für die Verankerung des Minarett-Verbots in der Verfassung aus: Vgl. zu den Zahlen die Übersichten des Schweizer Bundesamtes für Statistik unter http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index/themen/17/03/ blank/key/2009/05.html (Abrufdatum: 16.6.2011). 13 Montesquieu, De l’esprit des Lois VIII 16.
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repräsentativer Vermittlung ist die kollektive Suche nach dem selbstbestimmten Willen des Volkes in einem modernen Flächenstaat weder in Gestalt einer Athener Versammlungsdemokratie noch einer Rousseau’schen identitären Demokratie letztlich realistisch vorstellbar. Eine Komplementärfunktion partizipatorischer Elemente schließt das aber keineswegs aus.
2. Direkte Demokratie als Herausforderung für die politische und verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland; Überblick über den Gang der Darstellung Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu denjenigen Staaten, die weniger gute Strukturvoraussetzungen für die Etablierung von Elementen direkter Demokratie aufzuweisen scheinen. Hinzu kommt ein historisch eingetrübtes bzw. gespaltenes Verhältnis zu Instrumenten direkter Demokratie.14 Der wachsenden Sympathie, die Elemente direkter Demokratie in der Bundesrepublik erfahren, tut das keinen Abbruch. Spätestens seit Willy Brandts Forderung „Mehr Demokratie wagen!“ hat der Ruf nach einem „Mehr an Partizipation“ allenthalben Konjunktur. Die demoskopischen Mehrheiten für eine Verstärkung plebiszitärer Elemente im Grundgesetz sind dabei erstaunlich stabil. 65% der Bevölkerung glauben, dass mehr Volksentscheide die Qualität der Demokratie verbessern würden. Negative Auswirkungen auf die politische Ordnung befürchten nur 15%.15 Politische Entscheidungsträger spüren diesen Trend und versuchen, ihn in ihre politische Agenda zu integrieren. Ob sie sich dabei eher von dem Malmesbury’schen Credo „vox populi vox dei“ oder von dem pragmatischen Leitgedanken steuern lassen, dem Volk nicht nur „auf den Mund zu schauen“, sondern ihm auch gleich „nach dem Mund zu reden“, bleibt dabei ihr Geheimnis. Fest steht, dass sich einige politische Mehrheiten unter der Ägide unmittelbarer Volksentscheidung verschieben würden: Die „Rente mit 67“ etwa würde beim Volk durchfallen, die Einwanderungspolitik würde sich verschärfen, das System der Krankenversicherung wäre nicht als dichotomisches, sondern als ausnahmslos alle Bürger inkludierendes vollständig solidarisch strukturiert.16 14
Vgl. dazu auch unten S. 95. Vgl. die im Auftrag der FAZ erfolgte Erhebung des Allensbach-Instituts aus dem Jahr 2010, zitiert nach Köcher, Der Ruf nach dem Plebiszit, FAZ vom 20.10.2010, S. 5; siehe auch die Zusammenstellung weiteren statistischen Materials bei Heußner, Wahlen allein genügen nicht, in: von Arnim (Hrsg.), Systemmängel in Demokratie und Marktwirtschaft, 2011, 27 (42) m. w. N. 16 Vgl. Köcher (Fn. 15); Heußner (Fn. 15), 42 m. w. N. 15
2. Direkte Demokratie als Herausforderung
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Demokratie lebt von Spannung und Reibung zwischen den Akteuren. Sie ist keine Einbahnstraße. In ihr herrscht Gegenverkehr. Direkte und indirekte Demokratie sind besondere Ausformungen dieses Gegenstromprinzips. Der Diskursprozess, in den die politische Ordnung dadurch eintritt, kann wertvolle Synergien generieren. Gleichzeitig entsteht aber dort, wo partizipative Mitwirkungselemente neben das repräsentative System treten und die Parlamente das Monopol demokratischer Wahrheitsfindung verlieren, ein Dualismus zweier rivalisierender Kompetenzträger. Es prallen zwei Willensbildungssysteme aufeinander, die eine Spannungslage aufbauen. Nicht selten entlädt diese sich in einer Machtprobe mit Siegern und Besiegten. Dann knüpft sich an die konkurrierende Suche nach dem besten Gemeinwohlergebnis die Frage: Welche Rolle und welche Dignität kommt Entscheidungen des Volkes im Verhältnis zu im repräsentativ-demokratischen System erzeugten Willensentscheidungen zu? In welchem Umfang muss das Repräsentativorgan sich der Entscheidung des Volkes fügen bzw. darf es überhaupt auf die direktdemokratische Willensbildung und den Entscheidungsfindungsprozess einwirken? Im Folgenden sollen die angedeuteten Reibungsflächen offen gelegt werden. Das Werk spürt hierzu zunächst dem Entfaltungsrahmen plebiszitärer Elemente in der deutschen und europäischen Verfassungsordnung nach (unten II.), um dann das Spannungsfeld zwischen Volks- und Parlamentsgesetzgebung auszuleuchten (unten III.) und schließlich dogmatische wie verfassungspolitische Lösungswege zur Entschärfung der Konfliktlagen zu entwickeln (unten IV.).
II. Der (verfassungs-)rechtliche Rahmen plebiszitärer Elemente Direkte Demokratie wuchert nicht nur in den Rissen der repräsentativen Demokratie; sie will sich nicht darauf beschränken, deren Lücken zu schließen.17 Vielmehr nimmt sie für sich in Anspruch, das Ideal der Volksherrschaft in einer authentischen Weise zu repräsentieren. Ein Unfehlbarkeitsdogma kommt Elementen direkter Demokratie dabei freilich genauso wenig zu wie solchen Entscheidungen, die in repräsentativ-demokratischen Verfahren gefällt werden. Die Demokratie setzt die Vernunft im Volk voraus, die sie erst hervorbringen muss (Karl Jaspers). So hat denn Bernhard Shaw die Regierungsform der Demokratie mit einem Augenzwinkern, aber wahrem Aussagekern als ein Verfahren beschrieben, das garantiert, dass „wir nicht besser regiert werden, als wir es verdienen“. Wie der Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und Herrschaft in der Demokratie beschaffen sein soll, ob also der Bürger mehr Referenzoder mehr Handlungssubjekt ist, lässt sich auch nicht bereits von einer ideengeschichtlichen Wurzel des Demokratiebegriffs her verbindlich enträtseln. Johann Wolfgang von Goethe wird zwar gerne als Vorkämpfer eines Vorrangs der direkten Demokratie in Anspruch genommen. Auf die Frage „Welche Herrschaftsform die beste sei?“, antwortet er: „Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren.“18 Daraus ein flammendes Plädoyer für direkte Demokratie herauszulesen, wäre freilich voreilig. Sein Votum richtet sich nicht auf Selbstentscheidung in allen Sachfragen, sondern vielmehr auf die Selbstbestimmung der Regierten. Demokratie lebt danach von der Einmischung: Politik hebt in diesem Verständnis nicht erst auf der Ebene der in Staatsorganen verfassten Subjekte an, sondern bei den Individuen selbst. Diese nehmen die Mitgestaltung der politischen Prozesse durch eine selbstbewusste, autonome Teilhabe selbst in die Hand. Demokratie ist ihrem Wesen nach Selbstbestimmung des Volkes nach der Mehrheitsregel. Die Demokratie moderner Verfassungsordnungen versteht sich insoweit als Entscheidungs- und Verantwortungszusammenhang, mittels dessen sich das Volk „nach der Idee der Selbstbestimmung aller in Freiheit und unter der Anfor17
In diesem Sinne etwa auch Dreier/Wittreck, Repräsentative und direkte Demokratie im Grundgesetz, in: Feld/Huber/Jung (Hrsg.), Jahrbuch für direkte Demokratie 2009, 2010, 11 (35 f.). 18 von Goethe, Maximen und Reflektionen, 1833, Nr. 490.
1. Bundesebene
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derung der Gerechtigkeit seine Ordnung, insbesondere seine positive Rechtsordnung als verbindliche Sollensordnung selbst setzt“.19 Sie geht davon aus, dass Staatsgewalt als Herrschaft über Menschen nur dann zu rechtfertigen ist, wenn diese von den Herrschaftsunterworfenen selbst ausgeht.20 In welcher Form der Volkswille zu einer Herrschaftsaussage transformiert wird, – ob über die Entscheidung des Souveräns selbst oder über den gewählten Abgeordneten als Transmissionsriemen, der unter Kontrolle und in Vertretung des Volkes die Geschicke des Staatswesens lenkt – ist damit noch nicht gesagt. Dazu bedarf es einer normativen Entscheidung, die die denkbaren Wirkungsschichten des demokratischen Prinzips zuordnet.
1. Bundesebene Das Grundgesetz nimmt keine abschließende Verhältniszuordnung zwischen plebiszitären und repräsentativen Elementen der Demokratie vor. Es zeigt sich in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG durchaus für beide Formen offen, wenn es „Wahlen und Abstimmungen“ als Formen der Ausübung von Staatsgewalt in einem Atemzug als gleichberechtigte demokratische Mitwirkungsformen nennt. „Direkt“ ist damit im Sinne des Grundgesetzes nicht selbstredend „demokratischer“. Der gerne als Ruf nach zusätzlichen plebiszitären Elementen bemühte Schlachtruf „Mehr Demokratie wagen!“ ist daher jedenfalls aus verfassungsrechtlicher Perspektive schief.21 Vielmehr ist im Grundgesetz eine prinzipielle Gleichwertigkeit von Elementen der repräsentativen und der direkten Demokratie angelegt.22 Das Grundgesetz selbst formt die Mitwirkung durch Abstimmungen freilich nur rudimentär aus.23 Es behält namentlich das Gesetzesinitiativrecht auf Bundesebene der Bundesregierung, dem Bundesrat und dem Parlament 19 Vgl. BVerfG, Urt. v. 2.3.1977 – 2 BvE 1/76 –, BVerfGE 44, 125 (142) – Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung. 20 Treffend Heußner (Fn. 15), 28. 21 Willy Brandt, auf den dieser Ausruf zurückgeht, hatte freilich nicht primär einen Ausbau der direktdemokratischen Handlungsinstrumente vor Augen, sondern wollte allgemein die Bürgerverantwortung für Staat und Gesellschaft stärken, vgl. Rux (Fn. 2), S. 211. 22 Vgl. auch Dreier/Wittreck (Fn. 17), 16 f. und 18 f., die von „wohltuender Konkurrenz“ (S. 39) zwischen den beiden Formen der Demokratie sprechen. 23 Namentlich in Art. 29 GG für die Gebietsneugliederung. Plebiszitäre Entscheidungen sehen ergänzend auch die leges speciales Art. 118 S. 2 und 118a GG („Volksbefragung“, „unter Beteiligung ihrer Wahlberechtigten“) vor. Diese Sachentscheidungen können allerdings ihrer Natur nach nicht im gesamten Bundesgebiet stattfinden. Entgegen Dreier/Wittreck (Fn. 17), 19 ändert das an dem Abstimmungscharakter nichts.
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II. Der (verfassungs-)rechtliche Rahmen plebiszitärer Elemente
vor. Dem Bundesvolk ist damit der Weg zu einer aus eigener Initiative erfolgten Gesetzgebung gegenwärtig abgeschnitten.24 Die Einführung direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene bedürfte einer Verfassungsänderung. Sie würfe zahlreiche – allerdings lösbare – Fragen nach ihrer sachund verfassungsgerechten Ausgestaltung auf, etwa im Hinblick auf die im föderalen Staat gebotene Länderbeteiligung oder erforderliche Mindestbeteiligungsquoren.25 Entsprechende Bestrebungen, die sich insbesondere die Große Koalition26 und verschiedene Gesetzesanträge einzelner Fraktionen in der jüngeren Vergangenheit zu eigen gemacht hatten,27 sind jedoch bisher im Sande verlaufen. Der Versuch, die bislang fehlende Ausgestaltung plebiszitärer Gesetzgebungselemente auf Bundesebene gleichsam auf dem Umweg über eine koordinierte Volksgesetzgebung in den Ländern zu umgehen, erscheint da häufig reizvoll. Er ist aber zum Scheitern verurteilt. Das gilt etwa für den kürzlich geäußerten Vorschlag des CDU-Wirtschaftsrates, in allen 16 Bundesländern simultan einen Volksentscheid über den Atomausstieg durchzuführen.28 Denn selbstverständlich entbindet Gesetzgebung im Wege plebiszitärer Demokratie nicht von den sonstigen Strukturvorgaben des Grundgesetzes, insbesondere nicht von der Bindung an die Kompetenzordnung der Art. 70 ff. GG und die Grundrechte. Das letzte Wort über die sofortige Realisierung plebiszitärer Gestaltungselemente sehen manche damit gleichwohl noch nicht gesprochen.29 Insbesondere ein EU-Referendum über neue vertragliche Regelungswerke der 24 Der deutschen Verfassungsgeschichte sind solche Instrumente freilich nicht unbekannt, vgl. Art. 73 III WRV. Zur Implementierung von Elementen direkter Demokratie auf Bundesebene in der Vergangenheit etwa Rosenke, Die Finanzbeschränkungen bei der Volksgesetzgebung in Deutschland, 2005, S. 121 ff. 25 Näher insb. zur Länderbeteiligung und zu den Mindestquoren Kühling, JuS 2009, 777 (778 ff.); Rux (Fn. 2), S. 925 f. 26 Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD, Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit, S. 127 (Zeile 5354): „Die Einführung von Elementen der direkten Demokratie werden wir prüfen“. 27 Vgl. zu den insbesondere in der letzten Legislaturperiode vorgelegten Änderungsvorschlägen den Gesetzesentwurf der Bundestagsfraktion Bündnis 90/DIE GRÜNEN, BT-Drucks. 16/680. In Europa gehört Deutschland damit eher zu den Nachzüglern in der Implementierung direktdemokratischer Elemente. Das Grundgesetz gilt als „prononciert antiplebiszitär“ (so Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1984, S. 608). Italien, Österreich, Spanien, Frankreich und auch einige osteuropäische Länder kennen bereits ein Gesetzesinitiativrecht des Volkes. 28 Bannas, „Volk soll über Atomausstieg entscheiden“, FAZ vom 18.5.2011, S. 2. 29 In diesem Sinne namentlich Elicker, Die europäische Über-Verfassung und der Abschied von der demokratischen Staatslehre, in: Kadelbach (Hrsg.), Europäische Verfassung und direkte Demokratie, 2006, 71 ff.
1. Bundesebene
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Europäischen Union halten manche ohne Weiteres für zulässig. Dem Volk als Souverän komme ein jederzeitiges Zugriffsrecht auf die Verfassungsordnung zu.30 Dann könne es auch jederzeit die Gesetzgebungsgewalt ausüben. Denn wer mehr kann, der könne auch weniger.31 Die Eleganz der Argumentation leidet lediglich an einem Webfehler: Sie setzt sich über die Unterscheidung zwischen dem pouvoir constituant (der verfassungsgebenden Gewalt) und der pouvoir constitué (der verfassten Gewalt) hinweg.32 Sie gibt damit die Formenbindung und die Bindungskraft der Verfassungsregeln preis.33 Die Ad-hoc-Außerkraftsetzung der Verfassungsregeln erreicht die verfassungsgebende Gewalt nur außerhalb, nicht innerhalb der von der Verfassung vorgesehenen Regelschranken. Ein Bausatz für ein EU-Referendum schlummert allenfalls in Art. 146 GG.34 Die Vorschrift sollte in ihrer ursprünglichen Gestalt die Deutsche Frage offen halten, nunmehr könnte sie das Volk die Europäische Frage stellen lassen. Ihre Legitimationskraft entfaltet sie aber nur dort, wo Gegenstand die ausdrückliche Ablösung des Grundgesetzes durch eine neue Verfassungsordnung ist.35 Der Vertrag von Lissabon etwa, der bei vielen den Ruf nach einem EU-Referendum erschallen ließ, löst das Grundgesetz – anders als in Art. 146 GG vorausgesetzt – weder nach seinem Anspruch noch nach seinem Inhalt ab.36 Er entwickelt die europäische Architektur fort, lässt aber keine neue europäische Staatlichkeit entstehen. Er stellt gleichsam den Rohbau fertig, nicht aber das Haus eines europäischen Bundesstaates, in dem zentrale staatliche Entscheidungen ohne demokratische Rückbindung in den Hinterzimmern verhandelt und beschlossen werden dürften. Die Europäische 30 So im Ergebnis Elicker (Fn. 29), 71 ff. der sich vor allem auf Art. 20 Abs. 1 S. 1 GG beruft. Viel spricht aber dafür, dass Art. 20 Abs. 1 S. 1 als Legitimationsprinzip und nicht als Zuständigkeitsregel zu verstehen ist (in diesem Sinne etwa zu Recht Müller-Franken, DÖV 2005, 489 [491]). Unter dieser Prämisse läuft das Argument von Elicker leer. 31 Isensee, Verfahrensfragen der Volksgesetzgebung, in: Festschrift für Krause zum 70. Geburtstag, 2006, 303 (304) tritt dem mit dem Argument entgegen, das Volk habe sich durch die Verfassung selbst gebunden, so dass es „seinen Willen nur noch nach Maßgabe der Verfassung“ äußern kann. 32 Ähnliche Kritik äußern Kühling (Fn. 25), 778 und Rux (Fn. 2), S. 87 f. 33 Diese Gefahr sieht etwa auch Herbst, ZRP 2005, 29 (31). 34 Isensee (Fn. 31), 304 etwa sieht das „vermeintlich plebiszitäre Potential“ in Art. 146 GG nach Verfestigung des Endgültigkeitsanspruchs infolge der Wiedervereinigung allerdings erschöpft. 35 Vgl. zur Diskussion, ob Art. 146 GG diesen Weg eröffnet, auch Dreier, in: ders./Wittreck (Hrsg.), GG-Kommentar, 2. Aufl. 2008, Art. 146 Rn. 16; Jarass/ Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 11. Aufl. 2011, Art. 146 Rn. 5; Peter M. Huber, in: Sachs/Battis/Huber (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 146 Rn. 18 f. 36 Ebenso Hofmann, ZG 2003, 57 (68).
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II. Der (verfassungs-)rechtliche Rahmen plebiszitärer Elemente
Union bleibt ein Staatenverbund; die Mitgliedstaaten bleiben nach wie vor die „Herren der Verträge“.37 Erst wenn durch Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Parlaments der eigene mitgliedstaatliche Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse entleert würde, wäre das Demokratieprinzip verletzt.38 Der Gedanke einer „Europäischen Wirtschaftsregierung“ mit zentralen Handlungskompetenzen in der Finanz- und Haushaltspolitik, wie ihn die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy jüngst entfaltet haben, könnte die entscheidende Schwelle zur Preisgabe nationaler Souveränitätsrechte aber schnell überschreiten. Soll sie über eine bloße Koordination der Wirtschaftspolitik substanziell hinausgehen, insbesondere zentrale wirtschaftspolitische Zuständigkeiten, wie die Sozialversicherungssysteme und die Besteuerung, umschließen, dann verbleibt bei den Mitgliedstaaten möglicherweise nicht mehr das Übergewicht an Befugnissen und Selbstgestaltungskompetenzen, welches das Demokratieprinzip des Grundgesetzes einfordert. Der Wahlakt und die Handlungsverantwortung des Parlaments als des Gravitationszentrums des Grundgesetzes würden mit dem Wegbrechen der zur Erfüllung zentraler Staatsaufgaben notwendigen Gestaltungsmittel entwertet. Wenn die Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben in wesentlichem Umfang supranationalisiert würde, wäre das Demokratieprinzip des Grundgesetzes in seinem substantiellen Bestimmungsgehalt nicht mehr gewahrt.39 De constitutione lata erwägenswert ist – jenseits des Art. 146 GG – lediglich eine konsultative Volksbefragung zu europäischen Vertragsänderungen oder anderen politischen Fragen, wie sie etwa für Fragen der Energiepolitik vorgeschlagen wurden.40 Zwar billigt eine solche konsultative Befra37 BVerfG, Urt. v. 30.6.2011 – 2 BvE 2, 5/08 –, BVerfGE 123, 267 (349) – Lissabon. 38 BVerfG, Urt. v. 30.6.2011 – 2 BvE 2, 5/08 –, BVerfGE 123, 267 (357 f.) – Lissabon. 39 BVerfG, Urt. v. 30.6.2011 – 2 BvE 2, 5/08 –, BVerfGE 123, 267 (361) – Lissabon; BVerfG, Urt. v. 7.9.2011 – 2 BvR 987/10 et al. –, NJW 2011, 2946 (2948 ff., Rn. 104 ff. und Rn. 122 ff.) – Rettungsschirm. 40 Zur Unzulässigkeit konsultativer Befragungen auf Länder- bzw. kommunaler Ebene, soweit sie Druck auf die nach der Kompetenzordnung zur Entscheidung berufenen Organe ausüben bzw. den eigenen Wirkungskreis des Kompetenzträgers überschreiten, BVerfG, Beschl. v. 30.7.1958 – 2 BvF 3/58, 2 BvF 6/58 –, BVerfGE 8, 104 ff.; BVerfG, Urt. v. 30.7.1958 – 2 BvG 1/58 –, BVerfGE 8, 122 ff.; vgl. auch Ebsen, AöR 110 (1985), 2 (29); Pestalozza, NJW 1981, 733 (735); Neumann, Sachunmittelbare Demokratie, 2009, S. 179 f. Staatlich organisierte konsultative Befragungen hält Hufschlag, Einfügung plebiszitärer Komponenten in das Grundgesetz?, 1999, S. 72, regelmäßig für verfassungswidrig, da sie nach seiner Einschätzung einer unzulässigen Instruktion der Mitglieder des Bundesrats und des Bundestags entsprechen.
2. Landesebene
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gung dem Volk nur Gehör, aber nicht die Entscheidung zu. Da sie in institutionalisierter Form erfolgt, geht sie freilich in ihrer faktischen Ausstrahlungs- und Bindungswirkung über eine rein demoskopische Meinungsumfrage hinaus, die die legitimierten Entscheidungsträger zu Geiseln der erhobenen Volksmeinung zu machen droht. Es handelt sich um ein hybrides Instrument der Beteiligung des Volkes an der Staatswillensbildung, das die Verfassung in dieser Form nicht als generellen Partizipationsmechanismus kennt. Wiewohl sich der Gedanke aufdrängen mag, verbindet sich mit der Volksbefragung freilich nicht selbstredend ein Verstoß gegen das Prinzip auftragsfreier Repräsentation i. S. d. Art. 38 Abs. 1 GG, d.h. eine unzulässige Instruktion der Abgeordneten. Vielmehr äußert sich in ihr die Teilhabe des Volkes an der Staatsgewalt. Als solche ist sie durch die verfassungsrechtlichen Kompetenznormen begrenzt. Nur für den speziellen Ausnahmefall der Neugliederung der badischen und württembergischen Länder sowie für die Änderung der Landeszugehörigkeit sieht das GG in Art. 118 S. 2 bzw. nach Art. 29 Abs. 4, 5 und 6 eine solche Volksbefragung ausdrücklich vor.41 Das legt umso mehr einen Gegenschluss nahe. Durch einfaches Gesetz könnte eine Volksbefragung jedenfalls nicht eingeführt werden. Sie unterliegt einem Verfassungsvorbehalt.42
2. Landesebene Obschon sich das Grundgesetz bei der Ausformung plebiszitärer Elemente in Zurückhaltung übt, gibt es damit den Ländern – auch über das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG – keine verbindliche Schablone vor. Es nimmt ihnen mit der dort begründeten Forderung nach struktureller Kongruenz insbesondere nicht die Verfassungsautonomie, plebiszitäre Elemente als Ausgestaltung demokratischer Verfassungsstruktur zu initialisieren. Das Landesrecht erweist sich in der Folge gleichsam als plebiszitäres Experimentierlaboratorium. So eröffnen denn alle Bundesländer ihren Bürgern nach unterschiedlichen Regeln und in unterschiedlichem Ausmaß die Möglichkeit, an der Gestal41 Im Falle der Neugliederung der Länder Berlin und Brandenburg verlangt das GG demgegenüber zwar auch eine Beteiligung der Wahlberechtigten, allerdings nicht unbedingt in Form einer Volksabstimmung (Art. 118a GG); vgl. Scholz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), GG-Kommentar, Art 118a GG Rn. 7; Hellermann, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), Beck’scher Online-Kommentar zum GG, 11. Edition (Stand: 11.7.2011), Art. 118a GG Rn. 3. 42 So auch Volkmann, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Stand: 1. Erg.-Lfg. II/01 2000, Art. 20 Rn. 59; Everts, Plebiszitäre Unterschriftenaktionen, 2004, S. 188; a. A. Hölscheidt/Putz, DÖV 2003, 737 (745) m. w. N.
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II. Der (verfassungs-)rechtliche Rahmen plebiszitärer Elemente
tung der Landespolitik durch Volksentscheide mitzuwirken.43 Ihr Mitwirkungssystem ist regelmäßig dreistufig angelegt: Die Volksinitiative erzwingt die Befassung des Parlaments mit einem Gegenstand politischer Willensbildung; das Volksbegehren erzwingt eine Entscheidung, die letztendlich der Volksentscheid fällt. Die Bürger nehmen das Angebot der Mitwirkung an. Ob es nun die Entscheidung über die Schließung des Flughafens Berlin-Tempelhof (2008), den Transrapid zum Münchener Flughafen (2009),44 den absoluten Nichtraucherschutz in Bayern (2010) oder die Hamburger Schulpolitik (2010) ist – Volksbegehren haben Konjunktur. Mehr als insgesamt zweihundert Mal haben sie das Staatsvolk in den Ländern inzwischen für ihre Ziele zu aktivieren versucht. 19 Volksentscheide sind daraus hervorgegangen, die das Volk zur unmittelbaren Sachentscheidung an die Urne gerufen haben – davon alleine zehn in den letzten elf Jahren. „Urnenkönig“ ist Bayern. Dort finden von zehn Verfahren vier statt. Hauptgegenstände sind neben der Verkehrsinfrastruktur die Kultur, die Schule und die Bildung.45 Die unterschiedliche regionale Verteilung von Volksabstimmungen korreliert mit den Hürden, die Landesverfassungen ihnen setzen. Während Hamburg, Berlin und Bayern sich in ihren Landesverfassungen für Verfahren direkter Demokratie sehr stark öffnen, sind Baden-Württemberg, RheinlandPfalz, das Saarland und Niedersachsen beispielsweise weitaus restriktiver (siehe Synopse S. 26–31). Deutlich wird die reservierte Haltung gerade der baden-württembergischen Landesverfassung gegenüber Volksgesetzgebungsverfahren etwa an dem Fall des Verkehrsprojekts „Stuttgart 21“, das für die neue Landesregierung Baden-Württembergs eine schwere Hypothek begründet, welche diese abzulösen versucht, indem sie dem Volk das letzte Wort der Entscheidung gibt. Die baden-württembergische Verfassung lässt ein solches Ansinnen durchaus zu. Sie kennt sowohl den Weg des Volksbegehrens (Art. 59 Abs. 2 bwVerf) als auch (ähnlich wie Rheinland-Pfalz) den Weg eines über ein parlamentarisches Ausstiegsgesetz befindenden Referendums (Art. 60 Abs. 2–5 bwVerf), knüpft deren Erfolg aber an hohe, regelmäßig kaum überwindbare 43 Art. 60 bwVerf; Art. 74 Abs. 1, 2 bayVerf; Art. 62 Abs. 1 berlVerf; Art. 76 Abs. 1, 77 Abs. 1 i. V. m. Art. 78 Abs. 1 bbgVerf; Art. 70 bremVerf; Art. 50 Abs. 2 hambVerf; Art. 124 Abs. 1 hessVerf; Art. 60 m-vVerf; Art. 48 Abs. 1, 49 Abs. 1 ndsVerf; Art. 68 Abs. 1 nrwVerf; Art. 109 Abs. 1 rpVerf; Art. 99 Abs. 1, 100 Abs. 1 saarlVerf; Art. 81 Abs. 3 sachsanhVerf; Art. 72 Abs. 1 i. V. m. 71 Abs. 1 sächsVerf; Art. 41 Abs. 1, 42 Abs. 1 s-hVerf; Art. 81 Abs. 1 i. V. m. Art. 82 Abs. 1 thürVerf. 44 Vgl. dazu BayVerfGH, Urt. v. 4.4.2008 – Vf. 8-IX-08 –, NVwZ-RR 2008, 719 ff. 45 Vgl. auch die Zusammenstellung des Vereins für direkte Demokratie in: Feld/ Huber/Jung (Fn. 17), 161 ff. sowie Rux (Fn. 2), S. 931 ff.
2. Landesebene
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Hürden: Das Volksgesetz muss die Mehrheit der Stimmen und ein Drittel der Wahlberechtigten (Quorum) auf sich vereinen (Art. 60 Abs. 5 bwVerf). So nimmt es denn nicht wunder, dass in Baden-Württemberg noch nie ein Volksbegehren erfolgreich gewesen ist.46 Jedenfalls das Zustimmungsquorum dürfte sich für die Gegner des Tiefbahnhofs „Stuttgart 21“ als unüberwindbare Verfassungsbarrikade entpuppen. Um ihm zu entgehen, hatte die neue Landesregierung auch eine informelle Volksbefragung ventiliert, aber zu Recht als verfassungsrechtlich unzulässig verworfen.47 Wiewohl im Falle des Referendums über den Bau des Bahnhofs „Stuttgart 21“ alle formellen, der Aufführung einer Springprozession gleichenden Voraussetzungen48 des Art. 60 Abs. 3 und 4 bwVerf tatbestandlich erfüllt sind, birgt der beschrittene Weg verfassungsrechtliche Stolperfallen. Ihrer Natur nach zielt die Vorschrift auf die Auflösung einer Konfliktlage, die sich durch Meinungsverschiedenheiten zwischen höchsten Verfassungsorganen ergeben hat: Das Volk als Souverän soll als „letzte Instanz“ dort zur Entscheidung berufen werden, wo Parlament und Regierung zu gegenläufigen politischen Einschätzungen gelangen. Ob solche Meinungsverschiedenheiten im Falle des Volksentscheids „Stuttgart 21“ überhaupt vorliegen, lässt sich freilich kritisch hinterfragen. Denn der Volksentscheid ist weniger 46
Bayern hingegen sieht lediglich für verfassungsändernde Gesetze ein Mindestquorum vor; Hessen und Sachsen kennen grundsätzlich ebenfalls kein Mindestquorum. Berlin (Art. 63 Abs. 1 S. 3 berlVerf), Brandenburg (Art. 78 Abs. 2 bbgVerf), Niedersachsen (Art. 49 Abs. 2 S. 1 ndsVerf), Rheinland-Pfalz (Art. 109 Abs. 4 S. 3 rpVerf), Sachsen-Anhalt (Art. 81 Abs. 3 S. 2 sachsanhVerf, vgl. aber Sonderregelung des Art. 81 Abs. 4 sachsanhVerf), Schleswig-Holstein (Art. 42 Abs. 4 S. 1 s-hVerf) und Thüringen (Art. 82 Abs. 7 S. 3 thürVerf) sehen ein Mindestquorum von einem Viertel der Wahlberechtigten bei einem Volksentscheid über Gesetze vor. Bremen (Art. 72 Abs. 1 bremVerf) und Hamburg (Art. 50 Abs. 3 S. 13 hambVerf, siehe aber Sonderfall des Art. 50 Abs. 3 S. 10 hambVerf) schreiben ein Mindestquorum von einem Fünftel der Wahlberechtigten fest, in Nordrhein-Westfalen müssen 15 Prozent der Wahlberechtigten auf der Seite der Mehrheit stehen (Art. 68 Abs. 4 S. 2 nrwVerf). Lediglich Mecklenburg-Vorpommern verlangt ebenso wie Baden-Württemberg ein Mindestquorum von einem Drittel der Wahlberechtigten (Art. 60 Abs. 4 S. 1 m-vVerf). Eine noch strengere Regelung kennt lediglich das Saarland, dort muss die Hälfte der Stimmberechtigten zustimmen (Art. 100 Abs. 3 saarlVerf). 47 Vgl. dazu auch bereits oben S. 22 f. sowie Everts (Fn. 42), S. 188, der für das parallel gelagerte Problem der staatlichen Unterschriftenaktionen zu dem Ergebnis kommt, dass sie informal-imperfekte Referenden darstellen und als solche ohne gesetzliche Grundlage verfassungswidrig sind. 48 Ein Referendum findet danach statt, wenn (1.) eine Gesetzesvorlage von der Regierung in den Landtag eingebracht wurde, die aber (2.) auf Ablehnung stieß, so dass (3.) mindestens ein Drittel der Mitglieder des Landtages einen Antrag auf eine Volksabstimmung stellt und (4.) die Landesregierung die Gesetzesvorlage zur Volksabstimmung bringt.
Art. 71 ff. • 25.000 Unterschriften bayVerf, • Eintragungsfrist: 2 Jahre Art. 63 ff. LWG • Amtseintragung • Ausnahmebereiche: „Staatshaushalt“ (Art. 73 bayVerf, Art. 63 Abs. 1 S. 1, 3, 4 LWG)
Art. 59, 62 f. • berlVerf, §§ 1 ff. AbstG • • •
Bayern
Berlin
20.000 bzw. 50.000 Unterschriften Eintragungsfrist: 6 Monate Freie Unterschriftensammlung Ausnahmebereiche: „Landeshaushaltsgesetz, Dienst- und Versorgungsbezüge, Abgaben, Tarife der öffentlichen Unternehmen und Personalentscheidungen“ (Art. 62 Abs. 2 berlVerf, §§ 5 Abs. 1, 12 AbstG)
Art. 59 f. • 10.000 Unterschriften bwVerf, §§ 2–24 • keine Eintragungsfrist VolksabstG • Amtseintragung • Ausnahmebereiche: „Abgabengesetze, Besoldungsgesetze und das Staatshaushaltsgesetz“ (Art. 60 Abs. 6 bwVerf, §§ 25 Abs. 1, 4 VolksabstG)
BadenWürttemberg
Kein Quorum bei einfachen Gesetzen; im Falle der Verfassungsänderung: Zustimmung von mindestens einem Viertel der Stimmberechtigten (Art. 79 Abs. 1 Nr. 2 LWG) Zustimmung von mindestens einem Viertel bzw. im Falle der Verfassungsänderung der Hälfte der Stimmberechtigten (Art. 63 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 3 berlVerf, § 36 Abs. 1, 2 AbstG)
Zustimmung von 7% bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) 20% der Stimmberechtigten innerhalb von 4 Monaten (Art. 63 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2 blnVerf, § 26 AbstG)
Zustimmung von mindestens einem Drittel der Stimmberechtigten (Art. 60 Abs. 5 S. 2 bwVerf)
Zustimmungsquorum
Zustimmung der „Mehrheit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer“ bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) von „mindestens zwei Dritteln“ der abgegebenen gültigen Stimmen (Art. 63 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 3 berlVerf; § 36 Abs. 1, 2 AbstG)
Zustimmung von mindestens der Hälfte der abgegebenen gültigen Stimmen (Art. 79 Abs. 1 Nr. 1 LWG)
Zustimmung von mindestens der Hälfte der abgegebenen gültigen Stimmen (Art. 60 Abs. 5 S. 1 bwVerf)
Mehrheitsverhältnis
Volksentscheid („Volksabstimmung“)
Zustimmung von mindestens einem Zehntel der Stimmberechtigten innerhalb von 14 Tagen (Art. 74 Abs. 1 bayVerf, Art. 65 Abs. 3 S. 1 LWG)
Zustimmung von mindestens einem Sechstel der Stimmberechtigten innerhalb von (regelmäßig [„soll“]) 14 Tagen (Art. 59 Abs. 2 S. 2 bwVerf; § 28 Abs. 1 S. 3 VolksabstG)
Volksinitiative bzw. „Zulassung Volksbegehren des Volksbegehrens“
Art./§§
Bundesland
Synopse der wichtigsten Erfolgsvoraussetzungen landesrechtlicher Volksgesetzgebungsinstrumente („Zustandekommen“ bzw. „Annahme“) 26 II. Der (verfassungs-)rechtliche Rahmen plebiszitärer Elemente
Art. 22, 75 ff. • 20.000 bzw. 150.000 UnterbbgVerf, §§ 4 ff. schriften VAbstG • Eintragungsfrist: 1 Jahr • Amtseintragung • Ausnahmebereiche: „Landeshaushalt, Dienstund Versorgungsbezüge, Abgaben- und Personalentscheidungen“ (Art. 76 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 bbgVerf, § 5 Abs. 2, § 6 Abs. 1 Nr. 1 Hs 2 VAbstG)
Art. 70 ff. brem- • 5.000 Unterschriften Verf, §§ 1 ff. • Keine Eintragungsfrist VolksentG • Freie Unterschriftensammlung • Ausnahmebereiche: „laufender Haushaltsplan, (. . .) Bezüge oder Entgelte öffentlich Bediensteter oder vergleichbarer Personen und (. . .) Steuern, Abgaben, Beiträge und Gebühren sowie Einzelheiten solcher Gesetzesvorlagen“ (Art. 70 Abs. 2 bremVerf, § 10 Abs. 2 Nr. 2 VolksentG)
Brandenburg
Bremen Zustimmung von 10% bzw. (im Falle von Neuwahlen bzw. Verfassungsänderung) 20% der Stimmberechtigten innerhalb von drei Monaten (Art. 70 Abs. 1 lit. c, d bremVerf, § 1, § 18 Abs. 1 VolksentG)
Zustimmung von 80.000 bzw. (im Falle der Auflösung des Landtages) 200.000 Stimmberechtigten innerhalb von vier Monaten (Art. 77 Abs. 3 bbgVerf)
Zustimmung von einem Zwanzigstel bzw. (im Falle der Auflösung des Landtages oder der Verfassungsänderung) der Hälfte der Stimmberechtigten (Art. 72 Abs. 1, 2 bremVerf; § 6 Abs. 1 VolksentG)
Zustimmung von einem Viertel bzw. (im Falle der Auflösung des Landtages oder der Verfassungsänderung) der Hälfte der Stimmberechtigten (Art. 78 Abs. 2, 3 bbgVerf)
(Fortsetzung nächste Seite)
Zustimmung der Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen (Art. 72 Abs. 1 bremVerf, § 6 Abs. 1 VolksentG)
Zustimmung der Mehrheit bzw. (im Falle der Auflösung des Landtages oder der Verfassungsänderung) von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen (Art. 78 Abs. 2, 3 bbgVerf)
2. Landesebene 27
Art./§§
Art. 50 hambVerf, §§ 2 ff. Volksabstimmungsgesetz (VAbstG)
Art. 124 hessVerf, §§ 1 ff. Volksbegehrenund Volksentscheidgesetz (VBeg/VE-G)
Bundesland
Hamburg
Hessen
• • • •
2 % der Stimmberechtigten Eintragungsfrist: 1 Jahr Amtseintragung Ausnahmebereiche: „Haushaltsplan, Abgabengesetze oder Besoldungsordnungen“ (Art. 124 Abs. 1 S. 3 hessVerf, § 2 Abs. 1 VBeg/ VE-G)
• 10.000 Unterschriften • Eintragungsfrist: 6 Monate • Freie Unterschriftensammlung • Ausnahmebereiche: „Bundesratsinitiativen, Haushaltspläne, Abgaben, Tarife der öffentlichen Unternehmen sowie Dienst- und Versorgungsbezüge“ (Art. 50 Abs. 1 S. 2 hambVerf, § 5 Abs. 2 VAbstG) Zustimmung von mindestens einem Fünftel bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) der Hälfte der Stimmberechtigten (Art. 50 Abs. 3 S. 10 ff. hambVerf, § 23 Abs. 1 VAbstG)
Zustimmungsquorum
Zustimmung der Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen (Art. 124 Abs. 3 S. 2 hessVerf; § 22 Abs. 1 VBeg/VE-G)
Zustimmung von mindestens der Hälfte bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) zwei Drittel der abgegebenen gültigen Stimmen (Art. 50 Abs. 3 S. 10 ff. hambVerf, § 23 Abs. 1 VAbstG)
Mehrheitsverhältnis
Volksentscheid („Volksabstimmung“)
Zustimmung von Kein Quorum mindestens einem Fünftel der Stimmberechtigten innerhalb von 2 Monaten (Art. 124 Abs. 1 S. 1 hessVerf; § 5 Abs. 2, § 12 VBeg/VE-G)
Zustimmung von mindestens einem Zwanzigstel der Wahlberechtigten binnen 3 Wochen (Art. 50 Abs. 2 S. 7 hambVerf, § 9 Abs. 2 S. 1 VAbstG)
Volksinitiative bzw. „Zulassung Volksbegehren des Volksbegehrens“
Synopse der wichtigsten Erfolgsvoraussetzungen landesrechtlicher Volksgesetzgebungsinstrumente („Zustandekommen“ bzw. „Annahme“) (Fortsetzung)
28 II. Der (verfassungs-)rechtliche Rahmen plebiszitärer Elemente
Zustimmung von mindestens 15% bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) Abstimmungsbeteiligung der Hälfte der Stimmberechtigten (Art. 68 Abs. 4 S. 2, 69 Abs. 3 S. 2 nrwVerf)
Zustimmung von 8% der Stimmberechtigten innerhalb von 8 Wochen (Art. 68 Abs. 1 S. 7 nrwVerf; § 12 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 VIVBVEG)
NordrheinWestfalen
Zustimmung von mindestens einem Viertel bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) der Hälfte der Wahlberechtigten (Art. 49 Abs. 2 ndsVerf, § 33 Abs. 1 NVAbstG)
Zustimmung von 10% der Stimmberechtigten binnen 6 Monaten (Art. 48 Abs. 3 S. 1 ndsVerf, § 17 Abs. 1, § 22 Abs. 2 NVAbstG)
Art. 67a f. • Unterschriften von einem halben Prozent der StimmnrwVerf, §§ 1 ff. berechtigten VolksinitiativeVerfahrensgesetz • Eintragungsfrist: 1 Jahr • Amtseintragung (VIVBVEG) • Ausnahmebereiche: „Finanzfragen, Abgabengesetze und Besoldungsordnungen“ (Art. 67a Abs. 2 S. 1, 68 Abs. 1 S. 4 nrwVerf, § 1 Abs. 3 Nr. 2 VIVBVEG)
• 70.000 Unterschriften • Eintragungsfrist: 1 Jahr • Freie Unterschriftensammlung • Ausnahmebereiche: „Landeshaushalt, (. . .) öffentliche Abgaben sowie (. . .) Dienstund Versorgungsbezüge“ (Art. 47 S. 1, 48 Abs. 1 S. 3 ndsVerf, §§ 3, 12 Abs. 1 S. 3 NVAbstG)
Niedersachsen Art. 47 ff. ndsVerf, §§ 3 ff. Volksabstimmungsgesetz (NVAbstG)
Zustimmung von mindestens einem Drittel bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) der Hälfte der Wahlberechtigten (Art. 60 Abs. 4 S. 1, 2 m-vVerf, §§ 22 Abs. 2, 23 S. 1 VaG M-V)
Zustimmung von mindestens 120.000 der Wahlberechtigten binnen 2 Monaten (Art. 60 Abs. 1 S. 3 m-vVerf, § 12 Abs. 3, § 13 S. 2 Nr. 2 VaG M-V)
Mecklenburg- Art. 59 f. • 15.000 Unterschriften Vorpommern m-vVerf, §§ 7 ff. • Keine Eintragungsfrist Volksabstim• Freie Unterschriftensammmungsgesetz lung (VaG M-V) • Ausnahmebereiche: „Haushalt des Landes, (. . .) Abgaben und Besoldung“ (Art. 59 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 m-vVerf, § 7 S. 2 Nr. 2 VaG M-V)
(Fortsetzung nächste Seite)
Zustimmung von mindestens der Hälfte bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) zwei Dritteln der abgegebenen gültigen Stimmen (Art. 68 Abs. 4 S. 2, 69 Abs. 3 S. 2 nrwVerf)
Zustimmung durch die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen (Art. 49 Abs. 2 ndsVerf, § 33 Abs. 1 S. 1 NVAbstG)
Zustimmung der Mehrheit bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) zwei Dritteln der abgegebenen gültigen Stimmen (Art. 60 Abs. 4 S. 1, 2 m-vVerf, §§ 22 Abs. 2, 23 S. 1 VaG M-V)
2. Landesebene 29
Art. 99 f. saarlVerf, §§ 2 ff. Volksabstimmungsgesetz (VoAstG)
Art. 80 f. sachsanhVerf, §§ 4 ff. Volksabstimmungsgesetz (VAbstG)
Saarland
SachsenAnhalt
• • • •
• • • •
• • • •
Art. 107 ff. rpVerf, §§ 60d ff. LWG
RheinlandPfalz
30.000 Unterschriften Keine Eintragungsfrist Freie Unterschriftensammlung Ausnahmebereiche: „Haushaltsgesetze, Abgabengesetze und Besoldungsregelungen“ (Art. 80 Abs. 2 S. 1, 81 Abs. 1 S. 3 sachsanhVerf, § 5 Abs. 2 Nr. 2 VAbstG)
5.000 Unterschriften Eintragungsfrist: 6 Monate Amtseintragung Ausnahmebereiche: „finanzwirksame Gesetze, insbesondere Gesetze über Abgaben, Besoldung, Staatsleistungen und den Staatshaushalt“; „Änderung der Verfassung“ (Art. 99 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 S. 2, Art. 100 Abs. 4 saarlVerf §§ 2 Abs. 2 Nr. 2 VoAbstG))
30.000 Unterschriften Eintragungsfrist: 1 Jahr Amtseintragung Ausnahmebereiche: „Finanzfragen, Abgabengesetze und Besoldungsordnungen“ (Art. 108a Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 1 rpVerf, §§ 60d, 60e Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 LWG)
Volksinitiative bzw. „Zulassung des Volksbegehrens“
Art./§§
Bundesland
Zustimmung von mindestens 11% der Wahlberechtigten binnen 6 Monaten (Art. 81 Abs. 1 S. 4 sachsanhVerf; § 12 Abs. 2 VAbstG)
Zustimmung von mindestens einem Fünftel der Stimmberechtigten binnen 2 Wochen (Art. 99 Abs. 2 S. 3 saarlVerf § 4 S. 2 VoAstG)
Zustimmung von mindestens 300.000 der Stimmberechtigten binnen 2 Monaten (Art. 109 Abs. 3 S. 1 rpVerf)
Volksbegehren
Zustimmung von mindestens einem Viertel bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) der Hälfte der Wahlberechtigten (Art. 81 Abs. 3 S. 2, Abs. 5 sachsanhVerf)
Zustimmung von mehr als der Hälfte der Stimmberechtigten (Art. 100 Abs. 3 saarlVerf)
Abstimmungsbeteiligung von mindestens einem Viertel der Stimmberechtigten (Art. 109 Abs. 4 S. 3 2. HS rpVerf, § 81 LWG)
Zustimmungsquorum
Zustimmung der Mehrheit bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) zwei Dritteln der abgegebenen gültigen Stimmen (Art. 81 Abs. 3 S. 2, Abs. 4 S. 2, Abs. 5 sachsanhVerf)
Zustimmung durch die Mehrheit der Stimmen (Art. 100 Abs. 3 saarlVerf)
Zustimmung durch die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen (Art. 109 Abs. 4 S. 3 1. HS, 129 Abs. 1 rpVerf, § 81 rpLWG)
Mehrheitsverhältnis
Volksentscheid („Volksabstimmung“)
Synopse der wichtigsten Erfolgsvoraussetzungen landesrechtlicher Volksgesetzgebungsinstrumente („Zustandekommen“ bzw. „Annahme“) (Fortsetzung) 30 II. Der (verfassungs-)rechtliche Rahmen plebiszitärer Elemente
Art. 71 ff. sächsVerf, §§ 3 ff. Volksentscheidgesetz (VVVG)
Art. 41 f. s-hVerf, §§ 5 ff. Volksabstimmungsgesetz (VAbstG)
Art. 82 thürVerf, §§ 9 ff. Thüringer Volksbegehren-Gesetz (ThürBVVG)
Sachsen
SchleswigHolstein
Thüringen
• • • •
• • • •
• • • •
5.000 Unterschriften Eintragungsfrist: 6 Wochen Freie Sammlung Ausnahmebereiche: „Landeshaushalt, Dienst- und Versorgungsbezüge, Abgaben und Personalentscheidungen“ (Art. 82 Abs. 2 thürVerf, §§ 10, 11 ThürBVVG)
20.000 Unterschriften Eintragungsfrist: 1 Jahr Amtseintragung Ausnahmebereiche: „Haushalt des Landes, über Dienstund Versorgungsbezüge und öffentliche Abgaben“ (Art. 41 Abs. 1, Abs. 2 s-hVerf, § 6 Abs. 2 Nr. 2 VAbstG)
40.000 Unterschriften Keine Eintragungsfrist Freie Sammlung Ausnahmebereiche: „Abgaben-, Besoldungsund Haushaltsgesetze“ (Art. 71 Abs. 1 S. 2, Art. 73 Abs. 1 sächsVerf)
Zustimmung von 8% der Stimmberechtigten binnen 2 Monaten (in amtlichen Listen) oder 10% der Stimmberechtigten binnen 4 Monaten (in freier Sammlung) (Art. 82 Abs. 5 S. 2 thürVerf; § 17 Abs. 1 ThürBVVG)
Zustimmung von 5% der Stimmberechtigten binnen 6 Monaten (Art. 42 Abs. 1 S. 5 s-hVerf)
Zustimmung von mindestens 450.000 oder 15% der Stimmberechtigten binnen 8 Monaten (Art. 72 Abs. 2 S. 1 sächsVerf, §§ 20, 22 Abs. 1 VVVG) Zustimmung von mindestens der Hälfte bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen (Art. 42 Abs. 4 s-hVerf)
Zustimmung durch die Mehrheit der abgegebenen Stimmen (Art. 82 Abs. 7 S. 3 1. HS, Art. 83 Abs. 2 S. 2 1. HS thürVerf)
Zustimmung von mindestens einem Viertel bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) 40% der Stimmberechtigten (Art. 82 Abs. 7 S. 3 2. HS, Art. 83 Abs. 2 S. 2 2. HS thürVerf)
Zustimmung durch die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen (Art. 72 Abs. 4 S. 2 sächsVerf)
Zustimmung von mindestens einem Viertel bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) der Hälfte der Stimmberechtigten (Art. 42 Abs. 4 s-hVerf)
Kein Quorum bei einfachen Gesetzen bzw. (im Falle der Verfassungsänderung) Zustimmung von der Mehrheit der Stimmberechtigten (Art. 74 Abs. 3 S. 3 sächsVerf)
2. Landesebene 31
32
II. Der (verfassungs-)rechtliche Rahmen plebiszitärer Elemente
das Produkt einer Meinungsverschiedenheit zwischen Landesregierung und Parlamentsmehrheit als vielmehr eines regierungsinternen Zwistes und ein willkommener Konstruktionsweg, um die das Land zerreißende Frage des Bahnhofsbaus im Wege kalkulierten parlamentarischen Scheiterns des Ausstiegsgesetzes dem Volk zur Abstimmung vorzulegen, ohne die hohen organisatorischen, zeitlichen und inhaltlichen Hürden eines Volksbegehrens überwinden zu müssen. So wurde denn auch der Termin für die Volksabstimmung schon bestimmt und öffentlich kommuniziert, noch bevor der Landtag das Gesetz überhaupt abgelehnt hatte. Die GRÜNEN hatten die Volksabstimmung bereits zum Gegenstand ihrer Wahlversprechen erhoben. Der Verdacht einer Verfassungsumgehung liegt nicht fern. Die Entscheidungskonstellation weist erkennbare Parallelen zu der Figur der „unechten“ bzw. „auflösungsgerichteten“ Vertrauensfrage auf. Eine Anleihe bei den dort entwickelten dogmatischen Lösungsmustern erscheint angezeigt:49 Denn wie im Falle des Referendums nach Art. 60 Abs. 3 bwVerf handelt es sich bei der Vertrauensfrage nach Art. 68 GG um ein Instrument zur Bewältigung von Krisenlagen, namentlich Unstimmigkeiten oberster Verfassungsorgane in der politischen Bewertung und der Unterstützung des Regierungskurses. Beide sind darauf abgerichtet, die politische Handlungsfähigkeit in einer brisanten politischen Frage wiederherzustellen. Das lässt es nach der Sachlogik der Vorschriften angängig erscheinen, eine solche Krisenlage dem Tatbestand als ungeschriebene Voraussetzung unterlegt zu sehen. Denn ebenso wenig, wie die Vertrauensfrage zu einem reinen Instrument der Selbstauflösung des Parlaments degenerieren darf, darf das Referendum zu einem bequemen Weg verkommen, die verfassungsrechtlich vorgesehenen Voraussetzungen eines Volksbegehrens (vgl. etwa Art. 59 Abs. 2 bwVerf: von „mindestens einem Sechstel der Wahlberechtigten gestellt“) nonchalant zu unterwandern.50 Wie im Falle der unechten Vertrauensfrage gilt aber auch hier: Das Referendum legt die Entscheidung über eine Volksabstim49
BVerfG, Urt. v. 25.8.2005 – 2 BvE 4/05 –, BVerfGE 114, 121 (151). Insoweit a. A. Hermes/Wieland, Rechtliche Möglichkeiten des Landes BadenWürttemberg, die aus dem Finanzierungsvertrag „Stuttgart 21“ folgenden Verpflichtungen durch Kündigung oder gesetzliche Aufhebung auf der Grundlage eines Volksentscheides zu beseitigen, in: Feld/Huber/Jung u. a. (Hrsg.), Jahrbuch für direkte Demokratie 2010, 2011, 350 (384), die eine Missbrauchsgefahr im Falle des Referendums – anders als im Falle der Vertrauensfrage – a priori ausschließen. Zwar sind die Gefahrenherde in beiden Konstellationen jeweils strukturell anderer Natur – in dem einen Fall besteht die Gefahr einer Kollision mit dem Zweck der Art. 63, 67 und 68 GG, eine handlungsfähige Regierung zu gewährleisten und ein in der Verfassung nicht vorgesehenes Selbstauflösungsrecht des Parlaments gleichsam durch die Hintertür einzuführen, in dem anderen Fall besteht die Gefahr einer Verschiebung der Grenzlinien zwischen dem in der Verfassung angelegten jeweiligen Wirkungskreis direkter und indirekter Demokratie. In beiden Fällen droht aber eine Verfassungsumgehung. 50
2. Landesebene
33
mung zuvörderst in das politische Ermessen und die damit verbundenen Opportunitätsüberlegungen der Landesregierung sowie der qualifizierten Parlamentsminderheit als verfahrensverantwortlichen obersten Verfassungsorganen. Ihnen gesteht die Verfassung einen weiten Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu, der die gerichtliche Kontrollmacht reduziert.51 Zum Ausdruck kommt dies etwa darin, dass die Regierung ihre Gesetzesvorlage zur Volksabstimmung bringen „kann“, dazu aber keineswegs verpflichtet ist, auch wenn der Landtag es mit dem Drittel seiner Mitglieder beantragt. Weder der Landtag noch die Regierung vermögen mithin ein solches Referendum aus eigener Kraft zu erzwingen, vielmehr handelt es sich um ein kaskadenartiges kooperatives Zusammenwirken mehrerer Verfassungsorgane. Ihren Verfahrenshandlungen und politischem Kalkül, das letzte Wort des Souveräns in einer politisch heiklen Frage einzuholen, vertraut sich die Verfassung grundsätzlich an. Das Referendum präsentiert sich dabei als Werkzeug der Landesregierung, Gesetzesvorlagen umzusetzen, die ihr politisch wichtig sind, und sich zu diesem Zweck – gegen die Mehrheit des Landtages – die Rückendeckung des Volkes zu holen.52 Die Landesregierung Baden-Württembergs identifiziert sich zwar nicht als Ganzes politisch mit dem Ausstiegsvorhaben. Die Unterscheidung zwischen formellem und materiellem politischem Bekenntnis sowie echter und unechter Urheberschaft gleicht jedoch der Quadratur des Kreises. Die Landesregierung Baden-Württembergs ist (wenn auch nicht unisono, so doch als Einheit) gewillt, mit dem Ausstiegsgesetz ihre politischen Gestaltungsvorstellungen umzusetzen, falls der Volksentscheid ein entsprechendes Ergebnis zeitigt. Insbesondere verlangt die dem grünen Ministerpräsidenten zukommende Richtlinienkompetenz (Art. 49 Abs. 1 S. 1 bwVerf) für politische Grundsatzentscheidungen den anderen Mitgliedern des Kollegialgremiums die Hintanstellung gegebenenfalls abweichender eigener politischer Überzeugungen und politische Solidarität ab. 51 Spiegelbildlich dazu verläuft auch die Diskussion zur Überprüfbarkeit von „Krisenlagen“ nach Art. 68 GG. Soll eine intensive gerichtliche Prüfung möglich werden, müsste dazu eine „Inquisition“ erfolgen, aus welchen Gründen die Abgeordneten der Regierung ihr Vertrauen versagen; das nach außen bekundete Verhalten der Abgeordneten müsste mithin auf seine Motive durchleuchtet werden. Dies stößt nicht nur auf tatsächliche, sondern im Hinblick auf die durch Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG unter besonderen Schutz gestellte Freiheit des Mandats auch auf verfassungsrechtliche Grenzen. Insofern wird auch hier dem Bundespräsidenten ein weiter Entscheidungsspielraum zugestanden, der sich gerichtlicher Überprüfung weitgehend verschließt, BVerfG, Urt. v. 16.2.1983 – 2 BvE 1/83 et al. –, BVerfGE 62, 1 (50 f.); BVerfG, Urt. v. 25.8.2005 – 2 BvE 4/05 –, BVerfGE 114, 121 (148); vgl. Hermes, in: Dreier/Wittreck (Fn. 35), Art. 68 Rn. 15 ff. 52 Ebenso etwa Dolde/Porsch, Gutachterliche Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit der Initiative der SPD für eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm, 2010, S. 24 f.
34
II. Der (verfassungs-)rechtliche Rahmen plebiszitärer Elemente
Das Referendum nach Art. 60 Abs. 3 bwVerf knüpft – anders als die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG – auch nicht zwingend an eine Regierungskrise oder einen unüberwindbaren Dissens zwischen Regierung und Parlament an. Vielmehr genügt das Scheitern einer Regierungsvorlage, die angesichts der politischen Zerrissenheit das Bedürfnis nach einer Konsultation des Volkes als des Souveräns begründet, von der die Verfassung die höchste Befriedungswirkung erwartet. Nicht zuletzt drohen hohe Anforderungen an eine materielle Konfliktlage die Vorschrift des Art. 60 Abs. 3 bwVerf leicht leerlaufen zu lassen, verfügt doch die Regierung regelmäßig über eine Parlamentsmehrheit, die nachhaltige inhaltliche Konflikte über Gesetzesvorlagen sehr unwahrscheinlich macht. So wollte wohl denn auch der Verfassungsgeber die Vorschrift zwar als „Ausnahmefall“, aber doch hinreichend weit verstanden wissen, um dem Volk als Teil des demokratischen Gedankens der Selbstbestimmung durch die Betroffenen eine Entscheidung über wichtige Sachfragen zu ermöglichen, insbesondere bei der „Ausführung verfassungsrechtlicher Bestimmungen, etwa Fragen auf kulturellem und schulischem Gebiet, Fragen der Gemeinde- und Kreisordnung oder der Gliederung und des Aufbaues des neuen Landes“ und „gerade wenn Gesetzesvorlagen der Regierung nur mit geringer oder mit einer nicht konformen Mehrheit abgelehnt würden, wenn bei der Abstimmung die Meinungsverschiedenheiten quer durch alle Parteien gingen“.53 Gedacht hat man dabei zwar wohl vor allem an Fragen, „die bei der Wahl des Landtags noch keine Rolle gespielt hatten oder nicht vorauszusehen waren“,54 was im Falle des Projektes „Stuttgart 21“ gerade nicht der Fall war. Darin kommt die Reservefunktion des Instruments zum Ausdruck. Das schließt es aber nicht aus, das Volk auch in bereits im Wahlkampf politisch besonders heiklen, in der Bevölkerung in Sonderheit umstrittenen Fragen als „obersten Gesetzgeber“ anzurufen.55 Die Frage, ob das Referendum eine Regierungskrise voraussetzt, ist in den Beratungen der Verfassungsgebenden Landesversammlung erörtert, aber verneint worden. Dass die Konfliktlage in der Norm keinen Niederschlag fand, darf als beredtes Schweigen der Väter und Mütter der Landesverfassung gedeutet werden. Für die dem Art. 60 Abs. 3 bwVerf entsprechende Fassung gab der Staatssekretär Dr. Kaufmann insbesondere zu Protokoll, „die von der Mehrheit abweichende Auffassung müsste nicht zu einer Regierungskrise führen“56. Der Weg eines Referendums nach Art. 60 Abs. 3 ist der baden-württembergischen Landesregierung daher auch im Falle des Projekts „Stuttgart 21“ grundsätzlich nicht verwehrt.57 53 Verfassungsgebende Landesversammlung Württemberg-Baden, Beilage 1103, S. 62. 54 Ibid. 55 Ibid. 56 Ibid.
3. Kommunale Ebene
35
Politisch aber birgt das Unterfangen eines Volksentscheids ein hohes Risiko. Es setzt nicht nur die beiden in der Zustimmung zu dem Projekt gespaltenen Koalitionspartner einer Zerreißprobe aus, die die junge Koalitionsehe in den Augen Vieler bereits in den „Regierungsflitterwochen“ als Scheidungsaspirant zerrüttet erscheinen lässt. Sie bringt auch die GRÜNEN selbst in ein Dilemma: Womöglich müssen sie ein Vorhaben vollziehen, das zu verhindern sie angetreten waren und dessen Ablehnung sie ihre jetzige Rolle als Regierungspartei zu einem Teil zu verdanken haben. So kann die von ihnen geforderte Volksabstimmung in eine Selbstkannibalisierung und Glaubwürdigkeitsfalle münden, die dann, wenn sie zuschnappt, unter Umständen in die letzten Worten Vergniauds mündet: „Die Revolution frisst ihre eigenen Kinder.“
3. Kommunale Ebene Die eifrigsten „Gehschulen“ direkter Demokratie sind die Gemeinden. Nirgendwo sonst sind die Chancen der Bürger, unmittelbar an der demokratischen Willensbildung mitzuwirken, so groß wie dort. Das entspricht durchaus dem Geist der Selbstverwaltungsgarantie. Sie lebt von der Teilhabe an den Angelegenheiten des örtlichen Gemeinwesens. So darf denn die Einschätzung von Forsthoff, dass „Demokratie und Selbstverwaltung noch unverwechselbar geschieden“ seien,58 heute zu Recht als überholt gelten. Im Gegenteil entpuppen sich die Gemeinden als idealer Verwirklichungsraum direktdemokratischer Elemente.59 Zu der Mitwirkungsform des Bürgerbegehrens als kommunalem Partizipationsinstrument bekennen sich heute alle Bundesländer.60 Sie folgten in den 90er Jahren damit dem Beispiel Baden-Württembergs und etablierten eine Partizipationsform, die auf eine verbindliche Entscheidung gemeindlicher Angelegenheiten durch die Bürger anstelle des Rates angelegt ist. 57 A. A. Dolde/Porsch (Fn. 52), S. 23 ff.; Kirchhof, Gutachterliche Stellungnahme zum Antrag der Fraktion der SPD im Landtag von Baden-Württemberg für eine Volksabstimmung über Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen – Ulm, 2010, S. 49 ff.; zu den weiteren Hürden für die Zulässigkeit der Volksabstimmung über das Projekt „Stuttgart 21“ siehe insbesondere unten S. 42 ff. und S. 66 ff. 58 Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl. 1973, S. 535. 59 Zu den Argumenten für und gegen Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene Henneke, ZG 1996, 1 (3 ff.). Zu den – in der Vergangenheit vermuteten Gefahren – Hendler, Der Landkreis 1995, 321 ff. 60 Vgl. § 21 Abs. 1 bwGemO; Art. 18a Abs. 1 bayGO; § 20 Abs. 1 S. 1 bbgKVerf; § 8b Abs. 1 hessGO; § 20 Abs. 1 S. 1 m-vKV; § 22b Abs. 1 ndsGemO (ab 1.11.2011: § 32 Abs. 1 ndsKomVG); § 26 Abs. 1 S. 1 nrwGO; § 17a Abs. 1 rpGemO; § 21a Abs. 1 saarlKSVG; § 25 Abs. 1 S. 1 sachsanhGO; §§ 24 Abs. 1, 25 Abs. 1 S. 1 sächsGemO; § 16g Abs. 1 s-hGemO; § 17 Abs. 1 S. 1 thürKO.
36
II. Der (verfassungs-)rechtliche Rahmen plebiszitärer Elemente
Das Partizipationssystem ist hier (im Unterschied zum dreistufigen Volksbegehren auf Länderebene) nur zweistufig: Das Bürgerbegehren erzwingt die Entscheidung,61 der Bürgerentscheid fällt sie.62 Die Resonanz der Bürger auf die Möglichkeiten partizipativer Mitwirkung ist groß – gleich, ob es nun um die Entscheidung über einen Rathausneubau, die Benennung einer Straße oder den Bau einer Moschee geht. Mehr als zweitausend Mal haben Bürgerentscheide die Deutschen und die wahlberechtigten Unionsbürger (Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG) inzwischen an die Urne gerufen. Dem korrespondiert die Offenheit, die die Gemeindeordnungen in der Ausgestaltung der direktdemokratischen Elemente bewusst an den Tag legen. Unsere Rechtsordnung folgt damit einem Modell der Partizipation von unten nach oben: Mit der Größe der politischen Einheit nimmt das Maß direktdemokratischer Handlungsmöglichkeiten ab.
4. Europäische Ebene Die geringe Bedeutung, die direktdemokratische Systemelemente bislang auf der Ebene der Europäischen Union entfalten, fügt sich in dieses Bild bruchlos ein. Die Union schien bislang – wiewohl die Bedeutung direkter Demokratie allenthalben wächst – plebiszitäre terra incognita. So bringt denn auch Art. 10 Abs. 1 EUV explizit und unmissverständlich ein Bekenntnis zum Grundsatz der repräsentativen Demokratie zum Ausdruck. Auch wenn es von dem Elitenprojekt „Europa“, dessen Visionen und Fortentwicklungen von politischen Leitideen seiner Gründerväter zehrt, hin zu einem Volksprojekt „Europa“, das auf der gestaltenden Mitwirkung seiner Bürger aufbaut und von ihr lebt, noch ein weiter Weg ist. Auch in der Union kommt in jüngerer Zeit Bewegung in die Ausgestaltung partizipativer Elemente: Wiewohl der Vertrag von Lissabon – zumindest in Deutschland63 – ohne Volkes Stimme Verbindlichkeit erlangte, verleiht er ihr aber selbst eine neue Verbindlichkeit. Denn er vermittelt dem europäischen Volk neue Mitwir61 § 21 Abs. 3 S. 1 bwGemO; Art. 18a Abs. 1 bayGO; § 20 Abs. 1 S. 1 bbgKVerf; § 8b Abs. 1 hessGO; § 20 Abs. 4 m-vKV; § 22b Abs. 1 ndsGemO (ab 1.11.2011: § 32 Abs. 1 ndsKomVG); § 26 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 nrwGO; § 17a Abs. 1 rpGemO; § 21a Abs. 1 S. 1 Hs. 1 saarlKSVG; § 25 Abs. 1 S. 1 sachsanhGO; § 25 Abs. 1 S. 1 sächsGemO; § 16g Abs. 3 S. 1 s-hGemO; § 17 Abs. 1 thürKO. 62 § 21 Abs. 1 bwGemO; Art. 18a Abs. 2 bayGO; § 20 Abs. 2 S. 2 bbgKVerf; § 8b Abs. 1 hessGO; § 20 Abs. 1 m-vKV; § 22b Abs. 1 ndsGemO (ab 1.11.2011: § 33 ndsKomVG); § 26 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 nrwGO; § 17a Abs. 1, 2 rpGemO; § 21a Abs. 1 S. 1 Hs. 2 saarlKSVG; § 26 Abs. 1 sachsanhGO; § 24 Abs. 1 sächsGemO; § 16g Abs. 1 s-hGemO; § 17 Abs. 6 thürKO. 63 Anders beispielsweise in Irland. Hier wurde im Wege eines Referendums über die Zustimmung zum Vertrag von Lissabon entschieden; vgl. Art. 46 Abs. 2 i. V. m. Art. 29 Abs. 4 Nr. 3–5, Nr. 7 der irischen Verfassung.
4. Europäische Ebene
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kungsmöglichkeiten: Er implementiert erstmals plebiszitäre Elemente in das europäische Vertragswerk. Die Unionsbürger können auf der Grundlage des Art. 11 Abs. 4 EUV die Kommission auffordern, Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht der Bürger eines Rechtsakts bedarf.64 Bei genauerem Hinsehen erweist sich die Vorschrift allerdings als reichlich kryptisch. So fragt sich nicht nur, was genau eine „erhebliche Anzahl“ von Mitgliedsstaaten im Sinne des Artikel 11 Abs. 4 UAbs. 1 EUV ist,65 sondern es bleibt auch offen, ob die Kommission die Initiative als reinen Denkanstoß, als „food for thought“, begreifen darf, den sie genauso gut gleich wieder unbesehen verwerfen kann, oder ob das Verfahren in eine Gesetzesinitiative münden muss.66 Dies dürfte alsbald den EuGH beschäftigen. Das formalisierte Verfahren – immerhin 1 Mio. Unterschriften sind erforderlich – sowie sein betont subjektiv-rechtlicher Einschlag streiten jedenfalls für eine Bindungswirkung der Initiative. Das schlichte Recht, der Kommission sachliche Hinweise für ihre Arbeit zu geben, hätte keiner besonderen Normierung bedurft. Dieses Recht ergibt sich nämlich bereits aus Artikel 20 Abs. 2 lit. d AEUV.67 Umgekehrt käme eine volle Bindung der Kommission in der Sache einem eigenen Gesetzesinitiativrecht des Volkes gleich. Ein solches gesteht der Vertrag dem Volk, indem er es an die Kommission und deren politisches Ermessen verweist, indes bewusst nicht zu. Die Kommission ist daher nicht in der Weise an die Leine des Volkes gelegt, dass sie zur Gesetzesinitiative verpflichtet wäre. Sie muss ihre Abweichung jedoch auf sachliche Gründe stützen.68 Aus der Initiativfunktion der Kommission im legislativen Verfahren erwächst so eine verfahrensrechtliche Organtreuepflicht, das Plebiszit zu bescheiden und in ihre sachlichen Erwägungen einzubeziehen. Die Initiative entfaltet daher nur eine politische, nicht aber eine unmittelbare rechtliche Bindungswirkung.
64 Ausführlich zur Entstehungsgeschichte der Vorschrift Kaufmann, Direkte Demokratie auf der transnationalen Ebene, in: Feld/Huber/Jung u. a. (Hrsg.), Jahrbuch für direkte Demokratie 2010, 2011, 201 ff.; umfassend zu dem Instrument Piesbergen, Die Europäische Bürgerinitiative nach Art. 11 Abs. 4 EUV, 2011. 65 Siehe dazu Art. 24 UAbs. 1 AEUV; vgl. auch Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/ Nettesheim u. a. (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, 44. Egl. 2011, Art. 11 Rn. 25. 66 Zum Streitstand auch Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim u. a. (Fn. 65), Art. 11 Rn. 27 f. 67 Vogel, Die europäische Bürgerinitiative, in: Lieb/Maurer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, 3. Aufl. 2009, 37 (40). 68 In diese Richtung auch: Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union 2006, Art. I-47 Rn. 19.
III. Berührungspunkte und Konfliktlinien zwischen plebiszitärer und repräsentativer Demokratie bei dem Ringen um die Vorherrschaft in der demokratischen Willensbildung Das Nebeneinander von plebiszitärer und repräsentativer Demokratie induziert mit vorhersehbarer Zwangsläufigkeit Kompetenzkonflikte um die Vorherrschaft in der staatlichen bzw. kommunalen Willensbildung. Diese sind dort besonders lebhaft, wo die Volksgesetzgebung vollständig ausgebaut ist, namentlich in den Landesverfassungen sowie den Gemeindeordnungen, auf deren Grundlage die Mitwirkung des Bürgers ein besonderes Maß an Verbindlichkeit für sich beanspruchen kann. War die Entscheidungsfindung zuvor bei der Volks- bzw. Gemeindevertretung weitgehend monopolisiert, prallen nunmehr zwei Willensbildungssysteme aufeinander. Für die Volks- bzw. Bürgervertretung kann sich insbesondere die Versuchung zu einem unwiderstehlichen Anreiz auswachsen, die plebiszitären Verwirklichungsziele zu unterminieren – getreu der Losung des Kabarettisten Volker Pispers: „Demokratie heißt eben nicht, die Macht in die Hände des Volkes zu legen. Demokratie heißt, dem Volk das Gefühl zu vermitteln, es habe eine Wahl“. Psychologische Triebfeder mag da die Furcht vor politischem Gesichtsverlust oder die Abwehr unliebsamer Einmischung sein. Besondere Sensibilität erlangt dies dadurch, dass die Gemeindevertretung regelmäßig über die Zulassung eines Bürgerbegehrens und in SchleswigHolstein der Landtag über die Zulässigkeit eines Volksbegehrens entscheidet. Hier liegt ein Schalthebel, der Missbrauch möglich macht (dazu unten 1.). Damit sind die Konfliktfelder noch nicht ausgeschöpft. Sie erstrecken sich weiter über die Erledigung bei Übernahme des Anliegens (unten 2.), die Einwirkung des Parlaments bzw. der Gemeindevertretung auf den Akt der Volkswillensbildung durch amtliche Äußerungen (unten 3.) und reichen bis zu vorgreifenden Maßnahmen der Bürger- bzw. Volksvertretung oder der Verwaltung (unten 4.) und Fragen der Bindungswirkung im Anschluss an die durch das Volk getroffene Entscheidung (unten 5.). Auf all diesen Ebenen ringen die Bürger und ihre gewählten Vertretungen um die „Lufthoheit“. Daran knüpfen sich zugleich zahlreiche intrikate Fragen des Rechtsschutzes (unten 6.).
1. Die Entscheidung über die Zulässigkeit eines Volksbegehrens
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1. Eröffnung der Konkurrenz zwischen beiden Willensbildungsmechanismen der Demokratie: Die Entscheidung über die Zulässigkeit eines Volksbegehrens bzw. Bürgerbegehrens als Nadelöhr des demokratischen Teilhabeprozesses Die Zulassung des Volks- bzw. Bürgerbegehrens ist die erste und nicht selten wichtigste Bewährungsprobe im Verhältnis zwischen den Handlungsträgern repräsentativer und partizipatorischer Demokratie. Sie liegt in den Händen der Volks- bzw. Gemeindevertretung – wenn auch nicht in ihrem Ermessen. Der Zulassungsentscheidung kommt die Funktion einer Rechtmäßigkeitskontrolle zu:69 Nur über solche Gegenstände soll eine plebiszitäre Entscheidung eingeholt werden, für die die Landesverfassung bzw. die Gemeindeordnung das Ventil geöffnet hat. Psychologisch ist diese Entscheidungssituation insoweit intrikat, als sie eine Verlagerung der Entscheidungskompetenz einläutet. Das nährt die Versuchung für die Volks- bzw. Gemeindevertretung, unliebsam erscheinende Fragestellungen von vornherein auszuschalten.70 Auf der anderen Seite ist der Ausschluss irreführender oder unzulässiger Fragen auch gerade geboten. Denn in ihnen kann sich demokratische Willensbildung nicht entfalten. Die Abstimmung über unzulässige Fragen hinterlässt eine Spur der Unzufriedenheit und enttäuschte Erwartungen, die das Instrument plebiszitärer Demokratie desavouieren können. In dem Recht der Fragestellung liegt insoweit ein Privileg der Initiatoren des Volksbegehrens, zugleich aber der neuralgische Punkt des plebiszitären Verfahrens.71 Denn bei der dem Volk vorgelegten Frage handelt es sich gleich69 Vgl. auch VG Würzburg, Urt. v. 2.12.1998 – W 2 K 98.570 –, BayVBl. 1999, 282 (283): Eine Zweckmäßigkeitskontrolle findet nicht statt. 70 Zum umgekehrten Fall, der rechtswidrigen Zulassung eines Bürgerbegehrens, das mangels Erfüllung der gesetzlichen Vorgaben nicht hätte zugelassen werden dürfen, Stapelfeldt/Siemko, NVwZ 2010, 419 (420). Diese halten, von der Prämisse ausgehend, dass es sich bei der Zulassungsentscheidung um einen Verwaltungsakt handelt, vor Durchführung des Bürgerbegehrens § 48 LVwVfG für einschlägig. Nach der Durchführung eines Bürgerbegehrens sehen sie Art. 20 Abs. 3 GG auf den Posten gestellt: Ein rechtswidriger Bürgerentscheid soll danach wegen der Bindung an Recht und Gesetz nicht vollzogen werden dürfen (so auch Peine/Starke, DÖV 2007, 740 [741]). Andere Stimmen gehen in einem solchen Fall sogar von der Nichtigkeit des Bürgerentscheides aus, VGH BW, Urt. v. 14.11.1974 – I 453/74 –, DVBl. 1975, 552; Burgi, Kommunalrecht, 3. Aufl. 2010, § 12 Rn. 31; Scheffer, LKV 2007, 499 f. 71 Die Art und Reihenfolge der Fragestellung, insbesondere ob das „Ja“ der Fragestellung auf die Durchführung oder Verhinderung eines Projektes gerichtet ist, hat – etwa im Hinblick auf die Einhaltung von Quoren – auch ganz erhebliche Auswirkungen auf die Erfolgsaussichten des Volks- bzw. Bürgerbegehrens. Zu den sich damit verbindenden Fragestellungen im Rahmen eines Bürgerbegehrens VG Karlsruhe,
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
sam um ein „Fertiggericht“, nicht um Mitmach-Cuisine. Auszuloten gilt es umso mehr, welche Kontrollkompetenz die direktdemokratische Funktion des Verfahrens fordert. Die Gemeindeordnungen äußern sich dazu nicht klar. Neben formellen Voraussetzungen, etwa der Begründung und einem Kostendeckungsvorschlag, bescheiden sie sich regelmäßig mit dem Erfordernis der Benennung der zu entscheidenden Frage.72 Die Landesverfassungen üben sich in der expliziten Ausgestaltung verfassungsunmittelbarer Vorgaben weitgehend in Zurückhaltung und überlassen die Formulierung formeller Erfordernisse zumeist der Ausgestaltung durch einfachgesetzliche Regelungen in den jeweiligen Volksabstimmungsgesetzen.73 Besondere Bedeutung erlangt insoweit sehr häufig das Gebot der Sachlichkeit und Bestimmtheit [unten a)]. Daneben bildet in inhaltlicher Hinsicht vor allem der sowohl in den meisten Gemeindeordnungen als auch in allen Landesverfassungen verankerte Haushaltsvorbehalt [unten b)] einen beliebten Zankapfel. a) Gebot der Sachlichkeit und Bestimmtheit; Koppelungsverbot Auch soweit die Landesverfassungen und die Gemeindeordnungen dies überwiegend nicht ausdrücklich bestimmen, ergibt sich aus dem Ziel, den demokratischen Willen in plebiszitären Gestaltungsakten unverfälscht zum Ausdruck zu bringen, das ungeschriebene Gebot der Bestimmtheit und Sachlichkeit der vorzulegenden Frage. Abstimmungsfähig ist zwar nicht nur das „Ob“ eines Projektes, sondern auch das „Wie“, „Wo“ oder „Wann“.74 Da aber weder Nachfragen noch Änderungen möglich sind, muss der Vorschlag das Gewollte eindeutig enthalten.75 Viele aus der Mitte des Volkes stammende Bürger- und Volksbegehren tun sich damit nicht leicht. Im Falle der Dresdner Waldschlösschenbrücke beantragte ein Bürgerbegehren etwa Urt. v. 27.5.1992 – 10 K 11494/91 –, VBlBW 1992, 481 (483); Hager, VerwArch 2007, 97 (111); Sapper, VBlBW 1983, 89 (93). 72 Vgl. § 21 Abs. 3 S. 4 bwGemO; Art. 18a Abs. 4 S. 1 bayGO; § 20 Abs. 1 S. 5 bbgKVerf; § 8b Abs. 3 S. 1, 2 hessGO; § 20 Abs. 5 S. 1 m-vKV; § 22b Abs. 3 S. 1, 2 NdsGO (ab 1.11.2011: § 32 Abs. 3 S. 1, 2 ndsKomVG); § 26 Abs. 2 S. 1 nrwGO; § 17a Abs. 3 S. 1, 2 rpGemO; § 21a Abs. 2 saarlKSVG; § 25 Abs. 2 sachsanhGO; § 16g Abs. 3 S. 4 s-hGO; § 25 Abs. 2 S. 1 u. 2 sächsGemO; § 17 Abs. 3 thürKO. 73 Vgl. dazu die Nachweise unten. S. 97 ff. 74 Hager (Fn. 71), 111. 75 Vgl. (für Bürgerbegehren) etwa HessVGH, Beschl. v. 5.10.2007 – 8 TG 1562/07 –, LKRZ 2008, 71 (72); BayVGH, Beschl. v. 8.4.2005 – 4 ZB 04.1264 –, NVwZ-RR 2006, 209 (210).
1. Die Entscheidung über die Zulässigkeit eines Volksbegehrens
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die Frage: Sind Sie für den Bau einer „Dresden-typischen Brücke?“. Wie aber soll eine Dresden-typische Brücke aussehen – mit Stahlfachwerk wie die Loschwitzer Brücke, mit Steingewölbe wie die Augustusbrücke, ein mixtum compositum? Die Frage wurde zu Recht nicht zugelassen.76 Aus der direktdemokratischen Funktion des Volks- bzw. Bürgerbegehrens ergibt sich auch, dass die Fragestellung keine manipulative Verknüpfung sachlich nicht zusammenhängender Fragen vornehmen darf. Es dürfen zwar mehrere Fragen miteinander verbunden werden. Dies darf aber nicht dazu missbraucht werden, ein populäres, mehrheitsfähiges Thema in einem Paket mit einer isoliert nicht mehrheitsfähigen Frage zu verschnüren. Erforderlich ist – jedenfalls soweit die Bürger nur einheitlich abstimmen können – eine „Einheit der Materie“.77 Ob sie besteht, erfordert eine komplexe Wertung. Hier öffnet sich ein heikles Konfliktfeld an der Nahtstelle zwischen direkter und repräsentativer Demokratie. Als Anknüpfungspunkt eignen sich weniger formale Kriterien – wie die Verknüpfung durch ein allgemeines Ziel oder ein politisches Programm – als vielmehr die inhaltliche Dezision, inwieweit Sachgegenstände nach objektiver Beurteilung innerlich eng zusammenhängen und als einheitliche Materie abgegrenzt werden können. Die psychologisch nachvollziehbare Tendenz der Behauptung eigener Entscheidungskompetenz macht die Gemeindevertretung ebenso wie das Parlament für eine Entscheidung über die Zulässigkeit eines plebiszitären Begehrens denkbar ungeeignet.78 Die Landesverfassungen legen die Entscheidung über Volksbegehren regelmäßig zunächst in die Hände der Exekutive (anders aber etwa Schleswig-Holstein [Art. 42 Abs. 1 S. 3 s-hVerf]), die Gemeindeordnungen weisen die Entscheidung über Bürgerbegehren der (wenn auch streng genommen der Exekutive zuzurechnenden) Gemeindevertretung zu.79 Entsprechend dem Gedanken funktionsgerechter Aufgabenzuordnung wäre die Aufgabe in Gemeinden de lege ferenda in der Entscheidungsmacht der Rechtsaufsichtsbehörde besser aufgehoben.80 Ange76 SächsOVG, Beschl. v. 28.7.1998 – 3 S 111/98 –, SächsVBl. 1998, 272 (273); zuvor schon VG Dresden, Urt. v. 5.11.1997 – 4 K 1363/97 –, SächsVBl. 1998, 90 (92). 77 In diesem Sinne für die Schweiz ausdrücklich Art. 139 Abs. 2 der Schweizer Bundesverfassung. Für Deutschland etwa: BayVGH, Urt. v. 25.7.007 – 4 BV06.1438 –, BayVBl. 2008, 82 (zu dem Fall eines Bürgerbegehrens); einem eng verstandenen Kopplungsverbot stehen grundsätzlich kritisch gegenüber Rux (Fn. 2), S. 304 sowie wohl auch Hager (Fn. 71), 111. 78 Vgl. etwa auch Schliesky, ZG 1999, 91 (102). 79 Vgl. etwa § 21 Abs. 4 S. 1 bwGemO; Art. 18a Abs. 8 S. 1 bayGO; § 20 Abs. 2 S. 1 bbgKVerf; § 26 Abs. 6 S. 1 nrwGO; § 17a Abs. 4 S. 2 rpGemO; § 25 Abs. 4 S. 1 sachsanhGO; § 17 Abs. 4 S. 3 thürKO. 80 In diesem Sinne konsequent § 16g Abs. 5 S. 1 s-hGO.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
sichts der Bedeutung, die Volksbegehren für die politische Ordnung und das Gemeinwesen entfalten, und des logistischen Aufwandes, den sie entfachen, erweist sich eine Frustrationspotenzial ersparende präventive Normenkontrolle als sachgerechtes ergänzendes Instrument. b) Der Haushaltsvorbehalt als Handlungsgrenze der vox populi Ungeachtet der unterschiedlichen Gestaltung plebiszitärer Elemente in den Ländern nehmen nahezu alle Landesverfassungen und Gemeindeordnungen einen Themenkomplex aus dem Kreis der zulässigen Gegenstände einer Volksabstimmung heraus: Die Haushaltssatzung bzw. der Staatshaushalt untersteht – ebenso wie die Abgabenerhebung und die Besoldungsordnungen für Amtsträger – nicht dem Votum des Volkes.81 Dem liegt der nachvollziehbare Gedanke zu Grunde, dass die Verantwortung des Staatsbzw. Gemeindehaushalts dem Parlament bzw. der Gemeindevertretung als demokratisch legitimiertem Organ als eine Einheit unterstehen soll, damit es zu einem gerechten Ausgleich der Gemeinwohlinteressen in einer alle Aspekte umfassend abwägenden Entscheidung gelangen kann. Denn die Entscheidung über Einnahmen und Ausgaben ist in einem modernen Staatswesen die zentrale Steuerungsressource der Politik, programmiert und begrenzt den Handlungsrahmen künftiger politischer Entscheidungen. Historisch betrachtet, erscheint die grundsätzliche Verankerung dieses Haushaltsvorbehalts als Sicherungsinstrument eines mühsam zum Ende des 19. Jahrhunderts erkämpften Prinzips, dessen sich das deutsche Parlament nicht gleich wieder begeben wollte.82 Würden wichtige Bausteine dieser Entscheidungsbefugnis aus dem Datenkranz der Entscheidungsbefugnis des Parlaments zu Gunsten des Volkes herausgebrochen, indem sich der Spielraum über die Gesamtverteilung der Einnahmen substanziell verengt, wäre 81 Vgl. für Volksbegehren: Art. 60 Abs. 6 bwVerf; Art. 73 bayVerf; Art. 62 Abs. 2 berlVerf; Art. 76 Abs. 2 bbgVerf; Art. 70 Abs. 2 S. 1 bremVerf; Art. 50 Abs. 1 S. 2 hambVerf; Art. 124 Abs. 1 S. 3 hessVerf; Art. 60 Abs. 2 m-vVerf; Art. 48 Abs. 1 S. 3 ndsVerf; Art. 68 Abs. 1 S. 4 nrwVerf; Art. 109 Abs. 3 S. 3 rpVerf; Art. 99 Abs. 1 S. 3, 100 Abs. 4 saarlVerf; Art. 81 Abs. 1 S. 3 sachsanhVerf; Art. 73 Abs. 1 sächsVerf; Art. 41 Abs. 2 s-hVerf; Art. 82 Abs. 2 thürVerf; bzw. für Bürgerbegehren: Art. 18a Abs. 3 bayGO; § 21 Abs. 2 Nr. 4, 5 bwGemO; § 20 Abs. 3 lit. d, e, f bbgKVerf; § 8b Abs. 2 Nr. 4, 5 hessGO; § 20 Abs. 2 Nr. 3 m-vKV; § 22b Abs. 2 Nr. 3, 4 ndsGemO (ab 1.11.2011: § 32 Abs. 2 Nr. 3 ndsKomVG); § 26 Abs. 5 Nr. 3, 4 nrwGO; § 17a Abs. 2 Nr. 4, 5 rpGemO; § 21a Abs. 4 Nr. 3, 4 saarlKSVG; § 26 Abs. 2 Nr. 4, 5 sachsanhGO; § 24 Abs. 2 Nr. 3, 4, 5 sächsGemO; § 16g Abs. 2 Nr. 3, 4 s-hGO; § 17 Abs. 2 Nr. 3, 6 thürKO. 82 Rux (Fn. 2), S. 119 f. Man denke nur an den beispielhaften Konflikt des preußischen Parlaments mit Bismarck um die Heeresreform und Bismarcks Indemnitätsvorlage im Jahre 1863.
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das Parlament nach der Vorstellung der Verfassungen gehindert, dieses (den vormaligen Monarchen unter dem Kampfruf „no taxation without representation“ als Teil der Emanzipierung gegen monarchische Fremdbestimmung abgetrotzte sprichwörtliche) „Königsrecht“ sachgerecht und unabhängig wahrzunehmen. So behielt denn auch die Paulskirchenverfassung von 1848 in ihrem § 102 Nr. 2 die Entscheidung dem Reichstag vor, wenn „der Reichshaushalt festgestellt wird, wenn Anleihen kontrahiert werden, wenn das Reich eine im Budget nicht vorgesehene Ausgabe übernimmt oder Matrikularbeiträge oder Steuern erhebt“. Das Budgetrecht (Art. 110 GG), das auch Teil einer dem Parlament verfassungsrechtlich zugewiesenen, nicht disponiblen Budgetverantwortung ist,83 versteht sich insoweit als substanzielles Instrument der Regierungskontrolle und parlamentarischen Gesamtsteuerungsverantwortung im repräsentativ-demokratischen System.84 So steht denn auch das Budgetrecht als ureigenes Recht des Parlaments unter dem Schutz des Demokratieprinzips des Grundgesetzes.85 Aus dem Blick geraten darf dabei zugleich nicht, dass auch das Demokratieprinzip des Grundgesetzes, wie es Art. 20 Abs. 2 GG beschreibt („Wahlen und Abstimmungen“), in seiner Natur nicht auf ein repräsentatives System der Demokratie beschränkt ist, sondern das Volk als Ursprung aller Staatsgewalt versteht, dem gegenüber eine Vorenthaltung von Entscheidungsbefugnissen rechtfertigungsbedürftig ist. In der konkreten Ausgestaltung, die das System der repräsentativen Demokratie in den weiteren Vorschriften des Grundgesetzes (insbesondere in der Ausgestaltung der Gesetzgebungsbefugnisse in den Art. 70 ff. GG sowie Art. 110 Abs. 2 GG) gefunden hat, entspricht eine umfassende Entscheidungsbefugnis des Parlaments über das Budget jedoch der Logik seines konkreten Ausgestaltungskonzepts. Das Budgetrecht ist ein Wächterinstrument über die Arbeit des Bundeskanzlers und seiner Minister; die Entscheidung über den Haushalt ist der „Ort konzeptioneller politischer Entscheidungen über den Zusammenhang von wirtschaftlichen 83 BVerfG, Urt. v. 7.9.2011 – 2 BvR 987/10 et al. –, NJW 2011, 2946 (2951, Rn. 124 ff.) – Rettungsschirm. 84 Vgl. etwa BVerfG, Urt. v. 10.12.1980 – 2 BvF 3/77 –, BVerfGE 55, 274 (303); Urt. v. 31.5.1990 – 2 BvL 12/88, 2 BvL 13/88, 2 BvR 1436/87 –, BVerfGE 82, 159 (179); Urt. v. 11.10.1994 – 2 BvR 633/86 –, BVerfGE 91, 186 (202); BayVerfGH, Beschl. v. 31.3.2000 – Vf. 2-IX-00 –, DÖV 2000, 911; gegen die Einbeziehung der Fragen des Staatshaushalts auch BremStGH, Urt. v. 14.2.2000 – St 1/98 –, DÖV 2000, 915 (917). 85 Kühling (Fn. 25), 782 geht von einem entsprechenden, durch Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbar gestellten Schutz aus; Rux (Fn. 2), S. 243 f. sieht das Budgetrecht des Parlaments über das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG als zwingende Vorgabe für die Länderverfassungen an; a. A. Neumann (Fn. 40), S. 422 ff. Vgl. zu der Problematik auch jüngst BVerfG, Urt. v. 7.9.2011 – 2 BvR 987/10 et al. –, NJW 2011, 2946 ff. – Rettungsschirm.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
Belastungen und staatlich gewährten Vergünstigungen“.86 Das Parlament bzw. der Gemeinderatssaal sind die Stätten, an denen die Verfassungen bzw. Gemeindeordungen die zentralen verantwortlichen Weichenstellungen getroffen sehen wollen. Nicht zuletzt deshalb wird das Haushaltsgesetz im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren als formelles Gesetz bzw. in den Gemeinden als Satzung beschlossen und ist die entsprechende Aussprache als politische Generaldebatte angelegt. Die Rolle des Haushaltsvorbehalts entspricht der Ausgestaltung des Verhältnisses von direkter und indirekter Demokratie mit einem insoweit grundsätzlichen Vorrang des Systems repräsentativer Demokratie, wie sie in den Landesverfassungen angelegt ist. Zugleich spiegelt sich in dem parlamentarischen Haushaltsvorbehalt nicht zuletzt ein gewisses überkommenes Misstrauen gegenüber der Botmäßigkeit des Volkes:87 Das Verbot einer plebiszitären Entscheidung über Finanzfragen soll einen Prellbock der Rationalität und Unbefangenheit gegenüber vermutetem bzw. befürchtetem Eigennutz, Maßlosigkeit und Neiddiskussionen in der Bevölkerung installieren. aa) Erkenntnisse der Ökonomik zur Rolle des Bürgers als „Kämmerer“; verfassungspolitische Würdigung Ob die Bedenken gegen die Betrauung des Volkes mit haushalterischer Macht, insbesondere zur Entscheidung über die Abgabenerhebung und andere finanzwirksame Maßnahmen, vollumfänglich tragen, darf auf der Grundlage der Erfahrungen anderer Länder und neuerer Erkenntnisse der Ökonomik durchaus hinterfragt werden: Der Bürger entpuppt sich jedenfalls keineswegs als freigebigerer Kämmerer als das Parlament. Im Gegenteil erweist sich, dass in direkten Demokratien der Bürger regelmäßig eine rigidere Ausgabenpolitik auf den Weg bringt, als dies in parlamentarischen Demokratien üblich ist.88 Die Bürger sind grundsätzlich geneigt mitzuwirken, wenn es um die Abwehr staatlicher Ausgabenerhöhungen geht.89 Staaten mit direkter Demokratie zeichnen sich durch durchschnittlich geringere Haushaltsdefizite als repräsentative Systeme aus. Ökonomen sind gar der 86 BVerfG, Urt. v. 30.6.2011 – 2 BvE 2, 5/08 –, BVerfGE 123, 267 (361) – Lissabon. 87 Dieses Misstrauen belegt für den Finanzvorbehalt in Art. 73 Abs. 4 WRV Rux (Fn. 2), S. 186. 88 Vgl. etwa Kirchgässner/Feld/Savioz, Die direkte Demokratie, 1999, S. 85 ff.; Matsusaka, Journal of Political Economy 103 (1995), 587 ff. 89 Vgl. auch die Erfahrungen deutscher Städte mit Bürgerhaushalten; siehe dazu S. 93 mit Fn. 268.
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Ansicht, dass partizipative Mitwirkungselemente eine effizientere und gerechtere Verteilung des Gesamteinkommens der Bürger induzieren.90 Ob die Bürger eine langfristig bessere Finanzplanung garantieren, ist damit freilich nicht gesagt. Das Beispiel Kaliforniens etwa nährt daran Zweifel: Selbst auf dem Höhepunkt der staatlichen Finanzkrise des in einen Staatsbankrott schlitternden Bundesstaates hat das Volk fünf von sechs Volksentscheiden abgeschmettert, die eine Zahlungsunfähigkeit durch Abgabenerhöhungen etc. abzuwenden trachteten. Nur einen Entscheid hat es durchgewunken – und zwar mit deutlicher Mehrheit: Das Einfrieren der Gehälter für Abgeordnete und Regierung. An den klammen Kassen Kaliforniens hat das Volk durchaus auch nicht unerheblichen Anteil: In ihrer „Proposition 13“ hatten die Bürger Jahre zuvor die Steuersätze für Grundsteuern eingefroren und die Schranken für die Einführung neuer Steuern drastisch erhöht, umgekehrt aber in Volksinitiativen finanzwirksame öffentliche Projekte, etwa für Schulen und den öffentlichen Nahverkehr, durchgesetzt, ohne zugleich die Kostendeckung sicherzustellen. Es offenbaren sich darin Licht- und Schattenseiten finanzwirksamer Volksgesetzgebung: Dem Volk als Haushälter ist – anders als man vielleicht vermuten könnte – eine besondere Sparsamkeit eigen, diese muss jedoch nicht für eine sinnvolle gesamtstaatliche und damit dem Gemeinwohl in Reinform entsprechende Steuerung bürgen. Die als Folge partizipativer Elemente befürchtete Maßlosigkeit staatlicher Ausgabenpolitik bleibt jedenfalls regelmäßig aus. Auch in der Schweiz,91 wo Entscheidungen über finanzwirksame Maßnahmen, auch Steuern, dem Zugriff des Volkes geöffnet sind, lässt sich dies beobachten. Teilweise sind dort gezielt fakultative oder obligatorische Referenden über bereits von den Volksvertretungen beschlossene Projekte, teilweise aber auch ein Gesetzesinitiativrecht des Volkes vorgesehen. In manchen Kantonen sind die Referenden an Grenzwerte der Staatsausgaben gekoppelt, ab deren Überschreitung eine Beteiligung des Volkes sogar zwingend verankert ist. In den Schweizer Städten, in denen die Bürger direkt über den Haushalt abstimmen können, ist der Schuldenstand je Kopf durchschnittlich um etwa 10.000 Fr. geringer als anderenorts. Empirisch darf als belegt gelten, dass in Staaten mit direkt-demokratischen Partizipationsmöglichkeiten nicht nur die Staatsverschuldung, sondern auch die gesamten staatlichen Einnahmen und Ausgaben geringer sind.92 Dieser Befund hat nachvollziehbare Gründe: Der Abgeordnete, der über Steuererhebungen oder Ausgaben befindet, hat 90
Vgl. Feld/Matsusaka, Budget Referendums and Government Spending: Evidence from Swiss Cantons, 2000, S. 17 f.; Feld/Fischer/Kirchgässner, Economic Inquiry 48 (2010), 817 ff. 91 Vgl. dazu etwa Feld/Matsusaka (Fn. 90), S. 75.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
einen kürzeren Zeithorizont vor Augen als derjenige, der die dafür erforderlichen Gelder aus seiner eigenen Schatulle auf Dauer aufzubringen hat. Auch der Abgeordnete folgt einer ökonomischen Logik: Er sinnt auf Wiederwahl. Das lässt ihn anfällig werden für die Versuchung, die langfristigen Interessen der Gesellschaft zu Gunsten seines eigenen Machterhalts aus den Augen zu verlieren und dafür als Preis das Staatswesen, zu dessen Wohl er auf den Posten gestellt ist, in eine Schuldenfalle tappen zu lassen. Die Explosion der Staatsschulden legt – wie die Public-Choice-Theorie der politischen Ökonomie früh voraussagte93 – dafür ein beredtes Zeugnis ab. Die Principal-Agent-Konstellationen,94 in der die Entscheidungsprozesse in der repräsentativen Demokratie ablaufen, bergen das Risiko, dass kollektive Entscheidungen nicht immer nur zum langfristig Besten, sondern mit der Brille kurzfristiger Entscheidungsperspektive getroffen werden. Die durchaus naheliegende und nicht gerade unbekannte Neigung von Repräsentativorganen, im Interesse der eigenen Wiederwahl zu Lasten nachfolgender Generationen die Flucht in die Verschuldung anzutreten, besteht in der direkten Demokratie in dieser Form nicht. Ihre Entscheidungsmuster erweisen sich tendenziell als Garanten nachhaltiger Politik. Derartige Erkenntnisse machen Mut, die deutsche Verfassungsordnung für plebiszitäre Entscheidungen mit ausgabewirksamem Gehalt zu öffnen.95 An der Konkurrenzbeziehung zur Gesamtverantwortung des Parlaments würde sich unter derart veränderten Rahmenbedingungen freilich nichts ändern – im Gegenteil. Das Argument der Steuerungsverantwortung des Parlaments als der „Herzkammer“ unseres politischen Systems verliert insbesondere noch nicht deshalb sein Gewicht, weil auch das Volk im Wege der Volksgesetzgebung sachgerechte Ergebnisse hervorbringen könnte. Im Falle einer Öffnung der Verfassung für finanzwirksame Plebiszite bedürfte es mithin eines grundlegenden verfassungsrechtlichen Neuzuschnitts der Elemente direkter und indirekter Demokratie, welche eine wechselseitige Paralyse der legislativen Gestaltungselemente sachgerecht zu verhindern weiß. Ange92
Vgl. dazu etwa Feld/Köhler, Zwischen Anarchie und totalem Staat, FAZ vom 4.7.2011, S. 12. 93 Vgl. dazu etwa Brennan/Buchanan, Die Begründung von Regeln, 1993, S. 124 ff. 94 Vgl. zum (ursprünglich anhand gesellschaftsrechtlicher Konstellationen entwickelten) ökonomischen Erklärungsansatz der Prinzipal-Agent-Theorie Nicklisch/ Petersen,Vertragstheorie, in: Towfigh/Petersen/Nicklisch u. a. (Hrsg.), Ökonomische Methoden im Recht, 2010, S. 122 f.; Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 331 und 387 mit Fn. 444. 95 Entsprechend empfiehlt denn auch Rux (Fn. 2), S. 910 f. und 914 f. (bis auf die Ausnahme des Haushaltsgesetzes) selbst eine vollständige Öffnung finanzwirksamer Entscheidungen für Volksbegehren und Volksentscheid; ebenso Neumann (Fn. 40), S. 429 f. und 432 ff. m. w. N.
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sichts der verfestigten Tradition eines Verbots finanzwirksamer Plebiszite in der deutschen Verfassungsordnung dürfte deren Beharrungskraft freilich größer sein als die Überzeugungskraft der empirischen Erkenntnisse. Und so lange wird dieses Verbot wohl weiterhin der bedeutsamste Zankapfel bei der Entscheidung über die Zulassung eines Volksbegehrens bzw. Bürgerbegehrens bleiben. Denn nahezu keine staatliche legislative Maßnahme ist ohne Finanzwirksamkeit. Nahezu jedes Gesetz hat zumindest durch Vollzugskosten mittelbar Auswirkungen auf den Haushalt.96 bb) Das „Haushaltsgesetz“ als plebiszitäre Handlungssperre, insbesondere im Kontext des Referendums zu dem Projekt „Stuttgart 21“ Besondere Brisanz erlangt das in den Landesverfassungen und Gemeindeordnungen bestehende Verbot einer Entscheidung des Volkes über den Haushalt nicht nur, wenn das Volk im Wege des Volksentscheides die Abschaffung von Studienbeiträgen oder den Rückkauf privatisierter Stadtwerke zu erzwingen oder den Bau des Transrapid zu verhindern sucht, sondern in prominenter Weise auch im Falle der Volksabstimmung über den Finanzierungsvertrag zu dem Projekt „Stuttgart 21“. Zwar ist das Volk dort nicht über den Haushalt als solchen zur Abstimmung aufgerufen.97 Aber die erheblichen finanziellen Auswirkungen, die von einer Entscheidung über die finanzielle Beteiligung an dem Projekt „Stuttgart 21“ ausgehen, können einer Entscheidung über den Haushalt selbst nahezu gleichkommen und dadurch die Budgethoheit des Parlaments infrage stellen: Ein Ausstieg aus dem Projekt löst insbesondere erhebliche Entschädigungsverpflichtungen aus, die die sonstige Manövriermasse des Haushalts nachhaltig einschränken können. Im Falle eines Ausstiegs aus dem Projekt „Stuttgart 21“ kämen auf das Land Baden-Württemberg immerhin Schadensersatzkosten in Höhe 96
SächsVerfGH, Urt. v. 11.7.2002 – Vf. 91-VI-01 –, LKV 2003, 327. Es besteht grundsätzliche Einigkeit dahin, dass der laufende bzw. bereits beschlossene Haushaltsplan an sich nicht unmittelbar durch einen Volksentscheid umgestaltet werden kann. Dagegen steht ein künftiger Haushaltsplan nach Auffassung des BerlVerfGH, Urt. v. 6.10.2009 – VerfGH 143/08 –, NVwZ-RR 2010, 169 (171), Volksabstimmungen nicht im Wege (vgl. auch den Wortlaut des Art. 70 Abs. 2 bremV „laufender Haushalt“ sowie Art. 71 Abs. 2 bremVerf). Anders jedoch das BVerfG als Landesverfassungsgericht Schleswig-Holstein, BVerfG, Beschl. v. 3.7.2000 – 2 BvK 3/98 –, BVerfGE 102, 176 (188): Wenn ein Volksbegehren den von der Regierung aufgestellten und in die Beratungen des Haushaltsgesetzgebers gegebenen Haushaltsplanentwurf für das jeweils nächste Jahr oder die zeitlich weiter ausgreifende Haushaltsplanung beeinträchtige, durch die – kraft rechtlicher Verpflichtung – bestimmte Haushaltseckwerte zukünftiger Haushalte festgelegt werden, wirke der Haushaltsvorbehalt als Sperre. 97
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
von wohl mindestens einer Milliarde Euro zu,98 im Falle eines Bahnhofsbaus hingegen schätzungsweise 930 Mio. Euro.99 Selbst bei einer Verteilung dieser Summe auf mehrere Haushaltsjahre ist dies keine quantité négligeable. Art. 60 Abs. 6 bwVerf schließt – ebenso wie die Verfassungen anderer Länder100 – ausdrücklich nur Abstimmungen über Abgabengesetze, Besoldungsgesetze und das Staatshaushaltsgesetz aus, während andere Länder den „Haushalt“101 als Tabuzone einer Volksabstimmung benennen.102 Versteht man den Haushaltsgesetzvorbehalt so, dass er jegliche Volksabstimmung mit erheblichen unmittelbaren oder mittelbaren Folgen für den Staatshaushalt ausschließt, dürfte Baden-Württemberg seine Bürger nicht zur Abstimmung über das Projekt „Stuttgart 21“ an die Urnen rufen. Nimmt man die Verfassung demgegenüber beim Wort und beschränkt den Vorbehalt auf Verfahren der Haushaltsplanerstellung und der Haushaltsgesetzgebung, steht sie einer Entscheidung des Volkes womöglich nicht im Wege. Denn 98 Die Bahn errechnete im Schlichtungsgespräch vom 26.11.2010 Abbruchkosten in Höhe von 1,5 Milliarden Euro, vgl. Protokoll der Schlichtungssitzung vom 26.11.2010, S. 38 (einsehbar unter http://www.schlichtung-s21.de [14.7.2011]). Die Projektgegner bestreiten einzelne Positionen dieser Summe. Sie kommen auf Kosten in Höhe von 500 Millionen. Die Bahn hat angekündigt, sich im Falle eines Abbruchs des Projekts „Stuttgart 21“ bei dem Land Baden-Württemberg mit Schadenersatzansprüchen schadlos halten zu wollen. 99 Diese Summe zahlt das Land Baden-Württemberg bei einem Gesamtvolumen des Bauprojekts in Höhe von 4,5 Milliarden Euro (bei einem derzeit kalkulierten Kostenumfang von 4,088 Milliarden Euro sinkt der Landesanteil auf 820 Millionen Euro; dieses Gesamtvolumen wird sich allerdings wohl kaum aufrecht erhalten lassen: Bereits vor Beginn der eigentlichen Bauarbeiten Mitte 2012 wurden Kostensteigerungen um 370 Millionen Euro bekannt), vgl. Protokoll der Schlichtungssitzung vom 26.11.2010, S. 34, einsehbar unter http://www.schlichtung-s21.de (14.7.2011). 100 Ebenso Art. 60 Abs. 2 S. 1 m-vVerf, Art. 73 Abs. 1 sächsVerf, Art. 81 Abs. 1 S. 3 sachsanhVerf, die jeweils nur vom „Haushaltsgesetz“ sprechen. Art. 62 Abs. 2 berlVerf verwendet den Begriff „Landeshaushaltsgesetz“. 101 Art. 41 Abs. 2 s-hVerf; Art. 73 bayVerf spricht vom „Staatshaushalt“, Art. 76 Abs. 2 bbgVerf, Art. 48 Abs. 1 S. 3 ndsVerf, Art. 82 Abs. 2 thürVerf vom „Landeshaushalt“. 102 Dieser unterschiedliche Wortlaut bedingt unterschiedliche (Be-)Deutungen des Haushaltsvorbehalts. Anders Paul Kirchhof, der beide Begriffe gleich auslegt, da sie einander nahe kämen; Kirchhof (Fn. 57), S. 37. Ebenso Krafczyk, Der parlamentarische Finanzvorbehalt bei der Volksgesetzgebung, 2005, S. 175 f. Demgegenüber die Unterschiede herausstellend etwa BerlVerfGH, Urt. v. 6.10.2009 – VerfGH 143/08 –, NVwZ-RR 2010, 169 (170); HambVerfG, Urt. v. 3.3.2005 – HVerfG 5/04 –, NVwZ-RR 2006, 370 (371); SächsVerfGH, Urt. v. 11.7.2002 – Vf. 91-VI-01 –, LKV 2003, 327 (328). So auch Hermes/Wieland (Fn. 50), 386 u. 389. Detailliert zu Hintergrund und Wirkungsbereich der Regelungen in den einzelnen Bundesländern Rosenke (Fn. 24), S. 92 ff.
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der Begriff des „Staatshaushaltsgesetzes“ (der sich auch an weiteren Stellen der Finanzverfassung findet) bezeichnet als terminus technicus103 (lediglich) das den Haushalt formell feststellende Gesetz104 sowie den mit diesem eine Einheit bildenden Haushaltsplan,105 nicht aber Einnahmen und Ausgaben auslösende Einzelgesetze.106 Die – bewusste107 – Verwendung dieses Begriffs in den einzelnen Landesverfassungen indiziert, dass der Verfassungsgeber die Volksgesetzgebung lediglich dann ausschließen wollte, wenn unmittelbar der Haushaltsplan betroffen ist.108 Insbesondere hätte es der weiteren beispielsweise in Art. 60 Abs. 6 bwVerf genannten Fallgruppen der „Abgaben- und Steuergesetze“ nicht bedurft, wenn der Begriff des Haushaltsgesetzes weit, also im Sinne jeglichen finanzwirksamen Gesetzes, zu verstehen wäre.109 Denn alle „Abgaben- und Steuergesetze“ sind zugleich finanzwirksame Gesetze. Der Ergänzung würde der Anwendungsraum fehlen.110 Umgekehrt scheint ein enges Verständnis des Begriffs im Sinne einer Beschränkung auf die förmliche Haushaltsgesetzgebung den weiter gedachten Sinn der Vorschrift prima facie leerlaufen zu lassen, da das Verbot einer Mitwirkung des Volkes an der Haushaltsgesetzgebung ohnehin selbstverständlich erscheinen könnte und dann nicht noch zusätzlich einer verständigen Festschreibung bedurft hätte.111 Doch gerade an dieser Selbstverständlichkeit fehlt es, wie die historische Auslegung zeigt: Noch zu Zeiten der 103
BerlVerfGH, Urt. v. 6.10.2009 – VerfGH 143/08 –, NVwZ-RR 2010, 169
(170). 104
S.c. das Gesetz, das über die Einnahmen und Ausgaben des Landes sowie Ermächtigungen zur Übernahme von Gewährleistungen für den Zeitraum, für den das Haushaltsgesetz beschlossen wird, entscheidet. 105 BVerfG, Beschl. v. 22.10.1974 – 1 BvL 3/72 –, BVerfGE 38, 121 (126); Siekmann, in: Sachs/Battis/Huber (Fn. 35), Art. 110 Rn. 22; Heun, in: Dreier/Wittreck (Fn. 35), Art. 110 Rn. 8. 106 So zu Recht BerlVerfGH, Urt. v. 6.10.2009 – VerfGH 143/08 –, NVwZ-RR 2010, 169 (170); SächsVerfGH, Urt. v. 11.7.2002 – Vf. 91-VI-01 –, LKV 2003, 327; Krafczyk (Fn. 102), S. 77; Rosenke (Fn. 24), S. 254. 107 Das gilt jedenfalls für das Land Berlin. Dort hat der Verfassungsgeber gezielt den bisher in Art. 62 Abs. 5 berlVerf verwendeten Begriff „Landeshaushalt“ gegen den neuen Begriff „Landeshaushaltsgesetz“ eingetauscht, um den Spielraum für Volksabstimmungen zu erweitern. Vgl. BerlVerfGH, Urt. v. 6.10.2009 – VerfGH 143/08 –, NVwZ-RR 2010, 169 (170). 108 BbgVerfG, Urt. v. 20.9.2001 – VfGBbg 57/00 –, LKV 2002, 77 (78). 109 Eine ähnliche Regelung findet sich im Saarland. Dort wird der Staatshaushalt (neben Gesetzen über „Abgaben, Besoldung, Staatsleistungen“) als eine der Fallgruppen eines finanzwirksamen Gesetzes genannt und damit von diesen in der Begrifflichkeit klar abgegrenzt. 110 SächsVerfGH, Urt. v. 11.7.2002 – Vf. 91-VI-01 –, LKV 2003, 327 (329). So auch im Ergebnis BbgVerfG, Urt. v. 20.9.2001 – VfGBbg 57/00 –, LKV 2002, 78. 111 In diesem Sinne BayVerfGH, Entsch. v. 4.4.2009 – Vf. 8-iX-08 –, NVwZ-RR 2008, 719 (721); Dolde/Porsch (Fn. 52), S. 33 und 39.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
Weimarer Republik etwa waren nach Art. 73 Abs. 4 WRV112 (durch den Reichspräsidenten veranlasste) Volksabstimmungen über den Haushalt durchaus möglich.113 Dieses Verbot plebiszitärer Haushaltsgesetzgebung auszusprechen, war für die neuere deutsche Rechtsentwicklung insofern von neuem, materiellem Gehalt.114 In der Sicherstellung dieser Zielsetzung einer verbindlichen Entscheidung über die Mittelverwendung für einen bestimmten Haushaltszeitraum erschöpft sich dann aber auch (vor dem Hintergrund der Systematik der Landesverfassungen und des historischen Hintergrundes) die Reichweite des Staatshaushaltsvorbehalts. In den Bundesländern, in denen, wie in BadenWürttemberg, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt, der Finanzvorbehalt Volksabstimmungen über das „Haushaltsgesetz“ sperrt,115 wird dieser insoweit auch eng auszulegen sein. Er ist grundsätzlich auf die formelle Haushaltsgesetzgebung begrenzt, so dass ausschließlich Volksabstimmungen über den Haushaltsplan und das damit eine Einheit bildende Haushaltsgesetz, mithin also die Haushaltsplanerstellung und die Haushaltsgesetzgebung, ausgeschlossen sind. Nicht erfasst sind hingegen Volksabstimmungen über allgemein finanzwirksame Gesetze, auch solche mit erheblichen Auswirkungen, die sich lediglich auf zukünftige Haushaltsgesetze und zukünftige Haushaltsperioden auswirken, dem Parlament aber hinreichende Gestaltungsfreiheit zur Vorlage eines verfassungskonformen und das parlamentarische Budgetrecht achtenden Haushalts belassen (ihm insbesondere nicht eine eigenverantwortliche Entscheidung über die Einnah112 „Über den Haushaltsplan, über Abgabengesetze und Besoldungsordnungen kann nur der Reichspräsident einen Volksentscheid veranlassen“. 113 Vgl. zum Meinungsstand in Weimar im Kontext der damaligen politischen Praxis mit detaillierter Analyse Rosenke (Fn. 24), S. 67 ff. und Neumann (Fn. 40), S. 405 f.; siehe auch Rux (Fn. 2), S. 108 ff. 114 Das Verbot hat durchaus seinen guten inhaltlichen Sinn: Der Haushaltsplan und das Haushaltsgesetz bilden ein komplexes Geflecht eines Abwägungskonglomerats, das als Ergebnis eines vielschichtigen Aushandlungsprozesses aus einer Vielzahl von Einzel- und Vorrangentscheidungen über konkurrierende Verwendungsinteressen hervorgeht. In dem sich schrittweise vollziehenden Entscheidungsverfahren der Haushaltsberatungen, der alle Interessen und Gestaltungsoptionen offen legt und gegeneinander abwägt, ist dieser Entscheidungsvorgang sachgerecht und besser aufgehoben als in einer a priori auf eine Zustimmung oder Ablehnung reduzierten Dezisionsverengung, die alternative Verwendungen nicht hinreichend zu ventilieren und einen für Haushaltsentscheidungen typischen Interessenausgleich und ausgewogenen Kompromiss nur bedingt herbeizuführen vermag. 115 Art. 60 Abs. 6 bwVerf; Art. 62 Abs. 2 berlVerf; Art. 60 Abs. 2 S. 1 m-vVerf; Art. 73 Abs. 1 sächsVerf; Art. 81 Abs. 1 S. 3 sachsanhVerf. Ähnliches gilt grundsätzlich für die in Bremen, Hamburg und Hessen verwendete Begrifflichkeit des „(laufenden) Haushaltsplans“; Art. 70 Abs. 2 bremVerf; Art. 50 Abs. 1 S. 2 hambVerf; Art. 124 Abs. 1 S. 3 hessVerf.
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men und Ausgaben der Zukunft vollständig unmöglich machen oder [insbesondere vor dem Angesicht des Budgetrechts des Parlaments] unzumutbar erschweren).116 Geraten dagegen durch eine Volksabstimmung substantielle Teile der laufenden oder vergangenen Haushaltsgesetzgebung in einer Weise ins Wanken, dass die Staatshaushaltsgesetzgebung faktisch vom Parlament in die Hände des Volkes wandert, ist das der Entscheidung über den Staatshaushalt selbst gleich zu erachten. Denn dann schwingt sich das Volk zum Staatshaushaltsgesetzgeber auf. Im Falle des Projekts „Stuttgart 21“ sind nicht nur künftige Haushaltsperioden von einer Kündigung des Finanzierungsvertrags betroffen. Die Gelder für die Finanzierung des Bahnhofsumbaus sind bereits im Haushaltsplan117 veranschlagt. Sie würden im Falle einer Aufhebung der Finanzierungszusage grundsätzlich gegenstandslos118 und sind insoweit unmittelbar Gegenstand des Volksentscheids.119 Ziel des Volksentscheides ist es daher, die verfassungsrechtlich angelegte Bindung des Volkes an die für einen bestimmten Haushaltszeitraum bereits abgeschlossene, im Haushaltsgesetz und Haushaltsplan festgestellte budgetäre Grundsatzentscheidung des Parlaments aufzuheben. Ein solcher Eingriff in einen bestehenden bzw. abgeschlossenen Haushaltsplan ist dem Volk – auch dort, wo die Verfassung dem Volk nur den Zugriff auf das „Staatshaushaltsgesetz“ selbst entzieht – verwehrt.120 Der Volksentscheid zu dem Projekt „Stuttgart 21“ erweist sich daher als mit der Landesverfassung nicht vereinbar.
116 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Rux (Fn. 2), S. 282; BerlVerfGH, Urt. v. 6.10.2009 – VerfGH 143/08 –, NVwZ-RR 2010, 169 (170); SächsVerfGH, Urt. v. 11.7.2002 – Vf. 91-VI-01 –, LKV 2003, 327 (331); a. A. speziell für den Fall des Projekts „Stuttgart 21“: Dolde/Porsch (Fn. 52), S. 30. 117 Vgl. Kapitel 0325 Titelgruppe 78 mit einer Verpflichtungsermächtigung über insgesamt 370,24 Millionen e im Staatshaushalt 2009 sowie eine Risikoabdeckung in Höhe von insgesamt 940 Millionen e (§ 5 Abs. 2 Nr. 3 StHG 2009). Dazu etwa auch Hermes/Wieland (Fn. 50), 368. 118 Zu berücksichtigen ist dabei insbesondere, dass Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen grundsätzlich nur zu dem im Haushaltsplan bezeichneten Zweck und nur für die Zeit seiner Fortdauer geleistet oder in Anspruch genommen werden dürfen (vgl. § 27 Abs. 1 HGrG, § 45 Abs. 1 LHO). 119 So i. E. auch Dolde/Porsch (Fn. 52), S. 50, die auch unter Zugrundelegung einer engen Auslegung des Begriffs „Staatshaushaltsgesetz“ zu dem Ergebnis kommen: „Selbst wenn ein Gesetz über die Aufhebung der Finanzierungsverträge nicht unmittelbar eine Änderung des formellen Staatshaushaltsgesetzes oder des Haushaltsplans vorsieht, stellt es sich doch im Hinblick auf seine funktionale Bedeutung und seine rechtlichen Wirkungen ausschließlich als Akt der Haushaltsgesetzgebung dar.“ 120 So auch BerlVerfGH, Urt. v. 6.10.2009 – VerfGH 143/08 –, NVwZ-RR 2010, 169 (171); a. A. insoweit Hermes/Wieland (Fn. 50), 392.
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cc) Der (Staats-)Haushaltsvorbehalt und sein Inhalt Zumal die Terminologie von Ausschlusstatbeständen der Volksgesetzgebung in den einzelnen Bundesländern keineswegs einheitlich ist, gilt den Formulierungsnuancen und systematischen normativen Kontexten, in denen sich der Haushaltsvorbehalt findet, besondere Aufmerksamkeit. Statt von „Staatshaushaltsgesetz“ sprechen andere Länder, namentlich Bayern, Brandenburg, Niedersachsen, Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen, von „Staats-“ bzw. „Landeshaushalt“ als der dem Parlament vorbehaltenen Entscheidungsdomäne.121 Die Abweichung ist nicht zufälliger Natur. Sie hat inhaltliche Bedeutung. Der (Staats-)Haushalt umfasst die Gesamtheit der Einnahmen und Ausgaben eines Landes122 und ist somit grundsätzlich weiter als der auf die Haushaltsgesetzgebung selbst bezogene Begriff des „Staatshaushaltsgesetzes“. Das heißt umgekehrt nicht, dass hier jeder Volksabstimmung, die in irgendeiner Weise finanzielle Auswirkungen entfaltet, durch den Haushaltsvorbehalt der Boden entzogen wäre.123 Das würde das Instrument der Volksabstimmung der Wirkungslosigkeit preisgeben.124 Entscheidend ist, ob und inwieweit der dem Haushaltsvorbehalt zu Grunde liegende Gedanke des Schutzes der Budgethoheit des Parlamentes tangiert ist: Die Sperre des Haushaltsvorbehalts greift danach dann, wenn ein Gesetzesentwurf entweder unmittelbar eine Änderung des Haushaltsplanes bzw. des formellen Haushaltsgesetzes vorsieht oder mit Hilfe eines sonstigen Gesetzgebungsverfahrens in seiner funktionalen Bedeutung oder rechtlichen Wirkung der Sache nach die gleiche Wirkung wie eine Haushaltsgesetzgebung erzielen soll, indem sie gewichtige staatliche Einnahmen oder Ausgaben auslösen und damit den Haushalt des Landes wesentlich beeinflussen125. Haushaltsentscheidungen müssen nicht nur kaum veränderbaren Eckwerten, wie Personalkosten oder sozialstaatlichen Leistungsverpflichtungen, Rechnung tragen; sie sind vor allem regelmäßig komplexer Natur: Sie gehen auf ein ringendes Abwägen widerstreiten121 Art. 73 bayVerf; Art. 76 Abs. 2 bbgVerf; Art. 48 Abs. 1 S. 3 ndsVerf; Art. 99 Abs. 1 S. 3 saarlVerf; Art. 41 Abs. 2 s-hVerf; Art. 82 Abs. 2 thürVerf vom Landeshaushalt. 122 BayVerfGH, Entsch. v. 4.4.2008 – Vf. 8-IX-08 –, NVwZ-RR 2008, 719; ThürVerfGH, Urt. v. 19.9.2001 – VerfGH 4/01 –, LKV 2002, 83 (92). 123 Vgl. etwa auch die bewusste Trennung der Begriffe in der saarländischen Landesverfassung: „finanzwirksame Gesetze, insbesondere (. . .) den Staatshaushalt“ (Art. 99 Abs. 1 S. 3 saarlVerf), die deutlich werden lässt, dass Gesetze über den Staatshaushalt lediglich einen wichtigen Unterfall finanzwirksamer Gesetze bilden, mit solchen aber keineswegs deckungsgleich sind. 124 Neumann (Fn. 40), S. 405, spricht von einer drohenden „Eliminierung der Volksgesetzgebung aus der Verfassungswirklichkeit“. Diese Bedenken greift auch das BVerfG als Landesverfassungsgericht Schleswig-Holstein, Beschl. v. 3.7.2000 – 2 BvK 3/98 –, BVerfGE 102, 176 (189) auf. 125 BVerfG, Beschl. v. 3.7.2000 – 2 BvK 3/98 –, BVerfGE 102, 176 (187 f.).
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der Positionen und Interessen zurück, die im Rahmen eines Gesamtkonzepts in ein sachgerechtes Verhältnis zueinander zu bringen und damit der auf das Schema einer alternativen Ja-Nein-Entscheidung (ohne die Möglichkeit vorangehender intensiver Beratung126) reduzierten Dezision nur bedingt zugänglich sind.127 Wesentliche Elemente aus dem Datenkranz dieser im Rahmen einer politischen Gesamtverantwortung getroffenen Entscheidung herauszubrechen, heißt das Gesamtkonstrukt zu Fall zu bringen. Diese Entscheidungsstruktur komplexer Beziehungsgefüge ist zwar nicht nur Entscheidungen über Haushaltsfragen, sondern jeder (regelmäßig der Volksgesetzgebung zugänglichen) Abwägungsentscheidung, etwa im Bauplanungs- und Infrastrukturrecht, eigen und rechtfertigt daher den Ausschluss plebiszitärer Wirkungsmacht als solche noch nicht. Die Gesamtentscheidungsverantwortung weist die Verfassung insoweit jedoch in Gestalt der gesamtstaatlichen Budgetverantwortung bewusst ausschließlich dem Parlament zu. De constitutione ferenda wäre Anderes sehr gut begründbar und vorstellbar, entspricht aber de constitutione lata nicht der verfassungspolitischen Leitentscheidung. Nicht jede Umverteilung von Mitteln bringt dabei ohne Weiteres den Haushalt aus dem Gleichgewicht. Geringfügige Verschiebungen können und müssen, entsprechend der generellen Unvorhersehbarkeit der wirtschaftlichen Verhältnisse und damit insbesondere der Einnahmen in einer Haushaltsperiode, ausgeglichen werden. Insbesondere würde der Sinn des Volksgesetzgebungsverfahrens verkannt, wenn das Parlament seine politischen Gestaltungsvorstellungen ohne Rücksicht auf gegenläufige Durchsetzungsinteressen des konkurrierenden Willensbildungssystems der plebiszitären Demokratie zu Einzelfragen völlig unverändert durchsetzen könnte.128 Die Grenze für eine Entscheidung über „den Staatshaushalt“ wird aber dort überschritten, wo die Auswirkungen der Volksabstimmung insbesondere quantitativ so erheblich sind, dass nicht nur der Haushalt in Schieflage gerät, sondern die Grundlagen der Haushaltsplanung gleichsam zu Fall kommen. Das ist dann der Fall, wenn der Gesetzgeber zu einer Neuordnung des Gesamtgefüges des Haushalts gezwungen ist, die Volksinitiative also den Gesamtbestand des Haushalts so wesentlich beeinflusst129, dass er eine erhebliche 126
Genau hier, nicht in dem Entscheidungsmodus liegt der wesentliche Unterschied zu dem parlamentarischen Verfahren. Denn auch dieses schließt am Ende mit einem Ja-/Nein-Votum. 127 BVerfG, Beschl. v. 3.7.2000 – 2 BvK 3/98 –, BVerfGE 102, 176 (187 f.); BerlVerfGH, Urt. v. 6.10.2009 – VerfGH 143/08 –, NVwZ-RR 2010, 169 (170); SächsVerfGH, Urt. v. 11.7.2002 – Vf. 91-VI-01 –, LKV 2003, 327 (330); ThürVerfGH, Urt. v. 19.9.20001 – VerfGH 4/01 –, LKV 2002, 83 (92). 128 SächsVerfGH, Urt. v. 11.7.2002 – Vf. 91-VI-01 –, LKV 2003, 327 (328). 129 BayVerfGH, Entsch. v. 15.12.1976 – Vf. 56-IX-76 –, BayVerfGHE 29, 244 (263 ff.); BayVerfGH, Entsch. v. 4.4.2008 – Vf. 8-IX-08 –, NVwZ-RR 2008, 719 (720); BbgVerfG, Urt. v. 20.9.2001 – VfGBbg 57/00 –, LKV 2002, 77 (79 ff.);
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Beeinträchtigung des Budgetrechts des Parlaments nach sich zieht. Einzubeziehen ist in die Beurteilung etwa der Anteil bestehender Ausgabeverpflichtungen, des weiteren Art, Höhe, Dauer und Disponibilität der finanziellen Belastung als Folge des Gesetzesvorhabens.130 Darüber hinaus kann es bedeutsam sein, ob die Volksinitiative in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit einer konkreten haushaltspolitischen Entscheidung des Parlaments steht und damit bewusst und erkennbar Position gegen eine dezidierte Entscheidung des Haushaltsgesetzgebers bezieht, die dessen Budgetrecht in Frage stellt.131 Lässt sich die Zulässigkeit der meisten Volksabstimmungen auf dieser Grundlage nur im Rahmen einer Einzelfallbetrachtung des zuständigen Verfassungsgerichts ermitteln, erwächst daraus umgekehrt ein erhebliches Risiko für dessen Initiatoren. Diese können die Entscheidung des Gerichts nur eingeschränkt vorausahnen und sind im Grunde stets von dessen weitem Einschätzungsspielraum abhängig. Ein Zustand der Rechtssicherheit kann für Volksabstimmungen in diesen Bundesländern so kaum erreicht werden.132 Das beeinträchtigt das Ausübungsrecht der Volksgesetzgebung, ist aber Teil einer bewussten Entscheidung der Verfassung und als solche hinzunehmen. dd) Ausschlussvorbehalt für Finanzfragen Den engsten Anwendungsbereich setzen plebiszitären Mitwirkungsakten, die finanzwirksame Folgen zeitigen, diejenigen Länder, die in ihren Landesverfassungen Entscheidungen über „Finanzfragen“ bzw. „finanzwirksame Gesetze“ ausschließen, namentlich Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz sowie das Saarland.133 Nicht zufällig haben Volksgesetzgebungsverfahren in der Vergangenheit dort nur geringe Bedeutung erlangt. Die weite Formulierung verfolgt durchaus das Ziel, die Einwirkung des Volkes auf finanzwirksame Entscheidungen des Staates nachhaltig zu begrenzen. Sie ist aber umgekehrt NRWVerfGH, Beschl. v. 26.6.1981 – VerfGH 19/80 –, NVwZ 1982, 188 (189). Diese Anforderungen als Ausgleich begrüßend Oldiges, Parlamentarische und plebiszitäre Gesetzgebung, in: Rutsatz (Hrsg.), Festschrift der Juristenfakultät zum 600jährigen Bestehen der Universität Leipzig, 2010, 529 (539). 130 BVerfG, Beschl. v. 3.7.2000 – 2 BvK 3/98 –, BVerfGE 102, 176 (188); BayVerfGH, Entsch. v. 4.4.2008 – Vf. 8-IX-08 –, NVwZ-RR 2008, 719 (721); HambVerfG, Urt. v. 3.3.2005 – HVerfG 5/04 –, NVwZ-RR 2006, 370 (371); ThürVerfGH, Urt. v. 19.9.2001 – VerfGH 4/01 –, LKV 2002, 83 (92). 131 BbgVerfG, Urt. v. 20.9.2001 – VfGBbg 57/00 –, LKV 2002, 77 (81). Gegen dieses Kriterium Möstl, in: Lindner/Möstl/Wolff (Hrsg.), Verfassung des Freistaates Bayern, 2009, Art. 73 Rn. 6. 132 Auf diesen neuralgischen Punkt weist auch Oldiges (Fn. 129), 540 hin. 133 Art. 68 Abs. 1 S. 4 nrwVerf; Art. 109 Abs. 3 S. 3 rpVerf; Art. 99 Abs. 1 S. 3 saarlVerf.
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nicht so weit zu verstehen, dass sie alle finanzwirksamen Gesetze in ihrer Gesamtheit erfasst. Denn sonst wäre kein Sinn darin erkennbar, dass die Landesverfassungen dem Begriff „Finanzfragen“ in diesen Ländern als weiteren Ausschlussgegenstand daneben auch noch „Abgabengesetze“ und „Besoldungsordnungen“ an die Seite gestellt haben. Diese Wendungen wären funktionslos. Volksentscheide über „Finanzfragen“ stellen sich bei einer systematischen Interpretation daher als plebiszitäre Willensentscheidungen dar, die haushaltswirksam sind, indem sie finanzielle Handlungsspielräume des Staates erweitern oder verengen und damit die finanzielle Manövriermasse des budgetverantwortlichen Parlaments verändern.134 Synopse der unterschiedlichen Formulierungstypen von Haushaltsvorbehalten in den Landesverfassungen („Landes-“ bzw. „Staats-“) „Haushaltsgesetz“
(„Landes-“ bzw. „Staats-“) „Haushalt“
„Haushaltsplan/ Haushaltspläne“
„Finanzfragen“ bzw. „finanzwirksame Gesetze“
Baden-Württemberg Art. 60 Abs. 6 bwVerf („Staatshaushaltsgesetz“)
Bayern Art. 73 bayVerf („Staatshaushalt“)
Bremen Art. 70 Abs. 2 bremVerf, („laufender Haushaltsplan“)
Nordrhein-Westfalen Art. 68 Abs. 1 S. 4 nrwVerf, („Finanzfragen“)
Berlin Art. 62 Abs. 2 berlVerf („Landeshaushaltsgesetz“)
Brandenburg Art. 76 Abs. 2 bbgVerf („Landeshaushalt“)
Hamburg Art. 50 Abs. 1 S. 2 hambVerf („Haushaltspläne“)
Rheinland-Pfalz Art. 109 Abs. 3 S. 3 rpVerf („Finanzfragen“)
MecklenburgVorpommern Art. 60 Abs. 2 S. 1 m-vVerf („Haushaltsgesetz“)
Niedersachsen Art. 48 Abs. 1 S. 3 ndsVerf („Landeshaushalt“)
Hessen Saarland Art. 124 Abs. 1 S. 3 Art. 99 Abs. 1 S. 3 hessVerf saarlVerf („der Haushalts(„finanzwirksame plan“) Gesetze, insbesondere [. . .] und den Staatshaushalt“)
Sachsen Art. 73 Abs. 1 sächsVerf („Haushaltsgesetz“)
Schleswig-Holstein Art. 41 Abs. 2 s-hVerf („Haushalt des Landes“)
Sachsen-Anhalt Art. 81 Abs. 1 S. 3 sachsanhVerf („Haushaltsgesetz“)
Thüringen Art. 82 Abs. 2 thürVerf („Landeshaushalt“)
134 Enger insoweit VerfGH NRW, Beschl. v. 26.6.1981 – VerfGH 19/80 –, NVwZ 1982, 188: „Jedes Gesetz, dessen Schwerpunkt in der Anordnung von Einnahmen oder Ausgaben liegt, die den Staatshaushalt wesentlich beeinflussen“.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
2. Erledigung des Volks- bzw. Bürgerbegehrens durch Übernahme des Anliegens Sobald über die Zulässigkeit des Volks- bzw. Bürgerbegehrens befunden ist, entsteht ein verfestigter Anspruch der Initiatoren, die Frage den Bürgern zur Abstimmung vorzulegen. Die Volks- bzw. Gemeindevertretung kann dem Begehren freilich entsprechen und damit seine Erledigung herbeiführen.135 Für einen Volks- bzw. Bürgerentscheid ist dann kein Raum mehr. Mit der Frage, wann und ob aber tatsächlich Erledigung eingetreten ist, entsteht in der Folge ein weiterer sensibler Kontaktpunkt mit erheblichem Konfliktpotenzial. Eine wortgetreue Übernahme des Volks- bzw. Bürgerbegehrens wird man nicht verlangen dürfen, um Erledigung eintreten zu lassen. Es genügt eine vollinhaltliche Übereinstimmung mit dem Anliegen, das dem Regelungsgegenstand entspricht. Diesen Regelungsgegenstand zu bestimmen, ist intrikat und konfliktträchtig.136 In Coburg etwa hatte ein Bürgerbegehren die Frage gestellt: „Sind Sie gegen eine Bimmelbahn durch den Hofgarten, weil Sie einen umweltverträglichen, regelmäßigen Busverkehr auf der Straße zur Veste wünschen?“ Später entzündete sich dann Streit daran, ob dem Bürgerbegehren schon dann entsprochen war, wenn zwar keine Bimmelbahn eingeführt wurde, ebenso wenig aber ein Busverkehr. Auch hier weist ein Rekurs auf die demokratische Funktion des Verfahrens den Weg: Der Begehrensgegenstand und die Erwägungsgründe dürfen zwar sprachlich miteinander verbunden werden. Umso klarer muss für den Bürger jedoch 135 Für Bürgerbegehren: § 21 Abs. 4 S. 2 bwGemO; Art. 18a Abs. 14 S. 1 bayGO; § 20 Abs. 2 S. 3 bbgKVerf; § 8b Abs. 4 S. 3 hessGO; § 20 Abs. 5 S. 5 m-vKV; § 22b Abs. 8 ndsGemO (ab 1.11.2011: § 32 Abs. 7 S. 4 ndsKV); § 26 Abs. 6 S. 4 nrwGO; § 17a Abs. 5 rpGemO; § 21a Abs. 5 S. 4 saarlKSVG; § 25 Abs. 4 S. 4 sachsanhGO; § 24 Abs. 5 sächsGemO; § 16g Abs. 5 S. 3 s-hGO; § 17 Abs. 8 S. 1 thürKO; für Volksbegehren: Art. 60 Abs. 1 S. 1 bwVerf; Art. 62 Abs. 3 S. 2 berlVerf; Art. 78 Abs. 1 S. 1 bbgVerf; Art. 70 Abs. 1 lit. d S. 4 bremVerf; Art. 50 Abs. 3 S. 3 hambVerf; Art. 124 Abs. 2 S. 2 hessVerf; Art. 60 Abs. 3 S. 1 m-vVerf; Art. 49 Abs. 1 S. 1 ndsVerf; Art. 68 Abs. 2 S. 3 nrwVerf; Art. 109 Abs. 4 S. 1 rpVerf; Art. 100 Abs. 1 S. 1 saarlVerf; Art. 81 Abs. 3 S. 1 sachsanhVerf; Art. 72 Abs. 1 S. 1 sächsVerf; Art. 42 Abs. 2 Nr. 1 s-hVerf; Art. 82 Abs. 7 S. 2 thürVerf. 136 Um dem zu entgehen, schlägt Rux (Fn. 2), S. 916, de lege ferenda vor: Den Initiatoren des Volksbegehrens solle das Recht zukommen, über die Erledigung selbst zu entscheiden und ggfs. weiterhin die Durchführung eines Volksentscheides zu verlangen. Da die Initiatoren sich in einer psychologisch von eigenen Behauptungsinteressen geprägten Entscheidungslage befinden, ist die Unbefangenheit der Entscheidung jedoch akut gefährdet. Sachgerecht erscheint es daher, die Entscheidung über die Erledigung in die Hände einer dritten, nicht von eigenen Interessen geleiteten Person zu legen.
2. Erledigung des Volks- bzw. Bürgerbegehrens durch Übernahme
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erkennbar sein, welche Passagen eines Initiativtextes Gegenstand der Beschlussfassung sind und welche lediglich Begründung. Der Gestaltungsfreiheit entspricht ein Transparenzgebot. Maßgeblich ist der Standpunkt eines objektiven Betrachters, nicht die Perspektive der den Initiatoren eigenen Motive und Zielvorstellungen.137 Unklarheiten gehen zu Lasten der Verwender. Da den Stimmberechtigten lediglich Zustimmung oder Ablehnung möglich ist und für Nachfragen oder Formulierungsänderungen kein Raum bleibt, muss die Vorlage das Gewollte unmissverständlich zum Ausdruck bringen. Der Busverkehr in Coburg war nicht Gegenstand, sondern Begründung. Der Bürgerentscheid brachte daher auch nur Auskunft darüber, ob eine Mehrheit der Bürger gegen die „Bimmelbahn“ durch den Hofgarten ist, traf aber keine Aussage über den Wunsch nach einem Busverkehr.138 Aus diesem Grunde scheiterte auch zu Recht eine Klage des Hamburger Volksbegehrens „Bildung ist keine Ware“. Dieses hatte in einem Volksbegehren den Bürgern die Aussage zur Abstimmung vorgelegt: „Ich bin dafür, dass Hamburgs staatliche Berufliche Schulen wie bisher unter unmittelbarer und uneingeschränkter staatlicher Leitung und Verantwortung der Freien und Hansestadt Hamburg bleiben. Daher fordere ich die Bürgerschaft und den Senat auf, von einer Übertragung der staatlichen Berufsschulen in Hamburg auf eine Stiftung oder einen anderen Träger abzusehen“. Der Senat verzichtete später zwar auf das Stiftungsmodell, nicht aber auf die Loslösung von der uneingeschränkten staatlichen Leitung der Schulen. Die Bürgerschaft stellte zur Überraschung und zum Verdruss der Initiatoren gleichwohl später die Erledigung des Volksbegehrens fest – zu Recht. Denn das Verbot der Privatisierung war nicht unmissverständlicher Gegenstand des Begehrens, sondern Teil der Begründung.139 Angesichts der Komplexität der im Kontext der Erledigung anstehenden Fragen berühmen sich die Volks- und Gemeindevertretungen gerne eines gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraums zur Feststellung des Erledigungstatbestandes. Eine solche Deutungsmacht widerstreitet jedoch der Gleichrangigkeit und Eigenständigkeit von direkt- und repräsentativ-demokratischer Willensbildung. Der Volks- bzw. Gemeindevertretung würde ein Übergriffsrecht in ein paralleles Willensbildungssystem eingeräumt. Ein solcher politischer Primat mit eingeschränkten gerichtlichen Prüfrechten kommt ihr – vorbehaltlich anderweitiger ausdrücklicher verfassungs- bzw. kommunalrechtlicher Regelung – nicht zu.
137 So auch das HambVerfG, Urt. v. 15.12.2004 – HVerfG 6/04 –, NVwZ 2005, 685; HambVerfG, Urt. v. 30.11.2005 – HVerfG 16/04 –, DVBl. 2006, 650. 138 BayVGH, Entsch. v. 29.7.1998 – 4 B 97/2806 –, NVwZ-RR 1999, 139 f. 139 HambVerfG, Urt. v. 30.11.2005 – HVerfG 16/04 –, DVBl. 2006, 650.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
3. Einflussnahme durch amtliche Stellungnahmen Volks- und Bürgerbegehren sind Teil eines politischen Meinungskampfes. Dieser lebt von der Öffentlichkeit der Auseinandersetzung. Öffentlichkeit ist gleichsam der Sauerstoff der Demokratie. Erst sie macht Bürgern die Alternativen sichtbar, die den Gegenstand der politischen Auseinandersetzung bilden.140 Da verwundert es nicht, dass auch die Landes- bzw. Gemeindeorgane sich berufen sehen, an der Meinungsbildung teilzuhaben, und auf den Ausgang plebiszitärer Willensbildung einwirken möchten. Außerhalb ihrer Amtsausübung ist ihnen dies nicht verwehrt: In seiner Rolle als (betroffener) Bürger kann jeder Amtsträger vorbehaltlos an der Willensbildung und deren Fortschreibung teilhaben.141 Was aber, wenn Amtsträger sich – wie nicht selten zu beobachten – in amtlicher Eigenschaft äußern, indem sie etwa eine Stimmempfehlung geben? Dazu lässt sich den Landesverfassungen ebenso wenig wie den Gemeindeordnungen eine Aussage entlocken. Die Normierungslücke scheint durch eine Anleihe bei dem Gebot staatsfreier Willensbildung, wie es das Bundesverfassungsgericht142 etwa zu den Grenzen der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung vor Wahlen entwickelt hat, schnell geschlossen: Bei Wahlen als Grundakt der demokratischen Legitimation unterliegen staatliche Stellen grundsätzlich einem Neutralitätsgebot. Denn die Bürger sollen ihr Urteil in einem unbeeinflussten Prozess der Meinungs- und Willensbildung treffen können, der sich vom Volk zu den Staatsorganen vollzieht und nicht umgekehrt. Die Rationalität dieser Neutralitätspflicht scheint prima facie auf Volks- und Bürgerbegehren übertragbar: Auch hier besteht die Gefahr des Missbrauchs amtlicher Meinungsmacht zur Steuerung der Volkswillensbildung.143 Die Figur der Neutralitätspflicht dem Nebeneinander von direkt- und repräsentativ-demokratischer Willensbildung überzustülpen, greift jedoch zu kurz. Denn die Gefahrenherde beider Konfliktfelder sind auf den zweiten Blick unterschiedlich gelagert: Das Gebot staatsfreier Willensbildung steht vorrangig im Dienst der Sicherung der Wettbewerbsgleichheit der Parteien. Staatsorgane sollen ihren Machtapparat nicht dazu benutzen dürfen, ihre Herrschaft zu perpetuieren. 140 BVerfG, Urt. v. 30.6.2011 – 2 BvE 2, 5/08 –, BVerfGE 123, 267 (358) – Lissabon. 141 Vgl. (für einen Bürgerentscheid) BayVGH, Beschl. v. 17.3.1997 – 4 ZE 97.874 –, BayVBl. 1997, 435 f. 142 BVerfG, Urt. v. 2.3.1977 – 2 BvE 1/76 –, NJW 1977, 751 ff. 143 In diesem Sinne wohl Schliesky (Fn. 78), 98. Überzeugender Oebbecke, BayVBl. 1998, 641 (663 f.), der diese Grundsätze zwar prinzipiell zur Anwendung bringen möchte, aber die Notwendigkeit sieht, Modifikationen vorzunehmen.
3. Einflussnahme durch amtliche Stellungnahmen
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Dieser Gefahr einer Beeinträchtigung der Wettbewerbsgleichheit von Parteien sind Volks- und Bürgerbegehren freilich a priori enthoben.144 Sie zielen nicht auf die Vermittlung demokratischer Legitimation, also die Übertragung von Herrschaftsmacht, sondern die Ausübung originärer demokratischer Gewalt, nämlich die demokratische Entscheidung einer konkreten Sachfrage durch das Volk selbst. Das Volksbegehren tritt dabei ergänzend, nicht verdrängend in das staatliche Willensbildungssystem ein. Den bereits demokratisch legitimierten Organen wird insoweit zwar das Erkenntnismonopol genommen, nicht aber die Zuständigkeit und das Äußerungsrecht. Die Verfassung verhängt ihnen keinen „Maulkorb“.145 Ihre Vermittlungsleistung in die Gesellschaft hinein bleibt unverändert Aufgabe der Organe des repräsentativ-demokratischen Systems. Von allen rechtlichen Fesseln befreit sind sie dadurch freilich nicht. Sie sind nicht nur an ihre Kompetenzgrenzen gebunden, sondern auch an das Gebot der Abstimmungsfreiheit, wie es beispielsweise Art. 76 Abs. 1 der Verfassung des Landes Rheinland-Pfalz zum Ausdruck146 bringt. Unzulässig ist es danach etwa, die Abstimmungsfreiheit dadurch zu beeinträchtigen, den Unterzeichnern des Volks-/Bürgerbegehrens eine Prangerwirkung durch Veröffentlichung ihres Namens anzudrohen.147 Vor allem ist das Wirken der Landes- wie auch der Kommunalorgane den Schranken des rechtsstaatlichen Gebots der Sachlichkeit unterworfen.148 144
Für Volksabstimmungen bzw. Volksentscheide: BerlVerfGH, Beschl. v. 21.9. 1995 – VerfGH 12/95 –, LKV 1996, 133 ff.; BayVerfGH, Entsch. v. 19.1.1994 – Vf. 89-III-92, 89-III-92 –, NVwZ-RR 1994, 529 ff.; BremStGH, Entsch. v. 29.7.1996 – St 3/95 –, NVwZ 1997, 264; für Bürgerbegehren: VG Darmstadt, Beschl. v. 17.1.2002 – 3 G 100/02 –, NVwZ-RR 2002, 365 (366). 145 In Fällen, in denen sich ein Bürgerbegehren gegen einen Beschluss der Gemeindevertretung richtet, kann nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht bestehen, die Bürger über die von ihnen vertretene Auffassung zu informieren, vgl. VG Darmstadt, Beschl. v. 17.1.2002 – 3 G 100/02 –, NVwZ-RR 2002, 365 (366). 146 Vgl. auch Art. 26 Abs. 4 bwVerf; Art. 79 Abs. 2 bremVerf; Art. 22 Abs. 3 S. 1 bbgVerf; Art. 68 Abs. 5 i. V. m. Art. 31 Abs. 1 nrwVerf; Art. 4 sächsVerf; Art. 3 s-hVerf; Art. 63 saarlLV; Art. 46 thürVerf. 147 Vgl. VG Köln, Beschl. v. 18.11.2003 – 4 L 2623/03 – juris, Rn. 57 und nachfolgend das OVG NRW, Beschl. v. 16.12.2003 – 15 B 2455/03 –, NVwZ-RR 2004, 283 (285), die aber die bewusst in Kauf genommene Einschüchterungswirkung in ihrer Entscheidung aber außer Acht lassen. 148 So auch BayVerfGH, Entsch. v. 19.1.1994 – Vf 89-III-92, Vf. 92-III-92 –, NVwZ-RR 1994, 529 (531 ff.); BremStGH, Entsch. v. 29.7.1996 – St 3/95 –, NVwZ 1997, 264 ff. (für Volksbegehren); Engelken, DVBl. 2005, 415 (418); Herbel, Unmittelbare Bürgerbeteiligung an Sachentscheidungen auf Landes- und Kommunalebene in Baden-Württemberg, 2003, S. 301. Die Spannung die in diesen Grundsätzen angelegt ist, verdeutlicht der Antrag der CDU-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg „Volksabstimmung Stuttgart 21 – Bevölkerung ehrlich und
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
Sie dürfen die eigenverantwortliche Entscheidung der Bürger nicht in unsachlicher Weise beinträchtigen. Tatsachen müssen zutreffend wiedergegeben werden. Werturteile dürfen nicht auf unsachlichen Erwägungen beruhen und den sachlich gebotenen Rahmen nicht überschreiten, etwa durch unsachliche Polemik.149 Werbekampagnen unmittelbar vor dem Abstimmungsvorgang mit Musterstimmzetteln, die bereits in der vom Amtsträger empfohlenen Weise ausgefüllt sind, ebenso wie im Abstimmungsraum ausliegende Abstimmungsempfehlungen150 überschreiten diese Grenzen. Die Forderung, einem Volksentscheid wenigstens dann, wenn das Parlament einen alternativen Vorschlag zur Abstimmung vorlegt, gewissermaßen finanzielle „Wahlkampf“-Förderung und denselben Zugang zu öffentlich-rechtlichen Medien wie den „konkurrierenden“ Parteien zu gewähren, dürfte allerdings andererseits das Postulat der Gleichstellung von Volksund Parlamentsgesetzgebung überdehnen und über das hinaus gehen, was das Gebot der Sachlichkeit verlangt.151 Denn „Waffengleichheit“ schreibt die Verfassung nicht vor, vielmehr lediglich ein Verbot des Missbrauchs von Organstellungen.
4. Sperrwirkung von Volks- bzw. Bürgerbegehren? Die Verfahrenskonkurrenz zwischen Volks- und Parlamentsgesetzgebung bzw. Rats- und Bürgerentscheidung hat auch eine zeitliche Dimension. Während die Initiatoren für ihr Anliegen werben, mag das Parlament versucht sein, ein Gesetz zu erlassen, das dem Anliegen zuwiderläuft, oder durch Schaffung vollendeter Tatsachen dem Volks- bzw. Bürgerbegehren das Wasser abzugraben, etwa den Baumbestand, für dessen Erhalt sich ein Bürgerbegehren einsetzt, kurzerhand zu fällen, bevor es zu der plebiszitären Willensäußerung kommt. Brisanz erlangt das Bedürfnis nach zeitlicher Offenhaltung der Entscheidungslage in nahezu allen Konstellationen zeitobjektiv informieren“, LT-Drucks. 15/508, der deren Einhaltung für die anberaumte Volksabstimmung ausdrücklich von der Landesregierung einfordert. 149 Pointierte Zuspitzungen hingegen sind dann zulässig, wenn etwa Initiatoren des Bürgerbegehrens in vergleichbarer Weise argumentieren, so das VG Darmstadt, Beschl. v. 17.1.2002 – 3 G 100/02 –, NVwZ-RR 2002, 365 (366). Allerdings dürfen sowohl Initiatoren als auch Befürworter eines Bürgergehrens wenn auch tendenziös, so doch nicht unvollständig oder irreführend berichten, VG Stuttgart, Urt. v. 17.7.2009 – 7 L 3229/08 –, VBlBW 2009, 432. 150 BayVGH, Beschl. v. 10.1.2000 – 4 ZE 99.3678 –, NVwZ-RR 2000, 454; vgl. auch BayVGH, Beschl. v. 8.2.1996, – 4 CE 96.420 –, BayVBl. 1996, 597 (jeweils zu Bürgerbegehren). 151 So aber Rux (Fn. 2), S. 917; beachte für Bürgerbegehren in Bayern die Sonderregelung in Art. 18a Abs. 15 bayGO.
4. Sperrwirkung von Volks- bzw. Bürgerbegehren?
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gebundener Verwirklichung von Infrastrukturvorhaben, beispielsweise auch im Falle des Projekts „Stuttgart 21“: An der Baustelle vorgenommene Bauarbeiten können eine spätere Entscheidung des Volkes präjudizieren oder obsolet werden lassen. In der zeitlichen Konkurrenz offenbart sich ein Strukturproblem direktdemokratischer Mitwirkungselemente: Der direkt-demokratische Entscheidungsweg ist von der Natur der Sache her schwerfälliger und langwieriger als die Willensbildung durch die jeweilige repräsentativdemokratische Vertretungskörperschaft. Entscheidungen, deren Verhinderung direktdemokratische Mitwirkungsmechanismen dienen sollen, können daher leicht durch den Gang der Dinge überholt werden. Das rechtfertigt ein Sicherungsbedürfnis zum Schutz direktdemokratischer Gestaltungsinteressen. Während sich für Bürgerbegehren teilweise explizite Sicherungsregeln in den Ländern finden, die dem Begehren entgegenlaufende Entscheidungen der Gemeindeorgane teils ausdrücklich zulassen,152 teils ausdrücklich verbieten,153 beantworten die meisten Landesverfassungen die Frage für Volksbegehren nicht ausdrücklich. Das löst ein Bedürfnis nach einer dem normativen Rahmen gerecht werdenden Enträtselung des Konkurrenzverhältnisses zweier miteinander verschränkt agierender Entscheidungsträger aus. Aus der Verpflichtung des Staates, die Angelegenheit dem Volk zur Abstimmung vorzulegen und dem Verbot, den Volksbegehrensentwurf abzuändern, scheint prima facie selbstredend das Verbot zu fließen, selbst ein (den Zielen der Volksabstimmung zuwiderlaufendes) Gesetz anstelle des Volkes zu erlassen oder auf den Weg zu bringen. Die Entscheidungsmacht des Parlaments als gleichsam „entmündigte“ Instanz vollständig verdrängt zu sehen, hieße jedoch, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Denn nach der Lex-posterior-Regel setzt sich das spätere Volksgesetz ohnehin gegenüber dem früheren Parlamentsgesetz durch. Es ist auf einen absoluten Verbotsschutz daher grundsätzlich nicht angewiesen. Vor allem sind die parlamentarische und die plebiszitäre Willensbildung gleichrangig:154 Das Parlament bleibt (trotz eines Volksbegehrens) handlungsbefugtes, vormundfreies Organ staatlicher Willensbildung. 152 So etwa § 22b Abs. 8 S. 1 und 2 ndsGemO (ab 1.11.2011: § 32 Abs. 6 ndsKomVG): „Das Bürgerbegehren hindert die Gemeinde nicht daran, über die vom Bürgerbegehren betroffene Angelegenheit selbst zu entscheiden. Die Gemeinde kann getroffene Entscheidungen vollziehen, die den Gegenstand des Bürgerbegehrens betreffen“. 153 In diesem Sinne etwa Art. 18a Abs. 9 bayGO; § 26 Abs. 6 S. 6 nrwGO; § 25 Abs. 5 sachsanhGO („sollte“); § 25 Abs. 3 S. 4 sächsGemO; § 16g Abs. 5 S. 2 s-hGemO; § 17 Abs. 5 thürKO. 154 So auch Huber, ZG 24 (2009), 311 (314 f.); Neumann (Fn. 40), S. 348.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
Umgekehrt scheidet – entgegen etwa der Ansicht des Hamburgischen Verfassungsgerichts155 – eine Sperrwirkung nicht schon deshalb aus, weil das Volksgesetz womöglich durch ein späteres Parlamentsgesetz ohnehin wieder geändert werden könnte und damit kein Sicherungsbedarf besteht. Ob eine Sperrwirkung besteht, bestimmt sich nämlich nicht nach einer höheren demokratischen Weihe der Volkswillensbildung.156 Eine Sperrwirkung speist sich vielmehr aus anderer Quelle, namentlich dem verfassungsrechtlich abgesicherten Durchführungsrecht der Volksgesetzgebung bzw. dem kommunalrechtlich verankerten Durchführungsrecht des Bürgerbegehrens:157 Das Recht zur Volksgesetzgebung bzw. Bürgermitwirkung verkäme zu einer leeren Hülle, wenn es nicht in seiner ordnungsgemäßen Geltendmachung gesichert wäre.158 Wo durch einen Vollzug Erledigung des Begehrens einträte, verdichtet sich daher das Durchführungsrecht zu einem Sicherungsrecht, etwa wenn – wie in Hamburg geschehen – die staatlichen Krankenhäuser (ohne Rückholoption) verkauft werden sollen, bevor das Volksbegehren über die Privatisierung entscheiden kann.159 Das Gebot der Organtreue verpflichtet das Parlament bzw. den Gemeinderat als Repräsentant der indirekten Demokratie zur Achtung des Durchführungsrechts der Volksinitiative bzw. des Bürgerbegehrens.160 155
HVerfG, Urt. v. 15.12.2004 – HVerfG 06/04 –, NVwZ 2005, 685. Von genau diesem Fundament einer Sperrwirkung geht allerdings Oldiges (Fn. 129), 547 aus. 157 In diesem Sinne wohl auch Engelken (Fn. 148), 418; zum Anspruch auf Beteiligung am politischen Willensbildungsprozess mittels Bürgerbegehren und Bürgerentscheid vgl. OVG Berlin-Brdbg, Beschl. v. 1.11.2002 – 1 B 209/02 –, LKV 2003, 229 ff. 158 Nach Rossi/Lenski, DVBl. 2008, 416 (425) soll ein grundsätzliches Vereitelungsverbot bestehen. 159 Die Sperrwirkung eines Antrags der Volksinitiative als „sonstige Vorlage“ i. S. d. Art. 50 Abs. 1 S. 1 Var. 1 hambVerf lehnt das HambVerfG, Urt. v. 15.12. 2003, HVerfG 4/03, NVwZ-RR 2004, 672 (674) für den konkreten Fall auf Grund der Ähnlichkeit mit einem (unverbindlichen) „Ersuchen der Bürgerschaft“ ab (anders jetzt aber Art. 50 Abs. 4a S. 1 hambVerf). Dass gegebenenfalls der Vollzug nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, übersieht (für den Fall eines Bürgerbegehrens) der VGH BW, Beschl. v. 6.9.1993 – 1 S 1749/93 –, NVwZ 1994, 397. Auch seine Begründung für die Ablehnung eines Sicherungsrechts, dass eine gesetzliche Regelung, die einem Antrag auf ein Bürgerbegehren aufschiebende Wirkung verleiht, fehlt, vermag nicht zu überzeugen. In jüngerer Zeit hat das Gericht diese Ansicht jedoch aufgegeben und hält zumindest einen Antrag auf vorläufige Feststellung der Zulässigkeit eines Bürgerentscheids für möglich, VGH BW, Beschl. v. 27.4.2010 – 1 S 2810/09 –, DVBl. 2010, 1440; ebenso HessVGH, Beschl. v. 16.7.1996 – 6 TG 22/64/96 –, NVwZ 1997, 310. 160 Vgl. OVG NRW, Beschl. v. 19.3.2004 – 15 B 522/04 –, NVwZ-RR 2004, 519 (521); OVG NRW, Beschl v. 6.12.2007 – 15 B 1744/07 –, DVBl. 2008, 120 (123); HessVGH, Beschl. v. 26.10.1993 – 6 TG 2221/93 –, NVwZ 1994, 396 (397); 156
4. Sperrwirkung von Volks- bzw. Bürgerbegehren?
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Ein Verhalten, das allein darauf zielt, der rechtlich zugelassenen Äußerungsmacht eines Volks- bzw. Bürgerbegehrens die Grundlage zu entziehen und die direktdemokratische Willensbildung zu vereiteln, ist danach unzulässig.161 Aus den Landesverfassungen fließt insoweit eine Rücksichtnahmepflicht der Landesorgane gegenüber dem Volksbegehren; für Bürgerbegehren ergibt sie sich, soweit nicht ohnehin ausdrücklich geregelt,162 entsprechend aus dem Sinngefüge der gemeindeordnungsrechtlichen Regelungen.163 Sie ist Ausdruck einer Kompensation für die strukturelle Unterlegenheit direktdemokratischer Willensbildungsinstrumente in der Durchsetzung ihrer politischen Gestaltungsinteressen.164 Seine Grundlage findet das Sicherungsrecht mithin in dem Recht der Initiatoren, politische Willensbildungsprozesse in der Demokratie überhaupt entscheidungsfähig zu halten. Darin erschöpft es sich aber auch. Ausschließlich finanzielle Folgen von Vollzugsmaßnahmen, die später wieder rückgängig gemacht werden können, ohne Faktizitäten zu schaffen, welche eine spätere Entscheidung realiter obsolet werden lassen, – wie etwa im Falle des Projekts „Stuttgart 21“ durch Vergabe von Bauaufträgen – hindern einen Vollzug grundsätzlich nicht.165 Insbesondere darf die anstehende Durchführung eines Volks- bzw. BürgerOVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 1.12.1994 – 7 B 12954/9 –, NVwZ-RR 1995, 411 (413) für einen Einwohnerantrag; Oldiges (Fn. 129), 549. 161 Vgl. auch Engelken (Fn. 148), 418. Danach soll der Erlass einer einstweiligen Anordnung schon in Betracht kommen, wenn der zukünftige Volksentscheid infolge der staatlichen Maßnahmen wirkungslos zu werden droht. 162 Insbesondere Art. 18a Abs. 9 bayGO. 163 So im Ergebnis etwa auch OVG Sachsen, Beschl. v. 6.2.1997 – 3 S 680/96 –, NVwZ-RR 1998, 253 ff.; OVG RhPf, Beschl. v. 6.4.1987 – 7 B 16/87 –, NVwZ 1988, 468 (468 f.), a. A. wohl Rux (Fn. 2), S. 90 u. 916, der ein Sicherungsrecht erst nach gesetzlicher bzw. verfassungsrechtlicher Änderung bejaht, dabei aber übersieht, dass diese Prinzipien, auf die sich das Sicherungsrecht stützt, bereits der Rechtsordnung inhärent sind. 164 A. A. HessVGH, Beschl. v. 17.11.2008 – 8 B 1806/08 –, juris; OVG NRW, Beschl. v. 6.12.2007 – 15 B 1744/07 –, DVBl. 2008, 120 ff.; VG Stuttgart, Urt. v. 17.7.2009 – 7 K 3229/08 –, Rn. 99 ff., juris. Sie sehen in dem Fehlen der ausdrücklichen Anordnung einer Sperrwirkung in den jeweiligen Gemeindeordnungen eine versteckte Nachrangerklärung plebiszitärer Mitwirkung in den Gemeinden: Die Gemeindeordnung Baden-Württemberg nehme „bewusst in Kauf, dass im Einzelfall eine Entscheidung des Gemeinderates dadurch einen faktischen Vorrang erhält, dass sie wegen der Schwerfälligkeit des Verfahrens zur Herbeiführung eines Bürgerentscheids schon vor dessen Abschluss in die Tat umgesetzt werden kann.“ (VG Stuttgart, a. a. O., Rn. 102, juris). Denn der Sinn des repräsentativ-demokratischen Systems bestehe gerade darin, eine organisatorisch und zeitlich handhabbare Form demokratischer Willensbildung für mitgliederstarke Körperschaften bereitzustellen und die Funktionsfähigkeit und Effizienz des gemeindlichen Verwaltungshandelns sicherzustellen. 165 Hinzu kommt im konkreten Falle des Projekts „Stuttgart 21“, dass die Zulässigkeit des bereits durch bestandskräftigen Planfeststellungsbeschluss genehmigten Vorhabens als solche nicht Gegenstand des Volksentscheides ist und sein kann.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
begehrens als solche die Repräsentativorgane bzw. ihre Rechtsträger nicht in eine lähmende „Schockstarre“ versetzen, die deren Funktions- und Handlungsfähigkeit gefährdet.166 Damit ist indes noch nicht die Frage beantwortet, ab welchem Zeitpunkt ein solches Sicherungsrecht seine Wirkung entfaltet. In Betracht kommen hier verschiedene Zeitpunkte: derjenige der Entscheidung über die Zulässigkeit des Begehrens oder der Beginn der Sammlung der ersten Unterschriften.167 Das Durchführungsrecht erheischt einen möglichst frühen Schutzzeitpunkt. Das kann dann jedoch – bei Bürgerbegehren – mit der Funktionsgarantie des Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG bzw. – bei Volksbegehren – mit dem landesverfassungsrechtlichen Demokratieprinzip kollidieren. Denn zu Beginn der Unterschriftensammlung haben die Initiativen keinen gesicherten demokratischen Rückhalt.168 Weder ist besiegelt, dass das Volks- bzw. Bürgerbegehren überhaupt zustande kommt, noch dass die Entscheidung in dem intendierten Sinne ausfällt. Risse die Initiative insbesondere sehr früh ein Entscheidungsmonopol an sich, könnte sie die Handlungsfähigkeit der Volksvertretung erlahmen lassen.169 Kleine Minderheiten könnten eine Entscheidungsblockade auslösen, die das Parlament bzw. den Gemeinderat zur Untätigkeit verdammen würde. Aus der Funktionsgarantie des Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG bzw. dem landesverfassungsrechtlichen Demokratieprinzip 166
Vgl. dazu für Bürgerbegehren etwa auch Schliesky (Fn. 78), 104. Vgl. dazu auch Huber (Fn. 154), 324 ff., der dabei die verschiedenen möglichen Zeitpunkte sogleich gegeneinander abwägt. Ebenfalls verschiedene Möglichkeiten diskutierend Schliesky (Fn. 78), 112. Einfacher als die Frage nach dem Beginn des Sicherungsrechts ist die Frage nach seinem Ende zu beantworten. Regelmäßig ist der Zeitpunkt der Durchführung des Bürger- bzw. Volksentscheids als Artikulation des Bürgerwillens diejenige Zäsur, die das Durchführungsrecht zum Abschluss bringt und damit ein Sicherungsrecht hinfällig werden lässt (in diesem Sinne ausdrücklich auch Art. 18a Abs. 9 bayGemO). Nur ausnahmsweise kann ein noch anhängiges Klageverfahren zur Ungültigerklärung bzw. Wiederholung eines Bürgerbegehrens ein Sicherungsrecht rechtfertigen. Vgl. dazu auch BayVGH, Beschl. v. 19.8.1997 – 4 ZE 97.2417 –, NVwZ-RR 1998, 256 (257). 168 Der BayVerfGH (BayVBl. 1997, 622 [626]) hat daher in einer Entscheidung vom 29.8.1997 – Vf. 8-VII-96, Vf. 9-VII-96, Vf. 10-VII-96, Vf. 11-VII-96 –, die Bestimmung des Art. 18a Abs. 8 bayGO und Art. 25a Abs. 8 bayLKrO a. F. (ex tunc) für nichtig erklärt, welche eine Sperrwirkung bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt – mit Einreichen eines Drittels der für ein Bürgerbegehren erforderlichen Unterschriften – eintreten ließ. Ebenso die Rechtsprechung des VGH BW, Beschl. v. 6.9.1993 – 1 S 1749/93 –, NVwZ 1994, 397, welcher ein Sicherungsrecht der Initiatoren eines Bürgerbegehrens ablehnt. Zustimmend Hager, NVwZ 1994, 766 (767). Ähnlich Oldiges (Fn. 129), 549. Der HessVGH sieht demgegenüber einen Sicherungsanspruch während des Sammelns von Unterschriften gegeben, HessVGH, Beschl. v. 26.10.1993 – 6 TG 2221/93 –, NVwZ 1994, 396 f. 169 Ähnlich Herbel (Fn. 148), S. 299. 167
5. Bindungswirkung und Rangverhältnis von Volks- bzw. Bürgerentscheiden
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folgt, dass die Gemeinderäte bzw. Landesparlamente in der Lage bleiben müssen, eigenständig und selbstverantwortlich zu handeln. Ein vorbehaltloses Sicherungsrecht – etwa eine Regelung, die ab der Sammlung der Unterschriften eine Entscheidungsblockade auslöst – würde dem widersprechen. Ein Sicherungsrecht besteht daher grundsätzlich frühestens ab der Entscheidung über die Zulässigkeit des Begehrens, also seinem Zustandekommen170 – dies aber auch nicht in vollem Umfang, sondern nur, soweit eine Zumutbarkeitsschranke überschritten ist,171 ab der das Durchführungsrecht der Bürger infrage gestellt, das heißt eine spätere Entscheidung des Volkes durch vollendete, irreversible Tatsachen ad absurdum geführt wird.172 Würde das Sicherungsrecht weiterreichen, ginge mehr Bürgerbeteiligung mit weniger Demokratie einher; die gleiche Mitwirkung aller in der Demokratie würde gleichsam durch eine Oligarchie derjenigen ersetzt, die für sich eine Sperrwirkung reklamieren, ohne bereits auf eine hinreichende demokratische Unterfütterung ihres Anliegens in der Bevölkerung verweisen zu können.
5. Bindungswirkung und Rangverhältnis von Volks- bzw. Bürgerentscheiden Hat das Volk eine Entscheidung gefällt, drängt der plebiszitär ausgedrückte Gestaltungswille nach Verbindlichkeit. Tom Stoppard bringt den Gedanken treffend auf den Punkt: „It’s not the voting that’s democracy, it’s the counting“173. Die in einem demokratischen Verfahren erzeugte Willensbekundung erheischt Verbindlichkeit nicht lediglich gegenüber entgegenstehenden Parlamentsgesetzen [unten b)]. Sie reklamiert – innerhalb der Grenzen rechtsstaatlicher Bindungen des Rückwirkungsverbots und des Vertrauensschutzes – für sich grundsätzlich auch Durchsetzungsmacht gegenüber bereits eingegangenen etwaigen vertraglichen Bindungen des Staates [unten a)]. Sie tritt damit freilich mit dem Gebot der Vertragstreue als zentraler Leitidee des Vertragsrechts in Konflikt, welches als Bestandteil des Selbstbestimmungsrechts durch Art. 2 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich umhegt ist. 170 So auch Borowski, DÖV 2000, 481 (490) sowie Huber (Fn. 154), 326; vgl. zudem Rossi/Lenski (Fn. 158), 423; Oldiges (Fn. 129), 549 legt sich bei dieser Frage nicht fest und geht mit der Rspr. des SächsVerfGH davon aus, das Sicherungsrecht bestünde spätestens dann, „wenn der Erfolg des Volksbegehrens förmlich festgestellt ist.“ So auch die st. Rspr. des OVG NW, vgl. nur Beschl. v. 15.7.1997 – 15 B 1138/97 –, NWVBl. 1998, 328. 171 Davon wird man sprechen können, wenn schwere und evidente Verstöße gegen das Rücksichtnahmegebot vorliegen, Huber (Fn. 154), 327 ff. 172 So für Bürgerbegehren Fischer, NWVBl. 1995, 366 (370). 173 Stoppard, Jumpers, Act I, 1971.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
a) Durchsetzungsmacht von Volks- und Bürgerentscheiden gegenüber bereits begründeten vertraglichen Vereinbarungen – insbesondere zum Kündigungsrecht des Landes Baden-Württemberg im Falle des Projekts „Stuttgart 21“ Wie weit die Durchsetzungsmacht von Volksentscheiden reichen kann, kommt gegenwärtig im Falle des Projekts „Stuttgart 21“ in besonderer Weise zum Schwur. Der Finanzierungsvertrag zwischen dem Land BadenWürttemberg und der Bahn, den die Volksabstimmung zu Fall bringen soll, schließt eine ordentliche Kündigung der Vereinbarung ausdrücklich aus.174 Ob ein späterer Volksentscheid bzw. Bürgerentscheid sich über bereits eingegangene vertragliche Verpflichtungen, etwa Verträge zum Verkauf staatlicher Unternehmen an Investoren, eingegangene Finanzierungszusagen für öffentliche Einrichtungen, Bauverträge etc., hinwegsetzen kann, berührt die Grundfrage des Verhältnisses zwischen dem der Rechtsordnung als Teil des rechtsstaatlichen Rechtssicherheitsgebots zu Grunde liegenden Gedanken der Vertragstreue175 und dem Durchsetzungsinteresse des Demokratieprinzips. aa) § 60 Abs. 1 S. 1 LVwVfG als Hebel zur Auflösung von Vertragsbindungen Einen tauglichen Hebel zur Auflösung der Vertragsbindung bildet de lege lata allenfalls176 eine auf besondere Ausnahmefälle zugeschnittene Vorschrift:177 der als zwingendes Recht nicht abdingbare § 60 LVwVfG.178 Die Vorschrift eröffnet ein Anpassungs- oder Kündigungsrecht für den Fall, dass sich Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts maßgeblich waren, wesentlich geändert haben und vor diesem Hintergrund das 174 Siehe § 15 Abs. 1 S. 2 des Finanzierungsvertrags zum Bahnprojekt Stuttgart – Ulm, LT-Drucks. 14/4382: „Eine ordentliche Kündigung dieses Vertrages ist ausgeschlossen“. 175 Dazu umfassend Weller, Die Vertragstreue, 2009. 176 Denkbar wäre auch eine unmittelbare Kündigung durch Gesetz, die das Land aber in konkreto nicht anstrebt (vgl. dazu auch sogleich im Text). 177 Dem Land Baden-Württemberg für eine Kündigungsregelung, wie teilweise vorgetragen, die Gesetzgebungskompetenz unter Hinweis auf die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für das Bürgerliches Recht abzusprechen, geht an der Sache vorbei. Denn Gegenstand der Kündigungsregelungen der Volksabstimmung ist keine vertragliche Vereinbarung des Privatrechts, sondern ein öffentlich-rechtlicher Vertrag, der als Teil des Verwaltungsverfahrensrechts in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fällt. 178 Bonk, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 60 Rn. 6.
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Festhalten an der ursprünglichen Vertragsregelung nicht zumutbar erscheint. Im Falle des Projekts „Stuttgart 21“ hat sich freilich keiner der klassischen Tatbestände eines Wegfalls der Geschäftsgrundlage realisiert: keine Naturkatastrophe, keine Revolution, keine Hyperinflation. Gegenstand des Vertrages sind auch nicht unmittelbar technische oder betriebliche Details des Bahnhofsbauprojektes, sondern die vertragliche Finanzierungszusage des Landes, den Bau des Bahnhofs sowie der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm zu unterstützen.179 Immerhin bezieht diese Zusage sich auf ein (im Falle eines erfolgreichen Volksentscheides inzwischen nicht mehr unterstütztes) konkretes bauliches Vorhaben. (1) Kostensteigerung als wesentliche Änderung tatsächlicher Verhältnisse Allein die seit dem Vertragsschluss eingetretene Kostensteigerung als solche vermag dabei – anders als die Landesregierung es in dem Kündigungsgesetz begründet180 – allerdings kein Kündigungsrecht zu etablieren. § 60 LVwVfG will den einvernehmlich gefundenen Interessenausgleich und die darin zum Ausdruck kommende Risikoverteilung der Parteien nicht umstoßen. Die Vorschrift ist in ihrem Anwendungsbereich auf solche Konstellationen beschränkt, in denen die Vertragsparteien für den Fall wesentlicher Änderungen der Verhältnisse nicht bereits entsprechende vorsorgende Korrekturmechanismen vorgesehen haben. Just für den nunmehr streitbefangenen Fall von Kostensteigerungen haben die Vertragsparteien in § 8 Abs. 3 und Abs. 4 des Finanzierungsvertrags aber bereits vorsorglich Regelungen getroffen: Die Vertragsparteien sollen danach Gespräche aufnehmen; die Möglichkeit einer vorzeitigen Vertragsauflösung (nach § 2 Abs. 2 des Vertrages) haben sie ausdrücklich ausgeschlossen (§ 8 Abs. 4 S. 2).181 Die Mission des § 60 LVwVfG ist die Einbeziehung und Zuweisung von Risiken, die die Parteien beim Vertragsschluss nicht vollständig erfasst oder nicht zugeordnet haben, wohl aber erfasst hätten, wenn sie die tatsächliche Entwicklung vorausgesehen hätten.182 Dem Prinzip des Vorrangs des selbstbestimmten, dezentralen Interessenausgleichs der Parteien folgend billigt die 179
Hermes/Wieland (Fn. 50), 371 f. Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S 21-Kündigungsgesetz), LT-Drucks. 15/496, S. 9 f. 181 § 2 Abs. 2 des Vertrages sah eine (inzwischen verstrichene) Möglichkeit vorzeitiger Beendigung des Projekts für den Fall vor, dass nach Abschluss der Entwurfsplanung, spätestens jedoch bis zum 31.12.2009, eine Erhöhung der Gesamtkosten über den Gesamtbetrag von 4,526 Mrd. e zu erwarten gewesen wäre. 182 Vgl. etwa Martini (Fn. 94), S. 624 f. mit Fn. 1299. 180
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
Rechtsordnung den von den Vertragsparteien ausgehandelten Übereinkünften grundsätzlich eine Richtigkeitsvermutung zu.183 An einer für § 60 LVwVfG erheblichen Änderung der Verhältnisse fehlt es daher, wenn die Parteien bereits bei Vertragsschluss für den später eingetretenen Fall ausdrückliche Vorsorge getroffen haben.184 (2) Änderung der politischen Mehrheitsverhältnisse im Volk Von Gewicht und allein maßgeblich kann nur ein anderer grundlegender Umstand sein:185 die in einem gegebenenfalls erfolgreichen Volksentscheid manifestierte nachträgliche Ablehnung des Bauprojektes186 insgesamt durch das Volk und damit das Gewicht, das demokratischen Willensbekundungen des Volkes nach der Staatsordnung zukommen soll.187 Wie weit sich Volkes Wille auch gegenüber bereits abgeschlossenen Verträgen und dem Gebot der Vertragstreue („pacta sunt servanda“) durchzusetzen vermag, harrt dann einer Antwort – es verbinden sich damit Rechtsfragen, die sich in 183 Vgl. etwa BGH, Urt. v. 1.6.1979 – V ZR 80/77 –, BGHZ 74, 373 ff.; Lettl, JuS 2001, 347 (352); Schäfer/Ott, Lehrbuch der ökonomischen Analyse des Zivilrechts, 2005, S. 435. 184 Vgl. etwa OVG NRW, Urt. v. 06.12.1990 – 3 A 855/89 –, NVwZ 1991, 1106 f. 185 Vgl. auch Dolde/Porsch (Fn. 52), S. 67. Fehl gehen daher die Ausführungen in der Begründung des Gesetzesentwurfs des Gesetzes über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 – S 21-Kündigungsgesetz, LT-Drucks. 15/496, S. 15, die aus einer möglichen Kostensteigerung ein Sonderkündigungsrecht nach § 60 Abs. 1 S. 1 LVwVfG herleiten wollen. 186 Man mag einwenden, dass eine Kündigung des Finanzierungsvertrages das mit dem bestandskräftigen Planfeststellungsbeschluss geschaffene Baurecht der Deutschen Bahn nicht zu beseitigen vermag, sondern insoweit allenfalls über einen Widerruf des Bewilligungsbescheides nachzudenken ist. Kündigt das Land aber seine Finanzierungszusage, bricht damit zugleich auch die Grundlage für die Realisierung des Bauprojekts in sich zusammen. Denn ohne eine Finanzierungsbeteiligung des Landes werden die anderen Projektbeteiligten die Umsetzung des Vorhabens bei realistischer Betrachtung nicht mehr weiter betreiben. 187 Begründung des Gesetzesentwurfs eines Gesetzes über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 – S 21-Kündigungsgesetz, LT-Drucks. 15/496, S. 5 f.; Hermes/Wieland (Fn. 50), 372. Ein solcher Volksentscheid ist allerdings nur dann erfolgreich, wenn die Mehrheit der abgegebenen Stimmen sowie mindestens ein Drittel der Wahlberechtigten dem Gesetzesentwurf seinen Segen gibt. Insofern verfängt das Argument gegen eine Zulässigkeit des Volksentscheides nicht, dass nach wie vor nur ein Teil der Bevölkerung das Projekt ablehne und somit keine wesentliche Änderung der Verhältnisse vorliege (in diesem Sinne aber Dolde/Porsch [Fn. 52], S. 69). Denn der Ermittlung dieses Umstandes soll der Volksentscheid als Suchprozess gerade dienen.
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dieser Form und diesem Bedeutungsausmaß so noch nicht gestellt haben. In sibyllinischer Vorsicht beschränkt sich der Entwurf für das Kündigungsgesetz im Falle des Projekts „Stuttgart 21“ denn auch auf die Verpflichtung der Landesregierung, (tatsächlich bestehende) „Kündigungsrechte (. . .) auszuüben“.188 Eine Demokratie ist prinzipiell nicht gehindert, sondern geradezu aufgerufen, dem Wechsel der Mehrheitsverhältnisse Gestaltungsmacht zuzusprechen. Dem Durchsetzungsinteresse des Volkswillens gebührt als Ausdruck unmittelbarer demokratischer Willensbildung und mithin als Ausformung des Demokratieprinzips des Art. 20 Abs. 1 GG grundsätzlich der Vorrang gegenüber Bewahrungsinteressen. Es entspricht dem Wesen der Demokratie als Verfassungsprinzip, wandelnden Mehrheiten eine Durchsetzung ihrer Gestaltungsinteressen zu ermöglichen. Entsprechend müssen politische Willensentscheidungen für den Fall umkehrbar bleiben, dass sie einer geänderten Mehrheitsauffassung nicht mehr entsprechen: Ein späteres Parlament kann sich in seinen gestalterischen Willensbekundungen gegen ein früheres Parlament durchsetzen, ein späteres Volksgesetz ein früheres Parlamentsgesetz überwinden und umgekehrt. So können denn auch nicht von ungefähr überwiegende Gründe des Gemeinwohls bzw. des öffentlichen Interesses die spätere Aufhebung eines rechtmäßigen Verwaltungsaktes durchaus rechtfertigen, wie es etwa auch § 49 Abs. 2 Nrn. 3–5 (L)VwVfG zum Ausdruck bringt. Dieses Grundprinzip kann – in den Grenzen des Rückwirkungsverbotes und des Vertrauensschutzes – bei Verträgen nicht anders gelten. Anderenfalls hätten gegenwärtige Mehrheiten ein schlagkräftiges Werkzeug in der Hand, künftige Parlamente bzw. das Volk selbst auf alle Zukunft zu binden.189 Ob § 60 LVwVfG das richtige Instrument zur Durchsetzung des Grundprinzips der Demokratie darstellt, steht dabei freilich auf einem anderen Blatt: Könnte sich ein Land unter Rückgriff auf das Demokratieprinzip und die in § 60 LVwVfG verankerte „clausula rebus sic stantibus“ unbesehen von vertraglichen Verpflichtungen lösen, würde das Instrument der Volksgesetzgebung den Ländern eine bequeme Handlungsoption verleihen, sich gleichsam über den „Umweg“ plebiszitärer Einbeziehung des Volkes von inzwischen unliebsam gewordenen, vertraglich eingegangenen Verpflichtungen loszusagen – eine Möglichkeit, die in der Rechtsordnung sonst keinem anderen Rechtsträger offen steht. Wenn die Änderung der demokratischen Meinungsbildung im Volk zu einem Wegfall der Geschäftsgrundlage führte, dürfte überdies konsequenterweise für eine Änderung der Mehrheitsverhält188 § 1 des Entwurfs des S 21-Kündigungsgesetzes, LT-Drucks. 15/496. Siehe dazu auch S. 17 der Drucksache. 189 Hermes/Wieland (Fn. 50), 373.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
nisse im Parlament nichts anderes gelten: Auch sie müsste die Geschäftsgrundlage bereits begründeter vertraglicher Verpflichtungen dann entfallen lassen. Denn die plebiszitäre und die parlamentarische Gesetzgebung sind gleichwertige, keineswegs hierarchisch gestufte Wege der Erzeugung verbindlicher staatlicher Willensäußerungen.190 Im Ergebnis würde damit jede Änderung der politischen Mehrheitsverhältnisse, sei es im Volk, sei es im Parlament, einen Wegfall der Geschäftsgrundlage mit sich bringen. So ist § 60 LVwVfG aber nicht angelegt. Er will den Grundsatz der Vertragsbindung nicht generell unter den Vorbehalt einer Änderung der politischen Mehrheitsverhältnisse stellen. Vielmehr will die Vorschrift eine Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen, die die Vertragsparteien bei dem Vertragsschluss nicht vorausgesehen haben, möglich machen und damit den Vertragskonsens in die Zukunft fortschreiben, nicht aber ein von den Vorstellungen und dem vertraglichen Konsens der Parteien losgelöstes gesetzliches Kündigungsrecht schaffen.191 Das Parlament bindet mit seiner vertraglichen Willenserklärung das Land und damit auch das Staatsvolk des Landes: Vertragspartner im Sinne der §§ 54 ff. LVwVfG ist nicht das Parlament, sondern der Rechtsträger, für den es handelt. Eine innenrechtliche Organtrennung ist für die vertragliche Außenbeziehung grundsätzlich irrelevant.192 Wandelt sich die Mehrheitsmeinung des Volkes in einer durch Volksabstimmung ausgedrückten gesetzlichen Form, erlangen diese Änderungen Relevanz erst dort, wo der Gesetzgeber spezifischen Gemeinwohlerfordernissen des Staates durch Gesetz besondere Durchschlagskraft verleiht.193 § 60 Abs. 1 S. 2 LVwVfG tut das etwa dadurch, dass er der Behörde ein Sonderkündigungsrecht einräumt, um „schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen“. Ein Wechsel der demokratischen Mehrheitsmeinung, namentlich ein Wandel der politischen Realisierungsinteressen allein, genügt diesen hohen Anforderungen nicht – insbesondere nicht, um geänderten Finanzierungsinteressen Ausdruck zu verleihen, die sich auf ein durch Planfeststellungsbeschluss genehmigtes, bestandskräftiges Vorhaben beziehen, dessen Aufhebung nicht in der Hand des Financiers liegt. Vielmehr markiert § 60 Abs. 1 S. 2 LVwVfG ein Ultima Ratio-Auflösungsrecht, das nur in Fällen schwerster Beeinträchtigungen des Wohls der Allgemeinheit Platz greift. Auch die Regelung des § 60 Abs. 1 S. 1 LVwVfG als subsidiäre Ausfül190
Vgl. dazu im Einzelnen unten S. 82 ff. Spieth, in: Bader/Ronellenfitsch (Hrsg.), BeckOK VwVfG, 11. Ed., Stand: 1.4.2011, § 60 Rn. 5; wohl auch Bonk (Fn. 178), § 60 Rn. 14. 192 Insoweit a. A. Hermes/Wieland (Fn. 50), 372 f. 193 Nicht zuletzt kann sich auch der parlamentarische Gesetzgeber über die anderslautende Willensentscheidung des Volkes durch ein späteres Gesetz durchaus hinwegsetzen. Vgl. dazu unten S. 81 ff. 191
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lung bzw. Fortschreibung eines von übereinstimmenden Willenserklärungen getragenen Vertragskonsens setzt sich in ihrem Grundkonzept nicht über die in dem Vertrag selbst für den Fall von Änderungen der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse vorgesehenen Regelungen hinweg.194 Eine Änderung der politischen Mehrheitsverhältnisse im Volk mag man als in dem getroffenen Vertragskonsens nicht berücksichtigten Umstand und insoweit als eine wesentliche Änderung der bei Vertragsabschluss bestehenden Voraussetzungen ansehen wollen.195 Das Fortbestehen einer Unterstützung durch das Volk bzw. das Parlament bildete dann die dem Vertrag immanente Grundlage, deren Wegfall eine wesentliche Änderung darstellen würde. Ein Wegfall der Geschäftsgrundlage liegt aber noch nicht deshalb vor, weil eine Partei nach ihrer heutigen Interessenlage vernünftigerweise nicht mehr in den Vertragsschluss einwilligen würde. Erforderlich ist vielmehr, dass die Änderung zu einem mit Recht und Gerechtigkeit nicht zu vereinbarenden und damit der betroffenen Vertragspartei nach Treu und Glauben nicht mehr zumutbaren Ergebnis führt.196 Die Grenze der Zumutbarkeit ist nur dann überschritten, wenn das sich verwirklichende Risiko nicht allein oder ganz überwiegend in die Risikosphäre des Vertragspartners fällt. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn das von jedem Vertragspartner normalerweise zu tragende, längerfristigen Vertragsbeziehungen immanente Risiko weit überschritten ist und es dem Vertragspartner deshalb unmöglich wird, in der getroffenen Regelung seine Interessen auch nur annähernd gewahrt zu sehen. Wer demgegenüber ein Risiko bewusst übernommen oder den Eintritt von Umständen selbst zu verantworten hat, die zu der Störung der vertraglichen Beziehung geführt haben,197 kann sich auf die Unzumutbarkeit des Festhaltens an den vertraglichen Verpflichtungen nicht berufen. 194 Für den Fall des Projekts „Stuttgart 21“ hat der Vertrag zwischen dem Land Baden-Württemberg und den anderen Projektbeteiligten zumindest für den Fall von Kostensteigerungen diese vertragliche Regelungslücke bereits gefüllt und für eine Angleichung ein entsprechendes Verfahren vorgesehen. 195 Das Argument würde dann lauten: Hätten die Vertragsparteien die Ablehnung des Finanzierungsbeitrages durch das Volk vorausgesehen, hätten sie womöglich den Vertrag nicht abgeschlossen. 196 VGH BW, Urt. v. 19.12.1995 – 10 S 1140/94 –, NVwZ 1996, 1230 (1230). 197 Nach dem Gedanken des „venire contra factum proprium“ ist es namentlich demjenigen, der eine entscheidende Änderung der Verhältnisse vorsätzlich herbeiführt oder in sonstiger Weise bewirkt, grundsätzlich verwehrt, sich auf die von ihm selbst geschaffene Umgestaltung und den daraus möglicherweise grundsätzlich resultierenden Wegfall der Geschäftsgrundlage zu berufen. Vgl. Hermes/Wieland (Fn. 50), 372 f.; Schliesky, in: Knack/Henneke (Hrsg.), VwVfG, 9. Aufl. 2010, § 60 Rn. 12; Heberlein, DVBl. 1982, 763 (768); Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fn. 178), § 60 Rn. 21.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
Umstände, die die Parteien erkannt haben, aber in den Risikobereich einer Partei fallen sollen, sind nicht geeignet, eine Vertragskorrektur zu begründen. Sonst würde der anderen Vertragspartei die Chance eröffnet, das von den Parteien intendierte Vertragsgleichgewicht zum Nachteil der anderen Partei zu verschieben. Sie erhielte eine bequeme Handhabe, sich vertraglich übernommener Verpflichtungen zu entledigen, die sich ex post betrachtet als nachteilig herausstellen. So hat der Pächter eines Grundstücks, der einen langfristigen Kiesabbauvertrag eingeht, alleine das Risiko zu tragen, dass sich der Kiesabbau aufgrund einer Veränderung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen als nicht mehr rentabel erweist198, und der Mieter das Risiko zu tragen, dass die angemietete Wohnung aufgrund veränderter persönlicher Umstände für ihn keinen Nutzen mehr zeitigt. Maßgeblich ist für die Zumutbarkeit im Rahmen des § 60 LVwVfG die von den Parteien in dem Vertrag getroffene Zuordnung von Risiken. Diese Risikotragungsgrenze will § 60 LVwVfG nicht verschieben. Der Fortbestand des Interesses an der Verwirklichung der mit einem Vertragsschluss verbundenen Projektziele fällt grundsätzlich in die alleinige Risikosphäre desjenigen Vertragspartners, der sich auf deren Wegfall beruft. Hätten die Parteien eine solche Möglichkeit des Abstandnehmens von vertraglichen Verpflichtungen für den Fall eines Interessenwegfalls – entgegen den grundsätzlichen Risikotragungsregeln der Rechtsordnung – gewollt, hätten sie dem als Ausnahmeregelung in dem Vertrag Ausdruck verliehen und hätten sich vermutlich die anderen Vertragspartner entsprechende Sicherungen vorbehalten. Es entspricht einer vertraglichen Obliegenheit des vertragsschließenden Staates, einen solchen Vorbehalt aufzunehmen, wenn der Änderung der Mehrheitsverhältnisse eine die Vertragsgrundlage umstoßende Bedeutung hätte beigemessen werden sollen. Hat das Land das nicht getan, muss es sich das Risiko zurechnen lassen, dass es sich von der vertraglichen Vereinbarung nicht mehr ohne Weiteres lösen kann. Das gilt umso mehr, wenn die Parteien – wie im Falle der Finanzierungsvereinbarung für das Projekt „Stuttgart 21“ – explizit ein ausgefeiltes Regelungssystem für den Fall von Kostensteigerungen in den Vertrag aufgenommen und damit die Problematik erkannt haben sowie bereits zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bei den Projektbeteiligten ein Bewusstsein für die teilweise Ablehnung des Projekts in der Bevölkerung und damit das Risiko eines Volks- bzw. Bürgerentscheids bestand.199 198
VGH BW, Urt. v. 9.3.1999 – 8 S 2877/98 –, NVwZ-RR 2000, 206 (207). Bereits im November 2007 waren bspw. 67.000 Unterschriften bei der Stadt Stuttgart eingereicht worden, die einen Bürgerentscheid zur Vorbereitung des Ausstiegs aus dem Projekt „Stuttgart 21“ zu erreichen suchten. Das Verwaltungsgericht Stuttgart hielt einen solchen Bürgerentscheid für unzulässig (VG Stuttgart, Urt. v. 17.7.2009 – 7 K 3229/08 –, juris). Zu weiteren Sachverhaltsanhaltspunkten, die ein Bewusstsein der Entscheidungsträger für die Strittigkeit des Projekts in der Bevölkerung offenbaren, etwa Dolde/Porsch (Fn. 52), S. 69. 199
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Denkbar erscheint allenfalls eine Modifizierung dieses Grundsatzes im Hinblick auf die besondere Chamäleon-Rolle des Landes als Vertragspartner und Gesetzgeber. In dieser Doppelfunktion wächst dem Land eine deutlich erweiterte Einflussmacht und Risikosphäre zu, die ihn nur bedingt als in jeder Hinsicht „gleichen“ Vertragspartner erscheinen lässt. Es muss besondere Gestaltungsinteressen wahrnehmen und politische Gesamtverantwortung tragen, die es zum Bestandteil und gleichzeitig Gestalter der Rechtsordnung werden lässt. Es unterwirft sich einer Vertragsbindung, kann aber die dem Vertrag zu Grunde liegenden Voraussetzungen jederzeit ändern. Das damit verbundene Änderungsrisiko darf es jedoch nicht einseitig auf den Vertragspartner verlagern.200 § 60 LVwVfG spricht beiden Vertragspartnern gleichberechtigte Rechte201 zu und rekurriert auf solche Umstände, die nicht der Risikosphäre eines der Vertragspartner zuzuordnen sind. Die Vorschrift schreibt die in dem auf der Grundlage eines Interessenausgleichs gefundenen Vertragsbedingungen für den Fall einer Veränderung der äußeren, nicht einer Partei zuzurechnenden Rahmenbedingungen für die Zukunft fort. Die im Falle des Obsiegens eines Volksentscheids im Projekt „Stuttgart 21“ bestehende Verpflichtung des Landes, „Kündigungsrechte bei den vertraglichen Vereinbarungen mit finanziellen Verpflichtungen des Landes Baden-Württemberg für das Bahnprojekt „Stuttgart 21“ auszuüben“ (§ 1 S 21-Kündigungsgesetz), geht daher ins Leere. Derartige vertraglich eingeräumte bzw. in § 60 LVwVfG begründete Kündigungsrechte bestehen nicht.202
200 Sonst ließe jede (in einer Demokratie als status normalis angelegte) Änderung der Mehrheitsverhältnisse, sei es im Volk, sei es im Parlament, die Geschäftsgrundlage des Vertrages entfallen (und würde der jeweilige Vertragspartner sich vernünftigerweise im Interesse der Planungssicherheit im Vertrag entsprechende Sicherungsrechte vorbehalten müssen bzw. entsprechende vertragliche Vereinbarungen, die den Grundsatz der Vertragstreue zur Ausnahme statt zur Regel machen, nicht mehr eingehen). Ein solches Sonderrecht des Staates kommt in der Vorschrift des § 60 LVwVfG auch nicht zum Ausdruck. 201 Ähnlich wie ein Interessewegfall des Bundes bzw. der Deutschen Bahn AG an der Projektfinanzierung deren vertragliche Leistungspflicht im Falle des Projekts „Stuttgart 21“ nicht aufgehoben hätte, gilt dies dann auch für den Finanzierungsanteil des Landes Baden-Württemberg. 202 Auch die durch Volksentscheid begründete Pflicht der Landesregierung, die Verträge zu kündigen, als solche ist nicht als eine wesentliche Änderung der Umstände, namentlich der rechtserheblichen Tatsachen, anzusehen, die zur Kündigung berechtigt. Denn insoweit kann nichts anderes als hinsichtlich der veränderten Mehrheitsverhältnisse gelten: Volk und Parlament sind auch hier nach außen hin als Einheit zu sehen, so dass ebenfalls das Verbot, sich im Rahmen der Geschäftsgrundlage auf eigenes, den Wegfall der Geschäftsgrundlage herbeiführendes Verhalten zu berufen, die Unzumutbarkeit des Festhaltens an den Verträgen für das Land ausschließt. So auch Dolde/Porsch (Fn. 52), S. 45.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
bb) Gesetzliche Aufhebung der Vertragspflichten durch Volksentscheid Dass § 60 LVwVfG für den Fall des Projekts „Stuttgart 21“ und andere durch späteren Volksentscheid auf den Prüfstand gestellte vertragliche Vereinbarungen keine ausreichende Handhabe einer Kündigung vorhält, heißt freilich nicht, dass dem Gewicht des Prinzips der Demokratie nicht angemessen Rechnung getragen werden kann und dem Land als Vertragspartner jede Möglichkeit der Herauslösung aus den vertraglichen Pflichten genommen ist. Es steht ein anderer gangbarer Weg zur Verfügung, um der Änderung des Volkswillens Geltung zu verschaffen: die unmittelbare Umgestaltung des Vertrages durch Gesetz. Der Umstand, dass ein Vertragspartner selbst Normgeber ist, schränkt seine Normsetzungsrechte – anders als im Verhältnis zwischen Verwaltungsakt und öffentlich-rechtlichen Vertrag203 – nicht ein. Der Landesgesetzgeber und damit das Volk ist als Herr über die landesrechtlichen Bestimmungen des öffentlich-rechtlichen Vertrages nicht gehindert, durch lex specialis die Kündigung der Verträge unmittelbar durch Gesetz auszusprechen, also eine Erweiterung der in § 60 LVwVfG vorgesehenen Regelungen über die gesetzlich bereits bestehenden Kündigungsrechte für den Einzelfall vorzunehmen. Er ist dabei jedoch an die Grenzen seiner Gesetzgebungskompetenz [unten (1)] sowie rechtsstaatliche [unten (2)] und grundrechtliche Sicherungsmechanismen [unten (3)] gebunden. Insbesondere kann es dem Gesetzgeber als Vertragspartner verwehrt sein, aus den durch eigene Normsetzung hervorgerufenen Veränderungen Rechte herzuleiten.204 (1) Gesetzgebungskompetenz Ein Gesetz zur Auflösung der Finanzierungsverpflichtung für das Projekt „Stuttgart 21“ berührt – als gleichsam Pionierkonstellation einer Aufhebung vertraglicher Verpflichtungen durch Gesetz – gegenständlich die nationale Ausgestaltung der Eisenbahninfrastruktur, für deren Bau, Unterhaltung und Betrieb der Bund die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz besitzt 203 Grundsätzlich kann eine Behörde, die Ansprüche aus einem öffentlich-rechtlichen Vertrag geltend macht, diese Rechte nicht durch Verwaltungsakt feststellen oder durchsetzen. Denn sie hat sich auf die Ebene der Gleichordnung begeben und hat daher ihre Ansprüche (außer im Falle der Unterwerfung unter die sofortige Vollstreckung nach § 61 VwVfG) auch auf dieser Ebene durchzusetzen. Der Fall ist freilich anders gelagert als die Umgestaltung vertraglicher Ansprüche durch Gesetz. In dem einen Fall geht es um die Durchsetzung, im anderen Fall um die Umgestaltung vertraglicher Pflichten. Der Hierarchie der staatlichen Handlungsinstrumente würde eine Beschneidung gesetzlicher Gestaltungsrechte durch öffentlich-rechtlichen Vertrag auch nicht entsprechen, vielmehr die Ordnung geradezu umkehren. 204 Heberlein (Fn. 197), 168; Schliesky (Fn. 197), § 60 Rn. 12.
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(Art. 73 Abs. 1 Nr. 6a GG). Zu den Schienenwegen zählen insbesondere alle Einrichtungen, die deren Funktion dienen, mithin auch Bahnhöfe.205 Auch die Verwaltungskompetenz für das Schienenwegenetz steht dem Bund, nicht den Ländern zu: Art. 87e GG behält die Zuständigkeit für die Eisenbahnverkehrsverwaltung, also alle hoheitlichen Ordnungs- und Steuerungsaufgaben, die das Eisenbahnwesen einschließlich des Baus und des Betriebs der Eisenbahnen betreffen, dem Bund vor.206 Insbesondere die Planfeststellung für den Bau von Betriebsanlagen einer Eisenbahn fällt dementsprechend auf dieser Grundlage in die Zuständigkeit des Eisenbahnbundesamtes (vgl. § 18 Abs. 1 S. 1 AEG). Eine Aufhebung des bestandskräftigen Planfeststellungsbeschlusses zum Umbau des Stuttgarter Bahnhofs wäre den Landesbehörden Baden-Württembergs daher schon kompetenziell a priori verwehrt. Für die Kündigung einer darauf bezogenen Finanzierungszusage muss nicht das Gleiche gelten. Denn Gegenstand eines durch Volksabstimmung verankerten Kündigungsgesetzes ist nicht die Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses, sondern die Kündigung des auf das Bauvorhaben bezogenen Finanzierungsversprechens. Dafür ist das Land genauso zuständig207 wie für seine Begründung.208 Ein solches die Vertrags205
Vgl. etwa Jarass/Pieroth (Fn. 35), Art. 73 Rn. 23; Dolde/Porsch (Fn. 52),
S. 45. 206
BVerfG, Beschl. vom 28.1.1998 – 2 BvF 3/92 –, BVerfGE 97, 198 (222). Der bisweilen zu hörende Hinweis, der Landesgesetzgeber sei durch die vorrangige Kompetenz des Bundes im Bereich der zivilrechtlichen Vertragsgestaltungsregelungen an einer eigenen Sachregelung, welche die überkommenen zivilrechtlichen Grundsätze der Vertragsbindung zu überspielen vermag, gehindert (in diesem Sinne Soldt, Schwierigkeiten mit der Vertragstreue, FAZ vom 8.8.2011, S. 8 unter Hinweis auf Weller) geht fehl. Denn das Recht des öffentlich-rechtlichen Vertrages fällt als Teil der Kompetenz der Länder zur Regelung des Verwaltungsverfahrens unmittelbar in die Gesetzgebungskompetenz der Länder. Vgl. zur Abgrenzung zwischen BundesVwVfG und LandesVwVfG und zu § 9 Bundesschienenwegeausbaugesetz ausführlich Hermes/Wieland (Fn. 50), 364 ff. 208 Allenfalls kann das Verbot der Mischverwaltung (Art. 104a Abs. 1 GG) einer Finanzierungsbeteiligung a priori entgegenstehen und deren spätere Aufhebung, weil bereits unwirksam, entbehrlich machen. In diesem Sinne Meyer, DVBl. 2011, 449 (456). Viel spricht aber dafür, dass es sich im Falle des Projekts „Stuttgart 21“ nicht um einen originären Anwendungsfall des in Art. 104a Abs. 1 GG ausgesprochenen Verbots handelt. Denn im Rahmen des Projekts „Stuttgart 21“ beteiligt sich nicht lediglich ein Hoheitsträger an der Finanzierung eines Projektes, das einzig in den Aufgabenbereich eines anderen Hoheitsträgers fällt. Nur diese Konstellation will Art. 104a Abs. 1 GG nach seiner Ratio verhindern (vgl. Dolde/Porsch, NVwZ 2011, 833). Zwar obliegt dem Bund gem. Art. 87e GG die Eisenbahnverkehrsverwaltung samt Aufbau und Erhalt des Schienennetzes, doch es werden auch eigene Aufgaben sowohl des Landes Baden-Württemberg wie auch der Stadt und Region Stuttgart (mit-)erfüllt. Die jeweiligen Parteien streben die Finanzierung des Projektes in einem Maße an, das dem Umfang der eigenen Aufgabe entspricht. So hat das Land Baden-Württemberg unter anderem eine eigene Kompetenz hinsichtlich der 207
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
bindungsregeln modifizierendes Gesetz, das die Kündigung bereits eingegangener vertraglicher Pflichten vorsieht, kann das Land Baden-Württemberg im Falle des Projekts „Stuttgart 21“ in eigener Machtvollkommenheit erlassen. (2) Das Rechtsstaatsprinzip, insbesondere der Vertrauensschutz als Grenze Die Länder sind dabei jedoch weiteren Schranken unterworfen: dem Gebot des Vertrauensschutzes und der Planungssicherheit als elementaren rechtsstaatlichen Prinzipien, die dem Gedanken der Vertragsbindung Ausdruck verleihen. Dem parlamentarischen bzw. dem Volksgesetzgeber ist es zwar grundsätzlich nicht verwehrt, eine nachträgliche Umgestaltung der Rechtsordnung, auch des Rechts öffentlich-rechtlicher Verträge, vorzunehmen. Vielmehr entspricht dies seinem politischen Gestaltungsauftrag als Teil der staatlichen Herrschaftsordnung. Er muss dabei aber auch das grundrechtlich geschützte Kontinuitätsinteresse betroffener Akteure mit dem Interesse der Allgemeinheit an einer raschen Durchsetzung politischer Regelungsanliegen zum Ausgleich bringen – insbesondere sind dabei berechtigte Vertrauenserwartungen zu schützen, die durch im Vertrauen auf Kontinuität eingegangene wirtschaftliche Dispositionen bereits entstanden sind. Die Verlässlichkeit der Rechtsordnung ist eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen. Es würde den Einzelnen namentlich in seiner verfassungsrechtlich garantierten Freiheitsentfaltung erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an sein Verhalten oder an ihn betreffende Umstände im Nachhinein neue Rechtsfolgen knüpfen, die berechtigte Vertrauenserwartungen zerstören. Dieser Schutz des Vertrauens in den Bestand der ursprünglich geltenden Rechtsfolgenlage findet seinen verfassungsrechtlichen Grund und Ausdruck vorrangig in den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätzen insbesondere des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit.209 Änderungen des Gesetzgebers sind nur in dem Umfang zulässig, in dem bei der Gestaltung des Rechtsübergangs die Grenzen der Verhältnismäßigkeit Entwicklung des Schienenpersonennahverkehrs i. S. d. Art. 87e Abs. 4 S. 1 GG, während der Stadt Stuttgart aufgrund der umfangreichen städtebaulichen Auswirkungen des Projektes „Stuttgart 21“ eine Ausfüllung der eigenen Planungshoheit i. S. d. Art. 28 Abs. 2 GG zuzubilligen ist. So auch Dolde/Porsch NVwZ 2011, 833 (836 ff.); a. A. Meyer, DVBl. 2011, 449 ff. der in der Finanzierungszusage einen Verstoß gegen Art. 104a GG sieht. Das Modell der „unechten Gemeinschaftsaufgaben“ hält er für mit dem Grundgedanken des Verbots der Mischfinanzierung nicht für vereinbar. 209 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 8.6.1977 – 2 BvR 499/74 u. 1042/75 –, BVerfGE 45, 142 (167 f.); BVerfG, Beschl. v. 14.5.1986 – 2 BvL 2/83 –, BVerfGE 72, 200 (242); BVerfG, Beschl. v. 13.11.1990 – 2 BvF 3/88 –, BVerfGE 83, 89 (109 f.).
5. Bindungswirkung und Rangverhältnis von Volks- bzw. Bürgerentscheiden
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beachtet werden, d.h. individuellen Härten entgegengewirkt wird.210 Geschaffene rechtliche Positionen dürfen nicht übergangslos zu einem „nudum ius“ mutieren und entwertet werden.211 Die Vertrauensschutzerwartungen sind dabei dort umso größer und berechtigter, wo der Verlust der bereits verfestigten Rechtsposition in einem immateriellen, nicht mehr replizierbaren Vorteil besteht. Umgekehrt verhält es sich demgegenüber grundsätzlich dort, wo der durch Vertrauensschutz verfestigte Vorteil durch Substitute in sachgerechter Weise ersetzt werden kann. So verhält es sich namentlich im Falle von Geldleistungspflichten. Denn Geld als universelles Tausch-, Wertmessungs- und Wertaufbewahrungsmittel bildet abstrakt vorhandene Tauschchancen und Ressourcenverwendungsmöglichkeiten ab, die dem jeweiligen Inhaber die Entscheidung über die Nutzung des Gutes freistellen. Im Falle des Paradigmas „Stuttgart 21“ ist Gegenstand des Finanzierungsvertrages zwischen dem Land Baden-Württemberg, der Deutschen Bahn AG und den weiteren Partnern eine solche Geldleistung. Die vertragliche Einigung hat berechtigte Verhaltenserwartungen der Vertragsparteien ausgelöst. Die in dem Vertragsschluss zum Ausdruck kommende Bindung ist Ausdruck der rechtlichen Ordnungs- und Befriedungsfunktion des Vertrages. Sie verleiht den Parteien grundsätzlich die Sicherheit, auf die Gültigkeit und Wirksamkeit ihrer Leistungsversprechen vertrauen zu können. Die bittere Pille der Kündigung dieser eingegangenen Verpflichtung wird dann, wenn diese Erwartung enttäuscht wird, durch eine entsprechende Entschädigung versüßt werden müssen, damit sie vor dem Hintergrund des schutzwürdigen Vertrauens des Vertragspartners ohne Verfassungsverletzung geschluckt werden kann. Diese Entschädigungsverpflichtung führt speziell im Falle des Projekts „Stuttgart 21“ zu einer fast bizarren Situation: Da die vertraglich zugesicherten, staatlichen Finanzierungskosten nahezu die Kehrseite der von dem Vertragspartner übernommenen und (aufgrund des bestehenden Planfeststellungsbeschlusses) auch rechtmäßigen Leistungsverpflichtung zum Bau des Bahnhofes bilden, erweist sich die Volksabstimmung in Gestalt eines Kündigungsgesetzes letztlich als weitgehend untaugliches Mittel, wenn sie denn der sicheren Verhinderung des Projektes dienen soll. Die Entschädigungsverpflichtung in Geld gegenüber dem Vertragspartner für 210
Eine unverhältnismäßige Beschränkung der Privatnützigkeit einer durch Art. 14 Abs. 1 GG gewährleisteten vermögenswerten Position wird dabei nicht dadurch verhältnismäßig, dass der Eigentümer sie auf Grund seines sonstigen Vermögens ausgleichen und ertragen kann. BVerfG, Beschl. v. 16.2.2000 – 1 BvR 241/91, 1 BvR 315/99 –, BVerfGE 102, S. 1 (23) – Altlasten. 211 Wichtige Leitlinie ist dabei insbesondere die Amortisation getätigter Investitionen. Vgl. für Emissionszertifikate etwa Heister/Klepper/Krämer u. a., Umweltpolitik mit handelbaren Emissionsrechten, 1991, S. 42 ff.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
den Fall der Finanzierungszusage wäre in der Sache grundsätzlich nichts anderes als deren Klon in anderem Gewande. Der vertraglich zugesagte Finanzierungsanteil des Landes Baden-Württemberg vermag insoweit nicht durch eine Volksabstimmung ungeschehen gemacht zu werden.212 (3) Verbot des Einzelfallgesetzes (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG) Die Aufhebung vertraglicher Verpflichtungen durch die Länder als Normgeber kann mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz des Verbots eines Einzelfallgesetzes in Konflikt geraten. Ausgeschlossen werden sollen dadurch grundsätzlich „Verwaltungsakte in Gesetzesform“, die einen Fall aus einem Reigen von regelungsbedürftigen Sachverhalten gleichheitswidrig herausgreifen und zum Gegenstand einer Sonderregelung machen. Volksgesetzgebungstypische bzw. Maßnahmegesetze über bedeutende Sachverhalte, die nur einmal auftreten und in ihrer Bedeutung eine gesetzliche Grundsatzentscheidung erforderlich machen, etwa die Auflösung einer wissenschaftlichen Akademie, der Bau eines atomaren Endlagers, die Feststellung einer wichtigen Verkehrstrasse, sollen davon jedoch nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht erfasst sein.213 Soweit Gegenstand des Gesetzes Infrastrukturvorhaben sind, deren Planfeststellung enteignungsrechtliche Vorwirkungen entfaltet, ergibt sich die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Einzelfallregelung insbesondere aus dem Spezialvorbehalt für Legalenteignungen in Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG („durch Gesetz“).214 Mit der Planung eines einzelnen Vorhabens greift der Gesetzgeber insoweit nicht notwendig eigenmächtig in die Funktion ein, die die Verfassung der vollziehenden Gewalt oder der Rechtsprechung vorbehalten hat und deren Schutz Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG insbesondere zu dienen bestimmt ist.215 So ist denn auch die Bedeutung, die dem Verbot des Einzelfallgesetzes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zukommt, über eine Symbol- und Warnfunktion nicht hinausgelangt. Einer Aufhebung von vertraglich begründeten Pflichten durch Volksentscheidsgesetz setzt sie nur geringe substanzielle Hindernisse entgegen. 212
Tauglicher Anknüpfungspunkt einer Projektverhinderung könnte insoweit allenfalls eine Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses sein. Darauf ist die Volksabstimmung jedoch nicht gerichtet und kann sie auch nicht gerichtet sein. Denn die Sachkompetenz für die (etwaige) Aufhebung des vom Eisenbahnbundesamt erlassenen Planfeststellungsbeschlusses fällt – abgesehen von Zulässigkeitsfragen des Vertrauensschutzes – ausschließlich in die Kompetenz des Bundes, nicht des Landes. Vgl. dazu oben S. 74 f. 213 Vgl. etwa BVerfG, Urt. v. 10.12.1992 – 1 BvR 454 et al./91 –, BVerfG 85, 360 (374). 214 Vgl. BVerfG, Beschl. v. 17.7.1996 – 2 BvF 2/93 –, BVerfGE 95, 1 ff. – Stendal. 215 BVerfG, Urt. v. 7.5.1969 – 2 BvL 15/67 –, BVerfGE 25, 371 (398).
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cc) Beschränkte Aufhebungsbefugnis von Bürgerentscheiden Anders als Volksentscheiden ist Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden der Weg einer unmittelbaren Aufhebung von Vertragspflichten a priori nicht eröffnet. Sowohl dem Gemeinderat als auch dem Gemeindevolk gesteht der Gesetzgeber keine generelle Ermächtigung zu, in der Vergangenheit getroffene Entscheidungen durch rückwirkende Aufhebung zunichte machen zu können. Das Durchsetzungsinteresse demokratischer Entscheidungen ist hier gegenüber dem Grundsatz der Vertragstreue zurückgenommen. Die Gemeindeordnungen kennen zwar so genannte kassatorische Bürgerentscheide. Anders als der Begriff insinuiert, machen diese gegenläufige Beschlüsse der Gemeindevertretung jedoch nicht in der Weise ungeschehen, dass der Beschluss als nie gefasst anzusehen wäre. Die Beschlüsse werden nicht mit rückwirkender Wirkung aufgehoben und eine Befugnis zu rückwirkender Änderung von Rechtsverhältnissen wird nicht verliehen. Vielmehr erschöpft sich die kassatorische Wirkung entsprechend dem Wesen des Bürgerentscheids darin, dass die Bürger anstelle der Gemeindevertretung Beschlüsse treffen und die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft für die Zukunft neu gestalten. Die Entscheidungsmacht der Bürger reicht dementsprechend auch nicht weiter als die Entscheidungskompetenz des Rates. Eine allgemeine gesetzliche Befugnis zur rückwirkenden Aufhebung von Rechtsverhältnissen kommt der Ratsvertretung mithin grundsätzlich genauso wenig wie dem Bürgervolk zu. Sie beschränkt sich auf solche Fallgestaltungen, für die der Gesetzgeber in anderem Zusammenhang explizit die Befugnis zur rückwirkenden Aufhebung zugestanden hat, wie etwa in § 48 Abs. 1 S. 1 (L)VwVfG und § 49 Abs. 3 (L)VwVfG oder durch die (an die Grenzen des Rückwirkungsverbots gebundene) Befugnis zur rückwirkenden Inkraftsetzung von Normen. Zwar kommt der Rechtsaufsichtsbehörde durchaus die Befugnis zu, Beschlüsse der Gemeindevertretung aufzuheben, was es prima facie nahe liegend erscheinen lässt, dieses Recht auch dem Bürgervolk im Wege eines Erst-recht-Schlusses zuzugestehen. Ein wichtiger Unterschied würde dabei aber übersehen: Die Rechtsaufsicht nimmt ausschließlich eine Rechtmäßigkeitskontrolle vor; ihre Handlungsmacht schöpft sie aus dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Kassatorische Bürgerentscheide setzen demgegenüber an politischen Opportunitätsvorstellungen an. Ebenso wie dem Gemeinderat legitimiert das eine Gestaltungsbefugnis für die Zukunft, nicht aber generell für die Vergangenheit.216 216 So zu Recht auch OVG NRW, Urt. v. 4.4.2006 – 15 A 5081/05 –, NVwZ-RR 2007, 625 (626); VG Stuttgart, Urt. v. 17.7.2009 – 7 K 3229/08 –, Rn. 109, juris (zum Bürgerbegehren „Stuttgart 21“); VG Meiningen, Urt. v. 7.12.2007 – 2 K 572/07 Me –, juris; VG Ansbach, Urt. v. 6.7.2006 – AN 4 K 06.00437 –, juris; VG
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
b) Durchsetzungsmacht von Volks- bzw. Bürgerentscheiden gegenüber bestehenden und späteren Parlamentsgesetzen bzw. Ratsbeschlüssen Halten das Parlament bzw. die Gemeindevertretung ungeachtet der gegenläufigen plebiszitären Willensäußerung – wie in der Vergangenheit nicht selten geschehen – an ihren politischen Plänen unverändert fest, kommt es zu einer Machtprobe. Dann prallt parlamentarische Legalität auf plebiszitäre Legitimität. Daran knüpft sich die Frage, ob sich das Repräsentativorgan über die Entscheidung der Bürger noch hinwegsetzen darf oder ob es dazu notwendig eines actus contrarius des Volkes bedarf. aa) Verhältnis von Bürgerentscheiden zu Ratsbeschlüssen Unterhalb der staatlichen Ebene ist diese Machtfrage in geradezu überraschender Klarheit beantwortet. Die Gemeindeordnungen lösen das Spannungsverhältnis zwischen direkter und repräsentativer Demokratie im Sinne einer Bindungswirkung des Bürgerentscheids auf: Der Bürgerentscheid kann – je nach landesrechtlicher Ausgestaltung – innerhalb eines Jahres217, zweier Jahre218 bzw. innerhalb von drei Jahren219 nur durch einen neuen Bürgerentscheid, nicht aber durch einen Beschluss der Gemeindevertretung geändert werden. Bindungswirkung erzeugt das Bürgerbegehren dabei lediglich für den Fall seines Erfolgs, nicht für den Fall seines Misserfolgs. Vereint die gestellte Frage nicht die erforderliche Mehrheit hinter sich, verbindet sich damit also nicht die verbindliche Feststellung, dass die Gemeindevertretung an die Ablehnung des Bürgerbegehrensvorschlags gebunden ist.220 Augsburg, Urt. v. 22.1.2004 – Au 8 K 03.364 –, juris, zu einer auf der Basis eines Gemeinderatsbeschlusses geschlossenen Kreuzungsvereinbarung mit der DB Netz AG. 217 Art. 18a Abs. 13 S. 2 bayGO und § 26 Abs. 4 S. 2 sachsanhGO. 218 § 20 Abs. 5 S. 2 bbgKVerf; § 20 Abs. 1 S. 2 m-vKV; § 26 Abs. 8 S. 2 nrwGO; § 22b Abs. 10 S. 2 ndsGemO (ab 1.11.2011: § 33 Abs. 4 S. 1 ndsKomVG); § 21a Abs. 7 S. 3 saarlKSVG; § 17 Abs. 8 S. 3 thürKO. 219 § 21 Abs. 7 S. 2 bwGemO; § 8b Abs. 7 S. 2 hessGO; § 24 Abs. 4 S. 2 sächsGemO. 220 BayVGH, Beschl. v. 29.12.1997 – 4 ZE 97.3452 –, BayVBl. 1998, 308; VGH BW, Beschl. v. 6.3.2000 – 1 S 2776/99 –, VBlBW 2000, 364 (365). Die Beantwortung der Frage mit „Nein“ bringt dabei den Willen der Abstimmenden zum Ausdruck, das in der Frage liegende Ziel abzulehnen. Sie legt aber nicht umgekehrt den Willen der Abstimmenden dar, das dem Abstimmungsziel entgegengesetzte Ziel zu verfolgen. Dem Gemeinderat kommt in der Folge die uneingeschränkte Entscheidungsbefugnis zu, nach dem ausdrücklichen Willen mancher Gemeindeordnungen auch eine Entscheidungspflicht (§ 21 Abs. 6 S. 3 bwGemO; § 20 Abs. 4 S. 4
5. Bindungswirkung und Rangverhältnis von Volks- bzw. Bürgerentscheiden
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Die Bindungswirkung stärkt und sichert die Entscheidungsmacht der Bürger, beschwert sie aber auch mit einem besonderen Gewicht: Im prominenten Fall des Dresdner Bürgerentscheids zur Waldschlösschenbrücke hat dies die Stadt Dresden gleichsam in eine kommunale Schockstarre versetzt. Denn nach dem Bekanntwerden des Planes, dem Elbtal im Gefolge des Bürgerentscheides den Status als Weltkulturerbe zu entziehen, schien der Weg einer Änderung rechtlich versperrt. Die in einigen Ländern221 (nach dem Vorbild des Regelungsmodells des § 38 Abs. 3 und des § 60 Abs. 1 S. 1 LVwVfG) vorgesehene Möglichkeit des Wegfalls der Bindungswirkung infolge Änderung der Sach- bzw. Rechtslage ist in Sachsen – wie in vielen anderen Ländern auch – nicht ausdrücklich vorgesehen. Da sich überdies in der sächsischen Gemeindeordnung an anderer Stelle Regelungen zur Anpassung an veränderte Sach- und Rechtslagen finden,222 darf dies als ein bewusstes Schweigen des Gesetzgebers gewertet werden.223 Dem Rat waren daher die Hände gebunden; er konnte den gegenläufigen Bürgerentscheid nicht überspielen. Die einzige Möglichkeit, diese missliche Lage in Dresden zu beenden, war damit die Durchführung eines neuen Bürgerentscheids (vgl. § 24 Abs. 4 S. 2 sächsGemO). bb) Verhältnis von Volksentscheiden zu Parlamentsgesetzen Anders als die Gemeindeordnungen schweigen sich die Landesverfassungen zu dem Rangverhältnis von Volks- und Parlamentsgesetzgebung weithin aus. Dass es für Verdruss sorgt, wenn – wie in Hamburg geschehen224 – ein Volksentscheid die 5%-Klausel für Bezirkswahlen abschafft, das Parlament sie aber noch vor den Wahlen unverzüglich wieder einführt, versteht sich.225 Nichts anderes gilt, wenn in Berlin der Erste Bürgermeister Wowereit vor der Entscheidung des Volkes zum Flughafen Tempelhof erklärt, man werde die Stimme des Volkes nicht berücksichtigen, sondern omnimodo an der Schließung des Flughafens festhalten. Unbewusst lässt das – cum grano salis – Erinnerungen an die Ulbricht’sche Formel wach bbgKVerf, § 8b Abs. 6 S. 3 hessGO; § 20 Abs. 6 S. 3 m-vKV; § 17a Abs. 7 S. 3 rpGemO; § 16g Abs. 7 S. 3 s-h GemO). 221 Art. 18a Abs. 13 S. 2 bayGO; § 17 Abs. 8 S. 3 thürKO. 222 § 22 Abs. 3 S. 2, § 36 Abs. 5 S. 1 sächsGemO. 223 Scheffer (Fn. 70), 500; Stapelfeldt/Siemko (Fn. 70), 422; Müller, NJ 2007, 252 (253); Menke/Arens/Krieger, Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen, 2004, § 24 Rn. 10; Hegele/Ewert, Kommunalrecht im Freistaat Sachsen, 2004, S. 96. 224 HambVerfG, Urt. v. 27.04.2007 – HVerfG 04/06 –, NordÖR 2007, 301 ff. 225 Auf die von derartigen Entscheidungen ausgehenden Gefahren für den Rückhalt des demokratischen Systems im Volke weist Rux (Fn. 2), S. 906 hin.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
werden: „Es muss alles demokratisch aussehen. Aber wir müssen alles in der Hand haben“.226 Die besondere Dignität des plebiszitär gefassten Beschlusses scheint eine Höherwertigkeit gegenüber dem Parlamentsgesetz zu indizieren, wie ihn der amerikanische Schriftsteller Robert Orben mit den Worten zum Ausdruck bringt: „The highest measure of democracy is the highest measure of participation“.227 Das Volk erscheint in diesem Licht dann als oberstes, das Parlament als abgeleitetes Staatsorgan, das Volksgesetz als verfassungsgebunden, das Parlamentsgesetz als verfassungs- und volksgesetzgebunden. Demokratietheoretisch und verfassungspolitisch lässt sich dies nachvollziehbar konstruieren. Verfassungsrechtlich ist dieses Konzept in den Landesverfassungen indes regelmäßig so nicht angelegt: Volks- und Parlamentsgesetzgebung sind dort als gleichrangig konzipiert.228 Sie sind unterschiedliche Spielformen der Erzeugung ein und derselben Art von Normen. „Demokratischer“ als Parlamentsgesetze und deshalb sakrosankt sind die Gesetze des Volkes deshalb nicht. Ihnen kommt dementsprechend keine höhere rechtstechnische Weihe zu.229 Rechtsdogmatisch gilt für das Verhältnis von Volksund Parlamentsgesetzen folglich nichts anderes als sonst zwischen gleichrangigen Vorschriften: Lex posterior derogat legi priori.230 So wie das Volk Parlamentsgesetze ändern kann, ist umgekehrt auch das Parlament nicht gehindert, Entscheidungen des Volksgesetzgebers aufzuheben.231 Nur ein organgebundenes actus-contrarius-Konzept könnte dem Gedanken einer Unabänderlichkeit zum Durchbruch verhelfen.232 Dass nur derjenige Vorschriften aufheben darf, der sie ins Leben gerufen hat, setzt das 226 Walter Ulbricht, zitiert nach Leonhard, Die Revolution entläßt ihre Kinder, 1990, S. 406. 227 Vgl. Borowski (Fn. 170), 484 mit Fn. 15 m. w. N.; Rossi/Lenski (Fn. 158), 418; Peine, Der Staat 18 (1979), 375 (377 ff.) m. w. N. 228 So auch HambVerfG, Urt. v. 27.4.2007 – HVerfG 4/06 –, NordÖR 2007, 301 (304); Rossi/Lenski (Fn. 158), 417; Oldiges (Fn. 129), 545; Rux (Fn. 2), S. 87 ff. und 922. 229 Vgl. Isensee (Fn. 31), 303 (310); Oldiges (Fn. 129), 545; gegen eine Höherrangigkeit auch Huber (Fn. 154), 315 mit Beispielen; Neumann (Fn. 40), S. 348. 230 Zu diesem Ergebnis gelangt auch Borowski (Fn. 170), 491 der über eine politische Bindungswirkung hinaus allenfalls Sperrwirkung auf Grund konkreten Missbrauchs anerkennt. Daran sollen aber strenge Anforderungen zu stellen sein; gegen die Sperrwirkung spricht nach Herbel (Fn. 148), S. 320 die Unsicherheit, die durch die notwendig werdende Feststellung des Umfangs der änderungsresistenten Rechtsbereiche entsteht; Oldiges (Fn. 129), 545; Rux (Fn. 2), S. 87 ff. 231 So etwa auch Löwer/Menzel, NdsVBl. 2003, 89 (90); auf die Dauerhaftigkeit der politischen Verantwortung des Parlaments (im Gegensatz zur nur vorübergehenden des Volksgesetzgebers) rekurrierend Engelken (Fn. 148), 420; ebenso Rux (Fn. 2), S. 89 f.
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geltende Verfassungsrecht als demokratietheoretisches Desiderat allerdings nicht um – im Gegenteil: Zahlreiche Landesverfassungen halten ausdrücklich die Möglichkeit vor, dass das Parlament sich den Vorschlag einer Volksinitiative zu eigen machen und diesen als Gesetz beschließen darf. So unterbleibt ein Volksentscheid nach der ausdrücklichen Wertentscheidung der Landesverfassungen, wenn das Parlament den Entwurf des Volkes (vollständig bzw. im Wesentlichen) unverändert übernimmt.233 Hätte das Volksgesetz einen höheren Rang oder eine höhere demokratische Weihe, müsste es den Verfassungen angelegen sein, dem Volksbegehren einen durchlaufenden durchsetzbaren Anspruch auf Abschluss eines einmal begonnenen Volksgesetzgebungsverfahrens in Gestalt einer Durchführung des Volksentscheids zuzugestehen – ohne Rücksicht darauf, ob der parlamentarische Gesetzgeber sich dem Willen des Volkes durch Erlass eines entsprechenden Gesetzes anschließt. Die Landesverfassungen setzen damit voraus, dass Volksgesetzgebung und parlamentarische Gesetzgebung austauschbar sind, sich gleichsam auf Augenhöhe bewegen. Wäre das Aufhebungsrecht an den Urheber der legislativen Willenserzeugung gebunden, dürfte es derartige Regelungen sachlogisch nicht geben. Im Übrigen gilt – wie auch sonst – der Grundsatz der Entwicklungsoffenheit demokratischer Entscheidungen: Das Mehrheitsprinzip gebietet, dass demokratische Entscheidungen gegenüber Abänderungen durch gegenläufige Mehrheitsbeschlüsse grundsätzlich offen bleiben. Weder das Willensbildungssystem der direkten noch der repräsentativen Demokratie genießen insoweit das Monopol der Wahrheitsfindung. Wenn Volksgesetzen eine höhere Bindungswirkung zukommen soll, bedarf es dazu einer entsprechenden ausdrücklichen Verankerung in der Verfassung.234 Hamburg hat (ähnlich wie wie Bremen [Art. 73 Abs. 2 bremVerf]) inzwischen eine solche Regelung getroffen: Ein von der Bürgerschaft beschlosse232 Vgl. Peine (Fn. 228), 401; ablehnend: Rossi/Lenski (Fn. 158), 419; Herbel (Fn. 148), S. 319 f. 233 Art. 60 Abs. 1 S. 1 bwVerf; Art. 62 Abs. 3 S. 2 berlVerf; Art. 78 Abs. 1 S. 1 bbgVerf; Art. 70 lit. d S. 4 bremVerf; Art. 50 Abs. 2 S. 4 hambVerf; Art. 124 Abs. S. 2 hessVerf; Art. 60 Abs. 3 S. 1 m-vVerf; Art. 49 Abs. 1 S. 1 ndsVerf; Art. 68 Abs. 2 S. 3 nrwVerf; Art. 109 Abs. 4 S. 1 rpVerf; Art. 100 Abs. 1 S. 1 saarlVerf; Art. 81 Abs. 3 S. 1 sachsanhVerf; Art. 72 Abs. 1 S. 1 sächsVerf; Art. 42 Abs. 2 Nr. 1 s-hVerf; Art. 82 Abs. 7 S. 2 thürVerf; vgl. auch Rossi/Lenski (Fn. 158), 418; äußerst kritisch bewertet Przygode, Die deutsche Rechtsprechung zur unmittelbaren Demokratie, 1995, S. 157 ff., die Möglichkeit der Übernahme eines Volksgesetzentwurfs durch ein Landesparlament. Zum einen soll dies eine „unzulässige Isolierung des Volksbegehrens“ darstellen und zum anderen die „Gegnerperspektive“ dabei nicht ausreichend Berücksichtigung finden. 234 So auch Patzelt, Welche plebiszitären Instrumente können wir brauchen? Einige systematische Überlegungen, in: Feld/Huber/Jung u. a. (Hrsg.), Jahrbuch für direkte Demokratie 2010, 2011, 63 (84); Rux (Fn. 2), S. 89 f.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
nes Gesetz, durch das ein vom Volk beschlossenes Gesetz aufgehoben oder geändert wird (Änderungsgesetz), tritt nicht vor Ablauf von drei Monaten nach seiner Verkündung in Kraft. Innerhalb dieser Frist können zweieinhalb vom Hundert der Wahlberechtigten einen Volksentscheid über das Änderungsgesetz verlangen (Art. 50 Abs. 4 S. 1 und 2 hambVerf). Es ist eine Ironie des Schicksals, dass sich diese von dem ehemaligen schwarz-grünen Senat politisch durchgesetzte verfassungsrechtliche Sperre ausgerechnet im ersten nach Einführung dieser Vorschrift durchgeführten Volksentscheid gegen sie selbst richtete: Im Verfahren der Volksinitiative „Wir wollen lernen“ hat sich das Volk gegen die seinerzeitige schwarz-grüne Koalition erhoben und dadurch einer erwogenen späteren Abänderung der „vox populi“ durch Gesetz der Bürgerschaft von vornherein den Boden entzogen. Aber auch dort, wo – wie in den anderen Bundesländern – für das Verhältnis von Volksgesetzen und Parlamentsgesetzen das Prinzip der vollständigen Gleichrangigkeit gilt, ist die Aufhebungsbefugnis des Parlaments de constitutione lata nicht gänzlich ungebunden. Verfassungsorgane dürfen ihre Kompetenzen im Verfassungsgefüge nicht rücksichtslos ausüben.235 Sie sind zu missbrauchsfreier Wahrnehmung sowie loyalem Zusammenwirken verpflichtet. Sie unterliegen einer Organtreuepflicht.236 Diese ist Ausfluss der integrierenden Funktion der Verfassung, die auf die Hervorbringung eines einheitlichen Staatswillens in einem Mitwirkungsprozess angelegt ist: Das Parlament hat den Kompetenzbereich des Volkes als konkurrierendem Gesetzgeber zu achten und darf diesen insbesondere nicht bewusst konterkarieren. Es muss den im Volksentscheid zum Ausdruck kommenden Willen des Volkes würdigen und in seine Abwägung aufnehmen.237 Darin erschöpft sich der gebotene Interorganrespekt entgegen landläufiger Auffassung jedoch noch nicht. Ein wichtiger Gesichtspunkt bliebe dabei unberücksichtigt: Das Maß der Rücksichtnahmepflichten hat auch die Waffengleichheit und Wehrhaftigkeit der Kombattanten in Rechnung zu stellen. Volks- und Parlamentsgesetzgebung sind zwar gleichrangig,238 sie fechten 235
Vgl. Rossi/Lenski (Fn. 158), 420 f. Vgl. Borowski (Fn. 170), 490 f. Die Differenzierung, die Rux (Fn. 2), S. 90, vorschlägt, überzeugt demgegenüber nicht. Nach seiner Auffassung greift die Organtreuepflicht immer nur dort Platz, wo sich Kompetenzen verschiedener Staatsorgane berühren. Wo sie sich jedoch überschneiden, könne jedes Staatsorgan aus eigenem Recht die ganze Entscheidungsbefugnis wahrnehmen, die Organtreuepflicht verlange also hier keine nur maßvolle Ausübung der Kompetenzen. 237 Zur insoweit eingeschränkten gerichtlichen Überprüfungsbefugnis vgl. HambVerfG, Urt. v. 27.4.2007 – HVerfG 4/06 –, NordÖR 2007, 301 (305). 238 Vgl. HambVerfG, Urt. v. 15.12.2004 – HVerfG 06/04 –, NVwZ 2005, 685 (686 ff.). 236
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jedoch nicht mit gleichen Waffen. Volksgesetzgebung ist notwendig schwerfällig, aufwändig und zeitlich inflexibel. Das Volk ist strukturell benachteiligt, seinen Gestaltungswillen in Gesetzesform zu gießen, das Landesparlament dagegen mühelos in der Lage, die Legislativfunktion des Volkes bis zur Bedeutungslosigkeit zu verstümmeln. Dem müssen höhere Anforderungen an die Rücksichtnahmepflichten korrespondieren. Ihnen ist – entgegen der bisher vertretenen Meinung – noch nicht mit der Prüfung Genüge getan, ob eine Abwägung des Parlaments überhaupt stattgefunden hat.239 Abwägungsvorgang und -ergebnis können und müssen auch darauf überprüft werden, ob die Belange des Volkswillens, insbesondere dessen verfassungsrechtlich verankerte gleichberechtigte Teilhabe bei der politischen Willensbildung, und das ihr anhaftende strukturelle Ungleichgewicht sowohl angemessen eingestellt als auch in ihrer Bedeutung für die Behandlung der Sachfrage erkannt wurden. Eine Überwindung des im Volksgesetz zum Ausdruck kommenden politischen Gestaltungswillens wird dabei umso eher rechtfertigbar sein, je mehr sich seit der Entscheidung des Volkes die Sach- bzw. Rechtslage geändert hat; umgekehrt liegen die Rechtfertigungsanforderungen umso höher, je weniger das Volk angesichts zeitgebundener politischer Gestaltungsentscheidungen die tatsächliche Chance hätte, seiner eigenen Entscheidung (erneut) noch rechtzeitig Ausdruck zu verleihen, bevor irreversible Faktizitäten geschaffen wurden. Prozedural erwächst aus der qualifizierten Treuepflicht gegenüber plebiszitären Entscheidungen auch eine gesteigerte Begründungspflicht. Diese darf sich nicht lediglich in der Darlegung des Alternativmodells politischer Ideen erschöpfen, sondern schließt auch die Auseinandersetzung mit den Realisierungsinteressen des im erfolgreichen Volksentscheid zum Ausdruck kommenden Volkswillens ein. Eine weitergehende inhaltliche Verdichtung erfährt die Organtreuepflicht in einem anderen, bisher weithin unbeachteten Fall: im Referendum i. S. d. Art. 114 S. 1 i. V. m. Art. 115 der rheinland-pfälzischen Verfassung bzw. Art. 60 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 der baden-württembergischen Verfassung.240 Diese bilden nur wenigen Bundesländern bekannte Unikate kooperativer Rechtserzeugung, die sich in ihrer Einbindungs-, Befriedungs- und Absicherungsfunktion de constitutione ferenda als Paradigma durchaus für andere Länder eignen. Das Parlament kann danach ein bereits von ihm beschlossenes Gesetz aussetzen und dem Volk zur Entscheidung vorlegen. Was allerdings im Falle der Ablehnung des Gesetzes durch das Volk ge239
Zu diesem Ergebnis gelangt auch die abweichende Meinung zweier Richter des Hamburgischen Verfassungsgerichts, HambVerfG, Urt. v. 27.4.2007 – HVerfG 4/06 –, NordÖR 2007, 301 (311). 240 Vgl. dazu bereits oben S. 25.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
schieht, lassen die Verfassungen offen. Politisch ist das Gesetz gescheitert. Rechtlich scheint der Weg zu einem neuen Gesetzesbeschluss prima facie nicht versperrt. Der Ratio des Aussetzungsvorbehalts entspricht es jedoch, das Gesetz auch verfassungsrechtlich einer erhöhten Vorbehaltswirkung gegenüber der plebiszitären Willensbekundung zu unterwerfen. Das Parlament darf sich über das Referendum nicht ohne Weiteres hinwegsetzen. Nach der Mission des kooperativen Verfahrens der Rechtserzeugung und der durch das Parlament initiierten schlichtungsähnlichen Volksmitwirkung wird man Versuche des Parlaments, dem Gesetz auf anderem Wege neues Leben einzuhauchen, an hohe Hürden knüpfen müssen, namentlich an eine Änderung der Sach- oder Rechtslage.241 Dem Referendum kommt dann eine grundsätzliche Bindungswirkung zu.
6. Rechtsschutz – das Volk als Staats- bzw. Gemeindeorgan? In der Dichotomie zwischen Volks- und Parlamentsgesetzgebung sind prozessuale Auseinandersetzungen um die wechselseitigen Rechte programmiert. Es ist ein Rechtsschutz geboten, der die verfassungsrechtlichen Mitwirkungsrechte des Volkes tatsächlich zur Geltung bringt. Welcher Weg dorthin eröffnet ist, ist intrikater, als ein unbefangener Blick es vermuten lässt. Während dies für die Mitwirkung der Bürger auf Gemeindeebene zwar umstritten, aber weitgehend beantwortet ist [unten b)], sind vor allem sub specie der Volksgesetzgebung in den Ländern viele Fragen offen [unten a)].242 a) Volksgesetzgebung Die Einordnung des rechtlichen Status der Mitwirkungsrechte des Volkes mündet letztlich in eine Grundsatzfrage: Handelt das Volk bei der Gesetzgebung in grundrechtsgebundener Ausübung von Staatsgewalt oder lebt es grundrechtliche Freiheit aus?243 Macht es namentlich politische Individualrechte aus dem status activus geltend244 oder wird es als Teil des staatli241 Manche halten eine solche Einschränkung für das Verhältnis von Volks- zu Parlamentsgesetzen (etwas zu weitgehend) generell für geboten. Vgl. Bull, NordÖR 2005, 99 (101); Borowski (Fn. 170), 487; Rux (Fn. 2), S. 916 spricht sich de lege ferenda für eine gesetzlich geregelte Sperrfrist aus und möchte ebenfalls eine Änderung der Gesetzeslage vor Ablauf der Sperrfrist nur bei einer wesentlichen Änderung der Sach- oder Rechtslage zulassen. 242 Die Organstreitfähigkeit ab erfolgreich zustande gekommenen Volksbegehren bejahend HambVerfGH, Urt. v. 15.12.2003 – HVerfG 4/03 –, NVwZ-RR 2004, 672 (673); Engelken (Fn. 148), 416. 243 Vgl. dazu auch Hartmann, DVBl. 2006, 1269 ff.
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chen Willensbildungsprozesses tätig? Konkret: Steht das Rechtsschutzmittel der Verfassungsbeschwerde oder des Organstreitverfahrens offen? Bei unbefangener Lesart lässt sich das Volk unter beide Gruppen von parteifähigen Rechtssubjekten subsumieren. Wie schwierig die Zuordnung ist, wird daran sinnfällig, dass etwa der rheinland-pfälzische Verfassungsgerichtshof in zwei frühen obiter dicta die Staatsorganqualität des Volkes einmal verneint,245 einmal bejaht hat.246 Die Frage ist nicht lediglich Teil eines rechtsdogmatischen Glasperlenspiels. Denn die Rechtsbehelfe des Organstreitverfahrens und der Verfassungsbeschwerde sind jeweils an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft. An der Organqualität fehlt es dem Volk jedenfalls noch nicht deshalb, weil es eine Personenmehrheit repräsentiert: Die kollegiale Struktur ist bei Staatsorganen nicht die Ausnahme, sondern die Regel.247 Das Gesetzesinitiativrecht ordnet dem Volk eine Funktion im Verfassungsleben zu, die grundsätzlich Staatsorganen vorbehalten ist, und spricht ihm damit eine solchen Organen vergleichbare Rolle zu.248 Mit der Wahrnehmung der Gesetzgebung übt das Volk Staatsgewalt aus. Jedenfalls ein zustande gekommenes249 Volksbegehren macht wehrfähige Organpositionen geltend. Diese sind Teil eines auf staatliche Willensbildung gerichteten Prozesses, nämlich der staatlichen Aufgabe der Gesetzgebung, und nicht Rechte aus dem status activus.250 Das Volksbegehren kann daher nicht Verfassungsbeschwerde er244 Das Gesetzesinitiativrecht nach erfolgreichen Volksbegehren ist im bayerischen Landesrecht nach BVerfG, NJW 1998, 293, im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde nicht rügefähig. 245 VerfGH RP, Entsch. v. 22.5.1967 – VerfGH 4/66 –, AS 10, 124 (125 ff.); für die Volksinitiative: vgl. auch HambVerfG, Urt. v. 27.04.2007 – HVerfG 04/06 –, NordÖR 2007, 312 ff. 246 VerfGH RP, Entsch. v. 28.9.1953 – VerfGH 3/53 –, AS 2, 245 (252). 247 Dass das Volk im Vergleich zu anderen Staatsorganen eine losere, in seiner Zusammensetzung stärker schwankende Struktur aufweist, ändert daran nichts. So auch Oldiges (Fn. 129), 534. 248 Ebenso argumentiert Oldiges (Fn. 129), 534. 249 Zustande gekommen ist ein Volksbegehren, wenn es das in den jeweiligen Landesverfassungen vorgesehene Quorum von Unterstützern erzielt hat und die Landesregierung bzw. der Landtag das Begehren als zulässig eingestuft hat. 250 So auch BVerfG, Beschl. v. 9.7.1997 – 2 BvR 389/94 –, NJW 1998, 293; Der einzelne Unterzeichnende kann sich jedoch allenfalls auf Rechte aus dem status activus berufen. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.3.1982 – 2 BvH 1/82, 2 BvH 2/82, 2 BvR 233/82 –, NJW 1982, 1579 (1580). A. A.: Hartmann (Fn. 243), 1269; er schlägt einen Vergleich zu dem parlamentarischen Gesetzgebungsprozess vor. Da die Verfassung dem Bundestag die parlamentarische Beratung von Gesetzen nicht vorschreibe, agierten die Bürger beim Abstimmungskampf in grundrechtlicher Freiheit des status activus. Der Vergleich hinkt. Er missachtet die unterschiedlichen Funktionsbedingungen von Volks- und Parlamentsgesetzgebung.
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III. Berührungspunkte und Konfliktlinien
heben, sondern ist als „sonstiger Beteiligter“251 in einem Organstreitverfahren parteifähig.252 Wann aber der status activus in Staatsgewalt umschlägt, ob mit der Sammlung der Unterschriften oder mit der Formulierung eines Gesetzesentwurfs, ist schon schwieriger zu beantworten. Das Bundesverfassungsgericht253 hat die Frage in drei Entscheidungen offen gelassen. Zur Anwortfindung erscheint es sachgerecht, danach zu fragen, welches Maß an demokratischer Verfestigung die Verfassung voraussetzt, damit dem Volkswillen funktionale Gesetzgebungsgewalt zukommt. Entscheidende Schnittstelle ist dafür die Zulassung des Volksbegehrens (z. B. nach Art. 108 rpVerf).254 Das Volksbegehren übt ab diesem Zeitpunkt ein Gesetzesinitiativrecht aus und hat damit an der Staatsgewalt Anteil. Die „bloße“ Volksinitiative und das Sammeln der Unterschriften leben dagegen noch den status activus aus. Gleiches gilt im Übrigen für die erwähnte Unionsinitiative nach Art. 11 Abs. 4 EUV. Den status activus, den der neue EU-Vertrag garantiert, können die Bürger nach Art. 265 Abs. 3 AEUV mit der neuen Untätigkeitsklage verteidigen. Sie führt ein neues Individualklagerecht vor dem EuGH ein. Ist damit der Beginn des verfassungsrechtlichen Rechtsschutzes umrissen, bleibt die Frage noch unbeantwortet, wie lange er währt. Ob der Schutz mit der Durchführung des Volksentscheids endet, kam in einer Entscheidung des Hamburgischen Verfassungsgerichts zum Schwur. Das Gericht nahm eine Beendigung des Schutzes an.255 Das eingeleitete Verfahren sei mit seiner Durchführung erledigt und die verfassungsrecht251 Vgl. Art. 130 Abs. 1 S. 2 rpVerf bzw. ihrer landesverfassungsrechtlichen Äquivalente. 252 Der Träger eines Volksbegehrens ist nach BerlVerfGH, Urt. v. 2.6.1999 – 31 A/99, 31/99 –, DÖV 1999, 823, nicht parteifähig im Organstreit. Hingegen sieht das SächsVerfGH, Beschl. vom 17.7.1998 – Vf. 32-I-98 –, LKV 1998, 443, die Vertrauensperson eines Volksantrags in gesetzlicher Prozessstandschaft als organstreitfähig an, sofern sie sich durch den Landtag verfassungswidrig behindert sieht. Oldiges (Fn. 129), 535 bejaht die Antragsbefugnis der Volksinitiative; für die Durchsetzung im Wege des Organstreitverfahrens ebenso Huber (Fn. 154), 332. 253 BVerfG, Beschl. v. 24.3.1982 – 2 BvH 1/82, 2 BvH 2/82, 2 BvR 233/82 –, BVerfGE 60, 175 (202) – Startbahn West; BVerfG, Beschl. v. 9.7.1997 – 2 BvR 389/94 –, BVerfGE 96, 231 (241) – Müllkonzept; BVerfG-K, Beschl. v. 23.7.1998 – 1 BvR 2470-94 –, NVwZ 1999, S. 638 (639) – Schulen. 254 Oldiges (Fn. 129), 536 verlagert diesen Zeitpunkt sogar noch weiter nach vorne: Mit der Einreichung des Volksantrages nach dem Sammeln der Unterschriften sei die Volksinitiative mit eigenen Rechten ausgestattet. 255 HambVerfG, Urt. v. 27.04.2007 – HVerfG 04/06 –, NordÖR 2007, 312 ff. Ebenso sieht dies auch Oldiges (Fn. 129), 536.
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liche Rechtsposition untergegangen.256 Ein fortwirkendes subjektives Recht bestehe nicht. Das überzeugt nicht: Zwar sind Volksbegehren lediglich auf eine temporäre Mitwirkung am Prozess der Willensbildung angelegt,257 doch sind sie dadurch nicht eines nachwirkenden Schutzes ihrer Rechtsposition entledigt. Sie sind auch dieses Schutzes bedürftig, wenn etwa das Parlament seine Treuepflichten dadurch verletzt, dass es das Durchführungsrecht der Volksgesetzgebung missachtet, wie beispielsweise im Hamburger Wahlgesetzfall.258 Sonst wäre die (nachwirkende) Organtreuepflicht nicht mehr durchsetzbar und das Volksbegehren nicht mehr wehrfähig. Das Verfassungsprozessrecht will nach seinem Anspruch und seiner Zielrichtung einen vollständigen und materiellen Rechten grundsätzlich vollständig korrespondierenden Schutz von Organrechten sicherstellen. So kennen wir auch im sonstigen Verfassungs(prozess)recht die Verteidigung der Rechtspositionen untergegangener Staaten oder Organe durch Nachfolgeeinrichtungen etwa für die Geltendmachung der staatsvertraglichen Rechte eines nicht mehr existierenden Bundeslandes.259 Das Bundesverfassungsgericht fingiert in diesen Fällen in Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 2 GG das untergegangene Land „als fortbestehend“. Dahinter steckt der Gedanke lückenlosen gerichtlichen Rechtsschutzes. Die Initiatoren eines Volksbegehrens, dessen Zielsetzung sich erledigt hat, sind daher entgegen der Rechtsprechung auch nach dessen Beendigung zur Verteidigung seines fortbestehenden Geltungsanspruchs in prozessualer Hinsicht auf den Posten gestellt.260 b) Bürgerentscheide Ähnlichen prozessualen Fragen wie Volksbegehren sind – als kommunale Form plebiszitärer Mitwirkung – Bürgerbegehren ausgesetzt: Die Initiatoren eines Bürgerbegehrens sehen sich mit ihrer Funktion der Fruchtbarmachung politischer Teilhabe in organgleiche Rollen verwandelt, die sie zum integra256 HambVerfG, Urt. v. 27.04.2007 – HVerfG 04/06 –, NordÖR 2007, 312 ff.; Oldiges (Fn. 129), 536. 257 Darauf rekurriert im Wesentlichen HVerfG, Urt. v. 27.4.2007 – HVerfG 04/06 –, NordÖR 2007, 312 (314). 258 Vgl. dazu oben S. 81 mit Fn. 224. 259 BVerfG, Urt. v. 28.7.1955 – 2 BvH 1/54 –, BVerfGE 4, 250 (268); BVerfG, Urt. v. 18.7.1967 – 2 BvH 1/63 –, BVerfGE 22, 221 (231); BVerfG, Beschl. v. 23.11.1982 – 2 BvH 1/79 –, BVerfGE 62, 295 (312). 260 Oldiges (Fn. 129), 536 hingegen berücksichtigt die starke, verfassungsrechtlich geschützte Position des Volksentscheides nicht ausreichend, wenn er den Schutz mit der Durchführung des Volksentscheides enden lässt und für die Durchsetzung der möglichen Bindungswirkung des parlamentarischen Gesetzgebers pauschal auf andere Lösungswege verweist.
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len Bestandteil eines kommunalrechtlichen Entscheidungsprozesses machen. Für sie liegt daher ebenso wie für Volksbegehren der Gedanke nahe, sie als Gemeindeorgane (und nicht als natürliche Personen) einzustufen. Dass die entsprechenden Rechte daher in einem Kommunalverfassungsstreitverfahren261 geltend zu machen sind, haben etwa das OVG Rheinland-Pfalz und das SächsOVG wiederholt entschieden.262 Andere Gerichte sind dem jedoch nicht gefolgt.263 Da das Kommunalverfassungsstreitverfahren sich in den Reigen der verwaltungsprozessualen Rechtsbehelfe einfügt, ohne eine eigene, mit Sonderregelungen verknüpfte gesetzliche Ausgestaltung erfahren zu haben, kommt der Frage nach der prozessualen Rolle der Initiatoren eines Bürgerbegehrens nicht die gleiche Tragweite zu wie bei Volksbegehren. Sie beschränkt sich im Wesentlichen auf die dogmatische Begründung der prozessualen Positionen, weniger auf ihre prozessualen Auswirkungen. Da die Initiatoren des Bürgerbegehrens eine Rolle übernehmen, die sonst ausschließlich den Gemeindeorganen als Teil des kommunalen Willensbildungsprozesses zukommt, sprechen wohl die besten Gründe dafür, ihnen eine organgleiche Rolle zuzusprechen, die die prozessualen Besonderheiten eines Kommunalverfassungsstreitverfahrens heraufbeschwört. Ihren Voraussetzungen genügen derartige Klagen aber in leichtem Lauf.
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Vgl. dazu etwa Martini, Verwaltungsprozessrecht, 5. Aufl. 2011, S. 91. OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 6.2.1996 – 7 A 12861/95 –, NVwZ 1995, 411 (412); OVG Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 6.2.1997 – 3 S 680/96 –, NVwZ-RR 1998, 253; SächsOVG, Beschl. v. 6.2.1997 – 3 S 680/96 –, SächsVBl 1998, 90 (91). In der Literatur ebenfalls zustimmend zu einer Innenrechtsklage Jaroschek, BayVBl. 1997, 39 (40); Fischer (Fn. 172), 183. 263 Der BayVGH hielt eine Verpflichtungsklage für statthaft, vgl. BayVGH, Urt. v. 18.3.1998 – 4 B 97-3249 –, BayVBl. 1998, 402 (403). Auch einige Landesgesetzgeber nahmen explizit eine Einstufung als Außenrechtsstreitigkeit vor. Die (mittlerweile aufgehobenen) § 41 Abs. 2 bwKomWG, § 56 Abs. 2 sachsanhKomWG berechtigten jeden Unterzeichner eines Bürgerbegehrens, gegen einen Zurückweisungsbeschluss Widerspruch und Verpflichtungsklage einzulegen. 262
IV. Fazit; verfassungspolitische Desiderate Bürger- und Volksbegehren sind nicht lediglich Zierrat im verfassungsrechtlichen Ordnungsgefüge, sondern die schärfste Waffe im System der Mitwirkung des Volkes an der kommunalen bzw. staatlichen Willensbildung. Sie induzieren ein kompliziertes Beziehungsgeflecht zwischen direkter und repräsentativer Demokratie, das nicht frei von Reibung ist. Ihr Verhältnis zueinander ist von der Verpflichtung zur Organtreue bestimmt: Das Parlament darf sich zwar über Volksgesetze hinwegsetzen, jedoch nicht unbegrenzt – von dem politischen Flurschaden und dem Frustrationspotenzial eines solchen Dolchstoßes einmal abgesehen. Eine sinnvolle Befriedungswirkung kommt einer de constitutione ferenda empfehlenswerten Kollisionsregelung zu, die parlamentsgesetzlichen Revisionen des Volksgesetzes einem Vetovorbehalt des Volksgesetzgebers unterwirft. Direkte Demokratie – richtig verstanden – ist kein Misstrauensvotum gegenüber dem System der indirekten Demokratie. Arbeitsteiliges Zusammenwirken und eine Professionalisierung der Politik sind wesentliche Funktionsbedingungen eines modernen und erfolgreichen Staatswesens. Es geht nicht um Ersetzung, sondern um Ergänzung. In einem grundsätzlich repräsentativ angelegten Verfassungssystem kann plebiszitäre Gesetzgebung bzw. Bürgerentscheidung namentlich als komplementär verstandenes Konzept eine sinnvolle Kontroll-, Mobilisierungs- und Korrektivfunktion ausfüllen. Bürger- und Volksentscheide sind ein Seismograf für gesellschaftliche Stimmungslagen und Verwerfungen im Politikgeflecht. Sie entfalten eine grundsätzlich positive konfliktsoziologische Wirkung. Denn sie kanalisieren Bürgerprotest. Damit bringen sie einen der größten Vorzüge der Demokratie zur Geltung: die Organisation von Kritik. Die Bürgermitwirkung fördert als Resonanzboden die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der politischen Entscheidungsprozesse und damit auch die Akzeptanz der politischen Ordnung insgesamt264 sowie der in ihrem Verfahren gefundenen Ergebnisse: Die Psychologie lehrt uns, dass die Akzeptanz einer Entscheidung, an deren Genese die von ihr Betroffenen selbst mitgewirkt haben oder hätten mitwirken können, ungleich größer ausfällt. 264 Empirische Erkenntnisse scheinen das zu bestätigen. Vgl. die Zusammenstellung des statistischen Materials zur Zufriedenheit der Bürger in der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer politischen Ordnung bei Heußner (Fn. 15), 42 f.
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„Erkläre mir und ich werde vergessen. Zeige mir und ich werde mich erinnern. Beteilige mich und ich werde verstehen“, hat Konfuzius diese keineswegs neue Erkenntnis treffend auf den Punkt gebracht. Direkte Demokratie aktiviert die Bürger für die gemeinsamen Gestaltungsaufgaben der „res publica“ und lässt diese an der Konkretisierung von Gemeinwohlvorstellungen teilhaben. Politischer Erstarrung, den Verselbständigungstendenzen eines repräsentativen Systems und einem Ohnmachtsgefühl der Bürger wirkt sie entgegen. Damit bildet sie einen wichtigen Konfliktpuffer aus, der Protest geordnet entladen lässt und die mögliche Ignoranz eines sich den Bürgern entfremdenden Parlaments im Zaum hält. Die „Legitimation durch Verfahren“, die von einem plebizitären Mitwirkungsakt ausgeht, bürgt für eine hohe Befriedungswirkung. Erfahrungen, wie sich Protest gegen Entscheidungen der Verwaltung radikalisieren kann, hat etwa die Freie und Hansestadt Hamburg in den 80er Jahre am Beispiel der Hafenstraße zuhauf sammeln können. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Hamburg heute einer der Vorreiter direkter Demokratie in der Bundesrepublik ist. Nicht nur die „Transaktionskosten“ direkter Demokratie sind allerdings hoch. Ihr Entscheidungsmechanismus zeichnet sich notwendig durch ein gerüttelt Maß an Schwerfälligkeit aus. Abstimmungsunterlagen etwa müssen versandt und Stimmen ausgezählt werden; die Mobilisierung der Bevölkerung beansprucht Ressourcen und Zeit, die an anderer Stelle fehlen. Wahrscheinlich sind derartige Kosten sowohl das notwendige Übel als auch vice versa der ertragreiche Nährboden einer lebendigen Demokratie, mitunter auch ein Filter, der „Partikularanliegen“ in der Solidarisierungsphase aussiebt. In kleinräumigen Einheiten wie der Schweiz mit ihren weitgehend eigenständigen 26 Kantonen lassen sich derartige Nachteile freilich eher kompensieren als in der großräumigen Bundesrepublik Deutschland. Verfahren elektronischer Demokratie könnten zwar einen Ausweg für den logistischen (Mehr)Aufwand direkter Demokratie weisen und zu ihrer Belebung beitragen; im Hinblick auf die noch bestehende digitale Spaltung der Gesellschaft und die fehlende Öffentlichkeit des Wahlvorgangs sind sie gegenwärtig jedoch nur als ergänzendes, nicht als universelles Instrument denkbar.265 Formen eines sich in den Gemeinden zusehends belebenden Wiki-Governments266, etwa in Gestalt kommunaler Wiki-Plattformen, E-Konsultationen,267 Online-Petitionen, Bürgerpanels oder eines Bürger265
Vgl. dazu BVerfG, Urt. v. 3.3.2009 – 2 BvC 4/07 –, NVwZ 2009, 708 ff. Vgl. dazu Noveck, Wiki Government, 2009, S. 40 ff.; Hill, Integrierendes Staatshandeln, in: Festschrift für Schmidt-Jortzig, 2011, 11 ff. des Typoskripts. 267 Darunter werden gemeinhin solche Beteiligungsformen verstanden, die vorrangig das Ziel verfolgen, von den Bürgerinnen und Bürgern, von Interessengruppen sowie anderen Akteuren aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft Expertise zu bestimm266
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haushalts268, können dem Gedanken einer offenen und auf der Teilhabe Vieler beruhenden kollaborativen Bürgermitwirkung verstärkt Leben einhauchen. Sie können die kollektive Intelligenz (sog. crowd intelligence)269 für die Ziele des Gemeinwesens im Wege kooperativer Gemeinwohlkonkretisierung in hilfreicher Weise fruchtbar machen. Ob die Menge immer „weiser und beständiger als die Fürsten“ ist, wie Machiavelli prophezeite, mag zweifelhaft sein. Die Instrumente ermöglichen aber jedenfalls insbesondere die Einbeziehung sonst nur verstreut vorhandenen Erfahrungswissens, die Sichtbarmachung von Präferenzen und Positionen sowie die Erhöhung der Akzeptanz und Transparenz politischer Kollektiventscheidungen. Die nähere Ausgestaltung der Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger hat dabei nicht unerheblichen Einfluss auf die Wirksamkeit direktdemokratischer Verfahrenselemente. Maßgebliche Stellgrößen sind nicht nur das Quorum, das es als erste Hürde zu überwinden gilt, sondern auch die für den Entscheid geforderte Mehrheit sowie die Weite der Bereiche, die einer Abstimmung gänzlich entzogen sind oder aber andererseits einer zwingenden Bestätigung durch den Bürger bedürfen.270 Interessanterweise wird die Eften Themen zu nutzen sowie Votum und Meinung zu vorhandenen Planungen und angesetzten Entscheidungen einzuholen (Märker, Journal of eDemocracy 2009, 45 [46]). Anwendung finden sie etwa im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum Bürgerportalgesetz (vgl. e-konsultation.de) sowie im Rahmen der Beteiligungsplattform der Enquetekommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestages. 268 Das Instrument des so genannten „Bürgerhaushalts“ hat gegenwärtig allenthalben Konjunktur. So arbeitet etwa die Stadt Bonn unter dem Motto „Bonn packt’s an“ an Einsparungsmöglichkeiten, die im Dialog mit den Bürgern auf einer Internetplattform im Rahmen eines Bürgerhaushalts entwickelt werden. In Berlin-Lichtenberg ist der Bürgerhaushalt bereits seit 7 Jahren Teil der Haushaltsfindung. Jeder Bürger, der sich dort mit seiner E-Mail-Adresse registriert hat, kann Einsparvorschläge erstellen, kommentieren oder kritisieren, sei es die Abschaltung von Ampelanlagen in der Nacht, Kürzungen im Kulturetat, die Verkleinerung der Dienstwagenflotte etc. (vgl. auch www.Bürgerhaushalt.org). Wie viele andere Verfahren direkter Demokratie auch beruht das Modell des Bürgerhaushalts auf dem Gedanken der kollektiven Intelligenz: Was Einzelne nicht zu tun vermögen, das bewirken viele gemeinsam. Es ringt aber angesichts der häufig anzutreffenden Unübersichtlichkeit des Verfahrens, der Manipulationsgefahr durch Mehrfachanmeldungen, Einfluss von Ortsfremden und einem nicht selten als unbefriedigend empfundenen Verhältnis von Aufwand und Nutzen vielerorts um Anerkennung. Zu beachten sind als Zulässigkeitsgrenze dabei auch grundsätzlich die Haushaltsvorbehalte der Gemeindeordnungen und der Landesverfassungen; vgl. dazu oben S. 42 ff. Gerechtfertigt kann der Bürgerhaushalt nur sein, wenn er sich nicht als repräsentatives Instrument versteht, sondern den Bürgern als Ratgeber in unverbindlicher und informeller Weise in die Politikgestaltung mit einbezieht. 269 Vgl. zu diesem Phänomen Surowiecki, Die Weisheit der Vielen, 2. Aufl. 2007, S. 23 ff. 270 Letzteres ist in der Schweiz verbreitet, siehe dazu oben S. 14.
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fektivität der Bürgerbeteiligung auch dadurch beeinflusst, wie lange diese Möglichkeit bereits gewährt wird. Offensichtlich bedarf es der Gewöhnung des Volkes an derartige Mitwirkungsmöglichkeiten, bevor es sie wirksam ergreift.271 Demokratie versteht sich als geglücktes Arrangement ausbalancierter Institutionen, das gegenläufige Meinungsströme und Grundüberzeugungen diszipliniert und in das Destillat eines politischen Willensbildungsprozesses einspeist. Sie lebt vom Vertrauen in die Rationalität ihres Verfahrens und die Qualität der dabei gefundenen Ergebnisse. Dieses rechtfertigt das Vertrauen in ihre Funktionsweise. Der verfasste Staat kann – wie es Karsten Fischer treffend formuliert hat – „auf die Demokratie vertrauen, weil sie zu ihrem eigenen Schutz das Misstrauen institutionalisiert hat“.272 Gegen Exzesse und Fehltritte ist auch sie nicht gefeit. Zu ihrem Schutz ist – bei plebiszitären Akten nicht anders als bei parlamentarischen Gesetzen – die Verfassung, insbesondere ihre grundrechtlichen Verbürgungen und die Kompetenzordnung, und die sie umhegende Gerichtsbarkeit erforderlich und auf den Posten gestellt. Plebiszitäre Akte sind von den Bindungen der Verfassung nicht befreit. Plebiszitäre Demokratie prämiert die Engagierten. Mit dem Kernanliegen der traditionellen Legitimationslehre, der Idee der Gleichheit aller Staatsbürger und gleichmäßiger Teilhabe an der Entscheidungsgewalt, kann das in Konflikt treten. Der Unmittelbarkeit demokratischer Teilhabe geht namentlich notwendig eine Mediatisierung durch diejenigen voraus, die die in plebiszitären Entscheidungsmechanismen gestellte Frage formulieren. Direkte Demokratie öffnet damit das Tor für eine Interessendemokratie, bei der die gut organisierte politisch aktive Minderheit die indifferente Mehrheit vor den Karren ihrer Interessen spannen und majorisieren kann. Sie kann im schlimmsten Falle in eine Tyrannei der Engagierten münden und zum Kampfinstrument gegen Minderheiten oder unbeliebte Gruppen in der Bevölkerung degenerieren, bei der Interessengruppen die „classe politique“ vor sich hertreiben oder umgekehrt politische Eliten die direkte Demokratie als „Opposition mit anderen Mitteln“ für ihre Zwecke instrumentalisieren. Eine Verschärfung und Polarisierung politischer Konflikte statt einer Befriedung und Konsensfindung ist dann die Folge. Die „Minarett-“ und die „Ausschaffungsinitiative“ in der Schweiz sowie das Referendum über den Vertrag von Lissabon in Frankreich und den Niederlanden legen dafür ebenso beredtes 271 Vgl. hierzu Blume/Müller/Voigt, The Economic Effects of Direct Democracy, S. 18 m. w. N. 272 Vgl. Fischer, Das Amfortas-Syndrom der Politikverdrossenheit, oder: Mißtrauen in der Demokratie und Vertrauen in der Demokratie, in: von Arnim (Hrsg.), Systemmängel in Demokratie und Marktwirtschaft, 2011, 65 (70).
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Zeugnis ab wie der Hamburger Volksentscheid zur Schulreform. Letzterer ist nicht zuletzt ein eindrücklicher Beleg für die Mobilisierungskraft einer bürgerlichen Oberschicht, die eine unterschichtenorientierte, auf gleiche Bildungschancen sinnende Politik zu verhindern und die in der Durchsetzungsmacht und Wahlbeteiligung unterdurchschnittlich repräsentierte Unterschicht tendenziell zu überspielen weiß.273 Die Initiativen sprachen Ängste der Menschen wie die vor Überfremdung, sozialem Abstieg oder Fremdbestimmung an. Das partizipationstypische NIMBY-Phänomen („not in my backyard“) ist hier mit Händen zu greifen und bedient sich zur Erreichung seiner veränderungsfeindlichen Durchsetzungsmacht der Schlagkraft des Verfassungswertes „Demokratie“. Dass die Weimarer Republik, wie häufig als Negativbeispiel kolportiert, an den Elementen direkter Demokratie zu Grunde gegangen sei274 und als „Prämie für jeden Demagogen“275 vorrangig einseitiger Interessendurchsetzung Vorschub leistete, lässt sich aus historischer Sicht allerdings nicht belegen. Es waren andere Konstruktionsfehler, welche die Weimarer Republik in den Niedergang gestürzt haben.276 Einen schwer überbietbaren Trumpf hält das System repräsentativer Demokratie im Verhältnis zum System direkter Demokratie in den Händen: Sein Vorzug liegt darin, Interessenten und Entscheider zu trennen. Die Separierung eigener Betroffenheit und Entscheidungsgewalt, die Moderation durch Repräsentation, schafft eine Distanz und Unbefangenheit, die der demokratischen Willensbildung Kraft zur Mäßigung, Emanzipation von Interessengruppen und Nüchternheit der Entscheidung verleiht. John Madison drückte diese der repräsentativen Demokratie immanente Erwartung treffend mit den Worten aus, dass die Klugheit der Volksvertreter „die wahren Interessen des Landes am besten erkennen lässt und Patriotismus und Gerechtigkeitsliebe sie am wenigsten Gefahr laufen lässt, dieses Interesse kurzfristigen oder parteiischen Rücksichten zu opfern“.277 Diesen Vorzug 273 Auch wenn man diese Schulpolitik nicht gut zu heißen braucht, ändert dies nichts an dem Befund, dass ihr sozialpolitischer Ansatz in der direkten Demokratie Opfer einer gut organisierten Bürgerschicht geworden ist. Zu der geringeren Wahlbeteiligung und den verminderten Durchsetzungschancen von Unterschichtenangehörigen in der Volksgesetzgebung im Allgemeinen mit statistischen Nachweisen Heußner (Fn. 15), 57 ff. 274 In diesem Sinne noch Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission 1992/1993, BR-Drucks. 800/93, S. 23 ff. 275 Theodor Heuß, Plenum des parlamentarischen Rates, Sitzung v. 9.9.1948, abgedruckt in: Werner, Der Parlamentarische Rat, 1996, S. 111. 276 Vgl. dazu beispielsweise Dreier/Wittreck (Fn. 17), 21 ff.; Borck (Fn. 5), 84. 277 Ähnlich auch Thomas Dehler in der Debatte des Deutschen Bundestages zur Wiedereinführung der Todesstrafe: „Ich glaube, man verkennt das Wesen der Demokratie, wenn man glaubt, das Parlament sei der Exekutor der Volksüberzeugung. Ich meine, das Wesen der repräsentativen Demokratie ist ein anderes, es ist das der par-
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gibt die direkte Demokratie notwendig auf. Nicht selten ist dies der Grund dafür, dass direkte Demokratie überfällige Reformen mitunter aufhält. Sinnfällig wird das am Beispiel des Status der Frauen in der Schweiz, die erst mit einer Volksabstimmung im Jahre 1971 das Wahlrecht auf Bundesebene erhielten. Umgekehrt kommt der direkten Demokratie eine wichtige Ventilwirkung zu, mit Hilfe derer sich politische Entwicklungen, die das politische Establishment nicht ausreichend wahrnimmt, Bahn brechen, um in die politische Agenda aufgenommen zu werden. Volks- und Bürgerbegehren bilden eine Bühne, auf der gesellschaftliche Problemlagen und Anschauungen in einer Kultur des Dialogs nicht nur öffentlich sichtbar, sondern auch verhandelt werden. Von der Existenz der Instrumente direkter Demokratie als solcher kann dabei eine heilsame Kontroll- und Überwachungswirkung des Volkes ausgehen, die der repräsentativen Demokratie jene Lebendigkeit und Wachsamkeit für die Nöte der Bevölkerung verleiht, von der unsere Staatsordnung lebt. Gerade von der Konkurrenzsituation plebiszitärer und repräsentativer Elemente profitiert der demokratische Diskurs. Sinnvoll eingesetzt und in der verfassungsrechtlichen Ordnung etabliert, erfüllen Elemente direkter Demokratie insofern eine wichtige Kontroll- und Oppositionsfunktion. Sie sind ein sinnvolles Komplementärelement der Demokratie, das hilfreiche Synergien zeitigt. Das konkurrierende Doppelsystem von Volks- und Parlamentsgesetzgebung bewahrheitet insofern eine alte Weisheit: „Demokratie ist, wenn einer steuert, ein anderer bremst und trotzdem kein Unfall passiert.“ Das Schneckentempo ist insofern die normale Geschwindigkeit der Demokratie. Trotz dieser Reibungsverluste können genau jene Synergien direkter und repräsentativer Demokratie einen Vorteil der Demokratie fruchtbar machen. Johann Wolfgang von Goethe hat ihn treffend auf den Punkt gebracht: „Demokratie rast nicht, aber sie kommt sicherer zum Ziel.“
lamentarischen Aristokratie. Die Parlamentarier haben die Pflicht und die Möglichkeit, aus einer größeren Einsicht, aus einem besseren Wissen zu handeln, als es der einzelne kann.“ (Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Stenografische Berichte von der 228. bis zur 239. Sitzung des Deutschen Bundestages, Band 13, 1952, S. 10610 (10612).
Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen (Stand: 1.9.2011)
I. Volksgesetzgebung – Auszüge aus den Landesverfassungen a) Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. November 1953 (GBl. S. 173, BWGültV Sachgebiet 100), zuletzt geändert durch ÄndG vom 7.2.2011 (GBl. S. 46). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Volksabstimmungsgesetz (VAbstG) und in der Landesstimmordnung (LandesstimmO). Artikel 59 [Gesetzesvorlagen; Volksbegehren; Gesetzesbeschlüsse] (1) Gesetzesvorlagen werden von der Regierung, von Abgeordneten oder vom Volk durch Volksbegehren eingebracht. (2) Dem Volksbegehren muß ein ausgearbeiteter und mit Gründen versehener Gesetzentwurf zugrunde liegen. Das Volksbegehren ist zustande gekommen, wenn es von mindestens einem Sechstel der Wahlberechtigten gestellt wird. Das Volksbegehren ist von der Regierung mit ihrer Stellungnahme unverzüglich dem Landtag zu unterbreiten. (3) Die Gesetze werden vom Landtag oder durch Volksabstimmung beschlossen. Artikel 60 [Volksabstimmung über Gesetze] (1) Eine durch Volksbegehren eingebrachte Gesetzesvorlage ist zur Volksabstimmung zu bringen, wenn der Landtag der Gesetzesvorlage nicht unverändert zustimmt. In diesem Fall kann der Landtag dem Volk einen eigenen Gesetzentwurf zur Entscheidung mitvorlegen. (2) Die Regierung kann ein vom Landtag beschlossenes Gesetz vor seiner Verkündung zur Volksabstimmung bringen, wenn ein Drittel der Mitglieder des Landtags es beantragt. Die angeordnete Volksabstimmung unterbleibt, wenn der Landtag mit Zweidrittelmehrheit das Gesetz erneut beschließt. (3) Wenn ein Drittel der Mitglieder des Landtags es beantragt, kann die Regierung eine von ihr eingebrachte, aber vom Landtag abgelehnte Gesetzesvorlage zur Volksabstimmung bringen.
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Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen
(4) Der Antrag nach Absatz 2 und Absatz 3 ist innerhalb von zwei Wochen nach der Schlußabstimmung zu stellen. Die Regierung hat sich innerhalb von zehn Tagen nach Eingang des Antrags zu entscheiden, ob sie die Volksabstimmung anordnen will. (5) Bei der Volksabstimmung entscheidet die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen. Das Gesetz ist beschlossen, wenn mindestens ein Drittel der Stimmberechtigten zustimmt. (6) Über Abgabengesetze, Besoldungsgesetze und das Staatshaushaltsgesetz findet keine Volksabstimmung statt.
b) Verfassung des Freistaates Bayern in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1998 (GVBl S. 991, BayRS 100-1-I), zuletzt geändert durch Gesetz vom 10. November 2003 (GVBl S. 817). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Landeswahlgesetz (LWG). Art. 71 [Gesetzesinitiative] Die Gesetzesvorlagen werden vom Ministerpräsidenten namens der Staatsregierung, aus der Mitte des Landtags oder vom Volk (Volksbegehren) eingebracht. Art. 72 [Zuständigkeit für Gesetzgebung und Staatsverträge] (1) Die Gesetze werden vom Landtag oder vom Volk (Volksentscheid) beschlossen. (. . .) Art. 73 [Kein Volksentscheid über Staatshaushalt] Über den Staatshaushalt findet kein Volksentscheid statt. Art. 74 [Volksbegehren und Volksentscheid] (1) Ein Volksentscheid ist herbeizuführen, wenn ein Zehntel der stimmberechtigten Staatsbürger das Begehren nach Schaffung eines Gesetzes stellt. (2) Dem Volksbegehren muß ein ausgearbeiteter und mit Gründen versehener Gesetzentwurf zugrundeliegen. (3) Das Volksbegehren ist vom Ministerpräsidenten namens der Staatsregierung unter Darlegung ihrer Stellungnahme dem Landtag zu unterbreiten. (4) Wenn der Landtag das Volksbegehren ablehnt, kann er dem Volk einen eigenen Gesetzentwurf zur Entscheidung mit vorlegen. (5) 1Rechtsgültige Volksbegehren sind von der Volksvertretung binnen drei Monaten nach Unterbreitung zu behandeln und binnen weiterer drei Monate dem Volk zur Entscheidung vorzulegen. 2Der Ablauf dieser Fristen wird durch die Auflösung des Landtags gehemmt.
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(6) Die Volksentscheide über Volksbegehren finden gewöhnlich im Frühjahr oder Herbst statt. (7) Jeder dem Volk zur Entscheidung vorgelegte Gesetzentwurf ist mit einer Weisung der Staatsregierung zu begleiten, die bündig und sachlich sowohl die Begründung der Antragsteller wie die Auffassung der Staatsregierung über den Gegenstand darlegen soll. Art. 75 [Verfassungsänderung] (. . .) (2) 1Beschlüsse des Landtags auf Änderung der Verfassung bedürfen einer Zweidrittelmehrheit der Mitgliederzahl. 2Sie müssen dem Volk zur Entscheidung vorgelegt werden. (. . .)
c) Verfassung von Berlin vom 23. November 1995 (GVBl. S. 779, BRV 100-1), zuletzt geändert durch Art. I Elftes ÄndG vom 17.3.2010 (GVBl. S. 134). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Abstimmungsgesetz (AbstG). Art. 59 [Gesetzesvorbehalt; Gesetzesvorlagen] (. . .) (2) Gesetzesvorlagen können aus der Mitte des Abgeordnetenhauses, durch den Senat oder im Wege des Volksbegehrens eingebracht werden. (. . .) Art. 62 [Volksbegehren und Volksentscheid] (1) 1Volksbegehren können darauf gerichtet werden, Gesetze zu erlassen, zu ändern oder aufzuheben, soweit das Land Berlin die Gesetzgebungskompetenz hat. 2 Sie können darüber hinaus darauf gerichtet werden, im Rahmen der Entscheidungszuständigkeit des Abgeordnetenhauses zu Gegenständen der politischen Willensbildung, die Berlin betreffen, sonstige Beschlüsse zu fassen. 3Sie sind innerhalb einer Wahlperiode zu einem Thema nur einmal zulässig. (2) Volksbegehren zum Landeshaushaltsgesetz, zu Dienst- und Versorgungsbezügen, Abgaben, Tarifen der öffentlichen Unternehmen sowie zu Personalentscheidungen sind unzulässig. (3) 1Der dem Volksbegehren zugrundeliegende Entwurf eines Gesetzes oder eines sonstigen Beschlusses ist vom Senat unter Darlegung seines Standpunktes dem Abgeordnetenhaus zu unterbreiten, sobald der Nachweis der Unterstützung des Volksbegehrens erbracht ist. 2Auf Verlangen der Vertreter des Volksbegehrens ist das Volksbegehren durchzuführen, wenn das Abgeordnetenhaus den begehrten Entwurf eines Gesetzes oder eines sonstigen Beschlusses nicht innerhalb von vier Monaten inhaltlich in seinem wesentlichen Bestand unverändert annimmt. (4) 1Ist ein Volksbegehren zustande gekommen, so muss innerhalb von vier Monaten ein Volksentscheid herbeigeführt werden. 2Die Frist kann auf bis zu acht Monate verlängert werden, wenn dadurch der Volksentscheid gemeinsam mit Wahlen
100 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen oder mit anderen Volksentscheiden durchgeführt werden kann. 3Das Abgeordnetenhaus kann einen eigenen Entwurf eines Gesetzes oder eines sonstigen Beschlusses zur gleichzeitigen Abstimmung stellen. 4Der Volksentscheid unterbleibt, wenn das Abgeordnetenhaus den begehrten Entwurf eines Gesetzes oder eines sonstigen Beschlusses inhaltlich in seinem wesentlichen Bestand unverändert annimmt. (5) Der Präsident des Abgeordnetenhauses fertigt das durch Volksentscheid zustande gekommene Gesetz aus; der Regierende Bürgermeister verkündet es im Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin. (6) Volksbegehren können auch auf die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode des Abgeordnetenhauses gerichtet werden. Art. 63 [Quoren] (1) 1Ein Volksbegehren, das einen Gesetzentwurf oder einen sonstigen Beschluss nach Artikel 62 Abs. 1 zum Gegenstand hat, bedarf zum Nachweis der Unterstützung der Unterschriften von mindestens 20.000 der zum Abgeordnetenhaus Wahlberechtigten. 2Es kommt zustande, wenn mindestens 7 vom Hundert der zum Abgeordnetenhaus Wahlberechtigten innerhalb von vier Monaten dem Volksbegehren zustimmt. 3Ein Gesetz oder ein sonstiger Beschluss nach Artikel 62 Abs. 1 ist durch Volksentscheid angenommen, wenn eine Mehrheit der Teilnehmer und zugleich mindestens ein Viertel der zum Abgeordnetenhaus Wahlberechtigten zustimmt. (2) 1Ein Volksbegehren, das einen die Verfassung von Berlin ändernden Gesetzentwurf zum Gegenstand hat, bedarf zum Nachweis der Unterstützung der Unterschriften von mindestens 50.000 der zum Abgeordnetenhaus Wahlberechtigten. 2Es kommt zustande, wenn mindestens ein Fünftel der zum Abgeordnetenhaus Wahlberechtigten innerhalb von vier Monaten dem Volksbegehren zustimmt. 3Ein die Verfassung von Berlin änderndes Gesetz ist durch Volksentscheid angenommen, wenn eine Mehrheit von mindestens zwei Dritteln der Teilnehmer und zugleich mindestens die Hälfte der zum Abgeordnetenhaus Wahlberechtigten zustimmt. (3) 1Ein Volksbegehren, das die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode des Abgeordnetenhauses zum Gegenstand hat, bedarf zum Nachweis der Unterstützung der Unterschriften von mindestens 50.000 der zum Abgeordnetenhaus Wahlberechtigten. 2 Es kommt zustande, wenn mindestens ein Fünftel der zum Abgeordnetenhaus Wahlberechtigten innerhalb von vier Monaten dem Volksbegehren zustimmt. 3Der Volksentscheid wird nur wirksam, wenn sich mindestens die Hälfte der Wahlberechtigten daran beteiligt und die Mehrheit der Teilnehmer zustimmt. (4) Das Nähere zum Volksbegehren und zum Volksentscheid, einschließlich der Veröffentlichung des dem Volksentscheid zugrunde liegenden Vorschlags, wird durch Gesetz278 geregelt.
278
Siehe die Regelungen im Abstimmungsgesetz (AbstG).
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d) Verfassung des Landes Brandenburg vom 20. August 1992 (GVBl. I S. 298, Sa BbgLR 100-4), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndG vom 7.7.2009 (GVBl. I S. 191). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Volksabstimmungsgesetz (VAbstG).
Art. 75 [Gesetzesinitiative] Gesetzesvorlagen können aus der Mitte des Landtages, durch die Landesregierung oder im Wege des Volksbegehrens eingebracht werden.
Art. 76 [Volksinitiative] (1) 1Alle Einwohner haben das Recht, dem Landtag im Rahmen seiner Zuständigkeit bestimmte Gegenstände der politischen Willensbildung zu unterbreiten. 2 Diese Volksinitiative kann auch Gesetzentwürfe und Anträge auf Auflösung des Landtages einbringen. 3Die Initiative muß von mindestens zwanzigtausend Einwohnern, bei Anträgen auf Auflösung des Landtages von mindestens einhundertfünfzigtausend Stimmberechtigten unterzeichnet sein. 4Ihre Vertreter haben das Recht auf Anhörung. (2) Initiativen zum Landeshaushalt, zu Dienst- und Versorgungsbezügen, Abgaben und Personalentscheidungen sind unzulässig.
Art. 77 [Volksbegehren] (1) Stimmt der Landtag einem Gesetzentwurf, einem Antrag auf Auflösung des Landtages oder einer anderen Vorlage nach Artikel 76 innerhalb von vier Monaten nicht zu, findet auf Verlangen der Vertreter der Initiative ein Volksbegehren statt. (2) Hält die Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Landtages das Volksbegehren für unzulässig, haben sie das Verfassungsgericht anzurufen. (3) 1Ein Volksbegehren ist zustande gekommen, wenn mindestens achtzigtausend Stimmberechtigte innerhalb von vier Monaten dem Volksbegehren zugestimmt haben. 2Ein Antrag auf Auflösung des Landtages bedarf der Zustimmung von mindestens zweihunderttausend Stimmberechtigten.
Art. 78 [Volksentscheid] (1) 1Entspricht der Landtag nicht binnen zwei Monaten dem Volksbegehren, so findet innerhalb von weiteren drei Monaten ein Volksentscheid statt. 2Der Landtag kann einen konkurrierenden Gesetzentwurf oder eine sonstige Vorlage nach Artikel 76 mit zur Abstimmung stellen. 3Der Landtagspräsident hat die mit Gründen versehenen Gesetzentwürfe oder die anderen zur Abstimmung stehenden Vorlagen in angemessener Form zu veröffentlichen.
102 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen (2) Ein Gesetzentwurf oder eine andere Vorlage nach Artikel 76 ist durch Volksentscheid angenommen, wenn die Mehrheit derjenigen, die ihre Stimme abgegeben haben, jedoch mindestens ein Viertel der Stimmberechtigten, zugestimmt haben. (3) 1Bei Verfassungsänderungen sowie bei Anträgen auf Auflösung des Landtages müssen zwei Drittel derjenigen, die ihre Stimme abgegeben haben, mindestens jedoch die Hälfte der Stimmberechtigten, für die Verfassungsänderung oder die Auflösung des Landtages gestimmt haben. 2Es zählen nur die gültigen Ja- und NeinStimmen. Art. 79 [Verfassungsänderungen] 1
Die Verfassung kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut der Verfassung ausdrücklich ändert oder ergänzt. 2Hierzu bedarf es der Zustimmung einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages oder eines Volksentscheides nach Artikel 78 Absatz 3.
e) Verfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21. Oktober 1947 (Brem.GBl. S. 251, Sa BremR 100–a–1), zuletzt geändert durch Art. 1 G z. Änd. d. Landesverf. der Freien Hansestadt Bremen vom 31.8.2010 (Brem.GBl. S. 457). Siehe auch die Regelungen im Volksentscheidsgesetz (VolksentG). Art. 70 [Gegenstand des Volksentscheids] (1) Der Volksentscheid findet statt: a) wenn die Bürgerschaft mit der Mehrheit ihrer Mitglieder eine Verfassungsänderung dem Volksentscheid unterbreitet; b) wenn die Bürgerschaft eine andere zu ihrer Zuständigkeit gehörende Frage dem Volksentscheid unterbreitet; c) wenn ein Fünftel der Stimmberechtigten die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode verlangt; d) wenn ein Zwanzigstel der Stimmberechtigten das Begehren auf Beschlußfassung über einen Gesetzentwurf stellt. Soll die Verfassung geändert werden, muß ein Fünftel der Stimmberechtigten das Begehren unterstützen. Der begehrte Gesetzentwurf ist vom Senat unter Darlegung seiner Stellungnahme der Bürgerschaft zu unterbreiten. Der Volksentscheid findet nicht statt, wenn der Gesetzentwurf in der Bürgerschaft unverändert angenommen worden ist oder wenn die Vertrauenspersonen keinen Antrag auf Durchführung des Volksentscheids gestellt haben. Wird der begehrte Gesetzentwurf in veränderter, jedoch dem Anliegen des Volksbegehrens nicht widersprechender Weise angenommen, so stellt die Bürgerschaft auf Antrag der Vertrauenspersonen die Erledigung des Volksbegehrens fest. Ist das Gesetz durch Volksentscheid abgelehnt, so ist ein erneutes Volksbegehren auf Vorlegung desselben Gesetzentwurfes erst zulässig, nachdem inzwischen die Bürgerschaft neu gewählt ist.
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(2) 1Ein Volksentscheid über den laufenden Haushaltsplan, über Bezüge oder Entgelte öffentlich Bediensteter oder vergleichbarer Personen und über Steuern, Abgaben, Beiträge und Gebühren sowie über Einzelheiten solcher Gesetzesvorlagen ist unzulässig. 2Finanzwirksame Volksentscheide mit Wirkung für zukünftige Haushaltspläne sind zulässig, soweit diese die Struktur eines zukünftigen Haushalts nicht wesentlich verändern, den verfassungsrechtlichen Regelungen des Haushaltsrechts, welchen auch die Bürgerschaft für die Aufstellung des Haushaltsplans unterliegt, entsprechen und zur Gegenfinanzierung keine Haushaltspositionen herangezogen werden, die gesetzlich, vertraglich oder auf andere Weise rechtlich gebunden sind. Art. 71 [Ausgearbeiteter Gesetzentwurf] (1) Soll durch Volksentscheid ein Gesetz erlassen, abgeändert oder aufgehoben werden, so hat der Beschluß über die Herbeiführung eines Volksentscheides oder das Volksbegehren gleichzeitig einen ausgearbeiteten Gesetzentwurf mit Begründung zu enthalten. (2) 1Finanzwirksame Volksentscheide mit Wirkung für zukünftige Haushalte haben einen Finanzierungsvorschlag zu enthalten. 2Diese Gegenfinanzierung ist in Anlehnung an die allgemeinen Regelungen des Haushaltsrechts darzustellen und dem Gesetzentwurf beizufügen. Art. 72 [Quorum, Mehrheit] (1) Ein Gesetzentwurf oder eine andere Vorlage nach Artikel 70 ist durch Volksentscheid angenommen, wenn die Mehrheit derjenigen, die ihre Stimme abgegeben haben, jedoch mindestens ein Fünftel der Stimmberechtigten, zugestimmt hat. (2) Bei Verfassungsänderungen auf Grund eines Volksbegehrens muß mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten für das Volksbegehren stimmen. Art. 73 [Ausfertigung, Verkündung] (1) Der Senat hat die durch Volksentscheid beschlossenen Gesetze innerhalb von zwei Wochen nach Feststellung des Abstimmungsergebnisses auszufertigen und im Bremischen Gesetzblatt zu verkünden. (2) Ein durch Volksentscheid beschlossenes Gesetz kann während einer laufenden Wahlperiode innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten nur geändert oder aufgehoben werden 1. durch einen Volksentscheid nach Artikel 70 Absatz 1 Buchstabe b oder d, 2. durch die Bürgerschaft mit verfassungsändernder Mehrheit. Art. 74 [Ausführungsgesetz] Das Verfahren beim Volksentscheid regelt ein besonderes Gesetz.279 279
Siehe dazu die Regelungen im Volksentscheidsgesetz (VolksentG).
104 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen
f) Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 6. Juni 1952 (HmbGVBl. S. 117, BS Hbg 100–a), zuletzt geändert durch Art. 1 Zwölftes ÄndG vom 8.7.2009 (HmbGVBl. S. 221). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Volksabstimmungsgesetz (VAbstG). Art. 48 [Zuständigkeit] (1) Die Gesetzesvorlagen werden vom Senat, aus der Mitte der Bürgerschaft oder durch Volksbegehren eingebracht. (2) Die Gesetze werden von der Bürgerschaft oder durch Volksentscheid beschlossen. Art. 50 [Volksbegehren, Volksentscheid] (1) 1Das Volk kann den Erlass, die Änderung oder die Aufhebung eines Gesetzes oder eine Befassung mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung (andere Vorlage) beantragen. 2Bundesratsinitiativen, Haushaltspläne, Abgaben, Tarife der öffentlichen Unternehmen sowie Dienst- und Versorgungsbezüge können nicht Gegenstand einer Volksinitiative sein. 3Die Volksinitiative ist zustande gekommen, wenn mindestens 10.000 zur Bürgerschaft Wahlberechtigte den Gesetzentwurf oder die andere Vorlage unterstützen. (2) 1Die Bürgerschaft befasst sich mit dem Anliegen der Volksinitiative. 2Sie oder ein Fünftel ihrer Mitglieder kann ein Prüfungs- und Berichtsersuchen zu den finanziellen Auswirkungen an den Rechnungshof richten. 3Die Volksinitiatoren erhalten Gelegenheit, das Anliegen in einem Ausschuss zu erläutern. 4Sofern die Bürgerschaft nicht innerhalb von vier Monaten nach Einreichung der Unterschriften das von der Volksinitiative beantragte Gesetz verabschiedet oder einen Beschluss gefasst hat, der der anderen Vorlage vollständig entspricht, können die Volksinitiatoren die Durchführung eines Volksbegehrens beantragen. 5Sie können den Gesetzentwurf oder die andere Vorlage hierzu in überarbeiteter Form einreichen. 6Der Senat führt das Volksbegehren durch. 7Die Volksinitiatoren sind berechtigt, Unterschriften auf eigenen Listen zu sammeln. 8Das Volksbegehren ist zustande gekommen, wenn es von mindestens einem Zwanzigstel der Wahlberechtigten unterstützt wird. (3) 1Die Bürgerschaft befasst sich mit dem Anliegen des Volksbegehrens. 2Die Volksinitiatoren erhalten Gelegenheit, das Anliegen in einem Ausschuss zu erläutern. 3Sofern die Bürgerschaft nicht innerhalb von vier Monaten nach Einreichung der Unterschriften das vom Volksbegehren eingebrachte Gesetz verabschiedet oder einen Beschluss gefasst hat, der der anderen Vorlage vollständig entspricht, können die Volksinitiatoren die Durchführung eines Volksentscheides beantragen. 4Sie können den Gesetzentwurf oder die andere Vorlage hierzu in überarbeiteter Form einreichen. 5Der Senat legt den Gesetzentwurf oder die andere Vorlage dem Volk zur Entscheidung vor. 6Die Bürgerschaft kann einen eigenen Gesetzentwurf oder eine eigene andere Vorlage beifügen. 7Der Volksentscheid findet am Tag der Wahl zur Bürgerschaft oder zum Deutschen Bundestag statt. 8Auf Antrag der Volksinitiative
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kann der Volksentscheid über einfache Gesetze und andere Vorlagen auch an einem anderen Tag stattfinden. 9Dasselbe gilt, wenn die Bürgerschaft dies im Falle eines Volksentscheides nach Absatz 4 oder 4 a beantragt. 10Findet der Volksentscheid am Tag der Wahl zur Bürgerschaft oder zum Deutschen Bundestag statt, so ist ein Gesetzentwurf oder eine andere Vorlage angenommen, wenn die Mehrheit der Abstimmenden zustimmt und auf den Gesetzentwurf oder die andere Vorlage mindestens die Zahl von Stimmen entfällt, die der Mehrheit der in dem gleichzeitig gewählten Parlament repräsentierten Hamburger Stimmen entspricht. 11Verfassungsänderungen bedürfen einer Mehrheit von zwei Dritteln der Abstimmenden und mindestens zwei Dritteln der in dem gleichzeitig gewählten Parlament repräsentierten Hamburger Stimmen. 12Steht den Wahlberechtigten nach dem jeweils geltenden Wahlrecht mehr als eine Stimme zu, so ist für die Ermittlung der Zahl der im Parlament repräsentierten Hamburger Stimmen nach den Sätzen 10 und 11 die tatsächliche Stimmenzahl so umzurechnen, dass jeder Wahlberechtigten und jedem Wahlberechtigten nur eine Stimme entspricht. 13Findet der Volksentscheid nicht am Tag der Wahl zur Bürgerschaft oder zum Deutschen Bundestag statt, so ist er angenommen, wenn die Mehrheit der Abstimmenden und mindestens ein Fünftel der Wahlberechtigten zustimmt. (4) 1Ein von der Bürgerschaft beschlossenes Gesetz, durch das ein vom Volk beschlossenes Gesetz aufgehoben oder geändert wird (Änderungsgesetz), tritt nicht vor Ablauf von drei Monaten nach seiner Verkündung in Kraft. 2Innerhalb dieser Frist können zweieinhalb vom Hundert der Wahlberechtigten einen Volksentscheid über das Änderungsgesetz verlangen. 3In diesem Fall tritt das Änderungsgesetz nicht vor Durchführung des Volksentscheids in Kraft. 4Das Volk entscheidet über das Änderungsgesetz. 5Absatz 3 Sätze 5, 7 und 10 bis 13 ist sinngemäß anzuwenden. (4a) 1Ein Volksentscheid über eine andere Vorlage bindet Bürgerschaft und Senat. Die Bindung kann durch einen Beschluss der Bürgerschaft beseitigt werden. 3Der Beschluss ist im Hamburgischen Gesetz- und Verordnungsblatt zu verkünden. 4Er wird nicht vor Ablauf von drei Monaten nach seiner Verkündung wirksam. 5Absatz 4 Sätze 2 bis 5 ist sinngemäß anzuwenden. 2
(5) Während eines Zeitraumes von drei Monaten vor dem Tag einer allgemeinen Wahl in Hamburg finden keine Volksbegehren und Volksentscheide statt. (6) 1Das Hamburgische Verfassungsgericht entscheidet auf Antrag des Senats, der Bürgerschaft, eines Fünftels der Abgeordneten der Bürgerschaft oder der Volksinitiatoren über die Durchführung von Volksbegehren und Volksentscheid. 2Volksbegehren und Volksentscheid ruhen während des Verfahrens. (7) 1Das Gesetz bestimmt das Nähere.280 2Es kann auch Zeiträume bestimmen, in denen die Fristen nach Absatz 2 Satz 4 und Absatz 3 Satz 3 wegen sitzungsfreier Zeiten der Bürgerschaft oder eines von der Bürgerschaft auf Vorschlag der Volksinitiatoren gefassten Beschlusses nicht laufen.
280
Siehe die Regelungen im Volksabstimmungsgesetz (VAbstG).
106 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen
g) Verfassung des Landes Hessen vom 1. Dezember 1946 (GVBl. I S. 229, ber. GVBl. 1947 S. 106 u. GVBl. 1948 S. 68, GVBl. II 10-1), zuletzt geändert durch ÄndG vom 29.4.2011 (GVBl. I S. 182). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Volksbegehren- und Volksentscheidgesetz (VBeg/VE-G). Art. 116 [Zuständigkeit] (1) Die Gesetzgebung wird ausgeübt a) durch das Volk im Wege des Volksentscheids, b) durch den Landtag. (2) 1Außer in den Fällen des Volksentscheids beschließt der Landtag die Gesetze nach Maßgabe dieser Verfassung. 2Er überwacht ihre Ausführung. Art. 117 [Initiativrecht] Die Gesetzentwürfe werden von der Landesregierung, aus der Mitte des Landtags oder durch Volksbegehren eingebracht. Art. 123 [Verfassungsänderung] (. . .) (2) Eine Verfassungsänderung kommt dadurch zustande, daß der Landtag sie mit mehr als der Hälfte der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder beschließt und das Volk mit der Mehrheit der Abstimmenden zustimmt. Art. 124 [Volksbegehren, Volksentscheid] (1) 1Ein Volksentscheid ist herbeizuführen, wenn ein Fünftel der Stimmberechtigten das Begehren nach Vorlegung eines Gesetzentwurfs stellt. 2Dem Volksbegehren muß ein ausgearbeiteter Gesetzentwurf zugrunde liegen. 3Der Haushaltplan, Abgabengesetze oder Besoldungsordnungen können nicht Gegenstand eines Volksbegehrens sein. (2) 1Das dem Volksbegehren zugrunde liegende Gesetz ist von der Regierung unter Darlegung ihres Standpunktes dem Landtag zu unterbreiten. 2Der Volksentscheid unterbleibt, wenn der Landtag den begehrten Gesetzentwurf unverändert übernimmt. (3) 1Die Volksabstimmung kann nur bejahend oder verneinend sein. 2Es entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. (4) Das Verfahren beim Volksbegehren und Volksentscheid regelt das Gesetz.281
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Siehe das Volksbegehren- und Volksentscheidgesetz (VBeg/VE-G).
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h) Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 23. Mai 1993 (GVOBl. M-V S. 372, GS Meckl.-Vorp. Gl. Nr. 100-4), zuletzt geändert durch Viertes ÄndG vom 30.6.2011 (GVOBl. M-V S. 375). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Volksabstimmungsgesetz (VaG M-V). Art. 55 [Gesetzgebungsverfahren] (1) 1Gesetzentwürfe werden von der Landesregierung oder aus der Mitte des Landtages sowie gemäß Artikel 59 und 60 aus dem Volk eingebracht. (. . .) Art. 59 [Volksinitiative] (1) 1Im Rahmen seiner Entscheidungszuständigkeit kann der Landtag durch Volksinitiative mit Gegenständen der politischen Willensbildung befaßt werden. 2 Eine Volksinitiative kann auch einen mit Gründen versehenen Gesetzentwurf zum Inhalt haben. (2) 1Eine Volksinitiative muß von mindestens 15.000 Wahlberechtigten unterzeichnet sein. 2Ihre Vertreter haben das Recht, angehört zu werden. (3) Initiativen über den Haushalt des Landes, über Abgaben und Besoldung sind unzulässig. (4) Das Nähere regelt das Gesetz.282 Art. 60 [Volksbegehren und Volksentscheid] (1) 1Ein Volksbegehren kann darauf gerichtet werden, ein Landesgesetz zu erlassen, zu ändern oder aufzuheben. 2Dem Volksbegehren muß ein ausgearbeiteter, mit Gründen versehener Gesetzentwurf zugrunde liegen. 3Das Volksbegehren muß von mindestens 120.000 Wahlberechtigten unterstützt werden. (2) 1Haushaltsgesetze, Abgabengesetze und Besoldungsgesetze können nicht Gegenstand eines Volksbegehrens sein. 2Die Entscheidung, ob ein Volksbegehren zulässig ist, trifft auf Antrag der Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Landtages das Landesverfassungsgericht. (3) 1Nimmt der Landtag den Gesetzentwurf nicht innerhalb von sechs Monaten im wesentlichen unverändert an, findet frühestens drei, spätestens sechs Monate nach Ablauf der Frist oder dem Beschluß des Landtages, den Entwurf nicht als Gesetz anzunehmen, über den Gesetzentwurf ein Volksentscheid statt. 2Der Landtag kann dem Volk einen eigenen Gesetzentwurf zum Gegenstand des Volksbegehrens zur Entscheidung vorlegen. (4) 1Ein Gesetzentwurf ist durch Volksentscheid angenommen, wenn die Mehrheit der Abstimmenden, mindestens aber ein Drittel der Wahlberechtigten zugestimmt haben. 2Die Verfassung kann durch Volksentscheid nur geändert werden, 282
Siehe das Volksabstimmungsgesetz (VaG M-V).
108 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen wenn zwei Drittel der Abstimmenden, mindestens aber die Hälfte der Wahlberechtigten zustimmen. 3In der Abstimmung zählen nur die gültigen Ja- und Nein-Stimmen. (5) Das Nähere regelt das Gesetz.283
i) Niedersächsische Verfassung vom 19. Mai 1993 (Nds. GVBl. S. 107, GVBl Sb 100-1), zuletzt geändert durch Art. 1 G zur Neuregelung der Rechtsstellung der oder des Landesbeauftragten für den Datenschutz vom 30.6.2011 (Nds. GVBl. S. 210). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Niedersächsischen Volksabstimmungsgesetz (NVAbstG). Art. 42 [Gesetzgebungsverfahren] (1) Die Gesetze werden vom Landtag oder durch Volksentscheid beschlossen. (2) Vor dem Beschluß des Landtages kann die Landesregierung verlangen, daß die Abstimmung bis zu 30 Tagen ausgesetzt wird. (3) Gesetzentwürfe werden beim Landtag aus seiner Mitte, von der Landesregierung, durch Volksinitiative oder Volksbegehren eingebracht. Art. 46 [Verfassungsänderungen] (. . .) (3) 1Ein verfassungsänderndes Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages. 2Für Verfassungsänderungen durch Volksentscheid gilt Artikel 49 Abs. 2. Art. 47 [Volksinitiative] 1
70.000 Wahlberechtigte können schriftlich verlangen, daß sich der Landtag im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Zuständigkeit mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung befaßt. 2Ihre Vertreterinnen oder Vertreter haben das Recht, angehört zu werden. Art. 48 [Volksbegehren]
(1) 1Ein Volksbegehren kann darauf gerichtet werden, ein Gesetz im Rahmen der Gesetzgebungsbefugnis des Landes zu erlassen, zu ändern oder aufzuheben. 2Dem Volksbegehren muß ein ausgearbeiteter, mit Gründen versehener Gesetzentwurf zugrunde liegen. 3Gesetze über den Landeshaushalt, über öffentliche Abgaben sowie über Dienst- und Versorgungsbezüge können nicht Gegenstand eines Volksbegehrens sein.
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Siehe das Volksabstimmungsgesetz (VaG M-V).
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(2) Die Landesregierung entscheidet, ob das Volksbegehren zulässig ist; gegen ihre Entscheidung kann der Staatsgerichtshof angerufen werden. (3) 1Das Volksbegehren kommt zustande, wenn es von zehn vom Hundert der Wahlberechtigten unterstützt wird. 2Die Landesregierung leitet dann den Gesetzentwurf mit ihrer Stellungnahme unverzüglich an den Landtag weiter. Art. 49 [Volksentscheid] (1) 1Nimmt der Landtag einen Gesetzentwurf, der ihm auf Grund eines Volksbegehrens zugeleitet wird, nicht innerhalb von sechs Monaten im wesentlichen unverändert an, so findet spätestens sechs Monate nach Ablauf der Frist oder nach dem Beschluß des Landtages, den Entwurf nicht als Gesetz anzunehmen, ein Volksentscheid über den Gesetzentwurf statt. 2Der Landtag kann dem Volk einen eigenen Gesetzentwurf zum Gegenstand des Volksbegehrens zur Entscheidung mit vorlegen. (2) 1Ein Gesetz ist durch Volksentscheid beschlossen, wenn die Mehrheit derjenigen, die ihre Stimme abgegeben haben, jedoch mindestens ein Viertel der Wahlberechtigten, dem Entwurf zugestimmt hat. 2Die Verfassung kann durch Volksentscheid nur geändert werden, wenn mindestens die Hälfte der Wahlberechtigten zustimmt. Art. 50 [Kostenerstattung, Ausführungsgesetz] (1) Ist ein Volksbegehren zustande gekommen, haben die Vertreterinnen und Vertreter des Volksbegehrens Anspruch auf Erstattung der notwendigen Kosten einer angemessenen Information der Öffentlichkeit über die Ziele des Volksbegehrens. (2) Das Nähere über Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid regelt ein Gesetz.284
j) Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18. Juni 1950 (GS. NW. S. 127, SGV. NRW. 100), zuletzt geändert durch Art. I G zur Änd. der Verfassung für das Land NRW und zur Regelung eines Kostenfolgeabschätzungs- und eines Beteiligungsverfahrens gem. Art. 78 Abs. 3 der Verfassung für das Land NRW vom 22.6.2004 (GV. NRW. S. 360). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Volksinitiative-Verfahrensgesetz (VIVBVEG). Art. 67a [Volksinitiativen] (1) 1Volksinitiativen können darauf gerichtet sein, den Landtag im Rahmen seiner Entscheidungszuständigkeit mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung zu befassen. 2Einer Initiative kann auch ein mit Gründen versehener Gesetzentwurf zu Grunde liegen. 284
Siehe das Niedersächsische Volksabstimmungsgesetz (NVAbstG).
110 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen (2) 1Volksinitiativen müssen von mindestens 0,5 vom Hundert der Stimmberechtigten unterzeichnet sein. 2Artikel 31 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 über das Wahlrecht findet auf das Stimmrecht entsprechende Anwendung. (3) Das Nähere wird durch Gesetz geregelt.285 Art. 68 [Volksbegehren und Volksentscheid] (1) 1Volksbegehren können darauf gerichtet werden, Gesetze zu erlassen, zu ändern oder aufzuheben. 2Dem Volksbegehren muß ein ausgearbeiteter und mit Gründen versehener Gesetzentwurf zugrunde liegen. 3Ein Volksbegehren ist nur auf Gebieten zulässig, die der Gesetzgebungsgewalt des Landes unterliegen. 4Über Finanzfragen, Abgabengesetze und Besoldungsordnungen ist ein Volksbegehren nicht zulässig. 5Über die Zulässigkeit entscheidet die Landesregierung. 6Gegen die Entscheidung ist die Anrufung des Verfassungsgerichtshofes zulässig. 7Das Volksbegehren ist nur rechtswirksam, wenn es von mindestens 8 vom Hundert der Stimmberechtigten gestellt ist. (2) 1Das Volksbegehren ist von der Landesregierung unter Darlegung ihres Standpunktes unverzüglich dem Landtag zu unterbreiten. 2Entspricht der Landtag dem Volksbegehren nicht, so ist binnen zehn Wochen ein Volksentscheid herbeizuführen. 3 Entspricht der Landtag dem Volksbegehren, so unterbleibt der Volksentscheid. (3) 1Auch die Landesregierung hat das Recht, ein von ihr eingebrachtes, vom Landtag jedoch abgelehntes Gesetz zum Volksentscheid zu stellen. 2Wird das Gesetz durch den Volksentscheid angenommen, so kann die Landesregierung den Landtag auflösen; wird es durch den Volksentscheid abgelehnt, so muß die Landesregierung zurücktreten. (4) 1Die Abstimmung kann nur bejahend oder verneinend sein. 2Es entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, sofern diese Mehrheit mindestens 15 vom Hundert der Stimmberechtigten beträgt. (5) 1Die Vorschriften des Artikels 31 Abs. 1 bis 3 über das Wahlrecht und Wahlverfahren finden auf das Stimmrecht und das Abstimmungsverfahren entsprechende Anwendung. 2Das Nähere wird durch Gesetz geregelt.286 Art. 69 [Änderung der Verfassung] (. . .) (2) Für eine Verfassungsänderung bedarf es der Zustimmung einer Mehrheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Mitgliederzahl des Landtags. (3) Kommt eine Mehrheit gemäß Absatz 2 nicht zustande, so kann sowohl der Landtag als auch die Regierung die Zustimmung zu der begehrten Änderung der Verfassung durch Volksentscheid einholen. (4) 1Die Verfassung kann auch durch Volksentscheid aufgrund eines Volksbegehrens nach Artikel 68 geändert werden. 2Das Gesetz ist angenommen, wenn mindes285 286
Siehe das Volksinitiative-Verfahrensgesetz (VIVBVEG). Siehe das Volksinitiative-Verfahrensgesetz (VIVBVEG).
I. Volksgesetzgebung – Auszüge aus den Landesverfassungen
111
tens die Hälfte der Stimmberechtigten sich an dem Volksentscheid beteiligt und mindestens zwei Drittel der Abstimmenden dem Gesetzentwurf zustimmen.
k) Verfassung für Rheinland-Pfalz vom 18. Mai 1947 (VOBl. S. 209, BS Rh-Pf 100-1), zuletzt geändert durch Art. 1 Siebenunddreißigstes ÄndG vom 23.12.2010 (GVBl. S. 547). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Landeswahlgesetz (LWahlG). Art. 107 [Gesetzgeber] Die Gesetzgebung wird ausgeübt 1. durch das Volk im Wege des Volksentscheids, 2. durch den Landtag. Art. 108 [Gesetzesvorlagen] Gesetzesvorlagen können im Wege des Volksbegehrens, aus der Mitte des Landtags oder durch die Landesregierung eingebracht werden. Art. 108a [Volksinitiative] (1) 1Staatsbürger haben das Recht, den Landtag im Rahmen seiner Entscheidungszuständigkeit mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung zu befassen (Volksinitiative). 2Einer Volksinitiative kann auch ein ausgearbeiteter Gesetzentwurf zu Grunde liegen, soweit er nicht Finanzfragen, Abgabengesetze und Besoldungsordnungen betrifft. (2) 1Die Volksinitiative muss von mindestens 30.000 Stimmberechtigten unterzeichnet sein. 2Der Landtag beschließt innerhalb von drei Monaten nach dem Zustandekommen der Volksinitiative über deren Gegenstand. 3Stimmt er einer Volksinitiative, die einen Gesetzentwurf zum Gegenstand hat, in der in Satz 2 genannten Frist nicht zu, können die Vertreter der Volksinitiative die Durchführung eines Volksbegehrens beantragen. (3) 1Das Nähere regelt das Wahlgesetz. 2Dabei kann auch vorgesehen werden, dass Unterschriften für die Volksinitiative binnen bestimmter Frist beizubringen sind. Art. 109 [Volksbegehren und Volksentscheid] (1) Volksbegehren können darauf gerichtet werden, 1. Gesetze zu erlassen, zu ändern oder aufzuheben, 2. den Landtag aufzulösen. (2) 1Sie sind an die Landesregierung zu richten und von ihr mit einer eigenen Stellungnahme unverzüglich dem Landtag zu unterbreiten. 2Dem Volksbegehren muß im Falle des Absatzes 1 Nr. 1 ein ausgearbeiteter Gesetzentwurf zugrunde liegen.
112 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen (3) 1Volksbegehren können von 300.000 Stimmberechtigten gestellt werden, es sei denn, dass die Verfassung etwas anderes vorschreibt. 2Die Eintragungsfrist für Volksbegehren beträgt zwei Monate und hat innerhalb von drei Monaten nach Bekanntgabe der Zulassung des Volksbegehrens zu beginnen. 3Volksbegehren über Finanzfragen, Abgabengesetze und Besoldungsordnungen sind unzulässig. (4) 1Entspricht der Landtag einem Volksbegehren nicht innerhalb von drei Monaten, so findet innerhalb von weiteren drei Monaten ein Volksentscheid statt. 2Legt der Landtag dem Volk im Falle des Absatzes 1 Nr. 1 einen eigenen Gesetzentwurf vor, so verlängert sich die Frist zur Durchführung des Volksentscheids auf sechs Monate. 3Die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen entscheidet über Annahme oder Ablehnung; ein Gesetz kann jedoch nur beschlossen und der Landtag nur aufgelöst werden, wenn sich mindestens ein Viertel der Stimmberechtigten an der Abstimmung beteiligt. (5) 1Das Nähere bestimmt das Wahlgesetz. 2Dabei kann auch vorgesehen werden, dass Unterschriften im Zulassungsverfahren binnen bestimmter Frist beizubringen sind. Art. 114 [Aussetzung der Verkündung] 1 Die Verkündung eines Landesgesetzes ist zum Zwecke der Durchführung eines Volksentscheids auszusetzen, wenn es ein Drittel des Landtags verlangt. 2Erklärt der Landtag ein Gesetz für dringlich, so kann der Ministerpräsident es ungeachtet dieses Verlangens verkünden. 3Die Aussetzung von Gesetzen über Finanzfragen, von Abgabengesetzen und Besoldungsordnungen ist unzulässig.
Art. 115 [Volksentscheid] (1) 1Ein nach Artikel 114 ausgesetztes Gesetz ist dem Volksentscheid zu unterbreiten, wenn 150.000 Stimmberechtigte dies im Wege des Volksbegehrens verlangen. 2Die Eintragungsfrist für das Volksbegehren beträgt einen Monat und hat innerhalb von drei Monaten nach Bekanntgabe der Zulassung des Volksbegehrens zu beginnen. (2) Wird der Antrag auf Zulassung des Volksbegehrens nicht innerhalb eines Monats nach dem Gesetzesbeschluss gestellt oder kommt das Volksbegehren nicht zu Stande, hat der Ministerpräsident das Gesetz zu verkünden.
l) Verfassung des Saarlandes vom 15. Dezember 1947 (Amtsbl. S. 1077, BS Saar Nr. 100-1), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndG vom 15.6.2011 (Amtsbl. I S. 236). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Volksabstimmungsgesetz (VoAstG).
I. Volksgesetzgebung – Auszüge aus den Landesverfassungen
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Art. 99 [Volksbegehren] (1) 1Volksbegehren können darauf gerichtet werden, Gesetze zu erlassen, zu ändern oder aufzuheben. 2Ein Volksbegehren ist nur auf Gebieten zulässig, die der Gesetzgebung des Landes unterliegen. 3Über finanzwirksame Gesetze, insbesondere Gesetze über Abgaben, Besoldung, Staatsleistungen und den Staatshaushalt, finden Volksbegehren nicht statt. (2) 1Dem Volksbegehren muß ein ausgearbeiteter und mit Gründen versehener Gesetzentwurf zugrunde liegen. 2Es ist einzuleiten, wenn fünftausend Stimmberechtigte es beantragen. 3Das Volksbegehren ist zustandegekommen, wenn es von mindestens einem Fünftel der Stimmberechtigten unterstützt wird. (3) 1Über Zulässigkeit und Zustandekommen des Volksbegehrens entscheidet die Landesregierung. 2Gegen ihre Entscheidungen kann der Verfassungsgerichtshof angerufen werden. (4) Das Volksbegehren ist von der Landesregierung unter Darlegung ihres Standpunktes unverzüglich dem Landtag zu unterbreiten. Art. 100 [Volksentscheid] (1) 1Entspricht der Landtag binnen drei Monaten dem Volksbegehren nicht, so ist innerhalb von weiteren drei Monaten ein Volksentscheid herbeizuführen. 2Tritt während des Laufes dieser Fristen ein neuer Landtag zusammen, so beginnen beide Fristen neu zu laufen. (2) 1Der dem Volk zur Entscheidung vorgelegte Gesetzentwurf ist mit einer Stellungnahme der Landesregierung zu begleiten, die bündig und sachlich sowohl die Begründung der Antragsteller wie die Auffassung der Landesregierung über den Gegenstand darlegt. 2Der Landtag kann einen eigenen Gesetzentwurf dem Volk zur Entscheidung mit vorlegen. (3) Das Gesetz ist durch Volksentscheid beschlossen, wenn ihm mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten zustimmt. (4) Über ein Volksbegehren, das auf Änderung der Verfassung gerichtet ist, findet ein Volksentscheid nicht statt.
m) Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27. Mai 1992 (SaGVBl. S. 243). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Volksentscheidgesetz (VVVG). Art. 70 [Gesetzesvorlagen] (1) Gesetzesvorlagen werden von der Staatsregierung, aus der Mitte des Landtages oder vom Volk durch Volksantrag eingebracht. (2) Die Gesetze werden vom Landtag oder unmittelbar vom Volk durch Volksentscheid beschlossen.
114 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen Art. 71 [Volksantrag] (1) 1Alle im Land Stimmberechtigten haben das Recht, einen Volksantrag in Gang zu setzen. 2Er muß von mindestens 40.000 Stimmberechtigten durch ihre Unterschrift unterstützt sein. 3Ihm muß ein mit Begründung versehener Gesetzentwurf zugrunde liegen. (2) 1Der Volksantrag ist beim Landtagspräsidenten einzureichen. 2Er entscheidet nach Einholen der Stellungnahme der Staatsregierung unverzüglich über die Zulässigkeit. 3Hält er den Volksantrag für verfassungswidrig, entscheidet auf seinen Antrag der Verfassungsgerichtshof. 4Der Volksantrag darf bis zu einer gegenteiligen Entscheidung nicht als unzulässig behandelt werden. (3) Der Landtagspräsident veröffentlicht den zulässigen Volksantrag mit Begründung. (4) Der Landtag gibt den Antragstellern Gelegenheit zur Anhörung.
Art. 72 [Volksbegehren, Volksentscheid] (1) 1Stimmt der Landtag dem unveränderten Volksantrag nicht binnen sechs Monaten zu, können die Antragsteller ein Volksbegehren mit dem Ziel in Gang setzen, einen Volksentscheid über den Antrag herbeizuführen. 2Dem Volksbegehren kann von den Antragstellern ein gegenüber dem Volksantrag veränderter Gesetzentwurf zugrunde gelegt werden. 3In diesem Fall findet Artikel 71 Abs. 2 entsprechende Anwendung. (2) 1Ein Volksentscheid findet statt, wenn mindestens 450.000, jedoch nicht mehr als 15 vom Hundert der Stimmberechtigten das Volksbegehren durch ihre Unterschrift unterstützen. 2Für die Unterstützung müssen mindestens sechs Monate zur Verfügung stehen. 3Der Landtag kann zum Volksentscheid einen eigenen Gesetzentwurf beifügen. (3) 1Zwischen einem erfolgreich abgeschlossenen Volksbegehren und dem Volksentscheid muß eine Frist von mindestens drei und höchstens sechs Monaten liegen, die der öffentlichen Information und Diskussion über den Gegenstand des Volksentscheides dient. 2Diese Frist kann nur mit Einverständnis der Antragsteller unteroder überschritten werden. (4) 1Bei dem Volksentscheid wird mit Ja oder Nein gestimmt. 2Es entscheidet die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen.
Art. 73 [Ausnahme, Wiederholung] (1) Über Abgaben-, Besoldungs- und Haushaltsgesetze finden Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid nicht statt. (2) Ein durch Volksentscheid abgelehnter Volksantrag kann frühestens nach Ablauf der Wahlperiode des Landtages erneut in Gang gesetzt werden.
I. Volksgesetzgebung – Auszüge aus den Landesverfassungen
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(3) Das Nähere über Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid bestimmt ein Gesetz287, in dem auch der Anspruch auf Erstattung der notwendigen Kosten für die Organisation des Volksbegehrens und eines angemessenen Abstimmungskampfes geregelt wird. Art. 74 [Verfassungsänderung] (. . .) (3) 1Die Verfassung kann durch Volksentscheid geändert werden, wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder des Landtages dies beantragt. 2Sie kann ferner durch einen Volksentscheid gemäß Artikel 72 geändert werden. 3Das verfassungsändernde Gesetz ist beschlossen, wenn die Mehrheit der Stimmberechtigten zustimmt.
n) Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt vom 16. Juli 1992 (GVBl. LSA S. 600, BS LSA 100.3), zuletzt geändert durch § 1 ÄndG vom 27.1.2005 (GVBl. LSA S. 44). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Volksabstimmungsgesetz (VAbstG). Art. 77 [Beschluss der Gesetze] (1) Die Gesetze werden vom Landtag beschlossen, soweit nicht das Volk unmittelbar durch Volksentscheid handelt. (2) Gesetzentwürfe können von der Landesregierung, aus der Mitte des Landtages oder durch Volksbegehren eingebracht werden. (. . .) Art. 80 [Volksinitiative] (1) 1Bürger haben das Recht, den Landtag mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung zu befassen, die das Land Sachsen-Anhalt betreffen. 2Eine Volksinitiative kann auch einen mit Gründen versehenen Gesetzentwurf zum Inhalt haben. (2) 1Eine Volksinitiative muß von mindestens 30.000 Wahlberechtigten unterzeichnet sein. 2Ihre Vertreter haben das Recht, angehört zu werden. (3) Das Nähere regelt ein Gesetz.288 Art. 81 [Volksbegehren, Volksentscheid] (1) 1Ein Volksbegehren kann darauf gerichtet werden, ein Landesgesetz zu erlassen, zu ändern oder aufzuheben. 2Dem Volksbegehren muß ein ausgearbeiteter, mit Gründen versehener Gesetzentwurf zugrunde liegen. 3Haushaltsgesetze, Abgabengesetze und Besoldungsregelungen können nicht Gegenstand eines Volksbegehrens 287 288
Siehe das Volksentscheidgesetz (VVVG). Siehe das Volksabstimmungsgesetz (VAbstG).
116 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen sein. 4Das Volksbegehren muß von mindestens elf vom Hundert der Wahlberechtigten unterstützt werden. (2) 1Die Landesregierung entscheidet darüber, ob ein Volksbegehren zulässig ist; gegen ihre Entscheidung kann Beschwerde beim Landesverfassungsgericht erhoben werden. 2Ist das Volksbegehren zulässig, leitet die Landesregierung den Gesetzentwurf mit ihrer Stellungnahme unverzüglich an den Landtag weiter. (3) 1Nimmt der Landtag den Gesetzentwurf nicht innerhalb von vier Monaten unverändert an, findet nach mindestens drei und höchstens sechs Monaten nach Ablauf der Frist oder dem Beschluß des Landtages, den Entwurf nicht als Gesetz anzunehmen, über den Gesetzentwurf ein Volksentscheid statt. 2Ein Gesetzentwurf ist durch Volksentscheid angenommen, wenn die Mehrheit derjenigen, die ihre Stimme gültig abgegeben haben, mindestens jedoch ein Viertel der Wahlberechtigten zugestimmt hat. (4) 1Der Landtag kann dem Volk einen eigenen Gesetzentwurf zum Gegenstand des Volksbegehrens zur Entscheidung mit vorlegen. 2In diesem Fall entscheidet über die Annahme die Mehrheit der gültigen abgegebenen Stimmen. (5) Die Verfassung kann auf Grund eines Volksbegehrens nur geändert werden, wenn zwei Drittel derjenigen, die ihre Stimme abgegeben haben, mindestens jedoch die Hälfte der Wahlberechtigten zustimmen. (6) Das Nähere regelt ein Gesetz,289 das auch die Erstattung der notwendigen Kosten einer angemessenen Werbung für das Volksbegehren vorsehen kann.
o) Verfassung des Landes Schleswig-Holstein in der Fassung vom 13. Mai 2008 (GVOBl. Schl.-H. S. 223, GS Schl.-H. II, Gl.Nr. 100-1), zuletzt geändert durch Art. 1 G zur zur Änd. der Verfassung des Landes Sch.-H. und des LandeswahlG vom 29.3.2011 (GVOBl. Schl.-H. S. 96). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Volksabstimmungsgesetz (VAbstG). Art. 37 [Gesetzgebungsverfahren] (1) Die Gesetzentwürfe werden von der Landesregierung oder von einzelnen oder mehreren Abgeordneten oder durch Initiativen aus dem Volk eingebracht. (2) Die Gesetze werden vom Landtag oder durch Volksentscheid beschlossen. Art. 40 [Verfassungsändernde Gesetze] (. . .) (2) Ein solches Gesetz bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Landtages oder der Zustimmung des Volkes nach Artikel 42 Abs. 4 Satz 2 und 3.
289
Siehe das Volksabstimmungsgesetz (VAbstG).
I. Volksgesetzgebung – Auszüge aus den Landesverfassungen
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Art. 41 [Initiativen aus dem Volk] (1) 1Bürgerinnen und Bürger haben das Recht, den Landtag im Rahmen seiner Entscheidungszuständigkeit mit bestimmten Gegenständen der politischen Willensbildung zu befassen. 2Einer Initiative kann auch ein mit Gründen versehener Gesetzentwurf zugrunde liegen; er darf den Grundsätzen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates nicht widersprechen. 3Die Initiativen müssen von mindestens 20.000 Stimmberechtigten unterzeichnet sein. 4Ihre Vertreterinnen und Vertreter haben das Recht auf Anhörung. (2) Initiativen über den Haushalt des Landes, über Dienst- und Versorgungsbezüge sowie über öffentliche Abgaben sind unzulässig. (3) Über die Zulässigkeit der Initiative entscheidet der Landtag. (4) Das Nähere regelt ein Gesetz.290
Art. 42 [Volksbegehren und Volksentscheid] (1) 1Stimmt der Landtag dem Gesetzentwurf oder der Vorlage nach Artikel 41 innerhalb einer Frist von vier Monaten nicht zu, so sind die Vertreterinnen und Vertreter der Initiative berechtigt, die Durchführung eines Volksbegehrens zu beantragen. 2 Die Frist beginnt mit dem Tag der Entscheidung über die Zulässigkeit der Initiative. 3Der Landtag entscheidet, ob das beantragte Volksbegehren zulässig ist. 4Auf Antrag der Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Landtages entscheidet das Landesverfassungsgericht über die Vereinbarkeit des beanstandeten Volksbegehrens mit Artikel 41 Abs. 1 Satz 1 und 2 oder Abs. 2. 5Ein Volksbegehren ist zustande gekommen, wenn mindestens fünf vom Hundert der Stimmberechtigten innerhalb eines halben Jahres dem Volksbegehren zugestimmt haben. (2) 1Ist ein Volksbegehren zustande gekommen, so muss innerhalb von neun Monaten über den Gesetzentwurf oder die andere Vorlage ein Volksentscheid herbeigeführt werden. 2Der Landtag kann einen eigenen Gesetzentwurf oder eine andere Vorlage zur gleichzeitigen Abstimmung stellen. 3Ein Volksentscheid findet nicht statt, wenn 1. der Landtag dem Gesetzentwurf oder der anderen Vorlage bis zur Bestimmung des Abstimmungstages durch die Landtagspräsidentin oder den Landtagspräsidenten in unveränderter oder in einer von den Vertreterinnen und Vertretern der Initiative gebilligten geänderten Fassung zustimmt oder 2. auf Antrag der Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Landtages das Landesverfassungsgericht die Vereinbarkeit des zustande gekommenen Volksbegehrens mit Artikel 41 Abs. 1 Satz 1 und 2 oder Absatz 2 verneint. (3) 1Vor der Abstimmung über ein Volksbegehren oder vor der Durchführung eines Volksentscheids hat die Landesregierung den mit Gründen versehenen Gesetzentwurf oder die andere Vorlage ohne Stellungnahme in angemessener Form zu veröffentlichen. 2Wenn das Volksbegehren zustande gekommen ist, haben die Vertrete290
Siehe das Volksabstimmungsgesetz (VAbstG).
118 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen rinnen und Vertreter der Initiative Anspruch auf Erstattung der notwendigen Kosten einer angemessenen Werbung für den Volksentscheid. (4) 1Der Gesetzentwurf oder die andere Vorlage ist durch Volksentscheid angenommen, wenn die Mehrheit derjenigen, die ihre Stimme abgegeben haben, jedoch mindestens ein Viertel der Stimmberechtigten zugestimmt hat. 2Eine Verfassungsänderung durch Volksentscheid bedarf der Zustimmung von zwei Dritteln derjenigen, die ihre Stimme abgegeben haben, jedoch mindestens die Hälfte der Stimmberechtigten. 3In der Abstimmung zählen nur die gültigen Ja- und Nein-Stimmen. (5) Das Nähere regelt ein Gesetz.291
p) Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25. Oktober 1993 (GVBl. S. 625, BS Thür 100-1), zuletzt geändert durch Art. 1 Viertes ÄndG vom 11.10.2004 (GVBl. S. 745). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Thüringer Volksbegehren-Gesetz (ThürBVVG). Art. 81 [Zuständigkeiten] (1) Gesetzesvorlagen können aus der Mitte des Landtags, durch die Landesregierung oder durch Volksbegehren eingebracht werden. (2) Gesetze werden vom Landtag oder vom Volk durch Volksentscheid beschlossen. Art. 82 [Volksbegehren; Volksentscheid] (1) Die nach Artikel 46 Abs. 2 wahl- und stimmberechtigten Bürger können ausgearbeitete Gesetzentwürfe im Wege des Volksbegehrens in den Landtag einbringen. (2) Volksbegehren zum Landeshaushalt, zu Dienst- und Versorgungsbezügen, Abgaben und Personalentscheidungen sind unzulässig. (3) 1Der Antrag auf Zulassung des Volksbegehrens muss von mindestens 5.000 Stimmberechtigten unterzeichnet sein. 2Halten die Landesregierung oder ein Drittel der Mitglieder des Landtags die Voraussetzungen für die Zulassung des Volksbegehrens für nicht gegeben oder das Volksbegehren für mit höherrangigem Recht nicht vereinbar, haben sie den Verfassungsgerichtshof anzurufen. (4) 1Die Antragsteller des Volksbegehrens können Vertreter bestellen. 2Diese haben ein Recht auf Anhörung in einem Ausschuss. (5) 1Mit der Vorlage des Antrags auf Zulassung des Volksbegehrens entscheiden die Antragsteller darüber, ob die Sammlung durch Eintragung in amtlich ausgelegte Unterschriftsbögen oder in freier Sammlung erfolgen soll. 2Ein Volksbegehren ist zustande gekommen, wenn ihm durch Eintragung in die amtlich ausgelegten Unterschriftsbögen acht vom Hundert der Stimmberechtigten innerhalb von zwei Monaten 291
Siehe das Volksabstimmungsgesetz (VAbstG).
II. Bürgerbegehren in den Gemeinden – Auszüge aus Gemeindeordnungen
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zugestimmt haben oder in freier Sammlung mindestens zehn vom Hundert der Stimmberechtigten innerhalb von vier Monaten zugestimmt haben. (6) 1Die freie Sammlung der Unterschriften für ein Volksbegehren kann durch Gesetz für bestimmte Orte ausgeschlossen werden. 2Die Unterschrift zur Unterstützung eines Volksbegehrens kann vom Unterzeichner ohne Angabe von Gründen bis zum Ablauf der Sammlungsfrist widerrufen werden. (7) 1Der Landtag hat ein Volksbegehren innerhalb von sechs Monaten nach der Feststellung seines Zustandekommens abschließend zu behandeln. 2Entspricht der Landtag einem Volksbegehren nicht, findet über den Gesetzentwurf, der Gegenstand des Volksbegehrens war, ein Volksentscheid statt; in diesem Fall kann der Landtag dem Volk zusätzlich auch einen eigenen Gesetzentwurf zur Entscheidung vorlegen. 3 Über die Annahme des Gesetzes entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen; es ist im Wege des Volksentscheids jedoch nur beschlossen, wenn mehr als ein Viertel der Stimmberechtigten zustimmt. (8) Das Nähere regelt das Gesetz.292 Art. 83 [Verfassungsänderung] (. . .) (2) 1Der Landtag kann ein solches Gesetz nur mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder beschließen. 2Zu einer Verfassungsänderung durch Volksentscheid bedarf es der Zustimmung der Mehrheit der Abstimmenden; diese Mehrheit muss mindestens 40 vom Hundert der Stimmberechtigten betragen.
II. Bürgerbegehren in den Gemeinden – Auszüge aus den Gemeindeordnungen a) Gemeindeordnung für Baden-Württemberg in der Fassung vom 24. Juli 2000 (GBl. S. 581, ber. S. 698, BWGültV Sachgebiet 2802-1), zuletzt geändert durch Art. 17 Dienstrechtsreformgesetz vom 9.11.2010 (GBl. S. 793). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Kommunalwahlgesetz (KomWG) und in der Kommunalwahlordnung (KomWO). § 21 Bürgerentscheid, Bürgerbegehren (1) Der Gemeinderat kann mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Stimmen aller Mitglieder beschließen, dass eine Angelegenheit des Wirkungskreises der Gemeinde, für die der Gemeinderat zuständig ist, der Entscheidung der Bürger unterstellt wird (Bürgerentscheid).
292
Siehe das Thüringer Volksbegehren-Gesetz (ThürBVVG).
120 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen (2) Ein Bürgerentscheid findet nicht statt über 1. Weisungsaufgaben und Angelegenheiten, die kraft Gesetzes dem Bürgermeister obliegen, 2. Fragen der inneren Organisation der Gemeindeverwaltung, 3. die Rechtsverhältnisse der Gemeinderäte, des Bürgermeisters und der Gemeindebediensteten, 4. die Haushaltssatzung einschließlich der Wirtschaftspläne der Eigenbetriebe sowie die Kommunalabgaben, Tarife und Entgelte, 5. die Feststellung des Jahresabschlusses und des Gesamtabschlusses der Gemeinde und der Jahresabschlüsse der Eigenbetriebe, 6. Bauleitpläne und örtliche Bauvorschriften sowie über 7. Entscheidungen in Rechtsmittelverfahren. (3) 1Über eine Angelegenheit des Wirkungskreises der Gemeinde, für die der Gemeinderat zuständig ist, kann die Bürgerschaft einen Bürgerentscheid beantragen (Bürgerbegehren). 2Ein Bürgerbegehren darf nur Angelegenheiten zum Gegenstand haben, über die innerhalb der letzten drei Jahre nicht bereits ein Bürgerentscheid auf Grund eines Bürgerbegehrens durchgeführt worden ist. 3Das Bürgerbegehren muss schriftlich eingereicht werden, dabei findet § 3a des Landesverwaltungsverfahrensgesetzes keine Anwendung; richtet es sich gegen einen Beschluss des Gemeinderats, muss es innerhalb von sechs Wochen nach der Bekanntgabe des Beschlusses eingereicht sein. 4Das Bürgerbegehren muss die zur Entscheidung zu bringende Frage, eine Begründung und einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag für die Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme enthalten. 5 Es muss von mindestens 10 vom Hundert der Bürger unterzeichnet sein, höchstens jedoch in Gemeinden mit nicht mehr als 50.000 Einwohnern von
2.500 Bürgern,
mit mehr als 50.000 Einwohnern, aber nicht mehr als 100.000 Einwohnern von
5.000 Bürgern,
mit mehr als 100.000 Einwohnern, aber nicht mehr als 200.000 Einwohnern von
10.000 Bürgern,
mit mehr als 200.000 Einwohnern von
20.000 Bürgern.
(4) 1Über die Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens entscheidet der Gemeinderat. Der Bürgerentscheid entfällt, wenn der Gemeinderat die Durchführung der mit dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahme beschließt.
2
(5) Wird ein Bürgerentscheid durchgeführt, muss den Bürgern die innerhalb der Gemeindeorgane vertretene Auffassung dargelegt werden. (6) 1Bei einem Bürgerentscheid ist die gestellte Frage in dem Sinne entschieden, in dem sie von der Mehrheit der gültigen Stimmen beantwortet wurde, sofern diese Mehrheit mindestens 25 vom Hundert der Stimmberechtigten beträgt. 2Bei Stimmengleichheit gilt die Frage als mit Nein beantwortet. 3Ist die nach Satz 1 erforder-
II. Bürgerbegehren in den Gemeinden – Auszüge aus Gemeindeordnungen
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liche Mehrheit nicht erreicht worden, hat der Gemeinderat die Angelegenheit zu entscheiden. (7) 1Der Bürgerentscheid hat die Wirkung eines endgültigen Beschlusses des Gemeinderats. 2Er kann innerhalb von drei Jahren nur durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert werden. (8) Das Nähere wird durch das Kommunalwahlgesetz geregelt.
b) Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. August 1998 (GVBl S. 796, BayRS 2020-1-1-I), zuletzt geändert durch § 10 G zur Anpassung von LandesGn an das Bayerische BeamtenG vom 27.7.2009 (GVBl S. 400). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz (GLKrWG) und in der Gemeinde- und Landkreiswahlordnung (GLKrWO). Art. 18a Bürgerbegehren und Bürgerentscheid (1) Die Gemeindebürger können über Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises der Gemeinde einen Bürgerentscheid beantragen (Bürgerbegehren). (2) Der Gemeinderat kann beschließen, daß über eine Angelegenheit des eigenen Wirkungskreises der Gemeinde ein Bürgerentscheid stattfindet. (3) Ein Bürgerentscheid findet nicht statt über Angelegenheiten, die kraft Gesetz dem ersten Bürgermeister obliegen, über Fragen der inneren Organisation der Gemeindeverwaltung, über die Rechtsverhältnisse der Gemeinderatsmitglieder, der Bürgermeister und der Gemeindebediensteten und über die Haushaltssatzung. (4) 1Das Bürgerbegehren muss bei der Gemeinde eingereicht werden und eine mit Ja oder Nein zu entscheidende Fragestellung und eine Begründung enthalten sowie bis zu drei Personen benennen, die berechtigt sind, die Unterzeichnenden zu vertreten. 2Für den Fall ihrer Verhinderung oder ihres Ausscheidens können auf den Unterschriftenlisten zusätzlich stellvertretende Personen benannt werden. (5) 1Das Bürgerbegehren kann nur von Personen unterzeichnet werden, die am Tag der Einreichung des Bürgerbegehrens Gemeindebürger sind. 2Für die Feststellung der Zahl der gültigen Unterschriften ist das von der Gemeinde zum Stand dieses Tages anzulegende Bürgerverzeichnis maßgebend. (6) Ein Bürgerbegehren muss in Gemeinden bis zu 10.000 Einwohnern von mindestens 10 v. H., bis zu 20.000 Einwohnern von mindestens 9 v. H., bis zu 30.000 Einwohnern von mindestens 8 v. H., bis zu 50.000 Einwohnern von mindestens 7 v. H., bis zu 100.000 Einwohnern von mindestens 6 v. H., bis zu 500.000 Einwohnern von mindestens 5 v. H., mit mehr als 500.000 Einwohnern von mindestens 3 v. H. der Gemeindebürger unterschrieben sein.
122 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen (7) (aufgehoben) (8) 1Über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens entscheidet der Gemeinderat unverzüglich, spätestens innerhalb eines Monats nach Einreichung des Bürgerbegehrens. 2Gegen die Entscheidung können die vertretungsberechtigten Personen des Bürgerbegehrens ohne Vorverfahren Klage erheben. (9) Ist die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens festgestellt, darf bis zur Durchführung des Bürgerentscheids eine dem Begehren entgegenstehende Entscheidung der Gemeindeorgane nicht mehr getroffen oder mit dem Vollzug einer derartigen Entscheidung nicht mehr begonnen werden, es sei denn, zu diesem Zeitpunkt haben rechtliche Verpflichtungen der Gemeinde hierzu bestanden. (10) 1Der Bürgerentscheid ist an einem Sonntag innerhalb von drei Monaten nach der Feststellung der Zulässigkeit des Bürgerbegehrens durchzuführen; der Gemeinderat kann die Frist im Einvernehmen mit den vertretungsberechtigten Personen des Bürgerbegehrens um höchstens drei Monate verlängern. 2Die Kosten des Bürgerentscheids trägt die Gemeinde. 3Stimmberechtigt ist jeder Gemeindebürger. 4Die Möglichkeit der brieflichen Abstimmung ist zu gewährleisten. (11) 1Ist in einem Stadtbezirk ein Bezirksausschuß gebildet worden, so kann über Angelegenheiten, die diesem Bezirksausschuß zur Entscheidung übertragen sind, auch innerhalb des Stadtbezirks ein Bürgerentscheid stattfinden. 2Stimmberechtigt ist jeder im Stadtbezirk wohnhafte Gemeindebürger. 3Das Bürgerbegehren ist beim Bezirksausschuss zur Weiterleitung an den Stadtrat einzureichen. 4Die Vorschriften der Absätze 2 bis 16 finden entsprechend Anwendung. (12) 1Bei einem Bürgerentscheid ist die gestellte Frage in dem Sinn entschieden, in dem sie von der Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen beantwortet wurde, sofern diese Mehrheit in Gemeinden bis zu 50.000 Einwohnern mindestens 20 v. H., bis zu 100.000 Einwohnern mindestens 15 v. H., mit mehr als 100.000 Einwohnern mindestens 10 v. H. der Stimmberechtigten beträgt. 2
Bei Stimmengleichheit gilt die Frage als mit Nein beantwortet. 3Sollen an einem Tag mehrere Bürgerentscheide stattfinden, hat der Gemeinderat eine Stichfrage für den Fall zu beschließen, dass die gleichzeitig zur Abstimmung gestellten Fragen in einer miteinander nicht zu vereinbarenden Weise beantwortet werden (Stichentscheid). 4Es gilt dann diejenige Entscheidung, für die sich im Stichentscheid die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen ausspricht. 5Bei Stimmengleichheit im Stichentscheid gilt der Bürgerentscheid, dessen Frage mit der höchsten Stimmenzahl mehrheitlich beantwortet worden ist. (13) 1Der Bürgerentscheid hat die Wirkung eines Beschlusses des Gemeinderats. Der Bürgerentscheid kann innerhalb eines Jahres nur durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert werden, es sei denn, dass sich die dem Bürgerentscheid zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage wesentlich geändert hat.
2
(14) 1Der Bürgerentscheid entfällt, wenn der Gemeinderat die Durchführung der mit dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahme beschließt. 2Für einen Beschluss nach Satz 1 gilt die Bindungswirkung des Absatzes 13 Satz 2 entsprechend.
II. Bürgerbegehren in den Gemeinden – Auszüge aus Gemeindeordnungen
123
(15) 1Die im Gemeinderat und die von den vertretungsberechtigten Personen des Bürgerbegehrens vertretenen Auffassungen zum Gegenstand des Bürgerentscheids dürfen in Veröffentlichungen und Veranstaltungen der Gemeinde nur in gleichem Umfang dargestellt werden. 2Zur Information der Bürgerinnen und Bürger werden von der Gemeinde den Beteiligten die gleichen Möglichkeiten wie bei Gemeinderatswahlen eröffnet. (16) Das Ergebnis des Bürgerentscheids ist in der Gemeinde in der ortsüblichen Weise bekanntzumachen. (17) 1Die Gemeinden können das Nähere durch Satzung regeln. 2Das Recht auf freies Unterschriftensammeln darf nicht eingeschränkt werden. (18) Art. 3a des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes findet keine Anwendung.
c) Gemeindeordnung für das Land Brandenburg in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. Oktober 2001(GVBl. I S. 154, Sa BbgLR 202-1a), zuletzt geändert durch Art. 4 Abs. 1 Satz 4 KommunalrechtsreformG vom 18.12.2007 (GVBl. I S. 286). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Brandenburgischen Kommunalwahlgesetz (BbgKWahlG) und in der Brandenburgischen Kommunalwahlverordnung (BbgKWahlV). § 20 Bürgerbegehren, Bürgerentscheid (1) 1Über eine Gemeindeangelegenheit kann die Bürgerschaft einen Bürgerentscheid beantragen (Bürgerbegehren). 2Das Bürgerbegehren muss schriftlich eingereicht werden. 3§ 3a des Verwaltungsverfahrensgesetzes für das Land Brandenburg findet keine Anwendung. 4Richtet sich das Bürgerbegehren gegen einen Beschluss der Gemeindevertretung oder des Hauptausschusses, muss es innerhalb von sechs Wochen nach der öffentlichen Bekanntgabe des Beschlusses eingereicht werden. 5 Das Bürgerbegehren muss die zur Entscheidung zu bringende Frage, eine Begründung und einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag zur Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme im Rahmen des Gemeindehaushalts enthalten. 6Es muss von mindestens zehn vom Hundert der Bürger unterzeichnet sein. (2) 1Über die Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens entscheidet die Gemeindevertretung. 2Ist das Bürgerbegehren zulässig, ist die Angelegenheit den Bürgern der Gemeinde zur Abstimmung vorzulegen (Bürgerentscheid). 3Der Bürgerentscheid entfällt, wenn die Gemeindevertretung oder der Hauptausschuss die Durchführung der mit dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahme beschließt. (3) Ein Bürgerentscheid findet nicht statt über a) Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung und Auftragsangelegenheiten, b) Fragen der inneren Organisation der Gemeindeverwaltung und der Gemeindevertretung,
124 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen c) die Rechtsverhältnisse der Gemeindevertreter, des Bürgermeisters und der Gemeindebediensteten, d) die Haushaltssatzung einschließlich der Wirtschaftspläne der Eigenbetriebe, e) Gemeindeabgaben und die Tarife der Versorgungs- und Verkehrsbetriebe der Gemeinde, f) die Feststellung der Jahresrechnung der Gemeinde und der Jahresabschlüsse der Eigenbetriebe, g) Satzungen, in denen ein Anschluss- oder Benutzungszwang geregelt werden soll, h) Entscheidungen in Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelverfahren, i) Anträge, die ein gesetzwidriges Ziel verfolgen, j) die Aufstellung, Änderung und Aufhebung von Bauleitplänen, Entscheidungen nach § 36 des Baugesetzbuches und Angelegenheiten, über die im Rahmen eines Planfeststellungsverfahrens oder eines förmlichen Verwaltungsverfahrens zu entscheiden ist, k) Angelegenheiten, für die die Gemeindevertretung keine gesetzliche Zuständigkeit hat. (4) 1Bei einem Bürgerentscheid kann über die gestellte Frage nur mit Ja oder Nein abgestimmt werden. 2Die Frage ist in dem Sinne entschieden, in dem sie von der Mehrheit der gültigen Stimmen beantwortet wurde, sofern diese Mehrheit mindestens 25 vom Hundert der Stimmberechtigten beträgt. 3Bei Stimmengleichheit gilt die Frage als mit Nein beantwortet. 4Ist die nach Satz 2 erforderliche Mehrheit nicht erreicht worden, hat die Gemeindevertretung die Angelegenheit zu entscheiden, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. (5) 1Ein Bürgerentscheid, bei dem die nach Absatz 4 Satz 2 erforderliche Mehrheit von Ja-Stimmen zustande gekommen ist, hat die Wirkung eines endgültigen Beschlusses der Gemeindevertretung. 2Er kann innerhalb von zwei Jahren nur durch einen neuen Bürgerentscheid, der aufgrund eines Bürgerbegehrens oder aufgrund eines Beschlusses der Gemeindevertretung zustande gekommen ist, geändert werden. (6) Die Gemeindevertretung kann mit der Mehrheit ihrer Mitglieder beschließen, dass über den Zusammenschluss der Gemeinde mit einer anderen Gemeinde ein Bürgerentscheid durchgeführt wird. (7) 1Im übrigen gelten die Bestimmungen des Brandenburgischen Kommunalwahlgesetzes mit Ausnahme der Bestimmungen über Wahlschein und Briefwahl sinngemäß. 2Der Minister des Innern kann durch Rechtsverordnung das Nähere bestimmen.293
d) Hessische Gemeindeordnung in der Fassung vom 7. März 2005 (GVBl. I S. 142, GVBl. II 331-1), zuletzt geändert durch Art. 3 G zur Änd. des Hessischen KommunalwahlG und anderer G vom 24.3.2010 (GVBl. I S. 119). 293
Siehe die Brandenburgische Kommunalwahlverordnung (BbgKWahlV).
II. Bürgerbegehren in den Gemeinden – Auszüge aus Gemeindeordnungen
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Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Hessischen Kommunalwahlgesetz (KWG) und in der Hessischen Kommunalwahlordnung (KWO). § 8b Bürgerbegehren und Bürgerentscheid (1) Die Bürger einer Gemeinde können über eine wichtige Angelegenheit der Gemeinde einen Bürgerentscheid beantragen (Bürgerbegehren). (2) Ein Bürgerentscheid findet nicht statt über 1. Weisungsaufgaben und Angelegenheiten, die kraft Gesetzes dem Gemeindevorstand oder dem Bürgermeister obliegen, 2. Fragen der inneren Organisation der Gemeindeverwaltung, 3. die Rechtsverhältnisse der Gemeindevertreter, der Mitglieder des Gemeindevorstands und der sonstigen Gemeindebediensteten, 4. die Haushaltssatzung (einschließlich der Wirtschaftspläne der Eigenbetriebe), die Gemeindeabgaben und die Tarife der Versorgungs- und Verkehrsbetriebe der Gemeinde, 5. die Feststellung der Jahresrechnung oder des Jahresabschlusses (§§ 112 und 114s) der Gemeinde und der Jahresabschlüsse der Eigenbetriebe, 6. Entscheidungen im Rechtsmittelverfahren sowie über 7. Anträge, die ein gesetzwidriges Ziel verfolgen. (3) 1Das Bürgerbegehren ist schriftlich bei dem Gemeindevorstand einzureichen; richtet es sich gegen einen Beschluss der Gemeindevertretung, muss es innerhalb von sechs Wochen nach Bekanntgabe des Beschlusses eingereicht sein. 2Es muss die zu entscheidende Frage, eine Begründung und einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag für die Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme enthalten sowie bis zu drei Vertrauenspersonen bezeichnen, die zur Entgegennahme von Mitteilungen und Entscheidungen der Gemeinde sowie zur Abgabe von Erklärungen gegenüber dem Gemeindevorstand ermächtigt sind. 3Das Bürgerbegehren muss von mindestens zehn vom Hundert der bei der letzten Gemeindewahl amtlich ermittelten Zahl der wahlberechtigten Einwohner unterzeichnet sein; die Wahlberechtigung der Unterzeichner muss im Zeitpunkt der Unterzeichnung gegeben sein. 4§ 3a des Hessischen Verwaltungsverfahrensgesetzes findet keine Anwendung. (4) 1Ein Bürgerbegehren darf nur Angelegenheiten zum Gegenstand haben, über die innerhalb der letzten drei Jahre nicht bereits ein Bürgerentscheid durchgeführt worden ist. 2Über die Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens entscheidet die Gemeindevertretung. 3Der Bürgerentscheid entfällt, wenn die Gemeindevertretung die Durchführung der mit dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahmen beschließt. (5) Wird ein Bürgerentscheid durchgeführt, muss den Bürgern die von den Gemeindeorganen vertretene Auffassung dargelegt werden. (6) 1Bei einem Bürgerentscheid ist die gestellte Frage in dem Sinne entschieden, in dem sie von der Mehrheit der gültigen Stimmen beantwortet wurde, sofern diese Mehrheit mindestens fünfundzwanzig vom Hundert der Stimmberechtigten beträgt.
126 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen 2
Bei Stimmengleichheit gilt die Frage als mit Nein beantwortet. 3Ist die nach Satz 1 erforderliche Mehrheit nicht erreicht worden, hat die Gemeindevertretung die Angelegenheit zu entscheiden.
(7) 1Der Bürgerentscheid, der die nach Abs. 6 erforderliche Mehrheit erhalten hat, hat die Wirkung eines endgültigen Beschlusses der Gemeindevertretung. 2Die Gemeindevertretung kann einen Bürgerentscheid frühestens nach drei Jahren abändern. 3Die §§ 63 und 138 finden keine Anwendung. (8) Das Nähere regelt das Hessische Kommunalwahlgesetz.
e) Kommunalverfassung für das Land Mecklenburg-Vorpommern in der Fassung der Bekanntmachung vom 8. Juni 2004 (GVOBl. M-V S. 205, GS Meckl.-Vorp. Gl. Nr. 2020-2), zuletzt geändert durch Art. 3 Abs. 2 ÄndG vom 13.7.2011 (GVOBl. M-V S. 777). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Kommunalwahlgesetz (KWG) in der Landes-und Kommunalwahlordnung (LKWO M-V).
§ 20 Bürgerentscheid, Bürgerbegehren (1) 1Wichtige Entscheidungen in Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises können statt durch Beschluss der Gemeindevertretung durch die Bürger selbst getroffen werden (Bürgerentscheid). 2Ein Bürgerentscheid oder ein Beschluss nach Absatz 6 Satz 5 kann innerhalb von zwei Jahren nur durch einen neuen Bürgerentscheid geändert oder aufgehoben werden. (2) Ein Bürgerentscheid findet nicht statt über 1. die innere Organisation der Verwaltung, 2. die Rechtsverhältnisse der für die Gemeinde haupt- oder ehrenamtlich tätigen Personen, 3. Entscheidungen im Rahmen des gemeindlichen Haushalts-, Rechnungsprüfungsund Abgabenwesens und in diesem Rahmen auch Entscheidungen über Entgelte und kommunale Betriebe, 4. Entscheidungen nach § 36 des Baugesetzbuches, die Aufstellung, Änderung und Aufhebung von Bauleitplänen sowie sonstige Angelegenheiten, die im Rahmen eines Planfeststellungsverfahrens oder eines förmlichen Verwaltungsverfahrens mit Öffentlichkeitsbeteiligung oder eines abfallrechtlichen, immissionsschutzrechtlichen, wasserrechtlichen oder vergleichbaren Zulassungsverfahrens zu entscheiden sind, 5. die Beteiligung an kommunaler Zusammenarbeit, 6. Satzungen, durch die ein Anschluss- oder Benutzungszwang geregelt wird, sowie 7. Anträge, die ein gesetzwidriges Ziel verfolgen. (3) 1Die Gemeindevertretung kann im Benehmen mit der Rechtsaufsichtsbehörde mit der Mehrheit aller Gemeindevertreter die Durchführung eines Bürgerentscheides
II. Bürgerbegehren in den Gemeinden – Auszüge aus Gemeindeordnungen
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beschließen. 2Der Beschluss muss die zu entscheidende Frage enthalten und den Zeitpunkt des Bürgerentscheides bestimmen. (4) 1Die Bürger können die Durchführung eines Bürgerentscheides beantragen (Bürgerbegehren), wenn innerhalb der letzten zwei Jahre nicht bereits ein Bürgerentscheid zur gleichen Angelegenheit durchgeführt worden ist. 2Richtet sich der Antrag gegen einen Beschluss der Gemeindevertretung, muss er innerhalb von sechs Wochen nach der Bekanntgabe des Beschlusses gestellt werden, es sei denn, der Beschluss wurde noch nicht durchgeführt. (5) 1Das Bürgerbegehren muss schriftlich an den Vorsitzenden der Gemeindevertretung gerichtet werden und die zu entscheidende Frage, eine Begründung und einen durchführbaren Vorschlag zur Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme enthalten. 2Hinsichtlich der Kostendeckung können die Bürger Beratung durch die Gemeinde in Anspruch nehmen. 3Das Bürgerbegehren muss in Gemeinden bis 50.000 Einwohnern von mindestens 10 vom Hundert der Bürger, in Städten mit mehr als 50.000 Einwohnern von mindestens 4.000 Bürgern unterzeichnet sein. 4 Über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens und den Zeitpunkt des Bürgerentscheides entscheidet die Gemeindevertretung unverzüglich im Benehmen mit der Rechtsaufsichtsbehörde. 5Der Bürgerentscheid entfällt, wenn die Gemeindevertretung oder der Hauptausschuss die Durchführung der beantragten Maßnahme beschließt. (6) 1Bei einem Bürgerentscheid ist die gestellte Frage in dem Sinne entschieden, in dem sie von der Mehrheit der gültigen Stimmen beantwortet wurde, sofern diese Mehrheit mindestens 25 vom Hundert der Stimmberechtigten beträgt. 2Bei Stimmengleichheit gilt die Frage als mit Nein beantwortet. 3Ist die nach Satz 1 erforderliche Mehrheit nicht erreicht worden, hat die Gemeindevertretung die Angelegenheit zu entscheiden. (7) 1Ein Bürgerentscheid über die Abberufung des Bürgermeisters kann nur durch einen Beschluss der Gemeindevertretung herbeigeführt werden. 2Dieser Beschluss bedarf der Mehrheit von zwei Dritteln aller Gemeindevertreter. 3Der Bürgerentscheid bedarf der Mehrheit von zwei Dritteln der gültigen Stimmen, wobei diese Mehrheit mindestens einem Drittel der Stimmberechtigten entsprechen muss. 4Absatz 6 Satz 3 findet keine Anwendung. 5Mit dem Tag nach der Bekanntgabe des erfolgreichen Bürgerentscheids tritt der hauptamtliche Bürgermeister in den einstweiligen Ruhestand, soweit dies nach den beamtenrechtlichen Vorschriften zulässig ist. (8) Das Nähere regelt das Innenministerium durch Rechtsverordnung nach § 174 Abs. 1 Nr. 5.294
f) Niedersachsen aa) Niedersächsische Gemeindeordnung (gültig bis 31.10.2011) in der Fassung vom 28. Oktober 2006 (Nds. GVBl. S. 473, ber. Nds. GVBl. 2010, S. 41, GVBl Sb 20300 03), zuletzt geändert durch Art. 20 des Gesetzes vom 07.10.2010 (Nds. GVBl. S. 462, aufgehoben durch Art. 4 Abs. 1 G zur Zusammen294
Siehe die Landes-und Kommunalwahlordnung (LKWO M-V).
128 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen fassung und Modernisierung des nds. KommunalverfassungsR vom 17.12.2010 (Nds. GVBl. S. 576). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Niedersächsischen Kommunalwahlgesetz (NKWG) und in der Niedersächsischen Kommunalwahlordnung (NKWO). § 22b Bürgerbegehren, Bürgerentscheid (1) 1Mit einem Bürgerbegehren kann beantragt werden, dass die Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinde über eine Angelegenheit der Gemeinde entscheiden (Bürgerentscheid). (2) 1Gegenstand eines Bürgerbegehrens können nur Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises sein, für die der Rat nach § 40 Abs. 1 zuständig ist oder für die er sich die Beschlussfassung nach § 40 Abs. 2 Sätze 1 und 2 vorbehalten kann und zu denen nicht innerhalb der letzten zwei Jahre ein Bürgerentscheid durchgeführt worden ist. 2Unzulässig ist ein Bürgerbegehren über 1. die innere Organisation der Gemeindeverwaltung, 2. die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Rates, des Verwaltungsausschusses, der Stadtbezirksräte, der Ortsräte und der Ausschüsse sowie der Bediensteten der Gemeinde, 3. die Haushaltssatzung einschließlich der Wirtschaftspläne der Eigenbetriebe sowie die kommunalen Abgaben und die privatrechtlichen Entgelte, 4. den Jahresabschluss der Gemeinde und die Jahresabschlüsse der Eigenbetriebe, 5. Angelegenheiten, die im Rahmen eines Planfeststellungsverfahrens oder eines förmlichen Verwaltungsverfahrens mit Öffentlichkeitsbeteiligung oder eines abfallrechtlichen, immissionsschutzrechtlichen, wasserrechtlichen oder vergleichbaren Zulassungsverfahrens zu entscheiden sind, 6. die Aufstellung, Änderung, Ergänzung und Aufhebung von Bauleitplänen und sonstigen Satzungen nach dem Baugesetzbuch (BauGB) und dem Maßnahmengesetz zum Baugesetzbuch, 7. Entscheidungen über Rechtsbehelfe und Rechtsstreitigkeiten, 8. Angelegenheiten, die ein gesetzwidriges Ziel verfolgen oder gegen die guten Sitten verstoßen. (3) 1Das Bürgerbegehren muss die gewünschte Sachentscheidung so genau bezeichnen, dass über sie im Bürgerentscheid mit Ja oder Nein abgestimmt werden kann. 2Das Bürgerbegehren muss eine Begründung sowie einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag zur Deckung der mit der Ausführung der Entscheidung verbundenen Kosten oder Einnahmeausfälle enthalten. 3Das Bürgerbegehren benennt bis zu drei Personen, die berechtigt sind, die Unterzeichnenden zu vertreten. 4Das Bürgerbegehren ist der Gemeinde schriftlich anzuzeigen. 5Wenn dies in der Anzeige beantragt wird, hat der Verwaltungsausschuss unverzüglich zu entscheiden, ob die Voraussetzungen nach den Sätzen 1 bis 3 und Absatz 2 vorliegen.
II. Bürgerbegehren in den Gemeinden – Auszüge aus Gemeindeordnungen
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(4) 1Das Bürgerbegehren muss von mindestens 10 vom Hundert der nach § 34 in der Gemeinde Wahlberechtigten unterzeichnet sein; dabei ist die bei der letzten Kommunalwahl festgestellte Zahl der Wahlberechtigten maßgeblich. 2§ 22a Abs. 3 gilt entsprechend. (5) 1Das Bürgerbegehren ist mit den zu seiner Unterstützung erforderlichen Unterschriften binnen sechs Monaten, beginnend mit dem Eingang der Anzeige, bei der Gemeinde schriftlich einzureichen; die elektronische Form ist ausgeschlossen. 2 Wurde eine Entscheidung nach Absatz 3 Satz 5 beantragt, so beginnt die Frist mit der Bekanntgabe der Entscheidung, dass die Voraussetzungen der Absätze 2 und 3 Sätze 1 bis 3 vorliegen. 3Richtet sich das Bürgerbegehren gegen einen bekannt gemachten Beschluss des Rates, so beträgt die Frist drei Monate nach dem Tag der Bekanntmachung. (6) 1Der Verwaltungsausschuss entscheidet unverzüglich über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens. 2Liegt bereits eine Entscheidung nach Absatz 3 Satz 5 vor, so entscheidet er nur noch darüber, ob die Voraussetzungen der Absätze 4 und 5 vorliegen. 3Ist das Bürgerbegehren zulässig, so ist über die begehrte Sachentscheidung innerhalb von drei Monaten ein Bürgerentscheid herbeizuführen. (7) Am Tage der Wahl der Ratsfrauen und Ratsherren oder der Bürgermeisterin oder des Bürgermeisters findet kein Bürgerentscheid statt. (8) 1Das Bürgerbegehren hindert die Gemeinde nicht daran, über die vom Bürgerbegehren betroffene Angelegenheit selbst zu entscheiden. 2Die Gemeinde kann getroffene Entscheidungen vollziehen, die den Gegenstand des Bürgerbegehrens betreffen. 3Der Rat kann den Bürgerentscheid dadurch abwenden, dass er zuvor vollständig oder im wesentlichen im Sinne des Bürgerbegehrens entscheidet. (9) 1Bei dem Bürgerentscheid darf die Stimme nur auf Ja oder Nein lauten. 2Die Abstimmenden geben ihre Entscheidung durch ein Kreuz oder in sonstiger Weise zweifelsfrei auf dem Stimmzettel zu erkennen. 3Dem Bürgerbegehren ist entsprochen, wenn die Mehrheit der gültigen Stimmen auf Ja lautet, sofern diese Mehrheit mindestens 25 vom Hundert der nach § 34 Wahlberechtigten beträgt; Absatz 4 Satz 1 Halbsatz 2 gilt entsprechend. 4Bei Stimmengleichheit gilt das Bürgerbegehren als abgelehnt. (10) 1Der Bürgerentscheid hat die Wirkung eines Ratsbeschlusses. 2Vor Ablauf von zwei Jahren kann er nur auf Antrag des Rates durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert werden. (11) 1Ist ein Bürgerbegehren, das auf einen nach Absatz 2 zulässigen Gegenstand gerichtet war, nach seiner Anzeige dadurch unzulässig geworden, dass es durch eine Maßnahme der Gemeinde vollständig erledigt ist, und ist die Erledigung nicht vollständig oder im Wesentlichen im Sinne des Bürgerbegehrens erfolgt, so kann Gegenstand eines neuen Bürgerbegehrens die Missbilligung der Maßnahme sein. 2Für dieses Begehren gelten die Absätze 3 bis 7 und 9 entsprechend. (12) Die Landesregierung wird ermächtigt, das Nähere über die Durchführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden durch Verordnung zu regeln.295 295
Siehe die Niedersächsische Kommunalwahlordnung (NKWO).
130 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen
bb) Niedersächsisches Kommunalverfassungsgesetz (gültig ab 1.11.2011) in der Fassung vom 17.12.2010 (Nds. GVBl. 2010, S. 576).
§ 32 Bürgerbegehren (1) Mit einem Bürgerbegehren kann beantragt werden, dass Bürgerinnen und Bürger über eine Angelegenheit ihrer Kommune entscheiden. (2) 1Gegenstand eines Bürgerbegehrens können nur Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises der Kommune sein, für die die Vertretung nach § 58 Abs. 1 oder 2 zuständig ist oder für die sie sich die Beschlussfassung nach § 58 Abs. 3 Sätze 1 und 2 vorbehalten kann und zu denen nicht innerhalb der letzten zwei Jahre ein Bürgerentscheid durchgeführt worden ist. 2Unzulässig ist ein Bürgerbegehren über 1. die innere Organisation der Kommunalverwaltung, 2. die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Vertretung, des Hauptausschusses, der Stadtbezirksräte, der Ortsräte und der Ausschüsse sowie der Beschäftigten der Kommune, 3. die Haushaltssatzung, einschließlich der Haushalts- und Wirtschaftspläne der Eigenbetriebe, sowie über die kommunalen Abgaben und die privatrechtlichen Entgelte, 4. den Jahresabschluss der Kommune und die Jahresabschlüsse der Eigenbetriebe, 5. Angelegenheiten, die im Rahmen eines Planfeststellungsverfahrens, eines förmlichen Verwaltungsverfahrens mit Öffentlichkeitsbeteiligung oder eines abfallrechtlichen, immissionsschutzrechtlichen, wasserrechtlichen oder vergleichbaren Zulassungsverfahrens zu entscheiden sind, 6. die Aufstellung, Änderung, Ergänzung und Aufhebung von Bauleitplänen und sonstigen Satzungen nach dem Baugesetzbuch (BauGB), 7. Entscheidungen über Rechtsbehelfe und Rechtsstreitigkeiten sowie 8. Angelegenheiten, die ein gesetzwidriges Ziel verfolgen oder sittenwidrig sind. (3) 1Das Bürgerbegehren muss die begehrte Sachentscheidung genau bezeichnen und so formuliert sein, dass für das Begehren mit Ja und gegen das Begehren mit Nein abgestimmt werden kann. 2Das Bürgerbegehren muss eine Begründung sowie einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag enthalten, wie Kosten oder Einnahmeausfälle der Kommune zu decken sind, die mit der Ausführung der Sachentscheidung entstehen würden. 3Im Bürgerbegehren sind bis zu drei Personen zu benennen, die berechtigt sind, die antragstellenden Personen zu vertreten. 4Das Bürgerbegehren ist der Kommune in schriftlicher Form anzuzeigen. 5Wenn in der Anzeige beantragt wird, zu entscheiden, ob die Voraussetzungen nach den Sätzen 1 bis 3 und Absatz 2 vorliegen, hat der Hauptausschuss diese Entscheidung unverzüglich zu treffen. (4) 1Das Bürgerbegehren muss von mindestens 10 Prozent, in der Region Hannover von mindestens 48.000 der nach § 48 in der Kommune wahlberechtigten Einwohnerinnen und Einwohner unterzeichnet sein; dabei ist die bei der letzten Kom-
II. Bürgerbegehren in den Gemeinden – Auszüge aus Gemeindeordnungen
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munalwahl festgestellte Zahl der Wahlberechtigten maßgeblich. 2§ 31 Abs. 3 gilt entsprechend. (5) 1Das Bürgerbegehren ist mit den zu seiner Unterstützung erforderlichen Unterschriften innerhalb von sechs Monaten bei der Kommune in schriftlicher Form einzureichen. 2Die Frist beginnt mit dem Eingang der Anzeige bei der Kommune. 3 Die elektronische Form ist unzulässig. 4Wurde eine Entscheidung nach Absatz 3 Satz 5 beantragt, so beginnt die Frist mit der Bekanntgabe der Entscheidung, dass die Voraussetzungen der Absätze 2 und 3 Sätze 1 bis 3 vorliegen. 5Richtet sich das Bürgerbegehren gegen einen bekannt gemachten Beschluss der Vertretung, so beträgt die Frist drei Monate nach dem Tag der Bekanntmachung. (6) 1Das Bürgerbegehren hindert die Kommune nicht daran, über die im Bürgerbegehren bezeichnete Angelegenheit selbst zu entscheiden. 2Die Kommune kann getroffene Entscheidungen vollziehen, die das Bürgerbegehren betreffen. (7) 1Der Hauptausschuss entscheidet unverzüglich über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens. 2Liegt bereits eine Entscheidung nach Absatz 3 Satz 5 vor, so entscheidet er lediglich darüber, ob die Voraussetzungen der Absätze 4 und 5 vorliegen. 3Ist das Bürgerbegehren zulässig, so ist innerhalb von drei Monaten ein Bürgerentscheid herbeizuführen. 4Die Vertretung kann den Bürgerentscheid abwenden, indem sie zuvor vollständig oder im Wesentlichen im Sinne des Bürgerbegehrens entscheidet. § 33 Bürgerentscheid (1) 1Der Bürgerentscheid findet an einem Sonntag in der Zeit von 8.00 Uhr bis 18.00 Uhr statt. 2Ein Bürgerentscheid darf nicht an dem Tag stattfinden, an dem Abgeordnete der Vertretung oder die Hauptverwaltungsbeamtin oder der Hauptverwaltungsbeamte gewählt werden. (2) 1Die Abstimmungsberechtigten sind rechtzeitig vor dem Bürgerentscheid schriftlich zu benachrichtigen. 2Die Abstimmung in Briefform ist zu ermöglichen. 3 Die Abstimmung soll in den Räumen stattfinden, die bei der letzten Kommunalwahl als Wahlräume bestimmt worden sind. (3) 1Bei dem Bürgerentscheid darf nur mit Ja oder Nein abgestimmt werden. Die Abstimmenden geben ihre Entscheidung durch ein Kreuz oder in sonstiger Weise zweifelsfrei auf dem Stimmzettel zu erkennen. 3Der Bürgerentscheid ist verbindlich, wenn die Mehrheit der gültigen Stimmen auf Ja lautet und diese Mehrheit mindestens 25 Prozent der nach § 48 Wahlberechtigten beträgt; § 32 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2 gilt entsprechend. 4Bei Stimmengleichheit ist das Bürgerbegehren abgelehnt.
2
(4) 1Ein verbindlicher Bürgerentscheid steht einem Beschluss der Vertretung gleich. 2Vor Ablauf von zwei Jahren kann der Bürgerentscheid nur auf Veranlassung der Vertretung durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert oder aufgehoben werden.
132 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen
g) Gemeindeordnung für das Land Nordrhein-Westfalen in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. Juli 1994 (GV. NW. S. 666, SGV. NRW. 2023), zuletzt geändert durch Art. 1 ÄndG vom 24.5.2011 (GV. NRW. S. 271). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Kommunalwahlgesetz (KWahlG), in der Kommunalwahlordnung (KWahlO) und in der Verordnung zur Durchführung eines Bürgerentscheides (BürgerentscheidDVO). § 26 Bürgerbegehren und Bürgerentscheid (1) 1Die Bürger können beantragen (Bürgerbegehren), daß sie an Stelle des Rates über eine Angelegenheit der Gemeinde selbst entscheiden (Bürgerentscheid). 2Der Rat kann mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Zahl der Mitglieder beschließen, dass über eine Angelegenheit der Gemeinde ein Bürgerentscheid stattfindet (Ratsbürgerentscheid). 3Absatz 2 Satz 1 sowie die Absätze 5, 7, 8 und 10 gelten entsprechend. (2) 1Das Bürgerbegehren muß schriftlich eingereicht werden und die zur Entscheidung zu bringende Frage, eine Begründung sowie einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag für die Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme enthalten. 2Es muß bis zu drei Bürger benennen, die berechtigt sind, die Unterzeichnenden zu vertreten. 3Die Verwaltung ist in den Grenzen ihrer Verwaltungskraft ihren Bürgern bei der Einleitung eines Bürgerbegehrens behilflich. (3) 1Richtet sich ein Bürgerbegehren gegen einen Beschluß des Rates, muß es innerhalb von sechs Wochen nach der Bekanntmachung des Beschlusses eingereicht sein. 2Gegen einen Beschluß, der nicht der Bekanntmachung bedarf, beträgt die Frist drei Monate nach Sitzungstag. (4) 1Ein Bürgerbegehren muss in Gemeinden – bis 10.000 Einwohner von 10 % – bis 20.000 Einwohner von 9 % – bis 30.000 Einwohner von 8 % – bis 50.000 Einwohner von 7 % – bis 100.000 Einwohner von 6 % – bis 200.000 Einwohner von 5 % – bis 500.000 Einwohner von 4 % – über 500.000 Einwohner von 3 % der Bürger unterzeichnet sein. 2
Die Angaben werden von der Gemeinde geprüft. 3Im übrigen gilt § 25 Abs. 4 entsprechend. (5) Ein Bürgerbegehren ist unzulässig über 1. die innere Organisation der Gemeindeverwaltung, 2. die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Rates, der Bezirksvertretungen und der Ausschüsse sowie der Bediensteten der Gemeinde,
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3. die Haushaltssatzung einschließlich der Wirtschaftspläne der Eigenbetriebe sowie die kommunalen Abgaben und die privatrechtlichen Entgelte, 4. die Eröffnungsbilanz, den Jahresabschluss und den Gesamtabschluss der Gemeinde und den Jahresabschluß der Eigenbetriebe, 5. Angelegenheiten, die im Rahmen eines Planfeststellungsverfahrens oder eines förmlichen Verwaltungsverfahrens mit Öffentlichkeitsbeteiligung oder eines abfallrechtlichen, immissionsschutzrechtlichen, wasserrechtlichen oder vergleichbaren Zulassungsverfahrens zu entscheiden sind, 6. die Aufstellung, Änderung, Ergänzung und Aufhebung von Bauleitplänen, 7. Entscheidungen über Rechtsbehelfe und Rechtsstreitigkeiten, 8. Angelegenheiten, für die der Rat keine gesetzliche Zuständigkeit hat, 9. Anträge, die ein gesetzwidriges Ziel verfolgen oder gegen die guten Sitten verstoßen, 10. Angelegenheiten, über die innerhalb der letzten zwei Jahre bereits ein Bürgerentscheid durchgeführt worden ist. (6) 1Der Rat stellt unverzüglich fest, ob das Bürgerbegehren zulässig ist. 2Gegen die ablehnende Entscheidung des Rates können nur die Vertreter des Bürgerbegehrens nach Absatz 2 Satz 2 Widerspruch einlegen. 3Entspricht der Rat dem zulässigen Bürgerbegehren nicht, so ist innerhalb von drei Monaten ein Bürgerentscheid durchzuführen. 4Entspricht der Rat dem Bürgerbegehren, so unterbleibt der Bürgerentscheid. 5Den Vertretern des Bürgerbegehrens soll Gelegenheit gegeben werden, den Antrag in der Sitzung des Rates zu erläutern. 6Ist die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens festgestellt, darf bis zur Feststellung des Ergebnisses des Bürgerentscheids eine dem Begehren entgegenstehende Entscheidung der Gemeindeorgane nicht mehr getroffen oder mit dem Vollzug einer derartigen Entscheidung nicht mehr begonnen werden, es sei denn, zu diesem Zeitpunkt haben rechtliche Verpflichtungen der Gemeinde hierzu bestanden (Sperrwirkung des zulässigen Bürgerbegehrens). (7) 1Bei einem Bürgerentscheid kann über die gestellte Frage nur mit Ja oder Nein abgestimmt werden. 2Die Frage ist in dem Sinne entschieden, in dem sie von der Mehrheit der gültigen Stimmen beantwortet wurde, sofern diese Mehrheit mindestens 20 vom Hundert der Bürger beträgt. 3Bei Stimmengleichheit gilt die Frage als mit Nein beantwortet. (8) 1Der Bürgerentscheid hat die Wirkung eines Ratsbeschlusses. 2Vor Ablauf von zwei Jahren kann er nur auf Initiative des Rates durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert werden. (9) 1In kreisfreien Städten können Bürgerbegehren und Bürgerentscheid in einem Stadtbezirk durchgeführt werden, wenn es sich um eine Angelegenheit handelt, für welche die Bezirksvertretung zuständig ist. 2Die Absätze 1 bis 8 gelten entsprechend mit der Maßgabe, daß 1. das Bürgerbegehren von im Stadtbezirk wohnenden Bürgern unterzeichnet sein muß.
134 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen 2. bei einem Bürgerentscheid nur die im Stadtbezirk wohnenden Bürger stimmberechtigt sind, 3. die Bezirksvertretung mit Ausnahme der Entscheidung nach Absatz 6 Satz 1 an die Stelle des Rates tritt. (10) 1Das Innenministerium kann durch Rechtsverordnung das Nähere über die Durchführung des Bürgerbegehrens und des Bürgerentscheids regeln.296 2Dabei sind die § 32 Abs. 6, § 34a und § 41 der Kommunalwahlordnung zu berücksichtigen.
h) Gemeindeordnung für das Land Rheinland-Pfalz vom 31. Januar 1994 (GVBl. S. 153, BS Rh-Pf 2020-1), zuletzt geändert durch § 142 Abs. 3 Landesbeamtengesetz vom 20.10.2010 (GVBl. S. 319). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Kommunalwahlgesetz (KWG) und in der Kommunalwahlordnung (KWO). § 17a Bürgerbegehren und Bürgerentscheid (1) 1Die Bürger einer Gemeinde können über eine wichtige Angelegenheit der Gemeinde einen Bürgerentscheid beantragen (Bürgerbegehren). 2Wichtige Angelegenheiten sind: 1. die Errichtung, wesentliche Erweiterung und Aufhebung einer öffentlichen Einrichtung, die der Gesamtheit der Einwohner zu dienen bestimmt ist, 2. die Änderung des Gemeindegebiets und die Änderung des Gebiets von Verbandsgemeinden nach § 65 Abs. 2, 3. die Bildung, Änderung und Auflösung von Ortsbezirken. 3
In der Hauptsatzung kann bestimmt werden, welche weiteren Gemeindeangelegenheiten als wichtig gelten. (2) Ein Bürgerentscheid ist nicht zulässig über 1. Angelegenheiten, die kraft Gesetzes dem Bürgermeister obliegen, 2. Fragen der inneren Organisation der Gemeindeverwaltung, 3. die Rechtsverhältnisse der Ratsmitglieder, des Bürgermeisters, der Beigeordneten und der sonstigen Gemeindebediensteten, 4. die Haushaltssatzung, den Haushaltsplan mit den Anlagen, die Abgabensätze und die Tarife der Versorgungs-, Entsorgungs- und Verkehrsbetriebe der Gemeinde, 5. den Jahresabschluss und den Gesamtabschluss der Gemeinde, die Feststellung des Jahresabschlusses jedes Eigenbetriebes, die Verwendung des Jahresgewinnes oder die Behandlung des Jahresverlustes sowie die Entlastung des Bürgermeisters und der Beigeordneten, 6. die Aufstellung, Änderung und Aufhebung von Bauleitplänen,
296 Siehe die Verordnung zur Durchführung eines Bürgerentscheides (BürgerentscheidDVO).
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7. Vorhaben, für deren Zulassung ein Planfeststellungsverfahren oder ein förmliches Verwaltungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung erforderlich ist, 8. Entscheidungen in Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelverfahren sowie 9. gesetzwidrige Anträge. (3) 1Das Bürgerbegehren ist schriftlich bei der Gemeindeverwaltung einzureichen; richtet es sich gegen einen Beschluß des Gemeinderats, muß es innerhalb von zwei Monaten nach der Beschlußfassung eingereicht sein. 2Es muß die zu entscheidende Gemeindeangelegenheit in Form einer mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantwortenden Frage, eine Begründung und einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag für die Deckung der Kosten der begehrten Maßnahme enthalten sowie bis zu drei Personen benennen, die berechtigt sind, das Bürgerbegehren zu vertreten. 3Das Bürgerbegehren muß von mindestens 15 v. H. der bei der letzten Wahl zum Gemeinderat festgestellten Zahl der wahlberechtigten Einwohner unterzeichnet sein, jedoch 1. in Gemeinden mit bis zu 50.000 Einwohnern höchstens von 3.000 Einwohnern, 2. in Gemeinden mit 50.001 bis 100.000 Einwohnern höchstens von 6.000 Einwohnern, 3. in Gemeinden mit 100.001 bis 200.000 Einwohnern höchstens von 12.000 Einwohnern, 4. in Gemeinden mit mehr als 200.000 Einwohnern höchstens von 24.000 Einwohnern. 4
Unterschriftsberechtigt sind nur die nach den Bestimmungen des Kommunalwahlgesetzes Wahlberechtigten. 5Jede Unterschriftenliste muß den vollen Wortlaut des Bürgerbegehrens enthalten. 6Eintragungen, welche die Person des Unterzeichners nach Namen und Anschrift nicht zweifelsfrei erkennen lassen, sind ungültig. (4) 1Ein Bürgerbegehren darf nur Angelegenheiten zum Gegenstand haben, über die innerhalb der letzten drei Jahre nicht bereits ein Bürgerentscheid durchgeführt worden ist. 2Über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens entscheidet der Gemeinderat nach Anhörung der das Bürgerbegehren vertretenden Personen. 3Zuvor prüft die Gemeindeverwaltung, in Ortsgemeinden die Verbandsgemeindeverwaltung, die Gültigkeit der Eintragungen in die Unterschriftenlisten. (5) Der Bürgerentscheid entfällt, wenn der Gemeinderat die Durchführung der mit dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahme beschließt. (6) Wird ein Bürgerentscheid durchgeführt, müssen den Bürgern zuvor die von den Gemeindeorganen vertretenen Auffassungen in der Form einer öffentlichen Bekanntmachung dargelegt werden. (7) 1Bei einem Bürgerentscheid ist die gestellte Frage in dem Sinne entschieden, in dem sie von der Mehrheit der gültigen Stimmen beantwortet wurde, sofern diese Mehrheit mindestens 30 v. H. der Stimmberechtigten beträgt. 2Bei Stimmengleichheit gilt die Frage als mit „Nein“ beantwortet. 3Ist die nach Satz 1 erforderliche Mehrheit nicht erreicht worden, hat der Gemeinderat über die Angelegenheiten zu entscheiden.
136 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen (8) 1Der Bürgerentscheid, der die nach Absatz 7 Satz 1 erforderliche Mehrheit erhalten hat, steht einem Beschluß des Gemeinderats gleich. 2§ 42 findet keine Anwendung. 3Der Gemeinderat kann einen Bürgerentscheid frühestens nach drei Jahren abändern. (9) Das Nähere bestimmt das Kommunalwahlgesetz.
i) Kommunalselbstverwaltungsgesetz des Saarlandes in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juni 1997 (Amtsbl. S. 682, Gesetz Nr. 778/BS Saar Nr. 2020-1), zuletzt geändert durch Art. 2 G zur Einführung der elektronischen Form für das Amtsblatt des Saarlandes vom 11.2.2009 (Amtsbl. S. 1215). Siehe auch die Regelungen im Kommunalwahlgesetz (KWG) und die Kommunalwahlordnung (KWO).
§ 21a Bürgerbegehren und Bürgerentscheid (1) 1Die Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinde können beantragen (Bürgerbegehren), daß sie an Stelle des Gemeinderates über eine Angelegenheit der Gemeinde selbst entscheiden (Bürgerentscheid). 2Der Gemeinderat kann die Durchführung eines Bürgerentscheids beschließen. (2) 1Das Bürgerbegehren ist schriftlich bei der Gemeinde einzureichen; richtet es sich gegen einen Beschluß des Gemeinderates, muß es innerhalb von zwei Monaten nach der Beschlußfassung eingereicht sein. 2Es muß die zu entscheidende Angelegenheit in Form einer mit „Ja“ oder „Nein“ zu beantwortenden Frage, eine Begründung und einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag für die Deckung der Kosten der begehrten Maßnahme enthalten sowie bis zu drei Personen benennen, die berechtigt sind, das Bürgerbegehren zu vertreten. (3) 1Das Bürgerbegehren muß von mindestens 15 vom Hundert der Bürgerinnen und Bürger unterzeichnet sein. 2Ausreichend sind jedoch in Gemeinden – mit nicht mehr als 20.000 Einwohnerinnen und Einwohnern – mit mehr als 20.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, aber nicht mehr als 40.000 Einwohnerinnen und Einwohnern
2.000 Unterschriften, 4.500 Unterschriften,
– mit mehr als 40.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, aber nicht mehr als 60.000 Einwohnerinnen und Einwohnern
7.500 Unterschriften,
– mit mehr als 60.000 Einwohnerinnen und Einwohnern
18.000 Unterschriften.
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(4) Bürgerbegehren und Bürgerentscheid sind unzulässig über 1. die innere Organisation der Gemeindeverwaltung, 2. die Rechtsverhältnisse der für die Gemeinde ehren- oder hauptamtlich Tätigen, 3. die Haushaltssatzung einschließlich der Wirtschaftspläne der Eigenbetriebe und sonstigen Unternehmen ohne eigene Rechtspersönlichkeit mit Sonderrechnung, das Haushaltssicherungskonzept sowie die kommunalen Abgaben und die privatrechtlichen Entgelte, 4. den Jahresabschluss und den Gesamtabschluss der Gemeinde, die Entlastung der Bürgermeisterin oder des Bürgermeisters und der Beigeordneten und die Feststellung der Jahresabschlüsse der Eigenbetriebe und sonstigen Unternehmen ohne eigene Rechtspersönlichkeit mit Sonderrechnung, 5. Vorhaben, für deren Zulassung ein Planfeststellungsverfahren oder ein förmliches Verwaltungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung erforderlich ist, 6. die Aufstellung, Änderung, Ergänzung und Aufhebung von Bauleitplänen, 7. Entscheidungen über Rechtsbehelfe und Rechtsstreitigkeiten, 8. Angelegenheiten, für die der Gemeinderat keine gesetzliche Zuständigkeit hat, 9. Anträge, die ein gesetzwidriges Ziel verfolgen und 10. Angelegenheiten, über die innerhalb der letzten zwei Jahre bereits ein Bürgerentscheid durchgeführt worden ist. (5) 1Der Gemeinderat stellt unverzüglich fest, ob das Bürgerbegehren zulässig ist. Entspricht der Gemeinderat dem zulässigen Bürgerbegehren nicht, ist innerhalb von drei Monaten ein Bürgerentscheid durchzuführen. 3§ 20b Abs. 2 Satz 1 gilt entsprechend. 4Entspricht der Gemeinderat dem Bürgerbegehren, so unterbleibt der Bürgerentscheid. 5Der Bürgerentscheid nach Absatz 1 Satz 2 ist innerhalb von drei Monaten durchzuführen. 2
(6) 1Bei einem Bürgerentscheid ist die gestellte Frage in dem Sinne entschieden, in dem sie von der Mehrheit der gültigen Stimme beantwortet wurde, sofern diese Mehrheit mindestens 30 vom Hundert der Stimmberechtigten beträgt. 2Bei Stimmengleichheit gilt die Frage als mit „Nein“ beantwortet. (7) 1Der Bürgerentscheid steht einem Beschluß des Gemeinderates gleich. 2§ 60 findet keine Anwendung. 3Vor Ablauf von zwei Jahren kann er nur auf Initiative des Rates durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert werden. (8) Das Nähere bestimmt das Kommunalwahlgesetz. (9) § 3a des Saarländischen Verwaltungsverfahrensgesetzes findet keine Anwendung.
j) Gemeindeordnung für den Freistaat Sachsen in der Fassung vom 18. März 2003 (SächsGVBl. S. 55, BS Sachsen 230-1), zuletzt geändert durch Art. 2 ÄndG vom 26.6.2009 (SächsGVBl. S. 323). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Kommunalwahlgesetz (KWG) und in der Kommunalwahlordnung (KomWO).
138 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen § 24 Bürgerentscheid (1) In Gemeindeangelegenheiten können die Bürger und die nach § 16 Abs. 1 Satz 2 Wahlberechtigten über eine zur Abstimmung gestellte Frage entscheiden (Bürgerentscheid), wenn ein Bürgerbegehren Erfolg hat oder der Gemeinderat mit einer Mehrheit von zwei Dritteln die Durchführung eines Bürgerentscheides beschließt. (2) 1Der Bürgerentscheid kann über alle Fragen durchgeführt werden, für die der Gemeinderat zuständig ist. 2Ein Bürgerentscheid findet nicht statt über 1. Weisungsaufgaben, 2. Fragen der inneren Organisation der Gemeindeverwaltung, 3. Haushaltssatzungen und Wirtschaftspläne, 4. Gemeindeabgaben, Tarife und Entgelte, 5. Jahresabschlüsse und Gesamtabschlüsse sowie Jahresabschlüsse der Sondervermögen und Treuhandvermögen, 6. Rechtsverhältnisse der Gemeinderäte, des Bürgermeisters und der Gemeindebediensteten, 7. Entscheidungen in Rechtsmittelverfahren, 8. Anträge, die gesetzwidrige Ziele verfolgen. (3) 1Bei einem Bürgerentscheid ist die Frage in dem Sinne entschieden, in dem sie von der Mehrheit der gültigen Stimmen beantwortet wurde, sofern diese Mehrheit mindestens 25 vom Hundert der Stimmberechtigten beträgt. 2Ist die nach Satz 1 erforderliche Mehrheit nicht erreicht worden, hat der Gemeinderat zu entscheiden. (4) 1Der Bürgerentscheid steht einem Beschluss des Gemeinderats gleich. 2Er kann innerhalb von drei Jahren nur durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert werden. (5) Ein Bürgerentscheid entfällt, wenn der Gemeinderat die Durchführung der mit dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahme beschließt.
§ 25 Bürgerbegehren (1) 1Die Durchführung eines Bürgerentscheids kann schriftlich von Bürgern der Gemeinde und von nach § 16 Abs. 1 Satz 2 Wahlberechtigten beantragt werden (Bürgerbegehren). 2Das Bürgerbegehren muss mindestens von 15 vom Hundert der Bürger der Gemeinde und der nach § 16 Abs. 1 Satz 2 Wahlberechtigten unterzeichnet sein; die Hauptsatzung kann ein geringeres Quorum, jedoch nicht weniger als 5 vom Hundert festsetzen. 3Ein Bürgerbegehren darf nur Angelegenheiten zum Gegenstand haben, über die innerhalb der letzten drei Jahre nicht bereits ein Bürgerentscheid auf Grund eines Bürgerbegehrens durchgeführt worden ist. (2) 1Das Bürgerbegehren muss eine mit ja oder nein zu entscheidende Fragestellung und eine Begründung enthalten sowie drei Vertreter bezeichnen, die zur Entgegennahme von Mitteilungen und Entscheidungen der Gemeinde und zur Abgabe von Erklärungen ermächtigt sind. 2Das Begehren muss einen nach den gesetzlichen
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Bestimmungen durchführbaren Vorschlag zur Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme enthalten. 3Richtet es sich gegen einen Beschluss des Gemeinderats, muss es innerhalb von zwei Monaten nach der öffentlichen Bekanntgabe des Beschlusses eingereicht werden. (3) 1Über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens entscheidet der Gemeinderat. Die Entscheidung ist ortsüblich bekanntzugeben. 3Ist das Bürgerbegehren zulässig, so ist der Bürgerentscheid innerhalb von drei Monaten durchzuführen. 4Nach der Feststellung der Zulässigkeit des Bürgerbegehrens darf eine diesem widersprechende Entscheidung des Gemeinderats nicht mehr getroffen werden. 2
k) Gemeindeordnung für das Land Sachsen-Anhalt in der Fassung der Bekanntmachung vom 10. August 2009 (GVBl. LSA S. 383, BS LSA 2020.10), zuletzt geändert durch § 20 Abs. 1 StiftungsG LSA vom 20.1.2011 (GVBl. LSA S. 14). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Kommunalwahlgesetz (KWG LSA) und in der Kommunalwahlordnung (KWO LSA). § 25 Bürgerbegehren (1) 1Über eine wichtige Gemeindeangelegenheit (§ 26 Abs. 2) kann die Bürgerschaft einen Bürgerentscheid beantragen (Bürgerbegehren). 2Ein Bürgerbegehren darf nur Angelegenheiten zum Gegenstand haben, über die innerhalb der letzten drei Jahre nicht bereits ein Bürgerentscheid aufgrund eines Bürgerbegehrens durchgeführt worden ist. (2) 1Das Bürgerbegehren muss schriftlich eingereicht werden. 2Es muss bis zu drei Personen benennen, die berechtigt sind, die Unterzeichner zu vertreten. 3Das Bürgerbegehren muss eine mit Ja oder Nein zu beantwortende Fragestellung, die zum Gegenstand des Bürgerentscheids gemacht werden soll, enthalten. 4Es muss eine Begründung und einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag für die Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme enthalten. 5Richtet sich das Bürgerbegehren gegen einen Beschluss des Gemeinderates, muss es innerhalb von sechs Wochen nach der ortsüblichen Bekanntgabe des Beschlusses eingereicht sein. (3) Das Bürgerbegehren muss von mindestens 15 vom Hundert der wahlberechtigten Bürger unterzeichnet sein, höchstens jedoch in Gemeinden mit nicht mehr als 20.000 Einwohnern von 1.500 wahlberechtigten Bürgern, mit mehr als 20.000 Einwohnern, aber nicht mehr als 50.000 Einwohnern von 3.000 wahlberechtigten Bürgern, mit mehr als 50.000 Einwohnern, aber nicht mehr als 10.000 Einwohnern von 5.000 wahlberechtigten Bürgern, mit mehr als 100.000 Einwohnern von 10.000 wahlberechtigten Bürgern.
140 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen (4) 1Der Gemeinderat stellt die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens fest. 2Die Entscheidung ist ortsüblich bekanntzugeben. 3Ist das Bürgerbegehren zulässig, so ist der Bürgerentscheid innerhalb von drei Monaten durchzuführen. 4Er entfällt, wenn der Gemeinderat die Durchführung der mit dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahme beschließt. (5) Nach Feststellung der Zulässigkeit des Bürgerbegehrens sollte eine dem Begehren entgegenstehende Entscheidung nicht mehr getroffen oder mit dem Vollzug einer derartigen Entscheidung nicht mehr begonnen werden, es sei denn, dass rechtliche Verpflichtungen der Gemeinde hierzu bestehen. (6) § 24 Abs. 6 gilt entsprechend. § 26 Bürgerentscheid (1) Eine wichtige Gemeindeangelegenheit wird der Entscheidung der Bürger unterstellt (Bürgerentscheid), wenn ein Bürgerbegehren Erfolg hat (§ 25) oder der Gemeinderat mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder die Durchführung eines Bürgerentscheids beschließt. (2) 1Wichtige Gemeindeangelegenheiten sind: 1. die Errichtung, wesentliche Erweiterung und Aufhebung einer öffentlichen Einrichtung, die den Einwohnern zu dienen bestimmt ist, 2. die Änderung von Gemeindegrenzen und Landkreisgrenzen, die Auflösung von Verwaltungsgemeinschaften, 3. die Einführung und, ausgenommen den Fall des § 89, die Aufhebung der Ortschaftsverfassung, 4. sowie andere, der Bedeutung der Nummern 1 bis 3 entsprechende Angelegenheiten der Gemeinde. 2
Durch die Hauptsatzung kann bestimmt werden, was darüber hinaus als wichtige Gemeindeangelegenheit gilt. (3) Ein Bürgerentscheid findet nicht statt über 1. Angelegenheiten des übertragenen Wirkungskreises und Angelegenheiten, die kraft Gesetzes dem Bürgermeister obliegen, 2. Fragen der inneren Organisation der Gemeindeverwaltung, 3. die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Gemeinderates, des Bürgermeisters und der Gemeindebediensteten, 4. die Haushaltssatzung (einschließlich der Haushaltspläne oder der Wirtschaftspläne der Eigenbetriebe), die Gemeindeabgaben und die Tarife der Versorgungsund Verkehrsbetriebe der Gemeinde, 5. die Feststellung der Jahresrechnung der Gemeinde und der Jahresabschlüsse der Eigenbetriebe und, soweit der Haushalt der Gemeinde nach dem System der doppelten Buchführung geführt wird, des Gesamtabschlusses, 6. Entscheidungen in Rechtsmittel- und Rechtsbehelfsverfahren, 7. Anträge, die ein gesetzwidriges Ziel verfolgen.
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(4) 1Ist die in einem Bürgerentscheid enthaltene Fragestellung von der Mehrheit der gültigen Stimmen mit Ja beantwortet worden und beträgt diese Mehrheit mindestens 25 vom Hundert der stimmberechtigten Bürger, so hat der Bürgerentscheid die Wirkung eines Beschlusses des Gemeinderates. 2Er kann innerhalb von einem Jahr nur durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert werden. 3Ist die nach Satz 1 erforderliche Mehrheit nicht erreicht worden, hat der Gemeinderat die Angelegenheit zu entscheiden. (5) Das Nähere regelt das Kommunalwahlgesetz.
l) Gemeindeordnung für Schleswig-Holstein in der Fassung vom 28. Februar 2003 (GVOBl. Schl.-H. S. 57, GS Schl.-H. II, Gl.Nr. 2020-3), zuletzt geändert durch Art. 8 Haushaltsbegleitgesetz 2011/2012 vom 17.12.2010 (GVOBl. Schl.-H. S. 789). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Gemeinde-und Kreiswahlgesetz (GKWG) und in der Gemeinde-und Kreiswahlordnung (GKWO). § 16g Bürgerentscheid, Bürgerbegehren (1) 1Die Gemeindevertretung kann mit einer Mehrheit von zwei Dritteln, der gesetzlichen Zahl der Gemeindevertreterinnen und -vertreter beschließen, dass Bürgerinnen und Bürger über wichtige Selbstverwaltungsaufgaben selbst entscheiden (Bürgerentscheid). 2Wichtige Selbstverwaltungsaufgaben sind insbesondere: 1. die Übernahme neuer Aufgaben, die zu erfüllen die Gemeinde nicht gesetzlich verpflichtet ist, 2. die Errichtung, wesentliche Erweiterung und die Auflösung einer öffentlichen Einrichtung, die den Einwohnerinnen und Einwohnern zu dienen bestimmt ist, 3. die Mitgliedschaft in Zweckverbänden, die Träger von Aufgaben nach Nummer 2 sind, 4. die Gebietsänderungen. (2) Ein Bürgerentscheid findet nicht statt über 1. Selbstverwaltungsaufgaben, die zu erfüllen die Gemeinde nach § 2 Abs. 2 verpflichtet ist, soweit ihr nicht ein Entscheidungsspielraum zusteht, 2. Angelegenheiten, über die kraft Gesetzes die Gemeindevertretung entscheidet (§ 28 Satz 1 Nr. 1), 3. die Haushaltssatzung einschließlich der Wirtschaftspläne der Eigenbetriebe sowie die kommunalen Abgaben und die privatrechtlichen Entgelte, 4. die Jahresrechnung oder den Jahresabschluss der Gemeinde und den Jahresabschluss der Eigenbetriebe, 5. die Hauptsatzung, 6. die Aufstellung, Änderung und Aufhebung von Bauleitplänen, 7. die Rechtsverhältnisse der Gemeindevertreterinnen und -vertreter, der kommunalen Wahlbeamtinnen und -beamten und der Beschäftigten der Gemeinde,
142 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen 8. die innere Organisation der Gemeindeverwaltung, 9. Entscheidungen in Rechtsmittelverfahren. (3) 1Über wichtige Selbstverwaltungsaufgaben können die Bürgerinnen und Bürger einen Bürgerentscheid beantragen (Bürgerbegehren). 2Ein Bürgerbegehren darf nur Selbstverwaltungsaufgaben zum Gegenstand haben, über die innerhalb der letzten zwei Jahre nicht bereits ein Bürgerentscheid aufgrund eines Bürgerbegehrens durchgeführt worden ist. 3Richtet sich das Bürgerbegehren gegen einen Beschluss der Gemeindevertretung oder eine Entscheidung, die aufgrund einer Übertragung nach § 27 Abs. 1 Satz 3 durch den zuständigen Ausschuss getroffen wurde, muss es innerhalb von sechs Wochen nach der Bekanntgabe des Beschlusses oder der Entscheidung eingereicht sein. 4Das Bürgerbegehren muss schriftlich eingereicht werden und die zur Entscheidung zu bringende Frage, eine Begründung sowie einen nach den gesetzlichen Bestimmungen durchführbaren Vorschlag für die Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme enthalten. 5Das Bürgerbegehren muss bis zu drei Personen benennen, die berechtigt sind, die Unterzeichnenden zu vertreten. (4) Das Bürgerbegehren muss von mindestens 10 Prozent der Bürgerinnen und Bürger unterzeichnet sein. (5) 1Über die Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens entscheidet die Kommunalaufsichtsbehörde. 2Ist die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens festgestellt, darf bis zur Durchführung des Bürgerentscheids eine dem Begehren entgegen stehende Entscheidung der Gemeindeorgane nicht getroffen oder mit dem Vollzug einer derartigen Entscheidung nicht mehr begonnen werden, es sei denn, zu diesem Zeitpunkt bestehen rechtliche Verpflichtungen der Gemeinde hierzu. 3Der Bürgerentscheid entfällt, wenn die Gemeindevertretung oder der zuständige Ausschuss die Durchführung der mit dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahmen in unveränderter Form oder in einer Form beschließt, die von den benannten Vertretungsberechtigten gebilligt wird. 4 Dieser Beschluss kann innerhalb von zwei Jahren nur durch einen Bürgerentscheid nach Absatz 1 Satz 1 abgeändert werden. (6) Wird ein Bürgerentscheid durchgeführt, muss die Gemeinde den Bürgerinnen und Bürgern die Standpunkte und Begründungen der Gemeindevertretung oder des zuständigen Ausschusses und der Antragstellenden des Bürgerentscheids in gleichem Umfange schriftlich darlegen. (7) 1Bei einem Bürgerentscheid ist die gestellte Frage in dem Sinne entschieden, in dem sie von der Mehrheit der gültigen Stimmen beantwortet wurde, sofern diese Mehrheit mindestens 20% der Stimmberechtigten beträgt. 2Bei Stimmengleichheit gilt die Frage als mit Nein beantwortet. 3Ist die nach Satz 1 erforderliche Mehrheit nicht erreicht worden, hat die Gemeindevertretung oder der zuständige Ausschuss die Angelegenheit zu entscheiden. (8) 1Der Bürgerentscheid hat die Wirkung eines endgültigen Beschlusses der Gemeindevertretung oder des zuständigen Ausschusses. 2Er kann innerhalb von zwei Jahren nur durch einen Bürgerentscheid nach Absatz 1 Satz 1 abgeändert werden.
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m) Thüringer Gemeinde- und Landkreisordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. Januar 2003 (GVBl. S. 41, BS Thür 2020-4), zuletzt geändert durch Art. 8 ÄndG vom 22.6.2011 (GVBl. S. 99). Siehe auch die konkretisierenden Regelungen im Thüringer Kommunalwahlgesetz (ThürKWG) und in der Thüringer Kommunalwahlordnung (ThürKWO). § 17 Bürgerbegehren, Bürgerentscheid (1) 1Die Bürger können über wichtige Angelegenheiten des eigenen Wirkungskreises der Gemeinde die Durchführung eines Bürgerentscheids beantragen (Bürgerbegehren). 2Die Ablehnung eines Begehrens in einem Bürgerentscheid schließt für die Dauer von zwei Jahren ein Bürgerbegehren in der gleichen Angelegenheit aus, es sei denn, dass sich die dem Bürgerentscheid zu Grunde liegende Sach- und Rechtslage wesentlich geändert hat. (2) Ein Bürgerbegehren ist unzulässig über 1. Aufgaben, die kraft Gesetzes dem Bürgermeister obliegen, 2. den Erlass oder die Änderung der Geschäftsordnung des Gemeinderats, 3. die Beschlussfassung über die Haushaltssatzung im Ganzen sowie über Nachtragshaushaltssatzungen, 4. die Beschlussfassung über den Finanzplan, 5. die Feststellung der Jahresrechnung und der Jahresabschlüsse der Eigenbetriebe sowie die Beschlussfassung über die Entlastung, 6. die Festsetzung von Abgaben und privatrechtlichen Entgelten der Gemeinde oder solcher Unternehmen, an denen die Gemeinde beteiligt ist; ausgenommen davon sind Bürgerbegehren zur Höhe von Abgaben und privatrechtlichen Entgelten der Gemeinde, soweit das Kostendeckungsprinzip beachtet wird, 7. die Entscheidung über die Gründung, Übernahme, Erweiterung oder Aufhebung von Unternehmen der Gemeinde und über die Beteiligung an Unternehmen, 8. Anträge, die ein gesetzwidriges Ziel verfolgen. (3) 1Die Zulassung eines Bürgerbegehrens ist schriftlich bei der Gemeindeverwaltung zu beantragen. 2Der Antrag muss eine Erklärung darüber enthalten, ob die Sammlung durch eine freie Sammlung (§ 17a) oder durch Eintragung in amtlich ausgelegte Eintragungslisten (§ 17b) erfolgen soll. 3Richtet sich das Bürgerbegehren gegen einen Beschluss des Gemeinderats oder eines Ausschusses, muss der Antrag auf Zulassung des Bürgerbegehrens innerhalb von vier Wochen nach der Bekanntmachung des Beschlusses nach § 40 Abs. 2 eingereicht werden. 4Der Antrag muss den Wortlaut und die Begründung des begehrten zulässigen Anliegens enthalten; bei einem finanzwirksamen Bürgerbegehren soll ein Vorschlag für die Deckung der Kosten der verlangten Maßnahme enthalten sein. 5Ein Bürgerbegehren über die Höhe von Abgaben oder privatrechtlichen Entgelten der Gemeinde nach Absatz 2 Nr. 6 muss einen Vorschlag für die Deckung der Kosten der verlangten Maßnahmen enthalten. 6Das Bürgerbegehren muss in knapper Form so formuliert sein, dass es bei einer Abstimmung mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden kann. 7Der Antrag
144 Anhang: Auszüge aus Landesverfassungen und den Gemeindeordnungen auf Zulassung des Bürgerbegehrens muss den Antragsteller und zwei weitere Bürger mit Namen und Anschrift nennen, die berechtigt sind, die Unterzeichnenden gemeinsam zu vertreten. 8Für den Fall ihrer Verhinderung oder ihres Ausscheidens können stellvertretende Personen benannt werden. 9Die Gemeindeverwaltung prüft die Zulässigkeit des Antrags und entscheidet innerhalb von vier Wochen über den Antrag auf Zulassung des Begehrens und den Beginn der Sammlungsfrist (Zulassungsentscheidung). 10Die Entscheidung ist dem Antragsteller und den weiteren vertretungsberechtigten Personen zuzustellen. 11Gegen die Entscheidung der Gemeindeverwaltung können die Antragsteller und die weiteren vertretungsberechtigten Personen gemeinsam Klage bei dem zuständigen Verwaltungsgericht erheben. 12Das Vorverfahren nach § 68 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung entfällt. (4) 1Der Bürgermeister prüft die geleisteten Eintragungen und legt dem Gemeinderat unverzüglich das Bürgerbegehren zur Entscheidung über die Zulässigkeit vor (Zulässigkeitsentscheidung). 2Der Vorlage hat der Bürgermeister eine Stellungnahme über die möglichen finanziellen Auswirkungen des Vollzugs des Bürgerentscheids auf den Gemeindehaushalt (§§ 53 und 56) und die Finanzplanung (§ 62) beizufügen. 3Der Gemeinderat entscheidet über die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens innerhalb von acht Wochen nach Zuleitung der Vorlage und der Stellungnahme durch den Bürgermeister durch Beschluss. 4Stellt der Gemeinderat durch Beschluss die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens fest, sind in dem Beschluss auch die möglichen finanziellen Auswirkungen des Vollzugs des Bürgerentscheids auf den Gemeindehaushalt (§§ 53 und 56) und die Finanzplanung (§ 62) darzustellen. 5Die Stellungnahme des Bürgermeisters und der Beschluss des Gemeinderats sind in der Gemeinde in ortsüblicher Weise bekannt zu machen. 6Wird die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens abgelehnt, können die vertretungsberechtigten Personen des Bürgerbegehrens ohne Vorverfahren Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht erheben. (5) 1Ist die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens festgestellt, darf bis zur Durchführung des Bürgerentscheids eine dem Begehren entgegenstehende Entscheidung der Gemeindeorgane nicht mehr getroffen oder mit dem Vollzug einer derartigen Entscheidung nicht mehr begonnen werden, es sei denn, zu diesem Zeitpunkt haben rechtliche Verpflichtungen der Gemeinde hierzu bestanden. 2§ 30 Satz 1 gilt entsprechend. (6) 1Bei einem Bürgerentscheid wird das gestellte Begehren den Bürgern zur Entscheidung in geheimer Abstimmung vorgelegt. 2Die Bestimmungen des Thüringer Kommunalwahlgesetzes und der Thüringer Kommunalwahlordnung finden entsprechende Anwendung; den Termin zur Abstimmung bestimmt die Rechtsaufsichtsbehörde im Benehmen mit der Gemeinde. 3Ein Bürgerentscheid darf sechs Wochen vor und nach einer Kommunalwahl nicht durchgeführt werden. 4Der Antrag ist angenommen, wenn er die Mehrheit der gültigen Stimmen auf sich vereinigt, sofern diese Mehrheit in Gemeinden mit bis zu 10.000 Bürgern 20 vom Hundert, bis zu 50.000 Bürgern 15 vom Hundert und über 50.000 Bürgern zehn vom Hundert der Stimmberechtigten beträgt. 5Bei Stimmengleichheit ist der Antrag abgelehnt.
II. Bürgerbegehren in den Gemeinden – Auszüge aus Gemeindeordnungen
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(7) Das Ergebnis des Bürgerentscheids ist in der Gemeinde in der ortsüblichen Weise bekannt zu machen. (8) 1Der Bürgerentscheid entfällt, wenn der Gemeinderat die Durchführung der mit dem Bürgerbegehren verlangten Maßnahme beschließt. 2Der Bürgerentscheid hat die Wirkung eines Beschlusses des Gemeinderats. 3Er kann innerhalb von zwei Jahren nur durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert werden, es sei denn, dass sich die dem Bürgerentscheid zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage wesentlich geändert hat. 4Die Befugnisse der Rechtsaufsichtsbehörden bleiben unberührt. (9) In der Hauptsatzung können nähere Regelungen zum Bürgerbegehren und Bürgerentscheid getroffen werden. (10) § 3a des Thüringer Verwaltungsverfahrensgesetzes findet keine Anwendung.
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Clausula rebus sic stantibus 66 ff., 81 Crowd intelligence 93
Bindungswirkung – von Bürgerentscheiden 79 ff. – von Volksentscheiden 65 ff., 81 ff. Budgethoheit des Parlaments 22, 42 ff. Bürger als „Kämmerer“ 42 ff. Bürgerbegehren – als kommunale Handlungsform 35 f. – Einflussnahme durch amtliche Stellungnahmen 58 ff. – Erledigung durch Übernahme des Anliegens 56 f., 62, 83 – Rechtsschutz 90 – Sperrwirkung 60 ff. – Zulässigkeitsschranken 39 ff. Bürgerentscheid – als kommunale Handlungsform 35 f. – Bindungswirkung 79 ff. – kassatorischer 79 Bürgerhaushalt 92 f. mit Fn. 268 Bürgerinitiative, europäische 36 f., 88 Bürgerpanel 92
Einheit der Materie – bei der Verknüpfung mehrerer Fragen in Bürger- bzw. Volksbegehren 41 Einzelfallgesetz 78 E-Konsultationen 92 Erledigung eines Bürger- bzw. Volksbegehrens 56 f., 62, 83 f.
Demokratie – direkte (plebiszitäre) 11 ff. siehe dazu auch unter „plebiszitäre Demokratie“ – elektronische 92 f. – indirekte (repräsentative) 11, 13, 16, 18 ff. – wechselseitige Rücksichtnahmepflichten zwischen direkter und indirekter Demokratie 63 ff., 80 ff.
Finanzfragen (als Tabubereich der Volksgesetzgebung) 42 ff., 54 f. Gemeinwohlerfordernisse (im Kontext des § 60 VwVfG) 70 Gemeinwohlkonkretisierung, kooperative 93 Geschäftsgrundlage – Wegfall der 66 ff., 81 Haushaltsvorbehalt 42 ff. – für das Staatshaushaltsgesetz 47 ff. – für den Landeshaushalt 52 ff. Homogenitätsgebot 23
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Sachwortverzeichnis
Kommunalverfassungsstreit 90 Koppelungsverbot 40 ff. Kündigung geschlossener Verträge aufgrund Volks- bzw. Bürgerentscheids 66 ff. Kündigungsgesetz (Stuttgart 21) 24 ff., 66 ff., 74 ff. Landeshaushalt 52 ff. Landeshaushaltsgesetz 47 ff. Lex-posterior-Regel 61, 69 f., 82 f. Minarett-Verbotsinitiative 14 f., 94 Mischverwaltung, Verbot der (Art. 104a GG) 75 mit Fn. 208 Neutralitätsgebot bei der Staatswillensbildung 58 f. NIMBY-Phänomen 95 Online-Petitionen 92 Organtreuepflicht 37, 62 ff., 84 ff., 89 Pacta sunt servanda versus Änderungsinteresse des Volkes 65 ff. Plebiszitäre Demokratie – auf Bundesebene 19 ff. – auf kommunaler Ebene 35 f. – auf Landesebene 23 ff. – auf Unionsebene 36 ff. – Bindungswirkung 65 ff. – Durchführungsrecht von Volks- und Bürgergehren 62 ff., 89 – in Weimar 50, 95 – Sperrwirkung 60 ff. – Vor- und Nachteile 11 ff., 91 ff. – Wechselbeziehung zur parlamentarischen Demokratie 38 ff. Principal-Agent-Theorie 46 Public-Choice-Theorie und Haushaltsvorbehalt 46 Quorum für Volksentscheide 26 ff.
Rechtsschutz – von Bürgerbegehren 89 f. – von Volksbegehren 86 ff. Referendum – auf Landesebene 24 ff., 85 f. – EU-Referendum 21 ff. – fakultatives 14, 45 – in der Schweiz 14 f., 45 – obligatorisches 15, 45 – Stuttgart 21 siehe dazu unter „Stuttgart 21“ Regelungsgegenstand eines Volks- bzw. Bürgerbegehrens – Bestimmung des 56 f. – zulässiger 39 ff. Sachlichkeit, Gebot der – als Handlungsschranke für amtliche Stellungnahmen 59 f. – als Voraussetzung für die Zulässigkeit einer plebiszitären Fragestellung 40 f. Schweiz als neuzeitliches Mutterland direkter Demokratie 14 f., 45, 94 Sperrwirkung – von Bürgerbegehren 61 – von Volksbegehren 61 ff. – Zeitpunkt der 64 f. Staatshaushalt 52 ff. Staatshaushaltsgesetz 47 ff. Staatsorganqualität von Volksbegehren 86 ff. Studienbeiträge als Gegenstand eines Volksbegehrens 47 Stuttgart 21 – als „Stresstest“ für das Modell der repräsentativen Demokratie 11 ff. – Änderung der Mehrheitsverhältnisse als Kündigungsgrund 68 ff. – Durchsetzungsmacht des Volksentscheids gegenüber bestehenden vertraglichen Verpflichtungen 66 ff. – Gesetzgebungskompetenz 75 ff.
Sachwortverzeichnis – Kostensteigerungen als Kündigungsgrund 67 f. – Kündigungsgesetz 24 ff., 66 ff., 74 ff. – Mischverwaltung, Verbot der 75 mit Fn. 208 – Staatshaushaltsgesetzvorbehalt (Art. 60 Abs. 6 bwLVerf) 47 ff. – Vertragsaufhebung auf der Grundlage des § 60 LVwVfG 66 ff. – Vertrauensschutz bei Vertragskündigung 76 ff. – Zulässigkeit eines Referendums (Art. 60 Abs. 3 bwLVerf) 24 ff. Verfassungsumgehung 20, 22 f., 25, 32 ff. Verknüpfung mehrerer Fragen in einem plebiszitären Verfahren 41 Vertragstreue versus Änderungsinteresse des Volkswillens 65 ff. Volksbefragung 22 f., 25 Volksbegehren – als plebiszitäre Handlungsform 23 ff. – Einflussnahme durch amtliche Stellungnahmen 58 ff. – Erledigung durch Übernahme des Anliegens 56 f., 62, 83 – Rechtsschutz 86 ff. – Sperrwirkung 60 ff.
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– Zulässigkeitsschranken 24 ff., 39 ff. – Zulassung 24 ff., 39 ff. – Zustandekommen 26 ff. Volksentscheid – als plebiszitäre Handlungsform 23 ff. – Bindungswirkung 65 ff. – Quorum 25 ff. – Rechtsschutz 86 ff. Volksinitiative – als erste Stufe eines Volksgesetzgebungsverfahrens 24 ff. – Durchführungsrecht und Beginn des Schutzzeitpunktes 62, 64 f. – in der Schweiz 14 f. – Rechtsschutz 88 Wahlen 13, 19, 58 f., 68 ff. Wahlgesetzfall (Hamburg) 81, 89 Waldschlösschenbrücke (Dresden) 11, 40 f., 81 Wegfall der Geschäftsgrundlage 66 ff., 81 Weisheit der Vielen 93 Wiki-Government 92 f. Zulassung eines Volksbegehrens 24 ff., 38 ff. Zustandekommen eines Volksbegehrens 24 ff.