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German Pages 416 [431] Year 2021
Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von
Albrecht Beutel
202
Martin Gröger
Wellhausens Wegbereiter Studien zur alttestamentlichen Hermeneutik im 19. Jahrhundert
Mohr Siebeck
Martin Gröger, geboren 1978; Studium der Ev. Theologie in Jena, München, Leipzig, Stellenbosch und Halle (Saale); 2007–14 Inspektor der Stiftung Schlesisches Konvikt Halle, Wohngemeinschaft für Studierende der Kirchenmusik und Theologie; 2014–18 Vikar der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland in Köln-Nippes; 2016 Promotion in Jena; seit 2018 Pfarrer in Köln.
ISBN 978-3-16-160662-5 / eISBN 978-3-16-160663-2 DOI 10.1628/978-3-16-160663-2 ISSN 0340-6741 / eISSN 2568-6569 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungs beständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Meiner Familie
Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist im Wintersemester 2016 von der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Dissertation angenommen worden. Für den Druck habe ich sie leicht überarbeitet und um die aktuelle Literatur ergänzt. Entstanden ist sie während meiner Zeit als Inspektor des Schlesischen Konvikts in Halle an der Saale, als ich die Stiftung maßgeblich wieder mit aufbauen und mehrere Generationen von Studierenden, vor allem der Kirchenmusik und Theologie begleiten durfte. Zuallererst zu danken habe ich (in alphabetischer Reihenfolge) meinen beiden Doktorvätern Prof. Dr. Ulrich Barth (Halle) und Prof. Dr. Uwe Becker. Durch beide habe ich, je auf ihre Weise, vielfältige Anregung und Förderung erfahren, die mich nachhaltig geprägt haben. Ohne ihre stete Ermutigung, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen, ohne ihre im Umgang vertrauensvolle und freundschaftliche, in der Sache aber unnachgiebige Betreuung und ohne die notwendige Freiheit, die sie mir bei der Konzeption und Ausarbeitung gewährten, wäre diese Arbeit kaum geschrieben worden. Nicht zuletzt ihre Doktorandenkolloquien boten Gelegenheit zum Austausch. Hier wurden weite Teile der Untersuchung vorgestellt und diskutiert, wofür ich allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu Dank verpflichtet bin. Stellvertretend genannt seien PD Dr. Susanne Rudnig-Zelt, Dr. Marianne Schröter, Dr. Friedemann Barniske, Prof. Dr. Roderich Barth, Arne Lademann, PD Dr. Roland Lehmann, Dr. Constantin Plaul, Dr. Christian Rebert und Dr. Alexander Weidner. Von den Genannten haben einige im Vorfeld der Abgabe der Dissertation einzelne Kapitel noch einmal durchgesehen. Im Jenaer Doktorandenkolloquium waren zudem Prof. Dr. Joachim Conrad und Prof. Dr. Hannes Bezzel interessierte Zuhörer und hilfreiche Kritiker. Zu danken habe ich zudem Prof. Dr. D. D. h. c. Rudolf Smend, der sich zu Beginn meiner Doktorarbeit viel Zeit genommen hat, um mit mir den Aufbau meiner Arbeit zu diskutieren. Während eines späteren Aufenthalts in Göttingen hat er mir zudem – vor der Veröffentlichung – Tag für Tag eine neue Kladde mit Briefen Wellhausens ausgehändigt, um am nächsten Morgen bei einem Cappuccino und einem Stück Kuchen die Ergebnisse meiner Lektüre einzufordern. Unvergessen zudem die gelegentlichen Spaziergänge, die eine Fülle von Informationen zur Geschichte des gelehrten Göttingens boten.
VIII
Vorwort
Danken möchte ich den Bewohnerinnen und Bewohnern des Schlesischen Konvikts, mit denen zusammen wir den Häusern wieder Leben eingehaucht haben und dem Kuratorium, unter dem Vorsitz von zunächst Martin Herche und dann Friedrich Kramer, für das Vertrauen und den unerschöpflichen Elan bei der Realisierung dieses spannenden Projekts. Mein Doktorvater Ulrich Barth hat als Ephorus ob meiner anfänglichen Skepsis dafür gesorgt, daß ich mich überhaupt vorgestellt habe. Wir hätten wohl alle nicht gedacht, daß daraus so viele anstrengende, aber auch erfolgreiche und glückliche Jahre werden würden. Für die Aufnahme in die Reihe Beiträge zur historischen Theologie danke ich ihrem Herausgeber Prof. Dr. Albrecht Beutel und für die Aufnahme in das Verlagsprogramm und die kompetente Unterstützung dem Verlag Mohr Siebeck und ihrem Geschäftsführer Dr. Henning Ziebritzki herzlich. Als Lektor hat Dr. Hans Cymorek das Manuskript freundlicherweise noch einmal durchgesehen. Mein Schwiegervater Ernst Wahl und mein Vater Burkhardt Gröger haben die Orthographie kontrolliert. Die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland hat den Abschluß der Promotion großzügig gefördert, indem sie mich im Rahmen des Vikariats für ein Jahr zur Fertigstellung der Dissertation freistellte. Zudem ermöglichte sie mir ein Gastvikariat in Köln-Nippes. Erinnern möchte ich an die inzwischen verstorbenen Hallenser Wegbegleiter Hildegard und Dr. Hartmut Ruddies, deren Wohnung für geselliges Miteinander stand, quasi einen theologischen Salon alten Stils darstellte und die auch darüber hinaus immer ein offenes Ohr hatten. Schließlich danke ich meinen Freunden, genannt sei Dr. Benjamin Sommer, und am meisten meiner Familie, insbesondere meiner Frau Anne-Christin, die mir ein verlässlicher Ort der Geborgenheit war und ist. Ihr sei das Buch gewidmet. Köln, im Sommer 2021
Martin Gröger
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Wilhelm Martin Leberecht de Wette – Der historisch-idealische, fromm-ästhetische Blick auf die Religionsgeschichte des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 1. Werkbiographische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Der Einfluß von Herder, Schelling und Fries . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . 37 3.1. Religion zwischen Gefühl und Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Die frühen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Die Schleiermacherrezension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Die dogmatischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4. ‚Ueber Religion und Theologie‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Mythos, Geschichte, Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Der Mythosbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Der Geschichtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Der Symbolbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37 38 41 44 47 54 54 61 68
4. Die Interpretation des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4.1. Die Anknüpfung und Weiterführung aufklärerischer Text-, Quellenund Literarkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 4.2. Die ästhetisch-religiöse Erschließung der Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.3. Die Sicht der Religionsgeschichte des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . 88
Johann Friedrich Leopold George – Die überlieferungsgeschichtliche Bedeutung von Fest und Kult . . . . 95 1. Werkbiographische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 1.1. Wer war George? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 1.2. George und Julius Wellhausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
X
Inhaltsverzeichnis
2. Die Rezeption der Festtheorie Friedrich Schleiermachers . . . . . . . . . . . . 104 3. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . 106 3.1. Die Rekonstruktion der religionsgeschichtlichen Entwicklung Israels . . 3.1.1. Der Archäologiebegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Die grundlegende Bedeutung der Feste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Das Epochenschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4. Die Entwicklung von Altisrael zum Judentum . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Die Feste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Sabbat und Neumondfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Passah-, Wochen- und Laubhüttenfest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Der Versöhnungstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
106 107 108 110 114 117 119 120 123
4. Die Interpretation des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.1. Die genetische Erklärung der israelitischen und jüdischen Geschichte . . 124 4.2. Die Sicht der Religionsgeschichte des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . 136
Georg Heinrich August Ewald – Philologie und Literaturgeschichte des Alten Testaments . . . . . . . . . . . 141 1. Werkbiographische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1.1. Die Göttinger Tradition der Orientalistikstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1.2. Ewald und Julius Wellhausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
2. Die Auseinandersetzung mit Ferdinand Christian Baur . . . . . . . . . . . . . . 149 3. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . 153 3.1. Die Rekonstruktion der religionsgeschichtlichen Entwicklung . . . . . . . . 3.2. Die grundlegende Bedeutung der Prophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Das Prophetenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Die großen Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Der Lebensbegriff der Prophetendarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
153 158 159 163 176
4. Die Interpretation des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 4.1. Die Sicht der Literaturgeschichte des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . 178 4.2. Die Bedeutung großer Persönlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
Karl Heinrich Graf – Die Wende zur redaktionsgeschichtlichen Fragestellung . . . . . . . . . . . 203 1. Werkbiographische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . 207 2.1. Die Popularisierung der Spätdatierung des priesterlichen Gesetzes . . . . 207
Inhaltsverzeichnis
2.2. ‚Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments‘ . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Das Problem der religionsgeschichtlichen Verortung der alttestamentlichen Überlieferungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Nochmals: ‚Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments‘ . . 2.3.2. ‚Der Prophet Jeremia erklärt‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XI
209 214 214 216
3. Die Interpretation des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 3.1. Die Sicht der Redaktionsgeschichte des Alten Testaments . . . . . . . . . . . 219 3.2. Ältere und neuere Urkundenhypothese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
Johann Karl Wilhelm Vatke – Der spekulative Zugriff auf die biblische Religionsgeschichte . . . . . . 237 1. Vatke und Julius Wellhausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2. Der Hegelschüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . 240 3.1. Die Rezeption der Ergebnisse der alttestamentlichen Wissenschaft . . . . 3.2. Judentum und Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Der Religions- und Geschichtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Die besondere Quellen- und Methodenproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Das religionsgeschichtliche Dreiphasenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Die ‚Blüthe‘ der alttestamentlichen Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7. Die Vorgeschichte Israels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
242 243 245 247 250 251 253
4. Die Kritik durch de Wette und Ewald . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 5. Die Interpretation des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 5.1. Die Sicht der Religionsgeschichte des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . 258 5.2. Geschichte und Überlieferungen – Historisch-kritische und systematische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Abraham Kuenen – Die methodische Ernüchterung der alttestamentlichen Religionsgeschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 1. Werkbiographische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 2. Die Auseinandersetzung mit Karl Heinrich Graf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 3. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . 292 3.1. Die religionsgeschichtliche Sonderstellung des achten Jahrhunderts . . . 292 3.2. Das Problem der historischen Interpretation des Alten Testaments . . . . . 293 3.3. Das Prophetenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
XII
Inhaltsverzeichnis
3.4. Die Vorstellung von der religionsgeschichtlichen Entwicklung . . . . . . . . 3.4.1. Die ältesten Überlieferungen des Alten Testaments . . . . . . . . . . . 3.4.2. Das Beispiel der sogenannten ‚Stammesväter‘ . . . . . . . . . . . . . . . 3.5. Die alttestamentliche Schriftprophetie und der geistige Monotheismus der Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1. Jahwe als Gott Israels und Israel als Volk Jahwes . . . . . . . . . . . . . 3.5.2. Die Besonderheit der israelitischen und jüdischen Religion . . . . . 3.5.3. Das Beispiel der Königskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6. Die Bedeutung der Prophetie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
298 300 301 302 304 306 307 308
4. Die Interpretation des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 4.1. Die Sicht der Religionsgeschichte des Alten Testaments . . . . . . . . . . . . . 309 4.2. Der ethische Monotheismus der Propheten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
Abraham Geiger – Die Hinterfragung christlicher Deutungsstereotypen aus der Position des liberalen Judentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 1. Geiger und Julius Wellhausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 2. Werkbiographische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 2.1. Der Werdegang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 2.2. Die Prägung durch Leopold Zunz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
3. Der Beitrag zur alttestamentlichen Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 3.1. Der aktuelle Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Geiger und die historische Bibelkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Die Einordnung seiner Pharisäismusforschung . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Die These von der ‚Gegengeschichte‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Die Darstellung der jüdischen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Die Träger der Überlieferungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Die Überarbeitungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Die Rezeption der Ergebnisse der historischen Wissenschaft . . . . 3.2.4. Die Adaption des Analogiebegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Die Saduzzäer und Pharisäer als Muster der Geschichtsschreibung . . . . 3.3.1. Das Epochenschema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Die besondere Bedeutung der Sadduzäer und Pharisäer . . . . . . . . 3.3.3. Spätere Modifikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
333 333 335 337 344 344 345 347 348 350 350 355 356
4. Das Judentum als lebendige Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
Inhaltsverzeichnis
XIII
Schlußbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 378 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
Einleitung Das Alte Testament ist historisch zu verstehen. Nur die (religions-)geschichtliche Betrachtungsweise ist in der Lage, seine theologischen Gehalte aufzuschließen und in der Moderne fruchtbar zu machen. Eine angemessene Auslegung der biblischen Überlieferungen ist ohne eine geschichtliche Einordnung der verschiedenartigen Schriftensammlungen, aus denen sie zusammengesetzt sind, nicht – bzw. nur unzureichend – möglich. Das gilt jedenfalls aus Sicht der sich selbst als kritisch verstehenden alttestamentlichen Wissenschaft, wie sie sich im 19. Jahrhundert konstituierte. Ihre hermeneutischen Überlegungen sind Teil des in der Aufklärungszeit einsetzenden allgemeinen Erneuerungs- und Umformungsprozesses der (evangelischen) Theologie. Das heißt, sie partizipieren nicht nur an ihm, sondern sind auch ein Ausdruck desselben. Mit ihren Weichenstellungen prägen sie die akademische Forschung bis heute. (1) Es ist eine Einsicht der vornehmlich, aber nicht allein protestantischen Universitätstheologie, daß das Alte Testament als geschichtlich gewachsenes Dokument auszulegen ist, dessen religiöser Sinn nur auf historischem Weg hinreichend begriffen werden kann. Bis heute zählt die Methode der historisch-kritischen Interpretation zu den, wenn nicht gar der Errungenschaft(en) der protestantischen Bibelwissenschaft – nicht nur des Jahrhunderts, für das in der alttestamentlichen Forschung gerne der Name Julius Wellhausens genannt wird. Er und die ihm vorangehende Wissenschaftlergeneration lehrten, daß der Bibeltext nicht nur aus seinen zeitlichen Entstehungskontexten heraus, sondern in seiner Gesamtheit als ein geschichtliches Zeugnis verstanden werden muß. Ihrer Meinung nach bedeutete dies zuvorderst, das Alte Testament wie jedes andere Buch zu lesen und von den als übermächtig empfundenen ‚kirchlichen‘ Auslegungstraditionen zu befreien. Die kritische Bibelauslegung muß das Alte Testament vor jedweder Art der dogmatischen Vereinnahmung schützen. Im Zentrum steht allein die Arbeit an den Texten selbst. Sie müssen frei von jeglichen Voreingenommenheiten und unter Zuhilfenahme sämtlicher von den verschiedenen universitären Wissenschaften gebotenen Methoden interpretiert werden. Insbesondere die damaligen Entwicklungen in der Historiographie wurden intensiv rezipiert. Für die Hermeneutik des Alten Testaments hatte dies gravierende Folgen. In den vorliegenden Studien geht es darum aufzuzeigen, daß die alttestamentliche Hermeneutik im 19. Jahrhundert ihre innere Dynamik den Wandlungen des Geschichtsbegriffs verdankt und weniger den dogmatischen Richtun-
2
Einleitung
gen ihrer Protagonisten. Die tiefgreifenden Veränderungen des Verständnisses von ‚Geschichte‘ motivieren zu immer weitergehenden Erklärungsversuchen, die dem Ziel dienen, das Alte Testament für die eigene Gegenwart zu erschließen. Daß sein religiöser Reichtum nur auf historischem Wege entschlüsselt und hinreichend verstanden werden könne, ist die (unausgesprochene) Grundannahme, die die hier untersuchte Forschergeneration miteinander verbindet. Es ist letztlich das allgemeine Verständnis von Geschichte, das die Darstellung der Religionsgeschichte – und darum auch speziell der biblischen – steuert. Etwas verkürzt ausgedrückt: Das historische Bewußtsein des 19. Jahrhunderts eröffnete Perspektiven, die das Alte Testament in seiner Vielgestaltigkeit und seinem Reichtum neu begreifen lehrten. Dabei geriet der durch und durch konstruierte Charakter der alttestamentlichen Überlieferungen in den Fokus des Interesses; es herrschte die Überzeugung vor, daß nur ein reflektierter Geschichtsbegriff in der Lage ist, ihren eigentlichen Sinn zu entschlüsseln. Die Forschungen des 19. Jahrhunderts haben einen Schub in der Bibelauslegung gebracht, indem sie die Schriften des Alten Testaments als religiöse Texte zu lesen gelehrt haben, die die Erfahrungen vieler Jahrhunderte konservieren. Auf den Begriff gebracht, läßt sich vielleicht am besten von einer ‚historiographischen Hermeneutik‘ sprechen. Das Alte Testament ist ein geschichtliches Buch und mithilfe der historischen Methode auszulegen. (2) Daß der hier als historiographische Hermeneutik bezeichneten Auslegungsmethode (bereits) ein reflektierter Begriff von ‚Geschichte‘ zugrunde gelegen habe, ist nicht unumstritten geblieben. Insbesondere die alttestamentlichen Exegeten des 20. Jahrhunderts hatten dies (in der Regel) radikal in Frage gestellt. Beispielhaft sei hier der nicht zu hochstilisierenden Übertreibungen neigende Göttinger Alttestamentler Walther Zimmerli1 angeführt, der in den 1950er Jahren vom „Kampf um den Besitz des Alten Testamentes“ spricht, wenn er auf methodische Grundsatzfragen zu sprechen kommt. Es bestehe die Notwendigkeit einer „Rückgewinnung des Alten Testamentes“, es gehe um das „Ringen um den legitimen Besitz“ desselben. Seiner Ausdrucksweise haftet etwas Streitbares und Abwehrendes an. Aus heutiger, rückblickender Perspektive zeigt die gebrauchte Begrifflichkeit zudem deutlich, daß sie weit mehr den Traditionsabbrüchen des eigenen Jahrhunderts verhaftet ist, als Zimmerli selbst bewußt gewesen sein mag. 1
Die folgenden Zitate stammen aus Walther Zimmerli, Vorwort, in: Ders., Das Alte Testament als Anrede (BEvTh 24), München 1956, 5 f., 5. Zu Zimmerli vgl. Jochen Motte, Biblische Theologie nach Walther Zimmerli. Darstellung und Würdigung der alttestamentlichen Theologie Walther Zimmerlis und der sich aus ihr ergebenden Perspektive in systematischtheologischer Sicht (EHS.T 521), Frankfurt am Main / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1995 und Rudolf Smend, Walther Zimmerli, in: Ders., Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 276–298. Letzter Beitrag auch in leicht überarbeiteter Form in der beeindruckenden Sammlung Smends: Kritiker und Exegeten. Porträtskizzen zu vier Jahrhunderten alttestamentlicher Wissenschaft, Göttingen / Bristol 2017, dort 871–893.
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Die Schärfe seiner Formulierungen ist nicht nur den Zeitbedingungen2 und dem demgegenüber heute geänderten Sprachgebrauch geschuldet. Denn – so läßt sich etwas pauschalisierend sagen – seine Generation insgesamt diagnostizierte, daß das Alte Testament für den Protestantismus einen „Fremdling“ darstellt. Gemeint ist damit so etwas wie eine religiöse Distanziertheit gegenüber seinen Überlieferungen. In gewisser Weise wird der Anschein erweckt, als ob trotz aller Vertrautheit mit den alttestamentlichen Traditionen eine grundsätzliche Skepsis besteht, ob diese überhaupt mit den eigenen religiösen Überzeugungen in Einklang zu bringen sind. So führt Zimmerli auch aus, daß ihnen gegenüber eine „Verlegenheit“ empfunden werde.3 Mit etwas Abstand betrachtet zeigt sich, daß es sich um (starke) Vorbehalte gegenüber der historiographischen Hermeneutik handelt, wie sie im 19. Jahrhundert ausgebildet worden ist. Zwar herrschte im Grundsätzlichen ein breiter Forschungskonsens darüber, daß das Alte Testament für den christlichen Glauben eine andere Bedeutung hat als das Neue. Spätestens seit der Zeit der Aufklärung gehört die Reflexion auf das Verhältnis von christlicher zu israelitischer und jüdischer Religion in ihren Unterschieden zu den vielfach untersuchten Themen. Unumstritten ist in der Bibelhermeneutik im Großen und Ganzen auch, daß die Kanonizität des Alten Testaments anders zu bestimmen ist als die des Neuen. Um die Nivellierung der angesichts weitgehender Gemeinsamkeiten nicht ganz einfach zu bestimmenden religionsgeschichtlichen Differenzen zwischen dem alten Israel, dem Judentum und dem Christentum – die die historisch-kritische Bibelforschung der letzten Jahrhunderte herausgearbeitet hat – geht es nicht. 2 Zu den zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen alttestamentlicher Wissenschaft in Deutschland unter den Bedingungen der totalitären Diktatur des „Dritten Reichs“, die natürlich auch Einfluß auf die eigentümliche Bewertung des Alten Testaments durch Zimmerli – und Gerhard von Rad, auf den er sich bezieht – hatte, vgl. Stefan Michel, Alttestamentliche Wissenschaft im „Dritten Reich“. Möglichkeiten und Grenzen einer theologischen Disziplin, in: ZKG 127 (2016), 84–103. 3 In diese Richtung argumentiert auch Notger Slenczka, der – unter Berufung auf Schleiermacher – das Problem erörterte, inwiefern die „Ablehnung der Kanonizität des Alten Testaments als gegenwärtig verantwortbares Denkangebot in Frage kommt“ (Vgl. ders., Das Alte Testament als Problem des Kanonbegriffs, in: Roderich Barth / Ulrich Barth / Claus-Dieter Osthövener [Hgg.], Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009 [SchlAr 24], Berlin / Boston 2012, 267– 287, 267). Damit sorgte er in den 2010er Jahren für nicht geringe Aufregung an den deutschen Theologischen Fakultäten, vor allem dann durch: Ders., Die Kirche und das Alte Testament, in: Elisabeth Gräb-Schmidt / Reiner Preul (Hgg.), Das Alte Testament in der Theologie (MThSt 119 / MJTh 25), Leipzig 2013, 83–119. Eine umfassende Zusammenstellung findet sich in: Notgar Slenczka, Vom Alten Testament und vom Neuen. Beiträge zur Neuvermessung ihres Verhältnisses, Leipzig 2017. Im Kontext der von ihm ausgelösten Debatte fällt dann auch wieder der Begriff des ‚Kampfes‘: Manfred Oeming, Der Kampf um das Alte Testament. Ein Plädoyer für das Alte Testament als notwendigen Bestandteil des christlichen Kanons, in: Markus Witte / Jan Christian Gertz (Hgg.), Hermeneutik des Alten Testaments (VWGTh 47), Leipzig 2017, 1–40.
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Aber trotzdem scheint es die Befürchtung zu geben, daß die im 19. Jahrhundert entwickelten historischen Auslegungsmethoden am eigentlichen Sinn der alttestamentlichen Überlieferungen vorbeigehen bzw. nicht zu ihm vordringen. Anders läßt sich das sinnbildliche ‚Ringen‘ um den ‚Besitz‘ derselben, von dem Zimmerli spricht, nicht verständlich machen. Ebenso wie die für heutige Ohren durchaus martialisch klingende Metapher vom ‚Bodenkampf‘, verweist das gebrauchte Vokabular auf ein tieferliegendes Problem, nämlich die Überzeugung, daß das Alte Testament nicht (allein) historisch zu begreifen ist – jedenfalls nicht im Sinne des im 19. Jahrhundert damit gemeinten. Dessen Verständnis von ‚Geschichte‘ greife zu kurz und gehe an der Eigenart und dem Charakter der biblischen Schriften vorbei. Das Wesen des Alten Testaments gehe nicht im Geschichtlichen auf. Hinter den zahllosen Metaphern Zimmerlis verbirgt sich somit das Unbehagen gegenüber der eigenen Vorläufergeneration. Im Kontext der damaligen Zeitgeschichte und Debattenlage betrachtet, ist kein anderer Schluß möglich. Zweifellos geht es Zimmerli nämlich nicht um einen äußerlichen ‚Kampf‘, erst recht denkt er an keinen von der deutschen, protestantischen Theologie und den christlichen Gemeinden gegen andere Glaubensrichtungen geführten. Seine Aussagen dahingehend zu interpretieren, daß es ihm in Bezug auf das Alte Testament um einen Alleinvertretungsanspruch der wissenschaftlichen Theologie gehe, der möglicherweise sogar als alleiniger Wahrheitsanspruch zu verstehen sei, wäre eine Verzeichnung seiner Position. Vielmehr nutzt er die Bilder von der Rückgewinnung des Alten Testaments, vom Kampf um den verlorenen Boden bei seiner Inbesitznahme, um auf das Ziel der eigenen Forschungen hinzuweisen – nämlich die innerliche Aneignung der alttestamentlichen Geschichten. Im Anschluß an Gerhard von Rad, der prägend für eine ganze Generation von Forschern war, hebt Zimmerli auf die Bedeutung der alttestamentlichen Heilsgeschichte ab. Letztere ist eigentlich gemeint, wenn Zimmerli von ‚Geschichte‘ oder ‚Gesamtgeschichte‘ redet. Er fragt nach dem „Selbstanspruch des Alten Testamentes“, wonach in dessen Heilsgeschichte das „Handeln Gottes zu vernehmen“4 sei. Grundlegend ist für ihn der von Radsche Begriff des ‚Credos‘: „In der Credoformulierung vom Auszug aus Ägypten und der Hineinführung ins Land Kanaan entdeckt er [sc. von Rad] die innerste Aussage, die alle weiteren Aussagebereiche: die Sinaitradition, die Vätergeschichte und schließlich die Urgeschichte sich ein- oder vorgebaut hat.“5 Nicht nur die Überlieferungen des Pentateuchs, sondern des Alten Testaments insgesamt fänden in ihm ihre Mitte. Die „Vielheit von Nachrichten“ findet Zimmerlis Meinung nach in 4 Walther Zimmerli, Einzelerzählung und Gesamtgeschichte im Alten Testament, in: Ders., Das Alte Testament als Anrede, 9–36, 10. 5 A. a. O., 14.
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der in ihnen erzählten Grundgeschichte des Gottesvolkes Israel ihre Einheit, die „Einheit der göttlichen Anrede“6. In diesem Anredecharakter erblickt Zimmerli Parallelen zum Neuen Testament, denn die verschiedenen Evangelien fänden dort in der „erwählende[n] und zugleich zu Verantwortung und Dienst rufende[n] Anrede Gottes in einem geschichtliche Breite besitzenden Geschehnis“7 ihre Einheit. Und so versteht er unter ‚Auslegung‘ folgerichtig die Entschlüsselung dieses einen Gotteswortes.8 Etwas verkürzt ausgedrückt: Walther Zimmerli teilt mit seinen Überlegungen zum Alten Testament als ‚Anrede Gottes‘ die Position der Dialektischen Theologie, die mit ihren Vorgängern brach und den bereits erwähnten Bruch in der Theologiegeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit herbeiführte. In den Forschungen Zimmerlis spiegelt sich dieser radikale Bruch durchweg wider, was in einem merkwürdigen Kontrast dazu steht, daß er die Forschungsgeschichte des eigenen Faches durchweg im Blick hat. So sieht er in den eigenen Überlegungen zur Auslegung der alttestamentlichen Überlieferungen als heilsgeschichtlichem Geschehen eine konsequente Fortsetzung der kritischen Bibelforschung seit Jean Astruc. Und mit Bezug auf einen seiner Vorgänger, den schon genannten Wellhausen – wie Zimmerli einst Professor in Göttingen – merkt er kritisch gegen die eigene Zunft gerichtet an: „Die Arbeit der literarkritischen Forschung […] ist nicht umsonst getan worden. Sie hat zu einigen Ergebnissen geführt, die trotz neuerlicher Anzweifelung wohl nicht umzustoßen sind.“9 In der Konsequenz bringt Zimmerli damit zum Ausdruck, daß er mit den bibelhermeneutischen Überlegungen seiner Vorgängergeneration nicht viel anfangen kann. Selbst vor reichlich formalen Verwahrungen scheut er sich nicht. So wirft er ihnen „Objektivismus“ und „Materialismus“10 vor, wobei es sich bei Lichte betrachtet um Absetzbewegungen von Wellhausens literarkritischen und -geschichtlichen Forschungen handelt. Immer wieder mündet Zimmerlis Abgrenzung in dem Vorwurf, Wellhausen und damit pars pro toto das ganze 19. Jahrhundert habe keinen rechten Begriff von Geschichte ausgebildet. Auch wenn die Kritik zumeist positiv daher kommt, ist sie doch von schneidender Schärfe: „Es leidet keinen Zweifel, daß Wellhausen […] bei aller zeitgebundenen Befangenheit in gewissen Entwicklungsschemata Elemente, die für die Methodik historischen Arbeitens unaufgebbar sind, zur Geltung bringt. Aber ist man mit dem Dringen auf den tendenzreinen Quellenbericht wirklich auf dem 6
A. a. O., 28.
7 Ebd. 8 „Auslegung
wird […] ein seltsam dialektischer Vorgang werden. Nicht um die gewaltsame Nivellierung der Einzelaussagen auf ein gesetzlich vorgegebenes Gesamtbild hin wird es gehen, sondern darum, den Hinweis der einzelnen Ausprägung auf den von allem einzelnen Erzählen gemeinten Handelnden, Rufenden, Gebietenden zu vernehmen.“ (A. a. O., 31) 9 A. a. O., 14. 10 A. a. O., 12.
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Wege zur Erkenntnis der Geschichte, die das Alte Testament in seinen erzählenden Partien zu Gehör bringen möchte?“11 Hält man sich diese Anfrage vor Augen, so wird verständlich, warum es sich bei Zimmerlis Vorwurf des ‚Objektivismus‘ und ‚Materialismus‘ nicht um Plattitüden handelt. Denn den Forschern des 19. Jahrhunderts wird unterstellt, mit ihren Darstellungen zur israelitischen und jüdischen Geschichte einem falsch verstandenen Objektivitätsideal gehuldigt zu haben und an einer rein gegenständlichen Faktengeschichte interessiert gewesen zu sein. Damit hätten sie jedoch die eigentliche Intention des Alten Testaments verfehlt, das nur als heilsgeschichtliches Dokument richtig verstanden ist. Über ihrem Interesse an dem vermeintlich tatsächlich historisch Geschehenen ist diesen Bibelforschern verborgen geblieben, daß das Alte Testament als ‚Anrede Gottes‘ ausgelegt werden muß – so Zimmerli.12 Damit einher geht die Unterstellung, daß der persönliche Bezug zu der im Alten Testament berichteten Heilsgeschichte gefehlt habe. Einem Materialismus der reinen Sachaussagen folgend, hätten sie den von ihnen rekonstruierten vermeintlichen Urtext gegenständlich für reine Tatsachen genommen, indem sie ihn tendenzkritisch von fälschenden Eintragungen gesäubert hätten. Alles in allem handelt es sich um eine grobe Verzeichnung der Leistungen des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Hermeneutik des Alten Testaments; ganz abgesehen davon, daß auch Zimmerlis Forderung einer heilsgeschichtlichen Interpretation selbst aus heutiger Perspektive deutlichen Anfragen ausgesetzt ist.13 Wenn er diesbezüglich von einem ‚Kampf‘ spricht, erzeugt das zudem eine falsche Vorstellung von den Vorgängen zu Zeiten Zimmerlis. Denn eine Auseinandersetzung mit den Forschungen der Vorgängergeneration fand kaum statt, in den allermeisten Fällen wurden sie schlichtweg für obsolet erachtet. Sie wurden nicht bekriegt, sondern in der Regel einfach ignoriert. Die eigenen Ahnen schienen zu stark dem Denken einer überwunden geglaubten 11
A. a. O., 11. macht Zimmerli seiner Vorgängergeneration zum Vorwurf, die Bedeutung des sogenannten kleinen geschichtlichen Credos nicht erkannt zu haben: „In der Herausführung aus Ägypten hört Israel die Anrede seines Gottes. Seine Credoformulierung, die von der Herausführung durch Jahwe redet, redet vom Offenbarwerden Jahwes über Israel. Wer die Erzählung vom Auszug im Munde Israels als rein gegenständliche Sachaussage hört, hat ihr Entscheidendes nicht gehört. Sie deutet auf eine Geschichte gewordene Anrede Jahwes an sein Volk – ein Wort, das des Menschen Antwort heischt.“ (A. a. O., 17) 13 Vgl. nur Uwe Becker, Abschied von der Geschichte? Bemerkungen zu einem aktuellen Grundproblem der alttestamentlichen Hermeneutik, in: Angelika Berlejung / Raik Heckl (Hgg.), Ex oriente Lux. Studien zur Theologie des Alten Testaments. FS für Rüdiger Lux zum 65. Geburtstag (ABG 39), Leipzig 2012, 591–604; Bernard M. Levinson, Der kreative Kanon. Innerbiblische Schriftauslegung und religionsgeschichtlicher Wandel im alten Israel, Tübingen 2012 und Jan Christian Gertz, Schriftauslegung in alttestamentlicher Perspektive, in: Friederike Nüssel (Hg.), Schriftauslegung (Themen der Theologie 8), Tübingen 2014, 9–41. 12 Inhaltlich
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Epoche verhaftet zu sein, als daß sich eine eingehendere Diskussion ihrer Thesen gelohnt hätte. Zwar steht durchaus zu vermuten, daß von Rad mit seiner Formulierung: „Das A. T. ist ein Geschichtsbuch“14 Anleihen bei seinen Vorgängern genommen hat. Aber sein heilsgeschichtliches Konzept, wonach die alttestamentlichen Überlieferungen eine durch Gottes Wort gewirkte Geschichte von der Schöpfung der Welt bis zum Kommen des Menschensohnes Jesus Christus darstellen, läßt doch keine Anknüpfungen an die Forschungen des ‚historischen‘ 19. Jahrhunderts erkennen. (3) Insbesondere im Hinblick auf den letztgenannten Punkt stellen die vorliegenden Studien zu zentralen Alttestamentlern des 19. Jahrhunderts eine Problemanzeige dar und möchten die Diskussion um die alttestamentliche Hermeneutik weiterführen. Denn obgleich kaum bestritten werden kann, daß jede neue Wissenschaftlergeneration auf den Schultern ihrer ‚Wegbereiter‘ steht, so ist doch das hermeneutische Potential der hier untersuchten Forscher bisher kaum erörtert worden und damit in der Konsequenz auch ungenutzt geblieben. Dies gilt unbeschadet davon, daß die ‚historische Methode‘ im allgemeinen als eine der großen Errungenschaften der universitären Forschungen der letzten Jahrhunderte angesehen wird. Nicht nur in der gegenwärtigen exegetischen Wissenschaft wird immer mehr wiederentdeckt, wie stark (auch) die Bibelhermeneutik über die gesamttheologischen und inneruniversitären Diskursen hinaus von außeruniversitären Entwicklungen geprägt ist, weshalb wieder verstärkt die Geschichte des eigenen Fachs in den Blick gerät. Dazu kommt die Frage nach den übergreifenden theologiegeschichtlichen Zusammenhängen, denen die exegetische Forschung verpflichtet ist – auch dann, wenn sie dies nicht bewußt reflektiert. Die vorliegenden Studien selbst sind aus dem Projekt einer Arbeit zur alttestamentlichen Hermeneutik Julius Wellhausens hervorgegangen. Er wird gerne als ‚Bahnbrecher‘ der historiographisch verfahrenden Auslegungskunst bezeichnet. Seine ‚Geschichte Israels‘ habe „Epoche“15 gemacht. Wellhausen erschien deshalb als ein geeigneter Ausgangspunkt für die Frage nach dem durch die Forschungen des 19. Jahrhunderts angestoßenen Umformungsprozeß, den die alttestamentliche Hermeneutik durchlaufen hat. Im Verlauf der Untersuchung verlagerte sich das vornehmliche Interesse aber auf die Vorgeschichte, mithin die ‚Wegbereiter‘ seines Syntheseversuchs. Denn obgleich Wellhausens 14
Gerhard von Rad, Typologische Auslegung des Alten Testaments, in: EvTh 12 (1953), 17–33, 23. Vgl. dazu die Beiträge in Uwe Becker / Jürgen van Oorschot (Hgg.), Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch?! Geschichtsschreibung oder Geschichtsüberlieferung im alten Israel (ABG 17), Leipzig 2005 und Erhard Blum / William Johnstone / Christoph Markschies (Hgg.), Das Alte Testament – ein Geschichtsbuch. Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971). Heidelberg, 18.–21. Oktober 2001 (ATM 10), Münster 2005. 15 Rudolf Smend, Julius Wellhausen. Ein Bahnbrecher in drei Disziplinen, München 2006, 1.
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Thesen in der gegenwärtigen Forschung nicht unumstritten sind, so erfreuen sie sich doch auch noch über einhundert Jahre nach der Erstveröffentlichung seiner zentralen Schriften einer großen Bekanntheit. Sie werden in der Forschung breit rezipiert. Hingegen liegt eine umfassende Untersuchung zum Einfluß des Wandels des Geschichtsbegriffs auf die religionsgeschichtliche Erforschung des Alten Testaments bislang nicht vor. Möglicherweise ist dies auch den Arbeiten Wellhausens selbst geschuldet. Seine bis heute unbestrittene Wertschätzung als prominentester Vertreter der sogenannten ‚literarkritischen Schule‘, dessen Ausnahmestellung von Anfang an deutlich gewesen sei16 und der die Basis für die Rekonstruktion der Geschichte und Religionsgeschichte Israels gelegt habe – ganz unabhängig von der Frage, wie sie heute zu beurteilen ist –, läßt die Forschergeneration unmittelbar vor ihm uninteressant erscheinen und in seinem Schatten verblassen. Daß dies ihren Leistungen nicht gerecht wird, soll im folgenden anhand ausgewählter ‚Wegbereiter‘ herausgearbeitet werden. Die Liste der behandelten Autoren ließe sich unschwer noch um den einen oder anderen Forscher ergänzen. So wurde insbesondere die in der damaligen Epoche sehr wortgewaltige Gruppe der sich selbst als kirchlich und orthodox verstehenden Alttestamentler ausgeklammert. Ziel der Studien ist die exemplarische Darstellung der schrittweisen Ausbildung einer historiographischen Hermeneutik, die am Beispiel der Religionsgeschichte entwickelt wurde. Ohne sie ist eine moderne historisch-kritische Bibelauslegung nicht denkbar. Um den Rahmen der vorliegenden Studien nicht gar so weit zu strapazieren, mußte auch innerhalb dieses engen Fragehorizonts eine Begrenzung auf die zentralen Wegbereiter Wellhausens vorgenommen werden. Die übergeordnete Frage nach der Ausbildung und Leistungskraft der historiographischen Hermeneutik bringt es mit sich, daß damit nicht unbedingt das eigene Selbstverständnis beispielsweise eines Wilhelm Martin Leberecht de Wette oder eines Heinrich Ewald getroffen wird. Zudem kommen trotz der notwendigen Beschränkung auch Gelehrte zu Wort, die heute wohl eher zu den Randgestalten gezählt werden. Dennoch haben auch sie, wie gezeigt wird, einen nicht zu vernachlässigenden Beitrag zur Ausbildung der am Paradigma der Religionsgeschichte orientierten historiographischen Hermeneutik geleistet. Einige von ihnen galten schon damals eher als Außenseiter und sind heute zum Teil fast gänzlich in Vergessenheit geraten – was dem Rang ihrer Beiträge zur Diskussion um die alttestamentliche Hermeneutik nicht angemessen ist. 16 Vgl. a. a. O., bes. 7. Zu Wellhausen siehe – neben den zahllosen Beiträgen Smends – zudem die Beiträge in: Douglas A. Knight (Hgg.), Julius Wellhausen and His Prolegomena to the History of Israel (Semeia 25), Chico 1983, Reinhard Gregor Kratz, Art. Wellhausen, Julius, in: TRE 25 (2003), 527–536 und Paul Michael Kurtz, Kaiser, Christ, and Canaan. The Religion of Israel in Protestant Germany, 1871–1918 (FAT 122), Tübingen 2018, bes. 19–165.
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(4) Hermeneutik, auch alttestamentlicher Hermeneutik geht es darum, Verstehen zu ermöglichen. Zur Absicherung dieses Verstehens – so kann in aller Allgemeinheit festgehalten werden – bedarf es eines kritischen Verfahrens, wobei die vorfindliche Fülle des Begriffs ‚Hermeneutik‘ auch damit zusammenhängen mag, daß sich ihr Methodeninstrumentarium nicht nur auf das Verstehen historischer Überlieferungen wie der des Alten Testaments beschränkt, sondern selbst geschichtlich verfaßt ist.17 Sprach man früher gerne davon, daß sich die Hermeneutik in einer Krise befindet, so spiegelt heute gerade auch die wissenschaftliche Theologie den im allgemeinen Verstehensproblem angelegten Bedeutungsreichtum des Hermeneutikbegriffs wider. Zwei Beispiele mögen zur Veranschaulichung der Situation angeführt werden: Zum einen hat sich innerhalb der wissenschaftlichen Theologie unter dem Schlagwort ‚Hermeneutische Theologie‘ eine Richtung herausgebildet, die zwar unbestreitbar ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte – genannt seien nur Gerhard Ebeling und Eberhard Jüngel –, die aber auch aktuell noch vertreten wird und einen fundamentalen Wechsel in eine theologische Perspektive fordert. Aufgrund ihres Hermeneutikverständnisses als eines radikalen Standpunktwechsels zum Glauben, der eine neue Sichtweise auf die gesamte Wirklichkeit bewirke, beleuchtet sie das Problem aus einer eigenwilligen Perspektive.18 So etwas wie einen allgemeinen Wissenschaftsdiskurs negiert sie in der Konsequenz. Zum anderen zeigt schon ein flüchtiger Blick in den äußerst umfangreichen, mehr als 250seitigen Literaturbericht aus den Jahren 2005 / 2006 von Henning Graf Reventlow zum Thema der alttestamentlichen Theologie und Hermeneutik die ungeheure Fülle der Veröffentlichungen. Angefangen von forschungsgeschichtlichen Arbeiten (1.), über Projekte einer gesamtbiblischen Theologie (2.), Publikationen zur alttestamentlichen Ethik (3.), zum Kanonproblem (4.), zum christlich-jüdischen Dialog (5.), zur biblischen Hermeneutik (6.), zur alttestamentlichen Religionsgeschichte (7.), zum biblischen Monotheismus (8.) und zur biblischen Rede von Gott (9.), bis hin zu auslegungsgeschichtlichen Arbeiten (10.) und einigem anderen mehr schlägt Reventlow einen großen Bogen und entdeckt selbst in auf den ersten Blick eher entlegen erscheinenden Veröffentlichungen Diskussionen hermeneutischer Probleme.19 Die Spannbreite 17 Vgl. Gerhard Ebeling, Art. Hermeneutik, in: RGG3 3 (1959), 242–262; Jean Grondin, Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 22001, bes. 13–32 und Marianne Schröter, Aufklärung durch Historisierung. Johann Salomo Semlers Hermeneutik des Christentums (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 44), Berlin / Boston 2012, bes. 1–11. 18 Vgl. Ingolf Ulrich Dalferth, Radikale Theologie (ThLZ.F 23), Leipzig 22012 und den jüngsten Literaturüberblick von Ulrich Heinz Jürgen Körtner, Literatur zur theologischen Hermeneutik I, in: ThR 79 (2014), 190–223 und II, a. a. O., 436–475. 19 Henning Graf Reventlow, Biblische, besonders alttestamentliche Theologie und Hermeneutik I. Forschungsgeschichte und Gesamtdarstellungen, in: ThR 70 (2005), 1–43; II. Gesamtbiblische Theologie. Alttestamentliche Ethik, a. a. O., 137–173; III. Kanonproblem. Christlich-jüdisches Gespräch. Biblische Hermeneutik, a. a. O., 279–337; IV. Alttestamentli-
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zeugt von den angesprochenen, vielfältigen Facetten des Hermeneutikbegriffs. Selbstverständlich ließen sich auch zahlreiche Publikationen aus jüngster Zeit in dem Reventlowschen Überblick ergänzen.20 Die folgenden Studien zur alttestamentlichen Hermeneutik möchten eine Forschungslücke schließen. Trotz der Untersuchung vieler Einzelaspekte – die wesentlichen Forschungsbeiträge sind in den Kapiteln zu den jeweiligen Autoren verzeichnet – fehlt eine zusammenhängende Darstellung der Entwicklung des Jahrhunderts, in dem die Basis für die heutige historisch-kritische Erforschung des Alten Testaments gelegt wurde. Und auch wenn die Frage nach der je persönlichen Stellung zu den Forschungen Julius Wellhausens neuerdings so etwas wie die Gretchenfrage der heutigen alttestamentlichen Forschung darzustellen scheint – ganz unabhängig davon ist sein Werk eine eminent bedeutsame Synthese, die den zentralen Anknüpfungspunkt für die wissenschaftliche Betrachtung des Alten Testaments in der Folgezeit bildete und die bis heute nachwirkt. Diese Syntheseleistung ist ohne die dem Paradigma der Religionsgeschichte verhaftete Entwicklung der alttestamentlichen Hermeneutik im 19. Jahrhundert nicht verständlich. Eine moderne historisch-kritische Bibelhermeneutik hängt ohne die Beachtung dieser Vorarbeiten in der Luft. Auch wenn es meist nicht bewußt nachvollzogen wird, so ist doch festzuhalten, daß die geschichtliche Erfassung der im Alten Testament sich widerspiegelnden Religionsgeschichte zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Hinter die in jahrzehntelanger Arbeit erzielten Erkenntnisse der historisch verfahrenden Forschung des 19. Jahrhunderts gibt es kein Zurück. (5) Die Auswahl der im Folgenden untersuchten Autoren ist davon bestimmt aufzuzeigen, wie nach und nach die Spezifika der altisraelitischen und jüdischen Religion mit Hilfe einer historiographischen Hermeneutik herausgearbeitet wurden. Sie alleine sei in der Lage, die theologischen Besonderheiten des Alten Testaments zu erfassen – so die allgemein geteilte Auffassung dieser Forschergeneration. Sie nimmt zudem gelegentliche Hinweise Wellhausens che Theologie und / oder israelitische Religionsgeschichte. Biblischer Monotheismus. Alttestamentliche Theologie als Rede von Gott, a. a. O., 408–454; V. Theologische Einzelthemen, in: ThR 71 (2006), 1–59 und VI. Auslegungsgeschichte. Jahrbuch für Biblische Theologie, a. a. O., 141–163. 20 Vgl. nur Achim Behrens, Das Alte Testament verstehen. Die Hermeneutik des ersten Teils der christlichen Bibel (Einführungen in das Alte Testament 1), Göttingen 2013; Ulrich Barth, Evangelienhermeneutik als Prolegomena zur Christologie. Schleiermacher, Luther und die neuere Historik, in: Ders., Kritischer Religionsdiskurs, Tübingen 2014, 321–351; Ulrich Heinz Jürgen Körtner, Arbeit am Kanon. Studien zur Bibelhermeneutik, Leipzig 2015; Bradley Hudson McLean, Biblical Interpretation and Philosophical Hermeneutics, Cambridge / New York / Melbourne / Madrid / Cape Town / Singapore / São Paulo / Delhi / Mexico City 2012; Seizo Sekine, Philosophical Interpretations of the Old Testament (BZAW 458), Berlin / Boston 2014 und den von grundsätzlichen hermeneutischen Überlegungen geprägten Beitrag von Christoph Levin, Entwurf einer Geschichte Israels (Julius-Wellhausen-Vorlesung 5), Berlin / Boston 2017.
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auf, insbesondere aus den 1878 noch unter anderem Titel erstmals erschienenen ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘. Dabei erklärt sich der Einsatz bei Wilhelm Martin Leberecht de Wette (Kapitel I) mehr oder weniger von selbst. Vollkommen unbestritten gilt er bis heute in der Forschungsliteratur als der entscheidende Wegbereiter der Entwicklung hin zur Ausbildung der religionsgeschichtlich fragenden historischen Theologie: „[I]t was W. M. L. de Wette who pioneered a breakthrough in the critical reconstruction of ancient Israelite history that set an agenda with which all subsequent scholarship has had to come to terms“21. Wie die Forschung herausgearbeitet hat, nimmt de Wette zahlreiche theologische und philosophische Überlegungen seiner Zeit auf und läßt sie in seine Werke einfließen. Im Hinblick auf die Interpretation des Alten Testaments ist immer wieder auf die Rezeption der seinerzeit blühenden Mythenforschung hingewiesen worden, sowie die Aufnahme und Weiterführung Schleiermacherscher und Herderscher Gedanken. Zudem wurde der Einfluß Friesscher Philosopheme stark gemacht, gerade auch im Hinblick auf de Wettes ästhetische Religionstheorie und Bibelhermeneutik. Diese Diskussionen nehmen die folgenden Überlegungen auf, wobei sie speziell nach den theologischen und philosophischen Grundlagen von de Wettes Hermeneutik und nach seiner Interpretation des Alten Testaments fragen. Neben Herder, Schleiermacher und Fries soll insbesondere auch auf die Prägung durch Schelling eingegangen werden, der mutmaßlicher Weise gerade den jungen de Wette weit mehr beeinflußte, als gemeinhin angenommen wird. Und neben de Wettes nicht hoch genug zu veranschlagender Bedeutung für die ästhetische Erschließung der alttestamentlichen Texte als Zeugnisse gelebter Religion soll aufgezeigt werden, daß er auch für die Weiterführung aufklärerischer Bibelkritik steht. Vermutlich – so die These – wird gerade ihre Rezeption dazu beigetragen haben, daß de Wette noch heute als einer der bedeutendsten Alttestamentler zu Beginn des Jahrhunderts des sogenannten ‚Historismus‘ gilt. Gegenüber einer von dogmatischen Vorannahmen geprägten Interpretation hat er mit seiner am besten als Verknüpfung von historisch-idealischer und fromm-ästhetischer Betrachtungsweise zu bezeichnenden Bibelhermeneutik einen neuen Blick auf die Religionsgeschichte des Alten Testaments und auf die besonderen Erscheinungsformen der israelitischen und jüdischen Religion eröffnet. Johann Friedrich Leopold George (Kapitel II) zählt gegenüber de Wette wohl eher zu den unbekannteren Interpreten des Alten Testaments. Gleichwohl hat er, mehr oder weniger zum Kreis der Berliner Schüler Schleiermachers zählend, einen zu Unrecht fast gänzlich vergessenen Beitrag zur Diskussion um die alttestamentliche Hermeneutik geleistet, der nicht unbeachtet bleiben sollte. Aufbauend auf den de Wetteschen Grundlagenarbeiten teilte George dessen 21 John William Rogerson, A Theology of the Old Testament. Cultural Memory, Communication and Being Human, London 2009, 6.
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religionsgeschichtlichen Ansatz im Großen und Ganzen, übte aber Kritik im Detail – insbesondere in Bezug auf die Interpretation der priesterschriftlichen Passagen des Pentateuchs kam er zu anderen Ergebnissen. Es soll gezeigt werden, wie George, fußend auf kritischen Untersuchungen zu den Überlieferungen des Alten Testaments, nach der historischen Verortung der einzelnen Texte und Textpassagen fragte, Thora und Vordere Propheten in kleinere Überlieferungseinheiten teilte und auf dieser Grundlage eine Rekonstruktion der religionsgeschichtlichen Entwicklung des alten Israels und des Judentums vornahm. Getragen von der Überzeugung, daß den Festen eine paradigmatische Bedeutung zukomme – evidenter Weise ausgehend von ursprünglich freien, familiären Feiern im Gegensatz zu späteren ritualisierten, staatstragenden Kulthandlungen und verschiedenen geschichtlichen Zwischenschritten –, unternahm er den Versuch einer genetischen Erklärung der israelitischen und jüdischen Geschichte. Mit ihr bestimmte er nicht nur Wellhausens Sicht auf die alttestamentliche Religionsgeschichte nachhaltig. Die Erkenntnis der besonderen überlieferungsgeschichtlichen Bedeutung von Fest und Kult für die Interpretation des Alten Testaments ist Georges Verdienst. Georg Heinrich August Ewald (Kapitel III) – Lehrer und Förderer Wellhausens – wird einerseits zwar zu den bedeutendsten Bibelkritikern aller Zeiten gezählt, dessen Werk nicht unzutreffend mit den Schlagworten ‚critical‘, ‚traditional‘ und ‚theological‘ (John William Rogerson) charakterisiert wird. Andererseits haftet seinen Forschungen der Geruch an, Produkte einer längst vergangenen und überholten Epoche zu sein. Nicht zuletzt sein Schüler Wellhausen hat dazu beigetragen, seine Forschungen als sprachgeschichtlich sehr gelehrte Arbeiten zu verstehen, die jedoch als dezidiert traditioneller und theologischer Gegenentwurf zu dem von de Wette angestoßenen Weg der liberalen Bibelkritik zu stehen kämen. Sie schienen bereits zur Zeit ihrer Entstehung in Teilen überholt. Möglicherweise hat Ewalds nicht einfaches Naturell zu dieser Beurteilung beigetragen. Noch heute wird Ewalds Deutung der Propheten als großer Persönlichkeiten gelegentlich als dessen Selbstcharakterisierung verstanden. Mag diese Beurteilung partiell berechtigt sein, begünstigt auch durch Ewalds Selbstinszenierung als Gelehrter, so soll im Folgenden doch der Versuch unternommen werden, ihn und sein Werk als Vertreter der am Paradigma der Religionsgeschichte orientierten historiographischen Hermeneutik verständlich zu machen. Trotz seines nicht nur aufgrund des Umfangs heute nicht anders als sperrig zu bezeichnenden literarischen Œuvres – zumal in Kombination mit der gegenwärtig nicht gerade als salonfähig geltnden Hochschätzung der Bedeutung großer Persönlichkeiten – steht in Frage, ob Ewald mit seiner Verknüpfung von Philologie und Literaturgeschichte nicht doch einen bleibend wichtigen Beitrag zur Diskussion um die Interpretation des Alten Testaments in der Moderne leistete. Karl Heinrich Graf (Kapitel IV) gilt auch jenseits der engen Grenzen des eigenen Fachs als eine Schlüsselfigur der alttestamentlichen Wissenschaft des
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19. Jahrhunderts. Dies steht jedoch in einem merkwürdigen Gegensatz dazu, daß in der gegenwärtigen Forschung kaum eingehendere Auseinandersetzungen mit seinem Werk zu finden sind. Zwar ist sein Name natürlich in der Einleitungswissenschaft präsent, und seine Thesen zur Spätdatierung zentraler Teile der Priesterschrift des Hexateuchs – von ihm in der damals gebräuchlichen Weise als ‚elohistische Grundschrift‘ bezeichnet – gehören zum theologischen Basiswissen. Aber gerade im Hinblick auf Graf ist doch zu konstatieren, daß er im Schatten Wellhausens steht. Dieser wird als der eigentlich interessante Autor angesehen, für den Graf letztendlich (nur) die Grundlagen gelegt habe. Daß die Priesterschrift nicht der Ausgangspunkt für die Geschichte des alten Israels, sondern für die nachexilische Geschichte des Judentums ist, sei ihm in der Klarheit der Wellhausenschen Beweisführung noch nicht zu Bewußtsein gekommen. Grafs Beitrag zur Erforschung der jüdischen Geschichte, die seiner Meinung nach nicht als eine Epoche epigonenhaften Sammelns und Redigierens mißverstanden werden dürfe, sondern vielfach originelle Denker und Schriftsteller hervorgebracht habe, was sich gerade auch an ihren Bemühungen um die Bildung des alttestamentlichen Kanons zeige, wird kaum eingehender gewürdigt. Unbeschadet von der Einsicht, daß der kultur- und rechtsgeschichtliche Prozeß der Verschriftlichung der Priesterschrift des Alten Testaments viel komplizierter ist, als sich dies Graf (inklusive seiner Zeitgenossen) vorstellte, kommt ihm nicht nur als demjenigen Bedeutung zu, der der Spätdatierung des priesterlichen Gesetzes zum Durchbruch verholfen hat. Anknüpfend an die gängigen Deutungen des Werkes Grafs problematisieren die folgenden Überlegungen seine religionsgeschichtliche Verortung der alttestamentlichen Überlieferungen. Für seine Interpretation des Alten Testaments ergibt sich dabei die von inhaltlichen Schwierigkeiten abstrahierende Problematik, ob er mit seiner vielleicht am Besten als redaktionsgeschichtliche Fragestellung zu bezeichnenden Methodik nicht doch auch einen wichtigen Beitrag zur alttestamentlichen Hermeneutik beisteuerte. Johann Karl Wilhelm Vatke (Kapitel V) steht in seiner Rezeption in gewisser Weise ebenfalls im Schatten Wellhausens. Denn fragt man nach der ersten Darstellung der Geschichte Israels, der ein reflektierter und gehaltvoller Begriff von Geschichte zugrundeliegt, so fällt dessen Name und nicht der Vatkes. Dabei hat letztgenannter – und dies wurde ihm von Wellhausen auch zuerkannt22 – die Unterscheidung einer israelitischen und einer jüdischen Religion eingeführt. Er hat zuerst gezeigt, daß die Priesterschrift den Ausgangspunkt für die nachexilische, jüdische Geschichte bildete und deshalb mit dem mosaischen Gesetz eine wie auch immer näher zu bestimmende religionsgeschichtliche Sonderstel22
Erinnert sei nur an Wellhausens Selbstverortung der eigenen Themenstellung in den ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘: „Meine Untersuchung ist breiter angelegt als die Graf’s und nähert sich der Art Vatke’s, von welchem letzteren ich auch das Meiste und Beste gelernt zu haben bekenne.“ (PzGI1 14)
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lung des alten Israels nicht begründet werden könne. Diese Problemstellung hat auch noch jüngst Reinhard Gregor Kratz mit seiner Unterscheidung von ‚historischem‘ und ‚biblischem‘ Israel prominent aufgegriffen – und auf Wellhausen zurückgeführt.23 Es soll gezeigt werden, daß bereits Vatke auf der Grundlage der Untersuchung der alttestamentlichen, priesterschriftlichen Kultgesetze zu einer historischen Abfolge kam, derzufolge sich aus dem alten Israel das Judentum entwickelte. Dieses Nacheinander konstatierte er sowohl für die alttestamentlichen Überlieferungen als auch für die damit korrelierende israelitische und jüdische Geschichte. Damit steht die Frage im Raum, ob nicht seinem von Hegel inspirierten spekulativen Zugriff auf die biblische Religionsgeschichte eine weit größere Bedeutung für die alttestamentliche Wissenschaft zukommt als gemeinhin angenommen wird. Abraham Kuenen (Kapitel VI) knüpft an die Forschungen Grafs an – insbesondere an die zum Pentateuch. Dabei ist es sein Verdienst, die Einheit der priesterschriftlichen Gesetzgebung und Geschichtsschreibung erkannt und herausgearbeitet zu haben. Kuenen zählt zu den Begründern der ‚Lex-post-prophetas-Hypothese‘, derzufolge die Priesterschrift jüngeren Datums ist als das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie und als jüngste der Pentateuchquellen zu gelten hat. Seine Arbeiten zum Alten Testament wurden von Wellhausen intensiv traktiert und zu den innovativsten seiner Zeit gezählt, was Kuenen nicht zuletzt bis heute seinen Platz in der alttestamentlichen Forschungsgeschichte sicherte. Sie zeugen von einer gewandelten Diskussionslage und stellen etwa gegenüber Vatkes spekulativer Fragestellung so etwas wie eine methodische Ernüchterung dar. Karl Budde würdigte ihn mit folgenden Worten: „Was seine Arbeiten auszeichnete, ist die Sicherheit der Methode. Möglichst vollständige Sammlung des Stoffes, auch von den entlegensten Stellen; äußere Ruhe und Umsicht der Untersuchung; eine Sachlichkeit und Unparteilichkeit des Urteils, die kaum ihres gleichen findet; fast unfehlbare Sicherheit über die Tragweite eines jeden Schlusses; Aufarbeitung des Stoffes bis auf den letzten Rest. Selten bleibt ein Seitenweg unversucht, selten eine mögliche Folgerung, auch bis in die feinsten Spitzen hinein, ungezogen; aber die Grade der Wahrscheinlichkeit der Ergebnisse werden auf das gewissenhafteste unterschieden, der Leser kann sich fest darauf verlassen, daß er niemals durch eine persönliche Vorliebe 23 „Die Schlußfolgerung [daß man mit einem Nebeneinander von Israel als historischer Größe und als literarischer Tradition zu rechnen habe, Anm. M. G.] erinnert nicht von ungefähr an die fundamentale Unterscheidung von Julius Wellhausen zwischen ‚altem Israel‘ und dem ‚Judentum‘, die er in seiner Analyse der ‚Composition des Hexateuchs und der erzählenden Bücher der Alten Testaments‘ (1899) und den ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘ (1905) begründet und in der ‚Israelitischen und jüdischen Geschichte‘ (1914) historiographisch ausgeführt hat.“ (Reinhard Gregor Kratz, Historisches und biblisches Israel. Drei Überblicke zum Alten Testament, Tübingen 2013, 279 f.) Dabei ist Kratz durchaus forschungsgeschichtlich sehr gut informiert und verweist beispielsweise auf die Vorarbeiten de Wettes. Der Name Vatke fällt allerdings nicht.
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des Verfassers geblendet wird.“24 Im Folgenden wird nach den Leistungen dieses großen Gelehrten für die alttestamentliche Religionsgeschichtsschreibung gefragt. Zunächst sollen die theologischen und philosophischen Grundlagen seiner historiographischen Hermeneutik erläutert werden, insbesondere auf der Grundlage seiner Schriften zur Thora und den Vorderen und Hinteren Propheten. Darauf aufbauend wird Kuenens Interpretation des Alten Testaments erörtert, die maßgeblich durch seine literar- und religionsgeschichtliche Herangehensweise geprägt ist. Abschließend soll die in der gegenwärtigen Forschung so kaum noch vertretene, damals aber Kuenens ‚Weltruf‘ (Budde) begründende These vom ethischen Monotheismus der israelitischen Propheten diskutiert werden – die weit über die engen Grenzen der eigentlichen Prophetenforschung und den fachwissenschaftlichen Rahmen hinaus rezipiert wurde. Abraham Geiger (Kapitel VII) und sein Werk werden gerade in der gegenwärtigen Forschung breit diskutiert, wenn auch nicht im Rahmen der Bibelhermeneutik. Dabei haben seine Untersuchungen im Kontext der Diskussionen um die alttestamentliche Hermeneutik keine unwesentliche Rolle gespielt. Geigers methodische Überlegungen, so die im folgenden vertretene These, prägen indirekt die alttestamentliche Wissenschaft bis heute. Aufgrund seiner prominenten Stellung im Rahmen des liberalen Judentums gehört er zu den Forschern des 19. Jahrhunderts, dessen Werke nicht in Vergessenheit geraten sind. Der Stand der Forschung im Rahmen der sogenannten ‚Wissenschaft des Judentums‘ soll im Folgenden mitreflektiert werden, wenn nach seinem Beitrag zur am Paradigma der Religionsgeschichte orientierten historiographischen Hermeneutik gefragt wird. Einerseits ist Geigers Hinterfragung christlicher Deutungsstereotypen ohne die Beachtung seiner Stellung als nichtchristlicher Forscher, der zu seiner Zeit von den inneruniversitären Diskursen weitestgehend ausgeschlossen wurde, nicht zu verstehen. Andererseits ist ohne die Beachtung seiner Stellung im Kontext der Diskussionen um die alttestamentliche Hermeneutik im 19. Jahrhundert, die er rezipierte und nachhaltig beeinflußte, ein umfassendes Verständnis seiner Leistungen nicht möglich. Anknüpfend an die gegenwärtige Forschung zu Leben und Werk Abraham Geigers soll daher im folgenden nach seinem spezifischen Beitrag zur Diskussion um die alttestamentliche Hermeneutik gefragt werden, deren Schwerpunkt naturgemäß auf der Untersuchung der jüdischen Geschichte liegt. Geiger zieht in seinen Schriften die Linien bis in die eigene Gegenwart und begreift durchaus selbstbewußt auch das Judentum der eigenen Zeit als lebendige Religion. Wie zu zeigen sein wird, stellt gerade seine Frage nach den Autoren der alttestamentlichen und parabiblischen Überlieferungen – wobei Geiger nicht nur an deren ursprünglichem Entstehen interessiert ist, sondern auch Überarbeitungsprozesse herausarbeitet – einen wich24 Karl Budde, Vorwort, in: Abraham Kuenen, Gesammelte Abhandlungen zur Biblischen Wissenschaft. Aus dem Holländischen von Karl Budde, Freiburg im Breisgau / Leipzig 1894, III–XII, V.
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tigen Beitrag zur historiographischen Hermeneutik dar, dem letztlich auch noch die gegenwärtigen Bibelwissenschaften verpflichtet sind. (6) Die vorgenommene Zusammenstellung von de Wette, George, Ewald, Graf, Vatke, Kuenen und Geiger – die noch dazu als Wegbereiter Julius Wellhausens in den Blick genommen werden – möchte keine falschen Kontinuitäten und Übereinstimmungen suggerieren oder konstruieren. Jeder der Behandelten wird als eigenständiger Forscher nach seinem Beitrag zur alttestamentlichen Hermeneutik befragt, so daß die Kapitel auch einzeln gelesen werden können. Doch handelt es sich auch nicht um eine beliebige Auswahl, denn de Wette markiert den Beginn einer Generation von Forschern, denen es um eine wissenschaftliche Rekonstruktion der israelitischen und jüdischen Geschichte ging und die sich explizit dagegen verwahrte, bloß eine einfache Nacherzählung der Geschichten über die Religion Israels zu bieten, wie sie im Alten Testament gefunden würden. Die ihre Forschungen miteinander verbindende Ausgangsthese lautet: Die alttestamentlichen Überlieferungen, so wie sie in ihrer heutigen Gestalt über die Religion der Staaten Israel und Juda und der nachfolgenden Zeit erzählen, stimmen in dem von ihnen Berichteten nicht mit dem überein, was durch historische und insbesondere religionsgeschichtliche Forschung rekonstruiert werden kann. Diese Grundanfrage verbindet die hier zusammengestellten Autoren und diese Grundanfrage ließ sie nicht nur für Wellhausen zu wichtigen Gewährsleuten für die eigene Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte der gegenwärtigen Gestalt der alttestamentlichen Bücher und ihrer theologischen Deutung werden. Emanuel Hirsch – der große Kenner der neueren Theologiegeschichte – hat gelegentlich darauf hingewiesen, daß die schon seinerzeit und jüngst wieder hervorgehobene Einordnung der alttestamentlichen Schriften in die Religionsgeschichte des Alten Orients zwar zu den kulturgeschichtlichen Besonderheiten gehöre, die durchaus mit Interesse verfolgt werden könnten. Wichtiger war ihm aber die Feststellung, daß diese seiner Meinung nach selbstverständliche, unbefangene geschichtliche Erfassung der im Alten Testament sich ausdrückenden Religionsgeschichte nur die Grundlage für das tiefere Verstehen der Eigenart der israelitischen und jüdischen Religion als Zeugnis einer besonders lebendigen Frömmigkeit bilde – eines Gottesglaubens, der durch die je eigene persönliche Bestimmtheit ausgezeichnet ist. Unbeschadet davon, daß sich im Alten Testament auch Denkmale der altisraelitischen Religion erhalten haben, basiert diese Deutung auf der Einsicht, daß das Alte Testament als ein Zeugnis der nachexilischen, jüdischen Religionsgeschichte zu verstehen ist – für die de Wette, George, Ewald, Graf, Vatke, Kuenen und Geiger mit ihren Arbeiten zur alttestamentlichen Hermeneutik die Weichen gestellt haben.
Kapitel I
Wilhelm Martin Leberecht de Wette – Der historisch-idealische, fromm-ästhetische Blick auf die Religionsgeschichte des Alten Testaments 1. Werkbiographische Skizze Will man das Werk Wilhelm Martin Leberecht de Wettes (1780–1849) kurz kennzeichnen, so ist das Charakteristische an ihm die Verbindung des Geistes der Frühromantik mit dem des frühen deutschen Idealismus. Dabei umfassen seine Veröffentlichungen ein weites Spektrum.1 Hervorzuheben ist bereits seine ‚Dissertatio critico-exegetica qua Deuteronomium a prioribus Pentateuchi Libris diversum, alius cuiusdam recentioris auctioris opus esse monstratur‘2 aus dem Jahr 1805, die bis heute den unbestrittenen Rang eines Klassikers der alttestamentlichen Wissenschaft beanspruchen kann. Das gleiche gilt für die sich unmittelbar daran anschließenden ‚Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament‘ (2 Bände, 1806 / 07)3. Zudem liegen eine vollständige Bibelübersetzung4 – zunächst gemeinsam mit Johann Christian Wilhelm Augusti (1771–1841)5 –, Lehrbücher zur biblischen Archäologie6 sowie zur Einleitung in das Alte und Neue Testament7, eine Evangeliensynopse8 und Kommentare 1
Eine vollständige Bibliographie samt einem Verzeichnis der Briefe de Wettes findet sich bei John William Rogerson, W. M. L. de Wette, Founder of Modern Biblical Criticism. An Intellectual Biography (JSOT.S 126), Sheffield 1992, 272–301. 2 Erschienen in Jena. 3 Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament I. Kritischer Versuch über die Glaubwürdigkeit der Bücher der Chronik mit Hinsicht auf die Geschichte der Mosaischen Bücher und Gesetzgebung. Ein Nachtrag zu den Vaterschen Untersuchungen über den Pentateuch, Halle 1806; II. Kritik der Israelitischen Geschichte 1. Kritik der Mosaischen Geschichte, Halle 1807. Ein weiterer Teil ist nicht erschienen. 4 Johann Christian Wilhelm Augusti / Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Die Schriften des Alten Testaments neu übersetzt 1, Heidelberg 1809; dies., Die Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt, Heidelberg 1814, in 3. Auflage 1839 erschienen, ab der 2. Auflage stammt die komplette Übersetzung von de Wette. 5 Augusti war ein der Aufklärung nahestehender gemäßigter Dogmatiker und Orientalist. Vgl. Karl Rudolf Hagenbach, Art. Augusti, Johann Christian Wilhelm, in: RE[1] 19 (1865), 123–125. 6 Lehrbuch der Hebräisch-Jüdischen Archäologie nebst einem Grundriss der HebräischJüdischen Geschichte, Leipzig 1814, 31842. 7 Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testa-
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Kapitel I: Wilhelm Martin Leberecht de Wette
zu den Psalmen9 und sämtlichen neutestamentlichen Schriften10 von ihm vor. Bezüglich seiner Einleitung in das Alte Testament konnte Emanuel Hirsch noch 1954 in seiner ‚Geschichte der neuern Evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens‘ festhalten: „[N]ach der Verbindung von Forschen und Lehren, Begründen und Darstellen, Klarheit des Ganzen und Genauigkeit des Einzelnen ein von keiner alttestamentlichen Einleitung je wieder erreichtes Meisterwerk“11. Über diesen Komplex der exegetischen Schriften hinaus brachte sich de Wette immer wieder in die akademischen Selbstverständigungsdebatten der deutschen evangelischen Theologie seiner Zeit ein. Dabei war er von der Überzeugung getragen, daß sich die wissenschaftliche Theologie in einer Periode des Umbruchs befinde. Schon seine erste erhaltene Schrift mit dem Titel ‚Eine Idee über das Studium der Theologie‘12 aus dem Jahr 1801 fordert statt der Behandlung dogmatischer Spitzfindigkeiten die Untersuchung der „religiösen Empfindungen“. Das menschliche „Streben nach Religion“13 sei zu beachten und die kritisch-reflektierte Wahrnehmung gelebter Religion ins Zentrum des universitären Studiums zu rücken. Hervorzuheben sind des weiteren eine ausführliche Rezension der zweiten Auflage von Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768–1834) Reden ‚Über die Religion‘14, de Wettes Dogmatik (2 Bände, 1813 / 16)15, zu der er schon vor dem Erscheinen des zweiten Teils einen Einführungsband veröffentlichte16, und seine Sittenlehre17. Zudem erschien 1826 eine Schrift mit ments I. Die Einleitung in das Alte Testament enthaltend, Berlin 1817, 61845; II. Die Einleitung in das Neue Testament enthaltend, Berlin 1826, 51848. 8 Gottfried Christian Friedrich Lücke, Synopsis evangeliorum Matthaei, Marci et Lucae cum parallelis Joannis pericopis, Berlin 1818, 21842. 9 Commentar über die Psalmen (Commentar über die Schriften des alten Testaments 3.2), Heidelberg 1811, 41836. 10 Kurzgefasstes exegetisches Handbuch zum Neuen Testament, Leipzig 1836–48, teilweise in mehreren Auflagen. 11 Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern Evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens 5, Gütersloh 1954, 45. 12 Dem Druck übergeben und mit einer Vorrede begleitet von Adolph Stieren, Leipzig 1850. 13 A. a. O., 10 und 13. 14 Rez.: [Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher], Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 21806, in: JALZ 4 (1807), 433–448. 15 Lehrbuch der christlichen Dogmatik in ihrer historischen Entwicklung dargestellt I. Biblische Dogmatik Alten und Neuen Testaments oder kritische Darstellung der Religionslehre des Hebraismus, des Judenthums und Urchristenthums. Zum Gebrauch akademischer Vorlesungen, Berlin 1813, 31831; II. Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche nach den symbolischen Büchern und den älteren Dogmatikern, Berlin 1816, 31839. 16 Ueber Religion und Theologie. Erläuterungen zu seinem Lehrbuch der Dogmatik, Berlin 1815, 21821. 17 Christliche Sittenlehre, 4 Bde., Berlin 1819–23; Vorlesungen über die Sittenlehre, 2 Bde. in jeweils 2 Teilbdn., Berlin 1823 f. und Lehrbuch der christlichen Sittenlehre und der Geschichte derselben, Berlin 1833.
1. Werkbiographische Skizze
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dem Titel ‚Ueber Religion, ihr Wesen, ihre Erscheinungsformen und ihren Einfluss auf das Leben‘18 – um nur die wichtigsten Publikationen zu nennen.19 Schließlich sind als dritter Schriftenkomplex de Wettes Bildungsromane zu erwähnen.20 Hier sei nur der wichtigste genannt, nämlich ‚Theodor oder des Zweiflers Weihe. Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen‘21. Dieser ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil seit seinem Erscheinen im Jahr 1822 die Frage nach den Bezügen zu de Wettes eigener Biographie virulent ist. Die De-Wette-Biographie von John William Rogerson aus dem Jahr 1992 stellt Bezüge zu dessen Leben an verschiedensten Stellen heraus. Insbesondere für die sonst weitestgehend im Dunkeln liegende frühe Zeit in Jena und Heidelberg zieht Rogerson die „semi-autobiographical novel Theodor“ in seiner Darstellung als „an important source“22 heran.23 Schon unmittelbar nach dem Erscheinen sorgte der Roman aufgrund seiner biographischen Bezüge für Aufregung. Friedrich August Gottreu Tholuck (1799–1877) hatte das Buch als Autobiographie (miß-)verstanden und in unmittelbarer Reaktion und Kritik darauf seine ‚Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder: Die wahre Weihe des Zweiflers‘24 veröffentlicht – eines der populärsten Dokumente der Erweckungstheologie, das breit rezipiert und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Als dezidierter Gegenentwurf zu de Wettes Bildungsroman verfaßt, schildert Tholuck in dem in den ersten beiden Auflagen anonym erschienenen Werk anhand seiner eigenen Biographie die „Entwicklungsgeschichte der christlichen Persönlichkeit, die durch die ‚Höllenfahrt der Selbsterkenntnis‘ zur Höhe der Gnade aufsteigt“25. De Wette hatte ein deutlich zurückhaltenderes Bild von religiöser Entwicklung gezeichnet. Anfechtungen bildeten einen konstitutiven Bestandteil der Biographie. Im Falle des Romanhelden, einem angehenden Geistlichen, 18
Erschienen in Berlin. unerwähnt sei, daß er zudem eine lange hoch im Kurs stehende fünfbändige Ausgabe der Briefe Luthers herausgab: Wilhelm Martin Leberecht de Wette (Hg.), Dr. Martin Luthers Briefe, Sendschreiben und Bedenken, vollständig aus den verschiedenen Ausgaben seiner Werke und Briefe, aus andern Büchern und noch unbenutzten Handschriften gesammelt, kritisch und historisch bearbeitet, 5 Bde., Berlin 1825–28. 20 Vgl. dazu Karl Pestalozzi, De Wette als Romanautor, in: Hans-Peter Mathys / Klaus Seybold (Hgg.), Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte der Wissenschaft in Basel. NF 1), Basel 2001, 127–145. 21 Theodor oder des Zweiflers Weihe. Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen, 2 Bde., Berlin 1822, 21828. 22 Rogerson, W. M. L. de Wette, 19, Hervorhebung im Original. 23 Markus Buntfuss, um ein weiteres aktuelles Beispiel zu nennen, zieht ebenfalls für seine Rekonstruktion des ästhetischen Christentumsverständnisses de Wettes ganz selbstverständlich Belege aus dem Theodor-Roman heran: Vgl. ders., Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheorie bei Herder, Wackenroder und De Wette (AKG 89), Berlin / New York 2004, 153–218, bes. 179 ff. u. ö. 24 Hamburg 1823, 91871. 25 Walter Wendland, Art. Tholuck, Friedrich August Gottreu, in: RGG2 5 (1931), 1149 f., 1149. 19 Nicht
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resultierten sie beispielsweise auch aus dem „oft unwürdige[n] Betragen vieler Prediger“. Konkret nennt er „das freie Besprechen und Bestreiten religiöser Lehrmeinungen im Angesicht des ganzen Volks, […] die Einseitigkeit der neueren Theologie und die falsche Bildung, welche dadurch die jungen Gottesgelehrten erhalten“. Die „deutsche Kirche“ sah er deshalb „in einen nichts weniger als erfreulichen Zustand versetzt“, der jedoch durch „die Regsamkeit und Mannichfaltigkeit des geistigen Lebens in Deutschland“26 überwunden werden könne und würde. Im Gegensatz zu Tholuck war für de Wette religiöse Entwicklung weit stärker durch die intellektuelle Bildungsgeschichte eines Menschen bestimmt, zu der auch notwendigerweise Phasen des religiösen Zweifels gehörten.
2. Der Einfluß von Herder, Schelling und Fries Wilhelm Martin Leberecht de Wette entstammt einem Pfarrergeschlecht aus dem ernestinischen Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach.27 Einen Großteil seiner Schulzeit verbrachte er in Weimar, einem der kulturellen Zentren der Zeit. Während einer der schöpferischsten Phasen der deutschen Literaturgeschichte, der sogenannten ‚Weimarer Klassik‘, kam der Stadt eine besondere Bedeutung zu, was an de Wette nicht spurlos vorüber ging. Im Schulunterricht wurden die neuesten Dichtungen behandelt und selbstverständlich auch deren Aufführungen im Theater angesehen.28 Ephorus des von de Wette besuchten Gymnasiums war Johann Gottfried Herder (1744–1803). Anläßlich der Hundertjahrfeier von Herders Geburtstag schreibt de Wette im Rückblick, daß er demselben seine „erste Bildung verdanke“29. Während seiner Schulzeit hatte de Wette ihn vor allem als Prüfer und Prediger erlebt.30 Generell äußert er sich 26
De Wette, Theodor oder des Zweiflers Weihe 2, 77. Seine Vorfahren waren im 16. Jahrhundert aus den Niederlanden in das Gebiet des thüringischen Herzogtums eingewandert, wovon die eigentümliche Schreibweise seines Namens zeugt. Vgl. dazu die heutigen philologischen Standards nicht mehr in allen Belangen genügende, aber noch immer unverzichtbare Zusammenstellung von Ernst Staehelin, Dewettiana. Forschungen und Texte zu Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Leben und Werk (Studien zur Geschichte der Wissenschaft in Basel 2), Basel 1956, hier 10 Anm. 4. 28 Auch noch zu seinen Studienzeiten besuchte er das Theater in Weimar. Vgl. a. a. O., bes. 193. 29 Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Vorwort, in: Der Vorstand der weimarischen Liedertafel (Hg.), Weimarisches Herder-Album, Jena 1845, 139–141, 139. 30 Hierzu schreibt de Wette: „Noch steht mir lebhaft vor der Seele, wie ich mit jugendlicher Verehrung zu der gleich ehrwürdigen und anmuthvollen Gestalt Herder’s hinanschaute, seiner wohltönenden Stimme, seinen salbungsvollen Worten lauschte, wenn er die öffentliche Prüfung des Gymnasiums eröffnete; wie ich sein Urtheil über den eingereichten Aufsatz mit Herzklopfen vernahm; wie ich bei der Prüfung der Alumnen in seinem Haus vor ihm schüchtern den Horaz übersetzte […]. Noch sehe ich ihn auf der Kanzel stehen, ruhig und unbeweglich, die Hände über einander gelegt, und höre ihn mit einer nur ihm eigenen monotonen, 27
2. Der Einfluß von Herder, Schelling und Fries
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dahingehend, daß Herder auf seine „allgemeine und theologische Bildung durch seine Schriften so viel Einfluß gehabt“31 habe. Dies ist bis heute unbestritten: Herders prägende Wirkung – so resümiert Buntfuß mit Verweis auf Smend – „dokumentiert sich in De Wettes gesamtem Werk“32. Die neuere Forschung hat nachgewiesen, daß de Wettes historische Kritik des Alten Testaments als Rezeption von Herders Bemühen um eine der hebräischen Poesie angemessene Methode der Interpretation verstanden werden muß.33 Dies gilt auch für de Wettes Abgrenzung von zeitgenössischen Versuchen der Rekonstruktion der Geschichte des Volkes Israels: Sie würden den alttestamentlichen Schriften zumeist nicht gerecht, da sie ihnen ein im modern-aufklärerischen Sinne verstandenes historisches Bewußtsein unterstellten, das so nicht vorhanden sei. Wichtig sei es, den Eigenwert des Alten Testaments als poetisch-religiöser Schriftensammlung hinreichend zu würdigen – darin gleichsam die genuine Fortsetzung von Herders Hermeneutik. Herder selbst gehört mit seinem Werk zu den wenigen Theologen, die auch außerhalb ihres eigenen Fachgebiets zu den Klassikern gezählt werden, beispielsweise in der Literatur- und Philosophiegeschichte. Dabei wird er gegenwärtig nicht nur im Rahmen kulturtheoretischer Debatten als einer der Gründer des modernen Kulturbegriffs diskutiert, sondern er gilt auch als einer der ideenreichsten Gesprächspartner auf dem Gebiet der neueren Hermeneutik.34 Beschränkt man sich auf das engere Gebiet der Exegese heiliger Schriften, so steht er für die historisch-literarische Interpretation der Bibel. „Er hat den Geist, die geschichtliche Situation und die Bildersprache der Bibel in neuer Weise in ursprünglicher Lebendigkeit erfaßt.“35 Insbesondere seine ästhetischen und religionsgeschichtlichen Beobachtungen werden breit diskutiert.36 Schon in der Ende der 1760er Jahre entstandenen Schrift ‚Über die ersten Urkunden des menschlichen Geschlechts. Einige Anmerkungen‘37, die sich aber würdigen und anmuthvollen tiefergreifenden Declamation das Gebet des Herrn auslegen“ (A. a. O., 139 f., Hervorhebung im Original). 31 A. a. O., 140. 32 Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 155. 33 Vgl. Rudolf Smend, Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament, Basel 1958, bes. 11 ff.; Rogerson, W. M. L. de Wette, 15 f. u. ö. und Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 153–156 u. ö. 34 Vgl. dazu Ulrich Barth, Kreativität und Kreatürlichkeit. Vernunfttheoretische Motive in Herders Kulturtheorie, in: Ders., Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen 2005, 173–192. 35 Martin Redeker, Art. Herder, Johann Gottfried, in: RGG3 3 (1959), 235–239, 237. 36 Es ist hier nicht möglich, die weitverzweigte Debattenlage auf diesem beschränkten Gebiet auch nur im Ansatz zu würdigen. Lediglich einige wesentliche Aspekte seien herausgegriffen. 37 Zitiert wird im Folgenden nach der Ausgabe: Johann Gottfried Herder, Schriften zum Alten Testament, in: Ders., Werke in zehn Bänden, hg. v. Günter Arnold / Martin Bollacher u. a., Bd. 5, hg. v. Rudolf Smend, Frankfurt am Main 1993, dort 9–178. Zur Entstehung des erst 1980 wiederaufgefundenen Werkes, das nun erstmals veröffentlicht wurde, vgl. den Kommentar, a. a. O., 1328–1331.
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dem Buch Genesis widmet, stellt Herder die Frage nach den Ursprüngen der menschlichen Kultur.38 Dieses biblische Buch zog deshalb seine besondere Aufmerksamkeit auf sich, da es Herders Meinung nach das älteste Schriftdokument der Menschheit und damit den klassischen Beleg für die Anfänge unserer Kultur darstellt. Die darin aufgeworfene Ursprungsfrage versteht er als ein allgemein menschliches Phänomen: „Jedes Volk kam […] auf den Gedanken, eine Kosmogonie, eine Anthropogenesie, eine Philosophie über das Übel und das Gute der Welt, besonders seiner Gegenden, eine Genealogie und Geschichte seiner Stammeltern, Sitten, und Gewohnheiten zu wissen zu haben, was man ‚Origines, ursprüngliche Urkunden‘ nennet. So folgte auf die erste rohe Religion, die fast in allen Sprachen von Furcht den Namen hat, eine Art von historisch-physischer Philosophie.“39 In je eigenständiger Weise und geprägt von lokalen Eigenheiten, unterschiedlichen Sitten und in verschiedenen Sprachen – die für die jeweilige Gemeinschaft von identitätsstiftender Bedeutung seien – widmeten sich sämtliche Völker und Nationen diesen Fragen. Herders Interesse gerade an den ‚ältesten‘ Urkunden erklärt sich aus seiner Überzeugung, daß das Wesen eines Kulturphänomens aus seinem Ursprung erkannt werden könne. Diese Einsicht macht ihn zum „Vater der genetischen Methode“40. Dabei geht Herder davon aus, daß die Geschichte einer Kultur in ihrem Anfängen nicht schon an ihr Ziel gekommen ist, sondern nach einer Entfaltung jener Anlagen drängt. Nationale, sprachliche und religiöse Eigenheiten, die ursprünglich ein kaum zu unterscheidendes Konglomerat bildeten, dividierten sich im Laufe der Entwicklung auseinander. Zwei Punkte sind herauszustellen, die gerade im Hinblick auf de Wettes Herderrezeption von Bedeutung sind. Zum einen ist Herder bei der Interpretation ‚ältester‘ Urkunden darum bemüht, dem jeweiligen Stand der kulturellen Entwicklung gerecht zu werden. Es gelte den Geist dieser Überlieferungen wiederzugeben, indem die historische Distanz zur eigenen Zeit und zum eigenen Denken deutlich gemacht wird: „Der Denkart der Nationen bin ich nachgeschlichen, und was ich ohne System und Grüblerei herausgebracht, ist: daß jede sich Urkunden gebildet, nach der Religion ihres Landes, der Tradition ihrer Väter und den Begriffen der Nation: daß diese Urkunden in einer dichterischen Sprache, in dichterischen Einkleidungen und poetischen Rhythmus erschienen: also ‚Mythologische Nationalgesänge vom Ursprung ihrer ältesten Merkwürdigkeiten‘.“41 Im Hinblick auf die biblischen Urkunden ist Herder daran gelegen, sie als Zeugnisse menschlicher ‚Kreativität‘42 verstehen zu lehren, die von je spezifischen kultur- und religions38 Es handelt sich um eine Vorform der 1774 und 1776 veröffentlichten Schrift ‚Älteste Urkunde des Menschengeschlechts‘. (Vgl. Herder, Schriften zum Alten Testament, 179–660.) 39 Herder, Schriften zum Alten Testament, 12, Hervorhebungen im Original. 40 Markus Buntfuss, Johann Gottfried Herder. Nationalkultur und archaische Poesie, in: Barth / Barth / Osthövener (Hgg.), Christentum und Judentum, 141–156, 142. 41 Herder, Schriften zum Alten Testament, 15 f., Hervorhebungen im Original. 42 So Barth, Kreativität und Kreatürlichkeit, bes. 191 f.
2. Der Einfluß von Herder, Schelling und Fries
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geschichtlichen Kontexten abhängig sind. Wenn er deren mythologischen Charakter hervorhebt, ist es ihm nicht darum zu tun, sie als einstmals bedeutsame Zeugnisse, die aber durch die historische Entwicklung längst überholt seien, abzustempeln.43 Vielmehr möchte er durch das Aufzeigen ihrer je spezifischen Entstehungsbedingungen gerade ihren Eigenwert begreiflich machen. Damit bekommen historische und philologische Erforschungen der Frühgeschichte der Menschheit ein ganz neues Gewicht. Mythen haben ihren Ursprung in der Entstehungszeit der Kultur.44 „Poetische Mythologie ist erster Ausdruck der menschlichen Selbst- und Welterfahrung bzw. diese legt sich im poetischen Mythos selbst aus.“45 Das bedeutet im Hinblick auf die orientalische Welt, daß die im Alten Testament überlieferten Mythen von den Anfängen der Menschheit nicht als beliebiges Produkt roher Phantasie zu verstehen sind. Vielmehr stellten sie die notwendige Form bereit, in der sich der Umgang mit Kontingenz umfassend reflektiert und darstellt.46 Und zwar – um mit Hermann Gunkel zu reden – auf protologische, aitiologische und narrative Weise. Das Archaisch-Poetische ist für Herder geradezu die Verbindung dieser drei Momente. In den mythologischen Urkunden des Alten Testaments sieht Herder symbolische Repräsentationen elementarer Wirklichkeitserfahrung. Eine eigene Frage ist freilich, inwieweit jenen alten Urkunden ein Wissen um den Symbolcharakter ihrer Vorstellungen unterstellt werden kann. Herder selbst läßt keinen Zweifel daran, das Mythen generell auf der Symbolebene angesiedelt sind. Mit dem soeben dargestellten hängt ein zweiter für de Wettes Herderrezeption wichtiger Punkt zusammen: „Herder ist es […] um ein kongeniales Verstehen des Alten Testaments zu tun, um ein Sich-Hineinversetzen, ein Sich-Einfühlen in die fremde, orientalische Gedankenwelt, um eine wahre Anschauung der morgenländischen Schönheit.“47 An Uwe Beckers Hinweis ist für das hier Dar43 Dafür spricht auch, daß Herder sich von David Humes Definition von Religion bei frühen Völkern als Furcht und Aberglauben abgrenzt und für eine Beachtung der verschiedenen Sprachen, Sitten und Denkarten plädiert. (Vgl. a. a. O., 12 f.) 44 Zum Mythosbegriff Herders vgl. Ulrich Faust, Mythologien und Religionen des Ostens bei Johann Gottfried Herder, Münster 1977; Yoshinori Shichiji, Herders Mythologieauffassung und die „Aelteste Urkunde“. Einige Voraussetzungen für die Interpretation des Werks, in: Brigitte Poschmann (Hg.), Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988. Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (Schaumburger Studien 49), Rinteln 1989, 181–189; Heinz Gockel, Herder und die Mythologie, in: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder. 1744–1803 (Studien zum 18. Jahrhundert 9), Hamburg 1987, 409–418 und Claas Cordemann, Herders christlicher Monismus. Eine Studie zur Grundlegung von Johann Gottfried Herders Christologie und Humanitätsideal (BHTh 154), Tübingen 2010, bes. 184–188. 45 Cordemann, Herders christlicher Monismus, 186. 46 Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979. 47 Uwe Becker, „Die älteste Urkunde des Menschengeschlechts“. J. G. Herders Auslegung der Urgeschichte und die Frage nach dem Spezifikum der israelitisch-jüdischen Religi-
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Kapitel I: Wilhelm Martin Leberecht de Wette
gestellte wichtig, daß dem Gefühlsbegriff48 für Herders hermeneutische Überlegungen zum geschichtlichen Verstehen der biblischen Überlieferungen eine grundlegende Bedeutung zukommt. Neben der hermeneutischen Funktion besitzt der Gefühlsbegriff bei Herder aber auch noch eine gegenstandskonstitutive Bedeutung, und zwar im Rahmen seiner Aistesiologie.49 Bei seiner Auslegung der frühesten Urkunden des Alten Testament erörtert Herder die Besonderheit ihrer Sprache, die durch ihre tiefverwurzelte Sinnlichkeit gekennzeichnet sei, deren mentalen Reflex er im Gefühl verortet.50 Herder zufolge ist das Gefühl den Sinnesleistungen zugeordnet, verharrt aber nicht in reiner Passivität, sondern hat durchaus reflexive Züge. „Das Gefühl ist gleichsam der erste, sichre und treue Sinn, der sich entwickelt: er ist schon bei dem Embryon in seiner ersten Werdung und aus ihm werden nur mit der Zeit die übrigen Sinne losgewunden.“51 Das Gefühl kommt als uranfängliche Instanz des sinnlichen Weltbezugs zu stehen. Und auch das Selbstverhältnis des Ich ordnet Herder noch dem Gefühl zu. Die hervorgehobene Stellung des sinnlichen Gefühls macht Herder auch fruchtbar für die Entsprechung von Phylogenese und Ontogenese – wonach die Entwicklung des Einzelnen der Stammesgeschichte entspricht.52 Die dichterische Sprache der frühesten Urkunden sei in der Lage gewesen, die das Gefühl evozierenden sinnlichen Empfindungen on, in: Markus Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog. FS für Otto Kaiser zum 80. Geburtstag (BZAW 345.II), Berlin / New York 2004, 919–941, 922. 48 Zu Herders Gefühlstheorie, sowie ihrer Einordnung in den Forschungskontext vgl. Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, bes. 31–40. 49 Vgl. Hans Adler, Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie – Ästhetik – Geschichtsphilosophie bei Johann Gottfried Herder (Studien zum 18. Jahrhundert 13), Hamburg 1990; Marion Heinz, Sensualistischer Idealismus. Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und Metaphysik des jungen Herder (1763–1778) (Studien zum 18. Jahrhundert 17), Hamburg 1994 und demnächst Roderich Barth, Seele nach der Aufklärung. Studien zu Herder und Harnack (BHTh). 50 „Man findet durchgängig alle Urkunden dieser Art in einer starken, Bildervollen, Phantasiereichen Sprache. Nicht anders, als sehr dichterisch mußten also diese Urkunden werden. Sie betrafen die Interessantesten Gegenstände einer Nation: sie wurden aus den lebhaftesten, stärksten Ideen der rohen Zeiten gebildet, die nichts gleichsam als Bild und Sinn und Affekt gewesen waren: sie nahmen alles Feierliche und Schreckliche der Religion ihrer Väter an sich: sie kamen aus dem Munde der ehrwürdigen Vorwelt: sie wurden so eingerichtet, daß Kinder und Volk sie lernen, und zu seinen Lieblingsgesängen und Weisheitssprüchen machen sollten: sie sollten das Publikum lenken und seinem Ursprung treu, national erhalten. Die Sprache, in der sie vorgetragen wurden, war voll Bilder; sinnlicher Ausdrücke; von Abstraktionen und wissenschaftlichen Begriffen leer, und in diesem Fall nahm sie noch das ehrwürdige Siegel uralter Traditionen, und das Neue, das eine noch unbekannte Erklärungsart haben muß, an: außerdem, daß sie im höchsten Grade populär und sinnlich sein mußte: Wie dichterisch mußten solche Urkunden werden.“ (Herder, Schriften zum Alten Testament, 14) 51 Johann Gottfried Herder, Die kritischen Wälder. Zur Ästhetik, in: Ders., Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767–1781, in: Ders., Werke in zehn Bänden, hg. v. Günter Arnold / Martin Bollacher u. a., Bd. 2, hg. v. Gunter E. Grimm, Frankfurt am Main 1993, 9–442, 325. 52 Vgl. Herder, Schriften zum Alten Testament, 11–17.
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direkt und unverfälscht zum Ausdruck zu bringen. Aufgrund der Schlüsselrolle des Gefühls für den Aufbau des menschlichen Bewußtseins, kann es umgekehrt auch zur Erschließung seiner Ausdrucksgestalten hermeneutisch furchtbar gemacht werden. Für Herder hat deswegen die Einfühlung in die Texte des Alten Orients und des Alten Testaments eine Schlüsselrolle. Und er unternimmt selbst den Versuch der Einfühlung in diese fremde und eigentümliche Literatur des alten Israel. Für ihn ist es der allein mögliche Weg, ihren religiösen Sinn zu erschließen.53 Nach dem dargestellten ist es nicht zu viel gesagt, wenn behauptet wird, daß Herders Auslegung des Alten Testaments als dichterisch-religiöse Schriftsammlung eine unmittelbare Nachfolge in de Wettes Hermeneutik fand. Dies soll später nochmals aufgegriffen werden. Zunächst ist jedoch auf de Wettes Beziehung zu den beiden anderen genannten Autoren einzugehen, beginnend mit Fries. Dazu sind kurz die historischen Umstände von de Wettes Studium zu erläutern. Zeitgleich mit dem eingangs erwähnten Aufschwung Weimars erlebte auch die benachbarte Universitätsstadt Jena eine Blütezeit.54 Hier schrieb sich de Wette im Herbst 1799 zunächst in der juristischen Fakultät ein, wechselte aber bald zu Theologie und Philosophie. An der theologischen Fakultät studierte er bei Johann Jakob Griesbach (1745–1812),55 dessen Studien zu den synoptischen Evangelien breit rezipiert wurden, dem berühmten rationalistischen Theologen Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761–1851) und Johann Philipp Gabler (1753–1826), der – parallel zu seinen Leistungen auf dem Gebiet aufgeklärter Bibelforschung – für die Forderung nach einer ‚biblischen Theologie‘ steht, die die individuellen Eigentümlichkeiten der verschiedenen Schriftsteller zu einem Lehrganzen biblischen Denkens zu verbinden sucht.56 Griesbach war 53
Ob er den Schriften des Alten Testaments damit immer gerecht geworden ist, kann hier offen bleiben. 54 Vgl. die Beiträge in Lothar Ehrlich / Georg Schmidt (Hgg.), Ereignis Weimar– Jena. Gesellschaft und Kultur um 1800 im internationalen Kontext, Köln / Weimar / Wien 2008 und Olaf Breidbach / Klaus Manger / Georg Schmidt (Hgg.), Ereignis Weimar–Jena. Kultur um 1800 (Laboratorium Aufklärung 20), Paderborn 2015. 55 Zu Griesbach vgl. Marco Stallmann, Johann Jakob Griesbach (1745–1812). Protestantische Dogmatik im populartheologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts (BHTh 190), Tübingen 2019. 56 Zu ihrem Einfluß auf de Wette schreibt Smend in seiner Baseler Dissertationsschrift: „De Wette hat nicht eigentlich einer exegetischen Schule angehört. Aber er hat während seines Studiums an der Jenaer Theologischen Fakultät akademische Lehrer gehabt, denen er sich zeit seines Lebens für das, was er methodisch von ihnen gelernt oder doch wenigstens bei ihnen gesehen hatte, verpflichtet wußte.“ (Smend, Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament, 14. Zur näheren Beziehung de Wettes zu seinen theologischen Lehrern vgl. a. a. O., bes. 14–19 – wobei zu Gabler nur auf dessen Lehrer Johann Gottfried Eichhorn rekurriert wird. Zu Gabler vgl. ders., Johann Gablers Begründung der biblischen Theologie, in: EvTh 22 [1962], 345–357; Hans-Jürgen Dohmeier, Die Grundzüge der Theologie Johann Philipp Gablers, Münster 1976 und Rolf Paul Knierim, On Gabler,
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es, der de Wettes akademischen Werdegang entscheidend förderte.57 Prägender als die theologischen Einflüsse war für ihn jedoch das Studium der Philosophie. Zum Philosophiestudium de Wettes schreibt Rudolf Smend: „Es war eine Glanzzeit der Philosophie in Jena. Zwar hatte Fichte im Sommer 1799 Jena infolge des Atheismusstreits verlassen müssen, aber das Fach wurde in den folgenden Jahren durch drei Jüngere, nämlich Schelling (bis 1803), Hegel (ab 1801) und Fries (ab 1800) kaum weniger eindrucksvoll vertreten. De Wette hörte Schelling mit Bewunderung, Hegel widerwillig, Fries begeistert.“58 In der Bestimmtheit, mit der Smend dies behauptet59, wird man dem Philosophiestudium de Wettes kaum gerecht. Insbesondere ob er an den Lehrveranstaltungen von Fries und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831)60 teilnahm ist zweifelhaft. Aber auch was er bei Schelling hörte, bedarf der Aufklärung. Daher lohnt es, etwas weiter auszuholen. Zunächst zu Jakob Friedrich Fries (1773–1843)61: Lange war umstritten, seit wann Kontakt zwischen den beiden bestand. Wie nun Rogerson herausgearbeitet hat, ist nicht davon auszugehen, daß ihn de Wette bereits während seines in: Ders., The Task of Old Testament Theology. Substance, Method, and Cases, Grand Rapids / Cambridge 1995, 495–556) 57 Vgl. Karl Rudolf Hagenbach, Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Eine akademische Gedächtnisrede mit Anmerkungen und Beilagen, Leipzig 1850, bes. 5 f. 58 Rudolf Smend, Wilhelm Martin Leberecht de Wette, in: Ders., Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, 38–52, 40. 59 Eine parallele Formulierung, welche Smend aufgegriffen haben dürfte, die jedoch etwas anders gewichtet, findet sich in einer Würdigung de Wettes durch seinen ehemaligen Berliner Kollegen und Freund Friedrich Lücke: „Seine akademische Studien- und erste Docentenzeit von 1799 bis 1807 in Jena, wo er unter den Theologen vorzugsweise von Griesbach angezogen und väterlich gefördert wurde, fiel in die glänzendste Periode dieser Universität, in die Zeit, wo die kräftigen Jugendgeister von Fichte, Schelling, Hegel und Fries zum Theil neben, zum Theil nach einander dem philosophischen Geiste der Nation auch für die Theologie einen neuen Aufschwung gaben. Er schloß sich vorzugsweise an Fries an; aber er hat Schelling’s Vorlesungen über das akademische Studium mit Bewunderung gehört.“ (Ders., Zur freundschaftlichen Erinnerung an D. Wilhelm Martin Leberecht de Wette, in: ThStKr 23 [1850], 497– 535, hier 500, Hervorhebungen im Original). 60 Was das Verhältnis zu Hegel anbelangt, so trifft Smends Urteil wohl kaum die damaligen Gegebenheiten. Theoretischerweise hätte de Wette an dessen Vorlesungen teilnehmen können. Hegel wurde 1805 von Herzog Carl August, gemeinsam mit Fries, zum außerordentlichen Professor der Philosophie ernannt. (Vgl. dazu Heinz Kimmerle [Hg.], Dokumente zu Hegels Jenaer Dozententätigkeit [1801–1807], in: HeSt 4 [1967], 21–99, bes. 48). Belegen läßt sich lediglich eine indirekte persönliche Beziehung, nämlich, daß die Schwiegereltern de Wettes den Philosophen Hegel zu ihrem Bekanntenkreis zählten. Doch obgleich die thematisch weit ausgreifenden Vorlesungen Hegels in Jena großes Aufsehen erregten, läßt sich kaum die These Smends aufrecht erhalten, daß er an ihnen ‚widerwillig‘ teilnahm. Dafür fehlen die Belege. In den noch vorhandenen Zuhörerlisten ist de Wette nicht verzeichnet. (Vgl. a. a. O., bes. 59–64). Es ist davon auszugehen, daß de Wette bei Hegel keine Veranstaltungen besuchte. 61 Zu Fries vgl. den Sammelband: Wolfram Hogrebe / Kay Herrmann (Hgg.), Jakob Friedrich Fries. Philosoph, Naturwissenschaftler und Mathematiker. Verhandlungen des Symposions Probleme und Perspektiven von Jakob Friedrich Fries’ Erkenntnislehre und Natur-
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Studiums hörte.62 Dies stellt nicht die Beziehung zwischen beiden in Frage. Sie ist allerdings verläßlich erst für die spätere Heidelberger Zeit bezeugt. Dies wird häufig übersehen, teils, weil schon in den ersten Würdigungen de Wettes die enge Beziehung beider hervorgehoben wird, und teils, weil der späte de Wette im Hinblick auf sein Verhältnis zu Fries geradezu konfessorisch die Nähe zu ihm betonte. Aus beidem wird zurückgeschlossen, daß bereits die erste Begegnung in Jena das enge Verhältnis begründete. Illustrieren läßt sich diese konfessorisch bekundete Nähe mit einer Reaktion de Wettes auf eine Äußerung Hegels: Als Letztgenannter in der auf den Juni 1820 datierten Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie Fries als den „Heerführer“ der „Seichtigkeit“ bezeichnete, die die neuere Philosophie ergriffen habe63, fühlt sich der gar nicht erwähnte de Wette persönlich mit angesprochen und angegriffen. So schreibt er in einem Brief an seinen Freund Schleiermacher aus dem Dezember desselben Jahres: „Von Hegel liest und hört man schreckliche Dinge. Lies doch die Vorrede zu seiner Staatslehre, worin er gegen mich und Fries spricht! Die Verläumdung kann nicht boshafter auftreten, als es hier geschieht.“64 Soweit sich rekonstruieren läßt, begann die Freundschaft zwischen beiden erst in Heidelberg. Fries war bereits 1805 hierher berufen worden, der gerade einmal 27jährige de Wette wirkte dort vom Mai 1807 bis zu seinem Wechsel nach Berlin im Sommer 1810.65 philosophie vom 9.–11. Oktober 1997 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (StPhH 25), Frankfurt am Main / Berlin / Bern / New York / Paris / Wien 1999. 62 Rogerson, W. M. L. de Wette, bes. 23–26. Bemerkenswert ist, daß Rogerson dem Studium bei den verschiedenen Lehrern keine wirkliche Bedeutung beimißt, weder dem der Theologie, noch dem der Philosophie: „However illustrious his Jena teachers were, the greatest initial impact that was made upon de Wette came from the philosophy of Kant. Indeed, for the remainder of his life, de Wette remained, intellectually a sort of Kantian; and he spent many years of his life trying to reconcile his intellectual acceptance of Kant with his aesthetic and almost mystical instinct for religion.“ (A. a. O., 27) Kant wird von ihm, neben Schelling, im Bezug auf die Jenaer Jahre auch am ausführlichsten behandelt. (Vgl. a. a. O., bes. 27–30) 63 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Mit den von Gans redigierten Zusätzen aus Hegels Vorlesung neu hg. v. Georg Lasson (SW 6), Leipzig 1911, 3–17. Zur Seichtigkeit, insbesondere Fries’, führt Hegel aus: „[D]er Hauptsinn der Seichtigkeit [ist], die Wissenschaft statt auf die Entwicklung des Gedankens und Begriffs, vielmehr auf die unmittelbare Wahrnehmung und die zufällige Einbildung zu stellen, ebenso die reiche Gliederung des Sittlichen in sich, welche der Staat ist, die Architektonik seiner Vernünftigkeit, die durch die bestimmte Unterscheidung der Kreise des öffentlichen Lebens und ihrer Berechtigung und durch die Strenge des Maßes, in dem sich jeder Pfeiler, Bogen und Strebung hält, die Stärke des Ganzen aus der Harmonie seiner Glieder hervorgehen macht, – diesen gebildeten Bau in den Brei des ‚Herzens, der Freundschaft und Begeisterung‘ zusammenfließen zu lassen“ (A. a. O., 9). 64 Staehelin, Dewettiana, 100 f. 65 Vgl. zur Heidelberger Zeit Rogerson, W. M. L. de Wette, 64–85. Den Forschungen Rogersons zufolge lassen die Schriften de Wettes seit der Heidelberger Zeit die Beeinflussung durch Fries erkennen – ein Sachverhalt, den er für die früheren Schriften ausschließt. Zur Studienzeit de Wettes in Jena schreibt Rogerson zusammenfassend: „It can be said with confidence that there was no influence of Fries upon de Wette, and probably no friendship at that time.“ (A. a. O., 26)
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Wie sich der Einfluß von Fries auf de Wette näherhin gestaltete, hat in der Forschung eine breite Diskussion ausgelöst.66 Bevor auf Fries selber eingegangen wird, ist kurz ein wichtiger Punkt der Debatte aufzunehmen. Generell läßt sich sagen, daß die Einschätzung de Wettes oft durch das jeweilige Friesbild bestimmt ist. Rudolf Otto beispielsweise würdigt de Wette in seinem 1909 erschienenen Werk ‚Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie‘67 neben Schleiermacher als wichtigsten Theologen seiner Zeit: „Mit diesem zusammen […] bedeutet er viel für die Frage, die wohl für die moderne Theologie die bezeichnendste ist, für die Frage nach Wesen und Bedeutung der Religion im Zusammenhange des menschlichen Geisteslebens überhaupt, damit für die ganze neue Behandlung auch unserer Religion im Zusammenhange von Religion überhaupt, d. h. aber für die Beziehung der Theologie zu Religionswissenschaft überhaupt, sowohl zu Religions-Geschichte wie -Psychologie wie -Philosophie.“68 In Auswertung des ‚Theodor-Romans‘ de Wettes zeichnet Otto das Bild einer engen Freundschaft mit Fries. Wichtig ist ihm vor allem, de Wettes eigene Leistungen für die Diskussion des Religionsbegriffs hervorzuheben und ihn nicht nur als Adepten der Friesschen Philosophie erscheinen zu lassen.69 Allerdings klammert Otto aus methodischen Gründen de Wettes bibelwissenschaftliche Arbeiten aus.70 Rogerson hat indessen jüngst gezeigt, daß ohne die Einbeziehung dieser Arbeiten das Verhältnis von Fries und de Wette nicht angemessen beurteilt werden kann. Gerade der negative Befund in den frühen Arbeiten legt es nahe, einen nachhaltigen Einfluß erst für die Heidelberger Zeit anzunehmen.71 Jener negative Befund wirft 66 Vgl. beispielsweise schon die Äußerungen Karl Friedrich Hagenbachs bezüglich der „philosophischen Voraussetzungen de Wette’s“, der festhält: „Dabei folgt er, was die methodische Fassung betrifft, ganz der Philosophie seines Freundes Fries“. (Ders. Art. De Wette, Wilhelm Martin Leberecht, in: RE[1] 18 [1864], 61–74, hier 64 und 65, Hervorhebung im Original.) 67 Zur Einleitung in die Glaubenslehre für Studenten der Theologie, erschienen in Tübingen. 68 A. a. O., 130, Hervorhebungen im Original. 69 In Auswertung einer im ‚Theodor-Roman‘ berichteten Begebenheit heißt es: „Der Philosoph, der der gebildeten Gesellschaft der Hauptstadt eine Reihe von Vorlesungen hält, ist in Wahrheit Fries, mit dem de Wette als Student in Jena und hernach als Kollege in Heidelberg vertrautesten Umgang und gründlichsten Geistesaustausch hatte. Die im Theodor berichteten Unterredungen werden gewiß im wesentlichen ganz echt Inhalt und Geist dieses Umganges wiedergeben, aber zugleich ist auch deutlich, daß de Wette manche seiner eigenen Ideen und späteren Ausspinnungen dem Lehrer in den Mund legt.“ (A. a. O., 138) 70 „Bei der folgenden Darstellung ist ganz abgesehen von de Wettes großen Leistungen für Exegese und historische Kritik. Nur die bezeichneten Hinsichten auf die Grundfragen und Verhältnisse der Theologie überhaupt und der Glaubens- und Sittenlehre besonders leiten uns, und zugleich der Wunsch, dem Anfänger mit den geistigen Bewegungen, Zeitmotiven und Beziehungen, unter denen die neue Theologie entstand, Fühlung zu geben.“ (A. a. O., 131) 71 Vgl. Rogerson, W. M. L. de Wette, 64–85. So stellt Rogerson schon im Hinblick auf den Beginn von de Wettes Heidelberger Zeit fest: „It is most likely that de Wette’s acquaintance with Fries in Heidelberg, and the fact that Fries had been lecturing on this theme [ge-
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zudem die Frage auf, welche philosophischen Einflüsse für den frühen de Wette bestimmend waren. Zunächst sind jedoch die durch de Wette von Fries rezipierten philosophischen Grundlagen zu erörtern. Seine reife Religionstheorie kann nämlich nur unter Berücksichtigung der engen Beziehung zu Fries erklärt werden. Ganz allgemein stellt er beispielsweise bereits auf der ersten Seite der Vorrede seiner erstmals 1813 erschienenen ‚Dogmatik‘ heraus, daß Fries derjenige Philosoph sei, den er sich „zum Führer gewählt“72 habe. An sein System schloß sich de Wette bei der Entfaltung seiner eigenen Religionstheorie an. Grundlegend dafür ist die Unterscheidung von ‚Wissen, Glaube und Ahndung‘73 – so der Titel des für de Wette bedeutsamsten Werkes von Fries aus dem Jahre 1805, in dem es ihm um eine Verhältnisbestimmung von Philosophie, Ästhetik und Theologie geht.74 De Wette hält diese „Unterscheidung der verständigen, idealen und ästhetischen Ueberzeugung“ in seiner späteren Zeit „für den Schlüssel der ganzen Theologie“75. Selbst Religion, seiner Meinung nach eine vorgewisse Annahme, bestimmt er als „Ueberzeugungsweise“76, was ihn dazu motiviert, mit erkenntniskritischen Überlegungen einzusetzen. Für dieses Unternehmen war Fries für de Wette deshalb von besonderem Interesse, weil erstgenannter sich einerseits als Kantianer verstand, der an dessen Erkenntniskritik anknüpfen wollte. Andererseits hatte Fries den Ideenbegriff Kants einer Umdeutung unterzogen, indem er ihn nicht als regulatives Prinzip, sondern als intuitive Vernunftwahrheit verstand.77 Dies wird zumeist – und so auch von de Wette – als sogenannte ‚anthropologische Grundlegung‘ der Phimeint ist das Problem einer ästhetischen Religionsphilosophie, Anm. M. G.] in Heidelberg in 1805–1806 and was preparing his lectures for publication in Neue Kritik was the immediate source of de Wette’s standpoint on the Beytrag“. (A. a. O., 67, Hervorhebungen im Original) 72 Vgl. de Wette, Lehrbuch der christlichen Dogmatik, in ihrer historischen Entwicklung dargestellt I, III. 73 Vgl. Jakob Friedrich Fries, Wissen, Glaube und Ahndung, Jena 1805. 74 Vgl. a. a. O., IX. „Um die Religion in ihrer Eigentümlichkeit zu bestimmen, greift de Wette auf die von Jakob Friedrich Fries (1773–1843) vollzogene Unterscheidung zwischen Wissen, Glauben und Ahndung zurück.“ (Christine Axt-Piscalar, De Wettes Religionstheorie, in: Mathys / Seybold [Hgg.], Wilhelm Martin Leberecht de Wette, 108–126, 118.) 75 De Wette, Ueber Religion und Theologie, IV, Hervorhebungen im Original. 76 A. a. O., 2. 77 „Ueber den historischen Ort von Fries kurz Folgendes. Er ist ausgesprochen Schüler Kants […], daß er […] alle Kraft zunächst setzt an die Vollendung und den Ausbau der Vernunftkritik und der kritischen Methode selber.“ – „Das ihm Eigentümliche ist […] seine Unternehmung […] für die von Kant nur aufgefundenen metaphysischen Begriffe, Grundurteile und Ideen die ‚quaestio iuris‘ zu stellen und diese zu beantworten durch die ‚anthropologische‘ Nachweisung der ‚unmittelbaren Erkenntnis‘, aus der sie entspringen.“ (Otto, Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, 6) – Zu Kant siehe Ulrich Barth, Die Christologie Emanuel Hirschs. Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen, Berlin / New York 1991, 433–475.
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losophie Kants bezeichnet, die den Sitz der Religion im Gefühl verorte.78 Diese eigentümliche Mischung von vernunftkritischen Überlegungen und Betonung der Eigenständigkeit der Religion scheint für de Wette im Anschluß an Fries evident gewesen zu sein. Sie ist für seine Religionstheorie grundlegend geworden.79 Hierfür ist die schon eingeführte und nun zu erläuternde Unterscheidung von ‚Wissen‘, ‚Glauben‘ und ‚Ahndung‘ basal: „Dem Wissen gehört der Begriff, dem Glauben die Idee, der Ahndung das reine Gefühl.“80 Das ‚Wissen‘, so die Näherbestimmung Fries’, das sich über die Anschauung vermittelt, ist auf die endliche Welt beschränkt. Es stiftet intersubjektiv nachvollziehbare Erkenntnisse, muß jedoch immer wieder neu ausgemittelt werden. Es bleibt fragmentarisch und ist nie abgeschlossen. Daher dränge das in der Endlichkeit verbleibende Wissen, Fries zufolge, quasi von selbst auf eine höhere Ebene. Diese realisiere sich im ‚Glauben‘, der auf Vernunftideen gründet, die wir in uns selbst vorfinden.81 Die Vernunftideen, so die Friessche Vorstellung, kommen durch freie Reflexion zum Bewußtsein. „Jedes höhere Interesse, es mag sich in Wahrheit, Schönheit, oder in Tugend und Recht ankündigen, jedes Interesse, welches in Handlung, Wissenschaft oder Kunst einen höhern Werth bestimmt, jedes Interesse, welches uns über den technischen, an die Erde gefesselten Kunstfleiss erhebt, hat einzig aus der Idee seinen Ursprung.“82 Allen höheren kulturellen Gebieten ist Fries zufolge eine Unendlichkeitsdimension eigen. Sie seien dadurch gekennzeichnet, daß sie das menschliche Leben einem höheren Zweck, einem höheren Interesse unterstellten. Diese Vorstellung habe ihren Ursprung allein in der idealen Betrachtung. „Die Idee aber gehört dem Glauben, und eben damit wird die Wichtigkeit der Glaubenslehre selbst aus78 „Die sogenannte kritische Philosophie Kants hatte eigentlich das Bestreben, das Wissen des Menschen […] zu ergründen, es fehlte ihr aber noch der einfache klare Gedanke, daß sie von der inneren Naturbeschreibung oder Anthropologie ausgehen müsse. In der religiösen Ansicht bestrafte sich dieses Mißverständniß besonders auffallend: denn hätte Kant unsere innere Natur richtig beobachtet, so wäre ihm das Gebiet des Glaubens nicht so sehr verhüllt geblieben, und er hätte den Glauben an Gott nicht auf etwas gegründet, was neben ihm im menschlichen Gemüthe liegt, ihm aber nicht zur Grundlage dient. Indem Fries der Speculation die anthropologische Wendung gab, erhielten zugleich die erhabenen Ideen der Religion und Aesthetik ihre wahre Stelle, die sie im Gemüth des Menschen behaupten.“ (A. a. O., 141, Hervorhebungen im Original) 79 Sie hat zudem die Rezeption seines Werkes bis heute bestimmt: „Von entscheidender Bedeutung wurde […] der Philosoph Jakob Friedrich Fries, 1805 de Wette von Jena nach Heidelberg vorangegangen und dort für ihn ein Lehrer, wie er ihn während seiner Studienzeit nicht gehabt hatte.“ (Rudolf Smend, Ein Theologe zwischen den Fronten. Wilhelm Martin Leberecht de Wette 1780–1849, in: Mathys / Seybold [Hgg.], Wilhelm Martin Leberecht de Wette, 11–29, 20) 80 Fries, Wissen, Glaube und Ahndung, 76. 81 „Alles Wissen beruht […] auf Begriffen, welche ihre Realität an der Anschauung erproben, und also nur eine Anwendung der Reflexion auf die Anschauung enthalten. Dagegen entspringt das Bewustseyn des Glaubens und der Ahndung rein aus der Reflexion, und hat keine Grundlage, als die selbstgemachte Idee der Vernunft.“ (A. a. O., 122) 82 A. a. O., 124.
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gesprochen.“83 Zwar könnten wir nur um das Endliche und Beschränkte wissen, doch darüber hinaus sei uns die Überzeugung eingestiftet, daß das Leben nicht in seinen irdischen Bezügen aufgehe.84 Es handelt sich sozusagen um eine ideelle Ontologisierung der Kantischen Postulatenlehre. Damit stellt der auf Vernunftideen beruhende Glauben gleichsam die negative Seite des Wissens dar. Fries’ Überzeugung von reinen Ideen ist so etwas wie die Negation der Erkenntnis, indem der irdischen die ewige Welt gegenübergestellt wird. Wissen und Glauben drängen nun, so Fries, zur Vermittlung auf einer wiederum höheren Ebene. Diese bezeichnet er als ‚Ahndung‘. Gekennzeichnet sei sie dadurch, daß dieselbe ein Gefühl begründe und nicht den Schemata des Verstandes unterworfen sei. Hier ist auch die Religion angesiedelt, die Fries von dem auf Vernunftideen basierenden bloßen Glauben abgrenzt: „Religion besteht dem [R]eligiösen unmittelbar in einer gewissen Gemüthsstimmung […]. Die Gemüthsstimmung, welche religiös macht, ist nun zunächst offenbar eine besondere Stimmung des Gefühls; ihr Wesen besteht weder im Handeln noch im Wissen, sondern im Gefühl und was sie für Handeln und Wissen seyn soll, das wird sie erst durch das Gefühl, und dieses religiöse Gefühl ist es, welches ich Ahndung des Ewigen im Endlichen nenne.“85 Die Ahndung ist das Vermögen, Anschauung und Idee aufeinander zu beziehen. Dabei ist es das Gefühl und nicht das begriffliche Wissen, das nach dem „Gesetze der Ahnung“86 – so der von de Wette dann parallel zu ‚Ahndung‘ gebrauchte Begriff – diese Syntheseleitung vollzieht. Subjektiv greifbar wird dies für Fries insbesondere in der Andacht.87 Fries mag damit eine erkenntnistheoretisch durchaus angreifbare Theorie des menschlichen Geistesvermögens aufgestellt haben, religionstheoretisch bleibt seine sogenannte Ahndungslehre durchaus auch heute noch anschlußfähig – worauf Ulrich Barth aufmerksam gemacht hat. Der von Fries geprägte Begriff der Ahndung beschreibt nämlich ungefähr das, was gegenwärtig als „religiöse Sinnvermutung“88 bezeichnet wird. Dieses Sensorium der 83
A. a. O., 126. Glaube entspringt aus dem Mittelpunkte unsers Wesens, und spricht sich hier zu oberst aus, als der Glaube an das Ideal des höchsten Gutes und seine Realität, an das Seyn der besten Welt, und entfaltet sich von da aus, in die Überzeugung von dem Daseyn Gottes, der Freyheit des Willens, und der Unsterblichkeit der Seele.“ (A. a. O., 127) 85 A. a. O., 239. 86 Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Lehrbuch der christlichen Dogmatik in ihrer historischen Entwicklung dargestellt I. Biblische Dogmatik Alten und Neuen Testaments, Berlin 21821, 17. 87 „Religiosität besteht […] durch Andacht. Andacht ist die ihr eigenthümliche Gemüthsstimmung, welche eben durch die Ahndung des Ewigen im endlichen der Natur erweckt wird. […] Religiosität wird uns nur darin, dass in der Endlichkeit der Natur um uns her, und in dem Endlichen eigenen innern Leben doch für das Gefühl das Ewige geahndet wird, Wärme und Leben des Ewigen unser ganzes endliches Wesen durchdringt – und das ist die Stimmung der Andacht.“ (Fries, Wissen, Glaube und Ahndung, 237 f., Hervorhebung im Original) 88 Ulrich Barth, Psychologie der Religion. Zugänge zu Rudolf Ottos klassischem Entwurf, in: Ders., Kritischer Religionsdiskurs, 352–374, 360. 84 „Der
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Friesschen Theorie für subjektiv unmittelbar evidente, theoretisch aber schwierig zu beschreibende „Einstellung zum Transzendenten“89 hatte auf de Wette große Faszination ausgeübt. Ihr Bemühen jenseits einer dogmatisch fixierten Begrifflichkeit basale religiöse Gefühle darstellen zu können, ließ ihn seine eigenen bisherigen Überlegungen dahingehend modifizieren, daß sie unmittelbar anschlußfähig für die Friessche Religionstheorie wurden – was sich bis hinein in die enge Anlehnung an dessen Begrifflichkeit verfolgen läßt. Darauf wird später zurückgekommen. Zuvor soll noch de Wettes Beziehung zum (frühen) Schelling erörtert werden. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) – so die These der folgenden Ausführungen – hat größeren Einfluß auf den jungen de Wette ausgeübt als gemeinhin angenommen wird. Es ist gut möglich, daß de Wette voller ‚Bewunderung‘, um die Formulierung Smends aufzugreifen, bei ihm hörte.90 Da das Verhältnis von Schelling und de Wette in der Forschung bis heute kontrovers diskutiert wird, lohnt es, etwas weiter auszugreifen.91 Zur Illustration von Schellings begeisternder Wirkung auf das universitäre Leben Jenas seien die Erinnerungen eines seiner Hörer, Rudolf Abekens, zitiert, in denen es von Schelling heißt, daß er „bald, damals noch jung und zum erstenmal als Docent auftretend, alle empfänglichen Jünglinge hinriss, so daß die Philosophie das eigentliche Element war, in welchem die academische Jugend Jena’s athmete und sich bewegte“92. In diesem Umfeld begann de Wette sein Studium und es spricht viel dafür, daß auch de Wette zu dem Kreis der „empfänglichen Jünglinge“ zählte, die bei Schelling studierten. Ein inhaltliches Indiz dafür ist, daß sowohl die Schriften des jungen Schelling als auch des jungen de Wette einen jeweils ganz eigentümlich gebrauchten Mythosbegriff aufweisen, der in der Forschung dazu geführt hat, sie einer sogenannten ‚mythischen Schule‘ zuzuordnen.93 Beim frü89
A. a. O., 361.
90 Davon geht auch Rogerson aus. Vgl. ders., W. M. L. de Wette, bes. 91 Während Rogerson den Einfluß Schellings auf den frühen de Wette
32–37. stark macht (Vgl. ebd.), relativiert Buntfuss diesen Punkt: „Den Einfluss Schellings auf de Wette betont vor allem Rogerson über die Maßen. Zwar kann man das Zeugnis im Theodor als vorübergehende Begeisterung interpretieren, vom ganzen Ansatz her unterscheidet sich De Wettes Denken jedoch fundamental vom identitätstheoretischen Zugriff Schellings und Hegels.“ (Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 159 Anm. 34) Mit seiner Feststellung zu der in dieser Weise zugespitzten Problemstellung behält Buntfuss natürlich Recht. Ausgeblendet bleibt freilich, wie es sich mit der Mythentheorie des frühen Schelling verhält. 92 Zu Schellings Wirken in Jena vgl. Xavier Tilliette, Schelling. Biographie. Aus dem Französischen von Susanne Schaper, Stuttgart 2004, bes. 69–100. Das Zitat a. a. O., 89, im Original hervorgehoben. 93 Vgl. die im Kontext der durch Rudolf Bultmann angestoßenen Entmythologisierungsdebatte entstandene Arbeit von Christian Hartlich und Walter Sachs, Der Ursprung des Mythosbegriffes in der modernen Bibelwissenschaft ([SSEA 2], Tübingen 1952), die im Rahmen einer Preisaufgabe der Evangelischen Akademien in (West-)Deutschland den ersten Preis zugesprochen bekam.
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hen Schelling ist hierfür vor allem an seine Jenaer Vorlesungen zu denken. Sie sind vor dem Hintergrund seiner frühen Schriften zu verstehen. Wie Georg Neugebauer gezeigt hat, spielt die Zuordnung von Mythentheorie und Geschichtsphilosophie im Frühwerk Schellings eine herausgehobene Rolle.94 Für den Anfang ist das Dringen auf das Historische charakteristisch. Schon in seiner selbständig verfaßten philosophischen Dissertation95 diskutiert Schelling die Frage nach dem Grund des Bösen anhand der in Genesis 3 berichteten Sündenfallgeschichte. In Anknüpfung an die damalige Debattenlage – Schelling verweist vor allem auf Johann Gottfried Eichhorn (1752–1827)96 – zeigt er auf, daß der Verfasser von Gen 3 notwendigerweise seine Aussagen in Mythen kleiden mußte.97 Daher sei bei der Auslegung auf die Unterscheidung zwischen dem Gehalt und der Darstellungsweise zu achten.98 „Die ältesten Urkunden aller Völker enthalten theils historische Sagen, die sich auf die älteste Geschichte der Welt überhaupt […] beziehen, theils historisch dargestellte Philosopheme, Vermuthungen, Dichtungen über den Ursprung der Welt und des Menschengeschlechts, über einzelne Erscheinungen in der Natur, so wie über Gegenstände der übersinnlichen Welt – kurz, die ältesten Urkunden aller Völker beginnen mit Mythologie. So häufig nun […] Geschichte und Philosophie in jenen Sagen ineinanderfließen, so genau müssen doch beide in einer kritischen Untersuchung getrennt werden.“99 Texte wie Gen 3 sind als mythologische Texte zu verstehen. In ihnen sind die allgemeinen, ideellen Gehalte unter mythischen Bildern verborgen. Zwischen der mythologischen Form dieser historisierenden Sagen und ihrem tatsächlichen geschichtlichen Gehalt ist daher zu unterscheiden. Neugebauer zeigt anhand der frühen Schriften eine Entwicklung des geschichtsphilosophischen Ansatzes Schellings auf, die von der Motivation getragen ist, eine historische Interpretation der Bibel zu ermöglichen. Denn: „Schelling diagnostiziert eine ‚Krise‘ der Theologie, die in der Tendenz bestehe, alle theologischen Begriffe ihrem Ursprung und Gehalt nach philosophisch 94 Georg Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption (TBT 141), Berlin / New York 2007, bes. 47–56. 95 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Antiquissimi de prima malorum humanorum origine philosophematis Genes. III. Explicandi tentamen criticum et philosophicum (1792) (AA I.1), Stuttgart 1976, 47–181. 96 Zu Eichhorn vgl. Eberhard Sehmsdorf, Die Prophetenauslegung bei J. G. Eichhorn, Göttingen 1971 und Rudolf Smend, Johann Gottfried Eichhorn, in: Ders., Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, 25–37. 97 „[D]iese Überlieferung der Wahrheit durch Mythen war keine Sache der Kunst, sondern der Notwendigkeit, und ich sehe nicht ein, wieso diese Art zu philosophieren der Wahrheit selbst bei uns Abbruch tun könnte, sofern wir nur den unter dem Bild verborgenen Sinn vorsichtig hervorkehren.“ (Schelling, Antiquissimi [AA I.1], 119 f.) 98 Vgl. a. a. O., bes. 49. 99 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Ueber Mythen, historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt (1793) (AA I.1), Stuttgart 1976, 183–246, 195, Hervorhebung im Original.
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zu erklären.“100 Damit spielt Schelling auf kantianisierende oder supranaturalistische Theologen an, wie zum Beispiel Gottlob Christian Storr und Johann Christian Friedrich Steudel, die sich scheinbar leichtfüßig über das Historische hinwegsetzten.101 Die Theologie hebe sich aber gerade dadurch von der Philosophie ab, daß ihre Erkenntnisse geschichtlich vermittelt seien. Und deshalb muß das Geschichtliche eigens gewürdigt werden. Vor diesem Hintergrund ist Schellings frühes Interesse an einem historisch-kritischen Umgang mit den biblischen Quellen zu verstehen.102 In den ‚Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums‘103 – die in die Studienzeit de Wettes fallen – trägt Schelling die Überzeugung vor, daß die Theologie eine Synthese von Geschichte und Philosophie darstellt.104 Die für die Geschichte angemessene Darstellungsform wiederum ist das Epos – eine These, die Schelling bald nach seiner Jenaer Zeit so nicht mehr vertritt und die hier kurz erläutert werden soll, da sie für de Wette bedeutsam ist.105 Geschichte „muß im ganzen nach Art des Epos betrachtet werden, das keinen bestimmten Anfang und kein bestimmtes Ende hat: man nehme denjenigen Punkt heraus, den man für den bedeutendsten oder interessantesten hält, und von diesem aus bilde und erweitere sich das Ganze nach allen Richtungen“106. Schelling versteht das Epos als allgemeinsten und universellsten Ausdruck einer bestimmten Stufe der historischen Entwicklung. Es bringe das unverwechselbare Wesen derselben auf den Begriff. Nur wenn es gelingt alle Künste und Wissenschaften zu verknüpfen, sei es möglich ein Epos zu verfassen. Eine „wahre Universalgeschichte müßte im epischen Styl“107 abgefaßt sein.108 In seiner eigenen Zeit 100 Neugebauer, Tillichs frühe Christologie, 52. 101 Zum Kontext vgl. Dieter Henrich, Grundlegung
aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen – Jena 1790–1794, 2 Bde., Frankfurt am Main 2004. 102 In seiner Kritik an der historischen Vernachlässigung der Theologie ist sich Schelling mit Herder einig. 103 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (SW 1.5), Stuttgart / Augsburg 1859, 207–352. 104 Vgl. Schelling, Vorlesungen, bes. 286 – Und an anderer Stelle heißt es: „Das Wesentliche im Studium der Theologie ist die Verbindung der spekulativen und historischen Konstruktion des Christentums und seiner historischen Lehren.“ (304) 105 Die Zuordnung von Epos und Geschichte hat Lothar Knatz herausgestellt: „Wiederholt spricht Schelling vom Epos als der für die Geschichte angemessenen Darstellungsform – allerdings exklusiv in der kurzen Zeitspanne von 1802 bis 1804. Im Epos soll sich die ‚Identität der ganzen Zeit‘ aussprechen und Wissenschaft, Religion und Poesie sollen einen allgemeingültigen Ausdruck erfahren.“ (Ders., Geschichte – Kunst – Mythos. Schellings Philosophie und die Perspektive einer philosophischen Mythostheorie, Würzburg 1999, 134) 106 Schelling, Vorlesungen, 311. 107 Ebd. 108 Dies kommt auch in einer von Schelling 1804, während seiner Würzburger Zeit, verfaßten Studie zum Ausdruck, in der es heißt: „Die Geschichte ist ein Epos, im Geiste Gottes gedichtet; seine zwei Hauptpartien sind: die, welche den Ausgang der Menschheit von ihrem Centro bis zur höchsten Entfernung von ihm darstellt, die andere, welche die Rückkehr. Jene Seite ist gleichsam die Ilias, diese die Odyssee der Geschichte. In jener war die Richtung
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findet Schelling nur unzulängliche Versuche, die zwar den Anspruch erheben, Epen in diesem Sinne zu sein, ihn aber nicht einlösen könnten. Daher verweist Schelling für das Studium der Geschichte auf die überlieferten Epen – genannt wird vor allem das Werk Herodots – und Tragödien.109 Umgekehrt formuliert heißt dies: Der umfassend gebildete Historiker zeichnet sich für ihn durch eine gründliche Kenntnis der (griechischen) Mythologie aus. Für das Verständnis und die Bedeutung der Geschichte wird in Schellings ‚Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums‘ ein doppeltes herausgestellt: Einerseits wird auf die „ersten Urbilder des historischen Styls“110 verwiesen, die sich in den Tragödien als Geschichte von besonderen Ereignissen und in den Epen als Universalgeschichte manifestierten. Singuläre Ereignisse werden demnach in Tragödien dargestellt, Geschichte im universellen Sinne dagegen in Epen. Und andererseits wird von Schelling folgendes herausgestellt: „Als den Gegenstand der Historie im engeren Sinne bestimmen wir die Bildung eines objektiven Organismus der Freiheit oder des Staats.“111 Geschichte und Geschichtsschreibung wird an die Entstehung bzw. Entwicklung eines Staates gebunden, ein weiterer für das Verständnis der Forschungen de Wettes wichtiger Sachverhalt, worauf im folgenden zurückzukommen ist. Vorher sind die gerade für das Mythosverständnis des frühen Schellings einschlägigen Vorlesungen über die ‚Philosophie der Kunst‘112 zu behandeln113 – die ebenfalls noch in die Studienzeit de Wettes fallen. In ihnen reflektiert Schelling, über das bisher Dargestellte hinaus, den engen Zusammenhang von ‚Epos‘ und ‚Mythos‘. Bevor er in einem zweiten Teil auf einzelne Kunstphänomene zu sprechen kommt, konstruiert er in einem ersten, allgemeinen Teil der Vorlesung als Stoff der Kunst die Mythologie.114 Ganz selbstverständlich gehören Epos und Mythos für Schelling zusammen, denn Ersteres als die alle wesentlichen Begebenheiten einer Zeit umfassende historische Dichtung muß seiner Meinung nach auch die in ihr geltenden Mythen reflektieren: „Wer den ganzen Stoff centrifugal, in dieser wird sie centripetal. Die große Absicht der gesammten Welterscheinung drückt sich auf diese Art in der Geschichte aus.“ (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie und Religion [SW 1.6], Stuttgart / Augsburg 1860, 11–70, 57) 109 „Wer sich zum historischen Künstler bilden will, halte sich einzig an die großen Muster der Alten, welche, nach dem Zerfall des allgemeinen und öffentlichen Lebens, nie wieder erreicht werden konnten.“ (Schelling, Vorlesungen, 311) 110 A. a. O., 312. 111 Ebd. 112 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Kunst. (Aus dem handschriftlichen Nachlaß.) Erstmals vorgetragen zu Jena im Winter 1802 bis 1803, wiederholt 1804 und 1805 in Würzburg (AA II.6,1), Stuttgart 2018, 93–405. 113 Vgl. Heinz Gockel, Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff in Aufklärung und Frühromantik (Das Abendland NF 12. Forschungen zur Geschichte europäischen Geisteslebens), Frankfurt am Main 1981 und Jochem Hennigfeld, Mythos und Poesie. Interpretationen zu Schellings „Philosophie der Kunst“ und „Philosophie der Mythologie“ (MPF 113), Meisenheim am Glan 1973. 114 Vgl. Schelling, Philosophie der Kunst, 119–210, bes. 131–187.
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seiner Zeit, sofern sie als Gegenwart auch die Vergangenheit wieder begreift, poetisch unterjochen und verdauen könnte, wäre der epische Dichter seiner Zeit. Universalität, die nothwendige Forderung an alle Poesie, ist in der neueren Zeit nur dem möglich, der sich aus seiner Begrenzung selbst eine Mythologie, einen abgeschlossenen Kreis der Poesie schaffen kann.“115 Mythen gehören zu einer jeden Epoche der Geschichte. Ihren Ausdruck finden sie in epischen Dichtungen. Und umgekehrt haben diese eine eigene Mythologie zu ‚erschaffen‘. Nicht nur der Dichter, sondern jedes „wahrhaft schöpferische Individuum hat sich selbst seine Mythologie zu schaffen“. Schelling legt Wert darauf, daß diese je individuellen Mythologien „erschaffen, nicht etwa bloß nach Anleitung gewisser Ideen der Philosophie entworfen werden dürfen; denn in diesem Fall möchte es unmöglich seyn, ihr ein unabhängiges poetisches Leben zu geben“116. Nur wenn es dem Dichter gelingt, die Mythen seiner Zeit samt ihren historischen Entstehungsbedingungen zu reflektieren und nachzukonstruieren, wird ein Epos zum Epos. Verbunden ist dies mit einem zeitkritischen Argument: „Daß die moderne Welt kein wahres Epos hat, und, weil mit einem solchen erst Mythologie sich fixiert, auch keine geschlossene Mythologie, brauche ich nicht weiter zu beweisen.“117 Dies richtet sich vor allem gegen den Protestantismus. Doch auch wenn er dem Katholizismus Offenheit für und Nähe zu mythologischem Denken attestiert, so sei es ihm doch ebenfalls nicht gelungen, ein für die moderne Welt geltendes und damit ‚wahres Epos‘ zu erschaffen. Zwar lebte der Katholizismus „in einer mythologischen Welt“118. Eine Beziehung zur Geschichte werde jedoch nicht hergestellt. Doch erst durch die historische Vermittlung wird Mythologie zur Mythologie.119 Vertieft wird die wechselseitige Durchdringung von Epos und Mythos, im zweiten, besonderen Teil der ‚Philosophie der Kunst‘, in dem er sich, in einem eigenen Abschnitt, neben der lyrischen und dramatischen Poesie auch der epischen zuwendet.120 Als Grundeigenschaft des Epos stellt Schelling hier, wie schon erwähnt, seine „Universalität“ heraus – die „Verwandlung alles dessen, was in der Zeit zerstreut, aber doch entschieden vorhanden ist, in eine gemeinschaftliche Identität“121. Durch Reflexion auf die historische Wirklichkeit in einer alles umfassenden Perspektive gibt das Epos das Selbstverständnis einer bestimmten Zeit wieder. Es erhebt den Anspruch die Überzeugungen und 115
A. a. O., 176 f. 178 (Hervorhebung im Original). 175 (Hervorhebung im Original). 118 A. a. O., 176. 119 Dies zeigt Schelling wiederum anhand der griechischen Dichtungen auf: „Die realistische Mythologie der Griechen schloß die historische Beziehung nicht aus, vielmehr wurde sie erst in der historischen Beziehung – als Epos – wahrhaft zur Mythologie.“ (A. a. O., 180) 120 A. a. O., 333–365. 121 A. a. O., 364. 116 A. a. O., 117 A. a. O.,
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Sichtweisen in allgemeingültiger Weise zu erfassen, und indem ihm dies gelingt, wird es zum Epos. Gesteigert wird diese Sicht Schellings in der ‚Philosophie der Kunst‘ durch die schon benannte Theorie der wechselseitigen Durchdringung von Mythos und Epos. Das Epos fordert „einen wahrhaft universellen Stoff“, womit für Schelling untrennbar die These verbunden ist, daß dieser zum einen „nur durch Mythologie existieren kann“, und zum anderen, „daß ohne Mythologie das Epos undenkbar ist.“ Weiter heißt es dann: „Ja die Identität beider ist so groß, daß die Mythologie nicht eher die wahre Objektivität als in dem Epos selbst erlangt. Da das Epos die objektivste und allgemeinste Dichtart ist, so fällt sie mit dem Stoff aller Poesie am meisten in eins.“122 Durch den Stoff der Mythologie wird das epische Bedürfnis nach Universalität befriedigt. Damit würdigt Schelling Mythologie nicht nur als notwendige aber nicht hinreichende Form von Religion, die das Absolute zu erfassen und zu begreifen sucht.123 Denn Schelling zielt nicht nur auf die Zurückweisung der Meinung, daß die früheren Überlieferungen ein Zeugnis von primitiven und barbarischen Völkern seien. Und er will auch nicht nur beweisen, daß das Christentum einen gegenüber den griechischen Mythen neuen und besseren Weg eröffnete. Vielmehr will er zeigen, daß eine epische Betrachtung immer auch die Mythen der jeweiligen Zeit mitreflektieren muß. Erst wenn dies gelingt ist die Abfassung eines Epos möglich. Und erst wenn dies gelingt, ist eine wahrhafte Darstellung der Geschichte einer Zeit, abgesondert und unterschieden von den „Philosophemen“, „Vermuthungen“ und „Dichtungen“124 – hier im Sinne von Erfindungen gebraucht – möglich. Diese hier etwas ausführlicher dargestellten Einsichten Schellings sollen im folgenden für die Interpretation des Werkes de Wettes, insbesondere seines Verständnisses von Mythos, Geschichte und Symbol, fruchtbar gemacht werden. Zunächst ist der Religionsbegriff de Wettes zu behandeln.
3. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik 3.1. Religion zwischen Gefühl und Idee De Wettes Methode der „historischen Auslegung“ steht vollständig im „Dienst des religiösen Verstehens“125, wie zuletzt Markus Buntfuß herausgearbeitet hat. Die Religionstheorie de Wettes, insbesondere ihre Abhängigkeit von Fries, ist in der Forschung breit thematisiert worden. Neben den schon genannten Schrif122
A. a. O., 340.
125
Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 169.
123 So Rogerson, W. M. L. de Wette, bes. 124 Vgl. Schelling, Ueber Mythen, 195.
34.
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ten von Rudolf Otto126 und Buntfuß127 sei hier noch auf Christine Axt-Piscalars Beitrag128 verwiesen. Auffällig ist, daß sich alle drei Genannten auf de Wettes Schriften aus dem „Gebiet der Dogmatik im engeren Sinne“129 beschränken. Axt-Piscalar wertet die erstmals 1815 erschienene Schrift ‚Ueber Religion und Theologie‘ aus130 und nennt des weiteren die 1827 erschienene Schrift ‚Ueber Religion, ihr Wesen, ihre Erscheinungsformen und ihren Einfluß auf das Leben‘. Demgegenüber sind die Untersuchungen von Otto und Buntfuß breiter aufgestellt. Letzterer schlägt einen weiten Bogen, begonnen mit dem posthum erschienenen Aufsatz ‚Eine Idee über das Studium der Theologie‘ aus dem Jahr 1801, über seine Auseinandersetzung mit Schleiermacher bis hin zur reifen Religionsphilosophie. Dabei werden, nicht nur bei Otto, sondern auch von den beiden anderen hier genannten Forschern, die exegetischen Schriften ausgeklammert. Diese sollen im Folgenden mit einbezogen werden.
3.1.1. Die frühen Schriften Das Thema Religion ist bei de Wette von Anfang an präsent, auch wenn er in seiner 1805 vorgelegten ‚Dissertatio‘131 den Religionsbegriff nur einmal am Rande verwendet, wenn er davon spricht, daß sich das von ihm untersuchte Deuteronomium hinsichtlich seiner religiösen und rechtlichen Bestimmungen von den Büchern Genesis bis Numeri unterscheidet.132 Doch bereits die unmittelbar darauf erschienenen ‚Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament‘ enden mit der in der Forschungsliteratur immer wieder zitierten Feststellung de Wettes: „Die Geschichte verlor, aber die Religion gewann!“133 Hier gibt er, im Rahmen einer der Methode der kritischen Bibelinterpretation verpflichteten exegetischen Untersuchung zu erkennen, daß dem Thema Religion eine wichtige Rolle zukommt. Zumeist wird das de Wettesche Diktum als Plädoyer für 126
Otto, Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, bes. VIII f. und 129–187. 127 Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, bes. 174–201. Vgl. auch ders., Das Christentum als ästhetische Religion: Wilhelm Martin Leberecht De Wette, in: Christian Albrecht / Friedemann Voigt (Hgg.), Vermittlungstheologie als Christentumstheorie, Hannover 2001, 67–103. 128 Axt-Piscalar, De Wettes Religionstheorie, bes. 118–126. 129 A. a. O., 108. 130 Zitiert wird nach der 2. Auflage von 1821. 131 Vgl. dazu auch Hans-Peter Mathys, Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Dissertatio critico-exegetica von 1805, in: Martin Keßler / Martin Wallraff (Hgg.), Biblische Theologie und historisches Denken. Wissenschaftsgeschichtliche Studien. Aus Anlass der 50. Wiederkehr der Basler Promotion von Rudolf Smend (Studien zur Geschichte der Wissenschaft in Basel. NF 5), Basel 2008, 171–211. 132 „Diversa plane atque a prioribus libris dissona religionis et juris esse videtur, quam liber noster spirat, quippe quae ad sequiorem illam Rabbinorum doctrinam aliquo modo accedere videtur.“ (De Wette, Dissertatio critico-exegetica qua Deuteronomium a prioribus Pentateuchi libris diversum, 10) 133 De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, 408.
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eine ästhetische Bibelauslegung gedeutet. Dies trifft aber nur die eine Seite. Daneben geht es ihm um eine historisch verfahrende „Cultur- und Religionsgeschichte“134 des Volkes Israel. Er sieht sich vor das methodische Problem gestellt, die auf Sonderung und Differenzierung angelegte historische Bibelkritik mit dem seiner Meinung nach auf ganzheitliche Betrachtung hin angelegten Phänomen der Religion in Einklang zu bringen. „Während man auf Poesie und Religion reflectirt, kann man nicht auch zugleich jene unselige, alles zerstückelnde Operation der historischen Sonderung vornehmen; dort muß man ein gegebenes Stück als ein Ganzes, organisch in sich selbst verbunden, betrachten, hier muß man trennen, aussondern, zerreißen und zerstören.“135 Klar vor Augen steht de Wette die Aufgabe, vor die er die alttestamentliche Wissenschaft seiner Zeit gestellt sieht und zu der er mit seinen vorgelegten Untersuchungen einen ersten Beitrag liefern möchte – die historische Darstellung der Geschichte von Religion und Kult in Israel.136 Im Hinblick auf die Methode der historischen Bibelkritik kam de Wette zu dem Ergebnis, daß diese letztlich nur fruchtbar angewendet werden könne, wenn sie dem Phänomen Religion in seiner Eigenständigkeit und Besonderheit hinreichend gerecht würde. De Wette selbst meint dazu grundlegende Erkenntnisse beigesteuert zu haben.137 Doch ist er im Hinblick auf seine in der Folgezeit vorgenommene bewußtseinstheoretische Verortung der Religion – möglicherweise aufgrund des andersgelagerten Erkenntnisinteresses in den Schriften zur Einleitung in das Alte Testament – über Andeutungen nicht hinausgelangt. So hält er zwar fest: „In der Religion herrscht immer das Individuelle und Bestimmte über das Allgemeine, ein Gott mit bestimmter Gestalt, mit individuellem Charakter und Namen wird mehr Glauben finden, als die allgemeine fließende Idee eines unnennbaren, gestaltlosen höchsten Wesens.“138 Diese auf den Gebrauch verschiedener Gottesnamen im Alten Testament bezogene Feststellung zeigt zumindest soviel, als daß es de Wette um eine eigenständige Würdigung der Religion geht, die ihren eigenen Regeln folgt und von anderen Kulturbereichen unterschieden ist. Dies schließt Wechselwirkungen nicht aus, doch Religion stelle eine eigene Deutungsperspektive der menschlichen Wirklichkeit dar. Was dies aber konkret heißen soll, bleibt hier im Dunkeln. De Wette scheint es, über seine historisch und ästhetisch begründete neue Sichtweise auf die Erscheinungsformen der alttestamentlichen Religion hinaus, um ihre Begründung 134
A. a. O., 398.
135 A. a. O., 403. 136 „Das wichtigste
Augenmerk für den Forscher der Israelitischen Geschichte muß die Geschichte der Religion und des Gottesdienstes seyn.“ (De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament I, 4) 137 „[B]ey den Juden concentrirt sich alles auf die Religion, und alles war mit derselben aufs innigste verschlungen. Wie sollte ein Geschichtsschreiber gerade diese wichtige Seite seiner väterlichen Geschichte aus den Augen gelassen haben?“ (A. a. O., 6 f.) 138 De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament 2, 30.
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in einer allgemeinen Theorie der Religion zu gehen. Damit ist die Aufgabe benannt, an deren Lösung sich de Wette in seinen folgenden Schriften abarbeitet. Für die These von de Wettes Suche nach einer allgemeinen Theorie der Religion sprechen auch zwei weitere Schriften aus dem Jahr 1807, dem Jahr der Veröffentlichung des zweiten Bandes der ‚Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament‘. So übergab de Wette einen ‚Beytrag zur Charakteristik des Hebraismus‘139 dem Druck. In dieser vor allem mit der erbaulichen Auslegung der Psalmen befaßten Schrift äußert er sich eingangs knapp zu seinem Verständnis von Religion: „Ein freies, aus sich selbst hervorspringendes, in sich selbst wurzelndes Gewächs sey die Religion, höherer Abkunft, unabhängig von äußeren Bedingungen, spurlos im Gang ihrer Entwicklung, überraschend in ihrer Erscheinung, wiewohl nicht verschmähend die Hülle menschlicher Sprache und Vorstellungsweise. – Gewiß zeugt eine solche Behauptung von wahrer Achtung für die Religion und ächter Anerkennung ihres göttlichen Ursprungs; ob sie sich aber überhaupt mit historischer Forschung vertrage und diese nicht gänzlich aufhebe, ist eine andere Frage.“140 De Wette ist um die Deutung der Religion, insbesondere des Christentums, als einer eigenständigen Erscheinungsform bemüht. Buntfuß spricht treffend von einem „Deutungs- und Interpretationsmodell“141. Der Religionsbegriff soll nicht spekulativ entwickelt werden, sondern es geht zunächst um die historische Beschreibung und Erfassung des Phänomens. Insofern ist das von de Wette benannte Problem der Entgegensetzung von religiöser und historischer Betrachtung für ihn nur ein Scheinproblem.142 Er selbst ist gerade an der Ausarbeitung einer Religionstheorie interessiert, die im Rahmen einer umfassenden historischen Kulturtheorie die Selbständigkeit der verschiedenen Gebiete nicht außer acht läßt.143 Wie de Wette sich dies näherhin vorstellt, erörtert er noch im selben Jahr. 139 In: Carl Daub / Friedrich Creuzer, Studien 3, Heidelberg 1807, 241–312. Rudolf Smend macht auf inhaltliche Nähen dieser Schrift zu Herder und insbesondere zu Hegels theologischen Jugendschriften aufmerksam. Wie letzterer begreift de Wette „das Christentum als Religion des Unglücks, genauer als die Religion, die im Unglück tröstet und aus ihm herausführt. Das dabei vorausgesetzte Unglück repräsentiert das Judentum“ (Rudolf Smend, Die Mitte des Alten Testaments, in: Ders., Die Mitte des Alten Testaments. Ges. Studien 1 [BEvTh 99], München 1986, 40–84, 57). 140 De Wette, Beytrag zur Charakteristik des Hebraismus, 241 f. 141 Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 185. 142 „Vielleicht gelingt es uns in folgenden Bemerkungen – wenigstens war es unser Bestreben – beides, sowohl den historischen Standpunct, als auch jene Ehrfurcht vor dem Hohen, Göttlichen der Religion, die ja gewiß dem Historiker nicht fremd seyn darf, zu behaupten; beiden Parteyen genug zu thun, mögen wir nicht zu hoffen.“ (De Wette, Beytrag zur Charakteristik des Hebraismus, 242) 143 So auch Buntfuss: De Wette „plädiert gleichsam für eine doppelte Buchführung, die die Welt Welt sein lässt und Gott Gott sowie die Kunst Kunst. Gerade in der Selbständigkeit dieser Sphären werden die Möglichkeiten ihrer produktiven Wechselwirkung gesehen. […] Die Kunst soll nicht Religion sein, sondern Kunst. Aber indem sie Kunst ist, ermöglicht sie re-
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3.1.2. Die Schleiermacherrezension Anlaß war das Erscheinen der zweiten Auflage von Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers Reden ‚Über die Religion‘ im Jahr 1806, denen de Wette ein Jahr später eine ausführliche Besprechung widmete. Angesichts der Bedeutung des behandelten Themas und der Fülle von Reaktionen, die das Erscheinen der Erstauflage hervorgerufen hatte, sieht sich de Wette allerdings nicht in der Lage, ihnen eine umfassende Kritik zuteil werden zu lassen. Deshalb begnügt er sich damit, „die Ansicht des V[erfassers] mit seiner eigenen zusammenzustellen“144. Inwiefern und ob er mit seiner Beurteilung Schleiermacher trifft, soll und kann hier ausgeblendet werden. Die folgende Erörterung ist allein an de Wettes eigenem Verständnis des Phänomens Religion interessiert.145 Eingangs stimmt de Wette ausdrücklich Schleiermacher in dessen Abgrenzung der Religion von Sittlichkeit und Kunst, sowie von theoretischer und praktischer Philosophie zu146, und sieht sich mit ihm im Ergebnis übereinstimmen, daß „die Religion […] etwas Eigenes“147 sei. Hierin liegt der gemeinsame Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur Theorie der Religion. Den grundlegenden Unterschied zwischen de Wettes „ästhetische[m] Religionsverständnis“ und Schleiermachers „ästhetisierendem Religionsprojekt in den Reden“148 – so die Formulierung von Buntfuß – bringt letztgenannter folgendermaßen auf den Punkt: „Nicht das formlose Universum, sondern das geformte Kunstwerk als Artefakt reflektiert das Unendliche im Endlichen“149. Konkret nennt Buntfuß „Texte der biblischen Tradition“, „Stücke auf der Bühne des Theaters“, „Werke der bildenden Kunst in Malerei und Architektur“ und „Musik“150. Damit hebt Buntfuß die große Nähe von religiösen und ästhetischen Erfahrungen bei de Wette hervor, blendet aber zugleich die von de Wette stark gemachten Beziehungen zu Gebieten wie Natur und Geschichte aus. Buntfuß macht Parallelen zu Fries namhaft, wofür er Belege aus dem 1822 erschienenen ‚Theodorroman‘ einblendet, die einerseits die mangelnde Beachtung der Kunst bei Schleiermacher und andererseits die fehlende Bestimmtheit von dessen Universumsbegriff kritisieren.151 Gegenüber dieser Herausarbeitung der Schleiermacherkritik de Wettes soll hier zunächst dessen positive Rezeption der Religionstheorie der ‚Reden‘ dargestellt werden. ligiöse Ahnungen und ein Gefühl für das Göttliche zu erwecken.“ (Die Erscheinungsform des Christentums, 185) 144 De Wette, Rez.: Über die Religion, 433. 145 Vgl. zum Folgenden Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, bes. 179– 185. 146 Vgl. de Wette, Rez.: Über die Religion, 433 f. 147 A. a. O., 434. 148 Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 179, Hervorhebung im Original. 149 Ebd. 150 A. a. O., 179 f. 151 Vgl. a. a. O., 180 und 179.
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Für dieses Vorgehen spricht, daß de Wette in der eingangs schon genannten Bezugnahme auf die Schleiermachersche Religionstheorie der ‚Reden‘ die Besonderheit der Religion herausstellt. „Die Religion behaupte ihr eigenes Gebiet und ihren eigenen Charakter […] dadurch, daß sie aus dem der Wissenschaft sowohl, als aus dem der Praxis, gänzlich herausgehe; und indem sie sich neben beide hinstelle, werde erst das gemeinschaftliche Feld vollkommen ausgefüllt, und die menschliche Natur von dieser Seite vollendet.“152 Vorauszusetzen ist ein Zustand der Einheit von Natur und Vernunft, aus dem durch einen Prozeß der Ausdifferenzierung die Unterscheidung der Religion von allen anderen theoretischen und praktischen Erkenntnisweisen hervorgegangen sei – so die de Wettesche Rekonstruktion Schleiermachers. Um ihre Begründung gehe es in der rezensierten Untersuchung: „Die ursprüngliche Unzertrennlic[h]keit und Einheit der Wissenschaft, des Handelns und der Religion sucht der V[erfasser] tiefer in ihrer Genesis im Bewußtsein aufzuzeigen.“153 De Wette stimmt dem anvisierten Programm einer bewußtseinstheoretischen Beschreibung der Religion grundsätzlich zu. Zwar hegt er – im Gegensatz zum eigenen Gebrauch des Begriffs in seinen späteren Schriften – Vorbehalte gegenüber der Bestimmung der Religion als ‚Gefühl‘.154 Stattdessen spricht er lieber, seiner Meinung nach präziser, davon, daß wir im „Gemüth […] das Urbild des Lebens“155 anschauen. Auffällig ist zudem, daß de Wette die bekannte Schleiermachersche Formulierung, daß Religion Anschauung und Gefühl des Universums sei, nicht aufgreift. Möglicherweise scheint sich de Wette durch die Vermeidung des Universumsbegriffs einerseits von vermeintlichen naturphilosophischen Einheitsspekulationen Schleiermachers abgrenzen zu wollen. Und de Wette scheint andererseits der Überzeugung zu sein, daß der Begriff ‚Gemüth‘ gegenüber dem Gefühlsbegriff der passendere sei: Letzteren definiert er hier lediglich als eine unbestimmte Affektion. Stattdessen gehe es ihm um die Beschreibung einer im je individuellen Leben verankerten Religiosität jedes Menschen, die sich beispielsweise in Staunen, Lieben und Anbeten äußere.156 Zustimmung findet dagegen der in Schleiermachers Bestimmung hervorgehobene Ganzheitscharakter der Religion, der das Leben unter eine eigene, nämlich religiöse Perspektive stelle.157 Die Religion an sich, so die These 152
De Wette, Rez.: Über die Religion, 435.
153 Ebd.
154 „Das Gefühl, […] das unser und des Universums gemeinschaftliches Seyn und Leben ausdrückt, ist ein anderer Act, der allerdings der Religion angehört, aber nicht als Gefühl oder Empfindung“. (Ebd.) 155 A. a. O., 438. 156 Vgl. ebd. 157 „So erhält die Religion nicht ihren Platz neben jenen einzelnen Thätigkeiten und Anlagen, sondern über denselben. So erscheint sie nicht als eine einzelne Function und Anlage des Gemüths, auch kommt ihr nicht ein bestimmtes Prädicat zu (etwa Passivität), oder ein bestimmtes Organ des Geistes (etwa Phantasie oder Sinn), oder eine bestimmte Affection des Gemüths (etwa Gefühl), oder eine bestimmte Richtung und ein bestimmtes Gebiet, wodurch
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de Wettes, umgreift den ganzen Menschen158 und stellt sein Leben – sein ‚Gemüth‘ und seinen ‚Geist‘ – unter eine eigentümliche Betrachtungsweise: „Da die Religion das Ganze des Gemüths ist in seiner Totalität und Indifferenz: so kann in diesen ihren Erscheinungen im Besonderen auch jedes Besondere hervortreten, Wissenschaft, Moralität, Kunst, alle Thätigkeiten des Gemüths werden von ihr ergriffen und in Dienst genommen.“159 Dabei kommt Religion, so wie andere Totalitätsbegriffe – de Wette nennt beispielsweise Welt und Gott –, nur in je individueller Ausprägung vor und ist nie als solche greifbar. Immer trete sie als positive Religion eines je eigenständigen Individuums auf, welches durch seine gesellschaftlichen Bezüge geprägt sei und das sich seine je eigene Welt konstruiere. Fraglich ist, ob diese Überlegungen de Wettes noch mit Schleiermachers Programm der Reden ‚Über die Religion‘ vereinbar sind. Bezüglich seiner eigenen Religionstheorie ist festzuhalten, daß seine Rezension Beleg für ein noch unabgegoltenes Problem ist. Dies wird gerade an dem nun zu thematisierenden doppelten Begriff der ‚Kunst‘ deutlich. Denn einerseits – und darauf in eindrücklicher Weise hingewiesen zu haben, ist das bleibende Verdienst der Arbeit von Buntfuß – artikuliert de Wette die Überzeugung, daß allein die Kunst in der Lage ist, dem Geistigen eine bestimmte Form zu geben. Kunst und Religion treten in eine enge Beziehung. „Indem die Kunst unter einer bestimmten Form eine Idee zur Darstellung bringt, vermag sie auch die religiöse Erfahrung anzuleiten.“160 Die Kunst stellt die Form der Darstellung bereit und liefert gleichzeitig ihre Deutung. Dies verbindet die ästhetische mit der religiösen Erfahrung und prädestiniert die Kunst dazu, einen Weg zur Religion zu bahnen. Andererseits versteht de Wette die Religion aber als ein ganz eigenes und unvergleichliches Gebiet des menschlichen Lebens, das über sämtlichen anderen Geistesgebieten steht, inklusive der Kunst. Und nur in der Beachtung dieser Unvergleichbarkeit sieht de Wette ihre Eigenständigkeit gewahrt. „In ihrem wahren Wesen kann sie so wenig erscheinen, als Gott erscheinen kann.“161 Damit kommt die Kunst auf einer Stufe mit sämtlichen anderen Bereichen des menschlichen Geisteslebens zu stehen. Die Religion kann sich ihrer bedienen, eine besondere Bedeutung sie sich von anderen Functionen des Geistes (Wissen, Praxis), unterscheide: sie ist Thätigkeit so gut als Passivität, alle Organe und Affectionen des Geistes stehen ihr zu Gebot, sie hat alle Richtungen oder keine, und ihr Gebiet ist die ganze Welt, die innere wie die äußere; jene anderen Functionen des menschlichen Geistes sind Besonderheiten, sie ist die Totalität.“ (A. a. O., 444, Hervorhebungen im Original) 158 „Aber im Besonderen befangen, kann er [sc. der Mensch] nur durch Besonderes sich wieder herausfinden; er nimmt das Störende in die Einheit auf, und sucht im Besonderen selbst Einheit. So erscheint die Religion, so entsteht individuelle (positive) Religion.“ (Ebd., Hervorhebungen im Original) 159 Ebd. 160 Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 179. 161 De Wette, Rez.: Über die Religion, 444.
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kommt ihr jedoch nicht zu. Überwunden hat de Wette diese Unausgeglichenheit erst in seiner späteren Religionstheorie.162
3.1.3. Die dogmatischen Schriften Zur grundlegenden Bedeutung einer ausgearbeiteten Religionstheorie im Hinblick auf die historische Forschung, sowie ihre methodische Zuordnung, äußert sich de Wette einleitend im ersten Band seiner ‚Dogmatik‘: „Daß die Religion in unaussprechbarem Gefühl bestehe, lehrt das Gefühl und die Geschichte, welche letztere zeigt, daß alle Völker in diesem Gefühl übereinstimmen, im Aussprechen desselben aber von einander abweichen, ja daß die Dogmengeschichte der einzelnen Kirchen selbst darin große Verschiedenheiten aufzeigt. So wenig ich geneigt bin, die Geschichtsforschung durch Einmischung philosophischer Ideen trüben lassen zu wollen, so behaupte ich dreist, daß der Historiker in Verfolgung der Entwicklungsgeschichte menschlicher Thätigkeiten von der philosophischen Definition derjenigen Thätigkeit, die er sich zu Gegenstand genommen hat, leiten lassen muß.“163 Auch in seinen späteren dogmatischen Schriften verliert de Wette das Projekt einer historischen (Bibel-)Hermeneutik nicht aus den Augen. Die grundlegende Motivation für de Wette ist die schon in seinen ersten Schriften erkennbare Suche nach einer angemessenen historischkritisch verfahrenden Methode zur Untersuchung religiöser Urkunden. Sein Interesse ist es, sie aus ihrem jeweiligen geschichtlichen Kontext heraus zu begreifen. 162 Wie es sich in dem schon erwähnten 1811 erstmals erschienenem ‚Commentar über die Psalmen‘ verhält, ist schwer zu entscheiden. Einleitend streicht de Wette die Besonderheit des Psalters heraus: „Unter allen biblischen Büchern ist vielleicht keines in religiöser Hinsicht so fruchtbar, als der Psalter. Andere, als der Pentateuch, die Propheten, können dem religiösen Forscher mehr Ausbeute gewähren für positive religiöse Vorstellungen, Mythologie u. dgl.; der Psalter aber ist die vorzügliche Quelle des Gemüthlichen in der Religion, und darum der höchsten Aufmerksamkeit werth für religionsgeschichtliche Forschung. Denn die Religion ist nur da in ihrem wahren Leben und Daseyn, wo sie im Gemüthe des Einzelnen lebt; ist sie erst in Dogmen und Mythen übergegangen, so ist sie schon gewissermaßen versteinert und verknöchert. Welche Mannigfaltigkeit religiöser Gefühle und Gedanken gibt es in den Psalmen!“ (A. a. O., 4, Hervorhebungen im Original) Dies läßt sich einerseits dahingehend verstehen, daß de Wette in den Psalmen ganz herausragende Kunstwerke sieht, die als Texte der biblischen Poesie aufgrund ihrer gelungenen Strukturanalogie zwischen Kunstgefühl und religiösem Gefühl in besonderer Weise für religiöse Erfahrungen prädestiniert seien. Andererseits spricht die Hervorhebung des ‚Gemüths‘ und davon abgeleitet ‚des Gemüthlichen in der Religion‘ dafür, daß de Wette der Religion eine Sonderstellung gegenüber sämtlichen anderen Geistesgebieten einräumt, denn entscheidend ist die je individuelle religiöse Erfahrung. Wenn diese sich nicht an den Psalmen entzündet, dann sind dieselben lediglich ‚versteinerte Dogmen‘ und ‚verknöcherte Mythen‘ – bleiben aber für die Religion wertlos. – Zur Psalmendeutung de Wettes vgl. Klaus Seybold, W. M. L. de Wettes Arbeit an den Psalmen, in: Mathys / Ders. (Hgg.), Wilhelm Martin Leberecht de Wette, 62–78. 163 De Wette, Lehrbuch der christlichen Dogmatik, in ihrer historischen Entwicklung dargestellt I, VII f., Hervorhebungen im Original.
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Der besondere Fokus der dogmatischen Schriften de Wettes ist auf die Durchklärung seines eigenen Religionsbegriffs gerichtet. Er ist zu der Überzeugung gelangt, daß allein die Philosophie die Begriffe für die eigenen religionshermeneutischen Studien bereitstellen könne. Diese von ihm intendierte Schärfung des eigenen Religionsbegriffs ist vor dem Kontext der Debatten dieses Themas in der nachidealistischen Philosophie zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu verstehen.164 Die besondere Hinwendung zu Fries erklärt sich möglicherweise daher, daß derselbe seinerzeit zu den exponiertesten Vertretern der sogenannten kritischen Philosophie gehörte, der es darum ging, „das ‚religiöse a priori‘ […] ausfindig zu machen“ – so die prägnante Formulierung Rudolf Ottos.165 Damit knüpft de Wette an transzendentalphilosophische Fragestellungen an, stellt de facto aber die Kantische Ideenlehre von den Füßen auf den Kopf, indem er den Charakter der Kantischen Ideen dahingehend unterläuft, daß er nicht die Idealität ihrer Erkenntnisse stehen läßt, sondern dezidiert nach der Gültigkeit, insbesondere religiöser Ideen fragt. Fries hatte diese erkenntniskritische Fragestellung angestoßen und vorangetrieben und ‚Wissen‘, ‚Glauben‘ und ‚Ahndung‘ als grundlegende menschliche Erkenntnisweisen unterschieden.166 Auch de Wette erklärt in der Einleitung seiner ‚Dogmatik‘, daß „drey verschiedene Ueberzeugungsweisen“ einander übergeordnet seien – ‚Wissen‘, ‚Glaube‘ und ‚Ahnung‘.167 Wie Fries ist er der Meinung, daß alle Erkenntnis, einschließlich des Wissens, durch subjektive Vernunfttätigkeit gekennzeichnet sei. Auch ‚Glaube‘ und ‚Ahnung‘, die für das religiöse Leben des Einzelnen bestimmenden Bewußtseinsweisen, haben je auf ihre spezifische Weise die Funktion, Gewißheit zu schaffen.168 Zwar kennt de Wette auch eine dogmatische, 164 Vgl. dazu Axt-Piscalar, De Wettes Religionstheorie, bes. 109–118. Sie verweist auf fünf Debattenfelder: 1. Die Suche nach einem Ausgleich von Rationalismus und Supranaturalismus, 2. Die Ablehnung eines moralisch begründeten Religionsbegriffs, 3. Die Betonung der Eigentümlichkeit der Religion, 4. Die Diskussion um das Verhältnis von religiösen Überzeugungen und sittlicher Lebensführung und 5. Die Ablehnung eines pantheistischen Gottesbegriffs. 165 Hier zitiert nach: Otto, Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, 3, Hervorhebung im Original. 166 De Wette rezipiert diese Begrifflichkeit, wobei für seine Religionstheorie vor allem dessen Glaubens- und Ahndungsbegriff einschlägig sind. Zur Näherbestimmung der drei Begriffe vgl. Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, bes. 187–190. 167 „1) das Wissen durch Anschauung und Verstand, wodurch wir die Erscheinungswelt kennen lernen; 2) der reine Vernunftglaube, die aus der Vernunft selbst geschöpfte, von der Anschauung unabhängige, ideale Ueberzeugung von einem Seyn der Dinge an sich; 3) die Ahnung des ewigen Seyns der Dinge in der Erscheinungswelt, welche Ueberzeugung dem Gefühl angehört. Alle diese drey Ueberzeugungsarten, auf die Gesetze der menschlichen Vernunft gegründet, haben dieselbe Zuverläßigkeit; ist Glaube und Ahnung Täuschung, so ist es auch das Wissen.“ (De Wette, Lehrbuch der christlichen Dogmatik, in ihrer historischen Entwicklung dargestellt I, 8, Hervorhebungen im Original) 168 In ihrer höchsten Form geht es in der Religion „für de Wette um die Erfassung des Wahren in Form der ‚ästhetischen‘ Wahrnehmungsweise“ (Axt-Piscalar, De Wettes Religionstheorie, 125 f.).
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ethische und ästhetische Gestalt von Religion und er verweist in seiner ‚Dogmatik‘ auf sie. Ihnen stellt er aber die von ihm sogenannten „rein religiösen Bestandtheile“169 der Religion gegenüber, worunter de Wette so etwas versteht wie den jedem Subjekt eigenen, wenn auch nicht immer bewußten Zugang zum Thema Religion. Ihm gilt sein primäres Interesse. Diese die Religion von allen anderen Erkenntnisweisen unterscheidenden Ideen „constituieren ihren religiösen Charakter“170. Sie dürften nicht verwechselt werden mit der historisch bedingten Einkleidung, die „entweder dogmatisch oder ethisch oder ästhetisch seyn wird. Diese geschichtliche Form und Einkleidung muß immer die Farbe der Zeit tragen“171. Es gehe zunächst darum, die zeitbedingten Einkleidungen der Religion auszusondern und ihr „Wesen“172 als solches aufzufassen. Dabei legt de Wette einen doppelten Begriff von ‚Dogma‘ zugrunde. Einmal versteht er darunter, und dies ist die positive Seite des Begriffs, im je individuellen religiösen Bewußtsein verankerte religiöse Überzeugungen, was so viel heißt wie das Wesentliche, Grundlegende einer Religion, die reinen Lehrsätze ohne die vom historischen Kontext abhängigen Ausformungen. Andererseits – und dies ist die negative Seite des de Wetteschen Dogmenbegriffs – faßt er darunter genau diese inhaltslose Form und Einkleidung, die der lebendigen Religiosität wesentlich nicht angehört und die de Wette zufolge der je nach Epoche mehr dogmatischen, ethischen oder ästhetischen Ausbildung der Religion entspreche.173 Ganz den Friesschen Vorarbeiten verpflichtet, benennt de Wette drei dieser Differenzierung folgende religiöse Gefühle – die ‚Begeisterung‘, die ‚Resignation‘ und die schon benannte ‚Andacht‘.174 Da darauf im folgenden noch einmal zurückzukommen ist, sind sie hier nur kurz zu charakterisieren: Das religiöse Gefühl der ‚Begeisterung‘ sieht de Wette in der menschlichen Ahnung 169
De Wette, Lehrbuch der christlichen Dogmatik, in ihrer historischen Entwicklung dargestellt I, 21. 170 Ebd., Hervorhebung im Original. 171 A. a. O., 21 f. 172 A. a. O., 19, Hervorhebung im Original. 173 „Dogma ist entweder Speculation, positiv gefaßt, und in die Religion gezogen, oder ein religiöses Gefühl, vom Verstande ausgedeutet und ausgesprochen; besonders liefert die Kunstanschauung der Natur, theoretisch aufgefaßt, Dogmen. Sie sind ein Analogon der Mythen, aber darin von diesen verschieden, daß sie ganz den Glauben in Anspruch nehmen, während diese nur dem Gehalte, nicht der Form nach, Gegenstand des Glaubens sind. Aber auch Mythen und Symbole schlagen in einem solchen Zustande der Religion leicht in Dogmen um.“ „Und so entsteht uns die Aufgabe für unsere biblische Dogmatik, die im A. und N. T. vorkommenden religiösen Elemente, in so fern sie meistens in Dogmen erscheinen, aufzufassen, aber in ihrem bestimmten Verhältniß zu dieser, ihnen fremden Einkleidung, geschieden von dieser Einkleidung.“ (A. a. O., 18 f. und 19 f.) 174 Zur Unterscheidung bei Jakob Friedrich Fries vgl. beispielsweise dessen Handbuch der Religionsphilosophie und philosophischen Aesthetik. Handbuch der praktischen Philosophie oder der philosophischen Zwecklehre II. Die Religionsphilosophie oder die Weltzwecklehre, Heidelberg 1832, bes. 5–12.
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begriffen, daß das Leben nicht in irdischen Bezügen aufgehe, was Hoffnung stifte. Das der ‚Resignation‘ entdeckt er im Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit, die am Scheitern an den je eigenen Ansprüchen deutlich würde. Und das religiöse Gefühl der ‚Andacht‘ resultiere aus der Erfahrung des Erhabenen in der Natur und im Leben. Sie dränge „zur Anbetung der göttlichen Allmacht“175. Wie de Wette sich dies näher vorstellt, erläutert er in dem 1815 erschienenen Werk ‚Ueber Religion und Theologie‘. Für ihr Verständnis ist es notwendig, sich zu vergegenwärtigen, daß de Wette über Fries hinaus an den Herderschen und Schleiermacherschen Gefühlsbegriff anknüpft, wenn er Religion allein und ausschließlich im Gefühl verortet. Bei seiner Aufnahme dieser beiden Religionstheoretiker nimmt de Wette jedoch für sich in Anspruch, eine Differenzierung vorgenommen zu haben, entsprechend den eben genannten Grundstimmungen, die es seiner Meinung nach erlaubten, einzelne religiöse Gefühle zu unterscheiden. Durch diese von Fries inspirierte Ausdifferenzierung unterscheidet sich de Wette de facto von den Gefühlstheorien Herders und Schleiermachers. Zwar sind die Nähen de Wettes zu den beiden Denkern auffällig, doch bei der Verwendung des Gefühlsbegriffs folgt er der Schematisierung von Fries. Zugleich unterscheidet er sich in seiner Differenzierung der religiösen Gefühle von Fries, denn: „In der Verwendung dieser Interpretationsbegriffe geht De Wette […] über den Schematismus der ästhetischen Naturerfahrung bei Fries hinaus und zeichnet die Strukturmomente der religiösen Gefühlskultur in die Geschichte der positiven Erscheinungsformen der Religon und des Christentums ein.“176 Diese Besonderheit der de Wetteschen Religionstheorie, die der Religionsgeschichte und damit der historischen Bibelhermeneutik ein ganz eigentümliches Gewicht verleiht, hatte schon Rudolf Otto herausgestellt: De Wette habe die Friessche Religionsphilosophie allererst für die theologische Wissenschaft fruchtbar gemacht, was ihn – gemeinsam mit Schleiermacher – zum „Anfange“ der „neuen Theologie des 19. Jahrhunderts“ mache.177
3.1.4. ‚Ueber Religion und Theologie‘ Das übergeordnete Problem der Schrift ‚Ueber Religion und Theologie‘ wird durch die vorangestellte zeitdiagnostische These angezeigt, wonach Verstand und Glaube auseinanderzufallen drohten. De Wette trägt die Überzeugung vor, daß es sich um einen Scheingegensatz handele, der durch aktuelle philoso175
De Wette, Ueber Religion und Theologie, 63. Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 194. „Die theologische Systematik, die wir heute versuchen, ist Fortsetzung der Arbeit, die sie begonnen haben. Ihre Anfänge bleiben für uns immer lehrreich und sind zu kennen nötig, wenn man in die heutige Arbeit systematischer Theologie eintreten will.“ (Otto, KantischFries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, IX) 176 177
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phische Erörterungen widerlegt sei.178 Der Plausibilisierung dieser These und damit seiner eigenen Position dient die von ihm vorgelegte Untersuchung. Er rekurriert auf die von ihm sogenannten „Resultate der philosophischen Kritik“179, worunter de Wette das System des zunächst ungenannt bleibenden Fries versteht.180 So erklärt de Wette als eingestandene oder uneingestandene gemeinsame Basis aller theologischen Richtungen „die Unterscheidung der verständigen, idealen und ästhetischen Ueberzeugung, welche ich für den Schlüssel der ganzen Theologie halte“181. Das ‚Wissen‘, hier ‚verständige Ueberzeugung‘ genannt, bleibe auf die äußere Anschauung beschränkt. Dies gelte jedoch nicht für ‚Glauben‘ und ‚Ahndung‘, die für die Wesensbestimmung der Religion entscheidend seien.182 So grenzt de Wette den ‚Glauben‘ dezidiert vom ‚Wissen‘ ab, indem er ihn als innere Anschauung versteht und als auf Vernunftideen gegründet ansieht. Die ewige und vollkommene Welt der Ideen stehe der zeitlich verfaßten und unvollkommenen Welt der Sinne gegenüber. Bezogen auf den Glauben spricht de Wette von einer ‚idealen Ueberzeugung‘. Näherhin sieht er den Glauben auf drei religiöse Ideen gegründet, die der Ewigkeit der Seele, die der Freiheit und die eines unendlichen Absoluten. Ihnen ordnet de Wette die Idee der Bestimmung des Menschen, die Idee des Guten und Bösen und die Idee eines heiligen, allmächtigen Willens zu. Diese fielen im menschlichen Bewußtsein zwar mit ersteren zusammen, seien aber in methodischer Hinsicht zu unterscheiden. Die einen seien theoretische Vernunftideen, die aus der idealen Betrachtung der Welt resultieren würden; die anderen versteht er als praktische Vernunftideen, die die theoretischen nach ihrem Wert und Zweck befragten. Und auch Letztgenannte, die ‚Ahndung‘, grenzt de Wette vom ‚Wissen‘ ab. Dabei bilden die religiösen Ahndungen und Gefühle so etwas wie die positive Seite seiner Wesensbestimmung der Religion. Wie de Wette sich dies näher vorstellt, ist im folgenden zu erläutern. Zunächst ist festzuhalten, daß er – im engen Anschluß an Fries – wie schon beim Ideenbegriff, so auch bei den religiösen Gefühlen die Differenzierung derselben nach einem Dreierschema vornimmt: Begeisterung, Ergebung bzw. Resignation und Andacht. Im Unterschied zu den Begriffsreflexionen der Erkenntnistheorie werden diese, so die Überlegungen de Wettes, durch religiöse Symbole dargestellt. Das Gefühl der ‚Begeisterung‘ bringe die Ahnung zum Ausdruck, daß das Leben nicht in irdischen Bezügen aufgeht und daß darum ein höherer Zweck angenommen werden muß. Daß es so etwas wie ein gelingendes Lebens gebe, dränge zur Annahme einer funktio178 Vgl. de Wette, 179 A. a. O., IV. 180
Ueber Religion und Theologie, bes. III–XII.
Der Name ‚Fries‘ wird zum ersten Mal auf Seite 141 genannt.
181 A. a. O., IV, Hervorhebung im Original. 182 Vgl. dazu die Rekonstruktion von Buntfuss,
tums, bes. 185–215.
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nalen und harmonischen Wirklichkeit.183 Das Gefühl der ‚Ergebung‘ oder ‚Resignation‘ resultiere aus den Widersprüchen und Erschütterungen des Lebens. Es dränge zur Annahme einer höheren Zweckmäßigkeit der Dinge.184 Und das Gefühl der ‚Andacht‘ beruhe auf der Erfahrung des Erhabenen im Leben. Hier findet die de Wettesche Religionstheorie ihr Ziel: „Endlich kann nur im Gefühl der Glaube an Gott lebendig werden, und seine beseligende Kraft aufs Gemüth äußern. Was uns für den Verstand nur die leere Form der Absoluten Einheit ist, und so leicht den Anschein eines bloß Gedachten und Erdachten annimmt, wird uns im Gefühl der Andacht zum festen Halt und Stützpunct unseres inneren Lebens, zum Grundquell aller anderen religiösen Gefühle. Auf die Andacht stützt sich die Begeisterung und die Resignation; mit jener können wir nichts in der Erscheinung das Göttliche fassen, ohne daß wir den Geist Gottes selbst in der Welt ahnen; mit dieser können wir uns nicht über die Erscheinung erheben, ohne die Zuversicht auf die ewige Güte, welche alles zum besten lenkt, und alle Verwirrung löst.“185 Am Gefühl der Erhabenheit, in dem sich der Mensch seiner eigenen Unzulänglichkeit angesichts der göttlichen Allmacht bewußt wird, hängt der de Wettesche Versuch der Begründung der Eigenständigkeit der Religion. Umgekehrt heißt dies, daß die von ihm aufgestellte Gefühlstheorie den Anspruch erhebt, daß die religiösen Gefühle der Begeisterung, Resignation und Andacht wesentlich zum Menschsein gehören. Jeder Mensch, so die de Wettesche These, ist religiös veranlagt. Dies gilt seiner Meinung nach auch dann, wenn sie vorbewußt bleibt. Ohne hier weiter ins Detail zu gehen, sei noch erwähnt, daß de Wette als quasi natürliche Ausdrucksformen dieser drei religiösen Gefühle die Gattung des Epos (1.), wegen ihrer episch-idyllischen Gestaltungsmöglichkeiten186; die des Dramas (2.), wegen seiner tragischen und elegischen Gestaltungsmöglichkeiten187 und die der Lyrik (3.), wegen ihrer hymnischen Gestaltungsmöglichkeiten188 angibt.189 183 „Die Idee der Bestimmung des Menschen, vom Gefühl aufgefaßt, stellt sich dar im Gefühl der Begeisterung.“ (De Wette, Ueber Religion und Theologie, 59, Hervorhebung im Original) 184 „Die Idee des Guten und Bösen, als solche einen unauflöslichen Widerstreit in sich tragend, findet im Gefühl der Resignation ihre Lösung.“ (A. a. O., 60 f., Hervorhebung im Original) 185 A. a. O., 62, Hervorhebung im Original. 186 „Die ästhetische Idee der Begeisterung wird in der Poesie in episch-idyllischen und romantischen Idealen erscheinen.“ (A. a. O., 70, Hervorhebungen im Original) 187 „Die Idee der Resignation spricht sich bald in tragischen, bald in elegischen, bald in komischen Idealen aus.“ (A. a. O., 71, Hervorhebungen im Original) 188 „Die ästhetische Idee der Andacht nennen wir die lyrische, weil sie sich am reinsten in der freien geistigen Form des lyrischen Gedankenschwungs und des musikalischen Rhythmus bewegt.“ (A. a. O., Hervorhebung im Original) 189 Auch hiermit schließt er sich an Fries an. Vgl. zusammenfassend ders., Handbuch der Religionsphilosophie und philosophischen Aesthetik II, bes. 207–212.
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Verstand und Glaube, so de Wette, haben beide ihr Recht und treten – auch in der Theologie – nicht in ein sich gegenseitig ausschließendes Verhältnis.190 Und doch konstatiert er einen „Gegensatz des Glaubens und des Wissens“191 und hält zu den „Ueberzeugungsweisen der Religion“ fest: Ihr „gehören […] der Glaube und die Ahnung an, das Wissen aber ist ihr gänzlich fremd“192. Angesprochen ist damit das Problem der Rationalität und Irrationalität im Aufbau von Religion. Um zu verstehen, in welcher Art und Weise de Wette dieses Problem diskutiert, ist noch einmal auf seine Näherbestimmungen von Glaube und Ahndung einzugehen, insbesondere mit Blick darauf, was sie verbindet – da sie beide als Aufbaumomente von Religion verstanden werden – und was sie trennt – da sie verschiedene Facetten seiner Religionstheorie darstellen. Bezogen auf den ‚Glauben‘ in seinem Verhältnis zum ‚Wissen‘ gibt de Wette folgende Näherbestimmung: „Nur indem wir das Wissen aufgeben, das uns nicht befriedigt, gelangen wir zu dieser Betrachtungsweise der Dinge; indem wir die Gesetze der Natur verwerfen, entsteht uns die Idee des Ewigen und Freien, die Idee der unsterblichen Seele und eines wahren Seyns der Dinge, und indem wir das Mannichfaltige und Zufällige, was uns die Welt, vom Verstande angesehen, selbst in ihrer höchsten Einheit und Nothwendigkeit, darbietet, übersteigen, gelangen wir zu der vollendeten Einheit und Nothwendigkeit in Gott. Allerdings giebt es darüber auch ein Wissen, nämlich das der Selbsterkenntniß, welches uns die Nothwendigkeit dieser Ueberzeugungsweise zum Bewußtseyn bringt, und uns bis zu dem Puncte hinführt, wo das Wissen aufhört und ein höheres Gebiet beginnt; aber ein objectives Wissen giebt es darüber nicht, sondern hier herrscht allein der Glaube.“193 De Wette scheint hier einen doppelten Rationalitätsbegriff zugrunde zu legen. Zum einen unterscheidet er ganz entsprechend der Kantischen Vernunftkritik Sinnlichkeit und Verstand als die beiden Erkenntnisstämme. Sie sind gleichberechtigt und wechselseitig aufeinander angewiesen. Diese unmittelbare Beziehung der Erkenntnis auf Gegenstände bezeichnet de Wette als eine naturgesetzliche Gegebenheit. Die reinen Verstandesbegriffe, durch die das ‚Wissen‘ aufgebaut ist, sind ganz im Sinne der transzendentalphilosophischen Erklärung Kants auf die Sinnlichkeit angewiesen. Ohne Sinne kann nichts erkannt werden. Dies ist die Grenze des einen Rationalitätsbegriffs. Zum anderen, und auch hierin sieht de Wette rationale Strukturen vorliegen, unterscheidet er die durch Selbstreflexion begründete Erkenntnis. Hier sei die Sinnlichkeit nur noch qua Negation greifbar. Die hier benannten Glaubensideen 190 „Ich habe gezeigt, wohin die bisherige Kritik in der Theologie führen, und wie eine höhere Ansicht über sie treten muß, ohne sie zu unterdrücken; ich will den Gewinn der Verstandesuntersuchung in der Theologie bewahrt wissen, und dich die Rechte des Glaubens geltend machen.“ (De Wette, Ueber Religion und Theologie, XII) 191 A. a. O., 11, Hervorhebungen im Original. 192 A. a. O., 19, Hervorhebungen im Original. 193 A. a. O., 9 f., Hervorhebung im Original.
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gewinnt de Wette aufgrund spekulativer Überlegungen. Sie werden als in einem jeden Menschen angelegte Ideen verstanden. Indem diese Art der Bewußtseinserkenntnis nicht in der Sinnlichkeit verhaftet ist, übersteigt sie das ‚objective‘ Wissen und hebt sich von dessen Unwägbarkeiten und Kontingenzen ab. Die von de Wette namhaft gemachten Glaubensideen sind Negationen der irdischen Wirklichkeit und als solche allein durch Selbsterkenntnis gewinnbar. Sie beanspruchen als subjektive Überzeugungen unmittelbare Evidenz. Indem der Glaube das je eigene irdische und endliche Leben im Licht des Unbedingten und Unendlichen reflektiert, gewinnt er unmittelbar einsichtige ‚ideale Ueberzeugungen‘. De Wette bezeichnet sie als Vernunftideen, da sie ihre eigenen, überindividuellen Rationalitätsstrukturen haben. Bezogen auf die ‚Ahndung‘ respektive das ‚Gefühl‘ streitet de Wette jegliche Beziehung auf das ‚Wissen‘ ab: „Wir haben schon oft auf das Gefühl zurückgehen müssen, wenn wir die Anwendung und Entwicklung religiöser Ideen dem Verstande, als ihm nicht gehörig, absprachen, und wir müssen es nun im Ganzen erkennen, daß die Religion nur im Gefühl lebendig werden kann. Die Ideen des religiösen Glaubens, mit dem speculativen Vermögen aufgefaßt, sind gleichsam todt und starr, und leiden keine Anwendung aufs Leben, wenn sie nicht mit dem Gefühl aufgefaßt und ins Leben eingeführt werden, indem diesem Vermögen allein die Unterordnung des Besonderen unter die Idee gegeben ist.“194 Die religiöse Deutung der irdischen Wirklichkeit versteht de Wette als einen subjektiven Vorgang, der keinen verstandesmäßig verfaßten Regeln folgt. Dies scheint für ihn aber nicht zu bedeuten, daß die benannten Glaubensideen keine Bedeutung für die je individuelle Religiosität hätten. Denn trotz aller Betonung der allein maßgeblichen Bedeutung des Gefühls stellt das oben herausgearbeitete Dreierschema der ‚Ahndung‘ eine bewußte Parallelisierung zur Auseinanderdifferenzierung des Glaubensbegriffs dar. Über diese Ideen hinaus sichert das Gefühl für de Wette lediglich die Aneignung derselben und belegt ihm so die Eigenständigkeit der Religion.195 Der Mensch ist seiner Meinung nach nicht nur vernunftbegabt, sondern er ahnt bzw. fühlt zugleich in seinem Innersten, daß sein Leben in diesen rationalen Strukturen nicht aufgeht. Die Rationalität der Glaubensideen und die Irrationalität des Gefühls, das dem subjektiven Empfinden sein Eigenrecht sichert, gehören für de Wettes Religionstheorie untrennbar zusammen: „Wir haben gesehen, daß die Religion theils in Ideen, welche dem Glauben, theils in Gefühlen, welche der Ah194 A. a. O.,
59, Hervorhebung im Original. „Das Gefühl ist ein unmittelbares Vermögen, unabhängig vom reflectierenden Verstand, und so wird auch diese Betrachtungsart frei ihren eigenen Weg gehen. Allein so wie die Reflexion das Gefühl in seiner inneren Natur beobachten kann, so wird sie auch die einzelnen Aeußerungen desselben ihrer Beobachtung unterwerfen, und die Anschauung der Welt im Gefühl wird mittelst derselben zur reflectierenden Contemplation.“ (A. a. O., 65, Hervorhebung im Original) 195
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nung und dem ästhetischen Vermögen angehören, oder in Wahrheit und Schönheit besteht. Die erstere hat schlechthin objective Gültigkeit, und ist in jeder Menschenvernunft dieselbe. Die letztere läßt sich allerdings auch auf objective Grundformen zurückführen, welche wir als die ästhetischen Ideen kennen gelernt haben; aber im Leben kommt sie in der freiesten Mannichfaltigkeit vor, und ist individuell.“196 De Wette erhebt nicht nur für seine Überlegungen zu den Glaubensideen, sondern auch zur Ahnung den Anspruch, daß sie unmittelbar evident seien und allgemeine Gültigkeit beanspruchen könnten. Das ‚Wissen‘ dränge nach einem absoluten Wissen, das de Wette in den ‚Glaubensideen‘ gegeben sieht und diese drängen nach ihrer Realisierung, die de Wette im Gefühl verortet.197 Die Stärke dieser Religionstheorie, die auf der einen Seite von rational rekonstruierbaren ‚Glaubensideen‘ ausgeht und andererseits subjektive und individuelle ‚Gefühle‘ mit im Blick hat, liegt in ihrer großen hermeneutischen Reichweite, die de Wette die verschiedensten religiösen Phänomene in den Blick nehmen läßt. Darauf hat Christine Axt-Piscalar hingewiesen: „De Wette […] versucht, die Form der Religion in ihrer Eigengewichtigkeit zu retten […]. Konkret bedeutet das, daß de Wette die Sprache der Religion, die Sagen, Mythologeme, Bilder, die religiöse Symbolik sowie die religiöse Kunst in Musik, der bildenden Kunst sowie der Baukunst, insbesondere den Kultus und hier vor allem das Abendmahl als die der Religion eigentümlichen Ausdrucksformen zu verstehen sich anschickt und diese Ausdrucksformen als wesentliche sowohl für den Inhalt der Religion als auch für den menschlichen Geist zu begreifen versucht; daß er ferner […] die Religion als eine notwendige und eigentümliche Überzeugungsweise im menschlichen Geist zu bestimmen sucht.“198 Dies macht auch de Wettes seit seinen ersten Veröffentlichungen greifbares Interesse an der historischen Bibelhermeneutik verständlich, denn im Rahmen der Religionstheorie spricht er vor allem der Religionsgeschichte als exemplarischer Verknüpfung von Idee und Gefühl eine besondere Bedeutung zu.199 Sie soll 196 A. a. O., 171 f., Hervorhebungen im Original. Und an anderer Stelle heißt es pointiert: „[D]ie Religion besteht aus zwei Elementen, der Wahrheit und Schönheit, oder aus dem Glauben und dem Gefühl; und diejenige Gestalt derselben ist die vollkommenste zu nennen, in welcher beide im richtigen Ebenmaß verbunden sind.“ (A. a. O., 76, Hervorhebung im Original) 197 „Wollen wir nun die in uns liegende Idee der Religion nicht nach individuell schwankenden Vorstellungen auffassen, oder uns dabei von den Träumen der Phantasie leiten lassen, suchen wir etwas Sicheres und Festes, was jede Menschenvernunft anerkennen müsse: so giebt es schlechterdings keinen anderen Weg, als mit Hülfe der Reflexion unser ganzes inneres Leben der Beobachtung zu unterwerfen, alle Vermögen und Thätigkeiten unseres Gemüthes in ihren gegenseitigen Verhältnissen zu betrachten, und zu sehen, welche Stelle die Religion unter denselben einnehme.“ (A. a. O., 142) 198 Axt-Piscalar, De Wettes Religionstheorie, 113. 199 „Jede Geschichte ist symbolisch, d. h. Ausdruck und Abbild des menschlichen Geistes und seiner Thätigkeit; es wird auch kaum einen Theil der Geschichte geben, welcher nicht für das höhere geistige Leben des Menschen, nämlich für dessen ideale Richtung, Bedeutung
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im nächsten Abschnitt, im Rahmen der Erörterungen zum Mythos- und Symbolbegriff, herausgearbeitet werden. Überleitend sind jedoch einige Beziehungen und Abgrenzungen herauszustellen, die de Wette im Bezug zum Religionsbegriff macht. Zwar finden sich im Kontext der vorliegenden Untersuchung auch Äußerungen, die darauf hindeuten könnten, daß religiöse und historische Überzeugungen einander ausschließen, da es sich bei ersteren um ‚innerliche‘, bei letzteren dagegen um ‚von außen empfangene‘ Erfahrungen handele.200 Aber durch die im engen Anschluß an die Philosophie Fries’ auch von de Wette vollzogene, oben schon benannte sogenannte „anthropologische Wendung“201 der kritischen Philosophie Kants, die erklärtermaßen das Ziel verfolgte, die verschiedenen Wissensformen als Grundstrukturen des menschlichen Geistes aufzuweisen, bekam die Geschichte für de Wette eine ganz eigentümliche Bedeutung. Denn er geht dahingehend über Fries hinaus, daß er „die Strukturmomente der religiösen Gefühlskultur in die Geschichte der positiven Erscheinungsformen der Religion“202 einzeichnet. Dies heißt einerseits, daß de Wette die von ihm aufgestellte Religionstheorie dadurch verifiziert, daß er die herausgearbeiteten Momente derselben mit historischen Erscheinungen belegt. Andererseits geht de Wette aber gerade im Hinblick auf die Interpretation religiöser Überlieferungen noch weiter und stellt die These auf, daß nur eine ‚anthropologisch‘ begründete Theologie in der Lage sei, historische Phänomene richtig zu deuten. Denn die Kenntnis und Beachtung der ‚religiösen Ideen‘ allein garantiere die angemessene Auslegung geschichtlicher, insbesondere religionsgeschichtlicher Überlieferungen.203 hätte, jedoch wird der Religionsgeschichte immer die meiste ideale Bedeutung zukommen, weil sie sich fast ganz im idealen Gebiet bewegt und gleichsam reines Werk der höchsten Geistesthätigkeit des Menschen ist.“ (De Wette, Ueber Religion und Theologie, 157) 200 „Religiöse Ueberzeugungen kann man nicht von aussen empfangen wie historische Erfahrungen, so daß man dabei hauptsächlich nur im leidenden empfangenden Verhältniß gegen den Unterrichtenden sich befände: die religiösen Ideen liegen in uns, und wollen nur angeregt und zum Bewußtseyn gebracht seyn, und nur durch selbstständige freie Aneignung kann das in der Geschichte gegebene für unser religiöses Leben bildend werden.“ (A. a. O., 129) 201 A. a. O., 141. 202 Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 194. 203 „Wie wichtig […] für unser religiöses Leben die Geschichte sei, haben wir gesehen: ohne mit ihr im richtigen gesunden Zusammenhang zu stehen, muß es unfehlbar verkümmern oder auf Abwege gerathen. Jede Theologie, welche nicht anthropologisch begründet ist, wird in der Behandlungsart der Geschichte fehlen. Wer die religiösen Ideen verkennt und verachtet, kann in der Geschichte der Religion nichts als Meinungen und Träume finden. Wer die geschichtliche religiöse Ueberlieferung materiell als gegebene Glaubenssache annimmt, kann unmöglich den lebendigen Geist der Religion auffassen. Der Mystiker wird die Geschichte drehen und deuten nach seinen dunklen Begriffen, und eigentlich keinen Gewinn von der Geschichte haben, da er nichts in ihr lieset, als was er in sich selbst findet. Der ächt kritische Theolog aber wird in dem gegebenen Material der Geschichte das Lebendige und Geistige die Idee auffassen, und aus demselben kräftige Nahrung ziehen.“ (De Wette, Ueber Religion und Theologie, 144 f.)
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Bezüglich seines methodischen Vorgehens schließt sich de Wette ausdrücklich an die hermeneutischen und kritischen Grundsätze an, die er in seinen frühen Schriften aufgestellt hat. So schlägt er in der Vorrede des ersten Bandes des ‚Lehrbuch[s] der christlichen Dogmatik, in ihrer historischen Entwicklung dargestellt‘ den Bogen zurück zu den ‚Beiträge[n] zur Einleitung in das Alte Testament‘ und die von ihm dort angewendete sogenannte ‚mythische‘ und ‚symbolische‘ Erklärungsart.204 De Wette verweist insbesondere auf eine Stelle, an der er die These aufstellt, daß erst seine Methode der mythischen Interpretation die historischen Bücher des Alten Testaments in angemessener Weise als historische Denkmale verstehen lehrt und zu einer Quelle der Kultur- und Religionsgeschichte macht. Hierfür ist seine Unterscheidung von Mythos, Geschichte und Symbol grundlegend.
3.2. Mythos, Geschichte, Symbol 3.2.1. Der Mythosbegriff De Wette studierte, wie eingangs erwähnt, ab 1799 in Jena und erlangte 1805 die venia legendi mit seiner Dissertation über das Deuteronomium. In seinen daran anschließenden ‚Beiträge[n] zur Einleitung in das AT‘ (1806 / 07) ging es ihm um eine ‚mythische‘ Erklärung des Pentateuchs. Ohne gleich Abhängigkeiten zu konstruieren ist auffällig, daß dies genau in die Zeit der Wirksamkeit des frühen Schelling fällt, der ebenfalls in Jena an einer Klärung des Mythosbegriffs interessiert war. Da beim Thema Mythologie oft nur vereinseitigend an die Spätphilosophie Schellings gedacht wird, sei hier noch einmal betont, daß dem eine ganz eigene Theorie des Mythos in der Frühzeit gegenübersteht. Diese Beschäftigung mit dem Thema, die mit zur Schellingbewunderung des jungen 204 „Ueber die bey der historischen Ausmittelung befolgten Grundsätze wünschte ich mich […] ausführlicher zu erklären, wenn es der Raum gestattete. Für viele anstößig, jedoch durch die in meiner Kritik der Israelitischen Geschichte gegebenen hermeneutischen und kritischen Erörterungen für den denkenden Forscher hinlänglich erläutert, ist meine mythische Ansicht von gewissen Erzählungen des Alten, und, nach deren Analogie, auch des Neuen Testaments: so daß es überflüssig wäre, hier noch ein Wort darüber zu verlieren. Nur bemerken muß ich, daß ich hier durch die That bewiesen, was ich dort (S. 398.) behauptet habe, daß die mythische Ansicht fruchtbarer für die Religions- und Bildungsgeschichte, als die historisierende, sey. Während nach dieser letztern den Hebräern kindische nur bey halbwilden Nationen vorkommende Vorstellungen, die sich zu ihrer sonstigen reinen und erhabenen Religion gar nicht reimen, aufgebürdet werden, erscheint nach der meinigen Alles in einem reineren höheren Lichte. Oder während man dort nur Taschenspielerey und Priester- und Schamanenbetrug oder alberne Wundersucht erblickt, zeige ich ernste heilige, in Poesie niedergelegte Ideen auf. Hiermit hängt die symbolische Erklärungsart zusammen, die ich befolgt habe, wornach viele Vorstellungen und Einrichtungen, die man bisher nach ihrer unmittelbaren Bedeutung zu beurtheilen gewohnt gewesen ist, als Symbole und Einkleidungen höherer Ideen gefaßt werden.“ (De Wette, Lehrbuch der christlichen Dogmatik, in ihrer historischen Entwicklung dargestellt I, IV f., Hervorhebungen im Original)
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de Wette beitrug, ist nur vor dem Kontext einer weitläufigen Forschungsdebatte in der damaligen Zeit zu verstehen, auf die kurz eingegangen werden soll. Der moderne Mythosbegriff und das Fachgebiet der Mythologie wurden bekanntermaßen durch den Göttinger Altertumswissenschaftler Christian Gottlob Heyne (1729–1812) eingeführt.205 Seine Forschungen zu dem Thema fanden weitreichende Beachtung und Aufnahme, gerade auch in den sich von dogmatischen Vorgaben lösenden Bibelwissenschaften. Demselben ging es im Rahmen der Interpretation klassischer Dichtertexte um „die Erfassung des Geistes, der in allen Aeußerungen der Antike lebt“206, wobei er den Mythos als Entwicklungsstufe früher literarischer Überlieferungen begreift. Durch seine Trennung des ursprünglich notwendiger Weise mythischen Materials von der formenden Verwertung durch die Dichter vertrat Heyne ein folgenreiches Verständnis vom Wesen des Mythos, das nicht nur den jungen Schelling inspirierte. In der Zeit der Romantik stehen für die Auseinandersetzung mit dem Thema Namen wie der von de Wette zeit seines Lebens verehrte Lehrer Herder in Weimar, aber auch Friedrich Hölderlin (neben einem kurzen Fichtestudium in Jena insbesondere Tübingen) und Friedrich Schlegel (Habilitation in Jena, zuletzt Dresden).207 Und auch in der Bibelforschung des ausgehenden 18. Jahrhunderts war der Mythosbegriff durch die neuerdings als ‚mythische Schule‘ bezeichnete Forschergruppe um Eichhorn, Gabler und Georg Lorenz Bauer präsent.208 De Wettes Drängen auf die Notwendigkeit einer mythischen Erklärung des Alten Testaments ist im weiteren Horizont dieser Debatten im 18. Jahrhunderts zu verstehen. Deshalb soll hier – trotz des eingangs stark gemachten Einflusses auf de Wette und trotz der hervorgehobenen Bedeutung des Themas ‚Mythos‘ und ‚Mythologie‘ im Denken des frühen Schellings – keine einlinige Abhängigkeit konstruiert werden. Doch, daß de Wette wesentliche Anregungen durch die Schellingsche Mythentheorie erfuhr, wobei vor allem auf dessen ‚Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums‘ und über die ‚Philosophie der Kunst‘ zu verweisen ist, ist kaum bestreitbar.209 205 Zu den Hauptstationen der damaligen Debatte vgl. Andreas Kubik, Die Symboltheorie bei Novalis. Eine ideengeschichtliche Studie in ästhetischer und theologischer Absicht (BHTh 135), Tübingen 2006, 362–368. 206 Joachim Wach, Das Verstehen. Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im 19. Jahrhundert I. Die grossen Systeme, Tübingen 1926, 33. 207 Vgl. Axel Horstmann, Art. Mythos, Mythologie II–VI, in: HWP 6 (1984), 283–318, bes. 288–295. 208 Vgl. John William Rogerson, Myth in Old Testament interpretation (BZAW 134), Berlin / New York 1974. Zu Eichhorn und Gabler vgl. Henning Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung IV. Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München 2001, bes. 209–226. – Die Zuordnung dieser Forscher zu einer einheitlichen Schule ist nicht ganz glücklich, da sie einerseits eine große Nähe der Forscherleistungen der vornehmlich auf dem Gebiet des Alten Testaments arbeitenden Wissenschaftler suggeriert, die es so nicht gibt. Andererseits blendet die Zuordnung aus, daß der Mythosbegriff auch außerhalb der engen Fächergrenzen der Theologie in dieser Zeit eine große Bedeutung hatte. 209 Rogerson scheint davon auszugehen, daß de Wette an den Vorlesungen teilnahm,
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Nach dem eingangs Ausgeführten ist es nicht unplausibel, die These aufzustellen, daß de Wette die frühe Schellingsche Mythentheorie und die mit ihr eng verbundenen Probleme der Zuordnung von ‚Geschichte‘ und ‚Epos‘ in seinen eigenen frühen Schriften zur historisch-kritischen Erforschung der alttestamentlichen Überlieferungen, die er wenige Jahre später vorlegte, verarbeitete. Dies ist für die Geschichte der alttestamentlichen Hermeneutik insofern von nicht zu unterschätzender Bedeutung, da die frühen de Wetteschen Werke, vor allem seine ‚Dissertatio critico-exegetica qua Deuteronomium a prioribus Pentateuchi libris diversum, alius cuiusdam recentioris auctoris opus esse monstratur‘ (Jena 1805) und seine ‚Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament‘ (Halle 1806 / 07) breit rezipiert worden sind.210 In der Vorrede zum zweiten Band seiner ‚Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament‘, der sich der israelitischen Geschichte – die seiner Meinung nach auf einer kritischen Rekonstruktion des Pentateuchs basieren muß – zuwendet, schreibt er: „Die Erklärer des A. T. haben schon längst von historischer Poesie gesprochen; nur gaben sie der Poesie nichts als die Einkleidung der Fakten, die Fakten selbst wollten sie noch der Geschichte retten. Daß dies inconsequent und willkührlich sei, hoffe ich genugthuend dargethan zu haben. Was man vielleicht für zu kühn erkennen wird, daß ich den ganzen Pentateuch von Anfang bis zu Ende in mythischer Bedeutung nehme, ist doch weiter nichts als Consequenz: denn wie das Einzelne, so auch das Ganze.“211 De Wette ist an einer mythischen Erklärung der alttestamentlichen Überlieferungen gelegen. Die gegenwärtige Forschung, wofür exemplarisch nochmals Markus Buntfuß’ und Rudolf Smends Würdigungen de Wettes stehen mögen, sieht das Ziel seiner Forschungen – zugespitzt formuliert – in einer Abwendung von den damaligen Versuchen einer Rekonstruktion der israelitischen Geschichte. Smend hatte in seiner Dissertation betont, daß es de Wette nicht um eine ‚historische‘, sondern um eine ‚theologische‘ Interpretation des Alten Testaments ginge. Dafür macht er zum einen von de Wette aufgezeigte einander widerstreitende denn die Ausführungen über die ‚Philosophie der Kunst‘ erschienen erst aus dem Nachlaß und dürften de Wette sonst kaum bekannt geworden sein. (Vgl. ders., W. M. L. de Wette, bes. 32 f.) Wenn Thomas Albert Howard in einer Fußnote gegen diese Meinung auf eine Äußerung de Wettes aus dem Jahr 1841 verweist, muß dem nicht zwingend Beweiskraft zugesprochen werden. (Vgl. ders., Religion and the Rise of Historicism. W. M. L. de Wette, Jacob Burckhardt, and the Theological Origins of Nineteenth-Century Historical Consciousness, Cambridge / New York / Melbourne / Madrid 2000, 182 Anm. 69) Beide gehen vom Erwerb gründlicher Schellingkenntnisse während der Jenaer Zeit de Wettes aus. Sollte er da nicht auch seine Vorlesungen besucht haben? Letztlich wird die Frage offen bleiben müssen. Im Archiv der Universität Jena finden sich darüber keine Angaben mehr. 210 Zu den späteren (alttestamentlichen) Forschungen de Wettes vgl. Smend, Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament, bes. 64–129 und unter biographischer Perspektive Rogerson, W. M. L. de Wette, bes. 64–265. 211 De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, III f., Hervorhebung im Original.
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alttestamentliche Traditionen geltend, für deren Verifizierung es keinen Maßstab mehr gebe. Das Historische sei aufgrund seiner theologischen Überblendung nicht mehr greifbar. Und zum anderen führt er aus: „Schwerer noch wiegt ein Zweites, nämlich der mythische Charakter der Erzählungen, der den Gesetzen der Erzählung und der geschichtlichen Wahrscheinlichkeit widerspricht.“212 Smend resümiert, daß de Wette sowohl als Theologe als auch als Kritiker der alttestamentlichen Überlieferungen zu demselben Ergebnis komme: Das Alte Testament müsse religiös, nicht historisch betrachtet werden. Geschichtliches Forschen führe zwangsläufig in eine Aporie. Eine Geschichte Israels sei nicht rekonstruierbar. Zudem behindere sie eine ästhetische Interpretation der biblischen Geschichten.213 „Das Alte Testament will Religion bieten, nicht Geschichte.“ Bei de Wettes Forschungen handele es sich „von vornherein um eine ‚negative‘, destruktive Kritik, die auf das ‚Positive‘, die Konstruktion eines Zusammenhangs nach unserer Denkweise verzichtet. Das geschieht aber um eines Positiven willen, dessen Wert den der Historie weit übersteigt: de Wettes Ziel ist das Verständnis der Bibel als das, was sie ist und sein will. Seine historische Kritik am Alten Testament richtet sich damit gerade in ihrer Radikalität keineswegs gegen die Bibel, sondern will im Gegenteil durch die Widerlegung des historischen Mißverständnisses den Weg für den richtigen, den ästhetisch-religiösen Gebrauch freimachen“214. Daran knüpft Buntfuß an. Seiner Meinung nach beruht die Stärke der ‚poetischen Bibelhermeneutik‘ de Wettes in der Einsicht, daß jener trotz aller Kritik am historischen Wert des Alten Testaments dessen religiöse Bedeutung festgehalten und zur Geltung gebracht habe. „Die Unmöglichkeit den Pentateuch als Geschichtsbericht zu rekonstruieren wird […] durch die Möglichkeit aufgewogen, ihn ästhetisch zu interpretieren.“215 Dahinter stehe die bleibende Einsicht de Wettes, daß das Christentum und der Protestantismus als ästhetische Religion aufzufassen seien. Smend – der de Wette vor dem Hintergrund der ‚mythischen Schule‘ versteht – und Buntfuß – der für seine poetische Bibelhermeneutik vor allem Herder stark macht – kommen damit zu einem paradox anmutenden Ergebnis: De Wette ging es mit seiner ‚Kritik der israelitischen Geschichte‘, die bis heute in der alttestamentlichen Wissenschaft als eine der Grundlagen für die historisch-kritische Rekonstruktion der Geschichte Israels betrachtet wird, gar nicht um dieses Problem. Vielmehr sei er mit Hilfe des Mythosbegriffs zu der Entdeckung gelangt, daß das Alte Testament nicht historisch, sondern ‚religiös‘ bzw. ‚ästhetisch-religiös‘ zu betrachten sei. 212 Smend, Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament, 56. 213 Vgl. a. a. O., bes. 58. 214 A. a. O., 42 f. 215 Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 363.
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Über diese in Details verschieden akzentuierten Würdigungen geraten (fast gänzlich) die zentralen religionsgeschichtlichen Entdeckungen de Wettes aus dem Blick. Als eine der bedeutendsten Erkenntnisse der ‚Dissertatio‘ wird in der heutigen Forschung die Einsicht in die Besonderheit des Deuteronomiums gegenüber dem Tetrateuch gewürdigt. Auch wenn seine dahingehenden Ergebnisse zum größten Teil überholt und einer differenzierenderen Betrachtung des Problems gewichen sind, so komme doch de Wette mit dieser Einsicht das Verdienst zu, der Begründer der modernen historischen Bibelkritik zu sein. Demzufolge stamme das Deuteronomium von einem anderen Verfasser. Da unter anderem eine zentrale Forderung, die Kulteinheit, in der Zeit König Josias von Juda im Jahr 622 v. Chr. zur Geltung gebracht wurde, müsse es in dieser Zeit nicht nur aufgefunden (so der biblische Bericht in 2 Kön 22), sondern auch verfaßt worden sein.216 De Wettes Meinung nach spiegelt sich darin gegenüber dem Tetrateuch ganz deutlich der Geist eines späteren Zeitalters. Diese beispielsweise bei Wellhausen als wichtige historische Tatsache rezipierte Einsicht für das moderne Verständnis der israelitischen Geschichte, macht deutlich, daß es de Wette nicht allein um einen ästhetisch-religiösen Gebrauch der Bibel gegangen sein kann. Vielmehr hatte er ein Bild der Religionsgeschichte des alten Israels vor Augen, das durch die Forschungen von Smend und Buntfuß nur unzureichend gewürdigt wird. Ihren Thesen zum ästhetischen Gebrauch des Alten Testaments, für den sich zum Beispiel mit de Wettes 1811 erschienenem ‚Commentar über die Psalmen‘ durchaus Argumente finden lassen und der nicht geleugnet werden soll, gelingt es nicht, sein historisches Interesse an der biblischen Überlieferung zu würdigen. Einer der Gründe dafür mag in dem ihren Ausführungen zugrundeliegenden einfachen Verständnis des de Wetteschen Mythosbegriffs als reinen Gegensatzbegriff zu ‚Geschichte‘ liegen. Dafür gibt es bei ihm durchaus Anhaltspunkte, die im folgenden erörtert werden. Zunächst ist aber der Verwendung der Begriffe ‚Mythos‘ und ‚Mythologie‘ bei de Wette nachzugehen. Bereits in der Dissertation de Wettes wird der Mythosbegriff prominent erwähnt. Sie setzt mit der These ein, „daß der Pentateuch nicht von Mose verfaßt wurde, sondern in einem späteren Zeitalter“217. Zudem stellt de Wette gleich zu Beginn die (alleinige) mosaische Verfasserschaft des Pentateuchs in Frage, denn das Buch Genesis bestehe hauptsächlich aus zwei Werken und könne daher nicht (nur) von Mose stammen. Dies gelte ebenso für die übrigen Schriften des Tetrateuchs: „Und auch die anderen Bücher sind von mehreren Autoren. Daß in Exodus, Leviticus und Numeri sehr viele Mythen und Traditionen zusammengestellt sind, die sich von einander unterscheiden – entweder durch schriftliche 216 Vgl.
de Wette, Dissertatio critico-exegetica qua Deuteronomium a prioribus Pentateuchi libris diversum, bes. 13, Fußnote. 217 „Pentateuchum non esse a Mose conscriptum, sed seriore aetate ortum“ (A. a. O., 1, Übersetzung M. G.).
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Aufzeichnungen oder nur mündliche Überlieferungen –, werde ich an anderer Stelle zeigen. Allein aber auch durch seine natürliche Beschaffenheit ist das Deuteronomium am meisten von diesen Büchern unterschieden. Denn nicht allein von einem anderen Autor, in einer weit jüngeren Zeit, ist es geschrieben, sondern es scheint in vielem auch von den früheren Büchern abzuweichen und jenen sogar zu widersprechen. Ich versuche dies hier zu zeigen.“218 De Wette argumentiert religionsgeschichtlich. Mythen und Traditionen werden von ihm zusammengestellt und dienen als Unterscheidungskriterium, mit Hilfe dessen die einzelnen Bücher des Pentateuchs unterschiedlichen Verfassern und damit verschiedenen Epochen der israelitischen Geschichte zugewiesen werden. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, daß jedes Zeitalter durch seine eigenen Traditionen und Mythen gekennzeichnet sei. Sie könnten nur aus der Zeit ihrer Entstehung verstanden werden. Und umgekehrt ist eine richtige Interpretation der (alttestamentlichen) Überlieferungen nur möglich, wenn sie ihrer historischen Genese nach eingeordnet werden können. Dies macht vor allem die vierte, die Hauptthese der aus insgesamt sechs Thesen bestehenden de Wetteschen Dissertation deutlich, die sich dem Problem der Mythologie zuwendet. „Die Mythologie, die wir in jenen [gemeint sind die Bücher Gen–Num, Anm. M. G.] einfach und unkultiviert finden, wie sie von den meisten tradiert war, stellt unseres [sc. das Dtn] in mystifizierender und kalter Lehre, in scharfsinniger und besonders maßhaltender Weise dar. Es gefällt ihm scharfsinnigste Philosopheme zu erdenken, besonders aber die Vortrefflichkeit des israelitischen Volkes genauestens herauszustellen. Und was die Lehren über die Gesetze betrifft, wenn wir in den früheren Büchern die bekannt gemachten Gesetze selbst gleich wie Rechtskundige in Einfachheit und Unbeugsamkeit hören, wie es sich für Rechtskundige gehört, scheint unseres die Rolle des Predigers oder Moralisten zu spielen.“219 Indem de Wette die verschiedenen Überlieferungen des Pentateuchs verschiedenen Epochen der israelitischen Geschichte zuweist, eröffnet er einen neuen Weg ihrer Interpretation. Entscheidend ist für ihn, daß eine Entwicklung der Mythologie in den alttestamentlichen Überlieferungen nachweisbar ist. Im Deuteronomium sind die, in den seiner Meinung nach früher 218 „Sed et ceteri libri plurium auctorum sunt. Exodum, Leviticum et Numeros e pluribus mythis et traditionibus inter se diversis, vel literis consignatis vel tantum ore propagatis, concinnatos esse alio fortasse loco monstrabo. Singularis autem atque ab istis libris maxime diversae indolis Deuteronomium est. Nam non solum ab alio auctore, longe recentiore tempore, conscriptum, sed in multis etiam a prioribus libris discrepare, imo iis repugnare videtur. Id monstrare hic aggrediar.“ (Ebd., Übersetzung M. G.) 219 „Mythologiam, quam in illis simplicem et incultam invenimus, qualis a majoribus tradita erat, noster mysticismo quodam et doctrina frigida, subtili, superstitiosa temperatam exhibet. Placet sibi in philosophematibus subtilioribus excogitandis, imprimis vero in praestantia gentis Israeliticae superstitiosissime extollenda. Et quod ad legum doctrinam attinet, si in prioribus libris ipsos quasi juris consultos ea quae juris consultos decet simplicitate et rigore leges promulgantes audiamus, noster praedicatoris seu moralistae partes agere videtur.“ (A. a. O., 11, Übersetzung M. G.)
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entstandenen Büchern des Tetrateuchs aufzufindenden Mythologien zur Lehre geworden. Als Zusammenfassung der Bücher Genesis bis Numeri bietet das Deuteronomium eine den Bedürfnissen einer späteren Zeit entsprechende Berichtigung.220 Eine nur scheinbar andere Zuordnung von Geschichte und Mythos findet sich in den ‚Beiträge[n] zur Einleitung in das Alte Testament‘ von de Wette. Den zweiten Band beginnt er mit „Maximen“221. Dort erklärt er zu den Grundsätzen historischen Forschens: „Nicht alles, was wie Geschichte aussieht, ist Geschichte: es giebt auch Mährchen, Legenden, Mythen. Im Stoff unterscheiden sich diese von der Geschichte nicht, die Geschichte ist oft wunderbarer und poetischer als die Poesie selbst: nur in der Tendenz liegt der Unterschied. Ja der Stoff einer poetischen Erzählung kann wahr seyn, und doch kann sie keinen geschichtlichen Werth haben und als Geschichtsquelle unbrauchbar seyn. Hat ein Erzähler nicht die einfache Absicht, Geschichte als Geschichte zu erzählen, hat er dabei andere Absichten, will er z. B. ein Mährchen erzählen, das da ergötze und rühre, will er irgend eine philosophische oder religiöse Wahrheit dadurch anschaulich machen, mit Einem Worte, will er irgend auf etwas anders wirken, als auf die historische Wißbegierde: so hat seine Relation keinen historischen Werth.“222 Dies klingt ganz nach einer Entgegensetzung von ‚Geschichte‘ und ‚Mythos‘. Mythen werden hier mit Märchen und Legenden zusammen- und der Historie gegenübergestellt – auch wenn sich sämtliche von de Wette aufgezählten Literaturgattungen seiner Meinung nach im Stoff nicht unterschieden. Dies als Leitlinien der Interpretation den anschließenden Ausführungen zum Pentateuch vorangestellt, läßt die Vermutung nicht fern liegen, daß de Wette gerade nicht an einer historischen Erklärung des Alten Testaments interessiert sei. Verstärkt wird diese Lesart noch durch den immer wiederkehrenden Schluß der Argumentation im zweiten Band der ‚Beiträge‘, der die mosaischen Bücher untersucht. Begonnen bei der Untersuchung der Verheißung an Abraham in Gen 17223 bis hin zur Erörterung der deuteronomischen Gesetze224 – immer kommt de Wette zu dem mehr oder weniger gleichlautenden Resümee: „Wenn, besonders in dem letzten Buche, die Relationen des Pentateuchs sich zuweilen von dem unleugbar mythischen Charakter zu einem mehr geschichtlichen oder vielmehr traditionellen hinzuneigen scheinen, und daher die Freunde der historischen Forschung versucht werden können, zur geschichtlichen Ansicht wieder zurückzukehren: so ist das Deuteronomium gleichsam dazu gemacht, alles 220 Eine eingehende Darstellung des Argumentationsverlaufs der ‚Dissertatio‘ findet sich bei Smend, Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament, 32–36. 221 Vgl. de Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, 1–18. 222 A. a. O., 11 f., Hervorhebung im Original. 223 Vgl. a. a. O., 49–69. 224 Vgl. a. a. O., 385–395.
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Historische wiederum aufzuheben, und alles der Mythe und Fiktion wieder zu vindiciren; es ist gleichsam der mythische Schlußstein zu dem mythischen Gebäude des Pentateuchs.“225 Weiter führt hier eine Diskussion des de Wetteschen Begriffs von Geschichte.
3.2.2. Der Geschichtsbegriff Nicht ‚Geschichte‘, sondern ‚Fiktion‘; nicht ‚Geschichte‘, sondern ‚Mythe‘. Dies als starke Gegensatzbegriffe gelesen erweckt unweigerlich den Eindruck, daß de Wette an einer historischen Erklärung der alttestamentlichen Überlieferungen nicht interessiert gewesen sei. Eine Geschichte Israels gehe dieser Auffassung zufolge an den Intentionen der untersuchten Texte vorbei. Doch ist fraglich, ob diese Einschätzung die Forschungen de Wettes hinreichend würdigt. Denn die immer wiederkehrende Gegenüberstellung von ‚Geschichte‘ und ‚Mythos‘ kann und muß als Abgrenzung von der Forschung seiner Zeit verstanden werden – so die im Folgenden vertretene These. Schon im Titel des ersten Bandes nennt er Johann Severin Vater (1771–1826), den Begründer der sogenannten Fragmentenhypothese, sowie Eichhorn und Karl David Ilgen (1763–1834)226, die immer wieder gerade als Historiker gewürdigt werden. Eichhorn gilt als einer der ersten Vertreter ‚historischer Kritik‘. Ilgen, der bis ein Jahr vor de Wettes Studienbeginn in Jena wirkte, wird allgemein zu den Vertretern der sogenannten ‚älteren‘ Urkundenhypothese gerechnet. Wenn de Wette diese Forscher als Historiker bezeichnet und sich von ihnen abgrenzt, so macht er der zeitgenössischen alttestamentlichen Wissenschaft damit letztlich den Gebrauch eines nur unzureichend reflektierten Geschichtsbegriffs zum Vorwurf. De Wette selbst arbeitet mit einem doppelten Begriff von Geschichte, und damit einhergehend auch mit einem doppelten Mythenbegriff. Einmal charakterisiert er mit ihnen, wie gerade herausgestellt, die Forschung seiner Zeit. Zum anderen kann er beiden Begriffen auch einen konstruktiven Sinn geben. In der Schlußzusammenfassung seiner ‚Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament‘ wird dies deutlich: „Wenn […] der Pentateuch als Geschichtsquelle unbrauchbar oder vielmehr als solche gar nicht da ist: so hat er darum nicht seine Existenz und seinen Werth verloren; er gewinnt vielmehr einen höheren. Als Poesie und Mythe betrachtet, erscheint er nun als das wichtigste und reichhaltigste Objekt der wichtigsten und fruchtbarsten Betrachtungen, und in einem andern Sinne auch wieder als das wichtigste geschichtliche Denkmal. Er ist Produkt der vaterländischen religiösen Poesie des Israelitischen Volkes, in welchem sich 225 A. a. O., 385. 226 Zu Vater und
Ilgen vgl. Thomas Römer, ‚Higher Criticism‘: The Historical and Literary-critical Approach – with Special Reference to the Pentateuch, in: HBOT 3.1 (2013), 393– 423, bes. 411 f. und 397–399.
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sein Geist, seine Denkart, sein Patriotismus, seine Philosophie und Religion spiegelt, und ist also eine der ersten Quellen der Cultur- und Religionsgeschichte.“227 Diese Aussage kann nur als Abgrenzung gegen ein in seinen Augen zu naives Geschichtsverständnis gelesen werden. Davon, daß de Wette den alttestamentlichen Überlieferungen generell ihren historischen Sinn abspricht, ist hier keine Rede. Er plädiert lediglich für einen diesen speziellen Texten angemessenen methodischen Zugriff. Die den Ausführungen de Wettes zugrundeliegende Geschichts- und Mythentheorie ist dabei durchaus der eingangs dargestellten Schellingschen vergleichbar. Für beide ist eine objektive Darstellung und Würdigung historischer Sachverhalte ohne richtiges Verständnis ihrer Mythologie nicht möglich. Ein Mythos ist ‚das wichtigste geschichtliche Denkmal‘ für de Wette. Für eine jede Kultur- und Religionsgeschichte ist er von unschätzbarem Wert. Und doch – und auch dies entspricht der Theorie Schellings – ist es notwendig, bei der Interpretation von Mythen die Epoche ihrer Entstehung zu beachten und zu würdigen. Schon in seiner Dissertation war de Wette darum bemüht die ‚Mythen‘ des Deuteronomiums in das richtige Zeitalter einzuordnen. In den ‚Beiträge[n] zur Einleitung in das Alte Testament‘ weitet er dies im ersten Band auf die Chronik- und Königbücher, sowie im zweiten auf den Pentateuch aus. Für Schelling war, wie eingangs dargestellt, für das richtige Verständnis der alten (griechischen) Mythen vor allem die von ihrer ‚Philosophie‘ getrennte Darstellung der ‚Geschichte‘ notwendig. Bei de Wette heißt es nun, auf die Geschichte Israels übertragen, daß ‚Geist‘, ‚Denkart‘, ‚Patriotismus‘, ‚Philosophie‘ und ‚Religion‘ des israelitischen Volkes mitzureflektieren sind, um den Pentateuch für die Geschichte Israels angemessen auswerten zu können. Nur so sei eine methodisch abgesicherte Darstellung der ‚Cultur- und Religionsgeschichte‘ möglich. Neben der Bedeutung des Mythos für die Geschichtstheorie war beim frühen Schelling zum einen als angemessenste Darstellungsform für Geschichte das Epos und zum anderen der Staat und seine Entstehung als Gegenstand der Historie herausgestellt worden. Sowohl ‚Epos‘ als auch ‚Staat‘ spielen in den Forschungen de Wettes eine wichtige Rolle. In den einleitenden Passagen zum zweiten Band der ‚Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament‘ schreibt de Wette: „Durch die Genesis und den Anfang des Exodus zieht sich ein ursprüngliches Ganzes, eine Art von epischem Gedicht, das, früher als fast alle übrigen Stücke und von diesen gleichsam das Original, der Urkundensammlung über diesen Theil der Geschichte als Grundlage gedient hat, auf welche die übrigen als Erläuterungen und Supplemente aufgetragen sind.“228 Er geht davon aus, daß der Pentateuch auf verschiedene Ver227 De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, 398, Hervorhebung im Original. 228 A. a. O., 28 f., Hervorhebung M. G.
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fasser zurückgeht. Dies nimmt er – wie schon in seiner Dissertation – nicht nur für das Deuteronomium, sondern auch für den Tetrateuch an. Obgleich in einer Epoche entstanden, ist er nicht von einem Autor. Mit dem ‚epischen Gedicht‘ ist in etwa die sogenannte Grundschrift gemeint – von Wellhausen Priestercodex bzw. -schrift genannt. Diesem Epos komme als ältester überlieferter alttestamentlicher Dichtung eine besondere Bedeutung zu, da es nicht nur Grundlage der Schriften des Alten Testaments sei, sondern zugleich die Urkunde der ältesten Geschichte Israels. Für den frühen Schelling stellte das Epos die für die Darstellung der Geschichte angemessenste Form dar. Es bot den allgemeinsten Ausdruck einer Epoche. Als Universalgeschichte enthielt das Epos auch Berichte über die nicht mehr zu rekonstruierenden Anfänge einer Epoche. Dies schwingt mit, wenn de Wette die dem Pentateuch zugrundeliegende Schrift folgendermaßen definiert: „Ich nenne das Ganze, das wir herzustellen versuchen, ein Epos; freilich ist es ein hebräisches, das den Maaßstab der griechischen Kunstregeln nicht aushält, aber in seiner Art vortrefflich und schön. […] Es ist ein ächt hebräisches Nationalepos, von wahrem Nationalinteresse, ganz im Geist des Hebraismus; es ist das Epos der hebräischen Theokratie.“229 Dieses Epos konstruiere einen Zusammenhang von der Schöpfung230 bis zur Gesetzgebung auf dem Sinai231 – von de Wette als Universalgeschichte verstanden, die einen Bogen von den allerersten Anfängen bis zum Beginn der Staatlichkeit spannt. Das Interesse des Verfassers bestehe in der Darstellung einer idealen Gegenwart. Er berichte keine historischen Fakten, wohl aber läßt sich mit dem richtigen kritischen Instrumentarium und Sachverstand auf die Situation der zeitlichen Entstehung des Textes schließen. Damit sei es zugleich möglich, Aussagen über das Geschichtsbild und die Theologie dieser Zeit zu treffen. Es stellt somit dann doch wieder ein eminentes historisches Faktum dar. Dies verdeutlicht exemplarisch eine Anmerkung de Wettes zum Theokratiebegriff: „Die Theocratie ist überhaupt mehr ein mythischer Begriff, in die frühere Geschichte von spätern Dichtern hineingetragen, als etwas Wirkliches, an das man in der Gegenwart geglaubt hätte.“232 Deutlich erkennbar ist die von de Wette diagnostizierte Spannung zwischen der Situation des Verfassers, die zur Rückprojizierung einer für ihn gegenwärtigen Erwartung in die Vergangenheit führt. Das vom Verfasser des alttestamentlichen Epos Festgehaltene geht nicht in seiner rein tatsächlichen Beschreibung auf. Dies ist, de Wette zufolge, immer im Blick zu behalten. Denn das Verständnis des ‚Ganzen‘, ein historisch-kritisch abgesichertes Bild der Religionsgeschichte der damaligen Stufe der Entwicklung des Volkes Israel, ist für das heutige Verstehen der alttestamentlichen Texte unabdingbar. Die Geschichte Israels läßt sich nur unter Beachtung dieser Be229 A. a. O.,
31, Hervorhebung im Original. Vgl. a. a. O., 33–35. Vgl. a. a. O., 233–244. 232 A. a. O., 400. 230 231
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sonderheiten rekonstruieren. Denn erst auf dieser Grundlage wird es möglich – wie dies auch schon Schelling forderte – zwischen Geschichte und Philosophie zu unterscheiden. In den ersten Ausführungen zum ‚elohistischen Epos‘, als de Wette auf dessen schlichten und einfachen Stil zu sprechen kommt, charakterisiert er es deshalb folgendermaßen: „Diese Darstellung der Schöpfung macht die Einleitung zu dem Epos der Hebräischen Nationalgeschichte, und ist nicht Philosophem. Allerdings mag den Dichter irgend eine philosophische Lehre geleitet haben; aber was er uns giebt, ist Produkt der dichtenden Phantasie, dichterisch, d. h. sinnlich, anschaulich, in epischer Objektivität dargestellt, als Geschichte, als Einleitung zu seiner Geschichte.“233 Das Epos ist Ausdruck der Religionsgeschichte einer bestimmten Epoche der Geschichte des Volkes Israel und als solches ist es zu interpretieren – im Fall des ‚elohistischen Epos‘ als Zeugnis der ältesten schriftlich überlieferten israelitischen Geschichte. Neben dieser bedeutsamsten Urkunde des Alten Testaments rekonstruiert de Wette noch mehrere andere epische Dichtungen im Pentateuch. Eine sei noch herausgehoben – die Werbung der Rebekka als Braut für Isaak in Genesis 24. Nachdem de Wette an mehreren Punkten aufgezeigt hat, daß eine an der reinen Faktizität und bloß nach dem Tatsächlichen fragende Interpretation dem Text nicht gerecht wird, resümiert er: „Endlich ist die Darstellung der Form nach rein poetisch; ein Homer in Canaan gebohren, würde nicht besser gedichtet haben; es ist die ächte epische Darstellung, von jener Simplicität, Ruhe und Objektivität, welche das Wesen des Epos ausmacht.“234 Maßstab dieser Beurteilung sind – wie für Schelling – die griechischen Mythen. Und selbst an diesem außergewöhnlichen Ideal könnten sich die Überlieferungen des Alten Testaments messen. De Wette zufolge würden einige der im Alten Testament versammelten Epen durchaus diesem hohen Maßstab genügen. Daher gelte es um so umsichtiger bei ihrer Auslegung zu verfahren, wie er in Form einer rhetorischen Frage festhält: „Ein Hebräer las diese Erzählung mit poetischem Sinn, mit religiösen theokratischen Beziehungen, mit mythischem Glauben: wollen wir sie anders lesen, wollen wir die zarte idyllische Blume verwischen und entblättern durch eine fruchtlose geschmacklose historische Behandlung?“235 Die Intentionen des damaligen Verfassers gilt es bei der Interpretation verständlich zu machen. Und auch hier gilt: De Wette lehnt eine Rekonstruktion der Geschichte nicht ab. Vielmehr geht es ihm – wie oben gezeigt – um eine Abgrenzung von der damaligen Forschung, da diese nicht hinreichend nach den gestalterischen Leistungen der Verfasser der alttestamentlichen Epen gefragt habe. Nur auf der Grundlage einer Kultur- und Religionsgeschichte des israelitischen Volkes ist eine hinreichende Würdigung der alttestamentlichen Überlieferungen möglich. 233
A. a. O., 36. A. a. O., 116. 235 Ebd. 234
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Eng mit dieser Einsicht ist die Würdigung der Bedeutung des Königtums in Israel verknüpft. Bereits in seiner Dissertation hatte de Wette aufgezeigt, daß die Entstehung des Deuteronomiums in der Zeit des Königs Josia zu verorten ist. Erst durch die Verbindung mit dessen Regierungshandeln sei eine kritischen Standards genügende Interpretation dieses Textes möglich. Diese Bindung an eine staatliche Institution bildet in den ‚Beiträge[n] zur Einleitung in das Alte Testament‘ die Grundlage der Untersuchung. Auch hier wird Schelling in gewisser Weise Pate gestanden haben, denn er hatte die Meinung vertreten, daß der Staat und seine Entstehungsbedingungen den genuinen Gegenstand der Geschichtsschreibung bilden würden. An seine Überlegungen wird de Wette angeknüpft haben, bei dem es heißt: Mit dem Bericht über den Tod Moses in Deuteronomium 34 „schließt der Pentateuch mythisch, wie er mythisch begonnen hatte, und Mose, der wunderbar Auserwählte, der Verrichter so vieler Wunder, stirbt einen wunderbaren Tod“236. Der Darstellungslogik folgend habe Mose diesen erfüllten Tod sterben müssen, da im Laufe der Überlieferung des Alten Testaments immer mehr Ereignisse und Begebenheiten aus dem Leben des Volkes Israel mit seiner Person verbunden worden seien. Deshalb habe er immer übernatürlichere Züge angenommen. Ähnliches schreibt de Wette über Abraham, den legendären Stammesvater Israels: „Mit der Auserwählung Abrahams und der Verheißung des Landes Canaans beginnt das Epos des Pentateuchs, und mit der Erfüllung dieser Verheißung schließt es sich, in sich selbst zurückgehend und sich rundend“237. Abraham und Mose bildeten somit den wunderbaren Rahmen der Vorgeschichte des Staates Israel. Mit der Erwählung des einen bände sich Gott an das Volk Israel in einer dunklen, sagenhaften Vorzeit und mit dem anderen werde diese Phase beschlossen. Diese alttestamentlichen Überlieferungen wären de Wette zufolge in ihrer Intention jedoch falsch verstanden, wenn man sie als rein historische Denkmäler auffaßte. Erst eine spätere Zeit habe nämlich die Bedingungen für ihre schriftliche Niederlegung bereitgestellt: „Mit David scheint erst diejenige Cultur zu beginnen, welche die schriftstellerischen Reste, die uns im Pentateuch aufbehalten sind, voraussetzen; dahin stimmt auch die Gleichheit der Sprache des Pentateuchs mit der der Psalmen und übrigen schriftstellerischen Produkte der Hebräer.“238 Hinter dieser These steht die einfache Einsicht, daß es ohne das notwendige kulturelle Niveau keine schriftlich niedergelegten Texte geben kann. Erst mit dem Entstehen eines Staates, im alten Israel des davidischen Königtums, komme das Bedürfnis auf, Ereignisse für die Nachwelt dauerhaft zu bewahren. Und erst auf dieser Stufe der Entwicklung entstünden die notwendigen Bedingungen dafür. Für de Wette ist diese Einsicht von entscheidender Bedeutung für die Darstellung der israelitischen Geschichte. Die Herausbildung 236 A. a. O., 237 Ebd. 238
395, Hervorhebung im Original.
A. a. O., 23.
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des Königtums, als der sämtliche gesellschaftlichen Gruppen bestimmenden staatlichen Institution, wird somit zu einem besonderen Ereignis. Religiös und kulturell waren das Volk, oder besser gesagt seine Verwaltungseliten, erst ab dieser Zeit in der Lage, schriftliche Überlieferungen zu hinterlassen. Deshalb schreibt de Wette über Abraham: Die traditionellen Überlieferungen über ihn haben „für uns keinen geschichtlichen Werth als Geschichte Abrahams, sondern lediglich einen mythischen, als Erzählung der späteren Hebräer“239. Und als solche sind sie als Dokumente aus dieser späteren Zeit zu würdigen, denn diese Mythen reflektierten die Gegenwart ihrer Verfasser. Daher kommt de Wette zu dem Ergebnis, daß es dem Dichter der bedeutendsten alttestamentlichen Überlieferung, des elohistischen Epos, um die Darstellung der „Staatsgeschichte seiner Nation“240 ging, mit der er zugleich dessen „Rechtsgeschichte“241 verband. Und das später verfaßte Buch Numeri läßt sich seiner Meinung nach am besten als „Codex des Staatsrechts charakterisieren, d. h. derjenigen Gesetze, welche den Israeliten als Bürger des Staates theils als Antiquitäten, theils als noch bestehend interessierten“242. Da die Abfassung des ältesten Erzählfadens im Pentateuch, schon einen Staat mit festen Institutionen voraussetzt, kann sie de Wettes Meinung nach nur von einem Verfasser, der „erst nach Saul“ gelebt hat, stammen. Und dies führt ihn zu dem Schluß: „Die Nachahmer müssen wir nothwendig in ein weit späteres Zeitalter setzen (denn Nachahmer entstehen überhaupt erst später, aber noch mehr weist der verschiedene Geist der nachahmenden Mythen auf eine spätere Zeit, so wie allerdings auch der Name Jehovah); wie tief kommen wir dadurch herab!“243 Geschichte Israels beginnt für de Wette mit der Entstehung des Königtums. Aus jener Zeit stammten die ersten schriftlichen Überlieferungen des Alten Testaments. Je weiter die Institutionalisierung fortschritt und damit verbunden, je zahlreicher die Überlieferungen wurden, um so sicherer lasse sich die geschichtliche Entwicklung heute noch nachvollziehen. Eine Vorgeschichte des Königtums zu rekonstruieren, die den Kriterien heutiger Geschichtsschreibung genügt, ist nicht möglich. Die mythischen Erzählungen des Alten Testaments seien zwar nicht unhistorisch im strengen Sinne. Es handelt sich bei ihnen jedoch nicht um Faktenberichte, sondern erst wenn sie mit Hilfe entsprechender historisch-kritischer Erörterungen untersucht worden sind, lassen sie sich auf den Stand der Entwicklung ihrer Entstehungszeit hin befragen. Sie sind als Überlieferungen in ihrer Entstehung an das Königtum gebunden und berichteten über die dazugehörigen Institutionen und ihre Entwicklung. Für eine Darstellung der vorstaatlichen Zeit komme ihnen kein Quellenwert zu. Auch die 239
A. a. O., 107. A. a. O., 54. A. a. O., 55. 242 A. a. O., 309 f., Hervorhebung im Original. 243 A. a. O., 138., Hervorhebung im Original. 240 241
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übrigen Überlieferungen des Alten Testaments seien allein an der Institution des Staates interessiert, nicht an deren Vorgeschichte um ihrer selbst willen. Die methodischen Grundlagen für die Darstellung der israelitischen Geschichte hatte de Wette im ersten Band der ‚Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament‘ gelegt. Hier untersucht er zum einen die Samuel- und Königsbücher und zum anderen die Chronikbücher. Da beide über den selben Zeitraum der Geschichte Israels berichteten – begonnen beim Königtum Davids bis hin zum babylonischen Exil –, könnte man auf sich gegenseitig stützende Quellen für die Darstellung der Geschichte dieser Zeit hoffen. Doch, so erklärt de Wette einleitend: „Die Relation der BB. Samuels und der Könige und die der Chronik stehen mit einander in Widerspruch; und zwar nicht bloß in einzelnen Nachrichten […], sondern im Ganzen der Geschichte.“244 Das Bild der Religionsgeschichte, wie es die Chronik zeigt, ist nicht mit dem der anderen genannten vereinbar. Während sie von einem festgefügten Kult ausgehe, der von der Zeit des Königs David an einer strengen Institutionalisierung mit einem hierarchisch geordneten Priestertum unterworfen sei, spielten die priesterlichen Gesetze in den Samuel- und Königbüchern keine zentrale Rolle. Der Kult ist dort verschiedenen lokalen Gegebenheiten unterworfen, eine zentrale Priesterkaste gibt es nicht. Diese Grunddifferenz bedarf laut de Wette einer Erklärung, zumal die Religionsgeschichte, und insbesondere die Geschichte der Entwicklung der religiösen Institutionen, von zentraler Bedeutung für die israelitische Geschichte sei: „Die Religion ist die Blüthe und Frucht der ganzen Israelitischen Geschichte, durch sie hat sich die unbedeutende Nation der Juden zum universalhistorischen Rang erhoben und alle uns zu Gebote stehende Materialien der Geschichte können nur religionsgeschichtliches Interesse haben.“245 Eine Harmonisierung der beiden unterschiedlichen Sichtweisen sei nicht möglich. Sie würde das Besondere ihrer verschiedenen religiösen Voraussetzungen verwischen. Diese Differenz spiegele vielmehr die verschiedenen (religiösen) Anschauungen auf verschiedenen Stufen der historischen Entwicklung. Dies lehrt, laut de Wette, ein Blick in die Religionsgeschichte. Auch im ersten Band der ‚Beiträge‘ – wie bereits für den zweiten erläutert – kommt damit der Ausbildung staatlicher Institutionen grundlegende Bedeutung zu. In Israel seien diese erstmals zur Zeit des Königs David ausgebildet gewesen. Dabei nimmt er eine These aus seiner Dissertation auf, nämlich „daß der religiöse Cultus der Israeliten noch zu Davids und Salomos Zeit und noch später hin in einer freiern einfachern Form bestanden haben, und erst später zu dem levitischen Cerimonien244 De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament I, 4. Wellhausen wird später dieselbe Meinung vortragen: „Wo die Chronik mit den älteren kanonischen Geschichtsbüchern parallel geht, da enthält sie keine Bereicherung, sondern nur eine Verfärbung der Tradition durch zeitgenössische Motive. In dem Gesammtbilde, welches sie malt, spiegelt sich ihre eigene Gegenwart, nicht das Altertum wider.“ (PzGI1 219) 245 De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament I, 4.
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und Priesterwesen ausgebildet worden seyn könne“246. Und wie der Staat erst einer gewissen Konsolidierung bedurfte, so sei die Zentralisierung und Hierarchisierung der religiösen Institutionen und die Abfassung der alttestamentlichen Schriften ebenfalls erst nach und nach erfolgt. Alleine schon ein Blick auf die Überschriften der einzelnen Kapitel der Untersuchung, läßt das Argumentationsziel de Wettes erkennen, angefangen von „Mangel an Präcision, Nachlässigkeit, compilatorische Manier des Verf. der Chronik“247, über „Wundersucht des Verfassers der Chronik“248, bis hin zum Vorwurf der Parteilichkeit in der Überschrift: „Vorliebe für Juda und Haß gegen Israel“249. Dies bedeutet keine totale Verneinung der historischen Auswertbarkeit der biblischen Chronikbücher. Aber sie müssen später als die Samuel- und Königsbücher verfaßt sein. Die Abfassung der Bücher der Könige verortet de Wette im babylonischen Exil.250 In ihnen sieht er die maßgeblichen historischen Überlieferungen für die ältere israelitische Geschichte. Ein Zeugnis der jüngeren Geschichte – von Wellhausen ‚jüdisch‘ genannt – sei das chronistische Werk. In ihm wird aus einer späteren Perspektive den älteren überlieferten Traditionen eine eigene Sicht der Geschichte gegenübergestellt. „Der Zustand der öffentlichen Religion, wie ihn die BB. der Könige schildern, wollte dem Verf. der Chronik gar nicht gefallen: die meisten Judäischen Könige sind nach ihrer Relation Götzendiener, und dienen den abscheulichsten Mißbräuchen; ja selbst fromme Könige, wie z. B. David, Salomo, Joas u. a. machen solche Mißbräuche mit, und übrigens wird so wenig oder gar nicht der Mosaischen Cerimonien gedacht: das alles mußte anders gewesen seyn und anders dargestellt werden.“251
3.2.3. Der Symbolbegriff Angesichts des dargestellten Gebrauchs des Mythen- und Geschichtsbegriffs durch Wilhelm Martin Leberecht de Wette, ist anzunehmen, daß er auch dem Symbolbegriff eine gewichtige Rolle einräumte. Auffällig ist zunächst, daß dieser in seinen Schriften nicht so prominent gebraucht wird, wie die beiden erstgenannten. Doch finden sich an der einen oder anderen Stelle durchaus Reflexionen über ihn. Eine der wichtigsten Stellen ist die im ersten Band seines erstmals 1813 erschienenen ‚Lehrbuch[s] der christlichen Dogmatik in ihrer historischen Entwicklung dargestellt‘, der der ‚biblischen Dogmatik Alten und Neuen Testaments‘ gewidmet ist und eine ‚Darstellung der Religionslehre des Hebraismus, des Judenthums und Urchristenthums‘ bieten möchte. Hier beschäftigt de Wette 246
A. a. O., 8. A. a. O., 62. 248 A. a. O., 78. 249 A. a. O., 126. 250 „Wir haben keinen Grund, die BB. der Könige tiefer als in die Zeit der Babylonischen Gefangenschaft oder kurz nach derselben zu setzen“ (A. a. O., 45). 251 A. a. O., 102. 247
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sich einleitend eingehender mit dem Symbolbegriff. Dabei ordnet er ihn einerseits in seine eigenen Forschungen ein. Schon in den ersten Veröffentlichungen habe er sich um eine mythische Interpretation der Religionsgeschichte bemüht. Andererseits grenzt de Wette ihn von den Begriffen des Mythos und des Historisierens ab. Durchaus voller Selbstbewußtsein mißt er seinen eigenen Ausführungen eine gewichtige Bedeutung zu: Ich habe „bewiesen […], daß die mythische Ansicht fruchtbarer für die Religions- und Bildungsgeschichte als die historisirende, sey. […] Hiermit hängt die symbolische Erklärungsart zusammen, die ich befolgt habe, wornach viele Vorstellungen und Einrichtungen, die man bisher nach ihrer unmittelbaren Bedeutung zu beurtheilen gewohnt gewesen ist, als Symbole und Einkleidungen höherer Ideen gefaßt werden“252. Zunächst ist zum Geschichts- und Mythosbegriff, auf die de Wette hier nochmals zu sprechen kommt, festzuhalten, daß die eben zitierte Stelle sich durchaus an die obigen Ausführungen anschließt. Beim Begriff des Mythos ist dies sofort einsichtig. Doch auch bei dem hier eingeführten Begriff der ‚historisierenden‘ Geschichte ist zu beachten, daß es sich dabei um eine in den Augen de Wettes falsche Methode der Interpretation des Alten Testaments handelt und nicht um eine Diskreditierung historischer Verstehensbemühungen, denen er sich selber verpflichtet weiß. Gerade de Wettes Verweis auf die Religions- und Bildungsgeschichte macht deutlich, daß man seine Abgrenzung von jeglicher Art des Historisierens als eine Abgrenzung von weiten Teilen der alttestamentlichen Forschung seiner Zeit verstehen muß, die de Wette zufolge kein kritisches Verhältnis zu den religiösen und geistesgeschichtlichen Besonderheiten der von ihr interpretierten Texte habe. Obwohl sie genau das Gegenteil intendiere, attestiert de Wette ihr ein unhistorisches Vorgehen.253 Bezüglich des Symbolbegriffs zeigt sich, daß de Wette ihn durchweg positiv verwendet, was mit seinem mythischen Verständnis der Geschichte korrespondiert. Wertete er es als eine besondere Leistung seines mythischen Verständnisses des Alten Testaments, ein Bewußtsein für den speziellen Charakter der in ihm versammelten Texte geschaffen zu haben, die sich einer vermeintlich direkten historischen Interpretation derselben verschlössen, so schließen seine Überlegungen zum Symbol daran an. Dabei läßt sich der Gebrauch des Begriffs schon in de Wettes ersten Veröffentlichungen nachweisen. Bereits in seiner ‚Antrittsvorlesung‘ aus dem Jahr 1805, in der er sich mit den Besonderheiten der hebräischen Sprache und Literatur auseinandersetzt, findet er sich – wenn auch 252 De Wette, Lehrbuch der christlichen Dogmatik in ihrer historischen Entwicklung dargestellt I, V f., Hervorhebung im Original. 253 Vgl. beispielsweise die Ablehnung der Eichhornschen Auslegung der Erzählung von der Wolken- und Feuersäule in Ex 13: „Hr. Eichhorn giebt dem Feuerzeichen eine religiös symbolische Bedeutung, als habe man im Feuer Jehovah verehrt. Daß der Dichter den Jehovah in der Wolkensäule wohnen läßt, bringt nicht mit sich, daß die damaligen Israeliten in derselben ein Symbol der Gottheit angeschaut.“ (De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, 208)
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mehr in seiner Bedeutung als ‚Bekenntnis‘. Dort charakterisiert er die Spezifika der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte, wie sie sich aufgrund des Befundes in den alttestamentlichen Schriften zeigen, folgendermaßen: „Ein reicher Schatz von Ueberresten der alten Hebräischen Litteratur eröffnet uns den ganzen Schauplatz des Judenthums und läßt es uns im ganzen Umfang seines Lebens, in den verschiedensten Bildungsperioden und Darstellungen und im mannigfaltigsten Reichthum der Individualität erblicken. Hier finden wir Mythe und Philosophie, Ceremonie und Symbol und Weissagung und Dichtung, Volksglauben und Mysticismus, Kindlichkeit und patriarchalische Einfalt und die kühne Begeistrung, den heiligen Zorn der Propheten; und von dem frühesten Entstehen bis zu dem traurigen Ende der Nation rollt sich das mannigfaltige Gemälde ab. Selten hat das Glück so für den Forscher der Religionsgeschichte gesorgt.“254 Auch wenn hier ‚Symbol‘ eher als Bekenntnisformel zu verstehen ist, so zeigen doch die Ausführungen de Wettes deutlich, daß für ihn das Symbolische eine besondere Bedeutung hat. Wenn er hier ganz unterschiedliche Textgattungen auflistet, zielt er darauf ab, die verschiedenen Intentionen hervorzuheben, die die Autoren bei deren Abfassung verfolgten. Letztlich möchte de Wette damit ein Gespür dafür hervorrufen, daß die Schriften des Alten Testaments als religiöse Texte zu interpretieren sind. Die Mythen und Sagen, die mehr philosophischen Ausführungen ebenso wie die Kultgesetze, die Zeugnisse scheinbar unmittelbarer Volksfrömmigkeit ebenso wie die prophetischen Weisungen sind symbolische Zeugnisse, die auf etwas Höheres verweisen. Für de Wette bedeutet dies keinen Gegensatz zu einer religionsgeschichtlichen Interpretation der alttestamentlichen Schriften. Denn er vertritt die Meinung, daß allein eine historische Auslegung in der Lage ist, den ursprünglich gemeinten höheren Sinn der Überlieferungen zu entschlüsseln. Daß die hier vorgelegte Interpretation richtig ist – wonach sich de Wette nur scheinbar gegen die unmittelbare Auslegung der alttestamentlichen Schriften ausspricht und nicht allein deren höhere Ideen freilegen möchte –, zeigen gerade die versprengten Stellen in seinem Werk, in denen er den Symbolbegriff gebraucht. So heißt es 1807 im zweiten Band seiner ‚Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament‘ bei der Interpretation von Abrahams Versuchung in Gen 22: „Die Erzählung ist durchaus nicht geschichtlich und ist gar nicht in geschichtlichem Sinne geschrieben. Dem Erzähler war es um die Bedeutung zu thun, um das Symbol und die Beziehung. Uebrigens behandelte er die Mythe ganz frei, wie wir aus jener etymologischen Spielerei sehen, und überhaupt aus der Durchsichtigkeit und symbolischen Tendenz der Mythe.“255 Auf die Interpretation dieser Stelle wird aufgrund ihrer Bedeutung für das Verständnis von 254
Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Auffoderung zum Studium der Hebräischen Sprache und Litteratur. Zur Eröffnung seiner Vorlesungen, Jena / Leipzig 1805, 16 f. 255 De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, 101, Hervorhebungen im Original.
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de Wette im folgenden noch einmal zurückzukommen sein.256 Hier ist jedoch zunächst festzuhalten, daß der Mythos-, der Geschichts- und der Symbolbegriff für ihn eng zusammengehören. Denn auch wenn de Wette um ein religionsgeschichtliches Verständnis des Alten Testaments ringt, so bedeutet dies für ihn nicht, daß es sich bei den überlieferten Texten und Textpassagen um historische Dokumente im eigentlichen Sinne handelt. Vielmehr zeigen ihm gerade die mythischen Erzählungen, daß die geschichtliche Verortung der verschiedenen Traditionen zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für die Auslegung derselben ist. Schon den ursprünglichen Autoren ging es nicht um einen historischen Bericht, sondern sie waren sich der symbolischen Bedeutung ihrer Schriften als Zeugnisse, die eine besondere Gottesbeziehung zum Ausdruck bringen sollen, bewußt. Auch wenn de Wette gelegentlich den Symbolbegriff in seiner einfachen Bedeutung als ‚Zeichen für‘ etwas nutzt257 – immer wieder findet sich bei ihm der Verweis darauf, daß die ursprünglichen Verfasser der alttestamentlichen Schriften diese als religiöse Zeugnisse verstanden wissen wollten. Sie wollen mit ihnen auf etwas Höheres verweisen. Ohne Augenmerk auf die religiösen Ideen, den religiösen Sinn, welchen die Autoren zum Ausdruck bringen wollten, ist das Alte Testament nicht zu verstehen. Oder mit den Worten de Wettes formuliert – aus seinem erstmals 1811 erschienenen ‚Commentar über die Psalmen‘ – bezüglich der speziellen Opferriten, wie sie sich in Israel ausgebildet haben: „Jeder Opfercultus ist symbolisch, und bey einer so cultivirten Nation, wie die Hebräer besonders in religiöser Hinsicht waren, läßt sichs denken, daß es immer hellsehende Männer gab, die die wahre Bestimmung desselben einsahen, während der Pöbel das Zeichen für die Sache nahm.“258 Das heißt: Auch wenn der Unterschied zwischen dem Inhalt der Sache selbst und der Form, in der sie überliefert worden ist, während des gesamten Zeitraums der israelitischen und jüdischen Geschichte oft nicht bewußt nachvollzogen wurde – den Autoren der alttestamentlichen Texte und Textpassagen stand er deutlich vor Augen. Gerade die israelitischen Propheten gelten de Wette als Zeugen dafür, daß zwischen bewußt nachvollzogenen Symbolen und unbewußten – und deshalb meist mißverstandenen – Symbolen unterschieden werden muß.259 Auch 256
Vgl. unten S. 90 f. beispielsweise die Ausführungen zu Abraham: „Abraham ist für uns nicht jener Arabische Emir, der in Canaan mit einer Horde einwanderte, welche die Grundlage und der Stamm der nachherigen Israeliten wurde; sondern er ist für uns ein poetisches Gebild, der von Gott zum Stammvater Berufene, der mit Gott einen Bund machte, als Bundeszeichen die Beschneidung empfing, und im Voraus Besitz nahm von dem heiligen Lande, das einst die Scene der Israelitischen Theocratie werden sollte, und der auf Moriah, dem künftigen Tempelberge, den höchsten Beweis der Gottergebenheit ablegte, und für alle künftige Geschlechter als Symbol und Prototyp hebräischer Frömmigkeit erschien.“ (De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, 399) 258 De Wette, Commentar über die Psalmen, 310. 259 „Schwer ist bey einer Verstandesreligion zu unterscheiden, was wirkliche Ueberzeu257 Vgl.
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wenn diese Unterscheidung die Bibelhermeneutik vor große Herausforderungen stelle, die ‚Darstellung‘ darf nicht mit dem ‚Gefühl‘ verwechselt werden, welches sie ausdrücken soll.260 Umgekehrt sieht de Wette in der Verwechselung der Form mit dem Inhalt die Quelle für zahlreiche Fehlinterpretationen der alttestamentlichen Schriften, wobei er konkret falsche Historisierungen, religiöse Verdinglichungen und Bildungsunterschiede anführt.261 „Jede religiöse Vorstellung ist bildlich und wer sie für mehr nimmt, befindet sich im Irrthum.“262 De Wette verwendet einen durchaus als hochstufig und vielschichtig zu bezeichnenden Symbolbegriff. Mit seiner Hilfe macht er darauf aufmerksam, daß die alttestamentlichen Überlieferungen nicht historisch im eigentlichen Sinne sind, sondern daß es sich um genuin religiöse Schriften handelt. Umgekehrt nutzt de Wette ihn aber auch, um sich von der Annahme abzugrenzen, es gäbe so etwas wie eine reine Faktengeschichte. Vielmehr gründe jede historische Darstellung auf spekulativen Annahmen – ganz gleich ob diese offen gelegt würden oder nicht. „Jede Geschichte ist symbolisch, d. h. Ausdruck und Abbild des menschlichen Geistes und seiner Thätigkeit; es wird auch kaum einen Theil der Geschichte geben, welcher nicht für das höhere geistige Leben des Menschen, nämlich für dessen ideale Richtung, Bedeutung hätte, jedoch wird der Religionsgeschichte immer die meiste ideale Bedeutung zukommen, weil sie sich fast ganz im idealen Gebiet bewegt und gleichsam reines Werk der höchsten Geistesthätigkeit des Menschen ist.“263 gung, und was Einkleidung derselben, oder was Dogma, und was Symbol und Mythus sey. Bild und Sache kann hier leicht mit einander verwechselt, und so auch der Mythus und das Symbol leicht auf den Glauben bezogen werden. Das Vorkommen der Symbole und Mythen als solcher, kann kein Kenner des Alterthums leugnen. Sie sind zur Einkleidung übersinnlicher Wahrheiten bey einem sinnlichen, des freyen Denkens unfähigen Volke nothwendig. Dogmen kommen bey Aegyptern, Griechen u. s. w. fast allein symbolisch und mythisch eingekleidet vor. Daß die Hebräer und Juden auch die symbolische Einkleidung religiöser Wahrheiten gekannt und gebraucht haben, zeigen […] mehrere gottesdienstliche Einrichtungen und die Visionen und symbolischen Handlungen der Propheten. […] Die Symbole sind aber entweder bewußt, d. h. eigentliche Symbole, oder unbewußt, wo man Bild und Sache selbst nicht genau unterscheidet, aber doch eigentlich nur diese denkt und ausdrücken will. Genau zu unterscheiden ist aber bey den Symbolen ihr ursprünglicher Sinn vom spätern, mißverstandenen.“ (De Wette, Lehrbuch der christlichen Dogmatik in ihrer historischen Entwicklung dargestellt I, 22 f., Hervorhebungen im Original) 260 „Der innere Unterschied des Symbols und Mythus vom Dogma kann uns schön zum Wegweiser dienen. Dieses ist subjectiv, Sache des Gefühls und Nachdenkens, jenes objectiv, Sache der That und Darstellung. Das Dogma ist Gegenstand des Glaubens, Mythus Sache freyer Dichtung.“ (A. a. O., 24) 261 „Das Mißverständniß der Symbole tritt besonders ein 1) bey historischen Mythen, welche leicht in die Geschichte gezogen werden; 2) im Cultus: der Pöbel nimmt die Zeichen für die Sache, und der Priester bestätigt ihn wohl darin; 3) im Verhältniß von Lehrer und Schüler, wo erstere auf einer höhern Stufe steht, als der letztere; z. B. Jesus und die Apostel.“ (A. a. O., 26) 262 Ueber Religion und Theologie, 200. 263 A. a. O., 157.
4. Die Interpretation des Alten Testaments
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4. Die Interpretation des Alten Testaments 4.1. Die Anknüpfung und Weiterführung aufklärerischer Text-, Quellen- und Literarkritik Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Bedeutung als Ausleger des Alten Testaments wird zumeist dahingehend auf den Punkt gebracht, daß er für die meisterhafte Beherrschung und konsequente Durchführung der historisch-kritischen Methode – wie sie die Aufklärung vorgegeben habe – stehe. Oft geht dies mit der These einher, daß seinen Forschungen die ‚positive‘ Seite fehle. So äußert sich schon Johann Jakob Stähelin (1797–1875)264, de Wettes Baseler Kollege im Alten Testament, in einer Würdigung anläßlich einer Gedächtnisfeier für den gerade Verstorbenen: „Er wirkte […] nur negativ, aber aus dieser Negation entwickelte sich eine gereinigtere positive Ansicht, und das Verdienst de Wettes ist es, zu dieser den Weg gezeigt zu haben; auch das religiöse Bewußtsein ging dabei nicht leer aus […]; denn wenn de Wette im Alten Testament auch Mythen anzunehmen geneigt war, so suchte er doch wieder den religiösen Inhalt derselben zu entwickeln und das Princip, aus dem sie entsprangen, nachzuweisen […]. Allerdings kann hier dem Verewigten vorgeworfen werden, daß er, was er durch seine Kritik der alttestamentlichen Schriften niedergerissen, nicht wieder aufgebaut oder nichts Anderes an seine Stelle gesetzt habe“265. Der im letzten Satz artikulierte Vorwurf geht in doppelter Hinsicht an de Wettes Leistungen für die Erforschung des Alten Testaments vorbei. Einerseits ist seine Kritik der biblischen Schriften untrennbar mit der konstruktiven Darstellung der Geschichte Israels bzw. genauer formuliert der Religionsgeschichte Israels verbunden. Darauf ist im übernächsten Absatz näher einzugehen. Und andererseits knüpft de Wette an die Ergebnisse der aufklärerischen Bibelkritik266 in modifizierender Weise an – was im Folgenden gezeigt werden soll. Ein rein ablehnender Umgang bezüglich der seinerzeit erreichten Ergebnisse der alttestamentlichen Wissenschaft, wonach er lediglich ‚niedergerissen‘ und nichts ‚wieder aufgebaut‘ habe, kann dem ‚Begründer der modernen Bibelinterpretation‘267 nicht unterstellt werden. Exemplarisch gezeigt werden soll dies an 264 Zu Stähelin und seiner Stellung an der Baseler Fakultät für Theologie vgl. Thomas Konrad Kuhn, Der junge Alois Emanuel Biedermann. Lebensweg und theologische Entwicklung bis zur „Freien Theologie“ 1819–1844 (BHTh 98), Tübingen 1997, bes. 108–123. 265 Johann Jakob Stähelin, Die Verdienste de Wette’s um das Alte Testament, in: Hagenbach, Wilhelm Martin Leberecht de Wette, 109–112, 109 f. 266 Zur Bibelkritik in der Aufklärung vgl. William Johnstone, Introduction: The Bible and the Enlightenment, in: Ders. (Hg.), The Bible and the Enlightenment (JSOT.S 377), London / New York 2004, 1–34 und Christoph Bultmann, What do we Mean when we Talk about ‚(Late)Enlightenment Biblical Criticism‘?, in: A. a. O., 119–134. 267 So die schon erwähnte These Rogersons im Untertitel seiner De-Wette-Biographie, W. M. L. de Wette.
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de Wettes Rezeption der Methoden zur Text- und Quellenkritik sowie zur Literarkritik. Die Textkritik als älteste philologische Methode der Auslegung reicht bis in die Antike zurück und versucht die überlieferungsbedingten Fehler des biblischen Textes zu tilgen.268 Aufgrund der komplizierten Quellenlage kommt ihr bei der Auslegung des Alten Testaments von je her eine besondere Bedeutung zu. Stichwortartig seien hier nur die Namen der großen humanistischen Gelehrten Johannes Reuchlin (1455–1522)269, Erasmus von Rotterdam (1466 / 69–1536)270 und Hugo Grotius (1583–1645)271 sowie Baruch de Spinoza (1632–1677)272 genannt. Dabei kam es im Laufe der Entwicklung zwar immer wieder zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen. Erinnert sei zum Beispiel an die Diskussion der Thesen des allgemein als Vater der modernen Textkritik bezeichneten französischen reformierten Theologen Louis Cappel (1585– 1658).273 Nachdem dieser in einem früheren Werk bereits die Originalität der hebräischen Punktation angezweifelt hatte, wendete er sich in der 1650 erschienenen ‚Critica sacra‘ dem hebräischen Bibeltext selbst zu und verglich Textvarianten der Hebräischen Bibel mit antiken Übersetzungen, sowie innerbiblische Zitationen.274 „Cappel’s greatest achievement as a textual critic was his use of systematic textual comparisons, juxtaposing the Hebrew text and the versions and then reconstructing ‚retroverted‘ readings.“275 Aber heftigst ausgetragener wissenschaftlicher Kontroversen zum Trotz, in denen Zweifel an 268 Zu ihrer Entstehung und Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung des Alten Testaments – auf die im Folgenden nicht näher eingegangen werden kann – vgl. Emanuel Tov, Der Text der Hebräischen Bibel. Handbuch der Textkritik, Stuttgart 1997. Zur neueren Geschichte der Textkritik vgl. Eldon Epp, Critical editions and the development of text- critical methods, part 2: from Lachmann (1831) to the present, in: John Riches (Hg.), The New Cambridge history of the Bible 4. From 1750 to the Present, Cambridge 2015, 13–48. 269 Vgl. Sophie Kessler Mesguich, Early Christian Hebraists, in: HBOT 2 (2008), 254–275, bes. 256–264. 270 Vgl. Erika Rummel, The Textual and Hermeneutic Work of Desiderius Erasmus of Rotterdam, in: HBOT 2 (2008), 215–230. 271 Vgl. Abraham Kuenen, Hugo de Groot als uitlegger van het Oude Verbond, in: VMAW.L 2.12 (1883), 301–332; Henning Graf Reventlow, Humanistic Exegesis: the Famous Hugo Grotius, in: Benjamin Uffenheimer / Ders. (Hgg.), Creative Biblical Exegesis. Christian and Jewish Hermeneutics through the Centuries (JSOT.S 59), Sheffield 1988, 175– 191 und Henk Johannes Maria Nellen, Growing Tension between Church Doctrines and Critical Exegesis of the Old Testament, in: HBOT 2 (2008), 802–826, bes. 808–817. 272 Vgl. Steven Nadler, The Bible Hermeneutics of Baruch de Spinoza, in: HBOT 2 (2008), 827–836. 273 Vgl. dazu Stephen G. Burnett, Later Christian Hebraists, in: HBOT 2 (2008), 785– 801. 274 Eine Kritik an der älteren Lehrtradition verband er damit nicht: „Cappel concluded from textual variations in internal biblical quotations that such differences in wording didnot prevent both forms of the text from being sacred scripture. He concluded that the stat of preservation of the Hebrew Bible text was adequate for purposes of theology.“ (Burnett, Later Christian Hebraists, 790) 275 A. a. O., 791.
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der Ursprünglichkeit des masoretischen Textes entrüstet zurückgewiesen wurden276, können die von Cappel gelegten Grundsätze der Textkritik – insbesondere in der modifizierten und weitergeführten Variante von Benjamin Kennicott (1718–1783) und Giovanni Battista de Rossi (1822–1894), die den Blick auf die Textgeschichte lenkten277 – bis heute Gültigkeit beanspruchen.278 Das sah auch de Wette so, was insbesondere aus dem ersten Band seines 1817 erstmals erschienenen ‚Lehrbuch[s] der historisch-kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testaments‘ hervorgeht. De Wette unterscheidet mit Bezug auf die Textkritik die Untersuchung der ‚Geschichte des Textes‘ selbst und die ‚Theorie der Kritik des Textes‘.279 Innerhalb erstgenannter grenzt er die Geschichte der äußeren Gestalt desselben – wobei de Wette auf die Entstehung der hebräischen Quadratschrift und die Einteilung des vorliegenden Bibeltextes eingeht – von der Geschichte des Textes im engeren Sinne ab. Explizit knüpft er an die Ergebnisse der humanistisch / aufgeklärten Bibelkritik an: „Die Wahrheit, welche gegen die verblendeten Vertheidiger der Integrität des Textes von den kritischen Skeptikern Jo. Morinus, Lud. Cappellus u. A. mit Mühe erkämpft werden mußte, und für welche noch Kennicot zu streiten hatte […], das der Text des Alten Testaments nicht unversehrt auf uns gekommen sey, dringt sich dem Ausleger in vielen Stellen selbst ohne alle weitere kritische Untersuchung durch die Unmöglichkeit, in den vorliegenden Lesarten einen vernünftigen Sinn zu finden, auf.“280 De Wette, der wie seine Zeitgenossen von einem einheitlichen masoretischen Text ausging, verweist auf Irrtümer der Abschreiber. Diese seien zumeist durch deren Versuch der Berichtigung vermeintlicher Fehler verursacht. Damit argumentiert de Wette gegen den immer wieder begegnenden Vorwurf absichtlicher Verfälschungen durch jüdische Abschreiber, für die es keine Belege gäbe. Als Ergebnis der hier nicht im Detail zu erörternden Darstellung der Überlieferungsgeschichte des alttestamentlichen Textes, in der de Wette einen weiten Bogen von der Zeit vor 276 Insbesondere Johann Buxtorf (1599–1664) ist hier zu nennen, der mit seiner vehementen Verteidigung der orthodoxen Lehre von der Verbalinspiration dafür sorgte, daß die textkritische Erforschung zumindest in Deutschland und der Schweiz zunächst keine Beachtung fand. (Vgl. Christoph Bultmann, Early Rationalism and Biblical Criticism on the Continent, in: HBOT 2 [2008], 875–901 und Johannes Wallmann, Scriptural Understanding and Interpretation in Pietism, a. a. O., 902–925. Zu Buxtorfs Wirkung in Basel vgl. Johannes Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus [BHTh 42], Tübingen 21986, 134–139, zur Wirkung als Alttestamentler vgl. Rudolf Smend, Vier Epitaphe – die Baseler Hebraistenfamilie Buxtorf [Litterae et Theologia 1], Berlin / New York 2001, bes. 24–40. 277 Vgl. Burnett, Later Christian Hebraists, bes. 795–801. 278 Vgl. nur die aktuellen Methodenbücher, beispielsweise Uwe Becker, Exegese des Alten Testaments. Ein Methoden- und Arbeitsbuch, Tübingen 42015, bes. 16–41. 279 Vgl. de Wette, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testaments I, bes. 102–151. Zur ‚Geschichte des Textes‘ vgl. a. a. O., 103–132, zur ‚Theorie der Kritik des hebräischen Textes‘ a. a. O., 132–151. 280 A. a. O., 110, Hervorhebungen im Original.
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dem Kanonabschluß bis hin zu den wichtigsten wissenschaftlichen Ausgaben schlägt, hält er fest, daß der in nachexilischer Zeit entstandene masoretische Grundtext bereits den ältesten Übersetzungen vorgelegen haben dürfte: „Daß sie [gemeint sind die Handschriften des Urtextes, Anm. M. G.] auch vorher schon bestanden, läßt sich nach der ängstlichen Sorgfalt der Juden mit Wahrscheinlichkeit annehmen […]. Daß sie aber den Text der nach dem Exil zusammengestellten und kanonisierten Bücher im Ganzen richtig enthalte, sieht man aus den sorgfältig beybehaltenen charakteristischen Eigenthümlichkeiten der Schriftsteller und der einzelnen Stücke, aus denen manche Bücher zusammengesetzt sind.“281 Die Eigenheiten der alttestamentlichen Texte – so die These de Wettes – wurden trotz der langen Zeit der Überlieferung dank der Akribie der Schreiber bewahrt. In diesem speziellen Sinne kann er dann auch dem altprotestantischen Schriftprinzip etwas abgewinnen, da es von der Ursprünglichkeit und Akkuratheit des hebräischen Textes ausgegangen sei.282 Gleichwohl habe gerade die aufklärerische Bibelkritik die Diskussion deswegen zu einem gewissen Abschluß gebracht, da sie einerseits an der Textkritik festhielt, wobei sie besonderes Gewicht auf die Beachtung der Geschichte der Überlieferung legte. Und andererseits habe sie die textkritische Praxis in die geordneten Bahnen einer wissenschaftlichen Methodenlehre überführt und ihr somit „die nöthige Unbefangenheit und Umsicht“ gegeben, „mit welcher sie durch alle ihr zu Gebot stehende[n] Mittel Fehler zu entdecken und zu verbessern suchen muß“283. Bezüglich des Letzteren, der ‚Theorie der Kritik des hebräischen Textes‘ – die allererst die methodischen Hilfsmittel für die Entscheidung an die Hand gebe, was ein Autor ursprünglich geschrieben habe –, unterscheidet de Wette drei Schritte: „1) Kenntniß der urkundlichen Beweismittel“, Überschau der Textfassungen und ihrer Varianten, „2) Beurtheilung der Aussagen derselben“, Gewichtung des jeweiligen Quellenwertes und 3) die Operation „der kritischen Conjectur“284 bzw. „kritischen Vermuthung“285, Erstellung eines mutmaßlichen Urtextes. Indem die Textkritik mithilfe dieses dreistufigen Verfahrens die beim Abschreiben der Bibelhandschriften entstandenen Fehler erkenne und korrigiere, bildet sie die Grundlage für die Interpretation der alttestamentlichen Überlieferungen.286 Indem de Wette als „oberste Richtschnur“ der Textkritik angibt, 281
A. a. O., 130. altlutherische kritische Schule hatte […] bis auf einen gewissen Punct Recht, wenn sie an die Richtigkeit des hebräischen, aus den massorethischen Handschriften darstellbaren Textes glaubte, und die Neuerer überschätzen offenbar sowohl die Fehler dieses Textes als die dafür gepriesene Hülfe der alten Uebersetzungen, des Cod[ex] Samar[itanus] und der Conjectur.“ (A. a. O., 131) 283 Ebd. 284 A. a. O., 133. 285 So die spätere Formulierung, hier zitiert nach der 6. und letzten von de Wette überarbeiteten Auflage, Berlin 1844, 148, im Original hervorgehoben. 286 Zu den einzelnen methodischen Schritten vgl. de Wette, Lehrbuch der historisch- kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testaments I, bes. 144–151. 282 „Die
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daß „die Eigenthümlichkeit des Schriftstellers in Denkweise, Sprache und Vortrag überhaupt“ und des „Zusammenhangs der Rede insbesondere“287 zu beachten sei, zeigt er, wie nah sie sich mit der Literarkritik berührt. Die Literarkritik selbst fragt nach der Einheitlichkeit eines vorliegenden Textes. Ziel ist die Erkenntnis, ob wir es mit Textschichten zu tun haben, die auf unterschiedliche Autoren zurückschließen lassen. Indikatoren dafür sind Brüche und Spannungen im Text.288 Ihre Entstehung verdankt die Literarkritik der Erweiterung der zunächst rein textkritisch verfahrenden Quellenkritik hin zur Prüfung der inneren Komposition von Texten und Textkorpora. Diese methodische Ausweitung erfolgte im Kontext der Hermeneutik der Aufklärung. Erinnert sei im Hinblick auf das Alte Testament an Namen wie Johann David Michaelis (1717–1791)289, Johann Salomo Semler (1725–1791)290, oder Johann Gottfried Herder, Johann Gottfried Eichhorn und Johann Philipp Gabler291. De Wette rezipiert diese Ansätze literarischer Kritik. In seinem ‚Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testaments‘ hält er zu den im Alten Testament gesammelten Schriften fest: „Die Classification der schriftstellerischen Producte einer Nation muß im historischen Geiste und nach historischen Begriffen gemacht werden.“292 Nach der Textkritik widmet de Wette sich deshalb in der „[b]esondere[n] Einleitung in die kanonischen Bücher des A. T.“293 der Untersuchung der literarischen Einheitlichkeit der einzelnen alttestamentlichen Schriften und arbeitet Quellen und Schichtungen heraus. Hierbei folgt de Wette einem formalen Schema, wobei nach einer kurzen Inhaltsangabe des jeweiligen biblischen Buches (1) dessen stilistische Eigentümlichkeiten behandelt werden (2). Anschließend macht er auf Fehler und Widersprüche in den historischen Angaben aufmerksam (3), versucht die den Schriften zugrundeliegenden verschiedenartigen Quellen zu rekonstruieren (4) 287 A. a. O., 147. 288 Zur gegenwärtigen
Diskussion um die Methode der Literarkritik in der alttestamentlichen Exegese vgl. Jürgen Werlitz, Studien zur literarkritischen Methode. Gericht und Heil in Jesaja 7,1–17 und 29,1–8 (BZAW 204), Berlin / New York, bes. 7–92; Helmut Utzschnei-der / Stefan Ark Nitsche, Arbeitsbuch literaturwissenschaftliche Bibelauslegung. Eine Methodenlehre zur Exegese des Alten Testaments, Gütersloh / München 42014, bes. 62– 115 und 266–330 sowie die kritische Hinterfragung der Methode mit Hilfe statistischer Untersuchungen durch Jutta Krispenz, Literarkritik und Stilstatistik im Alten Testament. Eine Studie zur literarkritischen Methode, durchgeführt an Texten aus den Büchern Jeremia, Ezechiel und 1 Könige (BZAW 307), Berlin / New York 2001. 289 Vgl. John Sandys-Wunsch, Early Old Testament Critics on the Continent, in: HBOT 2 (2008), 971–984, bes. 980–984 und Michael C. Legaspi, The Death of Scripture and the Rise of Biblical Studies (OSHT), Oxford / New York 2010. 290 Vgl. Schröter, Aufklärung durch Historisierung. 291 Vgl. Reventlow, Epochen der Bibelauslegung IV, bes. 209–226. 292 De Wette, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testaments I, 152. 293 Vgl. a. a. O., 240–562.
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und deren Zusammensetzung aufzuhellen (5). Abschließend widmet er sich der Entstehungszeit der jeweiligen Schrift (6). Dieses Schema wendet de Wette mit kleineren Modifikationen auf sämtliche Schriften des Alten Testaments an.294 Exemplarisch beschränken sich die folgenden Ausführungen auf seine Untersuchungen zum Pentateuch. Dies liegt nahe, da dem Pentateuch forschungsgeschichtlich eine besondere Bedeutung zukommt. An ihm entzündeten sich in der Aufklärungszeit die Diskussionen um die Frage nach der literarischen Einheitlichkeit des Alten Testaments.295 Mit der von Richard Simon (1638–1712) angestoßenen literarkritischen Fragestellung296, die von Semler rezipiert und entscheidend weitergeführt wurde297, trat die Frage der Literargeschichte der biblischen Bücher in den Vordergrund. De Wette geht von einem höchst verworrenen Entstehungsprozeß aus: „Die meisten dieser Bücher sind größtentheils durch Compilation entstanden, entweder so, daß verschiedene Erzählungen ineinander gewoben oder an einander gereihet oder daß Auszüge aus größeren Geschichtswerken mitgetheilt sind.“298 Mit Hilfe literarkritischer Arbeit möchte de Wette diesen Entwicklungsprozeß entschlüsseln, wobei er auf Doppelüberlieferungen, Spannungen und Widersprüche, sowie Wechsel des Gottesnamens aufmerksam macht. Hinzu kommen Anachronismen und historische Ungenauigkeiten, die er untersucht. Dies führt de Wette im Fall der Bücher Genesis und Exodus einerseits zu der These, daß für die Entstehung von deren Grundschriften eine „nachmosaische Abfassung“299 angenommen werden müsse, wobei es Indizien sowohl für die Epoche Davids als auch für die Zeit des Exils gebe. Andererseits ergibt seine Untersuchung, daß zwei Pentateuchquellen angenommen werden müßten. Im Anschluß an Astrucs und Eichhorns Pentateuchtheorien und in Aufnahme der Modifikation derselben durch Karl David Ilgen (1763–1834)300 geht de Wette von einer Urkunde Elohim (die Wellhausensche Priesterschrift) und einer Ur294 Sofern möglich – wie beispielsweise bei den großen Propheten und Daniel – erläutert de Wette zudem deren Lebensumstände und Zeitverhältnisse. 295 Zur Forschungsgeschichte vgl. Cornelis Houtman, Der Pentateuch. Die Geschichte seiner Erforschung neben einer Auswertung (CBET 9), Kampen 1994; Ernest Nicholson, The Pentateuch in the Twentieth Century. The Legacy of Julius Wellhausen, Oxford 1998. 296 Vgl. dazu Reventlow, Epochen der Bibelauslegung IV, 87–92. 297 Vgl. Schröter, Aufklärung durch Historisierung, bes. 84–91. 298 De Wette, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testaments I, 163. 299 A. a. O., 182. 300 Zu Ilgen vgl. Jan Christian Gertz, Art. Ilgen, Karl David, in: RGG4 4 (2001), 55 und Bodo Seidel, Karl David Ilgen und die Pentateuchforschung im Umkreis der sogenannten Älteren Urkundenhypothese. Studien zur Geschichte der exegetischen Hermeneutik in der Späten Aufklärung (BZAW 213), Berlin / New York 1993 und zu Letzterem die kritischen Bemerkungen von Lothar Perlitt, Rez.: Bodo Seidel, Karl David Ilgen und die Pentateuchforschung im Umkreis der sogenannten Älteren Urkundenhypothese. Studien zur Geschichte der exegetischen Hermeneutik in der Späten Aufklärung (BZAW 213), Berlin / New York 1993, in: ThR 61 (1996), 472–474.
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kunde Jehova (der Wellhausensche Jehovist) aus.301 Seine Charakterisierung der beiden Quellen ist – in ihrer Grundannahme – von den Ergebnissen der gegenwärtigen Pentateuchforschung nicht weit entfernt: „Zweifelhaft ist das ursprüngliche Verhältniß derselben, und das Verfahren, welches der Sammler bey Zusammensetzung der Genesis beobachtet hat. Am deutlichsten tritt in den elohistischen Bestandtheilen ein ursprünglicher Plan und Zusammenhang […] hervor, während die jehovistischen Bestandtheile sich nicht so leicht in eine gewisse Einheit fügen, und wahrscheinlich aus mehreren Quellen entlehnt sind. In anderen Stücken will die Trennung fast gar nicht gelingen, wenn man nicht zu kleinlich und willkührlich verfahren will.“302 Generell kann gesagt werden, daß de Wettes Meinung nach die auf fehlende Traditionen zurückzuführenden lückenhaften Überlieferungen spezifisch für die mosaischen Bücher sind.303 Hinzu kommt deren „Pragmatismus“304, worunter de Wette die Logik der Darstellung in denselben versteht: „Sehr bestimmt werden die im göttlichen Regierungsplan liegenden Ursachen der Begebenheiten nachgewiesen, unvollständig aber die menschlichen Beweggründe und die natürliche Verkettung der Begebenheiten. Hiermit hängt zusammen, daß so viele Vorgänge den Gesetzen der Natur widersprechen, und eine unmittelbar eingreifende Wirksamkeit Gottes voraussetzen.“305 De Wette kann sich dies nur so erklären, daß die ursprünglich mündlich überlieferten Volkssagen erst später verschriftlicht worden sind. Und die Niederschrift muß in einer Zeit erfolgt sein, die darauf zielte die eigene Gegenwart in einen von Gott gefügten Zusammenhang mit der Vergangenheit zu setzen, wobei stets von einer besonderen Beziehung von Gott Jahwe und Volk Israel ausgegangen wird.306 Erst durch diese geschichtstheologische Prämisse sei ein Verstehen der in den Texten und Textkorpora sich dokumentierenden Gotteserfahrungen möglich. Die literarkritische Herausarbeitung der ältesten Quellen bildete für de Wette die Basis für die Rekonstruktion der Religionsgeschichte Israels. Durch die Erhebung der literarischen Genese der alttestamentlichen Bücher soll deren Bedeutung als Urkunden für die israelitische und jüdische Religion herausgestellt werden. De Wette liest sie als Zeugnisse der Herausbildung dieser Religion. Mit dieser Betrachtungsweise bahnt er Wellhausens Verschränkung von Literargeschichte und Religionsgeschichte an.
301 Vgl. zur genauen Scheidung der Quellen in Genesis und Exodus durch de Wette a. a. O., 172–178. 302 A. a. O., 172. 303 Vgl. auch a. a. O., 167. 304 Ebd. 305 Ebd. 306 Vgl. a. a. O., 168 f.
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4.2. Die ästhetisch-religiöse Erschließung der Texte In der Geschichte der wissenschaftlich-kritischen Erforschung des Alten Testaments steht der Name Wilhelm Martin Leberecht de Wettes für eine ästhetische Interpretation desselben, die zur religiösen Erschließung und Aneignung der Texte notwendig sei. Damit ist mit Bezug auf de Wettes Bibelhermeneutik ein nicht ganz einfacher Punkt angesprochen, der ein näheres Eingehen auf den gegenwärtigen Stand der Forschung nahelegt. Rudolf Smend schließt die Ausführungen seiner Promotionsschrift307 zu de Wettes ‚Beiträge[n] zur Einleitung in das Alte Testament‘ mit einem Zitat von ihm: „Die Geschichte thue daher Verzicht auf diesen Theil ihres Gebiets.“308 Smends Darstellung zufolge ist eine Rekonstruktion der Geschichte Israels und des Judentums zum Scheitern verurteilt, da weder „Regeln“ noch „Anhaltspunkte“309 für eine historische Interpretation der Mythen des Pentateuchs – die an dieser Stelle pars pro toto für die gesamten alttestamentlichen Überlieferungen stehen – zur Verfügung stünden. Dazu faßt Smend das Ergebnis seiner Erörterungen folgendermaßen zusammen, endend mit einem weiteren Zitat de Wettes: „Der Weg ist frei für die religiöse Betrachtung, die die Schöpfungsgeschichte naiv so liest, wie sie geschrieben ist, und Abraham und Mose ruhig als die poetischen Figuren hinnimmt, als die sie in der Schrift erscheinen. Man verderbe sich den Genuß nicht durch eine historische Neugier, die man doch nicht befriedigen kann! ‚Dieses historische Forschen und Deuten hat weiter keinen Nutzen, als daß wir uns den ästhetischen Genuß dieser Dichtungen verderben; und so haben wir weder Poesie noch Geschichte, wir haben nichts, als Unsinn‘.“310 Mit unverkennbarer Deutlichkeit stellt Smend die von de Wette stark gemachten ästhetischen Motive bei der Interpretation der durch die bzw. in den alttestamentlichen Mythen erzählten Geschichten heraus. Die Stärke von de Wettes Interpretation alttestamentlicher Überlieferungen beruhe kurz gesagt darin, daß er sie nicht auf die enge Frage nach dem historischen Sosein beschränkt, sondern den Blick auf die gestalterischen Leistungen der Verfasser lenkt. Deutlich streiche de Wette das ästhetische Moment heraus, wenn er auf die erzählerische Gestaltung der von ihm so genannten ‚Epen‘ und ‚Mythen‘ verweise. Ziel sei es, die besondere religiöse Bedeutung des Alten Testaments zur Geltung zu bringen. Jüngst hat vor allem Markus Buntfuß daran angeknüpft, indem er darauf aufmerksam gemacht hat, daß de Wettes Auslegung des Alten Testaments literarisch-ästhetischen Kriterien folgt. Buntfuß hält fest, daß er seiner Zeit ge307 Zur Wirkung derselben vgl. die Beiträge in: Kessler / Wallraff (Hgg.), Biblische Theologie und historisches Denken. 308 Smend, Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament, 57 und de Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, 397. 309 Ebd. 310 A. a. O., 58. Das De-Wette-Zitat findet sich in den ‚Beiträge[n] zur Einleitung in das Alte Testament‘, hier Band II, 73.
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läufige Interpretationskategorien aufnehme. Deutlich werde dies insbesondere durch die Unterscheidung zweier grundlegend auseinanderzuhaltender Gattungen literarischer Überlieferungen, die de Wette für die Interpretation des Alten Testaments fruchtbar mache311 – die „episch-objektive Poesie der Hebräer“312 und deren „lyrisch-subjektive[n] Poesie“313. Das eine ordnet er dem Pentateuch zu, das andere dem Psalter. Buntfuß kommt zu dem Ergebnis, daß sich de Wettes Untersuchungen zu Thora und Vorderen Propheten sowie zu den Psalmen als ein „planvolles Forschungsprojekt zu einer hebräischen Poetik rekonstruieren“314 lassen. Die episch-objektive Poesie ist Buntfuß zufolge Gegenstand der Untersuchungen zum Pentateuch aus den 1806 / 07 erschienenen ‚Beiträge[n] zur Einleitung in das Alte Testament‘. Für die lyrisch-subjektive verweist er auf de Wettes ‚Commentar über die Psalmen‘ aus dem Jahr 1811. Buntfuß erklärt, daß de Wette mit der Zuordnung der sogenannten Grundschrift des Pentateuchs zu ersterer und der Psalmen zu letzterer eine sowohl „gattungs- wie produktionsästhetische Unterscheidung“315 vorgenommen habe. Bezüglich des Verständnisses des Pentateuchs macht Buntfuß darüber hinaus eine bemerkenswerte Differenz zwischen Herder und de Wette namhaft. Während Herders Genesisinterpretation von der Überzeugung getragen gewesen sei, daß die alttestamentlichen Schöpfungserzählungen nur richtig verstanden sind, wenn ihre religiösen Überlieferungen „als Ansichtigwerden des Menschen im Hinblick auf seine Bestimmung interpretiert“316 würden, sei de Wette allein an den am Anfang des Pentateuchs enthaltenen gesetzlichen Vorstellungen von einer göttlichen Schöpfungsordnung interessiert gewesen: Gott habe hier Vorschriften für das menschliche Zusammenleben erlassen, die für alle Zeit zu beachten seien.317 Bezüglich des Psalmenkommentars hält Buntfuß dagegen fest, daß de Wette in den dort untersuchten Dichtungen erst den „eigentlichen religiösen Gefühls311 In seiner Unterscheidung zweier Hauptgattungen der hebräischen Dichtung spiegele sich „die bibeltheologische Umsetzung einer programmatischen poetologischen Gegenüberstellung, die Schiller in seiner Studie Über naive und sentimentalische Dichtung (1795 / 96) vorgelegt und Wilhelm von Humboldt in seinem Kommentar Ueber Göthes Hermann und Dorothea (1799) fortgeführt hatte, zumal sich bei jenem die sachliche, bei diesem sogar die wörtliche Zuordnung von episch-objektiv und lyrisch-subjektiv findet“ (Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 160 f., Hervorhebungen im Original). 312 Vgl. a. a. O., 163–167. 313 Vgl. a. a. O., 167–174. 314 A. a. O., 160. 315 Ebd. 316 A. a. O., 43. Zur Herderdeutung von Buntfuß vgl. a. a. O., bes. 21–85. 317 Die soeben zitierte Formulierung nimmt Buntfuss zur Bekräftigung im folgenden noch einmal auf: „Nicht [wie bei Herder, Anm. M. G.] das Ansichtigwerden des Menschen im Hinblick auf seine Bestimmung zu wahrer Humanität und Gottebenbildlichkeit steht bei De Wette im Mittelpunkt der Auslegung, sondern die Anerkenntnis einer das menschliche Leben ordnenden göttlichen Gesetzgebung.“ (A. a. O., 167)
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wert der hebräischen Poesie entdeckt“318 habe. Sie zeugten von der „religiöslyrischen Originalität“ der Hebräer, sie zeugten von „einer eigentümlichen hebräischen Geistesart“; gegenüber allen scheinbar objektiven Berichten des Alten Testaments böten sie einen Beleg von der „lyrisch-subjektiven Poesie der Hebräer“319 und erforderten eine eigene Hermeneutik. Für Buntfuß ist de Wettes ästhetische Interpretation des Alten Testaments erst mit seinen Untersuchungen zum Psalter an ihr Ziel gelangt. Dem gegenüber stünden die früheren ‚Beiträge‘ zu den biblischen Geschichtsbüchern zurück. Für Buntfuß stellt es sich geradezu so dar, daß deren ästhetische Interpretation überhaupt nur aus dem Scheitern der historischen hervorgegangen ist: So heißt es mit Blick auf die ‚Beiträge‘: „Die Unmöglichkeit den Pentateuch als Geschichtsbericht zu rekonstruieren wird […] durch die Möglichkeit aufgewogen, ihn ästhetisch zu interpretieren.“320 Zur Aufhellung des Ganzen lohnt eine Erinnerung an die oben bereits hinreichend erläuterte Herderrezeption de Wettes. Wie erwähnt hatte Smend hierzu zusammenfassend resümiert: „Die Gedanken Herders waren das schönste, geistesmächtigste und wohl auch wirksamste Element der exegetischen Welt, in die der junge de Wette hineinwuchs. Sie waren aber nicht das einzige: das konnten sie schon darum nicht sein, weil das Fehlen einer strengen wissenschaftlichen Methodik in Herders ‚begeisterter und begeisternder‘ Arbeit notwendig eine Ergänzung forderte.“321 Smends Würdigung – deren erster Teil auch von Buntfuß zustimmend zitiert wird322 – bringt zugleich im Hinblick auf das exegetische Verfahren Herders eine Einschränkung zum Ausdruck. Nach Smend mußte Herders poetische Archäologie eine notwendige Ergänzung und Schärfung durch die weiter entwickelten historisch-kritischen Methoden erfahren, die de Wette sich während seines Studiums in Jena angeeignet hatte.323 Hierdurch sei es ihm gelungen, die geschichtlichen Darstellungen Herders durch eine wissenschaftliche Sichtweise zu ergänzen. Für Buntfuß macht dagegen gerade die Überbietung der historischen Zugangsweise die entscheidende Weiterentwicklung de Wettes in der Bibelhermeneutik aus: „Im Unterschied zu Herder […], demzufolge die hebräische Poesie weniger künstliche Darstellung als natürlicher Ausdruck der Sache war, ‚wie sie sich in ihrem Zeitalter zutrug, und von 318 Ebd. 319 A. a. O.,
171, 173 und 174. A. a. O., 163. 321 Smend, Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament, 14. 322 Vgl. Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 155. 323 Smend denkt insbesondere an die grammatische und historische Auslegung Griesbachs, die rationalistische Methode Heinrich Eberhard Gottlob Paulus’, sowie die Würdigung des Alten Testaments als Produkt morgenländischer Poesie und als Urkunde über die Entwicklung des Menschengeschlechts durch Eichhorn. (Vgl. ders., Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament, bes. 14–32) 320
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den Mitlebenden angesehen wurde‘, bestreitet De Wette den geschichtlichen Wert der alttestamentlichen Schriften und beschränkt sich auf den Nachweis einer Entsprechung zwischen poetischer Gestaltung und religiösem Bedürfnis.“324 Buntfuß, der für seine Rekonstruktion der ästhetischen Religionstheorie auf die späteren Auflagen der Schriften de Wettes zurückgreift325, konstatiert bei demselben eine große Skepsis gegenüber dem historischen Forschen, welche ihn in seinem reifen Werk zu einer ausgearbeiteten Theorie des Ästhetischen geführt habe – die sich so in den Frühschriften noch nicht fände. Gegenüber dieser Interpretation trifft Smend wahrscheinlich eher das von de Wette Intendierte. De Wette versteht das Alte Testament als historische Poesie.326 Dabei kommt es ihm – in expliziter Abgrenzung von den Forschungen seiner Zeit – darauf an, daß das Poetische nicht nur Akzidenz ist, die einstmals zur Tradierung der historischen Fakten notwendig gewesen sei, sondern zur Substanz der Texte selbst gehöre.327 Er ist der Überzeugung, daß die historische und die ästhetische Interpretation einander fordern und bedingen. Zur Plausibilisierung dieser These ist noch einmal auf de Wettes Psalmeninterpretation zurückzukommen. Hier zeigt sich, daß die Unterscheidung eines historisch orientierten Frühwerks und eines ästhetisch ausgerichteten Spätwerks nicht ohne Probleme aufrecht erhalten werden kann. Einerseits birgt sie werkgenetische Schwierigkeiten: Bereits in den frühen ‚Beiträge[n] zur Einleitung in das Alte Testament‘ hält de Wette scheinbar im Widerspruch zu seiner eigenen historisch-kritischen Methode fest: „Die einzige Kritik, die über die Psalmen möglich ist, die uns 324 Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 156, Hervorhebungen im Original. Buntfuß macht hierbei auf Parallelen zu Schiller aufmerksam, dem es wie de Wette um eine die historische Entfremdung überwindende ‚zweite Naivität‘ gegangen sei, die im Gegensatz zu Herders Programm der Einfühlung stehe. (Vgl. a. a. O., bes. 156 f.) 325 So erklärt er im Rahmen der Darstellung der von de Wette aufgenommenen religionsphilosophischen Vorarbeiten von Fries: „Für die Rekonstruktion von De Wettes ästhetischer Theorie empfehlen sich die späteren Auflagen eher als die jeweiligen Erstauflagen, da diese noch ganz rationalistisch geprägt sind, wohingegen sich jene durch eine positiv-konstruktive Darstellung auszeichnen.“ (A. a. O., 189) Was Buntfuss mit der rationalistischen Prägung meint, bleibt ohne Erläuterung. Zudem unterliegt die Auswahl der Auflagen durch Buntfuß einer gewissen Beliebigkeit. So zitiert er beispielsweise den 1. Band von de Wettes ‚Lehrbuch der christlichen Dogmatik in ihrer historischen Entwicklung dargestellt‘ nach der 3. und letzten Auflage aus dem Jahr 1831, den 2. Band dagegen nach der 2. Auflage von 1821. (Vgl. ebd.) Auch die Zitation des ‚Commentar[s] über die Psalmen‘ nach der 2. Auflage von 1823 erfolgt ohne nähere Begründung. 326 Diese Einschätzung stützt in gewisser Weise auch die Untersuchung von Karl-Heinz Bassy, Von Herder zu Duhm. Psalmenforschung im 19. Jahrhundert. Studien zur Forschungsgeschichte der Weisheitspsalmen, Frankfurt am Main / Bern / Brüssel / New York / Oxford / Warschau / Wien 2015, zu de Wette vgl. bes. 122–194 und 206–214. 327 „Die Erklärer des A. T. haben schon längst von historischer Poesie gesprochen; nur gaben sie der Poesie nichts als die Einkleidung der Fakten, die Fakten wollten sie noch der Geschichte retten.“ (De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, III, Hervorhebung im Original)
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aber auch vollkommen hinreichend seyn kann, ist die des Aesthetikers. Dieser mag die vorhandene Blumenlese der Psalmen sichten, und nach ihrem innern Werthe ihre Rangordnung in dem Kranze hebräischer Poesie bestimmen; er wird erkennen, was Original und was Nachbild sey, und was die Farbe des jungen Frühlings oder des späten Herbstes trage, und gerne wird er es aufgeben, diesen Liedern historisch Zeit und Verfasser anzuweisen […]: wenn nur der innere Geist die Jugend früherer Jahrhunderte athmet, so ist für ihn das frühe Alter entschieden.“328 Die episch-objektive und die lyrisch-subjektive Poesie als verschiedene Dichtungsarten der Hebräer bilden für de Wette ein großes Ganzes. Es darf nicht dahingehend getrennt werden, daß erstere die historisch-objektiven und letztere die ästhetisch-subjektiven Überlieferungen darstelle.329 Andererseits widerspricht die Unterteilung auch der von de Wette angewendeten Methode, die durchgängig dieselbe blieb und in der es ihm darum zu tun ist, die historische und die ästhetische Interpretation miteinander zu verbinden. Dem dient bereits seine im Frühwerk eingeführte Unterscheidung der „äußere[n]“ und „innere[n]“330 Kritik der Glaubwürdigkeit historischer Relationen. Erstere erörtert die Bedingungen und Entstehungsverhältnisse der Texte und fragt nach den Verfassern und ihren Lebensbezügen. Letztere versucht den „Sinn“, das „Wesen“ und den „Charakter“331 solcher Erzählungen aufzuklären. Die Grundsätze kritischer Quellenauslegung werden ohne dogmatische Begrenzung angewandt. Ihre Ergebnisse dienen als Grundlage für das Verstehen der alttestamentlichen Überlieferungen, deren ästhetischen Eigenwert es daraufhin zu würdigen gilt. Auch der ob seines ästhetischen Wertes hochgeschätzte Psalter wird von de Wette geschichtlich beleuchtet. Historische und ästhetische Auslegung bedingen sich wechselseitig. Dem korrespondiert, daß de Wette – zugleich im Anschluß und in Abgrenzung zur 328
De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament I, 158 f., Hervorhebung im Original. 329 Dafür spricht auch, daß nicht nur in der Psalmenexegese de Wettes, sondern auch schon in seinen frühen Pentateuchuntersuchungen inneralttestamentliche Kriterien zur Beurteilung der Historizität der mosaischen Schriften angeführt werden, die in ihrer Konsequenz auf das hinauslaufen, was später in der alttestamentlichen Wissenschaft als Hypothese ‚Lexpost-prophetas‘ eine breite Rezeption erfuhr: „Ein sehr schlimmes Vorurtheil für die Aechtheit unsers Pentateuchs erweckt es überhaupt, daß die Propheten, diese untrüglichen Zeugen der Zeit und ihres Charakters, sowohl wegen der historischen Gewißheit ihrer Zeit, (denn sie sind die einzigen Schriftsteller des A. T., deren Zeit bestimmt werden kann, und zwar durch die sichersten Merkmahle, ihren innern Charakter) als besonders auch wegen ihres freien von allen Vorurtheilen und positiven Fesseln losgebundenen, freimüthigen Charakters, (indem sie isoliert, ohne Parthey und gegen alle Parthey, besonders gegen die Hierarchie streitend, bloß als Zeugen der Wahrheit dastehen), daß die Propheten, sage ich, so gar nicht vom Mosaischen Gesetzbuch sprechen, es anbefehlen, zum Beleg ihrer Lehren gebrauchen. Das Gesetz führen sie immer im Munde, aber nicht das Gesetzbuch.“ (A. a. O., 183 f.) 330 De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, 21, im Original hervorgehoben. 331 A. a. O., 25.
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Forschung seiner Zeit – in der Einleitung seines Psalmenkommentars zu den ihn leitenden „hermeneutischen Maximen […] bey der historischen Auslegung der Psalmen“332 erklärt: „Rühmlich ist das Bestreben der neuern Exegeten, die Psalmen mit Hülfe der Geschichte auf die Situation des Verfassers, in der sie veranlaßt und gedichtet wurden, zu beziehen, und durch diese Beziehung zu erläutern. In der That keine Empfindung ist richtig und vollständig aufgefaßt, ohne das Subject derselben in seiner individuellen Eigenthümlichkeit, und in seinen Verhältnissen zu den Gegenständen, welche die Empfindung veranlassen, zu kennen: nur durch diese Kenntniß wird man in Stand gesetzt, die gegebenen Empfindungen nachzuempfinden, und sich ganz in die Seele des Dichters zu versetzen. Allein man hat bey diesem Verfahren zu wenig Kritik und Mäßigung gebraucht; man hat sich mit jeder nur irgend möglichen Combination begnügt, und sich den Hypothesen zu sehr überlassen. Mir ist Sicherheit und Nothwendigkeit das, wornach man bey jeder Forschung, und also auch bey der Erklärung zuerst streben, und dem man manches Andere aufopfern muß. Lieber wisse man etwas weniger, das aber, was man weiß, mit größerer Gewißheit!“333 De Wette wäre mißverstanden, wollte man diese Äußerungen dahingehend interpretieren, daß sie eine Reserve gegenüber dem historischen Forschen zum Ausdruck bringen. Weder hier noch in den späteren Auflagen des Psalmenkommentars – ebensowenig wie in anderen Schriften – äußert er Vorbehalte gegenüber der historischen Kritik, die durch Anwendung der ästhetischen Methode angeblich überwunden werden müsse. Stattdessen plädiert er für eine Verknüpfung ästhetischer und historischer Beobachtungen, um ein vielfältiges Methodeninstrumentarium zur Verfügung zu haben, welches allererst imstande sei, den komplexen alttestamentlichen Überlieferungen gerecht zu werden. Mit Hilfe der historischen Kritik gelte es, die Glaubwürdigkeit der verschiedenen überlieferten Relationen zu prüfen und zu gewichten. Die ästhetische Methode baue dann darauf auf und sei in der Lage, aufgrund innerer Kriterien, originäre und nachgebildete Überlieferungen voneinander zu unterscheiden.334 Ziel bei332
De Wette, Commentar über die Psalmen, 93 f. 94. – Auffällig und mit den Erläuterungen zur Rezeption des Friesschen Religionsbegriffs durch de Wette korrespondierend ist, daß er ab der zweiten Auflage den Empfindungs- durch den Gefühlsbegriff ersetzt und beispielsweise statt von „die gegebenen Empfindungen nachzuempfinden, und sich ganz in die Seele des Dichters zu versetzen“ nun davon spricht, „die gegebenen Gefühle nachzufühlen, und sich ganz in die Seele des Dichters zu versetzen“ (Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Commentar über die Psalmen, in Beziehung auf seine Uebersetzung derselben, Heidelberg 21823, 92). Gleichermaßen wird später auch der Subjekts- und der Individualitätsbegriff vermieden. (Vgl. beispielsweise a. a. O., 91) 334 „Eine kaum geahnete, hier auch nur anzudeutende, aber höchst wichtige Untersuchung, in welcher sich das höchste exegetische, kritische und ästhetische Verständniß der Psalmen durchdringet, ist die Unterscheidung des Originellen und Nachgeahmten in der Psalmenpoesie. Es gibt Stücke, welche in Sprache, Form und Inhalt den Charakter des Eigenthümlichen und Ursprünglichen an sich tragen, welche sich als freye lebendige Erzeugnisse einer dichterischen Begeisterung in einer bestimmten Situation des Lebens kenntlich machen; und dagegen ande333 A. a. O.,
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der müsse eine einfühlende Exegese sein, die den Weg zu einer religiösen Betrachtung der alttestamentlichen Texte eröffne.335 De Wettes ästhetisch-religiöse Erschließung der alttestamentlichen Überlieferungen ist geleitet von dem bereits von Herder aufgestellten Grundsatz des individuellen Eigenwertes alles Historischen: „Jedes Ding kann nur in sich und durch sich, in seiner eigenen Wesenheit, erkannt und verstanden werden. Jedes schriftstellerische Produkt fo[r]dert seine eigene Hermeneutik: nur das, was es ist und seyn soll, kann in ihm liegen und durch den Hermeneutiker dargestellt werden, und zwar nur in der ihm eigenen Form kann es erkannt und begriffen werden.“336 Den einzelnen Sagen und Mythen des Alten Testaments spricht de Wette bleibenden Wert zu, und zwar gerade aufgrund des bleibenden Wertes alles „Individuellen in der Religion“337. De Wette gelangt zu der Erkenntnis, daß die Historizität einer Aussage im modern-aufklärerischen Sinn noch nichts über deren Bedeutung als eines das religiöse Gefühl affizierenden Sinnbildes aussagt. Allein ihr ästhetisch zugänglicher Gehalt ist für das Ahnen des Gefühls entscheidend. De Wette möchte den Gefühlswert der alttestamentlichen Mythen, ihre unvergängliche ästhetische Bedeutung erschließen. Ihm ist es darum zu tun, die unmittelbare religiöse Überzeugungskraft der biblischen Schriften aufzuzeigen. Mit seiner ästhetisch-religiös ausgerichteten Bibelhermeneutik steht de Wette in einer Tradition, die nach allgemeiner Überzeugung auf Robert Lowth (1710– 1787)338 zurückgeht, dessen Forschungen über seine Heimat England hinaus re[,] denen man es ansieht, daß sie nur aus Nachahmung ohne eigenthümliche Stimmung und Situation, und ohne dichterischen Beruf des Verfassers entstanden sind. In vielen merkt man sogar wörtliche Reminiscenzen aus den im Sinn gehabten Vorbildern.“ (De Wette, Commentar über die Psalmen, 23) 335 „Für den Verständigen Eingeweihten, für den Priester verliert die Bibel weder an Achtung noch an Brauchbarkeit: er weiß, daß wenn auch nicht das Objekt des Glaubens wahr ist, es doch der Glaube selbst ist; und mag der opfernde Abraham z. B. eine geschichtliche oder mythische Figur seyn, immer ist es ein würdiger Gegenstand der religiösen Betrachtung, und die Handlung auch nur erdichtet, erfüllt den Leser mit Andacht.“ (De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, 406 f.) 336 A. a. O., 25. 337 De Wette, Commentar über die Psalmen, 5 f., im Original hervorgehoben. Buntfuss zitiert dieselbe Stelle – allerdings aus einer späteren Auflage des Psalmenkommentars, in dem der Individualitäts- durch den ‚Gemüthsbegriff‘ ersetzt wurde –, versucht damit jedoch das Gegenteil zu belegen: „Den eigentlich religiösen Gefühlswert der hebräischen Poesie entdeckt De Wette […] erst in der lyrisch-subjektiven Psalmendichtung. Aufgrund seines episch-objektiven Charakters könne der Pentateuch zwar ‚mehr Ausbeute gewähren für positive religiöse Vorstellungen, Mythologie u. dgl.; der Psalter aber ist die vorzügliche Quelle des Gemüthlichen in der Religion, und darum der höchsten Aufmerksamkeit werth für religionsgeschichtliche Forschung.‘ Neben dem hebräischen Nationalepos wendet sich De Wette deshalb in seinem zweiten großen Beitrag zur ästhetischen Bibelinterpretation der lyrisch-subjektiven Poesie der Hebräer zu.“ (Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 167 f., Hervorhebung im Original) 338 „Das […] Phänomen, dass der biblischen Dichtung in besonderem Maße religiöse Anregungsqualitäten eignen, hat Lowth erstmals in umfassender Weise theoretisch zu erfassen versucht. […] Mag der ‚Entdecker der Parallelismus‘ auch in exegetischen Einzelfragen
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auch in Deutschland breit rezipiert wurden.339 An dessen Programm einer ‚ästhetische[n] Dechiffrierung des Alten Testaments‘ knüpft de Wette an. Bereits zu Beginn seiner Einführung in den Psalmenkommentar verweist er auf ihn.340 Lowth hatte herausgestellt, daß Poesie im Allgemeinen religiöser Abkunft sei.341 An ihren Anfängen lasse sich das Wesen der Dichtung ablesen, daß sie auch gegenwärtig noch zur Geltung brächte. Ihrem Ursprung nach sei sie Ausdruck von religiösem Affekt. Die Besonderheit der alttestamentlichen Dichtungen sei wiederum, daß sie das Wesen der Poesie am reinsten verwirklicht habe. Mit der Ästhetisierung der Auslegung des Alten Testaments – auf der Basis breiter philologischer Erörterungen – verfolgte Lowth den Zweck, die Bibel als heilige Schrift zu würdigen. Er war der Überzeugung, daß es allein auf diesem Wege möglich sei, sie zu verstehen und als schriftlichen Niederschlag der religiösen Regungen des menschlichen Geistes zu interpretieren: „Indem sie [gemeint ist die wissenschaftliche Analyse der Texte, Anm. M. G.] die hermeneutische Aufmerksamkeit für die unterschiedlichen Dimensionen schärft, in denen sich der religiöse Geist in der alttestamentlichen Dichtung ausspricht, schärft sie den Sinn für diesen Geist selbst. So lenkt die ästhetische Methode […] den Blick vom Abstrakt-Unanschaulichen auf das vorstellungs- und erlebnishaft Konkrete der alttestamentlichen Religion und trägt auf diese Weise dazu bei, dass die biblischen Texte zum Vehikel entsprechender Gemütsbewegungen werden.“342 bahnbrechend gewirkt haben – seine vortrefflichste Leistung ist es, diese ästhetisch-religiöse Theorieperspektive erschlossen zu haben. Aufgrund dessen kommt den Praelectiones, deren zentrale Einsichten auf die Bibelauslegung Herders, de Wettes und Gunkels sowie auf die Auslegungstheorie Diltheys vorausverweisen, epochale schrifthermeneutische Bedeutung zu.“ (Martin Fritz, Vom Erhabenen. Der Traktat ‚Peri Hypsous‘ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert [BHTh 160], Tübingen 2011, 463, Hervorhebung im Original) – Zu Lowth vgl. a. a. O., 395–464 und Jordan Eugene Skornik, Between the Study of Religion and Literary Analysis: Robert Lowth on the Species of Prophetic Poetry, in: JR 99 (2019), 492–528. 339 „In der Applikation auf die Heilige Schrift hat Lowth die ‚religionspoetologische‘ Erschließungskraft des Erhabenen in einer bis dato unerreichten Entschlossenheit und systematischen Schlüssigkeit aufgewiesen. Es ist dies sicher einer der entscheidenden Gründe, warum Lowths ‚schönem und allgepriesenem Buch‘ (Herder) auch im Deutschland des 18. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit zuteil geworden ist.“ (A. a. O., 464) – Zur Rezeption in Deutschland vgl. auch Rudolf Smend, Lowth in Deutschland, in: Ders., Epochen der Bibelkritik. Ges. Studien 3 (BEvTh 109), München 1991, 43–62. 340 Vgl. de Wette, Commentar über die Psalmen, 1. Schon die ersten Rezensenten des Kommentars heben die Nähe zu Lowth hervor: Die „ganze Ausführung über den Parallelismus der Glieder […], die durch gewählte Beyspiele erläutert wird, und durchaus mit Lowth’s Classification des Parallelismus zu vergleichen ist, müssen wir besonders auszeichnen“ (Gottlob Wilhelm Meyer, Rez.: Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Commentar über die Psalmen [Commentar über die Schriften des alten Testaments 3.2], Heidelberg 1811, in: GGA 12 [1812], 1673–1678, 1674). 341 „Denn wenn der erste Ursprung der Dichtung selbst gesucht werden sollte, wird er offenbar ganz der Religion zugeschrieben werden müssen.“ (Übersetzung zitiert nach Fritz, a. a. O., 413) 342 A. a. O., 457 f.
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Die ästhetische und die religiöse Erschließung des Alten Testaments bedingen einander indem erstgenannte einen Weg zur religiösen Aneignung der Texte eröffnet. Lowth ging es um eine „erlebnisorientierte Schriftlektüre […], bei der die alttestamentliche Poesie als Schatz archetypischer religiöser Erfahrungen zur Geltung kommt, die sich durch sprachliche Mitteilung je und je aufs neue zu aktualisieren vermag“343. Entscheidend ist für de Wette, daß die ursprüngliche religiöse Ergriffenheit, die sich seiner Meinung nach insbesondere in den alttestamentlichen Überlieferungen sprachlich manifestiert habe, auch gegenwärtig noch das Gemüt zu affizieren vermag. Der ästhetische Zugang korrespondiert mit seiner Religionstheorie, die – hierin an Fries anknüpfend – im Ahnen und Fühlen das Zentrum der Religion erblickt. Sowohl für die episch-objektive als auch für die lyrischsubjektive Poesie der Hebräer nimmt de Wette dies in Anspruch. Sie sind in erster Linie Zeugnisse religiöser Erfahrung und als solche zu interpretieren. Dies erklärt auch de Wettes Insistieren auf eine historisch rückgebundene und auf die spezifischen Eigenarten der alttestamentlichen Überlieferungen eingehende Methode der Bibelauslegung, wie er beispielsweise in der Einleitung seines Psalmenkommentars erklärt: „Uebrigens […] treten wir bey der Auslegung der Psalmen ganz auf den grammatisch-historischen Standpunct, und verlassen sonach jede nicht grammatisch-historische Auslegung, mithin auch die messianischen Auslegungen der Psalmen, die wir im Commentare höchstens kurz andeuten werden. Hierüber brauchen wir, nach so vielen und trefflichen Untersuchungen, und nach der so weit fortgeschrittenen Ausbildung der Hermeneutik als Wissenschaft, uns nicht zu vertheidigen. Die messianische Auslegung ist keine Auslegung, sondern eine Anwendung, und als solche hat sie noch dogmatisch-historisches Interesse; für die Exegese ist sie aber antiquirt, und wird es hoffentlich mit all ihren Schwestern, den mystisch-allegorischen Auslegungsarten, ewig bleiben.“344
4.3. Die Sicht der Religionsgeschichte des Alten Testaments Neben der ästhetisch-religiösen Erschließung der alttestamentlichen Texte ist an de Wettes Leistungen für eine historisch-kritische Rekonstruktion der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte zu erinnern. Die kritische Rück343 A. a. O.,
464. In der Folgezeit firmiert diese Art der Auslegung unter dem Schlagwort ‚psychologische Bibelinterpretation‘. – Neben Lowth dürften für de Wette vom Pietismus angestoßene Entwicklungen in der Schriftauslegung von Bedeutung gewesen sein. (Vgl. dazu Ulrich Barth, Die hermeneutische Krise des altprotestantischen Schriftprinzips. Francke – Baumgarten – Semler, in: Ders., Aufgeklärter Protestantismus, Tübingen 2004, 167–199 und Martin Fritz, Erbauung durch Poesie. Die Anfänge einer Ästhetik der religiösen Sprache in Pietismus und Aufklärung, in: Ders. / Regina Fritz [Hgg.], Sprachen des Glaubens. Philosophische und theologische Perspektiven [ThAkz 7], Stuttgart 2013, 93–116.) 344 De Wette, Commentar über die Psalmen, 96.
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frage nach der Tatsächlichkeit des Berichteten – die in der Aufklärungsepoche aufbrach – motivierte auch de Wettes Forschungen zum Alten Testament. Der Quellenwert der alttestamentlichen Überlieferungen ist erschüttert und läßt sich nicht so einfach wieder herstellen. Dieses Problem trieb de Wette zeit seines Lebens um. Die Frage nach der Faktizität und Wirklichkeit der im Alten Testament geschilderten Erlebnisse gehörte für ihn zu den Ausgangsmotiven seiner Forschungen. Denn daß de Wette den mythischen Charakter des Alten Testaments stark macht, bedeutet für ihn keinen Verzicht auf den Geschichtsbegriff. Vielmehr geht es de Wette um eine angemessene Hermeneutik alttestamentlicher Schriften. „Die Hermeneutik befiehlt, mit unverwandter Treue den Sinn, die Vorstellungen des Verfassers darzustellen, in dem Gesagten das und nichts anders zu finden, als was er hat sagen wollen (efferre, non inferre): der Historiker aber kann und darf auch nichts anders wollen. Die Relation ist seine Quelle; er kann aus ihr nur das schöpfen, was in ihr liegt; er kann über die Dinge, über welche er Belehrung sucht, nur die erhalten, die ihm der Referent giebt; nicht die Fakten selbst kann er erforschen, sondern nur so wie sie erzählt sind. Verläßt er den Boden der Hermeneutik, so verläßt er den Boden der Geschichte.“345 Hermeneutik und Geschichtsschreibung bedingen sich wechselseitig. Zum einen handelt es sich bei den alttestamentlichen Schriften um historisch gewachsene Traditionen, die einer bestimmten Situation und Zeit entstammen. Nur eine die verschiedenen Stadien des Textwachstums würdigende Interpretation sei in der Lage, sie zu erschließen. Zum anderen ist die Vorstellungswelt der Verfasser zu beachten, denn allein auf diese Weise sei es möglich, den ursprünglichen Sinn der alttestamentlichen Überlieferungen – samt der sich in den Texten niederschlagenden Fortscheibungen desselben – darzustellen und zu verstehen. Verstehen des Alten Testaments ist für de Wette allein auf historischem Wege möglich, indem die Geschichte seines Entstehens und spätere Auslegungen in die Interpretation mit einbezogen werden – womit er an eine Tradition der Bibelforschung anknüpft, für die der wiederholt genannte Name Semlers steht.346 An seine Vorarbeiten knüpft de Wette mit der These an, daß bei der Auslegung das Hauptaugenmerk auf den Versuch zu richten sei, zum Vorschein zu bringen 345 De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, 5 f., Hervorhebungen im Original. Und kurz darauf erklärt de Wette: „[D]er Historiker kann ja nichts wissen, als was referirt ist; was er erforscht hat für die Geschichte, muß gefunden seyn, nicht erfunden.“ (A. a. O., 8) 346 „Semlers überragender Beitrag zur Geschichte der Hermeneutik und ihrer Rolle in der Theologie besteht vor allem darin, die überkommene, in erster Linie philologisch-kritische und nur partiell historisch-kritische Bibelhermeneutik in den Rang einer am Paradigma der Religionsgeschichte entfalteten historiographischen Hermeneutik erhoben zu haben.“ (Barth, Die hermeneutische Krise des altprotestantischen Schriftprinzips, 187. Zu Semler vgl. a. a. O., 182–196; ders., Das Verstehen von Geschichte. Voraussetzungen von Semlers Hermeneutikkonzeption, in: Ders., Kritischer Religionsdiskurs, 97–118 und Schröter, Aufklärung durch Historisierung.
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bzw. zu erklären, was in ihm verborgen liege. Explizit nimmt er die Terminologie Semlers auf.347 Einem historischen Erkenntnisinteresse verpflichtet ist letztendlich auch de Wettes im Zuge der Erörterung der religiös-ästhetischen Interpretation diskutierte Unterscheidung einer äußeren und inneren Kritik der alttestamentlichen Überlieferung.348 Der dort erläuterten Differenz originärer und nachgemachter Überlieferungen entspricht hier die von originalen und nachgebildeten historischen Relationen. Mit dieser Unterscheidung geht es de Wette nicht um eine Abwertung geschichtlich sekundärer Überlieferungen, sondern um ihre sachgemäße historische Verortung. Die Entstehungsbedingungen der verschiedenen alttestamentlichen Überlieferungen – zum Zeitpunkt ihrer ersten Niederschrift, aber auch in ihren Fortschreibungen – sind mitzureflektieren. Mit dem gerade bereits genannten alten hermeneutischen „Prinzip ‚sensum non inferre sed efferre‘“349 möchte de Wette – über die Ablehnung voreingenommener Interpretationsweisen hinaus – den von Aufklärung und Pietismus angestoßenen Transformationsprozeß der Hermeneutik von einer Methodenlehre zu einer der religionsgeschichtlichen Fragestellung verpflichteten Wissenschaft fortführen. Einen Schwerpunkt legte er auf die genetische Erklärung der von ihm unterschiedenen alttestamentlichen Textschichten und ihre Zuordnung zueinander. Mögen zahlreiche Texte auch sekundären Charakters sein, so sind sie doch für die Überlieferungsgeschichte der in ihnen verhandelten Themen von nicht zu unterschätzender Bedeutung. An dieser Stelle ist nochmals an de Wettes Rezeption der Mythentheorien zu erinnern, insbesondere des frühen Schelling. Die Stärke dieser Theorien liegt 347 „Dem bereits von Francke und Baumgarten zur Anwendung gebrachten und von Semler in seiner grundlegenden Funktion herausgestellten hermeneutischen Prinzip ‚sensum non inferre sed efferre‘ ist nicht schon dadurch Genüge getan, daß das eigene Vorurteil des Interpreten ausgeschaltet wird, sondern erst dann, wenn die gesamte Auslegungsgeschichte samt allen parteiischen Entstellungen des ursprünglichen Sinns mitdargestellt ist. Der hermeneutisch wahre Sinn besteht im historisch ursprünglichen, d. h. im ‚historisch bestimten […] Sinn‘. Nimmt man all die genannten Aspekte zusammen, dann wird deutlich, inwiefern sich die Hermeneutik bei Semler gewandelt hat von einer philologischen Methodenlehre zu einer umfassenden, historisch erklärenden Wissenschaft der Entstehungs- und Auslegungsgeschichte von Texten.“ (Barth, Die hermeneutische Krise des altprotestantischen Schriftprinzips, 186) – Zur Hermeneutik August Hermann Franckes (1663–1727), die didaktisch-methodische Anstöße des Pietismus weiterdenkt, und Siegmund Jacob Baumgartens (1706–1757), der in der Tradition des Wolffianismus steht, vgl. a. a. O., 169–175 und 175–182. 348 Wenn Buntfuss erklärt, daß die Bibelkritik de Wettes auf einer ausgearbeiteten Theorie der Religion basiert, so kann man dieses Argument ebensogut umdrehen: „Entscheidend bleibt für De Wette, dass die historische Kritik – die er meisterhaft beherrschte und so konsequent wie wenig andere betrieben hat – nur eine dienende Funktion für die religiöse Interpretation hat.“ (Buntfuss, Die Erscheinungsform des Christentums, 169 f.) Besser wäre wohl von einem Wechselbedingungsverhältnis von historisch-kritischer und religiös-ästhetischer Interpretation zu sprechen. 349 Barth, Die hermeneutische Krise des altprotestantischen Schriftprinzips, 186 – Vor allem Semler war es, der dessen grundlegende Funktion aufgezeigt hat.
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für de Wette darin, daß sie die ästhetischen Komponenten der alttestamentlichen Überlieferungen miterklären können. Was de Wette an der Mythentheorie letztlich überzeugte ist, daß sie es vermochte, zwischen der Zeit, von der ein Text handelt, und der Zeit, in der ein Text abgefaßt wurde, zu unterscheiden. Jede Geschichtserzählung ist für de Wette auch ein Indikator für die Umstände und Denkweisen ihrer Entstehungszeit. Mit Hilfe dieser Sichtweise ist es möglich, die in de Wettes Werk immer wieder auftauchenden scheinbaren Entgegensetzungen von ‚historischer‘ und ‚ästhetischer‘ Interpretation in ein konstruktives Verhältnis zu überführen, was an einem prominenten Beispiel kurz illustriert sei – gemeint ist die Erzählung von der Opferung Isaaks in Gen 22: „[W]ir haben hier keine Geschichte, sondern Dichtung und wir wollen über dem Forschen nach Geschichte, nicht den schönen Sinn der Dichtung vergessen. Diese Mythe ist eine der schönsten in der ganzen Genesis. Abraham wird hier, wie in den vorigen Mythen, als der Stammvater der Hebräischen Nation, als das Vorbild Hebräischer Frömmigkeit aufgestellt. Was ist für uns wichtiger und fruchtbarer, Abrahams eigne religiöse Bildungsstufe kennen zu lernen, oder ihn anzuschauen als Kunstgebilde der heiligen Mythe, in der höchsten Verklärung der Religion?“350 Leicht ließen sich dem weitere Beispiele hinzufügen. Die Intention de Wettes ist immer dieselbe. Eine Mythe von Abraham hat ihren Wert für die Aufhellung der Frömmigkeit zur Zeit ihrer Entstehung, nicht aber als Bericht über einen der Stammväter Israels. Eine Erzählung von David hat ihren Wert für die Zeit ihrer Niederschrift und nicht als Quelle über den bedeutendsten König Israels. Geschehene Geschichte und erzählte Geschichte sind nicht ein und dasselbe. Damit hat sich, sofern diese Einsichten de Wettes ernst genommen werden, die einfache Alternative geschichtlich versus ungeschichtlich relativiert. Und damit bilden die Schriften de Wettes einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur Ausbildung der Disziplin ‚Geschichte Israels‘. Eine ‚Geschichte Israels‘ auf Grundlage dieser methodischen Einsichten verfaßte de Wette selbst nicht. Weder für die Anfänge noch für die späteren Entwicklungsstufen liegen zusammenhängende Abhandlungen vor. Zwei für die weitere Ausbildung jener Disziplin grundlegende Einsichten finden sich jedoch, die abschließend herausgestellt werden sollen: Zum einen dringt de Wette auf die Unterscheidung von altem Hebraismus und späterem Judentum, die für die alttestamentliche Forschung bis heute von grundlegender Bedeutung geblieben ist.351 In seiner 1813 erstmals erschienenen ‚Biblische[n] Dogmatik Alten 350 De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament II, 103. 351 Vgl. zu dieser Unterscheidung und ihrer Herkunft Lothar Perlitt,
Hebraismus – Deuteronomismus – Judaismus, in: Georg Braulik / Walter Groß / Sean McEvenue (Hgg.), Biblische Theologie und gesellschaftlicher Wandel. Für Norbert Lohfink, Freiburg / Basel / Wien 1993, 279–295 und Uwe Becker, Altisrael, Judentum und Pharisäismus bei Julius Wellhausen, in: Barth / Barth / Osthövener (Hgg.), Christentum und Judentum, 561–573. Becker macht darauf aufmerksam, daß die zumeist mit dem Namen Wellhausen verbundene Unterscheidung auf de Wette zurückgehe, von dem er die „meisten Anregungen auf literarhistorische[m] Ge-
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und Neuen Testaments‘352 wird dieser Unterschied am prägnantesten formuliert, wobei de Wette gegenüber den von ihm als spät beurteilten Entwicklungen eine sehr abwertende Terminologie verwendet: „Das Judenthum ist entarteter, erstarrter Hebraismus. Die charakteristischen Merkmale sind: 1) die Freyheit von Metaphysik und Mythologie ist aufgegeben. 2) Neben der mißverstandenen Symbolik eine schriftliche Religionsautorität, ohne selbständige Productivität. Daher 3) während der Hebraismus Sache des Lebens und Gewissens war, ist das Judenthum Sache des Begriffs, des Buchstabenwesens.“353 Das heißt: Die ursprüngliche Religion Israels zeichnete sich seiner Meinung nach durch eine bunte Vielzahl von Kulten und Riten aus, die nicht in ein dogmatisches System eingezwängt waren und daher den je verschiedenen Bedürfnissen besser gerecht werden konnten. Demgegenüber habe das nachexilische Judentum – teilweise durch Fehlinterpretationen der eigenen religiösen Traditionen – die Lebendigkeit und Unmittelbarkeit der alten Glaubenszeugnisse verloren und stattdessen ein formalistisches und restriktives System religiöser Überzeugungen und Praktiken ausgebildet.354 Unbeschadet der überdeutlichen pejorativen Wertung des Judentums – wofür noch zahllose weitere Belege angeführt werden könnten – und der Hochschätzung des Hebraismus durch de Wette, ist nicht zu übersehen, daß mit dieser Unterscheidung eine wichtige Differenzierung für das historische Verständnis der alttestamentlichen Religion vorgenommen wurde. Doch nicht nur mit dieser Unterscheidung hat de Wette prägend gewirkt, sondern auch mit biet“ (a. a. O., 568) empfangen habe. Im Hinblick auf die Unterscheidung von altem Israel und Judentum hält Becker fest: „Betrachtet man die Forschungssituation […], so ist in der Tat längst eine Rückkehr zu Wellhausen erfolgt […]. Dies gilt für den literargeschichtlichen Ansatz, der das Alte Testament als ein in sukzessiven Fortschreibungsvorgängen gewachsenes Zeugnis einer Theologie- und Religionsgeschichte verstehen gelehrt hat: das Alte Testament als Überlieferungsliteratur. Es gilt aber auch für die Grundeinschätzung des Alten Testaments als eines Buches des Judentums des Zweiten Tempels, das aus dem alten Israel hervorgewachsen ist: der gemeinorientalische Charakter des alten Israel und die Besonderheit des nachexilischen Judentums.“ (A. a. O., 562, Hervorhebung im Original) 352 Neben der grundsätzlichen Unterscheidung der Religion des Alten von der des Neuen Testaments (vgl. de Wette, Biblische Dogmatik des Alten und Neuen Testaments I, 34–193 und 194–306), wird innerhalb ersterer die ‚Dogmatik des Hebraismus‘ (vgl. a. a. O., 34–113) von der ‚Dogmatik des Judenthums‘ (vgl. a. a. O., 114–193) getrennt behandelt. 353 A. a. O., 114. 354 Es verwundert daher nicht, wenn de Wette Parallelen zwischen der mosaischen Lehre und der Verkündigung Jesu sieht, nicht dagegen zum Judentum – insbesondere in seinen späteren Ausprägungen des Pharisäismus, Sadduzäismus und den Essenern: „Zum Mosaismus verhält sich das, was Jesus unter die Menschen einführen wollte, wie das Innere zum Aeußern, die Idee zum Bild. Nur gegen die symbolische Darstellung und die fixirte Ansicht jener Religion ist Jesus im Gegensatz, mit dem Geist derselben aber in Harmonie. Es ist der geistig wiedergeborne Prophetismus, der ihn beseelt. Dagegen schneidender Gegensatz gegen den Pharisäismus, d. i. gegen den Mosaischen Formalismus, wiewohl in der Unsterblichkeitslehre Uebereinstimmung. Mit den Sadducäern in der reinern ethischen Ansicht […] und in Verwerfung des Traditionswesens Verwandschaft, in der Unsterblichkeitslehre aber Differenz. Mit dem Essenismus ebenfalls in der ethischen Ansicht einige Uebereinstimmung, aber Gegensatz gegen den Ceremoniengeist desselben.“ (A. a. O., 199 f.)
4. Die Interpretation des Alten Testaments
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dem darin implizierten Verfallsschema, welches vielfach übernommen wurde.355 In der Frühzeit ein vielfältiges kulturelles Leben, in der Spätzeit dagegen geistige Öde – so nicht nur de Wettes Einschätzung.356 Zum anderen stellt de Wette bereits in seinen ‚Beiträge[n] zur Einleitung in das Alte Testament‘ Thesen zur ältesten rekonstruierbaren Geschichte Israels auf, die in der Folgezeit breit rezipiert und lange Zeit maßgebend für die kritische Darstellung der ‚Geschichte Israels‘ wurden. Ihnen wenden wir uns abschließend zu: Erstens stellt de Wette die Hypothese auf, daß ohne eine zentral institutionalisierte Herrschaftsinstanz, die erst mit dem Königtum Davids und Salomos greifbar sei, auch kein zentrales Nationalheiligtum bestanden haben könne.357 Damit ist die Annahme einer monotheistischen Religion in der Frühzeit Israels nicht mehr zu halten. Neben ‚Jehovah‘ muß es noch andere Götter gegeben haben, die verehrt wurden. Zweitens kennzeichne eine große religiöse Vielfalt diese frühe Stufe der israelitischen Geschichte, was de Wette unter dem Schlagwort ‚Freiheit des Gottesdienstes‘ verhandelt: „Wie bey den Patriarchen und homerischen Griechen, war Gottes freier Himmel sein Tempel, jede Mahlzeit ein Opfer, jede feierliche und merkwürdige Gelegenheit ein Fest, und jeder Prophet, König und Hausvater ohne weitere Umstände Priester.“358 Daran knüpft die dritte These an, in der de Wette auf die Bedeutung des Priestertums eingeht. Mit der Errichtung des Königtums durch David müsse irgendeine Form ritueller religiöser Zeremonien am Hof eingeführt worden sein. Dafür mag es zwar auch den einen oder anderen Priester gegeben haben. Aber eine festgefügte Priesterkaste oder gar die Position des Hohepriesters bildete sich erst allmählich heraus. Viertens hält de Wette fest: Auch nach der Errichtung des einen Staatstempels sei davon auszugehen, daß weiter „auf den Höhen ()במה, auf Hügeln und unter Bäumen“359 geopfert wurde. Religionsgeschichtlich bedeutete die Etablierung eines zentralen staatlichen Kults keine plötzliche Abwendung 355 So referiert Wellhausen in der Einleitung seiner ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘ den Stand der Forschung folgendermaßen, wobei für ihn die vorexilische Zeit die des alten Israels und die nachexilische die des Judentums ist: „Es ist eine verbreitete Ansicht, dass die Bücher des Alten Testaments, im Ganzen und Grossen, sich nicht bloss auf die vorexilische Periode beziehen, sondern auch aus ihr stammen. Es sind die Reste, meint man, welche die Juden aus der Literatur des alten Israel retteten, das Erbe der Vergangenheit, von dem sie in Ermangelung eigenen geistigen Lebens zehrten. Auch wenn man nicht grade mit der Dogmatik das Judentum einfach als ein Vacuum betrachtet, über welches hinweg das Alte Testament ins Neue mündet, hält man doch insgeheim daran fest, dass dasselbe an der Hervorbringung der Schriften, welche es in die heilige Sammlung aufnahm, nur ausnahmsweise einen Anteil gehabt habe.“ (PzGI1 1) 356 Vgl. dazu Klaus Beckmann, Die fremde Wurzel. Altes Testament und Judentum in der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts (FKDG 85), Göttingen 2002. 357 „Bis zu David und Salomo ist an kein Nationalheiligthum zu denken, wo Jehovah allein verehrt werden mußte.“ (De Wette, Beiträge zur Einleitung in das Alte Testament I, 254, Hervorhebung im Original) 358 A. a. O., 255. 359 A. a. O., 256.
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Kapitel I: Wilhelm Martin Leberecht de Wette
von alten Traditionen, sondern diese bestanden noch lange fort – unbeeinflußt von den zentralen rituellen Handlungen am Königshof. Der öffentliche Staatskult, fünftens, dürfte daher viel schlichter ausgefallen sein, als den chronistischen Berichten zu entnehmen ist. Von einem breiten geistlichen Einfluß der am königlichen Hof wirkenden Priester auf die Bevölkerung könne nicht gesprochen werden und erst recht nicht von irgend einer Form hierarchischer Gewaltausübung durch sie.360 Und schließlich nimmt de Wette, sechstens, auf die in seiner Dissertation gemachte eigene Entdeckung nochmals Bezug, wenn er festhält: „Dieser ganze Zustande der Freiheit […] nimmt ein Ende mit der Findung des Gesetzbuchs unter Josia.“361 Das hier gemeinte Deuteronomium ist das Produkt eines voll ausgebildeten Staatswesens. Daß es zur Zeit des Königs Josia nicht nur gefunden, sondern auch abgefaßt wurde, war und ist die bis heute mit dem Namen de Wettes verbundene Erkenntnis, die in seiner ‚Dissertatio‘ angelegt war und die er mit den ‚Beiträge[n] zur Einleitung in das Alte Testament‘ fundierte. Sie bewog Wellhausen gegenüber Rudolf Otto zu der immer wieder zitierten Aussage über de Wette: „Ein gescheiter Kerl! Was ich im alten Testamente gemacht habe, steht ja alles schon bei ihm“.362
360 Ursprünglich hatten „die Priester keine hierarchische Gewalt und keinen Einfluß auf das Volk“ – und de Wette geht sogar so weit, ihnen zu unterstellen, „daß sie selbst an der Beobachtung des Tempeldienstes nicht sehr fest halten mochten“ (A. a. O., 257). 361 A. a. O., 258. 362 Otto, Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, 130.
Kapitel II
Johann Friedrich Leopold George – Die überlieferungsgeschichtliche Bedeutung von Fest und Kult 1. Werkbiographische Skizze 1.1. Wer war George? Zu den in Vergessenheit geratenen Forschern der alttestamentlichen Wissenschaft gehört ohne Zweifel Johann Friedrich Leopold George (1811–1873). In den neueren theologischen Nachschlagewerken ist sein Name nicht mehr verzeichnet. Lediglich in der ersten Auflage des Lexikons ‚Die Religion in Geschichte und Gegenwart‘ ist ein kurzer Artikel über ihn zu finden.1 Dabei wird seinen Forschungen zum Alten Testament keineswegs eine geringe Bedeutung beigemessen, wenn es anerkennend heißt: „Sein Name ist neuerdings wieder in der Pentateuchkritik zu Ehren gezogen worden, sofern sein Jugendwerk: Die älteren jüdischen Feste mit einer Kritik der Gesetzgebung des Pentateuchs, 1835, in gewissem Sinne eine Vorausnahme der heute in weitem Umfange zur Herrschaft gelangten sogenannten Grafschen Hypothese bedeutet“2. In Henning Graf Reventlows ‚Epochen der Bibelauslegung‘ ist sein Name nicht einmal erwähnt, der profunde Kenner der alttestamentlichen Forschungsgeschichte John William Rogerson, der mit zahlreichen Publikationen auf diesem Gebiet hervorgetreten ist, schreibt seinen Namen falsch.3 Bekannt geblieben ist George dagegen als Mitherausgeber der Werke Schleiermachers.4 Für die erste Auflage der Allgemeinen Deutschen Biographie, erschienen 1878, hat Gabriel Adolf August Wilhelm Häckermann (1819–1891) die wesentlichen biographischen Daten zusammengetragen. Geboren und aufgewachsen ist George in Berlin. Trotz Herkunft aus einfachen Verhältnissen besuchte er 1 Alfred Bertholet, Art. George, Johann Friedrich Leopold, in: RGG[1] 2 (1910), 1302 f. In gekürzter Fassung nochmals abgedruckt in: RGG2 2 (1928), 1030. – Zur Biographie und den weiteren Veröffentlichungen Georges vgl. Gabriel Adolf August Wilhelm H äckermann, Art. George, Johann Friedrich Leopold, in: ADB 8 (1878), 710–712. 2 Bertholet, Art. George, Johann Friedrich Leopold, 1303. 3 Vgl. Henning Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung IV; John William Rogerson, Old Testament Criticism in the Nineteenth Century. England and Germany, London 1984, 63. 4 Vgl. Hans-Joachim Birkner, Die Kritische Schleiermacher-Ausgabe zusammen mit ihren Vorläufern vorgestellt, in: Ders., Schleiermacher-Studien. Eingeleitet und hg. v. Hermann Fischer (SchlAr 16), Berlin / New York 1996, 309–335, bes. 314.
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Kapitel II: Johann Friedrich Leopold George
acht Jahre lang das Friedrichwerdersche Gymnasium, eine der renommiertesten höheren Schulen Berlins und Preußens. George schloß mit sehr guten Ergebnissen die Schulzeit ab. Wohl zum Wintersemester 1829 / 30 dürfte er an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin mit dem Studium der Theologie begonnen haben. Wilhelm Martin Leberecht de Wette war zu dieser Zeit schon Professor in Basel. Nachfolger de Wettes wurde, nach dem zwischenzeitlichen Wirken Friedrich August Gottreu Tholucks (1799–1877), der ab dem Jahr 1828 zum ordentlichen Professor berufene Vertreter des lutherischen Konfessionalismus Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869). Da der Weg von Hengstenberg als damaligem Alttestamentler in Berlin und dessen orthodoxer Bibelhermeneutik hin zu den Forschungen Grafs und Wellhausens – in deren Vorgeschichte George eingeordnet wird – keinesfalls selbstverständlich ist, soll hier etwas weiter ausgeholt werden, um das damalige geistige Milieu an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu erhellen. Dies dient nicht zuletzt dazu, um ein wenig Licht auf die größtenteils im Dunkeln liegende Biographie Georges zu werfen. Denkt man an Wegbereiter der sogenannten Grafschen Hypothese, so ist an erster Stelle an den schon behandelten de Wette zu erinnern. Auch George ist eindeutig der von diesem begründeten Richtung der kritischen Erforschung des Alten Testaments zuzurechnen. Dies sah er auch selbst so. Ebendieser de Wette war der Alttestamentler an der 1809 neu gegründeten Universität in Berlin gewesen, welcher neben Schleiermacher, der seinen Schwerpunkt im Neuen Testament sah, und dem vor allen für Kirchen- und Dogmengeschichte zuständigen Philipp Konrad Marheineke (1780–1846) zunächst die Theologische Fakultät bildete.5 Schleiermacher als Dekan der Theologen gehörte zu den Aushängeschildern der neuen Universität. Berlin erwarb sich raschen Ruhm, denn neben Schleiermacher gewann sie schon in der Anfangszeit Professoren wie Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) in der Philosophie, August Boeckh (1785–1867) als klassischen Philologen, den Historiker Barthold Georg Niebuhr (1776–1831), den Juristen Friedrich Karl von Savigny (1779–1861) und den damals hochgehandelten Altphilologen Friedrich August Wolf (1759–1824).6 In der Theologie wurde 1813 zudem der der Erweckungsbewegung nahestehende Johann August Wilhelm Neander (1789–1850) für Kirchen- und Dogmengeschichte berufen7, so daß die Theologische Fakultät zu den Studienzeiten 5 Zur
Errichtung der Universität in Berlin vgl. Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1. Gründung und Ausbau, Halle 1910, zu den Erstberufungen bes. 220–227. 6 Vgl. Kurt Nowak, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, bes. 215–223. 7 „Neben ihnen [gemeint sind Schleiermacher, Marheineke, de Wette und Neander, Anm. M. G.] haben in dieser Zeit nur noch an ihr gewirkt Bellermann, der 1816 zum Extraordinarius befördert wurde, und zwei Privatdozenten, Lücke und Sack, welche im Sommer 1816 und Winter 1817 / 18 hinzutraten, aber schon vor der Entsetzung De Wettes wieder aus-
1. Werkbiographische Skizze
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Georges aus Schleiermacher, Marheineke, Neander und Hengstenberg bestand. Dazu war 1821 noch der Hof- und Domprediger Gerhard Friedrich Abraham Strauß (1786–1863) in die Fakultät eingetreten. Er lehrte Praktische Theologie und in seiner Person meldete die damalige Erweckungsbewegung ihre Ansprüche an. In der Philosophie lehrte der 1817 als Nachfolger Fichtes nach Berlin berufene Hegel, zu dessen Schule George zuweilen gerechnet wurde.8 Zwar ging die Universitätsgründung auf das Reformideal der umfassenden Persönlichkeitsbildung des Sprachwissenschaftlers Wilhelm von Humboldt (1767–1835) zurück, dessen Feindbild das staatsutilitaristische Bildungsideal des Reformabsolutismus war und dem es um eine freiheitliche und zweckfreie allgemeine Menschenbildung ging. Aber gerade an der Theologischen Fakultät war in den darauffolgenden Jahren eine Abwendung davon zu spüren. Hierfür steht geradezu exemplarisch der damals großes Aufsehen erregende Fall der Absetzung de Wettes, der im Zuge der auf die Befreiungskriege folgenden sogenannten ‚Reaktion‘ in Preußen als Professor entlassen wurde.9 Dies geschah aufgrund eines Beileidsbriefes de Wettes an die ihm persönlich bekannte Mutter Karl Ludwig Sands, der den damals berühmten Schriftsteller und Gesandten August Kotzebue ermordet hatte. Der Brief war durch eine Indiskretion in die Öffentlichkeit gelangt und hatte für großes Aufsehen gesorgt, so daß de Wette aufgrund der damaligen angespannten politischen Lage nicht mehr zu halten war.10 Dies zeugt jedoch auch von einer Veränderung des geistigen Milieus in Berlin und dem entstehenden Deutschland, denn er, einer der führenden – kritischen – Theologen seiner Zeit, fand lediglich noch in der Schweiz eine Anstellung: „The Prussian court, dominated by pietistic, conservative churchmen, did its utmost to discourage the development of biblical criticism and to ensure that ‚orthodox‘ professors were appointed to universities under its control.“11 Auch wenn diese Gegenüberstellung von historischer Bibelwissenschaft einerseits und wie auch immer gearteter ‚orthodoxer‘ Theologie andererseits die kompleschieden, so daß die Fakultät wieder auf ihre ursprüngliche Zahl reduziert war.“ (Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 1, 611, Hervorhebungen im Original) 8 Vgl. Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin 2.1. Ministerium Altenstein, Halle 1910, 484. Dort wird auch von einer Freundschaft zwischen George und dem später zu behandelnden Vatke berichtet: George, so schreibt Lenz, „der von Schleiermacher zu Hegel hinübergegangen war, zwischen denen hindurch er seinen Weg suchte“ habe sich durch Hegel nicht von der Theologie abbringen lassen, sondern sei darin fortgefahren, „seine theologischen Interessen, gleich seinem Freund Vatke, in wertvollen kritischen Arbeiten über das alte Israel zu betätigen“ (ebd). 9 Zum Umfeld de Wettes vgl. John William Rogerson, De Wette, Jahn und Sand. Ihre Beziehungen im Licht neuer Forschungen, in: Keßler / Wallraff (Hgg.), Biblische Theologie und historisches Denken, 212–225. 10 Vgl. dazu Rogerson, W. M. L. de Wette, bes. 149–159. 11 John William Rogerson, Protestant Biblical Scholarship on the European Continent and in Great Britain and Ireland, in: HBOT 3.1 (2013), 203–222, 205.
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Kapitel II: Johann Friedrich Leopold George
xe Situation etwas holzschnittartig verallgemeinert, so bringt sie doch gut die damals weitverbreiteten Vorbehalte gegenüber jeglicher Art von Kritik, inklusive kritischer wissenschaftlicher Forschung, zum Ausdruck. Trotz größerer Anstrengungen der staatsleitenden Institutionen scheint dies an der theologischen Fakultät jedoch keinen sämtliche Denkrichtungen uniformierenden Einfluß auf die neu heranwachsende Generation von Theologen gehabt zu haben. Unter diesen sich wandelnden Bedingungen studierte George in Berlin. Welche Veranstaltungen er besuchte, läßt sich nicht mehr rekonstruieren. Lediglich die summarische Notiz findet sich, daß er „vornehmlich Schleiermacher und Neander“12 hörte. Vielleicht gibt es vermittelt über den Erstgenannten eine Beziehung zu David Friedrich Strauß (1808–1874) und dessen kritischer Theologie, der im Wintersemester 1831 / 32 bei Schleiermacher die Vorlesung zur Einführung in das theologische Studium gehört hatte.13 Dafür spricht immerhin der biographische Abriß Häckermanns, in dem es heißt, daß George sich Schleiermacher „mit der ganzen Gluth jugendlicher Begeisterung angeschlossen und dessen philosophische und theologische Vorlesungen […] nie versäumt“14 habe.15 Auch nach de Wettes Rauswurf muß es so etwas wie einen Kreis von Anhängern der sogenannten kritischen Theologie in Berlin gegeben haben, zu dem auch der später zu behandelnde Wilhelm Vatke gehört haben dürfte.16 12
Häckermann, George, Johann Friedrich Leopold, 710. „In seinen Vorlesungen zur ‚Enzyklopädie‘ hatte Schleiermacher das kleine Kompendium in den Jahren von 1811 bis 1829 in Gebrauch. Im Wintersemester 1831 / 32 las er sein Kolleg erstmals auf der Grundlage der Version von 1830. Der nachmals prominenteste Hörer war der jugendliche David Friedrich Strauß. Aus seiner Feder ist eine Kolleghandschrift erhalten, die wertvolle Einblicke in die Art von Schleiermachers mündlicher Entfaltung der Paragraphen und Erläuterungen gewährt.“ (Nowak, Schleiermacher, 225. Zur Entstehung der ‚Kurzen Darstellung des theologischen Studiums‘ vgl. a. a. O., 223–234) 14 Häckermann, George, Johann Friedrich Leopold, 710. 15 Nach der von Andreas Arndt und Wolfgang Virmond erstellten Liste der Vorlesungen Schleiermachers hätte er demnach folgende hören können: „Die dogmatische Theologie … nach seinem Buch: der christliche Glaube“ (SS 1830, zweistündig), „Die Lehre von der Seele“ (SS 1830), „Die praktische Theologie“ (WS 1830 / 31), „Die Christliche Sittenlehre“ (SS 1831), „Die theologische Encyclopädie … nach seiner kurzen Darstellung des theol. Studiums (2. Aufl.)“ (WS 1831 / 32), Das „System der Sittenlehre“ (SS 1832), „Die allgemeinen Grundsätze der Hermeneutik und Kritik und deren Anwendung auf das N[eue] T[estament]“ (WS 1832 / 33), „Die Ästhetik“ (WS 1832 / 33), „Die praktische Theologie“ (SS 1833), „Die philosophische Lehre vom Staat“ (SS 1833), „Kirchliche Statistik“(WS 1833 / 34) und „Die Seelenlehre“ (WS 1833 / 34). – Vgl. Andreas Arndt / Wolf-gang Virmond (Hgg.), Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis) nebst einer Liste seiner Vorlesungen (SchlAr 11), Berlin / New York 1992. Nicht aufgezählt sind die exegetischen Vorlesungen zum Neuen Testament. Alle aufgelisteten Vorlesungen fanden fünfmal wöchentlich, und bis auf eine Ausnahme, je einstündig statt. 16 Belegen läßt sich kaum etwas, immerhin findet sich eine Rezension Vatkes zu Georges alttestamentlichem Hauptwerk: Vgl. Wilhelm Vatke, Rez.: Johann Friedrich Leopold George, Die älteren Jüdischen Feste mit einer Kritik der Gesetzgebung des Pentateuch dargestellt, Berlin 1835, in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik (1836), 857–863. 13
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George wurde 1833 promoviert17 und ein Jahr später an der philosophischen Fakultät zu Berlin habilitiert.18 Schon bei Häckermann und bis heute19 wird daraus der Schluß gezogen, daß ihn Zweifel am christlichen Glauben und an der theologischen Wissenschaft zu einem Wechsel in die Orientalistik bewogen hätten. Mit dem selben Recht läßt sich jedoch auch die These vertreten, daß er eine Professur an einer theologischen Fakultät anstrebte. Dafür spricht der von ihm eingeschlagene und damals gängige Weg der philosophischen Promotion. Dafür spricht zudem die auf dieselbe folgende Beschäftigung mit dem Alten Testament, aus der die Veröffentlichung seiner einzigen genuin theologischen Publikation hervorging: ‚Die älteren Jüdischen Feste mit einer Kritik der Gesetzgebung des Pentateuch dargestellt‘20. Mit der kritischen Stoßrichtung seiner exegetischen Arbeit zum Alten Testament hatte George in der damaligen Zeit keine Chance. Forschungsstrategisch hatte er sich als ein der historisch-kritischen Bibelexegese verpflichteter Theologe ins Abseits manövriert, da er gegen die damals zumindest an der Universität Berlin allein das Feld beanspruchende konfessionell-lutherische Bibelexegese Stellung bezog – auch wenn die These des Buches im Hinblick auf die Forschungen zum Alten Testament in der Folgezeit, zu denken ist insbesondere an Wellhausen, einen wichtigen Schritt darstellte, daß nämlich die heute sogenannte priesterschriftliche Gesetzgebung später als das Deuteronomium entstanden sei. Selbst ein Theologe wie de Wette stand dieser von George ins Gespräch gebrachten Modifikation der damaligen Hypothesen zu den Quellen des Pentateuchs ablehnend gegenüber. In einer Sammelrezension bemerkt de Wette dazu: „Die Aufzeichnung der mosaischen Sagen und Gesetze ging unstreitig Hand in Hand. Die Entstehung der Gesetzgebung der mittlern mosaischen B[ücher] in der Zeit nach dem Exil erscheint mir als ganz unbegreiflich, noch unbegreiflicher, als wenn man sie von Mose ableitet.“21 Daß George ins17
De Aethiopum imperio in Arabia felici, Berlin 1833.
18 Häckermann, George, Johann Friedrich Leopold, 710. 19 Vgl. nur Rogerson, Old Testament Criticism in the Nineteenth
Century, 64, wo es heißt: „However, George appears to have lost his Christian faith, and to have deserted the theology of Schleiermacher for the philosophy of Hegel.“ 20 Erschienen in Berlin, 1835. 21 Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Rez.: Wilhelm Vatke, Die Religion des Alten Testamentes nach den kanonischen Büchern entwickelt 1 / Johann Friedrich Leopold George, Die älteren Jüdischen Feste mit einer Kritik der Gesetzgebung des Pentateuch dargestellt / Peter von Bohlen, Die Genesis, historisch-kritisch erläutert, in: ThStKr 10 (1837), 947–1003, 971. Und noch schärfer formuliert er pauschal über George sowie Vatke und Peter von Bohlen: „Unsere Kritiker bauen Vieles, wenn nicht Alles, auf den Grundsatz, daß das Vollendete, consequent Durchgeführte der spätern Zeit angehöre und die Frucht einer geschichtlichen Entwicklung sey. Aber dieser Grundsatz, so einleuchtend er an sich seyn mag, wird in der Anwendung auf die israelitische Gesetzgebung keine allgemeine Anwendung finden.“ (Ebd.) Deutlich äußert sich in diesem Urteil, daß de Wette in romantischen und schellingschen Bezügen steht und daß er kein rechtes Verhältnis zur Geschichtsphilosophie Hegels finden mochte.
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besondere bei Hengstenberg als dem Berliner Alttestamentler nicht gut angekommen sein dürfte und von ihm keine Unterstützung im Hinblick auf seine akademische Karriere zu erwarten hatte, ist kaum verwunderlich. Verstand Hengstenberg sich doch als der Erweckungsbewegung zugehörig, wobei es ihm um eine Erneuerung der lutherischen Orthodoxie ging und er als Grundprinzip seiner Theologie die nicht zu hinterfragende Autorität der Heiligen Schrift als des Wortes Gottes annahm.22 Schließlich dürfte die Diskussionslage im Jahr des Erscheinens sämtliche akademischen Ambitionen Georges in der Theologie begraben haben. Den Kern des Problems treffend beschreibt Friedrich Wilhelm Graf die damalige Lage in pointierter Weise: „1835 ist für das theologische Bewußtsein ein Datum, dessen Bedeutung es nur durch die Metaphern von Krieg, Krise, Fatum, Katastrophe und Revolution auszudrücken vermag.“23 Insbesondere ist damit die nach dem Erscheinen des ersten Bandes der kritischen Bearbeitung des ‚Lebens Jesu‘ von David Friedrich Strauß24 einsetzende hochideologisch geführte Diskussion um das Recht der mythischen Interpretation gemeint, die auch Georges Buch zu den israelitischen und jüdischen Festen in negativer Weise betroffen haben dürfte. Davon zeugt auch die nur als selbstapologetischer Rettungsversuch zu wertende Veröffentlichung Georges, die zwei Jahre später erschien: ‚Mythus und Sage. Versuch einer wissenschaftlichen Entwicklung dieser Begriffe und ihres Verhältnisses zum christlichen Glauben‘25. Eine Begriffsklärung findet sich eher am Rande. Doch schon im Vorwort nimmt George Bezug auf die von Strauß angestoßene Diskussion, betont seine Überzeugung „von der Alles überwindenden Gewalt des Glaubens an die Erlösung durch Jesum Christum“26, nimmt bei der Erörterung der Begriffe ‚Mythos‘ und ‚Sage‘ immer wieder in rechtfertigender Weise Bezug auf das eigene Werk zu den israelitischen und jüdischen Festen und endet schließlich seine Ausführungen mit Reflexionen zur Bedeutung des ‚Mythus‘ für den ‚Dienst am göttlichen Wort‘27. In der Theologie war trotzdem kein Fortkommen. Bereits 1836 hatte er deshalb begonnen, an verschiedenen Gymnasien in Berlin als Lehrer zu arbeiten. 22 Vgl.
zu Hengstenberg: Matthias A. Deuschle, Ernst Wilhelm Hengstenberg. Ein Beitrag zur Erforschung des kirchlichen Konservatismus im Preußen des 19. Jahrhunderts (BHTh 169), Tübingen 2013, sowie Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie 5, bes. 118–130 und Rudolf Smend, A Conservative Approach in Opposition to a Historical-critical Interpretation: E. W. Hengstenberg und Franz Delitzsch, in: HBOT 3.1 (2013), 494–520, bes. 495–509. 23 Friedrich Wilhelm Graf, Kritik und Pseudo-Spekulation. David Friedrich Strauß als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit (MMHST 7), München 1982, 24. Vgl. zudem ders., Art. Hengstenberg, Ernst Wilhelm, in: LThK3 4 (1995), 1421 f. 24 Zu Strauß vgl. a. a. O., bes. 11–47 und ders., Art. Strauß, David Friedrich, in: RGG4 7 (2004), 1774 f. 25 Berlin 1837. 26 A. a. O., V. 27 Vgl. a. a. O., 129–145.
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Parallel dazu erschienen in den folgenden Jahren eine Reihe von Veröffentlichungen – 1842 ‚Princip und Methode der Philosophie mit besonderer Rücksicht auf Hegel und Schleiermacher dargestellt‘28, wobei es ihm näherhin um eine Überbietung des Hegelschen Systems mit Hilfe der subjektivitätstheoretischen Methode Schleiermachers ging, 1844 dann das ‚System der Metaphysik‘29. Auch hier betont George mit Bezug auf Hegel und Schleiermacher, daß er sein eigenes Denksystem „auf ihrer Grundlage entwickelt habe“30, daß es ihm also um eine eigenständige Synthese mit besonderem Bezug auf diese beiden Denker geht. 1854 erschien dann sein ‚Lehrbuch der Psychologie‘31. Mag das gewählte Thema auf den ersten Blick auch verwundern, so stellt es für George doch eine konsequente Fortsetzung seiner bisherigen Überlegungen dar. „Mit besonderem Fleisse habe ich […] die Entwicklung des Bewusstseins ins Auge gefasst und darzustellen gesucht, wie es gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung sich selbstständig an den Gegenständen gestaltet, aber auch mit gleichem Nachdruck darauf hingewiesen, wie nur durch die Verknüpfung mit der sinnlichen Wahrnehmung ein Wissen zustande kommen kann, was durch die eingehende Betrachtung der einzelnen Momente des Glaubens und des Erkennens, wie ich hoffe, überzeugend durchgeführt ist.“32 Ganz dem Programm einer erkenntnistheoretischen Psychologie verschrieben, definiert sie George daher folgendermaßen: Sie „hat die Aufgabe, die Bedeutung beider [des Denkens und der sinnlichen Wahrnehmung, Anm. M. G.] in ihren bestimmten Grenzen aufzuzeigen, sie scharf zu sondern und doch ihre gegenseitige Beziehung und Wechselwirkung in das rechte Licht zu setzen“33. Damit versucht George, auch das mit der kantischen Lehre von der Zweistämmigkeit der Erkenntnis verknüpfte Problem einer Lösung zuzuführen. Neben diesen Publikationen bot George während der Zeit als Lehrer zudem regelmäßige Lehrveranstaltungen in der Philosophie an. „Nach langem Harren ward er am 10. Januar 1856 als Extraordinarius und am 1. November 1858 als Ordinarius nach Greifswald berufen.“34 Hierbei handelte es sich nun jedoch nicht um eine Professur in der theologischen Fakultät, sondern in der Philosophie – was vor dem Hintergrund leicht verständlich ist. Man wird wohl sagen können, daß George sich vom 28
Erschienen in Berlin. erschienen in Berlin. – Zur Subjektivitätstheorie Schleiermachers vgl. Ulrich Barth, Christentum und Selbstbewußtsein. Versuch einer rationalen Rekonstruktion des systematischen Zusammenhanges von Schleiermachers subjektivitätstheoretischer Deutung der christlichen Religion (GTA 27), Göttingen 1983 und Florian Priesemuth, Grund und Grenze des Verstehens. Theologie und Hermeneutik im Anschluss an Friedrich Schleiermacher (SchlAr 32), Berlin / Boston 2020, bes. 126–135. 30 A. a. O., VI. 31 Ebenfalls in Berlin. 32 A. a. O., IV. 33 Ebd. 34 Häckermann, George, Johann Friedrich Leopold, 711. 29 Ebenfalls
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Alten Testament ab- und philosophischen Fragen zugewendet hat. Sein spätes Hauptwerk, das er als Professor in Greifswald veröffentlichte, ist ‚Die Logik als Wissenschaftslehre dargestellt‘35. Der in der Forschung gelegentlich geäußerten These, daß hinter Georges Wechsel von der Theologie in die Philosophie Glaubenszweifel stünden, die sich zudem an seinem Übergang von Schleiermacher zu Hegel ablesen ließen, fehlt damit die Grundlage. Richtigerweise ist festzuhalten, daß für seine eigenständigen und kritischen Forschungen in der damaligen Zeit kein Platz war. Dahinter Zweifel am Glauben und der Rechtgläubigkeit Georges zu vermuten, stellt eine unzulässige Psychologisierung dar, die seinem Wirken bis heute einen Stempel aufdrückt, der allein seiner Marginalisierung dient. Der rein äußerlich konstatierte Befund eines Übergangs, der ihn von einem Anhänger Schleiermachers zu einem Anhänger Hegels habe werden lassen, geht zudem an den Äußerungen Georges vorbei. Nicht nur hat er sich noch während seiner Greifswalder Zeit um den Schleiermacherschen Nachlaß bemüht und im Rahmen der ‚Sämmtlichen Werke‘ 1862 dessen ‚Psychologie‘ herausgegeben. Auch noch die ‚Logik als Wissenschaftslehre‘ ist Schleiermacher zu seinem einhundertsten Geburtstag „in tiefster Verehrung und Dankbarkeit gewidmet“36. Der junge Wellhausen schrieb in einem Brief vom 28. August 1874 an Abraham Kuenen über seine zukünftigen Forschungsvorhaben: „Wenn ich kann, werde ich in den nächsten Jahren ein Buch schreiben, betitelt etwa: ‚das Gesetz und die Propheten‘, darin natürlich noch einmal in die alte Kerbe hauen – man kann die Wahrheit nicht oft genug sagen – und es Vatke’n zueignen. Gewiss wird ihn das freuen; der jetzt verstorbene Professor George in Greifswald war völlig erstaunt und ganz gerührt darüber, dass ich sein Buch über die Festgesetzgebung gelesen und viel daraus gelernt hätte – er selbst, ebenfalls von seinem urspr. Studium abgedrängt, hatte sein eigenes Werk längst vergessen.“37 Dies ist der einzige Verweis auf George in den überlieferten Briefen Wellhausens. Bei der ‚alten Kerbe‘ handelt es sich um die Frage nach den verschiedenen Quellenschichten im Alten Testament und ihrem Verhältnis zueinander. Den Plan hat Wellhausen 1878 mit dem (allein erschienenen) ersten Band seiner ‚Geschichte Israels‘38 verwirklicht – ab der zweiten Auflage dann unter dem Titel ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘39 –, auch wenn er das Werk seinem Lehrer Heinrich Ewald widmete und nicht Vatke. Und auch wenn George das eigene Jugendwerk zum Alten Testament ‚vergessen‘ hatte, blieben seine Thesen doch wegweisend. 35
Erschienen im Berlin 1868.
36 A. a. O., III. 37 Julius Wellhausen,
Briefe, hg. v. Rudolf Smend, Tübingen 2013, 25. Erschienen in Berlin. (PzGI1) 39 Berlin 21883. (PzGI2) 38
1. Werkbiographische Skizze
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1.2. George und Julius Wellhausen Trotz seiner Marginalisierung in der Forschungsgeschichte verdienen die Thesen Georges eine eingehendere Erörterung. Er gehört mit seinem 1835 erschienenen Werk: ‚Die älteren Jüdischen Feste mit einer Kritik der Gesetzgebung des Pentateuch dargestellt‘40 zu den Initiatoren der literarkritischen Erforschung des Alten Testaments, für die insbesondere die Wellhausenschen Arbeiten zur Geschichte des alten Israels und des Judentums stehen.41 Wellhausen selbst verweist in den verschiedenen Auflagen der ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘ auf ihn als einen der ersten kritischen Theoretiker zur Entstehung des Pentateuchs. George gehört seiner Meinung nach zu den eigentlichen Begründern der kritischen Pentateuchforschung: „Die Hypothese, die man nach K. H. Graf zu benennen pflegt, stammt nicht von ihm, sondern von Leopold George und Wilhelm Vatke. Diese sind ihrerseits von Martin Leberecht de Wette ausgegangen, dem epochemachenden Eröffner der historischen Kritik auf diesem Gebiet.“ (PzGI1 4) Doch nicht nur dieser Verweis Wellhausens bei der Explikation seiner Problemstellung rechtfertigt eine eingehendere Beschäftigung mit diesem Werk. Denn auch wenn der Name George lediglich beiläufig in den ‚Prolegomena‘ erwähnt wird, so erfolgt doch eine intensive Auseinandersetzung und kritische Rezeption der von ihm herausgearbeiteten Entwicklung der im alten Israel und im Judentum gefeierten kultischen Feste. Der erste Teil der ‚Prolegomena‘ Wellhausens ist der Geschichte des Kultus gewidmet (PzGI1 15–174)42, wobei Georges Forschungen zu Fest und Kult keine ganz unmaßgebliche Rolle für diese Ausführungen gespielt haben dürften. Darüber hinaus ist Wellhausens Herausarbeitung und Spätdatierung der sogenannten priesterlichen Gesetzeskorpora, die die Grundlage seiner Darstellung bildet, ohne die Vorarbeit Georges nicht denkbar. Einleitend in die ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘ benennt Wellhausen das Grundproblem folgendermaßen: „Die Frage ist, ob das 40
Berlin, die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Werk. Wellhausen trennt die ‚israelitische‘ Geschichte von der ‚jüdischen‘, die er mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem beginnen sieht. George spricht dagegen durchgängig von ‚jüdisch‘. Möglicherweise handelt es sich dabei um einen Bezug auf Schleiermacher, der zwischen ‚alttestamentisch‘ und ‚jüdisch‘ unterscheidet. 42 Auch wenn die alttestamentliche Forschung als wissenschaftliche Disziplin mehr anderen Forschern zu verdanken habe: „Mehr [als George und Vatke, Anm. M. G.] haben wir Herder und Goethe auf der einen Seite, der von den Franzosen begründeten Sprachwissenschaft auf der anderen Seite zu verdanken. Nicht bloss in Eichhorn und Gesenius zeigen sich die Früchte, sondern auch in Ewald; hier um so mächtiger, weil mit einer urwüchsigen religiösen Anlage zusammentreffend und daraus selbständig wiedergeboren. Gesenius’ Commentar zum Jesaia und sein Thesaurus sind höchst geschmackvolle und solide Leistungen; der letztere in den Artikeln, die er gibt, auch als Reallexikon jedem anderen vorzuziehen. Ewald […] ist der Lehrer ohne Gleichen, von dessen Ideen die heutige semitische Philologie willig und widerwillig lebt; […]. Was ihm fehlte, war die methodische Kritik: in dieser Hinsicht ist in geschichtlicher Hinsicht de Wette-Vatke, in sprachlich-exegetischer Justus Olshausen als sein Correctiv anzusehen.“ (BEAT4 655 f., Hervorhebungen im Original) 41
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mosaische Gesetz der Ausgangspunkt sei für die Geschichte des alten Israel oder für die Geschichte des Judentums, d. h. der Sekte, welche das von Assyrern und Chaldäern vernichtete Volk überlebte.“ (PzGI1 1, Hervorhebungen im Original) Wellhausens knüpft unmittelbar an Georges Fragestellung an.
2. Die Rezeption der Festtheorie Friedrich Schleiermachers Ausgangspunkt für Georges Untersuchungen zu den von ihm sogenannten ‚älteren Jüdischen Feste[n]‘ ist eine grundlegende Kritik und Einordnung der Gesetzestexte des Alten Testaments in die durch jeweils unterschiedliche politische Gegebenheiten gekennzeichnete Geschichte des alten Israels und des Judentums. Zur Rekonstruktion der Religionsgeschichte des alten Israels komme – so George – den im Alten Testament erwähnten Festen eine Schlüsselrolle zu. Denn, so der erste Satz der Einleitung zu seinem Werk: „Die Feste sind zwar nur ein sehr kleiner Theil von dem ganzen bewegten Leben eines Volkes, […] aber es ist […] doch eben so wahr, daß, wie jedes Einzelne in einem großen Ganzen als ein Theil desselben erscheint, es doch auch das Ganze vollständig in sich und an sich hat.“ (1) Mit dem Ganzen meint George hier die (Religions-) Geschichte des alten Israels, begonnen bei den nicht mehr zu rekonstruierenden Anfängen bis hin zur jüdischen Gemeinde des zweiten Tempels, aus der dann das Christentum ‚hervorgegangen‘ ist. In diese Geschichte möchte George die Entwicklung der im Alten Testament erwähnten Feste einordnen. Nur im Falle des Vorliegens einer Idee vom historischen Fortgang und der damit einhergehenden Differenzierung der allgemeinen religiösen Vorstellungen ist es möglich – so die implizite These Georges –, die partikulare Entwicklung der jüdischen Geschichte nachzuvollziehen. Für die Rekonstruktion der Religionsgeschichte des alten Israels und des Judentums durch George spielen die kultischen Feiern des Volkes und ihre sich nach und nach ausbildenden institutionellen Verfestigungen eine ganz eigentümliche Rolle. Die besondere Bedeutung, die George den Festen zuspricht, verweist auf sein eingangs geschildertes Studium bei Schleiermacher zurück. Dessen Begriff des Festes ist in den letzten Jahren vor allem in praktisch-theologischen Arbeiten für eine Theorie des Gottesdienstes fruchtbar gemacht worden. So bestimmt Eberhard Jüngel den Gottesdienst als ‚Fest der Freiheit‘. Dabei sieht er sich vor folgende Aufgabe gestellt: „Es soll […] versucht werden, vom Ansatz der Glaubenslehre und damit zugleich von den philosophischen Grundbegriffen Schleiermachers aus, den theologischen Ort des Gottesdienstes und damit zugleich dessen Funktion im Gesamtzusammenhang menschlichen Lebens zu bestimmen.“43 Im Interesse der Verortung des Gottesdienstes als der zentralen kul43 Eberhard Jüngel, Der Gottesdienst als Fest der Freiheit. Der theologische Ort des Gottesdienstes nach Friedrich Schleiermacher, in: ZdZ 38 (1984), 264–272, 264.
2. Die Rezeption der Festtheorie Friedrich Schleiermachers
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tischen Feier des Christentums im allgemein-menschlichen Bewußtseinsleben erfolgt hier ein Rückgriff auf den späteren Schleiermacher. Mit der Betonung des Freiheitsaspektes dieser kultischen Veranstaltung möchte Jüngel ihn dabei als einen besonderen Ort und Vorgang verstanden wissen, der sämtlichen anderen menschlichen Zwängen und Anforderungen gegenübersteht. Und um noch eine zweite prominente Position herauszugreifen: Dietrich Rössler versteht den Gottesdienst – ebenfalls im Anschluß an Schleiermacher – als Fest, wobei er ihn durch ein doppeltes gekennzeichnet sieht: „[Z]unächst durch den ‚relativen Gegensatz‘ zum übrigen Leben und sodann durch das gemeinschaftliche Prinzip und die geschichtlichen Ursachen, aus denen es hervorgeht“44. Auch Rössler hebt auf die Besonderheit des Gottesdienst im menschlichen Leben ab und kennzeichnet ihn – wie Jüngel – als eine von allen Zwängen freie Veranstaltung. Es kann hier auf sich beruhen bleiben, ob die beiden Forscher mit der Fokussierung auf diesen Aspekt Schleiermacher gerecht werden. Ebenso kann hier nicht weiter auf die weiteren namhaft gemachten Gesichtspunkte der beiden Gottesdiensttheorien eingegangen werden. Gar nicht im Fokus des wissenschaftlichen Interesses standen bisher die Wirkungen der Schleiermacherschen Festtheorie in der alttestamentlichen Wissenschaft. Ihnen allein soll im Folgenden nachgegangen werden. Schleiermacher definiert den Begriff ‚Fest‘ folgendermaßen: „Wenn die Menschen sich indem sie die Arbeit und das Geschäft sistieren in größeren Massen zu einer gemeinschaftlichen Thätigkeit vereinen, so ist das ein Fest. Ein Fest behält nur seinen eigentlichen Charakter wenn es aus dem Gemeingeist und der geschichtlichen Ursache ein natürliches Erzeugniß ist, ohne Nebenabsicht und ohne eine besondere Wirkung zu bezwekken.“ Daher sind „Volksfeste nur da wirklich lebendig wo sie von selbst aus dem Volke ausgehen; wo aber Regierungen solche einsezen zu bestimmtem erziehendem Zwekk, da verliert sich das lebendige.“45 Neben dem bei Jüngel und Rössler herausgestellten Unterbrechungscharakter, der das Fest vom Alltag unterscheidet, ist vor allem ‚das gemeinschaftliche Prinzip‘ hervorzuheben. Denn gerade deshalb kommt dem Fest nach Schleiermacher eine besondere Bedeutung für den Aufbau einer Gemeinschaft zu. Beim Fest erfolgt eine Verschränkung aller Künste und eine gemeinsame Verdichtung der Stimmung aller Menschen. Hier tritt die Gestimmtheit aller zusammen und vereinigt sich zur Erlangung eines bestimmten Zwecks. Gerade dieser Aspekt des Festes ist es, der es für das Verständnis des 44 Dietrich Rössler, Unterbrechungen des Lebens. Zur Theorie des Festes bei Schleiermacher, in: Peter Cornehl / Martin Dutzmann / Andreas Strauch (Hgg.), „… in der Schar derer, die da feiern“. Feste als Gegenstand praktisch-theologischer Reflexion (FS Friedrich Wintzer), Göttingen 1993, 33–40, 33. 45 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Die praktische Theologie, nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt. Aus Schleiermachers handschriftlichem Nachlasse und nachgeschriebenen Vorlesungen hg. v. Jacob Frerichs (SW 1.13), Berlin 1850, 70, im Original hervorgehoben.
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Gottesdienstes als einer kultischen Veranstaltung bedeutsam werden ließ. Die Schleiermachersche Definition erklärt die feierliche Grundstimmung des Gottesdienstes und lehrt, ihn als eine Äußerung allgemein menschlicher religiöser Bedürfnisse zu verstehen. Und noch ein weiteres ist hervorzuheben, das diese Definition für George bedeutsam werden ließ. Sobald eine Verrechtlichung bzw. Vergesetzlichung der Feste erfolgt, geht der ihnen genuin eigene Charakter verloren. Wenn mit der allein wichtigen Gemeinschaftsfeier darüber hinausgehende Zweckentfremdungen vorgenommen werden, verliert das Fest seinen Festcharakter. Der Kult ist um seiner selbst willen da und entstammt der freien Vergemeinschaftung der Geister. Als solcher reproduziert er sich in Erinnerung an seinen Grund quasi von selbst – so die Vorstellung Schleiermachers. Jegliche Versuche der staatlichen Begrenzung und Institutionalisierung beschränken diese freie Willensentfaltung jedoch und geben Festen leicht einen künstlichen Charakter. Gerade dieser letzte Punkt mag George veranlaßt haben, Schleiermachers Theorie des Festes für die Darstellung der Geschichte des jüdischen Volkes fruchtbar zu machen. Leitend ist für George dabei die Annahme, daß es möglich ist, eine Entwicklung in der jüdischen Geschichte nachzuzeichnen, wobei sich die Frühzeit des Volks durch Feste auszeichnet, in denen „Gemeingeist und […] geschichtliche Ursache ein natürliches Erzeugniß“ sind, während sich im Lauf der Zeit durch immer neue Reglementierungen „das lebendige“46 der Feste verliert. Damit gehört Schleiermacher mit seiner Festtheorie nicht nur zu den Anregern für gegenwärtig vertretene Theorien des Gottesdienstes, sondern beeinflußte auch die alttestamentliche Wissenschaft.
3. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik 3.1. Die Rekonstruktion der religionsgeschichtlichen Entwicklung Israels Bevor wir uns der von George herausgearbeiteten Entwicklung des Kultes von den einfachen Anfängen bis hin zu den hochausdifferenzierten kultischen Ritualen im späteren Judentum zuwenden, ist es zunächst notwendig, die hinter dieser Entwicklung stehende Theorie der Entstehung des Alten Testaments darzustellen. Wie schon bei de Wette spielen auch bei ihm die Diskussionen um die sogenannten mosaischen Schriften eine grundlegende Rolle, die die Basis für die eigenen Erörterungen Georges darstellt. Er selbst beruft sich auf die „allgemeinen Resultate“ (X) der Pentateuchkritik, wobei er den Hexateuch als wichtigste Quelle für die eigene Untersuchung wertet. Und während er einleitend für die übrigen Bücher des Alten Testaments pauschal auf das „Urtheil 46 Ebd.
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des Herrn Dr. de Wette und neuerer Kritiker“ (XI, Hervorhebung im Original) verweist47, so sieht George sich doch gerade bei der kritischen Heraushebung der ältesten Quellen des Pentateuchs als Basis für die Rekonstruktion der Geschichte Israels und des Judentums gezwungen, von ihm abzuweichen: „Am meisten gilt dies [das Abweichen von der bisherigen Meinung der Forschung, Anm. M. G.] von dem relativen Alter der einzelnen Bücher des Pentateuch unter sich, welches zu bestimmen für mich gerade die Hauptsache war“ (ebd.). Auch wenn die übrigen alttestamentlichen Schriften, insbesondere die sogenannten historischen Bücher und die Propheten, mit einbezogen werden, bleiben die Untersuchungen zum Pentateuch – wie schon bei de Wette – der Ausgangspunkt und Motor der historischen Erforschung des Alten Testaments im 19. Jahrhundert. Um zu gesicherten und kontrollierbaren Ergebnissen zu gelangen, bedient George sich der Ergebnisse der altertumskundlichen Forschung, die er für seine Untersuchung voraussetzt. Da er den damals gebräuchlichen Begriff von Archäologie rezipiert, der sich von unserem heutigen unterscheidet, ist hierauf kurz einzugehen, bevor im übernächsten Teilkapitel das der Georgeschen Darstellung zugrundeliegende Epochenschema erörtert wird.
3.1.1. Der Archäologiebegriff George legt einen eigentümlichen Archäologiebegriff zugrunde, der am sinnvollsten als Volkskunde zu verstehen ist. Definiert ist er durch verschiedene Merkmale. Zunächst stellt George heraus, daß alleine die Archäologie in der Lage sei, die Ergebnisse der Quellenkritik zu einem „wissenschaftlichen Ganzen“ zu verbinden, da sie die zugrundeliegende „Idee“ (XII) als Ausgangsbasis nehme. Damit werde es möglich, die einzelnen rekonstruierten Quellen in die Zeit ihrer jeweiligen Entstehung wissenschaftlich gesichert einzuordnen. Erst auf dieser Grundlage werde es möglich, eine die einzelnen Epochen separat betrachtende Entwicklungslinie herauszuarbeiten und den – sowohl positiv als auch negativ verstandenen – „Fortschritt“ (XIII) und die Veränderungen in der Geschichte des israelitischen und jüdischen Volkes aufzuzeigen. Was George mit dem Archäologiebegriff verbindet und als dessen genuine Leistungskraft ansieht, ist dessen Vermögen, die Entstehungsgeschichte des Alten Testaments aufzuhellen, wofür es zu den vorfindlichen Schriften mögliche Quellen herauszuarbeiten und etwaige Textschichtungen freizulegen gelte. Damit formuliert George so etwas wie das Programm der literarkritischen Forschung, wobei er auch hier an de Wette anknüpft. Laut de Wettes erstmals 1814 erschienenem ‚Lehrbuch der Hebräisch-Jüdischen Archäologie nebst einem Grundriss der Hebräisch-Jüdischen Geschichte‘ ist Archäologie folgendermaßen definiert: „Unter Archäologie oder Alterthumskunde begreift man die Kenntniß des eigenthümlichen Natur- und 47
Welche George damit meint, erläutert er nicht.
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Gesellschafts-Zustandes eines Volkes und unterscheidet sie von der eigentlichen Geschichte so, daß diese mehr die fortschreitende Entwicklung, jene mehr den bleibenden Bestand eines Volks zum Gegenstand hat.“48 Sie untersucht durch die Unterscheidung der verschiedenen Zeitepochen und den Vergleich mit anderen Völkern die gesellschaftlichen Verhältnisse, angefangen vom „Familienleben“, über das „kirchlich religiös[e]“ bis hin zu Wissenschaft und Kunst.49 So sei es erst möglich, die Besonderheiten eines Volkes zu erklären und zu verstehen.50 Diesem Verständnis schließt George sich an, wenn er einleitend schreibt, daß es die Archäologie ist, „welche uns erst das wahre Leben eines Volkes zur Anschauung bringt, indem sie uns den Zustand desselben, wie er in allen verschiedenen Zeiten und Beziehungen war, vor Augen stellt“ (XIII f.). Indem er, wie de Wette, Geschichte und Archäologie einander gegenüberstellt, scheint er davon auszugehen, daß die Geschichte lediglich die reinen und ungeordneten Fakten bietet, wogegen die Archäologie sie mit Sinn und Leben erfüllt.51 Will man – so George – einen Fortschritt und einen Zusammenhang in der Geschichte des israelitischen und jüdischen Volkes aufzeigen, muß man sich der Archäologie als Voraussetzung und Maßstab bedienen. So sei es zwar der bisherigen Forschung zum Alten Testament gelungen, viele richtige Einzelergebnisse zu gewinnen. Eine Gesamtschau daraus zu entwickeln, die auf der Kritik der alttestamentlichen Quellen basierend den Zustand des Volkes in den jeweiligen voneinander zu unterscheidenden Epochen und die historische Entwicklung als Ganzes wiedergibt, sei jedoch nur ansatzweise gelungen.
3.1.2. Die grundlegende Bedeutung der Feste Kaum verwunderlich ist, daß George eben diese von ihm geforderte Gesamtschau bieten möchte: Sein Programm versteht er als eine Archäologie der Feste. Dazu nimmt er eine Verschränkung von Volkskunde und historisch-kritischer Quellenforschung vor, denn nur so sieht er die Möglichkeit gegeben, das israelitische und jüdische Festwesen zu erklären. Wichtigste Quelle für die Darstellung der Entstehung und Entwicklung der Feste ist der Pentateuch.52 Den Schlüssel 48 De Wette, Lehrbuch der Hebräisch-Jüdischen Archäologie nebst einem Grundriss der Hebräisch-Jüdischen Geschichte, 3. 49 A. a. O., 4. 50 „Als historische Wissenschaft muß die Archäologie historisch behandelt werden, d. h. 1) mit Unterscheidung der verschiedenen Zeiten und Verhältnisse, was man ehedem vernachläßigt hat; 2) mit Vergleichung der Zustände anderer Völker, welche entweder gleichzeitig oder verwandt, oder vermöge des Grades ihrer Cultur und ihres Characters vergleichbar sind. Die kritische Behandlung versteht sich ohnehin.“ (A. a. O., 4 f.) 51 „So ist sie [sc. die Archäologie] die Ergänzung der Geschichte, zu welcher sie sich, wie die Seele zu ihrem Körper verhält, indem sie den jedesmaligen Zustand des Volkes angiebt, aus welchem die äußere Erscheinung, die uns die Geschichte vorführt, abgeleitet werden kann.“ (XIV) 52 Daß dieses Programm vor einer Reihe von Schwierigkeiten steht, ist George bewußt.
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für die Lösung des Pentateuchproblems sieht George – unter ausdrücklicher Berufung auf de Wette – in der historischen Verortung des Deuteronomiums und seiner Stellung zu den anderen Büchern des Pentateuchs. Von de Wette seien die für die Forschung grundlegenden Thesen aufgestellt worden. Um den bestehenden Schwierigkeiten in der aktuellen alttestamentlichen Wissenschaft zu entgehen – George verweist unter anderem auf den durch sein Einleitungswerk bekannten Friedrich Bleek (1793–1815)53, den rationalistischen Theologen und berühmten hebräischen Sprachforscher Heinrich Friedrich Wilhelm Gesenius (1786–1842)54 und den der historischen Kritik verpflichteten Karl Peter Wilhelm Gramberg (1797–1830)55 –, müsse man an dem von „de Wette aufgestellten Satz, daß das von dem Priester Hilkia unter dem Könige Josias aufgefundene Gesetzbuch unser Deuteronomium gewesen, festhalten, und denselben als Fundament für unsere Untersuchung stehen lassen“ (10). Durch den Einsatz beim Deuteronomium gelangte George zur Unterscheidung dreier Epochen, in denen jeweils die einzelnen Bücher des Pentateuchs oder Teile von ihnen entstanden seien. Bei dieser Unterteilung in eine epische, eine lyrische und eine dramatische56 Epoche ist ein dreifaches zu beachten. Ganz basal handelt es sich natürlich um eine Klassifizierung der von George untersuchten Texte nach literarischen Gattungen. Diese Klassifizierung wird jedoch in ihrer Bedeutung gesteigert, indem mit ihrer Hilfe die Herdersche Theorie von den Lebenszeitaltern57 auf die Geschichte eines Volkes übertragen wird. Die größte Erschwernis sieht er in der Quellenlage: „Die Geschichte desselben [sc. des jüdischen Volkes] liegt noch mehr oder weniger in ein tiefes Dunkel eingehüllt, wovon der Grund darin zu suchen ist, daß die geringe Anzahl und der geringe Inhalt ihrer Quellen nur ein unvollkommenes Bild gewähren, das überall, gerade in den wichtigsten Perioden, Lücken zeigt, und daß diese Quellen immer und mit gar zu verschiedenen Augen angesehen werden, um hier zu einem übereinstimmenden Resultate zu gelangen. Die dafür notwendige Kritik ist noch seit zu kurzer Zeit geübt, als daß sie sich schon immer in den rechten Bahnen bewegen könnte, und wir sind daher noch weit entfernt, eine richtige Ansicht von den Quellen selbst zu besitzen, ohne welche doch eine richtige Anschauung der Geschichte unmöglich ist.“ (3) 53 Vgl. Adolf Hermann Wilhelm Kamphausen, Art. Bleek, Friedrich, in: RE3 3 (1897), 254–257. 54 Vgl. Eduard Reuss, Art. Gesenius, Wilhelm, in: RE[1] 5 (1856), 121–123; Thomas Kelly Cheyne, Founders of Old Testament Criticism. Biographical, Descriptive, and Critical Studies, New York 1893, bes. 54–65 sowie die Beiträge des Sammelbandes: Stefan Schorch / Ernst-Joachim Waschke (Hgg.), Biblische Exegese und hebräische Lexikographie. Das ‚Hebräisch-deutsche Handwörterbuch‘ von Wilhelm Gesenius als Spiegel und Quelle alttestamentlicher und hebräischer Forschung, 200 Jahre nach seiner ersten Auflage (BZAW 427), Berlin / Boston 2013. 55 Vgl. Gustav Moritz Redslob, Art. Gramberg, Karl Peter Wilhelm, in: ADB 9 (1879), 577 f. 56 Die hier so bezeichnet wird, auch wenn George den Begriff nicht gebraucht. 57 Vgl. dazu Jürgen Mittelstrass, Die menschliche Zeit. Bemerkungen zur Philosophie der Lebensalter, in: JAWB 2 (1989), 306–335 und Emanuel Peter, Geselligkeiten. Literatur, Gruppenbildung und kultureller Wandel im 18. Jahrhundert (Studien zur deutschen Literatur 153), Tübingen 1999, bes. 145–151.
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Und schließlich steht hinter dieser Epochenunterscheidung ein Entwicklungsschema, das von der Überzeugung getragen ist, bei der ersten Gattung käme den Texten die größte Ursprünglichkeit und Natürlichkeit zu, während die letzte schließlich durch ihre hervorstechende Künstlichkeit gekennzeichnet sei.
3.1.3. Das Epochenschema Der epischen Epoche rechnet George die sogenannten geschichtlichen Passagen des Pentateuchs zu. Geschichtlich meint dabei nicht die Überlieferung historischer Fakten, sondern ist als Gegenbegriff zu gesetzlichen Traditionen gebildet. Als geschichtliche gelten ihm die mythischen Dichtungen der Bücher Genesis und Exodus, teilweise auch des Buches Numeri. Seiner Auffassung nach haben sie die ältesten literarischen Denkmäler des jüdischen Volkes bewahrt. George schließt dies daraus, daß sie von einem „kindlichen Geiste“ geprägt seien. Hier herrsche (noch) das unmittelbare „Gefühl“ gegenüber dem dividierenden „Verstand“ vor. Unmittelbare „Anschauung“ und „Phantasie“ (11) prägten das Denken auf dieser ursprünglichen Stufe, oder besser gesagt: da George aufgrund der eingangs umrissenen, von ihm jedoch nicht weiter ausgeführten archäologischen Ergebnisse für die ersten und ältesten schriftlichen Traditionen eines jeden Volkes Natürlichkeit und Ursprünglichkeit als wesentliche Aspekte annimmt, müssen die dort überlieferten Ereignisse die ältesten sein.58 Die Mythen und Sagen würden in reiner und unverfälschter Art und Weise das unmittelbare Erleben und Fühlen des jüdischen Volkes in der Frühzeit wiedergeben.59 Ohne vermittelnde Reflexion werde wiedergegeben, was das Volk an wichtigen und merkwürdigen Ereignissen erlebt habe. George scheint davon auszugehen, daß in dieser Anfangszeit noch keine Formung der Überlieferungen durch rationale Durchdringung erfolgte, sondern die Ereignisse im unmittelbaren Erleben auch tradiert würden. Wie er sich dies des näheren vorstellt, bleibt jedoch unerläutert. Erst in der zweiten Periode, der lyrischen Epoche, ist die Formung – George spricht von ‚Färbung‘, bei Schleiermacher heißt es ‚Farbe‘ und ‚Ton‘ – durch 58 „Am
frühesten entwickelten sich die geschichtlichen Mythen, die uns in der Genesis und dem Exodus aufbewahrt sind; sie gehen in die älteste Zeit des Volkes zurück, die in ihrem kindlichen Charakter nur geeignet war, dieselben hervorzubringen. Aber wie dieses ihre nothwendige Entstehung ist, daß sie nicht gemacht und von einem Einzelnen geschaffen worden sind, sondern im Volke sich gebildet und entwickelt und von Mund zu Munde fortgepflanzt haben, so folgt auch daraus, daß sie erst später aufgezeichnet worden sind, und durch diese Aufzeichnung eine feste Gestalt erlangt haben.“ (71, Hervorhebungen im Original) Wann dies erfolgt ist, gibt George nicht an – dies wäre Sache einer Spezialuntersuchung, die er hier nicht leisten könne. 59 Zum Mythen- und Sagenbegriff Georges vgl. John William Rogerson, Myth in the Old Testament Interpretation, bes. 1 f. und 24–27. – Dort heißt es: „With regard to the truth and value of myth and saga in the Old Testament, George holds that saga gives insights into the historical development of a people, while myth expresses its outlook and sympathies (Geist).“ (A. a. O., 26)
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verstandesmäßige Reflexionen erkennbar. Zwar seien dieser Epoche durchaus schon erste Rechtsvorstellungen zuzuordnen, die sich in den gesetzlichen Texten des Alten Testamentes überliefert wiederfänden. Nach George ist es die Zeit, in der das Deuteronomium entstanden ist. Doch die – im Anschluß zu verhandelnde – dritte Periode, in der das Alte Testament mit ausdifferenziertesten gesetzlichen Reflexionen ihren zeitlichen und inneren Abschluß erlangt habe, sei hier noch nicht erreicht. Ausgehend und unmittelbar beeinflußt von den Gedanken der Propheten herrsche vielmehr auch noch im Deuteronomium, als dem ältesten der alttestamentlichen Gesetzbücher, die Natürlichkeit und Gefühlsbestimmtheit der epischen Epoche vor. „Überall wird in jenem an das eigene Herz appelliert, überall die Mildthätigkeit angesprochen, nirgends das strenge Recht in seinem schneidenden Widerspruche gegen die Verhältnisse abstrakt hingestellt, sondern vielmehr immer, wo es durch strenge Durchführung hart und drückend erscheinen würde, gemildert. Liebe Gott und deinen Nächsten, und hilf deinem leidenden Bruder, das ist der Grundsatz, nach dem das ganze Deuteronomium verfaßt ist.“ (18) Mit seinen an das Rechtsgefühl jedes Einzelnen sich wendenden Forderungen, unterscheide sich das deuteronomische Gesetzbuch charakteristisch von den abstrakten und nicht mehr mit dem Erleben und Empfinden des jüdischen Volkes verbundenen Bestimmungen der späteren gesetzlichen Passagen des Pentateuchs. George versteht das Deuteronomium nicht so sehr als kodifiziertes Recht, sondern als Ausdruck eines Gerechtigkeitsgefühls. Denn ganz vom Geist der Propheten beeinflußt, wie er sich in den großen Prophetenbüchern des Alten Testaments niedergeschlagen habe, und von deren rhetorischem Stil geprägt, spreche das deuteronomische Gesetz Ermahnungen aus und wende sich, zum Wohle der Mitmenschen, an das Gewissen und bitte um Einsicht. Dabei spiegelten sich in den Dichtungen der Propheten und im Deuteronomium die natürlichen Umstände, das unmittelbare Erleben der gesellschaftlichen Entwicklung, was so in späterer Zeit nicht mehr der Fall sei. Somit gebe das Deuteronomium und die es prägenden älteren Prophetenbücher wieder, was eine sich von den Anfängen fortentwickelnde Zeit an gesetzlichen Maximen herausgebildet habe, wobei sie eng an die gesellschaftlichen Verhältnisse des jüdischen Volkes und das damalige Empfinden und Erleben anknüpften. In Abgrenzung von der von ihm rekonstruierten dritten Epoche der Geschichte des jüdischen Volkes hält George deshalb fest: „Während die Gesetze des Deuteronomiums das Produkt der Verhältnisse und ihrer allmäligen Entwicklung sind, bestimmt durch den Geist der Liebe und Milde, so sind die der übrigen Bücher weit mehr das Produkt des kalten überlegenden Verstandes, der die Gesetze schafft, ohne an die Verhältnisse zu denken, und dem mehr an der Feststellung einer Theorie gelegen ist, als an der Anwendbarkeit auf das praktische Leben.“ (20) Die Reflexion auf die natürlichen, praktischen Lebensumstände des jüdischen Volkes ist dann für George im Umkehrschluß auch wieder der Beweis dafür, daß es sich
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beim Deuteronomium um das älteste im Alten Testament erhaltene Gesetzeswerk handeln muß. In ihm seien erstmals die für das Zusammenleben als Volk notwendigen Bestimmungen zusammengetragen worden. Im Anschluß an das Auftreten der Propheten sei es evident gewesen, daß deren Mahnungen und Forderungen in der Form eines Gesetzbuches ihren (ersten) Niederschlag finden mußten. George vertritt damit die dann von Wellhausen breit ausgeführte These, daß das Gesetz nach den Propheten entstanden ist. Da die im Deuteronomium festgehaltenen Gesetze einen längeren Überlieferungsprozeß wiedergeben, in denen sie sich aus den Verhältnissen der damaligen Zeit herauskristallisiert hätten, läßt sich an ihnen zudem viel über die Zeit ihrer Entstehung ablesen. Sie geben – noch ohne von einer dahinterstehenden Theorie auf ganz bestimmte Feststellungen begrenzt zu sein, worauf George großen Wert legt – in großer Nähe zu den Ereignissen die Situation des jüdischen Volkes in dieser Epoche wieder. Darauf spielt George an, wenn er – im kritischen Anschluß an die epische Epoche – schreibt: „Auch hier tritt der Verstand noch zurück, und das Gefühl herrscht vor, und zwar das religiöse, das überhaupt bei diesem Volke durchaus überwiegend ist.“ (11) Auch wenn unerläutert bleibt, was George sich des näheren unter religiösem Gefühl vorstellt, so wird doch immerhin deutlich, daß er dem Deuteronomium auch seinetwegen für die im Anschluß zu erörternde Rekonstruktion der Entwicklung des Kultes eine herausragende Bedeutung zuspricht, denn er mißt ihm aufgrund der festgehaltenen Überlieferungsgeschichte einen großen Quellenwert bei. Zunächst ist jedoch auf die dritte von George rekonstruierte Periode einzugehen. Für die dritte Epoche bildet George keinen eigenen Namen – analog zur ersten, epischen und zur zweiten, lyrischen Epoche –, sondern er nennt sie die „Periode, in welcher der Verstand zu seiner Reife gelangt ist“ (11 f.). Am besten ist sie vielleicht als rationale oder rationalisierende Epoche zu beschreiben. Es handelt sich um die Zeit nach dem babylonischen Exil. In der für das jüdische Volk vollkommen veränderten Lage nach dem Untergang des Königtums kam es zu einer Weiterentwicklung der Gesetzgebung, die ihren charakteristischen Niederschlag im Buch Levitikus gefunden habe, aber auch zu Fortschreibungen in den Büchern Numeri und Exodus führte. Für George müssen diese Schriften in der dritten Periode verfaßt worden sein, da sich ein Fortschritt in der Entwicklung des Gesetzesverständnisses zeige. (Vgl. 12) Hauptkennzeichen dieser Bücher ist, und damit zugleich der ‚Fortschritt‘ zu den Bestimmungen des Deuteronomiums, daß hier die gesetzlichen Bestimmungen direkt mit dem Willen Gottes identifiziert werden. Otto Kaiser spricht bei der Beschreibung dieses Merkmals von einer ‚Theologisierung‘ des Rechts. Angemessener wäre vielleicht die Bezeichnung ‚Theonomisierung‘ (Paul Tillich, Friedrich Wilhelm Graf ): „Hier ist keine Ermahnung mehr, hier kommt es nicht darauf an, eine gute, Gott wohlgefällige Gesinnung zu erwecken, sondern nur den Buchstaben
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des Gesetzes hinzustellen. Was geschehen soll und was nicht, ist hier Hauptsache, überall den Willen Gottes aufzuzeigen und in bestimmte Formen zu fassen, ist das, worauf alles abzweckt.“ (19 f.) Festzuhalten ist dabei, daß es sich für George bei diesen Bestimmungen in letzter Konsequenz nicht um göttliche Anweisungen handelt. Sie erheben zwar den Anspruch, können ihn aber nicht einlösen. Denn sie folgen lediglich der inneren Fortschrittslogik, die zu einer bis auf die speziellsten Einzelheiten eingehenden Konsequenzmacherei und Pedanterie führe.60 Was George damit meint, versucht die schon erwähnte Unterscheidung von ‚Gefühl‘ und ‚Verstand‘ deutlich zu machen. Hier, in der dritten Zeitepoche, sei der menschliche Verstand vorherrschend. George meint so etwas wie, daß nun das reflektierte Handeln die Oberhand gewinne, nachdem es früher das intuitive gewesen sei. Der Verstand würde in dieser Periode der jüdischen Geschichte das maßgebliche Kriterium für die an die früheren Überlieferungen anknüpfenden Fortschreibungen in den gesetzlichen Passagen der mosaischen Schriften. Natürlich müssten alte Überlieferungen regelmäßig aktualisiert und den jeweiligen Gegebenheiten angepaßt werden. Und aufgrund der voranschreitenden Zeit und der sich immer wieder ändernden Situation müsse es eine stetige Aktualisierung und Weiterentwicklung geben. Doch diese ist Georges Meinung zufolge bei der Abfassung der späteren Gesetzeswerke nicht erfolgt, oder anders ausgedrückt, er versteht sie als eine Entwicklung im negativen Sinne. Indem die späteren Autoren mit den von ihnen verfaßten gesetzlichen Bestimmungen alleine der Logik des ‚Verstandes‘ gefolgt seien und diesen zum göttlichen Willen erklärten, hätten sie das ‚Gefühl‘ für das wahre Empfinden und Erleben des jüdischen Volkes verloren. Zwar hätten ihre Ideen und Gesetze sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse der damaligen Zeit durchdrungen. Insofern kann George auch diese Schriften – die Argumentation stützt sich vor allem auf das Buch Levitikus – für seine Rekonstruktion der Feste heranziehen. Dabei ist jedoch ein doppeltes zu beachten. Zum einen müsse eine Rekonstruktion der Ereignisse der dritten Periode der jüdischen Geschichte die überlieferten Texte kritisch danach befragen, was lediglich eine Folge dieser Denkrichtung sei – und nur theoretisch in Geltung war – und welche Gesetze tatsächlich als geltende Normen befolgt worden seien. Gerade bei den Festgebräuchen, die laut den späteren Gesetzesbüchern in Geltung gewesen sein sollen, gibt es einige, die praktisch nicht realisierbar gewesen und in ihrem Sinn heute nicht mehr nachvollziehbar seien. Bei diesen könne es sich nur um kultische Gebräuche handeln, die aus den selbst ge60 „Wie sich nun in dieser Liebe zu Consequenzen, die in diesen Büchern überwiegende Verstandesrichtung zeigt, so offenbart sich dieselbe ebensosehr auf der andern Seite durch die in die speciellsten Einzelheiten eingehende Genauigkeit, die oft schon an den späteren pharisäischen Kleinigkeitsgeist erinnert, der aus derselben Quelle fließt, und nur noch mehr das reine Versenken in diese Richtung ist.“ (23)
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setzten Prämissen heraus als Konstrukte der Phantasie gebildet worden sind. Zum anderen seien die Gesetzesüberlieferungen der dritten Periode kritisch auf das hinter ihnen stehende ‚Gefühl‘ zu befragen, um ihren wahren Sinn zu entschlüsseln. Während die Überlieferungen der ersten epischen (und in gewissem Sinne auch noch der zweiten lyrischen) Epoche das Leben und Denken des jüdischen Volkes in unmittelbarer Weise festgehalten hätten, sei in der dritten Epoche eine Verfremdung der Schriften erfolgt. Um nun zu wissenschaftlich gesicherten Aussagen über diese Zeitepoche gelangen zu können, sei es nötig, die in diesen Quellen enthaltenen historischen Angaben von ihren zeitbedingten Überformungen zu befreien. Sei dies jedoch geschehen, dann könnten die Widersprüchlichkeiten in den Angaben der Werke der dritten Periode des jüdischen Volkes durchschaut werden. Dann sei es auch möglich, die nun richtig interpretierten Texte der gesetzlichen Überlieferungen des Alten Testaments als unmittelbare Zeugen der Zeit ihrer Entstehung zu verstehen. George erläutert, daß in der dritten Periode der jüdischen Geschichte eine Vollendung des Gesetzes erfolgte, die in einer doppelten Hinsicht zu charakterisieren sei. Denn diese Vollendung enge die frei gelebte Religiosität des jüdischen Volkes ein und beschränke dessen kultisches Wirken auf die Einhaltung und rituelle Wiederholung der in dieser Zeit neu interpretierten Opfer-, Reinigungs- und Priestergesetze. Dies ist die eine von George herausgearbeitete Pointe. Zum anderen geht damit die nach dem ganzen Ausgeführten unvermutete Einsicht einher, daß Gott in sämtlichen Alltagsdingen zu finden sei. George kommt zu diesem Schluß, da es Aufgabe dieser Überlieferungen gewesen sei, dem jüdischen Volk die Möglichkeit der Überwindung der im Exil besonders stark empfundenen eigenen Schuldhaftigkeit – die nach dem Untergang des Staates Gemeingut geworden war – und der Versöhnung mit Gott zu geben. Im Sinne des allgemeinen Wunsches, ein gottgefälliges Leben zu führen, kam es zur Ausdifferenzierung des Gesetzes, so daß es auf die speziellsten Fälle ausgeweitet wurde. So sollte es die Möglichkeit eröffnen, stets nach dem göttlichen Willen zu leben.
3.1.4. Die Entwicklung von Altisrael zum Judentum Bevor George sich der auf diese Pentateuchtheorie aufbauenden Erörterung der Entstehung und Entwicklung der jüdischen Feste zuwendet – die Fokussierung auf den Pentateuch begründet er damit, daß in diesen Büchern alle Etappen der Entwicklung der jüdischen Literatur exemplarisch umfaßt würden; die Begrenzung auf die gesetzlichen Passagen des Pentateuchs, in Abgrenzung von den geschichtlichen damit, daß diese alleine für seine Problemstellung von Interesse seien –, rekonstruiert er anhand von drei exemplarischen Beispielen den Ablauf der jüdischen Geschichte. Konkret handelt es sich um das deuteronomische Gesetz, die ritualisierten kultischen Handlungen und das Priestertum. Für George
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zeigt sich an ihnen paradigmatisch die Entwicklung vom alten Israel hin zum Judentum. George zeigt zunächst auf, daß sich aus den im Deuteronomium enthaltenen Bestimmungen über ein alle sieben Jahre wiederkehrendes Erlaßjahr, in dem die Schulden nicht eingetrieben und die Knechte freigelassen wurden, im Laufe der Zeit zunächst das Sabbat- und schließlich das Jubeljahr entwickelt hätten. (Vgl. 28–37) Von den Bestimmungen zum Erlaßjahr wüßten auch die Propheten (George nennt Jer 34,15.17 und Ez 46,17 als Belege), die dessen Einhaltung forderten. Unbekannt sei ihnen jedoch das Sabbat- und das Jubeljahr. Das Sabbatjahr werde dann erstmals im Buch Exodus erwähnt, in dem es zum ‚Freilassen‘ der Knechte und dem ‚Aussetzen‘ der Schulden das ‚Ruhen‘ des Ackerlandes hinzufügte. Eine Potenzierung des Gedankens des ‚Schuldenerlasses‘ sei dann schließlich das bei Levitikus überlieferte Jubeljahr, in dem alle verkauften und verpfändeten Ländereien nach dem Ablauf von fünfzig Jahren an ihren ursprünglichen Besitzer – dem es bei der als Ausgangsbasis angenommenen Landnahme zugeteilt worden war – zurückfallen sollten. Zudem sei es auch eine Potenzierung des Gedankens der ‚Ruhe‘. Den Bestimmungen des Deuteronomiums zufolge habe der siebente Tag als Ruhetag für Mensch und Tier gegolten. Die davon abgeleiteten Bestimmungen zum Sabbatjahr hätten eine Zeit der Ruhe zur Erholung für das Ackerland eingeführt. Die Gesetze des Jubeljahres fordern schließlich eine Regeneration aller bestehenden Verhältnisse. Alles sollte in seinen Ursprungszustand zurückversetzt werden. Sodann zeigt George auch beim Gottesdienst eine Entwicklung auf, die aus den frühesten erhaltenen Überlieferungen erklärt und abgeleitet werden könne. (Vgl. 38–45) Ursprünglich sei die Verehrung Gottes an keinerlei normierende Bestimmungen gebunden gewesen. Kultische Handlungen in den verschiedensten Formen und an den verschiedensten Orten seien für die Frühzeit Israels belegt. Im Deuteronomium läge dann ein nächster Entwicklungsschritt vor, denn gegenüber dieser Freiheit und Ungebundenheit komme es nun zur Forderung der Vereinheitlichung und Zentralisation des Kultes in Jerusalem. Die im Anschluß daran entwickelte Idee der Stiftshütte als Wohnung Gottes vor der Errichtung des Tempels unter König Salomo bedeute dann die Vollendung dieser Entwicklung. „So haben wir […] in dieser Fiktion wiederum die Einheit des Heiligthums, die Stiftshütte ist der einzige Ort, an dem die Opfer dargebracht werden dürfen.“ (42) Die Kultzentralisation würde damit von der Zeit Josias in die mosaische Zeit hinaufgesetzt und so die Fiktion eines zu allen Zeiten geforderten und ermöglichten gleichbleibenden Kultes aufgebaut werden. Diese schon in den ersten Überlieferungen angelegte und aus ihnen abgeleitete Konsequenz zeichnet George schließlich auch beim Priestertum nach. Auch hier hätte das Deuteronomium den ursprünglichen Zustand bewahrt. Faßbar würde dies an den Leviten, denen gegenüber den anderen jüdischen Volksstämmen nun eine herausgehobene Bedeutung zugesprochen würde. Zwei
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Dinge würden sie gegenüber den anderen Stämmen auszeichnen. Zum einen verfügten sie zwar über materielles Vermögen, doch im Gegensatz zu den anderen Stämmen nicht über Grundbesitz. Daher sei es notwendig gewesen, zu ihrer Unterstützung gesonderte Bestimmungen zu erlassen, die im Deuteronomium bewahrt seien. Zum anderen seien aus diesem Stamm traditionell die Priester hervorgegangen. In den jüngeren Passagen des Pentateuchs entwickelte sich daraus die Vorstellung eines von Gott geweihten Stammes, den er sich selbst zum Dienst erwählt habe. Damit sei aus dem ehemaligen bloßen Recht zur Ausübung des Priesteramtes eine Pflicht geworden. Darüber hinaus sei es zu verschiedenen Abstufungen und Hierarchisierungen gekommen. Mit den Aaroniden, einer der Überlieferung nach von Gott selbst in der Nachfolge Aarons zum eigentlichen Priesterdienst ausgewählten Klasse, seien die übrigen Leviten zu Dienern am Heiligtum degradiert worden. Und durch das Hohepriesteramt wurde ihnen in der späteren Zeit zudem, neben weiteren Abstufungen bei den für den Tempelbetrieb notwendigen Ämtern, ein heiligerer und alle anderen Priester überragender Anführer an die Spitze gestellt.61 So belegten George zufolge die Entwicklung vom Erlaß- zum Sabbatjahr, des Gottesdienstes und des Priestertums den von ihm zuvor rekonstruierten Fortgang in der geschichtlichen Entwicklung des jüdischen Volkes. Für Georges Erörterung der Gesetzgebung des Pentateuchs ist somit eine doppelte Beweisführung kennzeichnend. Zum einen erfolgt eine kritische Rekonstruktion der besten und aussagekräftigsten Quellen, die durch einen ausführlichen quellenkritischen Teil abgesichert werden und Auskunft über die Vergangenheit des jüdischen Volkes geben sollen. (Vgl. 76–181) Diese erfolgt auf der Grundlage der Prämisse, daß die Texte, die die größte ‚Ursprünglichkeit‘ aufweisen, die ältesten sein müßten. In den ältesten Dichtungen und den in ihnen artikulierten Anschauungen drücke sich das ‚Gefühl‘ der damaligen Zeit unmittelbar aus. Eine gleichsam natürliche, geschichtlich notwendige Entwicklung führt dann sukzessive zur fortschreitend deutlicher zutage tretenden Überformung der Quellen durch den sondernden ‚Verstand‘. Darin drückt sich eine letztlich nicht aufgelöste Ambivalenz in der Geschichtssicht Georges aus. Denn diesen Fortschritt würdigt er zwar einerseits als einen den jeweiligen Zeiten angemessenen und macht 61 „Das Deuteronomium […] kennt noch keine Unterschiede, sondern allein Priester verrichten den Dienst im Heiligthum Jehovas; dagegen die übrigen Bücher des Pentateuch sondern Leviten, Priester und Hohepriester, und ordnen sie einander unter. Somit ist hier der der Idee nach nothwendige Fortschritt geschichtlich eingetreten, und zwar in einem Verhältniß mit so hohem Exponenten, daß man eine bedeutende Zeit dazwischen anzunehmen geneigt ist, was man auch müßte, wenn nicht gerade das Exil dazwischen läge, das die Entwicklung des Israelitischen Volks überhaupt und ganz besonders nach dieser Seite hin auf eine so ungeheure Weise beschleunigte. So lange das Königthum dem Priesterthum noch gegenüberstand, konnte die Hierarchie nicht gedeihen, erst als jenes mit dem Exil unterging, erhob diese mächtig ihr Riesenhaupt, und bald stand der gewaltige Koloß unerschütterlich fest.“ (59 f., Hervorhebungen im Original)
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zum Beispiel deutlich, daß der verständige Ausbau des Gesetzes den geschichtlichen Bedürfnissen der nachexilischen Zeit entsprang. Andererseits geht damit aber auch die Unmittelbarkeit der Überlieferungen immer mehr verloren. Daher müsse zunächst eine historisch-kritische Auswertung der Quellen erfolgen, um die Vergangenheit richtig verstehen zu können. Erst im Anschluß daran sei es möglich, die Geschichte des israelitischen und jüdischen Volkes entsprechend ihren verschiedenen Entwicklungsstufen zu rekonstruieren. Damit sind wir bei dem zweiten hervorzuhebenden Punkt angelangt. Denn George sichert seine Ergebnisse nochmals durch die Rekonstruktion der Geschichte des jüdischen Volkes in seinen Hauptetappen ab. Dabei ist die Annahme eines Rationalisierungsprozesses in der Geschichte des Judentums leitend. Erstmals greifbar werde die Geschichte in den am frühesten entstandenen und ursprünglich mündlich überlieferten Dichtungen, den geschichtlichen Mythen. Sie seien vor allem in den Büchern Genesis und Exodus zu finden. Anschließend traten die Propheten auf, die besonders inspirierte Männer des Volkes gewesen seien und deren wegweisende Einsichten die alttestamentlichen Prophetenbücher überlieferten. Mit ihren Forderungen seien die Propheten zu den wichtigsten Anregern der ersten gesetzlichen Sammlungen geworden. Insbesondere im Deuteronomium hätten ihre Einsichten einen ersten Niederschlag gefunden – eine Einsicht, die dann später von Wellhausen erneuert wurde. Ihr Ziel fand die im Alten Testament greifbare geschichtliche Entwicklung schließlich mit den nachexilischen Kultgesetzen des Buches Levitikus.
3.2. Die Feste Die Unterscheidung einer vordeuteronomischen, deuteronomischen und nachdeuteronomischen ‚Gesetzgebung‘ durch George, die es seiner Meinung nach erlaubt, drei Perioden der inneren Genese des Alten Testaments zu unterscheiden, ist dann auch grundlegend für die von ihm rekonstruierte „Entwicklung der Jüdischen Feste“ (182–303), der der letzte Teil seines Buches über ‚Die älteren Jüdischen Feste mit einer Kritik der Gesetzgebung des Pentateuch‘ gewidmet ist. Feste definiert George als Tage, „die auf irgend eine Weise von den übrigen unterschieden und von ihnen ausgezeichnet werden“ (182). Sie entstanden zum einen aus dem menschlichen Bedürfnis nach Fix- und Orientierungspunkten. Als die eine Klasse der ältesten und urtümlichsten Feste des menschlichen Geschlechts hebt er deshalb die ‚chronologischen‘ hervor, die sich an den Umläufen des Mondes und der Sonne orientierten – die Feier des wöchentlichen Sabbats, des monatlichen Neumonds und des Neujahrs. Sie seien im Kreise der Familie gefeiert worden. Durch die Unterbrechung der gewöhnlichen Arbeit, also die Ruhe von den Beschäftigungen des Alltags, und durch religiöse Opferfeiern hätten sie sich von den normalen Tagen abgehoben und dadurch eine besondere Weihe und Heiligkeit erhalten. Zum anderen habe es seit jeher
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von diesen Familienfesten zu unterscheidende ‚ländliche‘ Erntefeste gegeben. Hierher gehören Passah-, Wochen- und Laubhüttenfest, die in Aufnahme regelmäßig wiederkehrender natürlicher Begebenheiten ehemals als Volksfeste gefeiert worden seien. Hauptkennzeichen – und Grund der Abhebung dieser Feste von der zuerst genannten Klasse – seien Festmahlzeiten und eine Vielzahl eigentümlicher Riten gewesen. Allgemein ist festzuhalten, daß diese idealtypischen Unterscheidungsmerkmale der ‚chronologischen‘ und ‚ländlichen‘ Feste – die George zufolge für das israelitische und jüdische Volk von Bedeutung gewesen sind – im Laufe der Zeit Veränderungen in ihrer jeweiligen Deutung erfuhren, wobei die Unterschiede zwischen ihnen immer mehr verwischt wurden. Als lunare und solare Feste, die in ihrem Ritus untereinander keine weiteren Unterscheidungsmerkmale gehabt hätten, wurden die chronologischen Feste nach und nach nicht mehr gefeiert. Allein der Sabbat sei als heiliger Feier- und Ruhetag bestehen geblieben. Bei den ländlichen Festen dagegen sei eine Veränderung der Bedeutung zu beobachten – sie wurden nicht mehr als Ernte-, sondern als Dankfeste gefeiert. Nach und nach, so die These Georges, verloren sie ihre natürlichen Beziehungen und wurden nun historisch erklärt: Passah- als Andenken an den Auszug aus Ägypten, Laubhütten- als Andenken an den Aufenthalt in der Wüste und das Wochenfest als Andenken an die Gesetzgebung auf dem Sinai. Mit dem Wandel der Bedeutung kam es auch zu einer Änderung der Festriten. Durch den Verlust der Bindung an den je eigentümlichen Anlaß wurden sie nun „als besonders heilige Tage ausgesondert, die dann ebenfalls durch Ruhe und Gottesdienst gefeiert wurden, und sich so ganz dem Sabbat gleich stellten“ (190). Im Gegenüber zur früheren Vielfalt scheint sich George das Leben des jüdischen Volkes in späterer Zeit als ein großes Einerlei vorzustellen, bei dem – ab einer bestimmten Entwicklungsstufe – nicht einmal mehr bei der Feier der Feste Ausgelassenheit und Fröhlichkeit aufkam, da es bei jedem Fest das gleiche zu absolvierende Ritual war. Dabei hält er fest, daß die natürliche Erklärung der Feste nicht nur die historische ablöste, sondern schließlich alleine die religiöse Deutung derselben übrigblieb. Erstgenannte spiegele das gleichsam unmittelbare Bedürfnis des jüdischen Volkes nach der Feier besonderer Ereignisse wider, die zweite Stufe brachte die Umwandlung in einen Gedenktag mit sich, letztgenannte schränkte den Sinn des Feierns auf das Gedenken an die eigene Schuldhaftigkeit ein. Was genau George sich unter diesen drei voneinander abgegrenzten Bedeutungen der Feste vorstellte, soll im folgenden erörtert werden, wenn auf die einzelnen von ihm aus den alttestamentlichen Quellen rekonstruierten und voneinander zu unterscheidenden Feste näher eingegangen wird: zunächst der Sabbat, das Neumond- und das Neujahrsfest, anschließend das Passah-, Wochen- und Laubhüttenfest und schließlich als letztes entstandenes Fest und Zielpunkt der Entwicklung das Versöhnungsfest. „Die Versöhnung des Volkes mit Gott herbeizuführen, war, wie in allen Religionen, der Punkt,
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zu dem sie als zu ihrem Ziel hinstrebten, und dieses Fest war der Tag, an dem sie jährlich für das ganze Volk vollbracht werden sollte; hier concentrieren sich also auch alle Strahlen seiner Entwicklung, wie in einem Brennpunkte, und was später noch hinzukam, war nur wieder eine Wirkung ihrer Divergenz. Deshalb aber ist es auch das späteste aller Feste, die in die Gesetzessammlung des Pentateuch aufgenommen worden sind.“ (192) Bei der zu ihrem Ziel hinstrebenden Entwicklung handelt es sich um die Perspektive Georges, der versucht, in seiner Zeit die jüdischen Feste, die im Alten Testament erwähnt sind, zu verstehen und ihren Sinn zu ergründen. Daß dabei der Rekonstruktion einer Entwicklung von den ältesten hin zu den jüngsten Festen, die das jüdische Volk feierte, eine besondere Bedeutung zukommt, dürfte schon deutlich geworden sein. Dieser Gedanke wird abschließend zu problematisieren sein.
3.2.1. Sabbat und Neumondfest „Der Sabbat ist unstreitig der älteste von den Juden gefeierte Festtag, dessen Entstehung weit über die Zeit hinaus liegt, über welche uns in den Büchern des alten Testaments Zeugnisse aufbehalten sind.“ (193) Sein Ursprung sei daher nicht mehr zu eruieren. Aller Wahrscheinlichkeit nach, so George, ist er ein von den Ägyptern übernommener Feiertag zur Zeiteinteilung, und durch seine Hervorhebung gegenüber den anderen Tagen wurde er als Festtag begangen. Als das jüdische Nomadenvolk seßhaft wurde und Ackerbau betrieb – mit der Zeit kam dann auch noch der Handel hinzu –, wurde der Sabbat zum Ruhetag. Freiwillige Familienopfer wurden dargebracht. Erst zur Zeit des Königs Josia von Juda, mit der Veröffentlichung des Deuteronomiums als erstem Gesetzbuch und dem Tempel in Jerusalem als nunmehr einzigem Heiligtum, kam ein öffentlicher Opferdienst auf. Die ursprünglichen religiösen Feiern an diesem Tag hätten in privater Anbetung bestanden, während in späterer Zeit gemeinsame kultische Versammlungen stattfanden. Diese seien zunächst von unmittelbar inspirierten Propheten geleitet worden und nach dem sukzessive fortschreitenden Entstehen der heiligen Schriften von gottesgelehrten Auslegern derselben. Analog zum Sabbat als Grenze der Woche und auf dieselbe Weise sei das Neumondfest als Grenze des Monats gefeiert worden – so die These Georges. Er sei ein ‚lunarer‘ Feiertag gewesen und ebenfalls durch die an diesem Tag eingehaltene Ruhe ausgezeichnet. „Mit dieser Idee der Ruhe verband sich aber ganz natürlich auch wieder die religiöse Idee, und diese stellt sich wie beim Sabbat einmal in einem Opferkultus und sodann in gottesdienstlichen Vereinigungen dar.“ (209) Da das Neumondfest dieselbe allgemeine Festidee wie der Sabbat ausdrückte, verlor er nach und nach seinen allgemeinen Festcharakter und sei bereits zur Zeit der Propheten und des Deuteronomiums nicht mehr begangen worden. Erst in der dritten Periode der jüdischen Geschichte sei er
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wieder als ein mit einem ausdifferenzierten Opferritual und öffentlichen Kultveranstaltungen stattfindender Festtag aufgekommen. Gegenüber dem Sabbat und dem Neumondfest, die nach den Phasen des Mondwechsels berechnet wurden, sei mit der Feier des Neujahrsfestes zu Beginn des Sonnenjahres dann eine Neuerung eingetreten. Da dieses Fest jedoch nur in den Büchern Levitikus und Numeri belegt ist, scheint es George zufolge erst nach dem Exil entstanden zu sein. „Ohne also zu wissen, ob vor dem Exil schon ein Neujahrsfest gefeiert worden ist, können wir mit Bestimmtheit behaupten, daß nach dem Exil ein solches festgesetzt wurde, und zwar an dem Neumond, mit welchem in dieser Zeit das bürgerliche Jahr begann“ (218 f.). Im Gegensatz zu den beiden anderen Festtagen habe es daher keine Entwicklung durchgemacht. Aber wie Sabbat und Neumondfest sei es ein Ruhetag gewesen, an dem bestimmte Opfer dargebracht wurden. Lediglich das rituelle Blasen der Trompeten – es wurde daher auch „Tag des Trompetenschalls“ genannt – sei darüber hinaus kennzeichnend gewesen. Dieser Klang sollte ‚Jehovah‘ das jüdische Volk wieder in Erinnerung rufen, was George mit Num 10,10 belegt. Der natürliche und ungezwungene Umgang mit Gott war nun nicht mehr gegeben. Vielmehr mußte er durch besondere Rituale gnädig gestimmt werden. Nur wenn das jüdische Volk die entsprechenden Gegenleistungen erbrachte, wendete er sich ihm zu – so die Logik der Überlegungen. „Nicht ein einfaches herzliches Gebet tritt ein, Jehovah muß erinnert werden, und lärmender Trompetenschall ist dazu nöthig. Doch die innere Bedeutung ist dieselbe, die das Fest bei uns hat, es ist nicht bloß die Feier des als Zeitepoche ausgezeichneten Tages, sondern das religiöse Bedürfniß macht seine Ansprüche geltend, und giebt so dem Tage auch den Charakter nicht einer allgemeinen, sondern einer bestimmten religiösen Feier, es ist ein Dankfest für die Vergangenheit und ein Bittfest für die Zukunft.“ (221 f.)
3.2.2. Passah-, Wochen- und Laubhüttenfest Verwickelter als bei den ‚chronologischen‘ Festen ist Georges Ansicht nach die Entwicklung der ‚ländlichen‘ gewesen. Hier ist zunächst auf das Passahfest einzugehen, „als es das wichtigste unter allen alten Jüdischen Festen ist“ und „auch zugleich als das schwierigste erscheint, indem es in seiner Entwicklung die meisten Veränderungen erlitten hat“ (222). Hauptquelle der Rekonstruktion Georges – auch für die anschließende Erörterung des Wochen- und Laubhüttenfestes, die seiner Meinung nach im Jahresablauf folgten – ist für ihn das Deuteronomium, vor allem Kap. 16. (Vgl. 81–85) Daraus könne man schließen, daß das Passahfest als erstes und ältestes Erntefest schon in der ersten Periode der jüdischen Geschichte gefeiert wurde. Natürliche Gegebenheit war die Ernte der Gerste – welche damals neben Rinder- und Schaffleisch das gewöhnliche Nahrungsmittel gewesen sei. Ganz entsprechend den natürlichen Gegebenheiten seien anläßlich des ersten Erntefestes des Jahres nicht nur Ge-
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treidegaben, sondern auch die Erstlinge des Viehs als Opfergaben dargebracht worden. Das Passahopfer sei somit ursprünglich ein Nahrungsopfer gewesen. Zum Ritual hätte es zudem dazugehört, daß sich an das Opfer eine gemeinsame Mahlzeit anschloß, denn der Beginn der Ernte war von großer Bedeutung für das Landwirtschaft betreibende Volk. Im Laufe der Zeit, genauer gesagt am Übergang zur zweiten Periode der jüdischen Geschichte, sei Weizen die Hauptgetreideart geworden. Dies habe für das Fest der Gerstenernte zur Folge gehabt, daß die Opferung und das Verzehren derselben nun zu einem dem Passahfest eigentümlichen Ritus wurde. In dieser zweiten Periode sei dann auch dessen natürliche Bedeutung verlorengegangen. Das Deuteronomium reflektiere bereits diesen Wandel, indem es die Bedeutung des Festes allein auf das Andenken an den Auszug aus Ägypten reduziert. George macht für diesen Bedeutungswechsel zwei Gründe namhaft. Zum einen war das Essen des ungesäuerten Gerstenbrotes – es habe in der damaligen Zeit als Armenspeise gegolten – unmittelbar anschlußfähig für die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten als Zeit der größten Bedrängnis des jüdischen Volkes. Laut George gab es keine bessere Gelegenheit, an diese vergangene Zeit unter der Führung Moses zu erinnern: „So wird es denn auch ausgesprochen von dem Verfasser des Deuteronomium, indem er sagt: ‚Esset Mazzah, Brodt des Leidens, denn in Angst bist du aus dem Lande Ägypen gegangen, damit du des Tages deines Auszugs dein Leben lang gedenkest‘. Die Ideenverbindung liegt hier deutlich da, sie stimmt ganz mit dem überein, was wir uns als eine nothwendige Folge aus dem ursprünglichen Zustande der Feier abgeleitet haben.“ (229 f.) Damit spielt George bereits auf den anderen Grund an: Das Schlachten der Erstgeburt des Viehs und das gemeinsame Essen der ungesäuerten Brote sei dem Opferritual des Passahfestes auf der ersten Stufe der jüdischen Geschichte entlehnt worden. Gerade diese dem Fest eigene Verbindung von Opfer und gemeinsamer Mahlzeit habe sich nach damaligem Verständnis sehr gut zum Andenken an den Auszug geeignet. George kommt deshalb zu dem Schluß, daß zur Zeit der Niederschrift des Deuteronomiums die natürliche Bedeutung des Passahfestes verloren gegangen war, es habe jedoch eine neue geschichtliche hinzugewonnen. Noch weitere Entwicklungen seien namhaft zu machen, durch welche die ursprünglichen Merkmale des Passahfestes verändert worden seien. Vor allem habe eine Notwendigkeit zur Anpassung des Ritus an die geänderten Gegebenheiten dadurch bestanden, daß das einstmals lokale Erntefest mit der Opferung der Erstlinge von Getreide und Vieh nach den Vorstellungen der zweiten Periode der jüdischen Geschichte unzweifelhaft zum Götzendienst gezählt worden wäre. Seit dieser Zeit hätten Reisen nach und die gemeinsame Feier in Jerusalem alle wichtigen Ereignisse geprägt. Diesem Wandel sei daher auch das Passahfest unterworfen gewesen und der habe letztlich noch zu seiner Bedeutungssteigerung beigetragen: Als Nationalfest zum Andenken an ein für die Konstitution des Volkes wichtiges Ereignis habe es nun natürlich in Jerusa-
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lem am zentralen Heiligtum gefeiert werden müssen. Auch nachexilisch, in der dritten Periode der jüdischen Geschichte, wurde der Feiertag in dieser Bedeutung beibehalten. Selbst die gemeinsamen Mahlzeiten konnten in das Ritual integriert und weiterhin praktiziert werden, da sie nun im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Andenken an den Auszug aus Ägypten gedeutet wurden. Es sei jedoch zur Trennung von Opferhandlungen und Festmahl gekommen. Erstere wurden zwar in ihrer Anzahl vermehrt. Die Opferungen durften nun jedoch nur noch durch die Priester im zentralen Tempel vollzogen werden, weshalb sie aus dem Familienverband herausgelöst wurden. Und auch letzteres, welches weiterhin im Kreis der Familie gefeiert worden sei, habe einen Wandel erfahren. Nicht mehr das gemeinsame Sättigungsmahl stand nun im Vordergrund, sondern als Hauptkennzeichen des Passahfestes habe sich ein festes Ritual herausgebildet, bestehend aus dem „Essen des Paschalammes, des ungesäuerten Brodtes und der bittern Kräuter“ (254) sowie weiterer zeremonieller Handlungen. Zum Wochen- und Laubhüttenfest führt George aus, daß sie im Gegensatz zum Passahfest keine so großen Bedeutungsveränderungen erfahren hätten.62 Mit dem Wochenfest sei von je her das Ende der Ernte gefeiert worden. Wie das Passahfest während der ersten Periode der jüdischen Geschichte sei es durch die Darbringung von Nahrungsopfern und gemeinsamen Festmahlzeiten gekennzeichnet gewesen. Der Zeitpunkt des Feiertages war von der Dauer der Ernte abhängig. Nachdem – wie oben schon geschrieben – hauptsächlich nur noch Weizen angebaut wurde und damit die Gerste als Hauptnahrungsmittel des Volkes ablöste, sei es das Fest der Weizenernte geworden, dessen gesteigerte Bedeutung so zum Ausdruck kommen sollte. Als das Passah- und, wie gleich gezeigt werden wird, auch das Laubhüttenfest in der zweiten Periode der jüdischen Geschichte nicht mehr als Erntefeste gefeiert wurden, blieb es das einzige. Doch habe dies nicht zu einer Bedeutungssteigerung geführt, eher im Gegenteil. Denn mit der Zentralisierung des Kultes in Jerusalem verlor es seine enge Anbindung an die Landwirtschaft, die den Charakter des Festes konstitutiv geprägt hatte. Es sei zwar in nachdeuteronomischer Zeit eine ausdifferezierte Opferzeremonie entwickelt worden, wie dieser Tag zu begehen sei. Doch trotzdem habe er jegliche Bedeutung für das jüdische Volk verloren, was George unter anderem mit dem Wegfall der gemeinsamen Mahlzeiten begründet. Verstärkt wurde dieser Bedeutungsverlust zudem dadurch, daß man erst in der Zeit nach dem Abschluß des Pentateuchs das Wochenfest als Andenken an die Sinaigesetzgebung gefeiert habe und somit erst spät eine Verbindung zu einem für das jüdische Volk bedeutsamen geschichtlichen Ereignis herstellte. Beim Passahfest sei es schon in nachdeuteronomischer Zeit zu einer geschichtlichen Deutung des Festes gekommen. George begründet dies damit, 62 Über das Wochenfest schreibt George: „Es ist dasjenige von den Jüdischen Festen, welches seiner ursprünglichen Feier am treusten geblieben ist, und im Verlaufe der Zeit nur eine sehr geringe Entwicklung erfahren hat.“ (258 f.)
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daß mit der Zentralisierung des Kultes das Festritual dieses Tages keine hinreichende Bedeutung mehr fand „und es mußte sich daher leicht bei der Tendenz, den Ursprung an die mosaische Zeit anzuknüpfen, das Bedürfniß entwickeln, die Entstehung des Festes mit seinem Ritus aus einem Factum jener Zeit zu begreifen, und als ein Erinnerungsfest an dieses Factum aufzufassen. Der durch die Entwicklung der Zeit unverständlich gewordene Ritus war also die äußere Veranlassung zu jener Annahme der religiös historischen Bedeutung, zu der der Fortschritt der Idee mit innerer Nothwendigkeit hintrieb“ (268). Diese Aktualisierung und Anpassung erfolgte beim Wochenfest erst sehr spät. Bedingt war dies durch seine enge Beziehung auf das Ende der Ernte, die jedoch schon in der zweiten Periode der jüdischen Geschichte ihre essentielle und existentielle Bedeutung für das jüdische Volk verloren habe. Zudem sei der Ritus des Festes von solch schlichter Art gewesen, daß seine Beziehung auf die Ernte unmittelbar evident war. So kam es, daß erst in sehr später Zeit eine Beziehung zwischen dem Fest und einem für das Volk bedeutsamen geschichtlichen Ereignis hergestellt wurde, weshalb das Wochenfest in späterer Zeit niemals die Bedeutung der beiden anderen, ursprünglich ebenfalls ländlichen Feste, erlangt habe. Die dritte ‚ländliche‘ Feier schließlich, das Laubhüttenfest, sei ursprünglich zum Dank für Öl und Wein zum Jahresabschluß gefeiert worden. „Als Fest der Weinlese hat dieses Fest nun zuerst einen ganz sinnlichen Charakter, und ist seiner Natur nach ein Fest allgemeiner ausgelassener Freude. Der Genuß des gekelterten Mostes stimmt die Gemüther zur Lust, und diese wird durch Spiel und Tanz erhöht. So sind diese die ersten natürlichen Elemente in der Feier unseres Festes, und sie kehren deshalb auch bei allen Völkern wieder.“ (276) Es war ein Gemeinschafts- und Dankfest, wobei das Spezifische des Weinlesefestes das rituelle Übernachten in Hütten in den Weinbergen gewesen sei. Man beging es als Festwoche während der Zeit des Erntens des Weines. Wie bei den anderen Festen erfolgte mit der Zentralisierung des Kultes eine Loslösung des Festes von der Ernte. Zahlreiche Opfer im Tempel seien kennzeichnend geworden. Ein festes Ritual wurde für diese Feiertage ausgebildet. Auffällig sei, daß die fröhlichen Mahlzeiten und das ritualisierte Wohnen in Laubhütten bestehen blieben. Doch auch dies erkläre sich aus einer ‚historischen‘ Umdeutung des Festes: Da das Wohnen in Laubhütten seinen ursprünglichen Sinn verlor, wurde es zum Erinnerungsfest an den Aufenthalt in der Wüste umgedeutet, wobei dieser Deutung auch noch in späterer Zeit die ursprüngliche – eines Erntefestes – gegenüberstand.
3.2.3. Der Versöhnungstag Abschließend ist noch auf eine dritte, von George herausgestellte Klasse von Festen hinzuweisen, repräsentiert durch den Versöhnungstag – auf dessen Sinn und Bedeutung schon hingewiesen wurde. Belegt sei er erst in nachexilischer
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Zeit. Während die ‚chronologischen‘ und die ‚ländlichen‘ Feste immer einen ‚natürlichen‘ Ursprung hatten, handelt es sich hier nach George um ein rein aus ‚religiösen‘ Motiven entstandenes Fest. Hintergrund für die Entstehung des Versöhnungstages, „an welchem das Volk mit Gott versöhnt werden sollte“, war die „Idee der Religion selbst“ (291) – das Bedürfnis nach Versöhnung mit Gott angesichts der empfundenen Schuldhaftigkeit ihm gegenüber. „Daß diese Idee die Grundlage eines allgemeinen Festes werden konnte, setzt ein allgemeines Bedürfniß nach dieser Versöhnung voraus, es zeigt, daß das Volk zu einem tiefen Bewußtsein des sittlichen Verderbens gekommen war, und daß es fühlte, daß es durch eigene Hülfe aus diesem nicht herauskommen könne.“ (291 f.) Seit der Mitte des Exils sei der Versöhnungstag des Exils als Gedenktag der eigenen Sündhaftigkeit gefeiert worden – mit einem Fastentag zu Jahresbeginn. Zahlreiche Sündopfer wurden im Tempel dargebracht und ein eigentümliches Ritual fand statt, bei dem ein symbolisch mit der Schuld des Volkes beladenes Tier zu ‚Asasel‘ in die Wüste geschickt wurde, um diesem die von ihm herrührenden Sünden wieder zuzuführen. Die genauere Entstehung dieses Rituals läßt sich George zufolge nicht mehr rekonstruieren.
4. Die Interpretation des Alten Testaments 4.1. Die genetische Erklärung der israelitischen und jüdischen Geschichte Jörn Rüsen unterscheidet neben den Typen des exemplarischen, traditionalen und kritischen Erzählens als einen gesonderten Typus das Modell des genetischen historischen Erzählens.63 Daß es sich dabei um eine idealtypische Unterscheidung handelt und es vielfältige Überschneidungen gibt, hat Rüsen selbst mitreflektiert.64 Wissenschaftshistorisch wird das genetische Modell von Rüsen als ein Typ historischen Erzählens dargestellt, der sich in der sogenannten pragmatischen Geschichtsschreibung der Aufklärungszeit formierte und speziell im beginnenden 19. Jahrhundert eine besondere Rolle spielte. Die genetische Erklärung stellt geschichtliche Ereignisse als eigendynamische Entwicklungen und prozeßhafte Verläufe dar. „Genetisches Erzählen formiert sich in Geschichten, die Strukturveränderungen eines Systems als notwendige Bedingung dafür erinnern, daß es sich im Zeitfluß auf Dauer stellen kann. Zeitliche Veränderungen werden als Modi der Kontinuierung selber interpretiert; […]. Es erinnert die Vergangenheit als ein ‚zwar schon, aber auch noch nicht‘ dessen, was das gegenwärtige Handeln als leitende Absicht in die aktuellen Veränderungen ein63
Jörn Rüsen, Die vier Typen des historischen Erzählens, in: Reinhart Koselleck / Heinrich Lutz / Ders. (Hgg.), Formen der Geschichtsschreibung (Beiträge zur Historik 4), München 1982, 514–605. 64 Vgl. a. a. O., bes. 536–543 und 563–577.
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bringt, in denen es sich vollzieht und die es vollzieht, und es eröffnet dem Handeln dadurch eine Zukunftsperspektive, in der es über die Vergangenheit hinausgelangt und nicht von ihr abgeschnitten wird.“65 Konstitutiv ist das Motiv des kontinuierlichen Fortschritts. Der innere Zusammenhang der Geschichte sei dabei nicht erst ein durch methodische Reflexionen hergestellter, sondern bereits auf der Ebene der Ereignisverläufe anzutreffen. Historische Identität bilde sich durch die Deutung von Zeiterfahrungen. „Zeit wird durch genetisches Erzählen als Sinn verzeitlicht.“66 Dies geschieht, indem zeitliche Veränderungen als historischer Prozeß gedeutet werden, auf den sich gegenwärtiges Handeln ausrichten muß. Diese Sinnbildung durch die genetische Erklärungsart hänge dabei allein an der Rekonstruktion eines Fortschritts, unabhängig davon ob die Veränderungen gegenüber der Vergangenheit als positiv oder als Verfall gedeutet werden. Das Modell des genetischen Erzählens prägt Rüsen zufolge – trotz immer wieder geübter Kritik – die Geschichtsschreibung bis heute.67 Einer der ersten Theologen, der diese Methode auf dem Gebiet der alttestamentlichen Geschichtsschreibung anwendete, ist Johann Friedrich Leopold George. Es war für George die ‚Archäologie‘, der die Aufgabe zukam, auf der Grundlage einer von ihm vorgenommenen kritischen Schichtung der alttestamentlichen Textkorpora und der sich in denselben widerspiegelnden je „eigenthümlichen Entwicklung“ (XII f.) den fortschreitenden Wandel und die komplexer werdende Ausgestaltung der verschiedenen Geschichtsepochen aufzuweisen. Der Archäologie sei es möglich, die den unterschiedlichen Perioden der israelitischen und jüdischen Historie zugrundeliegenden Ideen zu rekonstruieren und den „Fortschritt“ darzustellen, „der sich überall dem Suchenden zeigt“ (XIII). Er zeige sich insbesondere in dem fortschreitend gesteigerten gedanklichen Reflexionsniveau der teilweise nur bruchstückhaft vorliegenden Überlieferungen, denen jedoch mit Bezug auf das Ganze der „Geschichte des für uns so wichtigen Volks“ (XII) ein Sinn abgewonnen werden könne. Kaum verwunderlich ist es daher, daß es für George „gerade die Archäologie [ist, Anm. M. G.], welche uns erst das wahre Leben eines Volkes zur Anschauung bringt, indem sie uns den Zustand desselben, wie er in allen verschiedenen Zeiten und Beziehungen war, vor Augen stellt. Ihr Zweck ist es, alle Richtungen des Volkslebens in ihrem nothwendigen Zusammenhange aufzustellen, und dadurch eine aus der andern, und jede aus der Idee selbst zu erklären“ (XIII f.). Auch wenn George Archäologie als eine „Ergänzung der Geschichte“ (XIV) definiert, so kann doch gesagt werden, daß für ihn die Historie als wissenschaftliche Disziplin erst in 65
A. a. O., 555 f.
66 A. a. O., 556, im Original 67 „Seitdem die Aufklärung
hervorgehoben. von der kritischen Depotenzierung vorgegebener historischer Herrschaftslegitimationen und entsprechender Identitätsdefinitionen zur Ausführung eigener Kontinuitätsvorstellungen übergegangen ist, prägt die genetische Erzählweise die Historiographie.“ (A. a. O., 557)
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der Archäologie auf ein gesichertes Fundament gestellt wird. Denn sie bringt nicht nur das „Innere“ (XIV), die besondere Bedeutung einer jeden geschichtlichen Erscheinung zum Ausdruck, sondern die Archäologie ist George zufolge noch durch zwei weitere Merkmale gekennzeichnet. Zum einen handelt es sich um so etwas wie das von Herder stark gemachte ‚Einfühlen‘ in die Denkmale eines Volkes. Erst das Einleben, die umfassende Erkenntnis der Sitten, Gebräuche und Lebensgewohnheiten eines Volkes biete den Schlüssel zum Verständnis seiner Überlieferungen. Allein die Archäologie sei in der Lage, deren wahre Bedeutung, mit der zugleich ihr aktueller Sinn korrespondiert, verständlich zu machen.68 Zum anderen bildeten umfangreiche archäologische Kenntnisse die Grundlage für die notwendige Quellenkritik. Allein sie sei in der Lage, in die vielfältigen und einander überlagernden Überlieferungen – die insbesondere in den alttestamentlichen Schriften vorlägen – eine methodisch abgesicherte Ordnung zu bringen und so eine an deren eigenen inneren Ideen orientierte Kritik derselben vorzunehmen, die nicht in reiner Beliebigkeit verbleibe.69 Die Archäologie gebe den Rahmen für die kritische Forschung vor, weise ihr damit ihre Stellung im Methodengefüge zur Auslegung des Alten Testaments an und sorge so für den Fortgang in der wissenschaftlichen Erforschung desselben. Die Ergebnisse der Quellenkritik Georges, auf die hier noch einmal zurückzukommen ist, sind nur vor dem Kontext des damaligen Standes der Erforschung des Alten Testaments zu verstehen, da sie in zahlreichen Punkten an diese anknüpfen, aber auch charakteristische Abweichungen von ihnen aufweisen. Dabei spielen seine Untersuchungen zum Pentateuch eine wichtige Rolle, worauf schon die ersten Reaktionen auf Georges Schrift hingewiesen haben. In einer 1837 publizierten Sammelrezension zu damals neu erschienenen und der historischen und kritischen Methode verpflichteten Forschungen zur alttestamentlichen Theologie, die zwei Jahre nach dem Erscheinen von Georges Werk über ‚Die älteren Jüdischen Feste mit einer Kritik der Gesetzgebung 68 „Sodann aber ist sie das erste und nothwendigste Hülfsmittel zur Erkenntniß der Literatur, die uns erst zugänglich wird, wenn wir durch jene uns in den Charakter des uns sonst so fremden Volkes hineingelebt haben, und zu dem Standpunkt gekommen sind, daß wir von der Gewohnheit des eignen Lebens abstrahirend, das fremde zu unserm Eigenthum machen können.“ (XIV) 69 „Zuletzt endlich ist sie die einzige Richtschnur für die Kritik, obgleich sie aus dieser selbst nur hervorgehen kann, und sich darauf gründen muß; aber eben erst die Erkenntniß der in ihr sich selbst bewegenden Idee ist es, die das sonst willkürliche Verfahren derselben beschränkt und regelt. Die Archäologie giebt der Kritik ihren Stoff, und je wissenschaftlicher jene betrieben wird, desto weniger wird diese sich als eine Reihe von Meinungen darstellen, die auf dem bloßen Gefühl beruhen, und wo dieses ein anderes ist, nicht anerkannt, sondern verworfen werden, und desto weniger wird sie bloß bei der äußern Erscheinung stehen bleiben, die wenn ihre Idee nicht begriffen wird, rein zufällig bleibt, und auf jede mögliche Weise erklärt und mit ihren Umgebungen in Verbindung gebracht werden kann.“ (XIV f.) Zur ‚sich selbst bewegenden Idee‘ vgl. Hegels Lehre vom sich selbst bewegenden Begriff in der Wissenschaft der Logik.
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des Pentateuch dargestellt‘ veröffentlicht wurde, gibt Wilhelm Martin Leberecht de Wette einen knappen Abriß über das George eigentümliche Verständnis der Entstehung des Pentateuchs. Da er einen guten Überblick über den damaligen Stand der Pentateuchforschung bietet, sei er hier vollständig zitiert: „Am Frühesten entwickelten sich die geschichtlichen Mythen der Gen[esis] und des Exod[us]. Sie wurden nicht von Einzelnen gemacht, sondern bildeten sich im Volke und pflanzten sich von Mund zu Munde fort, wurden später aufgezeichnet und erhielten dadurch ihre feste Gestalt. Wann dieß geschah, will der Verf[asser] nicht bestimmen. Die Erzählungen des Exod[us] haben sich später gebildet, sind jedoch älter als Alles, was wir von der hebr[äischen] Literatur übrig haben. Dieses Buch hatte den Auszug aus Aegypten und die Gesetzgebung […] zum Gegenstande und erhielt ursprünglich auch den Dekalogus, dessen Einfachheit von seinem Alterthume zeugt. Nun trat eine Entwicklung des Gesetzes, hauptsächlich unter dem Einflusse des Prophetenthums, ein, und diese kam zuerst im Deut[eronomium], dem ersten ausführlichen Gesetzbuche, zum Vorscheine. Nach dem Exile bildeten sich ganz andere Einrichtungen, wofür Ezechiel schon Anweisungen gegeben hatte, und so entstand der Leviticus. So wie aber schon das Deut[eronomium] den Anfang damit gemacht hatte, die neuen Gesetze Mose’n in den Mund zu legen, so wurden nach Vollendung der Gesetzgebung durch den Leviticus in der Geschichte Anknüpfungspunkte für die Gesetze gesucht und diese an die Erzählungen des Exod[us] und Num[eri] angereihet, wobei denn mancher Nachtrag von Geschichte sowohl als von Gesetz aufgenommen wurde.“70 Vergleicht man diese Ergebnisse der quellenkritischen Untersuchungen Georges mit den Studien de Wettes selber, so sind insbesondere zwei Punkte auffällig. Zum einen unterscheidet George durchgängig die von ihm sogenannten ‚geschichtlichen‘ Überlieferungen von den ‚gesetzlichen‘. De Wette hatte als einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten Ergänzungshypothese71 in den mosaischen Büchern als den für die israelitische und jüdische Geschichte bedeutsamsten historischen Denkmälern – so die damals allgemein geteilte Überzeugung – neben der Sonderstellung des Deuteronomiums eine ‚Urschrift‘ bzw. ‚Urkunde Elohim‘ herausgearbeitet. Sie bildete seiner Meinung nach die Grundlage des Pentateuchs. Diese elohistische Grundschrift sei dann durch zahlreiche später zu datierende Textpassagen ergänzt worden – de Wette nennt sie die „jehovistischen Bestandtheile“72. Gegenüber diesem in Georges Augen zu mechanisch sortierenden Ordnungsverfahren, das de Wette zu dem Schluß kommen ließ, daß das Deuteronomium jünger als die übrigen Bücher des Pen70 De Wette, Rez.: Wilhelm Vatke, Die Religion des Alten Testaments nach den kanonischen Büchern entwickelt u. a., 960 f., Hervorhebung im Original. 71 Neben ihm ist insbesondere Heinrich Ewald zu nennen. 72 De Wette, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die Bibel Alten und Neuen Testaments I, 172.
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tateuchs sei, kommt er zu anderen Ergebnissen. Denn zunächst einmal seien die ‚geschichtlichen‘ und die ‚gesetzlichen‘ Textpassagen zu sondern – denen George den Rang verschiedener Quellen zuspricht, die jeweils eigenständig entstanden seien.73 Dabei tritt der Pentateuch weit mehr als bei de Wette als ein historisch gewachsenes Werk in das Blickfeld – wobei George sich durchaus der Anleihen bewußt ist, die er bei ihm nimmt: „Um […] meine Ansicht zuerst so allgemein als möglich auszusprechen, muß ich mich dahin erklären, daß ich keine andere zu der meinigen machen kann, als die, welche in dem Pentateuch das Werk verschiedener Verfasser und verschiedener Zeiten erkennt. Diese Ansicht verträgt sich allein mit einer Entwicklung der Jüdischen Geschichte, während die entgegengesetzte jeden Fortschritt läugnet, und den Endpunkt derselben schon zu ihrem Anfangspunkte macht; sie beruht darauf, daß sich in den einzelnen Büchern selbst eine verschiedene Entwicklungsperiode des Volkes zeigt, was unmöglich wäre, wenn das Ganze einer Zeit von einem Verfasser ausgegangen wäre. Die sehr in die Augen springenden Verschiedenheiten sind durch die kritischen Forschungen der neueren Zeit, besonders seit den verdienstlichen Untersuchungen von Vater und de Wette, so sehr ins Licht gestellt worden, und dadurch obiges Resultat so sicher festgestellt, daß Niemand, der mit unbefangenen Augen die Sache betrachtet, sich dessen erwehren kann, weshalb auch nur noch dogmatische Rücksichten Kämpfer dagegen hervorzurufen vermögen.“ (6, Hervorhebungen im Original) George sieht die Innovation seiner Forschungen darin, Ordnung in das Gewirr der verschiedenen Verfasser des Pentateuchs gebracht zu haben. Dabei unterscheidet er eine (1.) epische Epoche, der die geschichtlichen Passagen des Pentateuchs zuzuordnen seien, eine (2.) lyrische Epoche der Poesie – hierher gehört das Deuteronomium – und eine (3.) Periode, in die die gesetzlichen Textkorpora gehörten. Damit sind wir bei dem anderen Punkt angelangt, an dem George die Forschungen de Wettes weiterführte. Zum anderen – in unmittelbarer Anknüpfung an das soeben Dargestellte – kommt George bei seiner Untersuchung der verschiedenen Textkorpora des Alten Testaments zu einem gegenüber de Wette modifizierten Ergebnis der Quellenscheidung. Wie dieser sprach auch George dem Deuteronomium eine Sonderstellung zu. Doch zeuge der Quellenbefund nicht von seiner späten Abfassung. De Wette hatte herausgearbeitet, daß es als letztes der mosaischen Bücher niedergeschrieben worden sein müsse. George stimmt ihm darin zu, daß das Deuteronomium das zur Regierungszeit des Königs Josia von Juda aufgefundene Gesetzbuch sei. Doch handele es sich bei ihm nicht um den zuletzt entstandenen Text des Pentateuchs, sondern um das erste in Buchform kodifizierte Recht in Israel bzw. Juda.74 Diesen Schluß kann de Wette nicht nachvoll73 „In dem ganzen Pentateuch muß man zwei Theile unterscheiden, einen geschichtlichen und einen gesetzlichen.“ (11) 74 „Wäre, wie de Wette annimmt, das Deuteronomium das späteste Buch des Pentateuch[s]
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ziehen. Trotz des oben zitierten ausführlichen Referats der Position Georges wird an anderer Stelle derselben Sammelrezension de Wettes deutlich, daß er dessen Unterscheidung der ‚historischen‘ und ‚gesetzlichen‘ Erzählungen des Pentateuchs – die in etwa der heutigen Trennung der priesterlichen von den nichtpriesterlichen Überlieferungen entspricht75 – für falsch hält. Zwar dürfte de Wette mit Wohlwollen festgestellt haben, daß die eigenen Deuteronomiumstudien den Ausgangspunkt der folgenden Forschungen zur alttestamentlichen Theologie darstellten – insofern sie der historisch-kritischen Methode verpflichtet waren.76 Um so schwerer aber sieht de Wette in dem von ihm zu rezensierenden Werk Georges diesen von ihm als unverbrüchlich geltend angenommenen Forschungskonsens gestört. „Es ist als ausgemacht anzusehen, daß das Deuteronomium in seiner gegenwärtigen Gestalt die vorhergehenden Bücher des Pentateuchs voraussetzt […], während George zu Refs. Verwunderung das Deuteronomium in seiner gegenwärtigen Gestalt für das früheste zu halten scheint.“77 De Wette zufolge war die elohistische Grundschrift, samt den jehovistischen Ergänzungen, vor dem Deuteronomium entstanden. George kam demgegenüber zu einem differenzierteren Ergebnis: Zwar ging auch er von älteren ‚geschichtlichen‘ Erzählungen aus, die insbesondere in den Büchern Genesis und Exodus zu finden seien. Von ihnen seien aber die gesetzlichen Textkorpora des Pentateuchs zu unterscheiden, vor allem in den Büchern Levitikus und Numeri. Gestützt sieht George die von ihm vorgenommene Quellenscheidung durch die prophetischen Schriften.78 Das Deuteronomium nimmt dabei eine Mittelstellung ein. Er sieht in ihm also keineswegs eine der ältesten Überlieferungen des Alten Testaments. Und auch im Pentateuch gehen ihm zahlreiche Textkorpora voraus. Dabei markiert es eine Art Grenze zwischen der israelitischen und jüdischen Geschichte, was insbesondere an seinem Gesetzesverständnis deutlich wird. „Die Gesetze sind im Deuteronomium durchaus noch in der Form der Ermahnung, wie wir sie in den Propheten gewohnt sind, gewesen, das die übrigen voraussetzt, und sie modificirt, so müßten diese, wie sie früher vorhanden, auch nothwendig früher bekannt gewesen sein; denn schwerlich läßt sich denken, daß auch diese Bücher damals erst mit dem Deuteronomium aufgefunden worden wären, obgleich sie schon längst vorher verfaßt gewesen. Nun aber zeigt die von der Auffindung des Gesetzbuches handelnde Stelle im II. Buche der Könige deutlich, daß früher kein Gesetzbuch bekannt war.“ (13, Hervorhebung im Original) 75 Vgl. etwa Reinhard Gregor Kratz, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments. Grundwissen der Bibelkritik, Göttingen 2000, bes. 226–313. 76 „Die Ansicht vom Deuteronomium ist in der Kritik des Pentateuchs entscheidend und daher wollen wir hier davon ausgehen.“ (De Wette, Rez.: Wilhelm Vatke, Die Religion des Alten Testaments nach den kanonischen Büchern entwickelt u. a., 953) 77 Ebd., Hervorhebung im Original. 78 „Die Propheten kennen nun die geschichtlichen Mythen des Pentateuch, und erwähnt sie nicht selten. Nie aber zeigen sie eine Kenntniss von dem göttlichen Gesetzbuch, […]. Während dies von allen frühern vor Josias lebenden Propheten gilt, so ändert es sich sogleich mit den Propheten, die nach ihm auftreten. Jeremias ist hier der erste, und er kennt und erwähnt sogleich das Gesetz.“ (15)
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hingestellt, mit deren Sprache es daher auch ganz verwandt ist. Wie der Geist in diesem Buche derselbe ist, der in den Propheten hervorleuchtet, so ist auch die Art und Weise der Darstellung dieselbe.“ (19) In den späteren ‚gesetzlichen‘ Textkorpora herrsche dagegen ein Geist der Strenge und Unbarmherzigkeit, der als Wille Gottes dargestellt werde.79 Der Unterschied zwischen de Wette und George besteht dabei nicht nur in der unterschiedlichen Quellenscheidung.80 Denn während ersterer noch einer ziemlich mechanisch verfahrenden Methode der Rekonstruktion und Zuordnung einzelner Fragmente folgte, liegt den Untersuchungen des Letzteren ein genetisches Modell der Geschichte zugrunde, auf das nun noch einmal eingegangen werden soll. Grundlegend dafür ist der Entwicklungsgedanke in seiner Bestimmung durch Georg Wilhelm Friedrich Hegel81 – an den George anknüpft. In Hegels einleitenden Begriffsbestimmungen zu seinen Vorlesungen über die ‚Geschichte der Philosophie‘, die er 1805 / 06 erstmals hielt und mehrfach wiederholte82, wird der Begriff der Entwicklung in seiner grundlegenden Bedeutung für das geschichtliche Erkennen prominent erläutert: „Nur das Lebendige, das Geistige rührt sich in sich, entwickelt sich. Die Idee ist so – konkret an sich und sich entwickelnd – ein organisches System, eine Totalität, welche einen Reichtum von Stufen und Momenten in sich enthält.“83 Zum Wesen der Entfaltung eines ideell Angelegten gehört für Hegel der Gedanke der fortschreitenden Entwicklung, in dem das zunächst bloß prinzipiell Vorhandene geistig begreifbar wird. Kennzeichnend für das ‚Entwickeln‘ ist zum einen, daß es um die Erfas79 „Hier
werden die Gesetze kurz und durchaus streng gebietend hingestellt, an jedem Satz erkennt man, daß er Gesetz sein soll. Hier ist keine Ermahnung mehr, hier kommt es nicht darauf an, eine gute, Gott wohlgefällige Gesinnung zu erwecken, sondern nur den Buchstaben des Gesetzes hinzustellen. Was geschehen soll und was nicht, ist hier Hauptsache, überall den Willen Gottes aufzuzeigen und in bestimmte Formen zu fassen, ist das, worauf alles abzweckt.“ (19 f. Hervorhebung im Original) 80 Georges Spätdatierung der (später priesterschriftlich genannten) Gesetze und die Frühdatierung der (später dem Jahwisten und Elohisten zugeordneten) Erzählungen des Pentateuchs – mit der Sonderstellung des Deuteronomiums zwischen diesen beiden Textkorpora – weist große Nähen zur Wellhausenschen JEDP-Hypothese auf: „The narrative sections of Genesis and Exodus that George associated with the first or epic period of religion in Israel are not dissimilar from what the later Documentary Hypothesis called J and E. The parts of Exodus, Leviticus and Numbers dealing with ritual, and associated by George with the post-exilic period are not dissimilar from what was later called P. And it was common ground that Deuteronomy was the fixed point indicating the innovative centralization of the seventh century.“ (Rogerson, Old Testament Criticism in the Nineteenth Century, 67 f.) 81 „Der geschichtsphilosophische Entwicklungsgedanke hat in der Philosophie Hegels seine differenzierteste und zugleich geistesgeschichtlich wirksamste Gestalt angenommen.“ (Andreas Cesana, Geschichte als Entwicklung? Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Entwicklungsdenkens [QSP 22], Berlin / New York 1988, 184.) Zum Entwicklungsbegriff Hegels vgl. a. a. O., bes. 184–209. 82 Vgl. Hans Friedrich Fulda, G. W. F. Hegel, München 2003, bes. 265–267. 83 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I (Theorie Werkausgabe 18), Frankfurt am Main 1971, 46.
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sung eines vorhandenen Vermögens geht, und zum anderen, daß dieses ideell Vorhandene seine fortschreitende Entfaltung erfährt, ohne das ihm genuin Eigene zu verlieren. „Indem das Hinausgehen der philosophischen Idee in ihrer Entwicklung nicht eine Veränderung, ein Werden zu einem Anderen, sondern ebenso ein Insichhineingehen, ein Sichinsichvertiefen ist, so macht das Fortschreiten die vorher allgemeine unbestimmtere Idee in sich bestimmter; weitere Entwicklung der Idee oder ihre größere Bestimmtheit ist ein und dasselbe.“84 Es handelt sich bei dem Gedanken der fortschreitenden Entwicklung um die Überführung eines zunächst bloß sinnlich Gegebenen in ein konkret Begriffenes. Dem historischen Verstehen, der Rekonstruktion des genetischen Prozesses, wohnt daher für Hegel von vornherein ein geistiges Moment inne. Es gilt, ein konkretes historisches Ereignis seinem Wesen nach als Erscheinung zu durchdringen.85 Leopold George überführte den Hegelschen Entwicklungsgedanken – den Hegel für die Bibelauslegung fruchtbar gemacht hatte, wobei das Christentum als ‚vollendete Religion‘86 und das Neue Testament als dessen Heilige Schrift den Maßstab bildete87 – in das Gebiet der alttestamentlichen Wissenschaft und nutzte ihn zur genetischen Erklärung der israelitischen und jüdischen Geschichte. Sein Ziel war es, den „Fortschritt in dem Leben des Volkes aufzusuchen“ und ihn „auf wissenschaftlichem Wege zu begründen und zu begreifen“ (X). Hauptquelle seiner Untersuchungen bildeten die gesetzlichen Überlieferungen des Alten Testaments, deren zentrale Aussagen er rekonstruierte und in ein zeitliches Schema einordnete. Georges Hauptaugenmerk galt dabei der Näherbestimmung des „relativen Alter[s] der einzelnen Bücher des Pentateuchs“ (XI) – wobei genauer von einzelnen Textkorpora zu sprechen wäre –, die er in ein dreigliedriges Schema einordnete: (1.) Die frühen Bestimmungen aus der Entstehungszeit des Volkes Israel, wie sie beispielsweise in der Idee von der Ordnung der Woche mit ihren Arbeits- und Ruhetagen greifbar seien, die jedoch lediglich in Form von Mythen vorlägen.88 (2.) Das erste Gesetzbuch der Israeliten, das Deutero84 A. a. O., 47. 85 Zu Hegels Verständnis
der jüdischen Religion, fokussiert auf den Begriff des hebräischen Monotheismus, vgl. Friedemann Barniske, Hegels Theorie des Erhabenen. Grenzgänge zwischen Theologie und philosophischer Ästhetik (BHTh 192), Tübingen 2019, bes. 286–339. 86 Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion 3. Die vollendete Religion, Hamburg 1995. 87 Zur Bibelkritik Hegels vgl. Jörg Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (HUTh 46), Tübingen 2004, bes. 44–49. 88 „Wenn wir in dieser Darstellung [gemeint ist der erste Schöpfungsbericht der Genesis, der jedoch für sämtliche Bestimmungen der Frühzeit steht, Anm. M. G.] etwas Geschichtliches erkennen wollten, würden wir den ganzen Geist des schönen, im kindlichen Sinne des Juden thums gedichteten Mythus völlig verkennen; wie der Gegenstand über alles Historische hinaus liegt, so läßt sich hier auf geschichtlichem Wege auch nichts erkennen.“ (77)
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nomium, welches George als eine Art Gesinnungsethik versteht.89 Ganz im Gegensatz dazu stehen ihm zufolge (3.) die später entstandenen gesetzlichen Bestimmungen im Alten Testament, die im Pentateuch vor allem in Passagen der Bücher Exodus, Levitikus und Numeri vorlägen. „Im Deuteronomium herrscht Gefühl, in den übrigen nur der Verstand; dort mehr Menschenliebe, hier mehr Gesetz; dort nur Ermahnung, hier feste Anordnung; dort die Macht der Verhältnisse sichtbar, hier kalte Abstraction und Consequenz.“ (162, Hervorhebungen im Original) Trotz der Nähen Georges zur idealistischen Philosophie werden hier der Gefühls- und der Verstandesbegriff nicht in der terminologischen Form eines Hegel oder Schleiermacher gebraucht. Vielmehr ist es George darum zu tun, eine zunehmende Verrechtlichung nachzuweisen, die die israelitische und jüdische Geschichte kennzeichne. Neben den drei großen von ihm abgegrenzten Zeitepochen arbeitete er zahlreiche Vermittlungsschritte heraus, so daß es ihm möglich ist, eine durchgehende Entwicklung von den ersten Anfängen Israels bis hin zum endgültigen Untergang des Staates aufzuzeigen. Neben der mit der Zeit wachsenden Zahl an Gesetzen, die das Leben immer mehr in ein Korsett von Bestimmungen einschlossen, diagnostiziert George eine zunehmende Konsequenzmacherei, die nicht nur den Kult, sondern auch den Alltag bestimmte. In der Frühzeit habe eine dem ‚Gefühl‘, eine den eigenen unmittelbaren Bedürfnissen entspringende freie Geselligkeit geherrscht, die ihren Ausdruck in ungezwungenen Zusammenkünften und gemeinsamen ‚Festen‘ fand. In der Spätzeit dagegen der kalte und berechnende ‚Verstand‘, der die ursprünglichen zwanglosen Feiern in einen alles beherrschenden ‚Kult‘ überführte, der noch die fernsten Lebensbereiche einem festgefügten Reglement unterwarf. Diese Überlegungen erinnern stark an die Rousseauschen Ausführungen zum Menschen, wonach derselbe durch den zunehmenden gesellschaftlichen Fortschritt seine ursprünglich guten Anlagen verloren habe, was mit der Zeit zu einer Entfremdung von seinem eigentlichen Wesen führte. In diesem von George aufgezeigten Prozeß der fortschreitenden Ausdifferenzierung waren es die Feste, die seine besondere Aufmerksamkeit auf sich zogen.90 Hierbei entwirft er eine seinem Epochenschema entsprechende Theorie der Feste bzw. des Kultes, wonach dieselben zunächst eine rein ‚natürliche‘ (1.), 89 „Fassen wir den allgemeinen Charakter der Gesetzgebung des Deuteronomium[s] zuerst ins Auge, so erscheint hier überall das Gefühl überwiegend, während in den übrigen der Verstand vorherrscht. Überall wird in jenem an das eigne Herz appelirt, überall die Mildthätigkeit angesprochen, nirgends das strenge Recht in seinem schneidenden Widerspruche gegen die Verhältnisse abstrakt hingestellt, sondern vielmehr immer, wo es durch strenge Durchführung hart und drückend erscheinen würde, gemildert. Liebe Gott und deinen Nächsten, und hilf deinem leidenden Bruder, das ist der Grundsatz, nach dem das ganze Deuteronomium verfaßt ist.“ (18, Hervorhebungen im Original) 90 „Überblicken wir […] die ganze Entwicklung unserer Feste, so haben wir in ihnen ein Bild, das uns die Geschichte des Volkes in einem verjüngten Maßstab darstellt, und in einem kleinen Rahmen den ganzen Lauf seiner Bildung veranschaulicht. Alle einzelnen Züge in demselben sind bedeutend, indem sie die ganze[n] Richtungen des Volkslebens repräsentiren, und
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dann eine ‚geschichtliche‘ (2.) und schließlich eine ‚religiöse‘ (3.) Bedeutung bekommen hätten. Was George vorschwebt, soll hier abschließend erläutert werden. Er macht seine Theorie an folgenden Überlegungen zur Transformation der Bedeutung der Feste im Laufe der Geschichte fest: (1.) Zu den ältesten historischen Denkmalen heißt es: „Wenn wir nur ganz im Allgemeinen den Gang der Entwicklung verfolgen, so zeigen sich uns die Feste zuerst, als von einem rein natürlichen Anfangspunkte ausgehend, mit durchaus überwiegend sinnlicher Bedeutung und Feier, und so tritt auch das Jüdische Volksleben Anfangs in diesem natürlichen Charakter hervor.“ (304, Hervorhebungen M. G.) Diese besondere Würdigung der ‚Natürlichkeit‘ erweckt den Anschein, als ob George mit ihr die ältesten sagenhaften und mythischen Überlieferungen des Alten Testaments kennzeichnen wollte. Gerade der ältesten alttestamentlichen Poesie wird gemeinhin eine besondere Affinität zur Sinnlichkeit zugesprochen, worauf insbesondere Herder aufmerksam gemacht hatte. George geht es aber gerade nicht um die Schöpfungsmythen und andere alttestamentliche Sagen der Urzeit, die „vor aller Geschichte liegen“ (304) und von einer Zeit handeln, in der die Israeliten sich weder als Volk konstituiert hatten, noch seßhaft geworden waren. Vielmehr denkt er an so etwas wie eine ‚natürliche‘ Gebundenheit der Israeliten an die Gegebenheiten des alltäglichen Lebens, die in der Zeit der Inbesitznahme Kanaans geherrscht haben müssen. Als Ackerbau treibendes Volk habe es sich seine Ungebundenheit bewahrt, die sich gerade in der ‚natürlichen‘ Zusammenkunft zu Festen anläßlich der Ernte zeige91 – andere haben George zufolge noch nicht existiert. Mit der Gegenüberstellung zu den (späteren) ‚geschichtlichen‘ und ‚religiösen‘ Festen möchte er dabei weder deren ungeschichtlichen noch deren unreligiösen Charakter behaupten. Vielmehr habe eine ‚natürliche‘, vielleicht am besten als naiv im positiven Sinne des Wortes zu beschreibende Religiosität geherrscht, die sich frei und ungezwungen entwickeln konnte. Hinter dieser Rekonstruktion der israelitischen Frühgeschichte darf man mit Sicherheit besondere Sympathien von George für diese Art der Religion vermuten. Deutlich wird dies bei seiner Darstellung zu den (2.) ‚geschichtlichen‘ und (3.) ‚religiösen‘ Festen, wobei es Indizien sowohl für deren enge Zusammengehörigkeit als auch für die Zuordnung zu unterschiedlichen Epochen der israelitischen und jüdischen Geschichte gibt. Einerseits spricht George davon, daß die „frühern Zeiten des Glücks und der Freiheit“ (306) später nicht mehr herrschhier in deutlichen Umrissen Alles das wiedergeben, was auf dem weitern Felde sich vielfältig verzweigt und ausbreitet, und dadurch der Beobachtung sich mehr entzieht.“ (304) 91 In Palästina, in Kanaan „constituirt es sich […] als ein ackerbauendes Volk, und alle seine Feste stehen damit in Beziehung, indem sie reine Erntefeste sind. Das ganze Bestreben ist dabei noch auf das Äußere gerichtet, das es sich anzueignen sucht; hier aber ist Alles volles Leben, und mit überfluthender Kraft ringt es sich hinauf, um das ihm vorgesteckte Ziel zu erreichen“ (304).
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ten, was sich auch im Bedeutungswandel der Feste widerspiegele: „[I]hre natürliche Bedeutung geht gänzlich verloren, und allein die religiöse bleibt übrig, an die Stelle der erstern tritt aber eine auf die Vergangenheit bezogene geschichtliche, und sie zeigen sich nun als Erinnerungsfeste an die großen Begebenheiten, die das Volk zum Volke gestalteten“ (306, Hervorhebungen M. G.). Dies spricht für eine enge Zusammengehörigkeit beider. Sie resultieren aus Abstraktionsleistungen, die den ursprünglich ‚natürlichen‘ Feiern einen neuen Sinn als Erinnerungsfest an wichtige Ereignisse der Volkshistorie gaben, die nach bestimmten Ritualen zelebriert und religiös aufgeladen wurden.92 Andererseits unterscheidet George die ‚geschichtliche‘ und ‚religiöse‘ Deutung der Feste, wobei er beide Begriffe je auf ihre Weise eigentümlich definiert. Zur ‚geschichtlichen‘ (2.) hält George bei einem zusammenfassenden Vergleich des Passah-, Wochen- und Laubhüttenfestes – die zunächst aus reiner Dankbarkeit für eine erfolgreiche Ernte begangen worden seien – fest: „Nur bei dem ersten Feste, dem der ungesäuerten Brodte oder dem Paschafeste, ist außer dieser allgemeinen natürlichen Beziehung noch eine besondere geschichtliche hinzugekommen, nämlich die, daß das Fest als Andenken an den Auszug aus Ägypten gefeiert wird, wodurch die andere mehr in den Hintergrund gestellt ist.“ (85, Hervorhebungen im Original) Der hier zugrundegelegte Begriff von Geschichte ist nicht zu verwechseln mit der von George im Hinblick auf den Pentateuch gebrauchten Unterscheidung von geschichtlichen und gesetzlichen Textkorpora. Auch wird damit nicht auf die historische Faktizität abgehoben, denn George behauptet dieselbe auch für die ‚natürlichen‘ Feste. Wenn er in diesem Zusammenhang von ‚geschichtlich‘ spricht, möchte er darauf aufmerksam machen, daß die ursprünglich aus reiner Dankbarkeit gefeierten Erntefeste im Laufe der Zeit auch eine Veränderung ihres Sinnes erfuhren. Feste, die diesen Transformationsprozeß nicht mit vollzogen, hätten unweigerlich einen Bedeutungsverlust erfahren. Das ‚Geschichtliche‘ daran ist ihr Bezug auf besondere Ereignisse der israelitischen und jüdischen Geschichte, so daß beispielsweise das Passahfest nun zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten gefeiert wurde.93 Der Bezug auf ‚natürliche‘ Begebenheiten spielte dabei eine 92 So heißt es mit Blick auf die spätere jüdische Geschichte: „Zeiten des Unglücks führen aber immer zur Selbsterkenntniß, und so brachte denn die Noth des Exils auch dem Jüdischen Volke sein sittliches Verderben zum Bewußtsein; es fühlte, daß es sich selbst die Schuld daran zuzuschreiben habe, und das schon überwiegende religiöse Bewußtsein wurde so nothwendig ein Bewußtsein der allgemeinen Sündhaftigkeit. Die ganze folgende Zeit in der Entwicklung der Juden ist daher ein Kampf gegen dieses Bewußtsein, und ein Streben dasselbe zu überwinden, und alle vergeblichen Versuche, die hier gemacht werden, treiben zu dem Ziele hin, zum Christentum, in welchem der Sieg verliehen wird.“ (306 f.) 93 „Nun haben wir […] in den allgemeinen Betrachtungen über die Entwicklung der Feste schon gesehen, wie sich an die natürliche Bedeutung derselben allmählig eine geschichtliche anschloß. Zuerst geschah dies beim Paschafeste, welches als Andenken an den Auszug aus Ägypten aufgefaßt wurde, und es fragt sich nun, wie dieser Fortschritt, der an sich als ein nothwendiger oben aufgezeigt worden ist, sich gerade in dieser Form gestaltete. Der allgemeine
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ebenso große Rolle wie die sich immer weiter ausdifferenzierenden ‚religiösen‘ Festgebräuche. Zur ‚religiösen‘ Bedeutung der Feste (3.) hält George fest, daß sie charakteristisch für das Judentum sei: Die äußeren politischen Umstände hatten ein Bewußtsein der allgemeinen Sündhaftigkeit entstehen lassen. Ablesbar sei dies an einem neu entstandenen Fest, das alle anderen überstrahlt. „Das Versöhnungsfest […] repräsentiert […] vorzüglich diesen Charakter der Zeit, denn es war dazu aufgestellt worden, um die Versöhnung hervor zu bringen […]. Sühnung ist auf der einen Seite das Bedürfniß, aber natürlich zeigt sich als Gegensatz dazu das Streben nach Gesetzlichkeit, um der Sündhaftigkeit zu entgehen, und als Vermittlung zwischen beiden tritt der ausgedehnte Opferkultus mit einem weitläufigen Ceremoniendienst auf, um dadurch das Wohlgefallen Gottes wieder zu erwerben.“ (307) Die Feste sind endgültig zum Kult geworden. Dieser wird letztlich um seiner selbst gefeiert, weswegen George ihn als ‚religiös‘ betitelt. Der Vollzug der Feste wird zu einem hochspezialisierten und kaum noch mit der je eigenen Lebenswirklichkeit verbundenen Ritual. Noch die letzten Kleinigkeiten sind penibel geregelt. Bei den ‚religiös‘ aufgeladenen Festen, beim ritualisierten Kult ist paradoxerweise für die eigenen religiösen Bedürfnisse kein Platz mehr. George zufolge erlangt damit die Religion des Judentums ihre höchste Vollendung, löst sich dadurch aber zugleich als bloßes äußerliches Abhandeln von Riten auf.94 Mit Hilfe dieser in ihrer Näherbestimmung teilweise recht eigenwillig definierten Abfolge von ‚natürlich‘, ‚geschichtlich‘ und ‚religiös‘ gelingt es George den Gang der israelitischen und jüdischen Geschichte – von den mythischen Anfängen bis zur Auflösung des Volkes – genetisch zu entwickeln. Die alttestamentliche Forschung der damaligen Zeit stand Georges RekonstruktiGang dieser Entwicklung war immer der, daß man, indem man mit der Entstehung alles Gesetzlichen auf die mosaische Zeit zurückging, auch in dieser Anknüpfungspunkte für den Ursprung der Gesetze aufsuchte. So wurden dann auch alle diese Feste an Begebenheiten jener Zeit angeknüpft, wobei dann der Inhalt derselben das leitende Princip sein mußte. Sind wir nun hier an die einzelnen Elemente der Feste gewiesen, so muß auch in ihnen der Grund für die specielle Anknüpfung an ein bestimmtes historisches Factum gesucht werden. Bei dem Paschafest tritt dabei hauptsächlich hervor der Genuß des ungesäuerten Brodtes, denn dieser war am geeignetsten eine andere Bedeutung in sich aufzunehmen, da die ursprüngliche im Verlaufe der Zeit verloren gegangen war. Es war ja die Speise der Armen und der Noth geworden, und diese Bedeutung wurde daher auch auf jenes Fest übertragen, zu dessen Feier das ungesäuerte Brodt als ein nothwendiges Element gehörte. Indem das Fest aber so Andenken an eine Zeit der Noth werden mußte, war keine Begebenheit aus der mosaischen Zeit für dasselbe geeigneter, als der Auszug des Volkes aus Ägypten, der sie immer an die Zeit der größten Drangsale erinnerte.“ (228 f.) 94 „Seit dieser Zeit kommt Götzendienst im eigentlichen Sinne nicht mehr vor, aber ein anderer Götze tritt an die Stelle; das anfänglich noch rege religiöse Leben wird nun zu einem todten Buchstabendienst, aus dem aller Geist allmälig verschwindet. Aller Inhalt wird immer mehr verflüchtigt, und die starre Form bleibt übrig, um dem leeren Verstande zum Spiel zu dienen.“ (307)
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on der Entwicklung von Fest und Kult ablehnend gegenüber. So erhob beispielsweise de Wette folgenden Einwand: „Unsere Kritiker [gemeint ist neben George vor allem Wilhelm Vatke, Anm. M. G.] bauen Vieles, wo nicht Alles, auf den Grundsatz, daß das Vollendete, consequent Durchgeführte der spätern Zeit angehöre und die Frucht einer geschichtlichen Entwicklung sey. Aber dieser Grundsatz, so einleuchtend er an sich seyn mag, wird in der Anwendung auf die israelitische Gesetzgebung keine allgemeine Anwendung finden.“95 Für die eine Generation später einsetzende literarkritische Erforschung des Alten Testaments – die insbesondere mit dem Namen Wellhausen verbunden ist – bildeten Georges Einsichten jedoch einen wichtigen Anknüpfungspunkt. Dies spiegelt sich auch in Georges Sicht der alttestamentlichen Religionsgeschichte wieder.
4.2. Die Sicht der Religionsgeschichte des Alten Testaments Die beiden Pole der alttestamentlichen Religionsgeschichte sind George zufolge die Veröffentlichung des ersten Gesetzbuches in der Königszeit – gemeint ist das Deuteronomium, das seiner Meinung nach den Anstoß zu einer langandauernden Ausformulierung insbesondere kultischer Bestimmungen bot, die sich vor allem in den Textkorpora der Bücher Levitikus und Numeri fänden, und das Exil. Auf Georges neue Beurteilung der Sonderstellung des Deuteronomiums hat schon die damalige Forschung hingewiesen. So schreibt der bekannte jüdische Historiker Isaak Markus Jost (1793–1860)96 in einer Rezension: „Zunächst erklärt Hr. G[eorge], er gehe von der jetzt mit Recht ziemlich allgemein angenommenen Ansicht aus, daß der Pentateuch von verschiedenen Verfassern und aus verschiedenen Zeiten herrühre. Er weicht aber darin von allen Vorgängern ab, daß er das Deuteronomium zwar, wie das schon längst de Wette zu erweisen suchte, für das unter Josia aufgefundene Buch hält, – dagegen die Zeit von dessen Abfassung noch vor der der mittlern Bücher des Pentateuchs zu setzen sich veranlaßt findet.“97 Damit einher ging eine fundamentale Änderung der Sicht der alttestamentlichen Religionsgeschichte, die einen bedeutenden Schritt auf dem Weg zur Ausformulierung der These von der Priesterschrift bedeutete. Zwar fehlt bei George noch die für die spätere Forschung wichtige Benennung und genaue Abgrenzung der Priesterschrift als einer eigenständigen Urkunde. Aber die Einsicht findet sich bereits bei ihm, daß das Deuteronomium den Beginn einer Entwicklung darstellt, die ihren Endpunkt in den formalen pries95 De Wette, Rez.: Wilhelm Vatke, Die Religion des Alten Testaments nach den kanonischen Büchern entwickelt u. a., 971. 96 Zu Jost vgl. Heinrich Zirndorf, Isaak Markus Jost und seine Freunde. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte der Gegenwart, Leipzig / New York 1886. 97 Isaak Markus Jost, Rez.: Johann Friedrich Leopold George, Die älteren Jüdischen Feste mit einer Kritik der Gesetzgebung des Pentateuch dargestellt, Berlin 1835, in: JALZ (1836), 161–171, 161, Hervorhebungen im Original.
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terlichen Gesetzen der Bücher Exodus, Levitikus und Numeri findet. Zudem identifizierte George als Verfasser dieser Textkorpora Vertreter einer Priesterreligion, für die vor allem rituelle Bestimmungen von Belang gewesen seien. Beide Einsichten sind für Wellhausens Arbeiten von grundlegender Bedeutung gewesen. Indem George eine Entwicklung der gesetzlichen Textkorpora des Alten Testaments von den ersten Bestimmungen für das Zusammenleben bis hin zu den späten komplexen und ausdifferenzierten Kultbestimmungen rekonstruierte, gab er der de Wetteschen These eine neue Begründung. Dabei unterschied George die für das Judentum charakteristische Gesetzlichkeit, die sich insbesondere in der Ausformulierung und Beachtung der komplexen kultischen Bestimmungen ausdrückte, von der freien Religiosität des älteren Israel. Deshalb bekommt das Exil in Georges Darstellung ein ganz eigenes Gewicht. Der Untergang des Königtums, das Ende der Staaten Israel und Juda stellt ihm zufolge den fundamentalen Bruchpunkt der Religionsgeschichte dar. In der vorexilischen Zeit habe der freie Geist des Rechts geherrscht, wie ihn insbesondere das frühe Prophetentum repräsentierte, das den überlieferten geschichtlichen Mythen eine neue Deutung gab.98 Aufgrund dieser neu gefundenen Identität ging Israel zwar als ‚Staat‘ unter, aber nicht als ‚Volk‘ – wie Wellhausen dann formulieren sollte. Letzteres erlebte einen tiefgreifenden Wandel: „Ein ganz anderer Geist erhob sich nach dem Exil; das tiefe, in ein inneres geistiges Leben versenkte Gefühl schlug um in einen auf das Äußere sich richtenden Verstand. Dadurch erhielt das Leben eine ganz andere Gestaltung und fo[r]derte daher auch neue Einrichtungen, und so war bei einer neuen Ordnung der Dinge auch die Thätigkeit auf eine neue Gesetzgebung gerichtet. Ezechiel hatte in seiner idealen Darstellung des neuen Tempels und seines Gottesdienstes Anweisungen für denselben gegeben; diese wurden benutzt und weiter ausgeführt, und so entstand der Leviticus“ (73). Das Buch Levitikus, welches hier pars pro toto für die gesamte nachexilische Gesetzgebung steht, dokumentiert für George sinnbildlich den Wandel: Waren früher die Propheten von Milde und Liebe getriebene Mahner zur Umkehr, so wurden sie nun zu Gesetzeslehrern. Waren früher die Priester an lokalen Heiligtümern angebundene Gottesmänner, so wurden sie nun zu Schriftgelehrten und in Kasten organisiertem Kultpersonal mit einem Hohepriester an der Spitze. War früher die Frömmigkeit etwas Individuelles, so wurde sie nun in das Korsett eines Sühnerituals gezwängt. Waren die älteren Textkorpora des Alten Testaments Reflex der lebendigen Religiosität, so sind die späteren der Phantasie entsprungene Kunstprodukte. Diese Reihe von Ge98 Auf der „Basis des ursprünglichen einfachen mosaischen Gesetzes entwickelte sich […] das Volk weiter fort, und seine Entwicklung charakterisirt sich besonders in dem Prophetenthum, indem die Propheten grade den innersten Kern des Volkes bildeten, und den in demselben wirkenden göttlichen Geist auf eine besonders eminente Weise sich zum Bewußtsein brachten und an sich darstellten, so daß sie in einer fortlaufenden Reihe als Träger dieses göttlichen Geistes erscheinen“ (72).
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genüberstellungen ließe sich noch durch zahlreiche weitere Beispiele ergänzen. Gleich bleibt George zufolge der Transformationsprozeß, dem die Religion des alten Israel unterworfen war und im Laufe dessen sie ihre ursprüngliche Tiefe einbüßte. Zur Zeit des alten Israels, wozu George noch die Veröffentlichung des Deuteronomiums zählt, habe deshalb auch die größte Nähe zur christlichen Religion bestanden: „Überall weht uns in diesem Buche [gemeint ist eben das Deuteronomium, Anm. M. G.] der Geist des Prophetenthums an, jener Geist des Rechts, aber auch zugleich der Milde und Liebe, und wenn irgend das Judenthum dem Christenthum nahe stand, so war es hier der Fall, wo es uns das giebt, was es überhaupt zu leisten im Stande war.“ (73) Die israelitische und jüdische Religionsgeschichte stellt sich George so als eine Verfallsgeschichte dar. In der Frühzeit zielte die Tätigkeit der Propheten und Priester darauf hin, das religiöse Bewußtsein zu beeinflussen. Das hieß für sie, das Wirken des göttlichen Geistes aufzuzeigen und Wege zu einem vertieften geistigen Leben zu weisen – was seinen schriftlichen Niederschlag insbesondere im Deuteronomium gefunden habe. In der Spätzeit sei davon nichts mehr zu spüren gewesen. Zwar spielten die Priester und Propheten weiterhin eine bedeutende Rolle im jüdischen Leben, aber sie waren nun Ausleger einer überkommenen religiösen Tradition geworden, der es an Geist und Lebendigkeit mangelte.99 An Georges Urteil ändert auch die in ihrer Tragweite kaum zu überschätzende geschichtstheologische Umdeutung der überkommenen religiösen Traditionen nichts, die sich in dieser Zeit vollzog. Indem die späteren Autoren (zu denken ist vor allem an die Verfasser der von Wellhausen sogenannten Priesterschrift) ihre eigenen Kultbestimmungen als von Mose abstammende Gesetze ausgaben, die alle Zeit und universale Gültigkeit beanspruchten, stellten sie die auf sie zurückgehenden alttestamentlichen Textkorpora nicht nur unter dessen herausgehobene Autorität und generierten so einen heilstheologischen Rahmen, sondern transformierten zugleich die überkommenen Schriften entsprechend den Bedürfnissen ihrer Zeit. George sieht darin lediglich den gescheiterten Versuch der exilischen und nachexilischen Autoren, die deuteronomischen Gesetze mit neuem Leben zu erfüllen, dessen Unfruchtbarkeit besonders das Buch Levitikus zeige.100 Für ihn ist die jüdische Religionsgeschichte 99 „Die Wirksamkeit des Volkes, die nun keine schaffende mehr war, richtete sich darauf, den Buchstaben des Gesetzes zu erhalten, und damit dieses besser geschehen könne, wurde es von allen Seiten verschränkt und verzäunt, und seine Anwendung bis auf die speciellsten Fälle vorgesehen und in den geringsten Kleinigkeiten vorherbestimmt, wodurch denn jenes Gebäude zusammengetragen wurde, das wir im Talmud anstaunen und bewundern müssen, das aber ein grelles und warnendes Beispiel abgiebt, um zu sehen, zu welcher Geistlosigkeit ein so abstrakter Verstand hinführen muß.“ (74) 100 „Nachdem durch den Leviticus die Gesetzgebung vollständig geworden war, brachte es der Charakter der Zeit mit sich, auch diese Gesetze auf die älteste Zeit zu übertragen. Mose war einmal Repräsentant aller Gesetzgebung, und so mußten auch diese Gesetze auf ihn zurückgeführt werden. Das Deuteronomium hatte schon den Anfang gemacht, indem es seine Gesetze, gleichsam als Erläuterung des ursprünglichen göttlichen Gesetzes, dem Mose in den
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damit an ihr unwiderrufliches Ende gekommen. Und so wurde sie für George zum Anknüpfungspunkt für das Christentum, welches „das Gesetz aufhob, und an die Stelle des todten Buchstabens den lebendigen Geist setzte“ (74). Mit der Veröffentlichung des Deuteronomiums und dem Exil als den zentralen Ereignissen der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte, in deren Rahmen George die alttestamentlichen Texte und Textpassagen als Entwicklungsstufen auf dem Weg zur Ausbildung des später sogenannten priesterlichen Gesetzes einordnete, hat er ein Modell aufgestellt, das für die spätere mit dem Namen Wellhausen verbundene literarkritische Forschung grundlegend wurde. Bis in die Details stellt Georges Werk über ‚Die älteren Jüdischen Feste mit einer Kritik der Gesetzgebung des Pentateuch dargestellt‘ aus dem Jahr 1835 einen Vorgriff auf die Position Wellhausens dar, so daß Rogerson die rhetorisch gemeinte Frage stellen kann, warum es von George zu Wellhausen eine Zeitspanne von 50 Jahren brauchte, wo doch die wichtigsten Ergebnisse bereitgelegen hätten.101 Wie dem auch sei, Georges Rekonstruktion der schrittweisen Entwicklung der alttestamentlichen Gesetze stellt ein in der bisherigen Forschung zu Unrecht beinahe vergessenes Modell der alttestamentlichen Religionsgeschichte bereit.
Mund gelegt hatte, Leviticus gab seine Gesetze als Aussprüche Gottes selbst an Mose. Jetzt suchte man auch in der Geschichte Anknüpfungspunkte auf, mit welchen sich die Entstehung solcher Gesetze verbinden ließe, und reihte so die Gesetze an die Geschichte an. Auf diese Weise entstanden die gesetzlichen Stücke des Exodus und Numeri, wobei denn mancher Nachtrag von Geschichte sowohl als von Gesetz aufgenommen wurde.“ (74 f.) 101 Vgl. Rogerson, Old Testament Criticism in the Nineteenth Century, bes. 68.
Kapitel III
Georg Heinrich August Ewald – Philologie und Literaturgeschichte des Alten Testaments 1. Werkbiographische Skizze 1.1. Die Göttinger Tradition der Orientalistikstudien Mit Heinrich Ewald (1803–1875) betreten wir einen völlig anderen geistigen Kosmos. Es ist die eine ganz eigene Strahlkraft entfaltende Welt der Göttinger Orientalistikstudien, die von Michaelis und Eichhorn begründet wurde und welche im Grunde noch ganz der Spätaufklärung verpflichtet ist.1 Aus diesem Milieu stammt Ewald und ihm blieb er zeit seines Lebens verhaftet. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieser andauernden Verpflichtung auf die Fortführung der speziellen Göttinger Tradition galt er „zu Lebzeiten als der bedeutendste Alttestamentler Deutschlands“2, und noch gegenwärtig wird er als „one of the greatest critical Old Testament scholars of all time“3 gewürdigt. Wie George kommt auch er aus einfachen Verhältnissen – sein Vater war Tuchmacher. Trotzdem konnte er fünf Jahre lang das Göttinger Gymnasium besuchen und sich in derselben Stadt zum Sommersemester 1820 an der Universität einschreiben.4 Studiert hat Ewald neben Theologie insbesondere klassische Philologie und orientalische Sprachen. Als Professoren lehrten damals an der theologischen Fakultät der von Kant beeinflußte Systematiker und Kirchenhistoriker Karl Friedrich Stäudlin (1761–1826), der Neutestamentler David Julius Pott (1760–1830) und der Kirchenhistoriker und Vertreter eines rationalistischen Supranaturalismus Gottlieb Jakob Planck (1751–1833). 1823 wurde zudem der Sohn des Letztgenannten, Heinrich Ludwig Planck (1785–1831) berufen, der auf dem Gebiet des Neuen Testaments arbeitete und ein Anhänger der Friesschen Philosophie war.5 Vor allem aber Johann Gottfried Eichhorn und 1
Zu dieser speziellen Tradition vgl. Rudolf Smend, Johann David Michaelis und Johann Gottfried Eichhorn – zwei Orientalisten am Rande der Theologie, in: Bernd Moeller (Hg.), Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe (Göttinger Universitätsschriften A.1), Göttingen 1987, 58–81. 2 Reventlow, Epochen der Bibelauslegung IV, 292. 3 Rogerson, Old Testament Criticism in the Nineteenth Century, 91. 4 Vgl. dazu Ernst Bertheau, Art. Ewald, Georg Heinrich August, in: RE2 4 (1879), 440–447. 5 Zur Entstehung und Entwicklung der theologischen Fakultät in Göttingen vgl. noch
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Kapitel III: Georg Heinrich August Ewald
Thomas Christian Tychsen (1758–1834) gelten als Ewalds prägende Lehrer. Erstgenannter lehrte nach einer Professur für orientalische Sprachen in Jena seit 1788 als Professor der Philosophie in Göttingen. Tychsen war an der Göttinger Theologischen Fakultät zunächst außerordentlicher, ab 1788 dann ordentlicher Professor der orientalischen Sprachen. Rückblickend schreibt Ewald in der ihm eigentümlichen emphatischen Weise über sie: „Wohl […] erinnere ich mich mit freude wie sowohl Eichhorn als Tychsen mir, als ich ihnen als Studiosus kaum etwas näher bekannt geworden, beide mit der grössten zuvorkommenheit begegneten und mich fortwährend sogar gegen alles mein erwarten und hoffen emporhoben, obwohl sie früh genug einsehen konnten dass meine wissenschaftlichen wege von den ihrigen ziemlich weit abgehen würden. So hat eine gute kraft an der andern, eine liebe zur wissenschaft an der andern freude!“6 Und in dem von ihm verfaßten programmatischen Eröffnungsaufsatz, den Ewald den erstmals 1848 herausgegebenen ‚Jahrbücher[n] der Biblischen wissenschaft‘ vorangestellt hat, wird Eichhorn als Begründer der biblischen Wissenschaft gerühmt, der den Spuren Herders folgend die Suche nach den historischen Inhalten und den religiösen Gehalten der Bibel angestoßen habe. An Tychsen wiederum hebt er lobend hervor, daß er sich „als ein sehr kaltblütiger geduldiger beobachter auch der scheinbaren kleinigkeiten des philologischen gebietes“ ausgezeichnet habe, wobei sich bei ihm damit „die umfassendsten kenntnisse sowohl in allen damals bekannteren orientalischen sprachen als in den andern schriftthümern“7 verbanden. Schon mit 19 Jahren wurde Ewald aufgrund einer Arbeit zum Thema: ‚Die Komposition der Genesis kritisch untersucht‘8 im Jahr 1823 zum Doktor der Philosophie promoviert. Nach einer kurzen Zeit als Hauslehrer wurde er zum Sommersemester 1824 Repetent der theologischen Fakultät in Göttingen. Wiederum nach kurzer Zeit berief man Ewald zum Nachfolger des verstorbenen Eichhorn – und ein Karriereschritt folgte rasch dem nächsten: „1827 wurde er außerordentlicher, 1831 ordentlicher Professor, 1833 Mitglied der Societät der Wissenschaften in Göttingen, 1835 nach Th. Chr. Tychsens Tode Nominalprofessor der orientalischen Sprachen und noch in demselben Jahre Mitglied der Honorenfakultät. Die gelehrte Welt würdigte seine großen Verdienste; er wurde Mitglied der asiatischen Gesellschaft in Paris, der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften in Petersburg, der hist.-theol. Gesellschaft in Leipzig; die theologi-
immer Johannes Meyer, Geschichte der Göttinger theologischen Fakultät, in: ZGNKG 42 (1937), 7–107 und die Beiträge in: Moeller (Hg.), Theologie in Göttingen. 6 Georg Heinrich August Ewald, Über die wissenschaftliche wirksamkeit der ehemaligen Göttingischen lehrer J. D. Michaelis, J. G. Eichhorn, Th. Ch. Tychsen, in: JBW 1 (1849), 26–34, 32. 7 A. a. O., 35. 8 Erschienen in Braunschweig 1823.
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sche Fakultät in Kopenhagen ernannte ihn 1836 zum Doktor der Theologie.“9 Darauf folgte ein harter Einschnitt in seinem Leben. 1837 wurde Ewald nach knapp zehnjährigem Wirken als einer der ‚Göttinger Sieben‘ zusammen mit dem Historiker und späteren Mitverfasser der Paulskirchenverfassung von 1848 Friedrich Christoph Dahlmann, Jakob und Wilhelm Grimm, dem Juristen Wilhelm Eduard Albrecht, dem für seine Geschichte der deutschen Nationalliteratur berühmten Georg Gottfried Gervinus und dem Physiker Wilhelm Weber wegen Protests gegen den Bruch des hannoverschen Staatsgrundgesetzes durch König Ernst August vom Dienst suspendiert.10 Ein Jahr später folgte Ewald einem Ruf Wilhelms I., des Königs von Württemberg, nach Tübingen. Erst im Jahr der beginnenden revolutionären Unruhen im Deutschen Bund kehrte er nach Göttingen zurück, wo er bis zu seinem Tod wirkte. In Würdigungen seines Werkes wird stets auf seine charakterliche Unbeirrbarkeit hingewiesen. Sein Widerspruchsgeist bestimmte auch seine spätere akademische Wirksamkeit. Alfred Bertholet bemerkt dazu: „1862 f war er bei der Reform der hannoverschen Kirche beteiligt, 1863 Mitbegründer des Protestantenvereins. 1866 gegen Hannovers Einverleibung in Preußen protestierend, verweigerte er dem preußischen König den Huldigungseid: er mußte 1867 mit dem Austritt aus der Fakultät büßen, und die Maßlosigkeit seiner fortgesetzten Ausfälle trug ihm 1868 die Entziehung des Lehrrechts ein. Dafür verdankte er seiner Gesinnungsstärke ein Reichstagsmandat zur Vertretung der Interessen der Stadt Hannover. Seiner Feindschaft gegen Bismarck ließ er in Ausdrücken die Zügel schießen, daß ihn eine dreiwöchentliche Freiheitsstrafe traf. Aber nichts vermochte ihn in seiner Einstellung […] zu beirren.“11 Ewalds bewegter und jenseits sämtlicher Sicherheitsbedürfnisse verlaufender Lebensweg – er starb 1875 an einer schweren Krankheit – führen bis heute dazu, daß zumeist mehr der ‚Politiker‘ als der ‚Wissenschaftler‘ Ewald wahrgenommen wird.12 9
Bertheau, Art. Ewald, Georg Heinrich August, 442. Vgl. dazu die Ausführungen des Juristen und Staatsrechtlers Rudolf Smend, Die Göttinger Sieben, Göttingen / Berlin / Frankfurt 21958 und Miriam Saage-Maass, Die Göttinger Sieben – demokratische Vorkämpfer oder nationale Helden? Zum Verhältnis von Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur in der Rezeption des Hannoverschen Verfassungskonfliktes, Göttingen 2007. Schon unmittelbar nach ihrer Entlassung erschienen die ersten Würdigungen ihrer Tat. Vgl. z. B. Georg Friedrich Schumacher, Die sieben Göttinger Professoren nach ihrem Leben und Wirken, Braunschweig 1838. 11 Alfred Bertholet, Art. Ewald, in: RGG2 2 (1928), 453–455, 453. 12 Vgl. nur Lothar Perlitt, Heinrich Ewald: Der Gelehrte in der Politik, in: Ders., Allein mit dem Wort. Theologische Studien. Zum 65. Geburtstag hg. v. Hermann Spieckermann, Göttingen 1995, 263–312. Dort finden sich einleitend die sprechenden Sätze: „Er nannte sich meist nur Heinrich, aber sein Vater Heinrich Andreas Ewald, ein königstreuer Tuchweber in Göttingen, hatte dem Knaben eine Bestimmung in die Vornamen gegeben: Georg Heinrich August. Bestimmung wozu? Mit 19 Jahren schrieb er seine Dissertation, mit 49 schrieb er an den Papst, mit 67 an Bismarck und an das deutsche Volk – und das aus der Unteren Maschstraße in Göttingen.“ (A. a. O., 263, Hervorhebungen im Original) 10
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Kapitel III: Georg Heinrich August Ewald
Trotz dieser wechselhaften Lebensumstände hat Ewald ein sehr umfangreiches wissenschaftliches Œuvre hinterlassen. In seiner ersten Göttinger Zeit als Professor, die 1837 mit seiner Suspendierung endete, beschäftigte er sich vor allem mit sprachwissenschaftlichen Untersuchungen. Bereits als Repetent erarbeitete er eine ‚Kritische Grammatik der hebräischen Sprache ausführlich bearbeitet‘13. Ein Jahr später folgte die ob ihres über 300seitigen Umfangs dem Titel nicht unbedingt gerecht werdende ‚Grammatik der hebräischen Sprache des A. T. in vollständiger Kürze neu bearbeitet‘14. 1831 und 1833 veröffentlichte er eine zweibändige Grammatik des Arabischen.15 Darüber hinausgehend erschien ab 1835 in rascher Folge sein mehrbändiges Werk: ‚Die poetischen Bücher des alten Bundes erklärt‘ – eine Auslegung des Psalters und der Weisheitsliteratur –, dessen einleitender erster Teil 1839 veröffentlicht wurde, dies dann bereits aus Tübingen.16 Auch in Tübingen ging Ewalds äußerst produktives Schaffen ungemindert fort. Von den zahlreichen Publikationen seien hier nur zwei hervorgehoben. 1841 / 42 veröffentlichte er in zwei Bänden ‚Die Propheten des Alten Bundes‘17, eine Kommentierung sämtlicher Prophetenbücher des Alten Testaments. Seit 1843 erschien Ewalds ‚Geschichte des Volkes Israel bis Christus‘, in erster Auflage in drei Bänden; von 1864 bis 1868 dann in dritter und letzter Ausgabe in sieben Bänden.18 Sie gilt heute als die erste große Geschichte Israels, die der Methode der historischen Kritik verpflichtet ist.19 13
Erschienen in Leipzig 1827. Erschienen ebenda 1828. Ab der vierten Auflage erhielt sie einen neuen Titel und erschien zuletzt als ‚Ausführliches Lehrbuch der hebräischen Sprache des Alten Bundes‘ (Göttingen 81870). 15 Grammatica critica linguae arabica cum brevi metrorum doctrina, 2 Bde., Leipzig 1831 und 1833. 16 Die poetischen Bücher des Alten Bundes erklärt 1. Allgemeines über die hebräische Poesie und über das Psalmenbuch, Göttingen 1839; 2. Die Psalmen, Göttingen 1835; 3. Das Buch Iob, Göttingen 1836; 4. Sprüche Salomo’s. Kohelet. Zusätze zu den frühern Theilen und Schluß, Göttingen 1837. Als jeweils letzte Auflage von seiner Hand erschienen: Die Dichter des Alten Bundes erklärt 1.1. Allgemeines über die Hebräische dichtkunst und über das Psalmenbuch, Göttingen 21866; 1.2. Die Psalmen und die Klagelieder, Göttingen 31866; 2. Die Salomonischen Schriften, Göttingen 21867; 3. Das Buch Ijob, Göttingen 21854. 17 Vgl. Die Propheten des Alten Bundes, 2 Bde., Stuttgart 1840 f., in zweiter und letzter Ausgabe dann in 3 Bänden erschienen: Die Propheten des Alten Bundes 1. Jesaja mit den übrigen älteren Propheten, Göttingen 21867; 2. Jeremja und Hezeqiel mit ihren Zeitgenossen, Göttingen 21868; 3. Die jüngsten Propheten mit den Büchern Barukh und Daniel, Göttingen 21868. 18 Geschichte des Volkes Israel bis Christus 1, Göttingen 1843; 2, Göttingen 1845; 3.1, Göttingen 1847; 3.2, Göttingen 1852; Anhang zum zweiten Bande. Die Alterthümer des Volkes Israel, Göttingen 1848, in letzter Ausgabe dann in sieben Bänden erschienen: Geschichte des Volkes Israel 1. Einleitung in die Geschichte des Volkes Israel, Göttingen 31864; 2. Geschichte Mose’s und der Gottesherrschaft in Israel, Göttingen 31865; 3. Geschichte David’s und der Königsherrschaft in Israel, Göttingen 31866; 4. Geschichte Ezra’s und der Heiligherrschaft in Israel bis Christus, Göttingen 31864; 5. Geschichte Christus’ und seiner Zeit, Göttingen 31867; 6. Geschichte des apostolischen Zeitalters bis zur Zerstörung Jerusalems, Göttingen 31868; 14
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1837 – im Jahr der ‚Göttinger Sieben‘ – war Ewald Mitbegründer und -herausgeber der ‚Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes‘ und lieferte zu ihr, ebenso wie vor allem zu den ‚Theologischen Studien und Kritiken‘ und den ‚Göttingischen gelehrten Anzeigen‘ zahlreiche Beiträge. Von 1848 bis 1865 gab er die schon erwähnten ‚Jahrbücher der Biblischen wissenschaft‘ heraus, wobei bis auf wenige Ausnahmen fast alle Artikel von ihm selbst stammen. Nachdem Ewald 1867 bei vollen Bezügen und mit dem Recht, Lehrveranstaltungen halten zu dürfen, aus der philosophischen Fakultät ausgeschieden war, wobei er letzteres Recht ein Jahr später verwirkte, schrieb er als abschließendes Lebenswerk eine vierbändige Biblische Theologie mit dem Titel ‚Die Lehre der Bibel von Gott oder Theologie des alten und neuen Bundes‘20, deren letzter Band erst nach seinem Tod erschien.21 So ambivalent Ewalds Leben verlief, geprägt von seinen innerhalb kürzester Zeit errungenen akademischen Erfolgen und den jähen Einschnitten aufgrund politischer Entscheidungen – weshalb Lothar Perlitt im Blick auf das Geschick des Gelehrten Ewalds nicht zu Unrecht von einer ‚Tragödie‘ gesprochen hat –, so ambivalent werden bis heute seine wissenschaftlichen Forschungen bewertet. Zur Aufklärung dieser Gemengelage, die den Blick auf Ewalds wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiet der Philologie und Literaturgeschichte des Alten Testaments leicht verstellen kann, lohnt ein Blick in den heute als bedeutsamste zeitgenössische Würdigung geltenden Beitrag von Julius Wellhausen über seinen Lehrer.22 7. Geschichte der Ausgänge des Volkes Israel und des nachapostolischen Zeitalters, Göttingen 31868; Anhang zum zweiten und dritten Bande. Die Alterthümer des Volkes Israel, Göttingen 31866. Die Zitate aus Ewalds Schriften entstammen im Folgenden den ersten Auflagen seiner Werke. Nur bei Änderungen und Ergänzungen wird die jeweils letzte Auflage zitiert. 19 Vgl. Rogerson, Old Testament Criticism in the Nineteenth Century, bes. 92 f. 20 Die Lehre der Bibel von Gott oder Theologie des Alten und Neuen Bundes 1. Die Lehre vom Worte Gottes, Leipzig 1871; 2. Die Glaubenslehre 1, Leipzig 1873; 3. Die Glaubenslehre 2, Leipzig 1874; 4. Über das Leben des Menschen und das Reich Gottes, Leipzig 1876. 21 Vgl. dazu Rudolf Smend, Heinrich Ewalds Biblische Theologie. Hinweis auf ein vergessenes Buch, in: Ders., Epochen der Bibelkritik, 155–167. 22 Perlitt faßt die Forschungssituation zu Leben und Werk Ewalds folgendermaßen zusammen: „Ewalds Weg nach ‚oben‘ war kurz; aber wir wissen wenig über den jungen Mann, wenig Persönliches selbst über den alten. Kurz nach seinem Tode am 4. 5. 1875 schrieben zwei seiner Schüler knappe, aber kundige Personalartikel in den Enzyklopädien der Epoche, von denen die in den jüngeren deutschen Nachschlagewerken mehr oder weniger abgeschrieben sind. Von Gewicht ist nur die 25 Jahre nach Ewalds Tode entstandene Würdigung Wellhausens: hinreißend geschrieben und von großer Noblesse, obschon gerade dieser Schüler die wissenschaftlichen Grenzen seines Lehrers sah und abstecken durfte.“ (Perlitt, Heinrich Ewald: Der Gelehrte in der Politik, 263 f.) Bei den beiden anderen Ewaldschülern handelt es sich um den in Berlin als Nachfolger Hengstenbergs lehrenden August Dillmann und seinen Art. Ewald, Georg Heinrich, in: ADB 6 (1877), 438–442 und um den Göttinger Professor der alttestamentlichen Exegese und orientalischen Sprachen Ernst Bertheau und seinen schon zitierten Art. Ewald, Georg Heinrich August. Eine Biographie Ewalds fehlt bis heute. Zu erwähnen ist noch der zum 100. Geburtstag Ewalds erschienene Beitrag von Thomas Witton
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Kapitel III: Georg Heinrich August Ewald
1.2. Ewald und Julius Wellhausen Wellhausen, der als Ewalds Lieblingsschüler gilt, war während seines Studiums und seiner beginnenden wissenschaftlichen Karriere vielfältigst von diesem gefördert und geprägt worden. Allerdings fällt Wellhausens Urteil über den Lehrer zwiespältig aus. Diese Ambivalenz findet sich auf mehreren Ebenen. Zwar hörte Wellhausen bei Ewald nur zwei Vorlesungen, zum einen über die Psalmen (1862 / 63) und zum anderen eine Einleitung in die biblischen Bücher (1863 / 64). Ihn beeindruckte weder die Art des Vortrags, noch stellten sie für Wellhausen im Rückblick eine Einführung in das wissenschaftliche Arbeiten dar, da kritische methodische Reflexionen nicht vorgekommen seien. Ewald gab nämlich in der Einleitungsvorlesung lediglich einen Überblick über die von ihm gewonnenen Einsichten in die Entstehung und Entwicklung der biblischen Bücher. Und dazu kam: „Durch die organische Gliederung schien er den Eindruck innerer Notwendigkeit zu erwecken; das complementum possibilitatis, den Übergang von der Möglichkeit zur Tatsächlichkeit, nahm er nicht eben schwer.“23 Ähnlich formuliert Wellhausen auch seine Vorbehalte gegenüber der anderen von ihm gehörten Vorlesung: „Bei der Exegese der Psalmen verfuhr er ebenfalls sehr thetisch und verwickelte uns nicht in Skrupel und Zweifel. Auf abweichende Meinungen nahm er überhaupt keine Rücksicht.“24 Eine Einführung in die Probleme biblischer Exegese stellten sie für Wellhausen nicht dar. Aber an den von Ewald privatissime gehaltenen Übungen im Interpretieren orientalischer Schriften, die montags bis freitags jeweils zweistündig bei ihm zu Hause stattfanden, nahm er über einen längeren Zeitraum teil. Dort lernte er, seiner Meinung nach, methodisches wissenschaftliches Arbeiten. Grammatikalische Fertigkeiten und „Vorkenntnisse, die aus Büchern zu lernen waren“25 wurden vorausgesetzt, und Ewald konnte sehr ungehalten werden, wenn dieses Mindestmaß an Grundkenntnissen seiner Meinung nach nicht erfüllt war. Sie waren für ihn unabdingbare Vorbedingungen zur Interpretation von Texten. Und doch, oder vielmehr gerade deswegen zollte Wellhausen diesen Übungen bei Ewald höchstes Lob. „Er wußte Leben in jugendlichen Geistern zu erwecken, die sich ihm hingaben. Achtlos, wie es schien, streute er für Empfängliche weit tragende Bemerkungen aus. Gelegentlich machte er bei schwierigen Stellen vor, wie er zum Verständnis gelangt war. Er faßte Fuß auf einem unscheinbaren Punkte, der fest war, fand von da aus tastend weiteren Boden, Davies, Heinrich Ewald. Orientalist and Theologian. 1803–1903. A Centenary Appreciation, London 1903. 23 Julius Wellhausen, Heinrich Ewald, in: FS zur Feier des hundertfünfzigjährigen Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Beiträge zur Gelehrtengeschichte Göttingens, Berlin 1901, 61–81, 63 f.; zit. nach ders., Grundrisse zum Alten Testament (TB 27), hg. v. Rudolf Smend, München 1965, 120–138, 120. 24 A. a. O., 120 f. 25 A. a. O., 121.
1. Werkbiographische Skizze
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und eroberte so schließlich das ganze Terrain. Er hatte zwar immer das Ganze im Auge, die Wiederbelebung des alten Autors aus dem Kern seines Wesens und seiner Absicht heraus. Aber er ging vom Kleinsten aus, weil es am sichersten und leichtesten zu verstehen sei, und achtete namentlich auch genau auf die Form, auf Maß und Zahl.“26 In diesen Veranstaltungen wurde Wellhausens textkritischer Geist geweckt. Hier lernte er die grundlegenden methodischen Schritte für die Interpretation alter Texte. Neben der exakten Übersetzung legte Ewald großen Wert auf die Gliederung und Abgrenzung des Stoffes. Denn nur so sei es möglich, den intendierten Sinn eines Autors zu erfassen. Daneben würdigt Wellhausen auch, daß Ewald ihm die ersten Einsichten in das Verstehen orientalischer Überlieferungen eröffnete. Aufgrund des Privatunterrichts bei Ewald verwundert es kaum, daß Wellhausen dessen sprachwissenschaftliche Untersuchungen als bedeutendste und innovativste Forschungsbeiträge seines Lehrers ansieht.27 Dabei reichen dessen Veröffentlichungen auf diesem Gebiet von den oben genannten grammatischen, über syntaktische bis hin zu metrischen Studien, vor allem der arabischen und hebräischen Sprache, aber zum Beispiel auch des Sanskrit. Dagegen fällt die Würdigung der Leistungen seines Lehrers in Bezug auf die Erforschung des Alten Testaments ambivalent aus. Einerseits ist herauszustellen, daß er vor allem Ewalds Hauptwerk, die ‚Geschichte des Volkes Israel bis Christus‘ negativ bewertet, obwohl sie seit ihrem Erscheinen als eine seiner wichtigsten Leistungen gewürdigt wird. Ludwig Diestel zufolge – um nur ein prominentes Beispiel zu nennen – wurden alle Versuche auf diesem Gebiet durch das Werk Ewalds übertroffen. Ihm werde immer das Verdienst bleiben, mit dieser Schrift „durch eine höhere Auffassung ächter Wissenschaftlichkeit“ die Bahn „gebrochen zu haben“28. Wellhausen erwidert dagegen in lakonischer Kürze und mit kaum verkennbarer Schärfe: „Sie gilt denen, welche die sprachwissenschaftlichen Arbeiten seiner ersten Zeit nicht zu würdigen verstehen, als sein Hauptwerk.“29 Zwar sei Ewald eine umfassende Quellenkenntnis und eine positive Quellenkritik zuzuschreiben, die sich bei ihm „zu einer Verfolgung der Tradition durch ihre verschiedenen Stadien“30 gestalte. Daher fänden sich auch Ansätze zu einem historischen Verständnis des Alten Testaments. Ein Wegweiser oder gar Bahnbrecher war Ewald in den Augen Wellhausens auf diesem Gebiet jedoch nicht: „Das haben vielmehr de Wette und Vatke getan; er ist im Gegenteil der große Aufhalter gewesen, der durch seinen autoritativen Einfluß be26
A. a. O., 122. „Sein Talent für Beobachtung und Darstellung des Sprachlichen war groß, und auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft liegen nicht nur seine ersten, sondern auch seine wichtigsten und originellsten Leistungen.“ (Ebd.) 28 Ludwig Diestel, Geschichte des Alten Testamentes in der christlichen Kirche, Jena 1869, 589. 29 Wellhausen, Heinrich Ewald, 131. 30 Ebd. 27
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wirkt hat, daß die bereits vor ihm gewonnene richtige Einsicht in den Gang der israelitischen Geschichte lange Zeit nicht hat durchdringen können.“31 Anhand einer Auseinandersetzung Ewalds mit Wilhelm Vatke macht Wellhausen deutlich, daß erstgenannter noch nicht einmal das – seiner Meinung nach – grundlegende Problem der israelitischen Geschichte erkannt habe, geschweige denn den Gesamtaufriß und die einschlägigen Kontexte. Denn Ewald würdige zwar richtiger Weise die Bedeutung des Vatkeschen Buches zur israelitischen und jüdischen Geschichte im Ganzen und mache auch einige richtige Einwendungen im Detail. Aber auf dessen These, daß die Gesetzgebung des Pentateuchs am Ende und nicht schon am Anfang der israelitischen Geschichte stehe, gehe Ewald nicht ein. Daher diagnostiziert Wellhausen: „Er hat die Bedeutung dieser Cardinalfrage offenbar nicht erfasst.“32 Andererseits wertet Wellhausen die Leistungen Ewalds für die Prophetenforschung sehr positiv.33 In seiner Würdigung anläßlich des 100. Geburtstags seines Lehrers urteilt Wellhausen, daß die Forschungen zu den Propheten Ewalds eigentliche wissenschaftliche Leistung darstellen und seine bleibende Bedeutung für die alttestamentliche Wissenschaft begründen: Das Werk zu den alttestamentlichen Propheten „ist Ewalds exegetische Glanzleistung; den Propheten war er congenial und er drang tiefer in ihr Wesen ein, als irgend einer seiner Vorgänger“34. Dieses Urteil über die herausragende Bedeutung der Forschungen Ewalds zu den prophetischen Schriften und seinen Beitrag zum Verständnis der alttestamentlichen Prophetie wird bis heute geteilt. So resümiert Rudolf Smend in der 4. Auflage des Lexikons ‚Religion in Geschichte und Gegenwart‘: „Obwohl er W. Gesenius bekämpfte, sich der Pentateuchkritik W. M. L. de Wettes, W. Vatkes und K. H. Grafs nicht anschloß und mit seinen Schülern Theodor Nöldeke (1836–1930) und J. Wellhausen brach, gewann sein Werk großen Einfluß. Er erfaßte die hebr. (und arab.) Sprache als einen lebendigen Organismus, erklärte mit viel Sinn für die dichterische Form die ‚poetischen‘ und die prophetischen Bücher des AT und behandelte in großen Entwürfen sowohl die Gesch[ichte] des Volkes Israel als auch die Theol[olgie] der Bibel, beides unter Einschluß des NT und mit dem Höhepunkt in der Prophetie.“35 Was diese be31 32
A. a. O., 131 f. A. a. O., 132. 33 Dies nimmt Alfred Bertholet auf, der die wissenschaftliche Bedeutung des Werkes Ewalds folgendermaßen zusammenfaßt: „Seine eigentliche Größe dürfte sich in der intuitiven Beherrschung des gesamten Materiales bekunden. ‚Charakteristisch für ihn sind die großen geschlossenen Werke, in denen das Ganze zur Darstellung kommt‘ (Wellhausen). Dabei durchdringt seine wissenschaftliche Genauigkeit zugleich das Kleinste. Der Lebensnerv seiner Arbeit aber ist eine lebendige Religiosität, aus der heraus ihm ein fruchtbares Verständnis für alles religiöse Erleben erwächst. Am glänzendsten bewährt er es den Propheten gegenüber, die er zum Teil kongenial erfaßt“ (Bertholet, Art. Ewald, 454). 34 Wellhausen, Heinrich Ewald, 130 f., Hervorhebung im Original. 35 Rudolf Smend, Art. Ewald, Georg Heinrich August, in: RGG4 2 (1999), 1759; vgl. auch ders., Art. Ewald, Georg Heinrich August, in: EBR 8 (2014), 360.
2. Die Auseinandersetzung mit Ferdinand Christian Baur
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sondere Leistung Ewalds ausmacht, ist im Folgenden zu erörtern. Dabei soll neben den ‚Propheten des Alten Bundes‘ insbesondere das schon erwähnte Werk Ewalds zur Geschichte Israels herangezogen werden. Denn für die Würdigung der Schriften der Propheten ist die Bedeutung der Prophetie im Kontext der Entwicklung des Volkes Israel zu beachten. Nur bezüglich dieser Doppelung ist es möglich, die in der Forschung immer wieder benannte Ambivalenz in Bezug auf Ewalds Forschungen zum Alten Testament nachzuvollziehen.36 Auch Ewald hat die Notwendigkeit beider Zugänge erkannt, darin aber keine Spannung erblickt: „Wie die Propheten im Leben waren, dies weiter zu beschreiben, gehört mehr in die Erklärung der gesammten alten Religion, welche ohne das Wirken der Propheten gar nicht zu denken ist.“37 Daher wird zunächst Ewalds – nach Meinung Wellhausens problematischer – Quellengebrauch, vor allem in seiner ‚Geschichte Israels‘ erläutert. Anschließend ist Ewalds – nach Wellhausen ‚congeniale‘ – Darstellung der alttestamentlichen Propheten zu rekonstruieren. Zuvor soll noch exemplarisch auf eine der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen des sehr streitbaren Gelehrten Ewald eingegangen werden. Sie fällt in die Zeit der Niederschrift seiner Prophetendarstellung und wirft Licht auf die größtenteils im Dunkeln liegende Biographie. Auch einige wichtige grundlegende methodische Einsichten Ewalds werden deutlich, auf die dann später noch einmal zurückgekommen wird.
2. Die Auseinandersetzung mit Ferdinand Christian Baur Ewalds wichtigste Veröffentlichung zum Thema Prophetie ‚Die Propheten des Alten Bundes‘ – erstmals 1840 / 41 erschienen – fällt in seine Tübinger Zeit. Hier wirkte er neben Ferdinand Christian Baur (1792–1860), mit dem Ewald in eine immer heftiger geführte Auseinandersetzung geriet. Gegenseitig unterstellten sie sich ein mangelndes methodisches Bewußtsein und bescheinigten dem jeweils anderen, keine historische Forschung zu betreiben.38 Die Auseinandersetzung soll hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Doch die Vorwürfe Ewalds gegenüber Baur sind für das Verständnis seiner Position von Bedeutung, weshalb hier kurz darauf einzugehen ist. Was Ewald an Baur und der Tübinger 36 Dabei könnte auch die Frage gestellt werden, ob Wellhausen mit seinem Urteil den Beiträgen seines Lehrers Ewald immer gerecht wird. 37 Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 1, 1. 38 Georg Heinrich August Ewald, D. Heinrich Ewald über seinen Weggang von der Universität Tübingen, mit anderen Zeitbetrachtungen, Stuttgart 1848, 17. Für Baur ist dagegen der „rationalisierende und verflachende Charakter der Ewald’schen Geschichtsauffassung“ evident. (Ferdinand Christian Baur, Die Tübinger Schule und ihre Stellung zur Gegenwart, Tübingen 21860, 133) Baurs Meinung nach führe die Unreflektiertheit seiner Position unter anderen zu rationalistischen und mythischen Ansichten bei Ewald, obwohl er sich in seinen Schriften scharf von diesen abgrenze. (Vgl. a. a. O., bes. 168–170)
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Kapitel III: Georg Heinrich August Ewald
Schule39 insgesamt bemängelt, ist vor allem die Verhaftung in der Philosophie Hegels. Ewalds Einwände liegen dabei auf mehreren Ebenen. Zum einen diagnostiziert er eine Beeinträchtigung des historischen Forschens durch die spekulative Methode der Philosophie Hegels. Und zum anderen übt er Kritik an der – von Hegel beeinflußten – Zuordnung von Staat, Religion und Sittlichkeit. Den letzteren der beiden Vorwürfe konkretisiert Ewald folgendermaßen: „Unsre Gesellschaft hat die Begriffe von Religion und Sittlichkeit verloren, und mag von ihnen nicht gern reden noch hören; wenn sie aber die Wörter ‚Mangel an wahrer Sittlichkeit‘ odergar ‚Unsittlichkeit‘ nochnicht auf sybaritische [d. h. genußsüchtige oder schwelgerische, Anm. M. G.] Weise aus ihrer Sprache verbannt hat […], so will sie doch ihren Gebrauch jesuitisch so deuteln und beschränken daß auch der Unsittlichste noch als sittlich gilt“40. Diesen Mißstand zu beheben, sei die Aufgabe der Theologie. Aufgrund der eigentümlichen Verquickung von Kirche und Staat könne dies nicht von katholischen, schon gar nicht von ‚jesuitischen‘ Theologen geleistet werden. Doch auch in der evangelischen Theologie mit den von Ewald sogenannten ‚Kirchlichen‘ um Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802–1869) auf der einen und den als ‚falsche Philosophen‘ bezeichneten Vertretern der Tübinger Schule auf der anderen Seite werde das Problem nicht hinreichend erkannt. In seinen Augen überschätzen jene die Bedeutung der Institution (evangelische) Kirche. Sie setzen auf Kirchlichkeit, was dem Verhältnis von Religion und Sittlichkeit abträglich ist. Der aufgeladene Kirchenbegriff der Vertreter des lutherischen Konfessionalismus negiere die eigentliche Herausforderung einer angemessenen Verhältnisbestimmung und mache die Auseinandersetzung mit ihnen unmöglich. Sie erkennen nicht die virulenten Herausforderungen der Zeit. Diese aber, die Tübinger, „haben nun aus dem was sie in der Gesellschaft herrschen sehen und was auch ihren eigenen Lüsten so wohlbehagt, endlich gar eine Lehre und ein neues Lebensgesez machen wollen, und zu der Verflüchtigung hoher wie niederer Sittlichkeit selbst nicht wenig beigetragen“41. Die Schule um Baur habe zwar die Aufgabe einer gegenwärtig sachgemäßen Theologie erkannt. Sie sehe richtig, daß das re39 Neben
Baur zählt Ewald zu denen, die „sich in neuesten Zeiten nicht so ungern als die ‚Tübinger Schule‘ bezeichnen lassen“ (Ewald, D. Heinrich Ewald über seinen Weggang von der Universität Tübingen, 16), David Friedrich Strauß, den Theologen, Philosophen und Althistoriker Friedrich Karl Franz Albert Schwegler (1819–1857), den insbesondere mit philosophiehistorischen Arbeiten hervorgetretenen Theologen und Philosophen Eduard Zeller (1814–1908), den Literaturwissenschaftler Friedrich Theodor Vischer (1807–1887), aber auch den Philosophen Karl Theodor Bayrhoffer (1812–1888) und den evangelischen Pfarrer Gustav Adolf Wislicenus (1803–1875), der in den Kontext der freireligiösen Bewegung der Lichtfreunde gehört. Zu letzterer vgl. Helmut Obst, Lichtfreunde, Deutschkatholiken und Katholisch-apostolische Gemeinden, in: Johann Friedrich Gerhard Goeters / Rudolf Mau (Hgg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union 1. Die Anfänge der Union unter landesherrlichem Kirchenregiment (1817–1850), Leipzig 1992, 317–332, bes. 320–324. 40 Ewald, D. Heinrich Ewald über seinen Weggang von der Universität Tübingen, 37. 41 A. a. O., 38.
2. Die Auseinandersetzung mit Ferdinand Christian Baur
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ligiöse und sittliche Leben neue Anfragen an die wissenschaftliche Forschung und Lehre stelle. Und sie habe versucht, den gegenwärtigen Bedingungen von Staat, Religion und Ethos gerecht werdende Antworten zu geben. Doch ist es ihr durch das Aufstellen einer neuen ‚Lehre‘ und eines neuen ‚Lebensgesetzes‘ nicht gelungen, dies auch einzulösen. Durch die von ihr praktizierte falsche Art der Dogmatisierung richtig erkannter religiöser und ethischer Sachverhalte ist es nicht möglich, das religiöse und sittliche Leben zu beeinflussen. Auf die in der Bevölkerung lebendigen Bedürfnisse der Zeit einzugehen, sei so unmöglich.42 Gerade die Theologie stehe vor der Aufgabe, lebendige und kraftvolle Antworten zu geben. Dazu sei es notwendig, die staatlichen Institutionen und ethischen Leitbilder mitzureflektieren. Die Herausforderung der Theologie bestehe nicht darin, unverständliche Lehren und Dogmen zu produzieren, sondern in der Bevölkerung rezipierbare Aussagen zum Thema Religion und den darin involvierten sittlichen Maximen zu machen. Damit übt Ewald einerseits eine scharfe wissenschaftsmethodische Kritik an Baur und der Tübinger Schule. Aufgehängt ist sie am Thema Staat, Religion und Sittlichkeit. Doch das tieferliegende Problem besteht in dem, was er mit ‚Lebensgesez‘ beschreibt. Jegliche Art der Dogmatisierung verhindere ein richtiges Verständnis des ‚Lebens‘. Denn dem ‚Leben‘ dürfe nicht in einer falschen Art und Weise ein ‚Lebensgesez‘ auferlegt werden. Dahinter steht ein emphatischer Gebrauch des Lebensbegriffs bei Ewald. Andererseits übt er eine scharfe ethische Kritik. Sie gilt der in Tat und Sitte übergehenden Verkennung von Anforderungen und Pflichten des Christentums, einem Sachverhalt, den er vor allem für die Tübinger Schule feststellt.43 Der Ewald eigentümliche Lebensbegriff wird von ihm an prominenter Stelle innerhalb seiner Darstellung der Propheten eingeführt, worauf später zurückgekommen werden soll. Vorher ist auf Ewalds Methode der Quellenkritik einzugehen. Dafür sind im folgenden insbesondere Ewalds Erörterungen aus der ab 1843 erschienenen ‚Geschichte des Volkes Israel bis auf Christus‘ heranzuziehen. Denn die Auslegung der sogenannten alttestamentlichen Schriftpropheten bildet für Ewald die Voraussetzung für ihr richtiges Verständnis: „Wer diese Helden der göttlichen Wahrheit aus ihrem wahren Innern näher kennen lernen und ihre echte Grösse bewundern will, der lerne erst ihre Worte und 42 „Einmal wage man allen jenen vonaußen herrschenden großen Irrthümern und Verkehrtheiten sowie den eigenen inneren Anfechtungen zum Troze der Wahrheit und Kraft des Guten allein zu vertrauen, man wage es nicht bloß man thue es und lasse sich durch nichts davon abschrecken; einmal glaube man allein den ewigen Kräften und Wahrheiten und lebe in ihnen als wäre weiter nichts in der Welt ewig und nichts heilbringend als sie. […] Einmal suche man erst allein den rechten Sinn und Geist ohne den nichts Gutes weder gut gesucht und erkannt noch gut geschüzt und angewandt werden kann; lasse sich auch durch alle Schwierigkeiten und Verwicklungen des jezigen vielverwickelten Lebens nicht davon abbringen.“ (A. a. O., 39) 43 Nach dem Gesagten mag es überraschen, daß auch Ewald auf eine Synthese von Staat und Religion hinaus will. Er sieht sie in der Prophetie.
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Thaten zu verstehen, so wie sie selbst sie beschreiben; hier stehen sie uns am nächsten und zutraulichsten, laden uns auch am unwiderstehlichsten zu ihrer Erkenntniss ein.“44 Durch die Heranziehung dieser Schriften zur Erklärung des Ewaldschen Prophetenbildes soll nicht die These Wellhausens in Abrede gestellt werden, daß die ‚Propheten des Alten Bundes‘ dessen „exegetische Glanzleistung“ darstellen. Doch gilt es auch den historischen Rahmen zu berücksichtigen, in den Ewald die alttestamentlichen Propheten einzeichnete. Die großen Völker des Altertums wirken Ewald zufolge durch ihre schriftlichen Überlieferungen bis in die Gegenwart und haben die geschichtliche Entwicklung nachhaltig beeinflußt.45 Jedes habe auf seine eigene Art und Weise die Ausbildung späterer Herrschafts- und Wirtschaftsformen, der Wissenschaften oder der Künste und zahlreicher anderer Gebiete befördert. Mehr oder weniger stringent lasse sich die stufenweise Ausbildung eines je eigentümlichen Ziels bei allen Völkern des Altertums nachzeichnen. Ewald zufolge ist auch der Geschichte des Volkes Israel dieses von ihm herausgestellte teleologische Moment eigen, wobei das Ziel seiner Entwicklung ein weitaus höheres sei als bei den anderen Völkern. Denn: „Ziel ist die vollkommene Religion, ein Gut, welches zu erreichen freilich alle etwas höherstehenden Völker den Anfang und Versuch machten, welches einige derselben, die Inder und Perser, in der That schon mit ernsterem Bestreben und bewundernswerther Aufopferung edler Kräfte zu erringen sich erhoben, welches aber nur von diesem einzigen Volke vom Anfang an näher erkannt und dann durch alle Schwierigkeiten und Hemmungen hindurch viele Jahrhunderte lang mit äußerster Festigkeit und Folgerichtigkeit verfolgt ist, bis es in seiner Mitte soweit erreicht wurde, als es unter Menschen und als es im Alterthum erreichbar war. Anfang und Ende der Geschichte dieses Volkes drehen sich um dies eine hohe Ziel; und die bunten Wechsel oder auch die starken Verwirrungen und Verkehrtheiten, welche sich im langen Verlaufe der angeknüpften Fäden seiner Geschichte offenbaren, laufen zulezt immer wieder zur Lösung der großen Aufgabe zusammen, welche der menschliche Geist hier zu erfüllen hatte.“46 So wie die anderen bedeutenden Völker ihre Bestimmung darin hatten, einen eigenen Bereich auszubilden und dadurch bis in die Gegenwart zu wirken, so lag das Ziel Israels als Volksgemeinschaft in der stu44
Ewald, D. Heinrich Ewald über seinen Weggang von der Universität Tübingen, 1 f. „Babylonier, Inder, Aegypter, Phöniken, Griechen, Römer verfolgten […] jedes nur eine besondre Bestrebung, welche sich gerade unter ihm bei günstigen Verhältnissen bildete, bis zu einem höchsten, zum Theile von allen Spätern nie wieder erreichten Gipfel; und noch als jedes Volk sein Höchstes erreichte und sein Tag sich zum Untergange neigte, war es in dem einseitigen Streben befangen, als hätten alle seine Kräfte gerade nur um dieses eine Höchste zu erreichen genügt: aber die Aufgaben des menschlichen Geistes, welche diese alten Völker, ein jedes die seinige, mit reinster Selbständigkeit und der wunderbarsten Folgerichtigkeit lösten, haben für alle Folgezeiten sowie für die verschiedensten und entferntesten Völker unabsehbare Wirkungen und Früchte getragen.“ (Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 1, 6 f.) 46 A. a. O., 8. 45
3. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik
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fenweisen Entwicklung der Religion. Und der historische Niederschlag dieser Entwicklung fände sich in der Bibel. Das Thema Religion fungiert als Bindeglied zwischen den vielfältigen alttestamentlichen Überlieferungen, die die geschichtliche Entwicklung bis zum (notwendigen) Untergang Israels reflektierten. „Die Geschichte dieses Volkes ist im Grunde die Geschichte der durch alle Stufen bis zur Vollendung sich ausbildenden Religion, welche auf diesem engen Volksgebiete durch alle Kämpfe hindurch sich bis zum höchsten Siege erhebt und endlich in aller Herrlichkeit und Macht sich offenbart, um dann von da aus durch ihre eigene Kraft sich unwiderstehlich verbreitend nie wieder verloren zu gehen, sondern ewiger Besiz und Segen aller Völker zu werden.“47 Geschichte Israels ist für Ewald Geschichte der Religion, die er von den dunklen Anfängen bis hin zur letztgültigen Offenbarung in Jesus Christus nachzeichnen möchte.48 Darin läge ihr Reiz und ihre gegenüber der Geschichte aller anderen Völker des Altertums herausgehobene Stellung. Und damit stelle die Darstellung der Geschichte Israels zugleich eine besondere Herausforderung an den Geschichtsschreiber dar, der er mit großem Verantwortungsbewußtsein begegnen müsse.
3. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik 3.1. Die Rekonstruktion der religionsgeschichtlichen Entwicklung Ewalds Rekonstruktion der ‚hebräischen‘, ‚israelitischen‘ und ‚jüdischen‘ Geschichte – sie beginnt für ihn mit Mose, durchläuft drei Epochen und endet mit Jesu Auftreten – ist von einem großen Vertrauen in den Quellenwert der alttestamentlichen Texte geprägt.49 Die Epoche der ‚hebräischen‘ Geschichtsschreibung repräsentiere „Das große Buch der Urgeschichten“50 (der Hexa47 A. a. O., 9. 48 Die Aufgabe
seiner ‚Geschichte des Volkes Israel bis auf Christus‘ beschreibt Ewald folgendermaßen: „Diese Geschichte [sc. der Religion] also, soweit sie sich jetzt in allen ihren entdeckbaren Spuren und Resten noch erkennen läßt, erschöpfend zu beschreiben, ist das Unternehmen dieses Werkes: und sie mit möglichster Treue so zu beschreiben, wie sie wirklich war, wird ihre beste Empfehlung seyn.“ (Ebd.) 49 „Uebrigens mag ich hier an der Spize des Werkes nicht weiter ausführen, dass der wahre Anfang dieser erst mit Christus zur Ruhe kommenden Geschichte mit Mose beginnt, der gewaltige, alle folgenden Entwicklungen bedingende Fortschritt aber den die Bewegung der mosaischen Zeit sezt bereits den ägyptischen Aufenthalt Israels als ersten Schritt in diesem Kreise voraussezt; dass diese Geschichte von ihrem Anfange unaufhaltsam drei große Wendungen durchläuft, bis ihr Kreis sich völlig schließt und sie zu ihrer ewigen Ruhe kommt, die drei Wendungen (Epochen), welche auch äußerlich durch den Wechsel der aufeinanderfolgenden Namen der Hebräer, Israeliten und Juden bezeichnet werden, weil das Volk mit jeder dieser Wendungen ein anderes wird; ferner, dass was dem ägyptischen Aufenthalte vorhergeht als diesem Kreise noch fremd in die Vorgeschichte gehört, die man ebensowohl die Urgeschichte nennen könnte.“ (A. a. O., 14, Hervorhebungen M. G.) 50 Vgl. a. a. O., 73–164.
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teuch), der ‚israelitischen‘ „Das große Buch der Könige“51 (die Bücher Richter, Ruth, Samuel und Könige) und der ‚jüdischen‘ „Das jüngste Buch Allgemeiner Geschichte“52 (die Bücher Esra, Nehemia und Chronik). Jede dieser drei Epochen sei durch eine spezifische Herrschaftsform geprägt. Die erste durch die ‚Gottesherrschaft‘, die zweite durch die ‚Königs- und Gottesherrschaft‘ und die dritte durch die ‚Heiligherrschaft‘. Diese drei Schriftwerke kennzeichnen Ewald zufolge die geschichtliche Entwicklung von den Anfängen bis zur Auflösung des Volkes. Sie beginnt mit der Abgrenzung der Hebräer von den Ägyptern und „treibt endlich in der mosaischen Zeit desto gewaltiger zu jenem außerordentlichen Fortschritte der Gründung der Gottesherrschaft (Theokratie) als der Volks- und Reichs-Verfassung, welcher vondaan die Bewegung dieser ganzen langen Geschichte wird“53. Nicht die Staatlichkeit, nicht das Königtum zeichne die Hebräer gegenüber den anderen Völkern aus und mache sie zu einer historisch greifbaren Größe, sondern ihre Religion. Daher sei Israels Gottesbeziehung das zentrale Thema der frühesten Geschichte. Und auch in Zeiten, in denen das Volk nicht in der festesten Beziehung zu seinem Gott stand oder gar von ihm abfiel, sei doch die Gottesherrschaft unangefochten der Maßstab der geschichtlichen Beschreibung dieser Epoche geblieben. Getragen werde die Gottesherrschaft von aus der Allgemeinheit herausragenden Persönlichkeiten. Hier denkt Ewald vor allem an die Propheten, die selbst oder gerade während gottvergessener Zeiten in einer besonders engen Beziehung zu Gott gestanden hätten. Auch Mose, der den Beginn der Geschichte des Volkes markiere, wird daher konsequenterweise von Ewald vor allem als Prophet gewürdigt. Um die von ihm herausgestellte Besonderheit des prophetischen Wirkens Moses richtig zu verstehen, ist es notwendig, zunächst auf die Ewalds Methode der Quellenkritik zugrundeliegenden Entscheidungen einzugehen, die allererst die Auswertung verschiedener alttestamentlicher Textkorpora als Quellen für die Rekonstruktion der ‚hebräischen‘, ‚israelitischen‘ und ‚jüdischen‘ Geschichte möglich machten. Hierbei präferiert Ewald von vornherein die vermeintlich ältesten Quellen: „Gerade die ältesten theile der geschichte Israels welche für das richtige verständniß des großen Ganzen die bedeutendsten, sind auch die dunkelsten, nichtbloß weil die anfänge alles geschichtlichen für das gewöhnliche auge desto dunkler sind je gewaltigere urkräfte geheimnißvoll in ihm wirken, sondernauch weil die quellen dort karger und dunkler fließen.“54 Dieser Quellenmangel hindert Ewald jedoch nicht, besonders intensive und breiten Raum einnehmende Ausführungen gerade zu den ‚dunklen‘ Anfängen zu verfassen. Dabei mißt er archäologischen Funden nur einen sehr begrenzten 51
Vgl. a. a. O., 164–215.
54
im Original. Ewald, Geschichte des Volkes Israel 1, 18.
52 Vgl. a. a. O., 215–256. 53 A. a. O., 442, Hervorhebung
3. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik
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Wert zu. „Nur wo sich ein etwas vollständigeres und mannichfaltiges schrift thum von einem alten Volke erhalten hat, können wir die tiefen seines geistigen lebens noch vollkommner und sicherer wiedererkennen: die Bibel aber mit ihren nicht kanonisch gewordenen anhängseln reicht uns im engsten raume doch zugleich die mannichfaltigsten und die durch eigne schwere gewichtigsten theile eines solchen schriftthumes; und so gewährt sie einen reichthum von quellen für diese geschichte welche uns heute bei keinem andern gleich alten volke höherer bildung so klar und so voll fließen.“55 Schriftliche Quellen, natürlich nur wenn sie richtig interpretiert sind, eröffnen Ewald zufolge einen unmittelbaren Einblick in die geistige Situation der Zeit. Was tatsächlich geschehen ist, was das ‚geistige leben‘ des Volkes ausgezeichnet habe, hätten nur sie mit Sicherheit überliefert und überliefern können. Archäologische Zeugnisse blieben demgegenüber immer mehrdeutig und würden eine gesicherte Rekonstruktion der Geschichte nicht zulassen. Für Ewald ist die Geschichte dieses Volkes somit in einer doppelt ausgezeichneten Situation: Zum einen existierten in Form der Bibel noch immer schriftliche Überlieferungen, die die Entwicklung des Volkes festgehalten hätten – während von anderen alten Völkern lediglich letztendlich unverständliche „zeugnisse seiner einstigen geschichte in den steinen“56 zu finden seien. Zum anderen sei es zudem möglich, sich dem Leben des damaligen Volkes anzunähern und sichere Erkenntnisse über seine geschichtliche Entwicklung zu gewinnen. Kein anderes Volk der damaligen Zeit hat Ewald zufolge vergleichbare schriftliche Überlieferungen hinterlassen – ein Argument, welches sich zuweilen auch noch in der gegenwärtigen alttestamentlichen Forschung findet. Und bei keinem anderen Volk sei daher eine solch umfassende Kenntnis über die gesellschaftliche Situation, die religiöse, politische, geistige Lage, über das ‚Leben‘ im umfassendsten Sinne verstanden, möglich. Daß die Quellenlage nicht ganz so ideal ist, wie es aufgrund dieser Aussagen scheinen mag, hat auch Ewald gesehen. Das älteste und bedeutendste Werk der israelitischen Geschichtsschreibung ist seiner Meinung nach das von ihm so genannte ‚Buch der Urgeschichten‘ oder ‚Buch der Ursprünge‘. Es ist aus verschiedenartigen Quellen zusammengesetzt. Die in ihm enthaltenen ältesten Bruchstücke bezeichnet er mit dem Namen ‚Buch der Kriege Jahwes‘, welches an die siegreichen Taten Moses und Josuas erinnern wollte und „Buch der Bündnisse“57, denn letztere „suchen stark zu zeigen, wie die alten Verträge und Bündnisse entstanden, und beschreiben alles was sich darauf bezieht mit besonderer Genauigkeit. Es ist alsob man da in eine unruhige Zeit versezt würde, wo jeder sich soviel als immer möglich durch mündliche oder schriftliche Bündnisse mit Freunden und handfeste Verträge zu sichern suchte: als so wichtig tritt 55
A. a. O., 19 f. A. a. O., 19. 57 Vgl. Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 1, 75–87. 56
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das Bündniss in allen Verhältnissen hier hervor“58. Beide mögen neben zahlreichen weiteren im Hexateuch und Richterbuch versprengten Quellenbruchstücken älterer Herkunft sein. Dies gelte jedoch nicht für das erste und wichtigste israelitische Geschichtswerk, das „Buch der Ursprünge“59, im engeren Sinne verstanden, welches nicht mit dem schon genannten Großwerk zu verwechseln ist: „Dieses Werk gehört – und von der Erkenntniss seines Zeitalters und Verfassers hängt die richtige Einsicht seines ganzen Wesens ab – in den Anfang der königlichen Herrschaft, ist also nicht unbedeutend jünger als jenes.“60 Es müsse in der Zeit der ersten Staatlichkeit Israels unter den ersten Königen Saul, David und Salomo entstanden sein. Nach den Siegen Davids über die benachbarten Völker war der passende institutionelle Rahmen gegeben, in dem in einem schriftlichen Werk ein Überblick über die gesamte Geschichte gewonnen werden konnte.61 Es ging darum, die ‚Ursprünge‘ zu ergründen – des eigenen Volkes, aller anderen Völker der Erde, ja der Erde und des Himmels selbst. Dabei wird der schon erwähnte Begriff des ‚Bundes‘ zum zentralen Grundgedanken: Denn nach dem Anspruch des Verfassers „soll jedes gültige recht über den menschen stehen und als göttliches gebot sie verpflichten: als bestände es durch einen Bund zwischen Gott und der menschheit, in welchem jener sein gesez aufrecht erhält und diese von ihm schuz und segen erwarten wenn es ihm treu ist. So ist jedes gesez und jede verfassung oder jeder Bund in welchem die menschheit zu Gott steht eine von diesem gesezte schranke für sie, innerhalb welcher sie sich bewegen soll“62. Doch trotz der gewonnenen Einsicht, daß frühestens in der Königszeit das erste große biblische Geschichtswerk entstanden sein könne, gelingt es Ewald, umfassende Aussagen über die Frühzeit des hebräischen bzw. israelitischen Volkes zu machen. Denn er geht von zahlreichen Quellenresten in diesem Werk aus, mit deren Hilfe eine bis in die geschichtlichen Anfänge des Volkes unter Mose zurückreichende Entwicklung nachgezeichnet werden könne. Je älter das vermeintliche Alter dieser bruchstückhaften Überlieferungen ist, um so höheren Quellenwert haben sie für Ewald. Sie würden ein unverfälschtes, lebendiges Bild ihrer Zeit wiedergeben, ohne künstliche Überformungen. Tradiert worden 58 A. a. O., 78 f. Und weiter schreibt er: „Wie zwischen Israel und Elohim in der erhabensten Stelle der Geschichte, so wird nach diesem Werke zwischen Jaqob und Laban, Isaaq und Abimélekh ein Bund geschlossen, und die umständlichen Schilderungen der Schließung aller dieser Bündnisse weisen die größte Ähnlichkeit auf.“ (A. a. O., 79) 59 Vgl. a. a. O., 87–118. 60 A. a. O., 87. 61 „Es war dies eine erhabene Zeit, wie sie in dieser ruhigen Höhe und dieser nach allen Seiten sich verbreitenden künstlerischen Thätigkeit später nie wiederkehrte: ein geschichtliches Werk, an Umfang Anlage und Kunst ihrer vollkommen würdig, ist das B[uch] d[er] Ursp[rünge], welches was künstlerische Schönheit und erhabenen geschichtlichen Sinn betrifft, seines gleichen nicht hat in der hebräischen Geschichtschreibung und in jeder Hinsicht das herrlichste Geschichtswerk des alten Volkes genannt zu werden verdient.“ (A. a. O., 98) 62 Geschichte des Volkes Israel 1, 127, Hervorhebung im Original.
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seien sie, weil die Autoren der meisten alttestamentlichen Schriften nicht im eigentlichen Sinne Verfasser waren, sondern Sammler und Verarbeiter älterer schriftlicher Überlieferungen.63 Diese hätten sie zwar neu angeordnet und zusammengestellt, aber die einzelnen Texte seien in großer Treue bewahrt worden. Ewald bringt dieses von ihm als Besonderheit für die Geschichte des Volkes Israel herausgestellte Phänomen auf den Begriff der ‚Buchzusammensetzer‘. Schriftliche Überlieferungen hätte es auch ohne die staatlichen Institutionen der Königszeit gegeben. Sie seien allein an die Entstehung der Schrift gebunden gewesen, die sich schon zur Zeit Moses nachweisen lasse.64 Doch den Fertigkeiten und Fähigkeiten der ‚Buchzusammensetzer‘ sei erst ihre wörtliche Bewahrung zu verdanken: Die „eigenthümliche kunst der buchzusammensezer muß im volke Israel schon seit dem 10ten jahrh. vor Chr. viel geübt seyn: sie zieht sich bis in sehr späte zeiten hinein, blühet in günstigen zeiten höher als in andern, und hatte offenbar auf die ganze ausgestaltung eines weiten theiles alles schriftthumes den tiefsten einfluß. Sie konnte sich im einzelnen wieder sehr mannichfach gestalten: der buchzusammensezer konnte von sich selbst mehr oder weniger zusezen, und alle seine stoffe enger oder loser ineinander verarbeiten; und an nichts kann man sosehr wie ihrer geschäftigkeit die hohe stufe von ausbildung schäzen zu welcher sich das ganze schriftthum Israel’s schon so früh erhob“65. Mit dieser für alle geschichtlichen Überlieferungen des Alten Testaments in Anschlag gebrachten eigenartigen Mischung aus Fragmenten- und Fortschreibungshypothese grenzt sich Ewald ganz bewußt von den kritischen Forschungen de Wettes und seiner Nachfolger ab.66 Und mit dieser Hypothese gelingt es ihm, einen geschichtlichen Zusammenhang von der Entstehung des Volkes Israel unter Mose bis zu seinem Untergang zu rekonstruieren. Dabei würdigt Ewald – wie schon erwähnt – Mose als Prophet. 63 „Wirklich zeigen alle näheren untersuchungen der jezt im Kanon A. Ts erhaltenen geschichtswerke unbestreitbar daß die späteren verfasser die älteren schriftlichen quellen mehr oder weniger verschmolzen und in neuen fluß gebracht zusammenstellten, und mehr sammler und verarbeiter älterer schriftlicher stoffe als rein ursprüngliche verfasser waren.“ (A. a. O., 89) 64 Vgl. Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 1, 60–75. 65 A. a. O., 90 (Hervorhebung im Original). 66 Vgl. nur folgende im Jahr nach dem Erscheinen des ersten Bandes der ‚Geschichte des Volkes Israel bis Christus‘ veröffentlichte Abgrenzung: „Ich verkenne nicht, dass in de Wette […] anfangs eine gewisse geschichtliche Unbefangenheit vorherrschte: doch was ist diese wenn sie ein blosser Keim bleibt und nicht ein ganzes Leben hindurch sich tausendfach bewährt und von einem kleinen sichern Anfang aus immer grössere Gewissheit schafft? De Wette aber kam vor ewigen Zweifeln zu gar wenigen reinen Erkenntnissen und zerstörte weit mehr als er bauete; auch fehlte ihm in diesem Gebiete überhaupt jener breite Grund von Sprach- und Sachkenntnissen, ohne welche alle sog. Kritik ein schlüpfriger Weg bleibt.“ (Georg Heinrich August Ewald, Über den gegenwärtigen Zustand der Alttestamentlichen Wissenschaft, in: Ders. / Leopold Dukes [Hgg.], Ueber die arabisch geschriebenen Werke jüdischer Sprachgelehrter [Beiträge zur Geschichte der Aeltesten Auslegung und Spracherklärung des Alten Testamentes 1], Stuttgart 1844, XII–XXIV, XVI)
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3.2. Die grundlegende Bedeutung der Prophetie Zwar konstatiert Ewald, daß die Überlieferungen über Mose erst von späteren Erzählern schriftlich niedergelegt wurden, aber seiner Meinung nach bestehe kein Zweifel, daß sie historische Tatsachen wiedergeben.67 Darüber hinaus zeigten diese Überlieferungen, daß die historische Bedeutung der Person des Mose an seinem Wirken als Prophet hängt: „[D]ies ist die feststehende Vorstellung von ihm welche durch alle Erinnerungen an und Erzählungen über ihn sich hindurchzieht, und so bezeichnet ihn Hosea (12,14) ohne weitere Benennung ganz kurz als einen ‚Propheten‘ schlechthin, durch den Gott im hohen Alterthume Israel aus Aegypten geführt und behütet habe. Er ist zwar ferner Volksführer Gesezgeber Wunderthäter: aber alle diese seine weitern Eigenschaften verschwinden vor der einen dass er Prophet ist; erst als Prophet ist er Volksführer Gesezgeber Wunderthäter, und alles große was er ist das ist er nur als Prophet“68. Ewald sieht im Prophetentum ein Spezifikum des israelitischen und jüdischen Volkes. Das Leben und Wirken einzelner prophetischer Persönlichkeiten sei kennzeichnend für seine geschichtliche Entwicklung in den verschiedenen Epochen und mache die Besonderheit gegenüber allen anderen Völkern aus.69 Natürlich bemerkt auch Ewald, daß es in den Nachbarvölkern Israels neben den Anführern und Gesetzgebern, Wundertätern und Priestern gleichfalls Propheten gegeben hat. Doch komme letzteren in Israel eine besondere und gegenüber allen anderen Mächten des Volkslebens herausgehobene Stellung zu. Denn alle diese einzelnen Mächte würden in Israel – in ihren im Laufe der Geschichte sich wandelnden Gestalten – im Prophetentum „als einer Hauptmacht des ganzen Lebens und Strebens des alten Volkes“70 vereint. Dies sei zum ersten Mal bei der Person des Mose greifbar, der damit konsequenterweise den Anfang der Geschichte des Volkes markiere. Trotz aller Wandlungen und Veränderungen in Israel wandelte sich dieses Amt des großen Propheten, der das 67 Dies läuft immer nach dem selben Schema. Zunächst räumt Ewald ein, daß die schriftlichen Überlieferungen erst aus späterer Zeit stammen, um dann festzustellen, daß sie trotzdem unstreitig historisch seien. Vgl. z. B.: „Dass Mose in ägyptischer Bildung und Wissenschaft großgeworden, und dennoch von einer That volksthümlicher Entrüstung übermannt aus Aegypten nach der Halbinsel des Sinai und unter das damals dort herrschende Volk Midjan zu fliehen gezwungen sei, dort aber mit einem Fürsten dieses Volkes sich befreundet und verschwägert habe, berichtet zwar so wie es jetzt Ex. 2, 11–22 zu lesen ist […] erst der dritte Erzähler. Aber der Grund dieser Erinnerung ist ächtgeschichtlich.“ (Ders., Geschichte des Volkes Israel bis Christus 2, 32a–32b) 68 A. a. O., 32 f. 69 In Israel war „vonanfangan seitdem es in das helle Licht der Geschichte tritt, das Prophetenthum eine solche hohe Macht welche mitten im grossen Volkskörper sich emporhob und aufs nachdrücklichste und erfolgreichste auf ihn einwirkte, ja welche es erst zu dém Volke einzigen Werthes bildete als welches es in der Weltgeschichte erscheint“ (Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus. Anhang zum zweiten Bande, 269). 70 Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 2, 32.
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Volk unangefochten leitete und prägte, bis hin zu den Propheten Elia, Elisa und Joel nicht. Charakteristisch für diese Propheten der Frühzeit ist Ewald zufolge eine besonders enge Gottesbeziehung, die die Grundlage ihres Wirkens kennzeichne. Sie bilde den Ausgang ihrer jeweiligen Wirksamkeit und beeinflusse die Entwicklung des Volkes. So auch schon bei Mose, der als erster die religiöse Besonderheit Israels erkannte und seinem Volk vermittelte. „Nicht zuerst Prophet ward er: sondern von einer Wahrheit und Kraft der Religion ward er zuerst so ergriffen, dass er von dém Augenblicke an in ihr allein lebte und aus ihr wirkte, mochte er Prophet werden oder nicht, und mochte er bei fertigem Reden ein gewöhnlicher Prophet werden oder nicht. Und nicht erst im großen öffentlichen Wirken, im Streiten und Siegen, in der Noth des Augenblickes ward er von dieser Wahrheit ergriffen: sondern sie erfüllte ihn zuvor in aller Ruhe und Stille des Lebens, und dann erst wirkte er ihr entsprechend. Wie also jedes selbständigen wahren Propheten Geist mit dem eigenen Schauen des göttlichen Lichts und mit der Versenkung in den Sinn und Willen Gottes beginnt, ebenso schauet Mose […] als einfacher Hirt in des Lebens Ruhe plötzlich ein gewaltiges Feuer Gottes und wird dadurch erst wiedergeboren mit göttlicher Gewalt in ein anderes Wirken fortgerissen.“71 Die Volksgemeinschaft nahm die religiösen Weisungen Moses – und seiner Nachfolger – an. Dadurch sei es, immer nach demselben Schema, zu einer stufenweise fortschreitenden Vergeistigung der Religion gekommen: Die Propheten drangen tiefer als das Volk in den göttlichen Geist und Willen ein, erkannten eine religiöse Wahrheit, wurden in ihrem Wesen verändert, gaben ihre neugewonnenen Erkenntnisse weiter, beeinflußten dadurch das Volk und hoben es auf eine neue Stufe der Religion.
3.3. Das Prophetenbild Das von Ewald für die frühen Propheten konstatierte gleichbleibende Schema ist ein Resultat seines aus heutiger Sicht problematischen Quellengebrauchs. Denn er hat zwar richtig gesehen, daß die alttestamentlichen Überlieferungen über einen längeren Zeitraum hinweg entstanden sind. Und er hat auch richtig erkannt, daß die frühesten zusammenhängenden Erzählungen des Alten Testaments aus einer späteren Zeit stammen – Ewald verortet sie im Anfang der Königszeit. Doch unbelastet davon ist sein Vertrauen in die Verläßlichkeit der berichteten Ereignisse sehr groß, so daß er in ihnen noch Bruchstücke historischer Berichte findet, die es ihm erlauben, eine über tausend Jahre zurückreichende Geschichte des Volkes Israel zu rekonstruieren. Seine immer dem selben Schema folgende Darstellung des Phänomens der alttestamentlichen Prophetie wird dann auch erst in der späteren israelitischen Geschichte durchbrochen, 71
A. a. O., 33 f.
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in der es zur Ausbildung des Phänomens der Schriftprophetie kam. In Ewalds ‚Propheten des Alten Bundes‘, das sich der Auslegung der Schriftpropheten widmet, findet sich denn auch eine differenziertere Erklärung der Besonderheit der Propheten. Das die Propheten gegenüber der Masse des Volkes kennzeichnende tiefere Erkennen und Fühlen religiöser Wahrheiten bringt er hier auf den Begriff des ‚neuen Lebens‘: „Dies ist wesentlich ein andres Leben, ein zweites höheres Leben in demselben Menschen, wo der einzelne Wille sich zugleich durch einen höhern allgemeinen Willen bestimmt und geleitet fühlt und die That keine vereinzelte oder gar verderbliche wird sondern in das göttliche Wirken selbst eingreift und so eine ewige gute Folge Frucht und Belohnung trägt.“72 Durch die Berufung in das Prophetenamt werde die Persönlichkeit vollkommen verändert. Der Prophet habe Teil am göttlichen Wirken, und aus diesem ‚neuen Leben‘ heraus sei es möglich, unter Absehung von sämtlichen Verwicklungen in zeitliche und räumliche Umstände, religiöse Wahrheiten und göttliche Vorstellungen zu erkennen und zu vermitteln. Dabei erkennt Ewald in dem ‚neuen Leben‘ kein erzwungenes oder den Menschen fremdes Denken und Handeln – ganz im Gegenteil: „Da ist erst in der That Geist d. i. wahres göttliches Leben; wenigstens fängt da im Laufe der Zeiten das Werk des Geistes im Menschen an und kann auf einem festen Grunde weiterschreiten. Und doch ist dies kein fremdes und erzwungenes Leben, sondern nur Erfüllung des zum freien seligen Genusse den Menschen ursprünglich bestimmten, nur Erreichung des Lebens wie es seyn soll.“73 Auch wenn es lediglich von einzelnen, besonders herausragenden prophetischen Persönlichkeiten erlangt werde, so erschließe sich doch nur ihnen der wahre Sinn des Lebens. Sie erfahren die Veränderung des menschlichen Lebens durch den göttlichen Geist als Befreiung von irdischen Zwängen, als Vergeistigung. Doch dieser Zugewinn an Innerlichkeit bedeute keine Abschottung von der Lebenswelt, sondern die Propheten möchten sie auch vermitteln. Denn nur, wenn es dem jeweiligen Propheten gelingt, die ihm zuteil gewordenen religiösen Maximen weiterzugeben, werde er seiner besonderen Rolle gerecht.74 Das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit beschäftigt Ewald besonders, worauf oben bei der Erörterung der Auseinan72
Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 1, 3.
73 Ebd. 74 Gerade
auch, wenn die Propheten oft dieses ihnen eigene Wesen verfehlt haben, so ist doch festzuhalten: „[D]er Prophet kann die Grenze inne halten und an ihn ergeht die Forderung der Mässigung und Besonnenheit, die ja an alle Menschen immer ergeht, nur noch nothwendiger und schärfer als an die übrigen. Und dann erst wird die Prophetie sich vollenden und ihrem guten Ziele näher kommen, wenn der Prophet mitten in der äussersten Erregung und Begeisterung doch das Selbstbewusstseyn nicht verliert. Die vorhergehende Entzückung und Begeisterung ist dann nur das sich unwillkührlich und plötzlich entzündende heilige aber verborgene Feuer, fortleuchtend und erwärmend bis ihr Sinn vollbracht ist: die Ausführung dagegen in Wort und That lässt sich zwar ganz vom innern Feuer erleuchten und erwärmen, lässt sich durch feindselige äussere Einflüsse nicht schwächen noch trüben, kennt aber und fürchtet überall das göttliche Mass, welches dem Menschen in keinem denkbaren Zustande das Selbst-
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dersetzung mit Ferdinand Christian Baur schon eingegangen wurde. Religiöse Einsichten begründen seiner Meinung nach sittliche Handlungsmaximen – womit Ewalds Überlegungen zur alttestamentlichen Prophetie den Anschluß an allgemeine theologische und religionsphilosophische Debatten zur Eigenart protestantischer Frömmigkeit suchen. Mit seinen Untersuchungen zum Alten Testament meint er einen wichtigen Beitrag zur Lösung dieses Grundproblems (evangelischer) Religiosität geleistet zu haben. Fraglich ist dies nicht nur aus heutiger Perspektive, sondern es stellt wohl auch schon für Ewalds eigene Zeit eine Überschätzung der selbstzugemessenen Bedeutung dar. Neben diesen allgemeinen Überlegungen zum Thema Prophetie finden sich bei Ewald zwei Unterscheidungen, die für sein Verständnis des Phänomens grundlegend sind – die von wahren und falschen Propheten und die von Bund und Leben. Diese Unterscheidungen sind auf verschiedenen Ebenen kennzeichnend für Ewalds Prophetenverständnis. Sie sind hier herauszuarbeiten, bevor zur Ewaldschen Auslegung der drei großen Schriftpropheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel übergegangen wird – den bedeutendsten Vertretern der alttestamentlichen Prophetie. Ewald führt vier Abgrenzungen von wahrer und falscher Prophetie an: Zunächst benennt er so etwas wie die Unhinterfragbarkeit des prophetischen Erlebens. Die von genuinen Propheten je in ihrer Zeit als grundlegend erkannten religiösen Handlungsmaximen sind als solche nicht anzweifelbar, obwohl sie sich erst im Laufe der Geschichte bewahrheiten. Die Gefahr der „Selbsttäuschung“75 ist gegeben. Denn unabhängig vom Erfolg und der Überzeugungskraft des einzelnen Propheten gilt: „[A]nfangs muss er allein für sich selbst zeugen und in seinem eignen Innern fühlen ob ihn wirklich und unwiderstehlich sein Gott treibe oder nicht“76. Ob dies der Fall sei, kann in der jeweiligen Situation nur er selbst beantworten. Eine Täuschung über das eigene Erleben – hinter dem auch ein Vorgeben falscher Motive stehen könne – sei vor allem bei den Nachahmern großer Propheten zu konstatieren, deren Wirken eine gewisse Geistlosigkeit kennzeichne. Damit ist eine zweite Differenz verknüpft, die Ewald „das Urkräftige“77 nennt. Dem Wirken der Propheten liege der „freie und reine göttliche Trieb“78 zugrunde. Es sei nicht von Überlieferungen abhängig und auch nicht an bestimmte erlernbare Fähigkeiten geknüpft. Eine Schülerschaft im Hinblick auf die immer zeit- und kontextabhängigen religiösen Überzeugungen der einzelnen Propheten sei zwar ein häufig auftretendes Phänomen. Damit gehe aber die das prophetische Wirken kennzeichnende Spontanität bewusstseyn und damit die Möglichkeit des besonnenen guten Zusammenwirkens mit Gott zu opfern erlaubt.“ (A. a. O., 13) 75 Ebd., Hervorhebung im Original. 76 Ebd. 77 Vgl. a. a. O., 14. 78 Ebd.
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verloren. Drittens: Inhaltlich betrachtet sind Prophetie und Ethos unlösbar miteinander verknüpft. Denn für Ewald gilt, daß das, „was der Prophet mit vollem Rechte als Wort seines Gottes verkündigen kann, dem Inhalte nach nichts ist als Anwendung irgend einer allgemeinen göttlichen Wahrheit auf ein gegebenes sittliches Verhältniss, eine aus dem hellen Lichte des Geistes hervorgehende klare Anschauung über vorliegende Verwirrungen und Unebenheiten des sittlichen Lebens: was hierher gehört, fällt in das Gebiet der Thätigkeit des reinen d. i. des göttlichen Geistes, und wenn ein Prophet noch mehr weiss und über andre Fragen Bescheid geben kann, so ist das etwas zufälliges“79. Damit hängt schließlich, viertens, ein formales Argument zusammen: Je weniger „Lebendigkeit des Geistes“80 bei einem Propheten vorhanden ist, um so mehr benötigt er zur „Hülfe das Götzenbild“, den „heiligen Schmuck“, „die Urim“81 und anderes mehr – alles Hinweise für den Verfall der Prophetie.82 Trotz dieser ständigen Gefährdung der wahren Prophetie durch Scheingestalten habe sie sich immer wieder durchgesetzt. Damit ist nicht nur für Ewalds Geschichtsbild ein providentielles Motiv grundlegend, sondern auch für sein Prophetenverständnis – wobei es den Propheten als Deutern der Religion oblag, sie entweder immer weiter ihrer Vergeistigung entgegenzuführen, oder aber aufgrund von Vermittlungsdefiziten ihre Auflösung verantworten zu müssen. Nach Ewald zeige die Geschichte, „dass das Prophetenthum wenigstens in éinem alten Volke zuletzt sein Ziel nicht verfehlt, sondern durch alle Stufen hindurch bis zur höchsten hinaufsteigend sich immer reiner und herrlicher entfaltet hat. Die Hebräer sind dies einzige Volk des Alterthums. Und nur bei ihnen lagen alle Erfordernisse und Bedingungen dazu vor“83. Zur Erklärung dieser Besonderheit verwendet Ewald die Begriffe ‚Bund‘ und ‚Leben‘. Der Bund mit Jahwe sei seit der Zeit der Entstehung des Volkes die anerkannte Form der Religion. Jahwe habe einen Bund mit Israel geschlossen und das Volk habe sich verpflichtet, diesen Bund einzuhalten.84 Damit hatte die Religion in Israel von Anfang an eine gegenüber den anderen Völkern besondere Form ausgebildet. Und auch, wenn sich die Religion in den verschiedenen Epochen der Geschichte Israels immer weiter entwickelte und veränderte, so blieb doch der Bund mit Jahwe als öffentliche Religion, als gemeinsamer religiöser Bezugspunkt des Volkes, stets bestehen. Ewald hebt schon für die Zeit der Entstehung des Volkes Israel dessen religiöse Besonderheit hervor: „[E]s war schon eine Erhebung zu der reingeistigen Religion, ein Aufschwung des Volksgeistes zu den reinsten göttlichen 79
A. a. O., 14 f. A. a. O., 15. 81 Ebd., Hervorhebung im Original. 82 „So entstehen unzählige Abweichungen von der bessern Prophetie, welche alle aufzuzählen nicht dieses Ortes ist.“ (Ebd.) 83 A. a. O., 17. 84 Vgl. ebd. 80
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Gedanken und Bestrebungen, eine beständige und unabwendbare Aufforderung und Anreizung zu dem Leben in der wahren Einsicht Kraft und Freiheit und zur Ueberwindung und Besiegung aller diesem Leben entgegenstehenden Finsternisse und Hemmungen […]; ja die Gemeine sollte im Grunde nichts seyn als die stets lebendige Gemeinschaft des Volkes und Jahve’s in dem beide einigenden Geiste“85. Bei dem hier von Ewald gebrauchten Begriff des Lebens sind zahlreiche Bedeutungsebenen zu unterscheiden, die bei den nun folgenden Erörterungen zu den Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel auseinanderzuhalten sind. In einem vorläufigen Zwischenfazit sollen hier lediglich drei wesentliche benannt werden. Erstens: Die Propheten sind es, die aufgrund eigener religiöser Erfahrungen das Verhältnis zwischen dem Volk Israel und seinem Gott Jahwe immer wieder auf eine neue Stufe heben, immer wieder mit Leben erfüllen. Sie verwirklichen in ihrer Person exemplarisch das neue Leben und prägen damit das Volk. Dadurch kommt es – zweitens – zur von Ewald als Steigerung des Lebens beschriebenen spezifisch gewandelten Sinngebung. Alle Beeinträchtigungen durch die vielfältigsten Umstände werden aufgehoben. Die Propheten bewirkten eine Befreiung von allen einzwängenden Bindungen und ermöglichten in gewandelten Zeiten immer wieder neu einen Wandel der religiösen Formen. Die Religion wurde durch sie von überkommenen Traditionen befreit und mit neuem Leben erfüllt. Damit hängt – drittens – zusammen, daß das Wirken der Propheten von einem sittlichen Motiv geleitet ist. Sie dringen auf Veränderungen im Leben jedes einzelnen Mitgliedes des Volkes und möchten dazu motivieren. Ziel ihres Handelns ist, „dass zuletzt alle in der Gemeine zu der prophetischen Selbständigkeit und Seligkeit in Jahve gelangen“86, indem eine Umwandlung des ganzen Volkes erfolgt – hin zu einem prophetischen Leben. Dafür stehen exemplarisch die Propheten Jesaja, Jeremia und Ezechiel.
3.4. Die großen Propheten Mit Jesaja erreicht die alttestamentliche Prophetie „zur Zeit ihrer Blüthe den höchsten Gipfel“87. Sein Wirken sei prägend für eine ganze Periode der israelitischen Geschichte gewesen und er habe zahlreiche Schriften hinterlassen, von denen Ewald zufolge sieben im biblischen Jesajabuch aufbewahrt worden sind.88 85 Ebd. 86
A. a. O., 18.
87 A. a. O., 166. 88 Vgl. dazu am
übersichtlichsten die zusammenfassende Studie: Georg Heinrich August Ewald, Weitere erforschung der schriften Jesaja’s, in: JBW 7 (1855), 28–53. Dabei teilt er dort das Jesajabuch folgendermaßen auf: Zur ersten und ältesten Schrift rechnet er Jes 2–5 und 9,7–10,4, zur zweiten Jes 6,1–9 und 17,1–11, zur dritten Jes 1–5; 7,1–9,6; 14,28–17,11 und 21,11–17, zur vierten Jes 22, zur fünften Jes 28–32, zur sechsten Jes 10,5–11,16; 14,24– 27; 17,12 bis Kap. 18 sowie Kap. 20 und zur siebenten Jes 19 und 37, 22–35. Überschneidun-
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Viele Stücke von Jesaja seien aber verlorengegangen.89 Und doch lasse sich ein ziemlich umfassender Überblick seines Lebens und Wirkens rekonstruieren: Er habe im achten Jahrhundert in Jerusalem gelebt und dem königlichen Hofe nahegestanden. Hier wirkte er vor, während und nach der assyrischen Invasion in Juda. Kennzeichnend für ihn sei eine „sogar bei den Propheten seltene Urkraft und Lebendigkeit des Geistes“90. Diese äußere sich einerseits in der ihm eigentümlichen besonderen prophetischen Begabung, die Ewald als „tiefste Erregung“ und „reinste Empfindung“91 beschreibt. Andererseits sei seinem Wirken in den damaligen turbulenten Zeiten Erfolg beschieden gewesen, was er seiner Tiefgründigkeit und Weitsicht verdanke. Seine Einsichten gaben Wegweisung in ihrer Zeit und blieben auch für die Folgezeit von maßgeblicher Bedeutung. Er war ein „wachsamer und fernsehender Hüter und Wächter“, der im „Mittelpunkte der damaligen hebräischen Welt und echten Religion“92 stand und ihr durch seine Einsichten in einer gewandelten Situation eine neue Form gab. Diese ermöglichte der israelitischen Religion ihren Fortbestand. Und darüber hinaus sei seinen Schriften bis heute eine große Rezeption beschieden, denn die in ihnen niedergelegten prophetischen Einsichten und Wahrheiten seien in der Form ihrer Darstellung höchst gelungene Werke.93 Interessant ist vor allem der erste von Ewald herausgestellte Punkt. Hier beschreibt er Jesaja als Idealtyp eines wortgewaltigen und vollmächtigen Weisen: „Denkend trifft Jesaja immer die reinste Wahrheit, trifft sie aber nicht bloss sondern stellt sie auch kühn mit spitzer Schärfe und siegender Gewalt hin, und diese Gedanken drehen sich sowohl um die höchsten Angelegenheiten des damaligen Reiches, der Völker und seines ganzen Zeitalters, als um die ewige Hoffnung des göttlichen Reichs auf Erden.“94 Der Prophet deutet seine eigene Gegenwart im Licht des Glaubens an Jahwe. Er fühlt sich berufen, zwischen seinem Gott Jahwe und seinem Volk zu vermitteln. Schon lange Zeit vor der Gefahr durch die Assyrer, während der Herrschaft des Königs Usija, stellte er dem „schwelgerischen Lebensgenusse“ und dem „menschlichen Uebermuth“ das „Unantastbare“ und „Ewige“95 gegenüber und hob so die Beziehung zwischen Jahwe als dem Gott Israels und Israel als dem Volk Jahwes auf eine neue Stufe. Seine Vorgänger, vor allem Amos und Hosea, hätten ein ähnliches Ziel verfolgt und damit das Auftreten Jesajas vorbereitet. Doch seien sie außerhalb gen in den Angaben resultieren daraus, daß der Prophet Jesaja seine Schrift nach und nach erweiterte, fortschrieb. 89 Vgl. Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 1, 179. 90 A. a. O., 166. 91 Vgl. ebd. 92 A. a. O., 170. 93 „So stimmte alles überein um aus ihm den grössten Propheten zu bilden dessen Wirksamkeit zugleich in eigenhändigen Schriften für alle Jahrhunderte verewigt ist.“ (A. a. O., 167) 94 Ebd. 95 A. a. O., 168.
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Jerusalems tätig gewesen und hätten noch nicht über seinen politischen Einfluß verfügt. Ihm verdanke die „alte Jahvereligion“96 ihre Neuinterpretation in der für die Folgezeit verbindlichen Gestalt. Trotz aller Umbrüche gelang es ihm, in gewandelten Situationen deutlich zu machen, daß der Glaube nicht an der Existenz eines politischen Gemeinwesens hing. Mit dieser Transformation bewahrte Jesaja die israelitische Religion vor der Auflösung und zugleich prägte er mit seiner innigen und lebendigen Gottesbeziehung das ganze Volk. Dabei waren für ihn zwei Wahrheiten leitend: Einerseits ging er davon aus, daß „Jahve allein Heil und Hülfe sey“97. Dies besagt, daß Jahwe diejenigen, die auf ihn allein vertrauen und keine anderen Götter neben ihm verehren, in den herrschenden und bevorstehenden kriegerischen Zeiten retten wird. Und andererseits erkannte er, daß „nur ein Rest, ein kleines bewährtes Häuflein der Gemeine aus den bevorstehenden grossen Stürmen und Prüfungen übrigbleiben könne“98. Die gegenüber seinen Vorgängern neue Erkenntnis Jesajas ist dabei nicht, daß Jahwe (nur) einen kleinen Teil des Volkes Israel retten wird, sondern in der Vertiefung dieser Vorstellung entdeckte er die darin angelegte messianische Dimension. Die wahre Erfüllung des menschlichen Wesens wird allein und erst im Reich Gottes erfolgen. Wenn von Jahwe eine, besonders begabte und von seinem Geist erfüllte Person gesandt worden sei, würde alles menschliche Leben seiner Bestimmung entgegen geführt. Diese Botschaft bildete sich schrittweise im Laufe des Wirkens des Propheten aus und rückte schließlich in den Mittelpunkt.99 Und deshalb wurde die politische Bedrückung der Israeliten durch andere Völker von ihm dahingehend gedeutet, daß ungeachtet allen menschlichen Strebens die Hoffnung letztlich allein auf Jahwe zu setzen sei. Jene messianische Idee verknüpfte er mit einer ethischen Botschaft, deren Erfüllung zur Bedingung des Eintretens ersterer gemacht wurde: „Die von den frühern Propheten verheissene selige Zeit wird zwar kommen: aber erst nach ernstem strengem Gerichte über alle von Jahve abgefallenen hochmüthigen Menschen!“100 Diesem Gericht sah er den Großteil seines Volkes ausgeliefert, herrschten hier doch „Ungerechtigkeit und Habsucht“, „Ueppigkeit und Schwelgerei“ sowie „Verstocktheit gegen das Gute und Wahre“101. Die Vorwür96 Ebd. 97 Ebd.
98 A. a. O., 169, Hervorhebung im Original. Statt vom ‚Rest‘ spricht Ewald in der 2. Auflage vom „überbleibsel“ (Ders., Die Propheten des Alten Bundes 1, 274, Hervorhebung im Original). 99 „Wenn in der That jede geistige Erhebung von der Klarheit und Festigkeit eines hohen Geistes ausgehen muss: so war das noch viel mehr von der höchsten Erhebung zu denken welche das israelitische Alterthum ersehnte und erstrebte; in der Gewissheit dass éiner zu erwarten sey, fand die Sehnsucht ihre Klarheit ohne ins Unbestimmte abzuirren, in der Vorstellung welch ein unendlich kräftiger Geist dieser éine seyn müsse, fand sie ihre Ruhe ohne in Ungeduld zu verfallen.“ (Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 1, 169) 100 A. a. O., 186. 101 A. a. O., 196.
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fe des Propheten liegen dabei auf zwei Ebenen. Einerseits wendet er sich gegen die immer größer werdenden sozialen Unterschiede. Damit verknüpft sind für Jesaja – andererseits – die Verfehlungen auf dem Gebiet der Religion. Diese erblickte er insbesondere in der Nichtbefolgung seiner eigenen Mahnungen. In der Bedrückung durch die Assyrer sehe Jesaja daher eine göttliche Reaktion auf diese Mißstände. Da das Volk auf sittlichem und religiösem Gebiet die Gebote Jahwes mißachtete, habe er die Assyrer als Bestrafung gegen die Israeliten gesandt. Dabei wertet Jesaja die großen Gebietsverluste des Staates Israel als eine Bestätigung seiner Botschaft, wonach nur ein Rest des Volkes bestehen bleiben werde. Und auch den Untergang des assyrischen Reiches – den der Prophet, nach Ewald, am Ende seines Lebens miterlebt habe – gilt ihm als Bestätigung.102 Ihm war es gelungen, einem kleinen ‚Rest‘ des Volkes die Bedeutung der sittlichen und religiösen Gebote nahe zu bringen. Und durch das alleinige Vertrauen dieses Teils habe Jahwe sie vor dem Untergang bewahrt. Jesaja selbst hatte erkannt, daß allein Jahwe zu verehren sei und er der alleinige Gott sei. Diese Botschaft bestimmte sein Leben und Wirken und es ist ihm gelungen, sie weiterzugeben. Er hat in seinem eigenen Leben dieses neue Leben exemplarisch verwirklicht. Und er hat damit die Religion, Ewald zufolge die einzig wahre Religion, auf eine neue Stufe gehoben. Zwar ließ das Kommen der einen von Gott gesandten und mit seinem Geist erfüllten Person, des Messias, auf sich warten. Und auch die Vollendung des Reiches Jahwes blieb aus. Aber die Botschaft von der geforderten Alleinverehrung Jahwes erwies sich als wahr und wurde als Grund für die Bewahrung eines Teils der israelitischen Bevölkerung während der Zeit der assyrischen Bedrohung und Unterdrückung gedeutet. Und nach dem Ende derselben wurden die jesajanischen Weissagungen als Grund der Bewahrung angesehen. Jesaja hatte in seinem „in die wichtigsten Weltereignisse fallenden Leben“103 einen von Anfang an über den Wechselfällen des Schicksals stehenden Standpunkt eingenommen, den Ewald als „neues Leben“104 beschreibt. Dies ließ den Propheten aufgrund seiner besonderen Gottesbeziehung an „innerer Kraft“ und „äusserem Erfolge“105 dazugewinnen. Diesem von ihm gewonnenen ‚neuen 102 „So erlebte denn Jesaja die Zertrümmrung der assyrischen Oberherrschaft und die Wiederherstellung des Vaterlandes; er sah die großen herrlichen Zeiten, deren Sehnsucht er im Herzen trug und deren Musterbild er mit seinem Munde so oft verkündigt, deren Möglichkeit vorzüglich sein eignes unwandelbares standhaftes Wirken vorbereitet hatte. War aber die damalige Erfüllung der prophetischen Hoffnung nicht ganz so gross als der Prophet sie geschauet hatte, zögerte insbesondre die Erscheinung des Messias und die Vollendung des göttlichen Reichs: doch war ein grosses Beispiel göttlichen Waltens in der Geschichte wieder gegeben, manches mächtige Unrecht war zerstört und höher hob sich das Vertrauen auf den endlichen Untergang alles Heidenthums und auf die Allmacht des geistigen Gottes in Sion.“ (A. a. O., 301 f.) 103 A. a. O., 167. 104 A. a. O., 3. 105 A. a. O., 167.
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Leben‘ war wesenhaft eigen, daß es nicht nur die Persönlichkeit des Propheten veränderte, sondern ihn sittliche und religiöse Maximen formulieren ließ, die auch das Leben des Volkes Israel veränderten. Aus der Zeit der Bedrohungen durch die Assyrer blieb nur ein ‚Rest‘ des Volkes Israel übrig und dieser hatte die jesajanischen Forderungen auf dem Gebiet der Religion und der Sittlichkeit als wahr erkannt und verinnerlicht – so wie ursprünglich allein der Prophet selbst.106 Natürlich gab es schon während der Zeit der Wirksamkeit Jesajas, vor allem zu Beginn seiner Wirksamkeit und am Ende nach dem Untergang der Assyrer, Teile der Bevölkerung, bei denen dies nicht der Fall war. Doch für die Zukunft wirksam und verbindlich wurden die jesajanischen Forderungen. Das Wirken der Propheten Jeremia und Ezechiel sei dagegen in charakteristisch anderer Weise grundlegend für die Entwicklung des Volkes geworden – so die These Ewalds, die er besonders eindrücklich in seiner ‚Geschichte des Volkes Israel bis Christus‘ ausführt. Wie Jesaja während der Zeit kriegerischer Bedrohungen der staatlichen Existenz für den Übergang zur Alleinverehrung Jahwes steht, so Jeremia für den politischen Untergang Judas und Jerusalems – aber die Bewahrung seiner Religion. Dabei sei es jedoch zu einer Änderung des Spezifikums des Prophetentums gekommen. Zunächst habe es seine politische Machtstellung aufgeben müssen. Die Bindung an das Königtum entfiel wegen Untergang des letzteren, eine direkte Beeinflussung der politischen Herrscher durch die Propheten unterblieb fortan. Sodann habe dieses neue, umgestaltete Prophetentum „in der Sprache und Darstellung allmählig immermehr das Gewaltsame und augenblicklich Ueberraschende“107 abgelegt. Es kam zur Ent106 In dieser vor allem auch nochmals durch Jesaja bewirkten Durchdringung des Bewußtseins des Volkes Israel mit prophetischen Forderungen und der Bündelung ihrer Ideen sieht Ewald auch das Problem der alttestamentlichen Prophetie dieser Zeit. Neben der königlichen Macht gab es Ewald zufolge eine prophetische in Israel. Aufgrund des allmählichen Verfalls des Reiches Israel konstatiert er eine „Schwächung der alten königlichen Gewalt“ (Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 3.1, 259). Schon vor der Zeit des Lebens und Wirkens Jesajas spricht Ewald von einem „Aufhören des Prophetenthumes in seiner alten Weise“ (A. a. O., 273). „Denn das echte Prophetenthum gründete Wahrheiten die zulezt nicht ihm eigenbleiben sondern allgemein werden sollen; es gründet sie als ansich nothwendig für jeden Menschen geltend, folglich in der Weise eines unweigerlichen göttlichen Befehles an die Menschen, nicht alsob sie den Menschen bloss ewig als äussere Befehle und zwingende Vorschriften gegenüberstehen sollten, sondern damit die sich in Ueberzeugung und Herz der Einzelnen immer tiefer senken und lebendig aus diesem wirken“ (Ebd.). Indem die Ideen der alten Propheten zum Allgemeingut in Israel wurden, machten sie ihr Auftreten und Wirken überflüssig. Das Volk benötigte keine prophetischen Weisungen in der alten Form mehr, da es sich die Forderungen der Propheten zu eigen gemacht hatte und in seinem Leben verwirklichte. Das Volk bedurfte ihrer Weisungen nicht mehr, es fühlte sich der Leitung durch die Propheten entwachsen. „Damit geschah eigentlich nur was der höhere Geist der alten Religion selbst wünschte; ja die weite Verbreitung der altprophetischen Bildung durch die Schulen der Prophetenjünger hatte seit Samûel’s Zeiten den Uebergang dazu gebahnt.“ (Ebd.) 107 A. a. O., 276. „[D]as herrlichste und ewigste welches das Prophetenthum innerhalb der einmal bestehenden Gemeine des alten Volkes leisten konnte, hat erst diese Art desselben hervorgebracht; und da das prophetische Wirken und Schaffen doch nach dem tiefsten Grund des
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stehung eines „vergeistigten Prophetenthumes“108 – im Sinne einer Verinnerlichung einerseits (Jeremia), im Sinne einer Gemeindeesoterik andererseits (Ezechiel). Jeremias Wirken begann während der Regierungszeit des Königs Hiskia. Auch wenn seine frühesten Reden auf eine friedliche Zeit des Glücks und Wohlstands zurückblickten, so sprachen sie doch schon damals „die göttliche Gewissheit des baldigen Unterganges des Reiches“ aus, „und zwar ohne die Ausnahme welche noch Jesaja gemacht hatte“109. Seine Zeit und sein Wirken sei von einer Zerrissenheit geprägt gewesen, die letztendlich in den politischen Untergang führte und führen mußte. Diese Zerrissenheit verdeutlicht Ewald anhand des Deuteronomiums, das während der Zeit des Königtums Josias – als Jeremia wirkte – entstanden sei. Ewald maß dem Deuteronomium nicht die grundlegende Bedeutung zu, die ihm seit de Wette für die Geschichte Israels zukam. Aber seine gesetzlichen Bestimmungen zeugten doch immerhin insofern davon, als daß sie den Versuch des sogenannten Deuteronomikers110 dokumentierten, die prophetische Botschaft breit bekannt zu machen. Im Zentrum stand die Verheißung „von der Liebe als dem Höchsten in Gott, sodass der Mensch Gott lieben und aus Liebe zu ihm alle einzelnen Gebote halten soll weil Gott ihn zuerst geliebt“111 hat und „die ängstliche Strenge wegen der Einheit des h[eiligen] Ortes“112. Damit habe der Deuteronomiker zentrale Punkte der prophetischen Verkündigung aufgegriffen. Bezeichnend findet Ewald jedoch bereits den Umstand der lediglich schriftlichen Niederlegung. Daran werde deutlich, daß die den großen Propheten eigene direkte Wirkung und Veränderung des Lebens des Volkes Israel durch das wirkmächtige Wort nicht mehr möglich gewesen sei. Die prophetische Macht war gebrochen, auch wenn im Deuteronomium zentrale Bestandteile der prophetischen Botschaft schriftlich tradiert wurden. Dieser Form der Überlieferung fehle die für das prophetische Wirken unabdingbar notwendige Lebendigkeit. Daher kann er in dem von de Wette als Wendepunkt der israelitischen Geschichte hochgeschätzten Deuteronomium nur das Produkt einer Zeit des geistigen Verfalls sehen.113 Damit ist der zeitgeschichtliche Rahmen aufgezeigt, in den Ewald die Gestalt Jeremias einzeichnet. Lebens und der Geschichte Israels immer die höchste aller seiner Bestrebungen war, so ging hier recht die feinste und zugleich die fruchtbarste Blüthe des gesammten geistigen Ringens des alten Volkes auf.“ (A. a. O., 277) 108 A. a. O., 297. 109 A. a. O., 381. 110 Vgl. a. a. O., 381–387. 111 A. a. O., 384. 112 A. a. O., 387. 113 „[D]as Deuteronomium ist eben wie die ganze Zeit aus der es hervorging noch in dém starken Zwiespalte befangen dass es das Bessere was der alten Religion fehlte zwar ahnet und erkennt, aber nicht fest genug durch alles durchführt.“ (A. a. O., 400)
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Auch das Wirken und Geschick des Propheten Jeremia ist Ewald zufolge durch die aufgezeigte Zerrissenheit gekennzeichnet. Zwar stelle er „als der letzte große Prophet“ des Alten Bundes in gewisser Hinsicht erst die „wahre Vollendung israelitischer Prophetie“114 dar. Aber Ewalds Beurteilungsgesichtspunkt verschiebt sich: In seinem Leben ist Jeremia „noch ganz wie die Propheten aus dem besten Zeitalter, unmittelbar in frischer Lebendigkeit und eigner Thätigkeit wirkend“115. Wie sie habe er während seiner gesamten Wirksamkeit allein auf die Kraft und Macht des göttlichen Wortes vertraut. Trotz seines durch zahlreiche Gefahren und Anfeindungen geprägten Lebens verlor er nicht die Zuversicht in seinen göttlichen Auftrag. Vielmehr begrenzte Jeremia „bewusst und bestimmt die echte Prophetie auf das rein geistige Gebiet des Prüfens der Menschen und Dinge nach der göttlichen Wahrheit und der hieraus hervorgehenden kühnen unerschrockenen Rede im Namen Jahve’s“116. Angesichts der stetig zunehmenden äußeren Bedrohungen und der Ahnung vom unabwendbaren Untergang des im Königtum gründenden Volkes und seiner Religion drang Jeremia auf eine Verinnerlichung. Ewald spricht von ‚erleben‘ und ‚fühlen‘117, um die seiner Meinung nach besonders intensive und reflektierte Beziehung zu den Gegebenheiten seiner Zeit und zu seinem Gott deutlich zu machen. Jeremia habe den nahenden Untergang Judas erkannt und darüber „geht ihm, da er dennoch als wahrer Prophet im freiern Umblicke die ewige Hoffnung nicht aufgeben kann, die von keinem Vorgänger geahnte Wahrheit auf, dass der ganze alte Bund der Menschen mit Jahve nicht mehr genüge und künftig ein neuer geschlossen werden müsse dessen Inhalt in die Herzen selbst geschrieben sey“118. Damit löste er die Religion von den bisherigen Institutionen ab, seien es Königtum oder Tempel. Vielmehr sei das Verhältnis von Israel zu Jahwe – und umgekehrt – als eine Herzensbeziehung zu beschreiben, die keiner äußeren Regulierung bedürfe. Diese von Ewald als Vergeistigung beschriebene Erkenntnis Jeremias habe die Religion auf eine neue Stufe gehoben.119 Trotz dieser fortschreitenden Anpassung und Intensivierung der alttestamentlichen Prophetie diagnostiziert Ewald ihren unaufhaltsamen Niedergang. Als Ursachen hebt er zwei Sachverhalte hervor, die auch das prophetische Wir114
Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 2, 1. A. a. O., 3. 116 A. a. O., 5. 117 Vgl. a. a. O., 11. 118 Ebd. 119 „Dass ein dem alten […] gerade entgegengesezter neuer Bund zwischen der Gemeine und Jahve kommen müsse, rein geschlossen von den Banden der Liebe und Versöhnung, dass das Gesez also künftig nicht in Holz oder Stein sondern im Herzen geschrieben wirken müsse, das ist die grosse Wahrheit welche zuerst Jéremjá verkündigte und zu welcher ihn alle Erfahrungen der bisherigen Geschichte Israels, zulezt auch die des verkehrten Vertrauens auf den h[eiligen] Ort und des falschen Schriftgelehrtenthums […] hindrängten.“ (Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 3.1, 465) 115
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ken Jeremias prägten. Der erste Kritikpunkt betrifft die schon erwähnte josianische Reform.120 Sie habe nicht nur eine Zentralisierung und Konsolidierung des alten Jahweglaubens bewirkt, sondern auch „eine gewisse Bücherweisheit mit ihrem aberwitzigen Stolze und ihren falschen gelehrten Versuchen die Schrift auszulegen und anzuwenden; während zugleich durch den neuen Schutz welchen das Reich der gesetzlich anerkannten geschriebenen Religion gewährte eine neue Art von Heuchelei und Buchstabendienst entstand“121. Zeit seines Lebens kämpfte Jeremia gegen diese Art frommen Gehorsams. Doch sei er in einer zwiespältigen Situation gewesen. Zum einen war die „deuteronomische oder ängstlichere Partei“122 die von ihm favorisierte und er mußte sie unterstützen, weil sie die „heidnischgesinnte“123 in die Schranken wies. Zum anderen konnte er sich aber den Verfechtern der deuteronomischen Reformbewegung nicht vollkommen zugehörig fühlen. Denn ihr Vertrauen auf schriftliche niedergelegte Gebote sei für ihn toter Buchstabendienst gewesen. Der Frömmigkeitsgegensatz blieb unauflöslich bestehen. Der zweite herausgestellte Kritikpunkt liegt auf psychologischer Ebene. Ewald zufolge komme Jeremia das Verdienst zu, mit seiner Verkündigung einer verinnerlichten Herzensreligion, eines neuen Bundes, die Religion auf eine neue Stufe gehoben zu haben. Die zukunftsweisende Verinnerlichung der Religion sei jedoch von einer Persönlichkeit ausgegangen, die „weich und zart, schüchtern und zurückgezogen“124 war. Der Prophet Jeremia wurde von der „Empfindung des Augenblicks leicht hingerissen“ und unterlag oft „tiefem Schmerz über der Welt Verkehrtheit“125. Diese von Ewald herausgestellten Charaktereigenschaften minderten zwar nicht die Bedeutung und Leistung des Propheten Jeremia. Sie seien aber gleichwohl ein eindeutiges Anzeichen für den Niedergang des Volkes Israel und das Ende der Kraft und Wirksamkeit der alttestamentlichen Prophetie. Daher resümiert Ewald bezüglich des Zustandes der Religion zur Zeit Jeremias: „[S]ie musste unvermerkt und ohne es zu wollen mehr und mehr von der einen Seite in das Gebiet des reinen Lehrens und Beweisens, von der andern in das der freien Aeusserung persönlicher (subjectiver) Gefühle auseinanderfallen“126. Noch deutlicher wird nach Ewald der Verfall der israelitischen Prophetie bei dem letzten hier zu behandelnden großen Propheten – Ezechiel. 120
„[N]ur fünf Jahre nach dem ersten Auftritte Jeremja’s, war die grosse Veränderung im Innern des Reiches erfolgt welche man mit einem Worte die deuteronomische nennen kann“ (Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 2, 4, Hervorhebung im Original). 121 Ebd. 122 Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 3.1, 408. 123 A. a. O., 409. 124 Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 2, 2. 125 Ebd. 126 A. a. O., 11.
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Das Wirken Ezechiels steht für das Exil und die Zerstörung Jerusalems.127 In seiner Perspektive ist auch dieser Prophet eine Gestalt des Übergangs. Er habe am Ende der zweiten Epoche der israelitischen Geschichte – der ‚Königsund Gottesherrschaft‘ – gewirkt und sei wesentlich mit verantwortlich für die mit dem Ende des Königtums Israels verbundene Umformung von Religion und Gesellschaft am Beginn dieser dritten Epoche, die Ewald als ‚Heiligherrschaft‘ bezeichnet.128 Was er schon für das Wirken seiner großen Vorgänger festhielt, gilt auch in jener „großen Lage der Geschichte Israels“, daß nämlich „die prophetische als die Ur- und Grundmacht seiner Gemeinde eine Entscheidung gebracht und vonvorne an eine neue Wendung herbeigeführt“129 hat. Ezechiel führte die Verkündigung weiter. Er wirkte – schon vor der endgültigen Zerstörung des Staates Israel – vor allem im babylonischen Exil. Sein Wirken habe sich auf einen relativ knappen Zeitraum beschränkt. Es begann „sieben Jahre vor der Zerstörung Jerusalems“130 und habe mit einem schriftlich niedergelegten „prophetischen Umriss des künftigen Reiches und Heiligthumes“131 dreizehn Jahre nach dem politischen Untergang geendet. Mit seinem Wirken ist das Ende des alten Prophetentums verbunden.132 Die Bedeutung des politischen Untergangs Israels beschreibt Ewald folgendermaßen: „Das furchtbarste was das Alterthum denken konnte war eben geschehen: das Reichs-Heiligthum ebenso zerstört wie das Reich.“133 Diese Zäsur habe das Wirken Ezechiels geprägt. Und diese Zäsur habe die eigentümliche Herausforderung des Propheten dargestellt, denn nun mußte sich entscheiden, ob mit dem politischen Untergang auch der Untergang der Religion besiegelt war. Sollten die fremden Religionen endgültig über den Jahweglauben siegen?134 Der im Exil wirkende Prophet hatte den Untergang des Staates vor127 Ungefähr um die Zeit der letzten Wirksamkeit Jeremias unter dem König Zedekia, während der Bedrohung Israels durch die Chaldäer „wurde unter den Fortgeführten jenseits des Eufrat Hezeqiel vom prophetischen Geiste ergriffen: aber wie er überhaupt als jüngerer Zeitgenosse Jeremja’s ganz in dessen prophetischem Sinne wirkte, so überwältigten jetzt nichts als starke Bilder der nahen Zerstörung Jerusalems wegen der unverbesserlichen Sitten des Volkes im h. Lande seinen Geist“ (Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 3.1, 437). 128 Zum Propheten Ezechiel hält Ewald fest, dieser habe „in seinem ganzen Wesen den Uebergang zum folgenden lezten Drittel der Geschichte Israels bezeichnet“ (A. a. O., 450). 129 Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 3.2, 15. 130 A. a. O., 17. 131 A. a. O., 19. 132 „Hezeqiel tritt in dem was bei seinem älteren Zeitgenossen Jeremja gross und ausgezeichnet ist, ganz in dessen Fusstapfen und spricht manches von dieser Art noch deutlicher und vollendeter aus, offenbart aber in seinem ausführlichen Buche zugleich die völlige Auflösung des alten Prophetenthumes noch entschiedener und gewisser.“ (Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 2, 202) 133 Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 3.1, 445. 134 „[E]ntweder musste das Jahvethum jetzt überall völlig zugrundegehen, oder sich innerlich kräftigen und zu einem neuen Leben stärken wie nie früher“ (Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 3.2, 27).
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hergesagt. Das „Haus Ungehorsam“135, so seine anstelle der traditionellen Bezeichnung ‚Haus Israel‘ benutzte Bezeichnung, gehe aufgrund seiner sittlichen und religiösen Verfehlungen unaufhaltsam seiner Vernichtung entgegen. Hochmut, falscher Stolz und falsche Hoffnungen, aber auch eine immer mehr um sich greifende Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft seien ihm eindeutige Anzeichen dafür gewesen.136 Von vorn herein war ihm bewußt – und dies unterscheidet ihn von Jesaja und Jeremia –, daß es nicht mehr um eine Behebung der diagnostizierten Mißstände gehen könne, sondern daß das Ende unaufhaltsam gekommen sei. Der Prophet Ezechiel habe nicht mehr über die Möglichkeiten seiner beiden großen Vorgänger verfügt. Einerseits wirkte er im Exil und war so in seiner Wirkung beschnitten: „Die Verbannung und das gezwungene Leben unter fremder Herrschaft konnten einer solchen Oeffentlichkeit nicht günstig seyn wie die war unter deren Macht und Schutze die Propheten im h. Lande gewirkt hatten: was aber war das Prophetenthum wenn es, nachdem es viele hundert Jahre durch sein freies öffentliches Wirken im Leben des ganzen Volkes und mitten im Reiche seine edle Kraft und Bildung erlangt hatte, nun plötzlich ohne dies Licht seines Lebens in den ungünstigen Boden verpflanzt wurde?“137 Von der Lebendigkeit und Urkraft, die Ewald für einen Propheten wie Jesaja als Charakteristikum herausstellte, ist bei ihm nichts mehr zu spüren. Vielmehr ist es die Zeit des Endes Israels und des alten Prophetentums. Und das Verstummen der Propheten äußert sich auch in der Person des Propheten Ezechiel, der als Reaktion auf die Mißachtung seiner Weisungen nach und nach auch selbst verstummt sei und in persönlicher Zurückgezogenheit dem Unvermeidlichen entgegensah. Anders als Jesaja und Jeremia trat Ezechiel „mehr als Schriftsteller denn als Prophet des öffentlichen Lebens“138 auf. Er habe vor allem durch sein Schreiben gewirkt. Immer wenn es eine neue Situation erforderte, schrieb er einen weiteren Abschnitt seines Buches. Sein öffentliches Wirken habe sich, so Ewald, allein auf die Zeit vor der Zerstörung Jerusalems beschränkt. Nach diesem Ereignis zog er sich zurück und wirkte allein durch sein schriftstellerisches Schaffen. In dem von ihm überlieferten Werk ließen sich leicht die jeweiligen historischen Situationen identifizieren, die Ezechiel zum Schreiben veranlaßt haben müssen – so die These Ewalds.139 Und so ist es kaum verwunderlich, daß er ihm 135 136
Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 2, 204, Hervorhebung im Original. „Wohl klagte er nach eigner Empfindung über die nahende Zerstörung sogar des Tempels c. 7, über das bevorstehende traurige Schicksal des damaligen davidischen Hauses c. 19; und wird von ungewöhnlicher Erregung hingerissen als die Chaldäer zuletzt wirklich zur Belagerung heranziehen und das Furchtbare vollendet werden soll welches zu verhindern doch eigentlich jeder echte Prophet so lange gewirkt hatte c. 21; aber doch bleibt ihm jede Irrhoffnung in jedem Augenblicke fern und nur zu klar erkennt er als Prophet die höhere Nothwendigkeit der unvermeindlichen letzten Endes c. 21–24.“ (A. a. O., 205) 137 A. a. O., 206. 138 A. a. O., 208. 139 „Es ist wohl möglich dass Hezeqiel schon vor der Zerstörung Jerusalems manches
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zubilligt „als Schriftsteller an Fertigkeit Schönheit und Vollendung alle frühern Propheten“ zu überragen, resümierend aber feststellt: „[J]emehr der Schriftsteller und Gelehrte wächst, desto mehr nimmt leicht der echte Prophet ab, eine Wahrheit welche sich gerade bei Hezeqiel sehr deutlich bewährt“140. Den lebendigen und eindrücklichen Botschaften der früheren Propheten tritt die Gelehrsamkeit gegenüber. Da es an Anregungen fehlt, sei eine Künstlichkeit und Nachahmung des wirklichen Lebens die Folge.141 Es komme in dieser Krisenzeit des Volkes Israel zu einer Umformung des prophetischen Denkens und Darstellens, für die der Prophet Ezechiel und sein Werk exemplarisch stehen. Der Mangel an unmittelbaren Erfahrungen, das Fehlen einer durch lebendige Eindrücke genährten Natürlichkeit und die damit einhergehende Künstlichkeit sind für Ewald typische Kennzeichen dieser Zeitepoche – exemplarisch repräsentiert in der Person Ezechiels.142 So seien in dieser Zeit des Niedergangs, der Zerstörung Jerusalems und des Tempels, des Endes der alten israelitischen Prophetie auch Ezechiel und sein Werk ein Zeuge des Niedergangs. Und doch hält Ewald fest: „Zur Erhaltung des heiligen Feuers in der langen Zeit der Verbannung hat gewiss dies Buch nicht wenig gewirkt“143. Mit dem heiligen Feuer meint er die Religion Israels, den Jahweglauben als wesentlichem Charakteristikum des Volkes. Durch das prophetische Wirken Ezechiels wurde sie vor dem Untergang bewahrt, auch wenn er dafür andere Mittel verwendete als seine Vorgänger. Die israelitische Religion erhielt dabei wiederum eine neue Form. Daß Ezechiel dies überhaupt gelungen sei, stelle eine ganz außerordentliche Leistung dar. Denn die Ausgangssituation seiner Wirksamkeit war nicht günstig: „Während des Volkselendes im sinkenden Reiche und dann vollends nach der gänzlichen Zerstörung dieses Reiches Jahve’s war mit dem Volke Jahve’s auch die von ihm bisdahin getrageniederzuschreiben anfing, nachdem er die ersten Jahre lang öffentlich gewirkt hatte. Denn ungeachtet das ganze jetzige Buch eine ungemein grosse Gleichmässigkeit in Anlage und Sprache aufweist, so entdeckt man doch bei näherer Ansicht dass es erst allmählig aus mehreren Schichten entstanden seyn muss […]. Die Masse aber des jetzigen Buchs ist offenbar erst mehrere Jahre nach der Zerstörung in der Musse des Hauslebens geschrieben.“ (A. a. O., 207) 140 A. a. O., 208. 141 Bezogen auf Ezechiel hält Ewald fest: „[I]n der Musse des nicht öffentlichen Lebens wird der Prophet keinen solchen Stoff gestalten können der schon durch die eigne Erfahrung des wirklichen Lebens gegangen und in dessen Strenge sich abgeklärt und geläutert hat: zwischen prophetischem Denken und Schreiben ist kein Mittel mehr […]; das wirkliche prophetische Leben wie es die Alten mitten im Oeffentlichen erlebten, wird ihm als Scheinleben in der Einbildung aufstehen und sein prophetisches Buch wird, wenn es diesem Vorherrschen der blossen Einbildung folgt, von einer Menge bloss gedachter, nur im Geiste erlebter Geschichten sich füllen“ (A. a. O., 210). 142 „Allein indem die schöne Mischung fehlt worin die ältern Propheten immer zugleich sowohl aus Gott als aus eigner bewährter Erfahrung schrieben, wird dennoch das Ganze weit weniger von einer lebendigen Fülle von Gedanken durchdrungen und mehr ein Kunst- und Schrift- als ein Lebens-Werk.“ (A. a. O., 211 f.) 143 A. a. O., 216.
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ne Religion des wahren Gottes unter dem großen Haufen aller Heidnischen Völker immer tiefer in Missachtung gefallen: und Israel trug damals die doppelte schwere Schuld durch seine Verkehrtheiten nichtbloss sich selbst sondernauch die ihm bisdahin geschichtlich anvertrauten ewigen Wahrheiten vor den Augen der großen Welt zum Spotte und Hohne gemacht zu haben, wie damals am bestimmtesten Hezeqiel sagte.“144 Für den Propheten sei mit dem politischen Verfall unlösbar der sittliche und religiöse verbunden gewesen. Seiner Meinung nach war es nicht möglich, diese von einander zu trennen. Sie bedingten einander und sie mußten scheinbar zwangsläufig in den Untergang führen. Und doch bedeutete dies für Ezechiel nicht das Ende der israelitischen Religion. Zwar habe Ezechiel sein Werk mit dem Wissen um die Zerstörung Jerusalems und des Tempels herausgegeben. Ihm sei es darum gegangen, „die Rechnung der Vergangenheit ganz abzuschliessen und zu zeigen[,] dass Jerusalem der höhern Nothwendigkeit gemäss, weil es in sich selbst längst unrettbar verwirrt und verkehrt war, auch äusserlich so fallen musste wie es gefallen war“145. Gegenüber den älteren Propheten war diese Botschaft neu. Bisher sei immer an die sittliche und religiöse Besserung des Volkes appelliert worden und durch diese Umkehr konnte größerer Schaden abgewendet werden. Ezechiel habe jedoch keine Möglichkeit der Rettung mehr gesehen, auch nicht für einen kleinen Rest. Zwar habe er vor der Zerstörung gewarnt und gemahnt. Doch absehbarer Weise ohne Erfolg und damit letztendlich (nur), um ein warnendes Beispiel für die Zukunft zu geben. Diese Zukunft gab es aber nur für die in der Verbannung lebenden Israeliten. Und ihnen galten seine Warnungen und Ermahnungen. Ihnen gab der Prophet „die Gewissheit einer bessern Zukunft und der Unzerstörbarkeit der wahren Gemeine“146. Derart gelang es Ezechiel – trotz der immer weiter entrückenden Erinnerungen an das nun verlorene alte Land Israel –, die Jahwereligion und ihre Riten und Bräuche in eine neue Zeit hinüberzuretten. Auf seine Weise füllte er, wie schon seine Vorgänger, die Religion mit neuem Leben. In hoffnungslos scheinenden Zeiten bot er den exilierten Israeliten Trost und Orientierung. Auch seine Weissagungen vom neuen Tempel, der heiligen Stadt und dem heiligen Land seien in diesem Rahmen zu verstehen. Ezechiels Heilsansagen galten allein der Zukunft der exilierten Israeliten, nicht den im Land verbliebenen.147 144
Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 3.2, 65. Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 2, 215. 146 A. a. O., 216. 147 Zur Entstehung und Niederschrift der abschließenden Kap. 40–48 des Werkes des Propheten schreibt Ewald: „Hezeqiel mochte lange Zeit mit heisser Sehnsucht und lebendiger Rückerinnerung an die Einrichtungen des zerstörten Tempels und Reichs gedacht, das was ihm gross und herrlich darin schien als Muster künftiger Wiederherstellung sich tief eingeprägt, mit solchen geschichtlichen Erinnerungen die messianischen Erwartungen und Forderungen einzeln verglichen und sich im Geiste so die lebhaftesten Bilder der besten Ordnung und Einrichtung alles Einzelnen bei der gehofften Wiederaufrichtung des Reichs entworfen haben, als 145
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Mit seinen Heilsansagen bewahrte der Prophet die israelitische Religion vor dem Untergang. Die letzte Epoche der israelitischen Geschichte, die ‚Heiligherrschaft‘, ist für Ewald unlösbar mit dem Leben und Wirken Ezechiels verknüpft: „Diesem Propheten war […] nichtbloss mehr der Tempel und sein Berg etwas Heiliges, auch die ganze Stadt in welcher einst das große irdische Heiligthum war ja auch das ganze alte Land Israels erschien ihm als entfernter an der Heiligkeit jenes theilnehmend; sowie überhaupt von der heiligen Stadt und dem heiligen Lande erst von jezt an geredet wird, seitdem die Haufen der Verbannten und Vertriebenen mit der wehmüthigen Sehnsucht dieser Jahrzehende auf ihr altes Vaterland hinzublicken sich gewöhnten.“148 Die Religion bezieht sich auf Erinnerungen und Sehnsüchte und streifte damit ihre lebendige Verknüpfung mit staatlichen und religiösen Institutionen ab. Die überlieferten religiösen Bezüge werden, Ewald zufolge, zu etwas Heiligem. Sie gingen nicht mehr aus den Lebensbezügen hervor, sondern knüpfen sich an alte Überlieferungen und Traditionen. Alleine derart sei es möglich gewesen, daß die israelitische Religion überlebte – auch ohne die alten institutionellen Bezüge zum heiligen Land, zur heiligen Stadt Jerusalem und zum Tempel. Diese Transformationsleistung schreibt Ewald insbesondere dem Propheten Ezechiel zu. Mit seinem Wirken ist aber zugleich die schon angeführte Auflösung des alten israelitischen Prophetentums verbunden. Die vier eingangs als wesentlich benannten Merkmale alttestamentlicher Prophetie finden sich in der von Ezechiel geprägten Form nur noch sehr bedingt. Das erste, wonach die innere Überzeugung, das eigene Fühlen und Erleben des göttlichen Antriebes die notwendige Grundlage des prophetischen Wirkens darstellt, habe noch bedingte Gültigkeit. Doch schon die Fähigkeit zur komprimierten situativen Stellungnahme, wonach es den Propheten gerade nicht auf schriftliche Überlieferungen ankomme, sondern sie in ihrer Verkündigung auf die politischen, religiösen und ethischen Ereignisse ihrer Zeit bezogen sind und von ihnen abhängen, findet sich so bei Ezechiel nicht mehr. Vielmehr sei er weitgehend auf vorgegebene Traditionen bezogen. Drittens ist auch der für die israelitische Prophetie als notwendig herausgestellte Faktor der Sozialkritik149 durch diese Form nicht mehr gegeben. Schließlich wird, viertens, von Ewald als Kritikpunkt herausgestellt, daß an die Stelle der Unmittelbarkeit des göttlichen Wortes die schriftstellernde Gelehrsamkeit tritt. Alle vier Kritikpunkte kulminieren in unterschiedlichem Maße im Sachverhalt des Verlusts der „Lebendigkeit des Geistes“150. Es ist offenkundig, daß Jesaja als das Urbild des Propheten den Maßstab aller bildet. sich ihm endlich (denn dies grosse Stück ist nach 40, 1 sehr spät) der Entwurf der ganzen Ordnung aufdrängte den er hier niederschreibt.“ (A. a. O., 359) 148 Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 3.2, 74, Hervorhebung im Original. 149 Vgl. Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 1, 14. 150 Ebd.
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3.5. Der Lebensbegriff der Prophetendarstellung Alle von Ewald herausgestellten positiven Merkmale der alttestamentlichen Prophetie wie „Ursprünglichkeit“151, „Urkraft“152, „Unmittelbarkeit“153, „unwiderstehliche innere Gewalt“154, „Trieb“155, „Drang“156, „Entschiedenheit“157, „Begeisterung“158 und „Lebenskraft“159 werden von ihm als Facetten von ‚Leben‘ und ‚Lebendigkeit‘ verstanden. Ihnen stehen zahllose Begrifflichkeiten für lebenshemmende Faktoren gegenüber – angefangen von „Abspannung und Erschlaffung“160, „Träumen und Schwärmen“161, über „Einbildung“162, „Scheinleben“163, „Nachahmung“164 und „Künstlichkeit“165 bis hin zu einer als lebensfeindlich verstandenen „Verstocktheit“166 und derben Ausdrücken wie „Raserei“167 und „Siechthum“168. Ewald steht offenkundig in geistesgeschichtlichen Traditionen, in denen der Lebensbegriff eine nicht ganz unmaßgebliche Rolle spielte. Diese Traditionen haben ihren Ort lange vor der Zeit, in die die philosophische Richtung fällt, die als Lebensphilosophie im engeren Sinne bezeichnet wird. Es ist festzuhalten, daß für Ewalds – in den Augen Wellhausens kongeniale – Interpretation des Phänomens der alttestamentlichen Prophetie der Gebrauch eines emphatischen Lebensbegriffs kennzeichnend ist, an dem die einzelnen Propheten und ihre Werke gemessen werden. Hier lohnt ein kurzer Blick auf die Rezeption der Ergebnisse von Ewalds Prophetenforschungen durch seinen prominenten Schüler Wellhausen. Erinnert sei nur daran, daß Wellhausen die Bedeutung der Prophetie eines Amos und Jesaja weit höher einschätzt als die eines Jeremia. Die demgegenüber späteren prophetischen Weissagungen eines Ezechiel werden stattdessen als Aussprüche einer fast schon wahnsinnigen Persönlichkeit gewertet. Angesichts der traditionellen Würdigungen der Leistungen Wellhausens in der alttestamentlichen Wissenschaft mag dieser Bezug verwun151 152
A. a. O., 22. A. a. O., 166. 153 A. a. O., 9. 154 A. a. O., 5. 155 A. a. O., 8. 156 A. a. O., 9. 157 Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 2, 2. 158 Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 1, 13. 159 Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 2, 553. 160 Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 1, 99. 161 Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 2, 5. 162 A. a. O., 210. 163 Ebd. 164 A. a. O., 542. 165 A. a. O., 5. 166 Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 1, 194. 167 A. a. O., 12. 168 Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 2, 6.
3. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik
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dern, da die gegenwärtige Rezeption seines Werks den Schwerpunkt auf die auf literarkritischen Quelleninterpretationen basierende Rekonstruktion der israelitischen und jüdischen Geschichte legt. Der Bezug auf Ewald, der sich prominent in der Rezeption von dessen Lebensbegriff äußert, findet dagegen kaum Beachtung. Auf die Gründe für die Würdigung der Leistungen seines Lehrers auf dem Gebiet der Prophetenforschung kann im Folgenden nicht weiter eingegangen werden. Mit Blick auf die gängigen forschungsgeschichtlichen Erörterungen ist jedoch herauszustellen, daß der prominente Gebrauch des Lebensbegriffs durch Ewald kein Spezifikum seiner Forschungen darstellt. Zwar wird in der heutigen Diskussion als für die Formierung des Lebensbegriffs entscheidende Epoche zumeist das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert gewürdigt.169 Doch zieht sich der Begriff Leben durch die Philosophiegeschichte.170 Bevor er seine bestimmte Form in der Lebensphilosophie fand, war er im 18. Jahrhundert prominent im Gebrauch, wofür hier lediglich einige wesentliche Namen angeführt seien.171 Die Orientierung an der Konjunktur der Lebensphilosophie um 1900 hat den Blick darauf verstellt, daß es so etwas wie eine Lebensphilosophie vor der Lebensphilosophie gab. Der Lebensbegriff war auch in der vorhergehenden Epoche bereits ein aktueller Leitbegriff der Selbstverständigung. Zu erinnern ist an erster Stelle an Johann Gottfried Herder. Bei ihm ist der Gebrauch des Lebensbegriffs hermeneutisch motiviert, inhaltlich verbindet sich für ihn damit die Problematisierung des Verhältnisses von Natur und Geschichte. Für Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) fungiert der Lebensbegriff als Gegeninstanz zu Verstandesrationalität. Er wird als Gegenbegriff zu dem Versuch gebraucht, die Welt ausschließlich mit den Mitteln des Verstandes zu begreifen. 169 Vgl. dazu als allgemeine Einführungen einerseits: Hans Albert, Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukács, Freiburg / München 1995. Bei Albert tritt jedoch ein relativ schlichtes Verständnis der Lebensphilosophie zutage, wenn er als eins der Hauptmotive ihrer Entstehung die „Ablehnung der lebensfernen ‚Kathederphilosophie‘, ‚Universitätsphilosophie‘, ‚Fachphilosophie‘“ (A. a. O., 9) herausstellt. Konsequenterweise geht sie für ihn daher auch in der Existenzphilosophie auf. Und andererseits: Otto Friedrich Bollnow, Die Lebensphilosophie (Verständliche Wissenschaft 70), Berlin / Göttingen / Heidelberg 1958. Ihm geht es umgekehrt um eine Aufwertung und Hervorhebung des Lebens- gegenüber dem Existenzbegriff. Sowie die Beiträge in dem Sammelband: Stephan Schaede / Gerald Hartung / Tom Kleffmann (Hgg.), Das Leben II. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs (RuA 22), Tübingen 2012. Mit seinem distanzierten Urteil gehört noch immer Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 21920 zu den brauchbarsten Darstellungen der Lebensphilosophie. 170 Vgl. den Überblick von Pierre Hadot, Art. Leben I. Antike, in: HWP 5 (1980), 52– 56; Hans Hübner, II. Der L.-Begriff der Bibel, a. a. O., 56–59; Joachim Vennebusch, III. Mittelalter, a. a. O., 59–62; Rainer Piepmeier, IV. Frühe Neuzeit bis vor Kant, a. a. O., 62–71 und Ulrich Dierse / Klaus Rothe, V. 18. Jh. bis Gegenwart, a. a. O., 71–97. 171 Vgl. Matthias Neugebauer, Konzepte des „Bios“. Leben im Spannungsfeld von Organismus, Metaphysik, Molekularbiologie und Theologie (Edition Ethik 5), Göttingen 2009 und die Beiträge in dem Band: Petra Bahr / Stephan Schaede (Hgg.), Leben I. HistorischSystematische Studien zur Geschichte eines Begriffs (RuA 17), Tübingen 2009.
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Kapitel III: Georg Heinrich August Ewald
Leben erschließt sich seiner Meinung nach alleine durch den Vollzug.172 In der romantischen Naturphilosophie Schellings gewinnt der Lebensbegriff im Zusammenhang mit der Verlagerung des wissenschaftlichen Denkens von der klassischen Mechanik hin zu Chemie und Biologie an Bedeutung. Leitend ist dabei die Frage nach einer Lebenskraft diesseits bewußthaften Subjektseins. Daher wird nach einer Erklärung des Phänomens Leben gesucht. Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) versteht in seiner frühen Zeit den Lebensbegriff gleichbedeutend mit dem aktualen Vollzug von Bewußtsein und Selbstbewußtsein. Beim späten Fichte wird Philosophie als lebendiges Genetisieren verstanden.173 Für die frühe Philosophie Hegels schließlich ist Leben ein Leitgesichtspunkt. Das Leben des Geistes führe notwendigerweise zu Konflikten und wieder zu sich selbst zurück. Das Lebensmotiv steht dabei dem göttlichen Leben gegenüber. Der erste der hier genannten Autoren ist insofern von besonderer Bedeutung, weil bereits Herder die Auslegung des Alten Testaments in den lebensphilosophischen Horizont stellte, so daß Ewald in den weiteren Horizont der Debatten um Leben und in den engeren von Herder gestellt werden muß. Es war genau dieser Begriff des Lebens, den Wellhausen später von seinem Lehrer rezipierte und gleichfalls zu einer hermeneutischen Schlüsselkategorie der Auslegung des Alten Testaments machte.174 Erinnert sei nur an die für Wellhausen charakteristischen antithetischen Begriffsbestimmungen: Leben versus Gesetz, Leben versus Institution, Leben versus Kult, Leben versus Tradition. Hierin ist Wellhausen ein genuiner Schüler Ewalds gewesen und zeit seines Lebens geblieben.
4. Die Interpretation des Alten Testaments 4.1. Die Sicht der Literaturgeschichte des Alten Testaments „Von der herkömmlichen Methode und den überlieferten Ansichten nicht befriedigt, in allen seinen die Bibel betreffenden Arbeiten von der Überzeugung ge172 Vgl. Otto Friedrich Bollnow, Die Lebensphilosophie F. H. Jacobis, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1966. 173 Die nach wie vor einschlägige Monographie zu Fichtes Lebensbegriff ist die bei Dieter Henrich geschriebene Dissertation von Wolfgang H. Schrader, Empirisches und absolutes Ich. Zur Geschichte des Begriffs Leben in der Philosophie J. G. Fichtes, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972. 174 „Wellhausen verfolgte in der Geschichte Israels und des Frühjudentums (wie in verwandter Weise in der Frühgeschichte des Islam und den Anfängen des Christentums), wie lebendige Religion zum Moment der produktiven, vorwärtstreibenden Unruhe in der Geschichte einer Nation wird, und wie sie ihre Dynamik einbüßt, wenn sie sich innerhalb des Volkes oder der Gesellschaft zu einer aparten Institution verfestigt. Dabei geht Religion keineswegs in ihren gesellschaftlichen Funktionen auf, sondern sie steht ein für das Recht menschlicher Individualität, das tiefer gründet und weiter reicht als die Gesetzmäßigkeiten der natürlichen und der sozialen Welt […].“ Martin Ohst, Rez.: Paul Michael Kurtz, Kaiser, Christ, and Canaan. The Religion of Israel in Protestant Germany, 1871–1918 (FAT 122), Tübingen 2018, in: ThLZ 145 (2020), 524–527, 526.
4. Die Interpretation des Alten Testaments
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leitet, daß durch die Entwickelung der Theologie der Neuaufbau der biblischen Wissenschaft sich als unabweisliche Aufgabe herausgestellt habe, schlug Ewald neue Ba[h]nen ein, um in den biblischen Dingen das einmal gewesene in seiner ursprünglichen Größe und Herrlichkeit wider zu erkennen, das geschichtliche Werden und die Entwickelung bis zu dem neutestamentlichen Ziele hin zu verfolgen, und alles einzelne in den großartigen Zusammenhang, der seinem kühn aufbauenden Geiste vorschwebte, hineinzustellen.“175 Diese Würdigung durch den Ewaldschüler Ernst Bertheau (1812–1888) – wie sein Lehrer wirkte auch er den Großteil seines Lebens als alttestamentlicher Exeget in Göttingen – mißt dem innovativen Potential der Forschungen seines Lehrers eine herausragende Bedeutung zu. Alle Schriften seines umfangreichen Œuvres seien „das Ergebnis eines ernsten, streng wissenschaftlichen Strebens“, gepaart mit „einer mühevollen, sorgsam auch das scheinbar unbedeutende und kleinliche beachtenden Forschung“176. Dies habe ihn zu einem einflußreichen und hochgerühmten Gelehrten gemacht. Zugleich ist aber festzuhalten, daß Ewald auch ein Außenseiterdasein führte. Dies gilt insbesondere für seine Sicht der Literaturgeschichte des Alten Testaments, der schon zu seinen Lebzeiten der Geruch anhaftete, das Produkt einer vergangenen Epoche zu sein. Ewald war davon überzeugt, daß die im Alten Testament berichtete Historie eine heilige Geschichte sei. Er verstand die alttestamentlichen Erzählungen als Zeugnisse der göttlichen Vorsehung, drang aber trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – auf eine kritische Rekonstruktion derselben. Was ihm vorschwebte, war das Programm einer sämtliche Schriften des Alten Testaments umfassenden quellenkritischen Untersuchung – wobei seine philologische Arbeit an den Texten dem Ziel diente, ein die Epochen der hebräischen, israelitischen und jüdischen Geschichte umfassendes Bild Israels zu rekonstruieren. Allen Einschränkungen dieses kaum zu überschauenden Programms erteilt Ewald eine Absage: „Solange man bloß die geschichtlichen Stücke des A. T. benüzt, aber die unendlich reichen und (wenn mit Einsicht gebraucht) höchst sichern und klaren prophetischen sowohl als dichterischen Stücke nicht anzuwenden weiß, muß sehr vieles für den Stoff wie für das Licht dieser Geschichte ganz verloren gehen, was richtig in die übrigen Nachrichten und Spuren eingefügt empfindliche Lücken oft auf überraschende Weise ergänzt. Ja man kann es vielmehr als Richtschnur aufstellen, dass diese bis jetzt fast gänzlich vernachlässigten Quellen überall den ersten Rang verdienen, weil sie am unmittelbarsten aus ihrer Zeit reden und die echten lebendigen Züge der Geschichte im reinsten Spiegel unbefangen uns sehen lassen“177. Hält man sich vor Augen, daß Ewald dies 1843 in der Einleitung des ersten Bandes seiner ‚Geschichte des Volkes Israel bis Christus‘ schreibt – zu einem 175
Bertheau, Art. Ewald, Georg Heinrich August, 442.
177
Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 1, 12 f.
176 Ebd.
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Zeitpunkt als mit den ‚poetischen Bücher[n] des Alten Bundes‘ und den ‚Propheten des Alten Bundes‘ bereits Kommentierungen zu den meisten alttestamentlichen Schriften von ihm vorliegen –, wird neben dem ungeheuren Fleiß zugleich die Weite des ihm vorschwebenden Projekts deutlich: „Nur wenn man sowohl die Geschichte der Religion, der Literatur und der Kunst des Volkes als auch alles das wichtigste aus der sogenannten Archäologie in diesen Kreis zieht und aus allen irgendwie entdeckbaren Spuren und Zeugnissen jeden Zeitraum nach seinem wahren Leben und Wesen zu erkennen anfängt, kann man ein nicht völlig ungenügendes Bild dieser großen aber über weite und über sehr von uns entfernte Räume ausgebreiteten Geschichte zu entwerfen hoffen.“178 Erkennbar ist, daß Ewalds Programm sowohl Kultur- als auch Literaturgeschichte umfaßt, daß es sich aber der quellenkundlichen Tatbestände wegen vornehmlich auf die Letztere beschränkt. Auffällig ist zudem, daß Ewald vollständig mit dem altprotestantischen Schriftprinzip gebrochen hat und daß er trotz der Betonung der besonderen Bedeutung dieser Quellen methodisch ganz dem Programm einer aufklärerischen Textkritik verpflichtet ist. Gleichwohl kommt er bei der Beurteilung der Quellenlage zu einer erstaunlich positiven Einschätzung. Seiner Meinung nach ist es möglich, – und er erhebt den Anspruch, dies auch einzulösen – eine die Epochen des Hebraismus, des alten Israels und des nachexilischen Judentums umgreifende Darstellung der Historie dieses Volkes zu geben. Die eigentliche (israelitische und jüdische) Geschichte beginnt Ewald zufolge mit dem Auftreten des Propheten Mose und endet mit dem Auftreten Jesu Christi. Die historischen Ereignisse vor dem Auftreten Moses ordnet er der ‚Vorgeschichte‘ bzw. ‚Urgeschichte‘ zu.179 Die herausragende Bedeutung der Persönlichkeit des Mose macht Ewald daran fest, daß seit ihm „eine hebräische Geschichtsschreibung sich bilden konnte und sich bildete“180. Damit nimmt Ewald im Kontext der im Rahmen dieser Arbeit untersuchten kritischen Exegeten – mit seinen Forschungen zum Alten Testament und den Entstehungsbedingungen der ‚hebräischen‘ Geschichtsschreibung – eine Sonderrolle ein. Die Stärke seines Vorgehens beruht darauf, eindrücklich auf die Bedeutung der eigentlichen Autoren der alttestamentlichen 178
A. a. O., 13. erklärt Ewald einleitend in seine ‚Geschichte des Volkes Israel bis Christus‘ zum von ihm untersuchten Zeitraum: „[D]er wahre Anfang dieser erst mit Christus zur Ruhe kommenden Geschichte [beginnt] mit Mose […], der gewaltige, alle folgenden Entwicklungen bedingende Fortschritt aber den die Bewegung der mosaischen Zeit sezt bereits den ägyptischen Aufenthalt Israels als ersten Schritt in diesem Kreise voraus[…]; dass diese Geschichte von ihrem Anfange unaufhaltsam drei große Wendungen durchläuft, bis ihr Kreis sich völlig schließt und sie zu ihrer ewigen Ruhe kommt, die drei Wendungen (Epochen), welche auch äußerlich durch den Wechsel der aufeinanderfolgenden Namen der Hebräer, Israeliten und Juden bezeichnet werden, weil das Volk selbst mit jeder dieser Wendungen ein anderes wird; ferner, dass was dem ägyptischen Aufenthalte vorhergeht als diesem Kreise noch fremd in die Vorgeschichte gehört, die man ebensowohl die Urgeschichte nennen könnte.“ (A. a. O., 14) 180 A. a. O., 71. 179 So
4. Die Interpretation des Alten Testaments
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Texte bzw. Textkorpora hingewiesen zu haben. Die Grenze des Ewaldschen Ansatzes ist seine konstruktive Wendung der Annahme, daß die Schriften des Alten Testaments lediglich einen sehr begrenzten Ausschnitt der einst existierenden Überlieferungen des Altertums darstellen würden. So vermutet Ewald, „dass die frühesten Geschichtsschreiber Israels bereits eine Menge geschichtlicher Werke der verwandten Völker vorfanden“181. Auch wenn es von letzteren keine schriftlichen Zeugnisse mehr gäbe, so interpretiert Ewald die alttestamentlichen Texte doch als Reflex auf zunächst mündlich weitergegebene ‚Sagen‘, später dann literarisch gewordene Stoffe. Ziel ist es, die jeweiligen Eigentümlichkeiten der genuin ‚hebräischen‘, ‚israelitischen‘ und ‚jüdischen‘ Geschichte der Literatur aufzuzeigen. Daß dieses methodische Vorgehen Ewalds durch Zuhilfenahme einiger methodischer Fragwürdigkeiten erkauft ist, ist oben bei der Rekonstruktion der drei großen im Alten Testament erhaltenen ‚hebräischen Geschichtswerke‘ dargestellt worden. Hier soll der Fokus auf seine Sicht der Literaturwerdung des Alten Testaments gerichtet werden – die Ewald zufolge aufgrund der Überlieferung zahlreicher Urkunden und Fragmente dieser Zeit rekonstruierbar sei. Das Auftreten des Mose markiert dabei für ihn eine Epochenschwelle, als mit Mose wichtige Erinnerungen nun nicht mehr allein mündlich, sondern schriftlich weitergegeben wurden.182 Erfolgte die Weitergabe wichtiger Traditionen in vormosaischer Zeit noch mündlich, seien nun in der mosaischen und nachmosaischen Periode umfangreiche hebräische Geschichtswerke greifbar – ein Sachverhalt, der Ewalds Meinung nach in seiner Bedeutung für die Darstellung der Geschichte Israels nicht unterschätzt werden dürfe. Zwei Punkte sind zu beachten: Zum einen ist daran zu erinnern, daß Ewald der Verweis auf die Besonderheiten und Eigentümlichkeiten des Volkes Israel – auf die „echten lebendigen Züge“ seiner „Geschichte“183 – Tür und Tor für die aus heutiger Perspektive methodisch auf wackligen Füßen stehende, ausufernde Darstellung der Geschichte dieses Volkes öffnet.184 Denn seiner Meinung nach zeugten die Überlieferungen des Alten Testaments von der besonderen ‚Volksthümlichkeit‘ der Israeliten.185 Die zahlreichen aus vor- wie nachmosaischer 181 Ebd.
182 Als von besonderer Bedeutung sieht Ewald die mit dem Wirken Moses verknüpfte Etablierung einer Schriftkultur an. Zugleich sieht er damit die Bedingungen für die Entstehung der ältesten historischen Quellen in der mosaischen Zeit erfüllt und gegeben: „Diese Quellen sind […] vorzüglich nur schriftliche; und unter den schriftlichen sind wiederum die Geschichtsbücher des A[lten] B[undes] […] die reichhaltigsten dem Inhalte nach“ (A. a. O., 14). 183 A. a. O., 13. 184 „Es gibt insbesondre ein doppeltes Mittel, welches richtig angewandt die kargen Nachrichten über manche Zeiträume glücklich ergänzen kann: die gleichmäßige Benuzung der uns zugänglichen Quellen von allen Arten und die stete Rücksicht auf alle auch die verschiedensten Erscheinungen in den wechselnden Lagen des Volkes.“ (A. a. O., 12) 185 „Immer also und in jeder Weise bleibt die Sage wie von der Volksthümlichkeit scharf ausgeprägt und festgehalten, so von ihr abhängig und mit ihr wandelbar“ (A. a. O., 41); „Die Volksthümlichkeit umschließt und begrenzt immer wieder auch den weitesten Kreis von
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Kapitel III: Georg Heinrich August Ewald
Zeit vorhandenen Erzählungen und der Drang, dieselben zu bewahren, hätte zu ihrer Verschriftlichung geführt. Er versteht die Texte und Textbruchstücke – angefangen bei den großen Erzählkomplexen wie beispielsweise über König David und die Erzväter bis hin zu einzelnen Namen – als historische Denkmale des Altertums. Diese gelte es, richtig zu interpretieren. Zu beachten sei lediglich, daß die ursprünglich gegebene Überfülle an Überlieferungen zwangsläufig eine Auswahl und Umformung derselben entsprechend den einstmals herrschenden religiösen Überzeugungen zur Folge hatte. Zum anderen führt Ewald neben dem Reichtum an überlieferten Erzählungen als notwendig dazukommende Bedingung folgendes aus: „Die wirkliche Entstehung einer selbständigen Geschicht[s]schreibung sezt […] bei jedem zumal bei einem uralten Volke noch außerdem zwei Bedingungen voraus: das Emporkommen einer außerordentlichen Zeit wodurch ein Volk sich gehoben sieht, und das Daseyn einer schon leicht anwendbaren Schrift.“186 Auf den letztgenannten Punkt wurde soeben eingegangen. Was die ‚außerordentliche Zeit‘ anbelangt, so scheint Ewald an so etwas wie eine in den verschiedensten geistigen und kulturellen Bereichen des Volkes Israel besonders produktive Periode der Geschichte zu denken, welche eine Kulminationsphase für die Transformation alter und das Entstehen neuer Formen der Überlieferung – insbesondere auch religiöser Traditionen – darstellte. Letztlich nimmt Ewald dies für den gesamten Zeitraum der hebräischen, israelitischen und jüdischen Geschichte in Anspruch.187 Die seit Mose verschriftlichten Überlieferungen bauen auf einem langen mündlichen Tradierungsprozeß auf. Letzterer sei nur noch bruchstückhaft greifbar. Aufgrund der Prämisse Ewalds, daß sämtlichen alttestamentlichen Sagen und Erzählungen in der einen oder anderen Weise historischer Quellenwert zukomme, müsse bei ihrer Interpretation jedoch allein die richtige Anwendung der verschiedenen philologischen Methoden beachtet werden, um die alten Traditionen wieder zum Leben zu erwecken. Dies gilt für ihn mit ebenso großer Selbstverständlichkeit für die Berichte der Urgeschichte und die Erzvätererzählungen wie für die biblischen Überlieferungen vom davidischen und salomonischen Königtum und den späteren geteilten Königreichen. Daß diese TradiSagen, und hält alles nur sofern es aus ihr quillt oder sich ihr verähnlicht in ihrem schützenden Schoße fest.“ (A. a. O., 42) 186 A. a. O., 62. 187 Die Entstehung einer Geschichtsschreibung bedeutet für ihn einen gegenüber dem Auftreten großer Persönlichkeiten sekundären Schritt. Mose und seine Zeit steht dabei für Ewald lediglich für eine, wenn auch nicht zu unterschätzende Wendung der Volksgeschichte: „Israel hat […] schon in der vormosaischen Zeit eine Herrlichkeit erlebt und eine Höhe unter den benachbarten Völkern erstiegen, welche wohl imstande gewesen wäre, die Anfänge einer Geschichtsschreibung unter ihm zu erwecken. Dennoch fehlt nach dem A. T. jeder Beweis dafür, daß schon vor Mose solche Anfänge hebräischer Geschichtsschreibung sich gebildet hätten; daß freilich sodann die mosaischen Zeiten außerordentlich genug waren um auch diese Anfänge zu gründen, kann ansich nicht in Abrede gestellt werden.“ (A. a. O., 62 f.) Dazu im Folgenden mehr.
4. Die Interpretation des Alten Testaments
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tionen bewahrt wurden, ist dem Ewaldschen vierten Erzähler der Urgeschichten zu verdanken, „von dessen Hand der ganze jezige Pentateuch mit dem B. Josua herrührt“188. Ihn kann Ewald sehr genau charakterisieren: Gewirkt habe er „nicht früher aberauch nicht später als in der ersten Hälfte oder gegen die Mitte des 8ten Jahrhunderts“189. Sein Werk habe er „im südlichen Reiche“190, also im Königreich Juda, niedergeschrieben. Sein Wirken markiere die „Höhe und reifste Ausbildung aller geistigen Mächte und Fähigkeiten des alten Volkes“191. Er sei von prophetischem Geist erfüllt gewesen.192 Er lebte in einer Epoche, in der sich Israel als Volk in hohem Maße seiner besonderen Bedeutung bewußt gewesen sei. Dies bedeutete zugleich eine Abgrenzung und Furcht vor den Nachbarvölkern.193 Der vierte Erzähler sei Vertreter einer „geistigen Religion“194. Diese am ehesten als monotheistische Überzeugungen zu beschreibenden Züge seiner Religiosität trennten wiederum das eigene von den fremden Völkern, Freund und Feind – und den Gegensatz habe dieser Erzähler bis zurück in die Schöpfungszeit eingezeichnet. Erinnert sei nur an Kain und Abel. Ewald würdigt den vierten Erzähler aber nicht nur als Schriftsteller zur Blütezeit der israelitischen Literatur, sondern er sieht in ihm zugleich Zeichen des beginnenden Verfalls. Die Erzählungen des Pentateuchs und des Buches Josua entstammten nur zu einem Bruchteil seiner eigenen Produktivität. Den weitaus größeren Teil bildeten Reste und Bruchstücke alter Überlieferungen, die er teils unbearbeitet verwendet habe. Mit Blick auf die Frühgeschichte Israels, ja der ganzen Menschheit, sei dies jedoch als ein Glücksfall zu bezeichnen. Ewald zufolge sind so zahlreiche historische Denkmale bewahrt worden, die andernfalls verloren gegangen wären. Für die Sicht Ewalds auf die Literaturgeschichte des Alten Testaments hat dies zur Folge, daß für ihn eine kritische Hinterfragung der Historizität der berichteten Ereignisse – als ein den Texten unangemessenes Instrumentarium der Auslegung – nicht in Frage kommt. Dieser in der kritischen Bibelforschung ins188 A. a. O.,
189 A. a. O., 190 Ebd. 191 Ebd.
122. Zum 4. Erzähler vgl. bes. a. a. O., 122–143. 123.
192 „Die prophetische Ansicht […] breitet sich […] mit voller Macht aus und wird die eigentliche Trägerin der ganzen Geschichtserzählung. Das Werk gibt insofern erst den vollen Widerschein der großen prophetischen Kraft und Thätigkeit welche sich in den Jahrhunderten nach David ausbildete: diese prophetische Macht, im Leben und in der Schrift längst groß geworden und immer weiter über ihre nächsten Grenzen hinausflutend, erfüllt nun auch die Urgeschichte ganz und bildet sie mit größter Freiheit zu neuen schönern Gestalten um.“ (A. a. O., 124) Hier deutet sich so etwas an wie der in der heutigen alttestamentlichen Forschung als Fortschreibung bezeichnete Prozeß. 193 „[I]n den ersten Jahrhunderten der mosaischen Religion ward alles israelitisch-volksthümliche im Gegensaze zu den übrigen Völkern zu scharf aufgefasst, als das dieser vorbildliche Kreis [gemeint sind hier die großen Persönlichkeiten zur Zeit der Erzväter, Anm. M. G.] im Herzen des Volkes an Bedeutung viel hätte verlieren können“ (A. a. O., 346). 194 A. a. O., 126.
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Kapitel III: Georg Heinrich August Ewald
besondere mit dem Namen de Wette verbundene Weg ist seiner Meinung nach falsch. Stattdessen möchte er ihren ursprünglichen Sinn aufklären, überzeugt von der Annahme, daß auch dem modernen Wahrheitsbewußtsein widersprechende Überlieferungen aus ihrem historischen Kontext heraus erklärt werden können. Hier soll es nun nicht darum gehen, diesen aus heutiger Perspektive überholten Weg Ewalds durch die verschiedenen alttestamentlichen Texte und Textkorpora im Detail nachzuzeichnen. Auch auf die von Ewald abgegrenzten großen Erzählkomplexe und ihre Zuordnung zueinander soll nicht eingegangen werden. Vielmehr wird seine Darstellung der Vorgeschichte Israels in den Blick genommen, da an ihr in besonders paradigmatischer Weise das Ewaldsche Verständnis der Literaturgeschichte des Alten Testaments verdeutlicht werden kann. Geschichte Israels im eigentlichen Sinne bezieht Ewald auf die ‚Volksgeschichte‘195. Doch er vertritt die Meinung, daß auch zur davorliegenden Zeit historisch auswertbare Quellen vorlägen. Dabei handele es sich einerseits um „den geschichtlichen Stoff[,] dessen sich das spätere Volk aus den Urzeiten her noch erinnerte oder welchen es von andern Völkern empfangen in den Kreis seiner Sagen gezogen hatte“196. Andererseits denkt er an bloße Bilder der Frühzeit – „das was es über jene Urzeiten und über seinen Zusammenhang mit den übrigen Völkern der Erde mit den ersten Menschen und zulezt mit Gott selbst dachte und ahnete“197. Ewald geht davon aus, daß die werdende Geschichtsschreibung sich nach und nach des mündlich tradierten Stoffs bemächtigte, wobei das „Bewusstseyn des Volkes“198 mehrere Entwicklungsstufen unterschied. Dies mündet bei ihm in die Annahme einer allgemein geteilten und anthropologisch begründeten Lehre von vier Weltzeitaltern. Diese Weltzeitalter würden „den ganzen Umfang geschichtlicher Erinnerungen“199 wiedergeben: Das erste, die Epoche von der Schöpfung bis zur ‚Sündflut‘ – repräsentiert durch Adam, Kain und Abel, Enosch; das zweite, die Epoche der erneuten Ausbreitung der Menschheit bis zur Entstehung großer, weitverbreiteter Völkerschaften – erwähnt seien Sem, Eber und Kanaan; das dritte, die Zeit der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob-Israel und das vierte, das mit der Zeit in Ägypten beginnt.200 195 Die „Erinnerungen an seine lezten Anfänge, welche ebendeswegen jedes Volk nach seinem besondern geistigen Zustande eigenthümlich sich gestaltet und bewahrt, nennen wir hier seine Vorgeschichte, und trennen sie damit völlig von der im strengern Sinne so zu nennenden Volksgeschichte. Auch sogleich nach dem bloßen Anscheine wird man zugeben müssen, dass die eigentliche Volksgeschichte Israels erst mit den 12 Stämmen beginnen könne, und dass was von den Erzvätern und noch höher hinauf erzählt wird in ein wesentlich verschiedenes Gebiet gehöre“ (Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 1, 302). 196 Ebd. 197 Ebd. 198 A. a. O., 303. 199 A. a. O., 308. 200 Vgl. dazu a. a. O., 94–97 und 302–438.
4. Die Interpretation des Alten Testaments
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Zwar schränkt Ewald ein, daß es sich bei den „4 Weltaltern“ um eine „Ursage“201 handele, um „Ueberbleibsel der Bildung dieses vorgeschichtlichen Volkes“202 – gemeint sind die Israeliten. Dies scheint entgegen dem bisher Dargestellten darauf hinzudeuten, daß Ewald sich der Problematik der historischen Auswertbarkeit der mythischen Urgeschichten des Buches Genesis durchaus bewußt gewesen ist, zumal er selbst großes Gewicht auf die Entstehung der Schrift203 legt und das in den Büchern Mose, Josua und Richter bruchstückhaft erhaltene ‚Buch der Bündnisse‘ in die „zweite Hälfte des Zeitraumes der Richter“204 datiert. Und Ewald macht auch namhaft, daß es sich bei den heute im Alten Testament überlieferten Schriften um aus verschiedensten Quellen schöpfende und mehrfache durch verschiedene Autoren und Redaktoren überarbeitete Texte handelt, was gerade ihre historische Interpretation vor große Herausforderungen stelle.205 Seiner Meinung nach ist es aber möglich, die methodische Problematik in den Griff zu bekommen. Ein Verzicht auf jene älteste Historie im Sinne eines de Wette, den der sagenhafte und mythische Charakter der Erzählungen über die Urgeschichte des Volkes Israel nahelegen würde, kam für ihn nicht in Betracht. Mit den Forschungen seines Vorgängers Johann Gottfried Eichhorn206 sei der Weg der historischen Interpretation der Urgeschichte entscheidend befördert worden und er müsse nun konsequent weiter geführt werden. Das heißt für Ewald: „Da […] alle Untersuchungen dieser Art unmöglich weiter vermieden werden können, wenn man nicht auf jede sichere Ansicht über die ganze älteste Geschichte zumvoraus verzichten will: so kommt es nur darauf an, alles was die vorliegenden Quellen reichen, so tief als möglich zu erschöpfen; und es ist kaum zu sagen, wie sehr die höchst bunten Erscheinungen dieses Gebietes, wenn man nur erst einen richtigen Anfang sie zu erkennen gemacht hat, sich bald gegenseitig so erläutern, daß in dem anfangs so schlüpfrig scheinenden Felde noch die bedeutendsten Gewißheiten sich aufstellen lassen.“207 Ewald geht es als ‚Grammatiker‘ nicht nur um die wissenschaftliche Lehre von der 201 202
A. a. O., 306. A. a. O., 305. 203 Vgl. a. a. O., 60–72. 204 A. a. O., 79. 205 „Unstreitig ist auf diesem Gebiete die größte Vorsicht erste Bedingung eines richtigen Erkennens: denn es liegt schon im Wesen der Sache, daß von den Büchern, welche nicht mehr in ihrer ursprünglichen Gestalt vorliegen und die wir nur aus zweiter oder dritter Hand durch einzelne Zeichen und Spuren wahrnehmen, die ältern wiederum am schwersten richtig erkennbar sind, weil sie durch wiederholte Umarbeitungen so stark entweder verkürzt oder verändert und mit spätern Stoffen verschmolzen seyn können, daß die wenigen Bruchstücke eines Werkes, welche wirklich noch übrig sind, aus ihrer Zerstreutheit und Vermischung wieder zusammenzulesen und aus ihnen eine richtigere Vorstellung über das ganze Werk zu bilden die äußerste Anstrengung erfordert.“ (A. a. O., 74) 206 Vgl. a. a. O., VII. 207 A. a. O., 74 f.
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Sprache, in diesem Fall der semitischen Sprachfamilie, sondern er möchte „das Wesen einer der wunderbarsten Fähigkeiten des menschlichen Geistes richtiger schäzen und den ersten Grund zu jeder weitern Erkenntniss einer Geschichte dieses Geistes legen“208. Als „Ausleger fremder Schriftsteller“ sei es ihm nämlich darum zu tun, „ihre Gedanken sich selbst aneignen und mit freier geistiger Macht […] beherrschen“209 zu können. Allererst derart sei es ihm sowohl als ‚Grammatiker‘ als auch als ‚Ausleger‘ möglich „das Alterthum eines Volkes nach allen Seiten in einem wahren Zusammenhange [zu] durchdringen“210. Nimmt man die beiden letzten Sätze zusammen, dann will Ewald sagen, daß es ohne Aneignung und Nach- bzw. Rekonstruktion letztlich kein historisches Verstehen geben kann – eine These, die sich mühelos in die Geschichte der Hermeneutik von Semler bis Dilthey einzeichnen läßt.211 Eine wichtige Rolle für Ewalds Rekonstruktion der Vorgeschichte spielen Namen und Geschlechterlisten. Gerade in letzteren sieht er Traditionen vorliegen, die auf eine Zeit weit vor der ersten Niederschrift zurückweisen. So habe der Ordner der Namensreihen, der die Herkunft der Israeliten bis auf die sagenhaften Stammväter Noah und Adam zurückführte, „längst vor dem Verfasser des B[uchs] d[er] Ursp[rünge] gelebt“212 – auf den Ewald zufolge der erste israelitische Geschichtsbericht zurückgehe. „[A]ls der Verf. des B. der Urspp. schrieb, hatte sich noch eine Menge von mündlichen Ueberlieferungen sowohl als von äussern Gegenständen und Denkmälern erhalten[,] welche auf eine frühere weit einfachere Zeit zurückweisen.“213 So konnte dieser insbesondere auf Geschlechterlisten zurückgreifen und er sah in ihnen nicht bedeutungslose Namen, sondern auch historische Erinnerungen an das Leben, Wirken und Geschick der für die Volksgeschichte Israels bedeutsamsten Persönlichkeiten – und wichtiger Regionen der Siedlungsgeschichte.214 208 A. a. O., 209 Ebd.
IX.
210 Ebd. – Dabei spricht Ewald der Bibelerklärung mit Blick auf die eigene Gegenwart auch eine wichtige zeitdiagnostische Bedeutung zu: Die (Früh-)Geschichte Israels verstehen „heißt auch die Gegenwart[,] auch das eigene Volk in seinen guten oder bösen Bestrebungen seinen Mängeln und seinen Besizthümern näher kennen und jener sich schämen diese aber schäzen und fördern“ (Ebd.). 211 Zu Letztgenanntem vgl. Constantin Plaul, Verstehen und Religion im Werk Wilhelm Diltheys. Theologische Dimensionen auf kulturphilosophischer Grundlage (BHTh 188), Tübingen 2019. 212 A. a. O., 323. 213 A. a. O., 355. 214 „So lebt denn in der Sage mit dem Namen leicht auch der ganze geschichtliche Sinn und die eigenthümliche Bedeutung eines Helden fort, an den Namen eines uralten Ortes knüpft sich die Erinnerung seines Ursprungs oder seiner Geschichte; und wie besonders aus den fernern Zeiten jeder Name eine Aufforderung ihn zu erklären an die Sage stellt, so kann er selbst dazu dienen manches Stück der Erinnerung welches sich an ihn hängt fester zu erhalten.“ (A. a. O., 23)
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Daß dem heutigen Historiker der ursprüngliche Sinn der Sagen des Altertums nicht verborgen bleiben muß, hätten paradigmatisch Untersuchungen der Gründungssagen alter Völker wie beispielsweise der Griechen und die verschiedenen wissenschaftlichen Darstellungen der römischen Geschichte gezeigt.215 In Analogie dazu kann Ewald unter Bezug auf die in den Büchern Genesis bis Richter enthaltenen Sagen über die vormosaische Zeit festhalten: „Aehnliche Anschauungen und Ueberlieferungen [wie in den Gründungssagen der Stadt Rom, Anm. M. G.] finden sich in den Geschlechtsnachrichten des A[lten] B[undes] sehr viele: wiedenn überhaupt diese dürren Namen aus der ältesten Geschichte, sobald man sie aus ihrem Schlafe richtig aufzuwecken weiß, keineswegs so todt und starr bleiben, sondern wieder lebendig werdend die wichtigsten Ueberlieferungen über die uralten Volks- und Stammverhältnisse verkünden, den Versteinerungen und Gebirgsschichten der Erde vergleichbar, welche richtig befragt die Geschichte längst entschwundener Zeiten erzählen.“216 Nicht eindeutig entscheidbar ist, bis zu welcher Epoche der israelitischen (Vor-)Geschichte die historischen Denkmäler zurückreichen. Ewald macht zwar darauf aufmerksam, daß Namen wie Adam, Henoch und Eber allein in ihrer Bedeutung als sagenhafte Stammväter der Menschheit bzw. der Hebräer richtig verstanden sind. Zugleich führt er aber mehrfach aus, daß noch in den aus der frühesten Zeit der Menschheit und der Hebräer überlieferten Namen „einige auch im strengern Sinne geschichtliche Wahrheiten von Bedeutung“217 erhalten seien. So sind für Ewald beispielsweise die drei Erzväter Abraham, Isaak und Jakob / Israel einerseits legendäre Helden aus der Zeit vor der Konstituierung des Volkes. Andererseits gibt es für Ewald keinerlei Grund für die Infragestellung ihrer Historizität. Ja ganz die entgegengesetzte Meinung vertretend erklärt er: „Wäre uns gar nichts weiter überliefert als die vorbildliche Bedeutung jeder Gestalt in diesem Helden-Pantheon: so könnten wir zwar mit Recht behaupten, dennoch müssten die 3 Erzväter auch in der wirklichen Geschichte gelebt, ja ausserordentliches ausgeführt haben, weil ohne diese Annahme sogar die Entstehung der jezigen Sage über sie undenkbar sei“218. Mit der Frage nach der Frühgeschichte der alttestamentlichen Texte verfügt Ewald über ein Instrument, welches es ihm erlaubt, selbst singulär vorkommende Namen mit einem anschaulichen Kontext zu umgeben und von hier aus die bezeichneten Personen zu charakterisieren. Sogar die chronistischen Schriften, die seit den Forschungen Wilhelm Martin Leberecht de Wettes in ihrer historischen Glaubwürdigkeit grundlegend erschüttert sind, würdigt Ewald als für die Geschichte Israels wichtige Quellen, deren historischer Wert nur scheinbar eingeschränkt sei – woran der frühe Wellhausen in seiner Dissertation zu den Geschlechterlisten des Stammes Juda un215
Vgl. a. a. O., 421 f. A. a. O., 422. A. a. O., 339. 218 A. a. O., 353. 216 217
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mittelbar anknüpft, wobei er seinem Lehrer bis in die Formulierungen hinein folgt.219 Ewald erklärt im Hinblick auf den Stamm Juda als den seiner Meinung nach bedeutendsten der zwölf Stämme Israels: „Wären die alten Quellen welche der Chronik vorlagen ungemindert und ungetrübt auf uns gekommen, so würden wir auch in diesen dürren Namensverzeichnissen ein kostbares Mittel zur Wiedererkennung wichtiger Theile der alten Geschichte dieses großen Stammes besizen: denn unverkennbar war in manchen dieser Quellen die eigentliche Geschlechtsgeschichte des Stammes mit der Geschichte des Landes im Großen und der einzelnen Besizthümer und Wohnorte der mächtigen Geschlechter enger verbunden, und wir können hier sehr deutlich sehen, dass der Held welcher eine Stadt oder eine Landschaft besaß oder dessen Geschlecht sie beherrschte ganz gewöhnlich ihr Vater genannt ward.“220 Was hier zunächst nach einer Einschränkung des Quellenwerts klingt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Hinweis auf die besondere Bedeutung der chronistischen Geschlechterlisten. Ewald geht nämlich davon aus, daß sie, sachgemäß interpretiert, wichtige historische Zeugnisse darstellten. Durch den Vergleich mit anderen alttestamentlichen Texten sei es möglich, diese Überlieferungen als wichtige Denkmäler der Vorgeschichte Israels auszuwerten. Und so unterscheidet Ewald im Falle des Stammes Juda mehrere Hauptgeschlechter. Von diesen Geschlechtern seien in den biblischen Texten Berichte über „die verschiedene Vertheilung“ in Juda überliefert, wobei sich in dem konkreten Fall scheinbar widersprüchliche Aussagen „hinlänglich aus der verschiedenen Zeit in welcher diese Urkunde nach einer neuen Schazung des Stammes entworfen seyn mag“221 erklärten. Andererseits gebe es sogar „eine durch das B[uch] d[er] Ursp[rünge] sehr genau erhaltene Urkunde [Ewald meint Jos 15,21–62, Anm. M. G.], wonach Juda, nicht nach seinen herrschenden Geschlechtern sondern als bloßes Land betrachtet, in zehn Theile oder Kreise zerfiel“222. Das vorstaatliche Israel präsentiert sich für Ewald als ein wohlgeordnetes Gemeinwesen, was eins der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale des hebräischen von den übrigen kanaanäischen Völkern sei.223 In dieser – bis in die ‚Urzeit‘ zurückverfolgbaren – Ordnung scheint 219 Vgl. Julius
Wellhausen, De gentibus et familiis Judaeis quae I. Chr. 2. 4. enumerantur. Dissertatio quam ordinis theologorum summe reverendi judicio ad licentiati in theologia honores in Academia Georgia Augusta rite obtinendos submisit Julius Wellhausen, de collegio repetentium Gottingensium, Göttingen 1870. 220 Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 1, 413, Hervorhebung im Original. 221 A. a. O., 415. 222 Ebd. 223 „Dass […] gerade die Zwölfzahl dazu dient, ist eigenthümlich hebräisch, und muss einen nicht weiter nachweisbaren Grund in der dunkeln Urzeit dieser Völker haben. Wie ein Volk ohne den Segen einer festgeordneten und zum Stimmen berechtigten Gemeine einer solchen festen Eintheilung nicht bedarf, und bei den jezigen Wüstenarabern keine Spur davon weder in ihrem Leben noch in ihren Geschlechtsnachrichten zu entdecken ist […]: so fühlen sich in der versammelten Gemeine die einzelnen Stämme und Geschlechter wie Kinder und Enkel um einen sichtbaren oder unsichtbaren Vater versammelt; denn auch über dem sicht-
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Ewald dann auch eine der notwendigen Voraussetzungen für die Entstehung und Bewahrung der alttestamentlichen Erzählungen zu erblicken. Deutlich wird an diesen Beispielen für das methodische Vorgehen Ewalds, daß sein primäres Interesse der Rekonstruktion der ‚hinter‘ den alttestamentlichen Berichten stehenden historischen Ereignissen gilt. Bibelerklärung zielt für ihn immer auf das Verstehen der berichteten Sache selbst ab, niemals bleibt sie bei der bloßen Erklärung des literarischen Sinns stehen. Er möchte aufklären, wie es zur Zeit der Hebräer, der Israeliten, des nachexilischen Judentums tatsächlich gewesen ist. Den großen Persönlichkeiten dieser Epochen der Geschichte und ihren Vorstellungen ist Ewald verpflichtet – unbeeindruckt von dem seiner Zeit aufgebrochenen und heftigst diskutierten Problem der Glaubwürdigkeit der alttestamentlichen Geschichtserzählungen. Die Bedeutung dieses Problems, die ein Kernstück der Hermeneutik de Wettes darstellte und im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem vollständig neuen Bild der israelitischen und jüdischen Geschichte führte, stand Ewald nicht vor Augen. Ewald fochten die Einwürfe derjenigen alttestamentlichen Kritiker nicht an, die die in der Exegese sich nach und nach Bahn brechende Einsicht in die historische Fragwürdigkeit der allermeisten Passagen der biblischen Geschichtserzählungen heraufführten. Vielmehr stand ihm unerschütterlich fest, daß es sich beim Alten Testament um zwar zumeist mit großem zeitlichen Abstand erfolgende Verschriftlichung einstmals mündlicher Erinnerungen handele. Diese allererst im Nachgang erfolgende Verschriftlichung ihrerseits stellte für Ewald kein Problem dar. Stattdessen verwandte er all sein philologisches Geschick auf den Nachweis, daß die biblischen Erzählungen ein getreues Abbild der tatsächlichen historischen Ereignisse darstellten. Seiner Meinung nach hätte der allergrößte Teil der alttestamentlichen Schriften ohne die ‚Helden‘ und deren ‚Thaten‘, die ein getreues Abbild ihres ‚Erlebens‘ seien, gar nicht entstehen können.224 Nur als Reflex auf diese könne das Alte Testament richtig verstanden werden. Auch wenn das 19. Jahrhundert das Bild von den biblischen Autoren grundlegend verändert hat – Ewald schloß sich dieser Revision nicht an. Die Geschichte Israels zog deshalb Ewalds besonderes Interesse auf sich, weil er die Meinung vertrat, daß die Hebräer historisch und literarisch als älbaren Haupte welches in ihrer Mitte erschiene würde doch das unsichtbare und göttliche nicht zu vergessen seyn.“ (A. a. O., 419 f.) 224 „Jede That und besonders jede große sucht bald ihre möglichst entsprechende Erzählungsart, worin sie sich festsezen möchte: die allernächste Unbestimmtheit der Eindrücke schwindet, die Erinnerung wird sich selbst klarer, es entsteht eine mehr übereinstimmende und herrschende Art die That zu erzählen. Wie nun die Erzählung so aus dem unmittelbaren Anschauen oder Erleben eines denkwürdigen Ereignisses sich bildet, konnte sie in jenen ältesten Zeiten ebensowohl wie jemals zu unsern Tagen das lebendigste und anschaulichste Gegenbild des Geschehenen werden; ja sie wurde es damals noch leichter als jetzt, da das einfachere Alterthum für starke und wahre Eindrücke die jugendlichste Empfänglichkeit hatte.“ (A. a. O., 43)
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testes Geschlecht der Menschheit – im Sinne Herders – anzusehen sind. Wie oben dargestellt geht dies bei ihm mit der Überzeugung einher, daß die Beziehung der kanaanäischen und hebräischen Völkerschaften zueinander zwar im Hinblick auf die Sprache eine gewisse Vermischung bewirkt habe, aber die Israeliten in Religion und Sitte doch ihre ursprüngliche Eigenheit über die Jahrhunderte und -tausende hinweg bewahrt hätten. Davon zeuge die Bibel. Sein später Schüler Wellhausen beschreibt dies folgendermaßen: „Die Religion stand für ihn in der Bibel; sein gelehrtes Studium sollte ihm das Verständnis der Bibel eröffnen, damit er ihren ewigen Gehalt erkennen und praktisch verwerten könne: er hatte das vollkommenste Zutrauen sowohl zur Wissenschaft wie zum Christentum und lebte im besten Frieden mit beiden.“225 Nur so ist auch meines Erachtens Ewalds besonderes Interesse an der Literaturgeschichte des Alten Testaments und das nicht minder große Interesse an den dort geschilderten Persönlichkeiten zu verstehen. Eine Literaturgeschichte des Alten Testaments im Sinne Ewalds fragt daher weniger nach den Autoren der fraglichen Texte als vielmehr nach den dort geschilderten ‚Helden‘ der Geschichte – mit dem Ziel in jenen „Erzählungen […] die Wahrheit des wirklich Geschehenen so weit wiederzufinden als es möglich ist“226. Dieses Erkenntnisziel teilt Ewald etwa mit Leopold von Ranke.
4.2. Die Bedeutung großer Persönlichkeiten Mögen die Forschungen Heinrich Ewalds auch aus gegenwärtiger Perspektive sperrig erscheinen, so fügen sie sich doch in die Signatur des Gesamtjahrhunderts des ‚Historismus‘. Seine umfangreichen Arbeiten stellen einen Reflex auf das das Jahrhundert insgesamt kennzeichnende Bemühen um das historische Verstehen dar. Seine Sicht der Literaturgeschichte des Alten Testaments ist davon geprägt, daß er alles Geschichtliche als solches für sehr wertvoll hält. Ziel ist ein historisches Verständnis der biblischen Überlieferungen. Wird Wellhausen später herausstellen, daß der Großteil der alttestamentlichen Schriften ungeschichtlich im eigentlichen Sinne ist und Geschichtlichkeit allein für die Mentalität der Verfasser derselben anzunehmen sei, so gilt dies für ihn nicht. Ewald vertritt die Meinung – scheinbar unbeeindruckt von den Ergebnissen der kritischen Bibelforschung seiner Zeit –, daß der Text des Alten Testaments, inklusive aller Nachträge und Ergänzungen, Historizität beanspruchen kann. Daher garantiere alleine die geschichtliche Interpretation ihr richtiges Verständnis. Ein Charakteristikum der Ewaldschen Forschungen im Rahmen seiner Bemühungen um das historische Verstehen des Alten Testaments ist, daß Namen 225 226
Wellhausen, Heinrich Ewald, 129. Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 1, 15.
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biblischer Personen bei der Rekonstruktion der hebräischen, israelitischen und jüdischen Geschichte eine besondere Rolle spielen – worauf bereits eingegangen wurde. Auf diesen Sachverhalt ist hier noch einmal zurückzukommen, insbesondere im Hinblick auf die von Ewald vorgenommene Differenzierung des Namensbegriffs. So unterscheidet er bei den biblischen Personennamen zum einen die, die Wesensbegriffe zum Ausdruck bringen, zum zweiten die, die archaischen Gottesnamen folgen, und zum dritten die, die an altehrwürdige Helden erinnern. Diese Dreiteilung ermöglichte es Ewald, in zahlreichen Namen biblischer Persönlichkeiten historische Erinnerungen aus der sagenhaften Vorzeit der Israeliten zu erblicken. Zwar finden sich durchaus Äußerungen, die darauf hindeuten könnten, daß er zumindest im Hinblick auf die von ihm selbst als sagenhaft bezeichnete archaische Vorgeschichte Israels Vorbehalte bezüglich des historischen Wertes biblischer Personennamen formuliert – zumal er darauf aufmerksam macht, daß die von ihm als geschichtliche Dokumente hochgeschätzten Geschlechterlisten, die bis in die Schöpfungszeit zurückreichten, niemals eine durchgängige Genealogie darstellen können. Vielmehr müßten die Autoren der überlieferten Namenslisten Ergänzungen vorgenommen haben, um eine durchgängige Genealogie des Volkes Israels herzustellen. Aber daß und wie dies erfolgte, ist seiner Meinung nach ein heute noch nachzuvollziehender Vorgang gewesen, wie Ewald bei der Einführung der soeben benannten Dreiteilung des Namensbegriffs ausführt: „Denn die Sage hat in ihrem unendlichen Stoffe keinen Mangel an Personennamen, welche jene Lücken auszufüllen ganz tauglich sind: Namen welche vonanfangan rein Begriffe ausdrücken um den Urmenschen und ähnliche Anfänger neuer Menschheit oder Volksthümlichkeit, so wie die Alten das Wesen solcher in ihrem Sinne und Gedanken trugen, in der festen Gestalt von Personen zu entwerfen […]; oder Namen welche ehemals verehrte Götter bedeuten, solche also welche man sich nicht als völlig verschwunden, sondern nur als macht- und leblos in dunkle Ferne entrückt dachte, und die darum die leeren Räume fernster Weltalter zu bevölkern ganz geeignet scheinen mussten; oder endlich überlieferte Namen alter Helden“227. Wie bereits erwähnt, entdeckt Ewald selbst in singulär vorkommenden Namen alttestamentlicher Persönlichkeiten historische Denkmale von einstmals bedeutenden Geschlechtern. Zu diesem Schluß kommt er durch die Überlegung, daß wenn auch sonst die Geschichte wenig über sie verrate, immerhin doch Listen ihrer Namen bewahrt geblieben seien.228 Dies gelte natürlich nicht für Götternamen229 und vom Prinzip her auch nicht für Namen der ersten Kategorie, die Ewald als Wesensbegriffe bezeichnet. Daß dies im Bezug auf letztere jedoch 227
A. a. O., 309. „wird wohl jeder Name eines Sohnes welcher in diesen Verzeichnissen der Urgeschlechter sehr vereinzelt oder ganz leer dasteht, ein herabgekommenes Geschlecht bezeichnen“ (A. a. O., 432). 229 Hier denkt Ewald beispielsweise an Henoch und Lamech aus der Genesis, die seiner 228 Es
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nicht konsequent durchgeführt ist, sei an einigen Beispielen illustriert: Ewald zufolge erinnere Adam als ‚der Mensch‘ an den Urmenschen und die Anfänge der Menschheit insgesamt. Und Enosch als der schwache ‚Mensch‘ gegenüber dem starken ‚Gott‘ – als der in diesem Sinne eigentlich erste ‚Mensch‘ – erinnere an die Zeit der erstmaligen Alleinverehrung Jahwes.230 Doch Ewald würdigt diese sagenhaften Namen nicht konsequent als mythische Überlieferungen, so daß im Ungefähren bleibt, inwiefern er ihnen historischen Wert beimißt. Es ist nicht zu entscheiden, ob ihm Noah allein als Sinnbild für die erneuerte, durch die Sintflut gereinigte Welt – als der von Gott vor dem Untergang bewahrte Mensch – gilt oder als historische Persönlichkeit.231 Fraglich ist dies gerade auch bei einigen im Alten Testament lediglich beiläufig genannten Namen der Urzeit, die von Ewald herausgehoben werden – so beispielsweise bei Eber als dem Stammvater der Hebräer232 und bei Kanaan als dem der Kanaaniter233. Daß Ewald in den Namen der Ur- und Vätergeschichte nicht nur sagenhafte GeMeinung nach „in der ursprünglichen Sage als Halbgötter oder gar als Götter gegolten haben müssen“ (A. a. O., 314). 230 „[W]enn einmal Jahve als gänzlich eins mit Gott gefasst wird, so scheint sein Name schon durch den entgegengesezten des schwachen Menschen bedingt, also mit dem Namen Enosh entstanden zu seyn: eine schöne Vorstellung welche dieser Verfasser [gemeint ist Ewalds vierter Erzähler der Urgeschichten, Anm. M. G.] nur zu kurz hinwirft und offenbar bereits in einer frühern Schrift weiter erklärt fand.“ (A. a. O., 138 Anm., Hervorhebung im Original) 231 „Noah ist seinem Namen sowie seinem Wesen nach nichts als der Begriff der erneuten bessern Welt, diese ganz rein in ihrem Ursprunge und ihren Bedingungen aufgefaßt. […] In Noah als dem neuen Adam oder dem Beginner dieses noch jezt dauernden feinergearteten Menschengeschlechts verleiblichte sich das hebräische Alterthum diese Wahrheit [der Reinigung der Menschheit durch die Wasser der Sintflut, Anm. M. G.]: wenn er als Erfinder des Weinbaues gilt, so heißt das nichts als dass man in diesem einst mit Recht das Zeichen höherer Cultur mit ihren Künsten und Sorgen aberauch ihren Freuden erblickte; und wenn er als das von Gott für würdig gehaltene Werkzeug zur Rettung des Menschengeschlechts für eine neue bessere Gestaltung galt, so erklärt sich wie ihn das B[uch] d[er] Ursp[rünge] auch im einzelnen ganz als einen Mann nach dem Herzen Gottes schildern und von diesem Grunde aus das große Gemälde jenes wunderbaren Umschwunges entwerfen konnte, ein Gemälde übrigens worin man, bei aller weiten Ausführung von Einzelheiten, doch die wenigen einfachen Grundstriche aus denen es ausgeführt ist noch sehr deutlich bemerken kann.“ (A. a. O., 318–320, Hervorhebung im Original) 232 „[Ä]hnlich wie im Gebiete der Religion diese drei [gemeint sind die Namen ‚Hebräer‘, ‚Israel‘ und ‚Juden‘, Anm. M. G.] alle Geschichte in sich fassenden Wendungen durch den Wechsel im Gebrauche des göttlichen Namens Jahve (Jahve allein, Jahve-Saebaoth, Jahve verschwiegen) sich sprechend unterscheiden, und wie immer große Wechsel und Umschwünge der Geschichte auch in den alltäglichen Worten und Namen die Spur ihres Gepräges zurücklassen. So nun reicht der Volksname Hebräer noch mehr als der Gottesname Jahve bis in die ältesten Zeiten hinauf, und das Volk sah in ihm nichts geringeres als seinen eigenen Ursprung, nannte ebendeshalb seinen lezten Stammvater ‛Eber“ (A. a. O., 335 f.). 233 „Sie [sc. die Sage] faßt die Einheit eines bestimmten Volkes als dunklen Anfang gedacht unter dem Begriffe eines Stammvaters auf, den sie in Ermangelung eines von alther überlieferten Namens nach dem Volke oder Lande selbst benennt, wie ‛Eber Gen. 10,24 der Stammvater der Hebräer, Edom oder Esau der der Idumäer [Edomiter, Anm. M. G.], Kanáan der aller phönikischen Völkerschaften wird“ (A. a. O., 53).
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stalten, sondern historische Persönlichkeiten sieht, wird auch bei seinen Ausführungen zu den drei Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob deutlich. Sie gelten ihm als „erhabene Vorbilder des Lebens“ und „Werkzeuge des göttlichen Segens für unabsehbare Zeiten“234. Er würdigt sie als „Haupthelden“235 der hebräischen Geschichte. Mit ihnen werde die Geschichte des Volkes unlösbar mit der Geschichte des heiligen Landes verknüpft.236 Und Ewald konstruiert um die Erzväter eine Art Heldenkreis mit Abraham, Isaak und Jakob als den „Vätern dieses vorbildlichen Hauses und seine hervorragendsten Gestalten“237; Sara als „Vorbild der Hausmutter“, Hagar als Nebenfrau; Isaak als „Vorbild des Kindes“; Rebekka als „Vorbild der rechten Verlobung und Ehe“238 – und so weiter und so fort. Diesem Heldenkreis haften ungeschichtliche Momente an. Doch Ewald zufolge bleiben die biblischen Erzählungen hier nicht im Sagenhaften verhaftet, sondern beinhalten historische Überlieferungen, mit deren Hilfe sich ein überzeugendes Bild der damaligen Zeit rekonstruieren lasse.239 Zur Vorbildfunktion der einzelnen Helden dieses Sagenkreises erläutert Ewald: „Auf diese Art können wir im Ganzen noch sehr sicher übersehen, wie der Kreis dieser Vorbilder volksthümlichen Lebens war und wie fest er sich schloß.“240 Dies veranlaßt ihn zu einer von ihm als historisch bezeichneten ausführlichen Darstellung des „wirklichen Lebens“241 der drei Erzväter.242 Und so zeichnet er von Abraham das Bild eines mächtigen, hebräischen Nomadenfürsten. Als Anführer einer kriegerischen Schar durchstreifte er mit seiner Gefolgschaft Palästina und Ägypten. Abraham habe ein frommes, von zahlreichen Bewährungen und Prüfungen geprägtes Leben geführt und entsprechend der damaligen Religiosität an der Verehrung seines einen Hausgottes festgehalten.243 Ewald versteht 234
A. a. O., 349.
235 A. a. O., 341. 236 „Abraham Isaaq
Jaqob-Israel sind nach dem echten Volksbewusstseyn allein die drei großen Namen der Anfänger und Vorbilder des kanáanäisch Volkes […]. Im ganzen Zusammenhange aber der alten Sage scheidet sich ihr Gebiet von dem vorigen dadurch, dass sie erst den heiligen Boden betreten und so mit ihnen erst die Erzählung ihre rechte mosaische Ausdehnung und Wärme empfängt; von dem folgenden aber dadurch, dass sogar Josef bereits in die Stufe des den Spätern gewöhlichen Lebens herabfällt, während jene drei alle auf der höhern Stufe des noch wenig geschwächten Heldenlebens stehen bleiben.“ (A. a. O., 338 f.) 237 A. a. O., 341, Hervorhebung im Original. 238 Vgl. a. a. O., 341–345. 239 „[W]ill man […] nicht Dunkelheit sehen für Licht, so muss man gestehen dass die Sage zur Zeit der Hauptschriftsteller wenigstens im Grossen und Ganzen noch einige klare Erinnerungen über Leben und Aufenthalt aller drei Erzväter als auch der einzelnen im Unterschiede von einander bewahrt hatte.“ (A. a. O., 360) 240 A. a. O., 345. 241 A. a. O., 354. 242 Vgl. a. a. O., 353–409. 243 „[D]a der Mensch in dém Augenblicke wo er wirklich das Göttliche ursprünglich empfindet es nur wie éine große Kraft und lebendige Person seiner eigenen Einheit gegenüber empfindet und dann diesen Gott den er einmal thatkräftig erkannt hat als seinen Gott festhalten wird, oder ihn doch als einen besondern Hausgott leicht für sich festhalten und über
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Abraham und die übrigen Erzväter, in Übereinstimmung mit der späteren mosaischen Religion, als Monotheisten – unbeeindruckt davon, daß für dieses religiöse Phänomen allgemein der Begriff ‚Monolatrie‘ verwendet wird, den man gemeinhin auf Schleiermacher zurückführt.244 Ewalds Verständnis des ‚Helden‘ Abraham als einer besonderen historischen Persönlichkeit folgt einem Schema, das er nicht nur in der hebräischen Ur- und Vorgeschichte des Volkes Israel verwendet, sondern das auch seine Darstellung der israelitischen und jüdischen Geschichte im eigentlichen Sinne prägt: Während der Zeit der sukzessiven Landnahme durch die hebräischen Stämme bezeichne „Abraham“ zwar „nur eine der bedeutendsten und ältesten dieser hebräischen Einwanderungen“245. Aber er repräsentiere in besonderer Weise das Phänomen der Landnahme des Volkes Israel. Wie gezeigt stehen für Ewald die in den biblischen Erzählungen dargestellten Ereignisse in ihrer Historizität unerschütterlich fest. Dies belegen ihm gerade auch die überlieferten Berichte von den großen Persönlichkeiten, die die verschiedenen Epochen je auf ihre besondere Weise geprägt hätten. Jede Zeit bringe ihre Helden hervor. Unter diesen kommt Ewald zufolge den zwölf Stämmen Israels246 – die auf die zwölf Söhne alle etwa von andern verehrte erheben kann. Und in diesem Sinne konnte jeder der 3 Erzväter desto leichter éinen Gott festhalten je mehr ihre Herrschaft noch die rein häusliche war, ihr Gott also wesentlich ein einzelner Hausgott blieb; und das sie diesen einen Gott mit strengerer Sittlichkeit und im Gegensaze zu niedern Vorstellungen auffassten, dafür bürgt ihr ganzes ausßerordentliches Leben als Anfänger und Gründer einer neuen Zeit worauf die Spätern mit Erhebung zurückblickten“ (A. a. O., 371). 244 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Zweite Auflage (1830 / 31) 1, hg. v. Rolf Schäfer (KGA 1.13.1), Berlin / New York 2003. Dort heißt es in den Erläuterungen zu § 8 zum Monotheismus als höchster Stufe des Abhängigkeitsgefühls von einem Höchsten und Unendlichen: „Als […] untergeordnete Stufen sezen wir im allgemeinen den eigentlichen Gözendienst, auch Fetischismus genannt, und die Vielgötterei; jener wiederum steht tief unter dieser. Der Gözendiener kann sehr füglich nur Ein Idol haben, ohne daß diese Monolatrie irgend eine Aehnlichkeit hätte mit dem Monotheismus; denn er schreibt dem Gözen nur einen Einfluß auf ein beschränktes Gebiet von Gegenständen oder Veränderungen zu, über welches hinaus sein eigenes Interesse und Mitgefühl sich nicht erstrekkt. Das Hinzunehmen mehrerer Idole ist nur etwas zufälliges, gewöhnlich auf der Erfahrung von einer Unfähigkeit des ursprünglichen beruhend, wobei aber gar nichts vollständiges angestrebt wird. Vielmehr beruht das Stillstehn auf dieser Stufe vornähmlich darauf, daß der Sinn für die eine Totalität noch nicht entwikkelt ist.“ (A. a. O., 65) In der ersten Auflage findet sich dazu lediglich eine Anmerkung, vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821 / 22) 3. Marginalien und Anhang, unter Verwendung vorbereitender Arbeiten von Hayo Gerdes und Hermann Peiter hg. v. Ulrich Barth (KGA 1.7.3), Berlin / New York 1984, 47: „Gözendienst kann auch Monolatrie sein.“ 245 Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 1, 364. 246 „Müssen wir […] in dieser Eintheilung [des Volkes Israel in zwölf Stämme, Anm. M. G.] eine unter den Hebräern im weitern Sinne des Wortes schon vor der Entstehung eines Volkes Israel feststehende Sitte erkennen, welche durch uralten Gebrauch heilig sich bei jedem hebräischen Volke viele Jahrhunderte lang unveränderlich erhielt und bei dem einzelnen Volke dann sogar sich tiefer bis in die Bestimmung der Aeste jedes Stammes fortzog: so wer-
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Jakobs mit dem bereits erwähnten Juda an der Spitze zurückgingen – eine besondere Bedeutung zu: „Zwar versteht sich leicht, dass mitten im Volksleben das Bedürfniss solcher Vorbilder in jeder Zeit nach ihren neuen geistigen Richtungen sich wiederholen konnte, wiedenn die spätern Zeiten für die prophetischen Fähigkeiten Mosen, für das Naziräerthum den Simson, für die Leitung und Beherrschung des Volkes in verschiedenem Sinne Josef[,] Josua und David, für das lyrische Lied David und für die Kunstdichtung Salomonen zum Vorbilde erheben. […] Aber bei alle dem blieb der Kreis jener 12 Vorbilder in den Jahrhunderten von Mose an während der schönsten Zeiten des alten Volkes in einziger Würde stehen, sodass kein anderes Vorbild sich mit gleich hohem und gleich allgemeinem Ansehen in ihn drängen konnte.“247 Diese Ausführungen erinnern geradezu an den Seelenton Herders, der seine bekannten Darstellungen durchzieht – welcher seine Gewißheit zum Ausdruck bringt, in der Berührung mit diesen Texten unmittelbar die alte orientalische Welt vor sich zu haben. Jedenfalls zeugen Ewalds Darlegungen von einer tiefen emotionalen Anhänglichkeit an das Alte Testament. Ohne hier weiter auf die genannten Namen und ihre Spezifika einzugehen, kann doch festgehalten werden, daß Ewald die alttestamentlichen Überlieferungen eng mit dem Wirken großer Persönlichkeiten verknüpft sieht und diese seiner Meinung nach pars pro toto jeweilige Epochen repräsentieren und in besonders ausgezeichneter Weise ihr Bewußtsein zum Ausdruck bringen. In einem Zirkelschluß bestätigen die biblischen Erzählungen die Existenz dieser besonderen Persönlichkeiten, so wie die großen Persönlichkeiten die Historizität der berichteten Ereignisse verbürgen. Ohne die hinreichende Würdigung der durch die Namen repräsentierten Helden und ihres Wirkens ist für Ewald eine Darstellung der Geschichte Israels nicht denkbar. Diese Forschungen Heinrich Ewalds bewegen sich in einer atmosphärischen Lage zwischen aufgeklärtem Geniebegriff248 und Thomas Carlyle (1795–1881), dessen Vorlesungen aus dem Jahr 1840 ‚On Heroes and Hero Worship and the Heroic in History‘ weithin Beachtung fanden.249 Erinnert sei auch an Schleiden wir auch für eine so gleichmäßig bleibende große Erscheinung eine hinreichende Ursache zu suchen aufgefordert. Diese nun kann kaum in etwas anderem gesucht werden als in der Art des Stimmens in der Gemeine und des Heereszuges im Lager und im Kriege: für beides ist eine bestimmte Ordnung nothwendig, und wie für das ganze Volk so konnte für jeden einzelnen Stamm zur Besorgung seiner eigenen Angelegenheiten eine solche Ordnung nothwendig seyn.“ (A. a. O., 419) 247 A. a. O., 347. 248 Vgl. dazu Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945 1. Von der Aufklärung bis zum Idealismus und 2. Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs, Darmstadt 1985. 249 Zu Carlyle vgl. Fred Kaplan, Thomas Carlyle. A Biography, Cambridge / London / New York / New Rochelle / Melbourne / Sydney 1983. Wellhausen schätzte besonders das noch immer unüberholte Werk von James Anthony Froude, Thomas Carlyle. A History of His Life in London. 1834–1881, New York 1884. Vgl. auch James Anthony Froude, Thomas Carlyle. A History of the First Forty Years of His Life. 1795–1835, New York 1882. Eine
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ermachers Rede von den großen Männern.250 Für Ewald ist dabei die Nähe der beiden Kategorien ‚Name‘ und ‚Heros‘ bedeutsam, die sich auch schon in der altgriechischen Geschichtsschreibung findet – exemplarisch im homerischen Epos.251 Die Verbindung beider Kategorien dient ihm zum Verständnis des Alten Testaments. Die Persönlichkeit des ‚Helden‘ ragt über das Normalmaß hinaus. Wichtig ist Ewald zudem, daß den Heroen per definitionem eine religiöse Bedeutung zukommt.252 Ihre Vorbildfunktion rückt sie in die Nähe Gottes bzw. der Götter, was Ewald dazu veranlaßt, den Helden- vom Gottesbegriff zu trennen: „[D]as Unterscheidende eines Helden im Gegensaze zu dem Gotte muss […] dieses seyn, dass der Gott für jedermann, der Held aber zunächst nur für eine seinem Wesen entsprechende besondere Art von Menschen das Vorbild wird, weil im Helden immernoch der einstige Mensch mit seinem eigenthümlich bestimmten Wesen gedacht wird; ein beschränkteres Vorbild war also vonanfangan mit dem Begriffe eines Helden gegeben.“253 Mit Blick auf die von ihm in ihrer Besonderheit gewürdigte Funktion der handelnden Akteure der biblischen Erzählungen ist ihm daran gelegen, auf ihr Leben und Wirken als Erste und Beste der gekürzte deutsche Übersetzung erschien ein paar Jahre darauf: James Anthony Froude, Das Leben Thomas Carlyles. Übersetzt, bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Thomas A. Fischer, 2 Bde., Gotha 1887. 250 Vgl. bes. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Rede am Geburtstage Friedrichs des Großen (24. Januar 1817), in: Ders., Akademievorträge, hg. v. Martin Rössler unter Mitwirkung von Lars Emersleben (KGA 1.11), Berlin / New York 2002, 239–250. Dort heißt es: „In einem Herrscher, soll ihm der Name eines großen Mannes gebühren, muß zweierlei sich vereinen. Er muß ausgezeichnet sein in seinem persönlichen Wesen, damit man fühlt, hätte er auch keinen Thron geziert, er werde doch mächtig gewürkt und gewaltet, vieles bewegt und beseelt und würdige Denkmäler seines Daseins zurückgelassen haben. Er muß aber auch ausgezeichnet sein durch königlichen Geist und Sinn: er muß das Leben seines Volkes in sich tragen, von dessen Bedürfnissen durchdrungen sein, dessen Bestrebungen und Neigungen in ihren Verhältnissen und Entwikklungen fühlen und theilen, dessen unentwikkelten Kräfte ahnden und zu befreien suchen, kurz nicht sowol der Schuzgeist seines Volkes muß er sein als vielmehr dessen lebendige Seele, in welcher von allem, was in der Erscheinung streitend sich zu beschränken und aufzuheben sucht, die verborgenste Einheit als Kraft sich bewegt.“ (A. a. O., 245) 251 Vgl. Friedrich Pfister, Art. Heroen, in: RGG2 2 (1928), 1831 f. 252 Zum Begriff des Helden im griechischen Altertum vgl. Samson Eitrem, Art. Heros, in: PRE 15 (1912), 1111–1145 und Fritz Graf, Art. Heroenkult, in: DNP 5 (1998), 476–480. Zum Verständnis des Helden im 19. Jahrhundert vgl. die von Thomas Carlyle 1840 gehaltenen und im englischen Original ein Jahr später erstmals publizierten Vorträge Über Helden, Heldenverehrung und das Heldentümliche in der Geschichte. Sechs Vorlesungen (Deutsche Bibliothek 15), Berlin 1912. Kaum verwunderlich, daß der Ewaldschüler Julius Wellhausen das Werk Carlyles sehr geschätzt hat. Rudolf Smend schreibt dazu: „Einen tiefen Eindruck machte ihm Thomas Carlyle; ich besitze noch das Exemplar von Helden und Heldenverehrung, das er 1897 meinem Vater [gemeint ist der renommierte Kirchen- und Staatsrechtler Rudolf Smend (1882–1975), Anm. M. G.] zum christlichen Fest der Konfirmation überreichte.“ (Smend, Julius Wellhausen, 51) 253 Ewald, Geschichte des Volkes Israel bis Christus 1, 340.
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Menschen in einem konkreten Umfeld zu verweisen, was für ihn heißt, daß der im Begriff des Helden mitschwingende Aspekt der kultischen Verehrung für das Verständnis der Helden der biblischen Erzählungen zu vernachlässigen ist. Vorbilder waren sie seiner Meinung nach auf religiösem Gebiet gerade als gottesfürchtige Persönlichkeiten, man denke nur an Abraham, Mose, David und die späteren großen Prophetengestalten. Kennzeichnend für Ewalds Darstellung der Heldengestalten des Alten Testaments ist ihre besondere Gottesbeziehung. Das Charakteristische ihrer Religiosität sieht er in einer unter allem bloß äußerlichen Behaupten und Bekennen verborgenen Innerlichkeit gegeben. Ihre Überzeugungen und ihre Handlungen stimmen überein. Den Helden zeichne aus, daß er seine eigenen Gewißheiten habitualisiert habe und diese sein Verhältnis zu den Menschen und zu Gott bestimmten. Sein Agieren gewänne dadurch eine besondere Lebendigkeit und Überzeugungskraft. Daher sind die großen Persönlichkeiten für Ewald immer auch Propheten. Sie sind einerseits besondere Repräsentanten einer jeden Epoche der Geschichte, stehen andererseits aber auch für den Wandel. Indem die immer auch prophetisch wirkenden Helden dadurch gekennzeichnet sind, daß sie mit besonderer Intensität das geistige Bewußtsein einer Zeit repräsentieren, handeln sie zugleich schöpferisch. Ihre Gefühle bestimmen ihre Taten – wobei Ewald davon ausgeht, daß erstere nicht völlig irrationaler Art sind. Dabei sind die Helden zwar Vorbilder für ihr Umfeld, stehen aber nicht abgehoben über diesem. Trotz der besonderen Verehrung, die für die Helden der alttestamentlichen Erzählungen kennzeichnend sei, erscheinen sie immer als Repräsentanten ihrer Nation, ihres Volks, ihres Geschlechts bzw. ihrer Familie. Und so führt Ewald zu letztgenannter als dem unmittelbaren und in der Vorgeschichte Israels zumeist alleinigen Kontext der Wirkung der Helden aus: „Da nun die Familie, zumal in dem weitern Sinne der patriarchalischen Welt, das nächste Gebiet der mannigfaltigen menschlichen Stellung und Beschäftigung ist […]: so kann es nicht auffallen dass ein wirklich volksthümlicher Held solcher Bedeutung nie ganz allein für sich, sondern immer als Glied eines vorbildlichen Hauses aufgefasst wurde und nur dadurch, dass er in diesem eine feste Stellung erhielt, sein bestimmteres Andenken nicht verlor.“254 Indem der Held seine ‚Familie‘ als Vorbild prägte und veränderte, schuf er Ewald zufolge zugleich die Bedingungen für die Bewahrung der Erinnerungen an seine Epoche. Gerade dies zeichne ihn aus und mache ihn zu einer großen Persönlichkeit. Ewald vertritt im Falle der Geschichte Israels die Meinung, daß trotz der den ‚Helden‘ der eigenen und vergangener Zeiten zukommenden Verehrung immer auch schlicht ihre Menschlichkeit festgehalten wurde. Sie sind nicht göttlicher Art, sondern haben für die Religion nur die Funktion der Erneuerung ihres Gottesverhältnisses und der damit einhergehenden Transformation des Gottes254 Ebd.
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gedankens – von Ewald als Prozeß der Vergeistigung beschrieben, der maßgeblich durch die großen Persönlichkeiten vorangetrieben wurde: „In diesem Mittelzustande zwischen dem lebendigen Gefühle ihres fortwirkenden Geistes und Vermeidung jeder eigentlichen Huldigung vor ihnen wurden […] diese geheiligten Vorbilder von der Macht und dem Geiste der höhern Religion immer völliger ergriffen, und diese schuf sie zu den schönen Gestalten um, welche nun ihrerseits wieder ihre beredtesten Dolmetscher geworden sind.“255 Ohne ‚Helden‘ und ihre Vorbildfunktion ist für Ewald die Entstehung und Bewahrung des Alten Testaments nicht denkbar. Sie repräsentieren und transformieren Religion.256 Das heißt konkret: Die Geschichte der Helden Israels beginnt für Ewald mit Adam und läuft auf Jesus Christus als Ziel zu. Aus der Perspektive der gegenwärtigen (Propheten-)Forschung zum Alten Testament ist die Leistung Heinrich Ewalds kaum noch zu verstehen und zu würdigen, mit dessen Name immerhin die Entdeckung der alttestamentlichen Prophetie als eines eigenständigen religiösen Phänomens verbunden wird – und wie gezeigt nicht ohne Grund. Große Persönlichkeiten als geschichtsmächtige Individuen haben ausgedient. Selbst bei den großen Prophetengestalten tritt angesichts der Fokussierung auf das Phänomen der Schriftlichkeit und dem daraus gefolgerten Phänomen der alttestamentlichen Schriftprophetie die Persönlichkeit des Propheten und seines Wirkens nahezu gänzlich in den Hintergrund.257 Bei den Prophetendeutungen eines Bernhard Duhm (1847–1928) und eines Gerhard von Rad (1901–1971) ist dies noch ganz anders gewesen – um nur 255
A. a. O., 348. In modifizierter Form werden Ewalds Überlegungen in der gegenwärtigen Forschung wieder aufgenommen. Jüngst hat Reinhard Gregor Kratz darauf aufmerksam gemacht, daß die hebräische Erzählung eine lokale Besonderheit darstellt. Parallelen seien nicht so sehr in den altorientalischen Göttermythen zu finden. Vielmehr „steht die hebräische Erzählkultur eher in der (nordwestsemitischen) Tradition der Heldenlegenden […] und hat sich auf die Verhältnisse in verschiedenen sozialen Milieus, in der Familie (Gen), im Stamm (Ri) oder am Königshof (Sam und Kön), konzentriert. Erst nachträglich wurden die Einzelerzählungen zu größeren Erzählzyklen und übergreifenden Geschichtsdarstellungen verbunden und im Zuge dessen zum Mythos der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel, d. h. zur heiligen Geschichte (historia sacra) umgestaltet“ (Historisches und biblisches Israel, 97, Hervorhebung im Original). 257 „Bekanntlich ist nicht das Phänomen der Prophetie eine Besonderheit der israelitischen Religionsgeschichte, sondern die Tatsache, dass es Prophetenbücher gibt, die in der erkennbaren Absicht zusammengestellt worden sind, einmal ergangene Worte nicht nur zu archivieren, sondern der Nachwelt als weiterhin gültig zu hinterlassen. Prophetie begegnet uns im Alten Testament ausschließlich als Schriftprophetie, und selbst die prophetischen Überlieferungen in den erzählenden Büchern (z. B. über Elija und Elischa) sind durch die Tradition vielfältig um- und neugestaltet worden, so dass es schwer ist, zum historischen ‚prophetischen‘ Urgestein selbst vorzustoßen.“ (Uwe Becker, Die Entstehung der Schriftprophetie, in: Rüdiger Lux / Ernst-Joachim Waschke [Hgg.], Die unwiderstehliche Wahrheit. Studien zur alttestamentlichen Prophetie. FS für Arndt Meinhold [ABG 23], Leipzig 2006, 3–20, 3, Hervorhebungen im Original. Vgl. auch ders., Die Wiederentdeckung des Prophetenbuches. Tendenzen und Aufgaben der gegenwärtigen Prophetenforschung, in: BThZ 21 [2004], 30–60.) 256
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zwei prominente Positionen herauszuheben.258 Auch wenn sie den Begriff des ‚Helden‘ vermeiden, so knüpfen ihre Entwürfe doch unmittelbar an Ewald an. Darauf soll abschließend kurz eingegangen werden. Für Duhm259 ist das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie gerade nicht durch ihre Schriftlichkeit gekennzeichnet. Hatte die ältere Forschung sie fälschlich als Gesetzgeber aufgefaßt, so grenzt er die Prophetenpersönlichkeiten zudem von ihrem Verständnis als Dogmatiker, Priester, Historiker, Schriftsteller und Dichter ab. All dies mögen die Propheten als besondere ‚Individualitäten‘ auch sein.260 Duhm geht es jedoch zunächst und zuvorderst darum, die „Person des Propheten selbst in den Vordergrund zu stellen“261. Das heißt für ihn nicht nur die verschiedenen Prophetengestalten typologisch voneinander abzugrenzen – man denke nur an einen Amos, Jesaja oder Ezechiel, die je auf ihre Weise ganz unterschiedliche Verkörperungen alttestamentlicher Prophetie repräsentieren. Sondern Duhm geht es darüber hinaus um das Charakteristische und Spezifische der Religion des Alten Testaments, das er im Auftreten großer 258 Erinnert sei zudem an Ernst Troeltsch, Glaubenslehre. Nach den Heidelberger Vorlesungen aus den Jahren 1911 und 1912, München / Leipzig 1925, insbesondere § 7, der der religiösen Bedeutung des israelitischen Prophetismus gewidmet ist und ders., Das Ethos der hebräischen Propheten, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 6 (1916), 1–28. 259 Zu Duhm vgl. Rudolf Smend, Bernhard Duhm, in: Ders., Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, 114–128. Schon früh während seines Studiums entdeckte Duhm seine Liebe zum Alten Testament; er hörte sowohl bei Ewald als auch bei Wellhausen: „Als erstes theologisches Buch kaufte er beim Antiquar Ewalds ‚Propheten‘, und bevor Ewald die Erlaubnis entzogen wurde, Vorlesungen zu halten, hörte er noch die letzten beiden: Pentateuch im Winter 1867, Hiob und salomonische Schriften im Sommer 1868. Ein älterer Freund nahm ihn auch in Ewalds gefürchtete arabische und syrische Übungen mit, von denen er aber, weil er krank wurde, nicht mehr viel hatte. Im Lebenslauf von 1871 nennt er diesen Freund nicht mit Namen, charakterisiert ihn aber als ‚tam ingenuus quam ingeniosus‘ und sagt, er betrachte den Umgang mit ihm als ein großes Glück; er habe davon viel Gewinn und Vergnügen gehabt. Es kann kaum einen Zweifel geben, daß es sich um Julius Wellhausen handelt, der damals Repetent am Theologischen Stift war. Er hielt im Wintersemester 1869 / 70 seine erste alttestamentliche Vorlesung, über ‚einige kleine Propheten‘. Duhm hat sie gehört und dort gewiß mehr als irgendwo sonst von den ‚kritischen Fragen, beide Testamente betreffend‘ erfahren, die ihn nach Ausweis des Lebenslaufs während seines Studiums mit Vorrang beschäftigten.“ (A. a. O., 116) 260 „Wären die Propheten Dogmatiker, so stände ihre Person hinter ihrem Werk vollständig zurück; wären sie Priester und beschrieben als solche den Cultus, wären sie Historiker oder wären sie Gesetzgeber, so würde der objective Stoff, mit dem sie sich beschäftigen, sie gänzlich in den Hintergrund drängen. Wären sie religiöse Schriftsteller oder Dichter, die ihre subjective Erfassung der Religion zum Ausdruck bringen und aus der sittlichen Erfahrung und Ueberzeugung heraus reden, so würden zwar ihre Persönlichkeiten und ihre Schriften so innig mit einander verbunden sein, dass man sich nicht mit dem Einen befassen könnte, ohne das Andere ganz und voll mit zu übernehmen; aber sie würden selbst ihrer Individualität als solcher kein Gewicht und keine Autorität beilegen und uns nicht verpflichten, ihre Person als selbständige Grösse in der Religion an erster Stelle zu behandeln.“ (Bernhard Duhm, Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion dargestellt, Bonn 1875, 73 f.) 261 A. a. O., 73.
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Persönlichkeiten erblickt. Letztere stehen nicht nur in besonderer Weise für das Bewußtsein der Zeit ihrer Wirksamkeit, sondern ihrem Handeln ist immer auch Prägekraft für die Zukunft eigen. Sie sind es letztlich, die den Fortschritt und Wandel im religiösen Bewußtsein zuwege bringen.262 Die Schriften des Alten Testaments, insbesondere die prophetischen Texte, können seiner Meinung nach nicht richtig verstanden werden, wenn nicht das Hauptaugenmerk auf das Wirken großer, geschichtsmächtiger Persönlichkeiten gelegt werde: „Wird einmal anerkannt, dass die Persönlichkeit als solche epochemachend sein kann, so wäre es unberechtigt, die Person Gottes, die ein persönliches Interesse an der Welt hat, in den Hintergrund zu drängen, statt ihr vielmehr die Bildung der Persönlichkeiten und der persönlichen Momente in der Entwicklung zuzuschreiben.“263 Im Hinblick auf die Interpretation der alttestamentlichen Texte und Textkorpora leitet Duhm daraus ab, daß das schöpferische Moment des Handelns dieser herausragenden Individuen in der Aufnahme und Umwandlungen altehrwürdig überlieferter Traditionen zu sehen ist: „Bei den meisten geschichtlichen Persönlichkeiten lässt sich nachweisen, dass die Stoffe, die sie in Bewegung setzten, schon vor ihnen da waren. Nur die eigenthümliche Verbindung und Nuancirung, welche dieselben bei ihnen erfahren und durch welche sie einen neuen Lebensgeist empfangen, ist das Neue und Schöpferische.“264 Bernhard Duhm, der gemeinhin als einer der ersten Vertreter der Wellhausenschule gilt, ist mit seiner Hervorhebung der Bedeutung der großen Persönlichkeiten des Alten Testaments auch als ein genuiner Schüler Ewalds zu würdigen.265 262 Duhm spricht von der „Nothwendigkeit, bei wirklichen Fortschritten in der Religion eine providentielle Führung anzunehmen“ (A. a. O., 89, Hervorhebung im Original). 263 Ebd. 264 A. a. O., 89 . 2 265 Dazu paßt, daß Wellhausen – trotz aller Sympathie für das Buch – in einer Rezension der ‚Theologie der Propheten‘ kritisch anmerkt: „Duhm hat die Bedeutung der Propheten gewaltig übertrieben. Neben ihnen und vor ihnen bestanden die Priester, und sie waren nie bloße Opferer, sondern von jeher war ‚die Weisung‘ zunächst des Rechtes und dann des Rechten ihre Hauptaufgabe, die Thora pflanzte sich mündlich in ihrem Stande fort. Ihr stetiges, auf ein Institut begründetes Wirken war gewiß ein Grund von viel bedeutenderem, nachhaltigerem Einfluß auf das Volk, als das abrupte Wort der Propheten, das doch häufig als schroffe Kritik der bestehenden Institutionen verwirrend wirken mußte und unverstanden blieb. Man darf wohl behaupten, daß die stille Arbeit der Priester, von der wir z. B. in Exod. 21–23 ein sehr altes Document besitzen, den Propheten das Fundament bereitet hat, wovon sie ausgehen konnten. Es soll nicht geleugnet werden, daß dann auch umgekehrt das Wort der Propheten umbildend auf die Thora der Priester eingewirkt hat; jedenfalls beruht das schriftliche Gesetz des Pentateuchs zunächst nicht auf dem Worte der Propheten, sondern auf der ‚Weisung‘ der Priester“. (Julius Wellhausen, Rez.: Bernhard Duhm, Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion dargestellt, Bonn 1875, in: JDTh 21 [1876], 152–158, 157) – Schon in den erstmals zwei Jahre später erschienenen ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘ hat Wellhausen die Dinge ähnlich wie Duhm gesehen und sich scharf gegen das priesterliche Gesetz und seine Verfasser ausgesprochen. Was hier in den Gegensatz von Priester und Prophet gebracht wird, wird später zu einer internen Differenzierung in der
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Und auch Gerhard von Rad266 – dessen zweiter Band seiner wirkmächtigen ‚Theologie des Alten Testaments‘ den Propheten gewidmet ist – knüpft unmittelbar an die Ewaldsche Prophetendeutung an. So erklärt er im Vorwort als Ziel seiner Darstellung, die „Prophetie als ein religiöses Phänomen sui generis“267 verständlich machen zu wollen, als welches sie erst im 19. Jahrhundert entdeckt worden sei. Und weiter heißt es: „Diese Entdeckung der Prophetie ist für alle Zeiten mit den Namen H. Ewalds, J. Wellhausens und B. Duhms verknüpft.“268 Auch wenn von Rad gegenüber diesen Forschern kritisch anmerkt, daß sie die individuellen Eigentümlichkeiten der Propheten des Alten Testaments überschätzt hätten, so hält er doch im Anschluß an sie fest, daß „die Prophetie“ nicht „vom Ereignishaften“269 abgelöst werden dürfe. Das heißt für von Rad, daß gegenüber jeglichen Versuchen ihrer Idealisierung270 daran festgehalten werden muß, „die Propheten an ihrem jeweiligen Ort in der Geschichte zu sehen“271. Diese Aussagen sind nur vor dem Hintergrund des von Radschen heilsgeschichtlichen Konzepts von Verheißung und Erfüllung als den leitenden Paradigmen seiner Theologie zu verstehen, welches explizit gegen eine von ihm als bloß genetisch gewertete Geschichtsbetrachtung und gegen die Annahme religiöser Entwicklungsstufen gerichtet ist.272 Doch zum Prophetenverständnis von Rads bleibt festzuhalten, daß gerade auch im Rahmen seines Theologieverständnisses den großen prophetischen Persönlichkeiten eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Der Ursprung dieser Propheteninterpretation ist wie bei Duhm in den Forschungen Heinrich Ewalds zu suchen.
alttestamentlichen Prophetie – einerseits wird ein Amos als große schöpferische Figur herausgestellt, andererseits einem Ezechiel kaum Wertschätzung entgegengebracht. 266 Zu von Rad vgl. Rudolf Smend, Gerhard von Rad, in: Ders., Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, 226–254 und die Beiträge in: Irmtraud Fischer / Konrad Schmid / Hugh Godfrey Maturin Williamson (Hgg.), Prophetie in Israel. Beiträge des Symposiums „Das Alte Testament und die Kultur der Moderne“ anlässlich des 100. Geburtstags Gerhard von Rads (1901–1971). Heidelberg, 18.–21. Oktober 2001 (ATM 11), Münster 2003. 267 Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testamemts II. Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels (EETh 1), München 31962, 17. 268 Ebd. 269 A. a. O., 47. 270 Dieser Vorwurf richtet sich insbesondere gegen Duhm, dem ‚Psychologismus‘, ‚Personalismus‘ und ‚Idealismus‘ vorgeworfen wird. Vgl. a. a. O., 18. 271 Ebd. 272 Vgl. dazu das Vorwort, a. a. O., 5–13, bes. 13.
Kapitel IV
Karl Heinrich Graf – Die Wende zur redaktionsgeschichtlichen Fragestellung 1. Werkbiographische Skizze Karl Heinrich Graf (1815–1869) zeichnet sich durch eine streng fachwissenschaftlich ausgerichtete, in Ansätzen religionsgeschichtlich orientierte Quellenkritik aus. Heute würde man von einer redaktionsgeschichtlichen Fragestellung sprechen. Auch wenn in der gegenwärtigen alttestamentlichen Exegese die Herausbildung dieser Fragestellung zumeist in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts verortet wird, so soll doch gezeigt werden, daß Grafs Forschungen am Besten unter diesen Begriff zu subsumieren sind.1 Mit Graf wenden wir uns einem Forscher zu, dessen Werk in seiner Bedeutung in der kritischen Bibelforschung seit jeher hohe Achtung genießt. Zusammen mit Abraham Kuenen und Julius Wellhausen wird er zu den Begründern der lange Zeit die alttestamentliche Forschung bestimmenden sogenannten ‚neueren‘ Urkundenhypothese gezählt: „Sie wird nach ihren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkenden Begründern auch als Graf-Kuenen-Wellhausensche Hypothese bezeichnet. Da Julius Wellhausen ihr in der Folge wirksamster Vertreter gewesen ist, wird sie heute weithin mit seinem Namen verbunden.“2 Diese hier nach Otto Kaiser zitierte Bezeichnung der Hypothese – von der die gegenwärtige Forschung des Alten Testaments anknüpfend oder widersprechend ausgehe – hat sich als Allgemeingut der Einleitungsliteratur durchgesetzt, insofern diese überhaupt auf die Forschungsgeschichte rekurriert. Bisweilen wird sie auch als Reuß-GrafKuenen-Wellhausensche Theorie bezeichnet, um auch dem Lehrer Grafs und seiner Bedeutung gerecht zu werden.3 Während auf Reuß im Rahmen der vor1 Dies wird teilweise auch so gesehen. So heißt es in einem kurzen Abriß zur Geschichte der Redaktionsgeschichte bei Uwe Becker, freilich ohne Hinweis auf Graf: „[D]ie mit diesem Begriff bezeichnete Sache [ist, Anm. M. G.] sehr viel älter. Bereits in der frühen Pentateuchforschung war man sich der Tatsache bewußt, daß die alten Quellen – Jahwist (J), Elohist (E), Deuteronomium (D) und Priesterschrift (P) – nur durch redaktionelle Vorgänge verknüpft worden sein können“ (Becker, Exegese des Alten Testaments, 84, Hervorhebungen im Original). 2 Otto Kaiser, Pentateuch und Deuteronomistisches Geschichtswerk, in: Ders., Studien zur Literaturgeschichte des Alten Testamentes (FzB 90), Würzburg 2000, 70–133, 73, Hervorhebung im Original. 3 Vgl. nur Erich Zenger, Die Bücher der Tora / des Pentateuch, in: Ders. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament (KStTh 1.1), Stuttgart / Berlin / Köln 31998, 66–176, der zur Da-
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Kapitel IV: Karl Heinrich Graf
liegenden Arbeit nicht ausführlicher eingegangen werden kann,4 was aufgrund seines zumeist allein in der Vermittlung durch Graf wirkenden Einfluß auf die alttestamentliche Forschung begründet liegt,5 sind die beiden anderen Forscher eingehender zu würdigen. Kuenen folgt in einem späteren Kapitel. Im Folgenden geht es zunächst um Graf und die ‚neuere‘ Urkundenhypothese, die sich natürlich von einer ‚älteren‘ abgrenzt.6 Graf7 studierte in Straßburg und wurde dort vor allem durch den erwähnten Eduard Reuß (1804–1891) gefördert und geprägt. „Auf Reuß’ Anregung gehen allein schon alle Arbeitsgebiete, auf denen sich Graf später wissenschaftlich betätigt hat, zurück. Am deutlichsten und bekanntesten ist das bezüglich der alttestamentlichen Wissenschaft, besonders der Pentateuchkritik.“8 Nach dem Studium, einer Tätigkeit als Hauslehrer und einer Anstellung in einer Privattierung der Quellen und Überlieferungen des Pentateuchs folgendes festhält: „In Aufnahme entsprechender Arbeiten von Eduard Reuß (1804–1891), Karl Heinrich Graf (1815–1869) und Abraham Kuenen (1828–1891) setzte Julius Wellhausen ab 1876 mit seinen bahnbrechenden Arbeiten ‚Die Composition des Hexateuchs‘ und ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘ die wohl wichtigste Revision im damals gültigen Bild der Religions- und Literaturgeschichte Israels durch. Während bis dahin die mit Gen 1 beginnende ‚Elohim-Quelle‘ und die in ihr entworfene priesterliche Kult-Ordnung vom Sinai als die älteste (nach manchen immer noch ‚mosaische‘) Überlieferung galt, wies Wellhausen durch den Vergleich dieser kultgesetzlichen Regelungen insbesondere mit den Schriftpropheten, aber auch mit dem Deuteronomium nach, daß die von ihm Q (= liber quattuor foederum = Buch der vier Bundesschlüsse) genannte Priesterschrift die jüngste Pentateuchquelle sei und in jedem Fall jünger sein müsse als die Prophetie (,lex post prophetas‘ = das ‚mosaische‘ Kultgesetz müsse jünger sein als die Propheten, da es in diesen noch nicht erkennbar sei).“ (A. a. O., 107 f., Hervorhebungen im Original) De facto findet sich die These ‚lex post prophetas‘ auch schon bei Vatke und George. 4 Vgl. zu ihm Jean Marcel Vincent, Leben und Werk des frühen Eduard Reuss. Ein Beitrag zu den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen der Bibelkritik im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts (BEvTh 106), München 1990. 5 Schon Wellhausen sah Reuß’ Bedeutung kritisch, wie aus einem Brief aus dem Frühjahr 1905 an Bernhard Stade hervorgeht – bei der freilich ob ihrer bewußten Zuspitzung in Rechnung zu stellen ist, daß es sich um eine briefliche Äußerung und keine öffentliche Stellungnahme handelt: „Es ist System darin, daß man ihn [sc. Reuß] als den eigentl. Stifter der Grafschen Hypothese betrachtet, weil er der Lehrer Grafs war. Er mag ein prächtiger Mensch gewesen sein; seine wissensch. Bedeutung ist gering und sein blühender Stil abscheulich.“ (Wellhausen, Briefe, 447 f.) 6 Dabei kann die in der Forschung umstrittene Frage, ob die ‚neuere‘ Urkundenhypothese mehr dem einen oder anderen der beiden Alttestamentler verdanke, auf sich beruhen bleiben. Eine Entscheidung im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand ist nicht von Bedeutung. Während beispielsweise James Alfred Loader herausstellt, daß nicht Grafs, sondern „Kuenen’s contribution to our knowledge of the priestly portions of the Pentateuch was epochmaking“ (The Exilic Period in Abraham Kuenen’s Account of Israelite Religion, in: ZAW 96 [1984], 3–23, 22) macht Willem Sterrenberg Prinsloo demgegenüber die Bezeichnung als „Graf – Kuenen – Wellhausen hypothesis“ (Response to J. A. Loader, „The Exilic Period in Abraham Kuenen’s Account of Israelite Religion“, in: ZAW 98 [1986], 267–271, 270) stark. 7 Vgl. zu Graf die Leipziger Habilitationsschrift aus dem Jahr 1970 von Joachim Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament. Studien zu einer wissenschaftlichen Biographie (BZAW 425), Berlin / New York 2011, die Uwe Becker erstmals herausgegeben hat. 8 A. a. O., 15.
1. Werkbiographische Skizze
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schule in der Nähe von Leipzig wurde Graf 1846 vor allem als Französischlehrer an die kurfürstlich-sächsische Landesschule nach Meißen berufen.9 Die zeit seines Lebens angestrebte akademische Wirksamkeit blieb ihm verwehrt. Zurückgeführt wird dies auf seinen Beruf als Lehrer, der dazu führte, daß er in zu großer Zurückgezogenheit von der Universität lebte. Zudem kam als einflußreicher Fürsprecher „nur Reuß ernsthaft in Betracht, und dessen Einfluß allein konnte an deutschen Universitäten nicht ausreichen. Im Hinblick auf die Besetzungspolitik an den Fakultäten war es darüber hinaus wenig günstig, daß sich Graf konsequent der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments verschrieben hatte“10. So blieben alle dahingehenden Hoffnungen unerfüllt. Trotz dieser seine Wirkung nicht gerade begünstigenden Umstände sind seine Forschungen in der alttestamentlichen Wissenschaft nicht unbekannt geblieben. Dem Urteil Joachim Conrads zufolge hat Graf vielmehr sogar „durch seine bahnbrechenden Studien zur Pentateuchkritik im 19. Jahrhundert wesentlich zur Etablierung der mit Julius Wellhausen verbundenen ‚Neueren Urkundenhypothese‘ beigetragen. Von seinem Lehrer Eduard Reuß in Straßburg angeregt, hat er der bis heute unangefochtenen Spätdatierung der priesterlichen Gesetze im Pentateuch zum Durchbruch verholfen und damit den Grund für ein neues Bild von der altisraelitischen Kultgeschichte gelegt“11. Diese Aussage ist natürlich nur vor dem Hintergrund der Forschungsdebatten in der alttestamentlichen Wissenschaft der 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Ihre allgemeine Gültigkeit bezüglich der Geltung der neueren Urkundenhypothese hat sie mittlerweile verloren. Auch ob Graf als Bahnbrecher in der Pentateuchkritik bezeichnet werden kann, mag zunächst dahingestellt bleiben. Für Wellhausen war er es letztlich nicht. Aus der 1883 erschienenen zweiten Auflage seiner ‚Prolegomena‘ ist zwar zu erfahren, daß Wellhausen im Jahr 1867 durch Albrecht Ritschl12 auf Grafs Umstellung der gesetzlichen und prophetischen Schriften des Alten Testaments aufmerksam gemacht wurde. (Vgl. PzGI2 4) Aber schon aus Wellhausens Formulierung, daß er, „beinah ohne noch die Begründung seiner Hypothese zu kennen […] für sie gewonnen“ (PzGI1 4) war, wird eine Relativierung der Bedeutung Grafs vernehmbar.13 Umgekehrt 9 Vgl. zu den Lebensumständen die sehr ausführliche Darstellung bei Conrad, a. a. O., 15–71. 10 A. a. O., 69. 11 A. a. O., V. 12 Ritschl und Wellhausen dürften sich seit den Anfängen der Lehrtätigkeit des ersteren als Professor in Göttingen im Jahr 1864 kennen. Bereits im Jahr des Wechsels veranstaltete Ritschl bei sich zu Hause eine regelmäßig stattfindende ‚Societät‘, an der auch Wellhausen teilnahm. Vgl. Otto Ritschl, Albrecht Ritschls Leben 2. 1864–1889, Freiburg / Leipzig 1896, bes. 10. 13 Für Wellhausen waren de Wette, Vatke und George die wichtigeren Forscher für die Begründung dieser Hypothese. (Vgl. PzGI1 4).
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Kapitel IV: Karl Heinrich Graf
ist die Entstehung der neueren Urkundenhypothese aber ohne Graf auch nicht denkbar. Grafs Ruhm gründet sich auf einige wenige Publikationen. Er hat nicht viel veröffentlicht. Möglicherweise hemmte das fehlende universitäre Umfeld seine literarische Produktivität. Georg Beer macht aber auch geltend, daß nur in dieser Abgeschiedenheit seine epochalen Forschungen zur Bibelkritik entstehen konnten: „Abseits von dem Markt des akademischen Lebens, unbehindert durch das störende Dreinreden der Kollegen, reifte in G[raf], in der Stille Meißens, neben anderen literarischen Unternehmungen jene Hauptarbeit, ‚Die geschichtlichen Bücher des AT‘, der zwar äußerlich der zünftige Schliff fehlt und ein Teil Verbitterung über sein Schicksal anhaftet, die aber den Namen Grafs zu einem der angesehensten in der alttestamentlichen modernen Wissenschaft gemacht und den Ruhm der von Straßburg durch Reuß erneuerten Bibelwissenschaft, insbesondere des AT, über ganz Deutschland und Europa, ja über den ganzen Erdball getragen hat.“14 Bei der aus zwei Abhandlungen – die erste ist den sogenannten geschichtlichen Büchern von Genesis bis Könige gewidmet, die zweite der Chronik – bestehenden Hauptschrift handelt es sich schon um ein Alterswerk.15 Auch das andere Hauptwerk, der Jeremiakommentar, ist lediglich vier Jahre früher erschienen.16 Graf war damals bereits 47 Jahre alt. Dabei hatte Graf sich schon in seiner 1836 an der Universität Straßburg eingereichten Dissertation mit dem Alten Testament beschäftigt.17 Doch ließen die beiden Monographien lange auf sich warten, auch wenn er ab und an kleinere Arbeiten zu alttestamentlichen Themen veröffentlichte.18 Von diesen verdient besonders der erst nach seinem Tod erschienene Aufsatz zur Priesterschrift – der, wie im folgenden gezeigt wird, in gewisser Weise eine Revision seines Hauptwerks zu den geschichtlichen Büchern darstellt – hervorgehoben zu werden, da er eine breite Diskussion ausgelöst hat: ‚Die s. g. Grundschrift des Pentateuchs‘.19 Darüber hinaus publizierte Graf ab 1846 einige Arbeiten in der Orientalistik – wohl eine Folge seines Studiums an der Universität Leipzig, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann.20 Im Fokus des Interesses stehen hier allein 14
Georg Beer, Art. Graf, Karl Heinrich, in: RE3 23 (1913), 588–592, 589. Karl Heinrich Graf, Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments. Zwei historisch-kritische Untersuchungen, Leipzig 1866. 16 Karl Heinrich Graf, Der Prophet Jeremia erklärt, Leipzig 1862. 17 Karl Heinrich Graf, L’idée messianique dans son développement historique. Thèse présentée a à la Faculté de Théologie de Strasbourg, et soutenue publiquement de samedi 3 Décembre 1836, à quatre heures après midi, pour obtenir le grade de Bachelier en Thèologie, Straßburg 1836. 18 Eine vollständige Bibliographie findet sich bei Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament, 183–189, zum Alten Testament bes. 183–185. 19 In: AWEAT 1 (1869), 466–477. 20 Die Veröffentlichungen in der Orientalistik finden sich ebenfalls bei Conrad aufgelistet, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament, 185 f. 15
2. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik
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die theologisch-philosophischen Grundlagen seiner alttestamentlichen Hermeneutik und ihre Ausgestaltung.
2. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik 2.1. Die Popularisierung der Spätdatierung des priesterlichen Gesetzes Karl Heinrich Grafs Bedeutung ist ohne den Siegeszug der sogenannten ‚neueren Urkundenhypothese‘ im Gefolge der grundlegenden Arbeiten Julius Wellhausens nicht zu verstehen. Dieser Sachverhalt wirft einen Schatten auf das Werk Grafs, der keineswegs vernachlässigt werden darf. Denn daß eine gewisse Ambivalenz in der Würdigung von Vorläuferleistungen in der Forschungsgeschichte liegt, zeigt der einführende Aufsatz zu Conrads Habilitationsschrift von Uwe Becker, der Wellhausen ausdrücklich einbezieht.21 Während Becker im zweiten Teil des Beitrags Conrads Ausführungen in die gegenwärtigen Neuaufbrüche der Pentateuchforschung einordnet und sie vor ihrem Hintergrund würdigt22, geht er im ersten ausführlich auf das Verhältnis von Wellhausen und Graf ein. Wellhausen wird von Becker als derjenige Alttestamentler herausgestellt, der durch seine „großartige Synthese“23 in den ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘ die mit de Wettes Forschungen einsetzende Debatte zum Abschluß gebracht habe. Das Fazit über die diesbezüglichen Leistungen Grafs wird von Becker in einer doppelten und sich gegenseitig stützenden These festgehalten. Zum einen heißt es: „Graf kommt das Verdienst zu, die von Eduard Reuß in Straßburg erstmals in die Diskussion gebrachte Spätdatierung der priesterschriftlichen Gesetze auf der Basis der von de Wette inaugurierten und von George und Vatke auf eine neue religionsgeschichtliche Grundlage gestellten Literargeschichte des Pentateuchs in Deutschland ‚salonfähig‘ gemacht zu haben.“24 Schon das ‚salonfähig‘ deutet an, daß Grafs Bedeutung für die Etablierung der neueren Urkundenhypothese nicht überschätzt werden darf. Wird die bereits erwähnte und von Wellhausen selbst benannte Präferierung anderer Forschungen zum Alten Testament berücksichtigt, ist zudem fraglich, für welche weiterführenden Einsichten Graf überhaupt steht. Dies gilt zumal, wenn die zweite These Beckers hinzugezogen wird: Graf „war weniger an einer zusammenfassenden Darstellung der Religionsgeschichte und der Entwicklung der kultischen Institutionen als solcher interessiert, wie sie etwa von George und Vatke vorgelegt wurde, 21 Vgl. Uwe Becker, K. H. Grafs Beitrag zur Pentateuchforschung, in: Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament, 1–11. 22 Vgl. a. a. O., bes. 5–11. 23 A. a. O., 1. 24 A. a. O., 4 f. Das ‚erstmals‘ bezieht sich dabei natürlich nur auf Reuß’ prägende Wirkung für Graf und nicht auf die generelle Problematik der Zuordnung der verschiedenen Schichten des Pentateuchs bzw. Hexateuchs.
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als vielmehr an einer exakten Erfassung und Einordnung des Quellenmaterials. Wenn man nach der Bedeutung Grafs für die heutige Pentateuchforschung fragt, mag eben dies geblieben sein: das Bestreben, die einzelnen Bestandteile des Pentateuchs in ein Gesamtgefüge der Entstehungsgeschichte einzuordnen, ohne die Analyse vorschnell mit vorgegebenen entwicklungsgeschichtlichen Ideen zu belasten“25. Diese Einschätzung wirft ihrerseits Fragen auf. Wie eine Rekonstruktion der einzelnen Schichten des Pentateuchs und der weiteren historischen Bücher des Alten Testaments möglich sein soll, ohne ein durchgeklärtes Verständnis der Religionsgeschichte des alten Israels und des Judentums zu haben, ist letztlich nicht verständlich. Zumal wenn es bei Becker – in Aufnahme der Ergebnisse Conrads – weiter heißt, daß sich zwar aus Grafs Forschungen „ein neues religionsgeschichtliches Modell des antiken Israel ergab“, dies jedoch nicht „Ausgangspunkt“, sondern „gewünschtes Resultat“26 seiner methodischen Überlegungen zur Erforschung des Alten Testaments sei. Dies gilt es bei den folgenden Ausführungen im Auge zu behalten. Es soll gezeigt werden, daß die Forschungen Grafs Probleme aufgeworfen haben, die er selbst keiner Lösung zuführen konnte. Dabei wird im folgenden die These vertreten, daß diese erst durch die parallelen Arbeiten Kuenens – der Graf rezipierte und mit ihm im Austausch stand – gefunden wurde. Dazu ist vor allem Grafs Hauptwerk zur Pentateuchforschung zu erörtern, seine Untersuchung zu den Büchern Genesis bis Könige27. Zudem wird der Fokus auf sein Verständnis des Phänomens der alttestamentlichen Prophetie gerichtet, welches Graf vor allem in seinem Kommentar zum Propheten Jeremia28 beschrieben hat.29 Abschließend soll auf das Neue der ‚neueren‘ Urkundenhypothese Grafs eingegangen werden, wozu sich – wie schon angeklungen – eine kurze Abgrenzung von den ‚älteren‘ anbietet. Natürlich ist in Rechnung zu stellen, daß die ‚neuere‘, ebenso wie die ‚neueste Urkundenhypothese‘30 lediglich eine, wenn auch breit rezipierte, so doch vereinfachende Hypothese der Forschungs25 A. a. O.,
5, Hervorhebung im Original. Laut Conrad hat Grafs eigener Beitrag zur damaligen Forschungsdiskussion „eine prinzipiell andere Ausrichtung als die Vatkes oder Georges. Es geht ihm nicht um eine genetische Darstellung der alttestamentlichen Religion oder einzelner kultischer Institutionen. Er hat sich eine bescheidenere Aufgabe gestellt, nämlich das für die neue Sicht der Entwicklung erforderliche Quellenmaterial exakt zu erfassen und die unmittelbar daraus sich ergebenden Konsequenzen zu zeigen. Mit anderen Worten, es geht ihm darum, die Quellen selbst sprechen zu lassen und ihre Tragfähigkeit zu erweisen.“ (A. a. O., 105 f.) 27 Karl Heinrich Graf, Die Bestandtheile der geschichtlichen Bücher von Genes. 1 bis 2 Reg. 25 (Pentateuch und Prophetae priores), in: Ders., Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments, 1–113. 28 Graf, Der Prophet Jeremia erklärt. 29 Vgl. zum Folgenden auch Conrad, dessen Studie eine vorzügliche Erschließung des alttestamentlichen Werks von Graf bietet: Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament, bes. 73–177. 30 Zur Unterscheidung vgl. noch immer die hilfreiche Einordnung von Otto Eissfeldt, Einleitung in das Alte Testament unter Einschluß der Apokryphen und Pseudepigraphen sowie 26 Ebd.
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geschichtsschreibung darstellt. Dies betrifft nicht nur die inhaltliche Frage ihrer Relevanz für die gegenwärtige alttestamentliche Exegese, sondern auch die Frage, ob die unter diesem Begriff vereinigten Autoren und ihre jeweiligen Forschungsanliegen überhaupt angemessen wiedergegeben werden.31
2.2. ‚Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments‘ Schon im Vorwort seiner Untersuchung zu den ‚geschichtlichen Büchern‘ des Alten Testaments macht Graf darauf aufmerksam, daß die Entdeckung de Wettes – die Verortung des Gesetzbuches Deuteronomium in der Zeit des Königs Josia – zwar in der kritischen Forschung seiner Zeit breite Anerkennung gefunden habe. Diese Einhelligkeit des Urteils gelte jedoch nicht bezüglich der Gesetzgebung des Buches Levitikus und der gesetzlichen Passagen der Bücher Exodus und Numeri. Trotz der Erkenntnis, „daß dieser Gesetzgebung vor dem Exil in der Geschichte kein bestimmter Platz mehr angewiesen werden kann“32, sei noch kein Forschungskonsens hinsichtlich ihrer historischen Entstehung gefunden worden. Graf selber hatte schon in seinen frühesten Publikationen, beginnend mit seiner theologischen Dissertation aus dem Jahr 183633, herausgestellt, daß die alttestamentlichen Gesetzessammlungen nicht in die vorexilische Zeit gehörten, sondern „als Grundlage der Lebensordnung des Volkes eine Größe der nachexilischen Zeit“34 seien. Diese Einsicht ist, wie bereits erwähnt, durch Reuß vermittelt.35 Und der Durchsetzung dieser Einsicht ist Grafs Hauptwerk gewidmet, welches die ‚Bestandtheile der geschichtlichen Bücher von Gen. 1 bis 2 Reg. 25‘ untersucht und „vom Deuteronomium ausgehend den verschiedenen Theilen der mosaischen Gesetzgebung ihren Platz in der Geschichte“36 anweisen möchte. der apokryphen- und pseudepigraphenartigen Qumrān-Schriften. Entstehungsgeschichte des Alten Testaments (NTG), Tübingen 21956, bes. 192–201. 31 Im vorliegenden Kontext kann die erste Frage nicht behandelt werden. Vgl. dazu den gelungenen Überblick von Thomas Römer, Zwischen Urkunden, Fragmenten und Ergänzungen: Zum gegenwärtigen Stand der Pentateuchforschung, in: ZAW 125 (2013), 2–24 und die dort genannte Literatur. 32 Trotzdem „wird doch immer noch vorausgesetzt, dass die Verhältnisse, auf welchen sie beruht, vorher irgend einmal wirklich bestanden hätten“ (Graf, Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments, VII). 33 Graf, L’idée messianique dans son développement historique. 34 Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament, 74. Zu den weiteren grundlegenden Vorarbeiten Grafs vgl. a. a. O., 73–93. 35 „Gleich seine erste Schrift ist […] ein sicherer Beweis dafür, daß die Einordnung des Gesetzes, also der später priesterschriftlich genannten Gesetzesmaterialien des Pentateuch, in die nachexilische Zeit und die damit verbundene veränderte Gesamtanschauung der Geschichte Israels, von ihm fertig übernommen wurde und die Ausgangsposition für seine weitere Arbeit bildet.“ (A. a. O., 74) Zur Begründung der These durch Eduard Reuss vgl. vor allem dessen ausführlichen Lexikonartikel ‚Judenthum‘, in: AEWK 2.27 (1850), 324–347. 36 Graf, Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments, VIII.
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Der erste Teil der Untersuchung Grafs ist dem Deuteronomium gewidmet. Graf gilt dessen Verknüpfung mit der Josianischen Reform für ausgemacht.37 Dies führt ihn zur Frage nach den übrigen gesetzlichen Passagen des Alten Testaments, die seiner Meinung nach unmöglich mosaischen Ursprungs sein können. Doch – so konstatiert er – die Spätdatierung der Gesetzestexte stößt auf Widerstand in der Forschung: „Nachdem neuerdings Knobel aus sprachlichen Gründen die bisjetzt von fast allen Kritikern behauptete Abfassung der mittleren Gesetzgebung des Pentateuchs durch den sogenannten Elohisten der Genesis abermals festzustellen gesucht hat, so ist zu befürchten, dass […] die Ansicht, dass dieser Theil jünger ist als das Deuteronomium […] dadurch noch weiter hinausgeschoben werden wird.“38 Mit dem ‚Elohisten‘ meint Graf die später ‚Priesterschrift‘ genannten Texte. Seiner Meinung nach handelt es sich dabei um die gegenüber dem ‚Jehovisten‘ – also den später jahwistisch und elohistisch genannten Teilen – vermeintlich älteren Bestandteilen der ‚geschichtlichen Bücher‘. Aus der Priesterschrift scheidet Graf jedoch die gesetzlichen Partien aus und verortet sie in einer späteren Zeit. Dies zu beweisen, gibt er als Ziel seiner Untersuchung an.39 So sei „aus der Urschrift, dem alten Geschichtsbuche des Elohisten, durch spätere und wiederholte Ueberarbeitung, Erweiterung und Fortsetzung der Geschichtserzählung die Gesammtheit der Bücher entstanden, die jetzt den ersten Theil des A. T. bilden (Pentateuch und Prophetae priores)“40.
37 Dies macht schon der Eingangssatz unmißverständlich klar: „Zu den am allgemeinsten, anerkannten Ergebnissen der historischen Kritik des A. T. gehört für Alle, die sich nicht gegen diese Ergebnisse blos abwehrend verhalten, die Abfassung des Deuteronomiums zur Zeit des Josia.“ (Graf, Die Bestandtheile der geschichtlichen Bücher, 1) 38 A. a. O., 3, Hervorhebung im Original. August Wilhelm Knobel (1807–1863) wird von Wellhausen in der Einleitung seiner ‚Prolegomena‘ prominent erwähnt. Dort berichtet er vom Anfang seiner Studien, bei denen er sich mit anschließendem schlechten Gewissen „in die prophetischen und geschichtlichen Bücher des Alten Testaments“ hineingelesen habe. „[D]enn ich kannte das Gesetz nicht, von dem ich sagen hörte, es sei die Grundlage und Voraussetzung der übrigen Literatur“ (PzGI1 3). Anschließend schreibt er über Knobel, dessen Kommentare zu den Büchern Exodus bis Numeri durchgearbeitet zu haben, ohne nähere Einsichten zu erlangen. (Vgl. Knobel, Die Bücher Exodus und Leviticus erklärt [KEH 12], Leipzig 1857 und ders., Die Bücher Numeri, Deuteronomium und Josua erklärt. Nebst einer Kritik des Pentateuch und Josua [KEH 13], Leipzig 1861) Vgl. dazu auch die Erörterung dieser Schilderung Wellhausens durch Uwe Becker, der auf den reformatorischen Charakter derselben aufmerksam macht. (Becker, K. H. Grafs Beitrag zur Pentateuchforschung, bes. 1 f.) Bei Reuß verweist Graf auf dessen Art. Judenthum. 39 „Die Gründe, die für eine spätere Abfassung der mittleren Gesetzgebung des Pentateuchs sprechen, sind viel dringender, als die, welche für eine Verwandschaft des Verfassers mit dem Elohisten beigebracht werden können, und die Kritik wird auch in dieser Hinsicht zur Einsicht in das kommen, was sich als nothwendige Folgerung aus dem von ihr Festgestellten ergibt.“ (Graf, Die Bestandtheile der geschichtlichen Bücher, 2) 40 A. a. O., 3 f., Hervorhebung im Original.
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Ausgangsbasis für diese Entwicklung sei die Abfassung und Veröffentlichung des ursprünglichen Deuteronomiums gewesen.41 Graf zufolge konnte dessen Verfasser auf das ältere ‚elohistische‘ – später vom ‚Jehovisten‘ überarbeitete – Werk zurückgreifen. Kennzeichen ist die Anpassung der gesetzlichen Bestimmungen an die eigene Zeit. Dabei ist dem Deuteronomium zwar zu entnehmen, daß sein Verfasser nicht nur auf diese schriftlichen Überlieferungen angewiesen war, sondern „dass er noch mitten in der lebendigen in der Volkssage fortgepflanzten und eben darum vielfach schwankenden Ueberlieferung lebte, dass er den Geist, die daraus zu schöpfende Belehrung, nicht den Buchstaben derselben im Auge hatte, und dass er sich eben deshalb auch da, wo er Gelesenes berücksichtigte und aus dem Gedächtniss anführte, nicht ängstlich an den gegebenen Buchstaben hielt“42. Aber ohne diese schriftliche Vorlage sind, seiner Meinung nach, die deuteronomischen Bestimmungen nicht zu erklären.43 Genauer, und dies ist für Graf der entscheidende Punkt, handelt es sich um die geschichtlichen Überlieferungen der Bücher Exodus und Numeri, vor allem die Erzählungen vom Auszug aus Ägypten und von der Wüstenzeit. Dazu kommen einige wesentliche gesetzliche Bestimmungen, vor allem die im Buch Exodus mit dem Dekalog, dem Bundesbuch und der Feier der israelitischen Feste verbundenen.44 Die dem Verfasser des Deuteronomiums vorliegenden gesetzlichen Bestimmungen setzen „Israel als in Palästina ansässiges und Ackerbau treibendes Volk voraus“45. Dies gilt sowohl für den Dekalog, der zwar auf eine sehr lange mündliche Tradierung zurückblicken könne, dessen Niederschrift aber erst in späterer Zeit erfolgt sei. Und auch die Bestimmungen des Bundesbuchs und des damals sogenannten ‚kultischen Dekalogs‘ in Gen 34 setzen feste staatliche Verhältnisse voraus, wie sie erst mit der Etablierung des Königtums gegeben waren.46 Daher konstatiert Graf für die drei – für Johann Friedrich Leopold George so bedeutsamen – alten israelitischen Ackerbaufeste, daß deren Opfer zwingend ein seßhaftes Volk voraussetzen. Doch habe in dieser Zeit kein ausgebauter und festgefügter kultischer Apparat und erst recht kein alleiniges, zentrales Heiligtum existiert. Vielmehr gab es zahlreiche heilige Orte und vielfältige kultische 41 Graf vertritt die Meinung, es bestand zunächst nur aus Dtn 4,45–26,19 und Kap. 28 (Vgl. a. a. O., 8–19). 42 A. a. O., 13. 43 Gestützt wird dies Graf zufolge durch die in Dtn 1–4 zu findende Verknüpfung mit den vom ‚Jehovisten‘ überarbeiteten älteren Überlieferungen. (Vgl. a. a. O., bes. 16–19) 44 „Wie zu der Geschichtserzählung in Exodus und Numeri, so verhält sich nun auch der Deuteronomiker zu der Gesetzsammlung Ex. c. 20–23. Der Dekalog in der Fassung, in welcher er Ex. 20 überliefert erscheint, ist offenbar älter und ursprünglicher“ (A. a. O, 19). 45 A. a. O., 28. 46 „Die Zeit, welcher die Niederschrift dieser Gesetze angehört, wird sich nur im allgemeinen bestimmen lassen; sie kann nicht jünger sein als der Jehovist, der sie aufgenommen oder in dem von ihm überarbeiteten Buche schon vorgefunden hat, die Arbeit des Jehovisten gehört aber dem 8. Jahrhunderte an.“ (A. a. O., 29)
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Praktiken im alten Israel.47 Dies entspräche ganz der zeitlichen Situation, in der das Deuteronomium entstanden sei und auf die es reagiert. Es herrschte die „vollkommenste Uebereinstimmung zwischen den in diesem Gesetzbuch des Exodus vorausgesetzten Zuständen“48 und den geschichtlichen Umständen zur Zeit der Josianischen Reform. Ausgehend von dieser Basis wendet sich Graf der Untersuchung der Bücher Exodus, Levitikus und Numeri zu. Mit seinen Untersuchungen zu den deuteronomischen Gesetzen hat sich Graf eine Ausgangsbasis geschaffen, um in einem „zweiten Komplex“49 die von ihm vorgenommene Spätdatierung der im engeren Sinne verstandenen priesterlichen Gesetze in den mittleren Büchern des Pentateuchs zu begründen. Dies erfolgt mit Hilfe dreier thematischer Durchgänge, die den großen Festen, den Priestern und ihren Einkünften sowie der Stiftshütte gewidmet sind. Die verwickelte und mit zahllosen Bibelstellen belegte Argumentation ist hier nicht eingehender zu erörtern. Vielmehr soll gleich auf die Bedeutung und Leistung Grafs bei der Analyse der Priesterschrift eingegangen werden. Joachim Conrad faßt dessen Beitrag folgendermaßen zusammen, wobei er ihn vor allem von den Forschungen Georges und Vatkes abgrenzt: „Grafs unmittelbare Vorgänger in der kritischen Forschung haben trotz vieler scharfsinniger Beobachtungen und auch längerer Ausführungen die Quellenfragen im Grunde nur präliminarisch erörtert bzw. von vornherein mit bestimmten Gesichtspunkten oder Prämissen verquickt.“50 Zunächst ist anzumerken, daß Conrad mit diesem Urteil der Grafs Arbeiten zugrundeliegenden ausdifferenzierten Forschungslage nicht gerecht wird, sondern dessen Selbsteinschätzungen und Abgrenzungen folgt. Denn natürlich war die Frage nach der Entstehung und zeitlichen Zuordnung der von Graf untersuchten Bücher Genesis bis Könige nicht endgültig geklärt. Mit Blick auf den Umgang mit der Quellenfrage hatte die alttestamentliche Forschung seit de Wette jedoch schon wesentliche grundlegende Erkenntnisse gewonnen. Und ohne diese Vorarbeiten sind auch Grafs eigene Arbeiten nicht vorstellbar. Die von ihm rezipierte religionsgeschichtliche Entwicklung der Kultgesetzgebung, (1.) angefangen bei den ältesten kultischen Bestimmungen aus der Königszeit, die sich im Bundesbuch und im kultischen Dekalog finden, (2.) über das Deuteronomium, (3.) über die Zwischenstufe des Buches Ezechiel, (4.) hin zum von 47 „Der Verfasser der BB. der Könige bemerkt ausdrücklich, dass unter allen Königen bis auf Josia ohne Ausnahme das Volk auf den Höhen בּבּםוֹתgeopfert habe (der König opferte natürlich in dem zu seiner Residenz gehörenden Tempel in Jerusalem), und […] die Thatsache selbst ist dadurch geschichtlich festgestellt, dass es bis auf Josia überall im Lande eine Menge Opferstätten gab und dass früherhin Niemand ein Arg darin fand.“ (Graf, Die Bestandtheile der geschichtlichen Bücher, 30 f.) 48 A. a.O, 32. 49 Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament, 99. Dieser bezieht sich auf die Seiten 32–75 von Grafs Untersuchung. 50 Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament, 105.
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Esra in nachexilischer Zeit verbindlich eingeführten priesterlichen Gesetz und (5.) die Bezeugung desselben durch die Chronikbücher, zeigt die Abhängigkeit deutlich. Hier hat Graf ganz wesentliche Ergebnisse der kritischen Forschung rezipiert. Dies gilt auch für den folgenden Abschnitt der Untersuchung zu den ‚geschichtlichen Büchern des Alten Testaments‘, die weitere Differenzierungen der priesterlichen Gesetzgebung vornimmt und aufzeigt, daß auch diese sich einer längeren geschichtlichen Entwicklung verdanke.51 Daß es umgekehrt jedoch nicht ganz einfach ist, Grafs eigenen Beitrag zur Forschungsdebatte seiner Zeit zu beurteilen, ist schon angedeutet worden und wird durch eine weitere These Conrads gestützt: „Es geht ihm nicht um eine genetische Darstellung der alttestamentlichen Religion oder einzelner kultischer Institutionen. Er hat sich eine bescheidenere Aufgabe gestellt, nämlich das für die neue Sicht der Entwicklung erforderliche Quellenmaterial exakt zu erfassen und die unmittelbar daraus sich ergebenden Konsequenzen zu zeigen. Mit anderen Worten, es geht ihm darum, die Quellen selbst sprechen zu lassen und ihre Tragfähigkeit zu erweisen. Diese Kleinarbeit an den Quellen aber erwies sich uns […] als deren besonderes Charakteristikum im Rahmen der einschlägigen Literatur.“52 Was hier wie ein Widerspruch zu dem bisher Gesagten klingt, ist von Conrad als Abgrenzung gegen die Vatkesche – unter Verwendung des Hegelschen Entwicklungsbegriffs – und die Georgesche – der in Aufnahme der Schleiermacherschen Festtheorie die fortschreitende institutionelle Verfestigung des Kultes aufzeigte – Darstellung der Religionsgeschichte des Alten Testaments gerichtet. Doch darf den Arbeiten Vatkes und Georges nicht unterstellt werden, die ‚Kleinarbeit an den Quellen‘ vernachlässigt zu haben. Auch sie, wie überhaupt die kritische Bibelforschung insgesamt, waren um eine exakte Erfassung des Quellenwertes der alttestamentlichen Schriften bemüht, um mit ihrer Hilfe die Geschichte der Religion des alten Israels und des Judentums nachzeichnen zu können. Auch sie hatten den Anspruch, und lösten ihn je auf ihre Weise ein, daß ihre Forschungen einer quellenkritischen Prüfung standhalten sollten. Hierin ist keine für Grafs Arbeiten spezifische Leistung zu sehen. Dem Aufweis der geschichtlichen Entwicklung galt das gemeinsame Bemühen der damaligen Forschergeneration, unbenommen ob sie sich selbst nun mehr der konfessionellen, der kritischen oder der spekulativen Richtung zugehörig sahen. Mit dieser Herausstellung der Bedeutung der spezifischen Leistungen der Grafschen Arbeiten durch Conrad wird zugleich ein methodisches Problem derselben verdeckt. Dieses soll im Folgenden in zwei Schritten verdeutlicht werden, wobei zunächst nochmals auf Grafs Arbeit zu den ‚Bestandtheilen der geschichtlichen Bücher‘ eingegangen werden soll und daran anschließend auf seinen Kommentar zum 51 Vgl. 52
Graf, Die Bestandtheile der geschichtlichen Bücher, 75–94. Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament, 106 f.
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‚Propheten Jeremia‘. Zu fragen ist jeweils nach Grafs Vorstellungen vom religionsgeschichtlichen Entwicklungsprozeß, der seinen Forschungen zugrunde liegt.
2.3. Das Problem der religionsgeschichtlichen Verortung der alttestamentlichen Überlieferungen 2.3.1. Nochmals: ‚Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments‘ Schon in dem zusammenfassenden Abschnitt der ersten Untersuchung wird ein methodisches Problem deutlich, das auch Grafs Kommentar zum Propheten Jeremia teilt. Dort heißt es: „Erst wenn man nicht nur Deut. C. 1–30, sondern auch den Leviticus und die nachexilischen Stücke im Exodus […] u. in Numeri […] so wie die namhaft gemachten kleineren Zusätze […] weglässt, erhält man die vordeuteronomische Gestalt des Pentateuchs, das Werk wie es aus der Hand des letzten Ueberarbeiters vor dem Deuteronomiker, des sogenannten Jehovisten, hervorgegangen ist. Es war somit weit mehr ein historisches Werk und hat erst durch die spätere Erscheinung den Charakter eines Gesetzbuchs erhalten. Dass das Werk des Jehovisten aus einer Ueberarbeitung eines noch ältern […] hervorgegangen war, bedarf keines neuen Nachweises; bis zu einer Erforschung dieser ältern Quellen zurückzugehen, liegt hier ausserhalb der unserer Untersuchung gestellten Aufgabe, sie kann auch nur in Gemeinschaft mit der Untersuchung der Geschichte selbst zu einem irgendwie sichern Ergebnisse führen.“53 Für Grafs Untersuchung der Bücher Genesis bis Könige bedeutete diese Entscheidung zwar eine Abgrenzung des jehovistischen Werkes innerhalb und außerhalb des Pentateuchs54 und ebenso der Stellung des Deuteronomiums und der deuteronomistischen Bearbeitungen außerhalb des Pentateuchs55. Eine eigene Erörterung der Priesterschrift – des damals sogenannten elohistischen Werkes bzw. der Grundschrift – nahm Graf aber nicht vor. Auf der Grundlage der sogenannten ‚Ergänzungshypothese‘ unterschied er vielmehr einen älteren, erzählenden Teil – der seiner Meinung nach zu den ältesten alttestamentlichen Überlieferungen gehöre – von einem jüngeren, nachexilischen gesetzlichen Teil, dem priesterlichen Gesetz. Daher kommt Graf zu der Erkenntnis, daß die ersten alttestamentlichen Überlieferungen zunächst ein „historisches Werk“ bildeten, das des Elohisten, welches erst in späterer Zeit „gesetzlich“ überformt wurde.56 53 Graf, Die Bestandtheile der geschichtlichen Bücher, 94 f., Hervorhebungen im Original. 54 Vgl. zur Untersuchung von Jehovist, Deuteronomium und Deuteronomiker a. a. O., 94– 113 und speziell zur Abgrenzung des Jehovisten Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament, 122–128. 55 Vgl. zur Abgrenzung von Deuteronomium und Deuteronomiker a. a. O., 128–132. 56 Conrad attestiert Graf dann auch die „Fähigkeit, Einzelaussagen über kultische Zustän-
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Conrad führt die Trennung der sogenannten Priesterschrift in einen ‚erzählenden‘ und einen ‚gesetzlichen‘ Teil auf Grafs Bemühen zurück, „die streng kritische und die zwischen dieser und den rein Konservativen vermittelnde“ Richtung der alttestamentlichen Forschung und ihre Ergebnisse miteinander zu verbinden, „um so eine breite und sichere Basis für seine Gesamtschau zu gewinnen“57 – angesichts von Grafs ungewöhnlich breiter Rezeption und Diskussion der Sekundärliteratur keine unwahrscheinliche These. Seine Teilung des priesterschriftlichen Quellenmaterials läßt es jedoch fraglich erscheinen, ob ihm diese ‚Gesamtschau‘ überhaupt vor Augen stand bzw. ob sie nicht gerade fehlte. Die Zweiteilung zeigt nämlich, daß ihm eine Korrelation der historischen Entwicklung der israelitischen Religion und der von ihm herausgearbeiteten jeweiligen Quellen nur in Ansätzen gelungen ist. Ihre Notwendigkeit stand ihm in der Deutlichkeit, mit der sie die spätere Forschung – aber beispielsweise auch schon Wilhelm Vatke – eingefordert hat, nicht vor Augen. Unbeschadet aller für die gegenwärtige alttestamentliche Forschung fruchtbringenden quellenkritischen Entscheidungen und Wegweisungen Grafs ist festzuhalten, daß seinen Forschungen ein durchgeklärtes Bild der religionsgeschichtlichen Entwicklung des alten Israels und des Judentums, die ‚Gesamtschau‘ fehlt. Auf dieses methodische Problem hat ihn Abraham Kuenen aufmerksam gemacht58, so daß Graf von seinen bisherigen Ansichten abrückte und in dem der Priesterschrift gewidmeten Aufsatz ‚Die s. g. Grundschrift des Pentateuchs‘ einer Revision unterzog.59 Ohne ihn zu nennen, nahm er hier die Kuenensche Einsicht auf und legte einen nochmaligen Entwurf zur Entstehung der sogenannten Priesterschrift – von ihm im Anschluß an die damalige Forde richtig zu interpretieren und einzuordnen“, kritisiert aber bei den von Graf vorgenommenen Zuordnungen zu den einzelnen Quellenschichten zahlreiche Fehleinschätzungen, die er auf den Mangel am „nötigen Scharfsinn, der für die diffizile literarkritische Arbeit nun eben nötig ist“ (A. a. O., 132), zurückführt. 57 A. a. O., 133. 58 Vgl. a. a. O., bes. 135 ff. und Rudolf Smend, Abraham Kuenen (1828–1893). Ein Klassiker der Einleitungswissenschaft, in: Marc Vervenne / Johan Lust (Hgg.), Deuteronomy and Deuteronomic Literature. FS C. H. W. Brekelmans (BEThL 133), Leuven 1997, 569–586, bes. 577 f. 59 „Wenn sonach die s. g. Grundschrift des Pentateuchs nicht die Grundlage der Erzählung desselben ausmacht, sondern aus später zu dem ‚jahwistischen‘ Werke hinzugekommenen Zusätzen besteht, und wenn aus dem Inhalte der dazu gehörenden Gesetze und Bestimmungen sich ergiebt, dass diese auch nachdeuternonomisch sind, so folgt daraus, dass das was man als Grundschrift anzusehen und zu den ältesten Bestandtheilen des Pentateuchs zu rechnen gewohnt ist, vielmehr die jüngsten Bestandtheile desselben bildet. Auch kann in der That, wie das jahwistische Werk mit seinen herrlichen Erzählungen der Blüthezeit der Literatur und des Prophetenthums angehört […], die Beschreibung der Stiftshütte mit ihren wörtlichen zum Theil doppelten und dreifachen Wiederholungen, die zwölfmal gleichlautende Aufzählung Num. c. 7 und dergl. durch ‚pedantische Ausführlichkeit und Kleinlichkeit‘ sich auszeichnende oder prosaisch trockene Darstellungen […] nur einer Zeit des Verfalls der Literatur angehören.“ (Graf, Die s. g. Grundschrift des Pentateuchs, 74 f.)
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schungsdebatte hier Grundschrift genannt – vor.60 Doch auch hier nimmt er die religionsgeschichtliche Fragestellung nicht hinreichend ernst. Zumindest werden die Ergebnisse der quellenkritischen Studien nicht historisch abgesichert. Daß Graf die sich mit seinen Untersuchungen stellenden religionsgeschichtlichen Fragen nur in Ansätzen beantworten konnte, macht auch seine Untersuchung zum israelitischen Prophetentum deutlich. Dazu ist nun auf den Kommentar zum Propheten Jeremia einzugehen.61
2.3.2. ‚Der Prophet Jeremia erklärt‘ Schon vorwegnehmend kann gesagt werden, daß sich hier in gewisser Weise das gewonnene Ergebnis bestätigt. Die Prophetie des Jeremia stellt Graf zufolge die bedeutendste Ausprägung der im Alten Testament gesammelten Prophetenschriften dar. Seiner Meinung nach hat „gerade in Jeremia das Prophetenthum in Israel sein höchstes Ziel erreicht“62. Denn die Wirksamkeit des Propheten markiere „die geistige Brücke aus dem Zerfalle des Alten in eine neue Gestalt hinüber“63. Mit Jeremia, der im ausgehenden siebten Jahrhundert gelebt habe, seien zwei zentrale Ereignisse der israelitischen Geschichte verknüpft gewesen, zum einen die Veröffentlichung des Deuteronomiums unter König Josia und zum anderen der staatliche Untergang Judas und Jerusalems. Ursache des politischen Debakels war der Kampf um die Vorherrschaft zwischen Ägypten und Assyrien, später zwischen Ägypten und Babylonien. „In dem Kampf der beiden mächtigen Nachbarreiche wurde der dazwischen liegende kleine Ueberrest des israelitischen Volkes erdrückt und in seinem staatlichen Bestehen vernichtet, und bei dem innern Parteikampfe zwischen dem fremdländischen Götzendienste und dem Dienste des wahren Gottes konnten die gewaltsamen Mittel, welche angewendet wurden, um jenen zu beseitigen, keinen dauernden Erfolg haben und keinen wirklichen sittlichen Aufschwung bewirken.“64 Mit den ‚gewaltsamen Mitteln‘ nimmt Graf Bezug auf die Einführung des Deuteronomiums und die damit verbundene Zentralisation des Kultes in Jerusalem, die Abschaffung der Höhenheiligtümer sowie zahlreiche weitere Reformen.65 Neben diesen 60 Lediglich die deutschen Alttestamentler seiner Zeit werden an dieser Stelle erwähnt, so Eduard Karl August Riehm (1833–1888), Theodor Nöldeke (1836–1930), Eberhard Schrader (1836–1908), Franz Delitzsch (1813–1890), Johann Christian Friedrich Tuch (1806–1867) und besonders Hermann Hupfeld. Zu letzterem siehe Otto Kaiser, Zwischen Reaktion und Revolution. Hermann Hupfeld (1796–1866) – ein deutsches Professorenleben. Mit 8 Abbildungen (AAWG.PH 268), Göttingen 2005. 61 Siehe dazu auch Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament, bes. 163– 177. Zu den Vorarbeiten Grafs, besonders in seiner Dissertation vgl. a. a. O., 157–163. 62 Graf, Der Prophet Jeremia erklärt, V. 63 Ebd. 64 A. a. O., XII. 65 „[I]m 13ten Jahre der Regierung Josia’s trat Jeremia öffentlich als Prophet auf, und übte gewiss einen grossen Einfluss auf das Gemüth des frommen Königs aus, wenn uns auch darüber
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äußeren mit der Einführung des Gesetzbuches verbundenen Maßnahmen drang Jeremia auf eine innere „Umkehr des Volkes in Herzen und Gesinnungen“66 – die jedoch ausblieb. Daher habe der Prophet die politische Zerstörung von Stadt und Staat geweissagt, die schließlich auch erfolgte und das babylonische Exil nach sich zog.67 Graf zufolge ist das Buch Jeremia nicht schon zu Beginn der Wirksamkeit des Propheten Jeremia verfaßt worden, sondern während der Regentschaft des judäischen Königs Jojakim.68 Zudem ist das zu dieser Zeit entstandene Buch später neu geschrieben worden und hat zahlreiche Erweiterungen erfahren.69 Seinen Abschluß fand es in späterer Zeit, als „das ganze Buch, so wie wir es besitzen, mit Ausnahme natürlich des von fremder Hand erst später beigefügten Cap. 52 und etwaiger späterer Zusätze oder Glossen […], noch unter den Augen und im Auftrage des greisen Propheten von seinem treuen Jünger vollendet und veröffentlicht worden ist“70. Mit dem Buch Jeremia liegt uns – so Graf – eine in fast allen Bestandteilen selbst verantwortete Schrift des Propheten vor. Es handelt sich um eine „Busspredigt“71 mit der Aufforderung zur Umkehr und Befolgung der göttlichen Gebote, wie sie unter König Josia72 auch im Deuteronomium niedergelegt wurden. Jeremia erinnert an den nicht befolgten Wüstenbund mit Jahwe, führt den Untergang Israels durch die Assyrer als Bestrafung dafür vor Augen und kündigt die noch härtere Bestrafung Judas durch Jahwe aufgrund der herrschenden „Selbstüberhebung und Heuchelei“73 an. Dabei habe der Prophet in der Gegennichts Näheres berichtet ist, und als im 18ten Jahre das Gesetzbuch erschien und dem Könige gebracht wurde, in welchem in der Weise prophetischer Ermahnung die Grundsätze der von Mose gestifteten Religion Jahwe’s gelehrt und eingeschärft und jede Ausübung irgend eines Götzendienstes unter Androhung der schrecklichsten göttlichen und menschlichen Strafen als eine fluchwürdige Sünde verurtheilt war (Deut. 4,44–28,69), da verpflichtet sich der König unter dem Eindrucke der Vorlesung dieses Gesetzbuches mit den Vertretern des Volkes durch feierlichen Schwur zum treuen Festhalten an den Geboten Jahwe’s (2 Kön. 23,3)“ (A. a. O., XV f.). 66 A. a. O., XVII. 67 Da alle Bemühungen, das Volk Israel wieder zu seinem Gott Jahwe zurückzuführen, scheiterten, konnte Jeremia „nur wehmutsvoll zur geduldigen Unterwerfung unter das Unvermeidliche rathen und Zerstörung auch alles dessen weissagen, was sein Volk als heilig und unantastbar anzusehen gewohnt war“ (A. a. O., XXII). 68 „Erst im 4ten Jahre Jojakim’s, nachdem er schon seit 23 Jahren als Prophet aufgetreten war (25,3), fand sich Jeremia bewogen, da er am Auftreten im Tempel verhindert war 36,5, nach der Weise früherer Propheten eine Schrift abzufassen, die den Inhalt seiner seitherigen Weissagung enthielte“ (A. a. O., XXXV). 69 Vgl. a. a. O., bes. XXXVII. 70 A. a. O., XL. 71 A. a. O., 4. 72 „Ihm trat zuerst der Anfang seiner prophetischen Thätigkeit vor die Seele, jener hohe, heilige Augenblick im 13ten Jahre Josia’s, wo ihn das unwiderstehliche Gebot des göttlichen Geistes trieb, als Prophet aufzutreten, und wo er nicht ohne innern Kampf sich seiner erhabenen Bestimmung bewusst wurde.“ (A. a. O., 4) 73 A. a. O., 15.
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wart in einer Art providentieller Schau vorweg erlebt, was dem judäischen Volk mit seiner Hauptstadt Jerusalem in Zukunft widerfahren werde.74 Sein Warnen führte lediglich zur Einsicht und „Klage über die Nutzlosigkeit aller Ermahnungen zur Haltung der göttlichen Gebote, zu deren Beobachtung die Einwohner Jerusalems und Juda’s sich unter Josia feierlich verpflichtet hatten“75. Jeremia habe damit vorhergesagt, was später durch die Belagerung, Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier auch eingetreten sei. So sicher dem Propheten das notwendige Gericht erschien und er allein die „Fügung in das von Jahwe über sein Volk Verhängte“ als Möglichkeit des Handelns ansah, so sicher war ihm andererseits auch die „Erlösung durch die unvergängliche Liebe Jahwe’s zu seinem auserwählten Volke“76. Daher widme sich der Schluß des Jeremiabuchs den umliegenden Nationen, angefangen bei Ägypten bis hin zu den ‚arabischen Reichen‘. All diese Völker vollzögen im Auftrag Jahwes das Strafgericht an Juda und Jerusalem – und verfielen ihm schließlich selbst.77 Betrachtet man Grafs Verständnis des Propheten Jeremia im speziellen und des Phänomens der israelitischen Prophetie im allgemeinen, so ist zunächst – im Hinblick auf die Frage nach der Sicht der Religionsgeschichte – eine Auffälligkeit festzustellen. Conrad beschreibt sie folgendermaßen: „Hier [bei der Frage nach der Einordnung Jeremias in den Kontext der alttestamentlichen Prophetie, Anm. M. G.] macht man nun eine verblüffende Entdeckung. Graf äußert sich nämlich überhaupt nicht näher dazu. […] Eine Ausführung über den Geist seiner Prophetie oder seine Besonderheit im Vergleich zu anderen Propheten fehlt.“78 Weder über die allgemeine Eigenart der alttestamentlichen Prophetie, noch über den Propheten Jeremia im Kontext derselben gibt es Ausführungen Grafs. Eine befriedigende Erklärung dieses methodischen Problems der Forschungen Grafs findet sich bei Conrad nicht. Es läßt sich, so ist zu ver74 „Das
was unter den gegebenen Verhältnissen als Rathschluss Jahwe’s in der Zukunft nothwendig eintreten muss, tritt plötzlich vor das innere Auge des Propheten, das Bild des Zukünftigen entrollt sich vor seinem augenblicklich von der Gegenwart abgewandten Geiste als etwas schon Gegenwärtiges, und er beschreibt daher das, was einst geschehen soll, oft im Tempus der Vergangenheit als ob es schon geschehen wäre.“ (A. a. O., 19) 75 A. a. O., 174. 76 A. a. O., 365. 77 „Der König von Babel mit seiner Kriegsmacht war wohl das Werkzeug, dessen sich Jahwe bediente, um sein Gericht über Juda und über die andern Völker auszuführen; Babel war der Hammer der ganzen Erde 50,23, wie einst Assur die Ruthe des göttlichen Zornes, die Axt in der Hand Jahwe’s Jes. 10,5.15 gewesen war. Allein Babel handelte unbewusst im Dienste Jahwe’s, es war nicht von den Gedanken des Heils beseelt, zu welchem Jahwe sein Volk und mittelbar die andern Völker durch Strafe und Prüfung hindurchführen wollte, sondern es wurde getrieben von Uebermuth, Herrschsucht und gewaltthätigem Sinne, und glaubte seine Erfolge nur seiner eigenen Macht zu verdanken […]. Mehr als die Nachbarvölker hatte Babel an dem Volke Jahwe’s gefrevelt, hatte es beraubt, gemordet, in Gefangenschaft geschleppt, und hielt es mit eiserner Hand darnieder; erst durch Babel’s Fall konnte Israel erlöst werden und zu dem Heile gelangen, welches ihm verheissen war“(A. a. O., 577 f.). 78 Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament, 174.
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muten, nur aus dem bereits als Problem der Pentateuchforschungen benannten nicht hinreichend reflektierten Verständnis der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte erklären. Diese Einschätzung geht teilweise in die Richtung des Urteils Conrads, der einerseits kritisiert, daß Graf „zu keinem vertieften Verständnis der Prophetie gelangt ist“79. Andererseits stellt er aber als positive Leistungen „gründliche Einzelexegese“, die Heranziehung der einschlägigen „Literatur in philologischer wie historischer Hinsicht“, das Freisein von „ausgesprochen gewagten Hypothesen“ und von „apologetisch-dogmatischer Voreingenommenheit“80 heraus. Zudem würdigt Conrad als Verdienst Grafs „die Einseitigkeit, mit der er auf literarkritischem Gebiet vorging“81. Gerade mit Bezug auf den letzten Punkt wird nicht recht verständlich, was damit gemeint sein soll. Unter Literarkritik kann doch nur die wechselseitige Korrelation von quellenkritischen Studien und deren Ergebnissen mit religionsgeschichtlichen Untersuchungen verstanden werden. Letztere fehlen aber bei Graf. Das religionsgeschichtliche Gerüst stammt nicht von ihm, sondern wurde unreflektiert angeeignet – oder wie Conrad nicht eben freundlich formuliert: Er hat „die leitenden Ideen von anderer Seite […] übernommen und war selbst kein innovativer Kopf“82. Der Mangel an religionsgeschichtlichem Problembewußtsein läßt Graf den Stellenwert der alttestamentlichen Propheten verkennen, deren Auftreten für die folgenden alttestamentlichen Forschungen auf diesem Gebiet – man denke nur an Kuenen und Duhm – ein in ihrer Bedeutung nicht zu überschätzendes Phänomen war. Und Graf fällt mit seiner ‚fehlenden‘ Gesamtsicht auf den Propheten Jeremia und das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie im Allgemeinen auch hinter den bereits erreichten Forschungsstand zurück.
3. Die Interpretation des Alten Testaments 3.1. Die Sicht der Redaktionsgeschichte des Alten Testaments Angesichts der mehrfach zitierten umfangreichen und detaillierten Untersuchung von Joachim Conrad zu Karl Heinrich Grafs wissenschaftlicher Arbeit am Alten Testament, die ausgehend von dessen Qualifikationsschriften die sich nach und nach formierende Position Grafs in der Quellenkritik und der Darstellung der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte nachzeichnet, soll im Folgenden das Augenmerk auf einen Aspekt gerichtet werden, den Conrad nur am Rande behandelt – die Frage, wie sich Graf die Entstehung und Formierung 79
A. a. O., 176.
82
A. a. O., 180.
80 Ebd. 81 Ebd.
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der alttestamentlichen Überlieferungen vorstellt und wie sich ihm der Prozeß der Entwicklung darstellt, in dem aus einzelnen Sammlungen das Alte Testament entstanden ist. Bereits in seiner Bakkalaureatsarbeit aus dem Jahre 1836 knüpft Graf ausdrücklich an die Erkenntnisse der kritischen Bibelwissenschaften eines Wilhelm Martin Leberecht de Wette und eines Wilhelm Vatke an. In ihr unternimmt Graf den Versuch, die Entwicklung des Messianismus von Samuel bis in die neutestamentliche Zeit nachzuzeichnen. Grundlegend ist für ihn der sich nach und nach immer deutlicher abzeichnende Gegensatz von vorexilischem Israel und nachexilischem Judentum – verdeutlicht an der Unterscheidung von lebendiger Prophetie und gesetzlichem Judentum.83 Die Frage nach dem Stellenwert und der Bedeutung des alttestamentlichen Kultgesetzes ist damit von Anfang an mitgesetzt. Auch die den Samuel- und Königbüchern gewidmete Lizentiatendissertation aus dem Jahre 1842 schneidet ein Thema an, das ihn zeit seines Lebens weiterbeschäftigen wird – die Unterscheidung verschiedener Quellen und die Frage nach der Redaktion der biblischen Schriften.84 Bei Graf laufen beiden Fragen letztlich nebeneinander her. Negativ ausgedrückt heißt dies, daß er ein wirkliches religionsgeschichtlich fundiertes Verständnis der alttestamentlichen Schriften nicht gewonnen hat. Positiv ausgedrückt heißt dies, daß – trotz der von ihm herausgearbeiteten verschiedenen Redaktionsschichten im Alten Testament – eine Korrelation derselben mit religionsgeschichtlichen Forschungen zur Geschichte Israels nicht wirklich vorgenommen wurde. Vielmehr hielt Graf – mit einer Anhänglichkeit an die biblischen Erzählungen, die bisweilen an die Untersuchungen Heinrich Ewalds erinnert – an dem überkommenen Bild der Geschichte Israels fest, ohne zu reflektieren, daß die eigenen Untersuchungen in ihrer Konsequenz dieses Bild sprengten. Unbeschadet der Tatsache, daß Graf immer wieder darum bemüht ist, einzelnen alttestamentlichen Texten und Textkorpora „die Stellung anzuweisen“, die ihnen ihrem „Inhalte nach in der Geschichte Israels zukommt“85 – wie er in der Einleitung seiner im Jahr 1857 erschienenen Untersuchung zum Segen des Mose in Dtn 33 erklärt –, so setzt er doch großes Zutrauen in die Historizität der meisten Erzählungen. Dies gilt trotz der von ihm benannten eigenen Aufgabenstellung, welche eine Darstellung der Geschichte Israels auf der Grundlage einer kritischen Untersuchung zum Ziel hat.86 83 „Die
Prophetie wird von lebendigem Glauben getragen, ihr Ziel ist die Bekehrung des Sünders und die Bestärkung des Gerechten in seiner Tugend. […] Im Judentum dagegen herrscht das geschriebene Gesetz, an das man sich strikt bindet und auf Grund dessen man sich als das Gottesvolk schlechthin, das zur Herrschaft über die andern Völker bestimmt ist, versteht.“ (Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament, 73) 84 Vgl. a. a. O., 76–79. 85 Karl Heinrich Graf, Der Segen Mose’s (Deuteronomium C. XXXIII.) erklärt, Leipzig 1857. 86 „[I]ch glaube, dass es die Aufgabe der Wissenschaft ist, die Geschichte nach den unbe-
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Graf trennt die von ihm forcierte redaktionsgeschichtliche Erforschung des Alten Testaments von der Frage nach der religionsgeschichtlichen Einordnung der von ihm herausgearbeiteten Schichten – wie er ebenfalls in seiner Untersuchung zu Dtn 33 schreibt: „Die Bestimmung über die Zeit, welcher dieses Gedicht angehört, ist […] ganz unabhängig von der Ansicht, die man über die Redaction des Pentateuchs oder über das Deuteronomium an und für sich hat, da es viel älter und auch wieder viel jünger sein kann als der Abschnitt der Erzählung, in den es eingeschoben ist.“87 Die Frage nach den verschiedenen Redaktionsstufen läßt ihn zwar einerseits erkennen, daß es sich bei dem hier untersuchten Text – den er als ein lediglich um einige Ergänzungen erweitertes einheitliches Gebilde ansieht – nicht um ein auf Mose zurückgehendes Traditionsgut handeln kann. Andererseits unterstellt er dem Verfasser des Stückes aber große historische Genauigkeit und Authentizität.88 Dies erlaubt Graf dann wiederum, sehr genaue historische Verortungen vorzunehmen. So ist der Verfasser von Dtn 33 seiner Meinung nach ein in Jerusalem wohnender Priester, der dem dortigen Tempelpersonal angehört. Dabei wird Graf bezüglich der Datierung des Textes sehr konkret, wenn er erklärt: „So werden wir nothwendiger Weise auf die Zeit Jerobeam’s II in Israel, Usia’s in Juda hingeführt, denn nur in dieser Zeit, um das Jahr 800, zwei Jahrhunderte nach David, stellt sich die Lage der Dinge so dar, wie sie hier geschildert ist.“89 Daher sei er ein unmittelbarer Zeitgenosse des Propheten Amos, der im Gegensatz zu diesem eine sehr positive Einschätzung der eigenen Situation und der Situation Israels im Gesamten habe.90 Zu einer wirklich kritischen Sicht der Religionsgeschichte des alten Israels und des späteren Judentum gelangt Graf mit diesem Verfahren nicht. Zwar unterzieht er die biblischen Erzählungen einer Kritik und läßt nichts ungeprüft für historisch gelten. Aber er folgt doch stets dem Pragmatismus der alttestamentlichen Berichte. In einem Beitrag zu den Büchern der Chronik – der hier noch beispielhaft angeführt sei – hebt Graf den sagenhaften Charakter der von ihm pars pro toto untersuchten Erzählung von der Gefangenschaft und Bekehrung König Manasses in 2 Chr 33 hervor und macht deutlich, daß der historische Wert der Königbücher für die israelitische Geschichte und Geschichtsschreibung wesentlich höher einzuschätzen sei.91 Und so verwirft Graf den gesamten fangen und gründlich durchforschten Geschichtsquellen zu construiren, nicht aber diese Quellen nach einer zum voraus construirten Geschichte aus- und umzudeuten“ (A. a. O., II). 87 A. a. O., 2. 88 „Unser Dichter hat die Verhältnisse seiner Zeit im Auge, und schildert den Zustand der einzelnen Stämme wie des ganzen Volkes in eigenthümlichem, kurzem und treffendem Ausdrucke.“ (A. a. O., 80) 89 A. a. O., 81, Hervorhebungen im Original. 90 Vgl. a. a. O., 82 f. 91 „Wenn die Apologeten der Chronik [genannt wird hier unter anderen Ewald, Anm. M. G.] in den Erzählungen derselben durchaus nichts Sagenhaftes anerkennen und zwischen dem his-
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chronistischen Bericht als unhistorisch: „Die Entstehung dieser Sage läßt sich, bei dem überall sichtbaren Streben, Sünde und Strafe in Uebereinstimmung zu bringen und die vergeltende und verschonende Hand Gottes in den Begebenheiten hervortreten zu lassen, aus der Vergleichung mit einigen analogen Nachrichten leicht begreifen.“92 Doch trotz allem kritischen Pathos Grafs, trotz scharfer Formulierungen wie – „[d]as Ereigniß [gemeint ist die Gefangennahme Manasses, Anm. M. G.] schwebt völlig in der Luft, und der Umstand, daß ihn der König von Assyrien […] nach Babel führen läßt, ist weit mehr ein Beweis von historischer Unklarheit als von genauer historischer Kunde“93 –, mißt er den biblischen Erzählungen insgesamt großen geschichtlichen Quellenwert zu und begnügt sich mit dem Aufweis innerbiblischer Widersprüchlichkeiten und ihrer geschichtlichen Einordnung. Diesem Ziel der Beseitigung inneralttestamentlicher Widersprüche dient auch Grafs Herausarbeitung verschiedener Redaktionen im Alten Testament. Erstaunlicherweise findet sich der Aufweis unterschiedlicher Textstufen in seinem großen Jeremiakommentar aus dem Jahre 1862 nur am Rande. Stattdessen widmet er sich diesem „viel verkannten Propheten“, getragen von der Überzeugung, daß „dessen Einwirkung auf die Folgezeit eine weit bedeutendere gewesen ist, als die irgend eines der andern“94. Graf hat sich zum Ziel gesetzt, mit dem „Geist und Sinn des Propheten vertraut zu machen“ und darüber hinaus „in den Zuständen jener alten und fernen Zeit heimisch zu werden“95. Daß er lediglich beiläufig verschiedene Redaktionen abgrenzt und nicht auf die sukzessive Entstehung des Jeremiabuches eingeht, verwundert – zumal angesichts der Tatsache, daß gerade dies kennzeichnend für seine gleich zu erörternde Pentateuchkritik ist. Ganz im Gegensatz zu dieser möchte er das Buch als Einheit verstanden wissen, wie er in Abgrenzung von anderslautenden Meinungen erklärt: „Die Meisten haben […] das Buch vorwaltend aus dem Gesichtspunkt einer Sammlung verschiedener schon vorher schriftlich vorhandener Stücke, die erst nachträglich in eine gewisse Reihenfolge gebracht worden wären, betrachtet, während das was uns C. 36 [also von der Verschriftlichung desselben im Jeremiabuch selbst, Anm. M. G.] über die Entstehung des Buches berichtet torischen Werthe ihrer Berichte und derjenigen der Bücher d. Kön. gar keinen Unterschied annehmen wollen, so weisen sie dadurch nicht nur der israelitischen Geschichte und Geschichtsschreibung eine völlige Ausnahmestellung an, sondern sehen sich auch, um alle Widersprüche als nur scheinbare darzustellen, zu allen den harmonistischen Kunstgriffen genöthigt, die z. B. bei der Evangelienkritik längst in Verruf gekommen sind. Indem sie zu viel beweisen wollen, verfehlen sie ihr Ziel, und durch künstliches Stützen und Festhalten des Unhaltbaren machen sie auch gegen die Sicherheit des Haltbaren und Zuverlässigen mißtrauisch.“ (Karl Heinrich Graf, Die Gefangenschaft und Bekehrung Manasse’s, 2 Chr. 33. Ein Beitrag zur Kritik der Chronik, in: ThStKr 32 [1859], 467–494, 488) 92 Ebd. 93 A. a. O., 490. 94 Graf, Der Prophet Jeremia erklärt, VI. 95 A. a. O., VII.
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wird und was sich sonst aus dem Inhalte der einzelnen Abschnitte in chronologischer und sachlicher Hinsicht ergibt […] darin vielmehr ein aus einem ursprünglichen Ganzen durch Hinzufügung und Erweiterung entstandenes grösseres Ganze sehen lässt.“96 Graf legt Wert auf die Betonung der Einheitlichkeit des Jeremiabuchs – auch ein Sachverhalt der sich mit seinen Ausführungen zur Pentateuchkritik nicht so richtig vereinbaren läßt. Für die Auslegung des Prophetenbuches heißt dies: Die Differenz zwischen Konstruktion und historischer Tatsache nimmt Graf nicht eben schwer. Sein ganzes Interesse richtet sich auf die Auflösung von Widersprüchen auf der Textebene und der Erklärung seiner Meinung nach lediglich scheinbar historischer Widersprüche. Insbesondere die Klärung sprachlicher Auffälligkeiten steht im Zentrum seines Kommentars. Ausführlich rekurriert er auf die Sekundärliteratur, insbesondere auch auf Heinrich Ewalds sprachwissenschaftliche Untersuchungen.97 Abgekoppelt von Fragen nach der literarischen Entstehung des Jeremiabuchs scheint Graf von Ewalds Prophetendeutung inspiriert zu sein, auf den er immer wieder verweist und den er ausführlicher zitiert98 – ohne die Tiefe seiner Deutung zu erreichen. Graf teilt mit Ewald das Verständnis der israelitischen Propheten als großer Persönlichkeiten. Daher rührt sein Urteil der Einheitlichkeit des Jeremiabuchs, auch wenn er im Laufe der Kommentierung immer wieder gesonderte Textabschnitte markiert. Und auch wenn sich Graf zur Persönlichkeit desselben nicht weiter äußert, so erfährt man doch immerhin soviel, als daß einerseits zum „Charakter der Schreibart des Jeremia“ ein „Mangel an Zusammenhang und Ordnung“99 ge96 A. a. O., XXXIV f. Hervorhebungen im Original. Konkret heißt es zum ursprünglichen Jeremiabuch: „Aus der Untersuchung der einzelnen Abschnitte […] ergibt sich, dass mit Ausnahme weniger späterer Zusätze Cap. 1,1–19,13, C. 22. 23. 25. 30. 31 das ältere Buch bildeten, zu welchem auch die Weissagungen über auswärtige Völker C. 46–49,33 gehören mussten, vgl. 36,2. Gleich den Büchern eines Hosea, Amos, Micha, gleich dem ersten Buche des Jesaja, so erscheint auch dieses Buch als ein Ganzes; 1,1.2 bildet die Ueberschrift, 1,4 ff. wie jetzt noch die Einleitung, an welche sich zunächst eine Uebersicht des unter Josia Geweissagten schloss, die messianische Weissagung C. 30. 31 den Schluss; welche Stelle die jetzt am Ende stehenden Cap. 46 ff. einnahmen, ist ungewiss.“ (A. a. O., XXXVII) Und mit einem Zitat aus der Prophetendeutung Ewalds fährt Graf fort, die Entstehung des Buches erklärend: „,Sichtbar ging der Prophet bei der Entwerfung jedes der einzelnen Stücke von der Erinnerung an eine durch sich selbst oder durch ihre Folgen bedeutende Rede aus, die er einst hier oder dort gehalten hatte: diese Erinnerung wurde ihm zum Mittelpunkte des zu schreibenden Stückes, woran er leicht auch Verwandtes knüpfen konnte,‘ und so griff bei der Anordnung des Stoffes neben der Zeitordnung eine gewisse Sachordnung ein indem er ‚alles Aehnliche dessen er sich aus seinen öffentlichen Reden erinnerte in leichter Ordnung an einen einmal genommenen Anfang knüpfte.‘ Ewald. Durch das Dictiren in verschiedenen Zeiten und Absätzen, wobei der Prophet auch zuweilen dem ihn überwältigenden persönlichen Gefühle Ausdruck gab, erklärt sich der Mangel an Zusammenhang, der hie und da in auffälliger Weise hervortritt.“ (Ebd., Hervorhebung im Original) – Die Originalzitate stammen aus Ewald, Die Propheten des Alten Bundes 2, 17 und 16. 97 Vgl. a. a. O., VIII, 25, 29, 34 f., 37, 43, 45, 47, 51 u. ö. 98 Vgl. nur a. a. O., VI, VIII, XXII f., XXXI f. u. ö. 99 A. a. O., 582.
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hört. Graf macht natürlich trotzdem die eine oder andere Ergänzung von späterer Hand im Jeremiabuch aus. Doch der größte Teil sei sukzessive während des Lebens des Propheten entstanden. Brüche im Text führt er auf Brüche im Lebensweg Jeremias zurück.100 Zwar sei es mitunter schwer, „die Spur des zuerst Niedergeschriebenen zu verfolgen und dieses von dem später Hinzugefügten zu scheiden“101. Aber moderne Vorstellungen zur Komposition von Texten dürften nicht an das Prophetenbuch herangetragen werden – zeige sich doch deutlich, „wie wenig bei der Anordnung der Aussprüche Jer.’s irgend eine chronologische Rücksicht obwaltete, wie vielmehr theils Gleichartiges ohne Rücksicht auf die Zeit, der es ursprünglich angehörte, nur des Inhaltes wegen zusammengestellt wurde, theils auch bei Verschiedenheit des Inhaltes nur irgend eine Aeusserlichkeit Veranlassung gab, ein Stück gerade da, wo wir es jetzt finden, beizufügen“102. Zudem habe Jeremia nicht nur aus seinem eigenen Genius geschöpft, sondern überkommene Traditionen aufgenommen und neu gedeutet – worauf Graf weitere Brüche und abrupte Wechsel auf der Textebene des Jeremiabuchs zurückführt.103 Andererseits zeichnet Graf in Bezug auf Jeremia das Bild eines Propheten, dessen Wesen durch eine besonders ausgeprägte Gabe der Verinnerlichung und Einbildungskraft ausgezeichnet ist. Er wird nicht nur als Verkünder des Unvermeidlichen dargestellt, sondern die Folgen seiner Botschaft „treten dem Propheten vor die Seele“ – was bedeutet, daß er in prophetischer Weise nicht nur ‚sieht‘, was kommen wird, sondern zugleich auch ‚fühlt‘, worauf seine Weissagungen hinauslaufen werden.104 Da Jeremia kein Heilsprophet gewesen sei, sondern dem Kult, dem Staat und der Dynastie Judas großes Unheil zu verkündigen gehabt habe, bedeutete dies für den Propheten und seine Anhänger große ‚Leiden‘: „Das Leiden war eigentlich für den Propheten wie für die Frommen im Volke ein unverdientes, und doch war es ein unvermeidliches, das er mit Allem auf sich nehmen und ertragen musste; musste auch das jetzige Geschlecht die 100 Dabei zeichne sich das Jeremiabuch durch eine besonders treue Bewahrung der Botschaft des Propheten aus: „Ein Gleiches [nämlich ihre Weissagungen verschriftlichen, Anm. M. G.] thaten auch andere Propheten, deren Schriften, ein längeres, wohlgeordnetes und in sich abgerundetes Ganzes bildend, dem Leser ein treues Bild ihrer Botschaft darbieten, nicht aber eine wortgetreue Sammlung des vor den Zuhörern zu verschiedenen Zeiten gesprochenen enthalten.“ (A. a. O., 440) 101 A. a. O., 254. 102 Ebd. 103 So hält Graf beispielsweise im Hinblick auf die Aufnahme jesajanischen Gedankenguts fest – hier die Moabiter betreffend: „Schon Jesaja hatte eine ältere Weissagung über Moab unter seine Weissagungen aufgenommen […] und ihre Erfüllung in baldige Aussicht gestellt […]; doch war sie bis zu der Zeit des Jeremia noch nicht in Erfüllung gegangen […], darum nahm sie Jer. wieder in seine eigene Weissagung auf, um ihre nunmehr nahe gekommene Erfüllung […] zu verkündigen. Doch that er dies nicht wie Jesaja durch wörtliche Wiederholung, sondern indem er ihre Gedanken und Ausdrücke mit den seinigen verwob und sie sie erweiterte und gewissermassen erneuerte.“ (A. a. O., 530) 104 Alle Zitate a. a. O., 80.
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Strafe für die Sünden vieler vergangenen Geschlechter, der Fromme die Strafe für die Sünden der Unfrommen mit büssen, so mussten sie doch diese Strafe als die ihnen zukommende ansehen und mit Ergebung das bittere Leid über sich ergehen lassen.“105 Aufgrund seiner besonderen Empfindsamkeit müsse es ihn um so härter getroffen haben, daß er „verhöhnt“, „verfolgt“, „mishandelt“ und „mit dem Tode bedroht“106 worden sei. „Die Predigt und Weissagung Jer.’s bewegte sich […] immer um dieselben Gegenstände, und wenn das, was er seit langen Jahren mündlich vorgetragen, nun schriftlich wiederholt werden sollte, so war der Zweck dieser Niederschrift nicht ein archivarischer, sondern ein rein praktischer: diese Wiederholung sollte jetzt im Angesichte der nahenden Gefahr einen um so grössern und nachhaltigern Eindruck machen.“107 Angesichts der Grafschen Deutung der Prophetie des Jeremia verwundert es kaum, daß er möglichen Redaktionen im Jeremiabuch und möglichen historischen Konstruktionen in der Jeremiageschichte nicht nachgeht bzw. ihnen keinerlei Aufmerksamkeit widmet. Zwar macht Graf immer wieder auf ‚Constructionen‘ aufmerksam108, dabei handelt es sich aber durchgängig um den Aufweis grammatikalischer Besonderheiten im hebräischen Text. Und auch wenn Graf bereits einleitend – im Hinblick auf die Rolle des Schreibers Baruch bei der Verschriftlichung des Jeremiabuchs – von einer „neuen Redaction des Ganzen“109 und einer „spätern Redaction des Buches“110 spricht – so sind diese doch in keiner Weise mit den von ihm in den folgenden Schriften zum Pentateuch herausgearbeiteten Großredaktionen zu vergleichen. Zwar hat Graf diese durchaus im Blick, wenn er darauf verweist, daß die gesetzlichen Bestimmungen des Alten Testaments nicht etwa dem Auftreten der Propheten vorausgingen, sondern als eine Folge ihres Wirkens zu verstehen sind. Aber: „Von einer von Gott am Sinai gegebenen Opfergesetzgebung wusste man […] zur Zeit des Jer. nichts“111. Der Prophet Jeremia ist für Graf gerade deshalb der bedeutendste unter den alttestamentlichen Propheten, da sein Auftreten in die Zeit der Reform des Josia fällt. Die seit den Forschungen Wilhelm Martin Leberecht de Wettes mit dem Wirken des Königs von Juda verbundene Veröffentlichung des deuteronomischen Gesetzes versteht Graf als eine unmittelbare Wirkung der Weissagungen Jeremias – wobei das Deuteronomium erst den Beginn der gesetzlichen Überlieferungen des Alten Testaments markiert. Die vor allem in den mittleren Büchern des Pentateuchs versammelten priesterlichen Gesetze gehören einer deutlich späteren Zeit an.112 Ihrer Redaktion sind die oben schon behandelten 105 106
A. a. O., 166. A. a. O., 279. 107 A. a. O., 440. 108 Vgl. a. a. O., 6, 46, 52 f., 117, 204 u. ö. 109 A. a. O., XXXVIII. 110 A. a. O., XXXIX. 111 A. a. O., 123. 112 „Nichts kann uns berechtigen, diese ältesten und klarsten Zeugnisse [gemeint ist
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Kapitel IV: Karl Heinrich Graf
und vier Jahre nach dem Jeremiakommentar erschienenen ‚Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments‘ aus dem Jahre 1866 gewidmet. In ihnen untersucht Graf die sogenannten alttestamentlichen Geschichtsbücher – von Genesis bis Könige. Trotz des Einsatzes beim Deuteronomium, bildet die Erklärung dieses Erzählzusammenhangs von der Schöpfung bis zum Ende des israelitischen und judäischen Königtums das eigentliche Ziel. Seine Entstehung verdankt er Graf zufolge einem mehrfach gestuften redaktionellen Überarbeitungsprozeß, in dem aus ursprünglich mündlichen Überlieferungen der jetzige hebräische Textzusammenhang entstanden ist. Dabei knüpft Graf explizit an die Forschungen Ewalds an, der einen Zusammenhang der Bücher Richter, Samuel und Könige herausgearbeitet hatte. Kritisiert wird an Ewald jedoch, daß er die Einheit von Thora und vorderen Propheten nicht erkannt habe, sondern fälschlicherweise das „,grosse Buch der Könige‘ von dem ‚Buch der Urgeschichten‘ (Pentateuch-Josua) als ein davon ganz unabhängiges Werk“113 unterschied. Erstmals schriftlich niedergelegt sei der zusammenhängende Überlieferungskomplex in der Priesterschrift gewesen, damals noch Elohist genannt. Aus dieser ‚Urschrift‘ wiederum sei durch Überarbeitungen und Erweiterungen der erzählerische Zusammenhang von Hexateuch und vorderen Propheten hervorgegangen.114 Somit ist das sukzessive Wachsen der schriftlichen Überlieferung wohl am besten redaktionsgeschichtlich zu begreifen. Graf macht konsequenterweise auch auf eine Parallele in der Entstehung des Jeremiabuches aufmerksam, welches er ebenfalls als ein einheitliches Ganzes verstanden wissen möchte.115 Nicht zu Unrecht steht Graf für die Etablierung der sogenannten neueren Urkundenhypothese – wonach auf den Jehovisten zunächst das DeuteronomiJer 7,22 f., Anm. M. G.] um einer angeblichen Tradition, einer hergebrachten Ansicht willen, auf welche inconsequenter Weise bei andern Büchern des A. T. kein Werth gelegt wird, zu verdunkeln und zu entstellen oder ganz zu ignoriren. Aus denselben geht vielmehr auf das unzweifelhafteste hervor, was sich ausserdem auch noch aus vielem innern Beweisen ergibt, dass die Ceremonialgesetze in der Mitte des Pentateuchs und was damit zusammenhängt, wie die Beschreibung der Stiftshütte, den spätesten Bestandtheil des Pentateuchs bilden und erst in die Zeit nach dem Exil gehören. Erst als der Tempel zerstört und die Priesterschaft desselben in der Verbannung zerstreut war, konnte überhaupt ein Bedürfniss vorhanden sein, die gottesdienstlichen Ceremonien, die bis dahin von den Priestern der Ueberlieferung gemäss beobachtet und aufrecht erhalten worden waren, für den wiederhergestellten Tempel niederzuschreiben und dabei manches Schwankende und Unbestimmte in Bezug auf einzelne Punkte genauer festzulegen und zu bestimmen.“ (A. a. O., 123) 113 A. a. O., 97. 114 Vgl. a. a. O., 3 f. 115 Wie bei den alttestamentlichen Geschichtsbüchern sei auch im Falle des „Buch[es] des Jeremia durch spätere Hinzufügung neuer Abschnitte aus einem kleinen Ganzen ein grösseres Ganze[s] geworden“ (A. a. O., 3). Eine Analogie läßt sich freilich nur in sehr begrenztem Maße aufweisen, da die umfangreichen redaktionellen Überarbeitungen in den Geschichtserzählungen – die Graf herausarbeitet – kaum mit den Erweiterungen des Jeremiabuches verglichen werden können.
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um und dann die Priesterschrift folgte. Die Besonderheit des Grafschen Modells besteht darin, daß er die Texte der klassischen Priesterschrift in die „Geschichtserzählung in Exodus und Numeri“116 und die ‚mittlere Gesetzgebung des Pentateuchs‘117 aufteilte. Graf geht im Anschluß an die Forschungsdiskussion seiner Zeit davon aus, daß die historischen Erzählungen des ‚Elohisten‘ die Grundschrift der Überlieferung darstellen. Und auch in der Annahme, „dass der Pentateuch eben so wohl wie die übrigen damit im Zusammenhang stehenden historischen Bücher des A. T. erst durch mehrfache zu verschiedenen Zeiten vorgenommene Ueberarbeitungen und Erweiterungen die Gestalt erhalten hat, in welcher er uns überliefert worden ist“118, besteht kein Dissens zur damaligen Forschung. „[D]ass die Gesammtheit dieser Bücher nicht sowohl eine Sammlung als vielmehr ein Ganzes bildet, in welchem sowohl mündliche Ueberlieferung als aus verschiedenen andern Schriften Entnommenes zum Theil durch wörtliche Aufnahme verarbeitet ist“119, war zu seiner Zeit allgemein anerkannt – auch wenn sich in der Formulierung ein Spezifikum der Grafschen Forschungen andeutet. Graf unternimmt nämlich den Versuch, die Scheidung der einzelnen Urkunden und die Abgrenzung der verschiedenen Fortschreibungen redaktionsgeschichtlich zu erklären. Damit gibt er der Diskussion um die bis zu Wellhausen heftigst umstrittene Pentateuchkritik einen eigenen Akzent. Denn unbeschadet von geschichtlichen und religionsgeschichtlichen Fragen lenkt er den Blick auf die Verknüpfung der vielfältigen ‚Sammlungen‘, die aus den zahllosen Quellen und im Alten Testament bewahrten Quellenresten das ‚Ganze‘ der alttestamentlichen Überlieferungen entstehen ließ. Dabei hat Graf nicht nur die Großredaktionen der historischen Erzählungen der Priesterschrift, des Jehovisten, des Deuteronomiums, der priesterschriftlichen Gesetzgebung des mittleren Pentateuchs und der „allerletzten Redaction des Pentateuchs“120 im Blick, sondern er rekonstruiert auch kleinere zusammenhängende Fortschreibungen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist, daß es die mosaische Gesetzgebung in der im Alten Testament überlieferten Form zur Zeit der Errichtung des zweiten Tempels noch nicht gegeben haben könne, sondern daß sie ein Produkt der späten nachexilischen Zeit sein müsse.121 Mit dieser Annahme eröffnet Graf seiner eigenen Argumentation einen weiten Raum, indem er – hier an einem Beispiel zur Rezeption der historischen Erzählungen der Priesterschrift durch 116
A. a. O., 19.
117 Vgl. a. a. O., 118 A. a. O., 2. 119 Ebd. 120 A. a. O.,
1, 3, 69 u. ö.
91. die ersten Ansiedler, meist aus priesterlichem Geschlechte, nach Jerusalem kamen, um den neuen Tempel zu bauen und das israelitische Gemeinwesen wiederherzustellen, brachten sie keineswegs ein mosaisches Gesetzbuch als Regel und Richtschnur ihrer neuen Einrichtungen mit.“ (A. a. O., 71) 121 „Als
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den Deuteronomiker erläutert – darauf aufmerksam macht, daß selbst eine markante Sammlung wie die „Fassung“ des Dekalogs in Ex 20 „keine authentische Urkunde war, an deren buchstäbliche Ueberlieferung er [gemeint ist der Deuteronomiker, Anm. M. G.] sich gebunden geglaubt hätte, sondern dass ihm nur daran lag, den Inhalt dieser göttlichen die Grundlage der prophetischen Predigt bildenden Forderungen seinen Zeitgenossen einzuprägen“122. Aufgrund seines weiten Begriffs von ‚Urkunde‘123 bzw. ‚Sammlung‘124 stellt für Graf die Frage der ersten Verschriftlichung der zunächst mündlich tradierten altisraelitischen Überlieferungen kein größeres Problem dar. Letztlich geht er immer von festgefügten, abgrenzbaren Überlieferungskomplexen aus, egal ob sie nun schriftlich oder mündlich weitergegeben werden – charakteristisch für die Literaturwerdung des Alten Testaments sei vielmehr die Gleichzeitigkeit beider. Mündliche und schriftliche Denkmale gingen nicht nur nebeneinander her, sondern befruchteten sich gegenseitig. Möglich war dies, da Graf die Tradierung der nach und nach entstandenen alttestamentlichen Texte und Textpassagen an das Vorhandensein schriftgelehrter Persönlichkeiten knüpft. Konkret denkt er an Propheten und Priester, die einen Kreis von Schülern um sich scharten und eine Art von Gelehrtenzirkeln bildeten.125 Mit der Fokussierung auf die Inhalte und nicht auf die Form geht bei Graf die These einher, daß die Religion des alten Israels, ebenso wie Judentum und Christentum zwar heilige Schriften hervorgebracht hätten, daß sie jedoch im engeren Sinne nicht als Schriftreligionen anzusehen seien, da sie sich nicht auf diese gründeten.126 Interessanterweise verweist Graf gerade in diesem Zusammenhang auf Abraham Geiger und seine Thesen zur Überlieferungsgeschichte der Bibel. 122
A. a. O., 20. Vgl. a. a. O., 9, 20, 112 f. Vgl. a. a. O., 25, 75, 85. 125 „Gleichwie früher die Kenntniss der auf altem Herkommen beruhenden oder aus diesem hervorgegangenen und entwickelten Gesetze und Bräuche Jahrhunderte lang in dem Kreise gesetzeskundiger Priester und Propheten durch mündliche Ueberlieferung fortgepflanzt wurde, bis diese Ueberlieferung durch kürzere und längere Aufzeichnungen festgehalten und endlich durch allmählige Vervollständigung zu einem schriftlichen Ganzen vereinigt ward, so ging nach dieser Zeit abermals im Kreise der schriftkundigen Gelehrten eine mündliche sich stets erweiternde Gesetzesüberlieferung Jahrhunderte lang neben der schriftlichen her, bis sie in den Sammlungen der Mischna und dann der Gemara niedergeschrieben wurde; und wie man sich bei jenen Gesetzen der allmäligen und zum Theil durch geschichtliche Verhältnisse späterer Zeit hervorgerufenen Ausbildung nicht mehr bewusst war, sondern alle diese Gesetze, deren Ursprung sich in eine dunkle Vorzeit verlor, als schon bei der Gründung der Gemeinde gegeben ansah und daher auf Mose zurückführte, so wurden auch die endlich im Talmud niedergelegten Satzungen auf eine dem Mose auf dem Sinai gewordene, von diesem neben dem schriftlichen Gesetzte den Aeltesten mitgetheilte und durch diese fortgepflanzte Offenbarung zurückgeführt.“ (A. a. O., 112 f.) 126 „Ebenso wenig als die Kirche des neuen Bundes ist die Kirche des alten Bundes auf eine schriftliche Urkunde gegründet, sie ruht vielmehr auf dem lebendigen Worte der Offenbarung durch die Propheten vgl. 2 Kön. 17,13. Sach. 7,12.“ (A. a. O., 113) 123 124
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Aufgrund dieser Überlegungen steht es für Graf außer Frage, daß dem Deuteronomiker – bei dem die Überlegungen Grafs ihren Ausgangspunkt nehmen – sowohl historische als auch gesetzliche Überlieferungen vorausgegangen sein müssen. Was die geschichtlichen Erzählungen anbelangt, so können dies nicht nur die des ‚Jehovisten‘ sein, sondern auch die der Priesterschrift sind vorauszusetzen; bei den gesetzlichen Überlieferungen denkt Graf vor allem an den Dekalog (Ex 20) und das Bundesbuch (20,22–23,33).127 Er wendet sich gegen Überlegungen, die darauf hinauslaufen, daß die historische Begebenheiten schildernden priesterschriftlichen Erzählungen später als die des ‚Jehovisten‘ und des ‚Deuteronomikers‘ entstanden sein könnten.128 Vielmehr müßten die Autoren der verschiedenen Redaktionen im Alten Testament aus ihrem jeweiligen Kontext heraus verständlich gemacht werden. Ohne Anregungen durch mündliche Überlieferungen sei das Werk keines Autors erklärbar: „Aus diesen Bemerkungen [zu sagenhaften Erzählungen des Deuteronomiums, die sich in den früheren Texten noch nicht finden, Anm. M. G.] könnte man schliessen, dass der Verfasser des Deut. überhaupt nur der im Volke lebenden mündlichen Ueberlieferung folge, und dass für das frühere Vorhandensein der in Exodus und Numeri auf uns gekommenen Erzählung nichts daraus entnommen werden könne; da er aber sein Werk durch eine Uebersicht über diese Erzählung (C. 1–4) mit dieser selbst verknüpft, so muss diese, abgesehen von andern Gründen, auch schon als älteres Werk vorhanden gewesen sein, theilweise um so älter, als sich dasselbe selbst wieder als eine Ueberarbeitung darstellt, und da er es seinerseits wieder erweitert, so lässt sich auch gar nicht voraussetzen, dass es ihm bei der erstmaligen Abfassung seines eigenen Werkes habe unbekannt sein können.“129 Der Autor und sein Werk seien allein aus dem Zusammenspiel mündlicher und schriftlicher Traditionen heraus zu verstehen, wobei es ihm stets um die Weitergabe des Geistes der Traditionen gegangen sei und nicht um ein ängstliches Festhalten am Buchstaben. Wie auch immer die Rezeption und Aneignung überkommener Traditionsstoffe im Detail zu werten ist: Graf geht davon aus, daß die Kreativität der Redaktoren nicht zu unterschätzen ist und daß ohne ihre Genialität das Fortleben der israelitischen und jüdischen Überlieferungen und die Entstehung des Alten Testaments nicht denkbar sei. Die Stärke der Grafschen Fragestellung liegt darin, daß er nicht von anonymen und nicht mehr zu rekonstruierenden Fortschreibungsvorgängen aus127
„Wie zu der Geschichtserzählung in Exodus und Numeri, so verhält sich nun auch der Deuteronomiker zu der Gesetzsammlung Ex. 20–23. Der Dekalog in der Fassung, in welcher er Ex. 20 überliefert erscheint, ist offenbar älter und ursprünglicher als Deut. 5 […]; die fast durchgängige wörtliche Uebereinstimmung […] beweist, dass jener Dekalog des Exodus dem Deuteronomiker vorlag, mochte er ihn auch nur aus dem Gedächtniss niederschreiben, [so oder so erklären sich, Ergänzung M. G.] die Abweichungen theils in der Motivirung […] oder im Ausdruck […], theils durch Zusätze […] oder Umstellung“ (A. a. O., 19). 128 Vgl. auch a. a. O., 8. 129 A. a. O., 13.
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geht, sondern nach den Redaktoren des Alten Testaments fragt. Die von ihm herausgearbeiteten verschiedenen Stufen seiner Entwicklung werden als Produkte der kreativen Leistung der Autoren erklärt. Auch wenn sich Grafs Argumentation vor allem auf den Pentateuch beschränkt, was seiner Bedeutung im damaligen wissenschaftlichen Diskurs geschuldet ist – ohne die Annahme stufenweiser Fortbildungen einzelner Überlieferungsblöcke erklären sich ihm auch nicht die Entstehung der übrigen Schriften des Alten Testaments.130 Ausgangspunkt der Erklärung Grafs ist die schon mehrfach benannte Aufteilung der Priesterschrift, ohne die „die ganze Geschichte der israelitischen Rechtsentwicklung auf den Kopf“131 gestellt würde. Entscheidend ist seiner Meinung nach die richtige Verortung der verschiedenen Gesetzgebungen – der zehn Gebote, des Deuteronomiums und der mittleren Bücher des Pentateuchs.132 Der ‚Elohist‘, der erstmals die geschichtlichen Überlieferungen Altisraels – die Graf von den gesetzlichen Passagen der Priesterschrift trennt – in einen schriftlichen Zusammenhang gebracht hat, ist der Verfasser der „Urschrift“133 des Alten Testaments. Ohne daß Graf auf sein Wirken näher eingeht, wird doch deutlich, daß er sich den Autor in Analogie zu den Verfassern der späteren Teile des Alten Testaments vorstellt. Seine spezifische Leistung besteht in der Erstmaligkeit der Verschriftlichung der historischen Erinnerungen Israels – denn ohne diesen Ausgangspunkt kann sich Graf die folgende Entwicklung nicht vorstellen. Irgend eine Form der Erinnerungspflege muß es auch im alten Israel gegeben haben und so konnte der ‚Elohist‘ in seinem Werk auf Sammlungen dieser Erinnerungen – beispielsweise die Exoduserzählungen – zurückgreifen. Seine Kreativität sieht Graf damit nicht zuvorderst in seiner freien, spekulativen Konstruktivität gegeben, sondern in der Gabe der Aneignung und Verschriftlichung der überlieferten israelitischen Traditionen, die er für sein Werk redigierte. Parallel zur Arbeit des ‚Elohisten‘ muß es Graf zufolge auch einen Autor gegeben haben, der die ersten gesetzlichen Überlieferungen Israels in einen schriftlichen Zusammenhang gebracht hat – er denkt vor allem an den Dekalog, das Bundesbuch und den sogenannten kultischen Dekalog in Ex 34. Denn der ‚Jehovist‘ hat diese „Sammlung von Rechtsbestimmungen“134, ebenso wie 130 So erklärt er beispielsweise im Hinblick auf die Samuelbücher: „[W]ie dort [in den erzählenden Passagen des Pentateuchs, Anm. M. G.] das Werk des Elohisten die Grundlage bildet, so lässt sich hier eine ältere, den Begebenheiten selbst nicht sehr fern stehende Geschichte Saul’s und David’s, welcher auch schon 9, 1–10, 16 angehört, als den Hauptbestandtheil der Erzählung bildend, erkennen, die durch den spätern Bearbeiter aus andern Quellen, oft mit unbefangener Nebeneinanderstellung abweichender Berichte über die gleichen Ereignisse, erweitert und vervollständigt worden ist“ (A. a. O., 99). 131 A. a. O., 93. 132 Vgl. a. a. O., 1. 133 A. a. O., 3. 134 A. a. O., 28.
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die Schrift des ‚Elohisten‘ in seinem Werk bereits „aufgenommen oder in dem von ihm überarbeiteten Buche schon vorgefunden“135. Es kommt für Graf nicht so sehr darauf an, ob diese Traditionen tatsächlich schriftlich in der Hand des Autors lagen. Selbst wenn die Überlieferung zunächst allein mündlich erfolgt ist – ‚Sammlungen‘ und ‚Urkunden‘ hat es gegeben und sie sind von den Autoren der alttestamentlichen Schriften aufgenommen und überarbeitet worden. Das gleiche Vorgehen zeichnet auch das Werk des ‚Deuteronomikers‘ aus, den „man nicht […] als identisch mit dem Jehovisten ansehen darf“136. Sowohl beim ‚Jehovisten‘ als auch beim ‚Deuteronomiker‘ lassen sich nun die Rezeptions- und Überarbeitungsvorgänge in den Texten gut nachweisen – wie er in der hier zitierten Stelle am Beispiel der Aufnahme der elohistischen Erzählungen im Deuteronomium schreibt: „[E]s finden sich bei aller freien Behandlung in der Darstellung doch Uebereinstimmungen in einzelnen Ausdrücken, die nicht als blosse Zufälligkeiten angesehen werden können, die vielmehr als Reminiscenzen […] des Exodus erscheinen und beweisen, dass diese dem Verf. bekannt war und bei seiner Schilderung vorschwebte“137. Rezeptions- und Überarbeitungsprozesse sind es, die Graf interessieren. Dies gilt gleichermaßen für die Erörterung der Werke des ‚Elohisten‘, ‚Jehovisten‘ und ‚Deuteronomikers‘. Und auch die ‚mittlere Gesetzgebung des Pentateuchs‘ – die Graf „als eine in einer bestimmten Ordnung […] vorgenommene Zusammenstellung, als eine zu einem Ganzen geordnete und in das schon vorhandene ältere Geschichtsund Gesetzbuch als Vervollständigung an passender Stelle eingefügte Sammlung“138 versteht – inklusive der ‚allerletzte[n] Redaction des Pentateuchs‘ und der frühesten Überarbeitungen und Ergänzungen der ‚Urschrift‘ des Alten Testaments untersucht Graf redaktionskritisch und -geschichtlich. Bei Graf sind die verschiedenen Autoren der alttestamentlichen Texte und Textpassagen dadurch ausgezeichnet, daß sie ältere Überlieferungen aufnehmen, überarbeiten und in einen neuen Zusammenhang bringen. Hierin liegt ein Motiv dafür begründet, bei Graf von einer redaktionsgeschichtlichen Interpretation des Alten Testaments zu sprechen. Dabei geht er von schriftgelehrten Kreisen innerhalb der Priester und Propheten aus, die die Träger der alttestamentlichen Überlieferungen gewesen seien. Prominentestes Beispiel der „unter den Priestern fortgepflanzten Ueberlieferung“139 ist die ‚mittlere Gesetzgebung des Pentateuch‘, das spätere sogenannte Priestergesetz. Prominentestes Beispiel prophetischer Überlieferung ist die Geschichtsschreibung des ‚Jehovisten‘140. 135 136
A. a. O., 29. A. a. O., 15. 137 A. a. O., 14 f. 138 A. a. O., 75. 139 A. a. O., 84. 140 „Während einst der Prophet, den man als Geschichtsschreiber den Jehovisten genannt hat, die Schrift des Elohisten, der Deuteronomiker die des Jehovisten mit Beibehaltung des vollständigen ältern Textes erweiterte und fortsetzte, liefert der Chronist eine abermalige Be-
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Die Schwäche der Fragestellung liegt darin, daß die Suche nach einzelnen Redaktionen im Alten Testament Graf den Blick für eine eigentlich geschichtliche bzw. religionsgeschichtliche Fragestellung verbaut. Zwar macht Graf immer wieder auf historische Bezüge der alttestamentlichen Überlieferungen aufmerksam – prominent mit der Verortung der deuteronomischen Gesetzte zur Zeit Josias und des priesterlichen Gesetzes zur Zeit Esras: „Wie unter Josia die Gesetzgebung des Deuteronomiums, so wurde durch Esra die Gesetzgebung des Leviticus durch feierliche Verpflichtung eingeführt, und gleichwie erzählt wird, dass von der Zeit der Richter an bis auf Josia kein Pesach in solcher Weise gefeiert worden sei wie damals nach Einführung jenes Gesetzbuchs […], so wird auch hier bemerkt, seit den Tagen Josua’s hätten die Israeliten das Laubhüttenfest nicht in solcher von dem Gesetze […] vorgeschriebenen Weise gefeiert, wie jetzt nach der Bekanntmachung des Gesetzes durch Esra.“141 Und ganz parallel zu seiner Zusammenstellung der gesetzlichen Überlieferungen des Deuteronomiums mit der Josianischen Reform und der der mittleren Bücher des Pentateuchs mit der Gesetzgebung durch Esra, weist er sämtlichen von ihm herausgearbeiteten Redaktionen des Alten Testaments einen Ort in der Geschichte Israels zu. Derart meint er, eine umfassende Neubewertung der Quellen dieser Geschichte selbst und der darauf aufbauenden historischen Anschauung des Entwicklungsganges der israelitischen und jüdischen Geschichte aufgezeigt zu haben.142 Aber leitend bleibt für Graf doch immer die redaktionsgeschichtliche Fragestellung. Dies zeigt ein vorausschauender Blick auf die erstmals 1878 erschienenen ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘ von Wellhausen. Einerseits würdigt Wellhausen es nämlich als einen „richtige[n] Instinct“ der kritischen bibelwissenschaftlichen Forschungen eines de Wette, George und Vatke, zunächst das Problem der Pentateuchkomposition angegangen zu sein und von den „geschichtlichen Probleme[n] vorläufig Abstand“ (PzGI1 10) genommen zu haben. Gerade hier sei es Graf gewesen, der die diesen Gelehrten in Zustimmung und Abgrenzung nachfolgende Forschung wieder auf das richtige Gleis führte. Denn, so Wellhausen: „Es war […] ein Irrtum, dass man mit dem Ausscheiden der Quellen – wobei man ganz sachgemäss die Hauptaufmerksamkeit immer nur auf die Genesis richtete – bei Wege lang auch jene grosse historische Frage erledigt zu haben glaubte. In Wahrheit hatte man sie nur in Schlaf gesungen: es ist Grafs Verdienst, nach einer langen Zeit sie wiedererweckt zu haben.“ (PzGI1 10) arbeitung und Fortsetzung des Ganzen, aber als ein selbstständiges Werk, in welchem von dem ältern Werke ausser dem Gesetzbuch alles das weggelassen ist, was für seine Zeit keine Wichtigkeit mehr hatte, oder in die engern Grenzen, die er sich gezogen, nicht mehr gehörte“ (A. a. O., 124). 141 A. a. O., 72 f. 142 Vgl. die eigene Aufgabenstellung Grafs im Vorwort a. a. O., V–VIII.
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Natürlich ist in Rechnung zu stellen, daß Wellhausen den entscheidenden Fortschritt in der Forschung erst in seinen eigenen Arbeiten erblickt und nicht in denen Grafs. Erst für sich selbst nimmt Wellhausen in Anspruch, die richtige Fragestellung gefunden zu haben, wie er in den berühmt gewordenen Sätzen der Eröffnung seiner ‚Prolegomena‘ schreibt: „Das vorliegende Buch unterscheidet sich von seinesgleichen dadurch, dass die Kritik der Quellen darin einen ebenso breiten Raum einnimmt als die Darstellung der Geschichte. Warum es so angelegt worden, wird es selber erweisen; hier soll nur gesagt werden, um was es sich in diesem ersten, kritischen Teile handelt. Die Frage ist, ob das mosaische Gesetz der Ausgangspunkt sei für die Geschichte des alten Israel oder für die Geschichte des Judentums, d. h. der Sekte, welche das von Assyrern und Chaldäern vernichtete Volk überlebte.“ (PzGI1 1, Hervorhebungen im Original) Daher verwundert es kaum, daß Wellhausen Graf zum Vorwurf macht, den „Fortschritt der Secirarbeit“ ignoriert zu haben, weshalb er sich in eine kaum haltbare „Verlegenheitsannahme“ (PzGI1 10) verwickelte. An dieser Stelle macht Wellhausen Graf den immer wieder zu hörenden Vorwurf, unzulässigerweise die Priesterschrift in einen älteren geschichtlichen Teil und einen jüngeren gesetzlichen Teil getrennt zu haben. Wie bereits erwähnt, hat Graf in einem posthum erschienenen Aufsatz – der sich mit den Kritikern seiner Forschungen zu den geschichtlichen Büchern des Alten Testaments auseinandersetzt – eine Korrektur seiner grundlegenden Annahmen vorgenommen. Gegenüber seinen Kritikern gibt er bereits einleitend zu: Es sei nicht zu leugnen, „dass nach charakteristischen Formeln und nach dem ganzen Charakter der Schreibart die Ritualgesetze […] derselben Redaction angehören wie die elohistische s. g. Grundschrift“143. Graf spricht nun nicht mehr von der ‚mittleren Gesetzgebung des Pentateuchs‘, sondern er bezeichnet sie als ‚Ritualgesetz‘ – keine unpassende Bezeichnung für die priesterschriftlichen Texte. Und in der Zusammenstellung der ‚Ritualgesetze‘ mit der elohistischen Grundschrift erblickt Graf nun die Lösung des Pentateuchproblems: „Diese Lösung besteht einfach darin, dass die s. g. Grundschrift den Bestandtheil des Pentateuchs bildet, der am spätesten hinzugekommen und mit dessen Einführung die Redaction desselben abgeschlossen worden ist.“144 Damit hat Graf die klassische Ausformung der neueren Urkundenhypothese gefunden: Der Jahwist und ein zweiter, sogenannter elohistischer Erzähler – wohlgemerkt nicht die Grundschrift – bilden den ältesten Bestandteil des Pentateuchs. Darauf folgt das Deuteronomium. Den Abschluß bildet das Priestergesetz. Bei aller Nähe zu Wellhausen bleibt festzuhalten, daß dies lediglich eine in intensiver Diskussion mit der deutschen Sekundärliteratur erfolgende Modifikation seines redaktionsgeschichtlichen Ansatzes darstellt. Graf ist der Überzeugung, so ein einfacheres Schema für 143 144
Graf, Die s. g. Grundschrift des Pentateuchs, 467. A. a. O., 468.
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die Zuordnung der verschiedenen Pentateuchredaktionen gefunden zu haben, von der er meint, daß sie ihm den Schlüssel für die Entstehung und Fortschreibung der alttestamentlichen Schriften im Ganzen in die Hand gibt. Letztlich bleibt der Wellhausensche Vorwurf an die ältere Forschung aber auch gegenüber Graf zu Recht bestehen, denn religionsgeschichtliche Überlegungen zur Absicherung der eigenen Ergebnisse finden sich bei Graf nur am Rande. Von einer Korrelation seiner quellenkritischen Erkenntnisse mit religionsgeschichtlichen Untersuchungen ist nichts zu finden.145
3.2. Ältere und neuere Urkundenhypothese Auch wenn im bisherigen Verlauf der Argumentation deutlich geworden sein dürfte, daß es sich bei der Zuordnung Grafs zu den Vertretern der neueren Urkundenhypothese um eine vereinfachende Schematisierung handelt, und trotz der begrenzten Gültigkeit dieser Zuordnung, da Graf erst in einem posthum erschienenen Aufsatz zur sogenannten Grundschrift zu den klassischen Vertretern dieser Hypothese gerechnet werden kann, soll sie hier abschließend noch einmal kurz aufgegriffen werden. Denn eingedenk der Schwächen dieser Begriffsbildung ist sie doch im Stande, Licht auf das Charakteristische der Grafschen Forschungen zu werfen – zumal wenn man die Abgrenzung der ‚neueren‘ von der ‚älteren‘ Urkundenhypothese mit berücksichtigt. Angesichts des mit Wellhausen erreichten Diskussionsstandes der alttestamentlichen Forschung ist zunächst eine Schwäche von Grafs redaktionsgeschichtlicher Interpretation des Alten Testaments zu benennen: Die sich mit seinen Erkenntnissen aufdrängenden religionsgeschichtlichen Probleme hat er nicht hinreichend erkannt und in seinen Forschungen nur unzureichend berücksichtigt. Positiv ist festzuhalten. Mit seinen Arbeiten hat er einen wesentlichen Beitrag für die Durchsetzung der neueren Urkundenhypothese geleistet, so daß im Hinblick auf Grafs Gesamtwerk durchaus zu Recht von ‚Grundlagenforschung‘ gesprochen werden kann.146 Das zusammenfassende Urteil über seinen 145 „Welche Ansicht man nun von dem Alter der s. g. Grundschrift haben mag, ob man diese als ein zusammenhängendes Werk ansieht, welches stückweise an passender Stelle in das Werk des Jahwisten eingetragen worden, oder nur als aus Bruchstücken eines solchen Werkes oder überhaupt nur aus einzelnen Zusätzen bestehend, ob man dieses Einschieben in früherer oder späterer Zeit von einem blos compilierenden oder frei redigirenden Sammler oder Bearbeiter bewerkstelligt werden lässt, gleichviel: es hat eine Zeit gegeben, in welcher das Werk des Jahwisten ohne diese Stücke [konkret genannt wird die Schöpfungsgeschichte, Anm. M. G.] der ‚Grundschrift‘ […] vorhanden war […]. Wenn man sich die Nothwendigkeit dieser Vorstellung einmal klar gemacht hat, so ist der Bann gebrochen, der sich der Umkehrung der gewohnten Anschauung entgegenstellte, und in diesem späteren Eintragen dessen, was man sonst als die Grundschrift ansah, mag Manches seine Erklärung finden, was bis dahin dunkel bleiben musste.“ (A. a. O., 469) 146 So Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament, 181.
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Stellenwert in der alttestamentlichen Forschungsgeschichte wird daher immer ein ambivalentes bleiben.147 Im Hinblick auf die eine Seite, die hier vor allem dargestellte Pentateuchund Prophetenforschung – der in der damaligen Diskussion um die Interpretation des Alten Testaments eine zentrale Rolle zukam – ist des Näheren festzuhalten, daß Graf zwar für die spätere Entstehung der priesterlichen Gesetze ganz wesentliche Argumente zusammengetragen hat. Ein Gesamtbild der Entstehung des Pentateuchs und der Religionsgeschichte Israels und Judas gewann er aber nur in Ansätzen. Besonders in seinem Kommentar zum Propheten Jeremia wird deutlich, daß er das Phänomen der israelitischen und jüdischen Prophetie und ihre Bedeutung für die Religionsgeschichte nur am Rande berücksichtigt. Die damit verbundenen Probleme standen ihm in ihrer Tragweite nicht vor Augen. Mit diesem kritischen Fazit ist aber nur die eine Seite der Wirkung Grafs bezeichnet. Wie eingangs zitiert, war der Hinweis auf Grafs Forschungen für Wellhausen eine Bestätigung oder ein Beleg, vielleicht auch nur ein Anstoß, der zur Neuausrichtung seiner eigenen Studien zum Alten Testament führte. Bewirkt wurde dies durch Grafs Neudatierung der Quellen des Pentateuchs, welche seinem Namen einen Platz im Rahmen der alttestamentlichen Forschungsgeschichtsschreibung sicherte: „Graf’s theory paved a new way not only for source critics but also for how scholars interpreted the history and religion of ancient Israel.“148 Mit seinen Arbeiten fand eins der Grundmodelle zur Entstehung des Pentateuchs seine klassische Ausprägung – die Urkundenhypothese. Zurückgeführt wird dieser „Versuch, die einzelnen Bestandteile, aus denen der Pentateuch zusammengesetzt ist, schärfer voneinander zu sondern und nach Zeit und Tendenz genauer zu bestimmen“149 gemeinhin auf Henning Bernhard Witter (1683–1715)150 und Jean Astruc (1684–1766)151. Sie gelten 147 „Graf’s
reconstruction of the Hexateuch received much attention and positive as well as negative criticism.“ (Römer, ‚Higher Criticism‘, 422 f.) 148 Karl William Weyde, Studies on the Historical Books – Including Their Relationship to the Pentateuch, in: HBOT 3.1 (2013), 521–555, 532. 149 Eissfeldt, Einleitung in das Alte Testament, 188 (Hervorhebungen im Original). 150 „Mit diesem Versuch hat begonnen der Hildesheimer Pfarrer H. B. Witter in seinem 1711 erschienenen Buch ‚Jura Israelitarum in Palaestinam‘, einem unvollendet gebliebenen, nämlich nur bis Gen 17,27 reichenden Kommentar zum Pentateuch, in dem er zeigte, daß in Gen 1–2,4 ein anderer Gottesname gebraucht wird als in 2,5–3,24 sachlich 1,1–2,4 parallel sei.“ (Ebd.) – Zu Witter vgl. Hans Bardtke, Henning Bernhard Witter. Zur 250. Wiederkehr seiner Promotion zum Philosophiae Doctor am 6. November 1704 zu Helmstedt, in: ZAW 66 (1954), 151–183. 151 Vollkommen unabhängig von Witter sei eine andere Hypothese entstanden, nämlich die, „die Jean Astruc […] 1753 in seinen ‚Conjectures sur les mémoires dont il paroit que Moyse s’est servi, pour composer le livre de la Genèse‘ vertreten hat. Von dem durchaus konservativen Wunsche beseelt, die ihm feststehende Tatsache, daß Mose die ja lange vor seiner Zeit spielende Genesis verfaßt habe, verständlich zu machen, hat er die von ihm erneuerte Beobachtung der Verschiedenheit der Gottesnamen und den daraus gezogenen Schluß auf das Vorhandensein verschiedener Quellen zu der Theorie ausgebaut, daß Mose zwei Hauptquellen
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als Begründer der sogenannten ‚(älteren) Urkundenhypothese‘, die klassischerweise von der ‚Fragmenten-‘ sowie der ‚Ergänzungshypothese‘ unterschieden wird.152 Und auch wenn die verwickelte Entstehungsgeschichte der einzelnen Theorien hier nicht im Detail nachgezeichnet werden kann153, so bleibt doch festzuhalten, daß Graf für den deutschen Forschungskontext einen markanten Einschnitt und Wendepunkt bedeutete, da mit seinen Forschungen eine neue Datierung der verschiedenen ‚Urkunden‘ und ‚Sammlungen‘ des Pentateuchs verbunden wurde. Indem er mit seinem Aufsatz zur Grundschrift am Ende seiner Forschungen zu dem Ergebnis kam, daß die heute priesterschriftlich genannte pentateuchische Schicht nicht nur jünger als das Deuteronomium und die älteren historischen Bücher – also Richter bis Könige – sei, sondern auch als die heute jahwistisch und elohistisch genannten Schichten, verhalf er dieser literatur- und religionsgeschichtlichen Deutung des Alten Testaments endgültig zum Durchbruch. Dies gilt auch unbestritten von der derzeitigen berechtigten Hinterfragung der erklärenden Reichweite der Urkunden-, Fragmenten- und Ergänzungstheorien.154
vor sich gehabt habe, von denen die eine (A) den Gottesnamen ‚Elohim‘, die andere (B) ‚Jehova‘ gebraucht hätte“ (A. a. O., 189, Hervorhebungen im Original). – Zu Astruc vgl. Eduard Böhmer, Art. Astruc, in: RE3 2 (1897), 162–170 und John William Rogerson, Early Old Testament Critics in the Roman Catholic Church – Focussing on the Pentateuch, in: HBOT 2 (2008), 837–850, bes. 846 f. 152 Vgl. dazu neben Eißfeldt als Beispiele für viele nur Rudolf Smend, Die Entstehung des Alten Testaments (ThW 1), Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 21978, 37 f.; Jan Christian Gertz (Hg.), Grundinformationen Altes Testament. Eine Einführung in Literatur, Religion und Geschichte des Alten Testaments, Göttingen 22007, 197–199 und Thomas Römer, B. Der Pentateuch, in: Walter Dietrich / Hans-Peter Mathys / Ders. / Rudolf Smend (Hgg.), Die Entstehung des Alten Testaments. Neuausgabe (ThW 1), Stuttgart 2014, 53–166, bes. 57 f. 153 Vgl. dazu Ernest Nicholson, The Pentateuch in the Twentieth Century. 154 Vgl. nur Römer, der zu Graf festhält: „Interessanterweise haben Reuss und Graf, die mit anderen die Spätdatierung der priesterlichen Texte im Pentateuch durchsetzten, und damit Kuenens und Wellhausens Vierquellentheorie mit P als der jüngsten Urkunde ermöglichten, an einer Kombination aus Ergänzungs- und Fragmentenhypothese festgehalten. Beide gingen von einer Grundschrift aus, die im 8. Jh. vom Jehovisten überarbeitet wurde, welcher einen Hexateuch, jedoch ohne das Buch Deuteronomium, kreierte. Dieses wurde in der Exilszeit von einem Deuteronomisten überarbeitet und zwischen Numeri und Josua eingefügt. Die priesterlichen Gesetze existierten zunächst als eine selbständige Sammlung, die dann in nachexilischer Zeit in den dtr Hexateuch eingefügt wurde. Nach Kritiken von Nöldeke und Kuenen, die Graf auf Ähnlichkeiten zwischen priesterlichen Erzähl- und Gesetzes-Texten aufmerksam gemacht hatten, kehrte dieser das Verhältnis von Jehovist und Grundschrift um und sah nun in der ‚Grundschrift‘ eine nachexilische Überarbeitung des Jehovisten, wobei er erneut die Vielseitigkeit der priesterlichen Texte betonte.“ (Römer, Zwischen Urkunden, Fragmenten und Ergänzungen: Zum Stand der Pentateuchforschung, 6). Anders als von Römer dargestellt gilt diese Kombination der eingebürgerten Grundmodelle zur Erklärung der Entstehung des Pentateuchs natürlich auch für Kuenen und Wellhausen (gegen Römer, ebd.).
Kapitel V
Johann Karl Wilhelm Vatke – Der spekulative Zugriff auf die biblische Religionsgeschichte 1. Vatke und Julius Wellhausen Johann Karl Wilhelm Vatke (1806–1882), der große spekulative Konstrukteur der alttestamentlichen Religionsgeschichte, der sich des methodischen Instrumentariums Hegels bediente, wird mit seinen Forschungen zum Alten Testament gemeinhin als Reaktion auf die Herausbildung der kritischen Bibelwissenschaften gewertet, deren Ergebnisse nun zu einem neuen Bild von der israelitischen und jüdischen Geschichte zusammengefügt wurden. Damit prägte er in entscheidender Weise den Fortgang dieser wissenschaftlichen Disziplin. Es verwundert daher kaum, daß die Bezugnahmen Julius Wellhausens auf Vatke durchweg positiv gelagert sind. Dessen Bedeutung für die kritische alttestamentliche Wissenschaft könne nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wie Rudolf Smend herausgearbeitet hat, dürfte Wellhausen dessen alttestamentliches Opus magnum: ‚Die Religion des Alten Testamentes nach den kanonischen Büchern entwickelt. Die biblische Theologie wissenschaftlich dargestellt 1‘1 zu Beginn seiner Greifswalder Zeit im Jahr 1874 kennengelernt haben.2 Vatke wurde für ihn zu einer „Hauptautorität“3, da er in dessen Forschungen eine Bestätigung seiner eigenen Einsichten fand.4 Neben dieser Aufwertung des Vatkeschen Œuvres steht jedoch in der gegenwärtigen alttestamentlichen Forschungsgeschichtsschreibung zugleich eine Einschränkung. Denn zu den unhinterfragten Selbstverständlichkeiten der Disziplin gehört die Feststellung, daß Wellhausen zwar in Vatke eine seinen eigenen Erkenntnissen entsprechende Position gefunden habe. Aber Vatkes dezidierter Hegelianismus habe keinen Einfluß auf Wellhausen ausgeübt. Diese im Folgenden zu hinterfra1
Berlin 1835, die folgenden Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Werk. Rudolf Smend, Wellhausen in Greifswald. Gastvorlesung in Greifswald 1980, in: Ders., Bibel, Theologie, Universität. Sechzehn Beiträge, Göttingen 1997, 135–165.253–256, bes. 152 f. 3 A. a. O., 153. 4 „Wellhausen suchte ihn auch einmal, im Frühjahr 1876, in Berlin auf, war aber enttäuscht: Vatke hatte sich seit langem nur noch ‚um Musik, aber nicht mehr um Theologie gekümmert. […] er war gar nichts mehr‘. Doch das Buch von 1835 war Wellhausen so viel wert, daß er noch 1877, freilich vergeblich, Vatkes Ehrenpromotion durch die Greifswalder Fakultät beantragte.“ (Ebd.) 2 Vgl.
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gende These steht auch hinter dem Resümee der umfassendsten, dem Verhältnis der beiden Alttestamentler gewidmeten Studie von Lothar Perlitt: „Vatkes Werk hat gegenüber dem Wellhausens den großen Vorzug, die theologisch-hermeneutische Frage vehement gestellt und in gründlicher Reflexion systematisch beantwortet zu haben – von den Zwängen des Systems hier einmal abgesehen. Ein so differenziertes systematisch-theologisches Problembewußtsein wird man Wellhausen nicht zugestehen können.“5 So wie hier Vatkes in Hegelscher Philosophie geschulten Forschungen tiefgehendes Reflexionsniveau zugesprochen wird, so steht Wellhausen für die Bestreitung der mit systematischen und hermeneutischen Fragestellungen einhergehenden Systemzwänge. Mit Bezug auf Perlitts Wellhausenkritik ist fraglich, ob das Urteil zutrifft, daß dessen Schriften ein mangelndes Reflexionsniveau zu unterstellen sei. Natürlich liegt auch Wellhausens Forschungen zur israelitischen und jüdischen Geschichte eine Hermeneutik zugrunde, die rekonstruiert werden kann. Der Vorwurf des mangelnden Problembewußtseins im Hinblick auf das methodischbegriffliche Instrumentarium ist wohl kaum einschlägig und wird seinem Wirken nicht gerecht. Dies gilt ebenso für die Vatkekritik. Zudem ist eine solch schroffe Gegenüberstellung der beiden Gelehrten nicht in der Lage, ihre Beziehung zu erklären. Ohne hier ins Detail zu gehen, läßt sich zu beiden sagen, daß für sie von der für jedes geschichtliche Verstehen grundlegenden Einsicht auszugehen ist, wonach die Rekonstruktion historischer Ereignisse notwendigerweise eines methodischen Maßstabs bedarf. Dieser muß zwar nicht geschichtsphilosophisch erklärt werden, kann es aber – ein Sachverhalt der ebenso für Wellhausen wie für Vatke gilt.6 Die pauschale Etikettierung als Hegelianismus, wie sie in einem Großteil der Forschungsliteratur zu Vatke gebraucht wird, ist kaum sachgemäß und hat letztlich mehr verschleiernde als erschließende Kraft. Daher soll sie im folgenden vermieden werden.7 5 Lothar Perlitt, Vatke und Wellhausen. Geschichtsphilosophische Voraussetzungen und historiographische Motive für die Darstellung der Religion und Geschichte Israels durch Wilhelm Vatke und Julius Wellhausen (BZAW 94), Berlin 1965, 243, Hervorhebungen im Original. 6 Auch bei Wellhausen lassen sich unschwer Anklänge an Hegel finden. Gut möglich, daß sie durch Vatke vermittelt wurden. 7 Präziser als die pauschale Beschreibung Vatkes als Hegelianer wäre die in der Vatkeforschung damit gemeinte Zuordnung zum älteren theologischen Linkshegelianismus. Fraglich ist allerdings, ob diese dem Kontext der theologisch-politischen Auseinandersetzungen der 1830er und 40er Jahre entstammenden Etikettierungen überhaupt sinnvoll sind, oder nicht besser vermieden werden sollten. (So auch a. a. O., 307 f.) Damit soll nicht der Einfluß Hegels auf das Denken Vatkes bestritten werden, zumal die spekulative Theologie unter anderem durch sein Werk zur Religion des Alten Testaments größere Aufmerksamkeit innerhalb des Protestantismus erlangte. (Vgl. dazu Graf, Kritik und Pseudo-Spekulation, bes. 27–36) Es ist jedoch zwischen der Interpretation des Werkes Hegels und des Entwurfs des sich als dessen Schüler verstehenden Vatkes zu unterscheiden. Für die Würdigung Vatkes bedeutet dies, das Programm seiner ‚Biblischen Theologie‘ dahingehend zu rekonstruieren und zu untersuchen, inwieweit die Ausführung desselben unter den von ihm selbst formulierten Bedingungen als in
2. Der Hegelschüler
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2. Der Hegelschüler Vatke selbst hat ab dem Sommersemester 1828 in Berlin studiert und unter anderem Schleiermacher und Hegel gehört. Vor allem letzterer war prägend für ihn. In einem Brief aus dem September desselben Jahres schreibt er an seinen Bruder: „Den ganzen Sommer habe ich Hegelsche Philosophie studiert, habe sie aber erst seit kurzer Zeit verstanden und bewundere den tiefen scharfen Geist dieses Mannes. Er verdient mit Recht den Namen eines Philosophen; was man gewöhnlich Philosophie nennt, ist das fadeste, sich selbst unbewußt widersprechendste Zeug.“8 Im Folgenden geht es insbesondere darum, den spezifischen Gebrauch des Geschichtsbegriffs durch den Hegelschüler Vatke darzustellen und die Auswirkungen aufzuzeigen, die dies auf sein methodisches Verfahren hat.9 Vatkes10 Ziel, das ihn zum Verfassen seiner ‚Biblischen Theologie‘ bewog, war die akademische Laufbahn. Konkret ging es ihm darum, eine ordentliche Professur an einer Theologischen Fakultät zu erlangen. Ein Grund, warum dies scheiterte, wird mutmaßlich darin gelegen haben, daß die Veröffentlichung seines Werkes in das Jahr 1835 fiel – zeitgleich mit der Publikation des ‚Leben Jesu‘ durch den mit ihm befreundeten David Friedrich Strauß. Damit geriet die Rezeption der ‚Biblischen Theologie‘ in das Umfeld der heftigen Diskussionen um die Straußsche Theologie. Vatkes Werk wurde als Pendant aus dem Alten Testament wahrgenommen. An der – nach dem Tod Schleiermachers – durch den lutherischen Konfessionalismus geprägten Fakultät in Berlin hatte er damit keine Chance. Zumal dessen wortgewaltiger Stimmführer Hengstenberg wußte sich konsistent gelten kann. Dies gilt zumal angesichts des von Falk Wagner für die Religionsphilosophie Hegels herausgearbeiteten Sachverhalts, daß es keinen Sinn ergibt, dieselbe durch die Perspektive seiner Schüler begreifen zu wollen. (Vgl. Falk Wagner, Die Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff. Zur Rekonstruktion des religionsphilosophischen Grundproblems der Hegelschen Philosophie, in: Ders., Christentum in der Moderne [Dogmatik in der Moderne 9], hg. v. Jörg Dierken und Christian Polke, Tübingen 2014, 228–258) Dies ist auch in umgekehrter Richtung für die Interpretation Vatkes festzuhalten. 8 Heinrich Benecke, Wilhelm Vatke in seinem Leben und seinen Schriften dargestellt, Bonn 1883, 40. 9 Diese in der Forschung noch immer offene Frage ist gerade im Hinblick auf Wellhausen von Interesse. Ersteres ist auch gegenüber Michael Bauer festzuhalten. Zum methodischen Status der Forschungen Wellhausens findet sich bei ihm folgende weitgehende, leider jedoch unausgewiesene These: „Eine umfassende Kontextualisierung Wellhausens dürfte […] ergeben, daß er, Kind seiner Zeit, nicht anders als Ranke und Mommsen sehr wohl in Entwicklungskategorien dachte, die der Dialektik entstammten.“ (Ders., Julius Wellhausen, in: Friedrich Wilhelm Graf [Hg.], Klassiker der Theologie 2. Von Richard Simon bis Karl Rahner, München 2005, 123–140, 134.) 10 Zur Biographie Vatkes vgl. Benecke, Wilhelm Vatke in seinem Leben und seinen Schriften dargestellt, sowie die kritischen Anmerkungen dazu in der von Hans-Joachim Birkner betreuten Dissertation von Michael Brömse, Studien zur „Biblischen Theologie“ Wilhelm Vatkes, Kiel 1973, 165–177.
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eine Berufung Vatkes zu verhindern.11 Und doch hat die ‚Biblische Theologie‘ in der kritischen alttestamentlichen Forschung gewirkt – auch durch die gute Beleumundung durch Wellhausen: „He brought to his work, however, a refinement of argument and an attention to detail that at the technical level advanced the critical method to a new standard.“12 Welche neuen und grundlegenden methodischen Einsichten mit den Untersuchungen Vatkes verbunden waren, soll im Folgenden erörtert werden.13
3. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik Michael Brömse – auf den sich John William Rogerson in dem obigen Zitat zur forschungsgeschichtlichen Bedeutung der Vatkeschen Arbeit bezieht – würdigt in seiner für dieses Thema noch immer maßgeblichen, unveröffentlichten Dissertation die ‚Biblische Theologie‘ „als eine der grundlegenden Arbeiten für die Darstellungsweise der Theologie des Alten Testamentes“14, die jedoch – auch im Bezug auf Wellhausen15 – kaum gewirkt habe. Letztere Behauptung darf nicht überbewertet werden. Sie stützt sich allein auf die Annahme, daß Wellhausen zur Zeit des Bekanntwerdens mit Vatkes Werk bereits eine Anschau11 „The author of the Biblical Theology, Johann Karl Wilhelm Vatke, was born in 1806 in the village of Behnsdorf, near Helmstedt. He studied under Gesenius in Halle and Ewald in Göttingen, before moving to Berlin, where he heard Neander, Schleiermacher and Hegel. In 1830, he became a Privatdozent in Berlin, and in 1831 began a collaborative friendship with D. F. Strauss, the friendship part of which lasted until Strauss’s death in 1874. The Biblical Theology was published in 1835; its aim was to secure for Vatke a full professorship. However, a year before the book’s appearance, Schleiermacher died, heralding the beginning of the dominant influence of the conservative Hengstenberg in the Berlin theological faculty. Hengstenberg was able to see to it that Vatke was never offered a full professorship, while warnings from the Minister of State responsible for universities, von Altenstein, saw to it that the Biblical Theology was never completed. Vatke’s marriage to the daughter of a wealthy Berlin merchant solved his financial problems, and after 1850 he seems to have produced nothing. He died 1882, aged 77.“ (Rogerson, Old Testament Criticism in the Nineteenth Century, 69, Hervorhebungen im Original.) 12 A. a. O., 78. Dies sieht Christoph Bultmann anders: „Die Interpretation wird zur Illustration eines religionsphilosophisch und geschichtsphilosophisch verstandenen zielgerichteten Prozesses.“ (Art. Vatke, Wilhelm, in: TRE 34 [2002], 552–555, 554. Der Verweis auf die Nähe des Vatkeschen Denkens zu Hegel wird der Komplexität des Problems nicht gerecht. Was Bultmanns als Kritik und Einschränkung der Leistung Vatkes gemeinte Feststellung bedeuten soll, nämlich daß sein Werk in der alttestamentlichen Wissenschaft „nur mehr als ein Vorläufer in der historischen Kritik alttestamentlicher Überlieferungen“ (ebd.) gilt, ist entweder kontrafaktisch oder unklar. 13 Zum späteren Œuvre Vatkes siehe Tomás Vočka, Das Problem des Bösen in der Hegelschen Schule (BRTh 12), Frankfurt am Main 2003, bes. 55–151. 14 Brömse, Studien zur „Biblischen Theologie“ Wilhelm Vatkes, 1. 15 „Das gilt auch für das Verhältnis Julius Wellhausens zu Vatke. Wellhausen entdeckte in Vatkes Werk erst spät einen Zeugen seiner bereits gebildeten Anschauung über die geschichtliche Reihenfolge von Gesetz und Prophetie im alten Israel.“ (A. a. O., 1 Anm. 2)
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ung über die geschichtliche Reihenfolge von Gesetz und Prophetie ausgebildet hatte. Dies zum alleinigen Maßstab der Beurteilung der Beziehung zu machen, ist aber zu eng. Vielmehr zeigen seine Schriften deutlich, daß die Einsichten Vatkes für ihn sehr wohl von einschlägiger Bedeutung waren und nicht nur marginale Spuren in seinem Werk hinterließen. Sämtliche wichtigen Werke Wellhausens zur Erforschung des Alten Testaments wurden erst nach dem Bekanntwerden mit Vatkes Entwurf geschrieben. Und bezüglich der Wellhausenschen Geschichts- und Religionstheorie ist Vatke als einer der wichtigsten Väter zu nennen. Brömses ‚Studien zur ‚Biblischen Theologie‘ Wilhelm Vatkes‘ haben herausgestellt, daß es sich bei dessen Werk laut ursprünglichem Aufriß um eine Darstellung der biblischen Theologie handelte, welche neben dem Alten Testament auch die alttestamentlichen Apokryphen und das Neue Testament umfassen sollte.16 In Planung war, daß in allen drei Teilen auf einen allgemeinen jeweils ein besonderer Teil folgen sollte. Für die Erörterung des Alten Testaments hält Vatke fest: „Wir haben deshalb im ersten Theil vom allgemeinen Begriff, im zweiten von seiner Realität in den besonderen historischen Erscheinungsformen zu handeln.“ (172) Hegels Ästhetikvorlesungen folgen bezüglich der Kunstformen dem gleichen Schema.17 Erschienen ist dann nur der erste – den allgemeinen Begriff der alttestamentlichen Religion betreffende – von insgesamt sechs geplanten Bänden. In ihm geht es um die Voraussetzungen eines allgemeinen Religionsbegriffs, der im Alten Testament zu finden sei. Der zweite Teil18 sollte den besonderen historischen Ausgestaltungen im Alten Testament gewidmet sein. Vatke zufolge ist aber auch schon im ersten auf die historischen Erscheinungsformen zu achten, da ein allgemeiner Begriff nur als abstrakter Gehalt derselben verstanden werden könne. Im Falle des Religionsbegriffes gelte es, von der Stufe der Religion, wie sie sich im Alten Testament finde, und unter Einbeziehung ihrer Vorformen, auszugehen. „So ergeben sich für den ersten Theil vier besondere Abtheilungen, indem wir zuerst den empirischen Boden des Begriffes zu entwickeln haben, hierauf den Begriff selbst, dann sein Verhältniß zu früheren Religionsstufen und zuletzt die Haupttypen seiner Erscheinung, welche letzteren aber erst auf dem 16 Vgl. dazu Brömse, Studien zur „Biblischen Theologie“ Wilhelm Vatkes, 107–110. Die Dreiteiligkeit ist von besonderer Bedeutung, denn sie „spiegelt eine Gesamtentwicklung der biblischen Theologie wider, die Vatke als einen ganz im Sinne Hegelscher Dialektik verlaufenden dreistufigen Prozeß versteht“ (a. a. O., 107). 17 Vgl. die Nachschrift Heinrich Gustav Hothos von 1823: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, hg. v. Annemarie Gethmann-Siefert, Hamburg 2003, bes. 47 ff. und 205 ff. 18 „Der zweite Theil behandelt die besonderen Gestalten der historischen Erscheinung, welche die Realität des Begriffes ausmachen, und setzt daher den ersten Theil eben sowohl voraus, als umgekehrt derselbe die Voraussetzung des zweiten war; in der Form der Idee wird erst die Voraussetzung aufgehoben und das organische Verhältnis des Ganzen erreicht.“ (172)
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Neutestamentlichen Standpunkte selbständig hervortreten können.“ (Ebd.) Diesen Kapiteln schickt Vatke eine umfangreiche Einleitung voraus, die die methodische Grundlegung des geplanten sechsbändigen Werkes enthält.
3.1. Die Rezeption der Ergebnisse der alttestamentlichen Wissenschaft Seine ‚Biblische Theologie‘ sieht Vatke als Fortführung der kritischen wissenschaftlichen Untersuchungen zur biblischen Religion, wobei er als deren Ahnherren Johann Salomo Semler und Johann Philipp Gabler anführt.19 Diese hätten sich von den bis zu ihrer Zeit gültigen traditionellen Kirchenlehren abgegrenzt und in ihren Untersuchungen mit der für ihre Forschungen grundlegenden Frage nach der objektiven historischen Entwicklung der biblischen Religion ein neues methodisches Bewußtsein ausgebildet. Ihr Programm sei aber zu eng gefaßt gewesen, da sie allein nach äußerlicher Objektivität strebten. In Abgrenzung davon geht es Vatke selbst dagegen um eine – erst durch die Hegelsche Religionsphilosophie ermöglichte – Synthese von „Erscheinungsformen“, entsprechend der kirchlichen Lehre und der hinter ihr stehenden „Idee“ (8) der Religion, die die historisch-kritischen Forschungen herausgearbeitet habe.20 Daher faßt Vatke im Leitsatz zum zweiten Paragraphen die selbst gestellte Aufgabe folgendermaßen zusammen: „Die biblische Theologie stellt die Idee der Religion dar in der Form, wie sie das Grundbewußtsein des hebräischen Volkes und der urchristlichen Zeit war, oder, was dasselbe sagt, sie stellt die religiösen und ethischen Vorstellungen der heiligen Schrift dar in ihrer historischen Entwicklung und ihrem innern Zusammenhange.“ (2) Den methodischen Fortschritt gegenüber den bisherigen Forschungen sieht Vatke in der Vermittlung von Idee, verstanden als dem der Religion immanenten Prinzip, und Form, verstanden als ihrer geschichtlich bedingten, mannigfaltigen Ausdifferenzierung. Deutlich erkennbar steht dahinter die Philosophie Hegels. Er habe den ersten Begriff der Geschichte entwickelt. Diesen aufnehmend ist auch für Vatke grundlegend, daß das Prinzip nicht mehr bloß den Erscheinungen gegenübersteht, woran die Aufklärung festgehalten hatte. Vielmehr habe 19 Bei ihnen „erwachte der historisch-kritische Sinn, überhaupt ein Vorzug der neuern Zeit, worin die Unendlichkeit der Subjektivität, wenn gleich zuerst nur in abstracter Weise, zum Selbstbewußtsein gekommen ist“ (5). Vatke würdigt somit bei diesen Forschern, daß sie das Allgemeine in seiner Bedeutung entdeckt hätten, kritisiert jedoch, daß dies bloß in abstrakter Weise geschah. Das Allgemeine wird nur als abstraktes aufgefaßt und nicht in Verbindung mit seiner Besonderung als konkretes aufgewiesen. 20 Ganz offensichtlich hat hier Wilhelm Gesenius (1786–1842) seine Spuren hinterlassen, den er während der Zeit seiner ersten vier Studiensemester in Halle gehört hat. (Vgl. Benecke, Wilhelm Vatke in seinem Leben und seinen Schriften dargestellt, bes. 25–28) „[A]m meisten […] fesselte ihn Gesenius durch seine Einleitung in das Alte Testament, durch die Erklärung des Hiob und Daniel und durch die biblische Archäologie“ (A. a. O., 25, Hervorhebung im Original). Ganz allgemein gesprochen steht Gesenius für die aufklärerische Entdeckung historischer Kritik und ihre Anwendung auf die Erforschung des Alten Testaments.
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Hegel erkannt, daß die Idee nur dann richtig verstanden sei, wenn sie als sich in den Erscheinungen selbst darstellend begriffen werde.21 Im Anschluß an diese grundlegende Einsicht möchte Vatke das in der historisch-kritischen Forschung herausgearbeitete Verständnis der alttestamentlichen Religion mit einem systematisch-theologisch entwickelten Religionsbegriff in ein sich wechselseitig ergänzendes Verhältnis setzen und zu einer Synthese vereinigen.22
3.2. Judentum und Christentum Grundlegend für Vatkes am Paradigma der Religionsgeschichte gewonnenen Syntheseversuch ist die Trennung von Judentum und Christentum, wobei von ersterem noch der Hebraismus und das alte Israel unterschieden werden. Auf die Spezifika dieser Unterscheidung und das Vatkesche Modell der Religionsgeschichte ist im Folgenden einzugehen. Hier sind zunächst die religionstheoretischen Spezifika von Christentum und Judentum herauszuarbeiten. Vatke sieht im Christentum die letztgültige Form religiösen Bewußtseins erreicht, die seiner Meinung nach nicht mehr übertroffen werden könne.23 Den Erweis dafür möchte er mit Hilfe einer spekulativen Überlegung erbringen, wonach die subjektive Gewißheit des frommen Bewußtseins, die unerschütterliche Selbstgewißheit des Glaubens und die wahre Objektivität, die Allgemeingültigkeit allein auf dem „Standpunkt des Begriffes“ gewährt werden könne, welcher „die übrigen Betrachtungsweisen als Momente in sich schließt“ (107). Er konstruiert daher einen Begriff von Religion als Ausgangsbasis seiner Überlegungen, da dieser alleine in der Lage sei, den ‚Begriff‘ selbst und seine Realisierung, die ‚Idee‘ in ihrer Vermittlung beider zu umfassen.24 „Die Idee, Geist 21
Darin ist Hegel bis heute nicht überboten. Den hierfür bestimmenden Einfluß der Philosophie Hegels für das Vatkesche Denken hat Brömse herausgearbeitet: Studien zur „Biblischen Theologie“ Wilhelm Vatkes, bes. 79– 88. Dort heißt es unter anderem: „Der Hegelsche Religionsbegriff eignete sich für Vatkes Begründung des Begriffs der biblischen Theologie vor allem dadurch, daß Vatke allein Hegels Unterscheidung des Begriffes und der Idee der Religion von ihrem subjektiven und historischen Erscheinungsformen und in der dialektischen Ausgestaltung dieser Unterscheidung eine wirklich umfassende Betrachtungsweise der Religion findet. Die Darstellung der ‚lebendigen Bewegung‘ des Religionsbegriffes und der ‚stufenweisen Realisierung seiner Momente‘ ist nur in der Form dieser Dialektik möglich, welche die ‚Idee der Religion in ein richtigeres Verhältnis zu ihren Erscheinungsformen setzt.‘“ (A. a. O., 82) 23 Hegel spricht von ‚vollendeter Religion‘ (Vgl. ders., Vorlesungen über die Philosophie der Religion, 3). 24 „Wir müssen […] vom Begriffe der Religion ausgehen, und nachweisen, wie derselbe im Christentume wirklich realisirt ist; denn da der Begriff selbst und seine Realität, die Idee, die absolute Form der Wahrheit ist, worein alle anderen Gedankenbestimmungen als Momente zusammengehen, so wird eben damit auch die absolute Form der christlichen Religion bewiesen. Wollte man dessenungeachtet noch eine vollkommnere Religion als möglich, d. h. denkbar, setzen, so würde diese Denkbarkeit, näher bestimmt, nur einen einseitigen Kreis der Momente umfassen, welche in der Begriffsform in ihrer Totalität vorhanden sind; jene mögliche 22
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Freiheit, ist erst die wahrhafte Form des Selbstbewußtseins, weil darin das Subject (der subjective Begriff ) und das Object wirklich identisch gesetzt, nicht bloß auf einander bezogen sind“ (108). Ohne hier weiter und vertiefend auf die nicht nur in ihrer Terminologie stark an Hegel erinnernden Überlegungen Vatkes einzugehen, bleibt doch festzuhalten, daß Vatke mit seinen Ausführungen zum allgemeinen Begriff der Religion und zum Verhältnis der verschiedenen Religionen untereinander ein Problem angestoßen hat, welches bis heute diskutiert wird.25 Trotz der heute befremdlich erscheinenden Diktion Vatkes ist dieses bedeutsame Thema nicht von der Agenda wissenschaftlicher Theologie verschwunden. Zudem möchte Vatke mit seinen Überlegungen dazu beitragen, das Spezifikum der christlichen Religion, welches sie von allen anderen nichtchristlichen Religionen unterscheidet, zu erfassen und zu beschreiben. Mit Hilfe der Ausführungen zum allgemeinen Begriff der Religion gelangt Vatke zu einer klaren Trennung von Christentum und Judentum, die jedoch nicht als Unterstellung eines Defizits der früheren Ausformungen interpretiert werden darf – auch wenn dies in der Folgezeit oft so gesehen wurde. Vielmehr gelangt Vatke zu der Erkenntnis, daß wie für alle anderen Felder der menschlichen Kultur so auch für die Religion eine schrittweise, den jeweiligen geschichtlichen Epochen entsprechende Entfaltung festzuhalten sei. Diese Würdigung der Religion als konstitutiven und konstituierenden Teil der menschlichen Kultur ermöglicht es ihm, nach verschiedenen Stufen der religiösen Anschauung des israelitischen und jüdischen Volkes zu fragen, die in den Schriften des Alten Testaments ihren Niederschlag gefunden haben. Die Hermeneutik der heiligen Schriften des Christentums, insbesondere die Hermeneutik des Alten Testaments stellen damit vor ein besonderes Problem, indem sie zugleich als Zeugnisse einer älteren Religion – des Judentums – entstanden sind und als kanonische Zeugnisse einer jüngeren Religion – des Christentums – nochmals eine gewandelte religiöse Bedeutung erlangt hätten. Diesen Unterschied gelte es bei ihrer Auslegung zu beachten. Unverkennbar ist dem Syntheseversuch Vatkes ein gewisser Überbietungsgestus eigen. Dies wird allein schon daran deutlich, daß er von einer schrittweisen Entwicklung der Religion ausgeht, die die jeweils zuvor gewonnenen Einsichten in sich aufnimmt und dann im Christentum ihre vollendete Ausgestaltung erhält.26 Jedoch schmälert dies nicht den grundsätzlichen Charakter seiner Überlegungen. Hier soll nun zunächst auf den Religion wäre nur eine Abstraction der wirklichen und wahren, und es fände dasselbe Verhältniß statt, als wenn Jemand über die Vollkommenheit der Welt in Zweifel geriethe und sich die Möglichkeit einer anderen, vollkommneren Welt construirte.“ (107 f.) 25 Vgl. nur Ulrich Barth, Religion in der Moderne, Tübingen 2003 und Jörg Dierken, Fortschritte in der Geschichte der Religion? Aneignung einer Denkfigur der Aufklärung (ThLZ.F 24), Leipzig 2012. 26 Vgl. als eine von vielen in diese Richtung deutenden Aussagen über seine Vorgänger: „[S]o gab es auch schon früher eine biblische Theologie, nur ohne Selbständigkeit und wahrhaft historischen Geist“ (3).
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Religions- und Geschichtsbegriff Vatkes eingegangen werden, bevor sich abschließend mit seiner Sicht der Religionsgeschichte des Alten Testaments und seiner Methode auseinandergesetzt wird.
3.3. Der Religions- und Geschichtsbegriff Dem allgemeinen Begriff der alttestamentlichen Religion selbst wendet sich Vatke vor allem am Schluß seiner Abhandlung zur ‚Religion des Alten Testamentes nach den kanonischen Büchern entwickelt‘ zu.27 Dies ist seiner bereits erwähnten Einsicht geschuldet, daß er als Vermittlung in ihm liegender subjektiver und objektiver Momente zu verstehen ist, die Vatke daher zuvor vorstellt. Der allgemeine Begriff der alttestamentlichen Religion ist allgemeine Voraussetzung nicht in dem Sinne, daß sein voller Begriff am Anfang steht, sondern daß er als das erste Moment einer dialektisch-spekulativen Prinzipienstruktur schon für den Blick auf den gleich näher zu bestimmenden Hebraismus leitend ist. Als Prinzip der Religion stellt er grob gesagt, auch wenn der Begriff in diesem Zusammenhang nicht fällt, den monotheistischen Gottesgedanken in Form des abstrakt Allgemeinen heraus. Inhaltlich kann an das Gegenüber von Gott und Welt gedacht werden. Vatke hat dabei einen komplexeren Monotheismusbegriff vor Augen als er heute im Gebrauch ist. Im Leitsatz zu Paragraph 30 heißt es: „Gott ist bestimmt als reine Subjectivität, welche als die unendliche Macht alles Besondere als Negatives setzt, und als absolute Weisheit und Heiligkeit die Unterschiede des Besonderen zu einfacher in sich concreter Identität zusammenschließt.“ (594 f.) Zugrunde liegt hier der Hegelsche Begriff des Absoluten, freilich aber in einer von seinen abstrakten Fassungen unterschiedenen Weise. Gott wird als Prinzip seiner Vermittlung verstanden. Das Äußere ist nicht einfach das Äußere, sondern das, was er von sich unterscheidet. Dies ist der erste anspruchsvolle Begriff von Geschichte, was allgemein anerkannt wird.28 Hegel hat als erster einen Prozeß beschrieben, wonach das Allgemeine das Besondere durchläuft und im Konkreten bestehen bleibt. Indem das Allgemeine das Besondere in sich aufnimmt, wird es zum erfüllten Allgemeinen, zum Konkreten. Es ist weder das begriffslose Erzählen, noch ist es ein abstrakter Umgang mit bloßen Allgemeinbegriffen, sondern die Idee, wie sie sich in 27 Vgl. bes. 591–659. Anschließend folgen zwar noch zwei Kapitel, eins, das die alttestamentliche Religion von ihren religiösen Vorstufen – insbesondere den Naturreligionen – abgrenzt (660–710), und eins, das eine Schlußzusammenfassung bietet (711–719). Schon die Seitenzahlen machen deutlich, daß das Hauptgewicht der Vatkeschen Untersuchung auf der kritischen Geschichte der alttestamentlichen Religion liegt. 28 Zur Geschichtsphilosophie Hegels vgl. Dietmar Hübner, Die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus. Kant – Fichte – Schelling – Hegel, Stuttgart 2011, bes. 141–200 und Volker Rühle, Die „Umkehrung des Bewußtseins“. Geschichtsreflexion und geschichtliche Erfahrung bei Hegel und Hölderlin, in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. International Yearbook of German Idealism 10 (2014), 54–79, bes. 54–63.
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den Erscheinungen darstellt, als Selbstvollzug der Idee gedacht. Durch Hegel hat sich der bis zu ihm existierende Abstand von Allgemeinem und Besonderem verschoben.29 Vatke ist sich bewußt, daß dieser von ihm rezipierte Begriff nicht mit der geschichtlichen Entwicklung des Volkes Israel verwechselt werden darf.30 Dies ist auch angesichts des Befundes festzuhalten, daß er ab und an nicht die notwendige begriffliche Differenzierung walten läßt und zum Beispiel vom „einfachen Princip des Hebraismus“ (595) spricht. Zu beachten ist dabei, daß Vatke den Begriff des Hebraismus in einer weiten Bedeutung gebraucht, der letztlich die ganze israelitische und jüdische Geschichte umgreift und nicht, wie bei de Wette und dann auch Wellhausen, auf die älteste Geschichte allein beschränkt bleibt: „Dem Gedanken nach ist das Göttliche im Hebraismus […] nur die Eine, an sich wahre Bestimmung des Geistes, die reine Allgemeinheit des Gedankens gesetzt und das Moment der Besonderung ist noch nicht zu seinem Rechte gekommen.“ (604 f.) Der voll entwickelte Begriff des Absoluten steht erst am Ende der Entwicklung, wohinter die tiefere Weisheit steckt, daß er für Vatke am Anfang noch nicht greifbar ist. Er verwendet somit eine spekulative dialektische Fassung des Geschichtsbegriffs, wobei er Geschichte letztlich als Freiheitsgeschichte versteht, nicht jedoch als Fortschritt der Selbstexplikation der Freiheit. Vielleicht geschah dies bei Vatke aus dem hermeneutischen Gespür heraus, daß die Geschichte des Alten Testaments als Geschichte der Freiheit begreifbar ist, nicht jedoch als Geschichte des Freiheitsbewußtseins. Daß diese prinzipientheoretischen Überlegungen Vatkes durch die Philosophie Hegels möglich wurden, ist deutlich erkennbar und niemals verkannt worden. Daß es sich bei dem zugrundeliegenden dialektischen Entwicklungsprinzip um ein rein formales Prinzip handelt, ist mit ebenso großer Bestimmtheit 29 Am klarsten und knappsten hat Hegel dies im ersten Band der großen Enzyklopädie herausgearbeitet (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse [1830]. Erster Teil. Die Wissenschaft der Logik. Mit mündlichen Zusätzen [Werke 8], Frankfurt am Main 1981). Dort erläutert er in den Paragraphen 79 bis 82 die drei Momente der Enzyklopädie (Vgl. a. a. O., 168–179). Vgl. dazu Ulrich Barth, Der Weg zur absoluten Reflexion im nachkantischen Idealismus. Fichte – Schelling – Hegel, in: Ders., Gott als Projekt der Vernunft, 309–336, bes. 325–336. Vatkes Ausführung enthält die dort – also bei Hegel – ausgeführte spekulative Vermittlungsstruktur der Idee in nuce. Wenn hier von Monotheismus gesprochen wird, darf daher nicht an den heute geläufigen Begriff gedacht werden. Vielmehr nimmt Vatke in klassischer Kürze die spekulativen Momente des Konkreten auf, wie Hegel sie entfaltet hat. Die Aufklärung war demgegenüber bei der Differenz von Abstraktem und Konkretem stehengeblieben, wobei sie, wenn sie von konkret spricht, empirisch meint. Doch, wie oben ausgeführt, erst wenn das Allgemeine das Besondere in sich aufnimmt, wird es zum erfüllten Allgemeinen, zum Konkreten. 30 „Historisch betrachtet entspricht dem Begriffsinhalt das spätere hebräische Bewußtsein, diejenigen Elemente angerechnet, welche seit der Zeit des Exils von Babyloniern und Persern aufgenommen wurden; die ältere Geschichte des hebräischen Geistes dagegen, welche über das achte und neunte Jahrhundert hinaufgeht, enthält den Begriff nur an sich oder als bewegendes Princip, und manche Seiten der Vorstellung und des Cultus entsprechen demselben noch nicht.“ (593)
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festzuhalten. Nach Vatke ist mit dieser Idee ein abstrakter Gottesbegriff verknüpft, der in seiner Absolutheit und Allgemeinheit allen historischen Vermittlungen entzogen ist.31 Schon in der Vorrede hatte er geschrieben: „Der historische Verlauf der Religion darf ihrem Begriffe nicht widersprechen und dieser jenem nicht, und die Harmonie beider muß wirklich nachgewiesen werden.“ (VI) Damit ist angedeutet, daß es ihm um eine auf einem allgemeinen Religionsbegriff basierende Wissenschaft der biblischen Theologie geht, der als Konstruktionsprinzip ein allgemeiner, formaler Gottesbegriff zugrundeliegt. Darüber hinaus zeichnet sich die große Bedeutung des Entwicklungsgedankens ab, was im Folgenden vertieft werden soll. Dabei zeigt sich schließlich der Anspruch Vatkes, auf der Grundlage eines allgemeinen Religionsbegriffs über Hegel hinauszugehen.32 Denn „dessen rein systematisch gebildetem Begriff einer bestimmten Religion“ möchte Vatke eine „umfassende kritisch-empirische Begründung“33 geben. Diesem Problem ist der erschienene Band seiner ‚Biblischen Theologie‘ gewidmet. Er holt die aufklärerische Bibelkritik ein. Dies wird (auch) als Erbe seines Hallenser Lehrers Wilhelm Gesenius zu werten sein. Damit zeigt sich, daß Vatke nicht der Durchschnittshegelianer ist, als der er gemeinhin gilt, sondern eine Synthesefigur, der Hegels begriffliche Leistung und den historisch-kritischen Ertrag der Aufklärung miteinander zu verbinden sucht.
3.4. Die besondere Quellen- und Methodenproblematik „Größere Schwierigkeiten hat die historische Erklärung der Alttestamentlichen Religion, theils weil die Quellen durch die Kritik ihre historische Zuverlässigkeit verloren haben, theils weil der historische Hinter- und Nebengrund fehlt, wenn man auch einzelne historische Hauptmomente als sicher annimmt. Denn setzt man auch den Anfang des Alttestamentlichen Princips mit Mose oder schon 31 „Gott ist so allgemeine, schlechthin durchsichtige Einheit, absolute Negativität alles Endlich-Bestimmten, der reine Aether des Gedankens; subjectiv betrachtet: die einfache Erhebung des Bewußtseins aus der Welt des Zufälligen und Bedingten, so daß die denkende Allgemeinheit, welche an sich die Bewegung des Bewußtseins vermittelt, sich selbst als die Wahrheit und Realität der Welt weiß.“ (596) Dafür, daß sich die ‚denkende Allgemeinheit‘ als ‚Wahrheit und Realität der Welt weiß‘, hat Hegel den Begriff der ‚unendlichen Subjektivität‘ geprägt. 32 Dies faßt Rogerson folgendermaßen zusammen: „What this amounts to, if my analysis is correct, is the fact that Vatke did not find in Hegel a ready-made interpretation of Old Testament religion that he simply expanded with the help of the critical method. Vatke’s Biblical Theology represents a profoundly original interpretation of the Old Testament informed by certain Hegelian principles.“ (Old Testament Criticism in the Nineteenth Century, 71, Hervorhebung im Original.) Nicht mehr aufklären läßt sich, ob Vatke Hegels Religionsphilosophie gehört bzw. was er aus ihr gekannt hat. Die Veröffentlichung derselben liegt erst nach Vatkes Werk, so daß einiges dafür spricht, daß er hier tatsächlich eigenständig weitergedacht hat und zu ähnlichen Ergebnissen wie Hegel selbst gekommen ist. 33 Brömse, Studien zur „Biblischen Theologie“ Wilhelm Vatkes, 87.
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mit Abraham, so bleiben immer noch eine Menge Fragen zu beantworten über den historischen Zusammenhang dieser Heroen mit den untergeordneten Entwicklungsstufen des religiösen Lebens.“ (135) Vatke sieht sein Vorhaben einer historisch-kritischen Begründung der alttestamentlichen Religionsgeschichte mit einer Reihe von Problemen konfrontiert. Zunächst kommt er auf das ganz grundsätzliche Quellenproblem zu sprechen, dem eine jede Darstellung der Geschichte Israels ausgesetzt ist. Dabei beruft er sich auf die von ihm größtenteils für zutreffend bewerteten Ergebnisse der kritischen Erforschung des Alten Testaments, „als deren Repräsentanten wir Dr. de Wette betrachten dürfen“ (179 Anm. 1). Mit Wilhelm Martin Leberecht de Wette kommen wir auf einen weiteren, neben Hegel wichtigen Gewährsmann für den Entwurf Vatkes zu sprechen. Wie die neuere Forschung vor allen im Anschluß an Rudolf Smend herausgearbeitet hat, galt das Interesse Vatkes insbesondere dem jungen de Wette, als dessen Schriften noch nicht von der Philosophie Jakob Friedrich Fries’ beeinflußt waren.34 De Wettes kritisches Frühwerk habe, so Vatke, zwar den Quellenwert der alttestamentlichen Überlieferungen erschüttert, damit aber zugleich den „empirischen Boden“ (172) für ihre geschichtliche Betrachtung bereitet. Daß es de Wette nicht nur um ein historisch-kritisches, sondern damit untrennbar verbunden zugleich um ein systematisch-theologisches Verständnis der alttestamentlichen Religion ging, ist oben gezeigt worden. Er hat den Schriften des Alten Testaments zwar ihre ‚historische Zuverlässigkeit‘ genommen, aber zugleich durch den Anschluß an mythentheoretische Überlegungen seiner Zeit einen übergeordneten Bezugsrahmen für ihre Beurteilung aufgestellt. Doch für Vatkes eigene Theorie bildet die Fokussierung auf den kritischen Wert der frühen Forschungen de Wettes und die unterstellte Annahme eines unüberwindbaren Widerspruchs zwischen den methodisch gesicherten Ergebnissen der Bibelkritik und einem nicht genügend durchgeklärten Religionsbegriff den Ausgangspunkt der eigenen Überlegungen. Dabei gehen auch Vatkes historisch-kritische Untersuchungen über de Wettes Ergebnisse hinaus und übertreffen sie in ihrer Radikalität. Damit ist der andere in dem obigen Zitat als Schwierigkeit erwähnte Punkt angesprochen, der die Frage nach gesicherten historischen Erkenntnissen stellt, die sich über die einzelnen Epochen der Geschichte Israels gewinnen lassen. Vatke selbst erklärt einschränkend, daß es ihm hier nicht um eine umfassende Darstellung der Entwicklung von den Anfängen des Volkes an geht, sondern lediglich um gesicherte ‚Hauptmomente‘, die eine Basis für die Argumentation bilden könnten. Vatke konstatiert, daß bei der historischen Betrachtung der 34 Smend, De Wette und das Verhältnis zwischen historischer Bibelkritik und philosophischem System im 19. Jahrhundert, in: Ders., Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze, Tübingen 2004, 114–123, bes. 118 f. Den Nachweis hat Brömse erbracht. (Ders., Studien zur „Biblischen Theologie“ Wilhelm Vatkes, 89–92.) Er hat auch die expliziten Stellen der Vatkeschen Bezugnahmen auf de Wette zusammengetragen. (A. a. O., 89 Anm. 2)
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alttestamentlichen Religion mit einem mehrfach abgestuften Geschichtsbegriff gearbeitet werden müsse. Auf der abschließenden, dritten Stufe der Betrachtung empirischer Tatsachen, die Vatke mit dem „gebräuchlichen Namen der genetischen Erklärung“ (138, Hervorhebung im Original) bezeichnet, würden die einzelnen Erscheinungen erst ihre eigentliche Bedeutung erhalten. Sie würden in den Zusammenhang mit dem allgemeinen Verlauf der Geschichte gebracht und als Moment des Religionsbegriffs verstanden werden können. Ganz im Sinne eines Hegelschen Dreischritts argumentierend basiere die genetische Erklärungsart auf der ersten Stufe einer vorreflexiven und -prädikativen „Vermittlung des empirischen Bewußtseins mit dem Allgemeinen“ (127) und der zweiten, wonach „das Bewußtsein sich mit der historischen Gegenwart identisch setzt“ (130). Bevor auf die genetische Erklärung (zweiter Stufe) eingegangen wird, sind kurz diese beiden Arten – also die genetische Erklärung erster Stufe und die dialektische Erklärung – zu charakterisieren, auf denen sie basiert. Auch wenn Vatke davon ausgeht, daß eine genetische Darstellung der Entwicklung der Geschichte des Volkes Israel von den Anfängen bis zur Zeit seiner Auflösung an der Art der alttestamentlichen Quellen scheitere, so bedeutet dies für ihn jedoch nicht, daß eine geschichtliche Rekonstruktion für das Alte Testament generell unmöglich sei. Denn er verwendet eine zweifach gestufte Theorie der Geschichte. Deren höchste Form ist der genannte „Standpunkt der genetischen Entwicklung“, für welchen er festhält, daß er „bei aller historischen Betrachtung der Wahrheit am nächsten kommt und nur den Standpunkt der Idee über sich hat, welcher aber die historische Erscheinung schon überwunden hat und deshalb nicht mehr streng-historisch genannt werden kann“ (126). Er sei dadurch gekennzeichnet, daß er den Übergang von der historisch-kritischen zur systematisch-theologischen Erklärungsweise bilde. Hier kommt die Theorie der Geschichte an ihre Grenze und der Schritt zu einer philosophischen Erklärungsweise erfolgt. Bei der genetischen Betrachtung sind beide in gleichbedeutender Weise in Anschlag zu bringen. Dabei lasse sich eine genetische Entwicklung nur aufzeigen, wenn zwei Bedingungen gegeben sind. Einerseits müssen die Quellen eine sichere Rekonstruktion und eine sichere Erkenntnis der historischen Zustände in den voneinander abzuhebenden und stufenweise von einander geschiedenen Zeitepochen zulassen. Andererseits muß es auf der Grundlage dieser Ergebnisse möglich sein, die hinter dieser Entwicklung stehende Idee aufzuzeigen. Die andere Methode historischer Erklärung ist die dialektische Betrachtungsweise.35 Sie allein kann eine auf den im Alten Testament gesammelten unter35 „Die biblische Theologie kann sich […] in keine kritische Untersuchung über die Alttestamentlichen Bücher einlassen, muß jedoch in ihrem Verlaufe den religiösen Inhalt derselben als Moment der Alttestamentlichen Religion überhaupt dialektisch betrachten.“ (166, Hervorhebung M. G.) Vatke beschreibt diese, seiner Meinung nach für eine historische Untersuchung des Alten Testaments angemessenste methodische Herangehensweise folgender-
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schiedlichen Traditionen beruhende Interpretation liefern. Denn: „Im Alten Testament kann man zwar die allmälige Entwicklung besonderer Gestalten verfolgen, wie die des Prophetenthums, der Hierarchie, der messianischen Vorstellungen, diese Entwicklung ist aber nicht genetisch in dem angegebenen Sinne des Ausdrucks, sondern vereinigt nur Elemente der Reflexion. Erst mit dem späteren Judenthume, wo vermöge der Erweiterung des älteren Princips mehrere Hauptrichtungen hervortreten, beginnt die genetische Erklärung ihr Geschäft und führt es dann auf dem Boden des christlichen Geistes in noch höherer Weise fort. Den eigentlichen Anfang einer Religionsstufe muß sie jedoch unerklärt stehen lassen und bloß voraussetzen, um nicht auf den Standpunkt der äußeren Reflexion zurückzusinken.“ (141) Der Gegensatz zur äußeren, den historischen Erscheinungen unangemessenen Reflexion ist eine auf das Wesentliche einer Sache abzielende und dieses erfassende Interpretation. Sie möchte die hinter einer historischen Entwicklung stehende Idee erfassen, die innere Gesetzmäßigkeit bzw. Folgerichtigkeit einer Erscheinung verstehen. Allein diese Form der Untersuchung sei in der Lage, anhand der Charakteristiken einer historischen Begebenheit ihre Entwicklung bis zurück zu ihren ersten Spuren zu verfolgen, die nicht mit ihrer Entstehung verwechselt werden dürfen. Für Vatke muß sich eine jede historisch-kritische Untersuchung daran messen lassen, ob sie dieses Ziel auch erreicht.
3.5. Das religionsgeschichtliche Dreiphasenmodell Um das Alte Testament richtig zu verstehen, kann Vatke zufolge nicht auf allgemeine religionstheoretische Überlegungen verzichtet werden. Diese sind in seine historischen Untersuchungen eingebettet. Grundlegend ist für ihn die Feststellung, daß alle positiven Religionen drei Phasen durchlaufen, nämlich „Anfang“, „Blüthe“ und „Verfall oder Uebergang in eine höhere Stufe“ (165). Auch wenn es die Quellenlage möglicherweise nicht erlaube, diese Perioden randscharf von einander abzugrenzen und selbst wenn sie im Einzelnen nicht nachweisbar seien, so gebe dieser Dreischritt für die Geschichte des Alten Testaments doch den Rahmen vor. Dazu kommt für Vatke noch das übergreifende Modell dreier weltgeschichtlicher Phasen, die er mit den Kennzeichen des „Natürlichen“, des „Ideellen“ und des Begriffs „concreter Geistigkeit“ (62) versieht. Mit Hilfe dieses doppelt gestuften Dreierschemas ist es Vatke möglich, zwei Abgrenzungen der alttestamentlichen Religion vorzunehmen. Zum einen erlaubt ihm die Konstruktion eines übergreifenden Bezugsrahmens kultureller „Erhebung“ und „Entwicklung“ (Ebd.), die alttestamentliche Religion in ein Verhältnis zu ihren vorangehenden Formen zu setzen. Mit einer heute kaum noch gebräuchlichen Formulierung grenzt er sie vor allem vom maßen: Wir folgen „dem natürlichen Entwicklungsgange der Geschichte selbst, setzen eine vorläufige Kritik der Tradition voraus und benutzen ihre Resultate, so weit dieselben einen positiven Charakter haben“ (178).
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„vorderasiatischen Heidenthum“ (Ebd.) ab, welches durch das alleinige Aufgehen in Naturbezügen nie über die „Gottlosigkeit“ (Ebd.) hinausgekommen sei. Den nicht ganz unproblematischen Begriff Heidentum, dem gegenwärtig eine deutlich pejorative Bedeutungskomponente innewohnt, verwendet nicht nur Vatke, sondern noch Wellhausen. Beide nutzen ihn, um Religionsunterschiede herauszustellen – Vatke zwischen Christentum und allen anderen Religionen, Wellhausen zwischen Israel und seinen Vorläufern einerseits und dem Islam und seinen Vorformen andererseits. Bei der Beurteilung dieses Sachverhaltes sollte nicht verkannt werden, daß für die Rekonstruktion (religions-)geschichtlicher Entwicklungen immer Begrifflichkeiten gebildet werden müssen, die die eine von der anderen Stufe abgrenzen. Zum anderen enthält das Vatkesche Dreiphasenmodell in der Konsequenz natürlich eine deutliche Präferenz für das Christentum. Ihre endgültige Form als Begriff habe die Religion nämlich erst ihrer Entstehung zu verdanken: „[A]lle vorchristlichen Religionen, auch die des Alten Testaments, sind Voraussetzungen, Vorbereitungen, Ahnungen der Einen wahren Religion, und erscheinen erst dann in ihrem wahren Lichte, wenn sie vom Standpunkte der letzteren aus betrachtet werden“ (18). Mögen sich die terminologischen Vorlieben auch geändert haben und heute deutlich zurückhaltendere Formulierungen gewählt werden, so stellt Vatke damit doch keine Ausnahme dar. Der Religionsbegriff entstammt dem christlich-jüdischen Diskurs und er verdankt seine prominente Rolle in der Moderne ein gut Stück auch seiner hermeneutischen Reichweite, die stets um die Gebundenheit der eigenen Position an die eigene Religiosität weiß. Religion läßt sich nur im Wissen um die eigene Religiosität beschreiben, was jeder Darstellung der Religionsgeschichte – nicht nur der des Alten Testaments – ein jeweils besonderes Gepräge gibt. Dies gilt unabhängig davon, ob es nun wie bei Vatke eine Darstellung ist, die bewußt aus christlicher Glaubensüberzeugung erfolgt, was sich in seinen intensiven Überlegungen zum Status der eigenen Ausführungen zeigt, oder unbewußt.
3.6. Die ‚Blüthe‘ der alttestamentlichen Religion Die eben besprochenen zwei Punkte – also die genetische und dialektische Erklärung einerseits und das Dreiphasenmodel andererseits – sind für die Vatkeschen Untersuchungen zum Alten Testament grundlegend. Nur mit ihrer Hilfe gelang es ihm, die Ergebnisse der kritischen Forschung seiner Zeit zuzuspitzen und zu verschärfen – wie heute in der Forschungsliteratur gerne geschrieben wird. Für ausgemacht sah er dabei die Einsicht an, daß die ‚Blüthe‘ der alttestamentlichen Religion in der Zeit der Wirkung der großen Prophetengestalten zu sehen sei, das heißt für ihn im achten Jahrhundert.36 Die von ihnen hinterlasse36 Im
Leitsatz zu Paragraph 20 schreibt Vatke: „Die Quellen für die ältere Geschichte
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nen ‚Schriften‘ bildeten die frühesten Denkmale der israelitischen Geschichte und nur von ihnen ausgehend lasse sich die vorangehende Epoche der Konsolidierung und Staatsgründung des Volkes verstehen.37 Damit bestätigen sich für Vatke auch die Ergebnisse der seinerzeit neueren kritischen Untersuchungen der alttestamentlichen Wissenschaft, vor allem das in ihnen herausgearbeitete Resultat, „daß der scheinbar-historische Inhalt des Pentateuch, besonders der Genesis, nicht die Gestalt der wirklich-historischen Erscheinung und organischen Entwicklung hat, sondern als Reflex der späteren Totalbildung ganze Entwicklungsreihen von Momenten zusammenfaßt“ (166). Die Prämisse, daß jede Religion drei Phasen durchläuft, läßt Vatke zu diesem Ergebnis kommen, bzw. mit ihrer Hilfe eine Bestätigung und Weiterführung bisheriger Einsichten alttestamentlicher Kritik erlangen. Grob verkürzt läßt sich sagen, daß sich Vatke die Geschichte Israels so darstellt, daß sich zur Zeit der ‚Blüthe‘ des Volkes – repräsentiert durch das Phänomen der alttestamentlichen Prophetie – erst eine Schriftkultur entwickelt habe und daß daher alle Reflexionen des Alten Testaments über den ‚Anfang‘ der Israeliten erst dieser Epoche entspringen konnten. Es handelt sich für Vatke somit bei der Geschichte des alten Israels notwendigerweise um eine Konstruktion, die die Sichtweise einer späteren Zeit widerspiegelt. Dieses Resultat lasse nur den Schluß zu, „daß die Vorgeschichte der Theokratie nicht historisch-sicher ausgemittelt, ja daß selbst die Stiftung durch Mose nur im Allgemeinen bestimmt werden kann, ohne daß die ächt-mosaischen und die späteren Momente der allmähligen Fortbildung unterschieden werden könnten“ (Ebd.). Unter ‚Theokratie‘ versteht Vatke das seit der Zeit der Könige Saul, David und Salomo als Staat verfaßte Volk Israel. Neben der Staatlichkeit komme zugleich der für das Volk konstitutive Gottesglaube zum Tragen. Eingangs war auf das Prinzip der alttestamentlichen Religion eingegangen worden, dem zufolge Israel durch seine spezifische Gottesvorstellung ausgezeichnet sei. Nun kann Vatkes Sichtweise dahingehend präzisiert werden, daß er als das Kennzeichen dieser Religion die Abgrenzung vom ‚Natürlichen‘ und den implizierten Bezug zum ‚Ideellen‘ ausmacht. Sie basiert auf seinen theoretischen Überlegungen zu ihrer Entwicklung im Rahmen der Weltgeschichte. Damit begnügt sie sich nicht mehr allein mit naturreligiösen Erklärungen, sondern öffnet sich spekulativen, metaphysischen Fragen. Der Bezug zum ‚Ideder Alttestamentlichen Religion sind aus der späteren Sage geflossen und deshalb lückenhaft und unsicher; seit der Richterperiode und noch mehr seit dem davidischen Zeitalter gewinnt die Tradition einen historischen Charakter, läßt sich aber mit völliger Sicherheit erst seit dem achten Jahrhundert verfolgen auf dem Grunde der nun beginnenden prophetischen Schriften.“ (178 f.) 37 „Nur die prophetischen Bücher, deren Verfasser und Zeitalter bis auf wenige Ausnahmen mit Sicherheit erwiesen werden können, gewähren der Religionsgeschichte wie der Kritik des alten Testaments überhaupt einen festen Boden, beginnen aber erst mit dem achten Jahrhunderte, wo die religiöse Anschauung beinahe vollständig ausgebildet war.“ (178)
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ellen‘, die transzendente Fassung des religiösen Objekts, ist das die alttestamentliche Religion von ihren Vorläufern unterscheidende Merkmal, auch wenn ihr Begriff erst in späterer Zeit voll ausgebildet wurde.38 Dieser Bezug zum ‚Ideellen‘ ist zudem das die Vorgeschichte des als Staat konstituierten Volkes auszeichnende Moment, auch wenn erst mit den in und nach der Königszeit auftretenden Propheten zuverlässige schriftliche Überlieferungen vorhanden sind, die davon zeugen. Diese Zuverlässigkeit konstatiert Vatke dabei sowohl für die prophetischen als auch für die gesetzlichen Traditionen des Alten Testaments.39 Denn obwohl die prophetischen Bücher als Ausgangspunkt der Religionsgeschichte der damaligen Epoche dienen, so stellen doch auch die restlichen Schriften des Alten Testaments wichtige Zeugen dar, zumindest für die Zeit, in der sie niedergeschrieben wurden.40 Einer einseitigen Bevorzugung des einen oder anderen alttestamentlichen Überlieferungsstrangs erteilt Vatke eine Absage. Die alttestamentlichen Traditionen, seien sie nun gesetzlicher, prophetischer oder auch anderer Art, können seiner Meinung nach nur durch ihre Verortung im Rahmen einer religionsgeschichtlichen Betrachtung richtig interpretiert und verstanden werden. Gesetz und Prophetie laufen von Anfang an neben einander her, aber der historischen Durchbildung nach haben sie beide Resultatcharakter. In ihrer rudimentären Gestalt sind sie von Anfang an unterschwellig in einer noch weniger prägnanten und artikulierten Weise präsent. Das, was im vollen Sinne als Gesetz und Propheten verstanden wird, ist späteres Resultat einer längeren Entwicklung. Es handelt sich um zwei Arten der Bezugnahme auf ein Gesamtbewußtsein.
3.7. Die Vorgeschichte Israels Seinen eigenen Forschungsansatz zusammenfassend hält Vatke folgendes fest: „Setzt man nun voraus, daß die Principien und Resultate der neuern Kritik im Ganzen richtig sind, und läßt, einige lyrische Produkte abgerechnet, die schriftstellerische Thätigkeit der Hebräer etwa mit dem neunten Jahrhundert beginnen; erkennt man ferner den mythischen Charakter der ältern Sage an, und ent38 „Der Begriff der Alttestamentlichen Religion war in seiner abstracten Weise, als Princip, längst vor dem babylonischen Exile vorhanden, seine vollendete Entwicklung fällt aber erst in dieses spätere Zeitalter.“ (64) 39 „Die Sphären des gesetzlichen Geistes und des Prophetenthums sind […] nicht zwei auf einander folgende Perioden, sondern Formen des Bewußtseins, die größtentheils parallel neben einander herlaufen, so daß zwar die erstere nach ihrer Substanz die ältere ist, nach ihrer historischen Durchbildung aber eben sowohl für das Resultat des Gesammtbewußtseins angesehen werden muß, als die prophetische Entwicklung auf der anderen Seite.“ (166) 40 „Bei manchen Büchern ist freilich die Ausbeute so gering, daß sie fast nur als Zeugen für die Zeit gelten können, worin sie geschrieben oder worin ihre mündlichen und schriftlichen Quellen entstanden sind; wie dies namentlich beim Pentateuch, dem Buche Josua, den Büchern der Chronik und Daniel der Fall ist.“ (178)
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wickelt daraus nur so viele historische Momente, als die Probe der strengen Kritik aushalten, so verschwindet der magische Hintergrund, den die hebräische Geschichte auf den ersten Blick hat, und es bleiben nur wenige feste Punkte, die für die nun folgende Entwicklung des Volkes als Ausgangspunkte dienen können.“ (178 f.) Hier ist nun nicht der Ort, um die einzelnen Perioden der israelitischen Religionsgeschichte in ihrem von Vatke herausgearbeiteten Gesamtablauf – begonnen bei Mose und dem Auszug aus Ägypten bis hin zur Zeit der Makkabäer – im Detail nachzuzeichnen.41 Hervorzuheben ist jedoch Vatkes Anspielung auf die rezipierten Ergebnisse der kritischen alttestamentlichen Forschung. Hier nimmt er mit dem Mythosbegriff nicht zuletzt Ergebnisse de Wettes und mit den lyrischen Traditionen als den frühesten des Alten Testaments Annahmen seines ehemaligen Lehrers Ewald auf. Und doch grenzt Vatke sich deutlich von beiden ab. Denn ihm geht es nicht nur um die Entwicklung der hebräischen Geschichte, die auf das neunte und achte Jahrhundert folgt, sondern auch um die Vorgeschichte, die ‚Anfänge‘. Welche ‚historischen Momente‘ als Ausgangspunkte für eine israelitische und jüdische Religionsgeschichte dienen können und welches methodische Instrumentarium zu Hilfe zu nehmen sei, um die ‚wenigen festen Punkte‘ zu erkennen, wurde von den drei Forschern durchaus auf je eigentümliche Weise bestimmt. De Wette und Ewald brachten ihre Kritik an Vatkes Auffassung auch zum Ausdruck, wobei sie auf unterschiedliche Punkte Gewicht legten. Dies sei im Folgenden erörtert, da dadurch auch ein interessantes Licht auf die unmittelbare Wirkung der Forschungen Vatkes fällt.
4. Die Kritik durch de Wette und Ewald In einer bereits zitierten Sammelrezension widmet sich de Wette ausführlich der ‚Biblischen Theologie‘ Vatkes, die den Maßstab für die Beurteilung der anderen besprochenen Werke bildet – dem oben behandelten zu den jüdischen Festen von Leopold George und einem Genesiskommentar des Königsberger Orientalisten Peter von Bohlen (1796–1840), die de Wette lediglich als Modifikationen Vatkes betrachtete.42 Bezüglich Vatkes Forschungen kommt de Wette zu einem gespaltenen Ergebnis. Einerseits unterstreicht er die Bedeutung seiner Forschungen. Denn ihm sei es gelungen, überzeugend seine historischen Erkenntnisse in systematischer Weise darzustellen. Gerade auf dem Gebiet der alttestamentlichen Forschung fehlten religionsgeschichtliche Arbeiten wie die Vatkesche größtenteils, seien aber von besonderer Notwendigkeit.43 Positiv sei 41 42
Vgl. dazu Brömse, Studien zur „Biblischen Theologie“ Wilhelm Vatkes, bes. 121–128. De Wette, Rez.: Wilhelm Vatke, Die Religion des Alten Testamentes nach den kanonischen Büchern entwickelt u. a., vgl. zu Vatke bes. 947–955 und 984–1003. 43 „Historische Forschung, kritische Sichtung und Aufklärung im Gebiete der biblischen
4. Die Kritik durch de Wette und Ewald
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zumal, daß Vatke dem vom Rezensenten selbst gebahnten Weg folge. Denn er würdige – wie die beiden anderen besprochenen Autoren – insbesondere die Interpretation des deuteronomischen Gesetzes als grundlegend für das Verständnis des Alten Testaments.44 Andererseits aber stellt de Wette im Resümee fest, daß er dem Geschichtsbild Vatkes mit seiner dialektischen, allmählich fortschreitenden Entwicklung der alttestamentlichen Religion nicht folgen könne. „Der Verf. hat der darzulegenden Entwicklung Vieles geopfert, manche durch die Tradition geheiligte Annahme, manches persönliche Verdienst, aber auch, was uns das Wichtigste scheint, eine auszeichnende Eigenthümlichkeit des hebräischen Volkes, nämlich die, daß in ihm von Anfang an, wie in keinem Volke, das Gewissen rege ist und zwar das böse Gewissen, das Schuldgefühl, das Gefühl, daß ihm eine hohe Aufgabe gestellt ist, die es nicht lösen kann noch will, das Gefühl des Zwiespaltes zwischen Erkenntniß (Gesetz) und Willen, so daß in ihm die Sünde sich häuft und so recht zur Erscheinung kömmt (Röm. 5,20.). Nach der naturgemäßen Entwicklung, welche der Verf. hergestellt hat, tritt aber dieses Gefühl bei weitem nicht so heraus.“45 Indem Vatke das Entwicklungsprinzip ins Zentrum seiner Untersuchung gestellt habe, sei es ihm nicht mehr möglich, das Wesentliche der alttestamentlichen Religion zu erkennen – so die Kritik de Wettes, die aber durchaus auch heute so noch vertreten wird. Dadurch verflüchtige sich die Geschichte Israels ins Unbestimmte. De Wette diagnostiziert, daß Vatke einen falschen Maßstab zur Beurteilung der in den Büchern des Alten Testaments zu findenden historischen Momente verwende. Trotz aller Bemühungen werde er deshalb den Charakteristika des Volkes und ihrer besonderen Geschichte nicht gerecht. Diesen Maßstab erblickt de Wette im alttestamentlichen Gesetz, das alle überlieferten Traditionen des israelitischen und jüdischen Volkes bestimmt. „Nur wenn wir an die Spitze der ganzen Geschichte desselben einen großen positiven Willensact, eine Gesetzgebung, stellen, wodurch der natürlichen Entwicklung vorgegriffen und ihr der Gang vorgeschrieben wird, entsteht jener Zwiespalt und die eigenthümliche Stimmung und Bewegung des hebräischen Volkslebens.“46 Damit möchte de Wette nicht in Abrede stellen, daß es in der israelitischen und jüdischen Geschichte eine Entwicklung gab, die mit Hilfe kritischer Untersuchungen aus den überlieferten Traditionen des jeweiligen Zeitalters gewonnen werden könne. Doch stellt er gegenüber Vatke mit eben so großer Bestimmtheit heraus, daß der im deuteronomischen Gesetz in besonderer Weise dargelegte Gesetzesbegriff kein spätes Produkt sei. Theologie sind in unserer Zeit unerläßlich, und es genügt dem wachen Geiste des Zeitalters die überlieferungsmäßige Hinnahme des Geschichtlichen, wie es scheinbar vorliegt und der Gedankenlosigkeit sich darstellt, nicht mehr.“ (A. a. O., 948) 44 „Die Ansicht vom Deuteronomium ist in der Kritik des Pentateuchs entscheidend und daher wollen wir hier davon ausgehen.“ (A. a. O., 953) 45 A. a. O., 1003. 46 Ebd.
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De Wettes Meinung nach legen sämtliche gesetzlichen Überlieferungen des Alten Testamentes mit hinreichender Deutlichkeit dar, daß das Gesetz an den Anfang und nicht an das Ende gehört. Ohne die Anerkennung einer göttlichen Offenbarung, eines die Geschicke des heiligen Volkes auszeichnenden und beurteilenden Gesetzes, sei es nicht möglich, das Alte Testament richtig zu interpretieren. Da Vatke diesen Sachverhalt jedoch nicht anerkenne, kann er nur festhalten, daß die „Kritik des Verf. […] fast alle Schranken niedergerissen“47 habe, die bei der Auslegung des Alten Testaments beachtet werden müßten. Und auch Heinrich Ewald kommt in seinen vorliegenden Äußerungen zur ‚Biblischen Theologie‘ Vatkes zu einer letztendlich negativen Beurteilung des Werkes. Eine auf Bitten Vatkes entstandene Rezension erkennt zwar ausdrücklich die Leistungen des Autors an. Schon in seiner brieflichen Antwort auf die Zusendung des Werkes bringt Ewald dies zum Ausdruck, wenn er es lobend von Georges Buch über die Feste aus dem selben Jahr abhebt: „Ich freue mich […] am meisten darüber, daß Sie einer ganz andern, ernstern und gründlichern Methode folgen: im Grunde kommt es doch bei uns nur auf die Richtung an und auf die Fertigkeit, überall leicht das Wahre, wo es sich darbietet, zu fassen.“48 Diese methodischen Weichenstellungen durch Vatke würdigt er dann auch eingehend in seiner in den ‚Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik‘ erschienenen Besprechung. Dem Autor sei es gelungen, eine überzeugende Verknüpfung von „eben so umfassender als gewissenhafter geschichtlicher Forschung“ in Verbindung mit „philosophischer Schärfe und einem echt wissenschaftlichen Streben“49 in seinem Werk herzustellen. Wie Brömse herausgearbeitet hat,50 ist Ewald damit der einzige Rezensent, der überhaupt das Vatkesche Ziel erkennt und würdigt, nämlich eine Synthese von historisch-kritischem und systematischem Verständnis der alttestamentlichen Religion herzustellen. In seiner detailreichen und sachlichen Besprechung macht Ewald auch auf die Anleihen bei der Hegelschen Philosophie aufmerksam, wenn er mit einiger Süffisanz bemerkt, daß „sich die Entwicklung des reinen Begriffs gern für sich bewegt“51. Für Ewald bedeutet der Aufweis der Hegelschen Prämissen bei Vatke interessanterweise nicht, daß daraus der bis heute immer wieder gezogene Schluß zu ziehen ist, daß die Ergebnisse der ‚Biblischen Theologie‘ keine eigenständi47 Ebd.
48 Der Brief ist abgedruckt bei Benecke, Wilhelm Vatke in seinem Leben und seinen Schriften dargestellt, 168 f., hier 169. 49 Georg Heinrich August Ewald, Rez.: Wilhelm Vatke, Die Religion des Alten Testamentes nach den kanonischen Büchern entwickelt 1. Die biblische Theologie wissenschaftlich dargestellt 1, Berlin 1835, in: Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik (1836), 81–91, 82. 50 Bei ihm findet sich eine Sammlung der auf die Publikation der ‚Biblischen Theologie‘ folgenden Beurteilungen: Vgl. Brömse, Studien zur „Biblischen Theologie“ Wilhelm Vatkes, 30–39. 51 Ewald, Rez.: Vatke, Die Religion des Alten Testamentes nach den kanonischen Büchern entwickelt, 83.
4. Die Kritik durch de Wette und Ewald
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ge und unabhängige Forschungsleistung darstellen würden.52 Vielmehr sieht er gerade in der spekulativen Durchdringung des biblischen Stoffs, in Verbindung mit detaillierten historischen Untersuchungen zur israelitischen und jüdischen Geschichte, die besonderen Leistungen des Vatkeschen Werkes. Indem die ‚Biblische Theologie‘ diese Verbindung herstelle, komme dieser neuen Wissenschaft ein bedeutendes Verdienst zu, denn sie eröffne erstmals eine „Verständigung über den religiösen Inhalt der Bibel selbst“53. Es finden sich aber bereits in dieser Besprechung Indizien dafür, warum Ewald schließlich nicht in der Lage ist, die ‚Biblische Theologie‘ Vatkes als epochemachendes Werk zu würdigen. „Es ist in der That ein ungeheures Unternehmen, schon jetzt, da die historischen Untersuchungen über die Verfasser und Entstehungszeit der Stücke althebräischer Literatur, die man das A. T. nennt, noch tobend durch einander gähren und (man täusche sich nicht!) erst sehr wenige feste Anhaltspunkte gegeben haben, eine im Einzelnen ganz vollständige, sichere Beschreibung der israelitischen Religionsgeschichte geben zu wollen.“54 Damit stellt Ewald heraus, daß Vatke zwar nicht, wie die meisten Exegeten der Zeit, bei einer rein negativen Kritik stehen geblieben ist, die sich ohne einen neuen Zusammenhang aufzuzeigen allein mit der Datierung einzelner alttestamentlicher Traditionen beschäftige.55 Diesen von ihm diagnostizierten Mißstand versieht Ewald mit dem Begriff der „Zweifelsucht“56. Aber auch wenn davon nicht die Rede sein könne, so fehlten Vatkes ‚Biblische[r] Theologie‘ doch die gesicherten historischen Ergebnisse, die seine Rekonstruktion der israelitischen und jüdischen Geschichte stützen könnten. Ewald selbst nimmt für sich natürlich in Anspruch, diese vorgelegt zu haben, wobei ihm methodisch etwas anderes vorschwebte als Vatke. Besonders der Spätdatierung der mosaischen Schriften galt das Interesse seiner Rezension. Doch Ewald mochte den diesbezüglichen Erkenntnissen Vatkes nicht folgen. Trotz aller positiven Würdigung der Leistungen seines ehemaligen Schülers ist damit bei Ewald deutlich ein kritischer Vorbehalt gegen das Werk Vatkes zu erkennen. Die Datierung der gesetzlichen Überlieferungen des Pentateuchs in die staatliche und nachstaatliche Zeit Israels ist Ewalds Meinung nach falsch. In späterer Zeit führten diese hier schon deutlich erkennbaren Einwände gegen das methodische Vorgehen Vatkes bei Ewald zu einem eindringlichen 72.
52 Vgl.
dazu nur Brömse, Studien zur „Biblischen Theologie“ Wilhelm Vatkes, bes. 30–
53 Ewald, Rez.: Vatke, Die Religion des Alten Testaments nach den kanonischen Büchern entwickelt, 81. 54 A. a. O., 85. 55 „[D]ie Aufgabe der Kritik ist nicht zur Hälfte gelöst, wenn man nach der seit 40 Jahren immer herrschender werdenden Sitte nur das Eine zu zeigen sucht, daß dieses oder jenes Einzelne nicht so alt sei oder so beschaffen als es die Tradition wolle, während man sich nicht bemüht, den zerrissenen Zusammenhang auch wieder herzustellen“ (A. a. O., 85 f.) 56 A. a. O., 86.
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Warnen vor dessen Untersuchung. So schreibt er beispielsweise in einer ausführlichen ‚Übersicht der 1851–53 erschienenen schriften zur Biblischen Wissenschaft‘ bei der Beurteilung eines Buches, daß, wer „beim A T. de Wette und Vatke […] für die quelle aller einsicht hält“ in der gegenwärtigen Forschungsdebatte „garkein gehör“ verdiene.57 In seiner 1843 bis 1852 in erster Auflage erschienenen ‚Geschichte des Volkes Israel bis Christus‘ werden Vatke und seine Forschungsergebnisse folgerichtig mit keiner Silbe erwähnt. Heinrich Benecke, der Biograph Vatkes, berichtet sogar davon, daß Ewald „seine Zuhörer geradezu vor Vatke zu warnen“ pflegte – „den müßten sie nicht lesen“58.
5. Die Interpretation des Alten Testaments 5.1. Die Sicht der Religionsgeschichte des Alten Testaments Wilhelm Vatke versteht die ‚Biblische Theologie‘ als eine historische Disziplin, wobei er ausführlich auf die Vorzüge seiner Benennung gegenüber dem unter anderem von de Wette gebrauchten Namen der ‚biblischen Dogmatik‘ zu sprechen kommt. Dieser sei irreführend, da es sich gerade nicht um eine dogmatische Disziplin handele.59 Was ihm vorschwebt, könne man auch „Geschichte der religiösen und ethischen Vorstellungen des Alten und Neuen Testaments nennen“ (10). Bezüglich der Untersuchung des ersten Teils des biblischen Kanons spricht Vatke von einer „Geschichte der Theokratie“ (Ebd.). Auch wenn Vatke den Dogmatikbegriff vermeidet, so knüpft er doch unmittelbar an die Forschungen de Wettes an. Ganz gleich welcher Name für ihre Bibelforschungen gebraucht wird – beide grenzen sich von den von ihnen als unkritisch verstandenen Versuchen einer konfessionell und dogmatisch derart vorgehenden Bibelauslegung ab, die die Stellen des Alten und Neuen Testaments lediglich als Belege für das je eigene System heranziehen. Beiden geht es um eine Rekonstruktion der religiösen und ethischen Vorstellungen, um vor deren Hintergrund die alt- und neutestamentlichen Schriften verständlich zu machen. Beide sehen ihre Programme einer auf die Bibelexegese bezogenen ‚biblischen‘ bzw. ‚dogmatischen‘ Theologie dezidiert als historisch verfahrende Wissenschaften an, wobei ihnen an einer kritischen Verknüpfung der Ergebnisse der aufklärerischen Exegese mit allgemeinen Forschungen zur alttestamentlichen 57 Georg Heinrich August Ewald, Übersicht der 1851–53 erschienenen schriften zur Biblischen Wissenschaft, in: JBW 5 (1853), 208–335, 323. Bei dem besprochenen Buch handelt es sich um: Ludwig Noack, Die Biblische Theologie. Einleitung in’s Alte und Neue Testament und Darstellung des Lehrgehaltes der Biblischen Bücher nach ihrer Entstehung und ihrem geschichtlichem Verhältniß. Ein Handbuch zum Selbstunterricht, Halle 1853. 58 Benecke, Wilhelm Vatke in seinem Leben und seinen Schriften dargestellt, 613. 59 Vgl. 9 f.
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Religionsgeschichte gelegen ist. Nur deren wechselseitige Verschränkung gewährleiste ein an den Inhalten der biblischen Schriften tatsächlich interessiertes Verstehen. Diesem Programm entspricht der weite Begriff von ‚Theokratie‘, den de Wette und Vatke zur Kennzeichnung der Charakteristika der alttestamentlichen Schriften gebrauchen. Dieser wäre mißverstanden, wollte man ihn entsprechend seiner traditionellen Verwendung als Herrschaftsform verstehen, bei der die Staatsgewalt allein religiös legitimiert wird – wie klassischerweise von Priestern in der Hierokratie. Vielmehr gebrauchen sie den Begriff in einem ganz weiten Sinne als Gottesherrschaft, die sie im Falle der israelitischen und jüdischen Geschichte als besondere Beziehung zwischen Jahwe und seinem Volk verstehen, unabhängig von der tatsächlichen Herrschaftsform. Ihrer Meinung nach ist es nicht entscheidend, ob das Regiment nun von einem Stammesführer, einem König oder von sich allein religiös legitimierenden Priestern ausgeht. Wichtig ist de Wette und Vatke allein die besondere Beziehung Jahwes zu Israel, die auch in Zeiten des Abfalls bestehen geblieben sei und die es rechtfertige, die Schriften des Alten Testaments als Zeugnis einer besonderen Herrschaft Gottes zu verstehen. Über de Wette hinausgehend spiegelt sich im Werk Vatkes aber zudem der – vor allem durch Hegels Philosophie beeinflußte – Fortgang des geschichtlichen Verstehens: „Als historische Wissenschaft ist die biblische Theologie unabhängig von der Kirchenlehre und von den dogmatischen Systemen, und entlehnt ihren Stoff bloß aus der Schrift; als Wissenschaft, mithin als System der biblischen Vorstellungen, wird sie aber im Reflex der jedesmaligen dogmatischen Bildung eines Zeitalters dargestellt, theilt das Schicksal aller Geschichtsbetrachtung, und wechselt ihre Form nach den verschiedenen dogmatischen Entwicklungsstufen. Eine rein-objective biblische Theologie kann es daher nicht geben.“ (Ebd.) Vatke geht es nicht nur um eine endgültige Überwindung des altprotestantischen Schriftprinzips. Vielmehr unternimmt er in Aufnahme von de Wettes Forderung nach einer genetischen Erklärung der israelitischen und jüdischen Geschichte den Versuch einer geschichtlichen Auswertung der alttestamentlichen Schriften, wobei es ihm darum geht, die verschiedenen Epochen dieser Geschichte in ihren kontinuierlichen Bezügen und charakteristischen Unterschieden darzustellen. Allein auf der Grundlage dieser Rekonstruktion sei es möglich, die alttestamentlichen Texte und Textkorpora in ihrer jeweiligen Eigentümlichkeit zu würdigen, so wie umgekehrt die Schriften des Alten Testaments die primäre Quelle für die Rekonstruktion der israelitischen und jüdischen Geschichte bilden. Spekulative und nichtspekulative Methoden greifen hier ineinander, worauf im folgenden Kapitel näher einzugehen ist. Zunächst geht es um die Erörterung von Vatkes Sicht der Religionsgeschichte des Alten Testaments, die die Grundlage für die Darstellung der ihm eigentümlichen Methode der Auslegung bildet.
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„Die Geschichte zeigt uns das hebräische Volk zuerst als rohe Nomaden, in zwölf Stämme getheilt und durch Aelteste geleitet. Sie wohnten im Lande Gosen an den Grenzen von Aegypten und Arabien, wurden aber durch die Bedrückung der Aegypter bewogen, unter Mose auszuwandern und sich einen andern Wohnsitz aufzusuchen.“ (184, Hervorhebung im Original) Wüstenwanderung, Eroberung des Landes Kanaan und Wandlung zu einem Ackerbau treibenden Kulturvolk prägten die Folgezeit. Zur Religion und Ethik der Hebräer – die damals ein untrennbares Ganzes bildeten – schreibt Vatke: „Sowohl in Aegypten als während des Zuges durch die Wüste war die Mehrzahl des Volkes dem Naturcultus […] ergeben. Mose befestigte das Ansehen des ältern Nationalgottes, suchte den Dienst anderer Götter zu verbannen, vergeistigte die natürlichen Elemente der Vorstellung und des Cultus, und legte den Grund zu einem reineren sittlichen Leben des Volkes. Einer Staatsverfassung war aber dasselbe damals noch nicht fähig und auch die religiöse Vorstellung, welche wir in späteren Zeiten antreffen, war nur im Keime vorhanden.“ (184 f.) Interessant an diesem Einstieg Vatkes in die Geschichte des Volkes Israel ist zunächst einmal, was nicht berichtet wird und womit er sich implizit gegen den Großteil der alttestamentlichen Forscher seiner Zeit wendet. Zum einen räumt Vatke der sogenannten Vorgeschichte keinen Platz ein. Die mythischen Sagen der Genesis taugen seiner Meinung nach nicht als Quellen. Nicht nur die Erzählungen über die urzeitliche Abstammung der Hebräer bleiben – inklusive sämtlicher genealogischer Herleitungen – unbeachtet, sondern auch die Berichte über die Erzväter werden aufgrund ihrer historischen Unzulänglichkeit aussortiert.60 Zum anderen bleiben die gesetzlichen Überlieferungen des Pentateuchs außen vor – ein Punkt auf den gleich noch ausführlicher einzugehen ist. Eine Würdigung der verschiedenen Bundesschlüsse Jahwes mit seinem Volk erfolgt ebensowenig wie eine kritische Diskussion der Sinaigesetzgebung. Selbst der Dekalog wird nicht herangezogen.61 Zum dritten reklamiert Vatke keine religiöse Besonderheit für die zunächst nomadisch lebenden Stämme und das später seßhafte Volk Israel. Sie kommen als eins der Völker im Kontext der vorderorientalischen Völkerschaften zu stehen. Sie huldigen ihren lokalen Göttern bzw. Gott und folgen einem natürlich gewachsenen Kult. Da die Gottesverehrung der damaligen Zeit zudem nicht als Monotheismus beschrieben werden kann, gab es so etwas wie einen ‚Götzendienst‘ nicht.62 60
„Die Sagen über die Religion der Patriarchen schließen wir von vorn herein aus, da wir uns nicht getrauen, aus den Erzählungen der Genesis positiv-historische Elemente abzuleiten, nicht einmal in Ansehung des ursprünglichen Vaterlandes und der Genealogie der Patriarchen.“ (184) 61 „Nicht einmal der Dekalog, sollte er auch älter sein als die Gesetzgebung, in deren Zusammenhange er vorkommt, kann als objective Lehrbestimmung angesehen werden, und ist auch von den späteren Schriftstellern des A. T. nie in diesem Sinne gebraucht.“ (712) 62 „Daß das hebräische Volk sowohl in Aegypten, als während des Zuges durch die Wüste, dem Götzendienst ergeben war, sich wenigstens sehr zu ihm hinneigte, berichtet die einstim-
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Von großer Bedeutung ist für Vatke die Gestalt des Mose. Bis zu ihm reichten die historischen Erinnerungen der Israeliten zurück.63 Diese Behauptung Vatkes stützt sich nicht auf die Berichte des Pentateuchs in der im Alten Testament vorliegenden Form, sondern er begründet sie mit bibelkritischen und religionsgeschichtlichen Überlegungen: Zwar könne Mose weder der Begründer einer Staatsverfassung noch der späteren festgefügten rechtlichen, sittlichen und religiösen Institutionen gewesen sein, wie es im Pentateuch dargestellt werde.64 Insbesondere der ausdifferenzierte Opferkult und das hierarchisch ausgebildete Priesterwesen könne zur Zeit des Mose in der beschriebenen Form noch nicht bestanden haben. Aber trotzdem müsse – basierend auf ihrer richtigen Interpretation – an der Historizität der Moseüberlieferung und somit der Historizität seiner Person festgehalten werden. Mose als Religionsstifter steht in der Argumentation Vatkes nämlich für die Ausbildung der „Vorstellung von der Idealität des Göttlichen“ (195), ohne die seiner Meinung nach die Entstehung des Alten Testaments nicht denkbar sei. Um die Reichweite dieser These zu verstehen, ist es notwendig, näher auf die Vatkeschen Überlegungen einzugehen. Denn, so erklärt er, die Annahme, daß Mose ein großer Anführer und Gesetzgeber seines Volkes gewesen sei, dürfe nicht mit den gewöhnlichen Bedeutungen dieser Begriffe in Verbindung gebracht werden. Vielmehr sei der Stand der damaligen religiösen Entwicklung in Rechnung zu stellen, was Vatke anhand von Überlegungen zum Begriff des Gesetzes verdeutlicht: „Der hebräische Name des Gesetzes ()ּתֹורה ָ bedeutet Belehrung, im Besonderen: göttliche Belehrung, Offenbarung, und wird ursprünglich nicht sowohl von den einzelnen Satzungen, auch nicht von einer Totalität derselben, als vielmehr von der Offenbarung des göttlichen Willens oder eines besonderen Willenactes gebraucht, und weist schon dadurch auf die höhere Form des Kundwerdens und auf den höheren Inhalt zugleich hin. Der Ausdruck wird daher von den göttlichen Offenbarungen, welche Mose und welche die Promige Sage, wenn auch die einzelnen Erzählungen durch die Kritik unsicher werden. Die Angaben des Pentateuch selbst, in ihrer unmittelbaren Gestalt aufgefaßt, dürfen freilich unser Urtheil am wenigsten bestimmen, da den einzelnen Ereignissen und gesetzlichen Bestimmungen der allgemeine historische Hintergrund fehlt, so daß sich bei den Erzählungen der mythische und paränetische Charakter, und wie bei den Gesetzen und Ermahnungen der spätere Ursprung nicht verkennen läßt.“ (185 f.) 63 „[W]ie wir […] sehen werden, gingen die historischen Erinnerungen des Volkes nicht über den Auszug aus Aegypten hinaus; über der ganzen Vorgeschichte des Volks lag tiefes Dunkel, das man erst seit dem Ende der Richterperiode durch genealogische und religiöse Sagen von den Stammvätern, und noch später durch eine Art von Urgeschichte der Menschheit aufzuhellen suchte; das Volk kannte nicht einmal mehr den Ursprung seiner Stammverfassung, noch weniger seiner religiösen Symbolik. Dies alles erklärt sich durch die Voraussetzung, daß das Volk bis zu der Periode des Auszugs aus Aegypten in rohen Naturdienst versunken war, welcher keine Kette historischer Ueberlieferungen zuläßt, daß aber seit dem mosaischen Zeitalter allmälig ein höheres Bewußstsein erwachte, daß indeß in seiner Erinnerung nicht über seine eigenen Anfänge hinausging.“ (193) 64 Vgl. bes. 204–225.
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pheten erhielten, gleichmäßig gebraucht und das ‚Wort‘, ‚Recht‘ oder ‚Gesetz Jehova’s‘ als Totalität gefaßt, bezeichnet in der Sprache der Propheten keinen Cyclus von Gesetzen oder Satzungen im gewöhnlichen Sinnes des Wortes, sondern die Totalität fortlaufender Offenbarungen Jehova’s; so daß die Propheten, wenn sie dieselben verkündigen, mit demselben Rechte Gesetzgeber heißen können, wie Mose. Das Gesetz ist nichts Aeußerlich-Objectives, sondern das allgemeine religiös-sittliche Bewußtsein, welches durch Mose und durch alle darauf folgenden Organe Jehova’s offenbart ist.“ (225 f.) Das Gesetz kommt als Terminus für das Bewußtsein der Idealität des Göttlichen bzw. als dessen Ausdruck zu stehen. Wie dann später von Wellhausen in klassischer Weise ausgeführt, unterscheidet bereits Vatke die ursprünglich mündlich weitergegebene Thora von der späteren kanonischen Gesetzgebung des Pentateuchs, wobei auch er der Ersteren die größere Bedeutung beimißt.65 Zwar ist es bei Wellhausen dann nicht mehr die Persönlichkeit des Mose, dem die Rolle eines Religionsstifters und Vermittlers zwischen Jahwe als Gott Israels und Israel als Volk Jahwes zukommt. Vatke versteht Mose – hier möglicherweise Überlegungen Ewalds aufnehmend – als Prophet, da er wie die späteren alttestamentlichen Propheten auf eine Änderung des sittlichen und religiösen Bewußtseins gedrungen und derart die Religion auf eine neue Stufe gehoben habe.66 Aber die Annahme einer Entwicklung – von der freiwilligen Gefolgschaft zum staatlichen Zwang; von den selbst gewonnenen lebendigen Glaubenseindrücken zur dogmatischen Festschreibung derselben; von den je individuellen religiösen Überzeugungen zur Ausformulierung verbindlicher Kultgesetze – teilen Vatke und Wellhausen. In Vatkes Würdigung der prophetischen Persönlichkeit des Mose findet sich eine weitere Einsicht formuliert, die Wellhausen in seinen Forschungen rezipieren wird – die Institutionenkritik: „Das Gemeinsame aller dieser Gottgesandten [gemeint sind Mose, Samuel, die späteren alttestamentlichen Propheten, Anm. M. G.] bestand […] in der mehr unmittelbaren, an keine festen Institute gebundenen Wirksamkeit und in der Tendenz, das göttliche Recht mehr in die Gesinnung und das sittliche Leben überhaupt einzuführen als im starren 65 Bei Wellhausen zusammengefaßt in der These: „Erkennt man an, dass der Kanon das Judentum vom alten Israel unterscheidet, so erkennt man auch an, dass die schriftliche Thora das Judentum vom alten Israel unterscheidet. Das Wasser, das in der Vergangenheit gequollen war, fassten die Epigonen in Cisternen.“ (PzGI1 426, Hervorhebungen im Original. Zum Thorabegriff vgl. bes. PzGI1 403–426) 66 „Mose war ein Prophet und Mittler des Bundes, den Jehova mit dem Volke schloß: so stellt ihn der Pentateuch selbst dar und so faßten auch die Propheten seine Wirksamkeit auf. Die äußere Sphäre derselben war freilich anders gestaltet als im Zeitalter der Propheten im engeren Sinne des Wortes; in dieser Hinsicht ist Samuel am nächsten mit Mose zu vergleichen, wenngleich auch zu Samuel’s Zeiten teils die sittlichen Verhältnisse des Volkes eine festere Gestalt gewonnen, teils das höhere Bewußtsein in einem weitern Kreise Wurzeln geschlagen hatte, weshalb sich ein permanenter Zusammenhang der Propheten auch erst seit dieser Zeit nachweisen läßt.“ (227 f.)
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Buchstaben zu fixiren, oder eine reflektirte Symbolik der höhern Reinheit und des Cultus zu gründen. Alle Gottgesandten waren insofern geistige Heroen: ihr Recht war das der göttlichen Offenbarung, eine höhere Objectivität, die nach der Seite der Wirklichkeit als subjectives Uebergewicht erscheint, wie das Heroenrecht bei der Stiftung der Staaten überhaupt; ihre Wirksamkeit war schöpferisch und betraf die Sache selbst, von den äußeren Formen nur die allgemeinen Umrisse, und zwar in stufenweiser Entwicklung vom Abstract-Allgemeinen bis zur concreten Sittlichkeit, so weit sie auf Alttestamentlichem Standpunkte erreichbar war.“ (228) Vatke versteht die großen Propheten seit Mose als diejenigen Persönlichkeiten, die im Laufe der israelitischen und jüdischen Geschichte die überkommenen Traditionen für ihre jeweilige Zeit neu deuteten, die damit zugleich das religiöse Bewußtsein auf eine je neue Stufe hoben und aufgrund dieser Transformationsleistungen epochemachend waren. Wichtig ist Vatke insbesondere der Aspekt der Höherbildung des religiösen Bewußtseins, die gerade auf dem Gebiet der Religion erst im Nachgang zur Ausbildung fester Kulte und Riten geführt habe. Er geht davon aus, daß dem Wesen und Handeln der prophetischen Persönlichkeiten etwas Zwingendes zueigen ist, so daß sie nicht unbedingt die Schöpfer neuer Überzeugungen sein müssen, wohl aber ihnen zu allgemeiner Durchsetzung verhelfen. Im Falle des Mose handelte es sich Vatke zufolge um den Gedanken der Bindung Jahwes an sein Volk Israel und umgekehrt. „Was die Sphäre des Göttlichen betrifft, so dürfen wir es als unzweifelhafte Thatsache annehmen, daß Mose den Glauben an Jehova, als den Einen Gott gehabt und sein Volk zu demselben verpflichtet habe“ (229). Zudem führt er in Aufnahme eines Topos der Aufklärung, wonach das Judentum lediglich eine Nationalreligion repräsentiere, aus: „Eben so sicher schließen wir aus der Tradition, daß Mose die Verehrung Jehova’s als des Einen Nationalgottes teils vorfand, teils einführte; denn, wo in späteren Zeiten mosaische Elemente vorkommen, schließen sie sich eng an jene Einheit an […]. Die ganze Geschichte des Volkes bezeugt die historische Wahrheit des ersten Gebots im Dekaloge als einer mosaischen Bestimmung.“ (229 f., Hervorhebung im Original) Jahwe ist der Gott Israels, so wie andere Völker ihre Nationalgötter haben. Im sittlichen und religiösen Bewußtsein der Israeliten nimmt die Sonderstellung des eigenen Gottes eine wichtige Rolle ein. Vatke geht davon aus, daß es sich bei dieser Vorstellung um eine uralte Tradition handeln muß, welche bereits vor der Einwanderung nach Israel vorhanden war. Ohne das Bewußtsein von der Idealität des eigenen Gottes und die darin mitgesetzte Unterscheidung desselben von den bloßen Naturgöttern der Umwelt sei die eigentümliche Entwicklung der alttestamentlichen Religion nicht erklärbar. Es muß bei Mose bereits ausgebildet gewesen sein bzw. mit seiner Person verbindet Vatke die endgültige Durchsetzung dieser religiösen Vorstellung. Auch wenn er mit der Betonung der ‚Idealität‘ und ‚Differenz‘ des Gottes der Israeliten Hegelsche Begrifflichkeit aufnimmt, so geht es ihm doch gerade
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nicht um die Unterstellung spekulativer Reflexionen in dieser Zeit, sondern um die allmähliche Herausbildung der Vorstellung von der religiösen Besonderheit der Israeliten und ihres Gottes, die mit Mose einen gewissen Abschluß erreicht habe.67 Er reflektiert mit Hilfe Hegelscher Begrifflichkeit auf die Genese der Vorstellung von der Idealität Gottes und stellt diese dar. Wilhelm Vatke ist der Überzeugung, daß ohne die mit der Persönlichkeit des Mose verknüpfte Herausbildung der Vorstellung der Idealität des Göttlichen die Entstehung der alttestamentlichen Schriften nicht denkbar sei. Mose markiert den Anfang der Geschichte der sich dann immer weiter ausdifferenzierenden Entwicklung der israelitischen und jüdischen Religion, die durch eine zunehmende Vergeistigung gekennzeichnet sei. Mose muß als eine der herausragenden Persönlichkeiten seiner Zeit das Bewußtsein des Volkes nachhaltig verändert haben, auch wenn sich heute kaum noch etwas über seine Frömmigkeit sagen lasse.68 Diese Prägung des religiösen Bewußtseins der Israeliten durch Mose, die es auf eine neue Stufe gehoben habe, bezeichnet Vatke als das Prophetische seines Handelns. Die stufenweise Ausbildung der Gottesvorstellung verfolgt Vatke dann durch die gesamte israelitische und jüdische Religionsgeschichte, beginnend mit der auf das mosaische Zeitalter folgenden Richterperiode bis zu den Aufständen unter den Makkabäern. Der von ihm gezeichnete Gang der Entwicklung ist hier nicht im Detail zu rekonstruieren. Lediglich die wichtigsten Transformationsstufen des sich immer klarer herausbildenden Wandels des religiösen Bewußtseins und die darauf basierenden Hauptrichtungen der alttestamentlichen Religion sollen kurz benannt werden: Die Zeit der Richter versteht er als Epoche des Übergangs. So wie das Volk erst nach und nach das Gebiet seiner späteren Ansiedlung eroberte und im Laufe dieser Kämpfe zu einer Einheit zusammenwuchs, so war auch das religiöse Bewußtsein im Wandel – ohne über die Stufe des Schwankens zwischen den alten Baalen und der alleinigen Verehrung Jahwes hinauszukommen,69 weshalb Vatke auch von einer Zeit der ‚Zer67 „Die Idealität Gottes galt als einfache Voraussetzung, trat der Bewegung des subjectiven Denkens nicht als Object streng gegenüber und hatte daher selbst einen unmittelbaren Charakter; ihre allmälige Vermittlung fiel mit der ideellen Durchbildung des ganzen Bewußtseins zusammen. War nun jene Vorstellung nicht Produkt eines freien, willkürlichen Denkaktes, sondern Offenbarung und unmittelbare Erhebung, und hing ihre Vermittlung von der Totalität des sittlichen Lebens ab, so folgt daraus, daß wir sie bei Mose in noch viel mehr unmittelbarer Weise, als bei den späteren Propheten voraussetzen müssen.“ (231 f.) 68 „Fassen wir Alles zusammen, so erscheint das Resultat der mosaischen Wirksamkeit nicht als ein fertiges Ganzes, sondern als Anfang und Ausgangspunkt einer höheren Entwicklung; die Elemente des Volksgeistes waren noch nicht versöhnt, selbst nicht im Bewußtsein des Mose, ihr Kampf mußte daher fortdauern, und erst allmählig konnten Vorstellung, Cultus und sittliches Leben das ideelle Princip durchbilden.“ (251) 69 „Die religiöse Vorstellung auch der Bessergesinnten konnte nach dem Bisherigen nur einen abstracten, im Werden begriffenen Charakter haben. Die Idealität und Heiligkeit des Göttlichen wurde zwar festgehalten und gewann allmälig im sittlichen Leben des Volkes Reali-
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rissenheit‘70 spricht. Erst mit den Königen Saul und David wurden die religiösen Gegebenheiten in Israel weiterentwickelt – wenn auch eher indirekt: „Der letztere legte den Grund zu einem Staatsverhältniß und hob die Macht des Volkes auf den Gipfel.“ (288) Dadurch legten die Könige das Fundament für die folgende religiöse Entwicklung. Einerseits schufen sie mit dem Tempelbau die institutionellen Grundlagen für den späteren ritualisierten Kult und das Priestertum mit seiner festgefügten Hierarchie. Andererseits erhielt die geistige Entwicklung der Hebräer einen Schub, insbesondere durch den Kontakt mit den Nachbarvölkern. Hierfür legte der Handel die Grundlage. Quellen für die Rekonstruktion sind für Vatke insbesondere die Samuel- und Königbücher, wobei er spätere Ergänzungen ausscheidet. Die Bücher der Chronik, aber auch Schriften wie das Buch der Sprüche und die Psalmen schließt er als Quellen für die Erkenntnis des religiösen Geistes dieses Zeitalters aus. Entstanden ist das israelitische Königtum aufgrund der äußeren Umstände, dem Bedürfnis nach innerer Stabilität und Verteidigung nach außen. Daß damit eine Transformation der eigenen religiösen Vorstellungen einherging, sei damals wohl nicht bewußt wahrgenommen worden.71 Wie schon die Epoche der Richter war auch die Epoche der Könige bis zur Zeit der salomonischen Herrschaft in religiöser Hinsicht eine Übergangszeit – wobei letztere den Rahmen für die Ausbildung des später so bedeutenden israelitischen und jüdischen Priestertums und auch seines Prophetentums schuf.72 Auch wenn das israelitische Königtum die „Form des gewöhnlichen orientalischen Despotismus annahm“ (310) und – gerade auch was die Religiosität anbelangt – kaum von den Nachbarvölkern unterscheidbar war, so wurden in ihm mit dem Tempelbau in Jerusalem doch die Grundlagen für einen bleibenden Wandel gelegt.73 tät, da aber die ganze Sphäre der Wirklichkeit einen unaufgelösten Gegensatz bildete, so konnte diese nur nach einzelnen Seiten auf das höhere Princip bezogen werden und ihm selbst fehlte damit der concrete Inhalt.“ (287, Hervorhebung im Original) 70 Vgl. 253. 71 „Jenes Zeitalter konnte kaum eine Ahnung davon haben, welchen Einfluß auf das religiöse Bewußtsein das nach empirischen Rücksichten eingeführte Königthum, David’s Eroberungen, Salomo’s Handel, Verbindung mit auswärtigen Völkern, Tempelbau und dergleichen haben würden, eben so wenig als man seit dem achten Jahrhundert sogleich die Bedeutung erkannte, welche der Umstand hatte, daß das hebräische Volk in den großartigen Entwicklungsgang der welthistorischen Reiche gezogen wurde.“ (295) 72 „Die Geschichte zeigt uns […], daß […] das Priesterthum erst späterhin, teils in Verbindung mit dem Königthume, teils im Gegensatz zu demselben größere Bedeutung, Recht und Macht gewinnt, und daß auch das Prophetenthum, dessen Rechte immer persönlich blieben und an keine bestimmte Statute gebunden wurden, erst seit jener Zeit größeren Einfluß auf die Entwickelung des Gemeinwesens erlangt.“ (311) 73 Gleichwohl herrschten noch viele, eigentlich durch Mose überwundene religiöse Vorstellungen im Volk: „Die Vorstellungen von der Gotteslade, dem Ephod, dem Theraphim erscheinen in diesem Zeitalter keineswegs als Aberglaube, der sich neben einer geistigeren Ansicht hingezogen und von ihr ab nur verirrt hatte, sie bilden vielmehr das herrschende Be-
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Die stufenweise fortschreitende allgemeine Entwicklung der Religionsgeschichte beschreibt Vatke als Vergeistigungsprozeß. Paradigmatisch lasse sich dieser an der schrittweisen Veränderung des religiösen Bewußtseins der Israeliten aufzeigen. Nach den Anfängen bei Mose und einer ersten Phase des ‚Schwankens‘ und ‚Werdens‘ während der Richter- und Königszeit verfolgt er diesen Entwicklungsprozeß durch die gesamte israelitische und jüdische Geschichte, wobei er das ‚Zehnte und neunte Jahrhundert‘74, das ‚Assyrische Zeitalter‘75, das ‚Chaldäische Zeitalter‘76, das ‚Persische Zeitalter‘77 und das ‚Macedonische und makkabäische Zeitalter‘78 als jeweils eigenständige Epochen würdigt. Das der Vatkeschen Darstellung zugrundeliegende religionsgeschichtliche Dreiphasenmodel ist oben bereits erörtert worden. Vatke unterschied einen ‚Anfang‘, die Zeit der ‚Blüthe‘ und den ‚Verfall oder Uebergang in eine höhere Stufe‘, wobei im Falle Israels erst die Zeit des politischen Verfalls die eigentliche Blütezeit seiner Religion brachte – repräsentiert durch die großen Propheten. Auch darauf, was die ‚Blüthe‘ der israelitischen Religion auszeichnete, ist bereits eingegangen worden. Hier sollen noch drei für Vatkes Sicht der Religionsgeschichte des Alten Testaments in besonderer Weise charakteristische Punkte herausgestellt werden. Zum einen handelt es sich um die schon erwähnte Unterscheidung von natürlichen und ideellen religiösen Vorstellungen. Durch sie gewinnt die Vatkesche Darstellung ihre Dynamik. Sie durchzieht die gesamte israelitische und jüdische Geschichte. So wie es in der Entstehungszeit die Gestalt des Mose war, der gegenüber den naturreligiösen Vorstellungen der Nachbarvölker den Jahwe-Glauben als das Spezifikum der Israeliten herausgestellt hatte, so waren es in der Zeit der geteilten Königreiche die besonderen Gegebenheiten im von der davidischen Dynastie regierten Juda, welche den Fortschritt in der Ausbildung des religiösen Bewußtseins brachten. Insbesondere „der Tempelkultus, neben dem sich freilich der Höhendienst erhielt, begünstigte die Richtung auf das Ideelle, und Hauptstadt wie Tempel gaben der religiösen Anschauung einen festen Mittelpunkt und Ausgangspunkt, so daß sich, ungeachtet der innern Zerrissenheit des religiösen Lebens, die Vorstellung von der Gemeinde entwickeln wußtsein und das Princip der Idealität ist dadurch noch gebunden. Auf den göttlichen Geist haben wohl nur Samuel und die Wenigen, welche ihm ähnlich waren, die ihnen mitgetheilten Offenbarungen zurückgeführt, und diese Wenigen selbst nicht in der Klarheit, wie die späteren Propheten. Denn in demselben Maaße, als die Vorstellung vom Geiste Jehova’s ausgebildet wurde, mußten natürlich die ungeistigen Offenbarungsformen zurücktreten, oder, da die letzteren eigentlich für keine Offenbarungen gehalten werden können, in demselben Maaße gewann überhaupt der Offenbarungsbegriff Realität.“ (322 f.) 74 Vgl. 391–460. 75 Vgl. 460–499. 76 Vgl. 500–551. 77 Vgl. 551–577. 78 Vgl. 577–590.
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konnte, und die götzendienerischen Elemente als accidentiell erschienen, während sie im Reiche Israel die Substanz des Geistes angriffen“ (393). Trotz der weitgehend parallelen Entwicklung in Israel und Juda sei doch letzteres im Hinblick auf die Religion das bedeutendere Reich gewesen. Insbesondere der Jerusalemer Tempel und die an ihm angesiedelte Tempeltheologie habe das Umfeld für eine sukzessiv erfolgende Transformation der Religion geboten, deren Zielpunkt Vatke im ‚Monotheismus‘ erblickt – heute würde man von Monolatrie sprechen. Die Alleinverehrung Jahwes versteht er als den ideellen Glauben schlechthin, der von allen natürlichen Elementen gereinigt sei. Er bildet auch den Maßstab für Vatkes Urteil, daß insbesondere Israel immer wieder zum Götzendienst abgefallen sei, während Juda demgegenüber positiv bewertet wird. Die höchste Stufe der Entwicklung der alttestamentlichen Religion erblickt Vatke im Monotheismus der Propheten. Insbesondere ‚Pseudojesaja‘79 steht seiner Meinung nach für deren Vollendung. Indem er das babylonische Exil als Folge des Ungehorsams der Israeliten deutete und Jahwe als den einzigen und alleinigen Gott verstehen lehrte, auf den alle Widerfahrnisse Israels zurückgingen, erreichte die alttestamentliche Religion ihre höchste Ausformung.80 Seine Botschaft an Israel war unmißverständlich: „Das Volk ist von jeher dazu berufen, Träger der wahren Religion zu sein und dieselbe zu allen Völkern der Erde zu verbreiten; es ist seiner Bestimmung nach Bote Gottes, Organ, woran sich Jehova verherrlichen will und durch dessen Vermittlung das Heil über die ganze Erde ausgedehnt wird. Um dieses Zweckes willen ward das Volk erhalten, obgleich es durch seine Sünden harte Strafgerichte herbeigeführt hatte; der ganze Umschwung der Weltgeschichte läuft auf diesen Endzweck hinaus, die allgemeine Verherrlichung Jehova’s durch seinen Knecht.“ (530) Der Monotheismus als die ‚wahre Religion‘ hat sich bei ‚Pseudojesaja‘ durchgesetzt. Jahwe ist nicht mehr nur als der Gott Israels, sondern als der Gott aller Völker 79 Vgl. 539. Hierunter versteht Vatke den ungenannten Propheten, auf den der zweite Teil des Buches Jesaja ab Kap. 40 zurückgeht. 80 „Die höhere Idealität und Freiheit, welche das Princip schon im Zeitalter des Jeremia errungen hatte, war nicht allein ein Product der abstracten Anschauung oder der Reflexion gewesen; die einfachere Erhebung der älteren Propheten hatte sich vielmehr zur reicheren Innerlichkeit vertieft, war zur Form des Selbstbewußtseins fortgeschritten, und suchte nun die hemmenden Formen zu zersprengen; die Geschichte selbst offenbarte die Endlichkeit derselben, indem das Volk durch seine Verstocktheit und Selbstverblendung zu Grunde ging, und auf die Idee der Theokratie als seine wahrhafte Realität hingewiesen wurde; die Jahrhunderte lang fortgesetzten vergeblichen Versuche der Propheten, das höhere Princip in einem weiteren Kreise zu gründen, hatte die Ueberzeugung von allgemeiner Sündhaftigkeit und Hartnäckigkeit des Volkes geweckt, die nur durch eine historische Katastrophe gehoben werden könnte; dabei hatte aber die Ueberzeugung von der göttlichen Bestimmung des Volks immer tiefere Wurzeln geschlagen, und über den Gegensätzen der getrübten Erscheinung strahlte in unvergänglicher Klarheit die Idee: Israel war und blieb der Knecht Jehova’s, und sollte durch alle Züchtigungen hindurch zu Gottes Ehre erhalten werden.“ (527)
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zu verehren. Jahwe nicht als einzigen und alleinigen Gott zu verehren, wird als Götzendienst verurteilt. Vatke sieht damit das Prinzip der alttestamentlichen Religion verwirklicht, da sich nun die von allen natürlichen Anhaftungen gereinigte Idee des Religiösen durchgesetzt habe. Diese blieb freilich in dieser abstrakten Idealität nicht bestehen, sondern fand ihre endgültige Realisierung erst im Christentum. Zum anderen – und dies hängt mit dem soeben Ausgeführten eng zusammen – widerspricht Vatke der seiner Zeit gängigen Vorstellung vom alttestamentlichen Gesetz und seiner Sonderstellung in der israelitischen und jüdischen Geschichte. Seiner Meinung nach könne keine Rede davon sein, daß es sich bei ihm um eine Art Gründungsdokument handele, welches die besondere Rolle des Volkes Israel konstituierte: „Kein einziges Buch des A. T. hatte […] den Zweck, die Religion zu gründen, und der Pentateuch, dem man sonst wohl eine ähnliche Tendenz zuschrieb, verräth es durch seine Form deutlich genug, daß er Resultat vorangegangener Entwicklung war, und deshalb den einfachen Glauben an Jehova und das damit zusammenhängende sittliche Bewußtsein voraussetzen konnte. Mose und die ältesten Propheten und Priester, denen wirklich die Gründung der Religion beigelegt werden muß, haben gewiß in ganz anderer Weise die göttliche Offenbarung ausgesprochen; diesen ältesten Aeußerungen des höheren Prinzips geht indeß nach der andern Seite der Charakter der Lehre noch mehr ab als den späteren Büchern. Nicht einmal der Dekalog, sollte er auch älter sein als die Gesetzgebung, in deren Zusammenhange er vorkommt, kann als objective Lehrbestimmung angesehen werden, und ist auch von den späteren Schriftstellern des A. T. nie in diesem Sinne gebraucht. Selbst um die Zeit des Exils und nach demselben kannte man außer der ganz einfachen Voraussetzung von der Idealität und Einheit Jehova’s keine objectiven Glaubenswahrheiten, weil man sonst den nach und nach eindringenden fremden Elementen gewehrt haben würde.“ (712 f.) Ursprünglich handelte es sich beim Gesetz nicht um die festgeschriebenen Normen der Thora, sondern um so etwas wie allgemein gültige ethische und religiöse Maximen.81 Vatke nimmt einen langen Entwicklungsprozeß an, der zur Entstehung der alttestamentlichen Kultgesetzgebung führte. Erst nachexilisch sei es in der im Alten Testament überlieferten Weise endgültig ausformuliert worden. Das Gesetz – einst das Charakteristikum des Volkes Israel, welches es gegenüber allen anderen auszeichnete – wird nicht nur zu einem Produkt der Spät81 „Das Gesetz ist nichts Aeußerlich-Objectives, sondern das allgemeine religiös-sittliche Bewußtsein, welches durch Mose und durch alle darauf folgenden Organe Jehova’s offenbart ist. Wir dürfen daher den Unterschied zwischen Mose und den Propheten in Hinsicht ihrer Wirksamkeit für das göttliche Gesetz nicht so bestimmen, daß wir von Mose die objective Seite ableiten, wodurch dasselbe als Totalität göttlicher Willensbestimmungen dem subjectiven Leben des Volkes gegenübertreten, den Propheten dagegen die Einführung des Gesetzes in diese subjective Sphäre zuschreiben. Beide Seiten waren vielmehr relativ vereinigt und gewannen in gleichem Maaße an Umfang und intensivem Gehalte.“ (226)
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zeit, sondern Vatke sieht in seiner Ausformulierung auch ein Phänomen des religionsgeschichtlichen Verfalls. Denn nach dem Untergang des Staates versuche das alttestamentliche Gesetz zwar das Volk Israel als Tempelgemeinde neu zu konstituieren. Dies erfolge aber um den Preis, daß für die individuell ausgeprägte, subjektive Religiosität kein Platz mehr bleibe. Die Aufstellung festgefügter Kultgesetze bedeute nämlich das Ende der religiösen Entwicklung, da sie den lebendigen Fortschritt unterband – ein Urteil, welches später auch Wellhausen aufnahm. Zeichnete sich die ursprüngliche Religiosität der Israeliten durch ihre Lebendigkeit aus, die Raum für ihren je epochenspezifischen Wandel eröffnete, so war dies später nicht mehr der Fall. Spätestens mit dem Zeitalter Esras und Nehemias sei dem alttestamentlichen Gesetz eine alles andere überstrahlende Bedeutung zugekommen. Es lag nun in seiner fast vollständig ausgebildeten Form vor und bildete den Maßstab für das sittliche und religiöse Leben.82 Vatke knüpft die Entstehung des alttestamentlichen Kultgesetzes an die Existenz einer Tempelgemeinde, die es anerkennt und befolgt. Beide bedingen und fordern einander wechselseitig. Das Gesetz „ohne Gemeinde, die es als ihren allgemeinen Willen anerkennt, ist kein wirkliches Gesetz; seine objective Feststellung ruft vielmehr unmittelbar die Tendenz hervor, demselben allgemeine Realität zu verschaffen“ (656). Mit der Existenz beider wird die alttestamentliche Religion zur gelehrten Schriftreligion. War dieser Schritt auch zur Bewahrung der alttestamentlichen Überlieferungen unvermeidlich, so bedeutete er doch zugleich das Ende der alttestamentlichen Religion. Das Gesetz, welches ursprünglich als situativ gebundene Kundgebung Jahwes durch prophetische Persönlichkeiten verstanden werden müsse, wurde im Laufe der Jahrhunderte verschriftlicht, ausgearbeitet und erreichte seine Vollendung in der Kultgesetzgebung des Alten Testaments.83 Die Form erstickte den Inhalt. Das alttestamentliche Gesetz ist für Vatke keine einmal gegebene feststehende Größe, sondern er zeigt verschiedene Facetten desselben auf. Er gebraucht den Gesetzesbegriff als einen mehrdimensionalen Terminus, der je nach Epoche der 82 „Anhänglichkeit an den äußeren Buchstaben des Gesetzes konnte sich im Volke erst bilden, als das traditionelle Gesetz als Ganzes abgeschlossen und Gegenstand der Lehre geworden war. Hiervon finden wir die ersten Spuren im Zeitalter Esra’s, welcher der Erste ist, dem die Ueberlieferung das Prädikat eines Sofer oder Schriftgelehrten beilegt, und welcher sich auch wahrscheinlich das Verdienst erwarb, die Redaction des Pentateuch zu vollenden.“ (559) 83 „[D]as göttliche Gesetz war keine Reihe äußerlich bestimmter Satzungen, sondern der sich kundgebende Wille Jehova’s […] und zu keinem abstracten, außerhalb der historischen Entwickelung liegenden Elemente fixirt. Je weiter indeß die Entfaltung des besonderen Inhalts fortschritt, um so mehr mußten auch äußerliche und zufällige Elemente darin aufgenommen werden, da es in der inneren Bestimmtheit des Begriffes lag, daß die Extreme der Besonderung nicht wahrhaft zur Idealität verklärt werden konnten […]. Diese zufällige Seite des Ganzen trat indeß in den Hintergrund; die Substanz war der objective Inhalt des Begriffes, das göttliche Gesetz in gegenständlicher Weise, und somit das Resultat der Dialektik des Selbstbewußtseins, welches als die an sich wirksame Voraussetzung des ganzen Entwicklungsganges nun auch an seine Spitze gestellt wurde, und als Offenbarung im höchsten Sinne des Wortes galt.“ (655 f.)
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israelitischen und jüdischen Geschichte eine unterschiedliche Ausprägung erfährt. Für Julius Wellhausen wurde dieses Problem dann zur bestimmenden Fragestellung, mit der seine Forschungen zur Geschichte Israels einsetzten: „Die Frage ist, ob das mosaische Gesetz der Ausgangspunkt sei für die Geschichte des alten Israel oder für die Geschichte des Judentums, d. h. der Sekte, welche das von Assyrern und Chaldäern vernichtete Volk überlebte.“ (PzGI1 1, Hervorhebungen im Original) Zudem wird er aufzeigen, daß das Gesetz in Israel, im Judentum und im Sadduzäismus und Pharisäismus jeweils eine ganz unterschiedliche Ausprägung erfuhr. Zum dritten ist noch kurz auf das Problem der Kanonisierung der alttestamentlichen Texte einzugehen, wie es sich Vatke darstellt: „Die Schließung des Alttestamentlichen Kanon, welche wahrscheinlich bald nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts erfolgte, ging aus dem Bewußtsein hervor, daß, gleichwie die prophetische Begeisterung längst aufgehört, nun auch die Productivität des älteren Geistes überhaupt erloschen sei.“ (590) Sie bedeute zwar nicht das Ende des Judentums, wohl aber das Ende seiner sittlichen und religiösen Entwicklung. In seiner Ausprägung als Gesetzesreligion, als Schriftreligion sei die alttestamentliche Religion zum Abschluß gekommen. Die israelitische und jüdische Religionsgeschichte ist für Vatke damit im eigentlichen Sinne beendet.84 Etwas grundlegend Neues wird sie beerben und den religionsgeschichtlichen Fortschritt bringen – das Christentum. Die innere und äußere Entwicklung des Judentums ist an ihr Ende gekommen.85 Vatke versteht dieses als Ergebnis eines langandauernden religionsgeschichtlichen Verfallsprozesses. Wie das Kultgesetz der Thora ist für ihn die Kanonisierung zum einen ein mehrstufiger Prozeß, der im Falle letzterer durch den staatlichen Untergang und die Konstituierung als Gemeinde befeuert wurde. Und zum anderen zeugt seiner Meinung nach auch die Kanonisierung vom geistigen Ende der alttestamentlichen Religion, die einen langen Vorlauf hatte: „Die Production des hebräischen Geistes wurde zwar auch in der nachexilischen Zeit nicht gehemmt, sie erzeugte aber nicht mehr die Grundformen des objectiven Inhalts der Religion, war daher 84
„Da man zu wenig geistige Freiheit besaß, um den religiösen und sittlichen Gehalt der älteren Offenbarung von der Erscheinungsform zu trennen, und zu wenig historischen Sinn, um den gegenwärtigen Standpunkt des Geistes als Resultat allmäliger Entwicklung aufzufassen, so suchte man teils durch Umdeutung und allegorische Erklärung, deren Keime sich schon jetzt enwickelten, dem Buchstaben zu Hilfe zu kommen, theils trug man spätere Vorstellungen, Einrichtungen, Bedürfnisse und Wünsche in die frühere Geschichte hinein.“ (581 f.) 85 „Seit dem Ende des dritten Jahrhunderts trat der Gegensatz der freien Reflexion und der gläubigen Anhänglichkeit an die Ueberlieferung am schroffsten hervor, und rief auf der einen Seite die Ueberzeugung von der Eitelkeit der Dinge hervor, auf der andern die Hoffnung von einer übernatürlichen Umgestaltung der irdischen Verhältnisse. Dieser Widerspruch, den die Macht des religiösen Geistes nicht mehr versöhnen konnte, setzte sich in der differenten Richtung der um diese Zeit entstandenen Sekten der Sadducäer und Pharisäer fort. Nachdem die Einheit des Alttestamentlichen Princips dadurch gebrochen war, so wurde auch bald nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts der Kanon des Alten Testamentes geschlossen.“ (578 f.)
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auch nicht mehr schöpferisch im eigentlichen Sinne des Wortes, und konnte daher auch nicht, wie das Gesetz und die Propheten, für Offenbarung gelten.“ (656) Daß die alttestamentliche Religion auszeichnende prophetische Moment ging sukzessive verloren. Der Kult wurde zu einem äußerlichen Ritual ohne innerliche Beteiligung.86 Die Kanonisierung ist für Vatke ein rein historisches Ereignis, das einerseits die einzige Möglichkeit für die weitere Existenz des Judentums darstellte – als Schriftreligion. Da der Kanon des Alten Testaments andererseits zugleich den Abschluß jeglicher religiöser Entwicklung bedeutete, wurde das Judentum für Vatke damit zur toten Religion. Gefangen in Kultgesetzen verlor es die Anbindung an das sittliche und religiöse Leben. Als Schriftreligion habe es den Kontakt zur Volksfrömmigkeit verloren. Die Transformation der eigenen religiösen Traditionen – die das Christentum dann gebracht habe – sei dem Judentum nicht mehr möglich gewesen.
5.2. Geschichte und Überlieferungen – Historisch-kritische und systematische Methode „Die biblische Theologie stellt die Idee der Religion dar in der Form, wie sie das Grundbewußtsein des hebräischen Volkes und der urchristlichen Zeit war, oder, was dasselbe sagt, sie stellt die religiösen und ethischen Vorstellungen der heiligen Schrift dar in ihrer historischen Entwickelung und ihrem innern Zusammenhange.“ (2) Die bibelhermeneutischen Überlegungen Wilhelm Vatkes lassen sich nicht als ein Gegeneinander historischer und systematischer Forschungen begreifen, sondern das Charakteristische ist gerade die wechselseitige Durchdringung beider methodischen Herangehensweisen. Grundlegend dafür ist die an Hegel anknüpfende Einsicht Vatkes, daß weder der rein objektive, noch der rein subjektive Standpunkt für die wissenschaftliche Bibelauslegung tauge. „[V]ielmehr muß ein solcher Standpunkt gewählt werden, welcher alle Gestalten des geistigen Lebens als Glieder eines großen Organismus betrachtet und jeden besonderen Standpunkt als integrirendes Moment des Ganzen zu begreifen sucht“ (14). Vatkes Vorstellung von der biblischen Theologie als einer Wissenschaft, die die historische Perspektive als umfassendes Ganzes begreift, der es gelingt, verschiedenartigste Überlieferungen zu einer organischen Einheit zusammenzuführen, ist im Folgenden zu erörtern.87 Für die Bibelhermeneutik im speziellen, wie für die Geschichtswissenschaft im allgemeinen, ist seiner 86 „Der frühere Gegensatz des äußeren Cultuswesens und der freien prophetischen Richtung erhielt nun die Gestalt der Anhänglichkeit an den Buchstaben des levitischen Gesetzes und der freien, selbst über den Particularismus übergreifenden Reflexion.“ (552) 87 „Da von dem inneren Organismus der drei Sphären [gemeint sind die jeweiligen zeitbedingten Vorstellungen von der göttlichen Offenbarung, die konkreten Kultformen und das sittlich-religiöse Leben, Anm. M. G.] die Construction unserer Wissenschaft abhängt, von den einzelnen Momenten, welche den Kreislauf des Selbsbewußtseins bilden, ihr Umfang, und von dem Verhältnisse der Momente zu einander die rechte Würdigung der einzelnen Vorstellun-
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Meinung nach die Einsicht grundlegend, daß sich Einseitigkeiten jedweder Art verbieten: Der objektiven Betrachtungsweise macht Vatke zum Vorwurf, daß es ihr an der notwendigen Vermittlung fehle und die alleinigen Begriffsspekulationen letztlich an der empirischen Wirklichkeit vorbeigingen und leer blieben.88 Dabei teilt sie mit der subjektiven Betrachtungsweise, daß es ihr nicht gelingt, zur historischen Wirklichkeit durchzudringen bzw. diese zu erkennen: „D[ieser] Standpunkt, worauf man sich von der Knechtschaft eines herrschenden Systems frei zu halten und die Sache selbst unbefangen zu betrachten sucht, ist besonders in neuester Zeit herausgetreten, im Gegensatz zu der philosophischen Richtung; man giebt zwar zu, daß die lebendige Betrachtung der Geschichte nicht möglich sei ohne subjective Zuthat, will aber die Vergangenheit nicht nach einem bestimmten Typus construirt sehen. Allein es liegt am Tage, daß eine Ansicht, die sich über alle philosophischen Systeme stellt im Sinne der Abstraction, eben damit auch außer denselben steht und sich damit selbst schon begrenzt; bei näherer Prüfung zeigt sich dann auch, daß selbst diese unbefangene Ansicht, wo sie das eigentlich religiöse Element berührt, einen sehr beschränkten Kreis von Kategorien durchläuft, zumal wenn dem ganzen Verfahren eine unbestimmte Gefühls-Anschauung zu Grunde liegt“ (15). Vatke ist der Überzeugung, daß die Philosophie die Begrifflichkeit bereitstellen muß, so daß die Anschauung nicht leer und unbestimmt bleibt. Umgekehrt betrachtet ist ohne die Konstruktion von Idealtypen eine geschichtliche Erkenntnis auch nicht möglich, da allein diese sicherstellen, daß historische Besonderheiten überhaupt erkannt werden können. Historische Erkenntnis ist keine unmittelbare Erkenntnis. Die rezeptive, sinnliche Anschauung ist nicht in der Lage, vermeintlich direkt die sich ihr darbietenden Gegenstände zu erkennen, sondern sie bedarf dazu einer vom Verstand bereitgestellten Begrifflichkeit. Nur im Zusammenspiel von Anschauung und Begriff ist eine Erweiterung der Erkenntnis möglich. Vatke rezipiert damit eine in der Kantischen Philosophie grundgelegte erkenntnistheoretische Einsicht – die natürlich auch von Hegel geteilt wird –, wonach Anschauungen ohne Begriffe blind und Begriffe ohne Anschauungen leer sind. gen und Lehren eines religiösen Standpunktes, so müssen wir diese Puncte noch genauer betrachten und uns dadurch den Weg zur richtigen Methode unserer Wissenschaft bahnen.“ (79) 88 „Was man nun gewöhnlich als den objectiven Standpunkt preist, das einfache Registriren des historischen Materials, ist in der That der subjectivste Standpunkt, weil beide, das betrachtende Subject und das äußere Object für sich bleiben, unvermittelt und starr einander gegenüber gestellt; das Object wird zwar scheinbar nicht verändert, allein es kommt gar nicht zu seinem Recht, die Aeußerlichkeit zu verlieren und Moment des allgemeinen Geistes zu werden, es kann daher bei dieser Ansicht nur als Erscheinung, Vorstellung, äußeres Object, behandelt werden, und leidet eben darin die größte Entstellung, vom Begriffe des Geistes aus angesehen. Ein solches Verfahren fließt überhaupt nur aus dem Princip der abstracten, leeren, bloß formellen Subjectivität, welche sich nicht identisch setzt mit dem Object, um dadurch Inhalt zu gewinnen; der ganze Standpunkt ist daher gerade das Gegenteil von dem, wofür er sich ausgiebt, und widerstreitet dem Begriffe der Wissenschaft.“ (15)
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„Die Betrachtung der Geschichte und im Besonderen der biblischen Lehren ist dann objectiv, wenn sie dieselben adäquat darstellt ohne Trübung durch subjective Ansichten.“ (14) Ohne freilich die subjektive Seite der Erkenntnis zu negieren, ist Vatke der Überzeugung, daß es keine vom Gegenstand unabhängige Methode der Erkenntnis gibt. Vielmehr muß diese dem Erkenntnisobjekt kongruieren. Dementsprechend hält er mit Bezug auf die wissenschaftliche Darstellung der alttestamentlichen Religionsgeschichte fest, daß auch hier immer nur eine relative Objektivität zu erreichen ist und sich dieselbe stets „auf das Selbstbewußtsein eines Zeitalters“ (Ebd.) beschränken muß. Denn die Geschichtsschreibung habe stets den jeweiligen Stand der geistigen Entwicklung mitzureflektieren. Die historisch bedingte Relativität des eigenen Standpunktes bedeute dabei, daß sie zwar stets ein Reflexionsniveau einnehmen müsse, welches die vergangenen Entwicklungsstufen auf einem höheren Standpunkt zusammenführe; zugleich bleibe die Geschichtsschreibung aber in diesen Prozeß eingebunden, so daß eine „absolute Objectivität“ (Ebd.) nicht zu erreichen sei. Konkret bedeutet dies für Vatke im Hinblick auf seine Darstellung der Religionsgeschichte, daß er einerseits die mythischen von den historischen Überlieferungen im Alten Testament unterscheiden muß. Andererseits geht es ihm darum, das Entwicklungsschema aufzuzeigen, welches seiner Meinung nach für die Entstehung und fortlaufende Überarbeitung dieser Traditionen leitend gewesen ist. Was zunächst die Unterscheidung ‚mythischer‘ und ‚historischer‘ Überlieferungen anbelangt, so geht Vatke von grundsätzlichen Überlegungen zum Charakter des Alten Testaments aus. „Die hebräische Sage theilt […] das Loos aller Mythen, welche sich zuletzt immer ins Unbestimmte verlieren und von dem empirischen Boden der Tradition in die innere Tiefe der Anschauung abbiegen. […] Je unbefangener und umsichtiger – und wahre Unbefangenheit fließt nur aus der Erkenntniß des Geistes, besteht nicht in der unmittelbaren Aufnahme des empirisch Gegebenen – man die älteren Sagen würdigt, um so bedenklicher erscheint die Construction der ältern Geschichte im Einzelnen, so daß selbst die kritische Ansicht in Feststellung des Positiven öfter zu weit zu gehen scheint.“ (179) Dieses forschungskritische Argument Vatkes beruht auf der Prämisse, daß die Überlieferungen des Alten Testaments bzw. des Altertums im Allgemeinen einer Zeit entstammen, der kein wie auch immer näherbestimmtes historisches Bewußtsein unterstellt werden darf. Dies bedeutet für ihn nicht, daß sie im Gesamten als Quellen für die Religionsgeschichte verworfen werden müßten. Doch bedarf es quellen- und literarkritischer Untersuchungen, um die alttestamentlichen Schriften in ihre mythischen und historischen Bestandteile zu zerlegen.89 Dabei ist es ihm nicht darum zu tun, die 89 „In den Urkunden des Alterthums laufen […] mythische und historische Elemente bunt durcheinander, und es ist Sache der Kritik, beide möglichst von einander auszuscheiden.“ (44)
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mythischen Passagen des Alten Testaments insgesamt auszuscheiden, sind sie doch Zeugen des damaligen Entwicklungsstandes und wichtige Denkmale für die Zeit ihrer Entstehung. „Vorstellungen, Symbole und Mythen sind nicht willkührliche Produkte menschlicher Einbildungskraft, nicht schlechthin endliche, unwahre Gebilde, sondern nothwendige Entwicklungsmomente des Selbstbewußtseins, welches einen langen Weg der Vermittlung zurücklegen muß, bis es sein geistiges Wesen in wahrhafter Weise begreift.“ (44 f.) Derart bilden sie ein getreues Abbild der damaligen Vorstellungswelt, wobei zu beachten ist, daß ihre ‚Erscheinungsform‘ den eigentlichen historischen ‚Inhalt‘ unangemessen zum Ausdruck bringt und einer kritischen Interpretation unter besonderer Beachtung des Standes der (religions-)geschichtlichen Entwicklung bedarf.90 Die Notwendigkeit der exakten Unterscheidung der ‚mythischen‘ und ‚historischen‘ Überlieferungen des Alten Testaments zeigt sich Vatke vor allem in der seinerzeit heftig umstrittenen Pentateuchforschung. Ihre Suche nach vermeintlichen mosaischen Urkunden in den Büchern Genesis bis Josua – die sowohl für die kritischen Forschungen Wilhelm Martin Leberecht de Wettes und seiner Nachfolger als auch für deren Gegner kennzeichnend sei – wertet er als Irrweg der Forschung. Sie zeichne ein nur unzureichend fundiertes Bild der Geschichte des Volkes Israel, was sowohl für den Hebraismus als auch die eigentliche israelitische und die jüdische Geschichte gelte. Vielmehr müsse beispielsweise gerade im Hinblick auf Mose anerkannt werden, daß Erinnerungen an ihn zunächst alleine durch mündliche Überlieferungen bewahrt worden sind und daß er nur auf dem Weg der kritischen Rekonstruktion der Frühgeschichte als Stifter der israelitischen Religion in angemessener Weise gewürdigt werden könne.91 Mündliche Überlieferungen verlangen Vatke zufolge eine eigene Hermeneutik. Sie unterläuft und ergänzt in gewisser Weise seine Unterscheidung ‚mythischer‘ und ‚historischer‘ Traditionen. Denn bevor es zur schriftlichen Fixierung der alttestamentlichen Texte gekommen sei, muß es eine längere Phase mündlicher Überlieferung gegeben haben. Im Gegensatz zum letztlich toten Buchstaben habe sie sich durch eine große Lebendigkeit und Unmittelbarkeit ausgezeichnet. Interessant sei insbesondere das schöpferische Potential, welches 90 „Der Unterschied der mythischen und wirklich historischen Form besteht in den symbolischen Elementen der ersteren, die Erscheinungsform ist darin kein angemessener Ausdruck des Inhalts, sondern bedeutet ihn nur, beide sind nicht wahrhaft vermittelt.“ (43) 91 „Wir sind überhaupt nicht berechtigt, mosaische Urkunden vorauszusetzen, die bei der Abfassung des Pentateuch benutzt sein könnten, sondern müssen uns damit begnügen, sowohl die spätere Kenntniß des Volkes von der mosaischen Wirksamkeit, als auch unsere eigene, die aus der Kritik jener hervorgeht, auf mündliche Ueberlieferung und die damit verbundene Ueberlieferung der Sache selbst zurückzuführen. Wir dürfen uns daher überhaupt nicht an den Buchstaben des Pentateuch halten, um eine historisch-wahrscheinliche Vorstellung von Mose zu erhalten, sondern müssen den Umweg der negativen Kritik einschlagen, der uns, wenn wir damit anderweitige Zeugnisse und Combinationen verbinden, zwar zu wenigen, aber sicheren Haltepunkten leiten wird.“ (202 f.)
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sich in den Texten des Alten Testaments als der unvermeidlichen und notwendigen Form tradiert habe: „Da dieser schöpferische Geist zuerst in unmittelbarer Weise auftritt als lebendiges Bewußtsein und Handeln, ein einfaches Werden des Göttlichen ohne Reflexion auf sich selbst und ohne in einem bestimmten Resultat sich abzuschließen, so pflanzt derselbe sich auch nur in unmittelbarer Weise fort, als lebendige Tradition im Geiste der Besseren des Volkes, und in einfachen sittlichen Instituten; die Volkssage geht eher von der Seite der Wirklichkeit aus, von den Wundern und Thaten Gottes, welche die Väter erlebten; Dichter verherrlichen einzelne hervorragende Momente und wirken belebend auf die Ueberlieferung ein, bis endlich ein späteres Zeitalter mit verständiger Reflexion den Inhalt des Ueberlieferten mit allen Elementen, welche die Folgezeit daran abgesetzt, schriftlich fixirt.“ (228) ‚Mythisch‘ bildet dabei für Vatke nur vordergründig einen Gegensatz zu ‚historisch‘, denn es gilt den Geist, die treibenden Kräfte der ursprünglich mündlich tradierten Überlieferungen des Alten Testaments aufzuzeigen, die erst im Nachgang verschriftlicht und damit zugleich in eine abgeschlossene Form gebracht worden sind. Dabei steht die Rekonstruktion der als ‚mythisch‘ ebenso wie die der als ‚historisch‘ bezeichneten Überlieferungen vor der Herausforderung, daß auch den Geschichtserzählungen des Alten Testaments natürlich nicht der Rang von Geschichtsberichten im modernen Sinne zugesprochen werden kann, da ihren Verfassern ein historisches Bewußtsein gefehlt habe. Dies ist Vatke zufolge dem damaligen Entwicklungsstand geschuldet. „Gab es nun kein rein-historisches Bewußtsein, so konnte auf diesem Gebiete [gemeint ist die Geschichtsschreibung, Anm. M. G.] die mythische und sagenhafte und die objectiv-wahre Ansicht nicht auseinandertreten, und die religiöse Construction der Geschichte konnte im Einzelnen nur von subjectiven oder von Zeitinteressen abhängig sein.“ (716) Den entscheidenden Entwicklungsschritt habe hier erst die aufklärerische Bibelinterpretation gebracht, die in der Hegelschen Sicht auf die Geschichte eine notwendige Ergänzung und Präzisierung erfahren habe. Vor dem Hintergrund des Dargestellten dürfte hinreichend deutlich sein, daß Vatke in dem Ineinander ‚mythischer‘ und ‚historischer‘ Überlieferungen kein für die geschichtliche Betrachtungsweise ausschließendes Kriterium erblickt. Stellen seiner Meinung nach doch gerade auch die im Alten Testament bewahrten ursprünglich mündlichen Überlieferungen bei richtiger Interpretation einen aussagekräftigeren Blick auf die Geschichte des Volkes Israel bereit, als ihn ein begrifflich durchreflektierter Text, der immer an die Begriffssprache einer bestimmten Zeit gebunden ist, bieten könnte. Dabei gilt, was Vatke an einer Stelle zum sittlichen Leben in der Zeit der Richter ausführt, pars pro toto für die gesamte Geschichte Israels: „Werfen wir einen Blick auf das sittliche Leben des Zeitalters, so müssen wir zwar unsere Quellen sehr vorsichtig benutzen, indem es in der Natur der mündlichen Ueberlieferung liegt, daß sie die einfachen Thatsachen viel treuer überliefert, als Motive, Gedanken und Gefühle der handeln-
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den Personen, also die Sphäre des innern Lebens, worauf es uns hier ankommt; entkleiden wir aber auch die Sage ihres späteren Gewandes, so bleiben genug Elemente übrig, welche die Fortentwicklung des Volksgeistes seit dem Zeitalter der Richter bezeugen.“ (356 f., Hervorhebung im Original) Auch wenn es an dieser Stelle so klingen mag, als ob Vatke die wissenschaftliche Betrachtung der Geschichte Israels auf den Bereich der Richterzeit und der nachfolgenden Epochen beschränkt, so geht er doch bis auf Mose zurück. Die Motive dafür liegen in seiner Unterscheidung mehrerer Stufen der geistigen und kulturellen Entwicklung begründet, die die alttestamentliche Religionsgeschichte durchlaufen habe. Was – und damit kommen wir zum zweiten Punkt neben der Unterscheidung ‚mythischer‘ und ‚historischer‘ Überlieferungen – das Entwicklungsschema des näheren anbelangt, so verwundert es kaum, daß ein Hegelschüler wie Vatke insgesamt drei Stufen unterscheidet. Bevor auf diese weiter eingegangen wird, ist zunächst herauszustellen, daß dieses Entwicklungsschema konstitutiv für seine Methode der Interpretation des Alten Testaments ist. Dies heißt nicht, daß Vatke sich Einsichten der auf ihn folgenden wissenschaftlichen Bibelkritik verschließen würde. Aber ohne die Abgrenzung verschiedener Epochen der Entwicklung ist seiner Meinung nach ein historisches Verstehen nicht möglich – wie er bei der Definition des Begriffs ‚Religionsstufe‘ ausführt: „Unter historischer Erscheinung einer Religionsstufe verstehen wir die bestimmte Art und Weise, wie ihr Begriff realisirt wird, daß also ein bestimmtes Volk ein solches Bewußtsein entwickelt und sich dadurch von anderen zum Theil verwandten Völkern unterscheidet, daß die Ausbildung jenes Bewußtseins in eine bestimmte Zeit und eine bestimmte Localität fällt, eine gewisse Gestalt der Gemeinde zur Folge hat, daß sich der ganze Umfang des religiösen und sittlichen Lebens unter dem Einflusse äußerer Verhältnisse ausbildet, bald mehr zufälliger, bald solcher, die im Zusammenhange der Weltgeschichte gegründet sind, daß ferner das allgemeine Bewußtsein gewisse besondere Richtungen nimmt, Gegensätze innerhalb seiner selbst bildet, ausgezeichnete Organe für dieselben hervorruft und in dieser Wechselwirkung der Inneren und Aeußeren, des Allgemeinen und Besonderen seine Culminationsstufe und bei den endlichen Religionen auf seinen Untergang, d. h. seinen Uebergang in eine höhere Form des Gesammtbewußtseins, erreicht.“ (121) Ohne die Annahme eines fortschreitenden Prozesses der geistigen und kulturellen Entwicklung läßt sich Geschichte nicht verstehen. Ohne Weiter- und Höherentwicklung des sittlichen und kultischen Handels läßt sich Religionsgeschichte nicht begreifen. Die Beachtung der Gemeinsamkeiten und Besonderheiten der Bewußtseinsentwicklung gehört zu den Voraussetzungen der Vatkeschen Bibelhermeneutik. Dies bedeutet nicht, daß er von einem starren Entwicklungsschema ausgeht. Vielmehr macht er deutlich, daß während einer je konkreten Zeitepoche einerseits unterschiedliche Entwicklungsstände in den verschiedenen geistigen und kulturellen Gebieten denkbar sind und anderer-
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seits auch letztere selbst eher rückständige und eher fortschrittliche Vorstellungen umgreifen.92 Bezogen auf die alttestamentliche Religionsgeschichte unterscheidet Vatke drei Stufen der Entwicklung. Diese Unterscheidung erfolgt auf zwei Ebenen – historisch und typologisch: „Historisch betrachtet entspricht der ersten Stufe der Zeitraum von Mose bis ungefähr zum achten Jahrhundert, so daß die älteren Propheten, deren Schriften uns erhalten sind, den Uebergang von der ersten zur zweiten Stufe bilden; der zweiten Stufe entspricht die Geschichte vom achten Jahrhundert bis zur Rückkehr aus dem Exile, und ihr gehört namentlich der Hauptinhalt des Pentateuch an; die dritte Stufe beginnt dem Keime nach schon im Zeitalter Jeremia’s, vollendet sich aber erst in der nachexilischen Geschichte.“ (644) Mit einigem Abstand betrachtet läßt sich sagen, daß Vatke damit ein Bild von der Geschichte Israels zeichnet, welches die alttestamentliche Forschung bis heute prägt. Auch wenn die von Vatke verwendete Begrifflichkeit eher kritisch gesehen wird und man nicht mehr von Entwicklungsstufen spricht, so werden doch auch gegenwärtig eine Epoche der Vor- bzw. Frühgeschichte, eine Epoche der israelitischen Geschichte im eigentlichen Sinne und eine Epoche der jüdischen Geschichte unterschieden.93 Bei Vatke korrespondieren diesen historischen Epochen drei Religionstypen, wobei er – gleichsam die spätere Kritik an ihm vorwegnehmend – betont, daß es sich bei seinem Dreierschema um eine typologische Vereinfachung handelt: „Es lassen sich zwar drei Hauptformen [der alttestamentlichen Religion, Anm. M. G.] trennen, die prophetische, die gesetzlich-symbolische oder levitische und die spätere Reflexionsform; aber das wesentliche Moment darin gehört der Reihenfolge der historischen Entwicklungsstufen des Begriffes an, und wo solche Formen neben einander bestanden, betraf ihr Unterschied nur einzelne Momente der Erscheinung.“ (716) Einerseits wird daran deutlich, daß für Vatke die alttestamentlichen Überlieferungen – je nach dem Zeitraum ihrer Entstehung – am Ende der jeweiligen 92 „Man giebt es zu, daß eine höhere Form der religiösen Bildung neben mangelhaften und unrichtigen Natur- und Geschichtskenntnissen bestehen könne, wie dieß besonders im Alten Testament der Fall ist; man muß aber eben so sehr einräumen, daß die Darstellungsform der religiösen Idee von den anderweitigen Vorstellungen eines Zeitalters nicht unabhängig ist, und selbst diejenigen, welche die Grundlehren des Christenthums von der Erlösung, dem Gottmenschen, der Dreieinigkeit und andere schon in den Weissagungen des Alten Testaments ausgesprochen finden, geben zu, daß die äußere Form derselben größtentheils noch die Schranke der Alttestamentlichen Vorstellungsweise an sich habe.“ (57) 93 Dies gilt selbstverständlich auch für Wellhausen. Zur Geschichte und Religionsgeschichte des antiken Israel vgl. nur den Abriß von Angelika Berlejung, Geschichte und Religionsgeschichte des antiken Israel, in: Gertz (Hg.), Grundinformation Altes Testament, 55–185. Sie unterscheidet (1.) die Spätbronzezeit von (2.) der Eisenzeit (ca. 1200 / 1150– 587 / 586 v. Chr.) und (3. und 4.) die babylonisch-persische und hellenistische Zeit (587 / 586– 63 v. Chr.) und Kratz, Historisches und biblisches Israel, der die entscheidenden Einschnitte 722 v. Chr. bzw. 587 v. Chr. und 70 bzw. 132–135 n. Chr. sieht und die „Zeit der beiden Reiche Israel und Juda“, die „Epoche der beiden Provinzen Samaria und Juda“ und die „Epoche des rabbinischen Judentums“ (A. a. O., 3) unterscheidet.
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Epoche zu stehen kommen und ihr Resümee ziehen, womit sie zugleich den Übergang zu einer jeweils neuen bilden. Andererseits macht Vatke darauf aufmerksam, daß es immer historische Ungleichzeitigkeiten gegeben haben wird, wobei die Stärke seines Ansatzes darin besteht, daß er es als eine Notwendigkeit erachtet, bei der Interpretation der teils widersprüchlichen alttestamentlichen Überlieferungen über eine an den jeweiligen Phänomenen ausgerichtete angemessene Begrifflichkeit zu verfügen. Diese Überlegungen führen Vatke zu dem Schluß, daß die Betrachtung der Geschichte Israels aufgrund der Vielfalt der alttestamentlichen Überlieferungen nur gelingen kann, wenn historisch-kritische und systematische Methoden zusammengeführt werden. „Die wissenschaftliche Betrachtung kann […] eben so wenig Anspruch darauf machen, aus den allgemeinen Principien einer Religion die ganze historische Erscheinung derselben ableiten und das Empirische nach dem Begriffe construiren zu wollen, als sie auf der anderen Seite den bloß empirischen Stoff als Element der Wissenschaft anerkennen und in seiner unmittelbar gegebenen Form in sich aufnehmen kann. Beide Seiten müssen sich vielmehr durchdringen, und es handelt sich deshalb um die Einsicht, in welcher Weise und in welchem Maaße dieß vermöge der eigenen Natur des Verhältnisses geschehen kann.“ (122) So innovativ dieser Ansatz Vatkes gewesen ist und so breit er indirekt durch seine Rezeption bei Julius Wellhausen gewirkt hat – so wurde doch von Anfang an Kritik laut. Wurden seine Einsichten auf dem Gebiet der Erforschung der Geschichte Israels auch breit rezipiert, Vatkes Name stand als Repräsentant eines von Hegel beeinflußten Geschichtsverständnisses von Anfang an unter Beschuß. Davon zeugen auch die Veröffentlichungen Julius Wellhausens. Dienen die Schlußüberlegungen seiner ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘ in ihrer ersten Auflage noch der Rechtfertigung von „Vatke’s Aufbau der israelitischen Geschichte“ und wollen zeigen, daß er die „nötigen exegetischen und kritischen Grundlage[n]“ (PzGI1 379) gelegt habe, so ist sein Name ab der zweiten Auflage getilgt und allein Karl Heinrich Graf wird als Ahnherr der eigenen Position angeführt. Dafür verwahrt sich Wellhausen nun ab dieser Auflage gegen den Vorwurf der „Geschichtsconstruction“ (PzGI2 389). Daß das Gesetz erst auf die Propheten folge, so die grundlegende Hypothese, sei keine spekulative Konstruktion, sondern das Ergebnis der historischen Rekonstruktion der alttestamentlichen Überlieferungen.94 Grundsätzlich führt er gegen seine Kritiker zur Rechtfertigung der eigenen Forschungsergebnisse an – mit einer Formulierung, die so auch bei Vatke stehen könnte: „Construieren muss man bekanntlich die Geschichte immer; die Reihe Priestercodex Jehovist Deuteronomium ist auch 94 Vgl.
dazu Uwe Becker, Die Propheten bei Wellhausen, in: Reinhard Müller / Urmas Nõmmik / Juha Pakkala (Hgg.), Fortgeschriebenes Gotteswort. Studien zu Geschichte, Theologie und Auslegung des Alten Testaments. FS für Christoph Levin zum 70. Geburtstag, Tübingen 2020, 199–211.
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nichts durch die Überlieferung oder durch die Natur der Dinge Gegebenes, sondern eine nur wenige Decennien alte Hypothese, von der man jedoch die freilich etwas unfassbaren Gründe vergessen hat und die dadurch in den Augen ihrer Anhänger den Schein des Objectiven, d. h. den Charakter des Dogmas, bekommt.“ Und darauf folgt der in der Forschung immer wieder zitierte Satz Wellhausens: „Der Unterschied ist nur, ob man gut oder schlecht construiert.“ (PzGI2 389) Für Vatke wie später auch für Wellhausen war die Einsicht grundlegend, daß die Rekonstruktion der Religionsgeschichte des Alten Testaments nur gelingen kann, wenn historische und systematische Untersuchungen einander durchdringen.95 So wie die verschiedenartigen alttestamentlichen Überlieferungen eines begrifflichen Instrumentariums bedürfen, um verständlich zu werden, so müssen die allgemeinen Prinzipien der Rekonstruktion den historischen Phänomenen angemessen sein. Es sind sowohl der Wechsel der herrschenden Ideen darzustellen, als auch die hinter den historischen Erscheinungen selbst liegenden Vorstellungen zu reflektieren. Nicht zuletzt aufgrund der deutlichen Bezüge zur Geschichtsphilosophie Hegels sah sich Vatke damals massiver Kritik ausgesetzt. Aus ganz unterschiedlichen Richtungen kamen negative Besprechungen, die seine Darstellung der alttestamentlichen Religionsgeschichte grundsätzlich in Frage stellten. Zwei prominente Beispiele sind die schon behandelten Kritiken von de Wette und Ewald, auf die abschließend noch einmal zurückgekommen werden soll. 95
Daß Wellhausen von Vatke angeregt worden ist – und er weit mehr in der Tradition der Geschichtsphilosophie Hegels steht als ihm gemeinhin zugestanden wird –, macht auch seine Abgrenzung von Graf deutlich, die Wellhausen ab der 2. Auflage den ‚Prolegomena‘ hinzugefügt hat: Im Gegensatz zu Graf nimmt Wellhausen für sich in Anspruch, eine ‚Correspondenz‘ zwischen den verschiedenartigen alttestamentlichen Überlieferungen und der jeweiligen Phase der Geschichte herzustellen, sowohl was ihre Entstehung als auch was die Fortschreibungen anbelangt. „Mein Unterschied von Graf besteht zunächst darin, dass ich immer auf die Centralisation des Cultus zurückgehe und daraus die einzelnen Differenzen ableite. Meine ganze Position ist im ersten Kapitel [zum Ort des Gottesdienstes – hier im Sinne von Religion zu verstehen –, Anm. M. G.] enthalten; dort ist namentlich auch der historisch sehr wichtige Anteil der prophetischen Partei an der grossen Metamorphose des Cultuswesens klar gelegt, die sich keineswegs bloss spontan vollzog. Weiter lege ich weit mehr als Graf entscheidendes Gewicht auf den Wechsel der herrschenden Ideen, der mit der Änderung in den Einrichtungen und Bräuchen des Cultus parallel läuft, wie das besonders der zweite Teil des vorliegenden Buches aufweist. Fast wichtiger als die Erscheinungen selber sind mir die dahinter liegenden Voraussetzungen.“ (PzGI2 390 f.) Vatke hatte von der wechselseitigen Durchdringung von historischer Erscheinung und allgemeinen Vorstellungen gesprochen. – Aus der brieflichen Äußerung Wellhausens nach dem Tod Wilhelm Vatkes an den Sohn Theodor – der sich noch der eine oder andere ähnlich lautende Beleg an die Seite stellen ließe – eine generelle Ablehnung der methodischen Weichenstellungen Hegels durch Wellhausen abzuleiten, geht übers Ziel hinaus: „Hegelianer oder nicht: das ist mir einerlei – aber Ihr seliger Vater hatte ein bewundernswerth treues und feines Gefühl für die Individualität der Sachen“ (Wellhausen, Briefe, 99 f.). Grundsätzlich ist freilich zu beachten, daß briefliche Äußerungen ihre ganz eigene Hermeneutik haben und schwierig zu interpretieren sind.
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Kapitel V: Johann Karl Wilhelm Vatke
Sowohl de Wette als auch Ewald machen methodische Einwände gegen die Vatkesche Untersuchung zur israelitischen und jüdischen Geschichte geltend. Beide erkannten, trotz aller positiven Hervorhebung von Teilaspekten an seinem Werk, die aus heutiger Perspektive nicht anders als epochal zu wertende Bedeutung der Forschungen zur biblischen Theologie nicht. Vielmehr kritisierten beide einhellig die Einsicht Vatkes, „daß die ältere Geschichte der Alttestamentlichen Religion“ aufgrund der von ihm angenommenen Prämissen „sehr dürftig und hypothetisch ausfallen muß, zumal wenn man die negative Kritik bei der Darstellung in den Hintergrund treten läßt und sich an die positiven Resultate hält“ (184). Ohne bereits am Anfang der israelitischen Geschichte vorhandene gesetzliche Überlieferungen ist nach Einschätzung beider Gelehrter die Geschichte des Volkes nicht zu verstehen. Das Gesetz zeichne Israel gegenüber allen anderen Völkerschaften aus und sei von Anfang an bestimmend und prägend gewesen. Diese Besonderheit habe Vatke nicht hinreichend gewürdigt. Sowohl de Wette als auch Ewald, wobei die Liste der Namen noch um zahlreiche weitere ergänzt werden könnte96, machen Vatke damit zum Vorwurf, was vielmehr als wirkliche Leistung seiner Forschungen zum Alten Testament zu würdigen ist: Die ‚Biblische Theologie‘ „ist gegenüber seinen Vorgängern als die erste von aller Befangenheit in einem unmittelbaren Bibelglauben wirklich befreite, die Quellen nur als Geschichtsquellen und nicht als ‚heilige‘, d. h. nur begrenzt antastbare Schrift behandelnde Gesamtdarstellung der alttestamentlichen Religion anzusehen“97. Erinnert sei nur an die grundlegende historische Einsicht Vatkes, daß das Bild des Religionsstifters Mose sehr viel zurückhaltender zu zeichnen ist als gewöhnlich und er nicht mit der die Endgestalt des Pentateuch bestimmenden klassischen, universellen Figur verwechselt werden darf. Dies wurde prägend für seine Darstellung der einzelnen Epochen der Religionsgeschichte Israels. Damit drehte er die in der alttestamentlichen Forschung der Zeit für unumstößlich gehaltene Reihenfolge von Gesetz und Propheten im Alten Testament um. „Der historische Ort der hauptsächlich im Pentateuch enthaltenen alttestamentlichen Gesetze ist nach Vatke nicht der aus ihrer redaktionellen Verknüpfung mit den Auszugs- und Landnahmetraditionen Israels sich nahelegende Anfang der Geschichte Israels, sondern die Spätzeit. Für Vatke ist das Gesetz Ergebnis und literarischer Niederschlag einer bereits vollzogenen Entwicklung und nicht ihre Ursache.“ (129, Hervorhebung im Original) Zu dieser Einsicht gelangte er aufgrund der konsequenten Synthese von historisch-kritischer und systematischer Methode. Dies ist die eigentliche theologiegeschichtliche Leistung der ‚Biblischen Theologie‘. Sie machte ihn zu einem der innovativsten Bibelhermeneuten im 19. Jahrhundert. Indem er seine bibelkritischen und religionshermeneutischen Forschungen in ein sich wechsel96 Vgl. 97
Brömse, Studien zur „Biblischen Theologie“ Wilhelm Vatkes, 30–72. A. a. O., 122.
5. Die Interpretation des Alten Testaments
281
seitig bedingendes und gegenseitig stützendes Verhältnis setzte, gelang es ihm, ein neues Bild des geschichtlichen Verlaufs der alttestamentlichen Religion zu zeichnen.98 Auch wenn dies zunächst auf Ablehnung stieß, so hat sich doch bei allen Modifikationen sein methodisches Verfahren und die darauf aufbauende Sicht der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte langfristig durchgesetzt. Unbestreitbar ist, daß zahlreiche Einzelaspekte seines Bildes der Religionsgeschichte im Allgemeinen und der alttestamentlichen im speziellen später einer berechtigten Korrektur unterzogen wurden. Bleibend besteht jedoch die Einsicht, daß die im Alten Testament gesammelten Überlieferungen nicht den Verlauf der israelitischen und jüdischen Geschichte als solchen wiedergeben, sondern eine Konstruktion darstellen. „[K]ein Buch des A. T., mag sich auch sonst objectiv-historischer Stoff darin finden, verdient den Namen wahrer Geschichtsschreibung.“ (716)
98 Daher resümiert Brömse: „Es ist also im 19. Jahrhundert Wilhelm Vatkes ‚Biblischer Theologie‘ vorbehalten geblieben, eine von allen dogmatischen Beschränkungen freie historische Kritik des Alten Testamentes mit einer systematischen Gesamtauffassung so zu verbinden, daß Kritik und Systematik als sich gegenseitig notwendig bedingende Faktoren erscheinen, deren Zusammenwirken erst die Darstellung der Religion des Alten Testamentes zu einem geschlossenen Ganzen macht.“ (A. a. O., 157)
Kapitel VI
Abraham Kuenen – Die methodische Ernüchterung der alttestamentlichen Religionsgeschichtsschreibung 1. Werkbiographische Skizze Abraham Kuenen (1828–1891) gilt als die methodische Ernüchterung der Religionsgeschichtsschreibung, zumindest was das Alte Testament anbelangt. Von Julius Wellhausen1 war ihm als einzigem Alttestamentler seiner Generation zugebilligt worden, genauso streng religionsgeschichtlich zu arbeiten, wie Wellhausen es für sich selbst in Anspruch nahm. Bereits als junger Universitätsprofessor an der Theologischen Fakultät Greifswald nahm er Kontakt mit Kuenen auf und sie standen bis zum Tod des Letztgenannten in regem Austausch.2 In einem Dankbrief für die Übersendung seiner Prophetenstudien3 rühmt Wellhausen an Kuenen die „vollkommenste Ruhe“ seiner Beweisführung, um dann fortzufahren: „Wie viel ich, namentlich in methodischer Hinsicht, von Ihnen lerne, brauche ich nicht zu sagen. In dieser Hinsicht frappiert der Gegensatz Ihres Buchs zu dem zwar häufig äusserst geistreichen, aber auch oft ganz orakelhaft gehaltenen Buche, das mein Freund B. Duhm so eben über den Prophetismus hat erscheinen lassen.“4 Daß es sich nicht nur um Höflichkeitsbezeugungen gegenüber einem älteren Kollegen handelt, bezeugt Wellhausens gesamtes Werk. Wohl keinem anderen Forscher stand er so nah wie ihm. Eine erste Gliederung der ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘ findet sich in einem der Briefe Wellhausens an Kuenen vom Jahresende 1875.5 Zudem überlegt Erstgenannter, dieselben – die in der ersten Auflage bekanntlich unter dem Titel ‚Geschichte Israels 1‘ erschienen sind – in einer brieflichen Äußerung 1 Zum Verhältnis Kuenen – Wellhausen vgl. auch Rudolf Smend, Kuenen und Wellhausen, in: Piet B. Dirksen / Arie van der Kooij, Abraham Kuenen (1828–1891). His Major Contributions to the Study of the Old Testament. A Collection of Old Testament Studies. Published on the Occasion of the Centenary of Abraham Kuenen’s Death (10 December 1991) (OTS 29), Leiden / New York / Köln 1993, 113–127. 2 Vgl. nur den Brief Wellhausens an Kuenen aus dem Sommer 1874, in: Wellhausen, Briefe, 24. 3 Abraham Kuenen, De profeten en de profetie onder Israël. Historisch-dogmatische Studie, 2 Bde., Leiden 1875. 4 Wellhausen, Briefe, 31. Zu Duhms Prophetenverständnis vgl. oben S. 199 f. 5 Vgl. a. a. O., 33 f.
284
Kapitel VI: Abraham Kuenen
aus dem Sommer 1877 „Prolegomena zur Geschichte Israels und Juda’s“6 zu nennen. Vier Jahre nach Veröffentlichung derselben schreibt er im Herbst 1882 an seinen Verleger Georg Reimer – trotz des gewaltigen Echos der ‚Prolegomena‘ –, mittlerweile ist er außerordentlicher Professor an der philosophischen Fakultät der Universität Halle: „Was bis jetzt an Kritiken u. s. w. erschienen ist, ist für mich rein werthlos gewesen, meist parteiisch pro oder contra; aber auf Kuenens Discussion mit mir freue ich mich.“7 Zahlreiche Rezensionen der Werke des jeweils Anderen sind belegt.8 Noch viele Jahre nach dessen Tod gedenkt Wellhausen der Besuche bei ihm voller Wertschätzung. Belegt ist eine Äußerung gegenüber seiner Schwägerin Elisabeth Limpricht aus dem Frühjahr 1916: „Ich […] habe nie einen mehr sympathischen und verehrungswürdigen Mann kennen gelernt, als den Professor Abraham Kuenen.“9 Doch zurück zu Kuenens Werkbiographie selbst. Angesichts des Umstandes, daß er zeit seines Lebens so gut wie ausschließlich in Leiden wirkte und sowohl seine Ausbildung als auch die spätere wissenschaftliche Karriere eng mit der Stadt und ihrer Universität verbunden sind, legt es sich nahe, in einem ersten Schritt kurz die wichtigsten Etappen der wissenschaftlichen Biographie im engeren Sinne zu benennen, um in einem zweiten vertieft auf Kuenens Werk einzugehen. „Der zu den berühmtesten alttestamentlichen Theologen des 19. Jahrhunderts gehörende A[braham] K[uenen] hat gleich den meisten Gelehrten einen äußerlich sehr einfachen Lebenslauf gehabt.“10 Geboren11 in Haarlem, schrieb Kuenen sich 1846 an der Universität Leiden für Theologie ein, wobei das Studium der Alten Sprachen einen Schwerpunkt bildete. Vor allem Johann Heinrich Scholten (1811–1885) und Theodoor Willem Jan Juynboll (1802–1861) waren dort seine Lehrer.12 Bei letzterem wurde er zum Doktor der Theologie mit einer Arbeit über eine arabische Version des Buches Genesis aus dem Samaritanus 6
A. a. O., 39.
7 A. a. O., 109. 8 Verzeichnet finden
sie sich in der von Rudolf Smend zusammengestellten Bibliographie Wellhausens, in: Wellhausen, Briefe, 818–837. Zu Rezensionen von Werken Wellhausens durch Kuenen vgl. dort zu Nummer 3, 7, 9, 18, 19, 44, 67, 87. Umgekehrt sind sie nicht so zahlreich, vgl. a. a. O., Nummer 12 und 78. 9 A. a. O., 641. 10 Adolf Hermann Wilhelm Kamphausen, Art. Kuenen, Abraham, in: RE3 11 (1902), 162–170, 163. 11 Vgl. zum Folgenden noch immer Philip Henry Wicksteed, Abraham Kuenen, in: JQR 4 (1892), 571–605 und Willem van der Vlugt, Levensbericht van Abraham Kuenen. 16 September 1828–10 December 1891 (Levensberichten der afgestorven Medeleden van de Maatschappij der Nederlandsche Letterkunde. Bijlage tot de Handelingen van 1893), Leiden 1893, 245–368. Für eine Übersicht mit den wichtigsten neueren biographischen Abrissen zu Kuenen siehe Martin Jan Mulder, Abraham Kuenen (1828–1891), in: Dirksen / Kooij (Hgg.), Abraham Kuenen (1828–1891), 1–7. Eine Biographie fehlt. 12 Beiden widmete er Schriften, wobei nach eigener Auskunft vor allem der erstgenannte Lehrer für Kuenen prägend war. Vgl. nur Abraham Kuenen, Art. Scholten, Johann Heinrich, RE2 18 (1888), 256–263. Ein Verzeichnis der Schriften Kuenens – zusammengestellt von
1. Werkbiographische Skizze
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promoviert.13 Bereits 1852 wurde er außerordentlicher, drei Jahre später ordentlicher Professor der Theologie an der Universität Leiden. Außer dem Neuen Testament oblag ihm die Verantwortung für die Enzyklopädie und Methodologie, zudem ab 1860 die für Ethik. Nichtsdestotrotz widmete er sich schon von Anfang an dem Alten Testament – insbesondere der Einleitungswissenschaft und der Geschichte und Religion Israels. Dies mag mit Kuenens Berufung – als Vertreter der kritischen Bibelforschung in der Nachfolge de Wettes – wohl auch intendiert gewesen sein, wie Adolf Kamphausen schreibt. Denn: „Das AT war damals kein theologisches Lehrfach, sondern wurde von dem Hebraicus in der philosophischen Fakultät vertreten, Prof. Rutgers, der in Übereinstimmung mit der ins Holländische übersetzten alttestamentlichen Einleitung Keils zu Leiden bis 1875 die mosaische Abfassung des Pentateuchs lehrte.“14 Hier sollte Kuenen mutmaßlich einen Gegenpol bilden, was er auch erfolgreich tat. Über diese umfangreiche Lehrtätigkeit hinaus war er ein literarisch äußerst produktiver Gelehrter, der von der Leidener Universität aus eine ungeheuere Wirksamkeit entfaltete. Nach der Dissertation 1851 erfolgte noch im selben Jahr die Veröffentlichung der Genesisedition. Drei Jahre später erschienen dann die ‚Libri Exodi et Levitici secundum Arabicam Penateuchi Samaritani versionem, ab AbūSa‛ido conscriptam, quos tribus Codicibus edidit‘15 – die arabischen Versionen des Samaritanus der Bücher Exodus und Levitikus. Schon am Beginn der akademischen Laufbahn wendete Kuenen sich zudem der Hermeneutik und Kritik der Heiligen Schriften zu, zunächst dem Neuen Testament. Erhalten sind zu Vorlesungszwecken erschienene und nicht als Publikationen gedachte Drucke zur Kritik und Hermeneutik des Neuen Testaments.16 In ihnen wendet er sich nach einem ersten Teil zur Textkritik im zweiten zunächst der Geschichte der Willem Christiaan van Manen – findet sich in: Kuenen, Gesammelte Abhandlungen zur Biblischen Wissenschaft, 501–511. 13 Abraham Kuenen, Specimen theologicum. Continens Geneseos libri capita triginta quatuor priora. Ex Arabica Pentateuchi Samaritani versione nunc primum edita cum prolegomenis, Leiden 1851. 14 Kamphausen, Art. Kuenen, Abraham, 163, Hervorhebung im Original. – Bei dem ‚Hebraicus‘ handelt es sich um Antonie Rutgers (1805–1884), der von 1837 bis 1875 Professor für hebräische Sprache, hebräische Altertümer, Exegese des Alten Testaments und Sanskrit an der Universität Leiden war. (Vgl. E. Zuidema, Art. Rutgers [Antonie], in: NNBW 2 [1912], 1244 f.) Das erwähnte alttestamentliche Einleitungswerk ist das durch Pieter Johannes de Roode übersetzte Buch: Karl Friedrich Keil, Handboek der historisch-kritische inleiding in de kanonieke schriften van het Oude Testament, Utrecht 1857, deutsch: Ders., Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in die kanonischen Schriften des Alten Testamentes, Frankfurt am Main / Erlangen 1853. Der erste Teil ist überschrieben: ‚Ursprung und Echtheit der kanonischen Schriften des Alten Testaments‘. 15 Erschienen in Leiden. 16 Vgl. Abraham Kuenen, Criticae et hermeneuticae librorum N. Foederis lineamenta, Leiden 1856, in zweiter, mit Ergänzungen erschienener Auflage dann unter dem Titel: Ders., Critices et hermeneutices Librorum N. Foederis lineamenta, Leiden 21859.
286
Kapitel VI: Abraham Kuenen
Interpretation des Neuen Testaments zu und schließlich dessen Hermeneutik. Dabei behandelt er allgemeine, grammatische, historische sowie logische und empirische Interpretationsregeln. 1861 bis 1865 erschien dann Kuenens ‚Historisch-kritisch onderzoek naar het ontstaan en de verzameling van de boeken des Ouden Verbonds‘ – der erste Band behandelte die historischen, der zweite die prophetischen und der dritte die poetischen Bücher des Alten Testaments.17 Sie sind als sein erstes Hauptwerk zu bezeichnen. Wellhausen schätzte sie als die seinerzeit beste Einleitung weit höher ein als die von ihm selbst herausgegebene und teilweise überarbeitete ‚Einleitung in das Alte Testament‘ von Friedrich Bleek.18 Kuenens Programm der Untersuchung von Herkunft, Alter und Glaubwürdigkeit der Bücher des Alten Testaments als Quelle zur Untersuchung der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte war auch Wellhausen verpflichtet. Und noch heute ist Rudolf Smend zufolge die Bedeutung des Werkes nicht hoch genug einzuschätzen: „Der Onderzoek umfaßt in drei Bänden 1301 Seiten. Nicht viele werden ihn ganz und gleichmäßig durchgearbeitet haben. Aber er ist ein wundervolles Buch, dem sich nicht leicht eine der seitherigen Einleitungen in das Alte Testament als gleichrangig an die Seite stellen läßt.“19 Gut zwanzig Jahre später erschien davon eine zweite, grundlegend überarbeitete Auflage.20 Von dieser zweiten Auflage gibt es eine von Theodor Weber, Heinrich Meuss und Carl Theodor Müller herausgegebene deutsche Übersetzung.21 Auf die charakteristischen Unterschiede beider Auflagen wird im Folgenden näher eingegangen. Das zweite große Hauptwerk Kuenens ist die 1869 / 70 in zwei Bänden erschienene Studie ‚De godsdienst van Israël tot den ondergang van den Joodschen staat‘22. In ihm legt er einen ersten Grundriß der israelitischen und jü17 Abraham Kuenen, Historisch-kritisch onderzoek naar het ontstaan en de verzameling van de boeken des Ouden Verbonds 1. Het ontstaan van de historische boeken des Ouden Verbonds, Leiden 1861; 2. Het ontstaan van de profetische boeken des Ouden Verbonds, Leiden 1863 und 3. Het ontstaan van de poëtische boeken des Ouden Verbonds, Leiden 1865. 18 BEAT4, zuletzt BEAT6. Die umfangreichen Bearbeitungen der vierten Auflage sind in der fünften (BEAT5) größtenteils wieder zurückgenommen worden. 19 Rudolf Smend, Abraham Kuenen (1828–1893), 572, Hervorhebung im Original. Vgl. dort auch die Ausführungen zur umfassenden Überarbeitung der zweiten Auflage. 20 Abraham Kuenen, Historisch-critisch onderzoek naar het ontstaan en de verzameling van de boeken des Ouden Verbonds 1.1. De Hexateuch, Leiden 21885; 1. De Thorah en de historische boeken des Ouden Verbonds, Leiden 21887; 2. De profetische boeken des Ouden Verbonds, Leiden 21889 und posthum 3. De poëtische boeken des Ouden Verbonds 1. De poëzie en de gnomische geschriften, hg. v. Jan Carel Matthes, Leiden 21893. 21 Abraham Kuenen, Historisch-kritische Einleitung in die Bücher des alten Testaments hinsichtlich ihrer Entstehung und Sammlung 1.1. Die Entstehung des Hexateuch, Leipzig 1887; 1.2. Die historischen Bücher des alten Testaments, Leipzig 1890; 2. Die prophetischen Bücher, Leipzig 1892. Sowie die erste Hälfte des nach Kuenens Tod von Matthes herausgegebenen dritten Bandes: 3. Die poetischen Bücher 1. Die Poesie und die gnomischen Schriften, Leipzig 1894. Der geplante zweite Teilband ist nicht erschienen. 22 Erschienen in Haarlem.
1. Werkbiographische Skizze
287
dischen Religionsgeschichte vor, der für die Zukunft von ganz maßgeblicher Bedeutung werden sollte. 1875 erschien dann Kuenens schon erwähnte Prophetenstudie. An größeren Werken ist zudem seine aus den 1882 gehaltenen Hibbert-Vorlesungen hervorgegangene Veröffentlichung ‚Volksgodsdienst en wereldgoddienst. Vijf voorlezingen‘23 zu nennen. Sie behandelt den Islam, die israelitische und jüdische Religion, das Christentum und den Buddhismus. Die zentrale dritte Vorlesung ist dem Universalismus der Propheten und der Entstehung des Judentums gewidmet. Zentraler Begriff ist der ‚ethische Monotheismus‘ – eine Begriffsbildung, die charakteristisch für Kuenen geworden ist und auf die später noch ausführlicher eingegangen wird. Darüber hinaus veröffentlichte er zahlreiche Aufsätze, die teilweise in fortlaufender Folge erschienen. Auf diese kann und wird hier nicht detailliert eingegangen, doch sollen zwei dieser Reihen genannt werden, da sie einen interessanten Einblick in Kuenens Forscherwerkstatt geben und für die Entwicklung seiner eigenen Theorie von besonderer Bedeutung sind. Zum einen handelt es sich um die in losen Abständen erschienenen, insgesamt zehn Folgen umfassenden ‚Critische bijdragen tot de geschiedenis van den Israëlietischen godsdienst‘, die in der Zeit von 1867 bis 1876 erschienen sind. In ihnen diskutiert er Probleme der Religion Altisraels. Ausgehend von der Untersuchung der Einheitlichkeit von Ex 13,11–16 (1.) erläutert Kuenen die Unterscheidung der Israeliten von den Kanaanäern (2.) und Jahwes von Moloch (3.), erörtert den Ursprung der Zadokiden (4.), scheidet die priesterlichen Bestandteile des Hexateuchs aus (5.), fragt nach der Glaubwürdigkeit der Vätererzählungen in Gen 12–50 (6.) und der Bedeutung des Stammes Levi (7.), vergleicht Hiob und die Gottesknechtslieder (8.), wendet sich nochmals der Ausscheidung der priesterlichen Bestandteile im Hexateuch zu (9.), um abschließend – in Auseinandersetzung mit dem renommierten Geschichtsforscher Heinrich Graetz (1817–1891) – grundlegend anzuzweifeln, daß die Erzählungen der heute sogenannten Priesterschrift historische Tatsachen wiedergeben. Dies zeigten Vergleiche der Gesetzgebungen der Bücher Exodus bis Numeri untereinander und mit den Gesetzen des Deuteronomiums (10.). Graetz, den Kuenen in die Nähe „von Ewald und seiner Schule“24 rückt, halte an der Einheitlichkeit der Verfasserschaft des Tetrateuchs fest – eine These, die mit der israelitischen und jüdischen Geschichte nicht in Einklang zu bringen sei. Die alttestamentliche ‚Überlieferung‘ muß kritisch hinterfragt werden, denn sie entspricht nicht der ‚historischen Entwicklung‘.25 23 Leiden, 1882. Ein Jahr später erschien eine deutsche Übersetzung von Karl Budde: Abraham Kuenen, Volksreligion und Weltreligion. Fünf Hibbert-Vorlesungen, Berlin 1883. 24 Im Niederländischen: „van Ewald en zijne school“ (Abraham Kuenen, Critische bijdragen tot de geschiedenis van den Israëlitischen godsdienst X. Overlevering of historische ontwikkeling?, in: ThT 10 [1876], 549–576, 552). Bei diesem und den folgenden Zitaten handelt es sich – sofern nicht anders angegeben – um eigene Übersetzungen. Die originalen Stellen werden in den Fußnoten wiedergegeben 25 Abraham Kuenen, Critische bijdragen tot de geschiedenis van den Israëlietischen
288
Kapitel VI: Abraham Kuenen
Zum anderen handelt es sich um die in der Zeit von 1877 bis 1884 ebenfalls in zehn Folgen erschienenen ‚Bijdragen tot de Critiek van Pentateuch en Jozua‘. In ihnen geht es Kuenen, wie er einleitend herausstellt, nicht um einen „Gedankenaustausch mit Wellhausen“26, sondern, trotz oder vielleicht auch gerade wegen der großen Nähen zu ihm, um die Betonung seiner Eigenständigkeit. Er hebt hervor, daß seine Ansichten ganz selbständig entstanden seien, wobei er immer wieder an Wellhausen anknüpft. Kuenen versammelt hier Untersuchungen zu einzelnen strittigen alttestamentlichen Texten und Textpassagen – bis auf eine sind sie alle der späten Entstehung der Priesterschrift gewidmet: (1.) Die Bestimmung von Freistädten in Jos 20; (2.) Die Berichte des Hexateuchs zum Stamm Manasse; (3.) Die Aussendung der Kundschafter in Num 13 f.; (4.) Der Aufstand von Korach, Datan und Abiram in Num 16; (5.) Die religiösen Versammlungen an den Bergen Ebal und Garizim in Dtn und Jos; (6.) Dina in Sichem in Gen 34; (7.) Manna und Wachteln in Ex 16; (8.) Israel am Sinai; (9.) Die Urgeschichte in Gen 1–11 und (10.) Die Erzählung von Bileam in Num 22–24.27 Bevor auf das nicht ganz unkomplizierte Verhältnis Kuenens zu Karl Heinrich Graf eingegangen wird – welches für das Verständnis seiner Forschungen wichtig ist, da in ihrer Auseinandersetzung grundlegende methodische Probleme diskutiert werden –, seien abschließend noch zwei Aufsätze aus den zahlreichen Veröffentlichungen Kuenens herausgehoben. Zum einen der bereits erwähnte Aufsatz ‚Hugo de Groot als uitlegger van het Oude Verbond‘ – erschienen in den Mitteilungen der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Amsterdam. Er zeugt von dem forschungsgeschichtlichen Interesse Kuenens. Zudem haben seine Äußerungen zu Grotius immer wieder Anlaß zu der hier zu vernachlässigenden Frage gegeben, inwiefern sich Kuenen in der Nachfolgodsdienst I. De integriteit van Ex. XIII: 11–16, in: ThT 1 (1867), 53–72; II. Kanaänieten en Israëliten, a. a. O., 691–706; III. Jahveh en Molech, in: ThT 2 (1868), 559–598; IV. Zadok en de Zadokieten, in: ThT 3 (1869), 463–509; V. De priesterlijke bestanddeelen van Pentateuch en Josua, in: ThT 4 (1870), 391–428 und 487–526; VI. De stamvaders van het Israëlietische volk, in: ThT 5 (1871), 255–312; VII. De stam Levi, in: ThT 6 (1872), 628–670; VIII. Job en de lijdende knecht van Jahveh, in: ThT 7 (1873), 492–542; IX. Nog eens de priesterlijke bestanddeelen van Pentateuch en Jozua, in: ThT 9 (1875), 512–536 und X. Overlevering of historische ontwikkeling? 26 Im Original spricht Kuenen vom „gedachtenwisseling met Wellhausen“ (Abraham Kuenen, Bijdragen tot de Critiek van Pentateuch en Jozua I. De anwijzin der vrijsteden in Joz. XX und II. De stam Manasse, in: ThT 11 [1877], 465–496, 466). 27 Abraham Kuenen, Bijdragen tot de Critiek van Pentateuch en Jozua I. De anwijzin der vrijsteden in Joz. XX und II. De stam Manasse; III. De uitzending der verspieders, in: ThT 11 (1877), 545–566; IV. De opstand van Korach, Dathan en Abiram, Num. XVI, in: ThT 12 (1878), 139–162; V. De godsdienstige vergadering bij Ebal en Gerizim. (Deut. XI: 29, 30; XXVII; Joz. VIII: 30–35), a. a. O., 297–323; VI. Dina en Sichem. (Gen. XXIV) und VII. Manna en Kwakkelen. (Exod. XVI), in: ThT 14 (1880), 257–302; VIII. Israël bij den Sinaï. (Exod. XIX verv.), in: ThT 15 (1881), 164–223; IX. De geboortegeschiedenis van Genesis Hoofstuk I–XI, in: ThT 18 (1884), 121–171; X. Bileam, a. a. O., 497–540.
2. Die Auseinandersetzung mit Karl Heinrich Graf
289
ge bzw. als der Nachfolger Grotius’ gesehen hat. Zum anderen ist der Aufsatz ‚Critical Method‘28 zu nennen, der ein Zeugnis davon ablegt, daß Kuenen das Thema der (alttestamentlichen) Hermeneutik zeit seines Lebens nicht losgelassen hat, und in dem er sein reifes Verständnis der Religionsgeschichtsschreibung erörtert.29
2. Die Auseinandersetzung mit Karl Heinrich Graf Bekanntlich – und im Verlauf der Arbeit hinlänglich erörtert – zählt Abraham Kuenen zusammen mit Karl Heinrich Graf, und natürlich dann auch Julius Wellhausen, zu den wichtigsten Vertretern der sogenannten neueren Urkundenhypothese. Bevor Kuenens eigene Forschungen erörtert werden sollen, ist eingangs kurz auf Kuenens und Grafs durchaus als spannungsvoll zu bezeichnendes Verhältnis einzugehen, da ihre Forschungsleistungen auf dem hier zu betrachtenden Gebiet der alttestamentlichen Exegese auf eigentümliche Weise wechselseitig miteinander verknüpft sind. Wie gezeigt, hatten Grafs Forschungen Probleme aufgeworfen, die er mit Hilfe eines – die folgenden Forschergenerationen nicht restlos überzeugenden – redaktionsgeschichtlichen Modells lösen wollte. Vorgreifend kann gesagt werden, daß Graf durch die parallelen Arbeiten Kuenens zu Modifikationen seiner eigenen Theorie genötigt wurde. Kuenen rezipierte dessen Forschungen und stand mit ihm in Austausch. Dabei machte er Graf auf methodische Probleme seiner Sicht auf die religionsgeschichtliche Entwicklung des alten Israels und des Judentums aufmerksam, die zur endgültigen Ausformulierung der neueren Urkundenhypothese in ihrer heutigen Form führte – mit dem Jahwisten (J) und dem Elohisten (E) als ältesten Urkunden, dann dem Deuteronomium (D) und der Priesterschrift / Grundschrift (P) als jüngster Urkunde.30 Wie bereits gezeigt, revidierte Graf daher kurz vor seinem Tod seine eigenen Forschungen.31 Ohne Kuenen zu nennen, nahm er dessen Kritik auf und legte einen nochmaligen Entwurf zur Entstehung der sogenannten Priesterschrift vor. Kuenen hat diesen Vorgang öffentlich gemacht. In einem Aufsatz zu den priesterlichen Bestandteilen des Hexateuchs, anknüpfend an Grafs Untersuchung zu den historischen Büchern des Alten Testaments, reklamierte er für sich, die entscheidende Frage gestellt zu haben: „In einem Wort: nicht nur die priesterliche Gesetzgebung kommt chronologisch nach der prophetischen Verkündigung [zu 28
Erschienen in: The Modern Review 1 (1880), 461–488.685–713. dazu Arie van der Kooij, The ‘Critical Method’ of Abraham Kuenen and the Methods of Old Testament Research since 1891 up to 1991. Some Considerations, in: Dirksen / Ders. (Hgg.), Abraham Kuenen, 49–64. 30 Vgl. Conrad, Karl Heinrich Grafs Arbeit am Alten Testament, bes. 135–141 und Smend, Abraham Kuenen (1828–1893), bes. 577 f. 31 Vgl. Graf, Die s. g. Grundschrift des Pentateuchs, bes. 74 f. 29 Vgl.
290
Kapitel VI: Abraham Kuenen
stehen], sondern auch die priesterliche Historiographie ist jünger als die prophetische (= jahwistische) Vorstellung vom Werden der Theokratie. Liegt – um dies vorbeigehend anzumerken – nicht bereits in dieser Formulierung des in Frage stehenden Punktes die Entscheidung darüber beschlossen?“32 Und weiter führt Kuenen aus: „Man halte es mir zu gute, wenn ich hier ein Fragment aufnehme von Grafs Antwort auf das Schreiben, worin ich ihm meine Bedenken gegen Teile seiner Lösung dieses Problems auseinandergesetzt habe. Später hat er sich auch öffentlich im gleichen Sinne ausgelassen […], damals in Folge des Widerspruchs von Riehm und Nöldeke. Doch ist es nicht unerheblich festzuhalten, daß er bereits 1866 – der Brief ist vom 12. November desselben Jahres – aufgrund eines einfachen Einwands, ohne Beweis vorgetragen, sich geneigt sah seine Vorstellung der Genese des Pentateuchs an diesem Punkt zu revidieren.“33 Anschließend zitiert er ein Fragment des Briefes.34 Ohne hier weiter ins Detail zu gehen, ist doch deutlich, daß eine Unstimmigkeit zwischen Graf und Kuenen besteht. Letzterer nimmt für sich in Anspruch, der eigentliche Ideengeber für die neuere Urkundenhypothese gewesen zu sein. Umgekehrt wird erstgenannter das wahrscheinlich ebenso sehen. Dabei ärgert Kuenen, daß Graf ihre Beziehung scheinbar bewußt verschweigt. Wie auch immer die Kränkung und ihre Berechtigung zu werten ist – wichtig für das Verständnis der Forschungen Kuenens ist, daß es neben den beiden bereits genannten Lehrer Scholten und Juynboll weitere nicht zu vernachlässigende Prägungen gab. Schon einer seiner ersten Biographen, der Rechtswissenschaftler Willem van der Vlugt (1853–1928), hat herausgearbeitet, daß Kuenen ohne die kritischen Schriften zur biblischen Wissenschaft – angefangen von Astruc, über de Wette, Vatke und George, bis hin zu Ilgen, Hupfeld und John William Colenso (1814–1883) – nicht zu verstehen ist. Vor diesem Hintergrund wird auch ver32
„In één woord: niet slechts de priesterlijke wetgeving komt chronologisch na de profetische prediking, maar ook de priesterlijke historiographie is jonger dan de profetische (= jahvistische) voorstelling van de wording der theokratie. Ligt – om dit in het voorbijgaan op te merken – niet reeds in deze formuleering van het punt in quaestie de beslissing daarvan opgesloten?“ (Kuenen, Critische bijdragen tot de geschiedenis van den Israëlietischen godsdienst V, 411, Hervorhebungen im Original) 33 „Men houde het mij ten goede, wanneer ik hier een fragment opneem van Graf’s antwoord op het schrijven, waarin ik hem mijne bedenkingen tegen dit gedeelte zijner oplossing van het probleem had uiteengezet. Later heeft hij ook in het openbaar zich in denzelfden geest uitgelaten […], toen ten gevolge der tegenspraak van Riehm en Nöldeke. Doch het ist niet onbelangrijk te constateeren, dat hij reeds in 1866 – de brief is van 12 November van dat jaar – naar aanleiding eener eenvoudige bedenking, zonder bewijs voorgedragen, zich geneigd betoonde om zijne voorstelling der genesis van den Pentateuch op dit punt te herzien.“ (Ebd.) – Bei den beiden äußerst wohlwollenden Kritiken handelt es sich um Eduard Riehm, Rez.: Karl Heinrich Graf, Die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments. Zwei historischkritische Untersuchungen, Leipzig 1866, in: ThStKr 41 (1868), 350–379 und Theodor Nöldeke, Die s. g. Grundschrift des Pentateuchs, in: Ders., Untersuchungen zur Kritik des Alten Testaments, Kiel 1869, 1–144. 34 Vgl. a. a. O., 412.
2. Die Auseinandersetzung mit Karl Heinrich Graf
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ständlich, warum gerade Karl Heinrich Graf den alttestamentlichen Forschungen Kuenens eine neue Richtung gab, insbesondere das erörterte Hauptwerk desselben. Und nur vor dem Hintergrund der Aneignung der Schriften dieser Theoretiker zum Alten Testament wird klar, warum Kuenen produktiv an Graf anknüpfen konnte. Van der Vlugt schreibt zur prägenden Wirkung des Grafschen Werks für Kuenen: „Nun […] erschien im Jahr 1865 die mutige Arbeit von Graf über die geschichtlichen Bücher des Alten Testaments. Diese ließ den Glauben an das sehr hohe Alter der rein erzählerischen Bestandteile der Elohistischen Schrift unangetastet; im Übrigen aber brachte sie, durch neue Gründe bestärkt, die früheren Vorschläge von Vatke wieder zu Ehren.“35 Wie dargestellt, hatte Graf zwischen den geschichtlichen, seiner Meinung nach ältesten, und den gesetzlichen, seiner Meinung nach wesentlich jüngeren Bestandteilen des Elohisten, der später sogenannten Priesterschrift unterschieden. Damit bestätigte er die Forschungen, unter anderem von Vatke, wonach das alttestamentliche Gesetz zu den jüngsten Überlieferungen gehöre – gerade auch im Hexateuch. Die Unterscheidung zwischen den, von Wellhausen später als priesterschriftlich und jehovistisch bezeichneten Bestandteilen des Hexateuchs leuchtete Kuenen unmittelbar ein. In diesem Sinne überarbeitete er dann auch eins seiner Hauptwerke, die ‚Einleitung in die Bücher des alten Testaments‘, und gab sie in zweiter, inhaltlich grundlegend veränderter Auflage heraus. Kritisch stand er jedoch, wie gezeigt, der von Graf herausgearbeiteten Trennung von historischen und gesetzlichen Bestandteilen der Priesterschrift gegenüber, die er als einen Irrweg betrachtete. Kuenen kam zu der Einsicht, daß der sogenannte Jehovist die älteste Urkunde – nicht bloß Ergänzung – des Hexateuchs darstelle. „Damit vertrat Kuenen bereits 1861 die ‚Vierquellentheorie‘ oder die ‚neuere Urkundenhypothese‘ (mit den späteren Siglen: PEJD).“36 Wie dargestellt äußerte Kuenen seine Vermutungen zur Entstehung des Hexateuchs Graf gegenüber und dieser stimmte ihm zu. Van der Vlugt schildert diese Begebenheit folgendermaßen: „[M]it dem Verschieben des Priestergesetzes in das Jahrhundert des Exils gab Kuenen Graf Recht; aber Unrecht in der Auflösung des Zusammenhangs zwischen dem Gesetz und den dazugehörigen Erzählungen. Sein Beifall und seine Vorbehalte werden unverzüglich an Graf gesandt, und […] dieser ließ sich überzeugen. ‚Sie geben mir‘ schrieb er, ‚eine 35 „Nu
echter kwam in het jaar ’65 het kloeke werk van Graf over de geschiedkundige boeken des Ouden Testaments. Het liet onaangetast het geloof aan de zeer hooge oudheid der streng verhalende bestanddeelen in het Elohistische geschrift; maar overigens brachte het, door nieuwe redenen gesterkt, de vroegere voorslagen van Vatke weêr in eere.“ (Vlugt, Levensbericht van Abraham Kuenen, 297) 36 Und weiter schreibt er: „Vor allem aber nahm Kuenen die Grundschrift, also die später sogenannte Priesterschrift, näher unter die Lupe und gewann dabei den Eindruck, daß deren legislative Bestandteile kaum durchweg aus der frühen Königszeit stammen konnten“ (Smend, Abraham Kuenen [1828–1891], 574).
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Lösung an die Hand, die mich um so stärker traf, da sie mir vollkommen neu war, und dennoch empfand ich sofort, daß sie wahr sein mußte. Ja tatsächlich, die Elohim-Stücke der Genesis sind jünger als die Stücke des Jahwisten‘.“37 Graf verdankt die spätere Revidierung seiner eigenen Forschungen einem Hinweis Kuenens. Warum er nur auf andere Forscher verwies, läßt sich heute nicht mehr aufklären.
3. Theologisch-philosophische Grundlagen der Hermeneutik 3.1. Die religionsgeschichtliche Sonderstellung des achten Jahrhunderts Fragt man nach dem Spezifikum der Kuenenschen Forschungen, mit dem er der weiteren Forschung seinen Stempel aufdrückte, so ist dieses insbesondere in der damals weitreichenden Einsicht zu sehen, daß er dem achten Jahrhundert eine zentrale Bedeutung für die religionsgeschichtliche Formierung Israels und Judas zusprach, vor allem dem Phänomen der mit Amos einsetzenden alttestamentlichen Prophetie. Nicht nur für Wellhausens Forschung wurde dies eine bleibende Einsicht. Das achte Jahrhundert bildet den zentralen Bezugspunkt für Kuenens 1869 / 70 in zwei Bänden erschienenes Hauptwerk ‚De godsdienst van Israël tot den ondergang van den Joodschen staat‘. Der zweite Teil beginnt mit dem Babylonischen Exil und berichtet von der Etablierung der Priesterherrschaft samt Einführung des Kultgesetzes, Judentum und Parsismus, der griechischen Oberherrschaft, dem Hellenismus sowie dem letzten Jahrhundert des jüdischen Staates, um mit einer historischen Skizze, die bis in die Gegenwart reicht, zu enden. Der erste Teil hat sich ganz dem Ziel verschrieben, den Beweis zu führen, daß allein die religionsgeschichtliche Entwicklung Israels im achten Jahrhundert die Entstehung der alttestamentlichen Schriften erklären kann. Dies gilt es als Kuenens grundlegende Einsicht festzuhalten, auch wenn er nicht in Abrede stellt, daß unter anderem der Hexateuch durchaus ältere Überlieferungen enthalten mag. Für ihn ist eine sichere Interpretation des Alten Testaments nur vor dem Hintergrund und unter Beachtung der besonderen religiösen Voraussetzungen und Entwicklungen in diesem Jahrhundert möglich: „Die große Frage ist […], mit welchem Zeitalter müssen wir beginnen? So früh wie möglich, das erklärt sich von selbst. Doch wie weit können wir sicher zurückgehen? Die Antwort, die möglicherweise einige befremden mag, muß lauten: 37 „[I]n het verschuiven van de priesterwet naar de eeuw der ballingschap gaf Kuenen Graf gelijk; maar ongelijk in het losknoopen van den samenhang tusschen die wet en de daarbij behorrende verhalen. Zijne instemming en zijn voorbehoud beide werden terstond aan Graf gemeld, en […] deze gaf zich gewonnen. ‚Gij doet mij‘, schreef hij, ‚eene oplossing aan de hand, die mij te sterker trof, daar zij voor mij volkomen nieuw was, en toch gevoelde ik aanstonds, dat zij war moest zijn. Ja, inderdaad: de Elohim-stukken in Genesis zijn jonger dan de stukken van den Jahvist.‘“ (Vlugt, Levensbericht van Abraham Kuenen, 300)
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Nicht weiter als bis in das achte Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung (800– 700 v. Chr.). Daß wir in Bezug auf dieses Jahrhundert vollkommen unterrichtet sind, läßt sich einfach aufzeigen. Noch abgesehen von den diesbezüglichen Berichten in den historischen Büchern des Alten Testaments und von manchen Geschichtserzählungen über frühere Zeiten, die in diesem Jahrhundert entstanden, besitzen wir eine ziemlich breite prophetische Literatur, die innerhalb desselben niedergeschrieben wurde. Amos, Hosea, der Autor von Sach 9–11 (fast ein Zeitgenosse des Letztgenannten), Jesaja, Micha, vielleicht auch Nahum, treten als Zeugen aus und für dieses Jahrhundert auf.“38 Darauf ist im Folgenden ausführlicher einzugehen. Dabei sind neben dem genannten Hauptwerk vor allem Kuenens zahlreiche, in fortlaufenden Reihen erschienene Aufsätze – die diese Thesen stützen – mit zu berücksichtigen.
3.2. Das Problem der historischen Interpretation des Alten Testaments „Die Geschichte der israelitischen Religion muß sich emporheben auf der Grundlage der literarischen Kritik des Alten Testaments: keine Wahrheit findet mehr allgemeine Anerkennung als diese.“39 Und doch konstatiert Kuenen trotz dieser breiten Übereinstimmung ein noch nicht gelöstes Problem jeder Darstellung der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte. Denn daß die Literarkritik zur Rekonstruktion verschiedener Quellenschriften im Alten Testament führe, sei eben so wenig anerkannt, wie die ebenso wichtige Einsicht, daß die verschiedenen Quellen einer Zeitepoche auf ihren Wert hin befragt werden müssen: „Mit anderen Worten: Ein Teil des Alten Testaments empfängt wenig von der Geschichte der religiösen Ideen und gibt ihr viel; ein anderer Teil gibt wenig und empfängt um so viel mehr. Zu der ersten Kategorie gehören z. B. die Schriften der Propheten, zu der zweiten die historischen Bücher und vor allem – Pentateuch und Josua.“40 In dieser Einsicht, daß den prophetischen Schrif38 „De groote vraag is nu, met welk tijdvak wij beginnen moeten? Zoo vroeg mogelijk, dit spreekt van zelf. Doch hoe hoog kunnen wij veilig opklimmen? Het antwoord, dat misschien sommigen bevreemden zal, moet luiden: niet hooger dan tot de achtste eeuw vóór onze jaartelling (800–700 v. Chr.). Dat wij omtrent die eeuw voldoende onderricht zijn, laat zich gemakkelijk aanwijzen. Afgezien nog van de daarop betrekkelijke berichten in de historische boeken van het O. Testament en van menig geschiedverhaal over vroegere tijden, dat in die eeuw is ontstaan, bezitten wij eene vrij uitgebreide profetische literatuur, die binnen hare grenzen is op schrift gebracht. Amos, Hosea, de auteur van Zach. IX–XI (nagenoeg een tijdgenoot van den laatstgenoemde), Jesaja, Micha, misschien ook Nahum, treden als getuigen uit en over die eeuw op.“ (Kuenen, De godsdienst van Israël tot den ondergang van den Joodschen staat 1, 33 f., Hervorhebungen im Original) Bei den historischen Büchern dieser Zeitepoche nennt Kuenen hier 2 Kön 14,23–20,21; 2 Chr 26–32 und Jes 36–39. 39 „De geschiedenis van den Israëlietischen godsdienst moet verijzen op den grondslag der literarische critiek van het O. Testament: geene waarheid wordt meer algemeen erkend dan deze.“ (Kuenen, Critische bijdragen tot de geschiedenis van den Israëlitieschen godsdienst V, 391) 40 „Met andere woorden: een deel van het O. Testament ontvangt weinig van de geschiede-
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ten des Alten Testaments in weiten Teilen ein höherer Quellenwert zukomme als den sogenannten historischen Schriften desselben, erblickt Kuenen selber eins der wichtigsten Ergebnisse seiner Forschungen. Und diese Entscheidung lasse sich nur auf der Grundlage umfassender religionsgeschichtlicher Untersuchungen zum alten Israel und zum Judentum treffen. Sie sind daher mit zu berücksichtigen, um das Problem der historischen Interpretation des Alten Testaments – so wie es sich Kuenen darstellt – zu verstehen. Insbesondere im ersten Teil des schon genannten Hauptwerkes ‚De godsdienst van Israël‘ widmet Kuenen sich ihnen, setzt mit einem Überblick über die Quellenlage ein und bietet eine Skizze der religiösen Entwicklung der beiden Königtümer Israel und Juda im achten Jahrhundert. Diese Überlegungen bilden die Grundlage der gesamten folgenden Argumentation.41 Daran schließt sich als zweites Kapitel die Darstellung der früheren Geschichte des Volkes Israel42 und der israelitischen Prophetie43 an. Darauf folgen die beiden zentralen Abschnitte des Buches, die der religiösen Entwicklung Israels44 und speziell der Geschichte der religiösen Entwicklung Israels vor und während des achten Jahrhunderts45 gewidmet sind. Das abschließende sechste Kapitel bietet einen Überblick zur Religionsgeschichte Israels, der mit der Zerstörung Jerusalems im Jahr 586 v. Chr. endet.46 nis der godsdienstige ideeën en geeft haar véél; een ander deel geeft minder en ontvangt zooveel te meer. Tot de eerste categorie behooren b. v. de geschriften der profeten, tot de tweede de historische boeken en vooral: Pentateuch en Josua.“ (A. a. O., 391 f., Hervorhebungen im Original) 41 Vgl. Kuenen, De godsdienst van Israël tot den ondergang van den Joodschen staat 1, 36–102. In Form einer rhetorischen Frage weist Kuenen dabei nochmals einen anderen als den von ihm gewählten Ausgangspunkt für eine historisch-kritische Untersuchung ab: „Warum sollte man nicht vom neunten ausgehen, oder sogar vom zehnten und elften Jahrhundert, der Zeit Davids und Salomos? Die Antwort darauf ist einfach: Weil wir aus dieser Zeit keine, oder nicht hinreichend verbürgte, oder zu wenig schriftliche Denkmäler besitzen. Nimmt sich jemand die Freiheit viele, oder wenigstens einige der Psalmen David zuzuschreiben, hat er damit einen festen Ausgangspunkt. Aber uns fehlt, aus Gründen, die nach und nach ans Licht treten sollen, die dafür nötige Offenheit. Und auch wenn dies anders wäre, so würde es doch unratsam sein, auf einer Grundlage zu bauen, die viele für mangelhaft befunden haben. Wird dies einmal zugegeben, daß einer anderen als der chronologischen Ordnung gefolgt werden muß, dann empfiehlt sich von allen Seiten das achte Jahrhundert als Ausgangspunkt.“ („Waarom niet uitgegaan van de negende, or zelfs van de tiende en elfde eeuw, den tijd van David en Salomo? Het antwoord laat zich raden: omdat wij uit dien tijd geene, of niet genoeg gewaarborgde, of te weinige schriftelijke gedenkstukken bezitten. Vindt iemand vrijheid, vele of althans eenige psalmen aan David toe te kennen, hij heft daarin een vast uitgangspunkt. Doch ons ontbreekt, om redenen die allengs in het licht zullen treden, de daartoe noodige vrijmoedigheid. Al ware dit anders, toch zou het onraadzaam zijn te bouwen op een grondslag, die door velen onvoldoende wordt gekeurd. Wordt eenmaal toegegeven, dat eene andere dan de chronologische orde moet worden gevolgd, dan beveelt zich de achtste eeuw als uitgangspunt van alle zijden aan.“ [A. a. O., 34]) 42 Vgl. a. a. O., 103–184. 43 Vgl. a. a. O., 185–215. 44 Vgl. a. a. O., 216–262. 45 Vgl. a. a. O., 263–407. 46 Vgl. a. a. O., 408–504.
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Kuenen setzt mit einer kurzen Schilderung der politischen Situation der beiden „israelitischen Königreiche in Kanaan“ – „Ephraim“ und „Juda“47 – ein, die für das Nordreich und seine Hauptstadt Samaria im Jahr 719 v. Chr. nach einem langen Kampf gegen die Assyrer mit dem Untergang endete.48 Aufgrund der geographischen Lage zwischen den Großreichen Assyrien und Ägypten, später dann Babylonien und Ägypten spielten die politischen Ereignisse in diesen und die wechselseitigen kriegerischen Angriffe eine bedeutende Rolle: „In den Schriften aus dem achten Jahrhundert finden wir dann auch die deutlichsten Beweise“49 dafür. Damit verweist Kuenen auf die bereits herausgestellte Bedeutung der alttestamentlichen Propheten: Amos, Hosea, natürlich Jesaja und einige weitere. Ihre Besonderheit erblickt er darin, daß sie einerseits Schriften verfaßt hätten und andererseits selbst auch öffentlich als Propheten aufgetreten seien, „als Gesandte und Dolmetscher einer Gottheit, die sie Jahwe nennen“50. Jahwe, der Gott Israels und Israel, das Volk Jahwes – dies war ihre Grundüberzeugung: „Er ist der Gott Israels. […] Dieser freien Wahl zufolge ist Israel das Volk Jahves.“51 Er herrscht über die Natur, die Völker und jeden einzelnen Menschen, was Kuenen zufolge letztendlich nur im Sinne einer „sittlichen Weltregierung“52 verstanden werden kann.53 Was diese grundlegenden Einsichten Kuenens für die alttestamentliche Forschung, insbesondere zur Religionsgeschichte, bedeuteten und wie er die Folgezeit prägte, ist gleich zu erörtern. Zunächst ist dazu seine Rekonstruktion des israelitischen Prophetentums nachzuzeichnen, die den unbestrittenen Ausgangspunkt seiner Forschungen bildet. 47 A. a. O., 36. 48 Bezogen auf
den letzten König Hoschea heißt es dazu: „[I]m Jahr 719 v. Chr. wurde seine Hauptstadt Samaria, nach einer dreijährigen Belagerung, durch die Assyrer erobert und, durch die Wegführung einer Menge der vornehmsten Bürger, der Existenz des Ephraimitischen Königreiches ein Ende bereitet“. („[I]n het jaar 719 v. Chr. werd zijne hoofstad Samaria, na een driejarig beleg, door de Assyriërs veroverd en, door de wegvoering van een aantal der aanzienlijkste burgers, aan het bestaan van het Ephraïmietische koninkrijk een einde gemaakt“ [A. a. O., 37].) 49 „In de geschriften van de 8 ste eeuw vinden wij dan ook de duidelijke bewijzen“ (A. a. O., 39). 50 Im Niederländischen heißt es: „als gezanten en tolken eener godheid, die zij Jahveh noemen“ (A. a. O., 43, Hervorhebung im Original). 51 „Hij is de god van Israël. […] Ten gevolge van die vrije keuze is Israël het volk van Jahveh.“ (Ebd., Hervorhebungen im Original) 52 Im Niederländischen: „zedelijke wereldregeering“ (A. a. O., 55, Hervorhebung im Original). Mit dem Begriff der ‚sittlichen Weltregierung‘ – alternativ ließe sich der niederländische Begriff auch als ‚moralisch‘ übersetzen – verwendet Kuenen einen Terminus, der große Nähen zu dem von Johann Gottlieb Fichte im Jahr 1798 im Atheismusstreit gebrauchten Ausdruck der ‚göttlichen Weltregierung‘ aufweist. (Vgl. Johann Gottlieb Fichte, Ueber den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung, in: Ders., Sämmtliche Werke 5. Zur Religionsphilosophie hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1845, 175–189) 53 Vgl. dazu auch Martin Jan Mulder, Kuenen und der „ethische Monotheismus“ der Propheten des 8. Jahrhunderts v. Chr., in: Dirksen / Kooij (Hgg.), Abraham Kuenen, 65–90.
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3.3. Das Prophetenbild „Wenn die Ideen der Propheten über Jahwe, sein Wesen und seine Macht richtig angegeben sind, dann war ihr Glaube an ihn monotheistisch. Wir gebrauchen den Begriff, hier und im Folgenden, in dem strengeren Sinn und meinen folglich die Anerkennung und Verehrung von einem einzigen Gott.“54 Zunächst ist festzuhalten, daß Kuenen damit eine für die Folgezeit grundlegende und zeitweilig beinah unhinterfragt geltende These aufstellte. Der Ursprung des israelitischen und jüdischen monotheistischen Gottesglaubens ist bei den Propheten zu suchen. Denn der Widerstand der Jahwepropheten gegen jedwede politische Verbindung der Königreiche ‚Ephraim‘ und ‚Juda‘ mit den damaligen Großmächten Assyrien und Ägypten sei von der Überzeugung geleitet gewesen, daß allein Jahwe zu verehren ist. Das Bekenntnis zu einem einzigen Nationalgott war zwar auch Allgemeingut der Nachbarvölker. Das Bekenntnis zu Jahwe als dem einzigen Gott aber, neben dem die Propheten keinen Weiteren anerkennen wollten, ging darüber hinaus. Daher spricht Kuenen hier vom monotheistischen Glauben der Propheten.55 Der Gott Jahwe habe alle Phänomene der Natur und der Menschheit geschaffen und er lenke ihre Geschicke auch weiterhin.56 „Wie über die Natur, so herrscht und gebietet Jahwe über die Menschheit.“57 Neben ihm muß und kann keine andere Macht existieren, so die Erkenntnis der Jahwepropheten des achten Jahrhunderts. Jahwe mag zwar geschichtliche Werkzeuge haben, die seine Befehle befolgen – aber Gottheiten, die unabhängig von ihm wirken und in irgend einer Art und Weise Verehrung für sich beanspruchen könnten, toleriert er nicht neben sich. Die Jahweverehrung der Propheten, so Kuenen, ließ keinen Raum für andere Götter. 54 „Indien de denkbeelden der profeten over Jahveh, zijn wezen en zijne macht, juist zijn opgevat, dan was hun geloof in hem monotheïsme. Wij gebruiken dit woord, hier en in het vervolg, in den strengeren zin en bedoelen dus de erkenning en vereering van één eenigen god.“ (Kuenen, De godsdienst van Israël tot den ondergang van den Joodschen staat 1, 55, Übersetzung M. G.) 55 Ein knapper Überblick zur breiten Diskussion der Begriffe ‚Monotheismus‘, ‚Henotheismus‘, ‚Polytheismus‘ u. a. im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert findet sich bei Mulder, Kuenen und der „ethische Monotheismus“ der Propheten des 8. Jahrhunderts v. Chr., bes. 66–68. Zum grundlegenden Problem vgl. auch Ulrich Barth, Herkunft und Bedeutung des Menschenwürdekonzepts. Der Wandel der Gottebenbildlichkeitsvorstellung, in: Ders., Religion in der Moderne, 345–371 und Gunther Wenz, Gott. Implizite Voraussetzungen christlicher Theologie (Studium Systematische Theologie 4), Göttingen 2007, bes. 69–124. 56 „Jahwe gibt Fruchtbarkeit und regelt die Jahreszeiten, aber auch die Katastrophen, die die Menschen treffen, Trockenheit, Meltau, Pest, Erdbeben, Überschwemmung werden durch ihn gesandt.“ („Jahveh geeft vruchtbaarheid en regelt de seizoenen, maar ook de rampen, die de menschen treffen, droogte, honingdauw, pest, aardbeving, overstrooming, worden door hem gezonden.“ [Kuenen, De godsdienst van Israël tot den ondergang van den Joodschen staat 1, 51]) 57 „Gelijk over de natuur, zoo heerscht en gebiedt Jahveh over de mensenwereld.“ (A. a. O., 52)
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Und da Jahwe der Gott Israels ist und Israel das Volk Jahwes, da beide so eng miteinander verbunden sind, so sei es nur natürlich, daß er dem Volk seinen Willen kundtat und bestimmte Anforderungen an es richtete. „Er hat zuallererst Anspruch auf Israels ausschließliche Verehrung: Abgötterei ist die Hauptsünde, woran sich sein Volk schuldig machen kann.“58 Dies ziele nicht auf einen in äußerlichen Ritualen verbleibenden Gottesdienst und die Darbringung bestimmter Opfer, sondern den Propheten zufolge sei Jahwes Beziehung zu Israel von der innigsten und hingebungsvollsten Art. Jahwe habe Israel seinen Willen auferlegt und gebe ihn – wiederum vermittelt durch seine Propheten – bekannt. Sie verkünden die ‚Thora‘ Jahwes, worunter laut Kuenen ursprünglich nicht das ausformulierte Priestergesetz, sondern religiöse Weisungen und Lehren im weitesten Sinne zu verstehen seien.59 Das ‚Gesetz‘ Jahwes, welches die Propheten ab und an erwähnten, sei deshalb auch stets auf die eigenen Prophezeiungen bezogen. Nicht die öffentlichen Rituale, nicht der Tempeldienst sollen reguliert und verändert werden, sondern Jahwe fordert, daß die Herzen der Israeliten zu ihm gewendet sind und dies auch bleiben. So schreibt Kuenen über Jesaja, der an dieser Stelle für das Prophetentum im allgemeinen steht: „Sittliche Forderungen sind es, die er an sein Volk richtet. Immerfort und mit dem meisten Nachdruck und Ernst werden sie wiederholt; die Übertretung von diesen Geboten durch die große Mehrheit der Israeliten, insbesondere durch die Führungspersönlichkeiten und Vornehmen, ist das Thema der meisten prophetischen Ansprachen.“60 Mit dieser für seine Forschungen zentralen Einsicht stellt Kuenen die These vom geistigen Monotheismus der Propheten auf. 58 „Hij heeft allereerst aanspraak op Israëls uitsluitende vereering: de afgoderij is de hoofdzonde, waaraan zijn volk zich kan schuldig maken.“ (A. a. O., 58 f.) 59 „[D]as ursprüngliche Wort (Thora) bedeutet eigentlich ‚Belehrung‘, ‚Unterricht‘, ein von den Propheten gebrauchtes Wort, um ihr eigenes Predigen und das ihrer Vorgänger zu erklären: ‚Belehrung durch Jahwe‘ nennen sie ihn, weil er ihnen durch Jahwe in den Mund gelegt worden ist. Daher erklärt es sich dann auch, daß ‚die Belehrung‘ und ‚das Wort Jahwes‘ wechselseitig nicht unterscheidbar sind und beide von Jerusalem ausgehen, wo der Gott Israels wohnt. Nun werden bereits im achten Jahrhundert die prophetischen Vermahnungen, nachdem sie sie vorgetragen haben, verschriftlicht: die Möglichkeit besteht daher, daß die Propheten, wenn sie die ‚Thora Jahwes‘ erwähnen, an derartige Schriften gedacht haben.“ ([H]et oorspronkelijke woord [thorah] beteekent eigenlijk ‚lering‘, ‚onderricht‘, en woordt door de profeten gebruikt, om hunne eigene prediking en die hunner voorgangers an te duiden: ‚leering van Jahveh‘ noemen zij haar, omdat zij hun door Jahveh is in den mond gelegd. Vandaar dan ook, dat ‚de leering‘ en ‚het woord van Jahveh‘ onderling niet verschillen en beiden uitgaan van Jerusalem, waar de god van Israël woont. Nu werden reeds in de 8ste eeuw de profetische vermaningen, na mondeling te zijn voorgedragen, op schrift gebracht: de mogelijkheid bestaat derhalve, dat de profeten, waar zij ‚de thorah van Jahveh‘ vermelden, aan zodanige geschriften hebben gedacht.“ [A. a. O., 60 f.]) 60 „Zedelijke eisen zijn het, die hij richt tot zijn volk. Telkens en met den meesten nadruck en ernst worden ze herhaald; de overtreding van die geboden door de groote meerderheid van Israël, inzonderheid door de leidslieden en aanzienlijken, is het thema van de meeste profetische toespraken.“ (A. a. O., 63)
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Die Bedeutung dieser nicht nur für Wellhausen grundlegenden Erkenntnis soll später weiter erörtert werden. Hier geht es zunächst lediglich um Kuenens Vorstellung von der Entwicklung der israelitischen und jüdischen Religion, ohne die die Erfassung der Bedeutung der Kuenenschen These nicht möglich ist. Immer wieder macht Kuenen dabei auf den durch die historisch-kritische Forschung erfolgten Umbruch in der Betrachtung des Alten Testaments aufmerksam, der noch nicht zu abschließenden Ergebnissen geführt habe: „Der Streit über das wechselseitige Verhältnis und insbesondere über das relative Alter der prophetischen und priesterlichen Bestandteile von Pentateuch und Josua dauert noch immer an. Zwar gewinnt die Meinung von K. H. Graf nun auch in Deutschland Feld, aber auch die Priorität der sogenannten ‚Grundschrift‘ findet noch ihre Verteidiger.“61 Auch in seinen späten Schriften – in denen eine umfassende Rezeption Wellhausens erfolgte – macht Kuenen auf bleibende und nicht zu lösende Schwierigkeiten der Darstellung der Geschichte Israels aufmerksam.62
3.4. Die Vorstellung von der religionsgeschichtlichen Entwicklung Den ursprünglichen Anstoß für seine Forschungen zur israelitischen und jüdischen Geschichte verdankt Kuenen – wie auch Wellhausen – den Arbeiten Grafs. Für Erstgenannten gilt dies zumindest im Hinblick auf die Interpretation der Schriften des Hexateuchs, während er in Abhebung von Graf die Besonderheit der alttestamentlichen Propheten wesentlich stärker herausstellte, gerade auch bezüglich der Bedeutung ihrer Schriften für die Religionsgeschichte. Die Nähe zu Graf in der Hexateuchkritik ist auch in den die Erscheinung von Kuenens Hauptwerk begleitenden Untersuchungen unverkennbar, wofür hier ein längerer Abschnitt aus seinen ‚Critische bijdragen tot de geschiedenis van den Israëlitischen godsdienst‘ stehen mag, der de facto eine Zusammenfassung der Grafschen Thesen darstellt: „[D]er Deuteronomist, Zeitgenosse von Manasse oder von Josia, ist der Redaktor von Pentateuch und Josua und brachte sie in die Form, in welcher sie heutzutage noch vor uns liegen; seine eigenen Gesetze und Gebote verband er mit (oder: fügte sie ein in) dem Werk des Jahwisten, das aus 61 „De strijd over de onderlinge verhouding en inzonderheid over den betrekkelijken ouderdom der profetische en der priesterlijke bestanddeelen van Pentateuch en Jozua duurt nog altijd voort. Wel wint het gevoelen van K. H. Graf nu ook in Duitschland veld, maar ook de prioriteit van de zogenaamde ‚Grundschrift‘ vindt nog hare verdedigers.“ (Kuenen, Bijdragen tot de critiek van Pentateuch en Jozua III, 545) 62 „Insbesondere gilt dies vom Altertum, die wechselseitigen Verhältnisse und die Zusammenfügung der ‚prophetischen‘ Bestandteile des Hexateuchs, die ich, in Nachfolge von Wellhausen, durch die Buchstaben JE angedeutet habe.“ („Inzonderheid geldt dit van den ouderdom, de onderlinge verhouding en de samenvoeging van de ‚profetische‘ bestanddeelen van den Hexateuch, die ik, in navolging van Wellhausen, door de letters JE heb angeduid.“ [Abraham Kuenen, De critiek van den Hexateuch en de geschiedenis van Israël’s godsdienst, in: ThT 19 (1885), 491–530, 492, Hervorhebung im Original])
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dem achten Jahrhundert v. Chr. datiert und das, zur Zeit des Deuteronomisten, ungefähr ein Jahrhundert alt war; von ihm, dem Jahwisten, stammen die ersten vier Bücher des Pentateuchs und die frühere (vordeuteronomische) Rezension des Josua; und diesem seinem Werk lag eine noch ältere Schrift zugrunde, die mit dem Namen ‚Grundschrift‘, ‚Buch der Ursprünge‘ bezeichnet wird; diese hat einen Priester oder Leviten zum Autor und kann in das Jahrhundert Salomos datiert werden; in die ‚Grundschrift‘ waren die noch älteren, auch die echt-mosaischen Stücke aufgenommen; sie werden durch den Jahwisten ausgebreitet und angefüllt, teils aus der Überlieferung, teils aus anderen schriftlichen Dokumenten.“63 Trotz dieser Nähe zu Graf geht Kuenen in seinen Forschungen jedoch von Anfang an über ihn hinaus – nämlich in der Erklärung des Phänomens der alttestamentlichen Prophetie. Kuenen macht darauf aufmerksam, daß der den Bibelwissenschaften zugrundeliegende Prophetenbegriff eine ganz spezifische Prägung hat, die es bewußt zu machen gilt: „Wir sprechen von ‚den Propheten‘ und meinen damit die Männer, deren Schriften uns im Alten Testament überliefert worden sind. Ohne Schwierigkeit können wir diesen Sprachgebrauch weiter verfolgen, indem wir aber bemerken, daß die Männer keineswegs als Vertreter für den Prophetenstand im Ganzen gelten können. Vielmehr standen sie der großen Mehrheit von ihnen feindlich gegenüber, die sich Prophet (Nabi) oder Seher (Roe) nennen und auch durch das Volk dafür gehalten wurden.“64 Diese Propheten – soviel sei gesagt, bevor auf die im Zitat deutlich gewordenen Abgrenzungen gegenüber anderen Gruppierungen eingegangen wird – bieten auch in den auf sie zurückgehenden Überlieferungen für die Geschichte Israels nicht zu unterschätzende Quellen, die Kuenen kritisch verwertet. Und trotz ihrer zeitlichen Verortung um das achte Jahrhundert herum geben sie auch Aufschluß über die davor liegende 63 „[D]e
Deuteronomist, tijdgenoot van Manasse of van Josia, is de redactor van Pentateuch en Josua en bracht ze in dien vorm, waarin zij thans nog voor ons liggen; zijne eigene wetten en verhalden verbond hij met (of: intercaleerde hij in) het werk van den Jahvist, dat uit de 8 ste eeuw v. Chr. dagteekende en dus, ten tijd van den Deuteronomist, ongeveer eene eeuw oud was; van hem, den Jahvist, zijn de eerste vier boeken van den Pentateuch en de vroegere (vóór-deuteronomische) recensie van Josua afkomstig; aan dit zijn werk lag eene nog ouder geschrift ten grondslag, dat door de namen ‚Grundschrift‘, ‚Boek der oorsprongen‘ werd aangeduid; het had een priester of Leviet tot auteur en kon tot de eeuw van Salomo worden gebracht; in die ‚Grundschrift‘ waren de nog oudere, ook de echt-Mozaïsche stukken opgenommen; zij werd door den Jahvist uitbegreid en aangevuld, deels uit de overlevering, deel uit andere schriftelijke documenten.“ (Kuenen, Critische bijdragen tot de geschiedenis van den Israëlitieschen godsdienst V, 394, Hervorhebungen im Original) 64 „Wij spreken van ‚de profeten‘ en bedoelen daarmede de mannen, wier geschriften ons in het O. Testament zijn bewaard gebleven. Zonder bezwaar kunnen wij dat spraakgebruik blijven volgen, indien wij maar bedenken, dat die mannen geenszins als vertegenwoordigers van den profetenstand in zijn geheel kunnen gelden. Veeleer stonden zij vijandig tegenover de groote meerderheid van hen, die zich profeet (nabî) of ziener (roéh, chozéh) noemden en daarvoor ook door het volk werden gehouden.“ (Kuenen, De godsdienst van Israël tot den ondergang van den Joodschen staat 1, 89, Hervorhebungen im Original)
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Entwicklung des Volkes Israel. Aufgrund dieser Annahme ist es für Kuenen nur natürlich, daß die Überlieferungen zur früheren Entstehungsgeschichte Israels deutliche Spuren späterer Zeit aufweisen.
3.4.1. Die ältesten Überlieferungen des Alten Testaments Erste historisch verwertbare Überlieferungen berichten laut Kuenen vom Auszug Israels aus Ägypten, welcher mit dem Namen des ersten bedeutenden Anführers der Stammesgemeinschaft – nämlich Mose – verbunden ist. Und auch wenn heute kaum noch direkte Quellen zu seinem Wirken vorhanden seien, so haben ihn doch die späteren prophetischen Kreise aufgrund seiner überragenden Bedeutung zu einem der ihren gemacht. Dies läßt Kuenen zu dem Schluß kommen, der an die Prophetenforschungen Heinrich Ewalds erinnert, jedoch in eine andere Richtung zielt: „Zweifellos hieß Mose ein Prophet Jahwes und er wird bereits durch die Propheten des 8ten Jahrhunderts als einer ihrer Vorgänger angeführt. Doch auf die Frage, ob ihm der Enthusiasmus eigen war, der als das eigentliche Kennzeichen der Nabi angesehen werden muß, gibt eine Urkunde aus jener Zeit eine verneinende Antwort, gleichwie ihn der Pentateuch generell niemals in prophetischer Verzückung auftreten läßt. Wir können folglich im Geist dieser Berichte feststellen: Mose war ein Gesandter und Dolmetscher Jahwes, aber Nabi war er nicht.“65 Für Kuenen steht damit fest, daß mit Mose als großem Anführer seines Volkes nach und nach zahlreiche Überlieferungen verbunden wurden und daß er im Laufe der Jahrhunderte mit vielen Titeln und Ehrenbezeichnungen geschmückt wurde. So sei es kaum verwunderlich, daß die späteren prophetischen Schriften ihn auch mit dem Prophetenamt in Verbindung brachten, obwohl er dem Wirken und Auftreten dieser sich später als seine Nachfolger verstehenden Kreise kaum entsprach. Doch trotz aller Überzeichnungen, so Kuenen, kann vom ‚historischen‘ Mose gesagt werden, daß auf ihn die Benennung des israelitischen Gottes mit dem Namen Jahwe zurückgeht.66 Und eine weitere, gerade auch für die Propheten des achten Jahrhunderts von größter Wichtigkeit seiende Leistung hält Kuenen fest: „Das große Verdienst Moses liegt darin, daß er in dieser Weise die religiösen Vorstellung mit dem sittlichen Leben in Verbindung gebracht hat. Mit sittlichen Anforderungen und Geboten tritt Jahwe vor sein Volk: darin ist der Ausgangspunkt von Israels 65 „Ongetwijfeld heet Mozes een profeet van Jahveh en wordt hij reeds door de profeten van de 8ste eeuw als een hunner voorgangers aangemerkt. Doch op de vraag, of hem het enthusiasme eigen was, dat als het eigenlijke kenteeken van den nabi moet worden beschouwd, geeft eene oorkonde van denzelfden tijd een ontkennend antwoord, gelijk in het algemeen de Pentateuch hem nimmer in profetische geestvervoering laat optreden. Wij kunnen dus in den geest dier berichten stellen: Mozes was een gezant en tolk Jahveh, maar nabi was hij niet.“ (A. a. O., 189, Hervorhebungen M. G.) 66 Vgl. a. a. O., 274.
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reicher religiöser Entwicklung zu sehen, der Keim von all den herrlichen Wahrheiten, die im Laufe der Jahrhunderte zur Reife kommen sollten.“67 In dieser These ist eine Petitio principii zu erkennen: Da für die späteren Propheten das sittliche Moment in ihrem Wirken von großer Wichtigkeit ist, findet Kuenen es auch in der davor liegenden Geschichte und kann es sogar bis zu den Anfängen unter Mose zurückverfolgen. Und umgekehrt: Nur wenn schon seit frühester Zeit die Verknüpfung von Ethik und Religion als Kennzeichen für das Volk Israel festgehalten werden kann, dann ist auch dessen außerordentliche Bedeutung bei den späteren Propheten für ihn erklärbar. Auch wenn man Zweifel an der Schlüssigkeit seiner Argumentation anmelden mag, fest steht auf jeden Fall – und dies ist für das hier dargestellte Problem allein von Bedeutung –, daß Kuenen in der Verknüpfung von ‚religiösen Vorstellungen‘ und ‚sittlichen Anforderungen‘ ein wesentliches Kennzeichen des Volkes Israel erblickt. Sogar schon in den mehr oder weniger im Dunkel liegenden Anfängen spielte es eine nicht zu unterschätzende Rolle.
3.4.2. Das Beispiel der sogenannten ‚Stammesväter‘ Für diese Eigenart des Verständnisses der altisraelitischen Geschichte durch Kuenen ließen sich noch zahlreiche weitere Belege anführen. Exemplarisch sei einer kurz vorgestellt. Auch bei den von ihm sogenannten Stammesvätern findet Kuenen dieses für den Ursprung des Volkes herausgestellte Charakteristikum wieder. „Abram, Isaak und Jakob sind nicht nur Diener Jahwes, sondern stehen auch in der Reinheit und Innigkeit der religiösen Einsichten der geistigen Frömmigkeit der Propheten des achten Jahrhunderts nicht nach.“68 Der durch sie repräsentierte Zeitraum gehört für Kuenen ebenfalls noch zu den letztlich im Sagenhaften verbleibenden und historisch nicht aufklärbaren Ursprungsgeschichten. Unbeschadet dessen findet er aber auch hier die eigentümliche Verknüpfung von Religion und Ethos wieder, auf die bereits aufmerksam gemacht wurde. Die „Periode der Entstehung des Volkes“69, die durch die Ausbildung staatlicher Institutionen allererst die Abfassung und Überlieferung schriftlicher Quellen ermöglichte, ist seiner Meinung nach frühestens mit der Zeit der Richter erreicht. Unter Entstehung des Volkes versteht Kuenen die Vereinigung der einzelnen israelitischen Stämme zur israelitischen Nation, zum 67 „De groote verdienste van Mozes ligt hierin, dat hij in dier voege de godsdienstige voorstelling met het zedelijk leven heeft in verband gebracht. Met zedelijke eisen en geboden treedt Jahveh op voor zijn volk: zietdaar het uitgangspunt van Israëls rijke religieuse ontwikkeling, de kiem van al die heerlijke waarheden, die in den loop der eeuwen tot rijpheid zouden komen.“ (A. a. O., 278) 68 „Abram, Izak en Jakob zijn niet alleen dienaars van Jahveh, maar doen ook in zuiverheid van religieuse inzichten en innige, geestelijke vroomheid voor de profeten der achtste eeuw niet onder.“ (A. a. O., 111) 69 Im Niederländischen heißt es: „de periode van de wording des volks“ (A. a. O., 148, Hervorhebung im Original).
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Königreich – die mit dem Namen Samuel verbunden ist und dessen erste Repräsentanten die Könige Saul, David und Salomo waren.70 Mit der Persönlichkeit des erstgenannten verbindet er dann auch die Anfänge der eigentlichen für das Volk Israel spezifischen Prophetie: „Die Entstehung der Prophetie fällt in die Zeit Samuels.“71
3.5. Die alttestamentliche Schriftprophetie und der geistige Monotheismus der Propheten Die „,Seher‘ während der Richterzeit“ spielten in Israel keine andere Rolle „als die Wahrsager bei andern Völkern des Altertums“72. Doch Kuenen zufolge kommt es mit dem Ende dieser Periode und der fortschreitenden Ausbildung politischer Einrichtungen in Israel, gipfelnd im davidischen Königtum, trotzdem zu einem allein bei diesem Volk wahrnehmbaren Phänomen – der Ausbildung der Schriftprophetie: „[I]m achten Jahrhundert ist der Jahweprophet Autor geworden“73 Und weiter stellt er fest: „Wir besitzen aus diesem Jahrhundert eine Anzahl Gottessprüche, durch die Propheten selbst verschriftlicht, und zudem noch bedeutsame Proben der prophetischen Geschichtsschreibung.“74 Kuenen verbindet damit die These, daß diese im Alten Testament bewahrten Überlieferungen die wichtigsten historischen Zeugnisse sind. Ihnen allein spricht er den notwendigen Quellenwert zu, der für eine kritische Untersuchung zur geschichtlichen Entwicklung des Volkes Israel als Grundlage dienen könne. Gegenüber dem Pentateuch und den damit verbundenen alttestamentlichen Schriften bringt Kuenen dagegen in immer neuen Wendungen seine Skepsis zum Ausdruck: „Überblicken wir jetzt die Zeugnisse der historischen Bücher, dann können wir uns nicht verhehlen, daß sie, wie zahlreich auch und gleichlautend, nur relativen Wert haben. Sie kommen nicht in den ältesten Bestandteilen der Schriften vor, in welchen wir sie antreffen; bis auf ein oder zwei Aus70 „Nichts ist klarer, als daß während dieser Zeit [gemeint sind die Anfänge des Volkes, die bis zur Periode der Richter reichen, Anm. M. G.] die israelitischen Stämme gänzlich für sich selber stehen oder kleinere Gruppen formen; eine israelitische Nation besteht da noch nicht; die Volkseinheit muß noch geboren werden und kommt tatsächlich erst nach und nach, unter Samuel und den ersten Königen, zustande.“ („Niets is duidelijker, dan dat gedurende dien tijd de Israëlietische stammen òf geheel op zich zelve staan òf kleinere groepen vormen; eene Israëlietische natie bestaat er nog niet; de volkseenheid moet nog worden geboren en komt werkelijk eerst allengs, onder Samuel en de eerste koningen, to stand.“ [A. a. O., 137, Hervorhebung im Original]) 71 „Het ontstaan van het profetisme valt in den tijd van Samuel.“ (A. a. O., 189) 72 Im Niederländischen heißt es: „de […] ‚zieners‘ gedurende het Richteren-tijdvak […] dan de waarzeggers bij andere volken der oudheid“ (A. a. O., 190). 73 „[I]n de achtste eeuw is de profeet van Jahveh auteur geworden“ (A. a. O., 207, im Original hervorgehoben). 74 „Wij bezitten uit die eeuw een aantal godspraken, door de profeten zelven op schrift gebracht, en bovendien nog belangrijke proeven van de profetische geschiedbeschrijving.“ (Ebd.)
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nahmen stammen sie selbst von den letzten Redaktoren, die erst kurz vor der babylonischen Gefangenschaft, wenn nicht noch später, die älteren Urkunden gesammelt und bearbeitet haben. Sie sind dabei sehr unbestimmt und bisweilen nicht frei von Verwirrung.“75 Trotz ihrer nicht zu unterschätzenden Bedeutung seien diese Jahwepropheten nur eine Minderheit im Kontext der prophetischen Bewegungen dieser Zeitepoche und mit ihren sittlichen und religiösen Forderungen zudem nicht repräsentativ für die Volksreligiosität in Gänze.76 Die vom Volk für Propheten gehaltenen Wahrsager bildeten demgegenüber die unbestrittene Mehrheit und standen der Gruppe der Jahwepropheten, der später sogenannten ‚wahren Propheten‘ und ihren Forderungen kritisch gegenüber. Kuenen charakterisiert anhand der Begriffe ‚Teraphim‘, ‚Ephod‘, ‚Elilim‘ und ‚Bamoth‘ die hervorstechenden Merkmale dieser Wahrsager.77 Entsprechend dem Empfinden ihrer Zeitgenossen seien sie von zentraler Bedeutung für das Prophetentum gewesen. Ein großer Teil adaptierte sie als wichtige äußere Kennzeichen für den eigenen Berufsstand. Doch die eigene Berufung und der eigene innere Bezug hätten zumeist gefehlt – trotz des oftmals sehr ausgeprägten Eifers für den Dienst Jahwes. Dies gilt sowohl für die vor und neben den bedeutenden Jahwepropheten wirkenden, als auch für die sie nachahmenden Folgegenerationen.78 Die Schriftpropheten hoben dagegen die Religion auf eine neue Stufe, so die Kuenensche Beschreibung: „Nicht als ob nun alle Propheten eine höhere und reine75 „Overzien wij than de getuigenissen van de historische boeken, dan kunnen wij ons niet ontveinzen, dat ze, hoe talrijk ook en gelijkluidend, slechts betrekkelijke waarde hebben. Ze komen niet voor in de oudste bestanddeelen van de geschriften, waarin wij ze aantreffen; op ééne of twee uitzonderingen na zijn ze zelfs afkomstig van de laatste Redactoren, die eerst kort vóór de Babylonische ballingschap, indien niet nog later, de oudere oorkonden verzameld en bewerkt hebben. Ze zijn daarbij zeer onbepaald en soms niet vrij van verwarring.“ (Kuenen, Critische bijdragen tot de geschiedenis van den Israëlitieschen godsdienst II, 695) 76 „Die große Mehrheit von den Zeitgenossen dient Jahwe auf sinnliche Weise und verehrt andere Götter neben ihm. Ihr Jahwe ist einer von vielen Göttern, nicht wesentlich von den anderen unterschieden, und daher auch tolerant bezüglich ihres Gottesdienstes.“ („De groote meerderheid van de Tijdgenooten dient Jahveh op zinnelijke wijze en vereert andere goden nevens hem. Hun Jahveh is één van de vele goden, niet wezenlijk van de overige onderscheiden, daarom ook verdraagzaam omtrent hun dienst.“ [Kuenen, De godsdienst van Israël tot den ondergang van den Joodschen staat 1, 77 f.]) 77 Vgl. a. a. O., 77–82. 78 „Nichts war leichter und zugleich argloser als das Annehmen des äußerlichen Kennzeichens des Propheten, den härenen Mantel. Aber damit konnte man nicht genügen: Eifer für den Jahwedienst, Enthusiasmus und höhere Inspiration durften nicht fehlen. […] Die innerliche Berufung durfte jedenfalls bei den Propheten nicht fehlen; die Beitretung zum ProphetenVerein setzte dies voraus, aber sie garantierte sie nicht; so mußten diese folglich wohl nach und nach entarten.“ („Niets was gemakkelijker en tegelijk onschuldiger dan het aannemen van het uiterlijke kenteeken van den profeet, den harigen mantel. Maar daarmede kon men niet volstaan: ijver voor den dienst van Jahveh, geestdrift en hoogere inspiratie mochten niet ontbreken. […] De innerlijke roeping mocht althans bij den profeet niet ontbreken; de toetreding tot de profeten-vereeniging onderstelde, maar waarborgde haar niet; zoo moest deze dus wel allengs ontaarden.“ [A. a. O., 194])
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re Auffassung von Religion bekanntmachen als ihre Vorgänger. Im Gegenteil, die meisten von ihnen stimmen noch immer, ebenso wie früher ihre Vorgänger, mit einem guten Teil des Volkes zusammen und sehen sich daher auch von einem großen Anhang umringt und gefördert. Aber gegenüber dieser Mehrheit und deren zahlreichen Nachfolgern steht eine Minderheit, die den Jahwedienst anders und sehr viel tiefer auffaßt als die große Menge.“79 Sie vertraten die Auffassung, daß Jahwe der alleinige Gott Israels sei und Israel deshalb alleine Jahwe zu verehren habe.
3.5.1. Jahwe als Gott Israels und Israel als Volk Jahwes Das Besondere der im Alten Testament überlieferten Prophetentexte gegenüber der einstmals existierenden breiten Mehrheit der israelitischen und außerisraelitischen Propheten ist für Kuenen die schon erwähnte Annahme der besondere Beziehung zwischen Jahwe und seinem Volk. Dies bringt er in einer sehr formal klingenden These zum Ausdruck: „Jahwe beschränkt sich nicht auf das Tadeln der Sünden seines Volkes, denn er ist der Gerechte und er tut dies, indem er die Übertreter bestraft und die Frommen belohnt. Von dieser Überzeugung sind die Propheten völlig durchdrungen. ‚Die Wege Jahwes sind Recht, und die Gerechten sollen auf ihnen wandeln, aber die Übertreter sollen auf ihnen fallen (d. h. unglücklich werden)‘: so spricht, wie im Namen aller, Hosea.“80 Dahinter steht Kuenens These von Jahwe als dem Gott Israels und Israel als dem Volk Jahwes. Letzterer fordere keine Opfer und rituellen Feiern, sondern Verehrung und innerliche Zuwendung. Darüber hinaus ist die Erfüllung dieses Gottesrechts keine freiwillige Leistung, sondern an ihr hängt das Schicksal des ganzen Volkes. Jahwe tritt für Gerechtigkeit, für seine Gerechtigkeit ein. Dafür fordert er von Israel Gottesfurcht und Nachfolge. Für Kuenen steht somit fest, daß in den prophetischen Hoffnungen die „sittlichen Motive eben so viel Anteil haben wie die religiösen“81. In der Vermittlung dieser aus der besonderen Gottesbeziehung Israels folgenden Forderungen sahen die ‚wahren‘ Jahwepropheten ihre eigentliche Berufung. 79 „Niet alsof nu alle profeten eene hoogere en reinere opvatting van den godsdienst voorstaan dan hunne voorgangers. Integendeel, de meesten van hen zijn nu nog, evenals vroeger die voorgangers, met een goed deel des volks eenstemmig en zien zich dan ook door een grooten aanhang omringd en aangemoedigd. Maar tegenover deze meerderheid en hare talrijke volgelingen staat eene minderheid, die den Jahveh-dienst anders en vrij wat dieper opvat dan de groote hoop.“ (A. a. O., 199, Hervorhebung im Original) 80 „Jahve bepaalt zich niet tot het afkeuren van de zonden zijns volks, want hij is de rechtvaardige en toont dat, door den overtreder te straffen en de vromen te beloonen. Van deze overtuiging zijn de profeten geheel dordrongen. ‚De wegen van Jahveh zijn recht, en de rechtvaardingen zullen daarop wandelen, maar de overtreders zullen daarop vallen (d. i. ongelukkig werden)‘: zoo spreekt als uit aller naam Hosea.“ (A. a. O., 65 f., Hervorhebungen im Original) 81 Im Niederländischen heißt es: „zedelijke motieven even veel aandeel hebben als de religieuse“ (A. a. O., 68).
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Diese „sittlichen Forderungen“82 richteten sich der Meinung dieser Propheten nach nicht nur an Israel, sondern auch an dessen Nachbarvölker – im Endergebnis an die ganze Welt. Kuenen zieht daraus den Schluß, daß die ‚wahren‘ Propheten den Universalismus des Jahweglaubens erkannt und propagiert hätten. Dies lasse seiner Meinung nach keinen anderen Schluß zu, als daß „der Jahwismus der Propheten Monotheismus ist“83. Hinsichtlich dieser These ist festzuhalten, daß Kuenen einen doppelten Monotheismusbegriff gebraucht. Im Rahmen allgemeiner, religionstheoretischer Betrachtungen – die er zwar mit konkretem Bezug auf die Semiten im Altertum anstellt, die jedoch Allgemeingültigkeit beanspruchen – zeigt er eine Entwicklung religiöser Vorstellungen auf: vom Fetischismus über den Polytheismus hin zum Monotheismus.84 Die letzte, nicht immer ausgebildete Stufe der Religion ist Kuenen zufolge die höchste.85 Zur Zeit der Schriftpropheten war sie in der Konsequenz nicht erreicht: „Die Hebräer waren zweifellos Polytheisten.“86 Und auch wenn Kuenen vom geistigen Monotheismus der Propheten des achten Jahrhunderts v. Chr. spricht und dessen große Bedeutung für die Geschichte der israelitischen und jüdischen Religion herausarbeitete – ihm ist bewußt, daß sie noch lange Zeit später polytheistisch und nicht monotheistisch verfaßt war. Bis ins beginnende sechste Jahrhundert v. Chr. hinein seien zahlreiche andere Götter in Israel anerkannt und verehrt worden.87 Die Schriftpropheten können daher scheinbar nicht von absolut überzeugender Wirkung gewesen sein, zumindest nicht was die Durchsetzung des Monotheismus anbelangt. Doch auch was die Verknüpfung – für Kuenen ist es das wesentliche Kennzeichen der Schriftpropheten – von Religion und Ethik betrifft, gibt es im Volk Israel nicht nur Zu82
Im Niederländischen steht: „zedelijke eisen“ (A. a. O., 69) Niederländischen: „het Jahvisme der profeten is monotheïsme“ (A. a. O., 73, Hervorhebungen im Original). 84 Vgl. dazu a. a. O., 216–262. 85 „Von dem, was man Allgemeingut nennen kann oder gewöhnliche Regel, daß die Religion mit dem Fetischismus beginnt, sich später zum Polytheismus entwickelt und so erst zum Monotheismus aufsteigt – falls nämlich auch diese höchste Stufe erreicht wird –, von dieser Regel machen auch die Semiten keine Ausnahme.“ („Op hetgeen men zou kunnen noemen den algemeenen of althans gewonen regel, dat de godsdienst met fetichisme begint, zich later tot polytheïsme ontwikkelt en zoo eerst tot monotheïsme opklimt – indien namelijk ook deze hoogste trap wordt bereikt – op dien regel maken ook de Semieten geene uitzondering.“ [A. a. O., 224]) 86 „De Hebreën waren ongetwijfeld polytheïsten.“ (A. a. O., 265) 87 „Die Religion Israels war anfänglich Polytheismus. Während des achten Jahrhunderts erkannte noch die große Mehrheit des Volkes die Existenz vieler Götter an und, mehr als das, sie verehrte sie. Wir können hier hinzufügen, daß während des siebten Jahrhunderts und bis zum Beginn der babylonischen Gefangenschaft (586 v. Chr.) darin keine Veränderung erfolgte.“ („De godsdienst van Israël was aanvankelijk polytheïsme. Gedurende de 8ste eeuw erkende nog de groote meerderheid des volks het bestaan van vele goden en, meer dan dat, vereerde zij hen. Wij kunnen er bijvoegen, dat gedurende de 7de eeuw en tot het begin der Babylonische ballingschap toe (586 v. Chr.) hierin geene verandering kwam.“ [A. a. O., 222, Hervorhebung im Original]) 83 Im
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stimmung und Anerkennung. „Da sind einige […], die Jahwe ihren Gott nennen und trotzdem von seinen sittlichen Forderungen nichts wissen wollen; die meinen, sie können ihm mit Opfern und lärmenden Feiern genügen. Ihre Vorstellung von Jahwes Wesen kann gewiß nicht dieselbe sein wie die von Amos und Hosea, von Jesaja und Micha.“88 Auch wenn Kuenen dies nicht explizit ausführt, so läuft seine Argumentation doch auf einen weiteren Monotheismusbegriff hinaus, wenn er vom geistigen Monotheismus der Propheten spricht. Dieser ist mehr oder weniger der von ihm rezipierten Theorie der Religionsentwicklung gegenübergestellt. Denn durch das Auftreten und Wirken der Propheten des achten Jahrhunderts wurde die israelitische Religion Kuenen zufolge zwar auf eine neue Stufe gehoben, dies impliziert jedoch nicht die breite Anerkennung bei den Zeitgenossen.
3.5.2. Die Besonderheit der israelitischen und jüdischen Religion Mit dem von Kuenen eingeführten Begriff des „geistigen Monotheismus“89 – später wird er dann präzisierend den Begriff ‚ethischer Monotheismus‘ benutzen – spricht er der Entwicklung der israelitischen und jüdischen Religion eine Sonderrolle zu, die sie aus der allgemeinen Religionsgeschichte heraushebt. Er soll das Spezifikum der Schriftpropheten kennzeichnen. „[S]ie sprechen als Gesandte Jahwes, des Gottes Israels. Und so stark ist ihr Glaube an Jahwes Macht und Liebe für sein Volk und an die Treue, womit er seinen Versprechen nachkommt und sein Wort hält, daß das Endergebnis seiner Führung, das Schicksal seines Volkes, für keinen Augenblick unsicher scheint. Das natürliche Ergebnis ihrer Religion ist eine unerschütterliche Hoffnung in Israels Zukunft.“90 Jahwe ist der einzige Gott, daher spricht Kuenen bei diesen besonderen Propheten vom Monotheismus – auch wenn er sie damit der religiösen Entwicklung ihrer Zeit scheinbar kontrafaktisch gegenüberstellt.91 In einer Zeit, in der ganz selbstver88 „Daar zijn er […] die Jahveh hun god noemen en toch van zijne zedelijke eisen niets weten willen; die met offers en luidruchtige feestviering meenen te kunnen volstaan. Hunne voorstelling van Jahveh’s wezen kan niet wel dezelfde zijn, als die van Amos en Hosea, van Jesaja en Micha.“ (A. a. O., 77) 89 Im Niederländischen: „geestlijk monotheïsme“ (A. a. O., 368, im Original hervorgehoben). 90 „[Z]ij spreken als gezanten van Jahveh, den god van Israël. En zóó vast is hun geloof aan Jahveh’s macht en liefde voor zijn volk en aan de getrouwheid, waarmede hij zijne beloften nakomt en zijn woord gestand doet, dat de einduitslag van zijne leiding der lotgevallen van dat volk hun geen oogenblik onzeker schijnt. De natuurlijke vrucht van hun godsdienst is eene onwankelbare hoop op Israëls toekomst.“ (A. a. O., 77, Hervorhebungen im Original) 91 Dies ist festzuhalten, auch wenn Kuenen betont, daß Einheit und Einzigkeit immer Vielheit voraussetze, um die Schriftpropheten nicht gänzlich von der allgemeinen Religionsentwicklung abzukoppeln und ihr Auftreten zu plausibilisieren: „[D]ie Auffassung von Jahwes Wesen und von seinem Verhältnis zu Israel von den Propheten wird dann allein verstehbar, wenn der Gott, den sie nun als den einen erkennen, anfänglich einer von vielen gewesen ist.“ („[D]e opvatting van Jahveh’s wezen en van zijne verhouding tot Israël bij de profeten wordt
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ständlich viele Götter an vielen Orten und in je spezifischer Form verehrt wurden, legten diese Propheten mit der Forderung der Alleinverehrung Jahwes den Grund für die spätere Zentralisierung und Verrechtlichung der israelitischen und jüdischen Religion.
3.5.3. Das Beispiel der Königskritik Daß Kuenen die Schriftpropheten nur scheinbar ihrer Zeitepoche gegenüberstellt, zeigt das von ihm stark gemachte ethische Moment ihres Handelns. Besonders charakteristisch dafür ist ihre durchgängige Königskritik, die Kuenen als Beleg für die Richtigkeit seiner eigenen Theorie ansieht. „[W]ährend des ersten Jahrhunderts des Reiches Ephraim (978–884 v. Chr.) finden wir die Propheten in anhaltendem Widerspruch zur Regierung. Die wiederholten Dynastie-Wechsel, mit den Mörderschauspielen, die sie begleiteten, wurden durch sie so zwar nicht veranlaßt, aber doch angemahnt und gefordert.“92 Dieses in den prophetischen Schriften des Alten Testaments durchgängig wiederzufindende Motiv kann Kuenen nun aus der besonderen Gottesbeziehung des Volkes Israel erklären. Der Überzeugung der ‚wahren‘ Propheten zufolge fordert Jahwe Verehrung und Hingabe. So wie Jahwe sich in besonderer Weise an sein Volk Israel gebunden hat, so fordert er von ihm besondere Treue – gerade auch von seinen Anführern und Königen. Die alttestamentliche Königskritik dient Kuenen damit zur Verifikation seiner eigenen Theorie vom ‚geistigen Monotheismus‘. Denn seine Erklärung für dieses in den alttestamentlichen Überlieferungen – seiner Meinung nach schon in der Zeit vor dem babylonischen Exil – zu findende Phänomen bietet ihm umgekehrt eine Stütze seiner Erklärung der Eigenart der alttestamentlichen Prophetie. Der von dieser besonderen Gruppierung vertretene ‚geistige Monotheismus‘, der durch die von ihr vorgenommene Verschriftlichung ihrer Überzeugungen und Taten bis heute im Alten Testament bewahrt worden sei, ließ sie nicht einmal davor zurückschrecken, vor den damaligen Führungsschichten für ihre Überzeugungen einzutreten. Oder umgekehrt formuliert. Die Propheten sahen die Herrscher und ihr Gefolge als herausgehobene Kreise in einer besonderen Verantwortung. Deshalb wendete sich ihre Kritik gerade gegen sie. „Wohl nehmen sie keine Rücksicht auf die regierenden Könige und ihre Höflinge; wohl geißeln sie ohne Verschonung ihre Abirrungen, von welcher Art auch immer; aber sie tun dies als Bußprediger, nicht als Volksanführer; sie schonen die Fürsten nicht, weil sie niemanden schonen. Das Ziel, dan alleen verklaarbaar, wanneer de god, dien zij nu als den eenige erkennen, aanvankelijk een van vele goden is geweest.“ [A. a. O., 222]) 92 „Kortom: gedurende de eerste eeuw van het rijk Ephraïm (978–884 v. Chr.), vinden wij de profeten in aanhoudenden strijd met de regeering. De telkens herhaalde dynasti-wisselingen, met de moordtoneelen die ze vergezellen, worden door hen zoo al niet uitgelokt, dan toch aangemoedigd en gewettigd.“ (A. a. O., 198)
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das sie im Auge haben, ist offensichtlich nicht die Ersetzung eines Königs durch einen anderen, sondern die Umkehr von Fürst und Volk zusammen.“93 Da die Schriftpropheten mit ihrer beschränkten Macht und Wirksamkeit von der alleinigen Richtigkeit des von ihnen vertretenen ‚geistigen Monotheismus‘ überzeugt waren, wendeten sie sich Kuenen zufolge gerade an die königlichen Kreise der damaligen Zeit. Sie standen in besonderer Verantwortung für Israel. Erst wenn sie überzeugt wurden, war die allgemeine Durchsetzung des ‚ethischen Monotheismus‘ denkbar und möglich – und da sie sich von den Schriftpropheten nicht so einfach überzeugen ließen und statt dessen den Geboten Jahwes keine Folge leisteten, standen sie in besonderer Kritik. Diese ist letztendlich aber nur eine besondere Form der Verweigerung des von Jahwe geforderten Dienstes – was an der prophetischen Kritik der Zustände im je eigenen Land ablesbar ist. Und nicht nur von den jeweiligen Regierenden und dem israelitischen und jüdischen Volk fordert Jahwe Nachfolge und Verehrung, sondern seine Gebote richteten sich im Endergebnis an die ganze Welt. Für Kuenen werden die Propheten damit zu den Vorläufern und ersten Vertretern der Alleinverehrung Jahwes, wobei mit dieser Erkenntnis ein Wandel der überlieferten Rituale einhergeht. Nicht Opfer sind das Entscheidende des Jahwedienstes, sondern die innerliche Umkehr und Heiligung, die sich in entsprechenden Handlungen und einem entsprechenden Lebenswandel äußert.
3.6. Die Bedeutung der Prophetie Für Kuenen waren die prophetischen Überlieferungen des Alten Testaments von besonderer Bedeutung für die Darstellung der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte. Diese Überlieferungen, größtenteils aus dem achten Jahrhundert v. Chr., bilden die Ausgangsbasis für seine Rekonstruktion der Geschichte Israels und Judas. Für Kuenen liegt dies auch und gerade in der besonderen Bedeutung begründet, die die Geschichte für die Schriftpropheten hatte: „Die Propheten Jahwes, die im achten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in Israel wirkten, berufen sich auf die Geschichte, um zu beweisen, daß Jahwe wirklich zu seinem Volk in ganz besonderer Beziehung steht. ‚Jahwe, dein Gott vom Ägyptenland an‘: mit diesen Worten spricht Hosea eine Überzeugung aus, die wir bei den anderen Propheten wiederfinden.“94 93
„Wèl ontzien zij de regeerende koningen en hunne hovelingen niet; wèl geselen zij zonder verschooning hunne afdwalingen, van welken aard ook; doch zij doen dit als boetpredikers, niet als volksleiders; zij sparen de vorsten niet, omdat zij niemand sparen. Het doel, dat zij beoogen, is blijkbaar niet de vervanging van den koning door een anderen, maar de inkeer van vorst en volk beiden.“ (A. a. O., 199) 94 „De profeten van Jahveh, die in de achtste eeuw vóór onze jaartelling onder Israël arbeiden, beroepen zich op de geschiedenis, ten bewijze, dat Jahveh werkelijk tot hun volk in geheel bijzondere betrekking staat. ‚Jahveh, uw god van Egypte-land af‘: in deze woorden spreekt Hosea eene overtuiging uit, die wij bij de andere profeten terugvinden.“ (A. a. O., 103)
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Indem die Schriftpropheten ein besonderes Interesse für geschichtlichen Überlieferungen entwickelten, gewannen diese für sie zum einen eine gewandelte Bedeutung. Für Kuenen tritt mit dieser Form der Prophetie etwas grundsätzlich Neues auf, die Ausbildung eines historischen Sinns. Indem die Schriftpropheten der besonderen Beziehung von Jahwe und Israel ihr ganzes Interesse widmeten, begannen sie automatisch nach ihrer Entstehung, Entwicklung und ihrem Ursprung zu fragen. Der Bezug auf historische Ereignisse bekam ein ganz eigenes Gewicht in ihrem Denken und Reden.95 Und zum anderen sind die je eigenen Schriften der Propheten mit einer Art von historischem Bewußtsein geschrieben, die sie für Kuenen auch noch gegenwärtig zu wichtigen historischen Quellen werden lassen. Sie spiegeln einen zentralen religionsgeschichtlichen Wandlungsprozeß im alten Israel wider. Dabei ist die Verknüpfung von sittlichen und religiösen Forderungen bei den Schriftpropheten das Entscheidende und Neue. Sie sind die ersten Vertreter des von Kuenen später dann so genannten ‚ethischen Monotheismus‘.
4. Die Interpretation des Alten Testaments 4.1. Die Sicht der Religionsgeschichte des Alten Testaments Angesichts der Erörterung der zentralen Aspekte der Kuenenschen Sicht der Religionsgeschichte des Alten Testaments in den vorherigen Abschnitten, soll im Folgenden lediglich eine knappe Zusammenschau geboten werden, die den Fokus nochmals auf die zentralen Punkte richtet, in denen Kuenen die Diskussion weiterführte.96 Trotz oder besser gesagt gerade aufgrund der Bedeutung des Grafschen, Kuenenschen und Wellhausenschen Beitrags zur Hexateuchkritik „auf dem Feld der literarischen Analyse im engeren Sinn“97 – an den gegenwärtig wieder angeknüpft wird98 – ist dabei zu beachten, daß die auf sie zurückgehende Hypothese nicht deckungsgleich mit der sogenannten neueren Urkundenhypothese ist, die von einem weit größeren Kreis von Forschern vertreten wurde, welche sich meist dezidiert von dem Modell der drei Genannten 95 Für Kuenen steht fest, daß schon sehr früh in Israel nach dem eigenen Herkommen gefragt wurde. Besonders Genealogien waren wichtig, was durch das Auftreten der Propheten noch verstärkt worden sei. „Bereits im achten Jahrhundert v. Chr. führt Israel seinen Stammbaum auf Abram zurück.“ („Reeds in de achtste eeuw v. Chr. voerde Israël zijn stamboom op tot Abram.“ [A. a. O., 107, Hervorhebung im Original]) 96 Zurückgegriffen werden kann zudem auf die zusammenfassenden Arbeiten zu diesem Thema von Simon John De Vries und Rudolf Smend. Vgl. Simon John De Vries, The Hexateuchchal Criticism of Abraham Kuenen, in: JBL 82 (1963), 31–57; Smend, Abraham Kuenen (1828–1891) und ders., Kuenen und Wellhausen. 97 Smend, Kuenen und Wellhausen, 120. 98 Vgl. nur Kratz, Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments und die Problemanzeige von Becker, Abschied von der Geschichte?
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abgrenzten. Zudem ist die Wiedergabe von Kuenens und Wellhausens Sicht der Komposition des Hexateuchs mit den Siglen JEDP – also mit dem Jehovisten (bzw. Jahwisten und Elohisten) als ältester Urkunde (JE), dann dem Deuteronomium (D) und schließlich der Priesterschrift (P) – richtig und falsch zugleich, denn sie verdeckt bei allen Übereinstimmungen ihrer Sicht auf die Religionsgeschichte des Alten Testaments die bleibenden Unterschiede im methodischen Herangehen beider Forscher.99 Zur besseren Einordnung der Kuenenschen Arbeiten zur israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte mag es hilfreich sein, sich zunächst kurz den damaligen Stand der Kritik des Alten Testaments – und hier insbesondere des Pentateuchs, als dem zentralen Bezugspunkt der Diskussion – zu vergegenwärtigen. Rudolf Smend faßt ihn folgendermaßen zusammen: „Um 1860 gab es in der Pentateuchkritik so wenig wie jemals einen allgemeinen Konsens, wohl aber eine Mehrheitsmeinung, für die die Namen Ewald, Bleek, Tuch, de Wette stehen. Danach erhielt der Hexateuch im 7. Jahrhundert v. Chr. seine jetzige Gestalt, und zwar durch den ‚Deuteronomisten‘. Ihm lag das Werk des ‚Jehovisten‘ […] vor, der seinerseits im 8. Jahrhundert geschrieben und dem wiederum ein älteres Werk vorgelegen hatte, das ‚Buch der Ursprünge‘, verfaßt von einem Priester oder Leviten (später Priesterschrift genannt). Der Jehovist hatte diese ‚Urschrift‘ oder ‚Grundschrift‘ durch eine Fülle anderer Stoffe angereichert, der Deuteronomist fügte das Deuteronomium (sein eigenes Werk!) und verwandte Stücke hinzu.“100 Angesichts der oft konstatierten Unübersichtlichkeit in der Theoriebildung zum Alten Testament herrschte doch ein erstaunlich breiterer Konsens. Ohne hier weiter auf die erwähnten Forscher eingehen zu müssen101, ist deutlich, daß dieser damals unter einer breiten Mehrheit ganz unterschiedlicher Alttestamentler bestanden hat. Dabei ist zu beachten, daß die Verortung der als zentral für die israelitische Geschichte gewerteten Urkunden im Zeitraum vom zehnten bis zum siebten Jahrhundert die allermeisten Forscher nicht daran hinderte, teilweise weit ältere ‚historische‘ Berichte im Alten Testament zu finden – wie oben zu Ewald gezeigt. Und auffällig ist aus heutiger Perspektive ein weiterer Punkt: Die übrigen alttestamentlichen Schriften, auch die prophetischen, wurden für die Darstellung der (religions-)geschichtlichen Entwicklung Israels meist lediglich ergänzend herangezogen. Kuenen knüpfte zwar an die Forschungen de Wettes und seiner Nachfolger an, brach aber zugleich mit ihnen im Sinne der Grafschen Hypothese. Bereits in seinen frühesten Veröffentlichungen ging er dahingehend eigene Wege, daß er den Jehovisten bzw. Jahwisten nicht als bloßen Ergänzer der Priesterschrift 99 Vgl. ähnlich Smend, Kuenen und Wellhausen, 100 Smend, Abraham Kuenen (1828–1891), 573.
bes. 120.
101 Zu Bleek vgl. Kamphausen, Art. Bleek, Friedrich und zu Tuch vgl. Carl Victor Ryssel, Art. Tuch, Friedrich, in: RE3 20 (1908), 146–148.
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ansah, sondern als Verfasser eines eigenständigen Werkes. Zudem spaltete Kuenen, im Gefolge Karl David Ilgens und Hermann Hupfelds, einen zunächst sogenannten zweiten Elohisten aus der Priesterschrift ab. Mit der Priesterschrift, dem Elohisten, dem Jahwisten und dem Deuteronomium ging er von vier Urkunden aus. Und festzuhalten ist – dies gilt bereits für die Erstauflage seines ‚Historisch-kritisch onderzoek naar het ontstaan en de verzameling van de boeken des Ouden Verbonds‘ aus dem Jahr 1861: „Vor allem […] nahm Kuenen die Grundschrift, also die später sogenannte Priesterschrift, näher unter die Lupe und gewann dabei den Eindruck, daß deren legislative Bestandteile kaum durchweg aus der frühen Königszeit stammen konnten, ja daß einige von ihnen sogar jünger waren als das Deuteronomium. Dann aber war das Deuteronomium nicht einfach der jüngste Bestandteil des Hexateuchs und sein Verfasser nicht dessen Redaktor, vielmehr war die Redaktion im Sinne der Grundschrift erfolgt, die damit auf merkwürdige Weise das Ganze vom Anfang und vom Ende her zu umfassen schien.“102 Zur Behauptung der Priorität des Deuteronomiums vor der Priesterschrift im Sinne eines Leopold George oder Wilhelm Vatke rang er sich in seinen frühen Schriften nicht durch. Dies blieb dem Austausch mit Graf und dann insbesondere mit Wellhausen vorbehalten. Doch Kuenen führte schon in seinen frühen Veröffentlichungen indirekt die Forschungen eines George und eines Vatke fort – und diesem Programm blieb er zeit seines Lebens verpflichtet –, indem es ihm dezidiert um eine religionsgeschichtliche Betrachtungsweise des Alten Testaments ging. Kuenen ist der Überzeugung, daß eine historische Betrachtungsweise im Sinne eines Ewald dem besonderen Charakter des Alten Testaments nicht gerecht wird, weshalb er das Programm einer alttestamentlichen Religionsgeschichte verfolgte. Durchgeführt hat er dieses Programm in dem 1869 / 70 erschienenen und oben ausführlich analysierten Werk ‚De godsdienst van Israël tot den ondergang van den Joodschen staat‘. Die Religionsgeschichte allein sei in der Lage, einerseits dem besonderen religiösen Charakter der (alt-)israelitischen und jüdischen Urkunden gerecht zu werden, und sie allein vermag es andererseits, der besonderen Bedeutung der Religion in der Geschichte des Volkes zu entsprechen. Daher wird hier im Bezug auf Kuenen von der methodischen Ernüchterung der alttestamentlichen Religionsgeschichtsschreibung gesprochen. In gewisser Weise steht Kuenen mit seiner Position somit in der Nachfolge eines Vatke, der die besondere Leistungskraft der Hegelschen Geschichtsphilosophie erkannt und für die Interpretation des Alten Testaments fruchtbar gemacht hatte. Kuenen fand für die alttestamentliche Religionsgeschichtsschreibung die Form, in der sie nicht nur für Wellhausen maßgeblich wurde, sondern eine ganze Forschergeneration prägte. 102
Smend, Abraham Kuenen (1828–1891), 574.
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Konkret bedeutete dies für Kuenens Sicht der Religionsgeschichte des Alten Testaments, daß er eine Periodisierung vornahm, die in Details natürlich schon zu seinen Lebzeiten Korrekturen erfuhr, die in ihren Grundzügen jedoch lange Zeit unangefochtene Geltung beanspruchen konnte: Auch wenn er die Bedeutung des Mose deutlich zurückhaltender zeichnete als beispielsweise ein Heinrich Ewald, so ging doch auch Kuenen davon aus, daß die Anfänge des Volkes Israel mit Mose und seiner Wirksamkeit verknüpft sind. Auf ihn selbst führt er den Dekalog in Ex 20 zurück, wie das einhellige Zeugnis des Alten Testaments selbst berichte. Und zudem habe Mose im Dekalog die grundlegenden Prinzipien der hebräischen Religion zusammengestellt – was seiner Meinung nach ebenfalls für dessen mosaische Abkunft spreche.103 In die Zeit zwischen dem Auftreten der Richter und dem davidischen Königtum verortet Kuenen dann in der mosaischen Tradition stehende gesetzliche Überlieferungen wie beispielsweise das Bundesbuch in Ex 20,22–23,33. „From this same period came the old songs in Num 2114–17; the narratives underlying the Grundschrift, J, and E, and the old genealogies“104. Der Jahwist und der (zweite) Elohist kamen dabei als eigenständige Urkunden zu stehen. Das Deuteronomium, ebenfalls eine eigenständige Urkunde, sei schon zur Zeit des Königs Manasse von Juda zu Beginn des siebten Jahrhunderts entstanden, aber bis zur Veröffentlichung unter König Josia von Juda verloren gewesen. Die Endredaktion trennt Kuenen von der Entstehung des Deuteronomiums. Dieser vom Deuteronomisten zu unterscheidende Endredaktor habe um das Jahr 600 v. Chr. die endgültige Redaktion des Hexateuchs vorgenommen.105 Kuenen modifiziert diese Sicht später dahingehend, daß er die Entstehung der sogenannten Grundschrift, der Priesterschrift an das Ende der Entwicklung des Hexateuchs stellte und in die nachexilische Zeit datierte. Damit hatte die Hexateuchtheorie – die zugleich das Gerüst für die Darstellung der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte enthielt – durch Kuenen eine Form gefunden, in der sie bis heute zum Lehrbuchwissen zählt.106 Klassisch hat er sie in den Ausführungen seiner ab 1885 erschienenen zweiten Auflage des ‚Historisch-critisch onderzoek naar het ontstaan en de verzameling van de boeken 103
Vgl. dazu auch De Vries, The Hexateuchal Criticism of Abraham Kuenen, bes. 37 f. 38, Hervorhebung im Original. 105 „A very short period was prescribed for the work of redacting the final Hexateuch: it could not be before 600 because Lev 16, 17 and Num 16, 18, 31 were appended after composition of Deuteronomy; besides, Jeremiah is not acquainted with the Pentateuch as a complete book. On the other hand, Ezekiel presupposes the entire Pentateuch, hence the date could not be much after 590. Thus the Hexateuch was brought into its present form at about the beginning of the exile, and reflects the stage of development reached by Mosaic religion at that time.“ (A. a. O., 39 f.) 106 „Since Kuenen’s and Wellhausen’s time, these answers have come to be taken prettywell for granted among students of the Hexateuch, but when Kuenen wrote this, he was occupying new ground.“ (A. a. O., 48) 104 A. a. O.,
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des Ouden Verbonds‘ niedergelegt.107 Doch bereits ‚De godsdienst van Israël tot den ondergang van den Joodschen staat‘ aus den Jahren 1869 / 70 wurde aufgrund der dort ausführlich erörterten These zur Entstehung der Priesterschrift gelegentlich als die erste im eigentlichen Sinne kritische Geschichte Israels gewürdigt.108 Anhand der großen geistlichen und geistigen (,geestelijk‘ im niederländischen Original) Leitgestalten und ihrer Bedeutung für ihre jeweilige Epoche – insbesondere Mose, der Propheten des achten Jahrhunderts, Josia, Ezechiel und Esra – stellte Kuenen die Religionsgeschichte Israels dar. Und anhand der Besonderheit ihrer jeweiligen Wirksamkeit unterschied er eine einfach-naturverbundene, eine sittlich-prophetische und eine gesetzliche Periode der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte. Damit nahm Kuenen de facto die von Vatke eingeführte Periodisierung (wieder) auf. Den ‚geistigen Monotheismus‘ der Propheten des achten Jahrhunderts – später benutzt er dann die gemeinhin mit seinem Namen verbundene Formulierung vom ‚ethischen Monotheismus‘ – würdigt Kuenen dabei als das Charakteristikum der israelitischen Religion, das sie zu einer der bedeutendsten Religionen der Welt machte. Dieser Formel soll sich abschließend zugewendet werden.
4.2. Der ethische Monotheismus der Propheten Das auf Wellhausen und Kuenen zurückgeführte Konzept des ethischen Monotheismus hat in der alttestamentlichen Wissenschaft, insbesondere des 20. Jahrhunderts, scharfe Kritik erfahren. Als ein prominenter Kritiker, der die Vorbehalte gegenüber dieser Begrifflichkeit auf den Punkt gebracht hat, sei hier Gerhard von Rad angeführt.109 Von Rad hat sich kritisch dagegen gewandt, „die Prophe107 Vgl. nur die Zusammenfassung bei De Vries: „J and E are […] the oldest documents. J originated in the northern […] kingdom ca. 800 b. c.; E was written in the same region about fifty years later by an author familiar with J; both were supplemented and revised by Judean writers before 650 and were joined together in the late seventh or early sixth century. The core of Deuteronomy [Kuenen denkt an Dtn 12–26, Anm. M. G.] dates from the eighteenth year of Josiah; the contribution of D2 and later members of this school came largely after the beginning of the exile; toward the end of the exile they revised JE and incorporated it into their own work. None of the P material is pre-exilic; Lev 17–26, P1, originated during the exile; the rest of the material, P2, though deriving from various sources, was brought into the form of a distinct document in the postexilic period, being united with P1 shortly before Ezra’s time. Still later, such laws as those of Exod 2938–42, Lev 61–6, and Num 281–9 were added to this priestly document. A number of scribes, members of the P school, carried on a continual compilation during the half-century after Ezra, combining JED and P and adding various materials of minor importance. Thus the Hexateuch was virtually complete by the end of the fifth century b. c.“ (A. a. O., 53, Hervorhebung im Original) 108 Vgl. beispielsweise Cornelis Petrus Tiele, Abraham Kuenen, in: JAW (1892), 1–25, bes. 17. 109 Zu von Rads Prophetenverständnis vgl. oben S. 201.
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ten in corpore als die Sprecher einer Idee, etwa eines ethischen Monotheismus, eines allgemeinen, sittlichen Gott-Menschverhältnisses, zu verstehen“ da, „sie in ihrer Verkündigung ganz von der Fügung der geschichtlichen Stunde abhängig waren“110 Deutet man diesen Einspruch dahingehend, daß es sich bei von Rads Äußerung um die „Abwehr der Kategorie des ‚Monotheismus‘ für die Arbeit an einer Theologie des Alten Testaments“ handele, die exegetisch zugleich als „Abwehr eines Eintrags ihnen fremder philosophischer Spekulationen in die biblischen Texte“ und gesamttheologisch als „Abwehr einer Theologie, die sich über die Philosophie mit ihren spezifischen Denkformen und Geltungsansprüchen dem in der Schrift bezeugten Wort Gottes entfremdet“111 – so ist das eigentlich Intendierte, das Kuenen und Wellhausen mit dieser Begrifflichkeit zum Ausdruck bringen wollten, von den Füßen auf den Kopf gestellt. Hier soll es nun nicht um eine Darstellung der (berechtigten) Kritik am Konzept des ‚ethischen Monotheismus‘ gehen, wie sie in der Folgezeit geübt wurde, sondern um dessen Leistungsfähigkeit im Bezug auf das Verständnis der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte, wie es Kuenen vor Augen stand.112 Zur besseren Einordnung Kuenens lohnt dabei ein Blick auf Wellhausen – bevor auf die Herkunft und Tragweite der Begrifflichkeit eingegangen wird. Julius Wellhausen verwendet die Formel vom ‚ethischen Monotheismus‘ zunächst nicht – auch noch nicht in den erstmals 1878 erschienenen ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘. Doch greift er dort die mit der Begrifflichkeit verbundene Intention auf und nutzt sie zur Kennzeichnung einer für ihn grundlegend wichtigen Unterscheidung – nämlich der zwischen israelitischer und jüdischer Religion. Dabei unterscheidet er den für die Religion Altisraels bestimmend gewordenen „prophetischen Monotheismus“ (PzGI1 241, PzGI6 227) vom „strengen Monotheismus“ (PzGI1 440, PzGI6 421) bzw. an anderer Stelle vom „supranaturalistischen Monotheismus“ (PzGI1 442, ab der 1886 erschienenen dritten Auflage spricht er vom „supranaturalen Monotheismus“ [PzGI3 445]) des nachexilischen Priestergesetzes, welches für die jüdische Religiosität bestimmend geworden sei. In seiner 1894 erstmals erschienenen ‚Israelitischen und jüdischen Geschichte‘ nutzt Wellhausen ihn dann ganz selbstverständlich zur Kennzeichnung der ‚wahren‘ Propheten Israels, denen Jahwe zum Gott der Gerechtigkeit geworden ist und der nur der Gott Israels ist, wenn sein Volk seinen Ansprüchen genügt: „Dies ist der sogenannte ethische Monotheismus der Propheten; sie glauben an 110 Von Rad, Theologie des Alten Testaments II, 199 f. 111 Marie-Theres Wacker, „Monotheismus“ als Kategorie
der alttestamentlichen Wissenschaft. Erkenntnisse und Interessen, in: JbPT 4 (2002), 50–67, 54. 112 Einen informativen Querschnitt zur Diskussion des (ethischen) Monotheismus in der jüngeren alttestamentlichen Wissenschaft bietet Wacker. Sie diskutiert neben von Rad die Positionen Bernhard Langs, Werner Hermann Schmidts, Othmar Keels, Christoph Uehlingers und Silvia Schroers. Vgl. Wacker, „Monotheismus“ als Kategorie der alttestamentlichen Wissenschaft.
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die sittliche Weltordnung, an die ausnahmslose Geltung der Gerechtigkeit als obersten Gesetzes für die ganze Welt.“ (IujG1 75, IujG7 108) Die Kultkritik der israelitischen Propheten versteht er dabei als eine Folge der Bindung der religiösen Forderungen an den unbedingten Willen Jahwes: „Die negative Consequenz ihres ethischen Monotheismus ist ihre Polemik gegen den Cultus, sofern nämlich der Cultus ein Versuch ist, den allgemeinen Bedingungen der Gerechtigkeit zu entgehen und eine Ausnahmestellung zur Gottheit zu erlangen, damit sie von ihrer Strenge zu Gunsten der Opfernden absehe.“ (IujG1 76, mit Rechtschreibkorrekturen: IujG7 109) Trotz ihres freien, charismatischen Handelns; trotz ihres Dringens auf eine Änderung der innerlichen Gesinnung und der daraus abgeleiteten äußerlichen Moral sind die israelitischen Propheten für Wellhausen damit letztlich im eigentlichen Sinne zu den Begründern der jüdischen Gesetzesreligion geworden.113 Verwendung findet der Begriff bei Wellhausen zum ersten Mal in einem als Manuskript gedruckten Text zur Geschichte Israels aus dem Jahr 1880, der von ihm selbst u. a. in der Göttinger Universitätsbibliothek deponiert war. Dort findet sich die Überlegung, daß das Dringen der Propheten auf die Beachtung von Gottes Forderungen den nationalen Charakter der altisraelitischen Religiosität zerstörte und zum ‚Universalismus‘, zur ‚Verallgemeinerung‘ und zur ‚Individualisierung‘ der Religion führte.114 Daher versteht Wellhausen die israelitischen Propheten als „die Begründer des ‚ethischen Monotheismus‘. Dieser ethische Monotheismus […] war ein Fortschritt, der lediglich durch die Geschichte angeregt wurde. Die göttliche Providenz bewirkte, daß dieser geschichtliche Anstoß zu rechter Zeit und nicht auf einmal eintrat. Der Untergang der Nation erfolgte erst zu einer Zeit, als die religiöse Sitte und Wahrheit schon stark genug waren, um unabhängig fortzuleben; den Propheten kommt das Verdienst zu, ihre Unabhängigkeit erkannt und Israel dadurch verewigt zu haben, daß sie Jahve nicht mit in den Sturz des Volkes verwickelten. Sie retteten den Glauben, indem sie die Illusion zerstörten.“115 Aufgenommen hat Wellhausen diese nicht veröffentlichten Ausführungen in einem ein Jahr später in der neunten Auflage der ‚Encyklopaedia Britannica‘ erschienenen Lexikonartikel.116 Erstmals in deutsch publizierte er diese Überlegungen in erweiterter Form im Jahr 1884 in den ‚Skizzen und Vorarbeiten. Erstes Heft. 1. Abriss der Geschichte Israels und Juda’s. 2. Lieder der Hudhailiten, arabisch und deutsch‘117. Wellhausens Rede vom ‚sogenannten‘ ethischen Monotheismus bzw. die von 113 „Den Propheten ist an der Hand der Weltgeschichte der furchtbare Ernst der Gerechtigkeit Jahves aufgegangen, sie sind die Begründer der Religion des Gesetzes, nicht Vorläufer des Evangeliums.“ (IujG1 77, IujG7 110) 114 Vgl. Julius Wellhausen, Geschichte Israels, in: Ders., Grundrisse zum Alten Testament, 13–64, bes. 48 f. 115 A. a. O., 49. 116 Vgl. Julius Wellhausen, Art. Israel, in: EBrit9 13 (1881), 396–432, bes. 410–412. 117 Erschienen in Berlin. Vgl. dort a. a. O., 3–102, bes. 50.
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ihm verwendeten Anführungszeichen sind als ein Verweis auf Kuenen zu lesen.118 Wie oben gezeigt, hat auch Abraham Kuenen zunächst nicht vom ‚ethischen‘, sondern vom ‚geistigen Monotheismus‘ der israelitischen Propheten gesprochen. Prominent eingeführt wird die Formel dann im Jahr 1875 im zweiten Band seiner Prophetenstudie, in Form einer rhetorischen Frage: „Was haben die Propheten Israels zuwege gebracht? Was war das Ergebnis ihrer Arbeit und welchen Wert haben wir dem beizumessen? Der ethische Monotheismus ist ihre Schöpfung. Sie sind selber zum Glauben an einen einigen, heiligen und rechtfertigenden Gott gelangt, welcher seinen Willen ob seiner sittlichen Güte in der Welt verwirklichte, und haben diesen Glauben, durch Verkündigung und Schrift, zum unveräußerlichen Eigentum unseres Geschlechts gemacht.“119 Auch wenn die These vom ethischen Monotheismus der israelitischen Propheten des achten Jahrhunderts in der Kuenenschen und Wellhausenschen Fassung in der heutigen alttestamentlichen Forschung so nicht mehr vertreten wird, sind doch einige richtungsweisende Gesichtspunkte festzuhalten: Zum einen geht es Kuenen mit der Begriffsbildung nicht um eine spekulative, philosophische Erklärung der Entstehung des Monotheismus im Allgemeinen, sondern er möchte eine von ihm ausgemachte historische Auffälligkeit erklären. Seiner Meinung nach stellen das Wirken und die Schriften der israelitischen Propheten ein besonderes religionsgeschichtliches Phänomen dar, welches er mit dieser Begriffsbildung erklären möchte. Natürlich zeigt er mit dem ethischen Monotheismus ein Charakteristikum auf, das die israelitische und jüdische Religion von den Religionen ihrer Umwelt trennt – von Wellhausen dann als ‚Universalisierung‘, ‚Verallgemeinerung‘ und ‚Individualisierung‘ der Religion beschrieben. Kuenen ist aber der Überzeugung, daß er doch eine angemessene Kategorie für die von ihm als historisch verstandene Beschreibung der damaligen religiösen Grundannahmen, der für verbindlich angenommenen Forderungen, der Thora Jahwes gefunden hat. Von einer durch die Moderne geprägten Formulierung zu sprechen, die den eigentlichen, genuinen altisraelitischen und jüdischen Riten und Ritualen nicht gerecht wird, geht an der Intention Kuenens vorbei. Damit hängt – zum anderen – eng zusammen, daß Kuenen zwar der Überzeugung ist, daß eine den Bedingungen der Moderne gerecht werdende Erklä118 Zur sukzessiven Ausarbeitung der Darstellung der Geschichte des alten Israels und des Judentums durch Wellhausen vgl. Rudolf Smend, Nachwort zur Neuausgabe, in: Julius Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 102004 (ND der 7. Auflage 1914), 373–388. 119 „Wat hebben de Israëlietische profeten tot stand gebracht? Welk was het resultaat van hunnen arbeid en welke waarde hebben wij daaraan toe te kennen? Het ethische monotheïsme is hunne schepping. Zij zijn zelven opgeklommen tot het geloof in één eenig, heilig en rechtvaardig God, die zijnen wil of het zedelijk goede in de wereld verwezenlijkt, en hebben dat geloof, door prediking en geschrift, tot het onvervreemdbaar eigendom van ons geslacht gemaakt.“ (Kuenen, De profeten en de profetie onder Israël 2, 361, Hervorhebung im Original)
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rung der alttestamentlichen Religionsgeschichte, daß ein Verständnis der sich im Alten Testament niedergeschlagenen religiösen Erfahrungen und Erlebnisse vor der Herausforderung steht, mit Hilfe moderner Begrifflichkeit eine längst vergangene Epoche der Religionsgeschichte erklären zu müssen. Und Kuenen ist sich natürlich bewußt, daß die Kategorie des ‚ethischen Monotheismus‘ von den israelitischen Propheten nicht verwendet wurde und außerhalb ihres geistigen Horizontes gestanden hat. Von vornherein davon auszugehen, daß eine derartige Beschreibung der Religion Altisraels und des Judentums zum Scheitern verurteilt ist, würde Kuenen jedoch als eine Kapitulation vor jeglichen Versuchen historischen Verstehens ansehen. Ist doch ein Spezifikum des Alten Testaments, um eine Überlegung Wellhausens aus den ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘ aufzugreifen, daß die ursprünglich freie, individuelle und plurale Religiosität Israels, die zunächst mündlich weitergegebene ‚Thora Jahwes‘, nach und nach verschriftlicht und damit zur ‚Thora Jahwes‘ als dem alttestamentlichen (Kult-)Gesetz wurde. Zum dritten ist Kuenen der Annahme, mit dem ‚ethischen Monotheismus‘ eine Kategorie gefunden zu haben, die in der Lage ist, den Entwicklungsschritt vom partikularen zum universalen Geltungsanspruch des Jahweglaubens zu erfassen – mithin eine der zentralen Phase der alttestamentlichen Religionsgeschichte. Unabhängig von ihrer Verortung bei den israelitischen Propheten des achten Jahrhunderts stellt sich auch in der gegenwärtigen Forschung noch die Frage nach der Genese der für das Alte Testament spezifischen Verbindung von Jahweglauben und Sittlichkeit. Dabei hat gerade Kuenen gezeigt, daß das Alte Testament nur als religiöse Schrift richtig zu verstehen sei, als Reflexion über den Willen Jahwes, die Herkunft und Ausbildung seiner im religiösen Sinne als unbedingt zu verstehenden Forderungen und deren Wirkung. Der ethische Monotheismus steht für die Bindung sämtlicher religiöser Maximen – und deren Befolgung – an den Willen Gottes. Eine Gegenüberstellung der kultischen Praxis in Altisrael und im Judentum auf der einen Seite und des ethischen Monotheismus als Reflexion darüber auf der anderen Seite widerspricht geradezu der Logik des Begriffs. Mit dem ‚ethischen Monotheismus‘ greift Abraham Kuenen einen Begriff auf, der den religionsphilosophischen Diskussionen im Anschluß an aufklärerische und idealistische Denker entstammen dürfte.120 Sowohl in christliche als auch in jüdische Diskurse hat er Eingang gefunden. Ohne Anspruch darauf zu erheben, die genaue Herkunft des Begriffs angeben zu können – eine systema120 Gelegentlich wird sogar der jüdische Philosoph, Rechtsgelehrte und Arzt Moses Maimonides aus dem 12. Jahrhundert ins Spiel gebracht. Vgl. George Y. Kohler, Maimonides and Ethical Monotheism. The Influence of the Guide of the Perplexed on German Reform Judaism in the Late Nineteenth and Early Twentieth Century, in: James T. Robinson (Hg.), The Cultures of Maimonideanism. New Approaches to the History of Jewish Thought (The Journal of Jewish Thought and Philosophy. Supplements 9), Leiden 2009, 309–334.
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tische Untersuchung zum ‚ethischen Monotheismus‘ ist leider ein Desiderat der Forschung –, seien hier zur besseren Einordnung desselben zwei frühe Verwendungen benannt. 1833 veröffentlicht der Alttestamentler Franz Xaver Pritz (1791–1872), Professor in Linz, eine durchaus eigenwillige Abhandlung. In ihr nimmt er Überlegungen auf, die an diejenigen Rousseaus zum guten Naturzustand der Menschheit erinnern – diesen allerdings nicht in der ursprünglichen Natürlichkeit und Freiheit erblickend, sondern im (katholischen) Christentum. Ausgehend von der Annahme, es habe anfänglich einen Zustand reiner Bildung und wahrhafter Religiosität gegeben, der ‚verwildert‘ worden sei121, vertritt er die These: „Die Geschichte weiset uns auf den ethischen Monotheismus, als auf die Urreligion der Menschheit hin, und lehret uns, dieselbe der sich offenbarenden Gottheit verdanken.“122 Pritz’ Meinung nach zeige die Geschichte, daß Religion und Wissen, Glauben und Denken ursprünglich eins gewesen seien, wobei der Religion die Priorität zukomme.123 Ein Gang durch die chinesische, indische, persische Geschichte – sowie die der Ägypter, Araber, Babylonier und zahlreicher weiterer Völker – dient ihm als Beleg und Nachweis, daß es eine Urreligion gegeben haben müsse.124 Damit vertritt Pritz eine Position, die der breiten Mehrheitsmeinung der damaligen Forscher entgegengesetzt war: „[I]n der Religions-Geschichte aller Völker ist das Vielfache das Jüngere, immer geht die Idee in Symbol, und dieses in Mythus über; stets wächst der Polytheismus, zahllos werden die Gottheiten, und die Personification und Mythen vermehren 121 „Rohe Völker sind nicht das wahre Bild des ursprünglichen Menschengeschlechtes; sie sind nur verwilderte und ausgeartete Stämme, dergleichen und die alte und neuere Geschichte aufführt. Denn auch unter diesen nun so ungebildeten Völkern findet man oftmahls sinnvolle Mythen, historische Denkmähler und religiöse Sagen, welche auf eine bessere, gebildetere Zeit hinweisen.“ (Franz Xaver Pritz, Über den Monotheismus als Urreligion der Menschheit. Ein Versuch, in: NTZ 6.1 [1833], 189–210.305–329 und 6.2 [1833], 26–50, 190) 122 A. a. O., 195. 123 „Religion ist das Älteste, was wir finden, so weit die Geschichte, ja selbst die dunkle, ferne Sagenwelt reicht; sie ist gleichsam die Basis alles Seyns der Menschheit und der Geschichte. Die ältesten Sagen sind religiöse; die Mythen enthalten religiöse Ideen; die ältesten Monumente sind zur Ehre der Gottheit errichtet; Alles hat auf sie Bezug, und sie ist der Grund aller Bildung. Alles kleidet sich daher auch in religiöses Gewand; in der Dichtkunst und in den geschichtlichen Sagen spielen die Götter die Hauptrolle. Die ältesten Kämpfe sind solche, die aus verschiedenen religiösen Ansichten entstehen […]; Alle Philosophie ist religiös, denn im Oriente kannte man die Trennung der Religion von der Philosophie nicht; die ältesten Systeme gründen sich auf dieselbe; Glaube und Wissen war Eins in der Urwelt, weil alles Wissen religiös war.“ (A. a. O., 194) 124 „In diesen drey Religionen, als den ältesten, sind auch ohne Zweifel unter den heidnischen die Grundzüge der Urreligion am deutlichsten enthalten; bey den andern, größtentheils aus jenen ausgegangenen Völkern finden wir schon mehr eine sinnliche, materielle Religion; sie haben nur wenige religiöse Sagen, Nachrichten oder Religions-Bücher aus der ältesten Zeit. Indessen einige Spuren des Daseyns einer schönern ältern Religion zeigen sich auch hier; Lehren, welche viel zu rein und geistig sind, als daß sie das Product einer Periode seyn konnten, wo Alles so sinnlich, und die Natur allein die Basis der Religion geworden war.“ (A. a. O., 312)
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sich gränzenlos“125. Am reinsten sei die einfache Urreligion im Alten Testament erhalten geblieben.126 Dabei scheint Pritz den Begriff des ‚ethischen Monotheismus‘ einerseits aufgenommen zu haben, weil er mit ihm eine besondere Innigkeit, Erhabenheit und Lebendigkeit der Religion ausgedrückt findet, und andererseits, weil er ihm de facto die Rechtgläubigkeit des katholischen Christentums sichert, die seit jeher bestanden habe. Ganz anders sieht dies Salomon Formstecher (1808–1889)127, ein deutscher Rabbiner aus Offenbach, dessen Einsatz für die jüdische Reformbewegung große gesellschaftliche und politische Beachtung fand. Er veröffentlichte im Jahr 1841 eine religionsphilosophische und -geschichtliche Darstellung des Judentums128, in der er den ‚physischen Monotheismus‘ des Heidentums vom ‚ethischen Monotheismus‘ des Judentums unterschied.129 Dabei ordnet Formstecher den jüdischen Geistesglauben dem heidnischen Naturdienst über – ausgehend von Überlegungen zur natürlichen und naturgebundenen Religiosität 125
A. a. O., 207. Genesis ist ohne Zweifel eines der ältesten Bücher, in dem über alle Mythen herrlich der Geist der Urwelt weht; ihre Nachrichten reichen bis zum Beginne der Geschichte selbst hinan; sie enthält nicht bloß Erzählungen aus dem Leben der Vorväter der Hebräer, sondern ist in ihren ersten Blättern eigentliche Weltgeschichte, und enthält die reinsten und schönsten Überlieferungen aus der Urzeit des Menschengeschlechtes.“ (A. a. O., 26 f.) 127 Zu Formstecher vgl. Bettina Kratz-Ritter, Salomon Formstecher – ein deutscher Reformrabbiner (Wissenschaftliche Abhandlungen des Salomon-Ludwig-Steinheim-Instituts für Deutsch-Jüdische Geschichte 1), Hildesheim 1991. 128 Zur Bedeutung des Werkes vgl. Thomas Meyer, Salomon Formstechers „Religion des Geistes“ – Versuch einer Neulektüre, in: Aschkenas 13 (2003), 441–460. 129 „Mysterium zu Cultus verhält sich wie Ideal zur Wirklichkeit; was in letzterem als Volksritus unbewußt sich erhält, das zeigt sich in ersterem als erkanntes Resultat des nach Wissen strebenden Geistes. Mysterium und Cultus sind somit wesentliche Elemente des Heidenthums, aber nicht des Judenthums, denn der physische Monotheismus des ersteren ist das Resultat des psychologischen Progressus, zu welchem nur der Priester, aber nicht die Gesammtmasse des Volkes sich erheben kann; diese vergöttert die Natur in ihrer Erscheinung und nicht in ihrem Ideale. Der ethische Monotheismus des letztern aber lehrt […] einen Gott, der zwar in der Natur, aber nicht nur in derselben, sondern auch über derselben wirkt und auch ohne eine Welt noch ein Dasein hat. Seine Einheit ist eine concrete, aber nicht erst eine durch die Abstraction aus der Vielheit gewonnene Totalität; er kann deßhalb, ohne durch einen dialektischen Prozeß ermittelt zu sein, als einziges Wesen in das Bewußtsein des Volkes treten und hat nicht nöthig nur in den Mysterien einiger Erleuchteten zu weilen. Das Volksleben des Judenthums zeigt den Monotheismus, das des Heidenthums den Polytheismus; eine gewisse Aehnlichkeit scheinen zwar beide in ihren Mysterien […] darzustellen, in welchem das Verhältnis Gottes zur Welt […] erklärt werden soll; doch zeigen beide ihre charakteristischen Grundzüge darin: daß das Heidenthum in seinem physischen Monotheismus nur die in der Natur […] sich manifestirende Weltseele erkennt […], und daß das Judenthum in seinem jüdisch-heidnischen Elemente als Kabbala, vermöge seines ethischen Monotheismus zwar auch jene Weltseele anerkennt […], aber seinen Gott […] auch als von der Welt unabhängiges, seines Selbst bewußtes, freies Wesen darstellt.“ (Salomon Formstecher, Die Religion des Geistes, eine wissenschaftliche Darstellung des Judenthums nach seinem Charakter, Entwicklungsgange und Berufe in der Menschheit, Frankfurt am Main 1841, 108 f., Hervorhebung im Original) 126 „Die
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des menschlichen Geschlechts im Allgemeinen, wobei der Klimabegriff das Gewicht auf die Ereignisse legt, die diese besonderen, religiösen Beziehungen bestimmen: „Nicht an einem Clima gebunden ist […] das Ideal des geistigen Individuallebens; nicht nur in, sondern zugleich auch über der Natur stehend findet das Judenthum seinen Gott, […] frei von allen climatischen Verhältnissen kann es seinen Gott als reinen Geist auf allen Ecken der Erde verehren; Universalismus ist darum sein vorzüglichstes Eigenthum.“130 Doch nicht nur gegenüber dem ‚Heidentum‘, sondern auch gegenüber Christentum und Islam131 – die Formstecher letztlich als Sekten des Judentums ansieht – ist es gerade der ‚ethische Monotheismus‘, der den jüdischen Glauben gegenüber den anderen Richtungen auszeichnet. Das heißt, daß er das Judentum als Geistreligion versteht, als die wahre Religion schlechthin. Mit an Hegelsche Denkfiguren erinnernden Formulierungen spricht Formstecher davon, daß die Religion im Judentum erst ihre ‚concrete‘ Einheit – gemeint ist der Jahweglauben – gefunden habe. Im ethischen Monotheismus des Judentums ist aus der ‚Vielheit‘ der religiösen Ansichten durch ‚Abstraction‘ eine konkrete ‚Einheit‘ geworden, was Formstecher als dialektischen Prozeß im Hegelschen Sinne verstehen möchte. Heidentum, Islam und Christentum kommen dabei, wenn auch auf verschiedenen Stufen im Rahmen dieses Prozesses, als Vorformen bzw. das Wesentliche nicht bewahrende Ableitung der eigentlichen, wahren, jüdischen Religion zu stehen – so die These Formstechers. „Er formuliert ein dezidiert modernes Verständnis des Judentums als positiver Religion auf Grundlage der Auseinandersetzung mit Offenbarung und Prophetie und verfolgt die Zielsetzung, die Rolle des Judentums in einer säkularen, nicht-jüdischen Umwelt neu zu definieren.“132 Auf diese Im130
A. a. O., 67. „Das Christenthum ist religiöse Philosophie und modificirt sich deßhalb stets nach der Wechselwirkung der Religion auf die Wissenschaft und dieser auf jene; der Islam ist religiöse Poesie und hebt dadurch alle Wechselwirkung zwischen Religion und Wissenschaft auf. Ersteres zeigt sich in seiner Methode productiv schaffend, tritt mit activem, subjectivem Character auf und stellt einen selbständigen, organisch sich fortbewegenden Entwicklungsgang dar; letzterer dagegen zeigt eine receptive Reproduktion, sein Charakter ist hingebend der äußeren Einwirkung, somit passiv und objectiv, er erlaubt statt eines frei organischen Entwicklungsganges nur eine von äußerer Einwirkung abhängige Bewegung, und kann die gänzliche Entfernung seiner mit aufgenommenen Elemente nur dadurch erlangen, wenn [er, …] seine durch freies Denken gewonnenen Resultate der Weltanschauung gänzlich auch in sein religiöses Leben aufnimmt.“ (A. a. O., 412 f.) 132 Kerstin von der Krone, Wissenschaft in Öffentlichkeit. Die Wissenschaft des Judentums und ihre Zeitschriften (SJ 65), Berlin / Boston 2012, 329. Vgl. dort auch den Überblick zur jüdischen Rezeption und Befruchtung der deutschen Philosophie, Philosophiegeschichte und Religionsphilosophie im Rahmen der sogenannten ‚Wissenschaft des Judentums‘ (A. a. O., bes. 327–374). Leider findet sich in ihrer Monographie, obwohl das Thema angeschnitten wird, kein einziger direkter Beleg zum ‚ethischen Monotheismus‘. Zu Formstecher wird nur auf die Sekundärliteratur verwiesen. Im späteren Abschnitt zu Hermann Cohen werden nur Schriften angeführt, in denen der Begriff nicht vorkommt, um zu belegen, daß er „den ethischen Monotheismus als Ziel- und Fluchtpunkt jüdischen Denkens“ (A. a. O., 355) ansieht. Andererseits werden für das Thema einschlägige Beiträge nicht erwähnt, wie beispielsweise der 1917 er131
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pulse durch jüdische Forscher wird im folgenden Kapitel zu Abraham Geiger weiter eingegangen. Hier ging es lediglich darum aufzuzeigen, daß Kuenen mit dem ‚ethischen Monotheismus‘ eine Begrifflichkeit aufgreift, die eine längere Vorgeschichte hatte, und daß er ihr eine spezifische Prägung gibt. Darauf soll nun noch einmal zurückgekommen werden.133 In den Hibbert-Vorlesungen ‚Volksreligion und Weltreligion‘ aus dem Jahr 1882 findet sich eine Ausführung, die die Kuenensche Sicht des ethischen Monotheismus der Propheten des achten Jahrhunderts zusammenfaßt. Hier nimmt er ein Zitat aus dem ebenfalls schon erwähnten Artikel ‚Israel‘ von Julius Wellhausen aus der ‚Encyklopaedia Britannica‘ auf – im Deutschen zitiert nach dem 1965 von Rudolf Smend veröffentlichten Manuskript zur ‚Geschichte Israels‘134. Mit dessen Hilfe möchte Kuenen deutlich machen, daß im Monotheismusbegriff stets eine universalistische Komponente mitgesetzt ist, was indirekt eine Abgrenzung von den Positionen von Pritz und Formstecher bedeutet, die den Begriff für die christliche bzw. für die jüdische Religion reklamieren: „So ‚nahmen die Propheten‘ – um […] mit Wellhausen zu reden […] – ‚den Begriff der Welt, der die Religionen der Völker zerstörte, in die Religion auf, ehe er noch recht in das profane Bewusstsein eingetreten war. Wo die Anderen den Zusammensturz des Heiligsten erblickten, da sahen sie den Triumph Jahwe’s über den Schein und über den Wahnglauben‘. Was sich auf diese Weise vor den Augen ihres Geistes enthüllte, war nichts geringeres als die Idee einer sittlichen Weltregierung. Noch unentwickelt und mit allerlei Irrtümern vermischt, aber doch im Principe rein. In den wechselseitigen Zusammenhang der Naturkräfte schienene: Hermann Cohen, Der ethische Monotheismus der Propheten und seine soziologische Würdigung, in: Ders., Werke 17. Kleinere Schriften VI. 1916–1918. Bearb. und eingeleitet von Hartwig Wiedebach, Hildesheim / Zürich / New York 2002, 493–502. – Erwähnt seien noch der Aufsatz von David Patterson, Ethischer Monotheismus, in: JbPT 4 (2002), 68–80, der sich mit Moritz Lazarus’, Cohens, Franz Rosenzweigs, Emmanuel Lévinas’ und Emil Fackenheims Verwendung des Begriffs ‚ethischer Monotheismus‘ beschäftigt, jedoch (ebenfalls) an keiner Stelle einen direkten Beleg bietet. Ebenfalls nicht wirklich an der Begriffsgeschichte interessiert sind die Beiträge in Theodore M. Vial / Mark A. Hadley (Hgg.), Ethical monotheism, past and present. Essays in Honor of Wendell S. Dietrich (BJS 329), Providence 2001. 133 Zur späteren Rezeption der Kuenenschen Begrifflichkeit vgl. u. a. Klaus Koch, Art. Propheten / Prophetie II. In Israel und seiner Umwelt, in: TRE 27 (1997), 477–499, bes. 477 f., sowie Gerald Hartung, Der ‚eminent historische Charakter jüdischer Prophetie‘ bei Julius Wellhausen, Max Weber und Hermann Cohen, in: Hans Martin Dober / Matthias Morgenstern (Hgg.), Religion aus den Quellen der Vernunft. Hermann Cohen und das evangelische Christentum (RPT 65), Tübingen 2012, 96–115 und Eckart Otto, Die hebräische Prophetie bei Max Weber, Ernst Troeltsch und Hermann Cohen. Ein Diskurs im Weltkrieg zur christlich-jüdischen Kultursynthese, in: Wolfgang Schluchter / Friedrich Wilhelm Graf (Hgg.), Asketischer Protestantismus und der ‚Geist‘ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005, 201–255. Zu Cohen vgl. Rudolf Smend, Cohen und die alttestamentliche Wissenschaft seiner Zeit, in: Dober / Morgenstern (Hgg.), Religion aus den Quellen der Vernunft, 86–95. 134 Dort 48.
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und -wirkungen haben die Propheten keinen Einblick gehabt. An die Möglichkeit, sie auf eine Ursache zurückzuführen oder daraus abzuleiten, haben sie nicht gedacht. Wohl aber sahen sie, so weit ihr Blick reichte, die Verwirklichung eines Planes – alles, nicht allein das Gewühl der Völker, sondern auch die gesammte Natur, der Verwirklichung eines grossen Zieles dienstbar gemacht. Die Bezeichnung ‚ethischer Monotheismus‘ kennzeichnet besser als irgend eine andere die Eigenart ihrer Anschauungsweise, weil sie nicht nur den Charakter des einen Gottes, den sie anbeten, sondern auch die Quelle bezeichnet, woraus der Glaube an ihn entsprungen ist.“135 Kuenen spielt mit der Doppelbedeutung, die seiner Meinung nach im Begriff des ‚ethischen Monotheismus‘ mitgesetzt ist: Einerseits ist er der Überzeugung, daß das Phänomen der israelitischen Prophetie eine grundsätzliche Neuerung in der Religionsgeschichte bedeutete. Ihnen verdanke die Menschheit den Glauben an einen Gott: Jahwe handelt an der Welt und in der Welt. Dabei komme Israel als seinem Volk zwar eine besondere Bedeutung zu. Letztlich stehe Gott aber über allen nationalen Eingrenzungen. Seine – die Religiosität Israels und seiner Umwelt bis dahin kennzeichnende – Bindung an das Tun und Ergehen eines Volkes stelle einen ‚Wahnglauben‘ dar, denn Gott müsse größer als alle irdischen Gegebenheiten gedacht werden. Der Monotheismus, den die israelitischen Propheten noch nicht gedanklich durchdrungen hätten, der aber in der Konsequenz ihres Handelns läge, richte sich an die ‚Welt‘ und an den Einzelnen zugleich, denn er bedeute das Ende der Volksreligion, indem es die religiösen Forderungen als an jedes einzelne Individuum direkt gerichtet ansehe. Andererseits – und dies schließt eng an das soeben Dargestellte an – ist Kuenen der Überzeugung, daß die israelitischen Propheten zwar eine in der Konsequenz grundsätzlich neue Idee von Gott hatten, diese aber erst im Laufe der folgenden Jahrhunderte nach und nach zu Bewußtsein kam. Bei Wellhausen heißt es dazu: „Die kanonischen Propheten […] unterscheiden sich wesentlich von der bis dahin üblichen und auch später noch gewöhnlichen Art. Sie begeis135 Kuenen, Volksreligion und Weltreligion, 124 f., Hervorhebungen im Original. Im Niederländischen steht: „Zoo ‚namen de profeten‘ – om nog eens met Wellhausen te spreken […] – ‚het begrip ‚wereld‘, dat de godsdiensten der volken te gronde richtte, in den godsdienst op, vóórdat het nog goed in het profane bewustzijn was binnengedrongen. Waar anderen het heiligste zagen ineenstorten, daar aanschouwden zij den triomf van Jahwe over den schijn en het bijgeloof‘. Wat zich op die wijze voor het oog huns geestes onthulde, was niets minder dan de idee eener zedelijke wereldregeering, nog onontwikkeld en met velerlei dwaling vermengd, maar tooch in beginsel zuiver. Van den onderlingen samenhang der natuurkrachten en -werkingen hebben de profeten geen besef gehad. Aan de mogelijkheid om ze tot ééne oorzaak terug te brengen of daaruit af te leiden heben zij niet gedacht. Maar wèl zagen zij, op het gebied dat hun blik omvatte, de verwezenlijking van één groot doel. De benaming ‚ethisch monotheïsme‘ kenschetst beter dan eenige andere de eigenaardigheid hunner zienswijze, omdat zij niet alleen hat karakter van den éénen God, dien zij aanbidden, uitdrukt, maar ook de bron aanduidt, waaruit het geloof in Hem is opgeweld.“ (Kuenen, Volksgodsdienst en wereldgodsdienst, 105, Hervorhebung im Original)
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terten und fanatisierten nicht die Menge, sie schwammen nicht mit, sondern gegen den Strom. Sie waren nicht patriotisch, wenigstens nicht im gewöhnlichen Sinne, sie verkündeten kein Heil für das Volk, sondern Böses (Jer. 28, 8). Bis dahin war die Nation aus Jahve heraus gewachsen, jetzt wuchs Jahve über die Nation hinaus. […] Als Gott des Rechtes, welches das Gesetz der ganzen Welt ist, konnte Jahve nur insofern der Gott Israels sein, als hier das Recht vorzugsweise bekannt und anerkannt war. Die Moral zerstörte den nationalen Charakter der Religion.“136 Mit dem ‚ethischen Monotheismus‘ meint Kuenen eine Kategorie gefunden zu haben, die das zur Zeit der israelitischen Propheten des achten Jahrhunderts bestehende Changieren zwischen diesen beiden Extremen zum Ausdruck bringt – dem tatsächlichen Glauben an einen einzigen Gott auf der einen Seite und der Unbekanntheit dieser Vorstellung im eigentlichen Sinne des Wortes auf der anderen Seite. So versteht er die alttestamentlichen Propheten zugleich als Vertreter eines ‚wirklichen Monotheismus‘137, wofür sich zahlreiche Belege in den von ihnen hinterlassenen Schriften fänden und als Vertreter eines ‚werdenden Monotheismus‘138, als Übergangsgestalten hin auf dem Weg zur Ausbildung einer zugleich allgemeinen und individualisierten Weltreligion. Unbeschadet aller Schwächen dieser Begriffsbildung hat Kuenen mit dem ‚ethi136 137
Wellhausen, Geschichte Israels, 48. „[I]ch sehe in jenen starken Aussprüchen der Propheten wirklichen Monotheismus und leugne nur, dass sie ihn bereits als bleibenden Besitz gewonnen hatten: hier und da erheben sie sich zur Anerkennung der Einzigkeit Jahwe’s und der Leugnung ‚der anderen Götter‘, aber gewöhnlich halten sie sich noch an die Monolatrie, in der sie, wenigstens die älteren von ihnen, aufgewachsen waren.“ (Kuenen, Volksreligion und Weltreligion, 318, Hervorhebungen im Original. Im Niederländischen steht: „Niet de mijne, want ik zie in die krasse uitspraken der profeten werkelijk monotheïsme en ontken alleen, dat zij het zich reeds als blijvend bezit verworven hadden: nu en dan verheffen zij zich tot de erkenning van Jahwe’s eenigheid en de loochening van ‚de andere goden‘, maar gewoonlijk houden zij zich nog aan de monolatrie, warin zij, althans de ouderen onder hen, waren opgegroeid.“ [Kuenen, Volksgodsdienst en wereldgodsdienst, 269, Hervorhebungen im Original]) 138 „Der Umstand an sich, dass die Propheten des 8ten Jahrhunderts diese – übrigens ziemlich einfachen Folgerungen – [gemeint ist die Anerkennung von Jahwes Einzigkeit und die Leugnung der Realität aller weiteren Götter, Anm. M. G.] nicht gemacht haben, liefert den Beweis, dass sie den Standpunkt des eigentlichen Monotheismus noch nicht erreicht hatten. Wenn sie nichtsdestoweniger über Jahwe’s Allmacht, auch in der Heidenwelt, und über die Götter der Heiden sich so auslassen, dass diesen die Realität abgesprochen wird und neben Jahwe für andere Götter kein Raum mehr bleibt, so geht daraus hervor, dass sie in das Zeitalter des Uebergangs, des werdenden Monotheismus, gehören.“ (Kuenen, Volksreligion und Weltreligion, 317, Hervorhebungen im Original. Im Niederländischen steht: „[H]et feit zelf, dat de profeten der 8ste eeuw deze – anders vrij eenvoudige – consequentiën niet hebben getrokken, levert het bewijs, dat zij het standpunt van het eigenlijke monotheïsme nog niet hadden bereikt. Indien zij niettemin over Jahwe’s oppermacht, ook in de heidenwereld, en over de goden der heidenen zich zóó uitladen, dat aan deze de realiteit ontzegd wordt en nevens Jahwe voor andere goden geene plaats overblijft, dan blijkt hieruit, dat zij behooren tot het tijdperk van overgang, van het wordende monotheïsme“ [Kuenen, Volksgodsdienst en wereldgodsdienst, 268, Hervorhebungen im Original].)
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Kapitel VI: Abraham Kuenen
schen Monotheismus‘ eine Kategorie von großer hermeneutischer Reichweite geschaffen. Kuenen sah sich mit seiner Beschreibung des Phänomens des ethischen Monotheismus in der Gefolgschaft Bernhard Duhms und meinte eine Position parallel zu derjenigen Wellhausens zu vertreten139 – was von diesem keinen Widerspruch erfuhr. Unbeschadet aller späteren Differenzierungen in der alttestamentlichen Forschung ist es Kuenen mit seiner Definition des ethischen Monotheismus gelungen, eine der religionsgeschichtlichen Besonderheiten des Alten Testaments zu beschreiben und zu erklären.
139 „Mit der hier verteidigten Auffassung läuft die Duhm’s, die Theol. der Propheten […] und Wellhausen’s […] genau parallel.“ (Kuenen, Volksreligion und Weltreligion, 319, Hervorhebungen im Original. Im Niederländischen steht: „Met de hier verdedigde opvatting loopt die van Duhm […] en Wellhausen […] geheel parallel.“ [Kuenen, Volksgodsdienst en wereldgodsdienst, 270, Hervorhebungen im Original])
Kapitel VII
Abraham Geiger – Die Hinterfragung christlicher Deutungsstereotypen aus der Position des liberalen Judentums 1. Geiger und Julius Wellhausen Abraham Geiger (1810–1874) bietet nicht eine Fortsetzung oder gar einen Abschluß der bisherigen Linie, doch er bildet einen oft übersehenen wichtigen weiteren Anstoß für die spätere Forschung. Wellhausen hat sich bereits früh in seinen Forschungen intensiv mit Geiger auseinandergesetzt – insbesondere in seiner 1871 erschienenen Untersuchung zum Text der Bücher Samuel und der aus einer im Wintersemester 1871 / 72 gehaltenen Vorlesung hervorgegangenen Veröffentlichung zu den Pharisäern und Sadduzäern. Dort setzt sich Wellhausen intensiv mit Geigers Studien auseinander, vor allem mit dessen Hauptwerk ‚Urschrift und Uebersetzung der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der innern Entwicklung des Judenthums‘ aus dem Jahr 18571. Aus der Vorlesung ist zu ersehen, daß Wellhausen nicht nur bezüglich der historiographischen Bedeutungsaufwertung der Pharisäer und Sadduzäer von Geiger abhängig ist, sondern daß auch die Grundzüge seiner Darstellung der jüdischen Geschichte seit der Errichtung des zweiten Tempels durch Geigers Vorarbeiten inspiriert sind. Dabei ist allein schon die Wahl des Titels der veröffentlichten Vorlesung Wellhausens als Anspielung auf Geiger zu verstehen. Gerade das Wechselspiel der stärker innerlich ausgerichteten, religiösen Kräfte der Pharisäer und der äußerlichen, politischen Kräfte der Sadduzäer – sowie ihrer Vorläufergruppierungen – als Motor der jüdischen Geschichte teilen sie. Daraus hat Wellhausen kein Geheimnis gemacht: „Es ist zuerst Abraham Geiger gewesen, der erkannt hat, dass sich Schriftgelehrte und Priester verhalten wie eine innere Macht zu der äusseren.“ (PuS 26 f.) So wie die Pharisäer die Gruppe der Schriftgelehrten bildeten, so die der Sadduzäer die der Hohepriester und Ältesten. Jede versuchte auf ihre Weise, Einfluß im jüdischen Volk auszuüben und den eigenen Herrschaftsbereich auszubauen. Mit der Zeit habe sich dieses Gegeneinander zum unüberbrückbaren Gegensatz einer geistlichen Partei und einer politischen verfestigt: „Die Sadducäer sind die Vertreter des neuen Staats, der aus der makkabäischen Erhebung hervorwuchs, die Pharisäer die der Gemeinde, deren Grundlage und 1
Erschienen in Breslau.
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Kapitel VII: Abraham Geiger
deren Zweck die Thora war.“ (PuS 94 f., Hervorhebungen im Original) Damit führt Wellhausen auf Geiger – auch wenn er unterstellt, daß ihm diese Konsequenz seiner Forschungen nicht bewußt geworden sei – die epochale Unterscheidung der freien, israelitischen Religion und der jüdischen Gesetzesreligion zurück. Indem die Beziehung von Jahwe als Gott Israels und Israel als Volk Jahwes über jeglichen staatlichen Institutionen stehend gedacht wurde, wurde Jahwe zum einzigen Gott. So konnte trotz des Untergangs des Staates die jüdische Gemeinde überleben: „Seit dem Exil waren die Juden kaum eine Nation mehr, eher eine über die ganze Welt verbreitete Sekte, die hauptsächlich durch die Religion zusammengehalten wurde, und erst in zweiter Linie durch das Blut, welches obendrein an sich als Bindeglied nie genügt hätte, hätte es nicht zugleich religiösen Werth gehabt.“ (PuS 95) Die Zurückführung dieser epochemachenden Unterscheidung einer israelitischen und einer jüdischen Geschichte2 auf die Forschungen Geigers bedeutet für Wellhausen nicht, daß er ihm unkritisch folgte. Ganz im Gegenteil merkte er immer wieder kleinere und größere Fehler Geigers an.3 Und es finden sich auch Stellen, an denen Wellhausen etwas zu überpointiert methodische Fehler anmerkt. Denn nicht anders als als Generalkritik läßt es sich verstehen, wenn Wellhausen schreibt: „Worauf sich Geiger in Wirklichkeit stützt, wird nicht klar; die Stützen, die er produciert, sind höchst gebrechlicher Natur 2 Für diese Deutung spricht auch, daß Wellhausen – durchaus mit kritischem Unterton gegenüber Geiger – in diesem Zusammenhang auf einen Aufsatz Abraham Kuenens verweist. Und so hält er zu Geigers Wirkung fest: „Seine Meinung ist […] nicht verstanden, selbst von denen nicht, welche […] gezwungen gewesen wären ihr beizutreten, weil sie ihrer Consequenz, nemlich der Geiger’schen Auffassung des Verhältnisses der Pharisäer zu den Sadducäern, beipflichteten. Daran trägt theils Geiger’s Art der Darlegung schuld, theils der Umstand, dass auch seine Anschauung noch nicht zur Klarheit und Consequenz durchgedrungen ist. Dazu hat ihr erst Kuenen verholfen in der Abhandlung: Over de Samenstelling van het Sanhedrin. Man könnte sie epochemachend nennen, wenn ein Mensch davon Notiz genommen hätte.“ (PuS 27) 3 Beispielsweise notiert Wellhausen in einer Rezension der Neuauflage eines Hiobkommentars von Franz Delitzsch (1813–1890), daß dieser an einer Stelle einfach einer zudem noch unbelegten Textemendation Geigers folge (Vgl. Julius Wellhausen, Rez.: Franz Delitzsch, Das Buch Iob [BC 4.2], Leipzig 21876, in: ThLZ 2 (1877), 73–77, 76) und in einer anderen Rezension zu Albert (Abraham Yakovlevich) Harkavys (1835–1919) Nachweis von Fälschungen altjüdischer Denkmäler führt Wellhausen lobend – und zugleich kritisch gegenüber Geiger – an: „Harkavy hat seinen Zweck, die Fälschungen in möglichst umfassender Weise aufzudecken, vollkommen erreicht. Durch die Mittel, die er zu diesem Zweck aufgeboten hat, behält sein Buch bleibenden Werth: man kann für die Geschichte der Juden, ihrer Literatur und Cultur im Mittelalter nicht wenig daraus lernen. Gelehrte wie Fürst, Grätz, François Lenormant taxiert H. sehr richtig; auch Geiger’s Schwächen durchschaut er vollkommen.“ (Julius Wellhausen, Rez.: Albert Harkavy, Altjüdische Denkmäler aus der Krim [Mémoires de l’Académie Impériale des Sciences de St. Pétersbourg 7.24], St. Petersburg 1876, in: GGA 140 [1878], 145–151, 151) Bei den drei anderen genannten Gelehrten handelt es sich um den Orientalisten Julius Fürst (1805–1873), den Historiker Heinrich Graetz und den Historiker, Archäologen und Assyriologen François Lenormant (1837–1883).
1. Geiger und Julius Wellhausen
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und werden grossentheils durch eine bodenlose Misdeutung biblischer Stellen geschaffen. Das Ganze hat den Anschein, als solle das, was später gehörigen Orts zu beweisen war, an einer früheren Stelle mit Gelegenheit eingeschmuggelt werden, um sich hinterher darauf wie auf längst Bekanntes berufen zu können. Die Entrüstung, die dies Verfahren vielfach hervorgerufen hat, ist erklärlich; indessen kann man zu Gunsten Geiger’s sagen, dass selten eine nicht grundlose Ansicht auf schlechtere Weise begründet worden ist.“ (PuS 50) Bei aller berechtigten Kritik Wellhausens ist doch festzuhalten, daß er sich damit im Ton vergriffen hat. Die Heftigkeit dieser Äußerung – weitere könnten unschwer hinzugefügt werden – ist nur vor dem Kontext des im 19. Jahrhundert gepflegten Umgangs(-tons) der akademischen Forscher mit ihren jüdischen Kollegen zu verstehen, der in den allermeisten Fällen unangemessen gewesen ist. Bei der folgenden Darstellung der Leistungen Geigers ist dies zu berücksichtigen. Wellhausen hat in dieser Hinsicht Anteil an den Verfehlungen seines Jahrhunderts. Auch wenn spätere Belege fehlen – in der Beurteilung Geigers wird er wohl ambivalent geblieben sein. Seine Äußerung aus der Frühzeit, daß er mit „gemischten Gefühlen“ (TBSam XII) dessen Forschungen betrachte, scheint nicht revidiert worden zu sein: „[D]ie Darstellung der Geschichte, obwohl sie bei Geiger bei weitem den grössten Raum einnimmt, ist […] doch nur Mittel zum Zweck, der eigentliche Zweck ist, die Abhängigkeit der Ueberlieferung und Hermeneutik des kanonischen Textes von variirenden und conträren Momenten der Zeitgeschichte zu erweisen. Diesen nun halte ich für verunglückt. Insofern hat allerdings die Verschiedenheit der Zeit eine Veränderung auf diesem Gebiete zur Folge gehabt, als allmählich eine Reaction gegen die Willkür eintrat: so lange diese aber dauerte, sind die Ursachen, welche auf die Gestaltung des Textes einwirkten, keine temporären gewesen, sondern constante, solche, die in dem Wechsel der Zeiten sich gleich blieben und bei Sadducäern so gut wie bei Pharisäern“ (TBSam 29 f.). Und in einer Fußnote erklärt Wellhausen zu den von ihm angeführten Belegen: „[S]olche vereinzelte Erscheinungen rechtfertigen nicht im Entferntesten die Allgemeinheit der Geiger’schen Betrachtungsweise“ (TBSam 301).4 Was auch immer von der Wellhausenschen Kritik im Detail zu halten ist, kann hier auf sich beruhen bleiben. Denn unbestreitbar haben Geigers Forschungen – soviel kann im Vorgriff gesagt werden – in der Diskussion um die alttestamentliche Hermeneutik eine wichtige Rolle gespielt.
4 In den späteren Veröffentlichungen Wellhausens zur israelitischen und jüdischen Geschichte findet sich der Name Geigers nicht, ebensowenig in seinen Briefen.
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Kapitel VII: Abraham Geiger
2. Werkbiographische Skizze 2.1. Der Werdegang Abraham Geiger stammt aus Frankfurt am Main, wo er als jüngster Sohn des dortigen Rabbiners der jüdischen Gemeinde aufwuchs. Alleine schon durch diese Äußerlichkeiten bedingt, unterscheidet sich seine Kindheit und frühe Sozialisation von der der bisher behandelten Forscher.5 Aus der Familie eines streng orthodoxen jüdischen Gelehrten stammend, hatte er kaum Umgang mit Altersgenossen und besuchte nur unregelmäßig eine Schule. Auf Mangel an Bildung darf daraus nicht geschlossen werden. Denn Geiger wurde stattdessen im Geist des orthodoxen Judentums erzogen. „Er lernte zu drei Jahren die Bibel, zu vier Jahren die Mischna, begann das Schönschreiben bei einem Lehrer im sechsten Jahre, in demselben Jahre empfing er von seinem Vater kurze Zeit Talmudunterricht und verbrachte darauf zwei öde Jahre in einem Cheder, einer Talmudschule“6. Nur heimlich habe er sich im Selbststudium mathematische Grundkenntnisse beigebracht. Da sein Scharfsinn auffiel und da der Bankier Amschel Meyer Rothschild finanzielle Unterstützung in Form eines Stipendiums gewährte, erhielt Geiger ab seinem zwölften Lebensjahr Privatunterricht. Später begann er ein Studium.7 Zum Sommersemester des Jahres 1829 schrieb er sich am Institut für Orientalistik an der Universität Heidelberg ein.8 Ab dem folgenden Wintersemester studierte er dann bis 1832 in Bonn.9 Den Abschluß 5 Vgl.
zum Folgenden die noch immer maßgebliche Biographie seines Sohnes: Ludwig Geiger (Hg.), Abraham Geiger. Leben und Lebenswerk, Berlin 1910. Ergänzt um ein Nachwort von Walter Jacob erschien davon 2001 ein Nachdruck unter dem Titel ‚Abraham Geiger. Leben und Werk für ein Judentum in der Moderne‘. 6 A. a. O., 10. 7 „Nicht so früh wie andere Jünglinge in jener Epoche bezog er die Universität. Da er niemals eine öffentliche Lehranstalt besucht hatte, so brauchte er auch kein Examen zu machen, wie er denn während seines ganzen Lebens niemals irgendeine staatliche oder öffentliche Prüfung bestanden hat. Ein Zeugnis seiner […] Privatlehrer mag ihn, was bei den freieren Bestimmungen jener Zeit wohl anging, als reif für die Universität erklärt haben.“ (A. a. O., 12) 8 Den Ertrag dieses einen Semesters in Heidelberg schätzt Ludwig Geiger nicht hoch ein. Zwar habe er erfolgreich seine Griechischkenntnisse durch Vorlesungen und Übungen bei Friedrich Creuzer (1771–1858) und Carl Friedrich Hermann (1805–1855) verbessert. Doch: „Für die Orientalia was er zumeist auf eigenen Fleiß angewiesen, da die Vorlesungen ihm wenig boten. Denn Umbreit las Hiob und arabische Chrestomanie so stümperhaft und elementar, daß der Schüler besser Bescheid wußte als der Lehrer. Philosophie hörte er ohne besonderen Gewinn bei Daub, Kulturgeschichte mit großer Freude bei Schlosser.“ (A. a. O., 13) – Carl Daub (1765–1836) wirkte in Heidelberg seit 1795 als Professor für Theologie, Friedrich Christoph Schlosser (1776–1861) seit 1817 als Professor für Geschichte. 9 „Geiger hörte von philologischen Vorlesungen Welcker über die Pindarischen Oden, Näke: Erklärung der Frösche des Aristophanes. Zur Philologie gesellte sich alte Geschichte; römische Geschichte bei Niebuhr zu hören, war ein günstiger Zufall. Philosophie wurde unter der Leitung eines jungen tüchtigen Dozenten Dr. Bobrick studiert, dessen Einleitung in die
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seines Studiums bildete die Beantwortung einer von Georg Wilhelm Freytag (1788–1861) – Geigers wichtigstem Lehrer in der Orientalistik – gestellten Preisfrage zum Thema: „Was hat Mohammed aus dem Judentum aufgenommen?“ Dazu reichte er eine in lateinischer Sprache verfaßte Arbeit ein, die den Preis zugesprochen bekam und die er im darauffolgenden Jahr auf deutsch veröffentlichte.10 Dieser kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil sie noch immer als Anfang der kritischen Mohammedstudien angesehen wird.11 Mit derselben Arbeit wurde er 1834 an der Universität Marburg in einem außerordentlichen Verfahren zum Dr. phil. promoviert. Insbesondere Hermann Hupfeld, dem damaligen Professor für Theologie und orientalische Sprachen, scheint Geiger dies zu verdanken.12 Eine daran anschließende wissenschaftliche Karriere war Geiger seiner jüdischen Herkunft wegen verwehrt, so daß er Zeit seines Lebens als Rabbiner, zunächst in Wiesbaden und dann in Breslau, Frankfurt am Main und schließlich in Berlin, wirkte. Dennoch war er publizistisch sehr aktiv und gab unter anderem nacheinander zwei wissenschaftliche Zeitschriften heraus – so von 1835–1847 die ‚Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie‘ und von 1862–1875, dem Jahr seines Todes, die ‚Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben‘.13 Insbesondere der eröffnende Aufsatz der erstgenannten Zeitschrift sei kurz vorgestellt. Am Anfang der ‚Wissenschaftlichen Zeitschrift für jüdische Theologie‘ steht eine Abhandlung Geigers zum Thema: ‚Das Judenthum unserer Zeit und Philosophie als besonders lehrreich angemerkt wurde. Eine ebensolche Vorlesung wurde bei Kalcker gehört. Logik hörte er bei Brandis, studierte aber daneben Herbarts Werk. Bei demselben Dozenten Moralphilosophie und eine Übersicht über die Systeme Kants und Fichtes, Anthropologie bei Hasse. Für Orientalia wurde G. Freytag, ein eifriger Dozent, der durch mannigfache Editionen und durch sein arabisches Lexikon die orientalischen Studien außerordentlich förderte, sein geschätzter Lehrer“ (A. a. O., 15). 10 Abraham Geiger, Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? Eine von der Königl. Preussischen Rheinuniversität gekrönte Preisschrift, Bonn 1833. 11 Vgl. Dirk Hartwig, Die „Wissenschaft des Judentums“ als Gründerdisziplin der kritischen Koranforschung: Abraham Geiger und die erste Generation jüdischer Koranforscher, in: Christian Wiese / Walter Homolka / Thomas Brechenmacher (Hgg.), Jüdische Existenz in der Moderne. Abraham Geiger und die Wissenschaft des Judentums (SJ 57), Berlin / Boston 2013, 297–319. 12 Zum Promotionsverfahren Geigers vgl. die in weiten Teilen unsystematisch aufgebaute Arbeit von Hans-Joachim Bechtoldt, Die jüdische Bibelkritik im 19. Jahrhundert, Stuttgart / Berlin / Köln 1995, bes. 212–242. Leider sind ihm in seinem Bemühen, Übereinstimmungen zwischen den Analysen Geigers und der gegenwärtigen alttestamentlichen Forschung zu finden, nicht nur unsachgemäße Aktualisierungen unterlaufen, sondern auch Fehler. Vgl. nur die unzulässige Identifizierung des sogenannten älteren und jüngeren ‚Elohisten‘. Der ‚Elohist‘ Geigers, den er als die Grundschrift des Pentateuchs versteht, entspricht natürlich in weiten Teilen der Priesterschrift. Er darf nicht mit dem Elohisten verwechselt werden, der seit Hermann Hupfelds Forschungen als selbständige Quellenschrift innerhalb des sogenannten Jehovisten identifiziert wurde. 13 Zur umfangreichen Liste seiner Veröffentlichungen vgl. Moritz Stern, Bibliographie der Schriften A. Geigers, in: Geiger (Hg.), Abraham Geiger, 415–470.
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die Bestrebungen in ihm‘14. In dieser diskutiert Geiger die Bedeutung der geschichtlichen Kritik für das religiöse Leben: „Zuerst erscheint sie uns [gemeint ist die Macht der Geschichte, Anm. M. G.] von dem glorwürdigen Gesichtspunkte aus, der uns zeigt, wie die Gestalt, die die Menschheit im Ganzen wie im Einzelnen erhält, doch jedesmal von der Vergangenheit abhängig ist, wie Gedanken und Erscheinungen nicht aus einem plötzlichen genialen Nu eines erfinderischen Menschengeistes […] entsprungen seien, sondern wie sie vielmehr allgemach vorbereitet […] und sich nun dem erstaunten Menschenblicke, der früher einen solchen Geist nicht ahnte, verkörpert darstellt. Diese Betrachtungsweise der Geschichte lehrt aber zugleich, wie nicht im gewaltsamen, rücksichtslosen Abschneiden aller aus der Vergangenheit und gewordenen Überlieferung das Heil liege, sondern im sorgsamen Aufsuchen ihrer tiefern Sprüche und in dem Bestreben, das was geschichtlich sich gebildet, auch nun, da wir Organe der Geschichte geworden sind, geschichtlich fortzubilden“15. Geiger geht es nicht nur um die Herausstellung der Bedeutung des Historischen im Allgemeinen und des speziellen Beitrags, den gerade jüdische Forscher zu seinem Verständnis beitragen und beigetragen haben. Sondern er macht auch darauf aufmerksam, daß ein kritisches Verständnis des Historischen nur mithilfe von so etwas wie einem literarkritischen oder auch redaktionsgeschichtlich zu nennenden Instrumentarium möglich sei – eine These die gerade auch für seine Bibelhermeneutik von nicht zu unterschätzender Tragweite geworden ist, und die deshalb hier noch wiedergegeben werden soll: „Nicht Alles, was die Vorzeit uns überliefert, dies hat auch sie wieder von grauer Urzeit erhalten, sondern erst in späterer Zeit hat mancher Umstand diesen Reiser dem alten Baume angesetzt, diesen Ring der Kette der Überlieferung angefügt; und nun, da der Zweig sich parasitenmäßig anschmiegt, da der Ring sie in die ganze Kette verschlungen hat, da glaubet der gewöhnlich blöde Sinn, so sei es von Urbeginn gewesen. Nicht alles, was wir vor uns in geschlossenen Gliedern sehen, ist eine reine Entwicklung der religiösen Idee gewesen, die eine Glaubensgemeinde beherrschet, nicht Alles ist mit Bewußtsein aus dem Sinne und dem Geiste derselben hervorgegangen, sondern die unwesentlichsten Ursachen, traurige oder übergewaltige Zeitereignisse, Mißstand und Verkehrtheit haben eine Richtung aufgeprägt, die das ächte Bild ganz unkenntlich machen; nun aber, da Alles so geschlossen und in Einheit verwachsen, wie dies die organische Natur des Menschen erheischt, vor uns steht, glaubet der blos in der Gegenwart lebende Sinn, dies sei Alles wesentlich, und wer das jetzige Heiligthum berührt, der thue es mit keckem Finger. Aber die Wahrheit behauptet ihr Recht, und die Einsichtigen werden nach und nach sich unter die Fahnen jener geschichtlichen Kritik sammeln, sondernd und sichtend, obgleich auch noch innerhalb ihres Gebietes 14 15
In: WZJT 1 (1835), 1–12. A. a. O., 2.
2. Werkbiographische Skizze
331
das Feld verschiedenen Meinungen offen bleibt.“16 Mit der wissenschaftlichkritischen Erforschung des Alten Testaments ist ein Thema benannt, das ihn zeit seines Lebens beschäftigen wird. Die Bibelhermeneutik nimmt eine zentrale Stellung in seinem Werk ein. Gerade auch der Einbezug späterer jüdischer Überlieferungen wie der Mischna ist sein Verdienst.17 Ein zweites gewichtiges Thema ist die Auseinandersetzung mit polemischen Schriften, meist christlicher Autoren. Geiger geht es vor allem um die Abwehr von ungerechtfertigten Anschuldigungen gegenüber dem Judentum im Allgemeinen und die Mißachtung bedeutender Forschungsleistungen jüdischstämmiger Wissenschaftler.18 Immer wieder äußerte er sich gerade in seinen zahlreichen Rezensionen dazu. Drittes Thema ist die Erneuerung des traditionellen, jüdischen Ritus – sowohl die historische Verortung als auch die Modernisierung desselben. Dem Thema der Reformierung des überkommenen Judentums sind zahlreiche der theoretischen und praktischen Abhandlungen Geigers gewidmet.19 An wichtigen Monographien sind Geigers ‚Lehrbuch zur Sprache der Mischnah‘20, das 1857 erschienene und bereits erwähnte Werk ‚Urschrift und Übersetzung der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der innern Entwickelung des Judentum‘ und die zwischen 1864 und 1871 in drei Bänden erschienenen Vorlesungen ‚Das Judenthum und seine Geschichte‘21 zu nennen. Zehn Jahre nach seinem Tod erschien eine fünfbändige Ausgabe seiner nachgelassenen Werke, herausgegeben von Ludwig Geiger.22
16 A. a. O.,
3, Hervorhebungen im Original. nur Abraham Geiger, Einiges über Plan und Anordnung der Mischnah, in: WZJT 2 (1836), 474–492; Das Verhältniß des natürlichen Schriftsinnes zur thalmudischen Schriftdeutung, in: WZJT 5 (1844), 53–81.234–259 und Literarisch-kritische Uebersicht, in: WZJT 7 (1847), 91–115. 18 Vgl. beispielsweise: Abraham Geiger, Der Kampf christlicher Theologen gegen die bürgerliche Gleichstellung der Juden, namentlich mit Bezug auf Anton Theodor Hartmann, in: WZJT 1 (1835), 52–67.340–357 und WZJT 2 (1836), 78–92. 19 Vgl. nur Abraham Geiger, Der Mangel an Glaubensinnigkeit in der jetzigen Judenheit, in: WZJT 1 (1835), 141–150 und Die Gründung einer jüdisch-theologischen Fakultät, ein dringendes Bedürfnis unserer Zeit, in: WZJT 2 (1836), 1–21. 20 Breslau 1845. 21 Abraham Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte (1). Nebst einem Anhange: Ein Blick auf die neuesten Bearbeitungen des Lebens Jesu, Breslau 1864; Das Judentum und seine Geschichte 2. Von der Zerstörung des zweiten Tempels bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. Nebst einem Anhange: Offenes Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Holtzmann, Breslau 1865; Das Judenthum und seine Geschichte 3. Von dem Anfange des dreizehnten bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts. Nebst einem Anhange: Das Verhalten der Kirche gegen das Judenthum in der neueren Zeit. Ein zweites Wort an den evangelischen Ober-Kirchenrath, Breslau 1871. 22 Abraham Geiger, Nachgelassene Schriften 1, hg. v. Ludwig Geiger, Berlin 1875; 2, 1875; 3, 1876; 4, 1876 und 5, 1878. 17 Vgl.
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Kapitel VII: Abraham Geiger
2.2. Die Prägung durch Leopold Zunz Abraham Geiger wird heute der sogenannten Wissenschaft des Judentums zugeordnet.23 Schon während seines Studiums war das Erscheinen der Schriften von Leopold Zunz (1794–1888), des Begründers dieser Wissenschaft, von prägendem Einfluß.24 Dieser „hatte 1818 in seiner programmatischen Schrift Etwas über die rabbinische Literatur die Leitlinien vorgegeben, indem er forderte, Juden sollten die jüdische Literatur und Tradition mit den Methoden der klassischen Philologie und Historiographie erforschen und dabei völlig davon absehen, ‚ob ihr sämmtlicher Inhalt auch Norm für unser eigenes Urtheilen sein soll und kann.‘“25. Er forderte eine kritische, wissenschaftliche Interpretation der schriftlichen Denkmale des Judentums, da allein dergestalt eine Akzeptanz in und eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gestaltung der modernen Gesellschaft möglich sei. In diesem Gründungsdokument der ‚Wissenschaft des Judentums‘ – in dem der erst später geprägte Begriff nicht vorkommt26 – wird dieselbe in erster Linie als historisch-philologische Erforschung der jüdischen Literatur verstanden, was als Bruch mit der traditionellen, autoritätsgläubigen und deshalb unreflektierten jüdischen Gelehrsamkeit inszeniert wird. Diesen reformerischen Zielsetzungen fühlte sich Geiger seit seinem Studium verpflichtet. Ohne hier weiter ins Detail gehen zu können, ist doch alles in allem zu bemerken, daß die sogenannte Wissenschaft des Judentums auch innerhalb jüdischer Kreise schon zur Zeit ihrer Entstehung eine Ausnahmeerscheinung war.27 Ob23 Vgl. dazu Christian Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. Ein Schrei ins Leere? (SWALBI 61), Tübingen 1999. Zur Herkunft des Terminus schreibt er: „Der Begriff der Wissenschaft des Judentums, der offenbar von dem Rechtsgelehrten Eduard Gans geprägt wurde, erschien als Titel der von dem Historiker Leopold Zunz 1822 / 23 im Auftrag des am 7. November 1819 gegründeten Vereins für Cultur und Wissenschaft der Juden herausgegebenen Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums. Die Mitglieder des Vereins, neben Gans und Zunz vor allem Isaac Levin Auerbach, Isaak Markus Jost, Moses Moser, Heinrich Heine sowie die Vorkämpfer der Haskala, David Friedländer und Lazarus Bendavid, waren selbst in hohem Maße assimiliert und in ihrem Bildungsstreben dem traditionellen Judentum entfremdet.“ (A. a. O., 60 f., Hervorhebungen im Original) Einschlägig sind zudem die Beiträge des Sammelbandes Wiese / Homolka / Brechenmacher (Hgg.), Jüdische Existenz in der Moderne. 24 Vgl. die Beiträge in: Nahum Norbert Glatzer (Hg.), Leopold Zunz. Jude – Deutscher – Europäer. Ein jüdisches Gelehrtenschicksal des 19. Jahrhunderts in Briefen an Freunde (SWALBI 11), Tübingen 1964. 25 Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 61, Hervorhebung im Original. 26 Vgl. dazu Imke Stallmann, Abraham Geigers Wissenschaftsverständnis. Eine Studie zur jüdischen Rezeption von Friedrich Schleiermachers Theologiebegriff (BRTh 20), Frankfurt am Main 2013, bes. 304 f. 27 Vgl. Amos Funkenst ein, Jüdische Geschichte und ihre Deutungen. Aus dem Englischen von Christian Wiese, Frankfurt am Main 1995, bes. 186–196. – Bis heute werden ihre wissenschaftlichen Grundentscheidungen teilweise auch als Irrweg innerhalb des damaligen Judentums verstanden, worauf Christian Wiese im Vorwort der deutschen Übersetzung von Susannah Heschels Arbeit über Geiger (Der jüdische Jesus und das Christentum. Abra-
3. Der Beitrag zur alttestamentlichen Hermeneutik
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wohl oder vielleicht auch gerade weil sich Zunz’ Forderung nach einer kritischen Schriftauslegung – denen sich Geiger anschloß – durchaus als Parallele zur christlichen, vornehmlich protestantischen Bibelforschung des 19. Jahrhunderts lesen läßt, kam sie nicht im breiten Judentum an.28 Den Forschungen Geigers – auch denen zur jüdischen Geschichte – sind in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen von programmatischer Bedeutung gewidmet gewesen. Sie haben auf wichtige Punkte zum hier verhandelten Thema der alttestamentlichen Hermeneutik aufmerksam gemacht. Im Folgenden werden daher zunächst einige markante Veröffentlichungen vorgestellt, bevor sich Geigers Grundlagenforschungen und insbesondere seinen Leistungen für die alttestamentliche Wissenschaft zugewendet wird.
3. Der Beitrag zur alttestamentlichen Hermeneutik 3.1. Der aktuelle Forschungsstand 3.1.1. Geiger und die historische Bibelkritik Schon in dem bereits genannten, von Ludwig Geiger veranstalteten und redigierten Sammelband finden sich erste Hinweise zur Einordnung der Forschungen Geigers. Dort macht Ismar Elbogen in seinem Beitrag zur Würdigung der Leistungen des Gelehrten Geiger in den Geschichts- und Literaturwissenschaften auf den schon genannten Einfluß von Zunz aufmerksam.29 Weiham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christian Wiese [ספריה. Sifria 2], Berlin 2001.) aufmerksam macht. Neben der Würdigung der Arbeit von Heschel als unverzichtbarem Beitrag zur Erforschung von Geigers Werk im speziellen und zur protestantischen Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts im allgemeinen hebt Wiese vor allem hervor: „So stellt ihre Studie zunächst einen wichtigen Beitrag zur Bewertung der Wissenschaft des Judentums in Deutschland dar, die in der Tradition der zionistisch inspirierten Kritik Gershom Scholems häufig als apologetisch und assimilatorisch dargestellt wurde“ (Christ ian Wiese, Vorwort, in: Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, 12–18, 16). 28 „Er [gemeint ist Zunz, Anm. M. G.] fordert ein kritisches Studium der jüdischen Tradition unter Berücksichtigung des historischen Kontextes, macht sich also für eine historisch-kritische Schriftauslegung stark. […] Zunz bedient sich also moderner wissenschaftlicher Methoden, offenbart eine historisierende Perspektive und wendet diese auf das jüdische Schrifttum an. Er sucht offenkundig eine konstruktive und fruchtbare Verbindung, ja Aussöhnung von Tradition und Moderne zu verwirklichen und durch die Anwendung etablierter wissenschaftlicher Methoden außerjüdische Anerkennung zu erwirken.“ (Stallmann, Abraham Geigers Wissenschaftsverständnis, 306 f.) 29 „Vor allem war die Freundschaft mit Leopold Zunz von Gewinn; der langjährige Briefwechsel und der persönliche Umgang […] haben Geigers Liebe für die Arbeiten auf dem Gebiete der jüdischen Geschichte und Literatur genährt und vertieft.“ (Ismar Elbogen, II. Der Gelehrte. 2. Geschichte. a. Geschichte und Literatur, in: Geiger [Hg.], Abraham Geiger, 328– 352, 330.) Hervorgehoben wird darüber hinaus noch eine Vorlesung Schlossers, die Geiger gehört hat. (Vgl. ebd.)
334
Kapitel VII: Abraham Geiger
tergehende Ausführungen finden sich jedoch erst in der neueren Sekundärliteratur. Während Michael A. Meyer in einem ursprünglich als Vortrag im Rahmen eines Forschungssymposiums anläßlich des 100. Todestages Geigers gehaltenen Beitrag lediglich vage auf den Einfluß der idealistischen Philosophie und der Romantiker auf die Ausbildung historischen Denkens – auch bei Geiger – hinweist30, gibt Nahum Mattathias Sarna eine detailliertere Einordnung seiner Prägung durch die damalige kritische biblische Forschung31. Mit Ausnahme von Johann Friedrich Leopold George – der Sarna möglicherweise nicht bekannt ist – werden sämtliche der in den obigen Kapiteln der vorliegenden Arbeit behandelten und von Sarna als „Gründergestalten der kritischen Bibelwissenschaften“32 herausgehobenen Bibelwissenschaftler genannt, um deutlich zu machen, welche immensen Forschungsleistungen damals vollbracht wurden und welchen Eindruck dies auf Geiger gemacht haben muß.33 Durch Zunz vermittelt, der ein Schüler de Wettes gewesen ist, lasse sich vor allem der Einfluß der frühen Veröffentlichungen des Letztgenannten als prägend für Geigers eigenes methodisches Herangehen nachweisen. Damit bildete Geiger im Vergleich zu den meisten seiner Kollegen eine Ausnahme: „[T]he Jewish scholarship of Geiger’s time generally avoided biblical studies. Scholars who did happen to venture into those perilous waters steered clear of the Pentateuch. By and large, they simply had no conception of any possibility of a specifically Jewish contribution to the field“34. Die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, in Bezug auf die kritischen Bibelwissenschaften von einer besonderen jüdischen Herangehensweise zu sprechen, die sich von einer wie auch immer verstandenen besonderen liberalen, protestantischen, deutschen oder anderen Herangehensweise unterscheide, stellt sich da unvermittelt, wird hier aber erst einmal zurückgestellt. Angemerkt sei lediglich, daß mit der Unterscheidung nach Statusgruppen noch nicht die Frage der inhaltlichen Berührung geklärt ist. Wichtig ist der Hinweis auf die nicht zu unterschätzende Bedeutung der Rezeption der mit de Wette beginnenden kritischen Bibelwissenschaften durch Geiger – vermit30 „Until
Geiger, almost no one had given any serious attention to the possibility that Judaism might have undergone a process of transformation prompted by changing external circumstances as well as by inner spiritual development. It was only in the nineteenth century, given the fusion of idealistic philosophy with history and the romanistic concern with revealing historical roots, that the possibility arose for seeing Judaism, too, in terms of its ideational evolution.“ (Michael A. Meyer, Abraham Geiger’s Historical Judaism, in: Jakob Josef Petuchowski [Hg.], New Perspectives on Abraham Geiger. An HUC-JIR Symposium, New York 1975, 3–16, 5) 31 Vgl. Nahum Mattathias Sarna, Abraham Geiger and Biblical Scholarship, in: Petuchowski (Hg.), New Perspectives on Abraham Geiger, 17–30. 32 Vgl. a. a. O., 18. 33 „Only Julius Wellhausen (1844–1918) is missing from the list of worthies in that he did not publish his magnum opus until two years after Geiger’s demise.“ (Ebd.) 34 A. a. O., 20.
3. Der Beitrag zur alttestamentlichen Hermeneutik
335
telt über Zunz. Die Übereinstimmungen mit den in der vorliegenden Arbeit behandelten Forschern sind unübersehbar.35
3.1.2. Die Einordnung seiner Pharisäismusforschung In den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts erschienen zwei neutestamentliche Promotionen, die speziell der Erforschung des Pharisäismus gewidmet sind und die sich um eine Einordnung des methodischen Vorgehens Geigers bemühen. Zum einen handelt es sich um die Ende 1994 bei Berndt Schaller in Göttingen eingereichte Arbeit von Hans-Günther Waubke36 und zum anderen um die zwei Jahre später erfolgte Tübinger Dissertation von Roland Deines, die insbesondere von Martin Hengel betreut wurde37. Waubke sieht die Problematisierung des Phänomens des Pharisäismus, insbesondere im 19. Jahrhundert, als exemplarischen Fall historisch-kritischer Forschung an, insbesondere ihrer Fragwürdigkeiten.38 Denn sie verknüpfe die Würdigung dieser Erscheinung mit massiven theologischen Vorurteilen. „Die Pharisäer sind ein historisches Phänomen, auf das sich seit jeher in besonderem Maße ein von theologisch-werthaften Voraussetzungen geleitetes Interesse richtet.“39 Letztendlich geht es nach Waubke immer um eine von bestimmten Prämissen geleitete Auseinandersetzung mit dem Judentum im Ganzen – womit er das Judentum seit der Errichtung des zweiten Tempels meint.40 Zur Stützung dieser These schlägt Waubke einen weiten Bogen von Andreas Georg Wähner (1693–1762) und Johann Salomo Semler bis hin zu Adolf von Harnack (1851–1930) und Ernst Troeltsch (1865– 1923). Das in seiner Arbeit verhandelte Problem formuliert Waubke folgendermaßen: „Angesichts der Beobachtung, daß historisch-kritische Pharisäerdarstellungen bis heute von theologischen Werturteilen geprägt sind, legt es sich nahe, nach Gelingen und Mißlingen historischer Kritik in der prägenden Epo35 Dies
sieht auch Sarna: „Take, for example, his attitude to the Pentateuch. It was no different from that of the Protestant theologians, and he had little original to add to the literary criticism it had produced.“ (A. a. O., 23) 36 Hans-Günther Waubke, Die Pharisäer in der protestantischen Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts (BHTh 107), Tübingen 1998. 37 Roland Deines, Die Pharisäer. Ihr Verständnis im Spiegel der christlichen und jüdischen Forschung seit Wellhausen und Graetz (WUNT 101), Tübingen 1997. 38 „Die Urheber historisch-kritischer Pharisäerbilder, die sich sowohl von dogmatisch als auch von philosophisch bestimmten Wertbezügen losgesagt hatten, standen erstmalig vor der Notwendigkeit, sich um einer schlüssigen historischen Hermeneutik willen mit diesen Problemen intensiv auseinanderzusetzen und die Resultate dieser Auseinandersetzung in Geschichtsschreibung umzusetzen. Nicht nur das Verhältnis der konkreten Geschichtsschreibung zu diesen grundlegenden Reflexionen, sondern auch der Umgang mit den Grenzen historischer Objektivität lassen sich hier idealtypisch beobachten.“ (Waubke, Die Pharisäer in der protestantischen Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts, 8) 39 A. a. O., 1. 40 Er kann sogar als Ausgangsproblem seiner Arbeit formulieren: „Es ist nicht möglich, die historische Wahrnehmung der Pharisäer von werthaften Prämissen, die das Judentum betreffen, loszulösen.“ (A. a. O., 3)
336
Kapitel VII: Abraham Geiger
che zu fragen, d. h., der Frage nachzugehen, wie im 19. Jahrhundert unter dem auch in der protestantischen Bibelwissenschaft rezipierten Anspruch historischer Objektivität mit diesen überkommenen Werturteilen verfahren wurde.“41 Dadurch, daß Waubke keine eigenen Erörterungen zu dem von ihm unterstellten Wertbegriff anstellt, sondern nur allgemein von theologisch geprägten ‚Werten‘, ‚Wertungen‘ und ‚Werturteilen‘ spricht, bleiben seine Ergebnisse vage und er kann die jeweils spezifische Leistung der von ihm behandelten Autoren kaum voneinander abgrenzen. Teilweise kommt es zu Verzeichnungen, was auch in dem Abschnitt zu Geiger deutlich wird. Zwar sieht Waubke durchaus dessen innovative Verknüpfung von textkritischen und religionsgeschichtlichen Methoden, wobei vor allem deren Anwendung auf die nachbiblischen Überlieferungen herausgehoben wird. Aber indem er den Fokus ganz auf Eintragungen aus Geigers eigener Zeit legt und den von ihm untersuchten ‚Pharisäismus‘ letztendlich gänzlich unhistorisch allein als „Musterfall des fortschrittlichen Prinzips der Weltgeschichte“42 interpretiert, bricht Waubke dessen Leistungen die Spitze ab. Ohne auf die tatsächlichen Charakteristika der (Pharisäismus-)Forschungen Geigers näher einzugehen hält er resümierend reichlich pauschal fest: „Als Zielvorstellung ist hier ein durch Überwindung erstarrter konfessioneller Strukturen zu konstituierender, alle Konfessionen verbindender bürgerlich-demokratischer Liberalismus erkennbar, einschließlich eines auf dieser Grundlage religiös, politisch und gesellschaftlich völlig emanzipierten Judentums. Geiger präsentiert hier eine klassische Vision liberaler jüdischer Reform aus den 1850er und 1860er Jahren, deren jüdische Leitbilder er in der historischen Gestalt der Pharisäer präsentiert.“43 Daß Abraham Geiger dem jüdischen Reformjudentum dieser Zeit zuzuordnen ist, bedarf keiner ausführlichen Begründung. Ansonsten bleiben Waubkes Untersuchungen zur historischen Kritik im Bezug auf Geiger leider blaß. Roland Deines möchte mit seiner Untersuchung einen Beitrag zur neutestamentlichen Forschungsgeschichte bieten, wobei er sich insbesondere mit den prägenden Gestalten der älteren Pharisäismusforschung beschäftigt, deren Arbeiten ungefähr zwischen 1860 und 1940 erschienen. Ausgangspunkt ist für ihn Julius Wellhausen.44 Innerhalb des Kapitels über Forschungen zu den Pharisäern in der ‚Wissenschaft des Judentums‘ wendet Deines sich kurz Geiger zu. Unter Verweis auf Waubke bekräftigt er dessen Ergebnisse. In seinen Arbei41 A. a. O.,
8. Und weiter heißt es: „Hier kann deutlich werden, in welcher Hinsicht sie problematisiert wurden, wie weit es wirklich gelungen ist, sie, dem methodischen Anspruch entsprechend, in der historischen Betrachtung zu relativieren bzw. außer Kraft zu setzen, und in welcher Form sie zu den historisch-kritischen Bezugssystemen dieser Periode ins Verhältnis gesetzt wurden bzw. aus welchen Problemen und Bedürfnissen heraus sie in Geltung blieben.“ (Ebd.) 42 A. a. O., 166. 43 A. a. O., 167. 44 Vgl. Deines, Die Pharisäer, 40–67.
3. Der Beitrag zur alttestamentlichen Hermeneutik
337
ten zu den Pharisäern sei Geiger nämlich der „geniale Schachzug“ gegenüber der „rabbinisch-talmudischen Orthodoxie“ gelungen, sich deren Leistungen zugute schreiben zu können, „durch ihre Instrumentalisierung für die Anliegen der Reform“45. Als Ertrag der Arbeiten Geigers hält Deines dann fest: „Sein Pharisäerverständnis war gleichsam der Schlüssel, das moderne Empfinden mit der jüdischen Geschichte zu versöhnen, ohne wie zur Zeit der frühen jüdischen Aufklärung in die Gefahr zu geraten, zum Konvertiten zu werden.“46 Summa summarum laufen Deines’ Ausführungen zu Geiger auf einen Vorwurf hinaus, nämlich, daß er den Pharisäismus modernisiert habe, um nicht zum Christen zu werden. Natürlich ist in Rechnung zu stellen, daß Deines sich nur auf sehr begrenztem Raum mit Geiger beschäftigt. Doch ist festzuhalten, daß dessen innovative Leistungen nicht zum Vorschein kommen.
3.1.3. Die These von der ‚Gegengeschichte‘ In jüngster Zeit haben vor allem – die schon eingangs genannten – Heschel und Wiese einerseits und Arnulf von Scheliha andererseits auf Geigers Leistungen für die Erforschung des Alten Testaments im Rahmen jüdischer, liberaler Reformbestrebungen aufmerksam gemacht.47 So heißt es bei Wiese: „Die theoretischen Fundamente jüdisch-liberalen Selbstverständnisses formulierte Abraham Geiger, in dessen Lebenswerk als Gelehrter und Rabbiner Wissenschaft des Judentums und Reform besonders eng miteinander verbunden waren. Seine zentrale Forderung richtete sich auf die ungehinderte wissenschaftliche Erforschung der jüdischen Geschichte, einschließlich der Anwendung der historischkritischen Methode auf die rabbinischen Texte und die hebräische Bibel.“48 Gerade diese innovative methodische Auswertung der biblischen Überlieferungen hatte seine Forschungen für Wellhausen zu wichtigen Schriften gemacht, an die er anknüpfte. Insbesondere Heschels kenntnis- und perspektivenreiche Arbeit liefert nun zahlreiche wichtige neue Erkenntnisse, worauf deshalb näher einzugehen ist.49 45
A. a. O., 146.
46 Ebd. 47 Obwohl
schon 1988 als Dissertationsdruck veröffentlicht, wurde Heschels Dissertation erst zehn Jahre später publiziert: Abraham Geiger and the Jewish Jesus, Chicago 1998. Die deutsche Übersetzung erschien drei Jahre später. Waubke und Deines rezipieren den Dissertationsdruck nicht. 48 Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland, 69. 49 Darauf macht auch Wiese im Vorwort seiner Übersetzung der Studie Heschels aufmerksam: „Mit Geiger, der zentralen Figur des liberalen Judentums im neunzehnten Jahrhundert, sowie der Tübinger Schule, der Ritschl-Schule und der Religionsgeschichtlichen Schule auf protestantischer Seite nimmt sie jene Kräfte in den Blick, welche die Auseinandersetzung über die Deutung des nachbiblischen Judentums weit über die eigene Zeit hinaus geprägt haben.“ (Wiese, Vorwort, 15)
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Kapitel VII: Abraham Geiger
Nach einleitenden methodischen Bemerkungen schildert Heschel ausführlich den Werdegang Geigers.50 Anschließend zeigt sie die für sein Forschen charakteristische enge Verknüpfung von Untersuchungen zum Judentum, Christentum und Islam auf, wobei sich gerade in ihnen die Fruchtbarkeit der von Geiger verwendeten historisch-kritischen Methode erkennen lasse.51 Zu letzterer führt Heschel aus: „Die ‚historische Methode‘ fällt aus Geigers Sicht in die Sphäre Johann Gottfried Herders, Johann Gottfried Eichhorns, Johann Philipp Gablers und Wilhelm Martin Leberecht De Wettes – aus der älteren Generation – sowie von David Friedrich Strauss und Ferdinand Christian Baur aus der neuen. Seiner Auffassung nach galt es, die Texte der Religionen wie alle anderen Texte zu behandeln, und die Kategorien des Mythos, der Legende und der ‚Tendenz‘ sind in seinen Analysen nie fern.“52 Geiger habe „Philologie“ und „Ideenanalyse“53 miteinander korreliert. Heschel führt dies insbesondere auf die Aneignung der Methoden von Baur und Strauß durch den frühen Geiger zurück, auf deren Einfluß sie mehrmals hinweist.54 „Geigers Nähe zu Baur ist […] deutlich erkennbar – in dem Anspruch auf die Unabhängigkeit der historischen Forschung von theologischen Bindungen, in der Suche nach einer erkennbaren ‚Tendenz‘ eines Textes sowie in der Erkenntnis der Struktur einander widerstrebender Tendenzen als der Dynamik des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels.“55 Während Heschel zahlreiche Parallelen zur sogenannten Tübinger Schule aufzeigt, dient ihr der Göttinger Theologe Albrecht Ritschl – und weniger die von Wiese namhaft gemachte Ritschl-Schule, mit deren Forschungsleistungen sie keine Auseinandersetzung führt – als Negativfolie ihrer Geiger-Interpretation. Die ausgiebige Ritschl-Kritik gehört an sich nicht in den Kontext der vorliegenden Untersuchung, sie ist aber deshalb zur Sprache zu bringen, weil sie den Blick auf die Eigentümlichkeiten Geigers verwehrt und durch Engführungen präjudiziert. Allein schon durch das gleich folgende längere Zitat wird deutlich, daß es Heschel kaum um eine sachgerechte Interpretation Ritschls geht. 50 Vgl.
Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, 55–96. „Aus Geigers Sicht stand die historische Methode nicht in Frage; er hatte volles Vertrauen in die Fähigkeit der historischen Kritik, Verlässliches über die Ursprünge des rabbinischen Judentums herauszuarbeiten, so wie sie auch die Ursprünge des Islam und des Christentums zu erklären vermöge.“ (A. a. O., 99) 52 A. a. O., 117. 53 Ebd. 54 Vgl. nur: „Wenn Geiger überhaupt mit irgendeiner konkreten historiografischen Richtung innerhalb der theologischen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts auf eine Linie zu bringen ist, dann mit der Tübinger Schule. Er neigte ihren Methoden zu, bediente sich bei seiner Untersuchung über die Sadduzäer und Pharisäer ihrer Kategorien und nutzte die Schwächen einiger ihrer Schlussfolgerungen aus.“ (A. a. O., 183. Zu Heschels Sicht auf Strauß und Baur vgl. a. a. O., 184–195.) 55 A. a. O., 200. Und später heißt es: „Von Strauss und Baur lernte Geiger eine Historiografie des Verdachts, die mit einem Verdacht gegenüber der Geschichtsschreibung einherging. Die antiken Texte waren nicht, was sie zu sein beanspruchten, und die angeblich objektiven Interpretationen waren selbst eine weitere Verzerrung.“ (A. a. O., 203) 51
3. Der Beitrag zur alttestamentlichen Hermeneutik
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Dies wird zumal deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß es den Abschluß des forschungsgeschichtlichen Teils ihrer Arbeit bildet.56 Und so verraten Heschels Ausführungen über Ritschl mehr über ihr eigenes Forschungsprogramm, als daß sie eine profunde Deutung Ritschls bieten, wenn sie über ihn ausführt: „Indem er die Rolle des Judentums umdeutete, so dass nicht mehr von zwei einander widerstreitenden Strömungen innerhalb des frühen Christentums die Rede war, sondern das Judentum als äußere Kraft erschien, welches das Christentum bekämpfen musste, um Gestalt annehmen zu können, erklärte Ritschl die detaillierte Erforschung der Religion des frühen Judentums als für die Geschichte des Christentums im wesentlichen irrelevant. Die Entstehung und das Wachstum des Christentums waren laut Ritschl ein Prozess der Beseitigung judenchristlichen Einflusses und der Bestreitung der Legitimität des Judenchristentums. Damit bestritt er die These eines positiven rabbinischen Einflusses auf das Neue Testament und das frühe Christentum. Das Verständnis der Entstehung des Christentums als eines Prozesses der Entjudaisierung stellte einen beunruhigenden Präzedenzfall für die in den dreißiger Jahren [des 20. Jahrhunderts, Anm. M. G.] konkreten Schritte zur Beseitigung des Alten Testaments aus dem christlichen Kanon und zur Deutung Jesu als eines ‚Ariers‘ dar, der gegen das Judentum kämpfte. Vor allem aber führte Ritschl den Prozess der Entjudaisierung auf Jesus selbst zurück. Er behauptete, die Glaubensaussagen der Apostel – einschließlich der Notwendigkeit der Ablehnung des Judentums – müssten auf Jesu eigenen Glauben zurückgehen.“57 Trotz der unbestrittenen Verdienste Heschels um die Erschließung von Geigers Werk, die auch für die folgende Darstellung seiner Leistungen auf dem Gebiet der jüdischen Geschichte mit Gewinn rezipiert wurden, zeigen sich hier doch einige merkwürdige methodische Entscheidungen bzw. ein problematischer Begriffsgebrauch. Drei Punkte, in denen ihr nicht gefolgt werden kann, seien genannt. Zum einen weisen die eben zitierten Aussagen über Ritschl deutlich auf Heschels teilweise starke Typisierungen hin, die die Forschungsleistungen der behandelten Autoren nicht mehr erkennen lassen. Und so führt sie zur durch Baur und Strauß repräsentierten Tübinger Schule aus, daß Geiger zu „ihren Methoden“ neigte, „ihre Kategorien“ benutzte und „die Schwächen einiger ihrer Schlussfolgerungen“ für seine eigenen Forschungen zu nutzen wußte. Unbeschadet der Nutzung unangebrachter „negative[r] Stereotype“ gegenüber dem Judentum hätten sie Raum für Geigers eigene Forschungen geboten. Auch wenn der Göttinger Ritschl damals den „Sieg über die Tübinger Schule“ davongetragen habe, erkannte doch Geiger den mit dessen Forschungen verbundenen 56 Daran anschließend folgt als sechster Abschnitt das Hauptkapitel mit dem Titel „Der jüdische Jesus und die protestantische Flucht vor dem historischen Jesus“ (A. a. O., 213–264). Auch dies sagt mehr über Heschel selbst aus, als daß es der protestantischen Bibelauslegung gerecht wird. 57 A. a. O., 209.
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Kapitel VII: Abraham Geiger
„Rückschritt“58 und nutzte seine Methoden nicht. Ohne hier auf die Details der damaligen Methodendiskussion eingehen zu können, ist doch festzuhalten, daß Heschels Darstellung der ‚Tübinger Schule‘ und Ritschls selbst reichlich mit Stereotypen arbeitet und der tatsächlichen Lage kaum gerecht wird. Darüber hinaus erlauben die von ihr apostrophierten Gegensatzbildungen weder eine angemessene Würdigung der Leistungen Geigers im Rahmen der Forschungsdiskussionen seiner Zeit, noch werden sie den damaligen differenzierten Debattenlagen gerecht. Ritschls Kennzeichnung als Vordenker des Antisemitismus der 1930er Jahre in Deutschland macht die Problematik besonders deutlich. Zum zweiten ist Heschels Begriff der ‚Gegengeschichte‘ problematisch, auf den gleich näher eingegangen werden soll. Zunächst ist noch darauf aufmerksam zu machen, daß ihre Ausführungen in der Konsequenz auf den Vorwurf der Geschichtsfälschung hinauslaufen. So spricht Heschel im obigen Zitat zu Ritschl davon, daß dieser die Geschichte des Judentums in seinem Sinne umgedeutet habe. Dabei sei er nur ein besonders prominentes Beispiel für den von christlichen Forschern beherrschten Diskurs. Demgegenüber – und dies versteht Heschel als die zentrale These ihres Buches – „versuchten jüdische Historiker die allgemein akzeptierte Darstellung der Geschichte des christlichen Westens zu destruieren, indem sie ihn aus der Perspektive jüdischer Erfahrung betrachteten“59. Heschel spricht in Bezug auf Geigers Werk von einer „Revolte der Kolonisierten“60 und verweist auf die von Antonio Gramsci herausgearbeiteten sogenannten gesellschaftlichen Hegemonien. Anzumerken bleibt, daß so die Aspekte des Geigerschen Werks aus dem Blick geraten, die es als einen wichtigen Beitrag zur alttestamentlichen Hermeneutik im 19. Jahrhundert erscheinen lassen. Indem Heschel scheinbar diametral entgegengesetzte Wertungen der Geschichte konstruiert – und diese zudem auch noch mit sich gegenseitig ausschließenden Herrschaftsansprüchen verknüpft –, bleibt für ein gemeinsames Forschungsinteresse kein Raum.61 Zum dritten, und dies hängt mit den beiden bisher genannten Punkten eng zusammen, wertet Heschel die protestantische alttestamentliche Forschung des 19. Jahrhunderts als deutsche, christliche und damit per se antijüdische Forschung. Sie stelle das Gegenüber zu Geigers Werk dar. Durch diese Pauscha58 Alle
Zitate a. a. O., 183. 28.
59 A. a. O., 60 Ebd.
61 „Die Einsicht der postkolonialen Theorie, wonach die Literatur von Minderheiten sich durch das Verfahren des ‚Gegendiskurses‘ auszeichnet, hilft, Geigers Werk zu erhellen, insofern die Logik seiner historischen Argumentation eine Umkehrung des allgemein anerkannten europäischen Selbstverständnisses darstellte. Geigers ‚Gegengeschichte‘ begründete eine Umwertung christlicher Argumente gegen das Judentum und wirkte als leidenschaftliche Verteidigung des Judentums. Seine Forschung zielte nicht auf eine Christianisierung des Judentums, sondern auf eine Judaisierung des Christentums. Es überrascht daher nicht, dass die christlichen Reaktionen von Empörung gekennzeichnet waren.“ (A. a. O., 29)
3. Der Beitrag zur alttestamentlichen Hermeneutik
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lisierung und Aufteilung in einander gegenüberstehende Gruppen christlicher und jüdischer Theologen geraten nicht nur Konvergenzen zwischen diesen aus dem Blickfeld. Auch interne Divergenzen in grundsätzlichen methodischen Fragen bei einzelnen Autoren werden nivelliert. Und darüber hinaus rücken Veränderungen der jeweiligen Positionen der von Heschel zusammengestellten Gruppen nur ungenügend in den Blick, weil sie – je in Abgrenzung voneinander – ihre ganze „Aufmerksamkeit auf die jüdische wie auch die christliche historische Theologie in Deutschland“62 richtet. In Christian Wieses ‚Vorwort‘ zu Heschels Buch macht er den schon eingeführten Begriff der ‚Gegengeschichte‘ stark: „Heschel beschreibt […] die Leidenschaft, Vehemenz und intellektuelle Kraft, mit der Geiger der Macht des protestantisch-liberalen theologischen Geschichtsbildes entgegentrat und eine mehr als herausfordernde Gegengeschichte entwarf, die das Judentum als wahre, originelle, das Christentum dagegen als synkretistische, von ihren Ursprüngen entfernte Religion darstellte.“63 Damit bringt Wiese Heschels Anliegen auf den Punkt und verschärft zugleich die Probleme, die oben aufgeworfen wurden. Das Wegweisende ihres Buchs liegt für Wiese in der „Kritik an der damaligen protestantisch-liberalen Bibel- und Jesusforschung“64, die sich mit der nötigen Schärfe und Polemik gegen die „Eindimensionalität herrschender protestantisch-theologischer Geschichtsbilder“65 gewendet habe. Damit sollen in keiner Weise Wieses Verdienste um die angemessene Würdigung jüdischer Theologen in Abrede gestellt werden. Seine Geschichte der Wissenschaft des Judentums in der wilhelminischen Ära66 – in der sich vor allem seine eigene Position erläutert findet – ist eine Pionierarbeit, auch wenn er vielleicht die Forschungsbeiträge der verhandelten Autoren auch deshalb als „Ein[en] Schrei ins Leere?“67 interpretiert, weil er sich mit dem Konzept der Gegengeschichte68 den Blick für wechselseitige Ableitungs- und Rezeptionsprozesse verstellt. Dies zeigt auch der Bezug auf Geiger. In Wieses einleitendem Forschungsbericht zur Studie über das Verhältnis von ‚Wissenschaft des Judentums‘ und protestantischer Theologie, in dem er 62 A. a. O.,
28. Vgl. auch die arg pauschalisierende Behauptung: „Geiger war der erste Jude, der christliche Texte einer detaillierten historischen Analyse aus explizit jüdischer Perspektive unterzog. Für die christlichen Theologen, die seit langem gewohnt waren, die Geschichte und das Wesen des Judentums in ihren Abhandlungen zu sezieren, war es eine ganz neue Erfahrung, dass ihre eigene Religion sich dem prüfenden Blick eines jüdischen Theologen ausgesetzt sah.“ (Ebd.) 63 Wiese, Vorwort, 16, Hervorhebung im Original. 64 A. a. O., 17. 65 A. a. O., 16. 66 Vgl. Wiese, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. 67 So der bereits zitierte Untertitel der Studie Wieses, Wissenschaft des Judentums und protestantische Theologie im wilhelminischen Deutschland. 68 Vgl. dazu a. a. O., bes. 12, 70 und 363.
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Kapitel VII: Abraham Geiger
sich ausdrücklich dem methodischen Grundsatz der Untersuchung Heschels anschließt, heißt es: „Indem Abraham Geiger eine jüdische Version des Aufstiegs und der Entwicklung des Christentums entwickelte und Jesus und Paulus in ihrer Beziehung zum pharisäischen Judentum verstand, verwendete er einerseits im apologetischen Sinne Wissenschaft als Mittel zur Überwindung des Antijudaismus in der christlichen Wissenschaft, während er andererseits die protestantische Theologie mit der These herausforderte, die wissenschaftliche Erforschung des Judentums sei eine wesentliche Voraussetzung zu einer präzisen Erfassung des Neuen Testaments und des Urchristentums.“69 Möglicherweise aufgrund mangelnden Abstands zu dem, was er an Geiger positiv hervorhebt, sieht Wiese immer nur einander unvermittelbar gegenüberstehende Positionen. Dabei wird den jüdischen Forschern auf der einen Seite das Etikett des apologetischen Interesses aufgedrückt und den christlichen auf der anderen das des antijudaistischen – welches je auf seine Weise die differenzierte Lage nicht angemessen wiedergibt.70 Abhängigkeitsverhältnisse, die diesen schroffen Gegenüberstellungen zuwiderlaufen, zeigt Scheliha in seinem die Diskussion weiterführenden Beitrag auf, der den zahlreichen Einflüssen Schleiermachers in Geigers Werk gewidmet ist.71 Scheliha, der Geiger für das liberale Judentum eine ähnliche Bedeutung zuschreibt wie Schleiermacher für den Protestantismus, geht von der These aus: „Geiger macht sich die von Schleiermachers ‚Reden‘ ausgehende pluralitätsfreundliche Stimmung ebenso zu Eigen wie das Modernisierungsprogramm“72. Geigers Interesse an der jüdischen Geschichte habe die religionstheoretische Nähe zu Schleiermacher zu ungunsten der Sicht Hegels verstärkt. In seiner kritischen Distanz bei der Anknüpfung an Schleiermachersche Gedanken erinnere Geigers Haltung dabei bisweilen an Ritschl.73 Auf die Nähe zu Schleiermacher hatte auch schon der Neutestamentler Heinrich Julius Holtzmann (1832–1910) 69
A. a. O., 12. So wird Geiger vor allem – neben einer knappen theoretischen Einordnung seiner Forschungen in den Kontext des zeitgenössischen Judentums (Vgl. a. a. O., bes. 69–71) – im Kontext antijüdischer Vorwürfe erwähnt, wenn z. B. Franz Delitzsch gegen ihn den Vorwurf des „Antijudaismus“ erhob und Heinrich Holtzmann ihn auf einer Postkarte an Wilhelm Bousset (1865–1920) als „,ein Prachtexemplar jenes mit hochgradiger Reizbarkeit‘ vorgehenden ‚j(üdischen) Dünkels‘“ bezeichnete. (A. a. O., 104 f. und 154) 71 Arnulf von Scheliha, Schleiermachers Deutung von Judentum und Christentum in der fünften Rede ‚Über die Religion‘ und ihre Rezeption bei Abraham Geiger, in: Barth / Barth / Osthövener (Hgg.), Christentum und Judentum, 213–227. Vgl. auch die von ihm betreute Dissertation von Stallmann, Abraham Geigers Wissenschaftsverständnis. 72 A. a. O., 221. 73 Damit wendet Scheliha sich unausgesprochen gegen Heschel. Denn auch wenn Scheliha den von ihr in die Diskussion eingebrachten Begriff der ‚Counterhistory‘ aufgreift, so teilt er nicht die bei Heschel damit verbundene – gegen den ‚christlichen‘ Forschungsdiskurs gewendete – Intention. Vielmehr zeigt Scheliha, trotz ganz natürlicher Differenzen, große Übereinstimmungen auf, wenn er zusammenfassend festhält: „Es zeugt […] von dem Reichtum der Theorie Schleiermachers, dass ein Gelehrter wie Geiger auch dort, wo er den inhaltlichen Vor70
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in einer Rezension des ersten Bandes von Geigers später publizierten Vorlesungen über die jüdische Geschichte verwiesen.74 Scheliha untersucht nun diese genauer, nachdem die bisherige Forschungsliteratur außer einiger Verweise die Bezüge Geigers zu Schleiermacher unberücksichtigt gelassen hatte. Dabei stellt er fest, daß sich Geigers Kritik fast ausschließlich auf dessen „Wirkungsgeschichte und nur insoweit gegen Schleiermacher selbst richtet, als er die darin erkennbaren Einseitigkeiten durch Undeutlichkeit selbst verschuldet hat“75. Die grundlegenden religionstheoretischen Einsichten des frühen Schleiermacher rezipiere Geiger jedoch.76 So folgen beide erstens dem Subjektivierungsparadigma der Aufklärung, lösen sich jedoch von deren ethiko-theologischen Intentionen. Zweitens favorisieren beide einen allgemeinen Religionsbegriff, der den Geist- gegenüber dem Gottesbegriff vorzieht und so ohne einen personifizierten Gottesgedanken auskommt. Und drittens gehen Schleiermacher und Geiger davon aus, daß Religion sämtliche Bewußtseinsvermögen umfaßt und ihr somit die Funktion der Einheitsstiftung des Selbstbewußtseins zukommt. Viertens hebt Scheliha hervor, daß bei beiden „die historische Kritik als konstitutiv für den modernen Umgang mit Religion angesehen wird“77. Wenn – was Scheliha vor allem an dessen späteren Schriften aufzeigt – Geiger in seiner Deutung der jüdischen Geschichte insbesondere auf deren zunehmende Tendenz zur „Subjektivierung“, sowie auf ihre „Lebendigkeit“ und „Reformfähigkeit“78 verweist, zeige er sich als treuer Schüler Schleiermachers.79 gaben nicht folgte, in der Konstruktion einer Counterhistory der theoretischen, methodischen und hermeneutischen Reichweite seines Konzeptes verhaftet bleiben konnte.“ (A. a. O., 227) 74 „Es bedarf nicht erst eines besonderen Nachweises, daß diese Sprache nicht aus dem Talmud geflossen, daß diese Ideen nicht dem Rabbi Hillel oder einem anderen der von dem Verfasser so über alles Maaß gepriesenen, selbst dem Moses und den Propheten vorgezogenen ‚Lehrer‘ entlehnt sind, sondern daß Beides, Gedanke und Ausdruck, nur möglich war in einer Zeit, zu der auf der einen Seite Schleiermacher über das Wesen der Religion geredet hatte, und in der auf der andern Seite das Bestreben liegt, das Geistige in der Natur vorgebildet, die Naturgesetze im Geistesleben auf die Stufe des Bewußten erhoben, gleichsam im zweiter Potenz wiederholt zu sehen, den religiös-sittlichen Prozeß als die Fortsetzung und Vollendung des ganzen Naturlebens aufzufassen. Das aber sind jedenfalls Ideen, die dem echten Juden transcendent sind und bleiben.“ (Heinrich Julius Holtzmann, Rez.: Abraham Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte [1]. Nebst einem Anhange: Ein Blick auf die neuesten Bearbeitungen des Lebens Jesu, Breslau 1864, in: PKZ 12 [1865], 225–237, 227, Hervorhebung im Original) Es ist bemerkenswert, daß Heschel diese Bezüge kennt, von dem wiedergegebenen Holtzmannzitat jedoch nur den letzten Teil des letzten Satzes anführt. (Vgl. dazu Heschel, Der jüdische Jesus und das Christentum, bes. 332–334) Dadurch wird die letztlich sehr wohlwollende Intention der ausführlichen Rezension von Holtzmann in ihr Gegenteil verkehrt. 75 Scheliha, Schleiermachers Deutung von Judentum und Christentum in der fünften Rede ‚Über die Religion‘ und ihre Rezeption bei Abraham Geiger, 223. 76 Vgl. dazu a. a. O., bes. 223 f. 77 A. a. O., 224. 78 A. a. O., 226. 79 Dies gilt auch für die Verwendung des Geistbegriffs als zentraler systematischer Kategorie bei Geiger – auch wenn dieser natürlich nicht Schleiermachers negativem Verständnis der jüdischen Religion folgt. (Vgl. dazu a. a. O., bes. 215–220) Noch immer einschlägig hier-
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3.2. Die Darstellung der jüdischen Geschichte 3.2.1. Die Träger der Überlieferungen Nachdem forschungsgeschichtlich eingeleitet wurde, um die Problematik der bisherigen, umfangreichen Forschungsliteratur aufzuzeigen, untersucht der folgende Abschnitt Geigers eigene Darstellung der jüdischen Geschichte seit der Errichtung des zweiten Tempels. Mit jüdischer Geschichte meint Geiger die Zeit des Alten Testaments bis hin zu den frühjüdischen Überlieferungen. Insbesondere das genannte Hauptwerk ‚Urschrift und Uebersetzungen der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der innern Entwicklung des Judenthums‘ ist dafür einschlägig. Die Geschichte der biblischen Überlieferungen zeichnet Geiger in den beiden ersten großen Abschnitten dieser Abhandlung von der Zeit der Rückkehr aus dem babylonischen Exil bis ins zweite nachchristliche Jahrhundert nach. Ausgangslage ist das politische Ende der beiden Reiche Israel und Juda, das für ersteres auch das Ende der Identität als Volksgemeinschaft bedeutete.80 Dies gilt jedoch nicht für das Reich Juda, „das durch eine feststehende und erbliche weltliche und geistige Macht vertreten und verkörpert war“81. Die weltliche Macht bildete die das Königtum repräsentierende Dynastie der Davididen, wobei mit ihrem Gründer die Idee eines glücklichen und erfolgreichen Reiches verbunden wurde. „Einen noch lebendigeren ideelen Mittelpunkt bildete das Nationalheiligthum, der Tempel zu Jerusalem, als dessen Träger die Priester und an ihrer Spitze deren Oberst (ha-Rosch), der Hohepriester (ha-Khohen ha-gadol) erschienen.“82 Das Hohepriestertum bildete die geistige Macht in Juda und wurde ebenfalls von einer Familiendynastie repräsentiert, nämlich den sich letztlich auf Aaron zurückführenden und nach Zadok – dem Priester zur Zeit Davids – benannten Zadokiden. Seit der Rückkehr aus dem Exil herrschten sie unangefochten im Inneren des Reiches. Ihre Bedeutung für die jüdische Geschichte ist laut Geiger kaum zu überschätzen. Während sich die einstmalige Herrschaft der Davididen im Rückblick immer mehr verklärte und so eine wichtige Stütze für die Bewahrung der Zusammengehörigkeit als Gemeinschaft wurde, waren die Zadokiden die realen Herrscher im Land.83 zu: Hans-Walter Schütte, Christlicher Glaube und Altes Testament bei Friedrich Schleiermacher, in: Dietrich Rössler / Gottfried Voigt / Friedrich Wintzer (Hgg.), Fides et communicatio. FS für Martin Doerne zum 70. Geburtstag, Göttingen 1970, 291–310. 80 „Die beiden Reiche, Israel und Juda, zerfielen, und die Donnerstimme der begeisterten Patrioten, der Propheten, verhallte vergeblich, wie sie auch eindringlich mahnend und ermuthigend, das Nationalgefühl zu wecken, die Einigung herzustellen, heilige Gesinnung und Achtung für reine Gottesverehrung zu beleben beflissen waren.“ (Geiger, Urschrift und Uebersetzung der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der innern Entwicklung des Judenthums, 18) 81 A. a. O., 21. 82 Ebd. 83 Ihnen seien daher auch zahlreiche Ehrentitel beigelegt worden: „Bei der Lautähnlich-
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Geiger berichtet davon, daß vor der Zerstörung des zweiten Tempels im Jahr 70 n. Chr. die Zadokiden – später seien aus ihnen die Sadduzäer hervorgegangen – durch ihren Anschluß an das zentrale Heiligtum in Jerusalem und die damit verbundenen besonderen priesterlichen Funktionen die nationalen und religiösen Eigentümlichkeiten des jüdischen Volkes bewahrt hätten. „Die Sadducäer sind ursprünglich die vornehmen Priesterfamilien, Nachkommen der vor den Makkabäern herrschenden Zadokiten, denen sich überhaupt Alles, was aus irgendeinem Grunde sich zur Aristokratie zählte, anschloss, namentlich auch die hohenpriesterlichen Familien […]; sie hatten Verwaltung und Gerichtsbarkeit inne.“84 Im Laufe der Zeit entstand eine Gruppierung im Volk, die ihnen gegenüberstand, die Pharisäer: „Die Pharisäer bestanden aus dem national und religiös gesinnten Bürgerthume, bildeten die Opposition gegenüber der Aristokratie, die sie allmälig überwältigten.“85 Welche zentrale Bedeutung Geiger diesen beiden Gruppierungen zumißt, ist später zu erörtern. Hier seien zunächst einmal nur dessen Definitionen der für ihn wichtigsten Träger der alttestamentlichen Überlieferungen zitiert. Wie diese zu interpretieren sind und welche Bedeutung sie für die jüdische Geschichte haben, wird erst vor dem Hintergrund der ihm eigentümlichen Methode der Bibelauslegung deutlich, die zunächst erörtert werden soll. Dazu ist festzuhalten, daß das Interesse an der historischen Kritik und besonders die von Scheliha herausgestellte besondere Bedeutung der ‚Lebendigkeit‘ oder – weiter formuliert – lebensphilosophische Motive für die Darstellung Geigers kennzeichnend sind.
3.2.2. Die Überarbeitungsprozesse „Die Bibel, wird der […] Grundgedanke lauten müssen, ist nicht blos ein Buch des gelehrten Studiums gewesen, sie war zu allen Zeiten ein Buch für’s Leben, ihre Aussprüche sollten unmittelbar in den ganzen Gedankenkreis eingehen, Wahrheiten bekräftigen, Gesinnungen erzeugen, und es war die Aufgabe namentlich derer, die sie für den minder Kundigen bearbeiteten, sie so einzurichkeit der Worte und deren gleichen Ableitung lag es nahe, dieser herrschenden Familie der Zadukim den Ehrennamen Zaddikim, Gerechte, beizulegen, und dies umsomehr, als neben dem Priesterdienste das Attribut ihrer Landeshoheit, welche anderweitig durch die Oberherrlichkeit der fremden Könige verkümmert war, vorzugsweise im Richteramte, in der Ausübung der Rechtspflege bestand. Während daher der Name der Familie im verherrlichenden Style des Lobgesanges Zaddikim, Gerechte, dann Volksführer, lautete, so war der Name des Familienhauptes, des herrschenden Hohenpriesters mit besonderer Betonung der Zaddik, der Gerechte, was dann nichts Anderes bedeutete als der Fürst, oder auch Malkhizedek, der König der Gerechtigkeit, Namen, welche diese Fürsten neben dem geistlichen des Khohen, Priesters, oder bestimmter Khohen le-el ’eljon, Priester dem höchsten Gotte, führten.“ (A. a. O., 26 f., Hervorhebungen im Original) 84 A. a. O., 149 f., im Original hervorgehoben. 85 A. a. O., 150, im Original hervorgehoben.
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ten, dass sie ihn nicht zu einem Missverständnis führen konnte.“86 Überarbeitungsprozesse gehörten seit der Entstehung erster Schriftdokumente konstitutiv zu den alttestamentlichen Überlieferungen dazu. Und da sie nicht im luftleeren Raum entstanden sind, sondern sich geistigen und sozialen Entwicklungen verdanken, lassen die alttestamentlichen Überlieferungen auch Rückschlüsse auf diese zu. Diesen Entwicklungsprozessen möchte Geiger an der „innere[n] Geschichte der Bibelauffassung und -behandlung, wie sie im Zusammenhange mit der Geschichte des Judenthums sich bildete und zu verschiedenen Zeiten umbildete“87 nachgehen. Zwar fehlten dafür größtenteils außerbiblische Quellen. Doch die ‚innere Geschichte‘ der Bibel selbst – heute würde man von Fortschreibungsprozessen sprechen88 – lasse erkennen, wie ihre Grundaussagen und -einsichten im Laufe der jüdischen Geschichte immer wieder der je eigenen Gegenwart entsprechend reformuliert und damit aktualisiert wurden: „Die Untersuchung über die innere Entwicklung des Judenthums wird […] ebensowohl zur Aufhellung der Geschichte des Bibeltextes und der Uebersetzungen beitragen, wie sie selbst von der Betrachtung dieser Geschichte Licht empfangen wird.“89 Diesem Wechselwirkungsverhältnis gilt Geigers Interesse. Geiger geht es um die Aufhellung der jüdischen Geschichte durch die Rekonstruktion von Schichtungen und Fortbildungen im Alten Testament. Wenn er davon ausgeht, daß der Bibeltext zur Erhellung der Geschichte dient, so wie die Geschichte zur Erklärung des Bibeltextes herangezogen wird, liegt die nicht ganz von der Hand zu weisende Gefahr eines methodischen Zirkelschlusses vor. Doch Geiger sieht sich zunächst einmal vor die Aufgabe gestellt, die alttestamentlichen Schriften auf ihre literarische Einheitlichkeit hin zu befragen. Daß oft außerbiblische Zeugnisse fehlten, dürfe seiner Meinung nach kein Hinderungsgrund dafür sein, den Versuch zu unternehmen, mögliche Quellen herauszuarbeiten und – hier liegt sein vornehmlichstes Interesse – Schichtungen freizulegen, die auf verschiedene Autoren zurückzuführen seien. Angesichts des Mangels an außerbiblischen Zeugnissen und der hohen Interpretationsbedürftigkeit archäologischer Zeugnisse nimmt Geiger seinen Ausgangspunkt beim vorliegenden Text und versucht schriftliche Vorstufen und Vorlagen zu rekonstruieren. In gewisser Weise wird dadurch die Stärke der Geigerschen Herangehensweise, die sich durch ihren Aufweis von inneralttestamentlichen Überarbeitungsprozessen bleibende Verdienste um die Bibelhermeneutik erworben hat, zugleich zu ihrer Schwäche. Hinter der Geigerschen Herausarbeitung eines Wechselwirkungsverhältnis von Text und Geschichte steht die Einsicht, daß das Alte Testament zu allen 86 87
A. a. O., 18. A. a. O., 19. 88 Christoph Dohmen und Günter Stemberger meinen dasselbe, wenn sie unter Verweis auf Geiger von „innerbiblischer Auslegung“ sprechen. Vgl. dies., Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (KStTh 1.2), Stuttgart 22019, bes. 30–35. 89 Ebd., Hervorhebungen im Original.
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Zeiten eine Glaubensurkunde gewesen ist, die in verschiedenen Zeitepochen je neu aktualisiert und angeeignet werden mußte, um den Bezug zur allgemeinen Religiosität nicht zu verlieren. „Die Bibel ist und war zu allen Zeiten ein ewig lebendiges Wort, nicht ein todtes Buch.“90 Diese Lebendigkeit äußert sich für Geiger in den Fortschreibungsprozessen, die er rekonstruieren möchte. Immer wieder haben die biblischen Überlieferungen Aktualisierungen erfahren. Spätere Generationen trugen ihre subjektiven Erfahrungen ein. An dem schließlich als heilig aufgefaßten Wortlaut des Textes wurden Anpassungen im Sinne des eigenen besseren Verständnisses vorgenommen, geistige Veränderungen schlugen sich nieder. Gerade auch die spätere Kanonisierung der biblischen Überlieferungen ist für Geiger ein Beweis dafür, daß es in früheren Zeiten nicht so war.91 Zwar kann und muß es durchaus auch in den heute kanonisierten Texten des Alten Testaments ältere Urkunden geben, an die sich die jeweiligen Fortschreibungen anschlossen. Doch gilt ihnen nicht das primäre Interesse Geigers. Vielmehr konzentriert er sich auf die in späteren Generationen vorgenommenen Veränderungen: „Das ewige Wort gehört nicht einer bestimmten Zeit an, es konnte nicht von der Zeit seiner Niederschreibung abhängig sein, es durfte ebensowenig angeblich neuer Wahrheiten und Erkenntnisse entbehren. Daher trug eine jede Zeit, eine jede Richtung, eine jede Individualität in die Bibel ihre ganze eigne Auffassung hinein; daher die Erweiterungen, Deutungen, typischen und symbolischen Erklärungsversuche.“92 Um sie zu rekonstruieren und sie aus ihrer jeweiligen Zeit heraus zu verstehen, verknüpft Geiger auf innovative Art und Weise text- und religionsgeschichtliche Untersuchungen. Das Interesse an einer individuell akzentuierten Religionsgeschichte teilt er mit Schleiermacher. Die Verwandschaft des individualitätstheoretischen Zugangs ist evident.
3.2.3. Die Rezeption der Ergebnisse der historischen Wissenschaft Geiger war sich der Bedeutung seines hermeneutischen Ansatzes durchaus bewußt und sieht gerade in seiner Epoche bedeutsame Veränderungen in der Geschichtswissenschaft vor sich gehen. Erst jetzt sei es möglich, ohne Vorurteile die biblischen Überlieferungen zu untersuchen und zu einem wahrhaft historischen Verständnis ihres Inhalts zu gelangen. Geiger diagnostiziert einen Umbruch in der Geschichtswissenschaft seit den 1820er Jahren. Erst jetzt sei es möglich, einigermaßen getreu der Realität die Entwicklung des biblischen und 90
A. a. O., 72. spätere ausserordentliche Sorgfalt für die Reinhaltung des Bibeltextes darf uns nicht zu einem Rückschlusse auf die früheren Zeiten verleiten. In der älteren Zeit ist die Behandlung des Textes eine weit selbständigere, ja oft willkürliche gewesen, und die spätere Sorgfalt ist gerade als eine heilsame Reaction gegen dieses lange fortgesetzte Verfahren der eigenmächtigen Textesgestaltung aufgetreten.“ (A. a. O., 97) 92 A. a. O., 72. 91 „Die
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nachbiblischen Judentums wiederzugeben, da erst die jüngste Zeit die dafür notwendigen historisch-kritischen Methoden ausgebildet habe.93 Hier nimmt Geiger für sich in Anspruch, die Forschung weiter geführt zu haben. Erst nach der Ausbildung des historischen Bewußtseins – verstanden als sich stufenweise ausbildender Prozeß, der auf die Aufklärung zurückgeht – sei eine den ursprünglichen Verhältnissen gerecht werdende Darstellung der jüdischen Geschichte überhaupt möglich. „Eine unbefangene Geschichtsauffassung, welche sich in die Verhältnisse und Anschauungen der damaligen Zeit zu versetzen, die Energie des damaligen Schöpfungstriebes, die Macht des, wenn auch abnehmenden, Geistes der Offenbarung ( )רוח הקדשzu würdigen weiss, wird an einer solchen Ueberarbeitung nicht nur keinen Anstoss nehmen, sie wird sie vielmehr nothwendig und schon durch Analogie bezeugt finden.“94 Bevor auf die im Zitat Bezug genommene schöpferische und lebendige Epoche der jüdischen Geschichte weiter eingegangen werden soll – Geiger spielt hier auf die Zeit nach der Errichtung des zweiten Tempels an –, ist kurz zu erörtern, was er ebenda unter ‚Analogien‘ versteht.
3.2.4. Die Adaption des Analogiebegriffs Die neben der oben zitierten Stelle lediglich beiläufige und in begriffsgeschichtlicher und systematischer Hinsicht unergiebige Verwendung des Analogiebegriffs bei Abraham Geiger erlaubt keine eingehendere Analyse. Die folgenden Ausführungen orientieren sich daher an seinen materialen Abhandlungen. Immerhin so viel läßt sich sagen: Geiger sieht den von ihm in den alttestamentlichen Überlieferungen herausgearbeiteten Fortschreibungsprozeß nicht mit der Kanonisierung der Bibel als abgeschlossen an. Vielmehr zeige sich derselbe Vorgang auch in den rabbinischen Überlieferungen, die er in seine text- und religionsgeschichtlichen Untersuchungen mit einbezieht. Auf diesem Gebiet hat Geiger Pionierarbeit geleistet, was auch von seinen Zeitgenossen zustimmend oder ablehnend wahrgenommen wurde.95 Die Untersuchung der rabbinischen 93 „Nur
dem unbefangenen Blicke einer späteren Zeit, welche die Entwicklung zugiebt, offenbaren sich die Differenzen, und was ihr nicht mitgetheilt wird, erschliesst sie aus den geistigen Erzeugnissen der verschiedenen Zeiten, denen sie die herrschenden Anschauungen ablauscht. Allein diese unbefangene Auffassung, dass erst allmälig aus dem biblischen Judenthume heraus das fertig vor uns dastehende thalmudische sich entwickelt und ein Zeitraum von acht Jahrhunderten an dieser Entwicklung mühsam gearbeitet, ist selbst noch nicht vollständig durchdrungen, und jedenfalls erst das Erzeugniss der neueren, seit drei Jahrzehnten sich vorbereitenden geschichtlichen Einsicht; die Mittel aber, dieser Entwicklung nachzugehen, sind sehr spärlich vorhanden, so dass ausser dem Zugeständnisse einer solchen im Allgemeinen eigentlich noch Nichts weiter klar erkannt ist und die einzelnen Stufengänge nicht angegeben werden konnten.“ (A. a. O., 423 f.) 94 A. a. O., 73. 95 So schreibt Heschel über das Erscheinen des Werkes: „Das Buch wurde von den Orientalisten als Meisterwerk bejubelt, von orthodoxen Juden aber als Angriff gegen das traditio-
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Überlieferungen stellt für ihn, gerade was die spätere Geschichte des Judentums anbelangt, eine wichtige Parallele zum Alten Testament dar. In ihnen, vor allem dem Talmud, wird der Versuch unternommen, einen Traditionsabbruch zu verhindern, indem die biblischen Überlieferungen um für eine bestimmte Zeit geschriebene religiöse Vorschriften und Bestimmungen ergänzt wurden. Geiger versteht diese aktualisierenden Überlieferungen nicht als festgefügte unantastbare Texte, sondern möchte mit seinen kritischen Untersuchungen gerade den lebendigen Bezug zu einer bestimmten Epoche der jüdischen Geschichte aufzeigen, für die sie allein Geltung beanspruchen können. Für die Zeit unmittelbar vor der Zerstörung des zweiten Tempels und für die Zeit ihrer Entstehung selbst bilden die rabbinischen Überlieferungen wichtige historische Zeugnisse. Geiger ist bewußt, daß er mit seinen Forschungen erst den Anstoß zu ihrer Auswertung gegeben hat, wobei er die rabbinischen in Analogie zu den biblischen Überlieferungen deutet.96 So wie in früherer Zeit die Aktualisierungen in Form von innerbiblischen Erweiterungen und Fortschreibungen erfolgten, so geschah das nach ihrer Kanonisierung in Form von Auslegungen. Mit Formulierungen, die an Johann Gottfried Herder erinnern, führt Geiger dazu aus: „Was […] in späterer Zeit auf dem Boden der Exegese geschah, das musste in früherer Zeit, als die Bibel noch nicht fest abgeschlossen war, durch Ueberarbeitung geschehen. Die Bibel enthielt das volle Geistesleben des Volkes, drückte es vollkommen aus, sie sprach einem jeden seine eignen besseren Ueberzeugungen aus, und in der energischen Wiederbelebung, welche sich in der ersten Zeit des zweiten Staatslebens unter den Zadokiten kund gab, in dem vollen Streben, die Bibel nun endlich eine Wahrheit werden zu lassen, in der vollen Identificirung der eignen Gesinnung mit deren Inhalt, musste das nationale Bewusstsein in dem überlieferten heiligen Buche seinen ganzen Ausdruck finden“97. Mit der Zeit des zweiten Staatslebens, der Zeit unmittelbar nach der Errichtung des zweiten Tempels in Jerusalem, ist der Bogen zurück zu der vorhin benannten Epoche der jüdischen Geschichte geschlagen – die Geiger zufolge gerade auch für die Entstehung und das Verständnis des Alten Testaments von nicht zu unterschätzender Bedeutung sei.
nelle Judentum geschmäht. Die christlichen Theologen schwankten in ihrer Auffassung. Was sie auch immer davon hielten, die Europäer lasen und diskutierten die Urschrift, und sie verschafften Geigers Namen Eingang in beinahe alle wissenschaftlichen Zeitschriften jener Zeit.“ (Dies., Der jüdische Jesus und das Christentum, 87, Hervorhebung im Original) 96 Lakonisch formuliert Geiger an einer Stelle: „Das deutlichste Bild der damaligen religiösen und bürgerlichen Verwaltung liefern uns die thalmudischen Urkunden, wenn wir sie zu lesen verstehen.“ (Ders., Urschrift und Uebersetzungen der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der innern Entwicklung des Judenthums, 108 f.) 97 A. a. O., 72 f.
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3.3. Die Saduzzäer und Pharisäer als Muster der Geschichtsschreibung 3.3.1. Das Epochenschema Im Schlußteil der ‚Urschrift und Uebersetzung der Bibel in Anhängigkeit von der innern Entwicklung des Judenthums‘ faßt Geiger das Ziel und Ergebnis seiner Untersuchung folgendermaßen zusammen: „Wir haben versucht, die innere geistige Entwicklung in einem langen einflussreichen und dunkeln Zeitraum der jüdischen Geschichte zu erkennen. Dieser Zeitraum ist maassgebend ebensowohl nach rückwärts wie nach vorwärts. Er hat die alten Denkmale nach seiner Auffassung ausgeprägt, umgestaltet und uns in dieser Umgestaltung überliefert, und wir können diese Denkmale nicht nach ihrer ursprünglichen Gestalt vollkommen erkennen, wenn wir die Umgestaltungen nicht aufzufinden und zu begreifen wissen; er hat aber auch die ganze spätere eigenthümliche und festgewordene Ausprägung des Judenthums bestimmt, und wiederum bleibt diese unverstanden, wenn die Uebergänge, welche in diesem Zeitraum allmälig vor sich gegangen, unerkannt bleiben.“98 Drei einschneidende historische Übergänge bzw. Stufen arbeitet Geiger heraus, wobei der erste mit dem Ende des babylonischen Exils verknüpft ist. Alle drei im Folgenden zu erörternden Übergangsphasen lassen sich als wichtige Transformationsprozesse begreifen. Das verdeutlicht Geiger am Beispiel der Unterscheidung von Sadduzäismus und Pharisäismus. Erst wenn ihre je eigene Bedeutung und die diese Strömungen voneinander abgrenzenden Merkmale verstanden sind, sei es möglich, die in einer bestimmten Epoche jeweils entstandenen und geltenden Texte und Textpassagen des Alten Testaments richtig zu interpretieren.99 Ausgangsbasis der Geigerschen Erkenntnis ist die implizite Annahme, daß es sich bei den biblischen Schriften nicht um größtenteils schon in vorexilischer Zeit entstandene Überlieferungen handelt, sondern um Fortschreibungsliteratur, die über einen langen Zeitraum hinweg – letztendlich bis zur Kanonisierung – Veränderungen erfuhr. Dies bringt Geiger mit der text- wie religionsgeschichtlich gleichermaßen bedeutsamen These zum Ausdruck, die das bisher 98
A. a. O., 423. hier betritt Geiger, seiner eigenen Überzeugung nach, ein bisher unbeachtetes Feld der alttestamentlichen Forschung: „Was z. B. Sadducäer und Pharisäer sind […] hat man hin und her conjecturirt, und dennoch musste ihre Scheidung tief in der ganzen Anlage und Geschichte des Volkes wurzeln und dennoch können Namen von Secten, die unzweifelhaft hoch hinauf und tief hinunter reichen, nicht zufällig entstanden sein, nicht an Gelegentliches anknüpfen, sondern müssen eng mit der Geschichte verwebt sein, und sind sie noch nicht in ihrer Entstehung und Entwicklung mit vollkommener Bestimmtheit erklärt, so fehlt der Boden, auf dem alles Andere sich dann naturgemäss erbaut. Wie der Text der Bibel, der Grundlage aller weiteren Entwicklung gelautet, wie seine Gestalt im engsten Zusammenhange mit der ganzen Zeitanschauung sich ausgeprägt, wie die Verschiedenheit der Recensionen entstanden, ist nicht nur nicht erklärt, sondern die Frage in ihrem vollen Umfange, namentlich nach der Seite hin, ob der Text von der ganzen Zeitanschauung influirt war, noch nicht einmal gewürdigt worden.“ (A. a. O., 425) 99 Auch
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Dargestellte nochmals zusammenfaßt: „Das religiös-nationale Bewusstsein hatte sich vollständig in den überlieferten heiligen Schatz eingelebt, es assimilierte ihn daher auch mit seinen Empfindungen und gestaltete ihn nach denselben um.“100 Geiger fragt dabei nicht nach den ursprünglichen Quellen und den Faktoren, die diesen Umgestaltungsprozeß angestoßen haben, sondern er zeigt Überarbeitungen auf, die für das geistige Bewußtsein der jeweiligen Epochen der jüdischen Geschichte stehen bzw., so wie die verschiedenen alttestamentlichen Überlieferungen das geistige Bewußtsein bestimmter Epochen zum Ausdruck bringen, so bestimmt umgekehrt die Geschichte die Entstehung und Fortschreibung der alttestamentlichen Überlieferungen. Der erste von Geiger behandelte Transformationsprozeß ist mit der Errichtung des zweiten Tempels in Jerusalem verbunden. In dieser Zeit spielten die Zadokiden eine bestimmende Rolle in der jüdischen Geschichte. Durch die Fremdherrschaft und die Ausübung des hohepriesterlichen Amtes waren sie die eigentlichen Herrscher im Land. Und sie blieben „bis zu dem ersten Kampfe der Hasmonäer (ja auch nach diesem, nur in geänderter Form) der Mittelpunkt des von religiösen Ideen getragenen staatlichen Lebens. Der neue Staat und die Nationalität begründete sich auf den Anschluss an die priesterlichen Schriften“101. Die hier genannten im Umkreis des Jerusalemer Tempels entstandenen Schriften dürfen nicht mit der später sogenannten Priesterschrift verwechselt werden. Doch auch wenn Geiger nicht weiter abgrenzt, welche biblischen Überlieferungen genau darunter zu verstehen sind, so ist doch deutlich, daß er mit dem Ende des babylonischen Exils einen wichtigen Einschnitt im schrittweisen Prozeß der Textgeschichte des Alten Testaments verknüpft. Daß die Erfahrungen dieser Zeit bis heute überliefert sind, sei den Zadokiden zu verdanken, auch wenn sich schon in der Anfangszeit ihrer Wirkung durch die enge Verknüpfung von Staats- und Familieninteressen negative Auswirkungen für das Wohl des jüdischen Staates andeuteten, die später auch zu dessen Ende geführt haben.102 Die später Sadduzäer genannten Zadokiden bildeten Geiger zufolge den Mittelpunkt des neu belebten Staates, der sich als Tempelgemeinde konstituierte. Sie waren die Träger des Tempeldienstes. Ihnen muß daher bei der Sammlung, Formierung und Verschriftlichung des alttestamentlichen Schriftenkomplexes in dieser Zeit die entscheidende Rolle zugekommen sein. Damals waren die Zadokiden / Sadduzäer die für die jüdische Geschichte maßgeblichen Größen und nicht die – erst nach und nach in oppositioneller Abgrenzung gegen sie entstan100
A. a. O., 74. A. a. O., 70. „Der Krebsschaden eines herrschenden Patriziats, dass ihm nämlich das Staatsinteresse zu einer Familienangelegenheit sich verengt, offenbarte sich auch bei den Zadokiten. Schon bei dem Rückzuge aus dem Exile erkennt man, wie die Propheten den Hohenpriester Josua nicht minder als den Davididen Serubabel drängen müssen, wie Maleachi den Priestern seiner Zeit die Würde des ächten Priesters als einen Spiegel vorhält.“ (A. a. O., 35) 101 102
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denen – Pharisäer.103 Die Sadduzäer bildeten die reformerischen Kräfte, die die religiösen Überlieferungen der eigenen Zeit anpaßten und so das jüdische Volk vor dem Untergang bewahrten. Der zweite Transformationsprozeß ist für Geiger mit dem Ende der unangefochtenen politischen Führung durch die Sadduzäer verbunden, das mit den Aufständen der Makkabäer und der damit verbundenen Beendigung der Fremdherrschaft einherging. Während der darauf folgenden Zeit der weitestgehenden Selbständigkeit unter der Herrschaft der Hasmonäer hätten die Sadduzäer ihre politische Führungsrolle verloren. Doch ihr Einfluß, der Geiger zufolge an den in dieser Zeit erfolgten Ergänzungen und Veränderungen des biblischen Textes ablesbar ist, dürfe trotzdem keinesfalls unterschätzt werden.104 Sie bildeten seit dieser Zeit jedoch nur noch eine der beiden Parteien, die die jüdische Geschichte fortan bestimmten. Denn den Sadduzäern als aristokratischer Partei standen nun die oppositionellen Pharisäer als nationale Partei gegenüber.105 Das bedeutete zunächst zwar keine einschneidende Änderung, denn die Sadduzäer seien weiterhin die unbestrittenen religiösen Führer des jüdischen Staates dieser Epoche gewesen.106 Auch nach dem Ende ihrer de facto ausgeübten politischen Herrschaft verkörperten sie weiterhin unangefochten das religiös-nationale Bewußtsein des jüdischen Volkes. Lediglich an den politischen und vor allem sozialen Einstellungen der Priesteraristokratie entzündete sich der Widerspruch der Pharisäer. „Es sind trümmerhafte Traditionen von der geschichtlichen That103 „Sadducäer und Pharisäer müssen schon mit der Gründung des zweiten Staatslebens vorhanden gewesen sein, ja schon früher ihre Keime eingesenkt haben, wenn auch ihre schärfere Scheidung sich erst allmälig vollzogen, ihre Namen müssen sich an die bedeutsamsten Namen und Ereignisse der ältesten Geschichte knüpfen, wenn auch dann deren Sinn sich modificirte; die allmälige Fixirung des Bibeltextes muss von den Anschauungen der Zeit beeinflusst worden sein, und in verschiedenen Recensionen prägen sich verschiedene Zeitauffassungen aus“ (A. a. O., 426 f.). 104 „Daher blieben die Zadokiten oder Sadducäer – wie sie aramäisch und griechisch hiessen – immer weiter die wirklichen oder stellvertretenden hohenpriesterlichen Functionäre, sie waren die alten hohenpriesterlichen, adligen Geschlechter; sie bildeten die priesterliche Aristokratie, in deren Händen sich Macht und Aemter befanden, und ihnen schloss sich eben die alte und neue Aristokratie, Priester und die edlen judäischen Geschlechter, besonders die mit ihnen verschwägerten, an. Die Zadokiten hatten somit aufgehört, die Regenten zu sein, sie waren nicht mehr die Malkhizedek, ‚die Könige der Gerechtigkeit‘, nicht mehr die Zaddikim, ‚die Gerechten‘, sie standen nicht mehr über dem Volke; die Sadducäer, in welchen die Zadokiten den Kern bildeten, waren nun eine Partei im Volke, eine abgeschlossene aristokratische, welche in ihrer Exclusivität den Zudrang der Masse von sich abwehrte, aber doch als adlige, durch alter des Geschlechts, durch Priesterheiligkeit oder durch neu erworbenes Ansehn den bedeutendsten Einfluss hatte, eine kleine aber mächtige Partei.“ (A. a. O., 102, Hervorhebung im Original) 105 „Die nationale Partei wurde schon früher als diejenige bezeichnet, welche sich von den Völkern der Länder und deren Unreinheit ‚absonderte‘ ( ;)נבדלdieses Charakterzeichen wurde nun mit dem entsprechenden aramäischen Worte der Name der Partei. Sie hiessen nun […] Peruschim (aram. Form: Perischin), Pharisäer.“ (A. a. O., 103, Hervorhebung im Original) 106 „Die tiefere Differenz zwischen Sadducäern und Pharisäern war […] keine religiöse, vielmehr eine politische und sociale“ (A. a. O., 170).
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sache, dass eben die Aristokratie, an deren Spitze die vornehmen priesterlichen Familien standen, eine Partei bildeten neben der religiösen Demokratie, die gezwungen war jener sich anzuschliessen und dennoch wiederum sie bekämpfte.“107 Damit verbunden ist aber ein tiefgreifender Wandel der Bedeutung der Priesteraristokratie. Seit dieser Zeit standen die Sadduzäer für die restaurativen Kräfte im jüdischen Volk, dagegen die Pharisäer für die progressiven. Das Ziel der Sadduzäer war die Sicherung ihres Einflusses. Die Pharisäer aber repräsentierten die „volksthümlichen“ Interessen und deren „lebendige Kraft“, die die damaligen „gegebenen Einrichtungen“108 reformieren und nicht ausschließlich bewahren wollten. Auf politischem Gebiet hatten die Sadduzäer ihre Macht verloren.109 Trotzdem verkörperten sie auf sozialem und auf religiösem Gebiet immer noch das jüdische Volk und den jüdischen Staat dieser Epoche. Denn sie stehen, so Geiger, immer noch für die Tradierung und Fortschreibung der religiösen Überlieferungen. Aufgrund ihrer Verknüpfung mit den führenden priesterlichen Ämtern am Tempel kam ihnen diese Rolle automatisch zu und wurde auch von den Pharisäern nicht hinterfragt. „[D]ie Sadd[uzäer] halten an den alten Normen fest, die alte Halachah und Tradition ist zunächst ihr Werk, die jüngere Gestaltung ist die der Pharisäer, und nur dadurch, dass wir blos von diesen, die allein auf dem Kampfplatze blieben, die Nachrichten über das Alterthum erhalten, hat sich unsere Anschauung über das ganze Verhältniss verwirrt“110. Geiger weist damit darauf hin, daß zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu unterscheiden ist. Ohne wirklich nach einem ursprünglichen Überlieferungskern zurückzufragen, formuliert er die Annahme, daß schriftliche Überlieferungen mündlich ausgelegt worden seien, wobei diese Auslegungen mit der Zeit in den Text eingingen, die ursprünglichen schriftlichen Traditionen ergänzten. Es finden sich Anklänge an diskurstheoretische Überlegungen, die wie Vorwegnahmen der Diskurstheorie eines Habermas und Lyotard klingen, wenn Geiger aufzeigt, wie die unterschiedliche Ausrichtung der Sadduzäer und Pharisäer zu einem Motor der (alttestamentlichen) Fortschreibungen wurde und wie derart spezifische historische Signaturen ihren Niederschlag in den biblischen Quellen gefunden haben.111 Gerade die dritte von Geiger herausgearbeitete Epoche der jüdischen Geschichte ist dafür ein eindrückliches Beispiel. 107
A. a. O., 112 f. A. a. O., 104. 109 „Zuerst bildete der Hohepriester, und überhaupt die Glieder der hohenpriesterlichen, priesterlichen, levitischen und übrigen vornehmen Familien, d. h. die Sadducäer, das Patriciat, aus welchem die Senatoren hervorgingen, sowie aus deren Mitte dann wieder die Beamten gewählt wurden. Dies war also der geborene privilegirte und herrschende Stand, dem allmälig das Volk, d. h. die Pharisäer, zuerst den Einfluss, das öffentliche Vertrauen abrang und endlich auch einen Theil der Macht abtrotzte.“ (A. a. O., 114) 110 A. a. O., 134. 111 Zur Diskursforschung vgl. die Beiträge des Handbuchs von Johannes Angermül108
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Der dritte Transformationsprozeß ist für Geiger mit der Zerstörung des zweiten Tempels in Jerusalem durch die Römer verknüpft. Dieses Ereignis änderte das Verhältnis zwischen den beiden Parteien grundlegend. Denn: „Die Macht der Sadd[uzäer] war an den jüd[ischen] Staat, an Jerusalem mit seinem Tempel und den daran fungirenden Priestern geknüpft; die Pharis[äer] trugen ihre gesteigerte Macht aus dem zerstörten Jerusalem anderswohin“112. Das heißt konkret, daß mit dem Ende des jüdischen Staates auch das Ende der Sadduzäer gekommen war. Ohne institutionelle Anbindung ging die Achtung und Anerkennung ihnen gegenüber verloren. Nun, da die Pharisäer als einzige der beiden Parteien übriggeblieben waren, zogen sie auch die bisher den Sadduzäern vorbehaltene Tradierung der biblischen Überlieferungen an sich. Der Verlauf der Geschichte hatte den Pharisäern recht gegeben. Auch wenn es davor auf religiösem Gebiet nur in Detailfragen Unstimmigkeiten zwischen den beiden Parteien gegeben hatte und diejenigen auf politischem und sozialem Gebiet nicht überbewertet werden sollten, so schlug das Verhältnis nun schlagartig um. „Als […] der Römerkampf ausbrach, der Adel den Kampf zu vermeiden sich anstrengte, die Nationalpartei mit aller Begeisterung in denselben einstieg […]: da stieg der Hass zwischen Sadducäern und Pharisäern aufs Höchste, und man trachtete danach, recht absichtlich Alles, was sich von jenen herschrieb, als gehässig und ketzerisch zu verdammen. So lange jedoch der Staat bestand, […] blieben die Sadd. doch noch Führer und Hohepriester; als aber der Staat zusammenbrach, das politische Leben aufhörte, die religiöse Genossenschaft der einzige Ueberrest war, deren Interessen nun entschieden in den Vordergrund traten […], da sanken die Sadducäer zur vollen Bedeutungslosigkeit herab, und man liess es sich angelegen sein, ihr Werk von Grund aus umzugestalten. Die pharisäische Halachah trat an die Stelle der sadducäischen und ward in absichtlichem Gegensatze zu dieser consequent ausgebildet.“113 Was Geiger zum Anfang dieses längeren Zitats aus dem Schlußteil seiner Untersuchung sehr pointiert und emotional aufgeladen als ‚Hass‘ zwischen den beiden Parteien beschreibt und was nach böswilligen Intentionen und Rachegedanken der Pharisäer gegenüber ihren früheren Widersachern klingt, soll auf den schlagartigen und bleibenden Bedeutungsverlust hinweisen, den die Sadduzäer mit der Zerstörung ihrer bisherigen ler / Martin Nonhoff / Eva Herschinger / Felicitas Macgilchrist / Martin Reisigl / Juliette Wedl / Daniel Wrana / Alexander Ziem (Hgg.), Diskursforschung. Ein interdisziplinäres Handbuch 1. Theorien, Methodologien und Kontroversen; 2. Methoden und Praxis der Diskursanalyse. Perspektiven auf Hochschulreformdiskurse, Bielefeld 2014. Zum problematischen Religionsbegriff, speziell von Habermas vgl. Ulrich Barth, Religionsphilosophie aus Sicht der Kommunikationssoziologie. Anmerkungen zu Habermas’ Kant-Lektüre, in: Ders., Kritischer Religionsdiskurs, 138–158. 112 Geiger, Urschrift und Uebersetzungen der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der innern Entwicklung des Judenthums, 151. 113 A. a. O., 431.
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Wirkungsstätte erlitten. Sie büßten ihre bis zu diesem Zeitpunkt unangefochtene Bedeutung für die Tradierung religiöser Weisungen ein. Geiger grenzt eine ältere sadduzäische ‚Halachah‘ – gemeint sind religiöse Lehren und Gesetze – von einer jüngeren pharisäischen ab. Da in den beiden vorangegangenen Epochen der jüdischen Geschichte kaum größere religiöse Differenzen zwischen den beiden Gruppen zu verzeichnen waren, hätten sich die Pharisäer, denen nun die Tradierung und Fortschreibung der Bibel oblag, auch zu keinen prinzipiellen Korrekturen ihres Textes veranlaßt gesehen. Laut Geiger fänden sich lediglich einige antisadduzäische Änderungen in den alttestamentlichen Überlieferungen, die er eingehend untersucht und auf pharisäischen Einfluß zurückführt.114 Diese Untersuchungen sollen im Folgenden nicht eingehender dargestellt werden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang allein, daß für Geiger mit der von ihm rekonstruierten dritten Stufe der jüdischen Geschichte ein tiefgreifender Bruch verbunden ist, der die Pharisäer zu den alleinigen Trägern der biblischen und dann vor allem nachbiblischen Überlieferungen werden ließ. Indem sie als die bisherige oppositionelle, antiaristokratische Partei allein maßgeblich für die die Lebensführung betreffenden religiösen Weisungen wurden, stellten sie durch ihre Aktualisierungen die sadduzäischen Lehren als ‚ketzerisch‘, als für die aktuelle Zeit nicht mehr gültig, dar. Die Sadduzäer standen nun für die vergangenen, die Pharisäer dagegen für die reformerischen, lebendigen Kräfte im Volk. Geiger zeichnet damit ein Gegenbild des Pharisäismus zur in weiten Teilen negativ konnotierten Darstellung der Evangelien und bei Flavius Josephus.
3.3.2. Die besondere Bedeutung der Sadduzäer und Pharisäer Damit sind die wesentlichen Kennzeichen der für Geiger maßgeblichen und sich im Laufe der jüdischen Geschichte immer dezidierter voneinander abgrenzenden Gruppen der Sadduzäer und Pharisäer benannt. Seiner Meinung nach handelt es sich nicht nur um zwei soziologisch voneinander abgrenzbare Gruppierungen, denen noch weitere an die Seite gestellt werden könnten, sondern um zwei grundsätzlich unterscheidbare und einander ergänzende Strömungen in der jüdischen Geschichte – die konservativen Aristokraten und die bürgerlichen Modernisierer. Natürlich gab es noch andere Parteien, die die eine oder andere Epoche der Geschichte des jüdischen Volkes mitgeprägt haben. Sie bezieht Geiger ebenfalls in seine Untersuchung ein.115 Die Sadduzäer und Pharisäer repräsentieren seiner Meinung nach aber die beiden für diese Epochen charakteristischen geistigen Kräfte des Judentums. So wie in früherer Zeit die 114
Vgl. a. a. O., 170–199. Besonders charakteristisch für dieses Phänomen sind Geiger zufolge auch die beiden Makkabäerbücher, von denen eins aus sadduzäischer und eins aus pharisäischer Perspektive verfaßt worden sei. (Vgl. dazu a. a. O., 200–230) 115 Zu nennen wären hier neben anderen etwa die Samaritaner und Karäer.
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großen Prophetengestalten das religiöse Leben in entscheidender Weise prägten116, so seit der Rückkehr aus dem Exil zunächst die Zadokiden und die aus ihnen hervorgehenden Sadduzäer und schließlich die Pharisäer. Das Judentum versteht Geiger nicht als eine in sich abgeschlossene und unveränderbare Größe, sondern es befindet sich in einem Entwicklungsprozeß, der seiner Meinung nach noch immer nicht abgeschlossen ist. Konsequenterweise begreift Geiger auch Verstehensbemühungen seiner eigenen Gegenwart als von sadduzäischen und pharisäischen Positionierungen bestimmt. Wie die Vergangenheit, so sieht er auch die Gegenwart und die Zukunft durch unterschiedliche Betrachtungsweisen geprägt – wobei er von einem Gegenüber von mehr traditionellen, bewahrenden Kräften auf der einen Seite und mehr progressiven und fortschreitenden Kräften auf der anderen Seite ausgeht. Beide müssen sich nicht immer in einander unversöhnlich gegenüberstehenden Parteien auseinanderdividieren, wie dies bei den Sadduzäern und Pharisäern der Fall gewesen ist. Doch nur wenn beide Richtungen als zwei Seiten einer Medaille verstanden werden, ist ein umfassendes Verstehen möglich – was Geiger nicht nur auf die eigene Zeit bezieht, sondern auch für die Auslegung der alttestamentlichen Schriften in Anschlag bringt.
3.3.3. Spätere Modifikationen Abschließend ist noch kurz auf die Weiterführung der Sadduzäer- und Pharisäerproblematik im späteren Werk Geigers einzugehen. Einschlägig dafür sind insbesondere sein Aufsatz ‚Sadducäer und Pharisäer‘117 aus dem Jahr 1863 und seine zwischen 1864 und 1871 in drei Bänden erschienenen Vorlesungen über jüdische Geschichte118. Unter Rückbezug auf die 1857 erschienene ‚Urschrift und Uebersetzung der Bibel in Abhängigkeit von der innern Geschichte des Judenthums‘ nimmt Geiger bereits in der Einleitung des fünf Jahre später erschienenen Aufsatzes eine Zuspitzung seiner dort gewonnenen Ergebnisse vor. So hätten die früheren Untersuchungen einerseits den Nachweis erbracht, daß das jüdische „Parteien- und Sectenleben auf Differenzen“ beruhe, „welche bereits in biblischer Zeit ihren 116 „Geiger arbeitet die kontinuierlichen Wechselwirkungsverhältnisse zwischen den Religionen und ihrer Umwelt heraus, die Schleiermacher methodisch in sein Theologieverständnis eingebunden hatte und die nach Geiger in gleicher Weise für das Judentum zu veranschlagen sind. Innerer ‚Motor‘ der religiösen Weiterentwicklung der Religion ist für Geiger der Geist der Prophetie, dem auch Schleiermacher Produktivkraft zugesprochen hatte.“ (Scheliha, Schleiermachers Deutung von Judentum und Christentum in der fünften Rede ‚Über die Religion‘ und ihre Rezeption bei Abraham Geiger, 225) 117 Vgl. Abraham Geiger, Sadducäer und Pharisäer, in: JZWL 2 (1863), 11–54. 118 Vgl. Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte [1]; Das Judentum und seine Geschichte 2. Von der Zerstörung des zweiten Tempels bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts; Das Judenthum und seine Geschichte 3. Von dem Anfange des dreizehnten bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts.
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Anfang genommen“ hätten und andererseits gezeigt, daß das Alte Testament als „Product eines langen geistigen Processes“ zu verstehen sei und „daß an der Gestaltung des Bibeltextes die staatlichen und religiösen Kämpfe und Umgestaltungen des jüdischen Volkes und seiner Parteien wesentlich mitgearbeitet haben“119. Schließlich hätte der Pharisäismus gegenüber dem Sadduzäismus gesiegt.120 Von Anfang an konzentriert sich Geiger nun auf das Gegeneinander der beiden Gruppen – ein Kennzeichen für den früher von ihm herausgearbeiteten zweiten Transformationsprozeß der jüdischen Geschichte, den er mit den Makkabäeraufständen verbunden hatte. Auch die Verwendung des Parteienbegriffs, dessen Ausbildung er früher als Charakteristikum dieser zweiten Epoche ansah, deutet darauf hin. Damit gerät der in der ‚Urschrift‘ aufgezeigte Wandel der Pharisäer und Sadduzäer und ihres Verhältnisses aus dem Blick. Sie werden als einander (bloß) gegenüberstehende Gruppen dargestellt, was auch Geigers nun verwendete Definitionen zeigen: „Die Sadducäer hielten ganz besonders auf die bestehenden priesterlichen Ordnungen; das Volk außerhalb der Priesterschaft und den mit dieser verbundenen patrizischen Familien galt ihnen blos insoweit, als ihre Privilegien in ihm eine Quelle und eine Stütze fanden, dessen politische und religiöse Gleichberechtigung war ihnen ein Greuel.“121 Das Gegenteil davon war das Ziel der Pharisäer. „Sie bestritten nicht blos dem Priesteradel die Berechtigung zur weltlichen Herrschaft, welche sie vielmehr einzig und allein dem davidischen Geschlechte zuerkannten und deren Wiederherstellung durch einen Sprößling dieses Geschlechts – den Messias – sie in besserer Zeit erwarteten: auch die religiöse Bevorzugung der Priester suchten sie möglichst zu beschränken.“122 Den Sadduzäern werden das Festhalten an alten Traditionen und Machtansprüchen, rückschrittliches Verhalten und damit einhergehend die religiöse Entmündigung des Volkes unterstellt; den Pharisäern aber fortschreitende Entwicklung und Anpassung an die jeweiligen kulturellen Gegebenheiten, Heiligung des ganzen Volkes und Erziehung zur sittlichen Mündigkeit zugesprochen. Pharisäismus und Sadduzäismus erstarren zu Typen, die „die ganze Weltgeschichte“123 bestimmten. Dem Pharisäismus wird das „Princip“124 des Fortschritts und der Entwicklungsmöglichkeit durch Geiger zugesprochen, 119
Geiger, Sadducäer und Pharisäer, 11. „Es stellte sich heraus, daß die pharisäische Differenz im Laufe der Zeit und mit Zunahme siegreichen Einflusses immer mehr sich erweiterte, und theils im Drange des geschichtlichen Fortrollens, theils in absichtlicher Entfernung vom Sadducäismus immer entschiedener wurde.“ (A. a. O., 11 f.) 121 A. a. O., 31 f., Hervorhebung im Original. 122 A. a. O., 32. 123 A. a. O., 41. 124 Ebd. 120
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nicht aber dem Sadduzäismus.125 Die Sadduzäer sind somit die Prototypen der Unterjochung des Individuums, von Reformunfähigkeit, Entsubjektivierung und künstlicher Erstarrung. Die Pharisäer bilden das Gegenteil dazu.126 Das frühere differenzierte Bild der Entwicklung und Wandlung beider Gruppierungen in der jüdischen Geschichte kommt nicht mehr zur Geltung. Dieser werkgeschichtlichen Verschiebung entspricht auch der Befund in den Vorlesungen über ‚Das Judenthum und seine Geschichte‘, auf die abschließend kurz hingewiesen werden soll. Auch hier wird das Gegeneinander betont – schon für die erste Zeit ihres Auftretens, für die Geiger in der ‚Urschrift‘ gemeinsame religiöse Überzeugungen herausgestellt hatte. Nun heißt es: „Es war ein politisch-religiöser Kampf, der zwischen Sadducäern und Pharisäern ausgebrochen war, so daß die Kluft immer weiter sich öffnete, ein politisch-religiöser Kampf, in dem man für jene Zeit kaum zu unterscheiden vermag, welches Element, das politische oder religiöse, überwiegend gewesen.“127 Zwar kann Geiger durchaus noch würdigen, daß die Sadduzäer „eine Zeit lang Träger des jüdischen Volkslebens und ihre Bemühung auch die tiefere Grundlage des Judenthums“128 waren. Doch als für die Weiterentwicklung der jüdischen Religion bedeutsamere Gestalten treten die Pharisäer auf. „Denn in Wirklichkeit waren sie der Kern des Volkes, ihr Streben war die Gleichberechtigung aller Klassen, ihr Kampf ein Kampf, der in allen Zeiten, wo es ein Tüchtiges gilt, sich wiederholt, ein Kampf gegen Priesterthum und Hierarchie, gegen Bevorzugung einzelner Klassen, ein Kampf grade dafür, daß nicht in der Aeußerlichkeit allein der höhere Werth gesucht werde, sondern in der innern, religiösen Gesinnung.“129 Der Anklang an Grundgedanken des 19. Jahrhunderts ist – erneut – deutlich spürbar.
125 „Wo das geläuterte, zu sittlicher Mündigkeit erwachsene Volksbewußtsein gegen die religiöse Selbstüberhebung der Priesterschaft in die Schranken tritt, wenn es dieser eine höhere Heiligkeit nicht zugestehen, sondern nur die persönliche Würdigkeit gelten lassen will, da sehen wir dasselbe Streben sich geltend machen, wie es der Pharisäismus, und er zuerst in der Weltgeschichte, eifrig vertreten hat.“ (Ebd., Hervorhebung im Original) 126 Nicht gerade im Sinne gelebter Ökumene verteilt Geiger die Rollen auf die beiden großen Konfessionskirchen in Deutschland: „Der Protestantismus ist das volle Spiegelbild des Pharisäismus, wie der Katholicismus das des Sadducäismus, sein geschichtlicher Verlauf entwickelt sich in gleicher Weise, und nicht minder wird es das Ende sein.“ (Ebd.) Immerhin entdeckt Geiger in moderner Zeit pharisäische Strömungen im Katholizismus. 127 Geiger, Das Judenthum und seine Geschichte 1, 86. 128 A. a. O., 89, Hervorhebung im Original. 129 Ebd.
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4. Das Judentum als lebendige Religion In dem einleitenden Aufsatz der von Abraham Geiger seit 1862 herausgegebenen ‚Jüdischen Zeitschrift für Wissenschaft und Leben‘ fordert er für seine eigene Zeit, die Möglichkeit einer freien und unbeschränkten Religionsentwicklung und -ausübung – auch für das Judentum: „Das Judenthum steht nicht abgeschlossen da, es empfängt von der gesammten Entwicklung der Menschheit wie es ihr giebt; namentlich aber bedarf es dessen, daß man ihm die freie Bewegung, seinen Bekennern die unbeschränkte Entwicklung der geistigen Kräfte und deren ungehinderte Anwendung gestattet“130. Nur in einer Gesellschaft, in der sich die je individuellen Glaubensüberzeugungen ohne wie auch immer geartete Beschränkungen entfalten könnten, sei es möglich, daß die Religion – ganz gleich ob nun Judentum oder Christentum – ihre transformierenden Kräfte in einer sich wandelnden Welt zur Geltung bringe. Dies ist für Geiger nicht denkbar ohne die Anbindung an religiöse Institutionen wie Tempel, Synagoge oder Kirche. In dieser These liegt eine interessante doppelte hermeneutische Aufgabe der Religion, deren Voraussetzung Freiheit ist: Zum einen fordert Geiger die historisch-kritische Auslegung der eigenen Traditionen und zum anderen die kritische Auslegung der eigenen Gegenwart. Beide sieht er in einem Wechselwirkungsverhältnis stehen. In dem von Geiger aufgezeigten stufenweisen Prozeß der Entwicklung der jüdischen Geschichte stehen die Zadokiden bzw. Sadduzäer und nach deren Bedeutungseinbuße die Pharisäer für die Gruppen im Judentum, die in ihrer Funktion als Schriftgelehrte den institutionellen Halt für die Weitergabe und Fortentwicklung der eigenen religiösen Traditionen bildeten. Indem sie diese schriftlich niederlegten und immer wieder für ihre eigene Zeit aktualisierten und überarbeiteten, stehen sie seiner Meinung nach für die Subjektivierung, Reformfähigkeit und Vitalität der jüdischen Kultur und insbesondere ihrer Religion. Sie bilden die entscheidenden ‚geistigen Kräfte‘ der jüdischen Geschichte, zeigen deren religiöse Lebendigkeit und belegen letztlich auch deren kulturelle und soziale Vernetzungsleistungen. Dabei wandeln sich, je nach Epoche, Ziele, Einfluß und Bedeutung der Pharisäer und Sadduzäer. Grundlage für Geigers Darstellung der jüdischen Geschichte sind vor allem die alttestamentlichen Überlieferungen, wobei er mit Hilfe text- und redaktionsgeschichtlicher Untersuchungen sukzessive Fortschreibungsprozesse rekonstruiert, die sich nicht nur auf die Zeit der Wirksamkeit der Sadduzäer und Pharisäer, also auf die jüdische Religionsgeschichte im engeren Sinne beschränken, sondern sowohl Rückschlüsse auf die Entstehung der israelitischen als auch auf die der nachbiblischen Überlieferungen beinhalten. 130 Abraham
Geiger, Der Boden zur Aussaat, in: JZWL 1 (1862), 1–9, 6.
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Auch wenn Geigers Ergebnisse im Detail heute natürlich überholt sind und die Entstehung der kanonischen und außerkanonischen Schriften weit differenzierter erklärt wird, als es Geiger möglich war – die einander wechselseitig erhellende Verknüpfung von text-, literar- und redaktionskritischen Untersuchungen, gerade auch im Verbund mit gruppensoziologischen Untersuchungen, hat in der alttestamentlichen Wissenschaft der Folgezeit Wirkung gezeitigt. Mag die Korrelation der biblischen Texte und Textpassagen mit der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte in der heutigen Exegese nicht unumstritten sein, für die wissenschaftliche Diskussion seiner Zeitgenossen stellten Geigers Überlegungen zum Wechselbedingungsverhältnis von Entstehung und Fortschreibung der alttestamentlichen Überlieferungen einerseits und historischer Entwicklung andererseits Grundlagenforschungen dar, die breit rezipiert wurden. Dies gilt trotz der von Geiger zu Recht festgestellten und beklagten persönlichen Anfeindung und Ausgrenzung vom akademischen Diskurs – die Ergebnisse seines Forschens fanden breiten Eingang in die Veröffentlichungen zum Alten Testament, wenn auch ungerechtfertigter Weise oftmals ohne Namensnennung. Und auch Geiger selbst ist ohne den Anschluß an die Debattenlage in der akademischen Theologie seiner Zeit nicht zu verstehen. Mit seinen hermeneutischen Überlegungen, die sich vor allem in seinem Hauptwerk ‚Urschrift und Uebersetzung der Bibel in Abhängigkeit von der innern Entwicklung des Judenthums‘ finden, schließt sich Geiger – wie von Scheliha herausgearbeitet – eng an die Begrifflichkeit der Religionstheorie und Kulturauffassung des frühen Schleiermacher an, auch wenn er natürlich nicht dessen Diagnose vom religionsgeschichtlichen Tod des Judentums durch die Kanonisierung des Alten Testaments teilt – weder für die Zeit des Bestehens des zweiten Tempels, noch für Geigers eigene Gegenwart.131 Abraham Geiger unternimmt den Versuch, dem negativ gezeichneten Pharisäerbild der neutestamentlichen Evangelien auf breiter Front entgegenzuwirken. Dieser letztlich auch von Schleiermacherschen Gedanken inspirierte Versuch blieb in der evangelischen Theologie nicht unbemerkt. Rückblickend betrachtet wird aber auch der Vorwurf in der Sekundärliteratur nachvollziehbar, daß Geiger ein (in unzulässiger Weise schreibender) Modernisierer gewesen sei, der Aktualisierungen im Sinne von Aufklärung, Romantik und historischem 131
Heschel schießt mit ihrer Parallelisierung der von Geiger auseinandergehaltenen Epochen der jüdischen Geschichte über das Ziel hinaus, wenn sie schreibt: „Geigers Behauptung, es bestehe eine Parallele zwischen Reformjudentum und Protestantismus, begegnet in seinem Werk regelmäßig, vor allem später in der Urschrift, wo er die Pharisäer mit den Protestanten und die Sadduzäer mit den Katholiken vergleicht.“ (Dies., Der jüdische Jesus und das Christentum, 78, Hervorhebung im Original) Diese – unausgewiesene – Pauschalisierung wird wohl kaum der differenzierten Deutung der Entwicklung der jüdischen Geschichte durch Geiger gerecht. Dies gilt auch noch für seine späteren Veröffentlichungen, die in ihrer Darstellung der Sadduzäer und Pharisäer weit mehr mit Typisierungen arbeiten als die früheren.
4. Das Judentum als lebendige Religion
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Denken vorgenommen habe. Blickt man ohne wie auch immer geartete Wertungen auf das wissenschaftliche Werk Geigers, dann ist deutlich zu erkennen, daß er nicht mehr das Modell eines Moses Mendelssohn vertritt, dem es um eine Modernisierung durch Anpassung ging.132 Demgegenüber geht es Geiger um eine sehr selbstbewußte Art der Sicht auf die (eigene) jüdische Geschichte, was alleine schon durch die verwendeten Begriffe deutlich wird, angefangen von ‚Lebendigkeit‘ über ‚Nationalität‘ und ‚Volk‘ bis hin zu ‚Individualität‘ – um nur einige zu nennen. Daran knüpfte Wellhausen an.133
132 Vgl. Björn Pecina, Mendelsohns diskrete Religion (BHTh 181), Tübingen 2016. 133 Dass es dabei auch markant unterschiedliche Bewertungen gibt, betont Shimon Ge-
sundheit, der dies am Gegenüber von Wellhausen und dem Göttinger Rabbiner Benno Jacob (1862–1945) herausarbeitet. Das zeigt schon der erste Satz seines Vortrags: „Benno Jacob und Julius Wellhausen lebten lang in direkter Nachbarschaft nebeneinander und doch trennten sie Welten.“ (Ders., „Sie ist nicht im Himmel“ [Dtn 30,12]. Der menschliche Umgang mit der göttlichen Tora im jüdischen Schrifttum [Julius-Wellhausen-Vorlesung 7], Berlin / Boston 2019, 1.)
Schlußbetrachtungen Das Alte Testament ist als Kompendium einer über tausendjährigen Religionsgeschichte zu verstehen. Manches ist uns fern, vieles ist ins Neue Testament eingegangen und in christlichen Traditionen lebendig geblieben. Den nicht einfach zu rekonstruierenden Überlieferungs- und Transformierungsprozeß der alttestamentlichen Erzählungen arbeitet die religionsgeschichtliche Fragestellung heraus. Im Gegensatz zur Theologie des Alten Testaments – so die markante Postion Julius Wellhausens – schließt sie den geschichtlichen Wandel mit ein und kann erklären, warum uns heute zwar vieles fremd ist, manches aber auch scheinbar unmittelbar nah. Beides ist erklärungsbedürftig. Mit dem Problem von Fremdsetzung und Aneignung sind wir bei einem, wenn nicht gar dem zentralen Problem alttestamentlicher Hermeneutik. Das Alte Testament ist eine vorchristliche Schriftsammlung, wird aber zugleich im Judentum und im Christentum als heilige Schrift rezipiert, was heißt, daß es die vereinheitlichende Zusammenschau nicht gibt, sondern daß es dessen Vielgestaltigkeit ernstzunehmen gilt. Das Alte Testament als heilige Schrift des Judentums und Christentums schließt unterschiedliche hermeneutische Zugänge ein, da die je verschieden verorteten religiösen Grundüberzeugungen unterschiedliche Grade von Fremdsetzung und Aneignung bedingen und vor unterschiedlich gelagerte Verstehensprobleme stellen. Aus christlicher Perspektive kommt dem Alten Testament immer nur in Verbindung mit dem Neuen eine für die öffentliche Religiosität und private Frömmigkeit maßgebliche Rolle zu. Der Glaube bildet sich am Neuen Testament. Zudem ist das Alte Testament weder im Judentum, noch im Christentum als gleichwertiges und -wichtiges Schriftganzes rezipiert worden, sondern einzelne Texte und Textpassagen hatten stets unterschiedliche Dignität, und es gab Bedeutungswandlungen. Zur Aufklärung des hermeneutischen Problems des Alten Testaments leisteten die hier behandelten Autoren einen wichtigen Beitrag: Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Leopold George, Heinrich Ewald, Karl Heinrich Graf, Wilhelm Vatke, Abraham Kuenen und Abraham Geiger haben in ihren Forschungen je auf eigene Weise die Bedeutung und Leistungskraft der am Paradigma der Religionsgeschichte orientierten historiographischen Hermeneutik des Alten Testaments herausgearbeitet, die an die kritische Hermeneutik der davorliegenden Epoche der Aufklärung anknüpfte und sich zugleich von ihr abgrenzte. Erstgenannte Herangehensweise stelle die einzig angemessene Weise
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dar, um die wahren Intentionen der alttestamentlichen Schriften, die zu den bedeutendsten religiösen Denkmalen der Menschheit zählten, in der Moderne verständlich zu machen. Sie schufen damit zugleich die Voraussetzungen für die Ende des 19. Jahrhunderts von Wellhausen vorgenommene Synthese, die die wissenschaftlichen Verstehensbemühungen um die alttestamentlichen Texte und Textpassagen bis heute maßgeblich beeinflußte und prägte. Fragt man nach dem die hier behandelten Autoren Verbindenden, so ist dies zunächst einmal negativ zu bestimmen. Denn sie sind sich darin einig, daß der bis dahin übliche Umgang mit dem Alten Testament, der durch die Dogmatik geprägt war, den in ihm versammelten Schriften nicht angemessen ist. Alle stehen im großen theologiegeschichtlichen Kontext der Transformierung und teilweisen Abkehr von den Lehren der insbesondere lutherisch geprägten Orthodoxie mit ihrer Betonung eines Kanons heiliger Schriften, die in den sogenannten kirchlichen Schriftlehren – man denke nur an Hengstenberg, der noch im 19. Jahrhundert ein wenn auch modifizierter Verfechter dieser Lehre war – noch lange Zeit Anhänger hatte. Das Dogma eines göttlich inspirierten Kanons wurde als ein für allemal überholt angesehen. Sämtliche Ausweitungsund Rettungsversuche des Inspirationsgedankens lehnten sie ab. Der Lehrsatz von der Inspiriertheit des Buchstabenbestandes der gesamten Bibel, der auch im Bereich des Alten Testaments lange Zeit als unangreifbare dogmatische Annahme angesehen wurde, stand der geschichtlichen Betrachtungsweise im Wege bzw. wurde durch sie ausgehöhlt. Damit sind wir beim Positiven, das die hier behandelten Exegeten verbindet. Die historiographische Hermeneutik, wie sie sich insbesondere in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildete, unterscheidet sich dadurch von der kritischen Hermeneutik der Zeit davor, daß sie in Anknüpfung an aufklärerische Motive – vertieft insbesondere durch die Aufnahme von Überlegungen der Romantik und des Idealismus – die Notwendigkeit einer geschichtlichen Betrachtungsweise des Alten Testaments erkannt hatte. Jeglicher wie auch immer gearteter dogmatischer Zugang zu den Texten wird verworfen. Man denke nur an Heinrich Ewald, der trotz seines Bemühens um eine sämtliche Überlieferungen des Alten Testaments vereinigende Zusammenschau die Einsicht gewonnen hatte, daß selbst die kleinsten Überlieferungsbruchstücke und Textpassagen zunächst erst einmal für sich alleine zu betrachten seien. Daher wählte er eine Darstellungsebene, die den Versuch unternahm, die einzelnen Schriften als Tendenzen eines historischen Entwicklungsprozesses zu beschreiben. Die alttestamentlichen Schriften seien samt und sonders wertvolle geschichtliche Überlieferungen, deren Quellen es zu rekonstruieren und deren Sinn es soweit als möglich aufzuklären gelte. Die geschichtliche, in Opposition zur dogmatischen Betrachtungsweise ist bereits eine Erkenntnis des Aufklärungszeitalters. Schon in ihr hatten kritische, historische Untersuchungen gezeigt, daß dogmatischen Festlegungen
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zur alt- und neutestamentlichen Textentstehung gemäß unmittelbarer göttlicher Inspiration keine normbildende Bedeutung zuzubilligen sei. Insbesondere die Problematik der Verfasserschaft einiger Schriften und die festgestellten Ungenauigkeiten in der Schilderung historischer Ereignisse aus der Geschichte des Volkes Israel hatten die Annahme der Inspiriertheit der Bibel erschüttert und die Motivation zu geschichtlichen Betrachtungen geboten. Diese Modifikationen des Geschichtsbegriffs der Aufklärung spiegeln sich in den hier behandelten Autoren wider. Sie repräsentieren den Fortschritt und Wandel innerhalb des Geschichtsverständnisses, was insbesondere der Aufnahme (philosophischer und theologischer) Überlegungen der Romantik und des Idealismus geschuldet ist. Dem korrespondiert, daß die verschiedenen Möglichkeiten des nachaufklärerischen Geschichtsbegriffs genutzt werden und seine Pluralität und Vielstimmigkeit herausgearbeitet wird. Die Aufklärung hatte dem Programm nach diesen methodischen Pluralismus bereits gedacht, ihn aber noch nicht durchgeführt. Demgegenüber sind die hier verhandelten Autoren keine Vertreter einer einheitlichen Schule, sondern sie stehen für eine Vielfalt der Zugangsweisen. Diese Vielfalt wurde in der vorliegenden Arbeit in den einzelnen Kapiteln geschildert. Sie unternehmen den Versuch, die Spezifika der einzelnen Autoren herauszuarbeiten, da es nur so möglich ist, dem vorfindlichen Methodenpluralismus gerecht zu werden. Die verhandelten Autoren tasten nach neuen Möglichkeiten, sie suchen nach neuen Zugängen zum Alten Testament, um es als besonderes historisches Denkmal, als ‚Glücksfall der Religionsgeschichte‘ in einer den Gegebenheiten der Moderne Rechnung tragenden Weise zu interpretieren. Die neue Idee, die de Wette, George, Ewald, Graf, Vatke, Kuenen und Geiger je auf ihre Weise teilen, ist des Näheren die Idee einer religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise. Sie verbindet die Überzeugung, daß das Alte Testament zunächst einmal als ein (religions-)geschichtliches Denkmal zu verstehen ist. Daher rührt auch die bereits angesprochene Vielfalt der Zugangsweisen. Die Vielstimmigkeit der alttestamentlichen Überlieferungen bedingt und fordert diese. Nur so ist eine angemessene Auslegung dieser vielschichtigen Texte in der Moderne möglich, die Zeugnisse einer über tausendjährigen rituell-kultischen Praxis einerseits und gelebter Religiosität andererseits widerspiegeln. Sie sind sich darin einig bzw. sie haben in ihren Forschungen jeweils herausgearbeitet, daß das Alte Testament kein in sich konsistentes historisches Zeugnis darstellt. Daher ist ihnen das bereits eingangs angesprochene Projekt einer Theologie des Alten Testaments ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Will man die Kontinuitäten und Diskontinuitäten der alttestamentlichen Schriften in die Erklärung mit einschließen, so müsse eine religionsgeschichtliche Interpretation des Alten Testaments angestrebt werden. Sie allein sei in der Lage dessen Vielfältigkeit zu erklären. Die schrittweise Hinwendung zu einer religionsgeschichtlich vergleichenden Betrachtungsweise äußert sich insbesondere in zwei Hinsichten. Zum einen
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handelt es sich um eine Öffnung für Zeugnisse benachbarter Religionskulturen. Das Alte Testament kommt als Zeugnis der Geschichte und Kultur Israels und Judas im Kontext der Geschichte und Kultur der Nachbarvölker Ägyptens, Mesopotamiens, Kleinasiens, Syriens und Palästinas zu stehen. Auch wenn gegenwärtig nicht mehr vom ‚Götzendienst‘ gesprochen wird und auch wenn erst nach und nach erkannt wurde, daß beispielsweise die Vorstellung von einem Naturkultus bei den Völkern Vorderasiens und Ägyptens nicht der differenzierten geschichtlichen, kulturellen und religiösen Lage bei den Nachbarvölkern – der ‚Umwelt des Alten Testaments‘ – gerecht wird, so wurden doch deren schriftliche und archäologische Zeugnisse (soweit bekannt) zur Erklärung der alttestamentlichen Überlieferungen mit herangezogen bzw. der Versuch unternommen, dieselben im Kontext der benachbarten Religionskulturen zu erklären. Die Sprachen, sowie die geistige und materielle Kultur des Orients – ursprünglich das gesamte Asien sowie angrenzende Gebiete umfassend – kamen im 19. Jahrhundert mehr und mehr in den Blick und wurden zur Interpretation der biblischen Schriften herangezogen. Zum anderen ist festzuhalten, daß diese Öffnung hin zu einer religionsgeschichtlich vergleichenden Betrachtungsweise für die behandelten Autoren nicht bedeutete, daß es ihnen schon um eine Religionswissenschaft gegangen wäre. Ihnen ging es um eine religionskundliche Durchmusterung relevanter Zeugnisse aus der Umwelt des Alten Testaments. Sie waren im Rahmen ihrer historiographischen Hermeneutik an einer materialen Vertiefung der eigenen Verstehensbemühungen interessiert. Mit ihrem Dringen auf eine religionsgeschichtliche Betrachtungsweise – die als Reflex auf den für das 19. Jahrhundert wichtigen ‚Historismus‘ verstanden werden muß – verband sich die Überzeugung, daß es ein grundlegender Vorzug der Geschichtsschreibung sei, Amalgamierungsprozesse im Blick zu haben. Dies bewog sie zu dieser Öffnung, die nicht bedeutete, daß es ihnen um die Etablierung einer selbständigen empirischen Forschungsdisziplin im Sinne der seit Mitte des Jahrhunderts im Aufstieg befindlichen allgemeinen Religionswissenschaft gegangen wäre. Auch damit knüpfen sie an Ansätze der Aufklärung an und führen den dort dem Programm nach angedachten methodischen Pluralismus durch, indem sie je auf verschiedene Weise religionsgeschichtliche Vergleiche zur Vertiefung der eigenen Forschungen anstellen. Der ganze geschilderte Prozeß der Ausbildung der am Paradigma der Religionsgeschichte orientierten historiographischen Hermeneutik des Alten Testaments vollzieht sich auf dem Boden der akademischen Theologie und nicht als Unternehmen anderer philologischer Wissenschaften. Bildete es eine Besonderheit der deutschen Aufklärung, daß sie in weit gemäßigterer Form als insbesondere die englische und französische verlief und daß Offenbarungsglaube und Rationalität nicht als Gegensätze verstanden wurden, so daß sie gerade auch an den theologischen Fakultäten – zu denken ist nur an Johann Salomo Semler und
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Johann Joachim Spalding – institutionell verankert blieb, so ist auch die hier verhandelte alttestamentliche Hermeneutik ein (knappes) Jahrhundert später als eine Erneuerungsbewegung innerhalb der akademischen Theologie zu verstehen. An die Ergebnisse der sogenannten Übergangstheologie, der sogenannten Neologie und des sogenannten theologischen Rationalismus wird angeknüpft, wobei im Sinne einer freien gedanklichen Aneignung und Durchdringung der alttestamentlichen Schriften der orthodoxe Offenbarungsbegriff und das als ‚dogmatisch‘ verstandene altprotestantische Schriftprinzip transformiert und in eine Methodik der vornehmlich religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise überführt wurden. Dies alles bewegt sich in den Bahnen der an der Universität verankerten wissenschaftlichen Theologie und zeigt ihre Modernisierungskraft und Wandlungsfähigkeit. Damit einher geht eine Änderung des Darstellungsstils. Zwar findet sich unter den Publikationen durchaus die eine oder andere Abhandlung im klassischen Stil exegetischer Erörterungsweisen, man denke nur an die Kommentarliteratur. In ihren programmatischen Veröffentlichungen haben die hier behandelten Autoren diese traditionellen Formen der Exegese jedoch zugunsten problemorientierter Geschichtsbetrachtungen verlassen. Damit soll nicht gesagt werden, daß es sich um eine Verabschiedung der – in der Aufklärungszeit gebündelten – Ergebnisse der Bibelkritik handelt, an die in ganz unterschiedlicher Weise angeknüpft wird und deren Untersuchungen weitergeführt werden. Ohne Ergänzung dieser kritischen Untersuchungen durch historisch problematisierende Erörterungen zu den besonderen Entstehungs- und Überlieferungsproblemen der alttestamentlichen Überlieferungen, kommt jedoch keiner der behandelten Autoren aus. Freilich erfordert dies von ihnen selbst im Hinblick auf den im Umfang klar begrenzten Komplex der kanonischen und außerkanonischen Überlieferungen des Alten Testaments eine Auswahl. Denn für die Darstellung der Geschichte Israels und des Judentums ist es notwendig, sie in den Kontext der allgemeinen Historie des Altertums einzuordnen, Abgrenzungen vorzunehmen und so dieselbe in ihrem wahren geschichtlichen Zusammenhang allererst zu begreifen. Grundsätzlich teilen die hier behandelten Forscher die Überzeugung, daß die hebräische Bibel – inklusive natürlich der alten Übersetzungen wie beispielsweise der Septuaginta – und die deuterokanonischen Schriften in ihrer heute überlieferten Form in Wirklichkeit Gegensätzliches enthalten. Diese einander widersprechenden und daher zunächst unabhängig voneinander entstandenen Traditionen gilt es zu rekonstruieren und sie in die Auslegung einzubeziehen. Trotz Schwierigkeiten und Widerständen sind die alttestamentlichen Schriften (auch) als historische Denkmale in den Blick zu nehmen und so weit als möglich ihre Entstehungssituation und Wandlungsprozesse aufzuklären. Aus dieser problemorientierten Geschichtsbetrachtung generiert die am Paradigma der Religionsgeschichte orientierte historiographische Hermeneutik des 19. Jahrhun-
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derts ihre besondere Bedeutung. Trotz der unbestreitbaren erzählerischen Kraft des Alten Testaments ist ohne eine geschichtliche Aufklärung der Entstehungsund Überlieferungsbedingungen ein angemessenes Verständnis desselben nicht möglich. Die Mythenforschung und -deutung und die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts aus ihr entwickelnde selbständige religionsgeschichtliche Fragestellung haben gezeigt, daß das Alte Testament sich dem (einen) systematischen Zugriff entzieht, den eine die Einheitlichkeit dieses Schriftenkorpus’ voraussetzende alttestamentliche Theologie erfordert. Dabei kann es nur als Mißverständnis der Forschungsleistungen eines de Wette, George, Ewald, Graf, Vatke, Kuenen und Geiger verstanden werden, wenn gelegentlich die religionsgeschichtliche Betrachtungsweise darauf beschränkt wird, daß sie die äußerliche Beschreibung des Wesens einer Religion biete, während die Theologie des Alten Testaments dem korrespondierend die innerliche, religiöse Perspektive darstelle (so jüngst Wolfgang Zwickel). Das eigentliche hermeneutische Problem – und hierin ist ein wichtiger Gesichtspunkt zu sehen, der die behandelten Autoren verbindet – kommt dergestalt nicht in den Blick. Vielmehr haben sie gezeigt, daß allein eine die religiösen Besonderheiten Altisraels und des Judentums beachtende Interpretation in der Lage ist, die theologische Relevanz des Dargestellten herauszuarbeiten und für die Moderne fruchtbar zu machen. Mit Recht sahen diese Forscher darin keine unsachgemäße Vereinheitlichung der in den alttestamentlichen Texten und Textpassagen überlieferten religiösen Traditionen. Vielmehr ging es ihnen um die Würdigung der charakteristischen Besonderheiten, die sie vor dem Hintergrund ihrer historischen Entstehungskontexte und unter Beachtung der Tradierung und Fortschreibung ihrer Motive verständlich zu machen suchten. Die Annahme eines direkten literarischen Verweisungszusammenhangs zwischen dem Text und den in ihnen berichteten (scheinbar) historischen Ereignissen, war ihnen darüber zerbrochen – und stellte vor die Aufgabe der Konstruktion einer (neuen) israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte, teilweise unter Einschluß der Vorzeit. Der Schriftenkorpus als Zeugnis einer vergangenen historischen Epoche und die kritische Herausarbeitung inneralttestamentlicher Bezüge bildete den Ausgangspunkt ihrer Verstehensbemühungen. Sie wollten aufzuzeigen, wie im Laufe der religionsgeschichtlichen Entwicklung nach und nach die theologischen Besonderheiten entstanden, die das Alte Testament bis heute auszeichnen und zu etwas Besonderem machen. Die Abkehr von der durch die Dogmatik geprägten Interpretation des Alten Testaments, das sich als Methodenpluralismus darstellende Suchen nach neuen Zugangsmöglichkeiten, die Nutzung der verschiedenen Möglichkeiten des nachaufklärerischen Geschichtsbegriffs, die Öffnung für Zeugnisse benachbarter Religionskulturen einschließlich der Öffnung hin zu einer religionsgeschichtlich vergleichenden Betrachtungsweise und die vielfältigen Formen einer problemorientierten Geschichtsbetrachtung drängten auf eine Synthe-
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se. Julius Wellhausen – der bedeutendste Alttestamentler in der Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert1 – ist diese Synthesegestalt, der die Früchte der ganzen Entwicklung erntete, auch wenn er keinen Methodenpluralismus vertrat. Bekanntlich war er der Meinung, daß die Literarkritik nur dann fruchtbringend sei, wenn es gelingt, die einzelnen ermittelten Quellen und Textbruchstücke in ein sich wechselseitig erhellendes Ganzes zu bringen und dieselben als Stufen eines historischen Entwicklungsprozesses verständlich zu machen. Ihm ging es um die Rekonstruktion eines historischen Prozesses, was allein durch eine komplexe methodische Herangehensweise realisiert werden könne: „Meines Erachtens hat die Kritik mit der mechanischen Zerlegung ihr Werk nicht getan, sie muss darauf hinaus, die ermittelten Einzelschriften in gegenseitige Beziehung zu setzen, sie als Phasen eines lebendigen Processes begreiflich und auf diese Weise eine stufenmässige Entwicklung der Tradition verfolgbar zu machen.“ (PzGI1 312) Die ‚mechanische Zerlegung‘, die Kritik des Textes in einem ganz umfassenden Sinne verstanden, wird nicht verneint, stellt aber bloß die Vorarbeit für eine problemorientierte Geschichtsbetrachtung dar. Wellhausen verstand das Alte Testament als ein vielschichtiges Denkmal der Religionsgeschichte, welches allein durch ein komplexes Ineinander von Methodenschritten erschlossen werden könne. Die Vielfalt der Quellen wird in die Methode integriert. Oder im Blick auf die Forschungsgeschichte gesprochen: Die vorfindliche Vielfalt der Zugänge wird in einem einheitlichen Verfahren zusammengefaßt, einen Methodenpluralismus hat er nicht vertreten. Insbesondere auf den Vorarbeiten der sieben hier behandelten Autoren baut Wellhausen etwas Neues auf. Daß er sich in seinem Werk und seinen Briefen – einmal mehr kritisch, einmal mehr anerkennend, immer aber konstruktiv – mit den Forschungen de Wettes, Georges, Ewalds, Grafs, Vatkes, Kuenens und Geigers auseinandergesetzt hat, ist in den einzelnen Kapiteln der vorliegenden Arbeit immer wieder angemerkt worden. Ohne den Anspruch zu erheben, eine auch nur in Ansätzen umfassende Wellhauseninterpretation vorzulegen, soll ab1 Oder
mit den Worten Rudolf Smends formuliert, mit denen er einen am 16. Dezember 2004 in der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München gehaltenen Vortrag einleitet: „Eine israelische Tageszeitung würdigte den Mann, der uns beschäftigen soll, unter der Überschrift ‚Der Titan‘. Sie stand damit nicht allein. Zwar hat Julius Wellhausen neben zahllosen Bewunderern auch viele Gegner gehabt, aber seine überragende Größe war von vornherein allen deutlich. Von vornherein, das heißt seit der 34jährige 1878 den ersten Band einer Geschichte Israels veröffentlichte, der in der evangelischen Theologie Epoche machte wie zuletzt 1835 Straußens Leben Jesu und dann 1900 Harnacks Wesen des Christentums und 1919 Barths Römerbrief. Das Buch ‚versetzte die Theologen und Historiker auf der ganzen Welt in Erregung‘.“ (Smend, Julius Wellhausen, 7, Hervorhebungen im Original) Abwägender, aber im Resultat zustimmend formuliert Paul Michael Kurtz, trotz des dramatisierenden Aufsatztitels: „Deservedly or not, Wellhausen […] personified Old Testament research toward the end of the nineteenth century.“ (Ders., Waiting at Nemi: Wellhausen, Gunkel, and the World Behind Their Work, in: HThR 109 [2016], 567–585, 576.)
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schließemd noch einmal zusammengefaßt werden, welche Anknüpfungspunkte sie für Wellhausen boten. Wilhelm Martin Leberecht de Wette gilt bis heute als ‚Begründer der modernen Bibelkritik‘ (John William Rogerson). Er steht mit seinen Forschungen für die Entdeckung, daß die Bibel, daß das Alte Testament mit seinen Überlieferungen zunächst und zuerst einmal ein ästhetisch und historisch zu würdigendes Denkmal aus der Frühzeit der Menschheit im Herderschen Sinne sei. Sein Verständnis von Geschichte und biblischer Überlieferung war entsprechend dem des sogenannten frühen ‚Historismus‘ dadurch ausgezeichnet, daß de Wette darum bemüht war, die kritische Untersuchung besonderer historischer Erscheinungen im Rahmen eines stufenweisen Entwicklungsprozesses zu erklären, wobei es sich um einen wechselseitigen Verweisungszusammenhang handelt. Grob verkürzt läßt sich sagen, er habe versucht, die aufklärerische Bibelkritik, den ästhetisch-romantischen Individualitätsgedanken und den geschichtlich-idealischen Entwicklungbegriff miteinander zu verknüpfen. Darüber erschienen de Wette die Interpretationsbemühungen seiner Vorgänger(generationen) als bloße historisierende Umschreibungen und Nacherzählungen der alttestamentlichen Überlieferungen. Das Alte Testament als ein geschichtliches Denkmal ernstzunehmen – so hatte de Wette erkannt – bedeutet, dessen Text quellenkritisch zu untersuchen, dessen Aussageintention als eines religiösen Zeugnisses kultischer Praxis und lebendiger Frömmigkeit zu erkennen und auf dieser Basis den Versuch einer religionsgeschichtlichen Betrachtungsweise desselben vorzunehmen. Daran knüpfte Julius Wellhausen an. Und in diesem komplexen Verfahren erblickte Wellhausen die eigentliche Leistung de Wettes, weshalb erstgenannter sich immer wieder kritisch gegen derartige Versuche der Interpretation des Alten Testaments wandte, die ihren Ausgangspunkt bei der historischen Verortung der deuteronomischen Gesetze in der Zeit der Josianischen Reformbemühungen, insbesondere der Kultreform nahmen. Unbestreitbar komme de Wette damit für die Rekonstruktion der Geschichte des alten Israels und des Judentums eine zentrale und wegweisende Bedeutung zu. Zum ‚epochemachenden Eröffner der historischen Kritik‘ wurde er für Wellhausen aber, indem de Wette die „Kluft“ zwischen „der israelitischen Geschichte und ihr selber“ (PzGI1 4) aufgedeckt und den Versuch einer Erklärung derselben unternommen hat. De Wettes Programm einer Verknüpfung von quellen- und textkritischen Erörterungen in Fortführung aufklärerischer Bibelkritik korreliert mit Untersuchungen zu den sich in den alttestamentlichen Texten und Textpassagen widerspiegelnden religiösen Ritualen und Religionsideen als Basis für die Rekonstruktion der entscheidenden Entwicklungsstufen der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte. Wellhausen zufolge fundiert dieses wechselseitige Ineinander verschiedener Herangehensweisen alle Auslegungsbemühungen in der Moderne, denen an der tatsächlichen geschichtliche Problematik der alttestamentlichen Schriften ge-
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legen ist. Wellhausens Programm einer zugleich literarkritischen und „literargeschichtliche[n] Untersuchung“ (PzGI1 13) – wie er es in seinen ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘ entfaltete – ist ohne die Vorarbeiten de Wettes nicht erklärbar. Wellhausen führt sein Anliegen fort, wenn er zunächst den textkritischen und -geschichtlichen Nachweis historischer Entwicklungsstufen unternimmt, diese mit Forschungen zum Einfluß religiöser Vorstellungen und Tendenzen auf die Ausbildung der alttestamentlichen Überlieferungen kombiniert, um auf ihrer Basis die israelitische und jüdische Geschichte, verstanden als Religionsgeschichte, darzustellen. Johann Friedrich Leopold George hat die besondere überlieferungsgeschichtliche Bedeutung der Entwicklung ursprünglich spontan begangener festlicher Anlässe – die es auch in der Frühzeit der Israeliten gegeben haben muß, als sie nomadisch und halbnomadisch lebten und die mit der Seßhaftwerdung evidenter weise eng mit dem Ackerbau verknüpft gewesen sind – hin zu den ritualisierten, streng geregelten Kulthandlungen, von denen insbesondere die gesetzlichen Passagen des Pentateuchs zeugen, aufgewiesen. Wellhausen zufolge komme ihm damit, neben Vatke, das Verdienst zu, auf der Grundlage der de Wetteschen Untersuchungen den Unterschied zwischen dem biblischen und dem historischen Israel herausgearbeitet zu haben. Verstand George seine Forschungen zu den älteren Festen auch als Rekonstruktion der ältesten israelitischen Geschichte und hat Wellhausen auch erkannt, daß es sich bei einem Großteil der von George als ursprünglich und alt rekonstruierten Quellen und Quellenbruchstücke um Rückprojektionen aus späterer Zeit handelte, so schmälerte das für ihn doch nicht die Bedeutung Georges. Denn Wellhausen sah in dessen genetischer Darstellung des Entwicklungs- und Wandlungsprozesses der israelitischen und jüdischen Feste, der durch ihre schrittweise Vergesetzlichung und religiöse Bedeutungsanreicherung gekennzeichnet sei, einen exemplarischen Fall für eine am Paradigma der Religionsgeschichte orientierte Interpretation des Alten Testaments. Dem Aufweis ursprünglich, freier, lebendiger religiöser Traditionen und der Rekonstruktion des stufenweisen Prozesses ihrer Transformation hin zu streng gesetzlich geregelten, mechanisch abgehandelten, frömmelnden Ritualen sind auch die Wellhausenschen Forschungen verpflichtet. George habe damit als einer der ersten einen unverstellten Blick auf das „hebräische Altertum“ (PzGI1 4) geboten. Georg Heinrich August Ewald war als direkter Lehrer und Förderer ohne Zweifel eine bestimmende und prägende Gestalt für Wellhausen. Aufzuzeigen, wie sich dieser unbestreitbare Einfluß konkret gestaltete, hat sich die bisherige Forschung schwer getan. Ein zentraler, aus heutiger Perspektive nicht ganz einfach nachzuvollziehender Gesichtspunkt ist Ewalds Hochschätzung alles ‚Lebendigen‘, Ursprünglichen, Entschiedenen und Urkräftigen im Gegensatz zur Abwertung alles ‚Mechanischen‘, Künstlichen, bloß Eingebildeten und in der Konsequenz Toten. Bei Ewald äußerte sich dies in der Herausarbeitung der
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besonderen Bedeutung großer Persönlichkeiten, die er nicht nur unter den israelitischen Propheten fand und denen er als ihre jeweiligen Zeitverhältnisse zugleich prägenden und transformierenden Persönlichkeiten eine, wenn nicht gar die zentrale Rolle für die Literaturgeschichte des Alten Testaments zusprach. Wenn Wellhausen von der ‚kongenialen‘ Propheteninterpretation seines Lehrers Ewald spricht, der kaum ein anderer Entwurf zum Verstehen dieses besonderen Phänomens an die Seite gestellt werden könne, so ist darin auch seine eigene Wertschätzung alles ‚Lebendigen‘, Ursprünglichen und Natürlichen gegenüber dem bloß ‚Mechanischen‘, Nachgeahmten und Künstlichen zu sehen. Hierin ist Wellhausen weit mehr Kind des Denkens des 19. Jahrhunderts als zumeist angenommen. Gegenüber seinen literarkritischen und -geschichtlichen Untersuchungen zum Alten Testament tritt die Behandlung dieses Themas merklich zurück – auch wenn sie seine Sicht der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte nicht unwesentlich bestimmte. Karl Heinrich Graf verdankt Wellhausen, eigenem Bekunden zufolge, den für seine wissenschaftliche Karriere entscheidenden Hinweis – vermittelt über den Göttinger Systematiker Albrecht Ritschl –, daß die im Alten Testament berichteten Ereignisse nicht mit der tatsächlichen Geschichte gleichgesetzt werden dürften. Graf habe damit eine Frage in die Forschung zurückgeholt, die zwar bereits auf de Wette zurückginge und in Georges und Wilhelm Vatkes Darstellung der historischen Problematik der alttestamentlichen Überlieferungen traktiert worden sei. Aber lange Zeit sei die ‚grosse historische Frage‘ fälschlicherweise als erledigt angesehen worden. Graf komme das Verdienst zu, nicht nur Wellhausen selbst, sondern die alttestamentliche Forschung insgesamt auf die grundlegende Bedeutung dieses Problems (zurück-)verwiesen zu haben. Trotz aller Kritik an der Grafschen Herangehensweise, dem Wellhausen vorwirft, einer zu engen Fragestellung verhaftet und nicht ganz auf der Höhe der Forschung zu sein (vgl. PzGI1, bes. 10), habe er die alttestamentliche Wissenschaft auf die rechte Bahn zurückgeführt. Dabei wird Wellhausen wohl mehr von dessen redaktionsgeschichtlicher Fragestellung beeinflußt sein, als es die kritischen Bemerkungen über Graf vermuten lassen. Denn auch Wellhausens religionsgeschichtliche Betrachtungsweise des Alten Testaments vollzieht die von Graf initiierte Wende und fragt nach den Redaktionen und Redaktoren der alttestamentlichen Überlieferungen. Grafs redaktionskritische und redaktionsgeschichtliche Untersuchungen sind nicht unentdeckt geblieben. Wilhelm Vatke gehört für Wellhausen zu den wichtigsten Erforschern des Alten Testaments, wenn er ihm nicht sogar die bedeutendste Rolle zumißt. Diese Hochschätzung gründet sich nur auf ein Werk, nämlich dessen 1835 erschienene ‚Religion des Alten Testamentes nach den kanonischen Büchern entwickelt‘, ursprünglich gedacht als erster Band einer unausgeführt gebliebenen wissenschaftlichen Darstellung der biblischen Theologie. „Vatke’s Buch ist der bedeutendste Beitrag, welcher überhaupt je zur Geschichte des alten Israel ge-
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leistet worden ist.“ (PzGI1 4) Wellhausen zeichnet dessen spekulativen Zugriff auf die biblische Religionsgeschichte, die nur als ein Ineinander von historischkritischer und systematischer Methode verstanden werden kann, und der auf der Unterscheidung von Geschichte einerseits und biblischer Überlieferungen andererseits beruht, in einer Weise aus, wie er es bei keinem zweiten Forscher tut. Im Hinblick auf Wellhausen selber führt dies dazu, daß er nicht allein auf der Grundlage quellenkritischer Untersuchungen die überlieferungsgeschichtlichen Konsequenzen ziehen wollte, die wiederum die Basis für seine Darstellung der israelitischen und jüdischen Religionsgeschichte gebildet hätten, indem er den „rekonstruierten Quellen folgt und ohne Umschweife aus ihnen den historischen Verlauf und die Hauptzäsuren würdigt“2. Auch wenn sich damit ein schöner Bogen von seiner ‚Composition des Hexateuchs‘ (1. Auflage 1876 / 77, 3. Auflage 1899) über die ‚Prolegomena zur Geschichte Israels‘ (1. Auflage 1878, 6. Auflage 1905) hin zur ‚Israelitische[n] und jüdische[n] Geschichte‘ (1. Auflage 1894, 7. Auflage 1914) schlagen läßt, so ist doch zu beachten, daß Wellhausen stets von einem Zugleich von kritischer Rekonstruktion und historischer Darstellung ausgegangen ist. So wie die Rekonstruktion der (kleinsten) Quellen die Gesamtsicht beeinflußt, so beeinflußt die Gesamtsicht die Auswertung der Quellen und die Interpretation der alttestamentlichen Texte und Textpassagen im Einzelnen. Es handelt sich um ein Wechselbedingungsverhältnis von Quellenkritik und Quellengeschichte, Textkritik und Textgeschichte, Traditionskritik und Traditionsgeschichte, Überlieferungskritik und Überlieferungsgeschichte – Literarkritik und Literargeschichte. Gerade im Hinblick auf Vatke ist deutlich, daß Wellhausen nicht der einsam forschende Genius gewesen ist, dem sich nach und nach das Alte Testament in seiner Komplexität entschlüsselte und der damit der alttestamentlichen Forschung eine völlig neue Richtung gab, sondern daß der Letztgenannte zunächst und zuallererst eine große Synthesegestalt gewesen ist, der die vielfältigen historischen und systematischen, die theologischen und philosophischen Arbeiten seiner Generation – und insbesondere auch der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts – intensiv rezipierte, transformierte und auf dieser Basis etwas Neues schuf. Im Hinblick auf Vatke ist es wohl nicht zu viel gesagt, daß Wellhausen dessen Vorarbeiten nicht nur die historisch-kritische, sondern auch die systematisch-konstruktive Kraft seiner eigenen Forschungen verdankt. Im Hinblick auf die hier vorgenommene Unterscheidung mehr kritischer und mehr konstruktiver Aspekte gilt es natürlich zu beachten, daß es sich um eine idealtypische Unterscheidung handelt. In den Schriften aller hier behandelter Autoren finden sich beide Gesichtspunkte. Sie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern gehören untrennbar zusammen. Von Vatke hat Wellhausen gelernt, daß Geschichte weder begriffsloses Erzählen noch abstrakter Umgang mit unvermittelten Allgemeinbegriffen ist. 2
Kratz, Art. Wellhausen, Julius, 530.
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Gerade die Religionsgeschichte ist nur als Prozeß zu verstehen, in dem das Allgemeine das Besondere in sich aufnimmt und zum Konkreten wird. Ohne historische Kritik hängt die Darstellung der Geschichte in der Luft. Ohne Textund Literarkritik lassen sich weder die je besonderen lebendigen Ereignisse und Erlebnisse noch der allgemeine Gang der Geschichte verstehen. Umgekehrt gilt aber auch, daß ohne Gesamtanschauung eine Kritik unmöglich ist – so die Grundüberzeugung Vatkes. In diesem nach keiner der beiden Seiten hin aufzulösendem Spannungsverhältnis bewegt sich alttestamentliche Hermeneutik. Abraham Kuenen war letztlich der Einzige der unmittelbaren Zeitgenossen, dem Wellhausen zubilligte, so etwas wie eine der eigenen Fragestellung entsprechende Forschung zu betreiben. Gegenüber der von spekulativen Ideen beeinflußten Vatkeschen Fragestellung, stellte Kuenen eine methodische Ernüchterung dar – ‚trocken wie Kork‘ und ‚klar wie Glas‘. Beide des öfteren in Bezug auf Kuenen gebrauchte Metaphern sind durchaus positiv gemeint, wollen sie doch darauf hinweisen, daß sich seine Forschungen durch eine Stringenz der Beweisführung ohne unnötige Verschnörkelungen und die unmittelbare Einsichtigkeit der Darstellung auszeichnen. Wellhausen fühlt sich von Kuenen sowohl inhaltlich als auch methodisch verstanden. Inhaltlich zählt er ihn zu den Begründern der Lex-post-prophetas-Hypothese – in der von ihm selbst vertretenen komplexen Weise – und der nicht nur von Wellhausen weitergetragenen These vom ethischen Monotheismus der israelitischen Propheten. Methodisch sieht er in ihm einen die Hegelsche Sprache vermeidenden, dessen Problemstellung jedoch in eine moderne Begrifflichkeit transformierenden ‚Vatke‘. Denn die an Kuenen gelobte Vollständigkeit der Stoffsammlung, die Sachlichkeit und Unvoreingenommenheit im Urteilen und die Vorbildlichkeit der stets um die Wahrscheinlichkeit der eigenen Beweisführung wissenden Art der Darstellung versteht Wellhausen nicht nur als quantitative, sondern auch als qualitative Würdigung der Kuenenschen Arbeiten zum Alten Testament. Abraham Geiger zählt zu den bedeutendsten Vertretern des liberalen Judentums im 19. Jahrhundert. In der Reihe der behandelten Autoren vertritt er die einzige nichtchristliche Position. Dabei kommt es allein schon aufgrund der Annahme Geigers, daß das Alte Testament zunächst und zuerst die heilige Schrift des Judentums sei, zu einer Hinterfragung christlicher Deutungsstereotypen. Interessanterweise bildet die doppelte Auslegungsgeschichte des Alten Testaments nicht den entscheidenden Punkt der Anknüpfung Wellhausens, obgleich er bekanntlich in seinen späteren Schriften zum Neuen Testament die Meinung vertrat, daß Jesus Jude sei.3 Daß das Christentum einerseits aus dem Judentum hervorgegangen ist, andererseits aber auch etwas grundsätzlich Neues und An3 „Jesus
war kein Christ, sondern Jude. Er verkündete keinen neuen Glauben, sondern er lehrte den Willen Gottes tun. Der Wille Gottes stand für ihn wie für die Juden im Gesetz und in den übrigen Schriften, die dazu gerechnet wurden. Doch wies er einen anderen Weg ihn zu erfüllen als den, welchen die jüdischen Frommen nach Anleitung ihrer berufenen Führer für den
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deres darstellt, bildet die von Geiger und Wellhausen geteilte Überzeugung – aus der sie natürlich unterschiedliche Konsequenzen zogen. Ihr entspringt die Motivation für die Untersuchung des Alten Testaments als heiliger Schrift des Judentums einerseits, als heiliger Schrift des Christentums andererseits. Der besondere religiöse Stellenwert der alttestamentlichen Schriften für die jeweilige Religion läßt beide für eine religionsgeschichtliche Betrachtungsweise derselben plädieren. Bereits in seiner ersten selbständigen Veröffentlichung setzt Wellhausen sich mit Geiger auseinander. Dabei rezipiert Wellhausen die von Geiger vertretene These von Fortschreibungsprozessen in den biblischen und parabiblischen Überlieferungen, ebenso wie er den von Geiger vorgenommenen Typisierungen folgt – gerade auch, was die ‚Sadduzäer‘ und ‚Pharisäer‘ anbelangt. Die Besonderheit der Überlegungen Geigers zur Entstehung der alttestamentlichen Schriften besteht darin, daß er nicht nur nach den ursprünglichen Entstehungsbedingungen derselben fragt, sondern auch innerbiblische Überarbeitungsprozesse im Blick hat. Die Besonderheit der Sadduzäer- und Pharisäerproblematik erblickt Geiger nicht nur darin, daß es sich um besondere Personengruppen innerhalb der jüdischen Gesellschaft handelt, sondern er erkennt im Sadduzäismus als den mehr restaurativen, machterhaltenden und -besessenen religiösen Kräften des Volkes und im Pharisäismus als den mehr innovativen, am Puls der Zeit lebenden und ihre Bedürfnisse aufnehmenden und transformierenden religiösen Kräften des Volkes zwei unterschiedliche Prinzipien der (jüdischen) Geschichte. Beide Kräfte prägten die Geschichte sowohl vor als auch nach der eigentlichen Zeit der ‚Herrschaft‘ der Sadduzäer und Pharisäer während der Epoche des zweiten Tempels und unmittelbar nach dessen Zerstörung. Mit einem für heutige Ohren überscharfen, damals aber durchaus gegenüber nichtchristlichen und damit automatisch außerakademischen Forschern weitverbreiteten Gestus der Zurückweisung nimmt Wellhausen beide Gesichtspunkte auf und führt sie fort – man denke nur an seine Rekonstruktion des Hexateuchs, was die Überarbeitungsprozesse in den alttestamentlichen Überlieferungen anbelangt, und an seine Deutung der Propheten, die je auf ihre Weise als Typen einer besonderen Zeit erklärt werden und zur Aufhellung besonderer Ereignisse der israelitischen und jüdischen Geschichte dienen. Julius Wellhausen ist ein Klassiker der alttestamentlichen Literatur, den man ignorieren kann, hinter dessen Ergebnisse man aber nicht mehr zurückkommt. Ihm ist es gelungen, das Problempotential de Wettes, Georges, Ewalds, Grafs, Vatkes, Kuenens und Geigers in eine Synthese zu überführen. Zu Wellhausens Zeiten drängte sich die Frage nach einem integralen, aber in sich differenzierten Verfahren auf. Hierfür steht sein Name. Der dargestellte methodische Pluralisrichtigen hielten und peinlich befolgten.“ (Julius Wellhausen, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 1905, 113)
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Schlußbetrachtungen
mus drängte nach einer zusammenfassenden Synthese, wobei die Wellhausensche als Neuaufbau zugleich neue methodische Schritte notwendig machte. Es ist die Frage, ob ‚Religionsgeschichte‘ die neue Basis darstellt, auf der methodisch weiterzudenken ist. Und es ist die Frage, ob Wellhausen diese Synthese wirklich geleistet hat, oder ob er neuen Einseitigkeiten erlegen ist. Hier kann man sicher unterschiedlicher Meinung sein.
Bibliographie Die Bibliographie beginnt mit einem Verzeichnis der Primärliteratur, wobei die Auflistung nach Autoren geordnet ist, deren Werke chronologisch sortiert sind. Es folgt die Sekundärliteratur. Um der besseren Benutzbarkeit willen wird die Literatur in den Fußnoten der Studie an erster Stelle komplett zitiert, im Folgenden dann mit einem Kurztitel. Die Abkürzungen in der vorliegenden Arbeit richten sich nach Redaktion der RGG4 (Hgg.), Abkürzungen Theologie und Religionswissenschaften nach RGG4 (RGG4-A), Tübingen 2007 und Siegfried Manfred Schwertner (Hg.), Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete. Zeitschriften, Serien, Lexika, Quellenwerke mit bibliographischen Angaben (IATG3), Berlin / Boston 32014. Darüber hinaus werden folgende Abkürzungen verwendet: BEAT4 Friedrich Bleek, Einleitung in die Heilige Schrift 1. Einleitung in das Alte Testament, bearb. von Julius Wellhausen, Berlin 41878. BEAT5 Friedrich Bleek, Einleitung in die Heilige Schrift 1. Einleitung in das Alte Testament, besorgt von Julius Wellhausen, Berlin 51886. 6 BEAT Friedrich Bleek, Einleitung in die Heilige Schrift 1. Einleitung in das Alte Testament, besorgt von Julius Wellhausen, Berlin 61893. CdH1 Julius Wellhausen, Die Composition des Hexateuchs, in: JDTh 21 (1876), 392– 450. 531–602 und JDTh 22 (1877), 407–479. CdH2 Julius Wellhausen, Skizzen und Vorarbeiten 2. Die Composition des Hexateuchs, Berlin 1885. CdH3 Julius Wellhausen, Die Composition des Hexateuchs. Mit Nachträgen, Berlin 1889. IujG1 Julius Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 1894. IujG7 Julius Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 71914. PuS Julius Wellhausen, Die Pharisäer und Sadducäer. Eine Untersuchung zur inneren jüdischen Geschichte, Greifswald 1874. PzGI1 Julius Wellhausen, Geschichte Israels 1, Berlin 1878. PzGI2 Julius Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 21883. PzGI6 Julius Wellhausen, Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 61905. TBSam Julius Wellhausen, Der Text der Bücher Samuelis untersucht, Göttingen 1871.
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Stellenregister 22, 38, 58, 60, 78, 110, 117, 129, 185, 187, 191229, 206, 208, 212, 214, 226, 260, 274, 284 1–11 288 1–2,4 235150 2,5–3,24 235150 3 33 7 21559 12–50 287 17 60 17,27 235150 22 70, 91 24 64 34 211, 288 Genesis
58, 78, 110, 112, 115, 117, 129, 131, 137, 209–212, 230, 285, 287 2,11–22 15867 13 69253 13,11–16 287 16 288 20–23 21144 20 228 f., 312 20,22–23,33 229, 312 29,38–42 313107 34 230 Exodus
58, 112 f., 115, 117, 120, 129, 131, 136–138, 209, 212, 285 6,1–6 313107 16 312105 17–26 313107 17 312105 Levitikus
38, 58, 60, 66, 110, 112, 120, 129, 131, 136 f., 209–212, 287 10,10 120 13 f. 288 16 288, 312105 18 312105 21,14–17 312 22–24 288 28,1–9 313107 31 312105 Numeri
Deuteronomium 38, 54, 58–60, 62 f., 65, 94, 99, 109, 111 f., 115–117, 119–121, 127–129, 13080, 131 f., 136, 138 f., 168, 209– 212, 214, 21454 f., 216 f., 225–227, 229–233, 236, 287–289, 310–312 1–30 214 1–4 229 4,44–28,69 21665 4,45–26,19 21141 5 229127 12–26 313107 16 120 33 220 f. 34 65 Josua 183, 185, 274, 288 15,21–62 188 20 288 Richter
154, 156, 185, 187, 226, 236
404
Stellenregister
1 Samuel 67 f., 154, 220, 226, 265 9,1–10,16 230130, 325 2 Samuel
67 f., 154, 220, 226, 265, 325
1 Könige
62, 67 f., 154, 206, 208, 212, 214, 220 f., 226, 236, 265
62, 67 f., 154, 206, 208, 212, 214, 220 f., 226, 236, 265 14,23–20,21 29338 17,13 228126 22 58 23,3 21665 2 Könige
Jesaja 163, 16388 1–5 16388 6,1–9 16388 7,1–9,6 16388 9,7–11,16 16388 10,5.15 21877 14,24–20,6 16388 21,11–17 16388 22 16388 28–32 16388 36–39 29338 37,22–35 16388 40 ff. 26779 Jeremia 217 f., 222–226 1,1–19,13 22396 7,22 f. 225112 22 f. 22396 25 22396 25,3 21768 28,8 323 30 f. 22396 34,15.17 115 36 222 36,2 22396
36,5 21768 46–49,33 22396 50,23 21877 52 217 Ezechiel 212 7 172136 19 172136 21–24 172136 40–48 174147 46,17 115 Hosea 12,14 158 Sacharja 7,12 228126 9–11 293 Psalmen
18, 40, 44162, 81 f., 84 f., 87 f., 144, 146, 265
Sprüche 265 Ruth
154
Daniel
78294
Esra
154
Nehemia
154
1 Chronik
62, 67 f., 154, 188, 213, 221, 265
62, 67 f., 154, 188, 213, 221, 265 26–32 29338 33 221 2 Chronik
1 Makkabäer
355114
2 Makkabäer 355114
Namenregister Aaron 116, 344 Abeken, Rudolf 32 Abel 183 f. Abiram 288 Abraham 60, 65 f., 70, 71257, 91, 184, 187, 193 f., 197 Adam 184, 186 f., 192, 198 Albrecht, Wilhelm Eduard 143 Amos 164, 199, 200265, 221, 292, 295 Astruc, Jean 5, 78, 235, 290 Augusti, Johann Christian Wilhelm 17, 175 Axt-Piscalar, Christine 38, 52 Barth, Ulrich 31 Baruch 225 Bauer, Georg Lorenz 55 Bauer, Michael 2399 Baumgarten, Siegmund Jacob 90347 Baur, Ferdinand Christian 149–153, 161, 338 Bayrhoffer, Karl Theodor 15039 Becker, Uwe 23, 91351, 2031, 2047, 207 f. Beer, Georg 206 Benecke, Heinrich 258 Bertheau, Ernst 14522, 179 Bertholet, Alfred 143, 14833 Bileam 288 Birkner, Hans-Joachim 23910 Bleek, Friedrich 109, 286, 310101 Boeckh, August 96 Bohlen, Peter von 9921, 254 Bousset, Wilhelm 34270 Brömse, Michael 240 f., 24322, 24834, 256, 28198 Budde, Karl 14 f., 28723 Bultmann, Christoph 24012 Bultmann, Rudolf 3293
Buntfuß, Markus 21, 3291, 37 f., 41, 43, 56–58, 80 f., 81317, 82 f., 83325, 90348 Buxtorf, Johann 75276 Cappel, Louis 74 f. Carl August, Herzog von Sachsen- Weimar-Eisenach 2660 Carlyle, Thomas 195, 195249, 196252 Cohen, Hermann 320132 Colenso, John William 290 Conrad, Joachim 205, 207 f., 20826.29, 212 f., 21456, 215, 219 Creuzer, Friedrich 3288 Dahlmann, Friedrich Christoph 143 Datan 288 David 67, 78, 91, 93, 156, 182, 197, 252, 265, 302, 344 – davidisch 65, 182, 266, 302, 312 Deines, Roland 335–337 Delitzsch, Franz 21660, 3263, 34270 Diestel, Ludwig 147 Dillmann, August 14522 Dilthey, Wilhelm 186 Dina 288 Duhm, Bernhard 198 f., 199259, 200, 200262, 201, 201270, 219, 324 Ebeling, Gerhard 9 Eber 184, 187, 192 Eichhorn, Johann Gottfried 2556, 33, 3396, 55, 61, 77 f., 82323, 141, 142, 185 Elbogen, Ismar 333 Elia 159 Elisa 159 Enosch 184, 192 Ernst August I., König von Hannover 143 Erasmus von Rotterdam 74 Esra 213, 232, 269, 313
406
Namenregister
Ewald, Heinrich 8, 12, 16, 102, 12771, 141–201, 220, 223, 226, 254–258, 262, 280, 300, 310–312, 363–365, 368 f., 371 f., 375 Ezechiel 161, 163, 167 f., 170 f., 171128, 172 f., 173141, 174–176, 199, 200265, 313 Fichte, Johann Gottlieb 96 f., 178, 178173, 29552 Formstecher, Salomon 319, 319127, 320, 320132, 321 Francke, August Hermann 90347 Freytag, Georg Wilhelm 329 Fries, Jakob Friedrich 11, 20–37, 41, 45, 46174, 47 f., 53, 83325, 88, 248 – Friessch 11, 46 f., 85333, 141 Fürst, Julius 3263 Gabler, Johann Philipp 25, 2556, 55, 77, 242 Geiger, Abraham 15 f., 228, 321, 325– 361, 363, 365, 368 f., 374 f. Geiger, Ludwig 3288, 331, 333 George, Leopold 11 f., 16, 95–139, 141, 2033, 20513, 211–213, 232, 254, 256, 290, 311, 334, 363, 365, 368 f., 371 f., 375 – Georgesch 213 Gervinus, Georg Gottfried 143 Gesenius, Wilhelm 109, 24220, 247 Gesundheit, Shimon 361133 Graetz, Heinrich 287, 3263 Graf, Friedrich Wilhelm 100, 112 Graf, Karl Heinrich 12 f., 16, 96, 203– 236, 278, 27995, 288–292, 298 f., 311, 363, 365, 368 f., 372, 375 – Grafsch 309 f., 372 Gramberg, Karl Peter Wilhelm 109 Gramsci, Antonio 340 Griesbach, Johann Jakob 25, 2555, 82323 Grimm, Jakob 143 Grimm, Wilhelm 143 Grotius, Hugo 74, 288 f. Gunkel, Hermann 23 Habermas, Jürgen 353, 353111 Häckermann, Gabriel Adolf August Wilhelm 95, 98 f.
Hagar 193 Hagenbach, Karl Friedrich 2866 Harkavy, Albert 3263 Harnack, Adolf von 335 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 14, 26, 2660, 27, 2763, 40139, 97, 978, 9921, 101 f., 12669, 130 f., 13185.87, 132, 150, 178, 237, 2386 f., 239, 241, 243, 24321–23, 244 f., 24528, 246, 24629, 247, 24731 f., 248, 259, 271 f., 278 f., 27995, 342 – Hegelsch 101, 131, 213, 238, 242, 245, 249, 256, 263 f., 275, 311, 320, 374 Hengel, Martin 335 Hengstenberg, Ernst Wilhelm 96 f., 100, 10022, 14522, 150, 239, 364 Henoch 187, 191229 Henrich, Dieter 178173 Herder, Johann Gottfried 11, 20–37, 40139, 47, 55, 57, 77, 81317, 86, 126, 133, 142, 177 f., 190, 195, 349 – Herdersch 11, 47, 109, 370 Hermann, Carl Friedrich 3288 Herodot 35 Heschel, Susannah 33227, 337, 33749, 338 f., 33956, 340–342, 34273, 34374, 360131 Heyne, Christian Gottlob 55 Hirsch, Emanuel 16 f. Hiskia 168 Hölderlin, Friedrich 55 Holtzmann, Heinrich Julius 342, 34270, 34374 Hoschea 29548 Hosea 158, 164, 295 Howard, Thomas Albert 55209 Humboldt, Wilhelm von 97 Hume, David 2343 Hupfeld, Hermann 21660, 290, 311, 329, 32912, Ilgen, Karl David 61, 61226, 78, 78300, 290, 311 Isaak 64, 91, 184, 187, 193 Jacob, Benno 361133 Jacobi, Friedrich Heinrich 177
Namenregister
Jakob 184, 187, 193, 195 Jeremia 161, 163, 167–170, 171127, 172, 176, 208, 216–219, 224 f., 235 Jesaja 161, 163, 16388, 164–167, 167106, 172, 175 f., 199, 295, 297 – jesajanisch 166 f., 224103 Jesus Christus 153, 180, 198, 374 Joel 159 Jojakim 217 Josephus, Flavius 355 Josia 58, 65, 94, 115, 119, 128, 168, 209, 216 f., 225, 232, 312 f. – josianisch 170, 210, 212, 232, 370 Jost, Isaak Markus 136, 13696 Josua 155 Jüngel, Eberhard 9, 104 f. Juynboll, Theodoor Willem Jan 284, 290 Kain 183 f. Kaiser, Otto 112 Kamphausen, Adolf 285 Kant, Immanuel 2762, 29, 2977, 50, 53, 141 - Kantisch 31, 45, 50, 101, 272 Keel. Othmar 314112 Kennicott, Benjamin 75 Knatz, Lothar 34105 Knobel, August Wilhelm 21038 Korach 288 Kotzebue, August 97 Kuenen, Abraham 14–16, 102, 203 f., 208, 215, 219, 236154, 283–324, 3262, 363, 365, 368 f., 374 f. – Kuenensch 215, 374 Kratz, Reinhard Gregor 14, 1423, 198256 Lamech 191229 Lang, Bernhard 314112 Lenormant, François 3263 Limpricht, Elisabeth 284 Lowth, Robert 86, 86338, 87 f., 88343 Lücke, Friedrich 2659 Luther, Martin 1919 – lutherisch 150 Lyotard, Jean-François 353 Maimonides, Moses 317120 Manasse 221 f., 288, 312
407
Marheineke, Philipp Konrad 96 f. Mendelssohn, Moses 361 Meuss, Heinrich 286 Meyer, Michael A. 334 Michaelis, Johann David 77, 141 Mose 58, 65, 121, 138, 153–155, 157– 159, 180 f., 181182, 182, 182187, 197, 220 f., 254, 261–264, 266, 274, 276, 280, 300 f., 312 f. – mosaisch 13, 58, 60, 84329, 92354, 106, 113, 115, 123, 127 f., 181, 181182, 210, 257, 264, 274, 312 Müller, Carl Theodor 286 Neander, Johann August Wilhelm 96 f. Nehemia 269 Neugebauer, Georg 33 Noah 186, 192 Nöldeke, Theodor 21660 Otto, Rudolf 28, 38, 45, 47, 94 Paulus, Heinrich Eberhard Gottlob 25, 82323 Perlitt, Lothar 145, 14522, 238 Planck, Gottlieb Jakob 141 Pott, David Julius 141 Pritz, Franz Xaver 318, 321 Rad, Gerhard von 32, 4, 7, 198, 201, 201266, 313, 313109, 314, 314112 Ranke, Leopold von 190 Rebekka 64, 193 Reimer, Georg 284 Reuchlin, Johannes 74 Reuß, Eduard 203 f., 2045, 20724, 209 Reventlow, Henning Graf 9, 95 – Reventlowsch 10 Rickert, Heinrich 177169 Riehm, Eduard 21660 Ritschl, Albrecht 205, 20512, 338–340, 342, 372 Römer, Thomas 236154 Rössler, Dietrich 105 Rogerson, John William 12, 19, 26, 2762.65, 28, 2871, 3291, 55209, 73267, 95, 139, 240, 24732, 370 Rossi, Giovanni Battista de 75
408
Namenregister
Rothschild, Amschel Meyer 328 Rousseau, Jean-Jacques 318 – Rousseausch 132 Rüsen, Jörn 124 f. Salomo 93, 115, 156, 252, 302 – salomonisch 182, 265 Samuel 220, 302 Sand, Karl Ludwig 97 Sara 193 Sarna, Nahum Mattathias 334 Saul 156, 252, 265, 302 Savigny, Friedrich Karl von 96 Schaller, Berndt 335 Scheliha, Arnulf von 337, 342, 34273, 434, 345, 360 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 11, 20–37, 54 f., 62–65, 90, 178 – Schellingsch 55 f., 62, 9921 Schlegel, Friedrich 55 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 33, 11, 18, 27 f., 38, 41 f., 47, 95–97, 101 f., 10341, 104–106, 110, 132, 194– 196, 239, 342 f., 34379, 347, 360 – Schleiermachersch 102, 213, 360 Schlosser, Friedrich Christoph 33329 Schmidt, Werner Hermann 314112 Scholten, Johann Heinrich 284, 290 Schrader, Eberhard 21660 Schrader, Wolfgang H. 178173 Schroers, Silvia 314112 Schwegler, Albert 15039 Sem 184 Semler, Johann Salomo 77 f., 89, 89346, 90349, 186, 242, 335, 366 Simon, Richard 78 Slenzka, Notger 33 Smend, Rudolf 816, 21, 2556, 26, 2659 f., 32, 40139, 56–58, 80, 82, 82323, 83, 148, 196252, 237, 248, 2848, 286, 30996, 210, 321, 3691 Spalding, Johann Joachim 367 Spinoza, Baruch de 74 Stade, Bernhard 2045 Stähelin, Johann Jakob 73, 73264 Stäudlin, Karl Friedrich 141 Steudel, Johann Christian Friedrich 34 Storr, Gottlob Christian 34
Strauß, David Friedrich 98, 100, 10024, 15039, 239, 338 f. Strauß, Gerhard Friedrich Abraham 97 Tholuck, Friedrich August Gottreu 19 f., 96 Tillich, Paul 112 Troeltsch, Ernst 199, 335 Tuch, Johann Christian Friedrich 21660, 310101 Tychsen, Thomas Christian 142 Uehlinger, Christoph 314112 Usija 164 Vater, Johann Severin 61, 61226 Vatke, Theodor 27995 Vatke, Wilhelm 13 f., 1423, 16, 978, 98, 9816, 9921, 102, 136, 148, 2033, 20513, 212 f., 215, 220, 232, 237–281, 290 f., 311, 313, 363, 365, 368 f., 371–375 – Vatkesch 148, 213, 374 Vischer, Friedrich Theodor 15039 Vlugt, Willem van der 290 f. Vries, Simon John De 30996, 313107 Wacker, Marie-Theres 314112 Wähner, Andreas Georg 335 Wagner, Falk 2399 Waubke, Hans-Günther 335 f. Weber, Theodor 286 Weber, Wilhelm 143 Wellhausen, Julius 1, 7 f., 816, 10, 12 f., 1322, 14, 16, 58, 63, 68, 78, 91351, 93355, 94, 96, 99, 102–104, 112, 117, 136–139, 145–149, 152, 176, 178, 187, 190, 196252, 200265, 203, 2045, 205, 20512 f., 207, 21038, 227, 232–235, 236154, 237 f., 2399, 240 f., 246, 251, 262, 26265, 269 f., 27793, 278 f., 27995, 283, 2831 f., 284, 2848, 286, 288, 289, 291 f., 298, 310 f., 313–316, 316118, 317, 321 f., 324–327, 336 f., 361, 361133, 363 f., 369–372, 374–376 – Wellhausensch 13, 78 f., 13080, 234, 241, 309, 376 Wette, Wilhelm Martin Leberecht de 8, 11 f., 1423, 16–94, 96 f., 979, 98 f., 9921,
Namenregister
107–109, 127–130, 136, 157, 168, 184, 187, 189, 20513, 207, 209, 212, 220, 225, 232, 246, 248, 24834, 254–259, 274, 280, 285, 290, 310, 334, 363, 365, 368–373, 375 – de Wettesch 11, 137, 371 Wiese, Christian 33227, 337, 33749, 341 f. Wilhelm I., König von Württemberg 143 Wislicenus, Gustav Adolf 15039
Witter, Bernhard 235, 235150 Wolf, Friedrich August 96 Zadok 344 Zeller, Eduard 15039 Zedekia 171127 Zimmerli, Walther 2, 21, 3, 32, 4–6 Zunz, Leopold 332 f. Zwickel, Wolfgang 368
409
Sachregister Ästhetik / ästhetisch 11, 21, 29, 39, 41, 43, 46, 57 f., 80, 82–88, 90 f., 370 Ahnung 45 f., 48, 52, 169 Andacht 31, 46–49 Anschauung 30 f., 42, 48, 67, 110, 116, 232, 244, 266, 272 Archäologie / archäologisch 17, 82, 107 f., 110, 125 f., 154 f., 346, 366 Aufklärung / aufklärerisch 3, 11, 175, 21, 73, 76 f., 86, 90, 180, 242, 24220, 24629, 247, 258, 263, 275, 317, 343, 348, 360, 363 366, 370 Auslegung 1, 5, 24 f., 33, 40 ,53, 64, 69253, 70 f., 74, 80, 82323, 84, 87, 88343, 89, 126, 144, 151, 160 f., 178, 183, 223, 244, 256, 259, 349, 353, 356, 359, 365, 367 – historische 37, 70, 82323, 84 Bewußtsein 2, 13, 21, 25, 30, 46–48, 69, 135, 138, 149, 178, 195, 197, 200, 242 f., 262–264, 266, 268, 273, 275, 309, 322, 348, 351 f. Bibel 21, 33, 58, 74, 87, 142, 153, 155, 190, 228, 346, 348 f., 355, 364 f., 367, 370 Bibelauslegung 1 f., 8, 39, 88, 131, 258, 271, 33956, 345 Bibelhermeneutik 3, 7, 10 f., 15, 47, 52, 57, 72, 80, 82, 86, 96, 271, 276, 330 f., 346 Bibelkritik 11 f., 39, 58, 73, 73266, 75 f., 90348, 13187, 206, 247 f., 276, 367, 370 Bibelwissenschaft 1, 16, 55, 97, 220, 237, 299, 334 Bund 156, 161 f., 169 f. Bundesbuch 211 f., 229 f., 312 Christentum 3, 37, 40, 57, 104 f., 131, 139, 151, 228, 243 f., 251, 268,
270 f., 287, 318–320, 338 f., 341, 359, 374 f. Darstellung 2, 6, 8, 10, 13, 19, 33, 37, 39, 43, 60220, 62 f., 65–67, 72 f., 75, 79 f., 82, 83325, 93, 103, 106–108, 133, 137, 149 f., 153, 159, 164, 180 f., 184, 187, 193–195, 197, 201, 213, 219 f., 241, 248 f., 251, 259, 266, 273, 279 f., 293 f., 298, 308, 310, 312, 316118, 319, 325, 327, 339 f., 344 f., 348, 355, 359, 360131, 367, 372–374 Dekalog 211 f., 228 f., 230, 260, 268, 312 Denkmal 16, 54, 61 f., 126, 133, 182 f., 191, 228, 252, 274, 332, 350, 364 f., 367, 369 f. Deutung 12, 16, 40, 43, 51, 118, 122, 125, 134, 137, 223, 236, 343, 360131, 375 Drama / dramatisch 36, 49, 109 Dogmatik / dogmatisch 1, 11, 18, 32, 45 f., 55, 84, 92, 258 f., 262, 364, 367 f. Elohist / elohistisch 13080, 233, 236, 289, 310–312, 32912 Empfindung / empfinden 18, 24, 51, 85, 85333, 111, 113, 164, 303, 337 Entwicklung 1, 7, 10 f., 22, 24, 33, 35, 59, 63, 65–67, 74, 74268, 89343, 92, 103 f., 106, 111–116, 118–121, 124, 130–132, 136 f., 139, 146, 149, 152 f., 155 f., 159, 167, 207, 211, 213, 220, 230, 244, 246, 248–250, 252–255, 262–267, 270, 273, 276 f., 287, 298, 300, 305 f., 309, 312, 346 f., 358 f., 369, 371 – geschichtliche / historische 23, 34, 66 f., 108, 116 f., 152–155, 158, 213,
412
Sachregister
215, 242, 246, 250 f., 274, 287, 302, 310, 360 – kulturelle 22, 276 – religiöse 19 f., 261, 265, 269–271, 292, 294, 301, 306 – religionsgeschichtliche 12, 212, 215, 251, 274, 289, 292, 310, 368 Entwicklungsprozeß 78, 214, 266, 268, 346, 356, 364, 369 f. Epos / episch 34, 34105, 35–37, 49, 56, 62–64, 66, 80 f., 84, 88, 109–112, 114, 128, 196 Ergänzungshypothese 71, 157, 214, 236 Erleben 110 f., 113, 161, 175, 189 Erweckungsbewegung 96 f., 100 Ethik / ethisch (s. a. Monotheismus, ethischer) 9, 46, 151, 165, 175, 258, 260, 268, 271, 285, 301, 305, 307 Exegese / exegetisch 7, 18, 21, 38, 82, 86, 99, 146, 189, 203, 209, 258, 289, 314, 349, 360, 367 Exil / exilisch 67 f., 78, 112, 114, 120, 124, 136–139, 171 f., 180, 217, 267, 292, 307, 344, 350, 356 Fest 12, 95, 100, 103–106, 113 f., 117– 124, 132–136, 211 f., 254, 256, 371 Forschungsgeschichte / forschungsgeschichtlich 5, 9, 14, 1423, 78, 78295, 95, 103, 177, 203, 207, 235, 240, 288, 336, 339, 344, 369, Fortschreibung 90, 112 f., 183192, 227, 234, 27995, 347, 349, 351, 353, 355, 360, 368 Fortschreibungshypothese 157 Fortschritt 107, 112, 116, 125, 132, 200, 233, 242, 246, 266, 269 f., 357, 365 Fragmentenhypothese 61, 236 Freiheit 48, 93, 104, 115, 246, 318, 359, Frömmigkeit 16, 91, 137, 161, 264, 363, 370 Gattung 49, 81, 109 f. Gefühl 24 f., 30–32, 42, 46–49, 51 f., 72, 85333, 86, 110, 112–114, 116, 132, 197 Geschichte Israels 7, 13, 57, 61–63, 66 f., 73, 80, 91, 93, 102, 107, 144, 149, 153,
162, 68, 181, 184, 186210, 187, 189, 195, 197, 220, 232, 248, 252, 255, 270, 275–278, 283, 285, 298 f., 308, 313, 315, 321, 367 Geschichtsphilosophie 33, 9921, 24528, 279, 27995, 311 Geschichtsschreibung 14, 35, 65 f., 89, 124 f., 153, 155, 180, 182187, 184, 196, 221, 231, 273, 275, 366 Gesellschaft / gesellschaftlich 43, 66, 108, 111, 113, 132, 155, 171, 319, 332, 340, 359, 375 Gesetzbuch 111–113, 119, 128, 131, 136, 209, 217 Glauben 3, 9, 30 f., 45, 48, 50 f., 99 f., 102, 164, 243, 267, 296, 316, 318, 320, 322 f. Gottesdienst 104–106, 115 f., 297 Hebraismus 91 f., 180, 243, 245 f., 274 Heidentum 251, 319 f. Heiligkeit / heilig 21, 48, 87, 100, 116– 119, 131, 162, 173–175, 179, 193, 211, 228, 244, 256, 280, 285, 347, 363 f., 374 f. Heiligtum 116, 119, 122, 137, 211, 345 Heilsgeschichte 4, 6 Hexateuch 13, 106, 156, 20724, 226, 287–289, 291 f., 298, 310, 312, 375 Historie 60, 62, 125, 179 f., 185, 367 Hohepriester / hohepriesterlich 93, 137, 325, 351 Idee / ideell 29–31, 33, 45 f., 48, 50–53, 70 f., 104, 107, 113, 115, 125 f., 130 f., 165, 167106, 242–247, 249 f., 253, 266–268, 271, 279, 293, 322, 344, 351, 365, 374 Individualisierung / Individualität / individuell 25, 36, 42 f., 44152, 46, 51 f., 85 f., 86337, 137, 199, 201, 262, 269, 315–317, 347, 359, 361 Institution / institutionell 65–68, 98, 104, 150 f., 156 f., 169, 175, 178, 207, 213, 261, 265, 301, 326, 354, 359, 367 Interpretation 11–13, 15, 21 f., 37, 53, 55, 59 f., 62, 64 f., 69 f., 76, 80, 83, 89 f., 146 f., 176, 182, 200, 231, 234 f., 2387,
Sachregister
250, 255, 261, 274–276, 278, 286, 292, 298, 311, 332, 338, 365 f., 368, 370 f., 373 – ästhetische 57, 82–84, 91 – geschichtliche / historische 33, 56, 69, 80, 91, 185, 190, 294 – heilsgeschichtliche 6 – historisch-kritische 1, 90348 – mythische 54, 69, 100 – theologische 56 Islam 251, 287, 320, 338 Israel 3, 5, 8, 12–14, 16, 21, 25, 39, 57 f., 61–67, 70 f., 73, 79 f., 91–93, 103 f., 107, 115, 128, 131 f., 137 f., 144, 149, 152–154, 156, 159, 162–174, 179–189, 191, 194 f., 197 f., 208, 212 f., 215, 217, 220 f., 228, 230, 232, 235, 243, 246, 248 f., 251 f., 257, 259 f., 262 f., 265–270, 275–278, 280, 285, 288 f., 292, 294 f., 297–302, 304 f., 307–310, 312–317, 322 f., 326, 344, 365–367, 370–372 Jahweglauben 170 f., 173, 305, 317, 320 Jahwist / jahwistisch / Jehovist / jehovistisch 79, 127, 129, 13080, 210 f., 21143, 214, 21454, 226 f., 229–231, 233, 236, 289, 291, 299, 310–312, 32912 Jerusalem 10341, 115, 119, 121 f., 164 f., 167, 171–175, 216, 218, 221, 265, 267, 294, 345, 349, 351, 354 Judentum 3, 12–15, 80, 91 f., 103 f., 106 f., 115, 117, 135, 137, 180, 189, 208, 213, 215, 220 f., 228, 243 f., 263, 270 f., 287, 289, 292, 294, 317, 319 f., 328, 331–333, 335–342, 348 f., 355 f., 359 f., 363, 367 f., 370, 374 f. Kanonisierung 270 f., 347–350, 360 Kirche 44, 150, 359 – kirchlich 1, 8, 242, 364 Königtum 65–67, 93, 112, 137, 154, 167–169, 171, 182, 211, 226, 265, 294, 302, 312, 344 Konstruktion / konstruieren 2, 16, 35, 43, 54 f., 63, 193, 223, 225, 243, 250, 252, 272, 278, 281, 340, 368
413
Kritik 41, 73, 74274, 77, 84, 90, 98, 104, 108, 126, 221, 252, 257, 285, 310, 330, 369, 374 – historische 21, 57, 61, 85, 109, 144, 24220, 336, 345, 374 Kult / kultisch 12, 39, 67, 92 f., 103–106, 112–115, 119, 122 f., 132, 135–137, 187, 197, 207, 211–213, 216, 224, 230, 260, 263, 265, 271, 276, 317, 365, 370 Kultgesetz 14, 70, 117, 220, 262, 269– 271, 292, 317 Kultur / kulturell 20–23, 30, 65 f., 93, 182, 244, 250, 276, 357, 359, 366 Kulturgeschichte / kulturgeschichtlich 13, 16, 22 f., 54, 62, 64, 180 Kunst / künstlich / Künstlichkeit 30, 35, 41, 43, 52, 106, 108, 110, 156, 173, 176, 358, 371 f. Laubhüttenfest 118, 120, 122 f., 134 Leben / lebendig 15 f., 30 f., 42 f., 45–49, 51, 65, 93, 105 f., 108, 114, 119, 132 f., 137 f., 151, 155 f., 160–169, 173–178, 182, 193, 220, 262, 266, 269, 271, 330, 348 f., 355 f., 370 f., 374 Lebendigkeit 92, 138, 168, 172, 176, 197, 269, 274, 319, 343, 345, 347, 359, 361 Lex-post-prophetas-Hypothese 14, 374 Literargeschichte 78 f., 373 Literarkritik / literarkritisch 5, 8, 74, 77, 77288, 78 f., 103, 107, 136, 139, 177, 219, 273, 293, 330, 360, 369, 371–374 Literaturgeschichte 12, 20, 145, 179 f., 183 f., 190, 372 Lyrik / lyrisch 36, 49, 81, 84, 88, 109 f., 112, 114, 128, 254 Methode 1 f., 7, 14, 21, 37–39, 44, 54, 69, 74, 77288, 82323, 84 f., 88, 101, 125 f., 130, 144, 150 f., 154, 182, 245, 249, 259, 273, 276, 336, 338, 340, 345, 369, 373 – historisch-kritische 73, 82 f., 129, 278, 280, 338, 348, 373 – systematische 278, 280 Methodenlehre 76, 90 Monolatrie 194, 267
414
Sachregister
Monotheismus 9, 13185, 194244, 245, 24629, 260, 267, 29655, 305 f., 314112, 316, 321–323 – ethischer / geistiger 15, 287, 297, 305–309, 313 f., 314, 314112, 315– 324, 374 Mündlichkeit / mündlich 79, 117, 155, 181 f., 184, 189, 211, 226–229, 231, 262, 274 f., 317, 353 Mythentheorie 3291, 33, 55 f., 62, 90 f. Mythologie / mythologisch 23, 33, 35–37, 54 f., 58–60, 62 Mythos / mythisch 23, 32 f., 35–37, 44162, 53–62, 64, 66, 69–71, 80, 86, 89, 91, 100, 110, 117, 131, 135, 137, 185, 192, 254, 260, 273–276 Natur / natürlich / Natürlichkeit 41 f., 47, 49, 110 f., 113, 116, 118, 120 f., 124, 132–135, 173, 177, 250, 252, 260, 266–268, 295 f., 318 f., 372 Passahfest 118, 120–122, 134 Pentateuch 4, 12, 14, 54, 56, 58–60, 62– 64, 66, 78, 80 f., 99, 103, 107–111, 114, 116, 122, 126–129, 13080, 132, 134, 136, 139, 148, 183, 2033, 205, 20724, 208, 212, 214, 225, 227, 230– 233, 235 f., 257, 260–262, 280, 298, 302, 310, 32912, 371 Pentateuchkritik 106, 205, 222 f., 227 Pharisäer / Pharisäismus 92354, 270, 325, 335–337, 345, 350, 352–359, 360131, 375 Philosophie 25 f., 2660, 27, 2762, 28 f., 34, 41, 45, 53, 62, 64, 96 f., 101 f., 132, 141 f., 150, 178, 238 f., 242, 24322, 246, 248, 256, 259, 272, 320132, 334 Philosophiegeschichte 21, 177, 320132 Poesie / poetisch 21, 23, 36, 57, 60, 64, 81 f., 82323, 83 f., 87 f., 128, 133, 286 Priester / priesterlich / Priestertum 13, 67, 93 f., 103, 109, 114–116, 122, 129, 137–139, 158, 199, 200265, 2033, 205, 212–214, 221, 225, 228, 231 f., 235, 259, 265, 268, 287, 289, 298, 344 f., 353 Priestergesetz 114, 231, 233, 297, 314
Priesterschrift / priesterschriftlich / Grundschrift 12–14, 63, 78, 81, 99, 127, 129, 13080, 136, 138, 206 f., 210, 212, 214– 216, 226 f., 229 f., 233 f., 236, 287– 289, 291, 299, 310–313, 32912, 351 Propheten / prophetisch / Prophetie 12, 14 f., 70, 71, 78294, 8, 107, 111 f., 115, 117, 119, 129, 137 f., 148 f., 151, 15143, 152, 154, 157, 167, 167106, 168–176, 180, 183, 197–201, 205, 208, 216–221, 223–226, 228, 231, 235, 241, 252 f., 262–264, 266–268, 271, 280, 286 f., 292–310, 313–317, 321–323, 372, 374 f. Prophetentum 137, 158, 167, 171 f., 175, 216, 265, 295, 297, 303 Protestantismus 3, 36, 57, 342 Quellen 34, 54, 67, 72, 77, 79, 79301, 91, 99, 106–108, 114, 116–118, 128, 154 f., 180, 181182, 184 f., 187, 213, 215, 220, 227, 232, 235, 249, 259 f., 265, 273, 286, 293, 299–301, 309, 346, 351, 353, 364, 369, 371, 373 Quellenkritik / quellenkritisch 74, 77, 107, 116, 126 f., 147, 151, 154, 179, 203, 213, 215 f., 219, 234, 273, 370, 373 Redaktion / redaktionell 220, 222, 225 f., 226115, 229, 232, 372 Redaktionsgeschichte / redaktionsgeschichtlich 13, 203, 2031, 221, 226 f., 231–234, 289, 330, 359 f., 372 Reflexion 3, 30, 36, 68, 100, 110 f., 125, 146, 250, 252, 264, 275, 317 Rekonstruktion 8, 12, 16, 1923, 21, 42, 48182, 56 f., 64, 79 f., 83, 88, 104, 107, 112 f., 116 f., 120, 125, 130 f., 133, 139, 153–155, 177, 179, 181, 186, 189, 191, 208, 223, 238, 249, 251, 257–259, 265, 274 f., 278 f., 293, 295, 308, 346, 369– 371, 373, 375 Religion 11, 15 f., 18, 2343, 28–31, 37– 43, 44162, 45168, 46–51, 57, 79, 87 f., 90348, 92, 92352.354, 93, 133, 135, 138, 150 f., 15143, 153 f., 159 f., 162 f., 166 f., 169–171, 173–175, 190, 194, 197–199, 213, 228, 241–245, 24527,
Sachregister
247–253, 255 f., 260, 262–264, 266– 271, 281, 287, 301, 303–306, 311–320, 338, 343, 359, 368, 375 – altisraelitische 10, 16 – christliche 244, 321 – israelitische 3, 11, 13, 16, 79, 164 f., 173–175, 215, 264, 266, 274, 287, 298, 305–307, 313 f., 316, 326 – jüdische 3, 10 f., 13, 16, 79, 13185, 264, 287, 298, 305–307, 314, 316, 320 f., 326, 358 f. Religion Israels 16, 92, 173, 285 Religionsgeschichte 2, 8–12, 14–16, 47, 52, 54, 58, 62–64, 67, 69 f., 73, 79, 88, 104, 136–139, 208, 213, 218 f., 221, 235, 237, 243, 245, 248, 251, 253 f., 257, 259, 264, 266, 270, 273, 276 f., 27793, 279–281, 286 f., 293–295, 298, 306, 308–314, 317, 322, 347, 359 f., 363, 365–376 – religionsgeschichtlich 1, 8, 11–13, 15 f., 21, 53, 58 f., 70 f., 90, 93, 203, 212, 214–216, 219–221, 227, 232, 234, 236, 253 f., 261, 266, 269 f., 283, 289, 292, 294, 309, 311, 316, 324, 336, 347 f., 350, 360, 363, 365–368, 370, 372, 375 Religionskultur 366, 368 Religionsphilosophie 28, 38, 47, 2387, 242, 24732, 320132 Religionstheorie 11, 29 f., 32, 37, 40–44, 45166, 47, 49–53, 83, 88, 241, 360 Religionswissenschaft 366 Religiosität 42, 46, 51, 114, 133, 137, 161, 183, 193, 197, 251, 265, 269, 314 f., 317–319, 322, 347, 363, 365 Ritual 106, 118, 120–124, 134 f., 271, 297, 308, 316, 370 f. Romantik / romantisch 55, 9921, 178, 360, 364 f., 370 Sadduzäer / Sadduzäismus 92354, 270, 325, 345, 350–359, 360131, 375 Sage / sagenhaft 33, 70, 86, 100, 110, 133, 181 f., 185–187, 191–193, 221, 229, 253, 260, 273, 301 Schriftlichkeit / schriftlich 58, 64–66, 87, 110, 138, 152, 155–158, 15867,
415
168, 170 f., 175, 181, 198 f., 211, 226, 228 f., 231, 253, 274, 301, 332, 346, 353, 359, 366 Schriftreligion 228, 269–271 Sinn 70, 89, 108, 113 f., 118 f., 123, 125 f., 134, 147, 160, 184, 187, 189, 364 – historischer 62, 309 – religiöser 1, 71, 317 Sinnlichkeit / sinnlich 24, 50 f., 64, 123, 131, 133, 272 Sittlichkeit / sittlich 41, 124, 150 f., 160– 163, 166 f., 172, 174, 261–263, 268– 271, 275 f., 300 f., 303, 305, 309, 313– 315, 317, 357 Sprache 24, 40, 69, 130, 186, 190, 366, 374 Staat / staatlich 16, 35, 62, 65–68, 93, 106, 114, 132, 137, 150 f., 15143, 157, 166 f., 171, 175, 211, 216 f., 224, 252 f., 257, 262 f., 269 f., 292, 301, 326, 351–354, 357 Symbol / symbolisch 23, 37, 48, 53 f., 68–72, 124 Tempel 10341, 104, 115, 119, 122–124, 169, 173–175, 227, 267, 325, 335, 344 f., 348 f., 351, 353 f., 359, 375 Tetrateuch 58, 60, 63, 287 Textkritik / textkritisch 74, 74268, 75, 75276, 76 f., 147, 180, 285, 336, 360, 370, 371, 373 f. Theokratie 63, 252, 259 Theologie 1, 4 f., 9, 11, 18, 25, 2762, 29, 33 f., 34102, 50, 53, 55208, 63, 73264, 96–98, 100, 102, 126, 129, 141, 145, 150 f., 201, 2387, 239, 241, 244, 247, 258, 271, 280, 284 f., 3288, 329, 341, 360, 363, 365–368, 372 Theologiegeschichte 5, 16, 33227 Thora 12, 15, 81, 226, 262, 26265, 268, 270, 297, 316 f. Traditionen 58 f., 68, 71, 79, 89, 94, 110, 163, 175 f., 178, 181 f., 186, 200, 224, 229–231, 250, 254 f., 263, 273, 312, 353, 357, 363, 367 – alttestamentliche 3, 57, 253, 257 – gesetzliche 110, 253
416
Sachregister
– religiöse 92, 138, 182, 271, 357, 368, 371 Transformationsprozeß 90, 134, 138, 350–352, 354, 357 Überarbeitung 226, 226115, 231, 273, 351 Überarbeitungsprozeß 15, 226, 231, 346, 375 Überlieferung 1–5, 7, 9, 12–16, 22, 24, 37, 53, 55–59, 61 f., 64–68, 70, 72, 76, 79–81, 84, 86, 88–91, 110, 113– 117, 125, 127, 129, 131, 133, 147, 152 f., 155–158, 15867, 159, 161, 168, 175, 181–184, 188, 190, 193, 195, 2033, 211, 21143, 214, 219, 225–232, 248, 253, 256 f., 269, 271, 273–276, 278 f., 27995, 280 f., 287, 291 f., 299– 301, 307–309, 312, 331, 336 f., 344– 355, 360, 364–367, 370–373, 375 Überlieferungsgeschichte 75, 90, 112, 228, 373 – überlieferungsgeschichtlich 12, 371, 373 Umformungsprozeß 1, 7
Urkunde 22–24, 44, 63 f., 78 f., 82323, 127, 136, 181, 227 f., 231, 236, 274, 289, 291, 310–312, 347 Urkundenhypothese 61, 203 f., 2046, 205–208, 226, 233–236, 289–291, 309 Ursprung / ursprünglich / Ursprünglichkeit 12, 15, 22 f., 30, 33, 50, 55, 70 f., 75 f., 79, 87–89, 92, 94360, 110, 115–117, 119, 121, 123 f., 132, 134, 138, 155 f., 167, 176, 182, 184, 187, 201, 210 f., 226, 241, 268 f., 275, 287, 296–299, 301, 309, 317 f., 334, 348, 351, 353, 366, 371 f., 375 Verbalinspiration 75246 Verstand 31, 47, 50, 110, 113, 116, 132, 177, 272 Verstehen 9, 16, 24, 63, 79, 84, 89, 131, 147, 186, 189 f., 238, 259, 276, 317, 356, 372 Wissen 30 f., 45, 48, 50–52, 318 Wochenfest 118, 120, 122, 12262, 123, 134