Wege und Abwege der Ideen: Studien zur politischen Geistesgeschichte der Deutschen. Kleine Schriften I [1 ed.] 9783428584673, 9783428184675

Der erste Sammelband mit Aufsätzen des Passauer Historikers enthält Studien zur politischen Geistesgeschichte der Deutsc

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Wege und Abwege der Ideen: Studien zur politischen Geistesgeschichte der Deutschen. Kleine Schriften I [1 ed.]
 9783428584673, 9783428184675

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HANS-CHRISTOF KRAUS

Wege und Abwege der Ideen Studien zur politischen Geistesgeschichte der Deutschen Kleine Schriften I

Duncker & Humblot · Berlin

HANS-CHRISTOF KRAUS Wege und Abwege der Ideen

Wege und Abwege der Ideen Studien zur politischen Geistesgeschichte der Deutschen Kleine Schriften I

Von Hans-Christof Kraus

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza Printed in Germany ISBN 978-3-428-18467-5 (Print) ISBN 978-3-428-58467-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Dem Andenken meiner Mutter Margarete Kraus (1935–2021)

Einführende Vorbemerkung Dieser Band  mit ausgewählten Studien zur politischen Geistesgeschichte der Deutschen möchte zugleich weniger und mehr bieten als eine politische Ideen- oder Theoriegeschichte üblichen Zuschnitts. Weniger: Denn es geht hier nicht ausschließlich um detaillierte Einzelinterpretationen zu bestimmten politischen Denkern und um deren sehr spezielle Problemstellungen. Mehr: Denn es ist beabsichtigt, eine breitere und allgemeinere Perspektive einzunehmen, also nicht nur die Inhalte einzelner Schriften eines oder mehrerer Autoren in den Blick zu nehmen, sondern zugleich in einem weiteren Sinne deren politikhistorische und geistesgeschichtliche Kontexte näher zu beleuchten. Politische Geistesgeschichte ist also bestrebt, den Fokus auf bestimmte  – keineswegs nur „politische“ – Texte und Gedankengänge weiter als üblich zu fassen. Um es konkret und exemplarisch zu sagen: Texte wie Goethes „Tasso“, Schillers „Spaziergang“, Eichendorffs „Ahnung und Gegenwart“ oder Heines „Reisebilder“ – das sind nur einige wenige, beliebig zu vermehrende Beispiele – können nicht nur als poetische Werke gelten, sondern sie verfügen zugleich über eine, oft nur indirekt erkennbare, politische Dimen­ sion. Sie gehören damit, ohne dass dies immer auf den ersten Blick ersichtlich wird, auch zur politischen Geistesgeschichte der Deutschen. Und das gilt nicht nur für poetische Texte, sondern ebenfalls für bedeutende wissenschaftliche Schriften wie etwa (hier noch einmal ad hoc genannt) Savignys „Vom Beruf unsrer Zeit“, für Jacob Grimms „Geschichte der deutschen Sprache“, Rankes und Droysens Werke zur preußischen oder Sigmund von Riezlers zur bayerischen Geschichte, für Gustav Schmollers „Grundriss der allgemeinen Volkswirtschaftslehre“, für Kants „Metaphysik der Sitten“, Hegels „Phänomenologie des Geistes“, die Predigten Schleiermachers oder Möhlers „Symbolik“, für „Aristoteles und Athen“ von Wilamowitz-Moellendorff, die „Anthropogeographie“ von Ratzel, Nietzsches „Genealogie der Moral“, Webers „Protestantische Ethik“ oder Spenglers „Untergang des Abendlandes“ und Heideggers „Sein und Zeit“. Natürlich kann man diese Schriften rezipieren, ohne den Zeitumständen ihrer Entstehung, Rezeption und Wirkung nähere Beachtung zu schenken, sozusagen als reine, aus sich selbst heraus verständliche und wirkende Texte. Aber man wird unter diesen Umständen nur ein ver-

VIII

Einführende Vorbemerkung

kürztes Verständnis ihres semantischen Gehalts gewinnen können. Denn jeder Text von dieser Bedeutung stellt auf irgendeine Weise eine Antwort dar auf eine vorhandene Herausforderung, vielleicht auch eine bestimmte Frage, deren Anlass nicht selten zuerst außerhalb des gedanklichen Kontextes solcher geistiger Gebilde zu finden ist – nämlich in der jeweiligen konkret gegebenen historisch-politischen Lage, die ihrer Entstehung vorausging. Der Aufhellung solcher Lagen ist, um es auf die knappest mögliche Formel zu bringen, das Anliegen einer politischen Geistesgeschichte. Untersuchungen dieser Art haben nichts zu tun mit irgendwelchen Basis-Überbau-Schemata, schon gar nichts mit einer Berufung auf vermeintliche „Geschichtsformationen“ und ähnliche Artefakte, sondern es geht um etwas vollkommen anderes. Im Kontext einer an die historistische Methodik anknüpfenden Fragestellung sollen die Ideen, die rechtsund geschichtsphilosophischen Konstrukte ebenso wie die poetischen Denkformen und Deutungen vergangener Gegenwart mit ihren konkreten geistesgeschichtlichen und politischen Entstehungsbedingungen in Zusammenhang gebracht und aus diesen Kontexten heraus näher beleuchtet und deshalb besser verstanden werden. Wenn nach dem bekannten Ranke-Wort „jede Epoche […] unmittelbar zu Gott“1 ist, dann gilt dies auch für jede Lage, jede Situation, jede historisch-politische Kon­ stellation – sie alle sind auf ihre Weise jeweils einzigartig. Nicht unterschätzt werden darf dabei ebenfalls der allzu oft vernachlässigte Einfluss kontingenter Faktoren auf geistige Entwicklungen. Auch in ihnen zeigt sich immer wieder eine Tatsache, die man als den Einbruch der Zeit in das Denken bezeichnen könnte. Ungeplante politische Wandlungen, plötzliche Umbrüche, biographische Zufälle, auf einmal wirksam werdende Einflussfaktoren können die Blickrichtungen, die Themen und Probleme zeitgenössischer Dichter, Denker, Gelehrter von einem Tag auf den anderen verändern, zuspitzen, präzisieren, aber eben auch ins Abseits drängen, in bestimmten Fällen sogar absterben lassen: „Ideen sterben immer nur wieder durch Ideen“2, hat Helmuth Plessner einmal bemerkt. Das noch im 19. Jahrhundert häufig artikulierte Vertrauen in die, wie Droysen einmal bemerkt, Wirksamkeit ewiger „großer Ideen der sittlichen Welt“, die „heut wie immerdar, alle immer zu glei-

1  Leopold von Ranke, Aus Werk und Nachlass, Bd. II: Über die Epochen der neueren Geschichte, hrsg. v. Theodor Schieder/Helmut Berding, München/Wien 1971, S.  59 f. 2  Helmuth Plessner, Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Zürich/Leipzig 1935, S. 22.



Einführende VorbemerkungIX

cher Zeit wirksam und in steter Bedingtheit untereinander“3 vorhanden ­seien, – dieses Vertrauen dürfte den meisten heute Lebenden inzwischen abhanden gekommen sein. Wenn einige Ideen nach Plessner sterben können, so erhalten andere wiederum ein erstaunlich langes Leben. Sie lösen sich in diesem Fall sogar, wie von Kurt Riezler einmal treffend formuliert wurde, „los von den Verhältnissen, aus denen heraus sie erzeugt wurden, und können sie lange, sehr lange überleben. Seit es einen kontinuierlichen Kulturzusammenhang gibt, waren alle Zeitaller voll von Ideen, die in überwundenen Verhältnissen ihren Ursprung hatten und doch Kraft und Macht über die Menschen sich bewahrt haben“4. Auch Ideen dieser Art gibt es also, die äußerst zählebig sind, ihre Zeit lange überdauern können, aber deshalb immer noch keineswegs als „ewig“ anzusehen sind. Dennoch gehört es ebenfalls zu den Aufgaben einer poltischen Geistesgeschichte sowie einer ernsthaften ideengeschichtlichen Forschung, immer wieder die Spreu vom Weizen zu trennen, die kurzlebigen von den lange wirkenden Ideen zu unterscheiden und darüber hinaus auch nach den Gründen sowohl für kurze wie für sehr lange Lebensdauer zu fragen. Und die länger über­ lebenden Ideen, denen es gelingt, sich aus ihren Ursprungszusammenhängen herauszulösen, sind deshalb noch lange nicht ohne Kenntnis dieser Ursprünge wirklich zu verstehen. Die Beiträge dieses Bandes beschäftigen sich sowohl mit politischem Denken als auch mit ausgewählten Problemen von Staat, Recht und Verfassung im engeren Sinne sowie mit geistesgeschichtlichen Phänomenen. Das deutsche Denken und Reflektieren über Probleme der Politik, das hier in den Blick genommen wird, wurzelt vor allem in den verschiedenen Umbruchphasen unserer neuesten Geschichte zwischen Spätaufklärung, der Zeit vor und nach der Revolution von 1848 bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein – also im häufig so bezeichneten „langen 19. Jahrhundert“. Untersucht wird, wie sich die jeweiligen politischen Brüche auf das Denken über Politik, auf den jeweiligen „Zeitgeist“, den Ernst Brandes um 1800 als einer der ersten so benannte, ausgewirkt hat. Spätaufklärung, Romantik, Liberalismus, Konservatismus, demokratisches und antidemokratisches Denken werden in diesem Kontext thematisiert; die politischen Zäsuren und Wandlungen – Revolutions- und Reformzeit, Reichsgründungsphase, Erster Weltkrieg, Weimarer Demokratie

3  Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. v. Rudolf Hübner, 8. Aufl., München/Wien 1977, S. 275. 4  J. J. Ruedorffer (Kurt Riezler); Grundzüger der Weltpolitik in der Gegenwart, Stuttgart/Berlin 1920, S. 177.

X

Einführende Vorbemerkung

und Nationalsozialismus – bilden den Hintergrund, vor dem in Deutschland über Politik nachgedacht wurde. Im Weiteren geht es um die Probleme und Erscheinungsformen politischer Institutionen, um Verfassungsordnungen im Allgemeinen, aber auch um Denktraditionen des späten deutschen Kameralismus im Kontext des „Peuplierungs“-Problems der frühen Neuzeit, um ein angemessenes Verständnis der „Stände“ im Übergang vom historisch gegebenen Traditions­ stand zum neueren Funktionsstand, schließlich um die zentralen politischen Institutionen der modernen Demokratie: Parlamente und Parteien, sowie um deren Kritiker. Die im engeren Sinne geistesgeschichtlichen Beiträge befassen sich nicht nur mit den großen Denkströmungen und literarischen Epochen wie Aufklärung, Romantik, Realismus, sondern auch mit den politischen Dimensionen der im 19. Jahrhundert entstehenden neuen Geisteswissenschaften, hier am Beispiel Jacob Grimms, und ebenfalls mit den politischen Folgen geschichtsphilosophischer Kon­ struktionen, etwa denen Oswald Spenglers, mit einigen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus sowie schließlich mit den Wandlungen einer bestimmten Idee, des „Geheimen Deutschland“, zwischen den Dimensionen des Ästhetischen, Politischen und Ethischen. * Alle Beiträge dieses Bandes wurden stilistisch überarbeitet und in einzelnen Fällen  – dort, wo dies notwendig erschien und möglich war  – in den Fußnoten ergänzt. Ihnen kommt also der Charakter einer bearbei­ teten und teilweise erweiterten Neupublikation zu. Bei der Druckvorbereitung wurde ich von meiner Schülerin und Mitarbeiterin Dr. Laura ­Pachtner unterstützt, der ich hierfür meinen herzlichen Dank sage.

Inhalt I. Von der Aufklärung zur Romantik Kriegsfolgenbewältigung und ‚Peuplierung‘ im Denken deutscher Kameralisten des 17. und 18. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Fürstenlehre und Spätaufklärung in Preußen – Johann Jakob Engels Kronprinzenvorträge für Friedrich Wilhelm III. aus dem Jahr 1791  . . . . . . . 21 Kontinuität und Reform – Zur Geschichte des politischen Denkens in Deutschland zwischen Spätaufklärung und Romantik  . . . . . . . . . . . . . . 42 Andreas Riems Darstellung und Kritik der Verfassung von England  . . . . 66 Ernst Brandes und der deutsche Zeitgeist um 1800  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 Die Jenaer Frühromantik und ihre Kritik der Moderne  . . . . . . . . . . . . . . . 127 Politisches Denken der deutschen Spätromantik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel Heiliger Befreiungskampf? Sakralisierende Kriegsdeutungen 1813–1815  . 197 Jacob Grimm  – Wissenschaft und Politik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 Machtwechsel, Legitimität und Kontinuität als Probleme des deutschen politischen Denkens im 19. Jahrhundert   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Vom Traditionsstand zum Funktionsstand. Bemerkungen über „Stände“ und „Ständetum“ im deutschen politischen Denken des 19. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Parlamente und Parteien in liberalen und konservativen deutschen Staatslexika des 19. Jahrhunderts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

XII Inhalt III. Das 20. Jahrhundert: Zwischen Totalitarismus und Demokratie Wilhelm Hasbach (1849–1920)  – Theorie und Kritik der modernen Demo­ kratie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Demokratiekritik und antidemokratisches Denken in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Russland im Geschichtsdenken Oswald Spenglers  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 Das Geheime Deutschland  – Zur Geschichte und Bedeutung einer Idee  . 386 Über einige geistesgeschichtliche Voraussetzungen des Nationalsozialismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Nachweis der Erstveröffentlichungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 442

I. Von der Aufklärung zur Romantik

Kriegsfolgenbewältigung und ‚Peuplierung‘ im Denken deutscher Kameralisten des 17. und 18. Jahrhunderts I. „Alle Politiker versichern, daß das Bevölkerungsgeschäfte der fürnehmste Gegenstand der Regierung sey; wie kommt es dann, daß er so oft vernachlässiget wird, und an der Entvölkerung der Staaten mit aller Macht, und durch verschiedene, aber gleich rasende Mittel gearbeitet wird? Wenn ein aufmerksamer Beobachter manche die gesunde Vernunft empörende Veranstaltung gewisser Höfe betrachtet, so geräth er in die Versuchung zu glauben, daß das Menschengeschlecht seiner Vernichtung entgegen eile, nicht zwar aus Schuld der Natur, sondern durch die Thorheiten seiner Beherrscher. Der Ehrgeiz der Fürsten ist das wirksamste Instrument, das uns in der Hand des Schicksals mit de[m] Untergang bedroht“. Diese Formulierungen, veröffentlicht 1778 in Berlin im ersten Band von Johann Friedrich von Pfeiffers „Grundriß der wahren und falschen Staatskunst“1, zeigen mit besonderer Klarheit, wie einer der damals bekanntesten deutschen Kameralisten den unzweideutigen Zusammenhang zwischen Bevölkerungspolitik und Krieg herstellte; denn zu den „abscheulichen Quellen der Entvölkerung“, heißt es gleich anschließend, zählten ebenfalls „die ewigen und grausamen Kriege“2. Mit seiner ungewöhnlich deutlichen Hervorhebung eben dieses Zusammenhanges stand Pfeiffer allerdings zu jener Zeit in Deutschland keineswegs allein; es wäre ein Leichtes, diesen Tatbestand anhand weiterer Belege und Zitate zu untermauern. Dass es sich hierbei freilich um ein besonderes Spezifikum gerade deutschsprachiger staats- und kameralwissenschaftlicher Autoren handelt, ist bereits mehrfach bemerkt worden, und schon Lujo Brentano hat vor vielen Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass das deutsche Interesse an diesem Thema und insbesondere die intensive Beschäftigung deutscher Autoren hiermit keineswegs zufällig unmittelbar nach

1  Johann Friedrich von Pfeiffer, Grundriß der wahren und falschen Staatskunst. Von dem Verfasser des Lehrbegrifs sämmtlicher öconomischer und cameral Wissenschaften, Bde. 1–2, Berlin 1778–1779, hier Bd. 1, S. 109. 2  Pfeiffer, Grundriß der wahren und falschen Staatskunst (Anm. 1), Bd. 1, S. 110.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

dem Ende des dreißigjährigen Krieges beginnt3. Auch in der politischen und staatstheoretischen Literatur anderer Länder ist das Bevölkerungsproblem natürlich immer wieder eingehend und ausführlich thematisiert worden – nicht zuletzt die politischen Klassiker der Aufklärung wie etwa Montesquieu haben sich in ihren Hauptschriften damit befasst4. Doch die Intensität, mit der im deutschsprachigen Raum der Gegenstand „Bevölkerungsvermehrung“ immer wieder umkreist und abgehandelt worden ist, findet im übrigen Europa kaum ein Gegenstück. Der Zusammenhang zwischen Kriegserfahrung einerseits und der Beschäftigung mit dem Gegenstand der „Peuplierung“ andererseits ist also mit Händen zu greifen und nicht zu bestreiten – er wurde gleichwohl bis heute noch nicht eingehend rekonstruiert. Auch im Folgenden können lediglich einige Stichworte gegeben werden, die sich zuerst auf die ebenfalls spezifisch deutsche Wissenschaft der Staatsbeschreibung, Staatenkunde oder Statistik beziehen müssen, deren Anfänge in der Mitte des 17. Jahrhunderts liegen. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass genau seit dieser Zeit von fast allen Autoren des frühneuzeitlichen Kameralismus und der Staatsbeschreibung in Deutschland das Bevölkerungsproblem immer wieder eingehend thematisiert und in den Blick ­genommen worden ist5. Dabei ging es im allgemeinen weniger um die theoretische Frage, wie eine nachhaltige Bevölkerungspolitik, „Peuplierung“ genannt, begründet werden könnte, sondern es drehte sich fast ausschließlich um die Praxis, also um das Problem, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln eben jene Peuplierung nachhaltig vorangetrieben, d. h. also die Bevölkerungsvermehrung dauerhaft ins Werk gesetzt und gesichert werden könnte. Welche Autoren sich an dieser – in der Tat überwiegend spezifisch deutschen – Debatte beteiligt haben und mit welchen Argumenten, auch mit welchen auf die Praxis gerichteten Ratschlä3  Vgl. Lujo Brentano, Die Bevölkerungslehre, in: derselbe, Konkrete Grundbedingungen der Volkswirtschaft, Leipzig 1924, S. 196–338, hier S. 197 f. 4  Vgl. Charles Louis de Secondat de Montesquieu, Oeuvres complètes, hrsg. v. Roger Caillois, Bde. 1–2, Paris 1949–51, hier Bd. 2, S. 709–713 (Esprit des Lois, XXIII, ch. 24–29). 5  Vgl. hierzu aus der Literatur statt vieler den immer noch grundlegenden Überblick bei Ludwig Elster, Bevölkerungswesen, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, hrsg. v. Ludwig Elster, Adolf Weber, Friedrich Wieser, Bd. 2, Jena 1924, S. 633–825, darin bes. S. 735–812 (Abschnitt III: Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik); aus der neuesten Forschung u. a. Ralph-Jürgen Lischke/Harald Michel, Zur Entwicklung der Bevölkerungswissenschaft im deutschsprachigen Raum von den Anfängen bis 1945, in: Statistische Monatsschrift 55 (2001), S. 110– 120; Martin Fuhrmann, Volksvermehrung als Staatsaufgabe? Bevölkerungs- und Ehepolitik in der deutschen politischen und ökonomischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn 2002.



Kriegsfolgenbewältigung und ‚Peuplierung‘5

gen sie ihr Plädoyer für eine aktive Bevölkerungspolitik vorgetragen haben, soll im Folgenden etwas näher beleuchtet werden. II. Der Helmstädter Jurist Hermann Conring gilt im allgemeinen  – und auch durchaus zu Recht  – als Vater der deutschen Statistik6, und es ist kein Zufall, dass er sich bereits in seinen ersten Bemühungen um die Neufundierung einer umfassenden Staatswissenschaft auch, wenngleich nur rudimentär, mit der Bevölkerungsfrage beschäftigt hat. In seinen zahlreichen Publikationen hat er keine im eigentlichen Sinne als bevölkerungspolitisches System zu bezeichnende Theorie entwickelt, doch in seinen staatenkundlichen Schriften, besonders im „Examen rerumpublicarum totius orbis“7, finden sich bereits einige Ideen, die später auch von anderen Autoren aufgegriffen worden sind. Indem er das Problem am Beispiel des spanischen Bevölkerungsmangels und der von der spanischen Regierung dagegen erhobenen Gegenmaßnahmen erörtert, empfiehlt er bereits eine Reihe weiterer Maßregeln wie etwa die Förderung der Zuwanderung (und deren Unterstützung durch Gewährung allgemeiner Religionsfreiheit), die Aufhebung des Zölibats und der Bestrafung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs8. Mit dem Problem der Bevölkerungswanderung hat er sich ebenfalls an anderen Stellen seines umfangreichen Werkes befasst, wenngleich niemals in systematischer Form. Immerhin, und das ist entscheidend, begriff Conring früh die staatspoliti-

6  Vgl. dazu u. a. Vinzenz John, Geschichte der Statistik, Stuttgart 1884; Ndr. Wiesbaden 1968; Arno Seifert, Staatenkunde. Eine neue Disziplin und ihr wissenschaftstheoretischer Ort, in: Statistik und Staatenbeschreibung in der Neuzeit vornehmlich im 16. bis 18. Jahrhundert, hrsg. v. Mohammed Rassem, Justin Stagl, Paderborn u. a. 1980, S. 217–244; Gabriella Valera, Statistik, Staatengeschichte, Geschichte im 18. Jahrhundert, in: Aufklärung und Geschichte  – Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans Erick Bödeker, Georg G. Iggers, Jonathan B. Knudsen, Peter H. Reill, Göttingen 1986, S. 119– 143; Mohammed Rassem/Justin Stagl (Hrsg.), Geschichte der Staatsbeschreibung. Ausgewählte Quellentexte 1456–1813, Berlin 1994. 7  Enthalten in der 1730 von Johann Wilhelm Göbel edierten Gesamtausgabe: Hermanni Conringii, […] OPERVM, tomus IV. […] continens varia scripta politica et historica […] curante […] Johanne Wilhelmo Goebelio, Braunschweig 1730, S. 47–520. Grundlegend hierzu die Analyse von Reinold Zehrfeld, Hermann Conrings (1606–1681) Staatenkunde. Ihre Bedeutung für die Geschichte der Statistik unter besonderer Berücksichtigung der Conringschen Bevölkerungslehre, Berlin/ Leipzig 1926, bes. S. 79–158. 8  Vgl. Zehrfeld, Hermann Conrings (1606–1681) Staatenkunde (Anm. 7), S. 145– 158.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

sche Brisanz des Problems, das für Deutschland gerade in den Jahren nach 1648 besonders aktuell geworden war. Deutlicher  – und vor allem stärker auf die politische Praxis des handelnden und gestaltenden Staatsmanns gerichtet  – artikulierte sich um 1660 Veit Ludwig von Seckendorff, der in seinem „Teutschen FürstenStat“ ausdrücklich feststellte, der Zweck aller Gesetze „gehet […] dahin / daß der Leute und Unterthanen viel und die selbe auch gesund / und also zu ihrer Verrichtung tauglich und geschickt seyn mögen“9. Die „gute Ordnung“ eines Gemeinwesens werde zuerst und vor allem gefördert durch „die Erhaltung und Vermehrung der Leute und ihres Vermögens“10. Er entwickelte, wohl als einer der ersten deutschsprachigen Autoren, die Grundzüge eines umfassenden wohlfahrtsstaatlichen Programms, einer „guten Policey“, deren erster und wichtigster Zweck in der Förderung der Bevölkerungsvermehrung bestand. Ihm ging es vor allem um zwei Dinge: zum einen um die nachhaltige Hebung der Gesundheit der Untertanen, darunter um die staatliche Unterstützung von „Hebammen und Wehe-Müttern“, sowie um die „Bestellung Gelehrter und Erfahrner Aertz­te und Balbierer / der man sich in fürfallenden Leibes-Schwachheiten und Gebrechen mit Rath und Nutz bedienen“11 könne, zum anderen aber auch um weit ausgreifende und wirksame sozialpolitische Maßnahmen zur Unterstützung armer und notleidender Landeskinder12. Als weitere Maßnahmen empfahl er eine staatlich beaufsichtigte gerechte Verteilung der Lebensmittel, eine Förderung der Landwirtschaft, eine „richtige Tax-Ordnung“ sowie die „Abschaffung deß Wuchers“ und eine staatliche Beaufsichtigung des Handels13. Weitere Akzente setzte wenige Jahre später auch Johann Joachim ­Becher, dessen kameralistisches Hauptwerk aus dem Jahr 1668 seinen 9  Veit Ludwig von Seckendorff, Teutscher Fürsten-Stat. oder: Gründliche und kurtze Beschreibung / Welcher Gestalt Fürstenthümer / Graf- und Herrschafften im Heil. Röm. Reich Teutscher Nation […] von Rechts und löblicher Gewohnheit wegen beschaffen zu seyn […] pflegen, Frankfurt a. M. 1660, S. 147; vgl. auch Kurt Zielenziger, Die alten deutschen Kameralisten. Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie und zum Problem des Merkantilismus, Jena 1914, S. 335–371; Erhard Dittrich, Die deutschen und österreichischen Kameralisten, Darmstadt 1974, S. 68–72. 10  Seckendorff, Teutscher Fürsten-Stat (Anm. 9), S. 146 f. 11  Die Zitate: ebenda, S. 147. 12  Vgl ebenda, S. 148; Seckendorff betont hier die Notwendigkeit der „Erhaltung armer und nottdürfftiger Leute / Theils durch Hospitalien und Allmosen / […] Theils auch durch sonderbare Pflegehäuser / darin diejenige / die nicht arbeiten können / ihren Unterhalt haben mögen / und dergleichen mehr“. 13  Vgl. ebenda, S. 148, 151–153, 157 f.



Kriegsfolgenbewältigung und ‚Peuplierung‘7

Grundgedanken bereits im Titel trug: „Politischer Discurs von den eigentlichen Ursachen / deß Auf- und Abnehmens / der Städt / Länder und Republicken / in specie, Wie ein Land Volckreich und Nahrhaft zu machen / und in eine rechte Societatem civilem zu bringen“; hier rangierte bereits im Titel der Bevölkerungsreichtum vor dem Begriff einer „rechten“ Societas civilis, und diese letztere wiederum wurde vom Autor schon auf der ersten Seite seiner Schrift ausdrücklich definiert als „eine Volckreiche Nahrhaffte Gemeind“14. Und noch etwas anderes fällt auf, gerade im vergleichenden Blick auf das späte 18. Jahrhundert: Becher argumentiert nicht nur ökonomisch-politisch, sondern ebenfalls theologisch; er beruft sich auf die Bibel und sieht in der (wie er sich ausdrückt) „Volckreichmachung“ durchaus so etwas wie einen Auftrag Gottes an die Menschen, dem sie selbstverständlich zu entsprechen haben. Und schließlich taucht auch bei ihm der Krieg als Argument auf: Es soll, heißt es, „weder der Landesfürst / Städt oder Länder considerabel seyn / wenn sie arm von Volck seyn / dann sie können sich nicht defendiren auß Mangel der Menschen / werden derohalben zur Beut jedem der da komt / und sie anfeindet“15. Becher formuliert zudem erstmals einen Gedanken, der später auch von anderen kameralistischen Autoren aufgegriffen worden ist: Gesicherte Nahrung kann in einem Gemeinwesen nur dann dauerhaft vorhanden sein, wenn dort eine Art von innerer Harmonie derjenigen Stände besteht, von denen die Nahrung erwirtschaftet wird  – dies sind für den Autor die Kaufleute, die Handwerker und die Bauern16. Denn „wo nemblich die rechte Gemeinschaft dieser dreien Ständen wol in Obacht wird genommen werden / ist kein Zweiffel / daß solche societät / Stad /  Land / oder Republick / erstlich zu blühender Nahrung / und dadurch wegen des Zulauffs zu mächtiger populositet, hierdurch aber zu dem End der wahrhafften policey […] gelangen werde“17. Für Becher ist die gesicherte Nahrung das Fundament jedes gut eingerichteten Gemeinwesens, gerade weil sie nicht nur den Zuwachs der einheimischen Bevölkerung verstärkt, sondern weil sie ebenfalls, so seine prägnante Formulierung,

14  Johann Joachim Becher, POLITIscher DISCURS Von den eigentlichen Ursachen / deß Auf- und Abnehmens / der Städt / Länder und Republicken / in specie, Wie ein Land Volckreich und Nahrhaft zu machen / und in eine rechte Societatem civilem zu bringen, Frankfurt  a. M. 1668, S. 1. Vgl. auch Zielenziger, Die alten deutschen Kameralisten (Anm. 9), S. 199–277; Dittrich, Die deutschen und österreichischen Kameralisten (Anm. 9), S. 59–62. 15  Becher, POLITIscher DISCURS (Anm. 14), S. 2. 16  Vgl. ebenda, S. 6–15. 17  Ebenda, S. 12; vgl. auch S. 226 (zur „populosität“).

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

eine „Angel“ darstellt, „wodurch man die Leut herzu locket“, – also die sehr erwünschte Einwanderung befördert wird18. Die ersten etwas ausführlicheren Anleitungen zu einer erfolgreichen staatlichen Bevölkerungspolitik aus kameralwissenschaftlicher Feder legten im frühen 18. Jahrhundert Johann George Leib (1670–1727) und Theodor Ludwig Lau (1670–1740) vor. Leib, der 1705 bereits die These formulierte, dass „aus der Vermehrung und Vielheit derer Unterthanen die Kräffte und der Wohlstand eines Landes regulariter ermessen werden“19, knüpft ersichtlich an die Gedanken seines Vorgängers Becher an und betont ebenfalls die Notwendigkeit eines besonderen Gedeihens der drei Stände der Kaufleute, Bauern und Handwerker20, damit „die Vermehrung derer Unterthanen so viel möglichst geschwinde befördert / und mit des Landes Vortheil allezeit gesucht“ werde21. Die Anwerbung von Einwanderern durch das Beispiel eines blühenden und wohlhabenden Gemeinwesens sieht auch Lau als eine politische Hauptaufgabe jedes guten Landesherrn an22. Hieran anknüpfend entfaltet Leib anschließend ein ausgefeiltes und detailliertes Programm zur ökonomischen Entwicklung eines Staatswesens, das vom Neuaufbau „wüster Dorffstellen“ über die Förderung des Ackerbaus, der Viehzucht und des Obstanbaus bis hin zum Bergbau, zur Seidenzucht und zur Einrichtung staatlicher Manufakturen reicht23. Noch wesentlich weiter in seinen Empfehlungen für eine zweckmäßige Bevölkerungspolitik geht Theodor Lau, der 1717 seinen knappen „Entwurff einer Wohl-eingerichteten Policey“ vorlegte, in dem er die These entfaltet, die „innerliche Verfassung des Staats“ bestehe zuvörderst in nichts weniger „als einer starcken Gesellschaft“, die „ein vergnügtes Leben“ führe  – und die als solche nur „starck“ werden könne „durch den

18  Ebenda,

S. 2. George Leib], PROBE / Wie ein Regent Land und Leute verbessern / des Landes Gewerbe und Nahrung erheben / seine Gefälle und Einkommen sonder Ruin derer Unterthanen billigmäßigerweise vermehren / und sich dadurch in Macht und Ansehen setzen könne. Worinnen die Mittel / Wie darzu zugelangen aus denen wahren Principiis auf eine in allen Landen und Orten practicable […] Art […] gezeiget worden / sowohl deutlich angewiesen / als aus der Historie hier und dar bestärcket worden, Leipzig, Frankfurt a. M. 1705, S. 6. Vgl. auch Zielenziger, Die alten deutschen Kameralisten (Anm. 9), S. 372–390; Dittrich, Die deutschen und österreichischen Kameralisten (Anm. 9), S. 74–76. 20  Vgl. [Leib], PROBE (wie Anm. 19), S. 8. 21  Ebenda, S.  11 f. 22  Vgl. ebenda, S. 13–15. 23  Vgl. ebenda, S. 15–57. 19  [Johann



Kriegsfolgenbewältigung und ‚Peuplierung‘9

Anwachs der Einwohner“24. Den gewichtigsten „Feind“ einer solchen „harmonieusen Staatsverbindung“ erkennt er dementsprechend in der „Abnahme des Volcks und Minderung der Einwohner“25. Wie Becher und Leib legt Lau ebenfalls Wert auf die gleichartige, also harmonische Entwicklung der Stände; zur Stärkung der „Politischen Gesellschaft“ werde, betont er ausdrücklich, „ein proportionirter Anwachs und Vermehrung erwehnter Stände / erfordert“26. Aufsehen erregte Lau allerdings mit seinem – vorsichtshalber sogleich wieder eingeschränkten – Vorschlag einer Einführung der Polygamie als bevölkerungspolitischer Maßnahme27. Wie es scheint, hat ihm diese im „Entwurff einer Wohl-eingerichteten Policey“ vorgetragene Empfehlung Ende der 1720er Jahre ein Verfahren wegen Atheismus eingebracht28. Da allerdings, so Lau weiter, wegen der „vor die Ehre GOttes eiffernden Clerisei“ nicht zu hoffen sei, „es werde die fruchtbare Polygamie die das souveraineste Mittel ist / ein Land zu peuplieren  /  durch eine Sanctionem Publicam autorisiret werden“29, empfiehlt er schließlich doch andere Maßnahmen des Staates: umfassen24  [Theodor L. Lau], Entwurff Einer Wohl-eingerichteten Policey, Frankfurt a. M. 1717, S. 4. Vgl. auch Zielenziger, Die alten deutschen Kameralisten (Anm. 9), S. 391–413; Dittrich, Die deutschen und österreichischen Kameralisten (Anm. 9), S. 72–74. 25  [Lau], Entwurff Einer Wohl-eingerichteten Policey (Anm. 24), S. 5 f. 26  Ebenda, S. 9. 27  Vgl. ebenda, S. 9 f.: „Die Populosität eines Staats zu facilitiren: wolte zwar die / in dem Orient fürnehmlich / im Schwang gehende Polygamie in Vorschlag bringen; weil aber durch selbigen / wie einer Sturm-Glock / die schreckbare Cantzeln ich wider mich zum gefährlichen Aufflauff ermuntern würde: halte vor sicherer / davon zu abstrahiren. Jedoch wann die Menge der privilegirten Bordels, Musick- und Spielhäuser: die florirende Mode der offentlichen und heimlichen Cocüages: / die Winckel-Embrassaden: Mariages de Conscience: die Matrimonia ad Morganaticam: die mutuelle Expectantien auff die Todten-Fälle der Eheleute: die Unterhaltung der Maitressen entweder in eigenen Pallästen / Familien oder garnirten Chambres: und mehrere unzulässige fleischliche Galanterien / die unter uns Christen / Lehrer und Zuhörer verüben / mit serieusen Reflexionen erwege; muß dieses freymüthige Urtheil fällen: Daß vor besser und excusabler ich halte / die Viel-Weiberey zu vergönnen / als die erzehlte sündliche Lebens-Manieren zu conniviren und durch publique Gesetze gar zu rechtfertigen. Denn da die Juden etliche Frauen zugleich haben heyrathen und mit ihnen nach ihrem gusto sich divertiren können: Dieser Praxis auch von den moratesten Nationen im Orient und anderswo beobachtet wird; Warumb sollte dergleichen unschädliche Licentz den Christen eben zu einer verbottenen Frucht gedeyhen? Da gleichwohl mit keinen unwidertreiblichen Beweißthümern erhärtet werden kann / daß vielen Ehefrauen beyzuwohnen / den Göttlichen und natürlichen Rechten schnur-gerade entgegen lauffe“. 28  Vgl. den Hinweis bei Dittrich, Die deutschen und österreichischen Kameralisten (Anm. 9), S. 72. 29  [Lau], Entwurff Einer Wohl-eingerichteten Policey (Anm. 24), S. 11.

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de administrative und finanzielle Förderung der Eheschließungen, der Familien und der Kinderaufzucht, Einschränkung der Militärdienstpflichten, Gewährung von Religionsfreiheit, Hebung der Gesundheit der Bevölkerung, umfassende Maßnahmen zur Verbesserung der ökonomischen Entwicklung u. v. a.30 Die umfassendste und bedeutendste Abhandlung zur Bevölkerungskunde, ja die eigentliche Begründung einer modernen Bevölkerungsstatistik in Deutschland, stammt indes gerade nicht von einem Kameralwissenschaftler, sondern von einem Theologen: nämlich dem Regimentsprediger und späteren Berliner Oberkonsistorialrat Johann Peter Süßmilch (1707–1767)31. Sein Hauptwerk, es erschien erstmals 1741 unter dem Titel „Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, Tod und Fortpflantzung desselben“, zeigt ein eigentümliches Doppelgesicht: Denn zum einen ist er der erste deutsche Autor, der ein bedeutendes und ausgesprochen umfassendes – in späteren Auflagen seines Werkes beständig vermehrtes – Datenmaterial zur Bevölkerungsentwicklung (übrigens nicht nur auf die Entwicklung in Deutschland bezogen) gesammelt und ausgewertet hat32, zum anderen aber betont er ausdrücklich, der Hauptzweck seines Werkes bestehe darin, „daß wir aus der unläugbaren Ordnung in der Geburt, Tod und Erhaltung des menschlichen Geschlechts die geheime Regierung unsers gütigen und weisen GOttes deutlicher erkennen lernen, und uns daher zur Verehrung seiner väterlichen Vorsorge […] antreiben lassen“33. Die von manchen angelsächsischen Autoren vertretene These, Krieg und Pest seien sozusagen

30  Detailliert dargelegt in: ebenda, S. 11–18; vgl. auch den Abdruck dieser Passagen bei Zielenziger, Die alten deutschen Kameralisten (Anm. 9), S. 403–405. 31  Grundlegend zu Leben und Werk vor allem Wolfgang Neugebauer, Johann Peter Süßmilch. Geistiges Amt und Wissenschaft im friderizianischen Berlin, in: Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 1985, S. 33–68; vgl. auch John, Geschichte der Statistik (Anm. 6), S. 241–273; Elster, Bevölkerungswesen (Anm. 5), S. 752 f.; Fuhrmann, Volksvermehrung als Staatsaufgabe? (Anm. 5), S. 81 f. u. a. 32  Johann Peter Süßmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, Tod und Fortpflantzung desselben. Nebst einer Vorrede Herrn Christian Wolffens, Berlin 1741 (nach dieser ersten Ausgabe wird im Folgenden zitiert!). Während die erste Ausgabe von 1741 lediglich 360 Textseiten mit einem (unpaginierten) Tabellenanhang von 44 Seiten, also insgesamt 404 Seiten enthält, ist die fast ein Vierteljahrhundert später in zwei stattlichen Bänden publizierte 3. verbesserte Auflage bereits auf insgesamt (inklusive Tabellenanhängen) 1434 Seiten angewachsen. Die posthume, unter gleichem Titel in den Jahren 1775–76 erschienene 4. verbesserte, nunmehr dreibändige Ausgabe, „genau durchgesehen und näher berichtigt durch Christian Jacob Baumann, Prediger zu Lebus“, bringt es sogar auf insgesamt 2209 Seiten! 33  Ebenda, Vorrede S. 40.



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Hilfsmittel der göttlichen Natur, um sich der Gefahren einer Übervölkerung zu entledigen, weist Süßmilch übrigens entschieden zurück34. In der ersten Fassung seines Werkes kommt es ihm in erster Linie darauf an, die Bevölkerungsentwicklung als Ausdruck einer inneren Harmonie des Menschengeschlechts zu erweisen, in der sich wiederum die göttliche Ordnung widerspiegelt. Eben jene ausgleichende Harmonie manifestiert sich für Süßmilch vor allem in der wissenschaftlich nicht zu erklärenden Tatsache eines annähernd gleichen Zahlenverhältnisses zwischen weiblichem und männlichem Geschlecht35. Bereits aus dieser Tatsache leitet er die Erkenntnis ab, „daß die Vielweiberei nicht könne statt finden“36. Kriege und andere Katastrophen könnten das Menschengeschlecht zwar durchaus dezimieren, doch dank des verborgenen Wirkens Gottes, das stets auf die Wiederherstellung der inneren Harmonie seiner Ordnung gerichtet sei, könnten Störungen und Einbrüche in der Bevölkerungsentwicklung mit der Zeit überwunden werden. Freilich sei der Mensch in der Lage, dieser Entwicklung nachzuhelfen, und so hat Süßmilch denn auch (wenn auch erst in den späteren, sehr viel umfangreicheren Auflagen seines Werkes) eine aktive staatliche Peuplierungspolitik nachdrücklich befürwortet37. Eine Gefährdung der menschlichen Entwicklung durch einen möglichen Mangel an Nahrungsmitteln befürchtet er dagegen nicht: Gott sorge, so seine feste Überzeugung, stets dafür, dass die Geburtenzahl eines Landes der Menge der in ihm jeweils zu erwirtschaftenden Lebensmittel entspreche38. III. Diese Verwurzelung in einem stark traditional definierten Weltbild, in einer religiös-theologisch grundierten Ordnungslehre haben die zahlreichen weiteren Autoren, die sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Bevölkerungsproblem in kameralistischer und staatswissenschaftlicher Perspektive befasst haben, allerdings bereits hinter sich gelassen. Deutsche – aber auch einige ausländische, in Deutschland eifrig rezipierte und übersetzte39 – Gelehrte und Theoretiker wie etwa Johann 34  Vgl.

ebenda, S. 25, 67–104. ebenda, S. 132–190. 36  Ebenda, S. 180. 37  Vgl. dazu die Hinweise bei Elster, Bevölkerungswesen (Anm. 5), S. 752 f. 38  Vgl. Süßmilch, Die göttliche Ordnung, 1741 (Anm. 32), S. 68–71. 39  Hingewiesen sei hier auf: [Victor Riqueti Marquis de Mirabeau]: Der politische und ökonomische Menschenfreund oder practische Vorschläge zum Aufnehmen der Bevölkerung der Staaten und zur Erhaltung und Vermehrung der Reich­ 35  Vgl.

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Heinrich Gottlob von Justi (1717–1771), Joachim Georg Darjes (1714– 1791), Jakob Friedrich von Bielfeld (1717–1770), Johann Friedrich von Pfeiffer (1718–1787), Joseph von Sonnenfels (1732–1817), Johann Al­ brecht Philippi (1721–1791), Ludwig von Heß (1719–1784) oder Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817), aber auch schriftstellernde Politiker wie Ewald Friedrich von Hertzberg (1725–1795) (um nur diese Namen hier zu nennen), argumentieren ausschließlich aus der Perspektive einer staatsutilitaristischen Nützlichkeitsidee heraus: Für sie alle repräsentiert das Bevölkerungswachstum einen nicht in Zweifel zu stellenden politischen Fundamentalwert par excellence; kaum einem ist es eingefallen, diese Überzeugung etwa einmal im Detail zu begründen. Als Beispiele unter sehr vielen möglichen seien hier nur zwei besonders prominente Autoren zitiert: zuerst Bielfeld, in dessen „Lehrbegriff der Staatskunst“ es lapidar heißt: „Die wahre Stärke eines Staates besteht in der Menge der Einwohner; und die Staatskunst lehret, durch was für Mittel man diesen Zweck erlanget“40,  – und sodann Sonnenfels, der in seinen „Grundsätze[n] der Polizey, Handlung und Finanzwissenschaft“ die „Vergrößerung der Gesellschaft“ als die Summe aller „untergeordneten, einzelnen Mittel“ definiert, „welche gesammelt, die allgemeine Wohlfahrt befördern“41. Die Doppelseitigkeit, ja die Janusköpfigkeit von Bevölkerungsvermehrung auf der einen Seite, staatlicher Wohlfahrt und thümer, Bde. 1–3, Hamburg 1859; [William Bell]: Wilhelm Bells M. A. zu Cambridge gekrönte Preisschrift von den Quellen und Folgen einer starken Bevölkerung, in: Sammlung auserlesener Schriften von Staats- und landwirthschaftlichem Inhalt, Bd. 1/1, Bern 1762, S. 1–45; [Henri de Goyon de La Plombanie]: Der Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft, oder neue politische und Oekonomische Absichten, um die Bevölkerung und den Anbau der Felder auf den höchsten Gipfel der Vollkommenheit zu bringen. Aus dem Französischen übersetzt, Bde. 1–2, Berlin 1764. 40  Jakob Friedrich von Bielfeld: Lehrbegriff der Staatskunst, Bde. 1–3, Breslau, Leipzig 1761–1773, hier Bd. 1, S. 103; vgl. auch Gerda Voss, Baron von Bielfeld. Ein Beitrag zur Geschichte Friedrichs des Großen und des ausgehenden Rationalismus, phil. Diss. Berlin 1928; Friedel Stössl, Jakob Friedrich von Bielfeld. Sein Leben und Werk im Lichte der Aufklärung, phil. Diss. Erlangen 1937; Friedrich Meinecke, Bielfeld als Lehrer der Staatskunst, in: derselbe, Werke, Bd. IX: Brandenburg  – Preußen  – Deutschland. Kleine Schriften zur Geschichte und Politik, hrsg. v. Eberhard Kessel, Stuttgart 1979, S. 201–208; Harm Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten. Das außenpolitische Machtproblem in der „politischen Wissenschaft“ und in der praktischen Politik des 18. Jahrhunderts, Berlin 1986, S. 114–137. 41  Joseph von Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanzwissenschaft, Bde. 1–3, 3. Aufl., Wien 1770, hier Bd. 1, S. 35 f.; vgl. auch Dittrich, Die deutschen und österreichischen Kameralisten (Anm. 9), S. 110–115; Karl Heinz Osterloh, Joseph von Sonnenfels und die österreichische Reformbewegung im Zeitalter des aufgeklärten Absolutismus. Eine Studie zum Zusammenhang von Kameral-



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Aufwärtsentwicklung der menschlichen Gesellschaft auf der anderen Seite findet sich gerade in dieser letzten Formulierung präzise zum Ausdruck gebracht. Alle maßgeblichen deutschsprachigen Kameralisten dürften die Auffassung geteilt haben – um noch einmal Sonnenfels zu zitieren  –, nichts, aber auch gar nichts dürfe „die Sorgfalt des Regenten einschränken, die Vermehrung seiner Unterthanen auf alle mögliche Weise zu unterstützen“42. Die deutschen Kameralisten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die der Staatswissenschaftler Ludwig Elster 1924 mit einer in diesem Fall wirklich treffenden Formulierung einmal als „Bevölkerungsfanatiker“43 bezeichnet hat, überbieten sich denn auch geradezu in der Aufzählung eben jener Mittel, mit deren Hilfe die Bevölkerungsvermehrung in besonderer Weise stimuliert werden soll. Allgemein verbreitet ist die etwa von Bielfeld und Justi auf den Begriff gebrachte Überzeugung, dass Übervölkerung im eigentlichen Sinne unmöglich sei44, ja dass „ein Land nie zu viel Einwohner haben“ könne45. Man könne – so Johann Albrecht Philippi 1759 in einer Schrift mit dem programmatischen Titel „Der vergrößerte Staat“ – mit Gewißheit sagen, „daß derjenige Fürst der reichste sey, der die mehresten Unterthanen unumschränkt beherrschet. Wo ein König viel Volk hat, saget Salomon, das ist seine Herrlichkeit: wo aber wenig Volk ist, das macht einen Herrn blöde“46. Ein Herrscher habe geradezu die Pflicht, jedes erlaubte Mittel zu ergreifen, um „einen Staat immer mehr und mehr zu bevölkern“47. wissenschaft und Verwaltungspraxis, Lübeck, Hamburg 1970; Helmut Reinalter (Hrsg.), Joseph von Sonnenfels, Wien 1988. 42  Joseph von Sonnenfels, Politische Abhandlungen, Wien 1777, S. 99. 43  Elster, Bevölkerungswesen (Anm. 5), S. 749. 44  Vgl. Bielfeld: Lehrbegriff (Anm. 40), Bd. 1, S. 118 f. 45  Johann Heinrich Gottlob von Justi, Grundsätze der Policeywissenschaft in einem vernünftigen, auf den Endzweck der Policey gegründeten, Zusammenhange und zum Gebrauch Academischer Vorlesungen, 3. Aufl., hrsg. v. Johann Beckmann, Göttingen 1782, S. 86; vgl. auch Ferdinand Frensdorff, Über das Leben und die Schriften des Nationalökonomen J. H. G. von Justi, in: Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Phil.-hist. Kl., Nr. 4, Göttingen 1903, S. 355–503; Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten (Anm. 40), S. 87–114; Uwe Wilhelm, Das Staats- und Gesellschaftsverständnis von J. H. G. Justi: Ein Beitrag zur Entwicklung des Frühliberalismus in Deutschland, in: Der Staat 30 (1991), S. 415–441; Marcus Obert, Die naturrechtliche ‚politische Metaphysik‘ des Johann Heinrich Gottlieb von Justi (1717–1771), Frankfurt  a. M. u. a. 1992. 46  Johann Albrecht Philippi, Der Vergrößerte Staat, Frankfurt a.  M./Leipzig 1759, S. 43. Vgl. zu diesem wenig bekannten Autor die Bemerkungen bei Wilhelm Roscher, Geschichte der National-Oekonomik in Deutschland, München 1874, S. 417–419. 47  Philippi, Der Vergrößerte Staat (Anm. 46), S. 44.

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Hierunter versteht der Autor  – neben den auch von ihm empfohlenen Mitteln staatlicher Familienförderung – vor allem die verstärkte Anwerbung von Zuwanderern. Die Mittel, die Philippi zur Erreichung dieses Zweckes empfiehlt, reichen von der Verkündung religiöser Toleranz über die Bereitstellung von preiswertem Pachtland bis hin zur planmäßigen Anlage neuer Dörfer und Städte.48 Auch Bielfeld hat um die gleiche Zeit bemerkt, ein gesunder Staat müsse zu seinem eigenen Nutzen in der ­Lage sein, „angelockte Pflanzvölker“49 zu integrieren  – freilich sei von Anfang an unbedingt darauf achten, sie zur Arbeit anzuhalten, um zu verhindern, dass sie sich am Ende als „Umtreiber“ und „Müßiggänger“ entpuppten50. Im Ganzen lassen sich, überblickt man die Reformvorschläge der wichtigsten Autoren dieser Zeit, gewissermaßen drei Stufen empfohlener Verbesserungsmaßnahmen im Hinblick auf das zentrale Ziel einer nachhaltigen Bevölkerungsvermehrung unterscheiden: (1) eine aktive Bekämpfung der Ursachen für die Entvölkerung eines Landes; (2) Durchführung innerer Reformen, die geeignet sind, das Wachstum der einheimischen Untertanen nachhaltig zu befördern, und (3) Maßnahmen zur Anwerbung von Einwanderern. Den ersten Aspekt hat besonders der (eingangs zitierte) Johann Friedrich von Pfeiffer51 herausgestrichen, wenn er als wichtigste Ursachen der „Entvölkerung“ neben dem Krieg etwa den Despotismus (bzw. grausame Regierungsformen) nennt, sodann zu hohe Steuer48  Vgl.

ebenda, S. 77–94 u. a. Lehrbegriff (Anm. 40), Bd. 1, S. 106. 50  Vgl. Bielfeld: Lehrbegriff (Anm. 40), Bd. 1, S. 106  f.: „Auch der Kunstgriff Pflanzvölker an sich zu ziehen, und ihnen Nahrung zu verschaffen, dienet zur Bevölkerung eines Staates. Man findet immer irgend einen närrischen Fürsten in der Welt, der um der Religion halber oder wegen der harten Regierung, Volk aus dem Lande jaget. Der geschickte Staatsmann zieht aus solchen groben Fehlern seinen Vortheil, und bereichert sein Land mit solchen Colonisten. Gesetzt, daß solche Leute nicht reich wären, so liegt nichts daran; wenn es nur nicht Umtreiber und Taugenichtse sind. Allein man muß wohl acht geben, wenn man solche Emigranten an sich zieht, daß man ihnen sogleich Mittel zum Verdienste ihres Unterhaltes giebt, dadurch sie ihren Fleiß üben können; nicht aber Gefahr laufen, Müßiggänger zu werden. […] Man gebe in einem Staate nur Mittel, etwas zu erwerben: so wird man allezeit Menschen finden, die selbige begierig ergreifen werden“. 51  Vgl. Michael D. Damianoff, Die volkswirtschaftlichen Anschauungen Johannes Friedrich von Pfeiffers  – Ein Beitrag zur Geschichte der Nationalökonomie, phil. Diss. Erlangen 1908; Anton Felix Napp-Zinn, Johann Friedrich von Pfeiffer und die Kameralwissenschaften an der Universität Mainz, Wiesbaden 1955; Horst Dreitzel, Universal-Kameral-Wissenschaft als politische Theorie: Johann Friedrich von Pfeiffer (1718–1787), in: Aufklärung als praktische Philosophie. Werner Schneiders zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Frank Grunert, Friedrich Vollhardt, Tübingen 1998, S. 149–171. 49  Bielfeld:



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lasten, Ehebeschränkungen, mangelnde Hygiene und unzureichende medizinische Versorgung, militärischen Zwangsdienst, mangelnde Toleranz und fehlende Gewissenfreiheit52. Auch Johann Georg Darjes hat in seinem kameralistischen Hauptwerk53 die Notwendigkeit betont, an den Beginn jeder aktiven Bevölkerungspolitik bestimmte Maßnahmen zu stellen, durch welche „die Anzahl der Innwohner des Staats, die bereits da sind, erhalten werden“54. Der preußische Jurist und Kameralist zählt hierzu ausdrücklich auch eine Reform des Strafrechts, genauer gesagt: eine Herabsetzung des Strafmaßes und eine Einschränkung der Todesstrafe  – eben mit dem Ziel, zum Tode verurteilte Verbrecher, die zur Zwangsarbeit fähig sind, dem Nutzen der Gesellschaft nicht zu entziehen55. Johann Georg Krünitz (1728–1796), der in den 1770er Jahren die deutsche Bearbeitung einer vielbändigen französischen „Oeconomischen Encyclopädie“ herausbrachte, hat  – ebenfalls ausgehend von der Erkenntnis, „daß die wahre Stärke eines Staats in der Menge der Einwohner bestehe“56 – nicht weniger als zehn „Grundregeln“ für eine erfolgreiche Peuplierungspolitik formuliert: Erstens sei ausschließlich eine „gütige und gelinde Regierung, und die Vermeidung aller ungerechten Bedrückungen, […] dem Wachstum der Bevölkerung sehr beförderlich“; zweitens müsse vom Landesherrn „den Unterthanen eine vernünftige Freiheit gelaßen werden“, darunter nicht zuletzt drittens eine „vollkommene Gewissensfreiheit. Sodann sei viertens der Nahrungs-Stand in eine solche Beschaffenheit zu setzen […], daß er vielen Menschen genugsame Stellen anbiete, sich wohl zu nähren“; fünftens müsse die Regierung „das eheliche Leben der Unterthanen befördern und erleichtern“, sowie sechstens 52  Vgl. Pfeiffer, Grundriß der wahren und falschen Staatskunst (Anm. 1), Bd. 1, S.  110–122 u. a. 53  Johann Georg Darjes, Erste Gründe der Cameral-Wissenschaften darinnen die Haupttheile sowohl der Oeconomie als auch der Policey und besondern Cameral-Wissenschaft in ihrer natürlichen Verknüpfung zum Gebrauch seiner academischen Fürlesung entworfen, Leipzig 1768. Vgl. auch Roscher, Geschichte der National-Oekonomik (Anm. 46), S. 419 f.; Dittrich, Die deutschen und österreichischen Kameralisten (Anm. 9), S. 93–96; Eckhart Hellmuth, Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont. Studien zur preußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1985; ausführlich neuerdings Ulrike Lötzsch, Joachim Georg Darjes (1714–1791). Der Kameralist als Schul- und Gesellschaftsreformer, Köln/Weimar/Wien 2016. 54  Darjes, Erste Gründe der Cameral-Wissenschaften (Anm. 53), S. 380. 55  Vgl. ebenda, S. 381 f. 56  Johann Georg Krünitz (Hrsg.), Oeconomische Encyclopädie, oder allgemeines System der Land- Haus- und Staats-Wirthschaft, in alphabetischer Ordnung, vierter Theil, von Baum bis Biene, Berlin 1774, S. 359.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

„für die Erziehung armer Kinder sorgen“. Siebtens sei es unbedingt erforderlich, zugewanderten Fremden „alle Rechte, Vorzüge und Freiheiten“ zuzugestehen, „deren die Eingebohrnen des Landes genüßen“; achtens müsse ein auf verstärkte Einwanderung bedachter Staat „gleichsam eine Freistatt für alle diejenigen seyn, welche in andern Ländern verfolget und unterdrücket werden“. Neuntens sei es darüber hinaus erforderlich, „Fremde durch Krieges- und andere Dienste, wie auch durch Titul und Würden, in das Land zu ziehen suchen“. Die letzte und zehnte Grundregel lautet schließlich: „Man mus denen Fremden, welche in das Land ziehen, mit Befreiungen und Unterstützungen anbanden gehen“, womit Krünitz etwa ebenso befristete Steuer- und Abgabenbefreiung versteht wie auch die Zuweisung kostenlosen Baulandes und stark verbilligten Baumaterials zur Errichtung neuer Siedlungen57. Diesen von Krünitz und anderen Autoren, etwa Justi und Darjes, vorgeschlagenen Maßnahmen zur „Anlockung der Fremden“58 hat einer der späten deutschen Kameralisten, der aus auch anderen Zusammenhängen besonders bekannte Johann Heinrich Jung-Stilling, in seinem großen, 1788 erschienenen Kompendium mit dem Titel „Lehrbuch der StaatsPolizey-Wissenschaft“, entschieden widersprochen: „Wenn man noch wüste und unbebaute Gegenden im Staate hat, so pflegt man wohl Colonien dort anzulegen, und zu dem Ende Fremde hinzulocken; dieses streitet gegen das Natur-Recht: denn man nimmt ja andern übel, wenn sie uns die Unterthanen zu verführen suchen. Zugleich aber erreicht man seinen Zweck durch dieses Mittel sehr selten: die Leute, welche kommen, sind entweder arm, und in diesem Fall fällt die Unterstüzzung sehr schwer; oder zugleich nachlässig, und dann sind sie bei allen Unkosten noch schädlich; oder endlich Schwärmer, und diese sind vollends ganz unglücklich und elend, wenn sie nun sehen daß ihre goldne Träume nichts sind“59. Neben rechtlich-moralischen Bedenken, wie sie für diesen stark pietistisch geprägten Autor als besonders kennzeichnend angesehen werden können, scheinen sich in Jung-Stillings Bemerkung auch einschlägige Erfahrungen niedergeschlagen zu haben.

57  Alle

Zitate: ebenda, S. 363–369. Erste Gründe der Cameral-Wissenschaften (Anm. 53), S. 387; vgl. auch Justi, Grundsätze der Policeywissenschaft (Anm. 45), S. 76–85. 59  Johann Heinrich Jung, Lehrbuch der Staats-Polizey-Wissenschaft, Leipzig 1788, S. 83. Vgl. auch Dittrich: Die deutschen und die österreichischen Kameralisten (Anm. 9), S. 115–119; Otto W. Hahn, Jung-Stilling zwischen Pietismus und Aufklärung, Frankfurt  a.  M. 1988; Hans Günter Krüsselberg/Wolfgang Lück (Hrsg.), Jung-Stillings Welt. Das Lebenswerk eines Universalgelehrten in interdisziplinärer Perspektive, Krefeld 1992. 58  Darjes,



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Es fällt auf, dass einige Autoren mehr auf positive, also anregende und unterstützende Maßnahmen setzen, während andere wiederum auch negative Maßregeln, etwa Verbote und Strafandrohungen, in ihren jeweiligen bevölkerungspolitischen Maßnahmenkatalog aufnehmen. Einer der bedeutendsten und bekanntesten deutschen Kameralisten, Justi, ist in diesem Zusammenhang vor allem zu nennen, denn er empfiehlt ausdrücklich „strenge Gesetze und harte Bestrafungen“ zur Bekämpfung der ­Unzucht60 und er befürwortet ebenfalls staatliche Maßnahmen zur Einschränkung des Klosterlebens und der geistlichen Ehelosigkeit in katholischen Ländern, dazu auch ein vom Regenten verhängtes Auswande­ rungsverbot, ein „Verbot fremder Werbungen“ sowie die Abschaffung des traditionellen Strafmittels der „Landesverweisung“. Nicht zuletzt sollten nach seinem Dafürhalten soweit möglich gesundheitsschädliche (und damit eben auch bevölkerungspolitisch nachteilige) „Schwelgereyen und Ausschweifungen“ durch angemessene staatliche Vorkehrungen verhütet werden61. Man sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass manche der von den Kameralisten formulierten Empfehlungen nichts weniger als tiefgreifende Einschnitte in die bestehende rechtliche und soziale Ordnung des Ancien Régime postulierten: Erinnert sei etwa an die geforderte weitgehende Abschaffung der Ehehindernisse, an die Erleichterung der Ehescheidung, die nachdrückliche Diskriminierung des Selbstmordes, das Verbot der Diskriminierung sowie sogar die staatlich finanzierte Unterstützung unehelicher Mütter, das Verbot des Duells, die Zurückdrängung der Klöster und die Einschränkung der geistlichen Ehelosigkeit, die massive Besteuerung der „Hagestolze“, das ausdrückliche Verbot von Ehen bei voraussehbarer Kinderlosigkeit (etwa bei sehr großem Altersunterschied der Ehepartner), schließlich die nachhaltige finanzielle Bevorzugung kinderreicher Familien62. Selbst bedenkliche bis absurde Ideen wurden von diesen Autoren mit vollem Ernst vorgetragen; so meinte etwa Ludwig von Heß, dass der Staat die Pflicht habe, „für das Vergnügen der Unterthanen“ durch 60  Vgl. Justi, Grundsätze der Policeywissenschaft (Anm. 45), S. 89; gleichzeitig empfiehlt er jedoch ebenfalls, für die „aus einer unordentlichen Vermischung erzeugten Kinder“ zu sorgen (S. 89 f.). 61  Ebenda, S. 91, 93, 95 f., 103 u. a. 62  Vgl. etwa ebenda, S. 90, 104; Bielfeld: Lehrbegriff (Anm. 40), Bd. 1, S. 109– 111; Philippi, Der Vergrößerte Staat (Anm. 46), S. 84 f.; [Johann Friedrich von Pfeiffer], Lehrbegriff sämtlicher oeconomischer und Cameralwissenschaften, Bde. I/1–III/2, Stuttgart 1764  – Mannheim 1778, hier Bd. 2, S. 37; siehe ebenfalls die Hinweise und Bemerkungen bei Elster, Bevölkerungswesen (Anm. 5), S. 752 f., und Fuhrmann, Volksvermehrung als Staatsaufgabe? (Anm. 5), S. 72–114.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

„Schauspiele, öffentliche Tanzplätze, Gärten und Spaziergänge“63 und Ähnliches zu sorgen, während andere Autoren, in diesem Fall Pfeiffer, noch einmal (wie Jahrzehnte zuvor bereits Lau) die Einführung der Polygamie zur Diskussion zu stellen versuchte64. Und schließlich war es möglich, eine anscheinend erfolgreiche Bevölkerungspolitik im propagandistischen Sinne einzusetzen – zur Hebung des Ansehens des eigenen Staates. Dies hat kein Geringerer als Ewald Friedrich von Hertzberg, Minister Friedrichs des Großen und darüber hinaus angesehener Gelehrter und politischer Schriftsteller, im Rahmen einer seiner berühmten Akademiereden zu tun versucht, indem er am 17. Januar 1785 zum Thema „Sur la Population des États en général, et sur celle des États Prussiens en particulier“ sprach und dabei, unter Heranziehung von bevölkerungsstatistischen Tabellen, die Peuplierungspolitik unter Friedrich dem Großen als vorbildlich anpries65. IV. Die deutschen „Bevölkerungsfanatiker“ (um noch einmal den von Ludwig Elster geprägten Begriff aufzunehmen)66 haben  – dies zeigt ein vergleichender Blick auf die zeitgleichen politischen Autoren anderer europäischer Länder  – in Großbritannien oder Frankreich kein Pendant aufzuweisen. Im Gegenteil: Im Verlauf des 18. Jahrhunderts mehrten sich die Stimmen vor allem englischer Autoren, die ausdrücklich vor einer unbegrenzten Bevölkerungsvermehrung und den damit zusammen­ hängenden Gefahren zu warnen begannen. Hier ist etwa an Wirtschaftsgelehrte und Agrarökonomen wie James Steuart (1712–1780), Arthur 63  [Ludwig von Heß]: Des Herrn Regierungsraths Ludwig von Heß Staatsschriften, Frankfurt a. M. 1772, S. 341, 344; ähnlich ebenfalls Darjes, Erste Gründe der Cameral-Wissenschaften (Anm. 53), S. 389. 64  Vgl. [Johann Friedrich von Pfeiffer]: Berichtigungen berühmter Staats- Finanz- Polizei- Cameral- Commerz- und ökonomischer Schriften dieses Jahrhunderts, von dem Verfasser des Lehrbegrifs sämtlicher ökonomischen und Cameralwissenschaften, Bde. 1–6, Frankfurt a. M. 1781–1784, hier Bd. 1, S. 435–438. 65  Ewald Friedrich von Hertzberg, Sur la Population des États en général, et sur celle des États Prussiens en particulier (1785), in: derselbe: Œuvres Politiques, Bd. I, Berlin 1795, S. 225–272. Vgl. auch Theodor Preuss, Graf Hertzberg als Gelehrter und Schriftsteller, Berlin 1902; Paul Bailleu, Graf Hertzberg, in: derselbe, Preußischer Wille  – Gesammelte Aufsätze, Berlin 1924, S. 61–104; Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten (Anm. 40), S. 236–273; derselbe, Ewald Friedrich von Hertzberg  – preußischer Kabinettsminister unter Friedrich dem Großen und Friedrich Wilhelm III., in: Persönlichkeiten im Umkreis Friedrichs des Großen, hrsg. v. Johannes Kunisch, Köln/Wien 1988, S. 135–152. 66  Siehe oben, Anm. 43.



Kriegsfolgenbewältigung und ‚Peuplierung‘19

Young (1741–1820) und Joseph Townsend (1739–1816) zu erinnern, die besonders seit der Mitte des Jahrhunderts immer wieder auf die Problematik des Zusammenhangs zwischen Bevölkerungsvermehrung einerseits und der Menge der den Menschen zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel andererseits hingewiesen haben67. Damit wurden von ihnen, wenigstens teilweise, bereits Ideen vorweggenommen, die Thomas Robert Malthus (1766–1834) ab 1798 in seinem epochemachenden Werk „Essay on the principle of population“ ausführlich darlegen und begründen sollte68. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts gab es in Deutschland wohl nur e­inen ebenso prominenten wie wortmächtigen Gegner der „Bevölkerungsfanatiker“, nämlich Justus Möser (1720–1794), der gegen die Peuplierungsideen und Volksvermehrungsthesen der zeitgenössischen Ka­ meralisten immer wieder heftig polemisiert und im Gegenzug auf die drohenden Gefahren der Übervölkerung hingewiesen hat69. Im ersten Band  seiner „Patriotischen Phantasien“ finden sich die „Klagen eines Edelmanns im Stifte Osnabrück“, in denen sich Möser deutlich genug ausdrückt: „Die großen Herren, diese Zerstörer des menschlichen Geschlechts, denken auf nichts als auf Bevölkerung; und wir werden sicher nächstens ein philosophisches System erhalten, worin die möglichste Vermehrung der Menschen als die größte Verherrlichung Gottes angepriesen wird, bloß um eine Menge menschliches Vieh anzuziehen, welches sie auf die Schlachtbank liefern können“70. Freilich blieb Möser mit seinen Äußerungen zum Thema der Peuplierung innerhalb Deutschlands um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein einsamer Rufer in der Wüste. Doch kurz vor und um 1800 wandelte sich das Bild entschieden. Unter dem Einfluss der von Frankreich aus einströmenden Lehren der Physiokraten, sodann besonders der Französischen Revolution und ihrer Men67  Vgl. hierzu nur die ausführlichen Bemerkungen und Nachweise bei Elster, Bevölkerungswesen (Anm. 5), S. 755–765, sowie Joseph Alois Schumpeter, History of economic analysis, New York 1954, S. 250–275, und neuerdings auch den Hinweis auf die Bedeutung der neuen ökonomischen Lehren Adam Smiths bei Fuhrmann, Volksvermehrung als Staatsaufgabe? (Anm. 5), S. 152–167. 68  Thomas Robert Malthus, An Essay on the Principle of Population, as it Affects the Future Improvement of Society: With Remarks on the Speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet, and Other Writers, London 1798; erste deutsche Ausgabe: Versuch über die Bedingungen und die Folgen der Volksvermehrung, Bde. 1–2, Altona 1807. 69  Vgl. Justus Möser, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, Bde. 1–14/2, hrsg. v. d. Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Oldenburg – Berlin – Hamburg – Osnabrück 1943–1990, hier Bde. 4, S. 179, 211–215; Bd. 5, S. 12; Bd. 7, S. 59– 62 u. a.; vgl. dazu auch Elster, Bevölkerungswesen (Anm. 5), S. 764 f. 70  Möser, Sämtliche Werke (Anm. 69), Bd. 4, S. 179.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

schenrechtsideen, endlich auch des neueren Naturrechts und der individualistischen Ideen des frühliberalen Denkens, wurden die Peuplierungsideen der alten Kameralistik sehr bald schon stark zurückgedrängt, wie von Martin Fuhrmann neuerdings überzeugend nachgewiesen worden ist71. Der nach der Jahrhundertwende rasch sichtbar werdende demographische Wandel, also der starke Bevölkerungsanstieg, ist hierfür sicherlich ebenso mit verantwortlich zu machen wie die auch in Deutschland sich rasch – wenn auch auf sehr verschiedenen Wegen – ausbreitende Rezeption der Ideen von Malthus72. Es bleibt abschließend die Frage zu beantworten, warum sich die Thesen der „Bevölkerungsfanatiker“ unter den deutschen Kameralisten des 18. Jahrhunderts so lange in der akademischen und politischen Debatte haben halten können. Hier sind wohl zwei Antworten zu geben: Zuerst war hierfür der weit verbreitete Glaube an die staatliche Machbarkeit ausschlaggebend, an die positive Wirkmächtigkeit eines obrigkeitlichen Eingriffs- und Durchgriffsrechts selbst bis in die letzten Niederungen des sozialen Lebens, und dies alles mit der Begründung einer Förderung des Gesamtwohls der „societas civilis“, und zum zweiten ist sicher auch die im Bewusstsein der Deutschen außerordentlich langwierige  – d. h. wenigstens in der Zeit von drei Generationen nachwirkende  – Schreckenserfahrung des Dreißigjährigen Krieges und der in diesen drei Dezennien erlittenen immensen Bevölkerungsverluste in Anschlag zu bringen. Das schon im Kontext der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts reichlich törichte Wort, ein Gemeinwesen könne niemals über genug Bevölkerung verfügen, reflektiert also in seinem spezifischen Kern nichts anderes als eine spezifische deutsche, ausgesprochen traumatische Kriegserfahrung  – freilich, wie wir wissen, durchaus nicht die einzige unserer Geschichte.

71  Vgl. Fuhrmann, Volksvermehrung als Staatsaufgabe? (Anm. 5), bes. S. 115– 167 u. passim. 72  Vgl. ebenda, S. 303–397.

Fürstenlehre und Spätaufklärung in Preußen – Johann Jakob Engels Kronprinzenvorträge für Friedrich Wilhelm III. aus dem Jahr 1791 I. „Gewöhnlich pflegt man mit demjenigen verschwenderisch umzugehen, was man überflüssig hat; so ging auch Engel mit der Zeit um. Er war nur während einer kurzen Dauer von Jahren zu bestimmten Geschäften verbunden, und die wenigen, die er in seinem Leben hatte, waren nie anhaltend, noch weniger drückend. Er war daher gewohnt, ganz nach eignem Gefallen, bald dies bald jenes zu thun. In seinen Studien und Betrachtungen flog er, gleich einer Biene, von einer Blume zur andern; aber den größten Theil seines daraus bereiteten Honigs verzehrte er selbst. Er überließ sich gern bloß seinem eigenen Nachdenken; blieb aber auch wohl, wenn er ein wenig unpäßlich ward, oder mit sich selbst unzufrieden war, Wochenlang unthätig; und so leistete er nicht so viel für die Welt, als er nach seinen großen Talenten hätte leisten können. Er wird von der Nachwelt als Schriftsteller immer sehr geschätzt werden, aber der ganze Umfang seiner Talente ist aus seinen Schriften nicht zu ersehen“1.

Friedrich Nicolai, der 1806 mit diesen Worten seinen vier Jahre zuvor verstorbenen Freund, den Dichter, Schriftsteller, Lehrer und Theater­ direktor Johann Jakob Engel zusammenfassend charakterisierte, hob ­damit bestimmte Charakterzüge hervor, die das Leben und das Wirken dieses prominenten Berliner Spätaufklärers als Gelehrter und als Autor in gleicher Weise kennzeichnen. Die Neigung, „ganz nach eignem Gefallen“ – d. h. hier im besonderen: bewusst unsystematisch und gewissermaßen pointillistisch  – zu denken und zu schreiben, prägte durchaus auch Johann Jakob Engels im engeren Sinne „politisches“ Werk, das schließlich, am Ende seines Lebens, in einem recht eigenartigen „Fürstenspiegel“ gipfelte, in dem sich noch einmal wie in einem Brennspiegel zusam-

1  Friedrich Nicolai, Gedächtnißschrift auf Johann Jacob Engel [1806], in: derselbe, Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar, hrsg. v. P. M. Mitchell/Hans Gert Roloff/Erhard Weidl, Bd. 6: Gedächtnisschriften und philosophische Abhandlungen, Bern u. a. 1995, S. 117–133, hier S. 131; vgl. dazu auch Horst Möller, Aufklärung in Preußen – Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974, S. 173–175.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

mengefasst einige der zentralen politischen Grundideen der norddeutschen spätaufklärerischen Popularphilosophie auffinden lassen2. Diese Popularphilosophie unterschied sich ebenso von der eigentlichen Schulphilosophie der deutschen Aufklärung, die im Werk eines Christian Wolff kulminierte3, wie auch von der neuen  – gegen Ende des 18. Jahrhunderts rasant an Einfluss und Ausstrahlung gewinnenden – kritischen Philosophie Immanuel Kants. Im Gegensatz zur hochabstrakten Argumentation Kants und zum Systembau seiner „schulphilosophischen“ Vorgänger ging es den deutschen Popularphilosophen nach einer treffenden Formulierung Horst Möllers zuerst „um eine unspekulative lebenspraktische Moral- und Sozialphilosophie“4, die als solche wiederum zugleich die Grundlage ihrer im engeren Sinne politischen Reflexionen darstellte. Auch diese erhoben im strengen Sinne keinen theoretischen Anspruch, waren dafür aber mehr oder weniger auf die Bewältigung der politischpraktischen Probleme gerichtet, die unter dem Eindruck der Französischen Revolution in neuem Licht erschienen. Nicht zuletzt hiermit könnte es zusammenhängen, dass man um 1789/90 ausgerechnet Engel zu einem der Lehrer des damaligen preußischen Kronprinzen, des späteren Königs Friedrich Wilhelm III. berief. Als das letzte Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts anbrach, gehörte Johann Jakob Engel bereits zu den prominentesten Repräsentanten der Berliner Spätaufklärung. Geboren 1741 im mecklenburgischen Parchim als Sohn eines evangelischen Geistlichen, studierte er nach dem Besuch des Gymnasiums in Rostock zuerst an den Landesuniversitäten seiner Heimat in Rostock und Bützow, anschließend in Leipzig Naturwissenschaften, Theologie, Philosophie und schließlich auch die klassischen 2  Einen guten Überblick liefert jetzt Christoph Böhr, Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants, Stuttgart/Bad Cannstatt 2003; vgl. zum Zusammenhang ebenfalls noch Michael Stolleis, Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts, Meisenheim a. G. 1972; Gert Ueding, Popularphilosophie, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, hrsg. v. Rolf Grimminger Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789, München  – Wien 1980, S. 605–634, 902–906; Werner Schneiders, Zwischen Welt und Weisheit. Zur Verweltlichung der Philosophie in der frühen Moderne, in: derselbe, Philosophie der Aufklärung – Aufklärung der Philosophie. Gesammelte Studien, hrsg. v. Frank Grunert, Berlin 2005, S. 343–364, bes. S. 360–363. 3  Immer noch unersetzt die sehr kenntnis- und materialreiche Darstellung von Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1945, bes. S. 122–264 (zur Philosophie Wolffs, zur Wolff-Schule und zum Kampf gegen Wolff). 4  Horst Möller, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1986, S. 38.



Fürstenlehre und Spätaufklärung in Preußen23

Sprachen5. In Leipzig befreundete er sich mit Christian Garve und Friedrich Nicolai; hier stand er ebenfalls einmal mit dem sieben Jahre jüngeren Johann Wolfgang Goethe im Rahmen einer Liebhaberaufführung der „Minna von Barnhelm“ zusammen auf der Bühne. Seit 1769 lehrte er, der in dieser Zeit auch erste literarische Erfolge zu verzeichnen hatte, an der dortigen Universität, doch erst 1776 bekam er beruflich festen Boden unter den Füßen, als er nach Berlin berufen wurde und in der preußischen Hauptstadt die Stellung eines Lehrers der Moralphilosophie und der „Schönen Wissenschaften“ am Joachimsthalschen Gymnasium annahm. Hier stieg er rasch auf: Schon wenige Jahre später, 1779, berief ihn der Minister von Zedlitz in die von Friedrich dem Großen begründete Schulkonferenz, und 1786 wurde er in die Königliche Akademie der Wissenschaften aufgenommen6. Bereits ein Jahr später wurde Engel gemeinsam mit Karl Wilhelm Ramler vom jungen König zum Oberdirektor des Berliner Nationaltheaters ernannt, daneben übte er immer noch das Lehramt aus: So hielt er um die Mitte der 1780er Jahre den Brüdern Alexander und Wilhelm von Humboldt und 1791 dem preußischen Kronprinzen philosophische Vorlesungen. Während diese prominenten Schüler ihren Lehrer schätzten und

5  Zu Leben und Werk vgl. neben der eine Fülle von Informationen enthaltenden „Gedächtnißschrift“ Nicolais (Anm. 1) auch die Artikel von Adalbert Elschenbroich, Engel, Johann Jakob, in: Neue Deutsche Biographie 4, S. 504–505; Ernst Theodor Voss, Engel, Johann Jakob, in: Literaturlexikon, hrsg. v. Walther Killy, Bd. 3, Gütersloh/München 1989, S. 248–251, und Christoph Böhr, Johann Jakob Engel (1741–1802), in: Aufklärung 3/1 (1988), S. 83–84. Wichtiges Material enthalten ebenfalls der Ausstellungskatalog: Alexander Košenina/Matthias Wehrhahn (Hrsg.), Johann Jakob Engel (1741–1802) – Leben und Werk eines Berliner Aufklärers. Ausstellung zum 250. Geburtstag, Berlin 1991, sowie die beiden Sammelbände: Wolf Völker (Hrsg.), Johann Jakob Engel (1741–1802), ein mecklenburgischer Spätaufklärer, Norderstedt o. J. [2004], und: Alexander Košenina (Hrsg.), Johann Jakob Engel (1741–1802). Philosoph für die Welt, Ästhetiker und Dichter, Hannover-Laatzen 2005.  – Ausführliche Angaben zu Engels Schriften und zur Sekundärliteratur finden sich bei: Alexander Košenina, Johann Jakob Engel (1741– 1802): Bibliographie seiner Werke und Briefe, zeitgenössischer Rezensionen und der Sekundärliteratur, in: Das achtzehnte Jahrhundert 14 (1990), S. 79–121; Ale­ xander Košenina/Matthias Wehrhahn, Nachträge zur J. J. Engel-Bibliographie, in: Das achtzehnte Jahrhundert 16 (1992), S. 96–106. 6  Vgl. Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. I/2, Berlin 1900, S. 499–503; Engels Berufung erfolgte übrigens nicht zufällig kurz nach dem Tod Friedrichs des Großen, nämlich im Zusammenhang einer von Friedrich Wilhelm II. gewünschten und von Ewald Friedrich von Hertzberg durchgeführten inneren Reorganisation der Akademie, die auf eine Korrektur der dort herrschenden Dominanz französischer Gelehrter und Schriftsteller gerichtet war!

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sich auch später nicht ungern an ihn erinnerten7, agierte Engel als Theaterdirektor zunehmend glücklos. 1794 nahm er nach einer Auseinandersetzung über eine (vom König offenbar nicht gewünschte) Aufführung von Mozarts „Zauberflöte“ ohne Pension seinen Abschied. Er zog sich nach Schwerin zurück, wo er gezwungen war, in durchaus kümmerlicher Weise seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller zu verdienen, u. a. als Mitarbeiter an Schillers „Horen“, wo er auch Teile seines später bekannt gewordenen Romans „Herr Lorenz Stark“ erstmals veröffentlichte. 1798 konnte er  – zurückberufen von seinem ehemaligen Schüler, der im Jahr zuvor als Friedrich Wilhelm III. den preußischen Thron bestiegen hatte – nach Berlin zurückkehren und sich, versehen mit einer Ehrenpension der Akademie, die ihm der König persönlich bewilligt hatte8, ausschließlich der weiteren Ausarbeitung und Sammlung seines schriftstellerischen Werks widmen. 1801 publizierte Engel nicht nur seinen Roman in vollständiger Fassung, sondern er ließ auch die ersten Bände seiner „Schriften“ erscheinen  – bis 1806 erschienen insgesamt zwölf Bände9. Außerdem verfasste er 1802 auf Betreiben Karl Friedrich von Beymes eine der ersten Denkschriften im Vorfeld der Gründung der Universität Berlin10. Die Vollendung seiner Werkausgabe und erst recht die Universitätsgründung erlebte der Autor nicht mehr; er starb überraschend im Sommer 1802 in seinem Geburtsort Parchim.

7  Vgl. etwa eine Äußerung Wilhelm von Humboldts in einem Brief an seine Braut Caroline von Dacheröden (12.11.1790), in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, hrsg. v. Anna von Sydow, Bd. 1: Briefe aus der Brautzeit 1787–1791, Berlin 1910, S. 280: „Meine erste bessere Bildung bekam ich durch Engel. Er ist ein sehr feiner und lichtvoller Kopf, vielleicht nicht sehr tief, aber so schnell auffassend und darstellend, wie ich es nie wieder gefunden habe, versteht sich nur in intellektuellen Dingen. Bei dem hörte ich Philosophie nur mit wenigen andern und unterrichtete dann wieder meinen Bruder in seiner Gegenwart. Er gewann mich äußerst lieb, und ich hatte eine Anhänglichkeit an ihn, eine Achtung – so in dem empfundenen Sinne des Worts – eine Liebe, die in den höchsten Enthusiasmus überging.“ – Vgl. dazu auch Friedrich Schaffstein, Wilhelm von Humboldt. Ein Lebensbild, Frankfurt  a. M. 1952, S. 15 f.; Siegfried A. Kaehler, Wilhelm von Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, Göttingen 21963, S. 18. 8  Vgl. Johann Jakob Engel, Briefwechsel aus den Jahren 1765 bis 1802, hrsg. v. Alexander Košenina, Würzburg 1992, S. 193 (Engel an seine Mutter, 25.8.1798). 9  Johann Jakob Engel, Schriften, Bde. I–XII, Berlin 1801–1806 (diese Ausgabe ist 1971 nachgedruckt worden). 10  Johann Jakob Engel, Denkschrift über Begründung einer großen Lehranstalt in Berlin (13. März 1802), in: Ernst Müller (Hrsg.), Gelegentliche Gedanken über Universitäten, Leipzig 1990, S. 6–17.



Fürstenlehre und Spätaufklärung in Preußen25

Das Ansehen Engels als Schriftsteller gründete sich freilich nicht auf seinen erst spät publizierten, wenngleich seinerzeit stark beachteten Roman, ebenfalls nicht auf den kurz vor seinem Lebensende veröffentlichten „Fürstenspiegel“, sondern auf die von ihm in drei Bänden herausgegebene popularphilosophische Essaysammlung „Der Philosoph für die Welt“, deren erste beide Bände 1775 und 1777 erstmals erschienen waren; zu den prominenten Beiträgern gehörten neben dem Herausgeber u. a. Moses Mendelssohn, Immanuel Kant, Christian Garve und Johann August Eberhard11. Außerdem galt Engel zu seiner Zeit als durchaus angesehener, wenn auch keineswegs überragender Theaterdichter und Theaterleiter, dessen Stücke auch außerhalb Berlins Beachtung fanden; erst die spätere Zeit urteilte so abschätzig wie Ludwig Geiger gegen Ende des 19. Jahrhunderts, der in seiner voluminösen Kulturgeschichte der preußischen Hauptstadt einmal anmerkt, Engel habe durch seine Dramen lediglich bewiesen, „daß er kein Dramatiker war“12. Schließlich trat Engel auch als öffentlicher Redner hervor, dessen rhetorische Talente bedeutend gewesen sein müssen. Hierbei scheute er das durchaus prekäre Gebiet des Politischen keineswegs, und seine Lobrede auf Friedrich den Großen, die er am 24. Januar 1781 zum 69. Geburtstag des Königs hielt13, entsprach denn auch nach Form und Inhalt den Erwartungen, die man offenbar in ihn gesetzt hatte. Wesentlich interessanter als diese zwar elegante und stilistisch raffinierte, wenn auch in der Tendenz zweifellos konventionelle Laudatio auf den großen König, die gelegentlich auch als bloße Apologie eines krassen, freiheitsfeindlichen Absolutismus missverstanden worden ist14, erscheint Engels Rede auf den Neffen und Nachfolger Friedrichs, König Friedrich Wilhelm II., die er fünf Wochen nach dessen Thronbesteigung am 25. September 1786, dem 42.  Geburtstag des neuen Herrschers, gehalten hat15. Der nicht mehr ganz junge Friedrich Wilhelm, der keineswegs als Freund der Aufklärung 11  Johann Jakob Engel, Der Philosoph für die Welt, Erster Theil, Leipzig 1775, Zweiter Theil, Leipzig 1777, Dritter Theil, Berlin 1800; die beiden ersten Bände erschienen in einer vermehrten 2. Auflage noch einmal Leipzig 1787. In endgültiger Fassung findet sich die Sammlung in: Engel, Schriften (Anm. 9), Bde. I–II. – Siehe hierzu auch die zusammenfassende Analyse und Deutung von Böhr: Philosophie (Anm. 2), S. 67–80. 12  Ludwig Geiger, Berlin 1688–1840. Geschichte des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt, Bd. 2: 1786–1840, Berlin 1895, S. 173. 13  Abgedruckt in: Engel, Schriften (Anm. 9), Bd. 4, S. 1–44. 14  So etwa von Zwi Batscha, Bemerkungen zu J. J. Engels politischer Theorie, in: derselbe, „Despotismus von jeder Art reizt zur Widersetzlichkeit.“ Die Französische Revolution in der deutschen Popularphilosophie, Frankfurt  a. M. 1989, S. 219–247, hier S. 232–235. 15  Abgedruckt in: Engel, Schriften (Anm. 9), Bd. 4, S. 59–100.

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galt und dessen ausgeprägte, ja im Grunde fast exaltierte Religiosität bereits bekannt war, bekam vom Redner mit erstaunlicher Offenheit gesagt, dass wahre Gläubigkeit nur im Rahmen einer allgemein gültigen Freiheit des Denkens gedeihen könne16. Und die Vision, die Engel am Ende seines Vortrags entwarf, nämlich diejenige eines friedlichen und aufgeklärten Volkes, das durch Geistesreichtum und Bildung „den Ruhm der deutschen Nation erhöhe“, entsprach zwar den Ideen der deutschen Spätaufklärung17, freilich nicht unbedingt den politischen Zielen des Königs, der, wie sich bald zeigen sollte, die Absicht einer weiteren territorialen Vergrößerung seines Landes ebenso fest im Blick hatte wie sein Vorgänger. Dennoch war König Friedrich Wilhelm II. seinem Lobredner, den er zuerst auch als Theaterdirektor geschätzt zu haben scheint, durchaus gewogen, und hiermit mag es wohl zusammenhängen, dass Engel in den folgenden Jahren verschiedenen Prinzen des Hauses Hohenzollern, da­ runter besonders auch dem Kronprinzen, Unterricht in Philosophie erteilen konnte. Näheres über diese philosophischen Vorlesungen war bisher kaum bekannt; noch die neueste Forschungsliteratur, darunter der jüngste Biograph Friedrich Wilhelms III., greifen auf die Angabe Nicolais zurück, der in seinem Nekrolog auf Engel bemerkt hatte, der Verstorbene habe dem Kronprinzen „vom J. 1787 an, einige Zeitlang Vorlesungen über Philosophie und Moral“18 gehalten. Die Entstehungszeit dieser Vorlesun16  Vgl.

ebenda, S. 83 f. ebenda, S. 98–100: „Wenn uns dieser letzte Blick auf den Charakter des Königs; wenn uns diese Aussicht auf Ruhe, auf die große allersehnte Wohlthat des Friedens entzückt: so erhebe noch dieses Entzücken ein Rückblick auf die Grundsätze alle, die für den Gebrauch dieses Friedens in der Seele des geliebten Monarchen leben! So erhebe noch dieses Entzücken der allumfassende Eine Gedanke: wie sich Friederich Wilhelm ein Volk wünscht, durch seine eigne nie schlummernde Vatersorge gebildet; ein Volk, das frei denke und edel, gut sei aus der Fülle der Aufklärung, und Religion verehre aus Überzeugung der Seele; ein Volk, das unter den weisesten menschlichen Gesetzen lebe, und um so freudiger ihnen gehorche, weil es sie selbst sich gab; ein Volk, das durch Bildung seiner Sprache, durch Feinheit seines Geistes, des edelsten Vergnügens empfänglich, und durch Reichthum an Werken echten Geschmacks, dieses Vergnügens theilhaftig sei; ein Volk, das durch seinen eignen Ruhm den Ruhm der deutschen Nation erhöhe, sein eignes wohlthätiges Licht über alle die brüderlichen Stämme verbreite, die mit ihm zugleich in den weitgestreckten Gefilden Deutschlands, des gemeinschaftlichen ­Vaterlands, wohnen.“ 18  Nicolai, Gedächtnißschrift (Anm. 1), S. 124; vgl. auch Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III. der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992, S. 44; Alexander Košenina, Johann Jakob Engel und die Berliner Aufklärung, in: derselbe (Hrsg.): Johann Jakob Engel (Anm. 5), S. 1–25, hier S. 17. 17  Vgl.



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gen, die durchaus auch über eine rechtsphilosophische und staatsrecht­ liche Dimension verfügten, ist freilich für ihre Einschätzung und Bewertung von nicht geringer Bedeutung, da unschwer anzunehmen ist, dass die Zäsur von 1789 nicht ohne Einfluss auf deren Inhalt geblieben sein dürfte19. Über diese Lehrtätigkeit weiß man im Allgemeinen nicht sehr viel. In der Zeit seiner beruflichen Kaltstellung hat Engel im Februar 1795 sich einmal einem Freund gegenüber bitter über seine traurige finanzielle Lage als alternder und ungesicherter freier Schriftsteller – und damit indirekt über die Undankbarkeit des Hauses Hohenzollern – beklagt, denn er habe während seiner Berliner Zeit neben seinen amtlichen Pflichten als Theaterdirektor „obendrein Jahre lang Kinder des königl[ichen] Hauses, und den Kronprinzen ganz, ganz umsonst, ohne eines Pfennigs werth dafür zu haben, unterrichtet“20. Erhalten geblieben sind jedenfalls im ehemaligen Preußischen Hausarchiv die philosophischen Vorlesungen, die Engel dem Kronprinzen im Jahr 1791 gehalten hat. Von der Wissenschaft – auch und gerade von der germanistischen Engel-Forschung, die in den letzten Jahrzehnten etwas in Gang gekommen ist – sind sie bisher fast unbeachtet geblieben21. Gleichwohl sollten sie einmal eingehender in den Blick genommen werden, nicht nur wegen der Prominenz des Schülers und der geistesgeschichtlichen Stellung ihres Autors, sondern vor allem wegen ihrer Entstehungszeit: Wie betrieb man, so ist zu fragen, 19  Zur Geschichte Preußens in der problematischen Ära zwischen dem Tod Friedrichs des Großen und der Niederlage gegen Napoleon vgl. als zuverlässigste, knappe neuere Darstellung vor allem Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern, Bd.2: Dynastie im säkularen Wandel. Von 1740 bis in das 20. Jahrhundert, Stuttgart u. a. 2003, S. 55–99, 206–209, sodann Stamm-Kuhlmann, König (Anm. 18), S. 14–247, sowie den wichtigen Sammelband von Hans Hattenhauer/Götz Landwehr (Hrsg.), Das nachfriderizianische Preußen 1786–1806, Heidelberg 1988.  – Kein Ersatz für eine neue ausführliche Gesamtdarstellung dieses Zeitalters der preußischen Geschichte bieten die beiden neuesten, zwar materialreichen, dennoch (wegen nicht immer ausreichender Quellennutzung, widersprüchlicher Argumentation oder allzu exzentrischer Deutungsperspektiven) nicht unproblematischen Darstellungen von Wilhelm Bringmann, Preußen unter Friedrich Wilhelm II. (1786–1797). Frankfurt  a. M. u. a. 2001, und Lothar Kittstein, Politik im Zeitalter der Revolution. Untersuchungen zur preußischen Staatlichkeit 1792–1807, Stuttgart 2003. 20  Engel, Briefwechsel (Anm. 8), S. 183 (Engel an Christian Siegmund Wilhelm Hauptmann, 22.2.1795). 21  Einzige Ausnahme ist der Biograph Friedrich Wilhelms III., Thomas StammKuhlmann, der das Manuskript zur Kenntnis genommen hat, ihm aber nur wenige Worte widmet: Es handele sich dabei lediglich um eine „wenig aussagekräftige Skizze einer Rechts- und Moralphilosophie“, um „eine Sittenlehre im Geist des Rationalismus, die aber zum Beispiel eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit zur Verhütung von Kriegen empfiehlt“; Stamm-Kuhlmann, König (Anm. 18), S. 46.

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in Preußen Fürstenlehre unter dem Eindruck der soeben ausgebrochenen Französischen Revolution? II. Das nicht allzu umfangreiche Manuskript dieser Vorlesungen ist überliefert im ehemaligen Brandenburgisch-Preußischen Hausarchiv, heute Bestandteil des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem22. Es ist nach Ausweis der Handschrift von Johann Jakob Engel persönlich niedergeschrieben und trägt (von späterer Hand) die Überschrift: „Philosophische Vorträge vor Sr. K. H. dem Kronprinzen (nachh. Kg. Friedrich Wilhelm III. Maj.) im J. 1791 vom Prof. Engel gehalten.“ Insgesamt umfassen die Vorlesungen 79 zumeist doppelseitig beschriebene Blätter23. Sieht man von der historischen Einführung einmal ab, so ist der Text (erinnert sei hier an die anfangs zitierte Charakteristik Engels durch Nicolai!) nicht streng systematisch-logisch aufgebaut; auch die vom Verfasser selbst vorgenommene Gliederung wird nicht konsequent durchgehalten. Man kann insgesamt sieben Abschnitte von sehr unterschiedlicher Länge und Qualität unterscheiden: Auf eine knappe philosophiehistorische Einleitung (von Engel bezeichnet als „Kurzer Entwurf einer Geschichte der Weltweisheit“), die im Wesentlichen eine Skizze der altgriechischen Philosophie enthält (Bl. 1r–6v), werden in einem zweiten, mit „Einleitung“ überschriebenen Abschnitt einige Themen der Moralphilosophie (Bl. 9r–29v) sowie im dritten Teil  eine philosophische Religionslehre skizziert (Bl. 30r–47v). Ein vierter, knapperer Abschnitt behandelt ausgewählte gesellschaftlich-politische Aspekte wie das Eigentumsproblem, das Vertragsrecht, aber auch das „Recht des Krieges“ sowie das Problem von Herrschaft und Knechtschaft (Bl. 48r–58v). Es folgt, fünftens, ein sehr kurz gehaltenes „Allgemeines Staatsrecht“, das neben der Vertragstheorie vor allem einer Explikation der „Majestätsrechte“ gewidmet ist (Bl. 58r–63r). Die beiden letzten Abschnitte sind zuerst dem Völkerrecht (Bl. 64r–65v) sowie abschließend der Explikation einer allgemeinen Pflichtenlehre gewidmet, in der auch das Problem des Nationalstolzes kurz beleuchtet wird (Bl. 66r–79v). Die moralphilosophische „Einleitung“ expliziert das philosophische Programm des aufgeklärten Eudämonismus, indem als „Gegenstand der 22  Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem, Brandenburgisch-Preußisches Hausarchiv, Re. 49 A II b, Nr. 9. 23  Diese Blätter sind nachträglich zusammengeheftet worden, dabei hat man nicht immer auf die Reihenfolge des Textes Rücksicht genommen!



Fürstenlehre und Spätaufklärung in Preußen29

Moral“ zuerst und vor allem „die Glükseligkeit des Menschen“ bestimmt wird, „insofern sie von der freien Thätigkeit desselben abhängt“24. Dabei gilt es in besonderer Weise, der „tierischen Triebe“ im Menschen Herr zu werden25, denn die wahre Tugend ist nach Engel nichts anderes als „Herrschaft über die Leidenschaften“26. In Auseinandersetzung mit Rousseau – und mit indirekter Anspielung auf dessen ersten „Discours“27 – wird die menschliche Natur als Resultat menschlicher Selbstkultivierung bestimmt: „Rousseaus Traum von dem Stande der Wildheit, als dem höchsten Gute des Menschen, findet hier seine Widerlegung. In diesem Stande bleiben gerade die edelsten Kräfte des Menschen unangebaut, und die reichsten Quellen der Glükseligkeit für ihn verschlossen. Es ist auch nicht der natürliche Stand des Menschen; vielmehr steht er so, wie ihn Rousseau angiebt, mit der Natur desselben im Widerspruch. Das Gemälde des Elends, welches die Cultur über die Menschheit soll gebracht haben, ist viel zu sehr überladen“28.

Engel fügte sich mit diesen Ideen nahtlos ein in die Rousseaukritik der deutschen Spätaufklärung und deren Verteidigung der „Cultur“ gegen den vermeintlichen Anspruch der „Natur“29. Das „Recht des Krieges“, das von Engel in einem weiteren Abschnitt abgehandelt wird, definiert er im Geist der Spätaufklärung als durchaus restriktiv, denn grundsätzlich seien „Gewaltthätigkeiten […] ein Uebel, und also auf alle ersinnliche Art zu vermeiden. Vor dem Kriege sind friedliche Mittel zu versuchen“, etwa durch Einschaltung eines unparteiischen Schiedsrichters. „Sind friedliche Mittel zur Abwendung des Unrechts fruchtlos, so sind Gewaltthätigkeiten erlaubt. Nur dürfen diese nie weiter getrieben werden, als die Absicht des gerechten Krieges fodert. Wie viel aber diese nach dem Character des Feindes und nach der Beschaffenheit aller Umstände födern könne, ist im Allgemeinen unbestimmbar. Der Satz: daß die Rechte des Krieges ins Unendliche gehen, ist wahr, wenn er nur sagen soll, daß es sich nicht für jeden Fall im Allgemeinen Bestimmen 24  GStA PK, BPH, Rep. 49 A II b, Nr. 9, Bl. 9r; es heißt weiter: „Glükseligkeit ist ein Zustand des überwiegenden Vergnügens. Es kommt dabeÿ weniger auf die äußern Umstände und Menschen, als auf seine innre Verfassung an. Diese Leztre, in so fern sie von der Anwendung seines freien Willens abhängt, oder die Vervollkommnung seines Willens selbst ist der eigentliche Gegenstand der Moral.“ 25  Vgl. ebenda, Bl. 10r–12r. 26  Ebenda, Bl. 27r. 27  Jean-Jacques Rousseau, Discours sur les sciences et les arts (1759), in: derselbe, Œuvres complètes, hrsg. v. Bernard Gagnebin, Bd. 3, Paris 1964, S. 1–30. 28  GStA PK, BPH, Rep. 49 A II b, Nr. 9, Bl. 26v. 29  Hierzu immer noch anregend und aufschlussreich die ältere Studie von Richard Fester: Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie, Leipzig 1890, S. 31–86.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

lasse, wie weit man gehen dürfe; falsch, wenn er den Sinn haben soll, daß man gegen einen Feind sich alles erlauben dürfe“30.

Im Zentrum der politischen Reflexionen dieser Vorlesungen stehen nun allerdings nicht die Probleme des Krieges, sondern – die Lehre vom Vertrag als Grundlage und zentrales Fundament des sozialen, wirtschaftlichen und vor allem auch des politischen Lebens! Engel gehört damit zum breiten Strom der aufgeklärten Vertragstheoretiker des jüngeren deutschen Naturrechts31. Gleich dreimal kommt er auf das Vertragsproblem zu sprechen: In einem eigenen Abschnitt „Vom Vertrage“32, sodann im Abschnitt über das „Gesellschaftsrecht“33 und schließlich im Rahmen seiner knappen Skizze eines „Allgemeinen Staatsrechts“34. Welche Brisanz diese Lehre im Zeitalter der Französischen Revolution entwickeln konnte, sollte sich im Rahmen der deutschen Kontroverse zwischen den Gegnern und den Verteidigern der Revolution schon wenige Jahre später zeigen, als nämlich der junge Johann Gottlieb Fichte in seiner berühmten Schrift „Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution“ von 179335 im Anschluss an bestimmte Ideen des Juristen und Kameralisten Theodor Schmalz die These verfocht, jedes Volk habe unter bestimmten Umständen das Recht zur einseitigen Aufhebung eines als Vertrag verstandenen Staatsgrundgesetztes – und damit letztendlich zur Revolution36. Als aufgeklärter preußischer Royalist, wie man ihn wohl bezeichnen kann, zieht Engel in seiner Vertragslehre nun keineswegs so radikale Schlussfolgerungen wie dies schon zwei Jahre später der junge Philosoph tun sollte, doch die kritische Grundtendenz seiner Argumentation ist klar erkennbar. Nachdem er zuerst in dem kurzen Abschnitt „Vom Vertrage“ so gut wie ausschließlich die strikt relative Gültigkeit vertraglicher

30  GStA

PK, BPH, Rep. 49 A II b, Nr. 9, Bl. 52r–52v. dazu statt vieler vor allem Wolfgang Kersting, Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. VI, Stuttgart 1990, S. 901–945; derselbe, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1994, bes. S. 236–246. 32  GStA PK, BPH, Rep. 49 A II b, Nr. 9, Bl. 49r–50r. 33  Ebenda, Bl. 56r–57r. 34  Ebenda, Bl. 59v–60r. 35  Johann Gottlieb Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution, in: derselbe: Schriften zur Revolution, hrsg. v. Bernard Willms, Köln/Opladen 1967, S. 34–213. 36  Vgl. dazu Hans-Christof Kraus, Theodor Anton Heinrich Schmalz (1760– 1831)  – Jurisprudenz, Universitätspolitik und Publizistik im Spannungsfeld von Revolution und Restauration, Frankfurt a. M. 1999, S. 333–343. 31  Vgl.



Fürstenlehre und Spätaufklärung in Preußen31

Bindungen herausgearbeitet hat37, kommt er gleich anschließend im Abschnitt über das „Gesellschaftsrecht“ erneut darauf zu sprechen. Denn auch eine „Gesellschaft“, nach seiner Definition eine „Verbindung mehrerer Personen zur gemeinsamen Erreichung eines fortdauernden End­ zwecks“38, kann rechtmäßig nur in der Form eines Vertragschlusses gegründet werden, und, so fügt er sogleich an, „unter den Bedingungen, wie jeder andere Vertrag, kann auch der gesellschaftliche wieder aufgehoben werden. Also, wenn alle Mitglieder einstimmen, oder wenn die Absicht der Gesellschaft völlig erreicht ist, oder wenn es sich zeigt, daß sie nicht erreicht werden kann“39. Am Beispiel des Verhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft expliziert er anschließend, dass ein Vertrag, der einen Menschen in die sklavenmäßige Abhängigkeit von einem anderen bringt, von vornherein als ungültig anzusehen ist, denn „daß ein Mensch als Sclave sollte gebohren werden, ist vollends wider alle Begriffe des Rechts“40. In seiner Staatsformenlehre ist Engel – im Gegensatz übrigens zu seiner noch ganz eudämonistisch geprägten Ethik – Kantianer, denn für ihn wie für den Königsberger Denker wird „die Verfassung eines Staats […] bestimmt durch die höchste Gewalt, die entweder einer einzigen Person übergeben oder zwischen mehrere getheilt ist. In jenem Fall ist der Staat monarchisch; in diesem republikanisch“41. In seiner anschließenden knappen Staatsformenlehre definiert er Demokratie und Aristokratie, freilich auch die „vermischte[n] Regierungsformen, wie z. B. in England“, als Unterformen einer republikanisch angelegten, also gewaltenteiligen politischen Ordnung. Monarchie, Demokratie und Aristokratie kennen

37  Vgl. GStA PK, BPH, Rep. 49 A II b, Nr. 9, Bl. 49v–50r: „Verträge sind ungültig, a) wenn sie höhern Pflichten entgegenstehen. b) wenn sie die Rechte eines Dritten kränken; also auch c) wenn sie einem frühern Vertrage mit einem andern zuwider sind; d) wenn die Erfüllung den versprechenden Theil unvorhergesehener Weise in die äusserste Noth stürzen würde […]; e) wenn das Versprechen durch unerlaubte Gewaltthätigkeiten, durch List, durch Lüge erschlichen worden. – Verträge verlieren ihre verbindende Kraft a) wenn sie so ganz erfüllt sind, daß nun nichts mehr zu leisten übrig oder möglich ist, b) wenn beide Theile in die Aufhebung desselben einwilligen.“ 38  Ebenda, Bl. 56r. 39  Ebenda, Bl. 56r–56v. 40  Ebenda, Bl. 58r; vgl. auch ebenda, B. 58v: „Leben, Gesundheit, Gewissen des Knechtes sind aber in jedem Fall von der Willkühr des Herrn ausgeschlossen“. 41  Ebenda, Bl. 59r–59v; zum Kantischen Verständnis der „Republik“ siehe etwa Claudia Langer, Reform nach Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants, Stuttgart 1986, S. 95–137; Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt  a. M. 1993, S.  418–428 u. a.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

jeweils (hier folgt Engel dem antiken Vorbild der aristotelischen Staatslehre) drei Entartungsformen, nämlich Tyrannis, Ochlokratie und Oligarchie. Gleichwohl gibt er anschließend ein klares Bekenntnis zur Monarchie ab, freilich zu einer aufgeklärten, auf Verträge gegründeten Monarchie; das traditionelle Gottesgnadentum lehnt er ausdrücklich ab: „Jede der oben angeführten Staatsverfassungen mag ihre besondern Vortheile haben. Aber wer in einer wohlverwalteten Monarchie lebt, hat sicher die Bürger keines andern Staats zu beneiden. Daß die bürgerliche Oberherrschaft unmittelbar von Gott komme, ist Vorur­ theil; sie entsteht aus Verträgen. Man erfodert zur Errichtung eines Staats drei [sic!] Verträge: 1) den Vereinigungsvertrag, wodurch mehrere Familien eine Gesellschaft zur Beförderung ihres äussern Wohlstandes stiften; 2) den gesellschaftlichen Vertrag, wodurch sich diese Familien einer gemeinschaftlichen Oberherrschaft unterwerfen; 3) das Staatsgrundgesetz, wodurch sie sich die Regierungsform oder die innere Verfassung bestimmen. Wird die Oberherrschaft auf Einen oder auf Einige übertragen; so kommt 4) noch der Unterwerfungsvertrag hinzu“42.

Die bereits vorher von Engel immer wieder umkreiste Frage nach der Möglichkeit der Auflösung eines Vertrages, durch den eine politische Gesellschaft oder ein Staatswesen begründet worden ist, hat er hingegen eher zurückhaltend beantwortet. Vom Fichteschen Radikalismus, der zwei Jahre später die Frage: „Hat überhaupt ein Volk das Recht, seine Staatsverfassung abzuändern?“ ausdrücklich mit Ja beantworten wird43, bleibt Engel 1791 jedenfalls weit entfernt: „Ob Gesetze nur durch allgemeine Uebereinstimmung aller Mitglieder einer Gesellschaft, oder durch bloße Stimmenmehrheit gegründet werden können?“ – die Beantwortung dieser Frage hänge „von der besondern Beschaffenheit des Vertrags ab. Doch können die Grundgesetze einer Gesellschaft, oder die selbstgesezten Rechte des einen Theils nicht durch bloße Stimmenmehrheit aufgehoben werden“44. Damit ist ein Recht auf einseitige Aufhebung einer Verfassungsordnung ohne Zustimmung des jeweils anderen Teils nicht vorhanden, und damit gibt es nach Engel auch kein eigentliches Recht auf Revolution! Gleichwohl, und auch das geht aus Engels Argumenta­tion hervor, sind alle Teile eines Gemeinwesens dringend angehalten, sich im Falle einer Staatskrise in gemeinschaftlichem Einverständnis friedlich 42  GStA 43  Vgl.

PK, BPH, Rep. 49 A II b, Nr. 9, Bl. 59v–60r. Fichte, Schriften zur Revolution (Anm. 35), S. 64–82; vgl. auch S. 84–

118! 44  GStA

PK, BPH, Rep. 49 A II b, Nr. 9, Bl. 56v.



Fürstenlehre und Spätaufklärung in Preußen33

auf eine eventuell notwendige Abänderung der bestehenden Ordnung zu einigen. Da ein Staatswesen primär auf den Erhalt der Sicherheit für alle Beteiligten angelegt ist45, muss nach Engel vor allem die innere Einheit der Staatsgewalt gewährleistet sein: „Die Einheit des Staats beruht auf der Einheit der Gesetzgebung und der höchsten Gewalt. Die Schweiz z. B. ist nicht Ein Staat, sondern die Verbindung mehrerer Staaten. Wer die höchste Gewalt in Händen hat, ist Herr, und wenn er sie ohne Einschränkung hat, Souverän: die übrigen sind Unterthanen. Von dem Herrn ist der bloße Regent zu unterscheiden, der selbst noch Unterthan seyn kann. Souveränität ist das Recht einer Nation oder eines Regenten, alle zum Wesen einer bürgerlichen Gesellschaft erforderlichen Einrichtungen nach eigenem Willen zu machen. Das allgemeine Staatsrecht ist der Inbegriff der Rechte und Verbindlichkeiten, welche Herrn und Unterthanen, als solche, gegen einander haben. […] Die unabhängige höchste Oberherrschaft heißt Majestät, und die mit der Oberherrschaft natürlich verbundenen einzelnen Rechte die Majestätsrechte“46.

Wobei freilich, behält man den Zusammenhang der Argumentation Engels im Blick, immer zu beachten bleibt, dass auch diese Majestätsrechte stets abgeleitete  – nämlich aus dem gesellschaftlichen und dem Unterwerfungsvertrag herrührende – Rechte sind! Schon bei der Bestimmung des ersten Majestätsrechts, der gesetzgebenden Gewalt, weist der Autor eindringlich auf diese Einschränkung hin. Nachdem er sie definiert hat als eben jene Gewalt, „vermöge deren der Regent bestimmen kann, was der Unterthan zu thun und was er zu unterlassen habe“, fügt er ausdrücklich hinzu: „Diese Gewalt kann aufhören, weil die sich immer ändernden inneren und äussern Verhältnisse des Staats, die sich offenbarende Mangelhaftigkeit und Unvollkommenheit der Gesetze, die schon eingeführt waren, der veränderliche Charakter der Nation, ohne Unterlaß neue Einrichtungen und Verordnungen erfodern“47. 45  Vgl. ebenda, Bl. 58v: „Ein Staat oder eine bürgerliche Gesellschaft heißt die Vereinigung mehrerer Familien unter einer höchsten Gewalt, zur wechselseitigen Beförderung ihrer Sicherheit und aller übrigen äussern Vortheile […] Ohne Anstalten für diese innre Sicherheit oder ohne Gesetzgebung verdient keine Vereinigung von Menschen den Namen eines Staats“.  – Zur „Sicherheit“ als zentralem Staatszweck in der Rechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts siehe neuerdings vor allem Karl Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Tübingen 1997, S. 14–18 u. a. 46  GStA PK, BPH, Rep. 49 A II b, Nr. 9, Bl. 59r. 47  Ebenda, B. 60r; weiter heißt es ausdrücklich, ebenda, Bl. 60r–60v: „Zur Verbindlichkeit der Gesetze wird erfodert, daß sie rechtlich nicht wider das Natur-

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

Als in gleicher Weise aus den staatsbegründenden Verträgen abgeleitet bestimmt Engel das zweite Majestätsrecht „die vollstreckende (exekutive) Gewalt“, die er – mit etwas enger Definition – als „das Recht zu belohnen und zu bestrafen“48 definiert. Als weitere grundlegende, nur dem Souverän eines Staates zukommende Majestätsrechte nennt Engel im weiteren „3) das Recht, die Verbrechen zu untersuchen“; sodann „4) das Recht der Oberaufsicht“; „5) das Recht in Religionssachen“, was sich freilich „nie auf den Glauben der Unterthanen erstrecken“ könne (und überhaupt habe, wie er sofort hinzufügt, ein Regent „am meisten“ darüber zu wachen: „daß nie die Intoleranz ihr Haupt emporhebe“); „6) das Recht der Waffen“, also der Aufstellung und der Unterhaltung einer Armee; „7) Das Recht, öffentliche Aemter und bürgerliche Würden zu er­ theilen“; sodann „8) Das Recht, über das öffentliche Vermögen des Staats, zum Besten desselben, zu disponiren, und von dem Privatvermögen Abgaben zu fodern“; „9) Das Recht, die auswärtigen Angelegenheiten zu besorgen“, wozu ebenfalls das Recht zum Abschließen diplomatischer ­ Verträge und zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen gehört; und schließlich „10) Das äusserste Recht. Dieses tritt nur in ausserordent­ lichen Fällen, in der dringendsten Noth ein. Es heißt Obereigenthum, in sofern es sich auf die Güter, äusserste Gewalt, in sofern es sich auf die Personen der Unterthanen erstreckt“49. Den Begriff einer zeitlich begrenzten oder kommissarischen Diktatur kennt Engel indes nicht. Im vorletzten, nur sehr knappen Abschnitt wird – auch dies nach zeitgenössischen Vorbildern50  – das Völkerrecht definiert als rechtlicher Ausdruck eines Nebeneinanders von Staaten, also eines Zustandes, der dem Verhältnis der Menschen untereinander im vorstaatlichen, d. h. im Naturzustand gleichzusetzen ist51. Auch in diesem Zusammenhang recht streiten, und daß sie zweitens dem Unterthanen bekannt gemacht (promulgiert) werden“. 48  Ebenda, Bl. 60v. 49  Alle Zitate nach ebenda, Bl. 61v–63r. 50  Zum Völkerrecht der Aufklärung vgl. u. a. Ernst Reibstein, Völkerrecht. Eine Geschichte seiner Ideen in Lehre und Praxis, Bd. I: Vom Ausgang der Antike bis zur Aufklärung, Freiburg i. Br./München 1957, S. 483–609; Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, Baden-Baden 1984, S. 369–399. 51  Vgl. GStA PK, BPH, Rep. 49 A II b, Nr. 9, Bl. 64r: „Das Völkerrecht bestimmt die Rechte und Pflichten freier unabhängiger Völker gegen einander. Da diese in eben dem Verhältnisse gegen einander stehn, wie zwei einzelne Personen im Stande der Natur, die noch keinen gesellschaftlichen Vertrag errichtet; so ist das Völkerrecht […] weiter nichts, als die Anwendung von den Rechten und Pflichten zweier einzelner Personen auf ganze Völker […]. So wie einzelne Menschen im Stande der Natur, so haben Völker gegen einander die Rechte der natürlichen Freiheit, Unabhängigkeit, Gleichheit; das Recht, herrenlose Dinge zu gebrauchen,



Fürstenlehre und Spätaufklärung in Preußen35

weist Engel noch einmal auf die nur relative Gültigkeit geschlossener (in diesem Fall erzwungener) Verträge hin52. Die abschließenden Passagen der Vorlesungen, die in rudimentärer Form eine sehr kurzgefasste Pflichtenlehre entwickeln, enthalten zum einen ausdrücklich die religiösen Pflichten, also die „Pflichten gegen Gott und seine Geschöpfe“ sowie die Pflicht zur öffentlichen Gottesverehrung  – freilich mit dem ausdrück­ lichen Zusatz: „Eine der wichtigsten religiösen Pflichten ist Duldung“53. Und zum anderen expliziert er knapp die Differenz zwischen „Nationalstolz“ und „Patriotismus“: „Uebertriebener Nationalstolz ist eben so lächerlich, als persönliche Eitelkeit und Hoffarth; das Gefühl der wahren Vorzüge des Vaterlandes ist hingegen Nahrung für die große und edle Tugend des Patriotismus, welche der Erhaltung und dem Wohl des Vaterlandes Güter und Kräfte und selbst das Leben aufzuopfern bereit ist“54.

III. Die gedanklichen Voraussetzungen dieser Vorlesungen und ebenfalls die von Johann Jakob Engel hier explizierten Grundgedanken sind im Allgemeinen wenig bemerkenswert; sie weichen kaum von demjenigen ab, was als Gemeingut der deutschen Spätaufklärung im Allgemeinen und des jüngeren deutschen Naturrechts im Besonderen gelten kann; handle es sich nun um die eudämonistische Ethik, um die Gemeinwohl­ orientierung, um die Vertragslehre, um das auf der Annahme eines zwischenstaatlichen Naturzustands aufbauende Völkerrecht oder auch um die der Grundidee einer religiösen Toleranz folgende Pflichtenlehre55. Als im eigentlichen Sinne bemerkenswert erscheinen besonders zwei ­Aspekte: zum einen die relativ frühe Rezeption des Kantischen Republikanismus durch Engel, und zum zweiten der unterschwellig immer auftauchende Gedanke einer Relativität vertraglicher Bindungen – ein Gedanke, der im sich zuzueignen; das Recht sich und ihre Verfassung zu erhalten, ihre Macht, ihr Vermögen durch jedes erdenkliche Mittel zu vergrößern, wenn sie dabei des Eigenthums anderer schonen“. 52  Vgl. ebenda, Bl. 65v: „Der Vertrag, der den Krieg endigt, heißt Friedensschluß. Wird er mit offenbarer Gewalt erzwungen, so ist er, nach strengem Recht, für das unterdrükte Volk nicht verbindlich.“ 53  Die Zitate: ebenda, Bl. 71r, 72v. 54  Ebenda, Bl. 70v. 55  Vgl. hierzu Horst Möller, Fürstenstaat oder Bürgernation. Deutschland 1763–1815, Berlin 1989, S. 284–294; zu Engel auch die Bemerkung S. 292. Zum allgemeinen rechtshistorischen Zusammenhang siehe vor allem Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

Jahr 1791 mit Blick auf die soeben sich vollziehende Revolution in Frankreich fast zwangsläufig bestimmte Assoziationen auslösen musste. Die Idee, die dem jugendlichen Kronprinzen dadurch vermittelt werden sollte, läuft im Kern auf die Lehre hinaus, dass keine Monarchie über eine Ewigkeitsgarantie verfüge, sondern stets an bestimmte  – nämlich letztlich naturrechtliche  – Grundbedingungen gebunden bleibe. Und die zweite Lehre besteht in der Vermittlung der Erkenntnis, dass jeder Mo­ narch aktiv, nämlich durch aufgeklärtes Denken und Handeln, dazu beitragen könne, die Grundlagen seiner Herrschaft zu festigen. Diese Ideen hat Engel ausführlicher, differenzierter und auch in formaler Hinsicht ansprechender in seinem Spätwerk, dem „Fürstenspiegel“ von 179856, noch einmal entwickelt; im allgemeinen ist diese Schrift als eine Art Extrapolation seiner Tätigkeit als Lehrer verschiedener Hohenzollernprinzen, vor allem des Kronprinzen, gedeutet und interpretiert worden57 – doch dies ist, nimmt man das soeben näher beleuchtete Manuskript der Vorlesungen von 1791 in den Blick, in dieser Form kaum zutreffend. Natürlich gibt es einzelne inhaltliche und thematische Überschneidungen, doch der „Fürstenspiegel“ ist bereits von der Anlage her ein grundverschiedenes Werk. Waren die Vorlesungen, die schon im Titel einen „philosophischen“ Anspruch erhoben, nach theoretischen Themenfeldern gegliedert, wurden hier einzelne Fachgebiete wie etwa Staatsrecht, Völkerrecht oder monarchische Pflichtenlehre nacheinander – und manchmal sogar argumentativ aufeinander aufbauend – abgehandelt, so weist der „Fürstenspiegel“ doch eine gänzlich andere innere Struktur auf. Er enthält nicht mehr und nicht weniger als eine Sammlung locker zusammengefügter kleiner Essays (im Umfang etwa zwischen zwei und fünfzehn Druckseiten), die zumeist das Problem der sittlich-moralischen Haltung eines Fürsten in den Blick nehmen58. Ein weiterer Unterschied 56  Enthalten

in: Engel, Schriften (Anm. 9), Bd. 3: „Der Fürstenspiegel“. allem von Stamm-Kuhlmann, König (Anm. 18), S. 44–46; vgl. auch Batscha, Bemerkungen (Anm. 14), S. 235 f.; Hans Jochen Gamm, Johann Jakob Engels „Fürstenspiegel“ nach 200 Jahren neu gelesen. Versuch einer pädagogischen Interpretation, in: Völker (Hrsg.): Johann Jakob Engel (Anm. 5), S. 33–49, hier S. 35; Helge Jordheim, Fürstenkult und bürgerliche Subjektivität. Zur gattungsgeschichtlichen Dynamik von Engels Fürstenspiegel, in: Alexander Košenina (Hrsg.), Johann Jakob Engel (Anm. 5), S. 161–188, hier S. 178. 58  Es sind dies: Engel, Fürstenspiegel (Anm. 56), S. 3–8: Krieger-Ehre; 9–21: Fürsten-Wollust; 22–27: Der Mann von Roß; 28–34: Verschwendung; 35–45: Freundschaft; 46–58: Wahrheit; 59–74: Anstand; 75–81: Empfehlungen; 82–86: Spiel; 87– 96: Aufwand; 97–106: Redlichkeit; 107–109: Jagd; 110–115: Wildbahnen; 116–120: Feinheit; 121–127: Offenheit; 128–140: Denkfreiheit; 141–145: Witz; 146–153: Nationalehre; 154–165: Culturgrad; 166–171: Vergeltung; 172–181: Geschichte; 182– 191: Widerruf; 192–203: Fassung; 204–211: Menschenwürdigung; 212–227: Vertrau57  Vor



Fürstenlehre und Spätaufklärung in Preußen37

zu den Vorlesungen besteht endlich darin, dass im „Fürstenspiegel“ nicht philosophisch-deduktiv, schon gar nicht im strengen Sinne theoretisch, sondern empirisch-historisch, d. h. unter Heranziehung einer Fülle von Beispielen aus Geschichte und Literatur, argumentiert wird59. Im Weiteren fällt dem Leser des „Fürstenspiegels“ auf, dass in ihm die Warnungen vor schlechtem Verhalten eines Fürsten überwiegen, dass im Gegenzug aber die Darlegung der – von jenem vor allem zu kultivierenden  – positiven Eigenschaften eigentümlich blass ausfallen. Engel bedient sich hier, wie schon Horst Möller mit Recht feststellte, der „Methode indirekter Kritik“60 an bestehenden Zuständen. Ein Monarch dürfe, so heißt es dort etwa, niemals wortbrüchig werden61; besonders eingehend wird im weiteren etwa vor den negativen Folgen fürstlicher Jagdleidenschaft gewarnt62, und mit Nachdruck stellt Engel seinen prinz­ lichen Lesern die Gefahren vor Augen, die einem Herrscher durch übertriebene Schmeichelei drohen können63. Vor der Ruhmsucht wird ebenso deutlich gewarnt wie vor „Unsittlichkeit“, die nicht nur an sich bereits verwerflich sei, sondern in besonderem Maße noch deshalb, weil ein solcher Fürst seinem Volk ein schlimmes Beispiel gebe64. Auch stelle die Rachsucht eine Eigenschaft dar, die eines Fürsten absolut unwürdig sei65. Die eigentlichen Tugenden, die Engel empfiehlt, erschließen sich im Grunde aus der Umkehr der genannten möglichen Verfehlungen: so gehört etwa der „Eifer für das gemeine Beste“66 zu den vorzüglichsten Fürstentugenden; zudem dürfe es einem Monarchen, wie Engel ausdrücklich bemerkt, niemals „an feiner Empfindung, an Urtheilskraft und Geschmack“67 fehlen. Im Weiteren sei es „unendlich wichtig“, dass er über „die Gabe der Fassung, des ruhigen Gleichmuths“68, über die Tu-

en; 228–242: Jugendfleiß; 243–250: Zeitvertreibe; 251–254: Müßiggang; 255–272: Schmeichelei; 273–278: Nachruhm; 279–295: Sittenwerth; 296–298: Vorsicht; 299– 308: Bescheidenheit; 309–321: Rache; 322–335: Sicherheit. 59  Vgl. hierzu auch die Bemerkungen bei Böhr, Philosophie (Anm. 2), S. 79 f. 60  Horst Möller, Wie aufgeklärt war Preußen? [1980], in: derselbe: Aufklärung und Demokratie. Historische Studien zur politischen Vernunft, hrsg. v. Andreas Wirsching, München 2003, S. 87–111, hier S. 104. 61  Vgl. Engel, Fürstenspiegel (Anm. 56), S. 104–106. 62  Vgl. ebenda, S. 107–109. 63  Vgl. ebenda, S. 255–272. 64  Vgl. ebenda, S. 285. 65  Vgl. ebenda, S. 309–321. 66  Ebenda, S. 20. 67  Ebenda, S. 153. 68  Ebenda, S. 195.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

gend der Bescheidenheit69 und nicht zuletzt über die Bereitschaft ver­ füge, aus der Geschichte zu lernen70. Lediglich allzu viel Sanftmut und Gutmütigkeit könnten unter bestimmten Bedingungen verhängnisvolle Folgen haben71. Auf den letzten Seiten seines Buches formuliert Engel, wenn auch lediglich in Andeutungen, gewissermaßen die Anwendung seiner vorher entwickelten Gedanken auf die Gegenwart des ausgehenden 18. Jahrhunderts: Nichts sei verhängnisvoller als die Absicht eines Fürsten, angesichts drohender revolutionärer Gefahren „der Aufklärung selbst entgegenzuarbeiten, und dadurch, daß man Dummheit und Aberglauben an ihre Stelle setzte, dem Sklavensinne den Weg zu bahnen,“ denn „Herrscher, die zu unsern Zeiten sich für höhere, von Gott geheiligte Wesen gäben, und in dieser Eigenschaft blinde Verehrung, blinden Gehorsam verlangten, würden ihren Zweck so ganz verfehlen, daß sie nur verhaßter und verächtlicher würden.“ Und vermehrter Druck, allgemeine Zwangsmaßnahmen könnten die Betroffenen erst recht „zu einer Wuth verleiten, die das sonst gutmüthige Volk über alle Schranken hinausrisse, und den unweisen Führer von seinem Sitz herab unter die Räder seines eigenen Wagens würfe“72. Das eigentliche Rezept, das tatsächlich den Weg aus der Krise weist, kann demgegenüber nur heißen: verstärkte Aufklärung mit dem Ziel einer weisen, milden, die Rechte des Volkes achtenden und seine unmittelbarsten Lebensinteressen schützenden und fördernden Regierungsweise. Mit eindringlichen Formulierungen macht Engel in einer der sicherlich bemerkenswertesten Passagen seines „Fürstenspiegels“ klar, dass eine wirkliche Revolution für jedes Volk ein überaus großes ­Risiko darstelle, das allenfalls als ultima ratio in Frage komme, also nur dann, wenn kein anderer Ausweg aus einer verheerenden Lage mehr ­übrig bliebe, ein Risiko, das man aber um so lieber vermeiden werde, desto eher sich ein reeller Weg zu gewaltloser Reform und friedlicher ­Verbesserung der Verhältnisse auftue73. 69  Vgl.

ebenda, S. 301–307. die für Engel typische – und im Zeitalter der Französischen Revolution durchaus mehrdeutige – Feststellung, ebenda, S. 195: „Die Geschichte ist für Könige eine treffliche Lehrerinn [sic], die aber so unglücklich ist, etwas unachtsame Schüler zu haben.“ 71  Vgl. ebenda, S. 243: „Es ist wohl traurig, daß oft die sanftesten, gutmüthigsten Fürsten so viel Undank von ihren Völkern erfahren. Man sollte sich Glück wünschen, daß man sie hat, und man wird nicht müde, ihrer zu spotten und sie in den Augen der Welt herabzusetzen.“ 72  Die Zitate: ebenda, S. 325, 324. 73  Vgl. ebenda, S. 328–330: „Angenommen nun, die ersehnte Besserung des Zustandes biete sich freiwillig dar; der kluge gute Führer, dem man zu folgen wünscht, sei in der eignen Person des Fürsten vorhanden; die mildere Gesetzge70  Vgl.



Fürstenlehre und Spätaufklärung in Preußen39

An dieser Stelle zeigt sich nun der Grundgedanke, der den Vorlesungen von 1791 und dem 1798 erstmals veröffentlichten „Fürstenspiegel“ zugrunde liegt, und damit auch ihr gemeinsames Anliegen: nämlich die Idee, dass nur eine konsequent umgesetzte, reformbereite politische Aufklärung die einzige wirksame Revolutionsprophylaxe darzustellen vermag74. Lediglich dann, wenn der von oben auf ein Volk ausgeübte Druck so groß wird, dass das Risiko einer vollständigen Zerstörung aller bisher dagewesenen politischen und sozialen Ordnungen bewusst in Kauf genommen wird, kann es zum Ausbruch einer Revolution kommen. Allein eine weise, aufgeklärte Regierung kann einer solchen Entwicklung vorbeugen. Insofern vermag Engel am Ende seines „Fürstenspiegels“ der Revolution in Frankreich die Vision einer friedlichen, aufgeklärten Reform in Preußen entgegenzusetzen: „Junge Prinzen, die ihr zu Regenten bestimmt seid! Ihr habt nach Westen gesehen, und ihr habt zittern gelernt. Sehet nach Nordosten, und lernet aufhören zu zittern!“75 Gegen Ende seiner Kronprinzenzeit, um 1796/97, hat Friedrich Wilhelm III. einige „Gedanken über die Regierungskunst“ formuliert76, in denen sich einzelne Ideen seiner Lehrer wiederfinden lassen – freilich ist bung, die Erleichterung der Lasten, nach der man strebt, sei von seiner eigenen Weisheit, Volksliebe, Sparsamkeit, Staatswirthschaft zu hoffen: ist es denkbar, daß ein Volk nicht lieber in Ruhe diese Wohlthaten sollte entgegennehmen, als durch blutigen, gefahrvollen Kampf sie erringen wollen? daß es den eben hervorbrechenden schönen Frühling mit allen seinen Lieblichkeiten verachten, und schlechterdings auf die Schöpfung eines neuen Himmels, einer neuen Erde bestehen sollte? Ohne vorhergehendes wüstes, finstres Chaos giebt es solcher Schöpfungen nicht: alle Elemente des aufgelösten Staats würden erst in fürchterlicher Unordnung durch einander gewirbelt werden, und dann würde in Angst zu erwarten stehen, was für ein neuer Staatskörper aus der gährenden, brausenden Masse nach langem Kampf sich entwickeln mögte. Möglich immer, daß es ein besserer, aber auch eben so möglich, daß es ein schlechterer wäre, als der zerstörte. Und auf diese Gefahr hin sollte ein Volk es wagen, und den ganzen langen, oft so unseligen Zeitraum zwischen Umsturz der alten und Feststellung der neuen Verfassung durchleben wollen? sollte mitten in der schönsten Hoffnung, die ein weiser guter Fürst ihm giebt, Entschließungen fassen, wie sie nur die äußerste Noth, nur die wildeste Verzweiflung entschuldigt?  – Mag eine so traurige Hirnepidemie unter Völkern auch möglich seyn; unter dem unsrigen, das einen so gemäßigten Himmel und einen so ruhigen Puls hat, ist sie gewiß wenig wahrscheinlich“. 74  Diesen Aspekt betont, auf das Schlusskapitel des „Fürstenspiegels“ bezogen, auch Batscha, Bemerkungen (Anm. 14), S. 241. 75  Engel, Fürstenspiegel (Anm. 56), S. 335. 76  [Friedrich Wilhelm III.]: Gedanken über die Regierungskunst zu Papier gebracht im Jahre 96–97 [publiziert zuerst von Max Lehmann in Bd. 61, 1889, der Historischen Zeitschrift, S. 441–460], hier zitiert nach: Georg Küntzel/Martin Hass (Hrsg.), Die politischen Testamente der Hohenzollern nebst ergänzenden Aktenstücken, Bd. 2, Leipzig/Berlin 1920, S. 112–132.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

hier neben Engel vor allem an Carl Gottlieb Svarez zu denken, der den jungen Kronprinzen 1791/92 in alle Gebiete der Rechtswissenschaft sowie der Staatsverwaltung eingeführt hat77; diese mit Recht berühmten und in der Substanz auch wesentlich bedeutenderen „Vorträge über Recht und Staat“ sind seit einigen Jahrzehnten vollständig publiziert78. Immerhin entdeckt man bei aufmerksamer Lektüre jener „Gedanken“ tatsächlich die eine oder die andere Idee, die Johann Jakob Engel seinem Schüler einst vorgetragen hat. Man unterscheide, heißt es darin etwa, „sehr wohl das wahre vom falschen Interesse und lasse sich nicht durch einen vermeinten zu erlangenden Ruhm verblenden; denn der wahre besteht darin, daß man seine Unterthanen glücklich mache und sie nicht eines eingebildeten chimairischen Ruhmes halber seinem Privat-Interesse aufopfere; letzteres ist himmelschreiend und unverantwortlich“79. Und wenig später heißt es (um nur noch ein weiteres Beispiel zu zitieren), ein Landesherr, der „durch Unthätigkeit, Lasterhaftigkeit und Schwächen sich verächtlich macht […] verdient nicht zu regieren.“ Im übrigen gebe „die französische Revolution […] davon ein mächtiges fürchterliches Beispiel für alle schlechten Regenten, die nicht, wie gute Fürsten, zum Wohl ihres Landes da sind, sondern selbiges wie Blutigel aussaugen und der Unterthanen Geld blos zu ihren sinnlichen Vergnügungen verprassen und verschwelgen, da sie es vielmehr zum wahren Besten des Staats verwenden sollten“80. Nach Ausweis dieser Formulierungen war jedenfalls der junge Friedrich Wilhelm III. ein gelehriger Schüler seines einstigen Philosophielehrers Johann Jakob Engel, während der alte König, vor allem in den Jahren seiner späteren Regierungszeit zwischen 1815 und 1840, so manche der ihm in seiner Jugend vermittelten Maximen nicht mehr beachtet hat. Immerhin sollte auch unter diesem Aspekt der Beitrag von Engel zur politischen Spätaufklärung in Preußen nicht gering bewertet werden. Auch 77  Vgl.

Stamm-Kuhlmann, König (Anm. 18), S. 51–59. Gottlieb Svarez, Vorträge über Recht und Staat, hrsg. v. Hermann Conrad/Gerd Kleinheyer, Köln/Opladen 1960; vgl. zu Svarez auch Gerd Kleinheyer, Staat und Bürger im Recht. Die Vorträge des Carl Gottlieb Svarez vor dem preußischen Kronprinzen (1791–92), Bonn 1959, sowie Günter Birtsch, Carl Gottlieb Svarez – Mitbegründer des preußischen Gesetzesstaates, in: Geschichte und politisches Handeln. Studien zu europäischen Denkern der Neuzeit – Theodor Schieder zum Gedächtnis, hrsg. v. Peter Alter/Wolfgang J. Mommsen /Thomas Nipperdey, Stuttgart 1985, S. 85–101. 79  [Friedrich Wilhelm  III.], Gedanken (Anm. 76), S. 112 f.; die Herausgeber Küntzel und Hass verweisen in erläuternden Fußnoten lediglich auf die (damals erst in knappen Auszügen publizierten) Vorträge von Svarez; Engel wird nicht berücksichtigt. 80  Die Zitate: ebenda, S. 114 f. 78  Carl



Fürstenlehre und Spätaufklärung in Preußen41

wenn er eine Revolution ablehnte, dafür aber Reformen befürwortete, wird man ihn sicher nicht unbesehen als Konservativen bewerten dürfen81. Eher schon könnte man ihn als „aufgeklärten Absolutisten“ (mit Betonung des Adjektivs) bezeichnen, der den Blick auf die Zukunft gerichtet und der die Doppeldeutigkeit einer – sich selbst als fortlaufenden Prozess verstehenden – Aufklärung durchaus nicht vergessen hatte, denn „eine ihrem so verstandenen Wesen gemäße ‚wahre‘ Aufklärung kann […] die wahrscheinlich unüberwindbare Differenz zwischen Aufgeklärten und Unaufgeklärten nicht einfach stehen lassen, sondern muß sie soweit wie möglich faktisch durch Aufklärung für alle aufzuheben versuchen. M. a. W., die Aufklärung selbst zwingt dazu, den aufgeklärten Absolutismus als nur hypothetisch gültig oder als bloßes Provisorium zu betrachten“82. Es scheint, als ob dies ebenfalls die geheime Perspektive eines Johann Jakob Engel gewesen ist. Insofern mag ein Hinweis auf diesen spezifischen Aspekt seiner Fürstenlehre im Berlin des ausgehenden 18. Jahrhunderts auch eine weitere Antwort auf die von Horst Möller einmal gestellte und beantwortete Frage sein: „Wie aufgeklärt war Preußen?“83

81  Das

tut Batscha, Bemerkungen (Anm. 14), S. 239. Schneiders: Die Philosophie des aufgeklärten Absolutismus. Zum Verhältnis von Philosophie und Politik, nicht nur im 18. Jahrhundert, in: derselbe: Philosophie der Aufklärung (Anm. 2), S. 399–422, hier S. 420. 83  Vgl. Möller, Wie aufgeklärt war Preußen? (Anm. 60). 82  Werner

Kontinuität und Reform– Zur Geschichte des politischen Denkens in Deutschland zwischen Spätaufklärung und Romantik I. „Sie, und nicht wir“ – mit diesen Worten überschreibt Friedrich Gottlieb Klopstock eines seiner 1790 im Umfeld deutscher Revolutionsbegeisterung entstandenen politischen Gedichte. „Sie“, die Franzosen, „und nicht wir“, die Deutschen also, haben das neue große Werk politischer Umwälzung begonnen: „Ach du warest es nicht, mein Vaterland, das der Freiheit Gipfel erstieg, Beispiel strahlte den Völkern umher: Frankreich wars! du labtest dich nicht an der frohsten der Ehren, Brachest den heiligen Zweig dieser Unsterblichkeit nicht! O ich weiß es, du fühlest, was dir nicht wurde; die Palme Aber die du nicht trägst, grünet so schön, wie sie ist, Deinem kennenden Blick. Denn ihr gleicht, ihr gleichet die Palme, Welche du dir brachst, als du die Religion Reinigtest, sie, die entweiht Despoten hatten, von neuem Weihtest […]“,

womit der Dichter an dieser Stelle die Reformation als erste, von Deutschland ausgegangene Befreiungstat der neueren Geschichte Europas anspricht; er fährt fort: „Könnt’ ein Trost mich trösten; er wäre, daß du vorangingst Auf der erhabenen Bahn! aber er tröstet mich nicht. Denn du warest es nicht, das auch von dem Staube des Bürgers Freiheit erhob, Beispiel strahlte den Völkern umher; Denen nicht nur die Europa gebar. An Amerikas Strömen Flammt schon eigenes Licht, leuchtet den Völkern umher“1.

Diese leidenschaftlichen Verse eines Bahnbrechers der deutschen Dichtkunst im achtzehnten Jahrhundert illustrieren sehr anschaulich die Gefühle der deutschen revolutionsbegeisterten Intelligenz am Beginn der Umwälzung in Frankreich. Verehrung für die Tat der Franzosen (und auch die vorangegangene der Nordamerikaner) korrespondiert hier mit 1  Friedrich Gottlieb Klopstock, Ausgewählte Werke, hrsg. v. Karl August Schleiden, Darmstadt 1962, S. 142 f.



Kontinuität und Reform43

tiefer Enttäuschung, ja Trauer über die Unfähigkeit der Deutschen, eine ähnlich umstürzende politische Erneuerung in ihrem eigenen Land ins Werk zu setzen. Liest man diese Verse aus der Distanz von inzwischen mehr als zwei Jahrhunderten und in Kenntnis der weiteren Ereignisse, dann tut man dies im Bewusstsein dessen, dass des Dichters Empfindungen zwar um 1790 innerhalb der deutschen literarischen Intelligenz weit verbreitet waren  – erwähnt seien nur Herder, Kant, Wieland und Schiller  –, dass aber andererseits eben jene Begeisterung für die Französische Revolution schon wenige Jahre später zum großen Teil verflogen war. Die Ereignisse der Jahre 1793/94, schließlich der Verlauf der Deutschland unmittelbar betreffenden Revolutionskriege führten zu einer Desillusionierung, die bald in eine allgemeine skeptische bis ablehnende Haltung der Revolution gegenüber münden sollte2. Nur Immanuel Kant gehörte zu den wenigen, die an einer grundsätzlichen Bejahung des säkularen Ereignisses von 1789 – trotz aller Kritik im Detail und trotz Ablehnung der Revolution als politisches Prinzip – festhielten3. Dennoch erscheint es als äußerst problematisch, die Stellung zur Revolution im Allgemeinen und zur Französischen Revolution im Besonderen als zentralen Indikator für das Verständnis des deutschen politischen Denkens und seiner verschiedenen Strömungen und Richtungen in den Jahrzehnten vor und nach 1800 zu nehmen. Die scheinbar konsequente Dichotomie: „Revolution“ auf der einen Seite, „konservatives Beharren“ auf der anderen4, trifft den Kern der Sache eben nicht, sondern verdeckt 2  Allgemein hierzu siehe neben den älteren, gut zusammenfassenden Darstellungen von George Peabody Gooch, Germany and the French Revolution, London 1920; Alfred Stern, Der Einfluß der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben, Stuttgart/Berlin 1928; Jacques Droz, L’Allemagne et la Révolution française, Paris 1949, auch Wolfgang von Hippel (Hrsg.): Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Die Französische Revolution im deutschen Urteil, München 1989; Arno Herzig/Inge Stephan/Hans G. Winter (Hrsg.): „Sie, und nicht Wir“. Die Französische Revolution und ihre Wirkung auf Norddeutschland, Bde. 1–2, Hamburg 1989; Roger Dufraisse/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Revolution und Gegenrevolution 1789–1830. Zur geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland (Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien, 19), München 1991. 3  Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, Akademie-Ausgabe, Bd.  VII, Berlin 1907, S. 79–94 (Der Streit der Facultäten, 1798); siehe dazu auch Peter Burg, Kant und die Französische Revolution (Historische Forschungen, 7), Berlin 1974, bes. S. 110 ff. u. passim; Claudia Langer, Reform nach Prinzipien. Untersuchungen zur politischen Theorie Immanuel Kants, (Sprache und Geschichte, 11), Stuttgart 1986, S. 85 ff. u. passim. 4  Karl Otmar von Aretin/Karl Härter (Hrsg.), Revolution und konservatives Beharren. Das Alte Reich und die Französische Revolution (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Beiheft 32), Mainz 1990; darin

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

im Grunde genau dasjenige, was sie eigentlich zu erklären beansprucht. Zwar gab es – modern gesprochen – durchaus bereits die Vertreter beider politischer Extreme in Deutschland, von denen die einen sich als glühende Revolutionsanhänger, als „deutsche Jakobiner“ präsentierten5, und von denen die anderen sich als Anwälte eines starren Festhaltens am Status quo oder gar als Propheten einer Rückwendung zu längst vergangenen Zuständen verstanden6 – doch beide sollten sich schließlich als kleine Minoritäten herausstellen, die sich allenfalls an den äußeren Rändern des deutschen politischen Diskurses bewegten. Reform, statt starres Festhalten am Bestehenden, und Bewahrung von Kontinuität, statt Revolution und Umsturz, waren, sieht man genauer hin, die eigentlichen zentralen Motive, um die sich das politische Denken in Deutschland zwischen Aufklärung und Romantik bewegt hat. Das gilt nicht nur für einige wenige, in besonderer Weise herausragende Denker und politische Schriftsteller, sondern durchaus für ein breites politisches Spektrum, das sich von den Vertretern eines gemäßigten Frühkonservatismus bis hin zu den wichtigsten frühliberalen Autoren erstreckt7. Eine in allzu starkem Maße revolutionsfixierte Geschichtsschreibung neigte und neigt noch gegenwärtig dazu, lediglich die scheinbare Alternative: Revolution oder Gegenrevolution in den Blick zu bekommen und dafür den weiten Zwischenbereich aus dem Gesichtsfeld zu verlieren. Eine solche eingeschränkte Perspektive vergisst die Bedeutung historischer Kontinuität auch für das politische Denken, und sie vermag erst recht nicht wahrzunehmen, dass der Streit um Ausmaß und Inhalt politisch-sozialer Reformen sowie um den Grad der Bewahrung geschichtlicher Kontinuität und des Festhaltens an bestehenden Institutionen und Lebensformen in sehr viel höherem Maße die politische Diskussion in Deutschland  – und zwar vor und nach 1789 – bestimmt hat als der Streit um Revolution oder Beharrung.

siehe besonders den einleitenden Aufsatz von Karl Otmar von Aretin: Deutschland und die Französische Revolution, S. 9–20. 5  Zusammenfassend hierzu: Helmut Reinalter, Die Französische Revolution und Mitteleuropa. Erscheinungsformen und Wirkungen des Jakobinismus. Seine Gesellschaftstheorien und politischen Vorstellungen, Frankfurt am Main 1988. 6  Vgl. die einschlägigen Studien in: Christoph Weiß/Wolfgang Albrecht (Hrsg.), Von ‚Obscuranten‘ und ‚Eudämonisten‘. Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, St. Ingbert 1997. 7  Weiterhin grundlegend: Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815, Kronberg/Ts. 21978.



Kontinuität und Reform45

II. Fragt man nach der Bedeutung von „Kontinuität“ in der Geschichte, dann wird man zuerst im lebensweltlichen Bereich fündig. Denn das Bemühen um Kontinuität kann man wohl, jedenfalls für die Zeit der Vormoderne, als anthropologische Konstante auffassen. Kontinuität bedeutet hier Abwehr des Kontingenten8, das in die Geschichte und damit eben auch in die Lebenswelt  – im Extremfall sogar in katastrophischer Form  – jederzeit einbrechen kann. „Die Bedrohung durch die verschiedengestaltigen Katastrophen“, hat Alfred Heuß in einer Studie über „Kontingenz in der Geschichte“ einmal angemerkt, „gibt jeweils die Grenze an, bis zu der das Subjekt noch seine eigene Geschichte in der Hand zu halten glaubt […] Das Kontingente verkörpert dann das Neue, wenn es als Fremdes ins Dasein hereinbricht und es zerstört“9. Diese – alle Formen historischer Kontinuität bedrohende und oft auch zerstörende  – Kontingenz kann die verschiedensten Formen annehmen: politische Krisen, Umstürze, Kriege mit den üblichen Folgen, also Hungersnöten, Seuchen, Anomie und sozialem Zerfall. In diesem Sinne bedeutet Kontinuitätswahrung kein starres, geschichts- und veränderungsblindes Festhalten, an dem was ist, sondern lediglich den Versuch, den Einbruch von Kontingenz abzuwehren oder, in kritischer Lage, wenigstens so lange wie möglich hinauszuzögern. Das historische Gedächtnis – nicht nur das individuelle, sondern vor allem auch das kollektive  – ist in  diesen Fällen von besonders langer Dauer. Während des gesamten 18. Jahrhunderts etwa bleibt die Erfahrung des Dreißigjährigen Krieges als säkulare Katastrophe im kollektiven Gedächtnis der Deutschen stets präsent und hat nicht zuletzt im politischen Denken seine  – wenn auch nicht immer an der Oberfläche sichtbaren – Spuren hinterlassen10. Daneben gibt es jedoch auch andere Aspekte, die Kontinuität als Grundmotiv des politischen Denkens wichtig gemacht haben: das lange Fortwirken einer bestimmten Rechtstradition, nämlich der des R ­ ömischen 8  Vgl. dazu die wichtige, leider wenig bekannte Skizze von Alfred Heuß, Kontingenz in der Geschichte (zuerst 1985), in: derselbe, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Jochen Bleicken, Bd. III, Stuttgart 1995, S. 2128–2157. 9  Ebenda, Bd. III, S. 2155. 10  Dazu siehe den Hinweis bei Ernst Hinrichs, Fürsten und Mächte. Zum Pro­ blem des europäischen Absolutismus, Göttingen 2000, S. 144; ebenfalls Marc ­Raeff, The Well-Ordered Police State. Social and Institutional Change through Law in the Germanies and Russia, 1600–1800, New Haven/London 1983, S. 70 f. u. a.; Hilmar Sack, Der Krieg in den Köpfen. Die Erinnerung an den Dreißigjährigen Krieg in der deutschen Krisenerfahrung zwischen Julirevolution und deutschem Krieg (Historische Forschungen, 87), Berlin 2008, S. 22 ff.

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Rechts, in großen Teilen Europas11, die damit in engem Zusammenhang stehende berühmte Lehre von der monarchischen Kontinuität in der (bekanntlich von Ernst Kantorowicz in eindrucksvoller Weise rekonstruierten und analysierten) Idee der „zwei Körper des Königs“12, und schließlich auch in jener berühmten Rechtsfiktion von der „translatio imperii“, der Übertragung der Herrschaft über das Römische Reich auf die Deutschen, und die Bezeichnung des alten „regnum teutonicum“ als nunmehr „Heiliges Römisches Reich“13. Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an das Selbstverständnis der Träger der deutschen Reformation, die sich keineswegs als religiöse Revolutionäre empfanden, sondern, im Gegenteil, das Ziel ihres Handelns in der Wiederherstellung der – durch das Wirken korrumpierter kirchlicher Institutionen – verlorenen Kontinuität des wahren christlichen Glaubens sahen14. Denkfiguren dieser Art – seien es nun politisch-historische, juristische oder theologische  – sind ohne einen bestimmten Begriff, ohne ein (wie auch immer im einzelnen definiertes) Verständnis von „Kontinuität“ nicht denkbar. Sie dienen der Aufgabe, vermeintliche Brüche oder Risse in der Geschichte zu überdecken, Gräben und vielleicht Abgründe zu überbrücken und auf diese Weise zusammenzubringen, also in gewisser Weise auch dasjenige erneut zu vereinigen, was zusammengehört. Und sie dienen im Weiteren natürlich ebenfalls der Aufgabe, die zu allen Zeiten drohenden Einbrüche der Kontingenz abzuwehren. Die aus heutiger Sicht fast archaisch anmutende Fiktion von den zwei Körpern des Königs besaß  – um nur ein einziges Beispiel hier auszuführen  – eine sehr reale, zu bestimmten Zeiten unverzichtbare politische Funktion: Denn sie stellte das wohl wichtigste Instrument zur Durchführung einer reibungslosen Erbfolge beim Tode eines Monarchen dar; jede Anfechtung einer 11  Vgl. Paul Koschaker, Europa und das Römische Recht, München/Berlin 1966; Franz Wieacker, Europa und das Römische Recht – Verborgenheit und Fortdauer, in: derselbe, Vom Römischen Recht. Zehn Versuche, Stuttgart 21961, S. 288– 304, 327–330. 12  Ernst Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters [zuerst 1957], München 1990. 13  Vgl. Notker Hammerstein, „Imperium Romanum cum omnibus suis qualitatibus ad Germanos est translatum“. Das vierte Weltreich in der Lehre der Reichsjuristen, in: derselbe, Geschichte als Arsenal. Ausgewählte Aufsätze zu Reich, Hof und Universitäten der Frühen Neuzeit, hrsg. v. Michael Maaser/Gerrit Walther (Schriften des Frankfurter Universitätsarchivs, 3), Göttingen 2010, S. 58–74. 14  Grundlegend zu dieser Frage immer noch: Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (Historische Zeitschrift, Beiheft 2), München/Berlin 51928, S. 24 ff. u. passim; ebenfalls: Horst Rabe, Deutsche Geschichte 1500–1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung, München 1991, S. 209 ff. 4



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Thronfolge konnte im schlimmsten Fall einen Bürgerkrieg, vielleicht mit der Folge einer schweren internationalen Krise, nach sich ziehen, dafür gibt es genügend historische Beispiele. III. Während des gesamten 18. Jahrhunderts waren in besonders ausgeprägter Weise die Reichsjuristen15, und zwar nicht nur in ihren führenden Vertretern Johann Jacob Moser und Johann Stephan Pütter16, die Träger des politisch-historischen Kontinuitätsgedankens in Deutschland. Ihr zentrales Anliegen war die Bewahrung und die sorgfältige, an – wie es schien – bewährte geschichtliche Traditionen anknüpfende Weiterentwicklung der Idee und der Wirklichkeit des Alten Reiches. Auch die intensive und leidenschaftlich geführte, erst vor einiger Zeit wissenschaftlich umfassend aufgearbeitete und damit in ihrer Bedeutung erneut sichtbar gemachte Reichsreformdiskussion zwischen 1648 und 180617 bewegte sich, bei aller Kritik im Detail, im Wesentlichen auf dieser Linie und sah einen realen Bruch mit den Kernelementen der alten deutschen Reichstradition überwiegend nicht vor. Darüber hinaus war Kontinuität auch ein allgemeines Thema politischer Reflexion, das immer wieder  – keineswegs nur in Deutschland  – von den wichtigsten politischen Denkern umkreist wurde. In seinen berühmten Betrachtungen über Größe und Niedergang Roms, die Montesquieu 1734 veröffentlichte, machte sich der französische Jurist und Staatphilosoph ausdrücklich zum Anwalt verfassungspolitischer Kontinuität, indem er erklärte: „Hat eine Verfassung eine seit langem bestehende Form, und haben die Dinge sich in einem bestimmten Zustand eingespielt, so ist es fast immer klug, sie zu belassen, weil die oftmals verwickelten und verdeckten Ursachen, die einen Staat erhalten haben, auch

15  Eingehend hierzu: Notker Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972; Michael Stolleis, Geschichte des öffent­ lichen Rechts in Deutschland, Bd. I: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988, S. 126–267, 298–333. 16  Vgl. Reinhard Rürup, Johann Jacob Moser. Pietismus und Reform (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, 35), Wiesbaden 1965; Wilhelm Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn (Göttinger rechtswissenschaftliche Studien, 95), Göttingen 1975. 17  Ausführlich und grundlegend hierzu: Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitu­tion und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806 (Veröffentlichungen des In­ stituts für Europäische Geschichte Mainz, 173), Mainz 1998.

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bewirken, daß er noch in Zukunft fortdauern wird“18. Besonders eine Republik dürfe, so Montesquieu an anderer Stelle seines Buches, „nichts wagen, was sie dem guten oder bösen Zufall aussetzt. Das einzige Gut, das sie erstreben muß, ist die Fortdauer ihres Bestandes“19. In Deutschland hat Leibniz bereits um 1700 in einer Nebenbemerkung seiner (allerdings erst 1765 veröffentlichten) „Nouveaux essais sur l’entendement humain“ ein politisches Handeln kritisiert, das sich ausschließlich auf Ehre und Ruhm richte und bereit sei, eben hierfür „Ströme von Blut“ zu vergießen – während andererseits diejenigen verspottet würden, denen es zuerst um das gemeine Wohl und um die Sorge für die Nachkommenschaft  – damit also um Kontinuität des Gemeinwesens  – gehe20. Und Christian August Beck schließlich, der Rechtslehrer des späteren Kaisers Joseph II., räumte in seinen staatsrechtlichen Vorträgen für den Sohn der Maria Theresia zwar ein, dass „ein Reich oder Staat […] aus wichtigen Ursachen seine bisherige Regierungsform verändern“ könne  – doch er warnte anschließend besonders nachdrücklich vor den ­Folgen einer solchen Handlungsweise mit der Bemerkung, es sei „besser, ­einige Beschwerlichkeiten zu ertragen, als sich einer gefährlichen Veränderung bloßzustellen“21. Richtet man den Blick auf das Preußen Friedrichs des Großen und auf einige politische Autoren im Umfeld dieses Königs, dann findet man Ähnliches, in diesem Fall nur bezogen auf die spezifischen Eigenschaften des jungen, territorial zersplitterten und deshalb in seiner dauerhaften Existenz noch durchaus gefährdeten preußischen Staates. Ewald Friedrich von Hertzberg hat als Friedrichs Staatsminister und als prominentes Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften in seinen bedeutenden staatsphilosophischen Akademievorträgen immer wieder die Beständigkeit als ein Hauptcharakteristikum des friderizianischen Staats­ 18  [Charles Louis de Secondat et de] Montesquieu, Größe und Niedergang Roms, übers. u. hrsg. v. Lothar Schuckert, Frankfurt a. M. 1980, S. 115 f.; frz. in: derselbe, Œuvres complètes, hrsg. v. Roger Caillois, Bde. I–II, Paris 1949–51, hier Bd. II, S. 168. 19  Montesquieu, Größe und Niedergang Roms (Anm. 18), S. 57; frz. in: Oeuvres complètes (Anm. 18), II, S. 117. 20  Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux essais sur l’entendement humain, IV, 16, § 4; dt.: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, hrsg. v. Ernst Cassirer, Leipzig 31926, S.  557 f. 21  Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias. Die Vorträge zum Unterricht des Erzherzogs Joseph im Natur- und Völkerrecht sowie im Deutschen Staats- und Lehnrecht [v. Christian August von Beck], hrsg. v. Hermann Conrad (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, 28), Köln/Opladen 1964, S. 218 (Natur- und Völkerrecht II, Kap. 5, § 27).



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wesens betont22 und er tat dies in einer Weise, die erkennen lässt, dass er eben dasjenige herbeizureden, ja zu beschwören versuchte, was in der Realität – noch – nicht bestand23. Auch der von Friedrich dem Großen geschätzte und geförderte Jakob Friedrich von Bielfeld betont in seinem 1761 zuerst erschienenen „Lehrbegriff der Staatskunst“, dass die „größeste Vollkommenheit“ einer Regierung „in der Dauer“ bestehe: „Ihre Einrichtung muß so beschaffen sein, daß sie nicht leicht ihre Gestalt ändern kann“24. Albrecht von Haller wiederum, um noch einen ganz anderen, außerhalb des im engeren Sinne staatsrechtlichen Diskurses seiner Zeit stehenden Autor zu nennen, hat in seinen in den 1770er Jahren erschienenen Staatsromanen „Alfred König der Angel-Sachsen“ und „Fabius und Cato“ die Bedeutung der Sicherung von Kontinuität für die Beständigkeit eines Staatswesens und für dessen Vorsorge gegen die Gefahren politischer Umstürze ebenfalls stark betont25. 22  [Ewald Friedrich von] Hertzberg, Œuvres Politiques, Bde. I–III, Berlin 1795, hier Bd. I, S. 106: „Si Frédéric II a rondu la monarchie Prussienne puissante, heureuse & célèbre par son gouvernement personnellement ferme, juste & solide, & par la forme de gouvernement qu’il y a établie, il nous en a encore assuré la durée la plus permanente pour tous les tems & pour tous les cas que la foiblesse humaine peut prévoir […]“. 23  Vgl. zu Hertzbergs politischem Denken vor allem: Harm Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten. Das außenpolitische Machtproblem in der „politischen Wissenschaft“ und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert (Historische Forschungen, 29), Berlin 1986, S. 236–272. 24  Jakob Friedrich von Bielfeld, Lehrbegriff der Staatskunst, Bd. I, Breßlau/ Leipzig 1761, S. 47; weiter heißt es: „Im Gegentheile ist es einer der größten Fehler einer Regierung, wenn sie den Staat einer Veränderung bloß stellet. Denn sie kann z. E. aus einer Monarchie nicht zur Aristokratie werden, wofern nicht der Pöbel die eingeführte Ordnung umstürzet, und sich sogar seine Oberkeiten vom Halse schaffet. Wie nun dergleichen Umkehrungen nicht geschehen können; ohne den Staat den größten Gefahren bloß zu stellen; und ohne viele Bürger unglücklich zu machen: so ist es einer guten Regierung wesentlich, daß sie dauerhaft seyn muß“. Siehe auch Friedrich Meinecke, Bielfeld als Lehrer der Staatskunst, in: derselbe, Werke, Bd. IX: Brandenburg – Preußen – Deutschland. Kleine Schriften zur Geschichte und Politik, hrsg. v. Eberhard Kessel, Stuttgart 1979, S. 201–208. 25  Albrecht von Haller, Alfred König der Angel-Sachsen, Göttingen/Bern 1773, S. 205; Albrecht von Haller, Fabius und Cato, ein Stück der Römischen Geschichte, Bern/Göttingen 1774, S. 207 u. a.; dazu auch die Bemerkungen bei Max Widmann, Albrecht von Hallers Staatsromane und Hallers Bedeutung als politischer Schriftsteller. Eine litterargeschichtliche Studie, Biel 1894, bes. S. 192 ff. u. passim; sowie Dietrich Naumann, Zwischen Reform und Bewahrung. Zum historischen Standort der Staatsromane Albrecht von Hallers, in: Reise und Utopie – Zur Literatur der Spätaufklärung, hrsg. v. Hans Joachim Piechotta, Frankfurt  a. M. 1976, S. 222–282. Ebenfalls Hans-Christof Kraus, Die politische Ideenwelt Albrecht von Hallers (Vortrag, noch unveröffentlicht).

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Bereits diese wenigen Beispiele erhellen und illustrieren die Bedeutung, die das Problem der Festigung historischer und institutioneller Kontinuität für das politische Denken dieser Zeit besessen hat. Dabei war die „Revolution“ als Gegenbild durchaus auch vor 1789 oder 1776 im Bewusstsein der meisten deutschen Autoren präsent26. Als Paradigma einer Revolution galt bis in die 1770er Jahre übrigens noch immer die englische Parlamentsrevolution des 17. Jahrhunderts, die seinerzeit in Deutschland mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und (ganz überwiegend negativ) rezipiert worden war27. Freilich konzentrierten sich die Reflexionen in der Zeit des ausgehenden Ancien Régimes in erster Linie auf das Problem, eine bestehende institutionelle politische Ordnung auf Dauer zu stellen, und „Zufälle“ sowie unvorhersehbare negative Entwicklungen aller Art abzuwehren. Veränderungen und Reformen wurden nur dann als zulässig angesehen, wenn sie jene erwünschte Kontinuität nicht zu tangieren vermochten – oder wenn man sich von ihnen den Ausweg aus einer vollkommen verfahrenen oder gar gefährlichen politischen Lage versprach. IV. Aber nicht nur ein Umsturz kann bedenkliche Folgen nach sich ziehen, sondern eben auch Stagnation und Reformunfähigkeit – das ist die wohl wichtigste Lehre, die von der großen Mehrheit der deutschen politischen Autoren aus der Französischen Revolution gezogen wurde28. Auch diejenigen, die – nach anfänglicher Revolutionsbegeisterung – um 1793/94 ihre Sympathien für die Pariser Umstürzler nicht mehr aufrecht erhalten mochten29, haben doch die Notwendigkeit einer umfassenden politischen Erneuerung Frankreichs nach den erfolglosen Reformversuchen 26  Vgl. Karl Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff  – Entstehung und Geschichte, hrsg. v. Ingeborg Horn-Staiger, Frankfurt am Main 1973, bes. S. 143 ff. u. passim; Reinhart Koselleck, Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolu­ tionsbegriffs, in: derselbe, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 67–86. 27  Vgl. Karl Klaus Walther, Britannischer Glückswechsel. Deutschsprachige Flugschriften des 17. Jahrhunderts über England (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen, 32), Wiesbaden 1991. 28  Grundsätzlich hierzu Rudolf Vierhaus, Die Revolution als Gegenstand der geistigen Auseinandersetzung in Deutschland, 1789–1830, in: Dufraisse/MüllerLuckner (Hrsg.), Revolution und Gegenrevolution 1789–1830 (Anm. 2), S. 251–261. 29  Als berühmtes Beispiel kann Friedrich Schiller genannt werden, dessen 1795 vollendetes Gedicht „Der Spaziergang“ diesen Wandel im historisch-politischen und geschichtsphilosophischen Denken des Dichters sehr anschaulich spiegelt; dazu vgl. vor allem die berühmte Interpretation von Friedrich Meinecke,



Kontinuität und Reform51

der Spätzeit des Ancien Régime niemals bestritten. Und wenn sie die Revolution verteidigten, dann doch im Grunde nur so lange, als man jene Pariser Ereignisse noch in einem sehr weiten Sinne als bloß umfassende und tiefgreifende „Reform“ von Staat und Gesellschaft, als vorgeblich kontinuierlichen Übergang von der absoluten zur konstitutionellen Monarchie, interpretieren konnte. Kontinuität und Reform gehören in dieser Perspektive unbedingt zusammen: Kontinuität ohne periodische Reform erscheint als ebenso undenkbar wie eine Reform, die sich dem Anspruch, zugleich Kontinuität zu bewahren, entzieht. August Ludwig von Schlözer war einer der ersten, der in seinem „Allgemeine[n] StatsRecht“ von 1793 diese Zusammenhänge präzise auf den Begriff brachte: Jede „StatsErrichtung“ setze voraus, „daß der Staat fortdauern solle [,] […] daß seine UrForm nicht durch Misbräuche unvermerkt, oder durch einzelne Parteien gewalttätig, umgeändert werde“30. Doch zugleich betonte der Göttinger Historiker und Staatswissenschaftler ausdrücklich: „[…] da Misbräuche in jede Regirung einschleichen, und eine auch anfangs heilsame Einrichtung, im Laufe der JarHunderte […] gemeinschädlich werden kann: so muß immer eine Möglichkeit zum ruhigen Fortrücken bleiben; sonst steigt ein fürchterlicher Tyrann, Herkommen genannt, auf den Thron, der alle Misbräuche sanctionirt, und sich gegen jede Reform zur Wehre setzt“31. In diesem Sinne hat er  – was im Jahre 1793 durchaus einen gewissen Mut erforderte – in eindringlicher Weise auch für Deutschland Reformen angemahnt32, freilich mit dem aufschlußreichen Zusatz: „In devotestem Vertrauen auf deutschen MenschenVerstand, auf immer steigende ware Aufklärung […] läßt sich in Deutschland alles, was geschehen muß, blos von solchen Reformen, one Revolution, über kurz oder über lang, sicher Schillers Spaziergang (1938), in: derselbe, Werke, Bd. IV: Zur Theorie und Philosophie der Geschichte, hrsg. v. Eberhard Kessel, Stuttgart 1965, S. 323–340. 30  August Ludwig Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere, Göttingen 1793, S. 98 f. – Dieser Autor pflegte in seinen Publikationen eine eigentümliche, hier natürlich unverändert zitierte Privatorthographie. 31  Ebenda, S. 99; zum politischen Denken Schlözers im Zeitalter der Revolu­tion siehe auch Martin Peters, Altes Reich und Europa. Der Historiker, Statistiker und Publizist August Ludwig (v.) Schlözer (1735–1809) (Forschungen zur Geschichte der Neuzeit, 6), Münster 2003, S. 207 ff. (Kap. VII bis X). 32  Vgl. Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere (Anm. 30), S. 163 f.: „Es gibt keine RegirungsForm, die sich nicht im Lauf der Zeiten, beim ewigen Kampfe selbstsüchtiger SchlauKöpfe mit guten frommen SchwachKöpfen, verschlimmerte; wo nicht Misbräuche entstünden, die, wenn sie lange ungerügt bleiben, am Ende wolerworbene Rechte, gar BestandTeile der Constitution, hießen. Folglich sind auch in Deutschland Reformen nötig. Manche sind bereits geschehen, merere stehen noch bevor.“

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erwarten“33. Reform ohne Revolution – das heißt hier auch: Revolutions­ vermeidung durch Reformen auf der Grundlage „wahrer Aufklärung“34 und Anwendung des gesunden Menschenverstandes. Eine verdeckte Mahnung an die deutschen „Obrigkeiten“ also, die sich der mit dem Privileg der Selbstzensur ausgestattete Göttinger Professor freilich eher erlauben konnte als viele andere publizierende Zeitgenossen im damaligen Deutschland. Schon 1790 übrigens hatte Schlözers Göttinger Kollege Ludwig Timotheus Spittler in den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“, fraglos unter dem Eindruck der gleichzeitigen Pariser Ereignisse, die These formuliert, es scheine „erstes Erforderniß einer vollkommen guten Staats-Constitution zu seyn, daß Kräfte in ihr ruhen müssen, und Verhältnisse in derselben festgesetzt seyen, die ohne eine Revolution, gleichsam bloß durch ihr natürliches Erwachen und durch ihre freiwillige Entwickelung den Staat zu retten vermögen“35. Seine Stellungnahme verdient deshalb ein besonderes Interesse, weil Spittler einer der sehr wenigen Deutschen gewesen ist, bei denen sich die Rezeption der Revolution im westlichen Nachbarland gewissermaßen „gegen den Strich“ vollzogen hat: Aus dem anfänglichen starken Revolutionsskeptiker wurde später zwar kein Anhänger, jedoch ein differenzierter Beurteiler der Revolution, der ihr ein begrenztes historisches Recht weder absprechen konnte noch wollte36. In seiner Göttinger Politikvorlesung von 1796 (die erst posthum 1828 im Druck erschienen ist) hat er dies klar ausgesprochen: Obwohl er selbst ein ausdrückliches Recht des Volkes auf Revolution ablehnt37, warnt er doch vor fadenscheinigen Argumenten gegen den politischen Wandel an sich. Es sei nachgerade „lächerlich […], Aenderungen deshalb verbieten zu wollen, weil die Vorfahren die Einrichtungen getroffen und als unabänderlich und unverletzlich gesetzt hätten“38. Die Situation sei wenigs33  Ebenda, S. 166; weiter heißt es, S. 166 ff.: „Wozu auch Revolutionen, deren Ausgang immer ungewiß ist, und die gewönlich ihren Unternemern verderblich sind? Sind wir doch der Gegenwart wenigstens eben so viel, als der Zukunft, schuldig!“. 34  Zu diesem Topos siehe Werner Schneiders: Die wahre Aufklärung. Zum Selbstverständnis der deutschen Aufklärung, Freiburg i. Br./München 1974. 35  Ludwig Timotheus Spittler, Sämmtliche Werke, hrsg. v. Karl Wächter, Bd. XIV, Stuttgart/Tübingen 1837, S. 451 (Rezension von: Livingston, Examen du gouvernement d’Angleterre comparé aux Constitutions des Etats-unis). 36  Vgl. Joist Grolle, Landesgeschichte in der Zeit der deutschen Spätaufklärung. Ludwig Timotheus Spittler (1752–1810) (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, 35), Göttingen/Berlin/Frankfurt a. M. 1963, S. 94 f. 37  Vgl. Ludwig Timotheus Spittler, Vorlesungen über Politik, hrsg. v. Karl Wächter, Stuttgart/Tübingen 1828, S. 34. 38  Ebenda, S. 36; vgl. ebenfalls Richard Nürnberger, Die Lehre von der Politik an der Universität Göttingen während der französischen Revolution (Nachrichten



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tens denkbar, dass in einem Staat ein „gewaltiges Mißvergnügen“ entstehe  – mit der fast notwendigen und an sich auch gerechtfertigten Folge einer Aufhebung dieses Staates und seiner faktischen Neuschöpfung durch die große Mehrheit der auf dem Staatsgebiet lebenden Menschen. Freilich hat Spittler (und hier kommt wiederum der Kontinuitätsgedanke ins Spiel) ebenfalls auf die Gefahren eines solchen Vorgehens, besonders auf die Gefährdung der staatlichen Existenz des Menschen, hingewiesen; es sei, fügt er diesen Ausführungen hinzu, „Pflicht für den Menschen, eher manches zu tragen, als sich vom Staate zu trennen, da er doch als Kulturmensch nur im Staate leben kann“39. Skepsis gegenüber der „Neuerungssucht“ seines Zeitalters kennzeichnet – um noch einen weiteren Autor des aufgeklärt-frühliberalen Lagers jener Ära zu zitieren – auch die Überlegungen des in dänischen Diensten stehenden liberalen Holsteiners Christian Ulrich Detlev von Eggers. Im 1803 in Kopenhagen erschienenen (aber wesentlich früher entstandenen) zweiten Band  seiner „Skizzen und Fragmente einer Geschichte der Menschheit in Rüksicht auf Aufklärung und Volksfreiheit“ bezeichnet er die „Neuerungssucht“ als die „wissenschaftliche Krankheit unseres Zeitalters“ Seine Warnung ist kaum misszuverstehen: „Unbedachtsam reißen wir ein, ohne dafür gesorgt zu haben, ein besseres Gebäude aufzuführen. Wir brechen einen vielleicht schwachen Damm ab, und sezzen den Fluthen keine neue Schutzwehr entgegen“40. Und er schließt seine Betrachtungen mit den Worten: „Wir stehen auf einem sehr bedenklichen Punkt. Vor uns liegt die Scheide des allmähligen sanften Fortschreitens auf dem Wege der Aufklärung und des bügerlichen Wohls, von dem Wege zu ungestühmen Gährungen, deren Ende keine menschliche Weisheit abmessen kann. Alles ruft den Regierungen zu, daß sie […] die größten Anstrengungen anwenden müßten, um die Menge auf jenen Pfad unvermerkt zu leiten. Nur dadurch wird sie vor den Wegen zum Abgrunde bewahrt“41. der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. I. Philologisch-historische Klasse, Jhg. 1971, Nr. 2), Göttingen 1971, S. 18 ff. 39  Die Zitate: Spittler, Vorlesungen über Politik (Anm. 37), S. 35; siehe auch Spittlers Bemerkungen über „Periodische Revisionen der Constitutionen“, ebenda, S. 162–166. 40  Christian Ulrich Detlev (von) Eggers, Skizze und Fragmente einer Geschichte der Menschheit in Rüksicht auf Aufklärung und Volksfreiheit, Bd. I, Flensburg/ Leipzig 1786, Bde. II–III, Kopenhagen 1803–1804, hier Bd. II, S. 478 (der Abschnitt ist betitelt: „Betrachtungen über den Geist des Zeitalters beim Ausgang des Jahres 1785“). Vgl. auch Martin Babel, Christian Ulrich Detlev von Eggers (1758– 1813), in: Aufklärung 5/2 (1990), S. 127–129. 41  Eggers, Skizze und Fragmente einer Geschichte der Menschheit (Anm. 40), Bd. II, S. 480.

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Diese Formulierungen sind nicht nur deshalb besonders bemerkenswert und aufschlussreich, weil Eggers hier mit großer Klarheit die großen Alternativen des Zeitalters aus liberal-aufgeklärter Sicht umreißt. Aufschlußreicher noch ist der an dieser Stelle zum Ausdruck kommende ­Bedeutungswandel der Kontinuitätsidee: „Kontinuität“ heißt jetzt nicht mehr, wie etwa noch bei Montesquieu, Bielfeld, Haller und anderen vorrevolutionären Autoren, Bewahrung einer guten und bewährten politischen Ordnung, sondern sie umschreibt nun das Konzept einer evolutionär-reformerischen im Gegensatz zur revolutionären Veränderung. Die Tatsache eines – nunmehr beschleunigten – historischen Wandels wird als solche nicht mehr in Frage gestellt; kontrovers bleiben in dieser Perspektive nur noch die Form und die Geschwindigkeit eben dieses Wandels. An diesem Punkt berührt sich die Argumentation der fortschrittsoptimistisch gesinnten aufgeklärt-liberalen Autoren überraschend eng mit derjenigen der gemäßigt konservativen Revolutionsgegner wie etwa der beiden Hannoveraner August Wilhelm Rehberg und Ernst Brandes, die mit einem gewissen Recht als „aufgeklärte“ oder „pragmatische“ Reformkonservative bezeichnet worden sind42. Freilich werden von ihnen die Akzente etwas anders gesetzt. Rehberg hat in seinen „Untersuchungen über die Französische Revolution“ von 1793, die seinerzeit den scharfen Widerspruch des jungen Fichte auf den Plan riefen, die geschichtliche Kontinuität in gewisser Weise zum fundamentalen Prinzip aller wahren Politik erklärt, um auf diese Weise die Revolution in Frankreich nur um so konsequenter verwerfen zu können: „Jede Staatsver­ fassung, auch die vollkommenste, beruhet […] auf der allmählichen Entwicklung der zum Theile durch die Natur, und zum Theile durch ­ menschlichen Verstand und Willkühr bestimmten Verhältnisse und Einrichtungen. Jede Generation legt den Grund zu dem, was die folgende thun wird, und die spätere kann nur auf das bauen, was die vorhergehenden gethan haben“43. Die Differenz zu Schlözer und Spittler liegt auf der Hand: Was bei den beiden Göttinger Professoren der „Tyrann 42  Anke Bethmann, Pragmatischer Reformkonservativismus als Reaktion auf erste Vorboten des demokratischen Zeitalters. Ernst Brandes  – ein Vertreter der hannoverschen Schule, in: Von ‚Obscuranten‘ und ‚Eudämonisten‘ – Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert (Literatur im historischen Kontext, 1), hrsg. v. Christoph Weiß/Wolfgang ­Albrecht, St. Ingbert 1997, S. 549–577; Gerhard Dongowski, „Bessert, damit nicht eingerissen werde“. Reformkonservativismus in der Zeit der Französischen Revolution: August Wilhelm Rehberg, in: ebenda, S. 521–547. 43  August Wilhelm Rehberg, Untersuchungen über die Französische Revolution nebst kritischen Nachrichten von den merkwürdigsten Schriften welche darüber in Frankreich erschienen sind, Bde. I–II, Hannover/Osnabrück 1793, hier Bd. I, S. 53 f.; siehe auch Ursula Vogel, Konservative Kritik an der bürgerlichen Revolu-



Kontinuität und Reform55

Herkommen“44 gewesen war, erscheint bei Rehberg als konstitutive Vo­ raussetzung einer vernünftigen, weil durch Tradition und Geschichte fest gegründeten, die Erfahrungsweisheit vorangegangener G ­ enerationen bewahrenden und damit in der Sache bewährten politischen Existenz. Rehbergs Freund, Amts- und Gesinnungsgenosse Brandes hat diesen Gedanken in seinen im Jahr 1808 (nach seiner politischen Kaltstellung durch die französische Besatzungsmacht) publizierten „Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts“ ebenfalls vertreten45, doch auch etwas variiert, indem er die in seiner Sicht hektische und letztlich übereilte Reformtätigkeit des aufgeklärten Absolutismus, besonders Josephs II., im Rückblick kritisch betrachtet: „Allein das hurtige gewaltsame Einreißen des Bestehenden erzeugte den Geist der Unruhe, wo er sich noch nicht fand; gab ihm da, wo man ihn schon traf, die reichste Nahrung […] Die weisesten Einrichtungen der Gesetzgeber,“ so Brandes weiter, „der klügsten Despoten, bedürfen das Ansehen einer gewissen ehrwürdigen Dauer, um tief einzugreifen in die zu einer rechten Wirksamkeit unentbehrlichen Gesinnungen der Menschen. Das dem Wechsel unterworfene Menschliche ändert sich theils von selbst, theils bedarf es Abänderungen nach den Zeiten, theils der herstellenden Hand, damit es nicht erschlaffe. Aber die Regeln der ewigen Gerechtigkeit sollen unabänderlich sein, ihre Anwendung mit der schonenden Billigkeit geschehen, deren unser schwaches Geschlecht so sehr bedarf“46. Aufschlussreich ist, dass Brandes das Faktum andauernder historischer Veränderung an sich ebenso wenig ignoriert wie er andererseits die Notwendigkeit politischer Reformen betont. Ihm geht es vor allem um deren Geschwindigkeit, die er ausdrücklich zu verlangsamen wünscht  – und die er in dieser Form sogar als etwas spezifisch Deutsches deuten zu können meint, indem er feststellt: „Nur allmählige Veränderungen sagen im ­ganzen dem ungefälschten deutschen Charakter zu, und bringen durch die Zustimmung desselben wahre daurende Verbesserungen hervor“47. tion – August Wilhelm Rehberg (Politica, 35), Darmstadt/Neuwied 1972, S. 26 ff. u. passim. 44  Siehe oben, vor Anm. 31. 45  Vgl. Carl Haase, Ernst Brandes 1758–1810, Bde. I–II (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Bd. 32), Hildesheim 1973–1974, hier Bd. II, 218 ff. (Brandes verbrachte seine letzte Lebenszeit unter Hausarrest, den die französische Besatzungsmacht verhängt hatte). 46  Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts, Hannover 1808, S. 103 f.; vgl. auch S. 70. 47  Ebenda, S. 59; siehe auch die für Brandes charakteristische Feststellung ebenda, S. 226 f.: „Nicht Chinesische Anhänglichkeit am Alten soll fortdauern, von

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Rehberg und Brandes bewegen sich also, bei aller entschiedenen Revolutionskritik und bei aller Skepsis gegenüber zu rasch ins Werk gesetzten Reformen, durchaus nicht auf dem Boden einer klassischen politischen Reaktion, wie sie etwa in Frankreich in dieser Epoche durch Autoren wie de Maistre und de Bonald artikuliert worden ist48. Das Festhalten am ­politisch aufgefaßten und gedeuteten Konzept der historischen Kontinui­ tät, das sorgfältig vorbereitete und ins Werk gesetzte sowie nach Maß­­ gabe  der Vernunft gestaltete Reformen und damit auch geschichtlichen Wandel mit einschließt, verbindet die beiden hannoveranischen Publizisten mit den führenden liberalen Autoren im Deutschland dieser Zeit. Und diese wiederum stehen – bei allen Unterschieden im Detail – jenen nahe, weil auch sie der Revolution als politisches Prinzip mit grundle­ gender Skepsis begegnen, und gerade aus dem Grund für entschiedene Reformen eintreten, weil sie einer drohenden Revolution vorzubeugen ­ wünschen. V. Die nach 1806 in Deutschland einsetzende – wenngleich, wie man heute weiß, vielfach bereits früher geplante und vorbereitete49 – umfassende, gleichermaßen politische wie soziale und ökonomische Reformtätigkeit lässt sich in gewisser Weise auch als der Versuch einer praktischen Umsetzung der Hauptresultate des ebenso reformorientierten wie revolutions­ kritischen deutschen politischen Diskurses am Ende des 18. Jahrhun-

Gefühllosigkeit, Trägheit, Seelenschlaf erzeugt, sich selbst auf das schrecklichste strafend, im Nichtabstellen von Mißbräuchen, im Versäumen des Bessermachens zur rechten Zeit, da es allenthalben stets viel zu verbessern giebt. Aber noch gefährlicher bleibt es, eine vorgefaßte Meinung von der Vortrefflichkeit eines jeden Neuen als solchem in die Schaale des seiner Natur nach schon einer steten Wechselung und Veränderung unterworfenen Irdischen zu legen. Selbst in wissenschaftlicher Hinsicht, wo Neuerungen, Experimente nicht auf Kosten des Glücks von Millionen gemacht werden, mußte der Begriff von einem steten, […] von einem sehr schnellen Fortschreiten, in elende Charlatanerie, zur Entwürdigung des Wesentlichen, ausarten“. 48  Vgl. Jean-Jacques Langendorf, Joseph de Maistre (1753–1821) und L. G. A. de  Bonald (1754–1840)  – zwei Vertreter der Gegenrevolution, in: Politische Theo­ rien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, hrsg. v. Bernd Heidenreich, 2. völlig neu bearb. Aufl., Berlin 2002, S. 81–92. 49  Vgl. statt vieler Hans Hattenhauer/Götz Landwehr (Hrsg.), Das nachfriderizianische Preußen 1786–1806. Rechtshistorisches Kolloquium 11.–13.  Juni 1987 Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (Motive  – Texte  – Materialien, 46), Heidelberg 1988; Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern, Bd. 2: Dynastie im säkularen Wandel. Von 1740 bis in das 20. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 78 ff.



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derts begreifen50. Hardenberg hat dies in seiner Rigaer Denkschrift von 1807 in geradezu klassischer Weise formuliert, wenn er feststellt: „Der Wahn, daß man der Revolution am sichersten durch Festhalten am Alten und durch strenge Verfolgung der durch solche geltend gemachten Grundsätze entgegen streben könne, hat besonders dazu beigetragen, die Revolution zu befördern, und derselben eine stets wachsende Ausdehnung zu geben. Die Gewalt dieser Grundsätze ist so groß, sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, daß der Staat, der sie nicht annimmt, entweder seinem Untergange oder der erzwungenen Annahme derselben entgegen sehen muß“51. Gleichwohl blieb auch jetzt in Deutschland die Auffassung vorherrschend, dass alle notwendigen Umbrüche und Veränderungen den Faden der historischen Kontinuität nicht abreißen durften. Eine neu zu findende politische Form sollte und musste die Möglichkeit einer kontinuierlichen Fortentwicklung gewissermaßen institutionalisieren, um eben nicht in eines der beiden Extreme der Stagnation oder der Revolution zu verfallen: Barthold Georg Niebuhr hat dies 1813 einmal folgendermaßen ausgedrückt: „Nie hat es unveränderliche politische Gesetze gegeben; wo man sie unverändert hat erhalten wollen, hat man die Nation erstickt […] Eine Konstitution, die auf die Extreme begründet ist, führt unfehlbar zum Despotismus. Diejenige ist der Dauer der Freiheit am meisten günstig, welche, indem sie eine lange Reihenfolge von Abstufungen bis zur Einführung der Demokratie oder der absoluten monarchischen Gewalt möglich macht, den künftigen Geschlechtern viele Schritte zu tun übrig läßt, bevor sie in einen der Abgründe stürzen“52. Revolutionsvermeidung bedeutete also nicht nur Kontinuitätssicherung durch Reform,

50  Vorzüglicher und gut zusammenfassender Überblick bei Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1984, S. 31–82. 51  Georg Winter (Hrsg.), Die Reorganisation des Preussischen Staates unter Stein und Hardenberg, Bd. I: Vom Beginn des Kampfes gegen die Kabinettsregierung bis zum Wiedereintritt des Ministers vom Stein (Publikationen aus den Preussischen Staatsarchiven, 93), Leipzig 1931, S. 305; selbst „die Raub- und Ehrund Herrschsucht Napoleons und seiner begünstigten Gehilfen“ sei, fügt Hardenberg hier an, „dieser Gewalt untergeordnet und wird es gegen ihren Willen bleiben“ (ebenda). 52  Barthold Georg Niebuhr, Verfassungsentwurf für die Niederlande, in: derselbe, Politische Schriften, hrsg. v. Georg Küntzel (Historisch-politische Bücherei, 2), Frankfurt  a. M. 1923, S. 251–300, hier S. 259 f.; siehe auch Hans-Christof Kraus, Die verfassungspolitischen Ideen Barthold Georg Niebuhrs, in: Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, hrsg. v. FrankLothar Kroll, Paderborn/München/Wien/Zürich 1996, S. 285–314, bes. S. 310 ff.

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sondern nicht zuletzt auch, wie man sagen könnte, eine verfassungspolitische Institutionalisierung der Möglichkeit von Kontinuität. Dieser Gedanke blieb ein Grundmotiv auch im späteren politischen Denken des gemäßigten deutschen Liberalismus. So hat Friedrich Christoph Dahlmann in seiner berühmten, erstmals 1835 erschienenen „Politik“ eben diesen Gedanken formuliert: Zwar pflege, so sagt er, „der Pfeiler der Gewohnheit […] zu weichen, wo allzuviel und lang auf ihm allein gebaut ist“, dennoch lehre aber „die Erfahrung aller Zeiten […]: Die Regierungsform eines großen Staates muß, um Dauer zu haben, nicht aus gleichartigen, sondern aus verschiedenartigen, so wenig als möglich aus künstlich gebildeten, so viel als möglich aus real vorhandenen Bestandtheilen gebaut seyn“53  – und dies nicht zuletzt, um Revolutionen unbedingt zu vermeiden, denn „auch die aufs Beste ausgehende Revolution ist eine schwere Krise, die Gewissen verwirrend, die innere Sicherheit unterbrechend und nicht minder alle Staatsverträge gefährdend“54. Schon 1816 übrigens hatte der rheinische Liberale Johann Friedrich Benzenberg in seiner umfangreichen Schrift „Ueber Verfassung“, wohl auch als Reaktion auf die Umbrüche und fundamentalen Veränderungen des Revolutionszeitalters, seinen Zeitgenossen die langfristigen Dimen­ sionen politisch-historischer Kontinuität erneut ins Gedächtnis gerufen: Man dürfe, sagt er, bei „allen gesellschaftlichen Einrichtungen unter den Menschen […] nicht darauf sehen, was sie in einzelnen Tagen oder in einzelnen Jahren hervorbringen, sondern auf das, was sich aus ihnen in einem Jahrhunderte, oder wenn sie dauernd sind, in mehreren Jahrhunderten entwickelt“55. Und dies gelte, so Benzenberg weiter, auch für die politischen Institutionen, etwa für die Selbstverwaltung, die nicht etwa von oben aufoktroyiert werden dürften, sondern kontinuierlich von unten wachsen müssten: „Mir scheint es, daß dieses sich selbst Regieren, wenn es etwas werden soll, durchaus sich im Volke selbst entwickeln und

53  Friedrich Christoph Dahlmann, Die Politik (1835), hrsg. v. Wilhelm Bleek (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, 7), Frankfurt a. M. 1997, S. 69; vgl. auch Wilhelm Bleek, Friedrich Christoph Dahlmann. Eine Biographie, München 2010, S.  147 ff. 54  Dahlmann: Die Politik (Anm. 53), S. 140; vgl. zum Zusammenhang des Themas auch die Ausführungen ebenda, S. 139 ff. 55  Johann Friedrich Benzenberg, Ueber Verfassung, Dortmund 1816, S, 321; hierzu auch Dajana Baum, Johann Friedrich Benzenberg (1777–1846). „Doktor der Weltweisheit“ und „Professor der Konstitutionen“ – Verfassungskonzeptionen aus der Zeit des ersten preußischen Verfassungskampfes (Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens, 79), Essen 2008, S. 99–111.



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mit der Zeit ausbilden muß, und ohne Nachhülfe von oben“56. Eben auf diese Weise, durch Akzeptanz einer kontinuierlich, gewissermaßen „naturwüchsig“ sich vollziehenden Eigenentwicklung, seien Revolutionen am ehesten zu vermeiden. Dieser Gedanke, der sich in mancher Hinsicht mit den entsprechenden, einen übermäßigen bürokratischen Reformeifer kritisierenden Reflexionen des alten Ernst Brandes aus dem Jahre 1808 berührt57, zeigt erneut die Bedeutung des Kontinuitätsaspektes auch für das nachrevolutionäre politische Denken in Deutschland, die im Übrigen auch in den zentralen Thesen der berühmtesten Programmschrift der zu jener Zeit begründeten Historischen Rechtsschule, Savignys „Vom Beruf unsrer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“, anzutreffen ist58. Die alte  – letztlich unhistorische – Bedeutung von Kontinuität im Sinne der möglichst vollständigen Bewahrung einer einmal erreichten „guten Verfassung“, ist jetzt unter dem Eindruck der säkularen Umwälzungen und der auch weiterhin sich vollziehenden Veränderungen einem anderen Verständnis gewichen, das Kontinuität in der – nunmehr grundsätzlich als notwendig erkannten – Veränderung festzumachen bestrebt ist. Seit dem beginnenden 19. Jahrhundert beginnt sich die „Überzeugung von der unvermeidbaren Alternative zwischen einer reformierenden, die ganze Gesellschaft umfassenden Politik einerseits und der gewaltsamen Veränderung andererseits“59 allgemein durchzusetzen. Dieser geistige Vorgang gehört in den Zusammenhang jener um 1800 erkennbar werdenden und von vielen Zeitgenossen wahrgenommenen „Beschleunigung der Geschichte,“60 die Goethe in seinem in der Zeit der Revolutionskriege spielenden Versepos „Hermann und Dorothea“ mit den Worten ausdrückte: 56  Benzenberg:

Ueber Verfassung (Anm. 55), S. 329. oben, vor Anm. 46. 58  Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S. 13: Alles Recht entstehe „überall […] durch innere, stillwirkende Kräfte, nicht durch die Willkühr eines Gesetzgebers“; ebenda, S. 32: die Entwicklung des (für Savigny vorbildlichen) römischen Rechts der klassischen Zeit zeige „überall allmähliche, völlig organische Entwicklung. Entsteht eine neue Rechtsform, so wird dieselbe unmittelbar an eine alte, bestehende angeknüpft“; sichtbar werde dabei das „richtige Ebenmaaß der beharrlichen und der fortbewegenden Kräfte.“ 59  Gerhard Schulz, Europa und der Globus. Städte, Staaten und Imperien seit dem Altertum, Stuttgart/München 2001, S. 201. 60  Dazu Reinhart Koselleck, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?, in: derselbe, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt  a. M. 2000, S. 150–176; zum Zusammenhang ebenfalls die Darlegungen bei Schulz, Europa und der Globus (Anm. 59), S. 199 ff. 57  Siehe

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„Wahrlich unsere Zeit vergleicht sich den seltensten Zeiten, Die die Geschichte bemerkt, die heilige wie die gemeine. Denn wer gestern und heut in diesen Tagen gelebt hat, Hat schon Jahre gelebt: so drängen sich alle Geschichten“61.

Das Prinzip der historischen Veränderung – sogar das einer zeitweilig beschleunigten – hat ebenfalls ein dem gemäßigt konservativen Lager zuzurechnender Autor wie der heute weitgehend vergessene, im frühen 19. Jahrhundert als politischer Schriftsteller sehr bekannte Johann Peter Friedrich Ancillon, Berliner Hugenottensprössling, Prinzenerzieher und in den 1830er Jahren kurzzeitiger preußischer Außenminister,62 grundsätzlich akzeptiert, wenn er in einer 1828 veröffentlichten Abhandlung „Ueber den Begriff und die Beurtheilung der politischen Revolutionen“ eine „progressive Bewegung, eine langsame Entwickelung, eine stete Vervollkommnung aller Zweige des Staatsorganismus und des öffentlichen Lebens“ als Grundbedingung von Ruhe und Ordnung „so wie der […] Wohlfahrt der Staaten“ bezeichnet. Die Regierungen müssten „durch zeitund zweckgemäße Verbesserungen […] Schritt [halten] mit dem Gange der Cultur und der Thätigkeit der Kräfte, die den gesellschaftlichen Mechanismus bilden und unterhalten“63, um auf diese Weise eine „Aufhebung der bestehenden souveränen Gewalt“ zu vermeiden, eines möglichen Vorgangs also, der von ihm übrigens bezeichnet wird als „ein Verbrechen“ und als „ein Selbstmord, den die Gesellschaft an sich ausübt“64. Neben die Revolutionskritik tritt bei einigen dieser Autoren also noch etwas anderes: das Bewusstsein einer schärferen inhaltlichen Konturierung und Bestimmung von politischen Reformen. An deren Notwendigkeit zweifelt an sich niemand – doch über ihr Ausmaß, ihre reale Umsetzung und ihre Inhalte besteht keinerlei Einigkeit. Das Spektrum reicht von Benzenberg, der auf das Prinzip des langsamen, möglichst unbehinderten Wachstums, auf die Idee einer quasi-organischen Entwicklung des Neuen setzt, bis hin zu Ancillon, der Reformen zwar ebenfalls als notwen61  Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, Artemis-Gedenkausgabe, Bd. 3, Zürich 1977, S. 206 (Hermann und Dorothea, V, 229–232). 62  Leben und Werk Ancillons sind bis heute kaum erforscht; siehe neuerdings jedoch die knappe Studie von Niels Hegewisch, Die Staatsphilosophie von Johann Peter Friedrich Ancillon, Marburg 2010. 63  Die Zitate aus [Johann Peter] Friedrich Ancillon, Ueber den Begriff und die Beurtheilung der politischen Revolutionen, in: derselbe, Zur Vermittlung der Ex­ treme in den Meinungen, Bd. I, Berlin 1828, S. 213–246, hier S. 243; vgl. auch Hegewisch, Die Staatsphilosophie von Johann Peter Friedrich Ancillon (Anm. 62), S.  62 ff. 64  Die Zitate: Ancillon, Ueber den Begriff und die Beurtheilung der politischen Revolutionen (Anm. 63), S. 246.



Kontinuität und Reform61

dig ansieht und bejaht, sie aber dennoch streng eingrenzen und ausschließlich von oben durchgeführt wissen möchte. Das beide Standpunkte miteinander verbindende Moment ist wiederum der Kontinuitätsgedanke: Denn jede Art von Veränderung im Sinne von Erneuerung und Reform dient, in dieser Perspektive gesehen, der Kontinuitätssicherung und damit zugleich der Revolutionsvermeidung. Hierin sind sich die meisten Konservativen und die gemäßigten Liberalen im Grundsatz einig. Einen etwas anderen, gleichfalls natürlich strikt antirevolutionären, aber in gewisser Weise defensiveren historisch-politischen Kontinuitätsbegriff entwickelten nach 1815 einige prominente Vertreter der politischen Romantik, insbesondere Friedrich Schlegel und Adam Müller. Für Schlegel bedeutete Kontinuität nicht zuletzt Anknüpfung an Früheres – oder wenigstens, wenn die Wiederherstellung eines vergangenen Zustandes nicht mehr möglich war, die Schaffung von Institutionen von wesentlich gleichartiger Funktion. Unter Bezugnahme auf die verschiedenen Formen einer ständischen Repräsentation, wie sie nach dem Wiener Kongreß in Deutschland entstanden waren oder noch errichtet werden sollten, stellte er in einem 1817 veröffentlichten Artikel fest: „Keine deutsche Regierung sollte […] vergessen, daß der Deutsche an Fürstenwillkür nie gewöhnt gewesen ist und daß, wenn alte, Schutz gewährende Formen und Institute erloschen sind, das Wesen derselben in dieser unerläßlichen Hinsicht in irgendeiner Form von neuem gewährt werden muß“65. Der Romantiker, Publizist und Diplomat formulierte hier ein genuin konservatives Verständnis von Kontinuität66, wenn er diese in erster Linie als Wiederanknüpfung, als Überbrückung, in gewisser Weise als ­ Heilung eines durch Diskontinuität entstandenen abrupten Bruches mit der Vergangenheit interpretierte – und dies nicht nur im Hinblick auf die von ihm hier verwendete Denkfigur, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht: Die Kontinuität eines ständisch-monarchischen Dualismus wird hier gegen den  – von ihm wie von anderen konservativen Autoren als „modern“ und damit als verderblich angesehenen – „Despotismus“ oder „Absolutismus“67 ins Spiel gebracht. Überwunden werden soll eben 65  Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. VII: Studien zur Geschichte und Politik, hrsg. v. Ernst Behler, München/Paderborn/Wien 1966, S. 443. 66  Siehe hierzu auch die Bemerkungen bei Anette Kuhn, Die Staats- und Gesellschaftslehre Friedrich Schlegels, Diss. phil. München 1959, S. 46 ff., über Schlegels Bemühung um die Aufrechterhaltung der historischen Kontinuität des „sittlichen Bewußtseins“; außerdem: Harro Zimmermann, Friedrich Schlegel oder die Sehnsucht nach Deutschland, Paderborn/München/Wien/Zürich 2009, S. 321 ff. 67  Vgl. Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S. 63–206; zum Zusammenhang der politischen Debatte im frühen 19. Jahrhundert ebenfalls wichtig: Reinhard Blänkner, „Absolutismus“.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

nicht nur das Zeitalter der Revolution, sondern auch das vorangegangene der monarchischen Autokratie, einer politischen Form also, die in der Optik konservativer Autoren dieser Zeit eine wesentliche Teilursache der Revolution von 1789 darstellt. Doch Friedrich Schlegel ist noch weiter gegangen und hat das Phänomen der Revolution selbst in den Zusammenhang einer gewissermaßen „höheren Kontinuität“ eingeordnet und ihm damit eine Art von geschichtsphilosophischer Legitimation verliehen, die sich die Revolutionäre von 1789 freilich nicht hätten träumen lassen. „Wie der einzelne Mensch“, schreibt er 1820 in seiner „Signatur des Zeitalters“, „im Leben größtenteils auch erst durch den Schmerz und durch vielfältige Leiden vollständig erzogen und von einer höhern Hand dem bessern Ziele seiner innern Vollendung entgegengeführt wird; ist es nicht denkbar, daß auch die Menschheit im Großen, daß Nationen und Staaten, sowie ganze Zeitalter nach derselben höheren Erziehungsmethode von der Vorsehung geleitet und durch eine lange Reihe peinlicher und drückender, aber fruchtbarer und heilsamer Zustände und Erfahrungen, zu der Erkenntnis des Rechten, sowie zum rechten Leben selbst hinaufgeführt werden sol­ len?“68 Der Autor bezeichnet dies – in indirekter Abgrenzung von eigenen früheren Aussagen aus der Zeit vor und um 180069  – als den „Standpunkt […] der Vorsehung“, dessen „höhere Ansicht“70 ihn offenbar befähigt, die Revolution als geschichtliches Phänomen gewissermaßen zu media­ tisieren, einzuordnen in den allgemeinen, von der göttlichen Vorsehung gelenkten Gang der Geschichte, der letztendlich von einer höheren  – menschlicher Einsicht nur begrenzt zugänglichen  – Vernunft bestimmt wird. Die Revolution erweist sich in diesem Verständnis nun keineswegs als säkularer Umbruch, als Manifestation des geschichtlichen Fortschritts zum Besseren, als Morgenröte eines neuen Zeitalters oder gar als Neubeginn der Menschheitsgeschichte, sondern sie erscheint in der von Schlegel eröffneten Perspektive ausschließlich als Mittel der Züchtigung einer vom guten Weg der göttlichen Ordnung abgewichenen Menschheit. Eine begriffsgeschichtliche Studie zur politischen Theorie und zur Geschichtswissenschaft in Deutschland 1830–1870 (Zivilisation & Geschichte, 15), Frankfurt a. M. 2011. 68  Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. VII (Anm. 65), S. 486. 69  Vgl. die entsprechenden Hinweise bei Reinhart Koselleck, Revolution I., IV.– VI., in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 653–656, 689–788, hier S. 738; zum Zusammenhang auch ebenda, S.  739 ff. 70  Beide Zitate: Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. VII (Anm. 65), S. 486 f.



Kontinuität und Reform63

Der Begriff der Reform spielt für Schlegel dagegen eine geringere Rolle. Nach den Umwälzungen der Revolutions- und Kriegsepoche zwischen 1789 und 1815 kommt es für ihn auf die Sicherung der nachrevolutionären Bestände, also des nach allen Umbrüchen noch Vorhandenen an, damit auf eine Verlangsamung und Verstetigung der geschichtlichen Bewegung sowie auf die Wiederanknüpfung möglichst vieler gerissener Fäden, durch welche die Gegenwart mit der vorrevolutionären Epoche verbunden werden kann. Doch Schlegel gab sich nicht der Illusion hin, dass die tiefen Gräben zwischen der Restaurationsperiode nach 1815 einerseits und dem Ancien Régime oder noch früherer Zeiträume andererseits jemals zugeschüttet werden könnten. Seine Versuche einer historisch-politischen Kontinuitätsbegründung auf der Grundlage eines christlichen Geschichtsverständnisses gleichen eher dem verzweifelten Versuch, die innere Sinnhaftigkeit einer von ihm als wesenhaft katastrophisch erfahrenen und erlebten Epoche erkennen zu können und sichtbar zu machen. Adam Müller schließlich hat in seinen späteren Jahren, und zwar in einem seiner nachgelassenen handschriftlichen Zusätze zu seinem Hauptwerk, den „Elementen der Staatskunst,“71 anhand eines besonders charakteristischen Beispiels demonstriert, dass Kontinuitätswahrung auch als Reformverhinderung verstanden werden kann. Die nicht erst seit den 1820er Jahren auch auf dem Kontinent viel diskutierte Forderung nach einer Wahlreform zum britischen Unterhaus  – zu dem noch immer jene (von der liberalen Opposition damals vehement bekämpften) als „rotten boroughs“ bekannten Wahlkreise mit äußerst geringer Wählerzahl gehörten  – wurde von Müller strikt abgelehnt: Durch eben diese alten Wahlkreise werde, stellt er fest, „die Parthey der Abwesenden der Verstorbenen, welche ehemals diese Repraesentanten schickten im Parlament verstärkt, die Persöhnlichkeit der Sachen, alter sehr ehrwürdiger Sachen, welche die gegenwärtige Generation nur gar zu leicht zu übersehen, oder hintan zu setzen pflegt, wird representirt; kurz die Nationalrepraesentation wird gerade durch diese thätige, allen Generationen gegenwärtige Rücksicht auf jene alten rotten boroughs zu einer wahren Volksrepräsentation, d. h. zu einer Repraesentation der gesamten Rechtsverhältnisse aller Jahrhunderte, welches etwas mehr sagen will als eine Repraesenta­ tion der gegenwärtigen Köpfe“72. 71  Adam Müller, Handschriftliche Zusätze zu den „Elementen der Staatskunst“, hrsg. v. Jakob Baxa (Die Herdflamme, 18), Jena 1926; zu Müllers Revolu­tionskritik siehe zusammenfassend auch Jakob Baxa, Adam Müller. Ein Lebensbild aus den Befreiungskriegen und der deutschen Restauration, Jena 1930, S. 43 ff. u. passim. 72  Müller, Handschriftliche Zusätze (Anm. 71), S. 24 f.; im Weiteren spielt Müller hier die britische Kontinuität gegen französische (d. h. revolutionäre) Diskontinuität aus, indem er gleich anschließend feststellt: „Die zweyte Nationalver-

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

Was Müller hier ausführt – und zwar unter indirekter Bezugnahme auf eine berühmte Formulierung Edmund Burkes, der die Nation einmal als Gemeinschaft der Toten, Lebenden und Nachgeborenen bezeichnet hatte73  – ist nichts anderes als eine konservative Radikalisierung des Kontinuitätsbegriffs, der nun vollkommen im Lichte einer jeder wirklichen Reform abholden politischen Restauration gesehen und gedeutet wird. Schlözers Bemerkung über den „Tyrann Herkommen“ auf der einen Seite und Müllers Ablehnung der Reform des dreihundert Jahre alten Wahlrechts zum britischen Unterhaus auf der anderen bezeichnen damit in gewisser Weise die beiden Pole, zwischen denen sich die politische Diskussion um Kontinuität und Reform im Deutschland zwischen Spätaufklärung und Romantik bewegt hat. VI. Es lässt sich also die abschließende These formulieren, dass „Kontinuität“ und „Reform“ als Schlüsselbegriffe anzusehen sind, die erheblich zur Erschließung und zum Verständnis jedenfalls der Hauptlinien des deutschen politischen Denkens vor und nach 1800 beitragen können. Sowohl die Revolutionsvermeidung wie auch die politische Erneuerung durch Reformen sind zentrale gemeinsame Anliegen der wichtigsten konservativen wie auch der liberalen Autoren dieser Zeit. Man wird in der Tatsache, dass es nicht zuletzt aus diesem Grund im deutschsprachigen Bereich  – ganz im Gegensatz zu Frankreich  – keine herausragenden intellektuellen Vordenker einer Revolution in dieser Epoche gegeben hat, eine der wichtigeren Ursachen für das Ausbleiben eines den Ereignissen in Frankreich vergleichbaren revolutionären Umsturzes in Deutschland sehen können. Aber auch die deutlich zu rekonstruierenden, in manchen Aspekten sehr tiefgehenden Differenzen zwischen liberalen und konservativen Autoren in Deutschland lassen sich am ehesten durch eine genaue Bestimmung und Analyse ihres jeweiligen spezifischen Verständnisses von Kontinuität und Reform gewinnen.

sammlung von Frankreich die sogenannte Assemblée legislativ war bekantlich eine solche Repraesentation der Köpfe, alles wohl gezählt, und kein Stimmfähiger von der Wahl ausgeschlossen. Ihre Dauer kann bekanntlich nur nach Wochen gemessen werden, während für die National Repraesentation der Rechtsverhältnisse in England kein anderes Maß als das der Jahrhunderte gilt“ (ebenda, S. 25). 73  Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France and on the Proceed­ ing in Certain Societies in London Relative to that Event, hrsg. v. Conor Cruise O’Brien, Harmondsworth 1982, S. S. 194 f.: „Society […] becomes a partnership not only between those who are living, but between those who are living, those who are dead, and those who are to be born.“



Kontinuität und Reform65

Die Konservativen verstehen „Kontinuität“ in erster Linie als Bewahrung vorhandener Institutionen und Lebensformen oder, in bestimmter geschichtlich-politischer Lage, als Wiederanknüpfung an (vermeintlich bessere) vormalige Zustände. Reformen werden dann bejaht, wenn sie unumgänglich sind, um etwa in kritischer Situation einen als positiv angesehenen Zustand in seinen wichtigsten Grundaspekten zu sichern, oder wenn es gilt, nach einer gescheiterten Revolution eine politische Restauration ins Werk zu setzten, die als solche allerdings niemals einer vollständigen Wiederherstellung des Status quo ante gleichkommen kann, sondern lediglich einen Versuch darstellt, traditionelle mit neueren politisch-sozialen Formen zu kombinieren – natürlich mit dem konservativen Hauptanliegen, dabei möglichst vieles der Tradition Angehörige für die Zukunft zu retten. Für die Liberalen bedeutet „Kontinuität“ wiederum vor allem die kontinuierlich gedachte und gewollte ständige Fortentwicklung des Bestehenden  – und zwar durch periodisch ins Werk gesetzte Reformen. Die Reform erscheint geradezu als Grundprinzip liberaler Politik, eben weil sie nicht nur als notwendige Reaktion auf bestimmte, mit der Zeit sichtbar werdende Probleme politischer Existenz, besonders auf das Veralten und die dementsprechende Verschlechterung der Funktionsfähigkeit politischer und sozialer Institutionen verstanden wird, sondern als beständiges Bestreben aller politischer Tätigkeit, die sich dem Sog geschicht­licher Veränderung nun einmal nicht entziehen kann. Auch die Konservativen haben das unhintergehbare Faktum historischer Bewegung und Veränderung natürlich als solches wahrgenommen und reflektiert. Ihr Streit mit den Liberalen beinhaltete also nicht etwa einen Konflikt zwischen Anhängern von grundlegender Veränderung einerseits und den Vertretern des Beharrens auf dem Status quo andererseits, sondern ihr zentraler Differenzpunkt drehte sich, in dieser Perspektive gesehen, vornehmlich um die Geschwindigkeit eben dieser Veränderung und zugleich um die Inhalte, den Umfang und die Art der politischen Umsetzung der durchzuführenden Reformen. Diese Differenzen eröffnen freilich ein überaus weites Feld der Detailanalyse und der inhaltlichen Erforschung des liberalen und des konservativen Denkens. Auch anhand solcher Untersuchungen ließe sich im Einzelnen erweisen, dass in der Zeit des Umbruchs vom Ancien Régime zur Welt der Moderne die Verbindung von Kontinuität und Reform das dominierende Leitmotiv des politischen Denkens in Deutschland gewesen sind – und nicht die Alternative zwischen Revolution und Beharrung.

Andreas Riems Darstellung und Kritik der Verfassung von England I. Während des gesamten 18. Jahrhunderts und noch darüber hinaus war die englische Verfassung auf dem europäischen Kontinent, vor allem aber in Frankreich und Deutschland, ein Gegenstand größten Interesses, emphatischer Bewunderung und  – mit dem Beginn des Revolutionszeit­ alters – bald auch heftiger Kritik1. Was die einen als verehrungswürdiges Monument der politischen Umsetzung „germanischer Freiheit“, als „in den Wäldern Germaniens“2 geborenes Gemeinwesen rühmten3, erschien 1  Siehe zu Frankreich etwa Kingsley Martin, French Liberal Thought in the Eighteenth Century. A Study of Political Ideas from Bayle to Condorcet, hrsg. von J. P. Mayer (zuerst 1929), New York 1963, S. 147 ff.; Gabriel Bonno, La constitution britannique devant l’opinion française de Montesquieu à Bonaparte, Paris 1931, Ndr. Genf 1970; Eberhard Weis, Geschichtsschreibung und Staatsauffassung in der französischen Enzyklopädie (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Abteilung Universalgeschichte, 14), Wiesbaden 1956, S. 135 ff., – und für den deutschsprachigen Kulturbereich die drei aus heutiger Perspektive nicht mehr genügenden älteren Arbeiten von Erich Witte, Die englische Staatsverfassung im Urteil der Deutschen des achtzehnten Jahrhunderts, phil. Diss. Leipzig 1929; Annelise Mayer, England als politisches Vorbild und sein Einfluß auf die politische Entwicklung in Deutschland bis 1830, phil. Diss. Freiburg i. Br. 1931; Hermann Christern, Deutscher Ständestaat und englischer Parlamentarismus am Ende des 18. Jahrhunderts, München 1939. – Zum Zusammenhang siehe auch die allgemeiner angelegte, materialreiche Studie von Michael Maurer, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 19), Göttingen/Zürich 1987. 2  Man denke nur an die berühmten Formulierungen Montesquieus, in: derselbe, Œuvres complètes, Roger Caillois (Hrsg.), Bde. I–II, Paris 1951, hier Bd. II, S. 407 (De l’esprit des lois, XI, 6): „Si l’on veut lire l’admirable ouvrage de Tacite sur les meurs des germains, on verra que c’est d’eux que les Anglois ont tiré l’idée de leur gouvernement politique. Ce beau système a été trouvé dans les bois“. – Zu Montesquieus Englandbild siehe auch Joseph Dedieu, Montesquieu et la tradition politique anglaise en France. Les sources anglaises de l’ ‚Esprit des lois‘, Paris 1909; Henri Puget, Montesquieu et l’Angleterre, in: La pensée politique et constitutionnelle de Montesquieu. Bicentennaire de l’Esprit des lois 1748–1948 (Travaux et recherches de l’Institut du droit comparé de l’Université de Paris, 8), Toulouse 1952, S. 275–311; Raymond Aron, Hauptströmungen des klassischen soziologischen Denkens: Montesquieu – Comte – Marx – Tocqueville, Reinbek bei Hamburg 1979, S.  34 ff.; Jean Jacques Granpré Molière, La théorie de la constitution anglaise chez



Andreas Riems Darstellung und Kritik der Verfassung von England 67

den anderen als „verhüllter Despotismus“, als ein geschicktes System der Knechtung breiter Bevölkerungsschichten unter Berufung auf vorgeb­ liche „Freiheiten“ des Volkes. Sah die eine Seite in der politischen Ordnung der britischen Inseln die Verwirklichung bürgerlicher Grundfreiheiten durch den erfolgreichen Kampf des Parlaments gegen die absolute, auf dem Kontinent noch weitgehend vorherrschende Macht der Krone, durch eine vorbildliche kommunale Selbstverwaltung, durch eine weitgehend unabhängige Justiz und nicht zuletzt durch eine beispiellos freie Presse und einflussreiche öffentliche Meinung, so machte die andere Seite die negative Rechnung auf und charakterisierte England als ein von drakonischen Strafgesetzen geknechtetes, von einer gewissenlosen, verschwenderischen und korrupten Adelsclique beherrschtes und von der Intoleranz einer autoritären Staatskirche unterdrücktes Land. 3

Im Allgemeinen überwog vor 1789 im deutschsprachigen Kulturbereich jedoch eine wohlwollende, zuweilen deutlich anglophile Darstellung und Interpretation der englischen Verfassung. Der hannoversche Staatsbeamte, spätere Kurator der Universität Göttingen und einflussreiche politische Schriftsteller Ernst Brandes veröffentlichte nach der Rückkehr von einer Reise auf die britischen Inseln eine Abhandlung „Ueber den politischen Geist Englands“, die 1786 in der „Berlinischen Monatsschrift“ erschien4 und die in der Tat zeigte, dass ihr Verfasser „den Geist der englischen Verfassung von innen her begriffen hatte, weit Montesquieu (Publications historiques de l’Université Leyde, 16), Leyde 1972; Lando Landi, L’Inghilterra e il pensiero politico di Montesquieu (Pubblicazioni della Università di Pavia. Studi nelle scienze giuridiche e sociali, N. S., 32), Padova 1981, sowie Sheila Mason, Montesquieu on English constitutionalism revisited: a government of potentiality and paradoxes, in: Studies on Voltaire and the eighteenth century 278 (1990), S. 105–146. 3  Zur Geschichte der auf Tacitus und die Tacitusrezeption seit dem Humanismus zurückgehenden Idee einer „germanischen Freiheit“ siehe aus der älteren Literatur Erwin Hölzle, Die Idee einer altgermanischen Freiheit vor Montesquieu. Fragmente aus der Geschichte politischer Freiheitsbestrebungen in Deutschland, England und Frankreich vom 16.–18. Jahrhundert (Beiheft 5 der Historischen Zeitschrift), München/Berlin 1925; wichtige Hinweise auch bei Karl H. L. Welker, Altes Sachsen und koloniales Amerika. Naturrechtsdenken und Tacitusrezeption bei Justus Möser, in: Rainer Wiegels/Winfried Woesler (Hrsg.), Arminius und die Varusschlacht. Geschichte  – Mythos  – Literatur, Paderborn/München/Wien/Zürich 1995, S. 323–344. 4  [ErnstBrandes], Ueber den politischen Geist Englands, in: Berlinische Monatsschrift, hrsg. v. F. Gedike und J. E. Biester, Bd. 7 (Januar–Juni 1786), S. 101– 126, 217–241, 293–323; zu Brandes siehe die grundlegende Monographie von Carl Haase, Ernst Brandes 1758–1810, Bde. I–II (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, 32), Hildesheim 1973–1974 sowie den folgenden Beitrag in diesem Band.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

tiefer, als irgendein Deutscher vor ihm“5. Gegen die „Mißdeutungen des Wortes Freiheit“ setzte Brandes seine eigene, am Beispiel der englischen Verfassung entwickelte Definition eines wahrhaft freien Gemeinwesens: Der freieste Staat sei „der, wo jeder nur denjenigen Theil seiner freien Handlungen aufopfert, den durchaus die Aufrechthaltung des gemeinen Wesens erfordert; wo solche Einschränkungen nicht auf eine parteiische sondern auf eine bestimmte allgemeine Weise geschehen, nur um damit die Summe der allgemeinen Glükseligkeit zu vermehren; wo in den Vor­ theilen, die Personen und Ständen ertheilt werden, nur Rüksicht auf feste Regierungsform und muthmaßliche Verdienste genommen wird; mit ­einem Worte, wo die meisten Kräfte sich neben einander entwickeln können.“ Dies alles geschehe, so Brandes weiter, „in England mehr als irgend­ wo“6. Gebhard August Friedrich Wendeborn, im vorletzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts als deutscher protestantischer Geistlicher in London tätig7, hatte bereits 1785, also ein Jahr eher als Brandes, den ersten Band  einer umfassenden und von den Zeitgenossen auch als überaus kenntnisreich gerühmten Darstellung über den „Zustand des Staates, der Religion, der Gelehrsamkeit und der Kunst“ im gegenwärtigen England veröffentlicht, in dem auch ein zwar nicht ausgesprochen unfreundlicher, aber eher sachlich-skeptisch gehaltener Abschnitt über die Verfassung des Inselreichs enthalten war8. Im Allgemeinen beschränkte sich dieser Autor auf eine möglichst präzise und ausführliche Deskription seines Gegenstandes, nicht ohne jedoch anzumerken: „Man mag […], wie besonders die Engländer thun, diese Regierungsform für ein Meisterstück des menschlichen Verstandes halten, so werden sich doch immer sehr sichtbare Gebrechen darin finden lassen“9, wobei Wendeborn vor allem die Mängel der vorhandenen parlamentarischen Repräsentation und nicht zuletzt auch die unter den Mitgliedern des Unterhauses weit verbreitete Korruption im Blick hatte10.

5  Haase,

Ernst Brandes (Anm. 4), Bd. I, S. 130. Zitate aus [Brandes], Ueber den politischen Geist (Anm. 4), S. 217. 7  Siehe über ihn vor allem Michael Maurer, Gebhard Friedrich August Wendeborn (1742–1811): Ein Aufklärer von kulturgeschichtlicher Bedeutung, in: Euphorion 82 (1988), S. 393–423; derselbe, Aufklärung und Anglophilie (Anm. 1), S. 218– 252. 8  Vgl. Gebhard Friedrich August Wendeborn, Der Zustand des Staats, der Religion, der Gelehrsamkeit und der Kunst in Grosbritannien gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts, [Bd. I], Berlin 1785, S. 1 ff., 57 ff. u. passim. 9  Ebenda, S. 58. 10  Vgl. ebenda, bes. S. 63 ff., 67 ff. u. a. 6  Beide



Andreas Riems Darstellung und Kritik der Verfassung von England 69

Ebenfalls 1785 (und in zweiter Auflage 1787) publizierte einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller der Aufklärung, Johann Wilhelm von Archenholz11, seine insgesamt fünf Bände umfassende Doppelmonographie über „England und Italien“, in deren erstem Teil er eine ausführliche Darstellung der politischen Ordnung des Inselreichs vorlegte. In seiner Bewertung der englischen Verfassung neigte Archenholz eher zu Brandes als zu seinem Konkurrenten Wendeborn; fast noch lauter als jener hannoversche Staatsbeamte sang der Preuße Archenholz das Loblied der britischen Freiheit: „die Einwohner Englands“ genössen „einer beneidenswerthen Glückseligkeit, deren Umfang von andern Nationen durchaus verkannt wird, da es schwer ist, selbst unter der sanftesten monarchischen Regierung, sich einen wahren Begriff von Nationalfreyheit zu machen, die auf die großen Rechte der Menschheit gegründet ist“12. Erschien ihm Großbritannien in den 1780er Jahren noch als Vorreiter im Kampf um eine vernunftgemäße politische Ordnung, um Menschen- und Bürgerrechte, so sollte Archenholz nach Ausbruch der Französischen Revolution seine Meinung nachhaltig ändern und zum unnachsichtigen Kritiker der englischen Verfassung werden13. An der starken Zeitwirkung seiner vielgelesenen Darstellung „England und Italien“ änderte dies freilich nur wenig. Hinter dem ausgeprägten Interesse, das keineswegs unbedeutende deutsche Autoren für diesen Gegenstand hegten, steckte natürlich mehr als bloße Neugier oder akademische Wissbegierde. Unzufriedenheit mit den überkommenen Strukturen der Verfassung des Alten Reiches, Kritik an den Zuständen in den häufig durch absolutistische Monarchen regierten deutschen Territorialstaaten, schließlich auch die Bewunderung für Montesquieu, der in seinem 1748 publizierten „Esprit des Lois“ die Verfassung Englands als Beispiel für den Idealtypus einer stabilen, aber jeden Despotismus und Absolutismus ausschließenden, sich durch sinnvolle Teilung der Gewalten auszeichnenden politischen Ordnung herausgestellt hatte14, – dies alles spielte eine wichtige Rolle. Auf der Suche nach 11  Über ihn siehe Friedrich Ruof, Johann Wilhelm von Archenholtz. Ein deutscher Schriftsteller zur Zeit der Französischen Revolution und Napoleons (1741– 1812) (Historische Studien, Bd. 131), Berlin 1915; jetzt besonders die treffliche Darstellung von Ute Rieger, Johann Wilhelm von Archenholz als „Zeitbürger“. Eine historisch-analytische Untersuchung zur Aufklärung in Deutschland (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 4), Berlin 1994; vgl. auch Maurer: Aufklärung und Anglophilie (Anm. 1), S. 182–217. 12  Johann Wilhelm von Archenholz, England und Italien, Bd. I, Carlsruhe 21787, S. 8; vgl. auch ebenda, S. 5 ff. 13  Vgl. Rieger, Johann Wilhelm von Archenholz (Anm. 11), S. 99 ff. 14  Siehe Montesquieu, Oeuvres complètes (Anm. 2), Bd. II, S. 396–407.  – Zur Montesquieu-Rezeption im deutschsprachigen Bereich siehe vor allem Rudolf

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

verfassungspolitischen Alternativen, nach Vorbildern für Reformvorhaben im eigenen Land richtete man immer wieder den Blick auf das Inselreich und dessen scheinbare oder auch wirkliche, jedenfalls vielbewunderte „Freiheiten“. II. Nur im Rahmen dieses Diskussionszusammenhangs ist die Darstellung und Kritik der Verfassung Englands zu verorten und überhaupt erst angemessen zu verstehen, die Andreas Riem in den zwei umfangreichen Bänden seiner „Reise durch England“ in den Jahren 1798 und 1799 der deutschsprachigen Öffentlichkeit vorlegte15. Die Reise selbst hatte Riem16 bereits 1785 unternommen, als er noch als Sekretär der Berliner Akademie der Künste amtierte, doch die Niederschrift war erst zwölf Jahre später erfolgt17. Die Erfahrungen eines ungewöhnlichen und überaus unruhigen Lebenslaufs haben sich in dem großen Reisewerk in durchaus auffälliger Weise niedergeschlagen, denn die „Reise durch England“ weicht an mehr als nur einem Punkt in markanter Weise ab von den in dieser Zeit üblichen Reisebeschreibungen deutscher Englandbesucher18. Vierhaus, Montesquieu in Deutschland. Zur Geschichte seiner Wirkung als politischer Schriftsteller im 18. Jahrhundert, in: derselbe, Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen, Göttingen 1987, S. 9–32, sowie Frank Herdmann, Montesquieurezeption in Deutschland im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert (Philosophische Texte und Studien, 25), Hildesheim/ Zürich/New York 1990. 15  Andreas Riem, Reisen durch Deutschland, Holland, Frankreich und England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht in den Jahren 1785, 1795, 1796 und 1797, Bde. IV–V: Reise durch England in verschiedener, besonders politischer Hinsicht, Bde. I–II, o. O. [Auf Kosten des Verfassers. In allen Buchhandlungen Deutschlands] 1798–1799; künftig zitiert als: Riem, Reise durch England I–II. 16  Zur Biographie Riems siehe vor allem die beiden Aufsätze von Ernst Merkel, Andreas Riem, Literat und Publizist, in: Frankenthal – Einst und jetzt, Nr. 1, April 1983, S. 2–7; derselbe, Andreas Riem in Berlin (1786–1795), in: Frankenthal – Einst und jetzt, Nr. 1, April 1985, S. 10–14; dagegen oberflächlich und fehlerhaft: Walter Grab, Riem, Andreas, in: Manfred Asendorf/Rolf von Bockel (Hrsg.), Demokratische Wege. Deutsche Lebensläufe, Stuttgart/Weimar 1997, S. 521–523. 17  Vgl. die entsprechenden Angaben in Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 10, 233. 18  Vgl. hierzu im allgemeinen Robert Elsasser, Über die politischen Bildungsreisen der Deutschen nach England (vom achtzehnten Jahrhundert bis 1815) (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, 51), Heidelberg 1917; William Douglas Robson-Scott, German Travellers in England 1400– 1800, Oxford 1953; Hans Jürgen Teuteberg, Der Beitrag der Reiseliteratur zur Entstehung des deutschen Englandbildes zwischen Reformation und Aufklärung,



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Das zeigt schon ein vergleichender Blick auf die Englandreise von Riems Kollegen und Nachfolger im Amt des Berliner Akademiesekretärs, Karl Philipp Moritz, die 1785 bereits in zweiter Auflage erschien19. Dieser kulturgeschichtlich wertvolle, nicht nur beschreibende, sondern ebenfalls auf hohem Niveau reflektierende Reisebericht, der übrigens auch in England selbst bedeutende Aufmerksamkeit fand20, gab einen kundigen und zudem gut geschriebenen Überblick zu Land und Leuten, Politik und Kultur des Inselreiches. Ein im eigentlichen Sinne politisches Buch lieferte Moritz freilich nicht. Seine Beschreibung einer Unterhaussitzung und einer Parlamentswahl beeindrucken zwar auch noch den heutigen Leser durch ihre Farbigkeit und Unmittelbarkeit, doch nur indirekt und an einer einzigen Stelle findet sich bei ihm ein  – auch eher zurückhaltend vorgetragenes  – Lob britischer Freiheit21. Andreas Riem indes war bestrebt, sich von Englandbeschreibungen in der Art von Moritz – Riem nennt ihn abschätzig „Sankt Moriz“22  – deutlich abzusetzen, und nach Form, Inhalt und Umfang ist seine „Reise durch England“ denn auch fast als diametraler Gegenentwurf zu Moritz’ Bericht anzusehen.

in: Antoni Maczak/Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung (Wolfenbütteler Forschungen, 21), Wolfenbüttel 1982, S.  73–113. Ertragreich auch der Sammelband: „Der curieuse Passagier“  – Deutsche Eng­ landreisende des achtzehnten Jahrhunderts als Vermittler kultureller und technologischer Anregungen, Heidelberg 1983; Maurer, Aufklärung und Anglophilie (Anm. 1), S. 22 ff.; ebenfalls derselbe, Reiseberichte  – ein Königsweg in die Geschichte?, in: derselbe (Hrsg.): O Britannien, von deiner Freiheit einen Hut voll. Deutsche Reiseberichte des 18. Jahrhunderts, München/Leipzig/Weimar 1992, S. 7–39. 19  Karl Philipp Moritz, Reisen eines Deutschen in England im Jahr 1782, hrsg. v. Otto zur Linde (Deutsche Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts, hrsg. v. August Sauer, Bd. 126/III. F. Bd. 6), Berlin 1903; vgl. dazu auch den Hinweis bei Maurer, Aufklärung und Anglophilie (Anm. 1), S. 25, sowie Gerhard Sauder, Reisen eines Deutschen in England im Jahre 1782: Karl Philipp Moritz, in: „Der curieuse Passagier“ (Anm. 18), S. 93–108. 20  Siehe dazu die Hinweise des Hrsg. Otto zur Linde, in: Moritz, Reisen eines Deutschen (Anm. 19), S. XIX ff. 21  Vgl. Moritz, Reisen eines Deutschen (Anm. 19), S. 38: „[…] wenn man hier siehet, wie der geringste Karrenschieber an dem was vorgeht seine Theilnehmung bezeigt, wie die kleinsten Kinder schon in den Geist des Volks mit einstimmen, kurz, wie ein jeder sein Gefühl zu erkennen giebt, daß er auch ein Mensch und ein Engländer sey, so gut wie sein König und sein Minister, dabei wird einem doch ganz anders zu Muthe, als wenn wir bei uns in Berlin die Soldaten exerciren sehen“. 22  Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. II, S. 56; vgl. auch die Bemerkungen ebenda, Bd. II, S. 318 f.

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Seine Leser dürften, bemerkt Riem schon am Beginn seiner Darstellung, „keine Beschreibung von Kirchen etc. eben so wenig von Dingen erwarten […], die sie bereits in manchen andern Reisen gelesen haben, und deren Wiederholung zu nichts weiter dienen würde, als sie ebendasselbe, was sie bereits oft genug bezahlt haben, aufs neue bezahlen zu lassen“23. Riems „Reise durch England“24 enthält also kaum deskriptive Passagen, die auf eigene Erlebnisse zurückgehen25. Sie stellt im Kern eine Kompilation von Informationen dar, die aus anderen Büchern – und zwar in reichlich willkürlicher Weise – zusammengetragen und miteinander verbunden worden sind. Es versteht sich, dass diese Literatur nur sehr selektiv und ausschließlich im Sinne der anglophoben Intentionen des Autors ausgewertet worden ist. Die beiden Hauptquellen Riems, auf die er immer wieder  – zuweilen in seitenlangen Zitaten  – zurückgreift, sind zum einen Wendeborns „Zustand des Staats, der Religion, der Gelehrsamkeit und der Kunst in Grosbritannien gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts“26, und zum anderen ein ins Deutsche übersetztes Pamphlet des englischen Radikalen James Thomson Callender27, dessen 23  Ebenda,

Bd. I, S. 21 f. der bisherigen Forschungsliteratur hat Riems „Reise durch England“ allenfalls geringe Beachtung gefunden; vgl. etwa Elsasser, Über die politischen Bildungsreisen (Anm. 18), S. 72–75; Erich Witte, Die englische Staatsverfassung im Urteil der Deutschen des achtzehnten Jahrhunderts, phil. Diss. Leipzig 1929, S. 104–107; Annelise Mayer, England als politisches Vorbild und sein Einfluß auf die politische Entwicklung in Deutschland bis 1830, phil. Diss. Freiburg i. Br. 1931, S. 28; Sisko Haikala, „Britische Freiheit“ und das Englandbild in der öffentlichen deutschen Diskussion im ausgehenden 18. Jahrhundert (Studia Historica Jyväskyläensia, 32), Jyväskylä 1985, S. 169, 171, 187 f., 215, 220. 25  Nur wenige Abschnitte und einzelne Passagen bilden hier eine Ausnahme; siehe etwa Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 3 ff.; Bd. II, S. 312 ff. 26  Siehe oben, Anm. 8. 27  [James Thomson Callender], Groß-Britanniens Fortschritte in der Staatskunst oder unpartheyische Geschichte der Mißbräuche bey der Regierung des brittischen Reichs, Cöln 1796. Siehe auch den knappen Artikel von Francis Watt, Callender, James Thomson (d. 1803), in: Dictionary of National Biography, Bd. III, London 1921, S. 711 f.; es scheint sich bei Callender um einen sehr ähnlichen Charakter wie Riem gehandelt zu haben, jedenfalls sagt Watt von ihm: „He was a bitter writer; he was continually in want of money […]“ (ebenda, S. 711); auch beider Lebensläufe ähneln sich. Wie überliefert ist, wurde der Schotte Callender 1793 – wegen der im Jahr zuvor erfolgten Publikation seines „Political Progress of Britain“  – in London inhaftiert. Nach seiner Flucht gelangte er in die Vereinigten Staaten; zeitweilig scheint er sich auch in Deutschland aufgehalten zu haben. In Philadelphia und Richmond/Virginia gab er politische Zeitschriften heraus, in denen er, von Jefferson unterstützt, einen publizistischen Kampf gegen Washington und John Adams führte; nach einem Zerwürfnis mit seinem Förderer wechselte er allerdings die Seite. 1803 ertrank er im James River bei Richmond (nach den Angaben ebenda). Siehe auch Durey, Michael, „With the Hammer of Truth“ – James 24  In



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Inhalt Riem für die Auffüllung seiner mehr als eintausend Druckseiten umfassenden „Reise“ geradezu geplündert hat28. Wendeborn wird von Riem ausdrücklich nicht nur als „philosophischer und unpartheiischer Beobachter“ gelobt, sondern ebenfalls als „mein würdiger Freund“ bezeichnet, dessen „vortreffliche[s] Werk“29 in seiner Art einzigartig und vorbildlich sei, und zu Callender wird angemerkt, dessen „merkwürdige“ (also: bemerkenswerte) Schrift verfüge über den – von Riem ausdrücklich lobend hervorgehobenen – Vorzug, dass sie „viele Mißbräuche der englischen Verfassung“30 rüge. Sonst hat Riem die allerdings sehr ausgedehnte Literatur zum Thema nur in recht selektiver Weise für seine Darstellung verwendet; da seine Angaben im Text und in den eher spärlichen Fußnoten teilweise sehr rudimentär und ungenau ausgefallen sind, dürfte sich nicht mehr alles von ihm herangezogene Material rekonstruieren lassen. Immerhin hat er sowohl einzelne englische Schriftsteller, darunter vor allem Juristen und Nationalökonomen, in der Originalsprache gelesen und ausgewertet, so etwa Sir William Blackstone, James Burgh, Edmund Burke, George Chalmers, Dr. Samuel Johnson, Sir William Petty, Malachy Postlethwayt, John Shebbeare, John Sinclair31, wie er andererseits besonders prominente Thomson Callender and America’s Early National Heroes, Charlottesville/London 1990. 28  Zu Wendeborn siehe die Erwähnungen und z.  T. seitenlangen Zitationen in Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 23, 27 ff., 43, 48, 53, 116 ff., 121, 126, 162, 203 ff., 210 ff., 223 f., 433 ff., 433 f., 480 f., 499, 520 ff., 531, 534 f., 545 ff., 562 f., 576 ff., 588 ff., 594, 681; Bd. II, S. 17, 19, 76, 309 u. a.; zu Callender siehe ebenda, Bd. I, S. 51, 130, 169, 189, 192, 195, 222, 229, 406 ff., 414 ff., 437 ff., 450 ff., 456 ff., 470 f., 652 ff., 682; Bd. II, S. 120 ff., 145 ff., 275 f. u. a. 29  Die Zitate ebenda, Bd. I, S. 53, 43, 48; vgl. auch ebenda, S. 116, 433 f., 681. 30  Ebenda, Bd. I, S. 682. 31  Es lassen sich aus Riems Angaben  – ebenda, Bd. I, S. 157 ff., 447, 492 ff., 503, 530, Bd. II, S. 274 f. (Blackstone); Bd. I, S. 101, 165, 201 f. (Burgh); Bd. I, S. 234 f., Bd. II, S. 30, 91, 298 (Burke); Bd. I, S. 411 (Chalmers); Bd. I, S. 464 (Dr. Johnson); Bd. I, S. 129 (Petty); Bd. I, S. 87 (Postlethwayt); Bd. I, S. 176 (Shebbeare); Bd. I, S. 84, 109 f., 133, 152, 166, 682, Bd. II, S. 142 (Sinclair) – die folgenden Titel rekonstruieren: Sir William Blackstone, Commentaries on the Laws of England, Bde. I– IV, London 1765–1769 u. ö.; James Burgh, Political Disquisitions: or, an Enquiry Into Public Errors, Defects and Abuses, etc., Bde.  I–II, o. O. 1774–1775; Edmund Burke, Speech on Presenting the House of Commons (on the 11th February, 1780) a Plan for the Better Security of the Independence of Parliament, and the Eco­ nomical Reformation of the Civil and Other Establishments, London 1780, neu abgedruckt in: Edmund Burke, The Works in Twelve Volumes, Bd. II, London 1887, S. 265–364; George Chalmers, An Estimate of the Comparative Strength of GreatBritain, during the Present and Four Preceding Reigns, and the Losses of her Trade from Every War Since the Revolution, new. ed. London 1794; Dr. Samuel Johnson, A Journey to the Western Islands of Scotland, Dublin 1775 u. ö.; Sir Wil-

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britische Autoren nach zeitgenössischen deutschen Übersetzungen anführt – so etwa Oliver Goldsmith, David Hume, Adam Smith und Tobias Smollett32. Auch der Name Swift wird einmal (leider jedoch ohne weitere Angaben) erwähnt33. Als deutsche Gewährsleute führt Riem lediglich die bereits genannten Wendeborn, Archenholz und Moritz an34. Jedem Leser von Riems „Reisen in England“ muss sofort die maßlose und von jeder Zurückhaltung freie, an Schärfe kaum noch zu überbietende Polemik sowohl gegen den englischen Staat wie gegen die Engländer selbst auffallen, die von Anbeginn an den Tenor der Darstellung bestimmt und sich über die gesamte umfangreiche Schrift hinzieht. Habsucht und Grobheit seien die Hauptcharakterzüge der Briten, wie Riem gleich in den einleitenden Passagen seines ersten Bandes feststellt: „Ein Paradies Gottes ist hier [in Großbritannien, H.-C.K.] mit einer Abart von Menschheit angefüllt, die man persönlich muß kennen lernen, um sie zu verachten. Stolz und Unwissenheit; Brutalität und Reichthum, der sonst die Sitten mildert und wohlthätige Gefühle erregt, hier aber bloß die ­Haabsucht vorwärts spornt; Dreistigkeit und Betrug, im Gefolge eines wilden rohen Benehmens, und nur in der Hauptstadt verfeinert, wo der Charakter gemischter ist; das Laster in seiner rohesten Ausgelassenheit und bis zur Infamie wachsend; Vergessenheit aller Schaam […]“35 usw. Auch das in der späteren antibritischen Propaganda des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts so einflussreiche Klischee des „Krämervolliam Petty, Political Arithmetick, or a Discourse Concerning the […] Value of Lands, People, etc., London 1690 u. ö.; vermutlich: Malachy Postlethwayt, Britain’s Commercial Interest Explained and Improved; in a Series of Dissertations on Sev­ eral Important Branches of her Trade and Police, Bde. I–II, London 1757; John Shebbeare, A Letter to the People of England, on Foreign Subsidies, Subsidiary Armies, and their Consequences to this Nation, o. O. 1755 (bis 1770 erschienen aus Shebbeares Feder noch sieben weitere „Letters“); John Sinclair, The History of the Public Revenue of the British Empire, Bde. I–III, London 1785–1790 u. ö. 32  Vgl. Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. II, S. 143 (Goldsmith); Bd. I, S. 416, Bd. II, S. 285 f. (Hume); Bd. I, S. 35, 46, 52 ff., 127, 129, 224, 261, Bd. II, S. 298 (Smith); Bd. II, S. 163 (Smollett).  – Hiernach lassen sich ermitteln: Oliver Gold­ smith, Geschichte von England, Bde. I–II, Leipzig 1774–1776; diverse zeitgenössische deutsche Übersetzungen gibt es von David Hume, Geschichte von England, Bde. I–IV, Breslau 1767–1771, Bde. I–II, Leipzig 1777–1780, unter dem Titel: Geschichte von Großbritannien, Bde. I–II, Berlin 1762–1763; das gleiche gilt für Adam Smith, Untersuchung der Natur und Ursachen von Nationalreichthümern, Bde. I–II, Leipzig 1776–1792; sowie: Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichthums, Bde. I–IV, Breslau 1794–1796; Tobias Smollett, Reisen durch Frankreich und Italien etc. in Briefen, Bde. I–II, Leipzig 1767. 33  Vgl. Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 53. 34  Siehe oben die Anm. 8, 12, 19. 35  Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 17 f.



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kes“ findet sich bereits bei Riem36, der seiner offen ausgesprochenen Verachtung für die britischen „Barbaren“ übrigens auch an keiner anderen Stelle seines Werkes Zurückhaltung auferlegt37. Noch der zweite Band der „Reisen“ quillt über vor Invektiven gegen die vermeintliche Dummheit und Unbildung, den Mangel an Ehrlichkeit und Ehrgefühl, die Neigung zur Ausschweifung und Bigotterie, schließlich gegen die Verschwendungssucht der Engländer38. Seine eigenen Erfahrungen mit diesem Volk resümiert Riem hier mit der ihm eigenen Drastik, die in der damaligen Literatur wohl selten überboten worden sein dürfte: „Der betrogene Leser [von zeitgenössischen anglophilen Schriften, H.-C.K.] eilt nach England, um das Göttervolk von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen und zu bewundern, und er findet ein ungeschliffenes, grobes, alle Fremden verachtendes, hochmüthiges, ausschweifendes, wollüstiges, bigottes Volk, das stärker an die Heiligkeit des Sonntages glaubt, als der Jude an jene des Sabbaths; das aus Habsucht mordet, zu Pferd und zu Fuß stiehlt und Straßenraub treibt; aus Religionswuth mordbrennt; Nationen vernichtet; Menschenrechte unterdrückt; seine vernünftigen Bürger deportirt; dem Menschenverstand Hohn spricht, und wenn es Niemanden [sic] mehr schaden kann, sich zuletzt selbst ermordet“39. Der genauen Schilderung der Misshandlung der Schotten, Iren und Inder durch die Engländer widmet Riem

36  Vgl. ebenda, Bd. I, S. 427: „Alle spricht von Commerce, als der Seele der brittischen Staatsverfassung, selbst seine Gesetze verrathen den Krämer allenthalben.“ 37  Vgl. ebenda, Bd. I, S. 657 f.: „Eigennutz und Habsucht ersticken alle Gefühle von irgend einem andern Gehalt, das nicht nach laufender Münze geschätzt werden kann. Menschlichkeit und Gefühl muß einem solchen Volke Schwachheit zu seyn dünken  – Uneigennützigkeit, die rasendste Thorheit seyn, und Tugend ein Lumpending, wenn sie nichts einbringt. Es ist zwar vorzüglich also bei den Britten, weil sie den meisten europäischen Nationen, sowohl an moralischer, als sonstiger Bildung, weit nachstehen, und wirklich noch etwas mehr als plumpe, grobe, ungeschliffene, arrogante, halbwilde Barbaren sind, die in guten Sitten und Lebensart hinter den meisten Europäern zurück sind […]“. 38  Vgl. ebenda, Bd. II, S. 105 ff. (S. 106: „krasse Finsterniß in der Theologie und Philosophie […] Geschwätzigkeit in ihren neuern Romanen […] Eigendünkel ]…[“ usw.); S. 111 („die zwei Gottheiten der Engländer, Gold und Wollust […]“); S. 128 ff. (S. 128: „notorische[…] Schamlosigkeit und Mangel an wahrem Ehrgefühl des englischen Volks“, S. 129 f.: „[…] unermeßlichste Verschwendungssucht und die Bereitwilligkeit, durch die schändlichsten Bemühungen sein Glück wiederherzustellen, um aufs neue sich allen Lastern der Ueppigkeit ergeben zu können“); S. 161 ff. (S. 162: „Bestechungssucht“, „Despotismus“, „Grausamkeit in Indien“, „Verachtung guter Sitten“ usw.). 39  Ebenda, Bd. II, S. 147 f.

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ausführliche Passagen40 seiner Darstellung. Den Höhepunkt bildet allerdings eine an Abenteuerlichkeit kaum zu überbietende „Berechnung“ der Opfer englischer „Mordthaten“ seit dem Ende des 17. Jahrhunderts: die „Generalsumme aller durch großbritannische Kriege, Verheerungen u.  dgl. vernichteten Menschen Leben“ belaufe sich auf die Zahl von „42,500,000“41,  – doch er geht noch weiter: „Angenommen, daß die Bevölkerung von jedem dieser, in blühender Jugend, oder angehendem Mannes-Alter erschlagener, innerhalb dem Zeitraum von hundert Jahren nicht mehr als zwei Menschen zu erwarten gehabt hätte, so macht sich die Totalsumme aller Ermordeten 127,500,000 Menschen“42. „Berechnungen“ dieser Art trug Riem tatsächlich mit vollem Ernst vor, und es dürfte aus heutiger Perspektive schwer abzuschätzen sein, wie der damalige ­Leser auf Abstrusitäten dieser und ähnlicher Art reagiert hat. Vermutlich aber wird Riems Glaubwürdigkeit schon damals angesichts derartiger, so offenkundiger Übertreibungen durchaus umstritten gewesen sein. Besonders breiten Raum widmet Riem einer ausführlichen und sehr umfassenden Kritik der Wirtschaftspolitik Großbritanniens seit dem frühen 18. Jahrhundert. In Anknüpfung auch an die Thesen einzelner zeitgenössischer englischer Autoren kritisiert er massiv die Schuldenwirtschaft, die hohen Kriegsausgaben und die angebliche „rasende VerschwendungsSucht“ der britischen Regierungen, die zum Ruin der Landwirtshaft und zur Verarmung breiter Bevölkerungsschichten geführt habe43. Die finanziellen Manipulationen der englischen Schatzkanzler und ihrer Helfershelfer, mit denen man „sich über andere wichtigere Monarchen Europens, durch Verschwendung“ hinwegsetze, seien nichts anderes als „eine schönspielende Seifenblase, die gar jämmerlich zerplatzen wird“44. Einen baldigen englischen Staatsbankrott meinte Riem bereits als selbstverständliche Tatsache ansehen zu können. 40  Vgl.

ebenda, Bd. I, S. 432 ff., 466 ff. u. a. Bd. I, S. 460. 42  Ebenda, Bd. I, S. 460 f. 43  Vgl. dazu u.  a. ebenda, Bd. I, S. 26 ff., 105 ff., 131 ff., 148 ff., 246 ff., 260 ff. u. passim; zum Zusammenhang der englischen Diskussion siehe die vorzügliche, viel Material bietende Studie von Clemens Picht, Handel, Politik und Gesellschaft. Zur wirtschaftspolitischen Publizistik Englands im 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 33), Göttingen/Zürich 1993. 44  Vgl. Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 185; vgl. auch ebenda, S. 95 f.  – Scharfe Kritik an der zeitgenössischen englischen Finanz- und Wirtschaftspolitik übte Riem auch in einzelnen Beiträgen für seine gleichzeitig erscheinende Zeitschrift „Europens politische Lage und Staats-Interesse“, so im 6. Heft (1797), S. 3 ff. und im 11. Heft (1798), S. 46 ff.; breite Passagen hieraus hat er in der „Reise durch England“ erneut abgedruckt. 41  Ebenda,



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III. Unter diesen Voraussetzungen verwundert es nicht, dass auch Riems Ausführungen über Formen und Inhalte der englischen Verfassung im Tenor schärfster Kritik und nicht selten mit maßloser Polemik vorgetragen wurden. So scheut er sich denn auch an zentraler Stelle seines Werkes nicht, „die Bemerkung zurückzuhalten, daß Großbritanniens RegierungsVerfassung von allen bekannten, bei weitem die schlechteste sey“45. Und der Beweisführung zur Begründung dieser Behauptung sind in der „Reise durch England“ ausgedehnte Abschnitte und breite Erörterungen gewidmet. Die Passagen über den Reichtum, den verfassungsmäßigen Rang sowie die politische Stellung und Bedeutung des Königs geben die Blickrichtung vor, aus der heraus die Verfassung von England dargestellt und interpretiert wird.  – Der Inhaber der britischen Krone ist nach Riem vor allem deshalb der reichste Monarch der Welt, weil in Großbritannien die „öffentlichen Einkünfte […] mit einer Tyrannei erhoben werden, deren sich der entschiedenste Despot schämen würde“46. Seine Einkünfte beliefen sich auf zwei Millionen Pfund Sterling47, die ausschließlich der  – jedes Maß übersteigenden – Verschwendungssucht des königlichen Hofes zu dienen hätten48. Während „königlicher Verstand und weise wohlthätige Regierung einem Monarchen wirkliche Würde giebt und wahre Achtung und Liebe verschafft“, umgebe sich der König von England hingegen mit einer Schar habgieriger Hofschranzen und Schmarotzer. Riem resümiert: „Unglücklicher Monarch und Staat, der sich hinter eine verächtliche Rotte von nichtswürdigen Müßiggängern verkriechen muß, um den Schein von Größe von Abgeschmacktheiten zu erborgen, die der gesunde Verstand ihm versagt, und eine edle Denkungsart verachtet! Die

45  Riem,

Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 396. Bd. I, S. 160; vgl. ebenda, S. 544 f.: „Betriegen die königlichen Taxensammler die Casse, so muß das gesammte Kirchspiel noch einmal bezahlen, und dem Könige alles vergüten. So weit treibt man es kaum in der Türkei“. 47  Vgl. ebenda, Bd. I, S. 544. 48  Vgl. ebenda, Bd. I, S. 163 f.: „Der größte König braucht, der Erfahrung zufolge, am wenigsten; der König von England aber unter allen gekrönten Häuptern am meisten. Man will behaupten, daß weder der große Mogol, noch der Dalai-Lama, ob dieser gleich aus D–ck Geld machen kann, auch nicht der große Sultan, eben so wenig die Kaiser in Europa, so viel für ihre Privat-Bedürfnisse von ihrer Nation verlangten, als der Beherrscher von sieben bis acht Millionen Menschen, von denen bereits zwei Millionen betteln gehen, und vielleicht nichts essen, damit es dem goldenen Service zu St. James’s nicht an Gerichten fehle, welche der brittischen Nation Ehre machen“. 46  Ebenda,

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wahre Liebe des Volks, die ernstliche Achtung der Weisen verschaffen solche Thorheiten nie“49. Natürlich kommt Riem nicht umhin, in seinem Abschnitt über die verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten des britischen Monarchen auch dessen Throneid zu erwähnen: Jeder König von England, der den Thron besteigt, muss feierlich schwören, sein Reich nach den Gesetzen und Gewohnheiten des Landes sowie nach den Statuten des Parlaments zu regieren; außerdem verpflichtet ihn sein Eid, dass er in den Gerichten seines Landes Recht und Gerechtigkeit, auch Barmherzigkeit walten lasse, dass er schließlich die Rechte der Kirche von England und die Grundlagen des protestantischen Bekenntnisses achten und schützen werde50. Der Autor kommentiert dies mit den für ihn bezeichnenden Formulierungen: „Diesem feierlichen Versprechen zufolge, sollte man denken, daß entweder viele englische Könige Meineid für keine Sünde halten, oder daß alle Beschwerden grundlos und erdichtet sind, von denen alle englischen Schriften angefüllt sind“51. Was hiermit gemeint ist, erläutert Riem gleich anschließend, indem er aus den königlichen Rechten, die dem britischen Monarchen zustehen, schließen zu können meint, dieser werde hierdurch „zu einer wahren Gottheit“52 erhoben. Zu dieser grandiosen Fehleinschätzung wird der Autor durch sein völliges – vielleicht nicht absichtsloses – Missverstehen der alten Idee von den „zwei Körpern des Königs“ veranlasst, die zwischen der immerwährenden und kontinuierlich bestehenden Institution eines konkreten Königtums einerseits und der zeitlichen Persönlichkeit des einzelnen Monarchen als eines fehlbaren menschlichen Individuums andererseits unterscheidet53. Der nur auf diesem Hintergrund zu verstehende  – von Riem so hart und unnachsichtig attackierte  – englische Grundsatz „the King can do no wrong“ betrifft selbstverständlich nur den ewigen König, die Institution des britischen Königtums, nicht jedoch das einzelne königliche Individuum als politisch handelnder Mensch selbst. Das Königtum als solches kann sich  – auch wenn schwere Missgriffe seines jeweiligen personalen Inhabers geschehen – nicht durch unrechtmäßige Handlungen diskreditieren oder in Frage stellen. 49  Ebenda,

Bd. I, S. 167 f. ebenda, Bd. I, S. 527 ff. 51  Ebenda, Bd. I, S. 529. 52  Ebenda, Bd. I, S. 534. 53  Die immer noch grundlegende Monographie zu diesem Thema, das hier nicht weiter erörtert werden kann, ist: Ernst H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957; dt.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990. 50  Vgl.



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Riem meint auch hier nur die denkbar schlimmsten Folgerungen herauslesen zu können: „[…] glauben zu sollen, der König könne nichts Böses thun, ja nicht einmal denken, ist eine Anmuthung der äußersten Ungereimtheit, die um so viel thörichter wird, als ein Gesetz sie gebietet. Mehr noch, dieses Gesetz ist eine Beleidigung der königlichen Ehre und Würde“; in keinem anderen monarchisch regierten Land könne man finden, „daß irgend ein Monarch, um sich Achtung zu verschaffen, sich hinter einem Gesetze dieser Art verkrieche; nein! der gute Monarch sucht sie in seiner Regierungsweise und als persönliches Verdienst“54. Auch Riems weitere Ausführungen zeigen, dass er den Sinn dieser Bestimmung nicht einmal im Ansatz verstanden hat, denn er vermag hierin nur eine Art Freibrief für despotisches Handeln zu sehen: „Erklärt das Gesetz dem Monarchen einmal, daß alles gut sey, was er thue, so ist die Verletzung der Nationalrechte auch eine gute Handlung“; und er fragt: „Wie dann, wenn es dem König einmal einfiele, in Person zu erklären, daß er die Vorrechte des Volks für null und nichtig erkläre,  – hat die Nation dann ein Recht, sich dem Könige zu widersetzen, da auch diese Handlung gut und recht seyn muß, wenn das Gesetz gültig bleiben soll?“55 Den eigentlichen verfassungspolitischen Sinn der in England möglichen Anklage eines königlichen Ministers durch das Parlament verkehrt Riem ebenfalls in sein Gegenteil: diese Regel diene nur dazu, mögliche Untaten des Königs zu decken und formaljuristisch zu ahnden, ohne den eigentlich Schuldigen, den Monarchen nämlich, heranziehen zu können56. Denn „hängt die Nation ein Dutzend Minister auf, so kann der König doch immer fortfahren, gegen die Constitution zu conspiriren, denn alles was er thut ist recht und gut; und was fragt ein Tyrann nach einem Dutzend Minister?“57 Riem wollte oder konnte nicht wahrnehmen, dass die Bedeutung der Ministeranklage gerade dem Gegenteil  – der Beschränkung monarchischer Macht  – dienen sollte: Da der König nicht selbst, sondern nur durch seine Minister regieren konnte, musste er sich solche wählen, die sich auf parlamentarische Mehrheiten stützen konnten oder es doch wenigstens niemals riskieren durften, vom Parlament (das Unterhaus fungierte in einem solchen Prozess als Ankläger, das Oberhaus als Richter) für politische Handlungen ihrer Regierung zur Rechenschaft gezogen zu werden. Riem dagegen zieht vollkommen entgegengesetzte Schlussfolgerungen: Nur der König sei „eigentlich Herr der 54  Die

Zitate aus Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 537 f. Zitate ebenda, Bd. I, S. 539 f. 56  Vgl. ebenda. Bd. I, S. 538; der Minister sei also nicht viel mehr als „eine bloß passive Maschine in der Hand des Königs“ (ebenda). 57  Ebenda, Bd. I, S. 539. 55  Beide

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Nation“, und es müsse als unleugbar angesehen werden, „daß die gegenwärtige Verfassung eigentlich ganz monarchisch, und indirekter Despotismus ist. Das Große der Geschäffte, die eigentliche ganze Regierung des Reichs, hängt von der bloßen Willkühr des Königs ab“58. IV. Der  – nach dem König  – zweite Verfassungsfaktor: das Oberhaus und der in diesem vertretene Adel sowie der Klerus der anglikanischen Staatskirche, kommen in Riems „Reise nach England“ ähnlich schlecht weg wie die monarchische Spitze. Seine Formulierungen lassen an Drastik und Deutlichkeit auch hier kaum etwas zu wünschen übrig: Die Habsucht – nichts weniger als „die herrschende Tugend der Britten“ – mache „aus Adel und Geistlichkeit eine schaamlose Caste von offenbaren Staatsverräthern, welche die Plünderung der Nation mit den Ministern der Krone theilen“59. Die Mitwirkung des Adels wirke sich für das gesamte Gemeinwesen verheerend aus, da der „allein nützliche“ Bürgerstand „unter dem Hochmuthe dieser wahren Räuberbande […] nieder­ gedrückt“60 und um seinen berechtigten Anteil an der politischen Macht im Staat gebracht werde. Und der Verfasser der „Reise durch England“ macht auch aus seiner ganz persönlichen strikten Abneigung gegen den Adel keinerlei Hehl61. Mit dieser Haltung bezeichnet er einen der beiden extremen Pole, zwischen denen sich die Adelsdiskussion im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts bewegte62.

58  Ebenda,

Bd. I, S. 543. Bd. I, S. 554. 60  Ebenda, Bd. I, S. 555. 61  Vgl. besonders ebenda, Bd. I, S. 555 f.: „Ueberall  – ich gestehe es  – habe ich nirgends die mindeste Achtung für Adel, und jene precairen Vorzüge von Titeln. Ich habe nie in dem Coadjutor von Dahlberg, den Coadjutor, oder den Herrn von Dahlberg geachtet, sondern den Mann von Verdiensten und Kenntnissen. Der Vernünftige muß nothwendig eine an Haß grenzende Verachtung gegen einen Stand haben, der, im Durchschnitt genommen, den unmoralischsten und verworfensten Theil der Menschheit enthält.“ 62  Siehe dazu u. a. Johanna Schultze, Die Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum in den deutschen Zeitschriften der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts (1773–1806) (Historische Studien, 163), Berlin 1925; aus der neueren Forschung: Armgard von Reden-Dohna (Hrsg.): Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Abt. Universalgeschichte, Beiheft 10), Wiesbaden 1988; Elisabeth Fehrenbach/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848 (Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien, 31), München 1994; dort jeweils weitere Literaturangaben. 59  Ebenda,



Andreas Riems Darstellung und Kritik der Verfassung von England 81

Für Riem stellt der Adel nichts weniger als eine „Eiterbeule am Staatskörper“63 dar, ein Geschwür und damit einen Gefahrenherd für das Gemeinwesen, dessen sich ein aufgeklärter Monarch so bald als möglich entledigen müsse. Massiv polemisiert Riem an dieser Stelle gegen Montesquieus berühmte These, der Adel habe „pouvoir intermediaire“, also vermittelndes und ausgleichendes Bindeglied zwischen Krone und Volk zu sein64; für den Autor der „Reise in England“ trifft das exakte Gegenteil zu; er versucht seine Leser vom Gegenteil zu überzeugen: „Wenn die Fürsten bedächten, daß all dieses träge, arbeitsscheue, hochmüthige, räuberische adliche Volk eine mächtige Barriere zwischen sie und die Liebe ihrer Völker ziehe, […] bei Gott! sie würden das niedrige Sklavengesindel von Adel, das wie giftiges Ungeziefer um ihren Thron kriecht, und den Glanz der schönsten Krone beschmeißt, durch Häscher und Büttel zu allen T–f–n jagen lassen“65. Genaugenommen, so Riem weiter, sei niemand anderer als der Adel der eigentliche Urheber aller neueren Umsturzbewegungen, und er werde auch der wichtigste und zentrale Verantwortliche für alle demnächst zu erwartenden und künftigen Revolutionen sein66. Mit den hohen Geistlichen der englischen Staatskirche geht Riem ebenfalls nicht sehr viel freundlicher um. Zuerst einmal wird der Klerus als raffgierig und verschwenderisch denunziert; allein drei Millionen Pfund Sterling verschlinge jährlich die anglikanische Kirche67, und die „Civilliste“ des obersten englischen Geistlichen, des Erzbischofs von Canterbury, übertreffe „bei weitem die mancher königlicher Kronprinzen in Europa“68. Besonders nachhaltig geißelt Riem das anglikanische Pfründenwesen, also „Aemter […] ohne Arbeit, welche dem Staate zur Last fallen, ohne ihm einigen Nutzen zu verschaffen; ja die oft demselbigen um so viel nachtheiliger werden, als die damit verbundene Arbeit von andern versehen wird, welche der Staat ganz eigens und neben jenen 63  Riem,

Reise durch England (Anm.15), Bd. I, S. 557. Montesquieu, OEuvres complètes (Anm. 2), Bd. II, S. 247 (De l’esprit des lois, IV, 2). 65  Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 560 f. 66  Vgl. ebenda, Bd. I, S. 561: „Man nennt den Adel die Stütze der Thronen.  – Den französischen, polnischen, holländischen und italienischen, aller verjagten Fürsten, haben die Adelichen umgestürzt, indem sie die Regenten vom Volke, und das Volk von den Regenten entfernten, die sie ganz umlagerten; und niemand als der Adel, der alle Rechte des Menschen und Bürgers verachten muß, weil sie ihm sonst gleich seyn würden. Niemand als der Adel wird Schuld seyn, wenn mehrere Nationen die Thronen zertrümmern, und alle Adliche – nach Volhynien schicken, um Ochsen und Säue zu mästen, und Stutereien wilder Pferde zu pflegen“. 67  Vgl. ebenda, Bd. I, S. 206. 68  Ebenda, Bd. I, S. 207. 64  Vgl.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

Summen besolden muß“69. Diese Polemik nimmt sich, nebenbei bemerkt, in Riems Mund ein wenig seltsam aus, da er doch selbst einige Jahre von einer Kanonikatspfründe gelebt hat und noch auf die Titelseite des ersten Bandes seiner „Reise durch England“ den Autorenvermerk „Von dem Canonicus Riem“ setzen ließ. Übrigens hatte Riem bereits im zweiten „Fragment“ seiner 1788 erschienenen Schrift „Ueber Aufklärung“ die Geistlichkeit mit ähnlich maßlosen Formulierungen angegriffen70. So nimmt es denn nicht wunder, dass Riem das – aus der „Eiterbeule“ des hohen Adels und aus den „Pfaffen“71 sich zusammensetzende  – Oberhaus des englischen Parlaments, also den, wie er an anderer Stelle sagt, „aristokratischen Theil der brittischen Verfassung“72, als nutzlos ansieht und im Kern sogar für gefährlich hält: Das House of Lords habe „durchaus nichts zu thun […], was nicht nützlicher ohne dasselbe geschehen könne“, und er lobt die Nordamerikaner ausdrücklich dafür, dass sie „bei Beibehaltung der brittischen Verfassung [sic!] kein Oberhaus zuließen, da sie keinen König wählten, und das Oberhaus bloß für einen König brauchbar ist.“ Für Riem sind die Angehörigen der ersten Kammer des britischen Parlaments nicht nur „Bestreiter der Volksfreiheit“, sondern auch „Verräther der Constitution“73, deren man sich je eher desto besser zu entledigen habe, und zwar  – da für ihn nun einmal alles Heil aus Paris kommt  – nach dem Beispiel der Franzosen, deren neueste Direktorialverfassung von ihm ausdrücklich als Vorbild hingestellt wird74. 69  Ebenda,

Bd. I, S. 225 f. [Andreas Riem], Ueber Aufklärung  – Ein Wort zur Beherzigung für Regenten, Staatsmänner und Priester, Zweytes Fragment, Berlin 1788, S. 43 f.: „Das größte aller Uebel […] in einem […] Staate […] ist die Macht des geistlichen Standes. Es giebt Uebel für den Staat, die groß sind; aber so unermeßlich, wie der Umfang dieses Uebels ist, giebt es Nichts. Hätte ich die Wahl zwischen einer verheerenden Pestilenz und der Einführung der Priestergewalt; ich würde mit David ­sagen: Es ist besser in die Hand des Herrn, als unaufgeklärter Priester zu fallen. Seine Barmherzigkeit ist groß; aber bey diesem Geschlechte ist keine zu finden. Thomas Beckett, Erzbischof von Canterbury und alle insultirte Schurken seines Standes, wie hoch erhoben sie über ihre Monarchen ihren Stolz? War der Urheber der Barrikaden nicht ein Cardinal? Die schottischen Bischöfe, die ihre Könige verfolgten; Calvin, der Genfs Ehre aufs Spiel setzte, da er Servet verbrannte, waren sie nicht altgläubige Geistliche?“; vgl. auch die weitere, äußerst negative Charakteristik der englischen Geistlichkeit ebenda, S. 46 ff. 71  Vgl. Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 557, 533. 72  Ebenda, Bd. I, S. 553. 73  Die Zitate ebenda, Bd. I, S. 566. 74  Vgl. die aufschlussreichen Bemerkungen ebenda, Bd. I, S. 567: „Die französische Constitution hat diese Uebel der englischen Verfassung glücklich dadurch vermieden, daß sie die Revision der Gesetze einer bürgerlichen Kammer der Alten, und die Vollziehung einem bürgerlichen Direktorium übergeben hat, deren 70  Vgl.



Andreas Riems Darstellung und Kritik der Verfassung von England 83

V. Man könnte nun annehmen, dass Riem in seiner „Reise durch England“ das britische Unterhaus mit vielleicht etwas größerer Sympathie als Krone und Oberhaus – oder doch auch nur ein wenig sachlicher – behandeln würde, aber dem ist keinesfalls so. Eigentlich sollte das „Unterhaus des Parliaments“ das Volk repräsentieren und damit im Mittelpunkt des Gemeinwesens stehen. Denn, so betont Riem, „der Hauptgegenstand aller vernünftigen Staatsverfassungen, ist die zweckmäßige Regierung der Nation, oder des Theils derselben, den man das Volk nennt. […] Das Volk ist es, das in der Gesammtmasse aller Bürger den Staat ausmacht, um deswillen Herrscher, Regenten, Fürsten und Obrigkeiten vorhanden sind, und ohne welches sie gar nicht gedacht werden können“75. Doch in Großbritannien sei das gesamte Parlament und das Unterhaus im besonderen  – auf dessen nähere Beschreibung sich Riem nicht einmal einlässt76 – nichts anderes als „eine Maschine in der Hand der Krone“77. Diesen Vorwurf begründet er mit wiederholten Hinweisen auf die Korruption, auf die vielfältigen Formen von Bestechung der Mitglieder des Ober- und vor allem des Unterhauses durch Monarch und Regierung78. Nun ist es nicht zu bestreiten, dass die englische Verfassung des 18. Jahrhunderts seit der Ära des Premierministers Robert Walpole (1722–1742) und besonders seit der Thronbesteigung Georgs III. (1760) auch durch ein besonderes System der Gunstzuweisungen durch die Krone gekennzeichnet war, die sich zwar in der Sache durchaus nicht allzusehr von entsprechenden kontinentalen Gebräuchen im Ancien régime unterschieden, die aber doch – gemessen am vielgerühmten Ideal „britischer Freiheit“ – von den Kritikern der englischen politischen Ordnung immer wieder als Hauptargument gegen diese Ordnung verwendet werden konnten79. Und Macht nur so lange währt, daß sie nicht der Freiheit des Bürgers zum Nachtheil, weder in Demagogie, noch Aristokratie, noch sonst etwas noch schlimmers ausarten kann. […] Hier bestimmt kein Erbrecht irgend einer Caste das Recht zum Direktorium zu gelangen, und Bestechbarkeit, dieser Fels, an welchem alle Freiheit und Staats-Wohlfahrt scheitert, ist gar nicht gedenkbar“. 75  Ebenda, Bd. I, S. 570. 76  Er entledigt sich dieser Aufgabe durch das Einrücken eines längeren Zitates aus Wendeborns England-Darstellung; vgl. ebenda, Bd. I, S. 576–585; das Zitat aus Wendeborn, Der Zustand des Staats (Anm. 8), S. 47 ff. 77  Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. I., S. 483. 78  Vgl. ebenda, Bd. I, S. 97 ff., 101 ff., 201 ff., 482, 485, 576, 586 f., 592 f. u. a. 79  Zum Problem vgl. u. a. Hermann Wellenreuther, Korruption und das Wesen der englischen Verfassung im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 234 (1982), S. 33–62. Allgemein zu den Grundstrukturen und Wandlungen der englischen Verfassung dieser Ära siehe Kurt Kluxen, Geschichte Englands, Stuttgart

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

auch Riem hat sich dieses Argument natürlich nicht entgehen lassen; er stellt im Abschnitt seiner Darstellung des Unterhauses ausdrücklich fest: „Die englische Nation verlohr ihre Freiheit durch Bestechung, und die Niederträchtigkeit seiner eignen Repräsentanten“80. Und diesem Dilemma ist nach Riem auch nicht durch einen Wechsel der Regierung abzuhelfen, im Gegenteil: Die parlamentarische Opposi­ tion opponiert nur, um möglichst schnell selbst an die Regierung  – und damit in den Genuss der von der Krone zu vergebenden Pfründen  – zu kommen: Fox und Sheridan, die beiden wichtigsten Führer der Opposi­ tion, seien auch nur „Männer, die das Maul voll Patriotismus und das Herz voll Eigennutz und Ehrsucht haben“, denn: „Die Vergebung der einträglichsten Aemter ohne Arbeit sind für den Verschwender oder Haabsüchtigen, und die Titel für den Ehrgeizigen eine zu reizende Lockspeise, und in der Hand der Krone. Durch diesen allmächtigen Talismann macht sie aus Patrioten Volks-Bedrücker; aus Feinden die anhänglichsten Freunde“81. Die gegenwärtige Entwicklung in England, die vor allem anderen durch den Mangel einer wirklich tatkräftigen Opposition gekennzeichnet sei, beweise überdeutlich, „daß Großbritannien nie ein verdorbeners und mehr bestochnes Parliament hatte, als gegenwärtig; daß alle Gründe der Vernunft an der Pflichtvergessenheit einer übermäßigen Majorität scheitern; daß Großbritanniens Freiheit nie in den Händen einer schlechtern Rotte erkaufter Bösewichter war, als eben gegenwärtig“82. Daher sei, so Riems Resümee, „dieses Unterhaus des brittischen Parliaments, welches man für die Vormauer der englischen Freiheiten halten sollte, […] gerade zur Maschine herabgewürdiget worden, diese Freiheit 2

1976, S. 365 ff.; dazu auch die im engeren Sinne verfassungsgeschichtlichen Arbeiten von Julius Hatschek, Englische Verfassungsgeschichte bis zum Regierungsantritt der Königin Victoria, München/Berlin 1913, S. 563 ff.; Frederick William Maitland, The Constitutional History of England. A Course of Lectures delivered, Cambridge 61920, S.  281 ff.; George Burton Adams/Robert L. Schuyler, Constitutional History of England, London 1948, S. 309 ff.; Stanley Bertram Chrimes, English Constitutional History, London/New York/Toronto 21960, S.  161 ff.; David Lindsay Keir, The Constitutional History of Modern Britain since 1485, New York/ London 91969, 268 ff.; siehe auch, mit Hinweisen auf die neuere Forschung, die Bemerkungen bei Hans-Christof Kraus, Verfassungsbegriff und Verfassungsdiskussion im England der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Historische Forschung 22 (1995), S. 495–521, hier bes. S. 497–500. 80  Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 576. 81  Die Zitate ebenda, Bd. I, S. 103; vgl. ebenda, S. 97: „[…] selbst der größte Theil der Opposition, jedoch mit gehörigen Ausnahmen, stellt uns bloß Männer dar, die weniger das wahre Interesse der Nation, als eine Art verbißner Muth beseelt, daß sie ihre Stimmen in der großen Parliamentar-Auktion zu hoch angeschlagen haben, und leer ausgegangen sind.“ 82  Ebenda, Bd. I, S. 587.



Andreas Riems Darstellung und Kritik der Verfassung von England 85

zu unterdrücken“83. Und auch im historischen Rückblick lässt der Autor an jener altehrwürdigen Institution kein gutes Haar: niemals habe das Parlament von England im wahren Interesse des Volkes gehandelt, sondern sich immer auf die Seite der jeweils stärkeren politischen Kräfte des Landes geschlagen84. Andreas Riems Gesamturteil über die Verfassung von England fällt entsprechend negativ aus: Es gebe „nirgend ein Staatsgebäude, unter welchem der Unterthan so tief unterdrückt, mit dem Namen der Freiheit so unredlich geäfft und verhöhnt […] seyn muß“,85 als eben in Großbritannien, das nun einmal über die „bei weitem […] schlechteste“86 Verfassung verfüge. Er führt drei zentrale Argumente zur Begründung dieses in jeder Hinsicht vernichtenden Urteils an: erstens die einer Mischverfassung eignenden Defizite, zweitens die Gefahren einer schwankenden Politik infolge häufiger Regierungswechsel, und drittens den hinter scheinfreiheitlichen Institutionen und pseudoliberalen Bestimmungen versteckten Despotismus. Zuerst einmal ist die englische Staatsverfassung nach Riem als „ein barbarisches System“ anzusehen, denn „das Untereinanderwerfen und die Vermischung von Demokratie, Monarchie und Aristokratie, die sich wechselseitig sürveilliren, beobachten und im Zaum halten sollen“, ist für ihn nichts anderes als „ein aus Lappen und Flickwerk zusammen gesetztes zufälliges Ganze,“ also kein „planmäßig überdachtes und mit Absicht errichtetes System“ – und dies vor allem aus historischen Gründen, denn sie „besteht aus den verschiedenen Verfassungen der Völker, welche nach und nach Britannien eroberten, sich festsetzten, und mit den Eingebohrnen vereinigten“87. Eine solche Ordnung muss geradezu den Haupt83  Ebenda,

Bd. I, S. 586. ebenda, Bd. II, S. 280 f.: Das britische Parlament „war widerspenstig, rebellisch unter schwachen Regierungen, und kriechend und knechtisch unter starken Königen, und erlaubte sich kaum unterthänige Vorstellungen. Nirgends setzte ein Parliament oder Staat mehrere Könige ab, die gut waren; nirgends wurden mehrere ermordet; nirgends die Gerechtigkeit mehr mit Füßen getreten, und den Launen tyrannischer Monarchen mehr geschmeichelt, als von dem brittischen. Es war immer auf der Seite des Stärkern, nicht der Unschuld und Gerechtigkeit. Es schwankte von der tiefsten Unterwürfigkeit zum Democratismus, ließ sich das Joch eines Demagogen auflegen, und zernichtete wieder eine freie Verfassung, die es nicht wohlthätig einzurichten verstand, um sich unter das alte System einer Verwirrung zu bequemen, wo es von Despotismus und Aristokratismus hin und her geworfen wurde. […] Die Geschichte Englands liefert einen Zusammenhang von Uebelthaten der Parliamente und von Sklaverei unter Despoten aller Arten.“ 85  Ebenda, Bd. I, S. 655. 86  Ebenda, Bd. I, S. 396. 87  Die Zitate ebenda, Bd. I, S. 508. 84  Vgl.

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zweck aller Staatsverfassungen, nämlich „Erhaltung der allgemeinen Ruhe und des Wohlstandes“, verfehlen, denn „ein System, das drei unverträgliche Formen und Gewalten in eine vereinigt, kann sich bloß durch eine immerwährende Eifersucht aller unter einander erhalten. Hierzu ist ein immerwährender Streit unter den Gewalten nöthig, so bald eine das Uebergewicht zu erhalten strebt“, wodurch der „Zustand der Regierung zu einem beständigen innerlichen Kriege“ werde, „in welchem nothwendig eine Gewalt über die Andern siegen muß, wenn sie mehr List anwenden kann, oder die Gewalt der übrigen zu erkaufen, und auf sich überzutragen im Stande ist“88. Da diese Verfassung eines ausgleichenden Elementes entbehre, seien in einer Zeit, in der sich das Volk seiner Rechte bewusst werde und deren Erfüllung mit Nachdruck erfolgreich anmahne89, nur Krieg oder Revolution die fast unausweichlichen Folgen90. Im Grunde sei die politische Grundordnung Englands aus gleich „drei Verfassungen“91 zusammengesetzt, deren heterogener Charakter zu beständigem Streit zwischen den drei Grundfaktoren Volk, Königtum und Adel Anlaß gebe. Großbritannien biete das Beispiel eines „unreinen“, daher innerlich gefährdeten und instabilen Institutionengefüges. Riem ­ resümiert: „Jede reine Staatsverfassung, sie sey Demokratie oder Monarchie, ist einer solchen vorzuziehen, wo, wie in England, Demokratie, Aristokratie und Monarchie ein verwirrtes Ganzes, feindselig und unverträglich in seinen Elementen, und unvereinbar in seinen Bestandtheilen, ausmachen“92. Er konterkariert also direkt das Bild der auf Ausgleich und Harmonie der Stände begründeten, traditionellen englischen Mischverfassung, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gerade von Sir William Blackstone – Riem bezeichnet ihn denn auch abschätzig als den „große[n] Lob-Posauner der brittischen Constitution“93  – und seit 1790 88  Die

Zitate ebenda, Bd. I, S. 510 f. besonders ebenda, Bd. I, S. 570: „So verachtet dieser Name („das Volk“, H.-C.K.) seit urdenklichen Zeiten, besonders in den Augen des hohen und niedern Adels war, so furchtbar und achtungswürdig ist er in dem letzten Jahrzehend geworden.“ 90  Vgl. ebenda, Bd. I, S. 511: „Nur ein ausbrechender bürgerlicher Krieg, oder eine Revolution kann die Folge sein, wenn das Volk unmittelbar an dem Streite [nämlich dem der Verfassungsfaktoren untereinander, H.-C.K.] Theil nimmt. Und leider muß es immer dahin auslaufen, da die constituirten Gewalten keine Moderatoren oder Ephoren über sich haben, welche die Zunge der Staatswaage im Gleichgewicht halten.“ 91  Ebenda, Bd. II, S. 109. 92  Ebenda, Bd. II, S. 273. 93  Ebenda, Bd. I, S. 157 f.; gleichwohl hat sich Riem nicht gescheut, immer wieder auf Blackstones „Commentaries on the Laws of England“ als Quelle der eigenen Darstellung zurückzugreifen; siehe dazu oben, Anm. 31. 89  Vgl.



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vor allem von Edmund Burke in Anknüpfung an frühere Autoren neu entworfen und ausgeführt worden war94. Von hier aus ist der Schritt zum zweiten Hauptgebrechen, das die englische Verfassung nach Riem aufweist, nicht weit: so wenig man sagen könne, dass die Engländer „je eine feste systematische Staatsverfassung hatten, wo die Gewalten sich nicht wechselseitig unterdrückten, eben so wenig hatten sie eine feste, combinirte Politik“, vor allem im Hinblick auf ihre „Regierungsveränderungen“95. Damit sind nicht nur die Umbrüche und Revolutionen des 17. Jahrhunderts gemeint, sondern auch die Regierungswechsel zwischen Whigs und Tories seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts. „Nichts war schwankender zu allen Zeiten, als die brittische Politik“, stellt Riem fest, und zwar deshalb, weil „gewöhnlich der neue regierende Minister aus der Oppositions-Parthei genommen wird, die immer mit dem herrschenden Minister gegenseitiger Meinung ist“; eine solche Regierungsform der gewissermaßen institutionalisierten inneren Unsicherheit mache „nun alles System in der Staatskunst unmöglich, und die Politik selbst ephemerisch“96. Die Folgen für das Land seien allerdings katastrophal, denn eine kontinuierliche, langfristige Ziele verfolgende Politik sei – so Riem – sowohl im Innern wie im Äußeren nicht mehr möglich; Parteien und Cliquen verschiedener Art trieben den Staat je nach zufälligen und zeitweiligen eigenen Interessen entweder in die eine oder die andere Richtung. Jedenfalls sei gewiß, „daß Großbritannien nie eine consequente Staats-Kunst befolgte; daß es immer den ersten Eindrücken der Leidenschaft sich überließ, und daß Eitelkeit und Arroganz die Nation, Parliament und Regierung zu Schritten verleiteten, welche gegen die ersten Grundsätze einer vernünftigen Politik anstießen“97. Mit dieser Behauptung widerspricht Riem (wenn auch an dieser Stelle nur indirekt) jener von Burke – 94  Vgl. hierzu u.  a. Kraus, Verfassungsbegriff und Verfassungsdiskussion (Anm. 79), S. 495–521, bes. S. 504 ff., 511 ff.; zum allgemeinen theoriegeschicht­ lichen Hintergrund siehe die wichtige und materialreiche Studie von Wilfried Nippel, Mischverfassungstheorie und Verfassungsrealität in Antike und früher Neuzeit (Geschichte und Gesellschaft; Bochumer Historische Studien, 21), Stuttgart 1980, bes. S. 160–311 („Die englische Mischverfassungstheorie und die Genesis des modernen Konstitutionalismus“). 95  Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. II, S. 151. 96  Alle Zitate ebenda, Bd. I, S. 412; das gilt nach Riem nicht nur für die innere, sondern nicht zuletzt auch für die Außenpolitik: „Daher bezahlt der eine Minister Subsidien an Oesterreich gegen Preußen, und der folgende Subsidien an Preußen gegen Oesterreich. Diese sogenannten Staatsmänner brachten immer ihre entgegengesetzten Meinungen in die veränderte Staats-Administration, und wagten nicht immer, sich der Parthei zu widersetzen, die sie erhob.“ (ebenda). 97  Ebenda, Bd. I, S. 426.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

und vorher von Blackstone und anderen – vertretenen These, die englische Verfassung zeichne sich durch eine besonders ausgeprägte Sicherung von Tradition und Kontinuität aus98. Das Gegenteil sei der Fall: Die Politik der wechselnden britischen Regierungen richte sich allein nach den ­divergierenden Interessen der verschiedenen Parteien sowie deren parlamentarischen Führungsfiguren99. Außen- und innenpolitische Kontinuität und „Staatskunst“ seien der englischen Politik daher unbekannt. Was Riem allerdings mit dem Begriff der „Staatskunst“ meinte, ließ er – vielleicht durchaus bewusst – im unklaren. Der dritte Kardinalfehler  – eigentlich das zentrale Gebrechen  – der Verfassung von England liegt nach Riem schließlich in demjenigen, was er als ihren verborgenen Despotismus ansieht. Als Mischform aus monarchischen, aristokratischen und demokratischen Elementen handele es sich im Kern um eine politische Ordnung, „welche in dem Allgemeinen der Verwaltung, eben weil sie aus solchen heterogenen, sich entgegengesetzten Theilen besteht, in Despotie, ohne diesen Nahmen zu führen, ausartet“100. Die von der Magna Charta bis zur Bill of Rights verbrieften Freiheitsrechte, auf welche die britische Nation so stolz sei, müssten als praktisch wertlos angesehen werden, da die Krone alle Mittel besitze, eben diese Rechte in ihrer konkreten politischen Wirkungskraft zu paralysieren101. Durch die allgegenwärtige Bestechungspraxis habe die Krone 98  So wurde etwa argumentiert, die „Glorious Revolution“ von 1688/89 sei keine Revolution im eigentlichen Sinne, sondern eine Art von verfassungspolitischer Kurskorrektur gewesen, eine Wiederanknüpfung an eine mit der Magna Charta von 1215 beginnende freiheitliche englische Verfassungstradition, die nur durch den verhängnisvollen Absolutismus der Stuarts zeitweilig unterbrochen worden sei; vgl. Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France, hrsg. v. Conor Cruise O’Brien, Harmondsworth 1982, S. 106, 117. 99  Vgl. schon die entsprechende Feststellung in: [Andreas Riem], Politische Lage und Staatsinteresse des Königreichs Preußen. Von einem Staatsbürger desselben, o. O. 1795, S. 43 f.: „England […] hat schon so manches gethan, was einen eifersüchtigen, geizigen, und blos auf Interesse speculirenden Staat charakterisirt, und unter andern, auch dem Preußischen Staate nicht gefallen konnte. Es schloß Bündnisse und verließ sie mit Leichtsinn; war nie zuverlässig und immer schwankend, nach der Majorität der Parlamente“. 100  Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 477 f.; Riem fügt – als Versuch einer Präzisierung – an: „Die aus der Verwirrung hervorgehende Despotie, ist Mißbrauch der Gewalt, und allerdings Usurpation über die Gesetze, aber sie selbst, da sie die Mittel dazu der Krone an die Hand geben, sind mit Grund Ursachen dieses Mißbrauchs.“ (ebenda, S. 478). 101  Vgl. ebenda, Bd. II, S. 271 f.: „Was helfen einem Volke die herrlichsten Vorzüge, und die alten Pergamentakten, worauf eine ganze Reihe von Freiheiten geschrieben steht, wenn es keine Macht, Gewalt und Armeen hat, sie zu beschützen; und alle diese ganz in dem Besitz einer Krone sind, deren oberstes Interesse erheischt, diese Akten unthätig zu machen? Was hilft dem Unterhause der Nation



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das Parlament völlig in ihrer Hand, und insofern sei „die ganze Veranstaltung von Unterhaus und Oberhaus […] eine alberne Mummerei geworden, die der Nation um so nachtheiliger wird, weil alle Fehler, welche die Krone durch die bestochene Majorität begeht, von derselben ab- und auf die Nation in ihren Repräsentanten hin- gewälzt [sic] werden.“ Alle verhängnisvollen politischen Maßnahmen der Krone geschähen in England „unter der Firma des Parliaments, und die Nation in ihren Repräsentanten gewinnt den Schein sich selbst zu ruiniren“102. Eben hierin besteht für Riem eine besonders ausgeprägte Perfidie der Staatsverfassung von England: Die britischen Monarchen können sogar – „unter dem Titel des Parliaments“103 – noch „despotischer“ als andere Despoten regieren, weil sie dies im Schutze der Fiktion tun können, dass die Nation in der Form ihrer parlamentarischen Repräsentanten sich selbst regiere: „Mit einem Worte, die Krone verfährt, indem sie den Namen des Volks mißbraucht, durch die Parliamente, mit einer so freien Willkühr, als irgend ein Despot wünschen kann“104. Das „Haus Hanover“ [sic] habe, so Riem, binnen einer Generation etwas geschafft, was vor ihm weder von den Stuarts, noch den Tudors, noch von einer der anderen Herrscherdynastien auf dem englischen Thron erreicht worden war: König Georg I. und seine Nachfolger hätten „die große Kunst eingeführt, einen wirklichen Despotismus über Großbritannien, vermittelst eines bestochnen Parliaments, auszuüben“105. Die englische Krone unterdrücke die Nation nicht „unter ihrem Namen […], sondern thut dies unter dem Namen der Nation selbst.“106 Genau diese Tatsache aber mache es so schwierig, die englische Verfassung als veritable Despotie zu entlarven. Diese Entlarvungsarbeit aber ist das Hauptanliegen der Darstellung, die Andreas Riem in seiner „Reise durch England“ von der politischen Ordnung des Inselreichs gegeben hat. das Recht der eignen Besteurung, wenn die Krone es so weit bringen kann, daß kein Parliament des Unterhauses mehr gedenkbar ist, dessen Mehrheit aus redlichen Patrioten und unbestechbaren Vaterlandsvertheidigern zusammengesetzt ist? Mit einem Worte, was helfen einem Volke alle Vorrechte, die es nicht ausführen kann, und die lediglich von der Willkühr der Krone und der seltnen Ehrlichkeit ihrer Minister abhangen?“ 102  Ebenda, Bd. I, S. 481 f. 103  Ebenda, Bd. I, S. 483. 104  Ebenda, Bd. I, S. 484; weiter heißt es mit der bei Riem gewohnten Drastik der Formulierung: „Die Krone würgt, zernichtet, und bringt den Staat in die unseligste Lage und häuft die Abscheulichkeit, indem sie dieses im Namen eines Volks thut, das erwürgt, verachtet und unglücklich gemacht wird.“ (ebenda, S.  484 f.). 105  Ebenda, Bd. II, S. 246. 106  Ebenda, Bd. I, S. 669.

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Die Bilanz, die Riem zieht, fällt denn auch vernichtend aus: Als ein „Verwirrungs-System“ aus  – in geschichtlicher wie systematischer Hinsicht  – höchst heterogenen Einzelbestandteilen107 und auch als gigantische Vortäuschung nicht vorhandener Freiheiten und Rechte des Volkes (oder der Nation, wie Riem im Anschluss an Sieyès sagt) sei die englische Verfassung in jeder Beziehung zum Scheitern verurteilt; sie trage, wie es an einer Stelle heißt, bereits „das Gift ihrer eignen Vernichtung in sich“108. Keine „Constitution“, betont er an anderer Stelle, sei „jemals mehr bewundert worden, ehe man bessere kennen lernte, als die brit­ tische“109 – und man wird hier wohl anfügen können, dass dieser Autor alles daran gesetzt hat, mit dem größtmöglichen Aufwand an radikaler Rhetorik und an mehr oder (zumeist) weniger überzeugenden Argumenten den Nachweis zu führen, dass keine bestehende politische Grundordnung mit größerem Abscheu betrachtet und härter verurteilt werden ­sollte, als eben die zeitgenössische Verfassung von England. VI. Doch es ging Andreas Riem in den beiden Bänden seiner Englandreise ebenfalls darum, noch einen zweiten Nachweis zu führen: nämlich den einer kurz bevorstehenden englischen Revolution. Je stärker die Regierung ihre Macht missbrauche und je deutlicher der „Despotismus der Minister“ um sich greife, desto mehr entwickele sich „auch unter allen guten und rechtschaffen gesinnten Staatsbürgern der Keim der Unzufriedenheit, des Mißvergnügens, bis er in eine Gährung übergeht, die Zeit und Umstände […] zur Reife bringen, und die gegenwärtig gewöhnlich die königliche Macht gänzlich vertilgen“; bereits jetzt sei in dieser Hinsicht „die Volksstimmung in England nicht mehr zweifelhaft“110. Die zunehmend restriktiver vorgehende Politik der Regierung Pitt, besonders die Aussetzung der Habeas-Corpus-Akte und das Verbot öffentlicher ­politischer Versammlungen, seien ebenso ein wichtiger Anhaltspunkt für 107  Vgl. die bezeichnenden Passagen ebenda, Bd. II, S. 295 f.: „Die ganze brittische Verfassung, im Ganzen und in ihren Theilen genommen, ist ein altes Gebäude, das seit Jahrhunderten von Jahr zu Jahr ausgeflickt wurde, ohne daß eine Totalreparatur ihm das Wilde und jetzt Zwecklose des Alterthums nahm. Gesetze, welche auf eine weitgehende Fundalverfassung [sic!] ihre Richtung nahmen, finden noch gegenwärtig statt, nachdem die Gemeinen sich dem Joche des Adels entzogen haben, und so ist das Ganze ein Verwirrungs-System ohne Gleichen“. 108  Ebenda, Bd. I, S. 206. 109  Ebenda, Bd. I, S. 477. 110  Die Zitate ebenda, Bd. I, S. 526; zur Diagnose einer vorrevolutionären Situation in Großbritannien vgl. auch ebenda, Bd. I, S. 596 f., 672 ff., 676 ff.; Bd. II, S.  352 u. a.



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e­ ine bald ausbrechende Erhebung wie die zunehmend sich artikulierende Unzufriedenheit in Irland und Schottland: all dies zeige, „daß das Volk müde werde sich unterdrücken zu lassen, und daß es der Krone schwer fallen werde, es zu besiegen“111. Schließlich sei auch die  – durch überhöhte Staatsausgaben und immense öffentliche Schulden belastete  – ökonomische Lage bereits derart prekär, dass „eine allgemeine Gährung, die in Wuth und Aufstand gegen eine schlechte Regierung nothwendig ausbrechen muß, oder eine totale Revolution [als] unvermeidlich“112 angesehen werden müssten. Widersprüchlich äußert sich Riem allerdings über die Art eines mög­ lichen Umsturzes. Befürchtet er an einer Stelle, „der ganzen Verfassung“ drohe „entweder eine Revolution von Seiten des Volks oder der Regierung“, da „letztere […] in der Einführung des Despotismus sehr merklich vorwärts“113 gehe, so prognostiziert er in einer anderen Passage seiner Darstellung den revolutionären Übergang zur Republik: Gerade weil Pitt durch „Suspensionen der Volks-Rechte“ die alte Verfassung Englands im Kern treffe, sei ein „Volks-Aufstand, der für die reine Erhaltung der brittischen Constitution statt finden könnte“, durchaus zu erwarten, und es wäre auch keineswegs verwunderlich, „wenn die Nation […] sich in eine Republik verwandelte, und die königliche Familie, mit Achtung und ­geziemendem Anstande, nach Hannover zurückgehen ließ [sic]“114. Vielleicht hat Riem auch eine Stufenfolge für möglich gehalten: zuerst Übergang von der Mischverfassung zum Despotismus, vielleicht in den Formen einer Militärdiktatur, daran anschließend Revolution und Übergang zur Republik nach dem Vorbild Frankreichs. Um die Diagnose einer prärevolutionären Situation und die hieran anschließende Prognose eines bald ausbrechenden Umsturzes in Großbritannien zu untermauern, führt er gleich eine ganze Reihe von manchmal mehr, nicht selten aber auch weniger einleuchtenden Gründen an: Erstens leitet Riem aus der Magna Charta  – mit einer in der Tat äußerst großzügigen Auslegung – für die englische Nation „das Recht“ ab, „nicht nur sich gegen den König zu bewaffnen, oder noch mehr, immerwährend gegen ihn in Waffen zu seyn; sondern überdem noch das Recht der Emendationen nach ihrem Willen, oder das Recht Staats-Veränderungen vorzunehmen“115. Zweitens argumentiert er historisch und verweist auf 111  Ebenda,

Bd. I, S. 527. Bd. I, S. 666. 113  Die Zitate ebenda, Bd. II, S. 341. 114  Die Zitate ebenda, Bd. I, S. 489; vgl. auch ebenda Bd. I, S. 517. 115  Ebenda, Bd. I, S. 487; vgl. auch ebenda, Bd. I, S. 486, wo er im Anschluss an ein lateinisches Zitat aus dem (wie es bei ihm fälschlicherweise heißt) 70. Artikel 112  Ebenda,

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die englische Geschichte: „Man findet in keinem Staate so viele Revolutionen, wie im englischen“116. Drittens macht er auf die politische Instabilität aufmerksam, die einer Mischverfassung wie der britischen inhärent sei117, und viertens bringt er ein weiteres Mal die Wut des Volkes ins Spiel, dessen „Haß auf die infamen Rotten-Boroughs, und 200,000 Wähler der ganzen Repräsentation […], die von der Krone bestochen, eine Majorität von Verräthern an dem Wohl des Volks zusammen wählen“118, in nicht mehr allzu langer Zeit dazu führen müsse, dass eben dieses Volk jene „bestochnen Schurken“ in der Themse ersäufen werde119. Ein weiteres zentrales Anliegen der Riemschen Darstellung und Interpretation der englischen Verfassung aber ist eine fundamentale Kritik der traditionellen deutschen Anglophilie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie sie etwa in den Schriften von Ernst Brandes, Johann Wilhelm von Archenholz und anderen ihren Ausdruck gefunden hatte120. An der „Hirnwuth der Anglomanie“121 litten, so Riem, vor allen anderen Völkern die Deutschen, „deren sklavische Bewunderungssucht die Handlunder Magna Charta ausführt: „Dieser Artikel berechtiget die englische Nation zum Kriege gegen ihren König, sobald er die Rechte der Nation angreift, […] und spricht sie von allem Gehorsam gegen ihn frei und los, und zwar so lange: donec fuerit emendatum, secundum arbitrium eorum.“ – Das Zitat entstammt dem Artikel 61 der Magna Charta, dem bei weitem umfangreichsten dieses Dokuments; in deutscher Übersetzung findet er sich in: Demetrios L. Kyriazis-Gouvelis, Magna Carta. Palladium der Freiheiten oder Feudales Stabilimentum (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 36), Berlin 1984, S. 55 f.; der von Riem zitierte Ausschnitt ebenda, S. 56. Diese Bestimmung gesteht den Baronen Englands tatsächlich das Recht zu, gegen eine Verletzung der in der Magna Charta niedergelegten Verfügungen seitens der Krone mit Gewalt vorzugehen. Kyriazis-Gouvelis bemerkt hierzu, ebenda, S. 31 f.: „Die […] Garantie der Respektierung der Magna Carta [sic], vorbeugend und repressiv zugleich, ist zum klassischen Vorbild von Bestrebungen zur Organisierung eines ‚Widerstandsrechts‘ geworden. Hier können wir wohl von der ‚Legalisierung‘ eines kollektiven Widerstandsrechts, jedoch nicht von einem ‚verfassungsmäßigen Mechanismus‘ zur Kontrolle des Königs sprechen. Auf jeden Fall aber stellt die genannte Regelung […] eine ‚juristische‘ Vorsichtsmaßregel dar, die zur Schaffung eines Rechtsinstitutes führen kann, wenn man sie nicht bereits als Ansatz eines solchen ansieht“. 116  Ebenda, Bd. II, S. 149 f. 117  Vgl. ebenda, Bd. I, S. 511 (Zitiert oben in Anm. 90). 118  Ebenda, Bd. I, S. 588. 119  Vgl. ebenda, Bd. II, S. 335: „Das Parliamentshaus […] liegt nahe genug an der Themse, und also sehr bequem für das Volk, wenn es einmal die bestochnen Schurken ersäufen will, die so niederträchtig seine Freiheiten und sein Eigenthum der Krone verkaufen.“ 120  Siehe oben, Abschnitt I. 121  Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. II, S. 85; vgl. auch ebenda, Bd. II, S. 5, 259, 296.



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gen alberner Sonderlinge anstaunt, und die gutmüthig genug sind, die ganze Nation nach einzelnen Beispielen und Anekdoten zu beurtheilen“122. Archenholz, der nach 1789 zwar ebenfalls vom Bewunderer zum Kritiker der englischen Verfassung geworden war123, fühlte sich aber trotzdem veranlasst, den ersten Band von Riems „Reise durch England“ wegen der darin enthaltenen scharfen Invektiven gegen Land und Leute deutlich zu kritisieren. Riem reagierte gegen „eine solche Beleidigung, von einem solchen Manne“124 eher ungehalten: Es sei vielmehr Archenholz, der die Engländer einseitig darstelle, indem er die wenigen „edle[n] und wirklich große[n] Handlungen einzelner Menschen in England“ sorgfältig gesammelt und eben dadurch bewiesen habe, „daß sie Ausnahmen von der allgemeinen Regel sind“125. Noch auf der letzten Seite seines Werkes überließ Riem – der übrigens kein Jota seines negativen Urteils zu revidieren bereit war126  – es „Herrn von Archenholz, dem Publikum zu beweisen, daß diese Beschuldigungen [die Riem in seiner „Reise“ gegen die Engländer erhebt, H.-C.K.] übertrieben, und daß Thatsachen, die sie beweisen, nur leerer Schein sind, der täusche“127. – Ein weiteres Anliegen der Darstellung dürfte zudem auch die nochmalige (wenn auch hier nur indirekt vorgenommene) publizistische Agitation gegen ein antifranzösisches preußisch-britisches Bündnis gewesen sein, das Riem bereits 1795 mit großer Vehemenz attackiert hatte128.

122  Ebenda,

Bd. II, S. 86. Rieger, Johann Wilhelm von Archenholz als „Zeitbürger“ (Anm. 11), S.  106 ff. u. a. 124  Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. II, S. 7. 125  Ebenda, Bd. II, S. 8. – Einen anschaulichen Eindruck von der Qualität Riemscher Völkerpsychologie vermittelt auch die folgende Passage, ebenda, S. 8 f.: „Das Bild des Menschen und das Bild der Nationen haben allenthalben viel Aehnlichkeit. Sie sind eine Mischung von Gutem und Bösem […] Der Deutsche hat in seiner glücklichen Temperatur mehr Gutes bei wenig Bösem; der Engländer mehr Böses bei wenig Gutem. Der Franke ist eine fast gleichwiegende Mischung von beiden Extremen […]“ usw. 126  Vgl. auch – stellvertretend für andere Passagen – die Formulierungen ebenda, Bd. II, S. 93: „Eine Nation, wo die größte Mehrheit der Gesetzgeber Sklavenhändler und unvernünftige Pfaffen begünstigt, und die Gesetze die Unterdrückung der Gefühle der Menschlichkeit, und den Verfolgungsgeist der Priester in Schutz nehmen, ist weder frei, noch gebildet, noch in der Mehrheit an Geistes­ eigenschaften über Wilde und Barbaren, welche Humanität und Philosophie verabscheut [sic]; und Millionen blinder Bewunderer eines solchen Volkes vermögen die Wahrheit nicht zu entkräften, welche Englands Bewohner durch Erfahrungen aller Art bestätigen“. 127  Ebenda, Bd. II, S. 360. 128  Vgl. [Andreas Riem], Politische Lage und Staatsinteresse des Königreichs Preußen. Von einem Staatsbürger desselben, o. O. 1795, S. 42 ff. 123  Vgl.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

Ein zusammenfassendes Urteil über die geistesgeschichtliche Bedeutung, den Rang und auch die Qualität von Andreas Riems „Reise durch England“ wird die gravierenden Defizite dieses Werkes nicht übergehen können. Selbst wenn man einmal davon absieht, dass es sich  – mit der Ausnahme nur ganz weniger Passagen  – eben nicht um einen Reisebericht im eigentlichen Sinne, sondern im wesentlichen um eine Kompilation aus diversen englischen und deutschen Schriften129, kombiniert mit überaus polemisch formulierten, krass antienglischen Passagen handelt, dann sind doch die zahlreichen, fast auf den ersten Blick ins Auge springenden Widersprüche nicht zu ignorieren, die dem Leser dieser „Reise“ auf Schritt und Tritt begegnen. Um nur einige wenige Beispiele anzuführen: Da wird zum einen die englische Verfassung immer wieder als „verhüllte Despotie“ in pseudo­ freiheitlichem Gewande charakterisiert130, während andererseits der britischen Krone bescheinigt wird, dass sie niemals „nur je den Versuch […] wagen werde“, eine Armee ohne Zustimmung des Volkes aufzustellen, da eben diese Truppen nur „aus Landeskindern bestehen“ könnten, „die auf ihre Verfassung stolz sind“131 und die sich aus eben diesem Grunde auch niemals zum Werkzeug einer antikonstitutionellen, d.  h. despotischen Macht erniedrigen würden. Da wird zweitens betont, die eigent­ liche Funktion des Parlaments als „Gegengewicht“ zur Krone sei „durch das Bestechungs-System völlig aufgehoben“132, während doch andererseits die englische politische Grundordnung wiederum als  – wenn auch schlecht funktionierende  – „Mischverfassung“ dargestellt und kritisiert wird133, als eine Verfassung also, in der dem Parlament eben doch ein poli­tisches Eigengewicht zukommen muss. Da erhebt Riem die Behauptung, das Oberhaus des Parlaments sei „bloß für einen König brauchbar“, weil es in verfassungspolitischer Hinsicht nicht mehr als ein willfähriges Instrument der Krone darstelle134, während er kurz vorher im Adel wiederum zuerst und vor allem „eine mächtige Barriere“ zwischen Krone und Volk135 erkennen zu können meinte. Und schließlich widerspricht Riem sich auch dort, wo er bemerkt, nur die „Vortheile der Unstraf­ barkeit“ der „höhern Stände“ im Rahmen des englischen Rechtssystems hielten „Adel und Hof noch einigermaßen“ davon ab, „die Verfassung 129  Siehe

oben, Abschnitt II. oben, Abschnitt V. 131  Die Zitate aus Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 513. 132  Ebenda, Bd. I, S. 542. 133  Siehe oben, Abschnitt V. 134  Ebenda, Bd. I, S. 566; siehe auch oben, Abschnitt IV. 135  Riem, Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 560. 130  Siehe



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völlig aufzu­lösen“136,  – wo er es doch an anderer Stelle immer wieder unternommen hatte, die englische Staatsverfassung als besonders geschickt getarnte (und daher aus der Sicht von Adel und Krone gerade nicht abschaffenswerte) „verhüllte Despotie“ zu entlarven. Nicht viel besser sieht es mit den prognostischen Fähigkeiten Riems aus, denn die von ihm mit viel rhetorischem Aufwand vorhergesagte große englische Revolution137 hat bekanntlich nicht stattgefunden. Auch andere Vorhersagen erfüllten sich nicht: So meinte Riem  – ausgehend von der These, Großbritannien sei „kein Staat der ersten Größe; so wenig wie Preußen“138 – voraussagen zu können, dass der britischen Seemacht, als Folge einer ruinösen Steuer- und Schuldenpolitik139, ein Niedergang nach dem Vorbild der Niederlande seit dem Ende des 17. Jahrhunderts unmittelbar bevorstehe140. Und an anderer Stelle findet sich gar die These, nach einer – von Riem als sehr wahrscheinlich angesehenen – französischen Invasion des Inselreichs werde England ein Schicksal ereilen „wie einst Carthago“141. Riems „Reise durch England“, die also alles andere als einen eigentlichen Reisebericht darstellt, ist zweifellos nur von ihren ausgeprägten politisch-weltanschaulichen Intentionen her zu verstehen. Das Werk dient erstens einer indirekten Propaganda für Frankreich und der Legitimierung des Anspruchs der Französischen Revolution auf Schaffung einer neuen politischen Ordnung für Europa. Während die Institutionen und die politischen Strukturen des Alten Reiches unter dem aus dem Westen kommenden Ansturm spätestens seit 1794/95 bereits ins Wanken geraten waren, stellte Großbritannien unter der entschiedenen Führung William Pitts d. J. immer noch die stärkste Gegenmacht zur kontinentalen Revolution dar. Für Riem, der in seinen außenpolitischen Vorstellungen ein enges französisches-deutsches (zeitweilig auch: französisch-preußisches) Kontinentalbündnis propagierte, musste daher der propagandistische Kampf gegen England – vor allem auch gegen die traditionell im aufgeklärten Deutschland weit verbreitete Anglophilie – ein besonders zentrales Anliegen sein. Und zweitens erstrebte die rabiate Polemik des radikalen Aufklärers Riem gegen die Staatsverfassung von England den – hier wiederum indi136  Die

Zitate ebenda, Bd. II, S. 273. ebenda, Bd. I, S. 489 f., 511, 517 ff., 526, 587 f., 596, 659 ff., 666; Bd. II, S.  341, 352 f. u. a. 138  Ebenda, Bd. I, S. 403. 139  Vgl. dazu u. a. die Ausführungen ebenda, Bd. I, S. 413, 418 f. 140  Vgl. ebenda, Bd. I, S. 405. 141  Ebenda, Bd. I, S. 673. 137  Vgl.

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rekt verfolgten  – Zweck, für einen grundlegenden politischen Umsturz auch in Deutschland zu werben. Zieht man die entsprechenden Passagen der Riemschen „Reise“ in Betracht, vor allem die bei ihm besonders hervorstechende (wenngleich für diese Ära nicht allzu ungewöhnliche) Adelskritik, dann zielte sein eigenes politisches Wunschmodell einer Staatsverfassung wohl entweder auf ein aufgeklärtes Volkskönigtum oder auf eine Republik nach dem Vorbild der – von ihm ausdrücklich gelobten – französischen Direktorialverfassung142. Die inhaltlichen wie formalen Schwächen, die jedem Leser der „Reise“ sofort auffallen müssen, sind sicherlich nicht nur auf eine offenbar sehr flüchtige Arbeitsweise zurückzuführen. Die Neigung des Autors, sich seine eigenen Urteile und Vorurteile nur noch einmal bestätigen zu lassen, führt ihn nicht selten zu einer isolierten Betrachtungsweise einzelner Institutionen, Verfassungstraditionen oder Rechtsbräuche. An einzelne ­ Zustandsbeschreibungen werden weitreichende, oft überzogene und meistens auch unförmig ausufernde Reflexionen und Betrachtungen geknüpft, ohne innere Zusammenhänge, Beziehungsgefüge oder auch historische Entwicklungen und Veränderungen genügend zu berücksichtigen. Für den unkundigen zeitgenössischen Leser mag manches von dem, was Riem mit ermüdenden Wiederholungen seinem Publikum vortrug, einleuchtend geklungen haben, doch die Kenner des Gegenstandes dürften das Werk vermutlich ebenso wie Archenholz abgelehnt haben. Andreas Riems „Reise durch England“ bleibt also ein interessantes, in verschiedener Hinsicht ungemein aufschlußreiches Zeitdokument für die Entwicklung des politischen Bewußtseins in Deutschland unter dem immer länger werdenden Schatten der Revolution  – mehr freilich nicht. Seine emphatisch vorgetragene Gegenüberstellung von „Vernunft“ und „Sittlichkeit“ einerseits, „barbarischer“ europäischer Politik andererseits ist in der Tat signifikant für gewisse „unpolitische“ deutsche Denk­ traditionen dieser Ära, und so stellt denn auch die folgende Äußerung Riems, die den Kern seiner politischen Vorstellungswelt noch einmal anschaulich charakterisiert, ein aufschlussreiches Dokument dar für die vollkommene Unfähigkeit zu realistischer, in großen Dimensionen denkender politischer Reflexion: „Die europäische Politik ist eine Wissenschaft, die noch in der tiefsten Barbarei liegt. Grundsätze und menschliche Vernunft haben an ihr keinen Theil. Gewaltthaten, Raub und Convenienz sind ihre verächtliche Basis. […] Sie ist noch privilegirte Tyrannei auf jeden lasterhaften Grundsatz erbaut, den die Hölle ausspie, um Staaten zu verheeren. Die Diplomatik ist ein Gewebe listiger Ränke und Spio­nirungen. Falschheit und Trug characterisiren sie in ihren Verhand142  Siehe

oben, Anm. 74.



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lungen. Nur die Ohnmacht schließt Friedensverträge, die man mit der vollen Absicht an Altären beschwört, sie sobald zu brechen, als man es vermag. Wie unter den wilden Thieren afrikanischer Wüsteneien, entscheidet bloß das Recht des Stärkern, physischer Art; und die Vernunft und Sittlichkeit flieht vor dieser abscheulichen Wissenschaft, die eine wahre Ausgeburt der Hölle ist“143. Wie die von ihm gewünschte andere „Wissenschaft“ einer „europäischen Politik“ aber auszusehen habe – darüber hat sich Andreas Riem den Lesern seiner „Reise“ gegenüber freilich strikt ausgeschwiegen.

143  Riem,

Reise durch England (Anm. 15), Bd. I, S. 431 f.

Ernst Brandes und der deutsche Zeitgeist um 1800 I. Die historische Epoche „um 1800“, also die etwa drei Jahrzehnte umfassende Ära zwischen dem Tod Friedrichs des Großen und dem Wiener Kongress, bedeutete für die meisten Länder des europäischen Kontinents, vor allem aber für Deutschland, eine Zeit der Krise und des Umbruchs, des Endes einer eintausendjährigen politischen Kontinuität, der Tradition des Alten Reiches, aber auch die Periode eines umfassenden Neubeginns, eines geistigen Aufbruchs ebenso wie ausgedehnter institutioneller und politisch-sozialer Reformen1. Eine solche Zeit kann man unter zwei sehr verschiedenen Aspekten betrachten: zum einen als Krise und Niedergang, als Verfall bewährter Traditionen, aber eben auch als Chance eines Wandels zum Neuen und damit vielleicht zum Besseren. Somit liegt es in der Natur der Sache, dass Zeitgeistanalysen in solchen Jahren besondere Konjunktur haben, weil das Bedürfnis nach einleuchtender Deutung der Entwicklungen, die man selbst täglich vor Augen hat, als besonders dringlich empfunden wird. Und so verwundert es nicht, dass in diesen Jahren, vor allem in der Zeit nach 1806, also dem Ende des Alten Reiches, eine Fülle von Schriften dieser Art erschienen ist  – am bekanntesten vielleicht Ernst Moritz Arndts seit 1806 publizierter, mehrbändiger „Geist der Zeit“2.

1  Beste Darstellung hierzu immer noch: Kurt von Raumer/Manfred Botzenhart, Deutschland um 1800: Krise und Neugestaltung. Von 1789 bis 1815 (Handbuch der Deutschen Geschichte, hrsg. v. Otto Brandt/Arnold Oskar Meyer/Leo Just, Bd. 3/I, 1. Teil), Wiesbaden 1980; ebenfalls wichtig: Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I: Reform und Restauration 1789 bis 1830, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 21967; James J. Sheehan, Der Ausklang des alten Reiches. Deutschland seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges bis zur gescheiterten Revolution 1763 bis 1850 (Propyläen Geschichte Deutschlands, 6), Berlin 1994, S. 190–357. 2  Zuerst 1806–1818 in vier Teilen erschienen; mehrfach wiederabgedruckt, u. a. in: Ernst Moritz Arndt, Werke, hrsg. v. August Leffson/Wilhelm Steffens, Bde. VI– IX, Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart o. J. (1912); vgl. dazu Karl Heinz Schäfer, Ernst Moritz Arndt als politischer Publizist. Studien zu Publizistik, Pressepolitik und kollektivem Bewußtsein im frühen 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, 13), Bonn 1974.



Ernst Brandes und der deutsche Zeitgeist um 180099

Auch der hohe hannoversche Staatsbeamte Ernst Brandes, der sich bereits seit Jahrzehnten einen Namen als politischer Publizist und kulturkritischer Schriftsteller gemacht hatte, sah sich in seinen letzten Lebensjahren veranlasst, eine umfassende Bilanz seines Zeitalters zu ziehen. So publizierte er 1808 seine „Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts“, und zwei Jahre später, in seinem Todesjahr 1810, als eine Art Fortsetzung das umfäng­ liche zweibändige Werk „Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes auf die höheren Stände Deutschlandes“  – zwei Schriften, in denen er gewissermaßen die Summe seiner lebenslangen politischen Überlegungen und kulturkritischen Reflexionen zog3. Geboren 1758 in Hannover als Sohn einer der angesehensten Familien der Stadt4, war Ernst Brandes’ berufliche Karriere gewissermaßen vorbestimmt, denn er trat bereits früh in die Fußstapfen seines Vaters Georg Friedrich Brandes, der als Geheimer Kabinettssekretär der hannoverschen Regierung für das Bildungswesen des Kurfürstentums, vor allem

3  Ernst Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts, Hannover 1808; derselbe, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes auf die höheren Stände Deutschlandes; als Fortsetzung der Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland, Bde. I–II, Hannover 1810; beide Titel auch als Neudruck in der Reihe der von Jörn Garber herausgegebenen „Scriptor Reprints“, Kronberg/Ts. 1977. 4  Grundlegend zu Leben und Werk ist die ausführliche Biographie von Carl Haase, Ernst Brandes 1758–1810, Bde. I–II (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, 32: Niedersächsische Biographien, 4), Hildesheim 1973–1974; aus der älteren Literatur sind die trefflichen Charakteristiken durch zwei Zeitgenossen zu nennen: August Wilhelm Rehberg, Nachruf auf Ernst Brandes, in: derselbe, Sämmtliche Schriften, Bd. IV: politisch-historische kleine Schriften, Hannover 1829, S. 407–426, und Arnold Hermann Ludwig Heeren, Historische Werke, Bd. VI: Biographische und Litterarische Denkschriften, Göttingen 1823, S. 326 ff.; sodann Frieda Braune, Edmund Burke in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte des historisch-politischen Denkens (Heidelberger Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte, 50), Heidelberg 1917, S. 74– 113; Paula Eigen, Ernst Brandes (1758–1810) im Kampf mit der Revolution in der Erziehung (Göttinger Studien zur Pädagogik, H. 35), Weinheim/Berlin 1954; knapper Abriss von Erich Botzenhart, Brandes, Ernst, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. II, S. 518 f.; sehr gute zusammenfassende Würdigung bei Raumer, Deutschland um 1800 (Anm. 1), S. 64–66; nichts Neues bringt dagegen der Aufsatz von Anke Bethmann, Pragmatischer Reformkonservativismus als Reaktion auf erste Vorboten des demokratischen Zeitalters. Ernst Brandes  – ein Vertreter der hannoverschen Schule, in: Von ‚Obscuranten‘ und ‚Eudämonisten‘  – Gegenaufklärerische, konservative und antirevolutionäre Publizisten im späten 18. Jahrhundert, hrsg. v. Christoph Weiß/Wolfgang Albrecht (Literatur im historischen Kontext. Studien und Quellen zur deutschen Literatur- und Kulturgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 1), St. Ingbert 1997, S. 549–577.

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aber als Referent für die Universität Göttingen, zuständig war5. Im Jahre 1791 folgte Ernst Brandes seinem Vater in eben diesem Amt nach, das er auch noch in den ersten schweren Jahren der preußischen und der französischen Besetzung Hannovers seit 1803 innehaben sollte6. Allerdings wurde er seit 1806 politisch kaltgestellt und musste seine drei letzten Lebensjahre 1807 bis 1810 wegen „Widersetzlichkeit“ gegenüber der französischen Besatzungsmacht unter Hausarrest verbringen7. Genau in dieser Zeit entstanden seine beiden Schriften über den deutschen Zeitgeist, die bisher nur vergleichsweise wenig Beachtung gefunden haben8. Ein kurzes Porträt von Ernst Brandes wäre unvollständig, wenn man seine Vorliebe für England und seine vielfachen Verbindungen zu diesem Land verschweigen würde. Durch die Tatsache der Personalunion des Welfenhauses mit der Krone von Großbritannien wurde das Kurfürstentum Hannover von London aus regiert, und die hannoverschen Kabinettsräte, die das Land vor Ort verwalteten, verfügten naturgemäß über besonders enge Verbindungen nach England9. Der junge Brandes hatte sich in den Jahren 1784/85 für längere Zeit dort aufgehalten und tiefe Eindrücke empfangen, die sein politisches Denken nachhaltig prägen sollten10. In London schloss er Freundschaft mit Edmund Burke, für den  er auch eine ausführliche Denkschrift über die landständischen deutschen Verfassungen anfertigte11, und nach seiner Rückkehr nach Deutschland veröffentlichte er 1786 in der „Berlinischen Monatsschrift“ 5  Vgl. Ferdinand Frensdorff, Georg Brandes, ein hannoverscher Beamter des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen 76 (1911), H. 1, S. 1–57; Götz von Selle: Die Georg-August-Universität zu Göttingen 1737–1937, Göttingen 1937, S. 135 ff., 156 ff. u. a. 6  Vgl. dazu u. a. Selle, Die Georg-August-Universität zu Göttingen 1737–1937 (Anm. 5), S. 189 ff., 200 ff. u. a., sowie Haase, Ernst Brandes (Anm. 4), Bd. II, S. 20 ff. u. passim. – Brandes verfaßte in dieser Eigenschaft auch eine umfängliche Schrift: Ueber den gegenwärtigen Zustand der Universität Göttingen, Göttingen 1802. 7  Vgl. Haase, Ernst Brandes (Anm. 4), Bd. II, S. 218 f. 8  Siehe hierüber neben den Bemerkungen bei Haase, Ernst Brandes (Anm. 4), Bd. I, S. 389 ff. auch die Abhandlung von Hans-Joachim Schoeps, Ernst Brandes – ein Vorläufer der Zeitgeistforschung, in: derselbe, Studien zur unbekannten Religions- und Geistesgeschichte (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Geistesgeschichte, 3), Göttingen/Berlin/Frankfurt/Zürich 1963, S. 228–238. 9  Vgl. hierzu u.  a. die Beiträge in: England und Hannover, hrsg. v. Adolf M. Birke/Kurt Kluxen (Prinz-Albert-Studien, 4), München/London/New York/Oxford/Paris 1986; neuerdings auch Hermann Wellenreuther: Von der Interessenharmonie zur Dissoziation. Kurhannover und England in der Zeit der Personalunion, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 67 (1995), S. 23–42. 10  Vgl. Haase, Ernst Brandes (Anm. 4), Bd. I, S. 114–171. 11  Vgl. hierzu Stephan Skalweit: Edmund Burke, Ernst Brandes und Hannover, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 28 (1956), S. 15–72.



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unter dem Titel „Ueber den politischen Geist Englands“ eine mehrteilige, ausführliche Beschreibung der politischen Zustände und der Verfassungs- und Rechtsstruktur des Inselreiches, die man als die bis dahin kenntnisreichste und genaueste Darstellung dieses Gegenstandes in deutscher Sprache bezeichnen muss12. Daneben war Brandes zeitlebens unermüdlich als Autor tätig; seine Hauptschriften widmeten sich zum einen gesellschaftlichen und kulturkritischen Themen; so publizierte er etwa schon 1786 anonyme „Bemerkungen über das Londoner, Pariser und Wiener Theater“, sodann einige Betrachtungen über pädagogische Fragen, schließlich die etwas langatmigen dreibändigen „Betrachtungen über das weibliche Geschlecht und dessen Ausbildung in dem geselligen Leben“13. – Seine im engeren Sinne politischen Schriften galten in erster Linie der Analyse und Kritik der Französischen Revolution, der er anfangs zwar nicht mit Sympathie, doch mit einem vorbehaltlosen Interesse begegnet war, die er wenige Jahre später jedoch sehr deutlich und sehr scharf kritisierte14. Schließlich war er ein überaus fleißiger Rezensent, der über Jahrzehnte hinweg zu den wichtigsten Mitarbeitern der „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“ – immerhin eines der angesehensten Rezensionsorgane dieser Zeit – gehörte15. Der mit Brandes befreundete (und entfernt verwandte) Göttin12  Ernst Brandes: Ueber den politischen Geist Englands, in: Berlinische Monatsschrift, hrsg. v. F. Gedike/J. E. Biester, Bd. 7 (Januar-Juni 1786), S. 101–126, 217–241, 293–323. Siehe dazu auch Franz Uhle-Wettler: Staatsdenken und Englandverehrung bei den frühen Göttinger Historikern (Achenwall, v. Schlözer, Freiherr v. Spittler, Brandes, Rehberg, Heeren), phil. Diss. (masch.) Marburg 1956, S. 109–149; Haase, Ernst Brandes (Anm. 4), Bd. I, S. 128 ff.; Klaus Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangs­punkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770–1806, Frankfurt a. M./Berlin 1973, S. 656 ff. – Bereits ein Jahr zuvor hatte Brandes einen ersten England-Aufsatz publiziert: Ueber die Justiz- und Gerichtsverfassung Englands, in: Hannoversches Magazin, 86.–92. Stück 1785, Sp. 1362–1472. 13  Ernst Brandes, Bemerkungen über das Londoner, Pariser und Wiener Theater, Göttingen 1786; derselbe, Betrachtungen über das weibliche Geschlecht und dessen Ausbildung in dem geselligen Leben, Bde. I–III, Hannover 1802; Ueber das Du und Du zwischen Eltern und Kindern, Hannover 1809. 14  Ernst Brandes, Politische Betrachtungen über die französische Revolution, Jena 1790; derselbe, Ueber einige bisherige Folgen der Französischen Revolution in Rücksicht auf Deutschland, Hannover 1792; vgl. dazu auch Reinhold Aris: History of Political Thought in Germany from 1789 to 1815, London 21965, S.  55 ff.; Javene Black: Deutscher Konservativismus und französische Revolution – Versuch einer historisch-politischen Analyse, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 27 (1976), S. 729–749. 15  Eine (wohl weitgehend vollständige) Bibliographie seiner weit mehr als zweihundert Rezensionen in den „Göttingischen Gelehrten Anzeigen“ findet sich bei Haase, Ernst Brandes (Anm. 4), Bd. I, S. 396–420.

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ger Historiker Arnold Heeren hat ihn knapp folgendermaßen charakterisiert: „Als Schriftsteller wenig streng gegen sich; desto strenger gegen Andere. Ueberhaupt mehr zum Kritiker als zum Autor gemacht“16. Versucht man nun, Ernst Brandes als Schriftsteller und Denker etwas näher zu charakterisieren, dann fallen zuerst zwei Hauptaspekte auf: Erstens war und blieb Brandes, im Gegensatz zu manchem anderen konservativen Revolutionsgegner seiner Epoche, ein überzeugter Rationalist, ein  – wenn auch skeptischer  – Aufklärer, der die, wie er sagt, „freye Denk­ kraft des Menschen“ und die „heiligen Rechte der Vernunft“17  – auch in Anwendung etwa auf kirchliche Dogmen – stets verteidigte und von diesem Standpunkt aus sogar den Enthusiasmus der französischen Revolutionäre als Ausdruck einer „Verfinsterung der Vernunft“18 zu deuten vermochte,  – wenngleich er kurz vor seinem Tode im Gegenzug auch vor einer „Ueberschätzung des Verstandes“19 gewarnt hat. Der zweite Hauptaspekt ist darin zu sehen, dass Brandes  – in deutlichem Gegensatz zu seinem Freund und Landsmann August Wilhelm Rehberg und seinem Gesinnungsgenossen Friedrich Gentz20  – kein durch die Schule Kants gegangener philosophischer Autor war, also kein Systematiker und abstrakter Theoretiker. Brandes hat, im Gegenteil, gerade in der Neigung der Deutschen zur Abstraktion und Spekulation (davon wird noch zu reden sein) eine der wesentlichen Ursachen für den Niedergang Deutschlands nach 1780 gesehen. Er beanspruchte  – auch hierin seinen angelsächsischen Vorbildern folgend  – Empiriker und Pragmatiker zugleich zu sein. In seiner ersten Zeitgeist-Schrift heißt es einmal: 16  Heeren,

Historische Werke, Bd. VI (Anm. 4), S. 329. Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 41. 18  Ebenda, S. 201. Brandes konnte, bei aller deutlichen Kritik an Friedrich dem Großen und auch an Voltaire, ausdrücklich deren „gesunde Vernunft“ rühmen; vgl. Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. II, S. 52. 19  Vgl. Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. I, S. 197. 20  Vgl. hierzu Eugen Guglia, Die ersten litterarischen Gegner der Revolution in Deutschland (1789–1791), in: Zeitschrift für Geschichte und Politik 5 (1888), S. 764–794; Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland (Anm. 12), S.  504 f., 633 ff. u. a.; Kurt Lessing, Rehberg und die französische Revolution. Ein Beitrag zur Geschichte des literarischen Kampfes gegen die revolutionären Ideen in Deutschland, Freiburg i. Br. 1910; Ursula Vogel, Konservative Kritik an der Bürgerlichen Revolution. August Wilhelm Rehberg (Politica, 35), Darmstadt/Neuwied 1972; Golo Mann, Friedrich von Gentz. Geschichte eines europäischen Staatsmannes, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1972; Günther Kronenbitter, Wort und Macht. Friedrich Gentz als politischer Schriftsteller (Beiträge zur Politischen Wissenschaft, 71), Berlin 1994. 17  Brandes:



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„Aus der Fülle eigner gewiegten Beobachtungen zu schreiben, ist in Deutschland etwas sehr seltenes, und dieses erste Verdienst eines Schriftstellers wird noch weit seltener bey der Erscheinung einer Schrift anerkannt“21  – womit er, ohne dies deutlich auszusprechen, offensichtlich sich selbst meinte. Und außerdem sollte, wie er an anderer Stelle sagt, der „Hauptwerth […] aller Zweige politischer Wissenschaften doch im wahrhaft nützlichen Praktischen bestehen, nicht trockner Gedächtniß­ kram“22 sein. Damit hat er zugleich die Eigenart und den Anspruch der eigenen Schriftstellerei gekennzeichnet, die in der Tat diese beiden Aspekte zu umfassen beanspruchte: nämlich den Vorrang der Empirie vor der abstrakten Reflexion und den Vorrang der Praxis vor der Theorie. Dieser Abneigung gegen strenge Systeme und wirklichkeitsfremde Theorien entspricht es wohl, dass Brandes in seinen beiden Schriften über den Zeitgeist keine exakte Definition dessen gegeben hat, was er selbst unter „Zeitgeist“ versteht. Er geht davon aus, dass sich, wie er sagt, „zu allen Zeiten Betrachtungen über den herrschenden Zeitgeist anstellen lassen“ und dass „gewisse Perioden in der Geschichte hiezu ganz besonders den reichhaltigsten Stoff darbieten, den andere Perioden bei weitem nicht in dem Maaße gewähren,“ und er fügt an, dass jedes Zeitalter „seinen besonderen Charakter [habe], der in manchen Perioden sich matt, in einigen sich sehr stark hervorspringend zeigt“23; an anderer Stelle weist er wiederum darauf hin, dass „von dem Zeitgeiste […] alle Klassen, alle Einzelne“24 abhängen. – Man wird diese verstreuten Äußerungen wohl dahingehend zusammenfassen können, dass Brandes mit dem Begriff des Zeitgeistes in einem sehr allgemeinen Sinne die in einer bestimmten geschichtlichen Epoche vorherrschenden politischen, gesellschaftlichen und geistigen Tendenzen gemeint hat. Dieses – zugegebenermaßen sehr vage  – Verständnis von „Zeitgeist“ hat es ihm immerhin ermöglicht, die unterschiedlichsten Themen und Gegenstände in seine Betrachtungen aufzunehmen und auf diese Weise die Reichweite seines empirischen Zugriffs auf die Wirklichkeit stark auszudehnen.

21  Brandes,

Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 247. Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. II, S. 47; charakteristisch für diese Haltung auch das hohe Lob, das (ebenda, Bd. II, S. 212) dem „Pragmatismus“ Plutarchs gespendet wird! 23  Die Zitate ebenda, Bd. I, S. 3 f. 24  Ebenda, Bd. I, S. 21; vgl. auch S. 38. Eine Erläuterung hierzu kann man wohl in der Feststellung sehen, Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 7: „… daß zwar der Mensch von Ideen beherrscht wird, diese Ideen aber entweder aus seinem Innern hervorgehen, oder mit seinem äußern Daseyn in nahen Verhältnissen stehen müssen“. 22  Brandes,

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II. Den Ausgangspunkt für die Überlegungen, die Ernst Brandes in seinen letzten Lebensjahren über den Zeitgeist in Deutschland anstellte, hat man ohne Frage in der schweren politischen Krise zu sehen, von der Deutschland – oder besser: das deutsche Volk25 – in dieser Zeit betroffen war: Zerfall und Untergang des Alten Reiches, die Besetzung großer Teile das Landes durch französische Truppen, schließlich die Zerschlagung jahrhundertelang gewachsener politischer und institutioneller Strukturen. In dieser Perspektive wird Zeitgeisterkundung für Brandes nichts Geringeres als Ursachenerforschung der etwa seit den 1780er Jahren hereinbrechenden deutschen Misere, wobei er sich in seinen Untersuchungen auf die von ihm selbst miterlebte Zeit beschränkt26. Er teilt seine Darstellung in drei Phasen auf: die erste beginnt 1763, also mit dem Ende des Siebenjährigen Krieges, und endet 1780; die zweite umfasst etwa das Jahrzehnt von 1780 bis 1790, die dritte wiederum die Jahre zwischen 1790 und 1800. Im Weiteren lassen sich zwei Hauptgruppen seines Inte­ resses unterscheiden: erstens die Politik, und zweitens (in einem allerdings sehr weiten Sinne verstanden) die gesellschaftlichen und kulturellen Bewegungen. Seine Analyse der deutschen Zustände beginnt Brandes zuerst mit einer Betrachtung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation in den letzten Jahrzehnten seines Daseins: „Das Reich“, sagt er, „bot dem Blick ein morsches Gebäude dar, das bey einem bedeutenden Stoße, von Innen oder von Aussen gegeben, so leicht in Trümmern zerfallen konnte. Höchst sträflich und höchst unweise war eine jede Mitwirkung zum Einreissen von Deutscher Hand; aber noch unweiser, sich selbst täuschend, 25  Bereits auf den ersten Seiten des Buches von 1808 heißt es; Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 1 f.: „Deutschland existirt nicht mehr, doch das Volk der Deutschen ist noch vorhanden. Das gemeinsamste Eigenthum und Heiligthum der Nation ist die Sprache. Selbst bey den größten Verschiedenheiten in Charakter und Bildung blieb dennoch hierin so viel Gemeinschaftliches, was die Deutschen von andern Völkern auszeichnete.“ 26  Vgl. die für sein eigenes Selbstverständnis besonders kennzeichnende Feststellung ebenda, S. 252: „So wie bei den Großen, so sind bei den Nationen die Schmeichler die verderblichsten Feinde. Diejenigen, die beyden die Wahrheit sagen, meynen es nicht selten am redlichsten mit ihnen. Wer diese aufdeckt, selbst im Unglücke aufdeckt, will wahrlich nicht ein achtungswerthes edles Selbstvertrauen vernichten, fühlt wohl die Schwere des Unglücks tiefer wie sonst Einer. Aber es ist Sache der Wahrheit, denen, die den Fall fühlen, einige Ursachen des Falls zu zeigen, und verdienstlich, solchen, die sich noch auf einer eingebildeten Höhe träumen, diesen verführerischen Wahn zu benehmen, der sie von einer Rückkehr zur rechten Zeit abhält“.



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einem Gebäude der Art ewige Dauer zu versprechen.“ Denn „ein Reich, das sich mit Wahrscheinlichkeit eines guten Erfolgs nicht selbst vertheidigen kann, ist stets ein schwaches Reich“27. Der einzige Vorteil dieser Institution sei es gewesen, dass der Reichsverband den „Regenten und Unterthanen“ der deutschen Kleinstaaten „unmittelbaren Schutz“ habe bieten können28 – mehr jedoch nicht29. „Zwar gehörte der Fall unter die denkbaren“, bemerkt Brandes weiter, „daß ein großer Mann auf der rechten Stelle die lebendigen und die todten Kräfte der so lose verbundenen mannigfaltigen Theile für den Augenblick recht wirksam zu vereinigen vermöge“ – doch einen solchen „großen Mann“, zu dem „die deutsche Nation in dieser Beziehung hinaufblicken konnte“, habe es eben nicht gegeben. Genau hierin, im „nicht zu entschuldigende[n] Fehler: das Denkbare als vorhanden anzunehmen“, sei „die fortwirkende Hauptursache des beschleunigten Umsturzes des Continents“30 zu suchen. Die Deutschen seien der „gefährlichste[n] der Selbsttäuschungen“ erlegen, der „Täuschung nemlich, die davon ausgeht, nicht die Wirklichkeit klar zu nehmen, wie sie ist, sondern […] wähnt: man bedürfe nur zu rühmen, damit das Gerühmte des Ruhms werth werde“31. Das in seinen Strukturen vollkommen überalterte und schwache Reich habe sich also als doppeltes Verhängnis erwiesen: einerseits sei man schon aus pragmatischen Gründen gezwungen gewesen, dessen In­ stitutionen, so lange es irgend ging, am Leben zu erhalten, andererseits aber habe eben dieses Reich viele Deutsche zur Selbsttäuschung über ­ihre eigene politische Lage verleitet. Freilich hat es Brandes an dieser Stelle vermieden, eindeutige politische Schuldzuweisungen vorzunehmen und damit in nachträgliche Besserwisserei zu verfallen,  – denn ihm, als einem Zeitgenossen dieser letzten Jahrzehnte des Alten Reiches, ist die prekäre Situation, in der sich die führenden deutschen Politiker des aus27  Ebenda,

S. 6 f., 9. ebenda, S. 18. 29  So heißt es ebenda, S. 19: „So wie die Klugheit peremptorisch rieth, das Reichsgebäude vor der Gefahr eines Stoßes von Außen oder von Innen auf das sorgfältigste zu bewahren: eben so sehr mußte sie dahin streben, die Verhandlungen des Reichstages, die nun einmal in keinem sehr ehrwürdigen Lichte erscheinen konnten, möglichst nicht in beständige Thätigkeit zu setzen. Was Ehrfurcht gebieten soll, erfordert ohnehin im Allgemeinen eine gewisse Ruhe. Institute, die nicht recht wirksam seyn können und deren Aeußerungen sogar dem Sinne der Zeit nicht zusagen, hält man am besten aufrecht, wenn man nicht viel von ihnen hört. Die größeren Höfe hätten eine nachtheilige Mobilität des Reichstages zurückzuhalten vermocht, aber sie thaten’s nicht“; siehe auch die Bemerkungen ebenda, S.  11 f. 30  Die Zitate ebenda, S. 10 f. 31  Ebenda, S. 9. 28  Vgl.

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gehenden 18. Jahrhunderts befanden, immerhin noch deutlich bewusst gewesen. In einem nächsten Schritt wendet sich Brandes den beiden größten Einzelstaaten Deutschlands zu, Preußen und Österreich. Er ist keineswegs, wie man auf den ersten Blick vielleicht vermuten könnte, ein Lobredner Friedrichs des Großen; Brandes erhebt gegen ihn und seinen Vater Friedrich Wilhelm I. vielmehr einen gravierenden Vorwurf: auf ihrer beider Herrschaft gehe die verhängnisvolle Idee zurück, „daß ein Staat eine von der höchsten Gewalt eingerichtete Maschine sey“32. Die Bildung einer außergewöhnlich starken Armee und die mit dieser zusammenhängende übertriebene Wertschätzung alles Militärischen habe bedenkliche Folgen für den preußischen Staat gehabt, denn Friedrich der Große habe die notwendigerweise maschinenmäßigen Elemente des Militärischen allzu umstandslos auf den Staat übertragen: Friedrich ging, so Brandes, „den Weg aller Despoten […], den militairischen Mechanismus auf die Civiladministration übertragend, seiner selbst zu bedeutenden Posten oft schlecht gewählten Dienerschaft so wenig rechtmäßigen Spielraum als möglich verstattete, die Freiheit seiner Unterthanen, in Rücksicht der Dispositionen über ihre Person und der Anwendung der producirenden Kräfte, äußerst beschränkte“33. Das Grundübel des Maschinenstaates sieht Brandes nun darin, dass dieser jede Art von Eigeninitiative und Selbstdenken erstickt, dass er endlich in seelenloser Routine erstarrt – und eben daran in Krisenzeiten zugrunde gehen muss34. Gerade bei den  – ohnehin etwas schwerfälligen  – Deutschen rufe eine derartige mechanische Staatsordnung in der Konsequenz nichts anderes als „dumpfen Knechtssinn“35 hervor. Genau hierin aber liege eine der zentralen Ursachen für den Niedergang Preußens, der schließlich in dem Debakel von 1806 kulminierte: der Maschinenstaat, der „nicht den ganzen Menschen, Einsichten und Charakter, sondern nur Fertigkeit schätzte“, musste deshalb „beim ersten großen

32  Ebenda, S. 50; zur Tradition dieser Metapher siehe die gründliche Studie von Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Fürstenstaats (Historische Forschungen, 30), Berlin 1986. 33  Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 57 f. 34  Vgl. die Bemerkungen ebenda, S. 60 f.: „Je mehr sich die Idee praktisch realisirt, daß der Staat eine Maschine sey, je mehr erzeugt die anscheinende Vollkommenheit die größten durch nichts zu ersetzenden Uebel, im Ersticken eigner Denkweise und eigner Thätigkeit, die kein Exercirmeister lehren, ohne die kein Staat gut bestehen kann, und deren Erstickung in den Zeiten der Noth, jedem Staate kommend, ihn besonders centner-schwer drücken wird“. 35  Ebenda, S. 62.



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Stoße zu Grunde gehen“36. Außerdem habe Friedrich die Möglichkeiten seines Landes immer wieder in übermäßiger Weise beansprucht, damit der preußische Staat eine „seinen natürlichen Kräften nicht angemessene Rolle […] spielen“ konnte. Brandes resümiert: „Die Erschöpfungen von unverhältnißmäßigen Ansprüchen und Anstrengungen werden nicht durch das Andenken an vormalige ruhmwürdige Thaten gutgemacht“37. Einen weiteren Fehler des Preußenkönigs erkennt Brandes in dessen Adelspolitik. Friedrich habe die Tatsache nicht wahrgenommen (oder nicht wahrnehmen wollen), dass der dritte Stand in bezug auf „Wohlhabenheit und Kultur“ im 18. Jahrhundert einen bedeutenden Schritt nach vorn getan habe; der König habe vor allem nicht gesehen, dass „ganz natürlich aus einer erhöheten Bildung erhöhete Ansprüche allmählich ­ erwuchsen.“ Daher habe er nicht nur keine Schritte unternommen „zu einer allmähligen, rechtlich begründeten Aufhebung des schroffen Unterschiedes, der, zum Nachtheil des Regenten und aller Staatsbürger, zwischen den verschiedenen Ständen obwaltete“38, sondern er habe, im Gegenteil, die Vorrechte des Adels noch gestärkt, indem er an den Sonderrechten des adligen Grundbesitzes ebenso starr festgehalten habe wie an der althergebrachten Bevorzugung Adliger bei der Vergabe von Offizierspatenten und hohen Beamtenstellen. Statt die notwendige Annäherung und Angleichung der Stände zu fördern, habe er die Standesgrenzen noch erhöht39. Ein weiterer entscheidender  – mit dem Vorgenannten zusammenhängender – Aspekt der Kritik am friderizianischen Staat ist für Brandes die verfehlte Personalpolitik des Königs. Friedrich habe es darauf angelegt, fähige Spezialisten um sich zu sammeln, die allerdings nicht mehr als „Departementsmenschen“ bzw. Verwaltungsroutiniers gewesen seien. Da er „nur die Fertigkeit in aufgegebenen Arbeiten beym Staatsdiener vorzüglich zu schätzen“ wusste, habe er die Heranbildung „wahrer Staats36  Ebenda, S. 58. Der Vorwurf, dass Preußen unter Friedrich dem Großen zum „entseelten“ Maschinenstaat geworden sei, war vor 1808 freilich nicht unbekannt, so weist etwa Schoeps darauf hin, dass diese Kritik nach Mirabeau in ähnlicher Weise auch von Novalis, Hegel und Arndt erhoben worden ist; vgl. H.-J. Schoeps, Ernst Brandes  – ein Vorläufer der Zeitgeistforschung (Anm. 8), S. 231; zum Zusammenhang auch Walter Bußmann: Friedrich der Große im Wandel des europäischen Urteils, in: derselbe, Wandel und Kontinuität in Politik und Geschichte. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. Werner Pöls, Boppard a. Rh. 1973, S. 255–288. 37  Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 56 f. 38  Die Zitate ebenda, S. 68 f. 39  Vgl. dazu ebenda, S. 69 ff., 74 ff.; derselbe, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. II, S. 105 f.; vgl. auch die Ausführungen ebenda, S. 23 ff. u. passim.

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männer“ verhindert40. Friedrich, so resümiert Brandes, „erstickte entweder durch seine Regierungsmaximen ganz ausgezeichnete Kräfte, oder er wußte sie nicht zu finden, nicht auf der rechten Stelle zu gebrauchen“41. Angesichts dieser Fehlentwicklungen gelangt Brandes zu der rückblickenden Feststellung: „Die Basis von Friedrichs Regierungssystem war so gut wie in die Luft gebauet. Sie bestand aus seinem Genie, seiner Armee, seinem Schatze. Genie kann nie zur Basis eines das Leben des Genie’s überschreitenden Systems dienen, weil es das zufälligste Geschenk der Vorsehung ist, keine menschliche Kraft es wieder hervorzubringen, noch zu erhalten vermag“42. Die Folgen seien bis in die unmittelbare Gegenwart hinein zu verspüren: denn zum einen habe Friedrich im protestantischen Deutschland als ein in mehrfachem Sinne verhängnisvolles Vorbild gewirkt43, und zum anderen sei sein schwacher Nachfolger Friedrich Wilhelm II. nicht in der Lage gewesen, den von seinem übermächtigen Onkel so tief geprägten preußischen Staat nachhaltig im Innern zu reformieren44, Geradezu zwangsläufig habe es daher zu der verhängnisvollen Günstlingswirtschaft, zum „Favoriten-Regiment“45 im Preußen der Jahre nach 1786 kommen müssen. Allerdings ist auch der österreichische Kaiser Joseph II. der aufmerksamen Kritik durch Brandes keineswegs entgangen46. Denn in den umfassenden Reformbemühungen dieses Monarchen spürte der hannoversche Kabinettsrat ebenfalls „den Mechanism der maschinenmäßigen 40  Vgl.

Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 17 ff. S. 115; vgl. ebenda, S. 116 ff. 42  Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. II, S. 36 f.  – Brandes’ Wertung Friedrichs des Großen ist also durchaus zwiespältig; die genialen Züge der Persönlichkeit leugnet er ebensowenig wie er die epochale Bedeutung des Königs betont: „Durch und nach Friedrich entstand eine neue Welt“ (ebenda, S. 23). Andererseits hat er aber ebenfalls auf dessen geistige Fremdheit in Deutschland hingewiesen: dieser Monarch habe „auf den Charakter, die Bildung, den Geschmack der Deutschen“ keine Wirkung ausüben können; „von den letzten Seiten betrachtet, gehörte er nicht seiner Nation an, war und blieb ein Fremdling in ihr“ (Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist [Anm. 3], S. 78). 43  Vgl. Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 78. 44  Vgl. ebenda, S. 111 ff.; bes. S. 115: „Also nur von dem Geiste Einzelner blieb die Fortsetzung einer geistvollen Regierung zu erwarten, da Friedrich Wilhelm kein Friedrich war. Aber hier zeigte sich gleich die ansehnliche Dürre. Man lese Mirabeau, und sehe, was in bedeutenden Posten da stand. Nicht Friedrich Wilhelm, sondern den großen König wird man anklagen.“ 45  Ebenda, S. 124. 46  Vgl. ebenda, S. 98  ff; Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. II, S. 141 f. 41  Ebenda,



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Staatseinrichtungen“47 auf. Außerdem sei Joseph mit seinem Bestreben nach umfassender Erneuerung von Staat und Gesellschaft viel zu schnell und zu unüberlegt vorgegangen; er habe alles auf einmal reformieren wollen. Brandes bemerkt: „Auf die leichtsinnig angehende Generation mußten Josephs Reformen sehr nachtheilig wirken. Das Alte war geächtet und das Neue konnte nicht die Ehrfurcht, die dem Alten zukam, ansprechen“48. Auch die überstürzte Einführung der Pressefreiheit habe sich  – so Brandes  – in der Habsburgermonarchie in keiner Weise bewährt49. Schließlich sieht er Josephs Politik nicht zuletzt an persönlichen Defiziten des Monarchen gescheitert: „Zu regieren, das ist, die Menschen zu leiten, verstand Joseph nicht. Er konnte nur herrschen“50. Im Rückblick ist es erstaunlich – und spricht für die kritischen Fähigkeiten des desillusioniert-realistischen Beobachters Brandes  –, dass er als typischer Vertreter eines deutschen Mittelstaates51 die Schwächen des Alten Reiches genau erkannte und deutlich auf den Begriff brachte, anstatt es rückblickend zu verklären, – dass er, zweitens, als Norddeutscher und Protestant sich nicht scheute, die problematischen Aspekte des friderizianischen Preußen und die politischen Fehler des großen, vielbewunderten Königs mit unerbittlicher Strenge und in aller Ausführlichkeit analysierte, – dass er schließlich, drittens, auch die zweite deutsche Großmacht Österreich und die Politik Josephs II. in den 1780er Jahren ebenso klar, aber durchaus unpolemisch und sachlich, kritisieren konnte. III. Das zweite große Thema, das sich Brandes in seinen Erkundungen des deutschen Zeitgeistes nach 1763 vorgenommen hat, ist der Bereich Kultur und Gesellschaft  – hier allerdings in einem sehr weiten Sinne ver47  Vgl.

Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 102. S. 104; anschließend bemerkt Brandes: „Wahrlich gereicht es der Oesterreichischen Nation zu einer großen nicht genug beachteten Ehre, daß sie, in Neuerungen herum gerissen, wie bald Neuerungen einer ganz andern Art einbrachen, im Ganzen so fest an ihrem Monarchen hing, der Revolutionsschwindel keinen bedeutenden Eingang bey ihr fand“ (ebenda). 49  Vgl. ebenda, S. 103: „Die Preßfreiheit, die Joseph erteilte, vermochte nur, die Ideen des Tages in schnellern Umlauf zu bringen. Preßfreiheit allein hat nie wahre Werke des Geistes geschaffen; und welche bleibende Denkmäler der Preßfreiheit hat unsere Literatur aus jenen Zeiten der großen Gährung in Josephs Staaten aufzuweisen?“. 50  Ebenda, S. 101. 51  Arnold Heeren spricht sogar davon, dass Brandes dem hannoverschen „Staat, mit dem er starb“, letztlich „bis zur Aufopferung ergeben“ gewesen sei; Heeren: Historische Werke, Bd. VI (Anm. 4), S. 329. 48  Ebenda,

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standen. Auch der sonst so überaus kritische Brandes spricht mit En­ thusiasmus von dem bedeutenden geistig-kulturellen Aufschwung, den Deutschland nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges zu verzeichnen hatte, und den er als „Blüthe der schönen und wissenschaftlichen Literatur im protestantischen Deutschlande“52 kennzeichnet. Mit besonderem Nachdruck weist er darauf hin, dass es sich hierbei um einen spontanen, nicht etwa von oben initiierten oder gelenkten Vorgang gehandelt habe: „[…] das Aufblühen unsrer Litteratur geschah ohne Unterstützung der Fürsten und der vornehmen Welt, ein noch nicht recht gekanntes, nicht recht gewürdigtes Glück! Die Schriftsteller schmiegten sich nicht dem Geschmacke der Großen an, so wenig im Annehmen der Ideen dieser, als indem sie den verwöhnten Geschmack der Großen durch Paradoxen zu reizen suchten“53. Seit jener Zeit, so Brandes, „hatten wir Männer von Geist und Kraft in unsrer Litteratur“54.  – Dieser an sich grundsätzlich positive Befund vermag allerdings gerade nicht die Krise Deutschlands um 1800 zu erklären, um deren Erkundung und Aufhellung es Brandes zu tun ist. Und so kommt er nicht umhin, sich in erster Linie der Kehrseite des großen geistigen Aufschwungs zuzuwenden, um auch auf dieser Spur zu den Ursachen des deutschen politischen Niedergangs zu gelangen. Hier nimmt er zuerst die radikale Aufklärung ins Visier, die sich für ihn beispielhaft in dem bayerischen Geheimbund der Illuminaten verkörperte55. Ausgerechnet von Bayern, „von dem Lande, wo man es am wenigsten erwarten konnte, […] verbreitete sich ein Geist der heimlichs52  Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 33; vgl. auch derselbe, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. II, S. 196 ff., 217 ff. u. a. 53  Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. II, S. 197. 54  Ebenda, S. 198; Brandes nennt die Namen von Winckelmann, Lessing, Klopstock, Wieland, Goethe, Schiller, Bürger, Abbt, Zimmermann, Möser, Büsch und Herder (ebenda, S. 197 f.). 55  Vgl. Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 89 ff; über den ­Illuminatenorden siehe auch die ausführliche Darstellung bei Hans Grassl, Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte 1765–1785, München 1968, S. 173–292 und Richard van Dülmen, Der Geheimbund der Illuminaten, Stuttgart/Bad Cannstatt 1975. Wichtig zum Zusammenhang der aufklärerischen Freimaurerei immer noch die brillante Darstellung und Deutung bei Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1979, S. 68 ff.; sodann auch Peter Christian Ludz (Hrsg.), Geheime Gesellschaften (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, V/1), Heidelberg 1979; Rudolf Vierhaus, Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland, in: derselbe, Deutschland im 18. Jahrhundert – Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen, Göttingen 1987, S. 110–125, 283–28.



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ten, ränkevollsten Intrigue“; zwar seien auch „einzelne, sonst hochachtungswerthe Menschen“ Mitglied des Geheimordens gewesen, doch dessen Tätigkeit im ganzen habe sich außerordentlich verhängnisvoll ausgewirkt. Bei seiner großen Ausdehnung habe er maßgeblich beigetragen „zur Verbreitung eines Geistes von Indifferentismus, von Cosmopolitismus, bey dem vollen Haufen, nachtheilig dem notwendigen festen Bürgersinne.“ Die „traurigsten Folgen“ der Wirkung dieses Bundes sei in ganz Deutschland, vor allem bei untergeordneten Staatsbeamten, zu verspüren gewesen, denn gerade diese wurden „mittelbar oder unmittelbar angereitzt, nicht ohne Erfolg, den Systemen ihrer Regierungen heimlich entgegen zu handeln, die einer ehrlichen Mitwirkung dieser Subalternen durchaus bedürfen. Die Bande des nothwendigen gesetzlichen Zutrauens waren gelöset, ein Geist der Intrigue […] ungemein verbreitet“56. Allerdings weist Brandes ebenfalls darauf hin, dass die Bildung eines solchen Geheimordens nicht zuletzt auch als Reaktion auf die inneren Zustände eines unfreien, despotischen Gemeinwesens verstanden werden muss57. Ein weiteres Krisenphänomen stellte in den Augen von Brandes die moderne, radikal-aufklärerische Pädagogik eines Rousseau und eines Basedow dar, mit der er sich ebenfalls ausführlich auseinandersetzt58. Deren Erziehungsgrundsätze, die darauf abzielten, die Kinder gemäß ihrem Alter und ihren Fähigkeiten auszubilden  – Allgemeingut heutiger Pädagogik –, stießen auf die scharfe Kritik des hannoverschen Kabinettsrats; nach Brandes zeugten diese Ideen nur „von gänzlicher Unkunde der menschlichen Natur“59. Außerordentlich negativ wirkten sich diese Prinzipien auch in zwei weiteren Aspekten aus: zum einen, dass sie die häusliche Erziehung innerhalb der Familie vernachlässigten und insgesamt herabwürdigten60, zum anderen, dass sie wegen ihrer religionskritischen Elemente „zur Erstickung des religiösen Gefühls“61 führten. Im ganzen gesehen, bemerkt Brandes rückblickend, sei „der Anfang der sogenann56  Die Zitate aus Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 92, 90, 95 f. 57  Vgl. ebenda, S. 90 f.: „Eine äußerst merkwürdige Erscheinung bleibt aber allemal der Orden, in seiner vollen Reifezeit betrachtet, darthuend, wie der durch den Mechanism despotischer Einrichtungen in der bürgerlichen Gesellschaft fest gebundene Mensch Auswege zu einer freyen Regsamkeit sucht; daher in Staaten, wo er dieser Auswege zur Wirksamkeit nicht bedurfte, der Orden im Allgemeinen nur als Club, höchstens wohlthätige Gesellschaft, figurirte“. 58  Vgl. hierzu neben der Studie von Eigen, Ernst Brandes (1758–1810) im Kampf mit der Revolution in der Erziehung (Anm. 4), auch Haase, Ernst Brandes (Anm. 4), Bd. II, S. 376 ff. 59  Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 47; vgl. S. 44. 60  Vgl. ebenda, S. 45; vgl. auch S. 131 f. 61  Ebenda, S. 48.

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ten Reformation im Erziehungswesen […] die erste Revolution intellektueller Gattung in Deutschland“62 gewesen; – eine Art geistiger Umsturz, der in seiner traditionsauflösenden Tendenz langfristig verhängnisvolle Folgen gezeitigt habe. Anknüpfend an seine Kritik einer den Grundsätzen der menschlichen Natur widersprechenden Pädagogik folgen umfangreiche Ausführungen, die im steigenden Luxus und im allgemeinen Sittenverfall weitere Ursachen der deutschen Misere namhaft zu machen versuchen63. Diese Passagen zählen sicherlich zu den schwächsten Partien der Zeitgeistschriften von Brandes, denn hier erhebt er sich kaum über das übliche Klage­ niveau vieler kulturkritischer Schriften, die es vor und auch nach ihm gegeben hat, und die in ihrer gemeinsamen Tendenz zur Verklärung der Vergangenheit der eigenen Gegenwart in der Regel nicht gerecht werden können. Dem Leser entgeht nicht, dass sich in diesen Abschnitten ein vielfach enttäuschter, verbitterter alter Mann am Ende seines Lebens zu Wort gemeldet hat. Überzeugender wiederum muten Brandes’ Bemerkungen zur religiösen Problematik an – genauer gesagt, zum Phänomen einer seit der Mitte des 18. Jahrhunderts langsam fortschreitenden Säkularisierung, einer Entchristlichung des allgemeinen Lebens, die für ihn ein Alarmsignal allerersten Ranges darstellt64; er bemerkt rückblickend: noch „ehe poltische Begebenheiten hinzutraten, war bereits das Fundament des kirchlichen 62  Ebenda, S.  49; vgl. auch die zusammenfassenden Bemerkungen ebenda, S. 49 f.: „Daß in dem, was Basedow aus einem Gemische von gutmüthiger Schwärmerei, Charlatanerie und Finanzspeculation unternahm, einiges Nachtheilige in dem Erziehungswesen verbessert, einiges Gute befördert wurde, dient einer Revolution, die auf höchst irrigen und in ihren Folgen höchst schädlichen Grundsätzen beruhete, im allgemeinen nicht zur Empfehlung. Die besten Philanthropine waren leidige Nothbehelfe für die nicht geringe Zahl Eltern, deren große Charakterfehler sie an der Ausübung ihrer heiligsten Pflichten hinderte und für die sehr kleine Klasse, denen die Umstände die Ausübung dieser Pflicht wirklich unmöglich machte. Aber die Folgen der Philanthropine waren wie die der Findelhäuser: durch die Leichtigkeit der Sorge der Erziehung loszuwerden, wurden Manche unter den höheren Ständen – denn diese konnten nur allein die Kosten bestreiten – verleitet, sich der Ausübung einer Pflicht zu entziehen, der sie leidlich genug gewachsen waren“. 63  Vgl. ebenda, S. 129 ff., bes. 136 ff., 146 ff.; Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. I, S. 53 ff., 111 ff., 244 ff. u. a.; zusammenfassend die Feststellung ebenda, Bd. I, S. 44: „Das charakteristische Merkmal unserer Zeit, der Periode der letzten 20 Jahre, ist Rückfall in Thierheit und Roheit aus Ueberfeinerung“. 64  Vgl. Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 85 ff., 163 ff. u. a.; derselbe, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. I, S.  228 ff., Bd.  II, S.  178 ff., 206 ff. u. a.



Ernst Brandes und der deutsche Zeitgeist um 1800113

Glaubens im protestantischen Deutschlande auf das stärkste erschüt­ tert“65. In seiner Sicht hat dieses zu beklagende Phänomen unterschiedliche Gründe. Zuerst macht er bestimmte Entwicklungen innerhalb der evangelischen Theologie hierfür verantwortlich: So habe Lessing  – den Brandes als Autor und Dichter ansonsten durchaus schätzt  – durch die Herausgabe der sogenannten „Wolfenbüttler Fragmente“, also der nachgelassenen theologischen Schriften des Hermann Samuel Reimarus66, die Grundlagen des christlichen Glaubens im allgemeinen Bewusstsein der Gebildeten schwer erschüttert: „Lessing’s Hauptschläge auf das Fundament des christlichen Glaubens wirkten ungemein auf die angehende Generation, besonders die jungen Theologen, und in dem Gange der Folgezeit trat nichts ein, was diese Wirkung mindern, geschweige aufheben konnte“67. Noch zwei weitere Aspekte nimmt Brandes in diesem Zusammenhang in den Blick: Erstens die Ethik Immanuel Kants, der mit seinem Versuch, die ethisch-moralischen Prinzipien des Christentums philosophisch-ra­ tional neu zu begründen, „auf das stärkste die noch übrige Anhänglichkeit an die Quellen der Religion“ erschüttert habe68. Und zweitens die, wie Brandes sagt, „vergötterte Natur“69 der pantheistischen Geistesströmung seiner Zeit, die ebenfalls von Lessing und anderen Autoren der Epoche – mit einem nicht geringen Einfluss auf das deutsche Geistesleben des ausgehenden 18. Jahrhunderts  – repräsentiert wurde70: Dieser Pantheismus, so Brandes, sei „für das Bedürfnis des einzelnen Menschen […] nicht viel weniger gefährlich und nachtheilig, als der grobe Materialis­ mus“71,  – eben weil er den persönlichen Glauben der Menschen an das 65  Brandes,

Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 85. siehe die ausführlichen Darstellungen von Erich Schmidt, Lessing. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, Bd. II, Berlin 21899, S.  186 ff. u. a., und Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, Bd. IV, Gütersloh 31964, S. 120–165, bes. S. 144 ff.; aus der neueren Literatur die zusammenfassende Studie von William Boehart, Politik und Religion. Studien zum Fragmentenstreit (Reimarus, Goeze, Lessing), Schwarzenbek 1988. 67  Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 87; vgl. auch derselbe, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. I, S. 228 ff., Bd. II, S. 195 f. 68  Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 111. 69  Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. II, S. 207. 70  Vgl. hierzu u. a. Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 3 1973, S.  254 ff.; Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1986, S. 610 ff. 71  Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. II, S. 206. 66  Hierzu

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eigene individuelle Fortleben nach ihrem Tode zerstöre72.  – Um die Zukunft der christlichen Religion als solcher machte sich Brandes jedoch keine Sorge: „Die Sonne religiöser Ueberzeugung wird mit verdoppelter Stärke wieder scheinen“, heißt es in der zweiten Zeitgeistschrift  – doch bis dahin sei es noch „eine lange Winternacht“, in der vielleicht „Generationen über Generationen“ zu leben hätten, eher der „Morgen des Wiederscheinens“ hereinbrechen werde.73 Schließlich ist es – nach Brandes – die neuere Philosophie, die für eine ganze Reihe von Übeln verantwortlich gemacht werden muss, die zum Niedergang Deutschlands maßgeblich mit beigetragen haben. Der an der Erfahrung orientierte, pragmatisch denkende Brandes wird bei der Betrachtung dieses Problems zu einem Kritiker des eigenen Volkes: „Es ist oft und wahr gesagt: die Deutschen sind ein nachdenkendes, grübelndes Volk. Vielseitigkeit der Ansicht wohnt bei ihnen, eine Vielseitigkeit, bei der sie das Naheliegende, Durchgreifende, übersehen, oder nicht lebendig festhalten. Dem Praktischen, was ein schnelles Ergreifen, einen schnellen Entschluß, eine gewisse Einseitigkeit, erfordert, ist jene Vielseitigkeit, jenes Nachdenken, von dem schon die Zusammensetzung des Worts andeutet, daß es nicht vorgeht, sondern hintendrein hinkt, nichts weniger als förderlich“74. Immerhin hat Brandes auch darauf hingewiesen, dass diese spezifisch deutsche Neigung zum abstrakten Denken wenigstens auch als eine verständliche Reaktion auf innere Unfreiheit verstanden werden muss: denn wo es kaum äußere Freiheit gibt, müssen die Räume innerer Freiheit mit Notwendigkeit immer größere Ausmaße annehmen75.

72  Vgl. die aufschlussreichen Bemerkungen ebenda, Bd. II, S. 207: „Der Mensch hängt an seiner Individualität. Nur die Fortdauer derselben gewährt ihm wahre Erhebung, wahren Trost. Geht in die Familien und fragt die Vater [sic], vornehmlich die Mütter, die Kinder, ob bei dem Hinscheiden dessen, was sie lieben, der Trennung von diesem, ihnen die Ueberzeugung Beruhigung gibt, daß die Partikel ihres Ichs, ohne Bewußtseyn der theuersten Verhältnisse, irgendwo wieder herumschwimmen, angezogen, abgestoßen werde? Sind denn keine Väter, keine Gatten unter Euch, blicktet Ihr nie in das Innere der Familien, daß Ihr Euch von Einem, der nicht Gatte, nicht Vater ist, dahin weisen lassen müßt?“. 73  Die Zitate ebenda, Bd. I, S. 238. 74  Ebenda, Bd. I, S. 126 f. 75  Siehe Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 41, wo darauf hingewiesen wird, „daß da, wo die Beschäftigung mit diesen Dogmen […] ein Hauptinteresse auch der Layen wird, gewöhnlich ein anderes näher liegendes Hauptinteresse für die freye Geistesthätigkeit des Menschen fehlt, der Staat dem Menschen zu Hause, in der bürgerlichen Welt, keinen freyen Spielraum läßt, sondern durch seine Vorschriften, seine bestellten Diener, in alles eingreift, alles regulirt.“



Ernst Brandes und der deutsche Zeitgeist um 1800115

Mit der ihm eigenen Konsequenz macht Brandes die negative Bilanz der deutschen idealistischen Philosophie auf76: Bei allem notwendigen Respekt vor Kant und seiner geistigen Leistung habe, so Brandes, die zu starke Verbreitung abstrakten Denkens  – für das ohnehin nur wenige Köpfe dank ihrer geistigen Fähigkeiten geeignet seien  – ausschließlich negative Folgen gehabt: Zuerst einmal würden die positiven Gefühle, die den Willen der Menschen leiten, durch Abstraktionen zersetzt – also vor allem die Vaterlandsliebe und die gefühlsmäßigen Familienbande. Sodann eigne dieser Philosophie eine Verachtung alles Positiven und Wirklichen, vor allem der Erfahrung und der Geschichte. Schließlich sei die neue, in Formeln sich ausdrückende philosophische Moral ein großes Problem, da es sich hierbei um eine Prinzipien- und Pflichtethik handele, welche die Menschen nicht bessere, sondern lediglich von oben herab belehre. Wenn man dann noch mit einbeziehe, dass durch den philosophischen Rationalismus der Glaube gefährdet werde, dann könne man mit Recht sagen: „Unter den zweckerreichenden Angriffen auf das Alte gebührt dieser Zeitphilosophie ein bedeutender Platz“77. Wenngleich Brandes auch einige wenige positive Bemerkungen über die deutsche Philosophie gefunden hat – indem er etwa feststellt, sie verwechsele „Gewalt nicht mit Recht“ und habe das deutsche Denken vor dem „grobe[n] Materialismus“ ebenso bewahrt wie vor dem „System des groben Eigennutzes“78 –, so ist doch die Stoßrichtung seiner Kritik eindeutig und klar: die Abstraktionen des philosophischen Idealismus wirken, wenn sie in das allgemeine Leben und Handeln der Menschen eingreifen, zerstörend: sie zersetzen ethische und religiöse Gefühle, sie entfremden von einer Orientierung an Erfahrung und Praxis und sie zertrümmern in letzter Konsequenz bewährte Ordnungen und Traditionen. Diese Kehrseite des geistigen Aufschwungs in Deutschland seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stellt für Brandes eine der zentralen Ursachen für den politischen Niedergang Deutschlands seit der Wende zum 19. Jahrhundert dar. IV. Die eigentliche Zäsur der von Ernst Brandes in seinen beiden Zeitgeistbüchern betrachteten und analysierten geschichtlichen Epoche ist jedoch die Französische Revolution. In seinen 1790 veröffentlichten 76  Vgl.

hierzu und zum folgenden ebenda, S. 104–111. S. 111. 78  Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. II, S. 204 f. 77  Ebenda,

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„Politische[n] Betrachtungen über die französische Revolution“ hatte Brandes noch eine sachlich-unpolemische, in einigen Aspekten sogar von kritischer Sympathie getragene Analyse der politischen Veränderungen in Frankreich vorgenommen, während er in seiner zweiten, 1792 publizierten Schrift zur Revolution schon unter dem Einfluss seines Freundes und Mentors Edmund Burke eindeutig negativ Stellung bezog79. Diese Verurteilung der Revolution verstärkte er in seinen Zeitgeistschriften um 1808 noch erheblich80. Hatte er 1790 immerhin noch Ansätze zu einer positiven Entwicklung nach dem Vorbild der politischen Ordnung Englands gesehen und die Wiederherstellung der im Ancien ­régime verletzten Freiheitsrechte des Menschen begrüßt81, so deutete er jetzt, kurz vor seinem Tode, das Geschehen nach 1789 nurmehr als Folge der Abkehr von Tradition und Ordnung: „Es hängt sehr natürlich zusammen, daß das Zeitalter, was sich ganz von dem Halt des Herkömmlichen losriß, getrieben von einer kraftlosen Unruhe, Spiel und Opfer von Monstrositäten ward, die es in reichem Maaße erzeugte.“ Die Führer der Revolution – allen voran Robespierre und Marat – sah er von „Mordlust“ und einem Gemisch „von Furchtsamkeit, Heuchelei, Sinnlichkeit“ angetrieben; sie hätten die Herrschaft allein deshalb an sich reißen können, „weil man das Herkömmliche in Allem verwarf“82. In Deutschland wiederum habe die Revolution in erster Linie eine ­ llgemeine Verwirrung der Köpfe hervorgerufen, indem sie „einen großen a Enthusiasmus für demokratische Staatsformen und Grundsätze erzeug­ te“83, der als Symptom gerade deshalb so bedenklich sei, weil er im Grunde „dem ernsten bedächtlichen Charakter der Deutschen […] fremd“ sein müsse84. Eben hierin sieht Brandes aber auch den wichtigs79  Siehe die Angaben oben, Anm. 14; vgl. dazu auch Braune, Edmund Burke in Deutschland (Anm. 4), S. 74 ff. 80  Vgl. Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 180 ff.; derselbe, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. I, S. 136 ff. 81  Vgl. Brandes, Politische Betrachtungen über die französische Revolution (Anm.14), S. 53 ff., 64 ff. u. a.; dazu auch die Bemerkungen von Raumer, Deutschland um 1800 (Anm. 1), S. 65. 82  Die Zitate aus Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. I, S. 136–38. 83  Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 180. 84  Vgl. ebenda, S. 181 f.: „[…] ein lodernder Enthusiasmus ist nichts weniger als ein Zeichen der Stärke des Charakters, wofür man ihn wohl, aber sehr irrig, ausgab. Große Reizbarkeit, mit Unruhe verknüpft, ist in der Regel der brennbarste feuer-empfänglichste Stoff. […] Je dürrer das Holz, je früher wird es ein Raub der Flamme. Menschen ohne einen festen innern Halt von stark wirkenden Gefühlen, ergeben sich schnell den mächtigen Reizungen des Augenblicks. Es zeigt sich dann, wie dünn und zerbrechlich die Kruste voriger Gewohnheiten, Verhält-



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ten Grund dafür, dass die Revolution nicht nach Deutschland habe übergreifen können: dies sei zum einen dem treuen, biederen Charakter der Deutschen zuzuschreiben, zum anderen aber auch der Tatsache, dass es zu einer revolutionären Erhebung „an einem großen Centralpunkte fehlte“85. Die Reaktionen der deutschen Autoren auf die Französische Revolu­ tion86 betrachtete Brandes mehr oder weniger gelassen. „Unter den Schriftstellern von verdientem Ansehen“ habe es keinen einzigen gegeben, der als „Lobredner oder Vertheidiger“ revolutionärer Grundsätze aufgetreten sei – nur ein „Haufen von Skriblern“ habe dies getan. Doch sei einzuräumen, dass es unter den Erstgenannten leider zu wenige waren, die entschieden die Revolution und deren Prinzipien bekämpft hätten, die daher eben „ihr ganzes Gewicht nicht in die Wagschaale [sic] zur Festhaltung der Begriffe von bürgerlicher Ordnung, Verfassung, Moral und Religiosität gegen die umstürzenden Neuerungen legten“87. Im Gegenteil sei es vielmehr so gewesen, dass die deutsche Neigung zur philosophisch-abstrakten Denkweise bei einigen Autoren dazu geführt habe, die Revolution „als Gegenstand einer speculativen Theorie“ zu betrachten und ihr gewissermaßen einen quasi experimentellen Charakter zuzugestehen: „Wie ein neues philosophisches System betrachteten Manche die Thaten demokratischer Wuth, nicht daran denkend oder nisse, Ideen war. Die Empfänglichkeit für einen leicht lodernden Enthusiasmus […], dem Anscheine nach dem ernsten bedächtlichen Charakter der Deutschen so fremd, ist der Verwundrung tiefsehender Franzosen nicht entgangen“. 85  Ebenda, S. 192. 86  Die Literatur zu diesem Thema ist immens; hier seien nur die wichtigsten Titel genannt: George Peabody Gooch, Germany and the French Revolution, London 1920; Alfred Stern, Der Einfluß der Französischen Revolution auf das deutsche Geistesleben, Stuttgart/Berlin 1928; Jacques Droz, L’Allemagne et la Révolution française, Paris 1949; neuere Sammelbände mit z. T. ausführlichen Literaturangaben sind: Wolfgang von Hippel (Hrsg.): Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Die Französische Revolution im deutschen Urteil, München 1989; Karl Otmar Freiherr von Aretin/Karl Härter (Hrsg.), Revolution und konservatives Beharren. Das Alte Reich und die Französische Revolution (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Abt. Universalgeschichte, Beiheft 32), Mainz 1990; Roger Dufraisse/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Revolution und Gegenrevolution 1789–1830. Zur geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland (Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien, 19), München 1991. 87  Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 193; weiter heißt es: „Eine blos litterarische Ansicht […] trübte die richtige Anschauung, und die Furcht, das verbreitete Ansehen zu compromittiren, hielt ab, von diesem Ansehen einen gehörigen Gebrauch zu machen; eine Furcht, die, wie gewöhnlich, sich selbst strafte, indem das Ansehen, was sich nicht zur rechten Zeit seiner Macht bedient, bald aufhört, welche zu besitzen“.

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gleichgültig über die zu tausenden angestellten blutigen Experimente mit menschlicher Glückseligkeit, als wären es Galvanische Versuche mit Fröschen, entblößt von aller Kenntniß der allgemeinen menschlichen ­Natur, der stark wirkenden Nationaleigenheiten, der Geschichte“88. Mit dieser Bemerkung spielte Brandes offensichtlich  – ohne jedoch den Namen zu nennen  – auf den Göttinger Experimentalphysiker und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg an, der 1799 die Revolution als eine Art „neue Wissenschaft“ bezeichnet und von der „neufränkischen Experimental-Politik“89 gesprochen hatte. Noch einen weiteren Aspekt der abstrakt-philosophischen Betrachtung von Geschichte und Politik hebt Brandes hervor: nämlich den, wie er sagt, „irrigen fatalistischen Wahn […], der aus allgemeinen Ursachen, aus dem Zeit- oder Weltgeiste stets folgern will: alles habe so kommen müssen, wie es kam“90. Einen historischen Determinismus dieser Art lehnt Brandes konsequent ab; eine solche Idee widerspricht seinem Sinn für das Praktische und Empirische, für das Konkrete und für die Offenheit der Geschichte: jeder Betrachter und Analytiker historischer Entwicklungen habe, so Brandes, „die entscheidende Gewalt deß, was wir Zufall nennen, anzuerkennen“91. Bedenkt man diese Grundüberzeugung, dann verwundert es nicht, dass Brandes auch die Idee eines historischen Fortschritts strikt abgelehnt und bekämpft hat; diese Vorstellung sei ein, wie er sagt, „zu der gefährlichsten Verblendung führender Gedanke“92. Als die deutschen ­ Hauptvertreter dieses Gedankens macht er neben Lessing und Herder vor allem Kant namhaft93; die „Menge der Gläubigen“, die dem Fortschrittsgedanken folgten, seien hierfür gewonnen worden „durch die 88  Ebenda,

S. 205. scheint, dass Brandes hier an Lichtenbergs Aufsatz „Rede der Ziffer 8“ gedacht hat, die zuerst im „Göttinger Taschen Calender für 1799“ veröffentlicht worden war; hier zit. nach dem Neuabdruck in: Georg Christoph Lichtenberg, Schriften und Briefe, hrsg. v. Wolfgang Promies, Bd. III, München 1972, S. 463 f.: „O! und des Jahrhunderts, das gewiß die Ehre haben wird, die Früchte einer neuen Wissenschaft, ich meine der mit großem Geld- und Blutaufwand eröffneten, neufränkischen Experimental-Politik, entweder einzuernten, oder, als hienieden unreifbar, zum Dünger für etwas minder Utopisches wieder unterzupflügen“; grundlegend für den Zusammenhang: Albrecht Schöne, Aufklärung aus dem Geist der Experimentalphysik. Lichtenbergsche Konjunktive, München 1982, S. 103 ff. 90  Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 99; vgl. auch S. 79 f., 177. 91  Ebenda, S. 52. 92  Ebenda, S. 206 f.; vgl. auch Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. II, S. 191. 93  Vgl. Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 208 f. 89  Es



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Kantische Philosophie, deren Anhänger meistens die Erfahrung herabwürdigten.“ Kant selbst habe mit seiner Schrift „Zum ewigen Frieden“ mehr als deutlich gezeigt, „wie schaal der erste abstrakte Denker werden kann, wenn er seine Sphäre verläßt“94. Dem Fortschrittsglauben tritt Brandes nun mit einer ganzen Reihe von Argumenten entgegen: Die Geschichte verlaufe  – erstens  – gerade nicht in linearer Form, sondern man könne in den Abläufen der Vergangenheit „allenthalben ein Heben und Fallen“ feststellen, das zudem „keinen regelmäßig abzumessenden Zeitperioden unterworfen“95 sei. Zweitens sei die Perspektive der Fortschrittsgläubigen extrem verengt, denn, so Brandes, „die Anhänger der Hypothese des Fortschreitens bestimmten höchst selten ihre Idee dem Subjekte nach, so sehr sie sich auch allgemeiner Ausdrücke bedienten. Asien und Afrika waren für sie nicht vorhanden. Ihre Augen blieben auf Europa, eigentlich auf das protestantische Deutschland, den Fleck, auf dem sie standen, gerichtet“96. Drittens litten die Anhänger dieser Idee an drei Grundübeln: mangelnder Menschenkenntnis, Geschichtsfremdheit und Erfahrungsblindheit97. In eben diesem Sinne  – nämlich als überzeugter Empiriker  – setzt Brandes seine Argumentation gegen den Fortschrittsgedanken weiter fort98: Es sei eine „unwiderleglich[e]“ Erfahrung, dass die Ausbreitung der Kultur und der Geistestätigkeit keineswegs unbesehen den Fortgang der allgemeinen Moralität befördere; es sei durchaus kein Kulturfortschritt zu verzeichnen, wenn es mehr Bücher und mehr Leser gebe; auch eine Kumulation des Wissens und allgemeiner technischer Fertigkeiten könne in keiner Weise als Anzeichen einer Aufwärtsentwicklung angesehen werden. Außerdem werde ein kultureller Fortschritt nicht schon durch das bloße Vorhandensein guter Bildungsanstalten gesichert, sondern durch die politischen Verhältnisse in den jeweiligen Ländern99. 94  Ebenda, S. 209; selbst nach dem Fall der Schule Kants „ging diese Theorie [vom menschlichen Fortschritt, H.-C.K.] bis in den Anfang des laufenden Jahrhunderts fast in alle Sekten über, eine Theodicee einer neuen Art, nach dem Ausdrucke Baco’s, aus den Grübeleyen in unserm kleinen Selbst, nicht von der Anschauung der großen Welt außer uns hervorgehend“ (ebenda). 95  Die Zitate ebenda, S. 209 f.; vgl. auch ebenda, S. 210 f.: „Die einzige gleichförmige Erscheinung, welche die Geschichte aufweiset, besteht darin, daß die Blüthezeit der Völker in die Periode fällt, wo sie, der Rohheit entgangen, noch nicht zu sehr der Verfeinerung unterlagen; ein Zustand, der aber nicht allen Nationen, bei weitem nicht, zu Theil ward“. 96  Ebenda, S. 211. 97  Vgl. ebenda, S. 212. 98  Zum folgenden siehe ebenda, S. 214 ff., 220 ff. 99  Siehe die entsprechenden Äußerungen des erfahrenen Universitätspolitikers Brandes ebenda, S. 220: „Der Einfluß der wissenschaftlichen Bildungsanstalten

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Schließlich beruhe der Fortschrittsglaube auf einer Verwechslung von „Fortschreiten“ und „Anderswerden“ sowie auf dem Denkfehler, „ein jedes Anderswerden sogleich als ein Besserwerden“ aufzufassen100. Dabei hat Brandes den Tatbestand keineswegs verkannt oder außer Acht gelassen, dass es durchaus so etwas wie Wissens- und Erkenntnisfortschritte geben kann – etwa in den Erfahrungswissenschaften101. Doch die negativen Folgen der Fortschrittsidee  – etwa auch in Rücksicht auf die Entwicklung des religiösen Glaubens102  – stehen für Brandes vollkommen außer Zweifel; dass diese Idee eine derartige Verbreitung habe finden können, sei nicht zuletzt auch, so Brandes abschließend, auf menschlich-allzumenschliche Ursachen zurückzuführen: „Die Anmaaßungen des Zeitalters, hoch über seine Vorgänger hervorzuragen, schmeichelten zugleich dem Stolze des Einzelnen, auf welchen natürlich ein von seiner Einbildung bestimmter Theil des Glanzes des Fortschreitens zurückfiel. Der Zeitgeist war der Herren eigner Geist, die sich also in seiner Erhebung selbst Complimente machten“103. Die Wirkungen der Französischen Revolution waren also  – so könnte ein Resümee von Brandes’ Thesen lauten  – in Deutschland zuerst vornehmlich geistiger Art: sie bestanden in einer „Verwirrung der Köpfe“, die sich im Enthusiasmus für revolutionär-demokratische Ideen, im fatalistischen Wahn eines historischen Determinismus und schließlich in einem blinden Fortschrittsglauben äußerte. In einem zweiten Schritt sei aus dieser geistigen „Verwirrung“ allerdings ein mehr oder weniger polihängt […] von der Achtung, mit der man sie behandelt, der Unterstützung, die ihnen angedeiht, ihren Einrichtungen ab; mit Einem Worte: von dem politischen Schicksale der Länder“. 100  Ebenda, S.  222 f. 101  Vgl. ebenda, S. 230 f.: „Die Erfahrungswissenschaften waren grade diejenigen, in welchen die meisten Entdeckungen vorfielen, ein Fortschreiten statt fand. In der Astronomie, Physik, Chemie, Heilkunde, Oeconomie, Mechanik, hatte es unleugbar der neuen Entdeckungen höchst merkwürdige und wichtige gegeben, aber nur zum Niederreissen alter Systeme, nicht zum Aufbauen neuer daurenden hinreichend, höchstens einige unzusammenhängende Resultate mehr gewährend. Auf Fortschritte der Erfahrungen in jenen Wissenshaften konnte die Zeit stolz seyn“. 102  Vgl. ebenda, S. 223 f.: „Die Wirkungen der Hypothese des Fortschreitens äußerten sich sehr nachtheilig […] als Surrogat der Hoffnungen und des Glaubens des einzelnen Menschen, zu welchem sie einige Verbreiter derselben deutlicher oder verstärkter erheben wollten. Das Fortschreiten, der Erfahrung widersprechend, sollte die Stelle des Glaubens an Unsterblichkeit einnehmen, über dessen Realisation die Erfahrung schwieg, des Glaubens, den aber die Menschheit als die einzige Auflösung des sonst unauflöslichen Räthsels des Daseyns zu der festen Befolgung der Vorschriften der ewigen Gerechtigkeit bedurfte“. 103  Ebenda, S. 251. (Bekanntlich eine Anspielung auf Goethe, Faust I, 577–579).



Ernst Brandes und der deutsche Zeitgeist um 1800121

tisches Phänomen geworden, da sie letztendlich die Zersetzung und Auflösung sowohl des vernünftigen, an Erfahrung und Praxis orientierten Denkens wie auch hergebrachter Traditionen zu verantworten habe. Nicht direkt und unmittelbar, sondern auf dem Umweg über die Köpfe der deutschen Metaphysiker sei die französische Revolution in Deutschland politisch wirksam geworden. V. Versucht man sich nun an einer zusammenfassenden Charakteristik der beiden Spätschriften von Brandes zum Zeitgeist seiner Epoche, der Ära um 1800, dann wird man zuerst die Ungleichartigkeit dieser Schriften, ihre mangelnde Systematik (die als solche ja durchaus gewollt war), schließlich wohl auch ihre gallige Kulturkritik nennen müssen. Man darf bei der Lektüre dieser Bücher über den Zeitgeist nicht vergessen, dass sie von einem verbitterten alten Mann am Ende seines Lebens und dazu noch zu einem Zeitpunkt geschrieben wurden, als sich Deutschland auf einem Tiefpunkt seiner politischen Geschichte befand. Der düstere Hintergrund ist den beiden Bänden nur allzu deutlich anzumerken. Trotzdem ist es möglich, die Grundzüge der politischen Ideenwelt des späten Brandes gewissermaßen ex negativo, also aus der Stoßrichtung und den Inhalten seiner Kritik, zu rekonstruieren und damit vielleicht sogar so etwas wie ein in diesen Schriften enthaltenes politisches Programm zur Überwindung der Krise und zur politischen Erneuerung Deutschlands aufzuweisen. Den ersten Hinweis vermag der von Brandes verwendete Begriff des „politischen Geistes“ zu geben. „Wahrer politischer Geist“, heißt es 1808, „war in Deutschland, mit sehr seltenen Ausnahmen, nicht einheimisch.“ Dieser „Mangel eines tiefen energischen politischen Geistes“ oder auch eines „ächt-politischen Blickes“104 besteht zuerst in einer zutiefst wirklichkeitsfremden Grundhaltung, die sich viel eher auf das Abstrakte, das Allgemeine und weniger auf die bestehenden Realitäten bezieht. Dass er hiermit keinesfalls für einen amoralischen Machiavellismus plädiert, stellt er selbst ausdrücklich fest105. Realismus heißt hier nicht brutale 104  Die Zitate aus Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 84, 162, 199. 105  Vgl. Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. II, S. 152 f.; als neueres Beispiel einer solchen Politik nennt er die Teilungen Polens gegen Ende des 18. Jahrhunderts; „manche gutmeinende Fürsten“ seien von gewissenlosen Beratern verleitet worden: „Ein sogenannter Macchiavellismus herrschte bei diesen, aber ohne eine Spur von Macchiavelli’s großer Klugkeit, aber ohne ihn zu kennen, gleich in Verdorbenheit der Grundsätze mit ihm. Die Be-

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Macht- und Gewaltpolitik, sondern eine aus der Erfahrung schöpfende und an den Erfordernissen der Praxis sich ausrichtende Staatskunst. Ein in diesem Sinne verstandener politischer Geist ist dann sogar in der Lage, „den Zeitgeist zu beherrschen  – denn auch dieser, mag er in seiner stolzen Anmaaßung sich noch so sehr über alle Beherrschung erhaben dünken, unterwirft sich viel leichter, als man glaubt, einem eisernen Joche“106. – Welches Vorbild Brandes hier vor Augen hatte, ist klar: es ist das England des 18. Jahrhunderts, dessen „politischen Geist“ er bekanntlich schon vor der Revolution zum Gegenstand einer ausführlichen Betrachtung und Analyse gemacht hatte107 und dessen Verfassung er auch weiterhin seine Aufmerksamkeit widmete108. Ein im Sinne Brandes’ gut eingerichteter Staat muss zuerst einmal zwischen den beiden Klippen der Untätigkeit und der Allzuständigkeit hindurchsteuern; er muss sich in allen entscheidenden Fragen das Oberaufsichts- und Letztentscheidungsrecht vorbehalten, sollte jedoch nur dann, wenn es wirklich nötig ist, in den Gang der Dinge eingreifen – mit anderen Worten: er sollte ein Gemeinwesen der „gesunden Mitte“ sein. Dazu gehört es auch, dass der Adel zwar eine bevorrechtigte Stellung einnimmt, dass er sich andererseits aber keinesfalls nach unten abschottet: „Der Tempel der Ehre darf am wenigsten ein ewig geschlossener Tempel seyn, allein der Eintritt zu ihm muß nicht leicht gemacht werden, sonst hört er bald auf, ein Tempel der Ehre zu seyn. Bedachtsam muß ihn der Souverain öffnen“109. Jedem tatkräftigen und fähigen Bürger muss wenigstens die Chance geboten werden, durch Fleiß, Energie und Können nach ganz oben aufzusteigen. Und das impliziert natürlich ebenfalls die Bildung einer fähigen politischen Elite, die sowohl für äußere Stabilität wie auch für eine innere Flexibilität der politischen Ordnung zu sorgen vermag. Es sind, wie Brandes sich ausdrückt, „moderate feste Männer, die keinen gewaltsamen Umsturz, das Gute für das Volk, für alle Stände, aber nichts durch das Volk, die eine dem Zeitgeiste gemäße ausgleichernde [sic] Annäherung, ohne Schwäche“110 verwirklichen wollen. In diesen Zusammenhang gehört standtheile dieser Verdorbenheit gingen aus dem Zeitgeiste hervor. Es waren verfaulte Gemüther, ohne Kraft, die alten leitenden Ideen, die das Ganze zusammen hielten, beharrlich-fest zu ergreifen […]“. 106  Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 155; vgl. auch S. 162. 107  Siehe oben, Anm. 12. 108  Vgl. etwa Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. I, S. 64, 92 f., 130, 145 ff.; Bd. II, S. 88 ff. u. a. 109  Ebenda, Bd. II, S. 87 f.; vgl. auch ebenda, S. 85 ff.; Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 184 ff. 110  Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 191.



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auch ein zentraler Punkt seiner Kritik am friderizianischen Preußen: Friedrich habe es nicht über sich bringen können, einen fähigen „PremierMinister“ zu ernennen, der für Ausgleich und für Kontinuität auch nach dem Tod des Königs hätte sorgen können und der gleichzeitig einen gewissen politischen Gegenpol zum Hof und zur Krone verkörpert hätte111. Brandes’ Ideal eines herausragenden und fähigen Politikers ist der „Staatsmann mit dem Adlerblick“, der stets über den Dingen der Politik schwebt, ohne sie jedoch auch nur eine Sekunde aus den Augen zu verlieren. Er muss über „wahre Menschenkenntniß“ verfügen, und zwar im dreifachen Sinne: Kenntnis der menschlichen Natur im allgemeinen, Kenntnis der Menschen und ihrer Lebensverhältnisse im einzelnen und vor allem: Kenntnis der Fähigkeiten und der Grenzen derjenigen Menschen, die im Dienste des Staates stehen. Es heißt bei Brandes: „Die rechten Menschen auf die rechten Stellen, das ist die Summa der Weisheit, ohne welche alle Constitutionen, Organisationen, Instruktionen, Plane, nicht viel mehr wie beschriebenes oder bedrucktes Papier sind, von oben herab bis zu der geringsten Schuleinrichtung herunter“112. Hinzu kommen muss zudem die Fähigkeit, in den verschiedensten Zweigen der Staatsgeschäfte zugleich zuhause zu sein, ohne sich allzu sehr nur auf ein Gebiet, auf einen Bereich zu konzentrieren113. Damit es auch in Deutschland zur Herausbildung eines wahren „politischen Geistes“ kommen kann, ist es erforderlich, ein gewisses Maß  – aber kein Übermaß! – an „Preßfreiheit und Publicität“ zuzulassen. Eine despotische politische Ordnung, die jede freie Meinungsäußerung zu unterdrücken bestrebt ist, vermag keine wirklichen Staatsmänner, auch keine aus eigener Verantwortung heraus handelnden Staatsbeamten hervorzubringen, sondern muss in dumpfem „Knechtssinn“ enden114. Es kommt zudem darauf an, in den führenden Politikern und Beamten, so Brandes, „lebhafte Anhänglichkeit an der Person des Regenten, an das Land, seine Verfassung, den Sachen“115 hervorzurufen und vor allem zu erhalten. „Politischer Geist“ ist nach Brandes ein Geist, der Maß zu halten versteht und die Extreme verschmäht: das Extrem der absoluten Unfreiheit ebenso wie das Extrem der ausufernden und zügellosen Freiheit. 111  Vgl.

ebenda, S. 115 ff. Zitate aus Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. I, S. 89, 86, 88. 113  Vgl. ebenda, S. 90 ff.; als negative Beispiele hierfür nennt er John Law und Jacques Necker, denen er den wirklichen Staatsmann William Pitt gegenüberstellt. 114  Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 83 f. 115  Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. II, S. 148. 112  Die

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Schließlich hat Brandes in einem gesunden, nicht übertriebenen, aber dennoch kräftigen Patriotismus ein wesentliches – nämlich stabilisierendes und Gefahren abwehrendes  – Element eines gut funktionierenden Gemeinwesens gesehen. Dass dieser Patriotismus im Deutschland des ausgehenden 18. Jahrhunderts so gut wie nicht vorhanden gewesen war – darin liegt für Brandes eine der wesentlichsten Ursachen der gegenwärtigen deutschen Misere116. Und dies im doppelten Sinne: Zum einen sei auf diese Weise die Möglichkeit zur positiven Identifikation mit dem eigenen Gemeinwesen, mit der eigenen politischen Ordnung verlorengegangen, zum anderen aber habe die Begeisterung für die Revolution genau den Platz eingenommen, der eigentlich dem Patriotismus gebührte. Revolutionärer Enthusiasmus sei damit an die Stelle der notwendigen ruhigen Besinnung auf die Werte und die Fundamente der bestehenden Ordnung getreten117. All diese Aspekte also kennzeichnen in der Sicht Brandes’ ein gutes Gemeinwesen: Ausgleich zwischen den Ständen, die Möglichkeit für die Bildung einer sich aus allen Schichten rekrutierenden politischen Elite, ein begrenztes Maß an Presse- und Meinungsfreiheit und ein ebenfalls bestimmtes Maß an positiver politischer Grundstimmung,  – also an Pa­ triotismus im Sinne der eigenen positiven Identifikation mit dem eigenen Land. Hinzu kommen schließlich noch allgemeiner Wohlstand und Berechenbarkeit der Politik, denn Brandes weist ebenfalls nachdrücklich darauf hin, „daß der einzige sichere Schatz in wohlhabenden Unterthanen und dem Credite der Regierung besteht“118. Zur Absicherung all dieser Grundbedingungen für die Existenz und den Bestand eines guten Gemeinwesens bedarf es aber  – und an dieser Stelle gelangt ein zentraler Gedanke von Brandes’ politischen Überlegungen ins Blickfeld  – der geschichtlich-politischen Kontinuität. Jede Stagnation kann sich im Staatsleben ebenso gefährlich auswirken wie jede zu abrupte Änderung, jede zu schnelle Wandlung. Nur von dieser Grunderkenntnis aus ist seine Kritik sowohl am aufgeklärten Absolutismus eines Friedrich des Großen oder eines Joseph II. wie auch an der Französischen Revolution zu verstehen: „Allein das hurtige gewaltsame Einreißen des Bestehenden erzeugte den Geist der Unruhe, wo er sich noch nicht fand; gab ihm da, wo man ihn schon traf, die reichste Nahrung […] Auf einmal werden mehrere Haupttheile des Bestehenden nicht ohne den bedeutendsten Nachtheil eingerissen. Die weisesten Einrich116  Vgl. Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 166 ff.; derselbe, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. I, S. 160 ff. 117  Vgl. Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist (Anm. 3), S. 180 ff. 118  Ebenda, S. 54.



Ernst Brandes und der deutsche Zeitgeist um 1800125

tungen der Gesetzgeber, der klügsten Despoten, bedürfen das Ansehen einer gewissen ehrwürdigen Dauer, um tief einzugreifen in die zu einer rechten Wirksamkeit unentbehrlichen Gesinnungen der Menschen“119. Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Reformen und Veränderungen sind, wie Brandes ausdrücklich betont, immer notwendig120, aber es kommt eben auf „die Art und die Schnelligkeit der Veränderung“121 an. Setzt ein übertriebener und unruhiger „Hang zum Neuen“122 ein, der den Sinn für alles Herkömmliche vernachlässigt und schließlich erstickt, dann kann sich diese Neuerungssucht, wenn sie in einer Revolution gipfelt, höchst verhängnisvoll auswirken123. Gerade an diesem Punkt beruft sich Brandes erneut auf die ausgleichenden und Konflikte regelnden Mechanismen der von ihm bewunderten englischen Verfassung, die dafür sorgen können, dass die Geschwindigkeit der gesellschaftlich-politischen Veränderungen im Lande – trotz aller unvermeidbaren Schwankungen – nach Möglichkeit im Wesentlichen konstant bleibt124. Dass diese harmonisierende Interpretation der englischen Verfassungsrealität des frühen 19. Jahrhunderts nicht mehr gerecht wurde, hat Brandes nicht gesehen und wohl auch nicht mehr sehen können125. Wollte man sein eigentliches Programm zur inneren Gesundung und politischen Erneuerung Deutschlands und damit im Grunde auch den Kern seiner politischen Überlegungen auf eine knappe und griffige Formel bringen, so müsste man es mit dem Schlagwort Kontinuität und Reform umreißen. Erneuerung ja  – aber nur so weit, wie sie wirklich notwendig ist; Traditionen und bewährte Ordnungen dürfen nicht gefährdet 119  Ebenda,

S.  103 f. ebenda, S. 104: „Das dem Wechsel unterworfene Menschliche ändert sich theils von selbst, theils bedarf es Abänderungen nach den Zeiten, theils der herstellenden Hand, damit es nicht erschlaffe“. 121  Ebenda, S. 176. 122  Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. I, S. 111. 123  Vgl. ebenda, Bd. I, S. 111 ff. 124  Brandes erläutert dies (ebenda, Bd. I, S. 148 f.) am Beispiel des Streits „der Opposition mit der Administration“, der „im Allgemeinen nur ein Familienstreit ist, der nicht zum Aergsten ausschlägt“. 125  Hierzu siehe statt vieler etwa die immer noch eindrucksvolle Synthese von Elie Halévy, A History of the English People in the Nineteenth Century, Bd. I: England in 1815, London 1924 u. ö.; David Lindsay Keir, The Constitutional History of Modern Britain since 1485, New York/London 91969, S. 365 ff.; aus der neueren deutschen Forschung die anregende Studie von Andreas Wirsching, Parlament und Volkes Stimme. Unterhaus und Öffentlichkeit im England des frühen 19. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 26), Göttingen/Zürich 1990. 120  Vgl.

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werden. Bewahrung ja  – aber eben nur so lange, wie das Hergebrachte lebendig und wirksam bleiben kann. Abgelebter Formen und innerlich bereits toter Institutionen muss man sich, so schnell es irgend geht, entledigen, denn Stagnation kann ebenso gefährlich sein wie ein übertrieben schneller Abschied von der Tradition. Um genau diesen Gedanken kreist das politische Denken des frühen wie auch des späten Brandes. Und es entspricht seiner nüchtern-pragmatischen Grundhaltung, dass er diese zentrale Idee eher indirekt vermittelt hat, indem er seine Leser zum eigenen Denken anzuregen beabsichtigte. Wer bei ihm etwa ausgefeilte Entwürfe für eine, wie auch immer im einzelnen geartete, neue politische Ordnung suchen wollte, wäre fehl am Platz. Und so lässt sich die folgende Äußerung des skeptischkonservativen Aufklärers Ernst Brandes über sein letztes Buch eigentlich als eine Charakteristik seines gesamten Werkes lesen: „Nach unsrer Ansicht, die den Werth einer Arbeit der Denkkraft vorzüglich nach dem Erzeugen und Einprägen von Gedanken bei Andern schätzt, kann es also, bei einer bedeutenden Gattung von Büchern, ein Verdienst seyn, wenn das Buch weniger liefert, als der große Haufen dem Titel nach erwartet“126.

126  Brandes, Ueber den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes (Anm. 3), Bd. I, S. 20; vgl. ebenda, S. 11.

Die Jenaer Frühromantik und ihre Kritik der Moderne I. Die Ausläufer der großen geistigen Bewegung, die wir heute Romantik nennen, reichen weit über ihre eigene Epoche, das späte achtzehnte und frühe neunzehnte Jahrhundert, hinaus. Noch am Beginn unseres Jahrhunderts entstand die literarisch-geistige Strömung der „Neuromantik“, und die von ihr wiederum inspirierte Jugendbewegung war es, die, wie erst kürzlich wieder mit Recht bemerkt wurde, „als Transformator der Romantik in unser Jahrhundert hinein gedient“1 hat. Nicht ausschließlich, aber doch in sehr starkem Maße hat die Jugendbewegung in den Jahren nach der Jahrhundertwende romantisches Denken und Dichten, romantische Weltdeutung, Religiosität, Naturfrömmigkeit und nicht zuletzt auch das politische Denken der Romantik wiederentdeckt und erneut fruchtbar zu machen versucht. Und es dürfte kein Zufall sein, dass gerade ein zentrales Motiv romantischer Dichtung, die „blaue Blume“ des Novalis, zu einem der genuinen Symbole der Jugendbewegung werden konnte. Um zu den Ursprüngen der romantischen Bewegung zu gelangen, deren Ausläufer so deutlich erkennbar in unser Jahrhundert reichen, ist es notwendig, sich das Jena des ausgehenden 18. Jahrhunderts vor Augen zu führen, jenes auf den ersten Blick recht unbedeutende Universitätsstädtchen in einem der kleinsten Fürstentümer des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das sich in der kurzen Zeit zwischen 1796 und 1801 zu einem Zentrum, ja zu dem Mittelpunkt deutschen Geisteslebens, zur Hauptstadt der deutschen Kultur dieser Epoche entwickelte. Zuerst und vor allem wurde Jena zum geistigen Zentrum, oder präziser formuliert: zum großen Gedankenlaboratorium der Frühromantik, die man deshalb heute mit Recht als Jenaer Romantik zu bezeichnen gewohnt ist. Zwischen 1796 und 1802 lebten und dozierten hier die beiden führenden Geister dieser Bewegung, die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel, von 1798 bis 1803 lehrte Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an der Universität, von 1799 bis 1801 hielt sich Ludwig Tieck

1  Sibylle Tönnies, Die konkrete Gemeinschaft, in: Merkur, Nr. 532 (Juli 1993), S. 577.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

in Jena auf, zwischen 1795 und seinem frühen Tode im Jahre 1801 besuchte der wohl genialste romantische Denker und Dichter, Friedrich von Hardenberg, der sich Novalis nannte, immer wieder für längere Zeit die Stadt; im Sommer 1799 trug er hier im Kreise der Freunde seinen Aufsatz „Die Christenheit oder Europa“ vor – einen Text, der die geschichtsphilosophischen und politisch-theologischen Kerngedanken der gesamten romantischen Bewegung in einer anderswo nicht zu findenden Reinheit und prägnanten Klarheit formulierte. Schließlich erschien – ebenfalls in Jena  – in den Jahren 1798 bis 1800 die erste der berühmten Roman­ tiker-Zeitschriften, das „Athenäum“, „die Fahne der Romantik“2, wie man sie treffend genannt hat. Damit nicht genug: Es waren ebenfalls die Jahre, in denen Schiller, Fichte und etwas später auch Hegel an der Universität lehrten, in denen Goethe oft wochenlang aus dem benachbarten Weimar herüberkam, in denen sich die beiden jungen Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt zeitweilig hier aufhielten. Und nicht weit entfernt, ebenfalls in Weimar, lebten und wirkten in dieser Zeit immer noch Wieland, Herder und Jean Paul, von denen die beiden letzteren fraglos zu den wichtigen Anregern, in mancher Hinsicht auch zu den geistigen Vätern der romantischen Bewegung gezählt werden dürfen. Im Folgenden soll es um die Herausarbeitung dessen gehen, was als das geistige Kernanliegen der Jenaer Romantik gelten muss, und, daran anknüpfend, um eine wenigstens umrisshafte Skizzierung der überragenden Bedeutung der Frühromantik nicht nur für die spätere deutsche Geistesgeschichte, sondern in gewisser Weise sogar noch für das Denken und allgemeine Bewusstsein unserer Gegenwart. Nicht zuletzt soll gezeigt werden, dass die immer wieder vorgenommene Trennung, ja Aus­ einanderreißung von Früh- und Spätromantik als scheinbar ganz unzusammenhängender Phasen einer uneinheitlichen Geistesentwicklung verfehlt ist,  – dass also, mit anderen Worten, die Bedeutung der Jenaer Frühromantik gerade darin liegt, dass hier der Keim entstand, aus dem sich später die gesamte geistige Bewegung der Romantik bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte. Und dieser in Jena entstandene Keim oder geistige Kern der Romantik besteht – so meine These – in nichts anderem als einer Fundamentalkritik der Moderne, die sich im Denken und Dichten der Romantiker von ihren Anfängen bis zur Wiederaufnahme romantischen Gedankenguts im Zuge der Neuromantik um 1900 stets aufs neue entfaltet, ausgeformt und weiterentwickelt hat. 2  Bernard

von Brentano, August Wilhelm Schlegel, Stuttgart 1949, S. 55.



Die Jenaer Frühromantik und ihre Kritik der Moderne129

Hieraus ergibt sich die Anordnung meiner weiteren Ausführungen: Zuerst soll der bis heute mit unverminderter Schärfe andauernde Streit um die Deutung der Romantik ansatzweise umrissen werden (II.), sodann wird die These von der Romantik als Modernitätskritik gewissermaßen ex negativo aus der Perspektive des bis heute wohl bedeutendsten Deuters und Analytikers der modernen Welt, Max Weber, skizziert (III.). Webers Diagnose der Moderne als einer Ausdifferenzierung einander ausschließender Wertsphären und unterschiedlicher Lebensordnungen vermag, wie zu zeigen sein wird, gerade im Medium des Kontrastes den antimodernen Charakter romantischen Denkens besonders deutlich sichtbar werden zu lassen. Dies soll in einem weiteren Schritt getan werden – in der Frage nach der Ausformung romantischer Reflexion am Beispiel sechs verschiedener Themenbereiche: Weltbild, Naturauffassung, Ästhetik, Religion, Geschichte und Politik (IV.). Abschließend ist nach der zeitübergreifenden Wirkung des frühromantischen Denkens und damit auch nach dessen Gegenwartsbedeutung zu fragen (V.). II. Der Streit um die Romantik ist so alt wie die Romantik selbst. Unumstritten ist die geistige Bewegung, die um 1797 in Jena im Kreis um die Brüder Schlegel ihren Anfang genommen hat, zu keiner Zeit gewesen. Nicht nur mit Blick auf die spätere Entwicklung der Romantik, die Konversionen zum Katholizismus, den Übergang zum entschieden gegen­ revolutionären Konservatismus, ist die Romantik als aufklärungs-, revolutions- und fortschrittsfeindlich bezeichnet und als irrationalistisch, ­reaktionär und dekadent verurteilt worden. Das begann nicht erst mit Heinrich Heines „Romantische(r) Schule“ von 1835 und den Pamphleten der Junghegelianer3 und setzte sich nahezu bruchlos in unser Jahrhundert fort4. Als liberaler Hegelianer charakterisierte Benedetto Croce die Romantik in seiner 1932 erstmals veröffentlichten „Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert“ als „sittliche Krankheit“: „Tatsächlich besaß die Gefühlsromantik des Weltschmerzes weder den alten noch den neuen 3  Heinrich Heine, Die Romantische Schule (zuerst 1833), in: derselbe, Sämt­liche Werke, hrsg. v. Oskar Walzel, Bd. VII, Leipzig 1910; Theodor Echtermeyer/Arnold Ruge, Der Protestantismus und die Romantik. Zur Verständigung über die Zeit und ihre Gegensätze. Ein Manifest (1839/40), hrsg. v. Norbert Oellers, Hildesheim 1972. 4  Siehe etwa die in vielen Auflagen seit 1872 verbreitete Darstellung von G ­ eorg Brandes, Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Berlin 1924, Bd. I, S. 171 ff.

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Glauben, hing weder der vergangenen Autorität noch der neuen Helligkeit mit entsprechender sittlicher Gemütsverfassung an und offenbarte sich eben dadurch als ein Mangel an Glauben, als ein angstvolles Quälen um Gläubigkeit, als Unfähigkeit dazu, als unbefriedigte Ruhelosigkeit und Suche zwischen jeweils vorgeschlagenen und alsbald verlassenen Normen des Denkens und Lebens. Glaube quillt mit ursprünglicher Notwendigkeit aus der Wahrheit, die im Bewußtsein laut wird, und läßt sich niemals mit rastlos tastenden Wünschen und Einbildungen erhaschen“5. Die romantische „Krankheit“, so Croce weiter, sei vor allem unfähig gewesen, den neuen Glauben – nämlich den an den liberalen Fortschritt – „richtig zu erfassen, zu erleben und zu bestätigen; denn dazu gehört Mut, Mannhaftigkeit, Verzicht und Bruch mit alten, unmöglich gewordenen Gewohnheiten und Tröstungen, und um ihn zu verstehen, durchzudenken und zu rechtfertigen, braucht es Erfahrung, Bildung, geistige Übung.“ Gerade hierzu aber seien die Romantiker nicht fähig gewesen: „Und so fielen diese weibischen, romantischen Seelen in Wunschträume religiöser Transzendenz zurück, in lockende Friedens- und Entsagungsträume, in Beschwichtigungen ihres angstvollen und zweifelnden Denkens, in Normen, in die sie um der Norm willen sich einbetteten, nur um die Konflikte des eigenen Gewissens nicht selbst entscheiden zu müssen“6. In der Nachfolge der Romantikkritik Hegels7 sah Croce in der Romantik ein Phänomen schwächlicher Dekadenz, entstanden aus haltlosem Ästhetizismus und mangelndem sittlichen Lebensernst, das geradezu folgerichtig in einer Flucht zurück zu überwundenen religiösen Inhalten enden musste. Die marxistische Kritik der Romantik urteilte noch wesentlich schroffer als die liberale. So bezeichnete Georg Lukács in seiner gegen Ende des Zweiten Weltkriegs entstandenen Schrift „Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur“ die Romantik als „führende Ideologie einer Zeit des finstersten Obskurantismus“8 und darüber hinaus als eine der 5  Benedetto Croce, Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert (zuerst 1932), Frankfurt a. M. 1979, S. 40 f. 6  Ebenda, S. 41 f. In stärkerem Maße um Sachlichkeit bemüht ist noch Croces kleine Abhandlung von 1906: Die Definitionen der Romantik, in: Benedetto Croce, Gesammelte philosophische Schriften in deutscher Übertragung, hrsg. von Hans Feist, 2. Reihe, Bd. II: Kleine Schriften zur Ästhetik, Erster Band, Tübingen 1929, S. 189–195. 7  Vgl. hierzu etwa Ernst Simon: Ranke und Hegel, Berlin 1928, S. 71 ff.; John Edward Toews, Hegelianism  – The Path Toward Dialectical Humanism, Cambridge/London/New York 1980, S. 49 ff. 8  Georg Lukács, Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur, Berlin (-Ost) 1955, S. 54; vgl. ebenda, S. 43 ff.



Die Jenaer Frühromantik und ihre Kritik der Moderne131

wesentlichsten geistesgeschichtlichen Ursachen des Nationalsozialismus: „Die ‚mondbeglänzte Zaubernacht‘ der Restauration des Feudalabsolutismus war die Zeit der tiefsten und folgenschwersten Verdüsterung im Volk der ‚Dichter und Denker‘. Sie war nicht nur die Zeit der erniedrigendsten Unterdrückung, sondern zugleich die der drückendsten Vorherrschaft des Spießertums.“ Überhaupt habe, so Lukács weiter, „keine Weltanschauung oder Kunstrichtung den deutschen Spießer […] so nachhaltig beeinflußt wie gerade die Romantik. Von der mittelalterlichen Kaiserherrlichkeit, von der pseudopoetischen Verklärung der sozialen und politischen Ketten, der ‚organisch‘ erwachsenen historischen Macht bis zur Verherrlichung des ‚Gemütslebens‘, bis zum verstandesfeindlichen quietistischen Versinken in die Nacht eines beliebigen Unbewußten, einer beliebigen ‚Gemeinschaft‘, bis zum Haß gegen Fortschritt und freiheit­ liche Selbstverantwortung – erstrecken sich die Folgen des Sieges der romantischen Ideologie, die bis heute an der deutschen Psyche spürbar sind.“ Folgerichtig war für Lukács „die Kritik der Romantik eine höchst aktuelle Aufgabe der deutschen Literaturgeschichte“. Diese Kritik, schloß er, „kann niemals tiefschürfend und scharf genug sein“9. Und noch 1982 hat der amerikanische Historiker Gordon Craig in seinem Buch „Über die Deutschen“ mit nicht eben großem Verständnis des Gegenstandes die angebliche „Todesbesessenheit“ der deutschen Frühromantik gerügt, mit der, wie er sagt, „ein apokalyptischer Zug und eine Idealisierung der Gewalt“ verbunden gewesen sei, „die kommende Ereignisse auf höchst ominöse Weise vorgestaltete“10. Tatsächlich scheute sich Craig nicht, die Wirkungslinien dieser von ihm zur Karikatur verzerrten Romantik über Wagner, Karl May, Riehl und Lagarde bis zum Nationalsozialismus und über diesen hinaus bis zu den linksextremen Terroristen der Gegenwart zu ziehen11. Freilich hat diese eher traditionelle Sicht der Romantik als fortschrittskritische und aufklärungsfeindliche geistige Bewegung auch ihre Befürworter, ja Bewunderer gefunden. So bezeichnete etwa Paul Kluckhohn, 9  Die Zitate ebenda, S. 54 f. In diesem Zusammenhang verweist Lukács nachdrücklich auf „die größte dichterische Begabung der Romantik, Heinrich von Kleist.“ Dessen Dramatik zeige „die glänzendsten Verführungen der Deutschen auf die gefährlichsten Irrwege, in den Sumpf der hemmungslosesten Reaktion. Von der knechtischen Unterwürfigkeit, von der Hysterie der machtgierigen Haßliebe bis zum wildfanatischen Fremdenhaß und zur Verklärung der Hohenzollernherrlichkeit finden wir bei Kleist die dichterische Verherrlichung von allem, was in der deutschen Geistesentwicklung gefahrdrohend und verwerflich ist“ (ebenda, S. 55). 10  Gordon A. Craig, Über die Deutschen, München 1982, S. 222. 11  Vgl. ebenda, S. 224 ff., 238 f.

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der sich mit einer Reihe wichtiger Arbeiten um die Erforschung der Romantik in den zwanziger und dreißiger Jahren verdient gemacht hat, die Romantik im Jahre 1924 als eine der Quellen des geistigen Kampfes der Gegenwart „gegen einseitigen Rationalismus und rechnerische Wertempfindung, gegen seelenlose Kultur und Vorherrschaft des Wirtschaftlichen.“ In diesem Sinne stehe „der große geistige und seelische Wandlungsprozeß des beginnenden 20. Jahrhunderts und unserer Tage“ unter dem Zeichen der romantischen Tradition; dies machten „sowohl die philosophischen und wissenschaftlichen wie die künstlerischen Tendenzen der Gegenwart und auch wesentliche Zielsetzungen der Jugendbewegung […] deut­ lich“12. Noch entschiedener verteidigte der konservative Historiker Georg von Below in den zwanziger Jahren das Erbe der Romantik, deren Aktualität und Gegenwartsbedeutung „in dem Kampf […] gegen Positivismus und Naturalismus“13 er nachhaltig herausstrich: Romantik definierte er, sehr weit ausgreifend, als denjenigen „Namen […], der die Strömungen zusammenfaßt, durch die die Aufklärung, der Rationalismus überwunden und die neue Gesamtanschauung begründet wird“14. Als „Typen […] der romantischen Bewegung“ bestimmte er beispielsweise: „schwärmerische Verehrung der Vergangenheit […]; im Zusammenhang damit die Bemühung, alte Einrichtungen und Verhältnisse zu erneuern; Auflehnung gegen Fremdherrschaft unter Verwertung nationaler Motive; Erneuerung […] kirchlicher Ideale oder religiöser Haltungen; Betonung der Abhängigkeit von allgemeinen Mächten; […] Hervorhebung des Werts des Natürlichen, Gewachsenen, Heimischen gegenüber dem Erkünstelten, ­ bewußt Geschaffenen, von außen her Übertragenen oder gar Aufgezwungenen; einer Harmonie der Teile mit dem Ganzen, des Gehaltes mit der Form“15. Bereits kurz nach dem Ersten Weltkrieg hatte Below in der „Konservativen Monatsschrift“ eine „neue Romantik“ gefordert und fest­ 12  Alle Zitate aus Paul Kluckhohn, Die deutsche Romantik, Bielefeld/Leipzig 1924, S. 286; vgl. auch derselbe, Das Ideengut der deutschen Romantik, 4. Aufl., Tübingen 1961. 13  Georg von Below, Zum Streit um die Deutung der Romantik (zuerst 1926), in: Helmut Prang (Hrsg.), Begriffsbestimmung der Romantik, Darmstadt 1972, S. 144. 14  Georg von Below, Über historische Periodisierungen. Mit einer Beigabe: Wesen und Ausbreitung der Romantik, Berlin 1925, S. 100. 15  Ebenda, S. 99. Below definiert in seinem Werk: Die deutsche Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unsern Tagen, 2. Aufl., München/Berlin 1916, S. 4 ff., die Romantik als umfassende geistige Bewegung, die in ihren Auswirkungen als „eine kulturelle Revolution“ (ebenda, S. 4) angesehen werden müsse. Ähnlich auch Gustav Roethe, Romantiker des deutschen Nordostens (1910), in: derselbe, Deutsche Reden, Leipzig o. J. (1927), S. 342–378.



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gestellt: „Unser Wiederaufstieg ist davon abhängig, daß unser ganzes Volk, unser gesamtes Leben von dem romantischen, dem nationalen Geist erfüllt wird“16. Dieser traditionellen Sicht einer konservativ-rückwärtsgewandten, gleich­wohl in vielem noch gegenwärtigen Romantik17 trat seit den zwanziger Jahren eine konträre Deutung entgegen, die in der Frühromantik gerade die progressiven, modernen und revolutionären, die scheinbar oder wirklichen spätaufklärerischen, subjektivistischen, ja okkasionalistischen Tendenzen und Motive in den Vordergrund der – je nach Ausrichtung lobenden oder scharf kritischen – Betrachtung stellten. Der wohl berühmteste Vertreter dieser Richtung war Carl Schmitt, der mit seinem erstmals 1919 erschienenen Buch „Politische Romantik“ eine scharfe Trennlinie zum romantischen Denken zog: „Die Romantik ist subjektivierter Occasionalismus, weil ihr eine occasionelle Beziehung zur Welt wesentlich ist, statt Gottes aber nunmehr das romantische Subjekt die zentrale Stelle einnimmt und aus der Welt und allem, was in ihr geschieht, einen bloßen Anlaß macht“18. Dies zeige sich vor allem bei einer Übersicht über die Entwicklung der politischen Ideen der Romantiker: „Solange die Revolution da ist, ist die politische Romantik revolutionär, mit der Beendigung der Revolution wird sie konservativ, und in einer ausgesprochen reaktionären Restauration weiß sie auch solchen Zuständen die romantische Seite abzugewinnen. Seit 1830 wird dann die Romantik wieder revolutionär“19  – eine Behauptung, die Schmitt nur mit dem recht dürftigen Hinweis auf die späten Schriften Bettina von Arnims zu belegen vermag. Den „Kern aller politischen Romantik“ sieht Schmitt in der folgenden Haltung: „der Staat ist ein Kunstwerk, der Staat der historisch-politischen Wirklichkeit ist occasio zu der das Kunstwerk produzierenden schöpferischen Leistung des romantischen Subjekts, Anlaß zur Poesie und zum Roman, oder auch zu einer bloßen romantischen Stimmung“20. Mit anderen Worten: Schmitt degradiert die Romantik zur Geistesrichtung eines unernsten Ästhetizismus und willkürlichen Subjektivismus, die, nichts weniger als konservativ oder traditionalistisch, in ihrem Kern bereits die Halt- und Formlosigkeit der Moderne aufweise 16  Georg von Below, Die Wiederanerkennung der Romantik, in: Konservative Monatsschrift 78 (1921), S. 421. 17  Dies ist auch die Tendenz zweier in jener Zeit sehr einflussreicher Darstellungen der gesamten romantischen Bewegung: Ricarda Huch, Die Romantik, Bde. I–II, Leipzig 8–91920; Oskar Walzel, Deutsche Romantik, Bde. I–II, Leipzig 4 1918. 18  Carl Schmitt, Politische Romantik, 4. Aufl., Berlin 1982, S. 24. 19  Ebenda, S. 160. 20  Ebenda, S.  172 f.

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und sich eben hierdurch als eine Vorwegnahme bestimmter negativer Tendenzen der Gegenwart ausnehme21. Schmitts Romantik-Deutung  – die übrigens, was wenig bekannt ist, i­ hre Vorläufer schon im 19. Jahrhundert hatte, etwa in den Thesen des Literaturhistorikers Hermann Hettner22 – wurde seit den zwanziger Jahren eingehend diskutiert, jedoch zumeist abgelehnt23. Aus einer in mancher Hinsicht ähnlichen Position heraus argumentierte der Philosoph Alfred Baeumler, der allerdings, im Gegensatz zu Schmitt, einen scharfen Trennungsstrich zwischen der Jenaer Frühromantik und der, wie er meinte, „eigentlichen“ Romantik, nämlich der Heidelberger und Dresdener Spätromantik, zog. Die Frühromantik der Jenaer Gruppe um die Brüder Schlegel gehört nach Baeumler noch ganz ins 18. Jahrhundert und endet mit diesem: „Es wird einem von Theorien unbeeinflußten Beobachter der Romantik von Jena auf den ersten Blick deutlich: Hier stirbt das philosophischste und ästhetischste aller Jahrhunderte, wie es sich geziemt: in Schönheit und mit einem geistreichen Witz auf den Lippen […] Die Jenaer Romantik ist die Euthanasie des Rokoko“24. 21  Schmitt knüpft in seiner Deutung der deutschen Romantik an die Romantikkritik der französischen politischen Rechten an, die mit dem Namen Charles Maurras (Romantisme et Révolution, Paris 1898) und Ernest Seillière (Die romantische Krankheit, dt. Berlin 1907) verbunden ist, auch bezieht er sich auf Giovanni Papini; vgl. hierzu die Bemerkungen bei Karl Muhs, Individualismus, Universalismus und Gemeinschaftsidee im Weltbild der Romantik, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 104 (1944), S. 159–202, hier S. 159 f.; siehe zum Ganzen auch Hugo Friedrich: Das antiromantische Denken im modernen Frankreich, München 1935, sowie den Sammelband: Die deutsche Romantik im französischen Deutschlandbild  – Fragen und Fragwürdigkeiten, hrsg. v. Georg Eckert/OttoErnst Schüddekopf, Braunschweig 1957. 22  Vgl. Hermann Hettner, Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhange mit Goethe und Schiller (zuerst 1850), in: derselbe, Schriften zur Literatur, hrsg. von Jürgen Jahn, Berlin(-Ost) 1959, S. 51–165, hier S. 147f u. a. 23  Vgl. etwa Below, Die deutsche Geschichtsschreibung (Anm. 15), S. 6, Anm. 2; Paul Kluckhohn, Persönlichkeit und Gemeinschaft  – Studien zur Staatsauffassung der deutschen Romantik, Halle 1925, S. 96 f.; Julius Petersen, Die Wesensbestimmung der deutschen Romantik – Eine Einführung in die moderne Literaturwissenschaft, Leipzig 1926, S. 124 f., 152 f.; Jakob Baxa, Einführung in die romantische Staatswissenschaft, 2. Aufl., Jena 1931, S. VIII f.; Alfred von Martin, Das Wesen der romantischen Religiosität, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2 (1924), S. 414; Ulrich Scheuner: Staatsbild und politische Form in der romantischen Anschauung, in: Romantik in Deutschland, hrsg. v. Richard Brinkmann, Stuttgart 1978, S. 73; derselbe, Der Beitrag der deutschen Romantik zur politischen Theorie, Opladen 1980, S. 16 ff.; Hans-Joachim Schoeps, Deutsche Geistesgeschichte der Neuzeit, Bd. IV: Die Formung der politischen Ideen im 19. Jahrhundert, Mainz 1979, S. 33 ff. 24  Alfred Baeumler, Das Mythische Weltalter – Bachofens romantische Deutung des Altertums (zuerst 1926 erschienen als Einleitung zu dem Auswahlband



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Hatten Schmitt und Baeumler, trotz ihrer in der Konsequenz ganz ­ nterschiedlichen Romantik-Interpretationen, die Jenaer Frühromantik u ziemlich verächtlich als „subjektivistischen Occasionalismus“ und geistesgeschichtlich belanglosen „schönen Tod des Rokoko“ abgetan, so hat sich in unserer Zeit eine Deutung der Romantik etabliert, die diese Interpretationen im Kern akzeptiert, nur in der Wertung genau umkehrt: die Romantik  – und insbesondere die Frühromantik Jenas  – erscheint jetzt als von Grund auf modern, revolutionär und progressiv, ja als Vorwegnahme wesentlicher, insbesondere ästhetischer Theoreme und Formen der literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts. Hauptvertreter dieser Richtung ist  – nach einigen Vorläufern im Umkreis der Achtundsechziger Bewegung25  – der Germanist Karl Heinz Bohrer. Bereits in einer Rezension des genannten Buches von Gordon Craig stellte er dem Amerikaner seine neue Sicht entgegen: „Die Frühromantik von Jena, hochintellektuell, analytisch, ironisch, hat wenig zu tun mit der mythisierenden Schwüle der […] Spätromantik […] Wer war vernünftiger als die jungen Fichte, Novalis, Schlegel, deren aufklärerisches Erbe nicht hoch genug einzuschätzen ist […] Der deutschen Romantik Ingenium war, die gesamte Bewußtseinsanalyse der europäischen Moderne in einer extrem entwickelten Begrifflichkeit vorzubereiten: Surrealismus, Psychoanalyse, moderne Prosa von Musil bis Benjamin  – das alles ist von dieser […] Romantik vorbereitet worden.“ Und Bohrer fügt – für alle diejenigen, die es noch nicht begriffen haben – an: „Nein, es gibt keinen roten Faden, der den Novalis mit Moeller van den Bruck verbände“26.

J­. J. Bachofen: Der Mythus von Orient und Occident), München 1965, S. 174 f.  – Mitte der zwanziger Jahre erblickte Baeumler im Denken und in der Wissenschaft der Spätromantik noch eine herausragende und wegweisende Leistung deutschen Geistes, doch in seiner Berliner Antrittsvorlesung als Professor für Politische Pädagogik am 10. Mai 1933 hat er sich ausdrücklich von der Romantik distanziert; vgl. derselbe, Antrittsvorlesung in Berlin, in: derselbe, Männerbund und Wissenschaft, Berlin 1940, S. 134: „Wir sind keine Romantiker, wir gehen den Weg zum Worte, und der Weg zum Wort ist der Weg zur Klassik.“ 25  Vgl. hierzu etwa den Sammelband: Klaus Peter (Hrsg.), Romantikforschung seit 1945, Königstein/Ts. 1980 (insbesondere die Beiträge von Malsch, Mennemeier, Heiner). Ebenfalls die entsprechend zusammengestellten Text- und Aufsatzsammlungen von Helmut Schanze (Hrsg.): Die andere Romantik, Frankfurt  a. M. 1967; Gisela Dischner/Richard Faber (Hrsg.), Romantische Utopie  – Utopische Romantik, Hildesheim 1979. Typisch auch die Arbeit von Werner Weiland, Der junge Friedrich Schlegel oder Die Revolution in der Frühromantik, Stuttgart 1968. 26  Karl Heinz Bohrer, Romantik als Metapher  – Zu Gordon A. Craigs Buch „Über die Deutschen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.9.1982.

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Man sieht: Indem er die Motive konservativer Romantikkritik bei Schmitt  – und übrigens auch bei Hans Sedlmayr27  – sowie die scharfe Trennung zwischen Früh- und Spätromantik bei Baeumler einfach in ihr Gegenteil verkehrt, gelangt Bohrer zu seiner in der gegenwärtigen Diskussion dominierenden These von einer angeblichen „romantischen Moderne“ und einer „modernen Wiederentdeckung der Romantik“ durch Benjamin und die Surrealisten, vorbereitet schon durch Motive bei Kierkegaard, Baudelaire und Nietzsche28. Den Kern der von ihm konstatierten „romantischen Modernität“ meint Bohrer in der „Entstehung ästhetischer Subjektivität“ finden zu können, die er weniger am Beispiel des romantischen Kunstwerks oder romantischer Philosophie, sondern in den Briefen einzelner Romantiker wiederzuentdecken beansprucht29.  – Schließlich haben seit den siebziger Jahren sogar die Germanisten der ehemaligen DDR deutlichen Abstand von Lukács’ früheren Thesen genommen und immerhin  – erwähnt seien nur Claus Träger und Hans-­ Georg Werner – auf die revolutionsfreundliche Haltung und die „progressive“ Skepsis der Jenaer Frühromantiker hingewiesen30. Überblickt man die Hauptgedanken dieser neueren Auffassung, die in der Romantik  – sei es unter negativen oder positiven Vorzeichen  – eine Manifestation progressiver Modernität zu sehen meint, dann zeigen sich recht bald die entscheidenden Defizite dieser Deutung. Sie bestehen erstens in einer Vernachlässigung entweder der Früh- oder der Spätromantik: je nach der Ausgangsthese wird entweder die erste oder die zweite zur „eigentlichen“ Romantik erklärt und die jeweils andere in ihrer Bedeutung bagatellisiert und verkannt. Der innere Zusammenhang der gesamten romantischen Bewegung, den die Romantiker selbst sehr genau

27  Vgl. Hans Sedlmayr, Ästhetischer Anarchismus in Romantik und Moderne, in: Scheidewege 8 (1978), S. 174–196. 28  Vgl. Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik  – Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt a. M. 1989, S. 25 ff. u. a.; zur Berufung auf Schmitt und Sedlmayr vgl. ebenda, S. 10, 13 (Anm. 13). 29  Vgl. Karl Heinz Bohrer, Der romantische Brief  – Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, München/Wien 1987. – In diesem Zusammenhang sei auch auf die mit den Auffassungen Bohrers verwandte These des Schlegel-Forschers Ernst Behler hingewiesen, der die „Modernität“ der Frühromantik darin zu sehen meint, dass sie die aufklärerische Perfektibilitätsidee übernimmt und auf den Bereich des Ästhetischen überträgt; vgl. Ernst Behler, Unendliche Perfektibilität – Europäische Romantik und Französische Revolution, Paderborn 1989. 30  Vgl. Claus Träger, Geschichtlichkeit und Erbe der Romantik (zuerst 1976), in: derselbe, Studien zur Erbetheorie und Erbeaneignung, Frankfurt  a. M. 1982, S. 272–296; Hans-Georg Werner, Über die Modernität der literarischen Romantik in Deutschland, Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, philol.-histor. Kl., Bd. 129, H. 6, Berlin 1989.



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empfunden haben, gerät vollkommen aus dem Blick. Zweitens vernachlässigt diese Deutung den historischen Kontext, in dem die romantische Bewegung entstanden ist, nämlich die Endphase des aufgeklärten Absolutismus in Deutschland31. Und drittens schließlich argumentieren nicht wenige gerade der neueren Romantik-Interpreten, wie etwa Bohrer oder Behler, genuin unhistorisch, indem sie sich auf eine einseitige, ästhetizistischen oder philosophischen Vorgaben folgende Rezeption sorgfältig ausgewählter frühromantischer Texte beschränken. III. Am Ausgangspunkt meiner Erörterungen stand die These, Romantik sei in ihrem Kern nichts anderes als eine  – sich auf unterschiedlichen Ebenen und in sehr verschiedenen Formen artikulierende  – Fundamentalkritik der Moderne. Was die Moderne in ihren wichtigsten Elementen und zentralen Ausprägungen eigentlich ist, hat am eindringlichsten immer noch Max Weber auf den Begriff gebracht, der die Moderne, zusammenfassend und vereinfachend formuliert, als Auseinanderfallen unterschiedlicher Lebensordnungen, als Trennung und Ausdifferenzierung von Wertsphären, als zunehmende Unübersichtlichkeit und Abstraktion der Lebenswelt, überhaupt als eine alle Bereiche menschlicher Existenz umgreifende Rationalisierung gekennzeichnet hat. Fundamental für das Dasein des Menschen in der Moderne ist für Weber die „Tatsache, daß wir in verschiedene, untereinander verschiedenen Gesetzen unterstehende Lebensordnungen hineingestellt sind“32. Der moderne Mensch sieht sich nicht nur eingebunden in einen persönlichfamiliären Zusammenhang, sondern auch, indem er einen Beruf ausübt, in einen sozial-ökonomischen, als Staatsbürger in einen politischen, als gläubiger Mensch und Mitglied einer Kirche oder Sekte in einen religiösen Zusammenhang. Die traditionale Einheit dieser einzelnen Sphären des Familiären, Sozial-Ökonomischen, Rechtlich-Politischen und Religiösen, die in vormodernen Zeiten überwölbt wurden durch eine allgemein verbindliche, religiös legitimierte Wertordnung, ist in der Moderne zerbrochen; der Mensch ist gezwungen, sich ständig zwischen unterschied­

31  Die bisher einzige Arbeit, die diesen Aspekt ausführlich in den Blick nimmt, ist die zuerst 1947 in Frankreich erschienene Studie von Henri Brunschwig, Gesellschaft und Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert  – Die Krise des preußischen Staates und die Entstehung der romantischen Mentalität, Frankfurt a. M./ Berlin/Wien 1975. 32  Max Weber, Gesammelte politische Schriften, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 41980, S. 554.

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lichen Wertsphären zu bewegen und die Ansprüche der einen mit denjenigen der anderen Sphären in Einklang zu bringen. Genau dies meint Weber, wenn er feststellt: „Wer in der ‚Welt‘ […] steht, kann an sich nichts anderes erfahren als den Kampf zwischen einer Mehrheit von Wertreihen, von denen eine jede, für sich betrachtet, verpflichtend erscheint. Er hat zu wählen, welchem dieser Götter, oder wann er dem einen und wann dem anderen dienen will und soll. Immer aber wird er sich dann im Kampf gegen einen oder einige der anderen Götter dieser Welt und vor allem immer fern von dem Gott des Christentums finden – von dem wenigstens, der in der Bergpredigt verkündet wurde“33. Diese Ausdifferenzierung und Trennung von einst, in der vormodernen Welt, eng miteinander verbundenen Wertsphären ist für Weber das fundamentalste Kennzeichen der okzidentalen Moderne. Ein weiteres, hiermit zusammenhängendes Kennzeichen ist die allgemeine Abstraktion des Lebens, die Entfremdung vom traditionellen naturnahen Wirtschaften der Ära vor der Technisierung und ökonomischen Mechanisierung. Max Weber hat hierfür die Formel vom unentrinnbaren „stählernen Gehäuse […] der modernen gewerblichen Arbeit“34 geprägt, von einem  – sei es privatkapitalistischen, sei es staatskapitalistischen  – System moderner Arbeitsteilung und gewerblicher Wirtschaft, in dem der einzelne sich nur noch als winzigen Bestandteil eines riesigen, unüberschaubaren Ganzen empfindet. Dem modernen Kapitalismus entspricht der moderne Staat, der sich seit der frühen Neuzeit in erster Linie in der Form einer immer präziser und effizienter arbeitenden Bürokratie und Verwaltung konstituiert. „Die rein bureaukratische […] Verwaltung“, heißt es in Webers Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“, „ist nach allen Erfahrungen die an Präzision, Stetigkeit, Disziplin, Straffheit und Verläßlichkeit, also: […] Inten­ sität und Extensität der Leistung, formal universeller Anwendbarkeit auf alle Aufgaben, rein technisch zum Höchstmaß der Leistung vervollkommenbare, in all diesen Bedeutungen: formal rationalste, Form der Herrschaftsausübung. Die Entwicklung ‚moderner‘ Verbandsformen auf allen Gebieten […] ist schlechthin identisch mit Entwicklung und stetiger Zunahme der bureaukratischen Verwaltung: ihre Entstehung ist […] die Keimzelle des modernen okzidentalen Staats“35.

33  Ebenda,

S. 145. S. 331 f.; vgl. auch S. 254. 35  Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft – Grundriß der verstehenden Soziologie, hrsg. von Johannes Winckelmann, Köln/Berlin 1964, S. 164. 34  Ebenda,



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Nachdrücklich betont Weber, dass sich die Bürokratie „gegenüber anderen geschichtlichen Trägern der modernen rationalen Lebensordnung […] durch ihre weit größere Unentrinnbarkeit“ auszeichnet, die wiederum ihre Voraussetzung in „rationale(r) fachliche(r) Spezialisierung und Einschulung“36 besitzt. Angesichts der ungeheuren Abstraktion des Lebens, die sich hierin ausdrückt, kann Weber die von ihm selbst aufgeworfene Frage: „Wie ist es angesichts dieser Übermacht der Tendenz zur Bürokratisierung überhaupt noch möglich, irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn ‚individualistischen‘ Bewegungsfreiheit zu retten?“37, kaum angemessen beantworten. Rationalisierung, Bürokratisierung, Abstraktion des Lebens und Entfremdung, schließlich Ausdifferenzierung und Trennung verschiedener Wertsphären und Lebensordnungen sind für Weber nur die unterschiedlichen Aspekte und Ausprägungen eines einzigen Vorgangs: nämlich der Entwicklung der okzidentalen Moderne, die er mit einem gleichfalls berühmten Ausdruck auch die „Entzauberung der Welt“38 genannt hat. Auf den kürzest möglichen Begriff gebracht, ist die Moderne also die Ausdifferenzierung und das Auseinanderfallen traditioneller Einheiten und Lebenszusammenhänge. Und wenn Romantik die fundamentale Kritik dieser Entwicklung formuliert, dann tut sie dies in unterschiedlichen Bereichen doch mit der gleichen Zielrichtung: Das romantische Weltbild muss demnach universal sein, es muss ausgehen von einer nicht mehr hinterfragten Einheit, vom letzten Weltgrund, aus dem sich alle Phänomene der Wirklichkeit ableiten lassen, von einem alles überwölbenden universalen Zusammenhang, der das Sichtbare ebenso umfasst wie das Unsichtbare, der als höchste Einheit von Religion, Philosophie, Kunst und damit auch aller Wertordnungen zu verstehen ist. Für die Naturauffassung bedeutet dies, dass sich romantisches Denken gegen die Trennung von Natur und Mensch, gegen die mechanistische Naturdeutung der modernen Wissenschaft wendet und ein Naturverständnis entwickelt, das den Menschen als integralen Bestandteil der Natur auffasst, ein Denken also, das in letzter Konsequenz Geist und Natur miteinander verbindet. Romantische Ästhetik muss für die innere, aber auch äußere, formale Einheit und Verbindung der Künste und Kunstformen eintreten und sich gegen die moderne, seit Lessings „Laokoon“ in Deutschland geläufige strikte Trennung der Kunstarten aus-

36  Weber,

Gesammelte politische Schriften (Anm. 32), S. 330 f. S. 333. 38  Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen 9 1988, S. 94. 37  Ebenda,

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sprechen; sie muss sich die Einheit von Philosophie, Wissenschaft und Kunst als höchstes Ziel setzen. Darüber hinaus muss eine modernitätskritische Romantik vehement für die Erhaltung des Primats religiös bestimmter Denkordnungen und Lebenshaltungen – und gegen die fortschreitende Säkularisierung eintreten, ebenfalls für den engen Zusammenhang von Religion, Philosophie und Kunst. Romantische Geschichtsauffassung und romantische Politik wiederum haben Stellung zu nehmen gegen den spezifisch modernen Fortschritts- und Perfektibilitätsglauben, gegen die utopische Selbstermächtigung des im Bewusstsein seiner Ratio gründenden Individuums zur Umformung der Welt im Dienste utopischer Programmatik. Dagegen spricht in keiner Weise die frühromantische Verklärung des kommenden „goldenen Zeitalters“, denn damit ist keine Utopie, ist niemals das Neue, nie Dagewesene gemeint, sondern stets die Rückkehr zur wahren Ordnung, nur auf höherer Stufe der Vollendung. Das Festhalten an der vorabsolutistischen, damit vormodernen Tradition ist in allen zentralen ­Äußerungen der Politischen Romantik geradezu mit Händen zu greifen: Kaiser und Reich, Monarchie und ständische Ordnung bleiben Fixpunkte romantischen Denkens. IV. Im Folgenden sollen, wie bereits angedeutet, die Elemente romantischer Fundamentalkritik der Moderne im einzelnen dargelegt werden, eingegrenzt auf die sechs Themengebiete Weltbild, Naturauffassung, Ästhetik, Religion, Geschichte und Politik. Der Charakter des romantischen Zusammenhangs- und Einheitsdenkens zeigt sich vielleicht am faszinierendsten in dem für die Romantik so kennzeichnenden Gedanken der Identität von Makrokosmos und Mikrokosmos (ein Gedanke freilich, der zurückweist auf die Denker der deutschen Mystik von Meister Eckhart bis zu Angelus Silesius). „Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns?“, fragt Novalis in einem seiner „Blüthenstaub“-Fragmente. Und er fährt fort: „Die Tiefen unsers Geistes kennen wir nicht.  – Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren ­ ­Welten, die Vergangenheit und Zukunft“39. Der geheimnisvolle, nur zu ahnende Zusammenhang des Kleinen mit dem Großen, des Individuums mit dem Unendlichen, bestimmt zugleich den Stellenwert aller einzelnen Wesen und Dinge innerhalb der Ökonomie des Ganzen: nichts steht für 39  Novalis,

Dichtungen und Fragmente, Leipzig 1989, S. 298 (Nr. 16).



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sich selbst, alles findet sich eingebunden in den umfassenden Zusammenhang einer höheren Weltordnung, die zugleich die Ordnung Gottes ist. Erst wenn man sich diese romantische Grundauffassung vergegenwärtigt, ist man imstande, eines der berühmtesten Athenäums-Fragmente Friedrich Schlegels angemessen zu deuten: „Die Französische Revolu­ tion, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters. Wer an dieser Zusammenstellung Anstoß nimmt, wem keine Revolution wichtig scheinen kann, die nicht laut und materiell ist, der hat sich noch nicht auf den hohen weiten Standpunkt der Geschichte der Menschheit erhoben“40. Dem romantischen Standpunkt ist es also gemäß – kann man diesen Gedanken weiterdenken – politische, philosophische und poetisch-künstlerische Phänomene nicht voneinander zu trennen, sondern gerade dem inneren Zusammenhang, der sie miteinander verbindet, auf die Spur zu kommen. Dem modernen Trennungsdenken, das die Wertsphären der Politik, des reinen Denkens und der Kunst voneinander sondert, ist dieser Gedanke Schlegels also diametral entgegengesetzt. Und in eben diesem Sinne ist er als Ausdruck radikaler Modernitätskritik zu lesen. Poesie und Philosophie sind das Medium, in dem sich nach der Lehre der frühen Romantiker die durch die Moderne zerbrochenen Ureinheiten des Lebens wieder zusammenfinden. „Die Menschenwelt ist das gemeinschaftliche Organ der Götter. Poesie vereinigt sie, wie uns“41, heißt es bei Novalis. Und die Philosophie wiederum repräsentiert nach August Wilhelm Schlegel das allgemeine und ewige Element, das der Menschheitsgeschichte innewohnt: „Die Historie“, sagt er in der Einleitung seiner Berliner Vorlesungen von 1801, in denen er die Summe des Denkens der Jenaer Zeit zieht, „wird von einer individuellen Erscheinung zur anderen fortgeleitet, wobei aber das Allgemeinste und Höchste immer unsichtbar gegenwärtig ist […] So wie die Philosophie eine Geschichte des inneren Menschen, so ist die Geschichte eine Philosophie des gesamten Menschengeschlechts“42.

40  Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler, Bd. II, München/Paderborn/Wien 1967, S. 198 (Nr. 216). 41  Novalis, Dichtungen und Fragmente (Anm. 39), S. 319 (Nr. 110). 42  August Wilhelm Schlegel, Kritische Schriften und Briefe, hrsg. von Edgar Lohner, Bd. II, Stuttgart 1963, S. 18. Zu dieser Vorlesung bemerkt Arthur Henkel, Was ist eigentlich romantisch?, in: Festschrift für Richard Alewyn, hrsg. v. Herbert Singer/Benno von Wiese, Köln/Graz 1967, S. 296: „Die Zurücknahme der Aufklärung ist wohl niemals in der Romantik provozierender vorgetragen worden.“

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Universum und Universalität, Synthese und Harmonie  – die sich auf dem Weg über die Einheit von Philosophie und Poesie erschließen – das sind die großen Schlüsselworte des romantischen Weltbildes, der romantischen Fundamentaldeutung von Mensch und Welt, die auf den inneren Zusammenhang aller Phänomene gerichtet ist. Dementsprechend lesen wir im letzten Athenäums-Fragment Friedrich Schlegels: „Universalität ist Wechselsättigung aller Formen und aller Stoffe. Zur Harmonie gelangt sie nur durch Verbindung der Poesie und der Philosophie: Auch den universellsten vollendetsten Werken der isolierten Poesie und Philosophie scheint die letzte Synthese zu fehlen; dicht am Ziel der Harmonie bleiben sie unvollendet stehen“43. Einer bloß empirisch-rationalen Denkweise ist der Zugang zum Ganzen, zum Universum also, verschlossen; nur die religiöse Sphäre eröffnet den Weg: „Das Universum“, sagt Schlegel in seinen „Ideen“, erschienen im letzten Jahrgang des „Athenäums“ (1800), „kann man weder erklären noch begreifen, nur anschauen und offenbaren. Höret nur auf das System der Empirie Universum zu nennen, und lernt die wahre religiöse Idee desselben“44. Mit dem universalistischen Weltbild der Romantik steht das romantische Naturverständnis in engstem Zusammenhang. Auch hier zeigt sich deutlich, wie sehr die Romantik sich als modernitätskritisches Einheitsdenken versteht, das auf die Überwindung der modernen Trennungen abzielt – in diesem Falle auf die Aufhebung der Trennung von Mensch und Natur. Vor allem Novalis hat diesen romantischen Grundgedanken in poetischer Form ausgedrückt. In seinen „Lehrlingen zu Sais“ finden sich die Lehrlinge, die in die Mysterien der Natur eingeweiht werden sollen, in „weiten, hallenden Säle(n)“45 ein, wo sich in „endlosen Zerspaltungen“46 die vom Menschen geordneten Gegenstände der Natur befinden. Nachdem die Lehrlinge diese Säle verlassen haben, wird das „wunderbare Gespräch in zahllosen Sprachen unter den tausendfaltigen Naturen, die in diesen Sälen zusammengebracht und in mannigfaltigen Ordnungen aufgestellt waren“, hörbar: Die Stimmen „bejammerten das alte, herrliche Leben im Schoße der Natur, wo sie eine gemeinschaftliche Freiheit vereinigte, und jedes von selbst erhielt, was er bedurfte. ‚O! daß der Mensch‘, sagten sie, ‚die innre Musik der Natur verstände und einen Sinn für äußere Harmonie hätte. Aber er weiß ja kaum, daß wir zusammen gehören, 43  Schlegel,

Kritische Ausgabe (Anm. 40), Bd. II, S. 255 (Nr. 451). S. 271 (Nr. 150). Friedrich Schlegel bezieht sich hier schon auf die „Reden über die Religion“ seines damaligen Freundes Friedrich Schleiermacher. 45  Novalis, Dichtungen und Fragmente (Anm. 39), S. 178. 46  Ebenda, S. 171. 44  Ebenda,



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und keins ohne das andere bestehen kann. Er kann nichts liegen lassen, tyrannisch trennt er uns und greift in lauter Dissonanzen herum. Wie glücklich könnte er sein, wenn er mit uns freundlich umginge, und auch in unsern großen Bund träte, wie ehemals in der goldnen Zeit, wie er sie mit Recht nennt. In jener Zeit verstand er uns, wie wir ihn verstanden. Seine Begierde, Gott zu werden, hat ihn von uns getrennt, er sucht, was wir nicht wissen und ahnden können, und seitdem ist er keine begleitende Stimme, keine Mitbewegung mehr“47. Die in diesen Formulierungen zum Ausdruck kommende poetisch umkleidete Naturfrömmigkeit des Novalis findet sich bei Friedrich Schlegel und vor allem bei Schelling auf der Ebene anspruchsvoller theoretischer Reflexion. Einer der prägnantesten Aphorismen aus Schlegels „Ideen“ lautet: „Der Mensch ist ein schaffender Rückblick der Natur auf sich selbst“48. Das bedeutet: Im Menschen kommt die Natur gewissermaßen zum Bewusstsein ihrer selbst, sie erkennt und durchschaut sich selbst mittels des „schaffenden“, d. h. erkennenden, reflektierenden, die Natur bearbeitenden und umformenden Menschen. Für die Selbsterkenntnis des Menschen bedeutet dies wiederum, dass er auch dann, wenn er sich der Natur gegenüberstellt, von ihr nicht loskommen kann, weil er stets, ob er dies akzeptiert oder nicht, ein Teil von ihr ist – freilich ihre höchste und bedeutendste Hervorbringung. Insofern wird es verständlich, dass Schlegel an anderer Stelle den „historische(n) Glauben an die Autorität der Natur“ als einen der „Charakterzüge der Größe“ bezeichnen konnte49. Gegen die moderne, auf Bacon, Hobbes, Descartes und Newton zurückgehende, mechanistisch-rationale Naturerklärung, die auf einer strikten erkenntnistheoretischen Trennung zwischen Ich und Welt, erkennendem Subjekt und natürlichem Objekt, also auch zwischen Mensch und Natur beruht, hat Schelling das Konzept einer romantischen Naturphilosophie entwickelt. Sein Grundgedanke, den er immer wieder variiert, besteht in der Aufhebung dieser modernen Trennungen: Das Pro­ blem, wie eine Natur außer uns möglich sei, löst sich, wie Schelling bereits 1797 formuliert, „in der absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns“50. Natur ist also Geist und Geist Natur; die Natur weiß sich selbst. In der Einleitung des „Systems der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere“ von 1804 heißt es dement47  Ebenda,

S.  178 f. Kritische Ausgabe (Anm. 40), Bd. II, S. 258 (Nr. 28). 49  Ebenda, S. 181 (Nr. 109). 50  Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Werke, hrsg. von Manfred Schröter, München 1927 ff., Bd. I, S. 706. 48  Schlegel,

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

sprechend: „Die erste Voraussetzung alles Wissens ist, daß es ein und dasselbe ist, das da weiß, und das da gewußt wird“51. Schellings Naturphilosophie, deren Hauptgedanken in den Jenaer Jahren zwischen 1798 und 1803 entwickelt wurden, fasst das Universum als absoluten Organismus auf, der als Ganzes und in jedem seiner Teile organisch ist, der zugleich eine Manifestation des Göttlichen und des absoluten, sich stets selber wollenden Geistes darstellt. Einen wirklichen Gegensatz von Mechanisch und Organisch gibt es nach Schelling nicht, weil alles auf das Ganze der Natur bezogen ist und bleibt.52 Alles ist in allem enthalten, das Kleine im Großen und das Große im Kleinen; auch bei Schelling begegnet uns also die romantische Zentralidee von der Einheit des Makro- und des Mikrokosmos. Im „System“ von 1804 bemerkt er: „Alles ist Urkeim oder nichts. Jeder Teil der Materie lebt nicht nur, sondern ist auch ein Universum von verschiedenen Arten des Lebens […] Die Materie selbst gebiert aus der Fülle ihrer Substanz, was sich in der Natur entwickelt. In dem ersten Wesen aller Materie schon, welches dann erst sich in Unorganisches und Organisches scheidet, liegt das Organische präformiert […] jeder Teil der Materie ist schon Pflanze und Tier, sie kann es nur werden, weil sie es schon ist“53. Die mathematisch-rationalen Formen der modernen Naturwissenschaft werden von Schelling konsequent verworfen: „Die sogenannte mathematische Naturlehre“, heißt es in den 1803 gehaltenen „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“, „ist also bis jetzt leerer Formalismus, in welchem von einer wahren Wissenschaft der Natur nichts anzutreffen ist“54. Diesem atheistischen Naturverständnis stellt er in Auseinandersetzung mit Fichte die Forderung nach einem religiös bestimmten Zugang zur Natur entgegen: „Was ist der wahre Geist des Naturforschers? – Er ist Andacht, Frömmigkeit gegen die Natur, Religion, unbedingte Unterwerfung unter die Wirklichkeit und die Wahrheit, wie sie in der Natur ausgesprochen und mit der Natur selbst eins ist“55. Bereits diese wenigen Äußerungen eines genuin romantischen Naturverständnisses dürften den überdeutlich hervortretenden Gegensatz zur modernen Naturwissenschaft sichtbar gemacht haben. Auf der poetischen Ebene des Novalis, auf der Ebene des aphoristischen Fragments bei Friedrich Schlegel finden wir also Fundamentalkritik der Moderne

51  Ebenda,

Ergänzungsbd. II, S. 67 (im Original vollständig gesperrt). ebenda, I, S. 416. 53  Ebenda, Ergänzungsbd. II, S. 318 f. 54  Ebenda, Bd. III, S. 344. 55  Ebenda, Bd. III, S. 703. 52  Vgl.



Die Jenaer Frühromantik und ihre Kritik der Moderne145

als Kritik des modernen Naturverständnisses ebenso wie in den theoretisch ausgearbeiteten Schriften des jungen Schelling zur Naturphilosophie56. Zweifellos schwieriger ist es, die Kritik der Moderne in der romantischen Ästhetik und Kunsttheorie wiederzufinden. Die berühmte romantische Ironie – also die poetische Selbstreflexion des Dichters im Kunstwerk  – ist immer wieder als Element einer genuin modernen Ästhetik aufgefasst worden57: als „das freie Bewußtsein […], das um die Grenzen des Bedingten weiß und sie in immer neuer Bewegung überschreitet“58. Daran ist so viel richtig, als die moderne Kunst, sofern sie eine reflektierte Kunst und eine Kunst der stets erneuerten formalen und inhaltlichen Grenzüberschreitung ist, sich zu recht auf die Romantik berufen kann und dies teilweise auch getan hat. Doch es reicht nicht aus, die romantische Kunstanschauung ausschließlich auf die Ironie zu reduzieren und diese dann noch aus dem Zusammenhang der romantischen Ästhetik herauszunehmen und zu isolieren. Denn die Ästhetik der Jenaer Frühromantik ist im Kern ebenso ein auf Vereinigung, Zusammenhang, innere Einheit, Universalität gerichtetes Denken wie die romantische Naturauffassung. In genau diesem Sinne ist das berühmte 116. Athenäums-Fragment zu verstehen: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte [sic] Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen […] Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden […] Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen […] Die romantische Dichtart ist die einzige,

56  Vgl. hierzu auch die ausführliche Einordnung der Schellingschen Naturphilosophie in den Zusammenhang der romantischen Naturauffassung und -deutung bei Hinrich Knittermeyer, Schelling und die Romantische Schule, München 1928, S. 136–201. 57  Typisch etwa Hans Sedlmayr, Die Revolution der modernen Kunst, Hamburg 1955, S. 96 ff. 58  So treffend Ingrid Strohschneider-Kohrs, Zur Poetik der deutschen Romantik II: Die romantische Ironie, in: Hans Steffen (Hrsg.), Die deutsche Romantik – Poetik, Formen und Motive, Göttingen 21970, S. 86.

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein“59. Es ist nicht eben schwierig, diese Worte als Plädoyer für chaotische Formlosigkeit, ja für ästhetizistischen Anarchismus zu deuten – aber eben dies ist falsch. Denn die progressive Universalpoesie ist nur darin „progressiv“ (also fort-schreitend), dass sie zerrissene Verbindungen zusammenfügen, verlorene Zusammenhänge wiederherstellen möchte, dass sie bestrebt ist, das Ganze, das Universale in den einzelnen Gattungen der Poesie und in den auseinandergerissenen Einzelbereichen der Kunst, der Geschichtsschreibung und der Philosophie erneut zur Geltung zu bringen. „Kein Künstler […] soll bloß Repräsentant einer Gattung sein“, heißt es im 114. Fragment der „Ideen“ Friedrich Schlegels, „sondern er soll sich und seine Gattung auf das Ganze beziehen, dieses dadurch bestimmen und also beherrschen“60. Nichts anderes meint Novalis, wenn er eine Gestalt seines „Heinrich von Ofterdingen“ sagen läßt: „ […] so scheint es mir, als wenn ein Geschichtsschreiber notwendig auch ein Dichter sein müßte“61. Und „progressiv“ ist die romantische Universalpoesie auch darin, dass sie über die Ebene des bloßen Kunstwerks an sich hinaus- und zugleich zurückverweist auf den (nach romantischer Auffassung untrennbaren) Zusammenhang der Kunst mit Mythologie und Religion: „Der Kern, das Zentrum der Poesie“, sagt wiederum Schlegel, „ist in der Mythologie zu finden, und in den Mysterien der Alten“62. Und an anderer Stelle: „Durch eine wahre Universalität würde […] die Kunst […] noch künst­licher werden, als sie es vereinzelt sein kann, die Poesie poetischer, die Kritik kritischer, die Historie historischer und so überhaupt. Diese Universalität kann entstehn, wenn der einfache Strahl der Religion und Moral ein Chaos des kombinatorischen Witzes berührt und befruchtet. Da blüht von selbst die höchste Poesie und Philosophie“63. Zusammenfassend gesagt, lässt sich das ästhetische Kernanliegen romantischer Modernitätskritik als den Versuch bezeichnen, der modernen, von Max Weber konstatierten und auf den Begriff gebrachten „Entzauberung der Welt“ das Programm einer „Wiederverzauberung der Welt“ entgegenzustellen64. In genau diesem Sinne ist Friedrich Schlegels berühm59  Schlegel,

Kritische Ausgabe (Anm. 40), Bd. II, S. 182 f. (Nr. 116). S. 267 (Nr. 114). 61  Novalis, Dichtungen und Fragmente (Anm. 39), S. 72. 62  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 40), Bd. II, S. 264 (Nr. 85). 63  Ebenda, S. 268 (Nr. 123). 64  Hierzu u. a. die treffenden Bemerkungen und Beobachtungen von Johannes Weiß, Wiederverzauberung der Welt?, in: derselbe, Vernunft und Vernichtung – Zur Philosophie und Soziologie der Moderne, Opladen 1993, S. 96–112. 60  Ebenda,



Die Jenaer Frühromantik und ihre Kritik der Moderne147

teste Definition des Romantischen (im „Brief über den Roman“) zu verstehen: „Nach meiner Ansicht und nach meinem Sprachgebrauch ist eben das romantisch, was uns einen sentimentalen Stoff in einer fantastischen Form darstellt“65,  – was heißen soll: einen Stoff, der uns gefühlsmäßig anspricht in einer durch die Phantasie bestimmten, also den Bereich realer Wirklichkeit überschreitenden Form. Die Dichtungen des jungen Ludwig Tieck waren es wohl, in denen dieses ästhetische Programm „der romantischen Verzauberung“66 am eindrucksvollsten verwirklicht wurde. Ganz unverhüllt und unmittelbar zeigt sich die romantische Fundamentalkritik der Moderne dort, wo sie sich der modernen Säkularisierung und Entchristlichung aller Lebenszusammenhänge durch den Versuch entgegenstellt, Religion und Christentum umfassend zu rehabilitieren. „Wo keine Götter sind, walten Gespenster“67, sagt Novalis 1799 in „Die Christenheit oder Europa“, und es klingt fast wie ein Echo, wenn Friedrich Schlegel ein Jahr später feststellt: „Trennt die Religion ganz von der Moral, so habt ihr die eigentliche Energie des Bösen im Menschen, das furchtbare, grausame, wütende und unmenschliche Prinzip, was ursprünglich in seinem Geiste liegt. Hier straft sich die Trennung des Unteilbaren am schrecklichsten“68. Die Religion steht im Zentrum romantischen Bewusstseins und romantischer Weltdeutung  – nicht erst der Spätromantik, sondern gerade und vor allem auch der Jenaer Frühromantik. „Die Religion“, sagt wiederum Schlegel, „ist nicht bloß ein Teil  der Bildung, ein Glied der Menschheit, sondern das Zentrum aller übrigen, überall das Erste und Höchste, das schlechthin Ursprüngliche“69. Über die Religion führt der Königsweg zur Erkenntnis der Wahrheit: Novalis lässt am Ende seines „Heinrich von Ofterdingen“ einen seiner Protagonisten sagen, die Heilige Schrift sei „das große Beispiel […], wie in einfachen Worten und Geschichten das Weltall offenbart werden kann“70. Religion ist jedoch nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Ziel der Wahrheit,  – und so heißt es bei Schlegel: „Poesie und Philosophie sind […] verschiedne Sphären, verschiedne Formen, oder auch Faktoren der Religion. Denn versucht es nur beide wirklich zu verbinden, und ihr werdet nichts anders erhalten als Religion“71. 65  Schlegel, Kritische Ausgabe 66  Roger

(Anm. 40), Bd. II, S. 333. Paulin, Ludwig Tieck  – Eine literarische Biographie, München 1988,

S. 69. 67  Novalis, Dichtungen und Fragmente (Anm. 39), S. 360. 68  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 40), Bd. II, S. 269 (Nr. 132). 69  Ebenda, S. 257 (Nr. 14). 70  Novalis, Dichtungen und Fragmente (Anm. 39), S. 146. 71  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 40), Bd. II, S. 260 f. (Nr. 46).

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Nicht nur ihr geistiges und ästhetisches, auch ihr politisches Reformprogramm haben die Romantiker vom Gelingen einer umfassenden Restauration des Religiösen, einer allgemeinen Wiederkehr der traditionellen Lebensordnungen des Christentums abhängig gemacht. „Nur die Religion“, sagt Novalis, „kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedensstiftendes Amt installiren“72. Und Friedrich Schlegel hat seine Hoffnung in zwei knappen Fragmenten ausgedrückt: „Laßt die Religion frei, und es wird eine neue Menschheit beginnen“, denn: „In der Religion ist immer Morgen und Licht der Morgenröte“73. Die Krise Europas um 1800, die mannigfachen Erschütterungen auf allen Gebieten des Lebens hat Schlegel dementsprechend nicht als ein Phänomen gedeutet, das seinen Grund „in der Menschheit“ hat, sondern als Anfangswehen eines universalen Neubeginns, als „eine große Auferstehung der Religion“74. Die Modernitätskritik im romantischen Geschichtsverständnis zeigt sich zuerst und vor allem in der Ablehnung eines unilinearen Fortschrittsdenkens. Die Geschichtsauffassung der Romantiker ist auch in der Hinsicht Einheitsdenken, als es das Künftige im Vergangenen und das Vergangene als Künftiges auffasst, also keine strikte Trennung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zulässt. Diesen Grundgedanken romantischer Reflexion drückt eines der berühmtesten, nur auf den ersten Blick paradoxen Athenäums-Fragmente Friedrich Schlegels aus: „Der Historiker ist ein rückwärts gekehrter Prophet“75 – und Novalis scheint sich dieses Mal zum Echo des Freundes zu machen, wenn er im „Ofterdingen“ von den „verkehrte(n) Astrologen“76 spricht, die sich der Erde und der Geschichte zuwenden.

72  Novalis,

Dichtungen und Fragmente (Anm. 39), S. 362. Kritische Ausgabe (Anm. 40), Bd. II, S. 257 (Nr. 7), S. 269 (Nr. 129). 74  Ebenda, S. 261 (Nr. 50). Darüber hinaus hat Schelling 1811 in der Religiosität des deutschen Volkes den wichtigsten Ansporn für den kommenden Krieg zur Befreiung des von den Franzosen besetzten Landes gesehen; vgl. Schelling, Werke (Anm. 50), Bd. IV, S. 388 f.: „Es gibt keinen rechtlichen Krieg, als der um die Idee willen geführt wird, d. h. der religiös ist […] Die deutsche Nation ist ihrem innersten Wesen nach religiös, jedes Volk aber hat nur durch dasjenige Kraft und Macht, was seine besondere Natur ist. Andere mögen durch anderes getrieben werden, ein Phantom von Ehre ganze Staaten zusammenhalten und Völker zu Triumphen führen: deutsches Gemüth bedarf eines innigeren Bandes. Kein Volk hat mit diesem Sinn und dieser Ausdauer den heiligen Krieg gekämpft wie das deutsche.“ 75  Schlegel, Kritische Ausgabe (wie Anm. 40), Bd. II, S. 176 (Nr. 80). 76  Novalis, Dichtungen und Fragmente (wie Anm. 39), S. 73. 73  Schlegel,



Die Jenaer Frühromantik und ihre Kritik der Moderne149

Der bereits erwähnte Vortrag des Novalis, den er im Sommer 1799 seinen Jenaer Freunden unter dem Titel „Die Christenheit oder Europa“ vorgelesen hat, enthält die zentralen Gedanken der romantischen Geschichtsphilosophie und darüber hinaus den geistigen Kern des gesamten romantischen Denkens und Selbstverständnisses. Die Wichtigkeit dieses Textes77 macht eine besonders eindringliche Vergegenwärtigung notwendig. Es ist ganz unzutreffend, die Ausführungen des Novalis als nur rückwärtsgewandte Apologie oder Verklärung des Mittelalters zu deuten, wenngleich er die „schöne(n) glänzenden(n) Zeiten“ rühmt, „wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse […] die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs“ verband78. Doch sei die Menschheit, so Novalis, „für dieses herrliche Reich“ der „ächt katholischen oder ächt christlichen Zeiten“ noch „nicht reif, nicht gebildet genug“79 gewesen. Den große Sündenfall dieser unreifen Menschheit stellt für Novalis, obwohl selbst Lutheraner, die Reformation dar: „Luther behandelte das Christenthum überhaupt willkührlich, verkannte seinen Geist, und führte einen anderen Buchstaben und eine andere Religion ein, nemlich die heilige Allgemeingültigkeit der Bibel“, und dies sei wiederum die Hauptursache für „die Vertrocknung des heiligen Sinns“ durch den Protestantismus gewesen. Kurz: „Mit der Reformation wars um die Christenheit gethan. Von nun an war keine mehr vorhanden. Katholiken und Protestanten oder Reformirte standen in sektirischer Abgeschnittenheit weiter voneinander, als von Mahomedanern und Heiden“80. Die fatalste geistige Folge aber habe darin bestanden, dass jetzt „Wissen und Glauben in eine entschiedenere Opposition traten“. Dadurch dehnte sich der ReligionsHaß […] folgerecht auf alle Gegenstände des Enthusiasmus aus, verketzerte Fantasie und Gefühl, Sittlichkeit und Kunstliebe, Zukunft und Vorzeit […] und machte die unendliche schöpferische Musik des Weltalls zum einförmigen Klappern einer ungeheuren Mühle“81. Trotz seiner Verklärung des Mittelalters hält Novalis eine Rückkehr zu dem, was einst war, für nicht möglich. Aber er vertraut darauf, dass von der Geschichte als einem „Wechsel entgegengesetzter Bewegungen“ auch

77  Abgedruckt

ebenda, S. 346–364. S. 346. 79  Ebenda, S. 348. 80  Alle Zitate ebenda, S. 351 f. 81  Ebenda, S. 354. 78  Ebenda,

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

„eine Auferstehung, eine Verjüngung, in neuer, tüchtiger Gestalt […] mit Gewißheit zu erwarten“ ist. Er sagt: „Fortschreitende, immer mehr sich vergrößernde Evolutionen sind der Stoff der Geschichte. – Was jetzt nicht die Vollendung erreicht, wird sie bei einem künftigen Versuch erreichen, oder bei einem abermaligen; vergänglich ist nichts was die Geschichte ergriff, aus unzähligen Verwandlungen geht es in immer reicheren Gestalten erneuert wieder hervor“82. Hierauf gründet Novalis seine Hoffnungen für ein aus dem Geist der alten Christenheit erneuertes Europa. Schon seien, bemerkt er, „die Spuren einer neuen Welt“ erkennbar; gerade in Deutschland weise die „gewaltige Gährung“ in den Wissenschaften und Künsten auf den Beginn einer neuen Ära voraus. „Noch sind alles nur Andeutungen, unzusammenhängend und roh“, trotzdem ist er sicher, die erste Morgenröte einer neuen Epoche der Menschheit zu sehen, einer „neuen goldne(n) Zeit“, die zugleich „eine große Versöhnungszeit“ sein wird83. Er schließt: „Die Christenheit muß wieder lebendig und wirksam werden und [es muß] sich wieder ein[e] sichtbare Kirche ohne Rücksicht auf Landesgränzen bilden […] Sie muß das alte Füllhorn des Seegens wieder über die Völker ausgießen“84. Es ist wichtig, dass man sich die von Novalis entworfene triadische Struktur des Geschichtsbildes vergegenwärtigt: gemeint ist hier nicht das Schema: „goldene Zeit“ – „Verfall und Entartung“ – „Rückkehr zur goldenen Zeit“, sondern die Entstehung von etwas grundlegend Neuem, das gleichwohl die guten und zukunftsträchtigen Elemente der „goldenen“ Vergangenheit in sich aufnimmt und diesen Elementen gewissermaßen auf höherer Stufe zu neuem Leben verhilft. Dieses Geschichtsbild85 ist zugleich zur wichtigsten gedanklichen Grundlage und Voraussetzung der Politischen Romantik geworden, in der sich die romantische Modernitätskritik nicht weniger ausdrückt als in den Konzeptionen des romantischen Weltbildes und den Hauptgedanken der Naturauffassung, der ­Ästhetik, der Religion und der Geschichtsdeutung.

82  Ebenda,

S. 349. Zitate ebenda, S. 358 f. 84  Ebenda, S. 363 f.; vgl. auch die Feststellung Georg von Belows, Die deutsche Geschichtschreibung (Anm. 15), S. 5: „Was die Romantiker zum Mittelalter führte, das war neben dem Gegensatz, in dem sie es zu dem rationalistischen, verkünstelten 18. Jahrhundert empfanden, die große Zeit Deutschlands im Mittelalter, die ihnen bei ihrem Wunsch der Wiederherstellung des Vaterlandes vorschwebte.“ 85  Vgl. hierzu auch die Bemerkungen von Arthur Henkel, Was ist eigentlich romantisch? (Anm. 42), bes. S. 304 ff. 83  Alle



Die Jenaer Frühromantik und ihre Kritik der Moderne151

Man darf sich, betrachtet man die ersten Anfänge der Politischen Romantik, durch die frühe und teilweise begeisterte Zustimmung der Jenaer Romantiker zur französischen Revolution von 1789  – wie sie etwa in dem bereits zitierten berühmten Athenäums-Fragment über die drei größten Tendenzen des Zeitalters zum Ausdruck kommt86  – nicht verwirren lassen. Zwei grundlegende Aspekte sind hier zu bedenken: Wenn der junge Friedrich Schlegel die Revolution feierte und seine politischen Hoffnungen zeitweilig auf einen „demokratischen Republikanismus“ (so in seinem berühmten „Versuch über den Begriff des Republikanismus“ von 1796)87 setzte, dann hatte er – der bedeutende Kenner und Verehrer der altgriechischen Kultur  – hierbei weniger den französischen Revolu­ tionsstaat der Gegenwart vor Augen, sondern die antike Polis als das Ideal einer freien Bürgergemeinde, – also eine res publica im traditionellen Sinne. Und zweitens resultiert die anfängliche Zustimmung der jungen Romantiker zur französischen Revolution daher, dass sie diesen Umsturz als eine berechtigte Reaktion gegen den modern-bürokratischen, von ihnen als abstrakt-mechanistisch empfundenen und verurteilten Staat des Ancien régime und des Absolutismus empfanden. Hier richtete sich ihre Kritik zugleich gegen den „Fabrik“- und „Maschinenstaat“ Preußen, den Inbegriff des modernen Staates in Deutschland. In seiner Schrift „Glauben und Liebe oder Der König und die Königin“ hat Novalis diesen ­Aspekt nachhaltig betont: „Kein Staat ist mehr als Fabrik verwaltet worden, als Preußen, seit Friedrich Wilhelm des Ersten Tode. So nöthig ­vielleicht eine solche maschinistische Administration zur physischen Gesundheit, Stärkung und Gewandheit des Staates seyn mag, so geht doch der Staat, wenn er bloß auf diese Art behandelt wird, im Wesentlichen darüber zu grunde“ – und zwar deshalb, weil er nur darauf gerichtet ist, „jeden durch Eigennutz an den Staat zu binden“88. Eine übergreifende, nicht nur den Verstand, sondern auch das Gefühl einschließende Idee fehlt einem solchen Gebilde. Der König – als „Vater“ des Staates, als „vollständiger Mensch“89 an der Spitze des Gemeinwesens  – vermag einer politischen Ordnung erst ihren wahren Sinn zu geben. Novalis zielt also auf eine grundlegende Erneuerung der Monarchie, auf ein in politischer, moralischer und religiöser Hinsicht zugleich reformiertes Königtum: „Der König“, heißt es bei ihm, „ist das gediegene Lebensprinzip des Staats; ganz dasselbe, was die Sonne im Planetensystem 86  Siehe

oben, Anm. 40. Kritische Ausgabe (Anm. 40), Bd. VII, S. 11–25. 88  Novalis, Dichtungen und Fragmente (Anm. 39), S. 334. 89  Ebenda, S.  335 f. 87  Schlegel,

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

ist. Zunächst um das Lebensprinzip her, erzeugt sich mithin das höchste Leben im Staate, die Lichtathmosphäre“90. Und in Abgrenzung gegen alle nichtmonarchischen Staatsformen beharrt er auf der Vorrangstellung der Monarchie, wenn er sagt: „Das ist eben das Unterscheidende der Monarchie, daß sie auf den Glauben an einen höhergeborenen Menschen, auf der freiwilligen Annahme eines Idealmenschen, beruht […] Der König ist ein zum irdischen Fatum erhobener Mensch“91. Die großen Hoffnungen, die Novalis in dieser Hinsicht auf das junge Königspaar Friedrich Wilhelm und Luise von Preußen setzte, sollten sich allerdings nicht erfüllen92. Auch Schelling hat sich  – wenn auch erst einige Jahre später, in dem 1811 entstandenen Fragment „Über das Wesen deutscher Wissenschaft“ – mit aller Deutlichkeit gegen den dürren, abstrakten Staatsmechanismus und die aus ihm hervorgehende „Vertilgung der Individualität“ ausgesprochen: „In einem so gewordenen Staat hat alles nur Wert, soweit es mit Sicherheit erwartet und berechnet werden kann: alles Dämonische aber, das vom Himmel kommt und nicht berechnet werden kann, ist von keiner Bedeutung. – Aller Mechanismus vernichtet die Individualität, gerade das Lebendige geht nicht in ihn ein und ist ihm nichts. Alles Große und Göttliche aber geschieht immer durch Wunder, das heißt es erfolgt nicht nach allgemeinen Gesetzen der Natur, sondern nur durch das Gesetz und die Natur des Individuums“93. Der moderne Staat als Anstaltsstaat wird also von den Romantikern konsequent verworfen  – aus mehreren Gründen: Dieser Staat wird als Fabrik, als kalter, toter Mechanismus empfunden, der dasjenige, was sein eigentlicher, natürlicher, sowohl organischer wie auch gefühlsmäßiger Mittelpunkt sein sollte, nämlich ein wahres Königtum, im Grunde ent90  Ebenda,

S. 327. S. 328. 92  Diese traditionsorientierten Elemente im politischen Werk des Novalis werden verkannt in der Arbeit von Hans Wolfgang Kuhn, Der Apokalyptiker und die Politik  – Studien zur Staatsphilosophie des Novalis, Freiburg i. Br. 1961, bes. S. 149 ff. und passim, der dem politischen Denken des Novalis im besonderen und auch der politischen Romantik im allgemeinen mit nicht eben großem Verständnis begegnet. 93  Schelling, Werke (Anm. 50), Bd. IV, S. 388; er fügt hinzu: „Vertilgung der Individualität ist eben die Richtung eines unmetaphysischen, bloß mechanisch geformten Staates. Daher gelangen in ihm die am wenigsten durch Individualität ausgezeichnet sind, die gewöhnlichsten Talente und am meisten mechanisch aufgezogenen Seelen zur Herrschaft und Leitung der Angelegenheiten“; ein Staat, der „sich selbst als ein Institut von bloß weltlichen Zwecken constituirt“ habe, sei zur Selbstverteidigung und Selbstbehauptung vollkommen unfähig (ebenda, S.  388 f.). 91  Ebenda,



Die Jenaer Frühromantik und ihre Kritik der Moderne153

behren kann, – und der zweitens, indem er dem einzelnen nur die Stelle eines Rädchens innerhalb der Maschine zugesteht, die schöpferische ­Individualität vernichtet. Und wenn die Romantiker von „Republikanismus“ reden, ist damit keineswegs das Gegenteil eines monarchischen Staates gemeint. Für Novalis ist „allgemeine Theilnahme am ganzen Staate, innige Berührung und Harmonie aller Staatsglieder“ unter der Leitung ihres „Vaters“, des Königs, gerade das Kennzeichen des „ächten Republikanismus.“ So kann er sogar sagen: „Der ächte König wird Republik, die ächte Republik König seyn“94, – eine besonders prägnante Formulierung romantischen Einheitsdenkens auf dem Gebiet des Politischen. Im Übrigen muss man, wenn man sich um eine Rekonstruktion der politischen Anschauungen der Jenaer Romantik bemüht, zur Kenntnis nehmen, dass die Kritik der Französischen Revolution bereits sehr früh einsetzt. Schon das Athenäums-Fragment Nr. 424 spricht hier eine sehr deutliche Sprache: „Man kann die Französische Revolution als das größte und merkwürdigste Phänomen der Staatengeschichte betrachten, als ein fast universelles Erdbeben, eine unermeßliche Überschwemmung der politischen Welt; […] als die Revolution schlechthin. Das sind die gewöhnlichen Gesichtspunkte. Man kann sie aber auch betrachten […] als die furchtbarste Groteske des Zeitalters, wo die tiefsinnigsten Vorurteile und die gewaltsamsten Ahndungen desselben in ein grauses Chaos gemischt, zu einer ungeheuren Tragikomödie der Menschheit so bizarr als möglich verwebt sind“95. Und noch eindeutiger formuliert Schlegel seinen Standpunkt in den „Ideen“ von 1800, wo es heißt: „Nichts ist mehr Bedürfnis der Zeit, als ein geistiges Gegengewicht gegen die Revolution, und den Despotismus, welchen sie durch die Zusammendrängung des höchsten weltlichen Interesse über die Geister ausübt“96. Dieser „Kampf gegen das gleichmachende Vernunftprinzip der Revo­ lution“97, der sich in den Schriften der politischen Spätromantik noch wesentlich verschärfen und in der Sache vertiefen sollte98, liegt geradezu 94  Novalis,

Dichtungen und Fragmente (Anm. 39), S. 336, 335, 330. Kritische Ausgabe (Anm. 40), Bd. II, S. 247 f. 96  Ebenda, S. 259 (Nr. 41). 97  Fritz Strich, Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich, 2. Aufl., München 21924, S. 398. – Anders dagegen Richard Brinkmann, Deutsche Frühromantik und Französische Revolution, in: derselbe, Wirklichkeiten – Essays zur Literatur, Tübingen 1982, S. 189–220, der die Stellung von Schlegel und Novalis zur Revolution aus dem Rahmen ihrer transzendentalphilosophischen Überlegungen heraus zu verstehen sucht. 98  Hierzu siehe die immer noch grundlegende Darstellungen von Jakob Baxa, Einführung in die romantische Staatswissenschaft (Anm. 18) und vor allem auch 95  Schlegel,

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in der Logik des fundamental modernitätskritischen Ansatzes, der sich in der Frühromantik finden lässt. Die Spätromantiker haben denn auch in ihren politischen Schriften die traditionellen Lebensordnungen, die Monarchie, die Stände und den universalistischen alten Reichsgedanken gegen den modern-mechanistischen und revolutionären Staat und den Anspruch des modernen naturrechtlichen Denkens zu rehabilitieren versucht. Es war nur konsequent, wenn Friedrich Schlegel seine in den Jahren 1805/06 gehaltenen „Vorlesungen über Universalgeschichte“ mit den Worten beschloss: „Die Aufgabe der Politik dürfte […] wohl keine andere sein als die Verfassung des Mittelalters, wovon ja ohnehin noch so vieles übrig ist, was gar nicht zerstört werden kann, ohne die Bildung des Menschengeschlechtes mitzuzerstören, einerseits wiederherzustellen und andererseits zu vollenden“99. V. Unser knappes Resümée der Hauptthemen der Jenaer Frühromantik – ihres Weltbildes, ihrer Naturauffassung, ihrer Ästhetik, ihrer Religion, ihres Geschichtsbildes und schließlich ihres politischen Denkens  – hat deutlich werden lassen, dass die umfassende und fundamentale Kritik der Moderne ein sehr starkes und vielleicht das stärkste Antriebsmoment frühromantischen Denkens und frühromantischer Kunst gewesen ist. Schon das Weltbild der Jenaer Romantiker richtet sich gegen die modernen Zerspaltungen, Ausdifferenzierungen, Trennungen und setzte dem modernen Denken die Idee umfassender Einheiten entgegen: Einheit von Mensch und Welt, von Makrokosmos und Mikrokosmos, von Poesie, Philosophie und Religion. Romantische Naturauffassung geht aus von einer grundlegenden Kritik der Trennung von Mensch und Natur; sie betont die innere Einheit alles Lebendigen und postuliert das Bild eines natürlich-göttlichen Kosmos, der zugleich das Organische wie das Anorganische, das Geistige wie das Physische in sich enthält. Andreas Müller, Die Auseinandersetzung der Romantik mit den Ideen der Revolution, in: Romantikforschungen, Buchreihe der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 16, Halle 1929, S. 243–333, sowie Kluckhohn, Persönlichkeit und Gemeinschaft (Anm. 23) und Scheuner, Der Beitrag der deutschen Romantik zur politischen Theorie (Anm. 23). 99  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 40), Bd. XIV, S. 256.  – Die romantische Mittelalter-Rezeption wurde erst ansatzweise aufgearbeitet; nicht mehr ausreichend ist das Bändchen von Gottfried Salomon, Das Mittelalter als Ideal der Romantik, München 1922; neuerdings vgl. Gisela Brinker-Gabler, Wissenschaftlichpoetische Mittelalterrezeption in der Romantik, in: Ernst Ribbat (Hrsg.): Romantik, Königstein/Ts. 1979, S. 80–97.



Die Jenaer Frühromantik und ihre Kritik der Moderne155

Romantische Ästhetik wiederum zielt auf die Überwindung der Trennungen zwischen den einzelnen künstlerischen Gattungen ebenso wie zwischen Kunst und Denken, Poesie und Philosophie. Der Kunst schreibt sie eine umfassende, die auseinanderstrebenden Sphären des Geistes wieder integrierende, ja sogar eine sinnstiftende Funktion zu. Progressive Universalpoesie soll das Sinn- und Stilchaos überwinden, zu neuen Einheiten zurückfinden und zugleich – als „Wiederverzauberung der Welt“ – die Defizite der Moderne überwinden helfen. Romantische Religiosität stellt sich in den Dienst eines konsequenten Kampfes gegen die moderne Säkularisierung. Der allgemeinen Entchristlichung der Epoche wird das Programm einer alle Lebensbereiche umfassenden religiösen Erneuerung entgegengestellt. Romantisches Geschichtsverständnis und romantische Politik schließlich deuten die Gegenwart als Vorstufe eines sich ankündigenden neuen Zeitalters, als Morgenröte einer kommenden Ära, die sich durch die Überwindung aller modernen Trennungen auszeichnet: als Einheit von Glauben und Wissen, Religion und Philosophie, Vernunft und Gefühl, Republik und Monarchie, Protestantismus und Katholizismus, Mikrokosmos und Makrokosmos. Die Historiker sind „rückwärtsgekehrte Propheten“, indem sie im Vergangenen  – vorzugsweise im Mittelalter  – die Vorformen und Ansätze des Künftigen zu erkennen vermögen, des neuen und dieses Mal endgültigen, ewigen „goldenen Zeitalters“. Und die romantische Politik stellt sich ganz in den Dienst dieses geschichtsphilosophischen Postulats einer allumfassenden geistigen, religiösen und politischen Erneuerung. Wenn man nun nach der Bedeutung der Jenaer Frühromantik, ja der romantischen Ideenwelt überhaupt, für das Denken und das Selbstverständnis der Gegenwart fragt, dann kann diese Bedeutung nicht darin bestehen, dass wir uns von dieser Gedankenwelt unmittelbare oder gar theoretische und praktische Wegweisung für die Probleme unserer Zeit erhoffen können. Denn was die Eigenart der modernen Lebenswelt ausmacht, die von den Romantikern schon im Ansatz sehr genau erkannte Tendenz zur Abstrahierung, Trennung, Ausdifferenzierung des gesamten modernen Denkens und Daseins, hat sich seitdem auf eine Weise fortentwickelt, die sie kaum voraussehen konnten. Nicht als Fundamentalkritik der – heute nicht mehr revidierbaren und damit unhintergehbaren – Moderne, wohl aber als gedankliche Grundlegung zu einer Kritik und vielleicht sogar kritischen Korrektur moderner Fehlentwicklungen erhält die Romantik auch aus der Gegenwartsper­ spektive ihre bleibende Bedeutung. Es sei, stellvertretend für andere, nur auf das gigantische Problem der modernen Natur- und Umweltzerstö-

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rung hingewiesen, um etwa die Aktualität romantischer Naturphilosophie und ihres umfassenden organischen Ansatzes, ihres Kampfes gegen ein Denken, das die Trennung von Mensch und Natur voraussetzt, besonders deutlich hervortreten zu lassen100. Und schließlich war die Romantik ein auf Einheit, auf das Ganze, auf die Totalität gerichtetes Denken, das sich nicht nur die Erkenntnis der letztendlichen Ureinheit aller Phänomene, nicht nur den Blick auf die großen Zusammenhänge aller Erscheinungen, sondern auch umfassende Sinngebungen zum Ziel gesetzt hatte. Dieser Aufgabe bleibt alles Denken, auch das gegenwärtige, verpflichtet. Schelling hatte recht, wenn er feststellte, „alles Hohe und Große in der Welt“ beruhe zuerst und vor allem „auf dem Talent, ein Vieles unmittelbar in Einem und hinwiederum Eines in Vielem begreifen zu können, mit Einem Wort auf dem Sinn für Totalität“101.

100  Vgl. hierzu die immer noch grundlegende Studie von Rolf Peter Sieferle, Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, München 1984, bes. S. 42 ff. 101  Schelling, Werke (Anm. 50), Bd. IV, S. 385.

Politisches Denken der deutschen Spätromantik I. Die politische Ideenwelt der deutschen Romantik im Allgemeinen und das politische Denken der spätromantischen Autoren im Besonderen erfreut sich seit etwa eineinhalb Jahrhunderten nicht gerade einer ausgesprochen freundlichen oder auch nur verständnisvollen Beurteilung. Im Gegenteil: In der negativen Bewertung der politischen Romantik waren und sind sich, bis auf wenige, wenngleich gewichtige Ausnahmen, seit jeher – unter den Zeitgenossen wie unter den Nachgeborenen – die Vertreter der meisten politischen und weltanschaulichen Richtungen einig. Von Heinrich Heine und den Junghegelianern über Georg Brandes bis hin zu Georg Lukács verurteilten Autoren der politischen Linken die romantische Wirklichkeitsfremdheit, den vermeintlichen oder wirklichen „Irrationalismus“, die Verklärung des feudalistischen Mittelalters und das religiöse, auf Rehabilitierung der Rechte der Kirchen abzielende Weltbild1. Als Vertreter der politischen Rechten bekämpften Charles Maurras in Frankreich2 und Carl Schmitt in Deutschland die Romantik als eine Ideologie der Zersetzung klassischer Formen und klassischen 1  Heinrich Heine, Die romantische Schule (1835), in: derselbe, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hrsg. v. Manfred Windfuhr, Bd. VIII/1, Hamburg 1979, S. 121–249; Theordor Echtermeyer/Arnold Ruge, Der Protestantismus und die Romantik. Zur Verständigung über die Zeit und ihre Gegensätze. Ein Manifest (1839/40), neu hrsg. v. Norbert Oellers, Hildesheim 1972; Georg Brandes, Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. I, Berlin 1924, S. 171–420 („Die romantische Schule in Deutschland“); Georg Lukács, Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur, Berlin(-Ost) 1955, S. 43–57. In diesen Zusammenhang gehört auch die Romantikkritik von Hermann Hettner, Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhange mit Goethe und Schiller, Braunschweig 1850. 2  Charles Maurras, Romantisme et Révolution, Paris 1922; derselbe, Dictionnaire politique et critique. Établi par les soins de Pierre Chardon, Bd. V, Paris 1933, S. 120 ff.; siehe dazu auch Hugo Friedrich, Das antiromantische Denken im modernen Frankreich. Sein System und seine Herkunft, München 1935; Fritz Schalk, Das antiromantische Denken im modernen Frankreich, in: Historische Zeitschrift 156 (1937), S. 24–39; Franz-Walter Müller, Deutsche und französische Romantik, in: Die deutsche Romantik im französischen Deutschlandbild. Fragen und Fragwürdigkeiten (Schriftenreihe des Internationalen Schulbuchinstituts, 2), Braunschweig 1957, S. 91–111.

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Maßes, als anarchisch-auflösenden Ästhetizismus, als unernsten, das Spiel mit beliebigen Formen und Inhalten betreibenden „Occasionalis­ mus“3. Liberale Autoren wiederum, wie etwa Benedetto Croce oder der amerikanische Historiker Gordon Craig, kritisierten die Romantik als „sittliche Krankheit“, als Unfähigkeit, an die Segnungen des liberalen Fortschritts glauben zu können oder als Neigung zur „Todesbesessenheit“ mit apokalyptischen Zügen4. Noch Joachim Fest meinte, den Begriff „Romantizismus“ schlichtweg als Synonym für politische Verblendung, für Realitätsverneinung und Wirklichkeitsblindheit gebrauchen zu können5. Dagegen hat das politische Denken der deutschen Romantiker nur vergleichsweise wenige Freunde oder auch nur freundliche Beurteiler gefunden. Erinnert sei hier nur an Ricarda Huch, die mit ihrer zuerst 1899 und 1902 in zwei Bänden veröffentlichten Gesamtdarstellung der romantischen Bewegung das bis heute wohl bedeutendste, gründlichste und gedankenreichste Werk über die deutsche Romantik verfasst hat6; erinnert sei auch an Georg von Below, Oskar Walzel und Paul Kluckhohn, die sich in den 1920er Jahren in einer Reihe wichtiger wissenschaftlicher Publikationen um eine umfassende Rehabilitierung der Romantik bemühten7. Wichtig für eine Neurezeption des romantischen politischen Den3  Carl Schmitt, Politische Romantik, Berlin 41984, S. 24: „Die Romantik ist subjektivierter Occasionalismus, weil ihr eine occasionelle Beziehung zur Welt wesentlich ist, statt Gottes aber nunmehr das romantische Subjekt die zentrale Stelle einnimmt und aus der Welt und allem, was in ihr geschieht, einen bloßen Anlaß macht“; ebenda, S. 172 f.: „Das ist also der Kern aller politischen Romantik: der Staat ist ein Kunstwerk, der Staat der historisch-politischen Wirklichkeit ist occasio zu der das Kunstwerk produzierenden schöpferischen Leistung des romantischen Subjekts, Anlaß zur Poesie, oder auch zu einer bloßen romantischen Stimmung“. 4  Benedetto Croce, Geschichte Europas im neunzehnten Jahrhundert (zuerst 1932), Frankfurt a. M. 1979, S. 38–50; Gordon Craig, Über die Deutschen, München 1982, S. 216–239. 5  Joachim Fest, Die verneinte Realität. Überlegungen zum Romantizismus heute (1970), in: derselbe, Aufgehobene Vergangenheit. Porträts und Betrachtungen, München 1983, S. 118–146; ähnlich auch Richard Löwenthal, Der romantische Rückfall. Wege und Irrwege einer rückwärts gewendeten Revolution, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 21970. 6  Ricarda Huch, Die Romantik, Bd. I: Blütezeit der Romantik, Leipzig 8–91920, Bd. II: Ausbreitung und Verfall der Romantik, Leipzig 6–71920. 7  Georg von Below, Die deutsche Geschichtschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unsern Tagen. Geschichtschreibung und Geschichtsauffassung, München/Berlin 21924, S.  4 ff.; derselbe, Wesen und Ausbreitung der Romantik, in: derselbe, Über historische Periodisierungen, Berlin 1925, S. 87–108; derselbe, Zum Streit um die Deutung der Romantik, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 81 (1926), S. 154–162, erneut abgedruckt in: Begriffsbestimmung der Ro-



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kens wurde schließlich die Schule des österreichischen Philosophen und Nationalökonomen Othmar Spann, dem maßgebende Neueditionen der politischen Schriften deutscher Romantiker  – insbesondere Adam Müllers  – zu danken sind8 und dessen Schüler Jakob Baxa die bis heute grundlegenden Forschungen und Darstellungen zu diesem Thema vorgelegt hat9. Neigten Spann und Baxa wiederum zu einer allzu unkritischen und sicherlich harmonisierenden Interpretation der politischen Romantik, ohne deren unleugbaren Brüche und Defizite angemessen wahrnehmen zu wollen10, so dürfte es heute eher angebracht sein, möglichst unvoreingenommen und auch unbefangen an die Äußerungen und Thesen der romantischen politischen Autoren heranzugehen: vorschnelle Aktualisierung sollte nunmehr ebenso obsolet sein wie forsche Aburteilung. Es kommt zuallererst darauf an, einen erneuten Zugang zu diesem – vielen Heutigen in der Regel sehr fremdartig anmutenden – Denken zu finden. Zuerst einmal erscheint es notwendig, den hier verwendeten Epochenbegriff der „Spätromantik“ etwas näher zu bestimmen. Auch wenn man sich der unleugbaren Problematik jeder Epochenbestimmung und -abmantik, hrsg. v. Helmut Prang, Darmstadt 1972, S. 135–144; Oskar Walzel, Deutsche Romantik, Bd. I: Welt- und Kunstanschauung, Leipzig/Berlin 41918, S.  104 ff.; Paul Kluckhohn, Die deutsche Romantik, Bielefeld/Leipzig 1924, S. 153 ff.; derselbe, Persönlichkeit und Gemeinschaft. Studien zur Staatsauffassung der deut­schen Romantik, Halle a. S. 1925; derselbe, Das Ideengut der deutschen Romantik, Tübingen 41961, S.  78 ff., 101 ff. 8  Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst, hrsg. v. Jakob Baxa, Bde. I–II, Wien/Leipzig 1922; derselbe, Versuche einer neuen Theorie des Geldes, hrsg. v. Helene Lieser, Jena 1922; Adam Müllers Handschriftliche Zusätze zu den „Elementen der Staatskunst“, hrsg. v. Jakob Baxa. Mit einem Anhang: Verschollene Schriften Adam Müllers aus den Jahren 1812–1818, Jena 1926; derselbe, Ausgewählte Abhandlungen, hrsg. v. Jakob Baxa, Jena 21931; Gesellschaft und Staat im Spiegel deutscher Romantik, ausgew. u. hrsg. v. Jakob Baxa, Jena 1924. In der von Spann seit 1922 herausgegebenen Buchreihe „Die Herdflamme“ erschienen neben zentralen Texten Adam Müllers auch Neuausgaben der politischen Schriften ­ Schellings, Baaders und Friedrich Lists. 9  Othmar Spann, Die Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre (1929), Heidelberg 251949; Jakob Baxa, Adam Müller. Ein Lebensbild aus den Befreiungskriegen und aus der deutschen Restauration, Jena 1930; derselbe, Einführung in die romantische Staatswissenschaft, Jena 21931; derselbe, Romantik und konservative Politik, in: Rekonstruktion des Konservatismus, hrsg. v. Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Freiburg i. Br. 1972, S. 443–468. 10  Vgl. zur politischen Bedeutung und zum Werk Othmar Spanns u. a. Martin Schneller, Zwischen Romantik und Faschismus. Der Beitrag Othmar Spanns zum Konservatismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1970; Mohammed Rassem, Othmar Spann, in: Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Karl Graf Ballestrem/Henning Ottmann, München 1990, S. 89–103.

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grenzung wohl bewusst ist  – etwa der Verlockung zum Schematisieren, zur Vernachlässigung von (in der Regel fast immer vorhandenen) Übergängen und Kontinuitäten –, kommt man doch letztendlich nicht umhin, mit diesem Mittel zu arbeiten. Andernfalls fällt man der Gefahr einer allzu unpräzisen Argumentation zum Opfer, denn gerade die Romantik muss, wenn sie näher definiert wird, nicht nur unter systematischen, sondern auch nach historischen Gesichtspunkten bestimmt und differenziert werden, wenn man diesen Begriff auch weiterhin gebrauchen möchte. So lässt sich die Spätromantik, sehr vereinfacht gesagt, als die letzte von vier Phasen der gesamten romantischen Bewegung bestimmen: Auf die Präromantik, die aufklärungskritische literarische und geistesgeschichtliche Strömung im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die sich etwa mit den Namen Hamann, Herder, Klopstock, Jacobi verbinden läßt, folgte seit etwa 1795 die Frühromantik, – ein Begriff, mit dem man den Romantikerkreis bezeichnet, der sich in der Zeit bis etwa 1800 in Jena um die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel und um ihre berühmten Zeitschriften „Lyceum“ und „Athenäum“ gesammelt hatte. Als Hochromantik wird man die Ära zwischen 1800 und 1813 bezeichnen können, jene große politische und geistesgeschichtliche Umbruchsepoche, in der die bedeutendsten Dichtungen, literatur- und sprachhistorischen Untersuchungen, philosophischen Systeme und politischen Entwürfe der Romantik entstanden. Und als Spätromantik wiederum lässt sich die an den Niedergang des napoleonischen Imperiums und die Befreiungskriege anschließende Zeit bis etwa 1848 bezeichnen, die man in der politischen Geschichte mit den Begriffen Restauration und Vormärz umschreibt. Das Revolutionsjahr 1848 darf man deshalb als Schlusspunkt der politischen Romantik auffassen, weil in diesem Jahr die Verwirklichung der Ideale des letzten „Romantikers auf dem Thron“, König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, endgültig scheiterte11. Als die fünf wichtigsten und seinerzeit auch bekanntesten politischen Autoren der deutschen Spätromantik, von denen im Folgenden ausführlicher zu sprechen sein wird, sind anzusehen: Adam Müller12 mit seinen 11  Vgl. zu dieser Spätphase u. a. Ernst Lewalter, Friedrich Wilhelm IV.  – Das Schicksal eines Geistes, Berlin 1938, bes. S. 329 ff., 347 ff., 392 ff.; Richard Benz, Die deutsche Romantik. Geschichte einer geistigen Bewegung, 4Leipzig 1940, S. 471 ff., sowie vor allem die unten (Anm. 59) zitierte grundlegende Arbeit von Frank-Lothar Kroll. 12  Vgl. Alfred von Martin, Die politische Ideenwelt Adam Müllers, in: Kulturund Universalge­schichte. Festschrift für Walter Goetz, Leipzig/Berlin 1927, S. 305– 327; Baxa, Adam Müller (Anm. 9); Eugen Sasse, Adam Müller in Leben und Lehre (Nürnberger Beiträge zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 55), Nürnberg 1935; Georg Polter, Adam Müllers Kritik am Liberalismus, sozialwiss. Diss.



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Spätschriften „Von der Notwendigkeit einer theologischen Grundlage der gesamten Staatswissenschaften und der Staatswirtschaft insbesondere“ von 1819 und „Die innere Staatshaushaltung; systematisch dar­ gestellt auf theologischer Grundlage“ von 182013, Joseph Görres14 mit seinen großen zeitkritischen Pamphleten „Teutschland und die Revolu­ tion“ und „Europa und die Revolution“ von 1819 und 1821 sowie mit einigen seiner kleineren politischen Gelegenheitsschriften und auch mit einzelnen Artikeln seines berühmten „Rheinischen Merkurs“ aus den Jahren der Befreiungskriege15, sodann vor allem Friedrich Schlegel16 mit seiner 1820 bis 1823 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Concordia“ veröffentlichten Artikelserie „Signatur des Zeitalters“17 sowie mit seinen späten Vorlesungszyklen, der 1827 in Wien vorgetragenen „Philosophie des Lebens“18, und der „Philosophie der Geschichte“ von 182819, Franz von Baader20 mit seinen zwischen 1815 und 1835 abgefassten zeitkritischen Schriften „Über das […] Bedürfnis einer neuen […] Frankfurt a. M. 1936; Ernst Rudolf Huber, Adam Müller und Preußen, in: derselbe, Nationalstaat und Verfassungsstaat. Studien zur Geschichte der modernen ­Staatsidee, Stuttgart 1965, S. 48–70; Benedikt Koehler, Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik, Stuttgart 1980. 13  Beide erneut abgedruckt in: Adam Müller, Schriften zur Staatsphilosophie, hrsg. v. Rudolf Kohler, München 1923, S. 177–246, 247–314. 14  Vgl. u. a. Görres-Festschrift. Aufsätze und Abhandlungen zum 150. Geburtstag von Joseph Görres, hrsg. v. Karl Hoeber, Köln 1926; Heribert Raab, Europäische Völkerrepublik und christliches Abendland. Politische Aspekte und Prophetien bei Joseph Görres, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 96 (1976), S. 58–92; derselbe, Joseph Görres. Ein Leben für Freiheit und Recht, Paderborn usw. 1978. 15  Bis auf „Europa und die Revolution“ sind diese Texte gut zugänglich in der Ausgabe: Joseph Görres, Auswahl in zwei Bänden, hrsg. v. Arno Duch, München 1921, wichtig auch die Einleitungen des Hrsgs. in Bd. I, S. IX–XXXVI, Bd. II, S. IX–XXXII. 16  Vgl. Richard Volpers, Friedrich Schlegel als politischer Denker und deutscher Patriot, Naumburg 1917; Reinhold Lorenz, Deutschland und Europa. Friedrich Schlegels Wiener Vorlesungen über die Neuere Geschichte, in: derselbe, Drei Jahrhunderte Volk, Staat und Reich. Fünfzehn Beiträge zur Neueren Deutschen Geschichte, Wien 1942, S. 291–323: Gerd-Peter Hendrix, Das politische Weltbild Friedrich Schlegels, Bonn 1962; neuere Untersuchungen zum politischen Denken des späten Schlegel fehlen. 17  Wieder abgedruckt in: Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler, München/Paderborn/Wien/Zürich 1958 ff., hier Bd. VII, S. 483–596. 18  Wieder abgedruckt in: ebenda, Bd. X, S. 1–307. 19  Wieder abgedruckt in: ebenda, Bd. IX, S. 1–428. 20  Grundlegend noch immer: David Baumgardt, Franz von Baader und die philosophische Romantik, Halle 1927; Eugène Susini, Franz von Baader et le romantisme mystique, Paris 1942; Josef Siegl: Franz von Baader. Ein Bild seines Lebens und Wirkens, München 1957.

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Verbindung der Religion mit der Politik“, „Über den Evolutionismus und Revolutionismus“ und „Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs“21, schließlich Joseph von Eichendorff22, der in den 1830er Jahren einige wenig bekannte, aber für die politische Ideenwelt der Spätromantik sehr aufschlussreiche Arbeiten zur Kritik der Säkularisation von 1803 und zur aktuellen preußischen Verfassungsfrage niederschrieb23. Jedoch nicht die einzelnen Autoren24, sondern die zentralen Themen und Motive des politischen Denkens der deutschen Spätromantik25 wer21  Alle enthalten in der wichtigen Ausgabe: Franz von Baader, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, hrsg. v. Johannes Sauter, Jena 1925. 22  Vgl. u. a. Peter Krüger, Eichendorffs politisches Denken, in: Aurora – Eichendorff Almanach 28 (1968), S. 7–32, 29 (1969), S. 50–69; Helmut Koopmann, ­Joseph von Eichendorff, in: Deutsche Dichter der Romantik, hrsg. v. Benno von Wiese, Berlin 1971, S. 416–441; Hans G. Pott (Hrsg.), Eichendorff und die Spätromantik, Paderborn 1985; Alfred Riemen (Hrsg.), Ansichten zu Eichendorff  – Beiträge der Forschung 1958–1988, Sigmaringen 1988. 23  Im Folgenden zitiert nach dem Abdruck in: Joseph Freiherr von Eichendorff, Werke und Schriften, hrsg. v. Gerhart Baumann/Siegfried Grosse, Bd. IV: Literarhistorische Schriften, historische Schriften, politische Schriften, Stuttgart 1958. 24  Es versteht sich von selbst, dass mit den voranstehend genannten fünf Autoren nur die wichtigsten Vertreter des politischen Denkens der deutschen Spät­ romantik hier herangezogen werden. Fraglos hätte eine umfassendere (an dieser Stelle aus Platzgründen nicht zu leistende) Darstellung eine Reihe weiterer Persönlichkeiten zu berücksichtigen, darunter etwa Achim und Bettine von Arnim, Clemens Brentano, Friedrich Daniel Schleiermacher, August Wilhelm Schlegel, Henrik Steffens, Ludwig Tieck, Friedrich de la Motte-Fouqué, Wilhelm von Schütz, Ludwig Uhland. 25  Eine eigenständige Untersuchung speziell zum politischen Denken der Spätromantik existiert bisher nicht; unverzichtbare Darstellungen zur politischen Romantik im allgemeinen sind immer noch, neben den Arbeiten von Jakob Baxa (Anm. 9) und Paul Kluckhohn (Anm. 7), vor allem Huch, Die Romantik (Anm. 6), Bd. II, S. 296–321, sodann Wilhelm Metzger: Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des Deutschen Idea­lismus. Aus dem Nachlaß hrsg. von Ernst Bergmann, Heidelberg 1917, S. 193 ff., 220 ff., 252 ff.; Josef Nadler, Die Berliner Romantik 1800–1814, Berlin 1921, S. 155 ff.; Alfred von Martin, Das Wesen der romantischen Religiosität, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2 (1924), S. 367–417; derselbe, Romantischer ‚Katholizismus‘ und katholische ‚Romantik‘, in: Hochland 23 (1925/26), S. 315–337; Werner Näf, Staat und Politik im Zeitalter der Romantik, in: derselbe, Staat und Staatsgedanke. Vorträge zur neueren Geschichte, Bern 1935, S. 155–178; Hans Felix Hedderich, Die Gedanken der Romantik über Kirche und Staat, Gütersloh 1941; Carl Brinkmann, Romantische Gesellschaftslehre, in: Romantik. Ein Zyklus Tübin­ger Vorlesungen, hrsg. v. Theodor Steinbüchel, Tübingen/Stuttgart 1948, S. 177–194; für die Jahre bis 1815: Reinhold Aris, History of Political Thought in Germany from 1789 to 1815, London 1965, S. 207–341; Hans Reiss, Politisches Denken in der deutschen Romantik, Bern 1966; Jacques Droz, Le Romantisme Allemand et l’Etat. Résis-



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den im Folgenden im Mittelpunkt stehen: Ausgehend von einer Skizzierung des religiösen Universalismus und der Deutung der Welt als gött­ liche Ordnung (II.) und einem zweiten Abschnitt, der das organische Staatsverständnis der Romantiker, ihre analoge Betrachtungsweise von Mensch, Natur und politischer Ordnung zum Thema hat (III.), werde ich anschließend die romantische Revolutionskritik und ihre Rehabilitierung von Kontinuität und Tradition in den Blick nehmen (IV.), bevor ich mich in weiteren Abschnitten den außenpolitischen Vorstellungen (V.), den Staats- und Verfassungsideen im engeren Sinne (VI., VII.) und schließlich den wirtschaftspolitischen Gedanken und den sozialkritischen Äußerungen der Spätromantiker (VIII.) zuwende. II. Wenn die Spätromantiker sich mit Politik befassten, dann taten sie dies als politische Theologen: Ihr Denken ist politische Theologie  – und zwar (nach der wichtigen Bestimmung Ernst-Wolfgang Böckenfördes) „institutionelle politische Theologie“. Das bedeutet: Die Spätromantiker machen auf der Grundlage ihres christlichen Glaubens „Aussagen […] über den Status, die Legitimation, Aufgabe und evtl. Struktur der politischen Ordnung, einschließlich des Verhältnisses der politischen Ordnung zur Religion“26.

tance et collaboration dans l’Allemagne napoléonienne, Paris 1966; Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, hrsg. v. Hans Herzfeld, Werke, Bd. V, München 1969, S. 58 ff., 76 ff. u. a.; Hans-Joachim Schoeps, Deutsche Geistesgeschichte der Neuzeit, Bd. IV: Die Formung der politischen Ideen im 19. Jahrhundert, Mainz 1979, S. 9–39; Volker Stanslowski, Natur und Staat. Zur politischen Theorie der deutschen Romantik (Sozialwissenschaftliche Studien, Bd. 17), Opladen 1979; Ulrich Scheuner, Der Beitrag der deutschen Romantik zur politischen Theorie, Opladen 1980; Klaus Siblewski, Ritterlicher Patriotismus und romantischer Nationalismus in der deutschen Literatur 1770–1830 (Literatur in der Gesellschaft, N. F. Bd. 4), München 1981, S. 151 ff.; unentbehrlich für den Zusammenhang auch das dritte Kapitel der bedeutenden Studie von Theodore Ziolkowski, Das Amt der Poeten. Die deutsche Romantik und ihre Institutionen, München 1994, S. 83–172. – Speziell zur Spätromantik und ihrer geistesgeschichtlichen Verortung bleibt  – trotz einzelner umstrittener Thesen  – besonders wichtig: Alfred Baeumler, Das mythische Weltalter. Bachofens romantische Deutung des Altertums, München 1965 (zuerst in: Johann Jacob Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, hrsg. v. Manfred Schröter, München 1926, S. XIII–CCXIV). 26  Ernst Wolfgang Böckenförde, Politische Theorie und politische Theologie. Bemerkungen zu ihrem gegenseitigen Verhältnis, in: Religionstheorie und Politische Theologie, hrsg. v. Jacob Taubes, Bd. I: Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, München/Paderborn/Wien/Zürich 21985, S. 16–25, hier S. 19.

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Dem geht allerdings zuerst einmal der unbedingte und niemals angezweifelte Glaube an eine von Gott geschaffene Natur- und Weltordnung voraus – ein Glaube, der gewissermaßen das Grundaxiom, damit das gedankliche Fundament darstellt, von dem aus die politischen Romantiker argumentieren. So bestimmte Friedrich Schlegel die Natur als „göttliche Ordnung“, in der sich „alles […] auf den Schöpfer und Lenker der Welt“ beziehe27; und die Pflicht des mit der Willensfreiheit ausgezeichneten Menschen sah er darin, sich in freier Einsicht als Teil dieser Ordnung zu begreifen und sich in sie einzufügen. Er forderte dies durchaus in dem Bewusstsein, der eigenen Zeit einen Spiegel vorzuhalten, wenn er von „der allgemeinen Masse, […] der chaotischen Flut der alles mit sich fortschwemmenden Begebenheiten, Meinungen und Parteien“ der revolutionären Epoche sprach und im gleichen Atemzug an „die großen Grundsätze der alten Ordnung und Gerechtigkeit“ früherer Zeiten erinnerte, die in der Folge der Fehlentwicklungen vor und nach 1789 verlorengegangen seien28. Nicht weniger ging auch Adam Müller vom Glauben an das „Walten der unabänderlichen, natürlichen Ordnung der Dinge“29 aus und postulierte mit Nachdruck, dass die Herstellung einer richtigen politischen Ordnung nur zu erreichen sei „durch den Gehorsam gegen das ius divinum, gegen die positiven Einrichtungen, Gebote und Satzungen des obersten Weltenrichters und durch den Beistand der göttlichen Gnade“30. Der Mensch ist – so Müller – vollkommen in diese göttliche Ordnung eingebunden, er ist „einerseits Diener Gottes, und als solcher zum Gehorsam gegen alle seine Gebote gehalten, andererseits Kind und Ebenbild Gottes, und als solches zur […] liebevollen Verwaltung des ihm anvertrauten, väterlichen Erbes, dem er […] als von ihm verordneter Herr der Erde vorsteht“31.

27  Schlegel,

Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. X, S. 108 f. Bd. VII, S. 498 f. 29  Müller, Schriften zur Staatsphilosophie (Anm. 13), S. 204. 30  Ebenda, S. 208. 31  Ebenda, S. 209.  – Daneben hat Müller im Rahmen seiner modernitätskritischen Grundposition die Religion auch als einheitsstiftendes Element aufgefasst, das die Gegensätze der (später von Max Weber so genannten) auseinanderstrebenden Wertsphären zusammenführt und auflöst; vgl. ebenda, S. 234: „Es ist unmöglich, […] Jurisprudenz und Ökonomie, Recht und Nutzen mit einander zu vertragen, ohne höhere Dazwischenkunft, ohne die Religion, vor deren Erscheinen alle Widersprüche verschwinden“; zur modernitätskritischen Position bereits der Frühromantik siehe Hans-Christof Kraus, Die Jenaer Frühromantik und ihre Kritik der Moderne, in diesem Band S. 127–156. Zu Max Weber die Hinweise ebenda, S.  214 ff. 28  Ebenda,



Politisches Denken der deutschen Spätromantik165

Alle Staatsgewalt legitimiert sich in dieser Perspektive durch die Tatsache der göttlichen Weltregierung; so stellte Friedrich Schlegel fest: „Für uns ist es […] eine allgemein anerkannte Lehre geworden, daß alle Obrigkeit und die Gewalt der Könige von Gott sei; und daß aller Gehorsam gegen die Gesetze, und gegen die oberste Staatsgewalt auf dieser göttlichen Grundlage und Autorität beruhe“32. Dass diese Ideen auch in der Restaurationsära nach 1815 keineswegs Allgemeingut waren, sondern erst der konkreten Umsetzung in die Wirklichkeit bedurften, war den Autoren der politischen Spätromantik allerdings durchaus bewusst; so bemerkte etwa Eichendorff: „[D]er Geist der Lüge kann nur vernichtet werden durch den Geist der Wahrheit, durch das Christentum und eine ewige innige Beziehung desselben auf den Staat“, und er fügte hinzu, dass nach seiner Überzeugung nur „die innere Wiedergeburt und Verjüngung des Volks durch das Christentum […] die erste und unerläßlichste Bedingung eines besseren Daseins“33 zu garantieren vermöchte. Ohne die christliche Religion, so schließlich Franz von Baader, würden „alle Formen der Gesellschaft drückend und unleidlich“, denn dem Christentum allein sei die Erlösung von „Menschenverachtung und Menschenhaß“ zuzuschreiben, indem es „stolz und despotisch gesinnte Gemüter in demütige, niederträchtig oder sklavisch gesinnte in erhaben gesinnte, feindselige und übeltätige in liebreiche und wohltätige, unverträgliche in friedsame umgestaltet“34. Der christliche Universalismus der Spätromantiker leitet also das Postulat der Notwendigkeit einer durch das Christentum fundierten Staatsordnung doppelt ab: zum einen durch die Grundannahme einer allumfassenden göttlichen Weltordnung mit Gott als dem Schöpfer der Welt und oberstem Weltenrichter an der Spitze; das bedeutet, dass es keine sinnvolle politische Ordnung geben kann als diejenige, die sich an den Vorga32  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. X, 150; vgl. auch S. 150 f., wo es unter Bezugnahme auf die Französische Revolution weiter heißt: „Und wenn man auch eine kurze Epoche hindurch alles in dem Staate auf die Vernunft und die unbedingte Freiheit derselben hat gründen wollen: so hat sich der Irrtum grade [sic] in der Erfahrung am meisten als Irrtum gezeigt und durch die Tat selbst widerlegt, und ist man in der Theorie allgemein wieder zu dem Recht und der göttlichen Autorität, als Grundlage der obersten Staatsgewalt zurückgekehrt“. 33  Eichendorff, Werke und Schriften (Anm. 23), Bd. IV, 1149. 34  Alle Zitate in: Baader, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie (Anm.  21), S. 60 f.; Baader betont im weiteren, dass nur auf dem Wege einer umfassenden allgemeinen religiösen Erneuerung „eine wahrhafte Gegenrevolution für die Zukunft begründet“ werden könne: „ […] nur auf solche Weise könnten durch Erringung einer neuen Stufe zur Annäherung einer wahren Theokratie alle jene Gräuel der Dämonokratie wieder versühnt werden, welche die französische Revolution über die Welt ausschüttete“ (ebenda, S. 68).

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

ben und geoffenbarten Prinzipien eben dieses Weltschöpfers und -herrschers orientiert. Zum anderen aber auch durch die Betonung der ethischen Kraft des Christentums als einer Religion, die von der Lüge zur Wahrheit führt, von der Unfreiheit zur Freiheit, vom Krieg zum Frieden, vom Hass zur Liebe und vom Despotismus zur Demut vor Gott. III. Dem universalistischen Denken der Spätromantiker entspricht es, dass die Welt als sinnvolles Ganzes, als von Gott geschaffene Weltordnung angesehen wird, und daraus folgt wiederum, dass es keine durchgehenden und unüberschreitbaren Trennungen zwischen Natur und Mensch, damit auch zwischen natürlicher und politischer Ordnung geben kann. Ein Gemeinwesen, ein Staat, ist nach dieser Auffassung nicht als etwas Künst­ liches, nur von Menschenhand Geschaffenes anzusehen, sondern als etwas Naturwüchsiges, Organisches, das – natürlichen Vorgängen entsprechend – entsteht, wächst, sich kontinuierlich entfaltet und ausformt, das also nicht zuletzt auch seiner inneren Form nach als etwas dem Organismus Analoges anzusehen ist35. Zu den Kerngedanken der romantischen Naturphilosophie gehört die Überzeugung von der Entsprechung des Großen und des Kleinen, des Makrokosmos und des Mikrokosmos – und diese Idee haben auch die politischen Romantiker übernommen. „In der Tat“, bemerkt Franz von Baader, „liegt eine tiefe, in allen Zeiten, wenigstens dunkel erkannte Wahrheit dieser Parallelisierung der öffentlichen Gesellschaft oder des Staates mit einem wahrhaften Organismus zugrunde, und indem man seit langer Zeit den Menschen eine kleine Welt, d. h. eine kleine partielle Gesellschaft nannte, war man wenigstens der Einsicht nahe, dass die allgemeine Gesellschaft oder die große Welt nur organisch, d. i. gleichfalls nur als ein Mensch im großen […] und nicht per aggregationem oder mechanisch begriffen werden könnte“36. Die Existenz jedes einzelnen Menschen sei überhaupt nur durch seine Einbindung in einen größeren organischen

35  Siehe zur organischen Staatstheorie im Allgemeinen und zum organischen Denken der politischen Romantik im besonderen Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. III: Die Staats- und Korporationslehre des Altertums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland (zuerst 1881), Ndr. Darmstadt 1954, S. 8 ff. u. passim; sowie Gisela von Busse, Die Lehre vom Staat als Organismus. Kritische Untersuchungen zur Staatsphilosophie Adam Müllers, Berlin 1928; Aris, History of Political Thought (Anm. 25), S. 288 ff. 36  Baader, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie (Anm. 21), S. 417; vgl. auch ebenda, S. 276, 347 f., 451 f.



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Zusammenhang näher zu bestimmen37. Und Friedrich Schlegel stellte 1827 fest, der Staat als politisches Individuum im Großen könne „nur in den organischen Gliedern eines Ganzen, und den einzelnen Ständen gefunden werden, in denen der Staat und die Nation historisch fortlebt und sich fortentwickelt, und lebendig erhält; nur in diesem Sinne bildet eine Nation ein lebendiges Ganzes und großes Individuum“38. Auch Joseph Görres übertrug unbedenklich seine in der Naturphilosophie entwickelte Lehre vom Organismus auf Geschichte und Staat, indem er die Gesellschaft und ihre Institutionen als Organismen deutete39. Adam Müller hat diese organologische Betrachtungsweise noch weiter fortgeführt, indem er anthropomorphe Deutungselemente aufnahm, d. h. den Staat direkt in Analogie zum menschlichen Körper stellte: „Was zuvörderst den Gehalt und die Bestandteile angeht, so besteht der Staat (status) eines Menschen aus Personen und Sachen, in demjenigen Verstande nämlich, wie der Körper des Menschen aus Organen besteht, die wie Muskeln und Sinneswerkzeuge mehr abhängig vom Willen des Ganzen, also sächlicher, und aus Organen, die, wie Herz, Magen, Leber, Eingeweide, mehr unabhängig von demselben, also persönlicher erschei­ nen“40. In sehr ähnlicher Weise bestimmte wiederum Schlegel das organische Staatsdenken: Man müsse, wenn man den verderblichen Folgen eines abstrakt-mechanistischen und damit revolutionären Politikverständnisses entgehen wolle, davon ausgehen, „daß sich jene verschiedene Gesellschaftsformen und Arten, oder Abteilungen und Sphären des Menschenvereins, wie die Glieder und Organe des menschlichen Körpers, gegenseitig nicht hemmen und stören, sondern zusammenwirkend unterstützen und wechselseitig heben und tragen sollen, wenngleich ein Glied dem andern untergeordnet, oder über die andern gesetzt sein kann und soll“41. Mit dieser letzten Bemerkung ist bereits deutlich formuliert, wogegen sich das organologisch-anthropomorphe Staatsverständnis richtet: gegen den als revolutionär angesehenen Gleichheitsgedanken. Wie die Organe 37  Vgl. ebenda, S. 348: „Ein einzelnes Individuum einer Familie, einer Gemeinde, eines Standes, Stammes oder Volkes kann und soll ebensowenig abstrakt von dieser Familie, diesem Stande usw. leben und handeln, oder behandelt und beachtet werden als diese Familie, Gemeine [sic], Stand usw. ohne ihn. Beide sind nur miteinander reell und wahrhaftig, und beide verbürgen und assekurieren sich wechselseitig ihre Existenz“. 38  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. X, S. 253. 39  Siehe dazu die Bemerkungen in der Einleitung von Arno Duch zum zweiten Band seiner Görres-Auswahledition (Anm. 15), S. XXIV ff. 40  Müller, Schriften zur Staatsphilosophie (Anm. 13), S. 223. 41  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. VII, S. 539.

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eines Organismus, eines menschlichen Körpers von unterschiedlicher Qualität und Bedeutung sind, so nehmen auch die einzelnen Angehörigen eines  – in dieser Weise aufgefassten  – Gemeinwesens eine notwendigerweise politisch ungleiche Stellung ein: denn Herz und Hirn sind für das Dasein eines organischen Ganzen von zentralerer Bedeutung als etwa Hand oder Fuß. Insofern verwundert es nicht, dass die Spätromantiker ihren Hauptgegner in einer, wie Schlegel dies ausdrückte, „gewisse[n] rein mathema­ tischen[n] Staatsansicht und Staatsbehandlung“ erblickten, die „gar nicht bloß der republikanischen oder liberalen Partei und Sekte eigen“ sei, „sondern ebensosehr bei vielen der legitimsten Regierungen gefunden“ werden könne42. Und Eichendorff wiederum konnte um 1830 das vergangene Heilige Römische Reich Deutscher Nation als wahrhaft organisches Gebilde den rein mechanistisch ausgestalteten  – und daher von ihm als zutiefst defizitär angesehenen  – Staaten der Gegenwart gegenüberstellen: „Wenn nach der früheren Einrichtung Deutschlands der Staat durch Religion, ehrwürdige Gewohnheiten, eigentümliche Sitten und durch eine innige Verbrüderung vom Lehnsverbande bis zu den Zünften hinab ein geistiges, organisch lebendiges Ganze bildete, so wurde nunmehr, mit offenbarer Geringschätzung aller moralischen Triebfedern, die Macht jedes Staates einzig nach statistischen Tabellen, nach der günstigen oder ungünstigen Handelsbilanz und nach Kanonen berechnet. Das Prinzip des Lebens, das gesunde Verhältnis zwischen Seele und Körper des Staats war gestört, die verlorene und verkannte Gewalt der inneren Würdigkeit sollte einzig und allein zuverlässiger vertreten werden durch die äußere Gewalt der Waffen. Und so wurde denn der schöne deutsche Wald, wo Stamm an Stamm in lebendiger mannigfaltiger Eigentümlichkeit die starken Arme ineinanderwob zur grünen Burg der Freiheit, in mechanischer Gleichförmigkeit zu der großen Schlag- und Schlachtmaschine der stehenden Heere verzimmert“43. In diesen charakteristischen Formulierungen finden sich bereits wie in einem Brennspiegel zentrale Elemente der spätromantischen politischen Ideenwelt: sowohl die von tiefer Religiosität und einer mit dieser eng zusammenhängenden Naturfrömmigkeit bestimmte organische Staatsauffassung wie gleichzeitig eine scharfe Kritik an zentralen Manifestationen der politischen Moderne: dem Auseinanderbrechen traditioneller Lebensordnungen wie der Stände und der Zünfte sowie dem Primat des Militärischen und eines rein rechnerisch-rational bestimmten Wirtschaftslebens. 42  Ebenda,

S. 495.

43  Eichendorff, Werke

und Schriften (Anm. 23), Bd. IV, S. 1147 f.



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IV. Dem organischen Denken der politischen Romantiker entsprach es, dass politische Entwicklungen mit den natürlichen Wachstumsvorgängen in Parallele gesetzt wurden; Umstürze und Revolutionen erschienen in dieser Perspektive als ebenso unnatürlich wie krankhaft, als ein einander abwechselndes Wüten der Extreme44. Joseph Görres hat diesem Umschlag von der anarchischen Revolution zum diktatorischen Despotismus als eine Entwicklung mit eigener innerer Logik beschrieben: Wenn durch die „Raserei“ einer Revolution „endlich Schritt vor Schritt die ganze Leiter menschlichen Frevels durchlaufen, alles Bestehende gestürzt, alles Feste zerschmettert, alles Hohe geschleift, aller Besitz gewechselt“ sei, trete „als notwendiger Gegensatz wieder die Herrschaft der Einheit ein, die anfangs die ermüdeten Kräfte leicht bezwingt, dann aber, da das im Innersten aufgeregte Leben große Widersprüche und die heftigsten zen­ trifugalen Richtungen geweckt, notwendig scharf und eng die Masse zusammengreifend, nach und nach sich zum höchsten Despotismus steigert und wieder eine andere entgegengesetzte Stufenfolge von Freveln durchläuft, bis endlich eine äußere und innere Katastrophe […] die Extreme wieder gegen die Mitte lenkt. Das ist der Gang, den die englische wie die französische und jede andere Revolution genommen; eine deutsche würde von dieser Naturordnung keine Ausnahme machen“45. Das politische Denken der deutschen Spätromantiker ist nun geradezu daraufhin angelegt, eben dieser  – von ihnen gewissermaßen als historisch-politische Krankheit begriffenen – Entwicklung gedanklich entgegenzuarbeiten und stattdessen die fundamentale Bedeutung von Kontinuität und Tradition als Voraussetzung sinnvoller und friedlicher politischer Existenz hervorzuheben. „Je stärker das Brausen der Masse sich vernehmen läßt“, bemerkt denn auch Görres, „je weiter der Schwindel, der die Regierungen ergriffen, die dunkel sie umkreisenden Bogen schlägt; um so dringender ist es, daß die Parteien überall wenigstens bis zu dem Punkte sich verständigen, daß die wirbelnde, gärende Bewegung 44  Zur romantischen Revolutionskritik in Deutschland vgl. die an Materialfülle bisher unüberholte, daher weiterhin grundlegende Arbeit von Andreas Müller, Die Auseinandersetzung der Romantik mit den Ideen der Revolution, in: Romantikforschungen, Buchreihe der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 16, Halle a. S. 1929, S. 243–333. 45  Görres, Auswahl in zwei Bänden (Anm. 15), Bd. II, S. 105; vgl. auch die Bemerkung von Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. X, S. 155: „Die ganze Weltgeschichte ist eigentlich nur ein fortgehender Kampf zwischen dem reinigenden Feuer der göttlichen Strafgerichte und diesem in der zwiefachen Gestalt der Anarchie und des Despotismus immer von neuem sich regenden politischen Lügengeiste“.

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in eine fließende sich verwandelt und dadurch vorläufig die Gefahr des Durchbrechens aller Dämme abgewendet wird“46. Auch Friedrich Schlegel erkannte im „Drang zum Neuen“ und der damit zusammenhängenden Abwertung des Vergangenen eine der Hauptgefährdungen der Gegenwart: „Es kann nichts wahrhaft Neues und dauerhaft Lebendiges aus dem Leeren hervorgehen; und wenn der Zusammenhang der organischen Entwicklung einmal unterbrochen ward, so bleibt, wo noch Kraft und Leben vorhanden ist, nur die revolutionäre Unruhe zurück, deren falsche Geburtswehen nichts Dauerndes ans Licht zu bringen vermögen, sondern nur zum moralischen Tode, und zu einer chaotischen Auflösung und allgemeinen Zerstörung alles früher Bestandenen und nicht mehr lebendig Bestehenden führen“47. Und Baader wiederum betonte, es sei dringend erforderlich, den „Zustand der ungestümen Aufregung der Sozietät“ baldmöglichst zu beenden, „da derselbe in der Tat […] gefahrvoll für jeden ist, und jeder Rechtlich- und Gutgesinnte, die freie Evolution der Sozietät aufrichtig Wollende, von Herzen wünschen muß, daß dieser nicht evolutionären sondern revolutionären, nicht wachstümlichen und vorwärts sondern zerstörenden und rückwärts gehenden Bewegung der Sozietät ehebaldigst ein Ende gemacht werden möchte“48. Freilich waren sich die Spätromantiker in ihrer Einschätzung über die Art und Weise, in der Kontinuität zu sichern sei, welche Traditionen wiederaufgenommen werden könnten und welche nicht mehr, durchaus uneinig. So findet sich etwa bei Friedrich Schlegel die eher pessimistische Auffassung, zwischen 1789 und 1815 sei so viel an traditioneller politischer Lebenssubstanz zerstört worden, dass eine direkte Anknüpfung an die alte Welt vielfach unmöglich geworden sei49; er gab sich dagegen der  – auch noch ausgesprochen vage formulierten  – Hoffnung hin, die Umbrüche der Gegenwart als schmerzhaften Erziehungsprozess deuten zu können: „ [I]st es nicht denkbar“, fragte er, „daß auch die Menschheit im Großen, daß Nationen und Staaten, sowie ganze Zeitalter […] von der Vorsehung geleitet und durch eine lange Reihe peinlicher und drückender, aber fruchtbarer und heilsamer Zustände und Erfahrungen, zu der 46  Görres,

Auswahl in zwei Bänden (Anm. 15), Bd. II, S. 106 f. Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. VII, S. 537. 48  Baader, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie (Anm. 21), S. 264. 49  Vgl. Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. VII, S. 484 ff.; kennzeichnend auch die Bemerkung ebenda, 488: „Jener eine Hauptirrtum des Zeitalters, daß die Revolution schon abgeschlossen und beendigt sei, wird ohnehin kaum noch jemanden zu täuschen vermögen, oder irgendwo Glauben finden können; da die Tat und die Zeit selbst hier den Gegenbeweis geführt haben“. 47  Schlegel,



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Erkenntnis des Rechten, sowie zum rechten Leben selbst hinaufgeführt werden sollen?50“ Anders dagegen Adam Müller, für den das Fortleben traditioneller Ordnungen auch in der eigenen Gegenwart nach 1815 eine nicht anzuzweifelnde Tatsache darstellte: „Warum aber besteht nichtsdestoweniger eine gewisse Ordnung der Dinge? Weil der Knochenbau des alten Europa, der sie trägt, noch nicht in Staub zerfallen, weil 30 Jahre der Zügellosigkeit das alte Kapital dieses Weltteils nicht zu verschwenden vermocht haben und weil die Macht der Gewohnheit, der Liebe, der Anhänglichkeit an Stand und Staat ewig mächtiger ist, als alle Liberalität der Theorien. Sie überwindet schweigend das Konstitutions- und Gleich­ heitsgeschrei des Jahrhunderts. Der einfache Landmann unter dem täglichen Einfluß der Jahreszeiten und des Segens Gottes, der stille Handwerker, die unscheinbaren Teilnehmer des gemeinen Wesens, sind die Erhalter unserer Stände und Freiheiten, retten die Gesinnung, welche Europa groß gemacht“51. Dieses Vertrauen auf die normative Kraft des Faktischen gewissermaßen, auf die  – sich gleichsam von selbst wieder durchsetzende  – Macht von Herkommen und Tradition in der alltäglichen Lebenswelt, wie Müller sie vertrat, haben allerdings nicht alle Vertreter der politischen Spätromantik zu teilen vermocht. Es verwundert nicht, dass der Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation von den Spätromantikern als katastrophaler Bruch einer tausendjährigen, bewährten Kontinuität angesehen wurde und damit als eine der Hauptursachen für die immer noch gefährdete politische Situation nach 1815. So sah Friedrich Schlegel den Reichsdeputationshauptschluss – in seinen Worten „jene, soviele alte Institute vernichtende Zerstückelung und Verschleuderung des Reichs von 1803, die in jedem der nachfolgenden unseligen Friedensschlüsse weiter fortgesetzt […] ward“52  – als eine zentrale Voraussetzung der Zerstörung der alten kirchlichen (und damit auch moralisch-politischen) Ordnung Deutschlands an, und Franz von Baader erkannte im Niedergang des Rechtsgedankens und überhaupt des allgemeinen Glaubens an die Gültigkeit des 50  Ebenda,

S. 486. Schriften zur Staatsphilosophie (Anm. 13), S. 243; es heißt bezeichnenderweise weiter: „Die Weisen im Lande aber und ihre Wissenschaften, und die Mächtigen, Gebildeten und Großen sind es, welche gegen jene wahren Freiheiten mit ihrer Liberalitätsgleißnerei, ihrem reinen Ertrage, ihrer Geldphilosophie und allen Trugbildern der Begierde ankämpfen. Der Widerspruch zwischen diesem Wahne und jener Realität wird täglich empfindlicher, die Not der Regierungen und Völker größer. Die Bekehrung ist nahe, unser ganzes Verderben ist unsere Gottesvergessenheit“ (ebenda). 52  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. VII, S. 510. 51  Müller,

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Rechts in Deutschland eine der schlimmsten Folgen der „von Napoleon geschehene[n] Zerstörung der deutschen Reichs- und Rechtsverfassung […], welche trotz ihrer vielen Gebrechen doch die Idee und den Glauben an ein hohes Völker-Rechtsgeschworenengericht sowohl in Deutschland als in der Welt aufrecht hielt, d. h. die Idee oder die Überzeugung, daß nicht die gros bataillons, sondern das öffentlich verhandelte, anerkannte und ausgesprochene Recht die Person wie das Eigentum jedes Deutschen beschirmte“53. Der historische Kontinuitätsgedanke war den Romantikern in besonders eindringlicher Weise durch Edmund Burkes „Reflections on the Revolution in France“ von 1790 vermittelt worden. Der britische Politiker und Schriftsteller hatte hier seine eigenartige Version einer konservativen Staatsvertragstheorie entwickelt und „society“ als „indeed a contract“ definiert: darunter verstand er nichts anderes als „a partnership not only between those who are living, but between those who are living, those who are dead, and those who are to be born“54. Unter den Spätromantikern war es Franz von Baader, der sich diesen Gedanken aneignete: „Das Zeitleben jedes Organismus und also auch des Staates ist selber nur ein beständiges Sichausgleichen und Sichvertragen der Vergangenheit mit der Zukunft, so wie dieser mit jener durch die Gegenwart und in ihr, und die Funktion seines Vitalprinzips ist eben keine andere als die Kontinuität der Evolution des Lebens gegen jene doppelte revolutionierende Hemmung zu schirmen und frei zu halten, von welchen die eine das Werdende zurück- oder abzuhalten strebt, die andere das Gewordene zurückzustoßen oder gar zu tilgen. Die Regierung muß also nicht minder das Recht des Gewordenen und jenes des Werdenden schützen und verbürgen, und eine Regierung, welche sich ausschließlich der Vergangenheit zuwendete, ginge der Versteinerung zu, so wie jene, welche ausschließlich […] dem Zeitgeist huldigend und sich von der Geschichte losreißend, der Zukunft sich zuwendete, der Verwesung oder Verflüchtigung zuginge“55.

53  Baader, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie (Anm. 21), S. 269; vgl. auch die oben (Anm. 43) zitierte Äußerung Eichendorffs! 54  Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France (1790), Harmondsworth 1982, S. 194 f.; weiter heißt es (und auch dieser Gedanke dürfte den Romantikern sehr eingeleuchtet haben!): „Each contract of each particular state is but a clause in the great primaeval contract of eternal society, linking the lower with the higher natures, connecting the visible and invisible world, according to a fixed compact sanctioned by the inviolable oath which holds all physical and all moral natures, each in their appointed place“ (ebenda, S. 195). 55  Baader, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie (Anm. 21), S. 276  f.; im Anschluß daran heißt es ausdrücklich: „Burke hat darum ohne Zweifel die Idee des Sozial-Kontrakts am richtigsten gefaßt, indem er sagte, daß die Sozietät zu jeder



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Die geschichtliche Bewegung und Veränderung war also, wie diese Bemerkungen deutlich zeigen, ein Faktum, das die spätromantischen Denker keineswegs ignorierten. Es kam ihnen nur darauf an, die – wie Görres es ausdrückte  – „rechte Mitte“ zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu finden56. Das Heil liege nicht in der Zerstörung des Vergangenen, betonte Eichendorff, aber – wie er unmissverständlich hinzufügte – „ebensowenig […] in der unbedingten Wiederkehr zum Alten, denn in der Weltgeschichte gibt es keinen Stillstand“57. Gerade weil „das Leben des einzelnen wie der Völker nichts Stillstehendes, sondern, eben weil es lebt, eine ewig wandelnde, fortschreitende Regeneration sei“, wäre es „ein, wo nicht frevelhaftes, doch jedenfalls vergebliches Beginnen […], irgendeinen historischen Zustand, der ja nur als einzelnes Glied der großen Kette relative Bedeutung hat, als Norm für ewige Zeiten festhalten zu wollen“58. Diese letzte Bemerkung freilich ließ sich nicht nur als Selbstkritik eines allzu vergangenheitsfixierten romantischen Konservatismus lesen, sondern auch als ganz aktueller Tadel an der liberalen Staats- und Verfassungstheorie des Vormärz. Allerdings ließ es der korrekte preußische Beamte Eichendorff mit dieser Andeutung bewenden. V. Die außenpolitischen Vorstellungen59 und Konzepte der deutschen Spätromantiker sind vor allem durch zwei Aspekte geprägt: Erstens durch die – oft sehr persönliche und unmittelbare – Erfahrung der Umbruchs- und Revolutionsepoche zwischen 1789 und 1815, die zugleich eine Ära intensiver kriegerischer Auseinandersetzungen gewesen ist – anZeit ein Gesellschaftsvertrag der Lebenden mit den noch Ungeborenen sowohl, als mit den Verstorbenen sei“ (ebenda, S. 277). 56  Vgl. Görres, Auswahl in zwei Bänden (Anm. 15), Bd. II, S. 115: „[…] es wird sich […] leicht die rechte Mitte finden, wo die Vergangenheit ihr Recht erhält, die auch einst Gegenwart gewesen, und die Gegenwart, die einst als eine Vergangenheit hinter die kommenden Zeiten tritt, sich nicht selbst aufgeben darf. Denn aus Zeiten wird die Geschichte, wer eine negiert, muß alle verneinen, die vorangegangen“. 57  Eichendorff, Werke und Schriften (Anm. 23), Bd. IV, S. 1183. 58  Ebenda, S. 1294; ähnlich auch Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. X, S. 277: „[…] auch diese auf einer christlichen, mithin milden Absonderung und Teilung der Stände beruhende, organisch-geordnete Staatsverfassung [muß] jedes historisch Neue aufmerksam beachten, und sobald es sich wahrhaft als ein solches bewährt, rechtlich anerkennen, und in ihre alte Ordnung einfügen“. 59  Hierzu grundlegend Frank-Lothar Kroll, Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik, (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 72), Berlin 1990, S. 143 ff.

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gefangen bei den Revolutionskriegen über die Feldzüge Napoleons bis hin zu den Befreiungskriegen der Jahre 1813 bis 1815. Zweitens aber durch eine vierfache Frontstellung: Sowohl gegen den aufgeklärten Kosmopolitismus des 18. Jahrhunderts, gegen den despotischen Imperialismus, wie er beispielhaft von Napoleon verkörpert worden war, sodann gegen die seit Machiavelli in Europa virulente Idee der Staatsräson als reiner Technik der Macht, schließlich aber auch gegen die ersten Anzeichen des modernen Nationalismus, die sich in dieser Zeit bemerkbar machten. Hier konnte man an das in jeder Hinsicht grundlegende Dokument der politischen Frühromantik, Novalis’ Vortrag „Die Christenheit oder Euro­ pa“60 von 1799, anknüpfen, denn bereits in diesem Text war das auch von den Spätromantikern vertretene Ideal eines einheitlichen, von christlichen Werten und Lebensordnungen geprägten, „engen Zusammenschlusses aller Völker und Mächte Europas zu einer dauerhaften, übernationalen und universalen Lebens- und Friedensordnung“61 vorgedacht, wenn auch noch nicht im Detail ausgeführt und begründet worden62. Insbesondere der Freund und Gefährte des Novalis, Friedrich Schlegel, hat diesen Europagedanken in der Ära nach 1815 wieder aufgenommen und umfassend erneuert. „Sollte es nicht denkbar sein“, fragte er 1827, „in einem höhern Prinzip der christlichen Gerechtigkeit einen gemeinsamen moralischen Einheitspunkt für die europäische Staaten-Welt zu finden und allmählich zu gründen?63“ Bereits fast zwei Jahrzehnte früher hatte Adam Müller ganz in diesem Sinne – dem Gedanken der Staatsräson scharf widersprechend – die Idee eines Bundes der christlichen Völker entwickelt: „Es muß […] ein Gesetz geben, das noch höher ist, als die Selbsterhaltung des individuellen Staates, einen Bund zu gegenseitiger Garantie unter den individuellen Staaten; und dieses Gesetz muß mit 60  Novalis, Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment (1799), in: derselbe, Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Paul Kluckhohn/Richard Samuel, Bd. III, Stuttgart 21968, S. 507–524. 61  Kroll, Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik (Anm. 59), S. 148. 62  Zur Rezeption des Novalis in der Spätromantik vgl. auch die sehr treffende Feststellung von Richard Samuel, Die poetische Staats- und Geschichtsauffassung Friedrich von Hardenbergs (Novalis), Frankfurt  a. M. 1925, S. 300: „In der Spät­ romantik wirken sich die inhaltlichen Errungenschaften der Novalisschen Geschichtsphilosophie voll aus. Gerade die eingehende Analyse der frühromantischen Geschichtslehre des Novalis erweist, daß hier fast alle Elemente der Spätzeit im Keime vorliegen […] Eine eingehende Auseinandersetzung mit Hardenbergs Geschichtsauffassung legt erst richtig den Weg frei für die endgültige Erhellung der Tendenzen der Spätzeit.“ 63  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. X, 279.



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seiner Notwendigkeit jeden einzelnen Staat bis in seine geheimste Stelle, es muß jeden einzelnen Bürger durchdringen. Woher anders könnte dieser Geist zu schöpfen sein als aus der Religion der Gegenseitigkeit, die schon einmal Völker von den mannigfaltigsten Sprachen und Sitten innig miteinander verband?“64 Nach dem Niedergang des napoleonischen Systems und der Neuordnung Europas im Jahre 1815 schienen die Möglichkeiten für eine solche Neuordnung und damit für die Errichtung einer dauerhafteren Friedensordnung zuerst in greifbare Nähe gerückt. Welche Formen diese auf das gemeinsame christliche Bekenntnis gegründete Neuordnung Europas im Einzelnen haben sollte, darüber gab es unterschiedliche Auffassungen. So schwebte etwa Friedrich Schlegel die Idee eines den Frieden des Kontinents verbürgenden europäischen Zentrums vor, das  – anknüpfend an das von ihm verklärend beschriebene Vorbild der mittelalterlichen Kaiser oder auch der Ära Karls V.  – durch ein habsburgisches Universalkaisertum ausgefüllt werden sollte65. Freilich blieb auch ein solches für ihn nur einen „Schritt weiter auf der großen Stufenleiter, eine Annäherung und eine Vorarbeit zu dem allgemeinen, allumfassenden Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft“66.

64  Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst (1808/09), Meersburg/Leipzig 1936, S.  395 f. 65  Vgl. Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. VII, 527: „Wenn […] die Erinnerung an das ehemalige Kaisertum und seine Größe in vielen deutschen Gemütern unverlöschlich bleibt; so kann man dieses historisch tiefe Gefühl der Vergangenheit gern teilen, da vielleicht nie im ganzen Lauf der Weltgeschichte, eine größere, organisch reichhaltigere und so lebendig freie Idee im politischen Leben wirklich geworden ist, als diese Idee des altdeutschen christkatholischen Kaisertums, wie es von König Konrad dem Ersten bis auf Karl den V., vor der entschiedenen religiösen Teilung der Nation, zwar vielfach abwechselnd, aber immer herrlich und fruchtbar an neuem Leben, bestanden hat“; vgl. zum Zusammenhang auch Hendrix: Das politische Weltbild Friedrich Schlegels (Anm. 16), S. 66 ff., 152 ff.; Ernst Behler, Friedrich Schlegel, Reinbek bei Hamburg 1966, S. 106 f. 66  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. X, 265  f.; vgl. auch die Bemerkungen bei Lorenz: Deutschland und Europa (Anm. 16), S. 322.  – Bescheidener muten dagegen die 1821 formulierten Schlussworte in Görres’ „Europa und die Revolution“ an; Joseph Görres, Gesammelte Schriften, hrsg. im Auftrage der Görres-Gesellschaft v. Wilhelm Schellberg, Bd. XIII, Köln 1929, S. 284: „Daß die Staaten in ihren inneren Verfassungen und in ihrem äußeren wechselseitigen Verkehr im Kriegs- und Friedensstande, aus jenen unnatürlich gespannten, angestrengten, gewaltsamen Verhältnissen, in die sie unersättliche Eigensucht, frevelnde Gewalt und eine nichtswürdige Politik hinaufgetrieben, zu einfacheren, natürlichen, menschlich und christlich mildern zurückkehren müssen, wenn Ruhe und Zufriedenheit gedeihen sollen, darüber geht ein Ruf und Wink durch die ganze euro­ päische Gesellschaft, und es mögte rathsam seyn, endlich darauf zu hören“.

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Die Vertreter einer realistischeren Version des spätromantischen Europadenkens setzten ihre Hoffnungen auf die Heilige Allianz, ein Bündnis, das der Zar von Russland, der Kaiser von Österreich und der König von Preußen 1815 miteinander geschlossen hatten. In dem von Alexander I. von Russland  – übrigens unter dem maßgeblichen Einfluss Franz von Baaders67 – entworfenen Vertragstext hieß es ausdrücklich, die drei Majestäten hätten „die tiefe Überzeugung gewonnen, daß der Kurs, den die Mächte früher in ihren gegenseitigen Beziehungen angenommen hatten, von Grund auf geändert werden muß, und daß es dringlich ist, daran zu arbeiten, daß an seine Stelle eine Ordnung der Dinge gesetzt wird, die sich einzig auf die erhabenen Wahrheiten gründet, welche uns die ewige Religion des göttlichen Heilands lehrt.“ In diesem Dokument erklärten die Monarchen deshalb „feierlich, daß der gegenwärtige Akt nur den Zweck hat, vor aller Welt ihren unerschütterlichen Entschluß zu bekunden, daß sie in Zukunft zur Richtschnur ihres Verhaltens im Innern ihrer Staaten wie in den politischen Beziehungen zu jeder anderen Regierung nur die Gebote dieser heiligen Religion nehmen wollen, Vorschriften der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens, die nicht nur auf das Privatleben anwendbar sind, […] sondern besonders die Entschlüsse der Fürsten beeinflussen und alle ihre Schritte lenken sollen als das einzige Mittel zur Befestigung der menschlichen Einrichtungen und zur Heilung ­ihrer Unvollkommenheiten“68. Die Formulierungen dieses Vertrages, auf den auch Görres und Adam Müller zeitweilig ihre Zukunftshoffnungen für Europa setzten69, zeigen 67  Vgl. hierzu Richard Wetzlar, Die heilige Allianz. Von 1815 bis zum Ausbruch des russisch-türkischen Krieges 1827 und ihre Fortwirkung in der deutschen Publizistik, phil. Diss. (masch.) Heidelberg 1922, passim; die Bedeutung Baaders arbeiten vor allem heraus Franz Büchler, Die geistigen Wurzeln der heiligen Allianz, phil. Diss. Freiburg i. Br. 1929, S. 10 ff., 49 ff., 61 ff. und Hildegard Schaeder, Autokratie und Heilige Allianz. Nach neuen Quellen (zuerst 1934), Darmstadt 21963, S.  46 ff., 65 ff. 68  Zit. nach Wilhelm Schwarz, Die Heilige Allianz. Tragik eines europäischen Friedensbundes, Stuttgart 1935, S. 52; der französische Originaltext findet sich in: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I: Deutsche Verfassungsdokumente 1803–1850, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 3 1978, S. 83 f. (Nr. 29). 69  Görres, Die heilige Allianz und die Völker, auf dem Congresse von Verona (1822), in: Görres, Gesammelte Schriften (Anm. 66), Bd. XIII, S. 413–486; freilich mahnte Görres für die Zukunft ein konsequenteres Eingehen der christlichen Monarchen Europas auf die berechtigten Forderungen ihrer Völker an; vgl. auch den aufschlussreichen Artikel Müllers über die Heilige Allianz vom Mai 1828, abgedruckt in Jakob Baxa (Hrsg.): Adam Müllers Lebenszeugnisse, München/Paderborn/Wien 1966, Bd. II, S. 940–942. Müller bemerkt zwar, dass „die ächt christ­ liche Politik der heiligen Allianz, wenn sie nach nichts Geringerem trachtete, als



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sehr deutlich, dass die politischen Ideen der deutschen Spätromantiker sich im Kontext ihrer eigenen Zeit, also der Ära nach 1815, keineswegs so fremdartig ausnahmen, wie dies aus der Rückschau erscheinen mag. Auch wenn man heute weiß, dass die Heilige Allianz sich als Staatenbündnis wie als Richtschnur für politisches Handeln nicht bewährte, bleibt es doch eine ebenso bemerkenswerte wie charakteristische Tatsache, dass sich in einem politischen Abkommen, das von dreien der mächtigsten europäischen Monarchen dieser Zeit geschlossen wurde, Ideen, Begriffe und Redewendungen finden, die ihrem Tenor nach direkt einem romantischen politischen Traktat entnommen sein könnten. VI. Bei den Ideen der Spätromantiker über Staat und Verfassung dürfte es sich um diejenigen Elemente ihres politischen Denkens handeln, die man noch am ehesten als zeitgebunden und nur aus den Bedingungen der Epoche heraus erklärbar ansehen muss. Stärker als anderswo versuchten sie gerade hier an  – wirkliche oder vermeintliche  – mittelalterliche Vorbilder anzuknüpfen; bereits 1806 hatte Friedrich Schlegel seine „Vorlesungen über Universalgeschichte“ mit den bezeichnenden Formulierungen beschlossen: „Die Aufgabe der Politik dürfte […] wohl keine andere sein als die Verfassung des Mittelalters, wovon ja ohnehin noch so vieles übrig ist, was gar nicht zerstört werden kann, ohne die Bildung des Menschengeschlechtes mitzuzerstören, einerseits wiederherzustellen und andererseits zu vollenden“70. Auch Görres lobte das Mittelalter ausdrücknach erhaltender Gerechtigkeit und Frieden, […] einem Zeitalter nicht gefallen [konnte], welches in seinem Übermuthe die Beglückung der Welt voran-, und diesem Zwecke die Gerechtigkeit nachgesetzt […] hatte.“ Doch er fährt fort: „Nichtsdestoweniger hat weder die Unpopularität der heiligen Allianz, noch die schwere Prüfung, welcher dieses einzig mögliche System eines christlichen Völkerrechts dadurch unterzogen wurde, daß eines der wichtigsten Glieder des europäischen Staatenvereins, nämlich England, demselben nur mit halber Seele beitreten konnte, weil es seit mehr als einem Jahrhunderte den unchristlichen Vorrang der sogenannten öffentlichen Wohlfahrt vor der Legitimität in seine Landesconstitution aufgenommen hatte – verhindern können, daß die Allianz selbst fortbesteht, und hiebei [sic] wird es auch künftig sein Bewenden haben. Salus publica (non suprema, sed) secunda lex esto!“ (ebenda, S. 941). 70  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. XIV, S. 256. Auch 1827 hat er an dieser Einschätzung des Mittelalters unverändert festgehalten; vgl. etwa ebd. Bd. X, S. 260: „Gewiß […] bleibt diese politische Verfassung des Mittelalters in der besten Zeit desselben eine höchst merkwürdige, ganz christlich eigentümliche, und in ihrer Art sehr große historische Erscheinung; ebenso kraftvoll und würdig an der monarchischen Seite, als irgendwo sonst in den glänzendsten Epochen der Welthistorie, und noch mannigfaltiger und reicher nach der innern Entwicklung

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lich für die Art und Weise, wie es „alle seine Institutionen ordnete, daß alles harmonisch zusammenstimmend in einen schnellkräftigen, gesunden, blühenden Staatskörper sich vereinigte“71. Dieser Idealisierung eines verklärten Mittelalters entsprach eine konsequente Ablehnung der modernen Staatsauffassung; so bezeichnete Adam Müller die staatsphilosophischen Vertragstheorien als „wunder­ liche und nichtige Konstruktionen“ und als „Notbehelfe der endlichen Vernunft, die sich zum Gehorsam gegen die göttlichen Offenbarungen nicht entschließen kann“72, und auch Eichendorff betonte nachdrücklich, der Staat sei keine, „durch einen ich weiß nicht wann und wie geschlossenen Vertrag, errichtete Vereinigung mehrerer Menschen zur Sicherung ihres irdischen Eigentums“, sondern – ganz im Gegenteil – „eine geistige Gemeinschaft […] zu einem möglichst vollkommenen Leben durch Entwickelung der Geistes- und Gemütskräfte im Volk“73. Friedrich Schlegel grenzte seinen Staatsbegriff scharf ab gegen jenen, so seine Formulierung, „alles Leben, Glück und Eigentum der Individuen verschlingenden Leviathan, welcher wie das feindliche Schicksal oder ein böser Dämon durch das Drama der Weltgeschichte hinzieht, und wenigstens im Hintergrunde derselben immer sichtbar bleibt“74. Diesem absoluten „Anti-Staat“75 oder, wie er ausdrücklich sagt, „bösen Staat“, in den republikanischen Bestandteilen und Gliedern, ja wahrhaft freier als selbst unter den gepriesensten jener gemischten Konstitutionen der modernen Zeit“. 71  Görres, Auswahl in zwei Bänden (Anm. 15), Bd. II, S. 108. 72  Adam Müller, Schriften zur Staatsphilosophie (Anm. 13), S. 219; vgl. dazu auch die treffenden Bemerkungen bei Näf, Der Staat im Zeitalter der Romantik (Anm. 25), S. 158 f. 73  Eichendorff, Werke und Schriften (Anm. 23), Bd. IV, 1150. Der konsequenteste und unerbittlichste konservative Kritiker der Vertragstheorie war der – manchmal, so von Näf, Der Staat im Zeitalter der Romantik (Anm. 25), S. 157, der politischen Romantik zugerechnete – Schweizer Carl Ludwig von Haller, dessen Hauptwerk: Restauration der Staats-Wissenschaft oder Theorie des natürlich-geselli­gen Zustands der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesezt [sic], Bde. I–VI, Winterthur, 21820–1834, eine einzige Polemik gegen die staatsphilosophische Vertragstheorie darstellt. Haller war zweifelsfrei kein Romantiker, dennoch haben seine politischen Schriften das Denken der Spätromantiker stark beeinflusst; vgl. Wilhelm Hans von Sonntag, Die Staatsauffassung Carl Ludwig von Hallers. Ihre metaphysische Grundlegung und ihre politische Formung (List-Studien, 2), Jena 1929; Ewald Reinhard, Karl Ludwig von Haller, der „Restaurator der Staatswissenschaft“ (Münsterer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Abhandlungen, 16), Münster 1933; Heinz Weilenmann, Untersuchungen zur Staatstheorie Carl Ludwig von Hallers. Versuch einer geistesgeschichtlichen Einordnung (Berner Untersuchungen zur Allgemeinen Geschichte,18), Aarau 1955. 74  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. VII, S. 547. 75  Ebenda, S. 550.



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der als historische Möglichkeit gleichwohl immer vorhanden ist, stellt er  den „wahre[n], organisch geordnete[n] Staat“76 gegenüber, den organisch-korporativ aufgebauten christlichen Friedens- und Ständestaat: „Zwischen diesen beiden Korporationen, jener einfachsten und ersten, der Familie, als dem festen Grunde in der Tiefe, und dieser andern größten weltumfassenden, der Kirche, als dem erhellenden Himmel in der Höhe, steht nun der Staat, alle andern Stände, gesellschaftlichen Institute, alte und neue, wesentliche und ewige, oder bloß zufällige und vorübergehende Korporationen umfassend, belebend und tragend, leitend und lenkend, in der Mitte. Sein ganzes Sein und Wirken ist an diese Korporationen, wie an seine natürlichen Organe gebunden, er lebt und webt in ihnen, indem er selbst seinem inneren Wesen nach, auch nur eine bewaffnete Korporation, und großes Friedensinstitut ist; und so wie er diese Sphäre, als seine eigentliche Lebensluft verläßt, und sich als absolute Allgewalt, als Militärkraft, Despotismus oder Anarchie aus diesen legitimen Schranken, an die sein Wesen und seine glückliche Fortdauer gebunden sind, herausreißt, so untergräbt er seine eigne Lebenswurzel, und bereitet unvermeidlich sich selbst, früher oder später den Untergang“77. Der moderne Konstitutionalismus und mit ihm die Idee der geschriebenen Verfassung78 verfiel einem scharfen Verdikt: Eine Konstitution im „Sinne des jetzigen Zeitgeistes“ sei, so Schlegel, nichts anderes als „ein Stück Papier“79, und Eichendorff kritisierte die, wie er sagte, „allzeit fertige Verfassungsfabrikation“80 mit der Sentenz: „Der Buchstabe tötet immer und überall.“ Im übrigen führe „der pedantische Götzendienst mit allgemeinen Begriffen, unmittelbar und ohne historische Vermittelung auf das öffentliche Leben angewandt, notwendig zur Karikatur oder Tyrannei, wie die vorletzte französische Revolution sattsam erwiesen hat, wo vor lauter Freiheit kein rechtlicher Mann frei aufzuatmen wagte und wo unter der heiligen Ägide der Vernunft der lächerlichste Unsinn ganz ernsthaft getrieben wurde“81. Diese Ablehnung der Verfassungsurkunde resultierte nicht nur aus dem Gegensatz zum zeitgenössischen Liberalismus, sondern beruhte 76  Ebenda,

S. 547. S.  525 f. 78  Vgl. hierzu etwa Hasso Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, in: derselbe, Recht – Politik – Verfassung. Studien zur Geschichte der politischen Philosophie, Frankfurt  a.  M. 1986, S. 261–295; allgemein Heinz Mohnhaupt/Dieter Grimm, Verfassung. Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 47), Berlin 1995. 79  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. VII, S. 528. 80  Eichendorff, Werke und Schriften (Anm. 23), Bd. IV, S. 1285. 81  Ebenda, S. 1284. 77  Ebenda,

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auch auf dem organischen Denkansatz der Romantik, die stets von der Idee einer sich historisch langsam entwickelnden politischen Grundordnung ausging. Eichendorff formulierte diesen Gedanken mit der für ihn charakteristischen Metaphorik: „Mit und in der Geschichte der Nation muß die Verfassung, wenn sie nicht eine bloße Komödie bleiben soll, organisch emporwachsen, wie ein lebendiger Baum, der, das innerste Mark in immergrünen Kronen dem Himmel zuwendend, sich selber stützt und hält und den Boden beschirmt, in dem er wurzelt“82. Der Ablehnung einer modernen Verfassung entsprach auch die Verneinung des parlamentarischen Zweikammersystems nach dem Vorbild Englands, das bereits vor und erst recht nach 1815 zu einem von vielen deutschen Liberalen, aber auch nicht wenigen Konservativen bewunderten Vorbild avancierte83; Schlegel sprach hier nur verächtlich von der „englische[n] Krankheit“, die „alle Politiker und liberalen Staatsphilosophen schwindeln“ mache und nach und nach „die Völker wie ein epidemisches Fieber“ ergreife84; ähnlich urteilte auch Görres, der das englische Zweikammersystem als „leere Spiegelfechterei“ und „bloße Staatskomödie“ bezeichnete85. 82  Ebenda,

S. 1368. hierzu u. a. Georg Kaufmann, Die englische Verfassung in Deutschland, in: Hansische Geschichtsblätter 28 (1900), S. 1–22; Theodor Wilhelm, Die englische Verfassung und der vormärzliche deutsche Liberalismus. Eine Darstellung und Kritik des Verfassungsbildes der liberalen Führer, Stuttgart 1928; Wolfgang Pöggeler, Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht. Ein Beitrag zur Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte 1748–1914 (Vergleichende Untersuchungen zur kontinentaleuropäischen und anglo-amerikanischen Rechtsgeschichte, Bd. 16), Berlin 1995; Hans-Christof Kraus, Die deutsche Rezeption und Darstellung der englischen Verfassung im neunzehnten Jahrhundert, in: Aneignung und Abwehr. Interkultureller Transfer zwischen Großbritannien und Deutschland im 19. Jahrhundert, hg. von Rudolf Muhs, Johannes Paulmann u. Willibald Steinmetz (Arbeitskreis Deutsche England-Forschung; Veröffentlichung 32), Bodenheim 1998, S. 89–126. 84  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. VII, S. 527; 85  Vgl. Görres, Auswahl in zwei Bänden (Anm. 15), Bd. II, S. 152 f.: „Eine solche Ordnung, indem sie durch beinahe gänzliche Absorption des geistigen Elementes die Dreiheit in eine Zweiheit verwandelt, führt alle Nachteile eines Gegensatzes herbei, der keine Bindung findet. Der Adel, der in der Pairskammer vorherrscht, kann seiner Natur nach nicht der Vermittler zwischen den Gemeinen und dem Throne sein; eben weil er ein Ausfluß der Majestät ist, wird er zwar von ihr beschattet, steht aber in der Regel auf ihrer Seite, und tritt daher in solchem Streite als Partei dem dritten Stande gegenüber. Es kämpft also in den Kammern jedesmal die Autorität mit der Freiheit um die Interessen; und wenn nun eine gegen die andere das Veto hat, so wird, da sich entgegengesetzte gleiche Kräfte vollkommen aufheben, das ganze Tun in allen wichtigen Dingen eine leere Spiegelfechterei, eine bloße Staatskomödie und Parade, wo zwar viel gefochten und auf- und abmarschiert, aber mit aller Anstrengung bloß ein Spiel und kein ernstes Geschäft betrieben wird“. 83  Vgl.



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VII. Die politischen Spätromantiker traten dagegen für den Ständestaat ein. Was sie allerdings hierunter verstanden, konnte in einzelner Ausprägung sehr unterschiedlich ausfallen. Ganz traditionalistisch argumentierten Görres und Baader, die beide für eine Restitution des alteuropäischen Dreiständesystems optierten  – von ihnen als Einheit von „Lehrstand“, „Wehrstand“ und „Nährstand“ umschrieben. Diese auf frühmittelalterliche, vermutlich sogar indogermanische Ursprünge zurückgehende Ständelehre86, die sich ebenfalls im Staatsdenken Platons wiederfinden lässt, wandten sie auf die traditionelle Einteilung in Kirche (Lehrstand), Adel (Wehrstand) und einfaches Volk (Nährstand) an87. Görres kombinierte diese Lehre noch mit der organisch-anthropomorphen Staatstheorie, indem er den Lehrstand als das Haupt, den Wehrstand als die Arme und den Nährstand als den Leib des Gemeinwesens charakterisierte88. Anders Friedrich Schlegel, der sich an der Entwicklung eines eigenen korporativen Staatsmodells versuchte. Der Staat, so führt er aus, entfalte sich geschichtlich in der Entwicklung seiner vier „durch alle Zeiten hin86  Vgl. Otto Gerhard Oexle, Die funktionale Dreiteilung der Gesellschaft bei Adalbéron de Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 1–54; Jacques Le Goff, Les trois fonctions indoeuropéennes. L’historien et l’Europe, in: Annales È. S. C. 34 (1979), S. 1187–1215; zum Thema grundlegend: Georges Dumézil, Mythe et épopée, Bd. I: L’ideologie des trois fonctons dans les épopées des peuples indo-européens, Paris 1968. 87  Vgl. Baader, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie (Anm. 21), S. 388 f.; die anschaulichste Beschreibung ihrer ursprünglichen Ausprägung und Funktion findet sich bei Görres, Auswahl in zwei Bänden (Anm. 15), Bd. II, S. 138 f.: „So war also der Lehrstand wesentlich der Bewahrer aller göttlichen und menschlichen Weisheit, von Alter zu Alter durch die Tradition fortgepflanzt; er galt als der Inhaber des ganzen geistigen Vermögens, das in der Gesellschaft im Umlauf war; er vertrat im Staate selbst den Logos, das ordnende Prinzip […] – Der Wehrstand, in dessen Mitte und Schwerpunkt der Fürst als erster Beweger seine Stellung hatte, sollte als der Schirm und Hort des Vereines und der Schutz des Thrones stehen; die Kraft des Ganzen sollte sich in ihm vereinen […] – Endlich im Nährstande die Kinder der Erde ans Irdische geheftet, mit ihm schaltend und waltend und verkehrend, durch ihrer Hände Arbeit ihre Schätze hebend und mit allen treibenden Kräften den Umlauf der Güter […] beschickend“. 88  Vgl. Görres, Auswahl in zwei Bänden (Anm. 15), Bd. II, S. 136  f.: „Seit der grauesten Urzeit unterscheidet man drei verschiedene Stände, und jenes uralte Bild, das den Lehrstand und die gesamte Priesterschaft dem Haupte beilegte, den Wehrstand den Armen, den Nährstand dem Leibe oder eigentlicher den inneren Leibesteilen, beweist, daß man schon damals jene Anschauung des Staates als eines lebendigen Organismus gehegt und in ihr die Wechselbeziehung der verschiedenen Teile des Ganzen festgesetzt hat.“

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durchgehenden wesentlichen Korporationen“, also durch sein „Verhältnis […] zur Familie und zur Kirche, als der kleinsten und der größten aller organischen Menschenverbindungen oder Korporationen; dann zur Gilde, wenn es anders erlaubt ist, alle Arten von Gewerbe, Verkehr und Handel […] mit diesem Ausdrucke zu bezeichnen; endlich auch zur Schule, worunter wir den Inbegriff des gesamten intellektuellen Lebens, und nicht bloß die gegenwärtige Gelehrten-Republik verstehen, sondern auch den Stufengang der wissenschaftlichen Überlieferung von der Vorwelt aus in die Nachwelt hinüber“89. Die von ihm auf den Begriff gebrachte „wahre Idee des christlichen Staats“90 tritt in der Tat mit hohem ethischen Anspruch auf: Der christliche Staat sei „ein solcher […], welcher die Würde des Menschen, und das Göttliche in seiner Bestimmung, in allen gesetzlichen Einrichtungen berücksichtigt, und jede wesentliche Verletzung dieses sittlichen Grundbegriffs meidet“91; eine seiner zentralen und grundlegenden Funktionen liege in der Ehrung des häuslichen Privatlebens und der „sittliche[n] Familienordnung“92. Die drei wichtigsten Grundbestimmungen des christlichen Staates formulierte Schlegel folgendermaßen: „I. Der christliche Staat ist ein Staat ohne Sklaven, und wo die Ehe als etwas Heiliges betrachtet und behandelt wird“93, „II. Der christliche Staat hat vermöge seiner positiven Natur eine entschieden friedliche Tendenz; und die christliche Gerechtigkeit ist jederzeit auch zugleich auch auf ein System der Billigkeit gegründet“94, und „III. Der christliche Staat erkennt das

89  Schlegel,

Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. VII, S. 538, vgl. auch S. 554 f. S. 565. 91  Ebenda, S. 569. 92  Ebenda, S. 570; vgl. auch die Bemerkungen ebenda, S. 570 f. 93  Ebenda, S. 567. 94  Ebenda, S. 572; Schlegel betont zwar (ebenda, S. 574): „Friede bildet das Ziel, Gerechtigkeit die Grundlage; Friede ist das Wesen, Gerechtigkeit die wesentliche Form des Staats überhaupt, und ganz besonders des christlichen“, doch er vergisst nicht, einschränkend anzufügen: „Es ist aber dieser Grundsatz von der friedlichen Tendenz des christlichen Staates nicht so zu verstehen, als sollte eine unbedingte Nachgiebigkeit und mutlose Untätigkeit gegen den Feind und das Unrecht im innern oder nach außen empfohlen, und als die höchste Staatsweisheit in der Verwicklung des Zeitalters angepriesen werden. Wem ist es unbekannt, daß man sehr oft Krieg führen muß, um den Frieden zu gewinnen und auf die Dauer zu sichern, und daß der wahre und gerechte Krieg niemals einen andern Zweck hat? Aber auch nach innen, wie gegen außen, soll der Staat jedes zerstörende und antichristliche Beginnen, innerhalb seines Umkreises, mit dem Schwerte der Gerechtigkeit, und mit der vollen Energie seiner Macht bekämpfen, und besonders jede im Finstern schleichende, antichristliche Verbündung mit dem ganzen Ernst seiner Strenge auflösen und vernichten“ (ebenda). 90  Ebenda,



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rechtliche Dasein der Korporationen an, und beruht selbst auf ihrem organischen Zusammenwirken“95. Die zeitkritische Spitze dieser im dritten Teil der „Signatur des Zeitalters“ formulierten politischen Grundsätze verbarg Schlegel keineswegs: In der „gegenwärtige[n] Zeit“, so heißt es, sei es dringend notwendig, um die „deutsche Stände-Verfassung“ wiederherzustellen und damit sowohl den „korporativen Grundsätzen treu zu bleiben“ wie aber auch „den repräsentativen Abweg zu vermeiden“, zweierlei zu beachten: „Erstens daß die Einteilung in zwei Kammern, ausschließlich und wesentlich der repräsentativen Verfassung angehört, dem Stände-Verein nach korporativen Grundsätzen aber völlig fremd und demselben eigentlich widerstreitend ist. Zweitens, daß in den Ständen keineswegs bloß das Steuer bezahlende Eigentum, sei es nun das bewegliche des Geldes, oder das erblich feste des wahren Grundeigentums, repräsentiert werden soll, als worin eben das Eigentümliche und Charakteristische der repräsentativen Verfassung besteht; sondern die Stände selbst, als anerkannte und zu Recht bestehende und selbständig geschlossene Korporationen, von denen mithin keine vom Ständeverein ausgeschlossen sein darf“96 – womit insbesondere, wie es sich versteht, der geistliche und der gelehrte Stand gemeint waren. Die Brücke zur bestehenden deutschen Verfassungswirklichkeit brach Schlegel freilich nicht völlig ab, sondern er ließ immerhin die Möglichkeit gelten, dass ein „guter Geist“ die fraglosen Mängel der „fehlerhaften Formen“ in den Verfassungen einzelner deutscher Bundesstaaten auszugleichen imstande sei. Außerdem entwickelten sich, wie er besonders betonte, „organische Staatseinrichtungen“ nicht spontan, sondern in einem langsamen Prozess, den es nicht durch unzeitige Maximalforderungen zu gefährden gelte97. 95  Ebenda,

S. 583. S. 586. 97  Vgl. ebenda, S. 586 f., wo es unter Anspielung auf die alte deutsche Reichsverfassung heißt: „So unumstößlich aber auch diese Grundsätze an und für sich sind, daß alle Korporationen und Stände in den vollständigen Verein derselben aufgenommen werden, und nur ein Ganzes bilden müssen; indem die altherkömmliche deutsche Abteilung in die verschiedenen Bänke des adligen, geistlichen, oder gelehrten Standes usw., die Einheit der Versammlung nicht aufheben soll, und mit dem dynamischen Gegensatz der zwei Kammern gar nichts gemein hat; so liegt es doch gar nicht in unsrer Absicht ungünstige Folgerungen daraus zu ziehen, und auf die neuern ständischen Einrichtungen einiger deutscher Staaten, wo diese Grundsätze nicht überall durchaus sind beobachtet worden, in voreilige Anwendung bringen zu wollen. Es kommt auch hier wie überall am meisten auf das Wesen an, und die richtige Form ist erst das zweite Erfordernis eines vollkommenen Gelingens. Wo ein guter Geist alle Glieder des Staates beseelt, da kann der wesentliche Zweck und Vorteil einer ständischen Beratung vielleicht auch bei fehlerhaften Formen zum Teil  erreicht werden. Zudem belehrt uns auch die ge96  Ebenda,

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Hatte Görres immerhin noch ein detailliert ausgearbeitetes Modell eines Einkammersystems  – mit den drei Kurien der von ihm genannten drei Stände  – vorgelegt98, so gab sich Schlegel mit Kleinigkeiten dieser Art nicht weiter ab; noch 1827 ließ er vage verlauten: „Es ist noch alles in dieser ganzen Sphäre zu isoliert, das Gute und besonders das Beste zu einzeln und zu formlos, so daß es sich schwer schon jetzt in allen Stücken und einzelnen Punkten, unter eine feste Regel und bestimmte Form würde bringen lassen, und man durch eine zu früh gegebene organische Ordnung und Gesetzgebung, vielleicht nur mehr hemmen würde, als fördern und entwickeln“99. Ganz im Banne der alteuropäischen „Ökonomik“, die den Oikos, die Großfamilie, als Keimzelle des Gemeinwesens ansah und nur im „Hausvater“, dem pater familias oder Oikosdespoten, den eigentlichen „Bürger“ einer societas civilis zu erkennen meinte, bewegte sich Adam Müller100. Der Mensch ist für ihn nicht nur über sein Verhältnis zu den Mitschichtliche Erfahrung, daß neue organische Staatseinrichtungen fast nie in dem Buchstaben der ersten Abfassung stehenbleiben, sondern einiger Zeit bedürfen, ehe sie sich fest ersetzen und ordnen und auf die Dauer bleibend gestalten. Dieser heilsamen innern Selbstentwicklung muß man ihre geschichtliche Zeit lassen, und ihr nicht durch unzeitige Endurteile vorgreifen wollen“. 98  Vgl. Görres, Auswahl in zwei Bänden (Anm. 15), Bd. II, S. 153–56; freilich lehnte auch er das Zweikammernsystem nach englischen Vorbild strikt ab (vgl. ebenda, S. 152). Zwei Kammern blockierten sich gegenseitig, während bei einem Dreikammernsystem immer eine der drei mäßigend und ausgleichend zu wirken imstande sei; vgl. bes. ebenda, S. 156: „In […] Streitfragen der höhern Art würde, da immer drei Glieder vorhanden sind, von denen je eines das andere in einem Elemente berührt, zu zwei Streitenden immer ein drittes beruhigendes gefunden werden, und am häufigsten, da Adel und Gemeine am öftersten [sic] in den Widerstreit der Interessen kommen, wird der Lehrstand alsdann Schiedsrichteramt versehen“. Auch hier zeigt sich, wie bereits bei Friedrich Schlegel, die für die politische Romantik charakteristische Überbewertung der Intellektuellen in der Politik, denen beide Autoren umstandslos die Funktion eines eigenen „Standes“ zuordnen! 99  Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. X, 286; anderes als einen vagen Eskapismus aus der politischen „Zeitungswelt“ in die Wissenschaft vermochte er allerdings  – am Schluß der vierzehnten Vorlesung seiner „Philosophie des Lebens“ – nicht anzubieten; vgl. ebenda, S. 287: „Wenden wir aber unsre Blicke von der kleinlichen Polemik unsrer Zeit, die mehr und mehr eine Zeitungswelt zu werden droht, hinauf zu größern, mehr historischen und epochemachenden Erscheinungen dieser Art; so ist es dann an diesen wohl sichtbar, wie die Wissenschaft wirklich eine Macht ist, und sein kann“. 100  Zur alteuropäischen Ökonomik sei an dieser Stelle statt vieler nur verwiesen auf die grundlegenden Arbeiten von Otto Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612–1688, Salzburg 1949, S. 251 ff.; derselbe, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschich­te Österreichs im Mittelalter, Wien 51965, S.  254 ff.; der-



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menschen zu definieren  – in dieser Beziehung ist jeder Mensch „Glied eines Standes oder Staates“  –, sondern auch über sein Eigentum oder seine „Eigentümlichkeit“ – und in dieser Hinsicht „hat der Mensch einen Stand, ist durch diesen seinen Stand frei und Haupt eines Standes oder Staates“101. In irgendeiner Weise ist also jeder Mensch ein „Stand“ oder ein „Staat“102; Müller folgert: „der Mensch ist Staat im Staates: status in statu. Niemand kann im Staate oder einem Staate unterworfen und verpflichtet sein, ohne zugleich selbst wieder Staat, d. h. einem Staate vorgesetzt und dergestalt berechtigt zu sein“103. Zwar scheint Müller hier – indem er „Stand“ und „Staat“ im engeren Sinne als eine Art von Freiheitssphäre jedes einzelnen Menschen bestimmt – auf den ersten Blick über die alteuropäische Ökonomik, die als politisches Subjekt nur den Hausvater akzeptiert, hinauszugehen, doch dieser erste Eindruck täuscht: Müller bewegt sich, wie die weiteren Ausführungen zeigen, noch ganz im Rahmen eines traditionellen Politikverständnisses, welches das moderne, insbesondere von Hegel definierte Staatsverständnis  – verstanden als Gegenbegriff zur „bürgerlichen Gesellschaft“  – strikt ablehnt104. Es geht ihm nicht, wie den Autoren des neueren Naturrechts105, um die Freiheitsrechte des einzelnen Individuums, sondern um den „Begriff des konkreten Staates“106 – und ein konkreter Staat ist kein absoluter Staat, der alle Bindungen auflöst und alle traditionellen Formen und Ordnungen nivelliert, sondern er ist ein organisch gegliedertes Gemeinwesen, das sich aus den Ständen und – auf unterer Ebene  – aus den Familien, an deren Spitze die Hausväter stehen, zusammensetzt. Eben diese „Hausväter“ stellen für Müller das eigent­ selbe, Das „Ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“, in: derselbe, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 31980, S. 26–44. 101  Müller, Schriften zur Staatsphilosophie (Anm. 13), S. 177. 102  Vgl. ebenda, S.177 f.: „Jeder einzelne Mensch, wie klein oder wie groß er sei, ist Haupt eines Standes oder Staates, als Fürst, als Obrigkeit, als Gutsherr, als Hausvater, als Eigentümer, als Disponent in einem, wenn auch noch so kleinen Wirkungskreise; er hat einen Stand, oder er ist ein Stand, ein Staat; quisque habet suum, ein Gebiet der Eigenheit oder der wahren, realen Freiheit; jeder Einzelne ist juristisches Subjekt“. 103  Ebenda, S. 178. 104  Vgl. etwa die Äußerung ebenda, S. 180: „Ich sehe in der allgemeinen Schwärmerei für die Chimären des absoluten Staates, des absoluten Gesetzes und der absoluten Vernunft nichts anderes, als das Ringen und Drängen eines unglücklichen Geschlechtes nach dem persönlichen Gotte, von dem es abgefallen ist“. 105  Hierzu grundlegend Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N. F. 23), Paderborn 1976. 106  Müller, Schriften zur Staatsphilosophie (Anm. 13), S. 184.

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liche Bindeglied zwischen dem Staat im Großen und demjenigen im Kleinen dar – eben weil die Oberhäupter ihres „Hauses“, ihrer „Familie“ zugleich Teil eines Standes wie auch Stand selbst sind, zugleich Teil und Ganzes107. Was nun die eigentlich angestrebte Staatsform anbetrifft, so traten die Autoren der politischen Spätromantik, was wohl nicht verwundern dürfte, übereinstimmend für die Monarchie ein. Noch am weitesten wagte sich hierbei Görres vor, der immerhin für einen Ausgleich zwischen dem monarchischen und dem demokratischen Prinzip mittels starker ständisch-parlamentarischer Institutionen und einer ausgebauten kommu­ nalen Selbstverwaltung eintrat108. Das andere Ende des Spektrums repräsentierte wiederum Adam Müller, der sich für den, wie er meinte, „­natürlichen“ Patrimonialstaat  – also ein Gemeinwesen mit einem „pa­ triarchalisch“ amtierenden Monarchen an der Spitze  – aussprach, der aber ebenfalls für einen vorsichtigen Ausgleich der patrimonialen Staatsgebilde mit den bloß „künstlichen Repräsentativ-Staaten“ der Zeit optierte109. Auch Friedrich Schlegel forderte die ständische Monarchie110 und betonte ausdrücklich, „daß die monarchische Verfassung dem christlichen Staat vorzüglich angemessen sei, schon aus dem Grunde, weil das organische Zusammenwirken der Korporationen, […] in einem großen Staate wenigstens, fast nur unter der monarchischen Verfassung vollständig ­gedeihen kann, in jedem Falle leichter und besser als in Republiken“111, doch den schroffen Royalismus der französischen Traditionalisten de ­Maistre und de Bonald lehnte er andererseits ebenso unmissverständlich wie konsequent ab112. 107  Vgl. ebenda, S. 185: „Der Hausvater ist Vorstand eines Staates, den wir Familie nennen; als solcher ist er 1. gegen außen gewendet, rechtliches Individuum (Zunftgenosse, Stadt- oder Staatsbürger u. s. f.) […]; dann 2. von innen her betrachtet, Versorger, Verwalter und daher Diener seines Hauses. […] Der Hausvater ist ferner Glied eines Staates, sei es einer Gemeinde, einer Körperschaft, einer Stadt oder eines Fürstentums; als solches ist er 1. gegen außen gewendet Untertan, verpflichtet, adskribiert, durch seinen Nebenmenschen beschränkt, dann 2. gegen innen gewendet Hausherr, Obrigkeit und Vorstand seiner Familie“. 108  Vgl. Görres, Auswahl in zwei Bänden (Anm. 15), Bd. II, S. 128 f. 109  Müller, Schriften zur Staatsphilosophie (Anm. 13), S. 300. 110  Vgl. Schlegel, Kritische Ausgabe (Anm. 17), Bd. VII, S. 552 f. 111  Ebenda, S. 576, Anm. 1. 112  Dazu die Feststellung ebenda, S. 576, Anm. 1: „[W]enn einige französische Ultraschriftsteller die Frage so stellen, als ob die monarchische Verfassung und der christliche Staat völlig eins wären, und die republikanische Staatseinrichtung mit dem christlichen Rechtsbegriff schon an sich streitend sei, so ist dadurch offenbar die Grenze überschritten, und ist dieses nur aus der besondern Stellung jener



Politisches Denken der deutschen Spätromantik187

Für Schlegel steht an der Spitze eines idealen ständischen Gemeinwesens, wie er zu betonen nicht müde wird, der christliche Herrscher, der Monarch von Gottes Gnaden, der wiederum selbst Gott unterworfen ist113. „Dem christlichen Begriff oder Grundsatz“, heißt es in der „Philosophie des Lebens“, „daß alle Obrigkeit von Gott sei, liegt eine höchst bestimmte Idee, und sehr durchdachtes Prinzip zum Grunde; welches darin besteht, daß das Staatsoberhaupt die göttliche Gerechtigkeit handhaben soll, und daß eben dieses sein Amt und seine Würde bildet, daß es aber in dieser Verwaltung und höchsten Funktion niemand verantwortlich sei als Gott“114. Das Staatsoberhaupt definierte Schlegel 1827 zuerst und vor allem durch seine richterliche Funktion, die er freilich deutlich über den traditionellen Begriff der Judikative hinausgehend bestimmte: als Einheit von exekutiver, gesetzgebender und richterlicher Gewalt; die „eigentliche und faktische, oder persönliche Teilung der Gewalten“ sei, so betonte er ausdrücklich, „immer ein republikanisches VerfassungsPrinzip“115. – Von einer absolutistischen Verfassung unterschied sich die vom späten Schlegel in dieser Weise bestimmte Monarchie allenfalls dadurch, dass er eine begrenzte Mitwirkung der Stände an der Gesetzgebung zulassen wollte116. Baader sah in der Monarchie das ebenso vermittelnde wie ausgleichende Zentrum des aus den traditionellen drei Ständen gebildeten Dreiecks der Verfassung117, während Eichendorff schließlich die Monarchie zuSchriftsteller im Kampf gegen die revolutionären Grundsätze des Zeitgeistes herzuleiten, welche aber eigentlich ebensowenig echt und altrepublikanisch, als sie unstreitig für die Monarchie zerstörend sind. Auf dem welthistorischen Standpunkt dürfen wir nicht so weit in jene polemische Ansicht der neuern Royalisten hineingehen; da wir weder die Schweizer-Republik und andern ähnlichen eine christliche Verfassung absprechen, noch auch die Protestanten und zahlreichen Katholiken in Nordamerika von dem Umkreise der Christenheit ausschließen dürfen“. 113  Vgl. ebenda, S. 577: „Das evangelische Gesetz von dem bürgerlichen Gehorsam gegen die von Gott angeordnete Obrigkeit, enthält zugleich auch die Unterordnung desselben unter den höhern Gehorsam gegen den obersten Gesetzgeber, von welchem alle Obrigkeit herkommt und ihre Macht hat“. 114  Ebenda, Bd. X, S. 249. 115  Ebenda, S. 250. 116  Vgl. ebenda, S. 250: „Was die Gesetzgebung und gesetzgebende Macht betrifft, so kann nach der bestehenden Verfassung irgend eines bestimmte Staates, dazu auch eine bedeutende Mitwirkung, vorgängige Beratung, selbst der erste Entwurf oder Vorschlag zu einem Gesetz, von einer andern Seite her stattfinden […] Allein die letzte Sanktion, wodurch ein Gesetz eigentlich ein Gesetz wird, oder wodurch es auch wieder aufgehoben und zurückgenommen werden kann, muß dem Souverän vorbehalten bleiben, sonst hört er auf dieses zu sein“. 117  Baader, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie (Anm.  21), S. 389: „[D]as Wort: Etat oder Staat als Singular ist modern und schlecht. Weswegen Lud-

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gleich historisch wie funktional legitimierte: Zum einen habe, wie er sagt, „das historische Ineinanderleben von König und Volk zu einem untrennbaren nationalen Ganzen“ geführt, das sich in dem „seit Jahrhunderten in gemeinschaftlicher Lust und Not bewährte[n] Band wechselseitiger Liebe und Treue“118 ausdrücke, zum anderen wiederum dürfe die Funktion des Königtums als Instrument der ausgleichenden, vermittelnden Gerechtigkeit oberhalb der Konflikte der Zeit nicht vergessen werden. VIII. Unter den Spätromantikern waren es in erster Linie Adam Müller und Franz von Baader, die eigene Gedanken und Ideen auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens entwickelten119. Das Besitzstreben der modernen Erwerbsgesellschaft haben beide konsequent und unnachsichtig kritisiert. „Je mehr […] der bloße Ertrag, der Gewinn verkäuflicher Dinge oder des Geldes“ zum Zweck des Menschen werde, warnte Müller, „umso mehr

wig XVI. allerdings Recht hatte, wenn er sagte: L’Etat c’est moi! d. h.: Ich als König bin das Zentrum jener drei Etats [gemeint sind, wie oben ausgeführt, Nährstand, Wehrstand und Lehrstand, H.-C.K.]. Ich bin das Herz jener drei Stände […] Erwartet darum nicht, sagt der König zu diesen drei Ständen, daß ich einem zulieb aus meinem Zentrum heraustrete und mit ihm gegen die übrigen Stände selber Partei machen werde. Denn so wie das Zentrum nur frei bleibt, wenn es sich inner allen dreien Winkeln des Dreiecks hält, so bleibt auch jeder dieser Winkel oder jede Spitze frei, wenn das Zentrum nicht ausschließlich in dasselbe, sondern mit in beide andere Spitzen (Stände) fällt. Nur jener König ist darum ein freier, herrlicher, mächtiger König, welcher König dem Klerus, König dem Adel und König der Gemeinen oder der Demokratie ist“.  – Ob Baader diese Ideen unter dem Einfluss Benjamin Constants formulierte, der in seinen politischen Schriften den König als eine über den gesellschaftlichen Mächten stehende, neutrale „vierte Gewalt“ („pouvoir neutre“) definierte, ist nicht mit Sicherheit auszumachen; siehe hierzu Lothar Gall, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz; Abt. Universalgeschichte, 30), Wiesbaden 1963, S. 166 ff. 118  Eichendorff, Werke und Schriften (Anm. 23), Bd. IV, S. 1287. 119  Die im engeren Sinne ökonomischen Ideen der politischen Romantik sind bis heute nicht umfassend erforscht; vgl. als ersten Überblick noch immer Goetz A. Briefs, The Economic Philosophy of Romanticism, in: Journal of the History of Ideas 2 (1941), S. 279–300; kenntnisreiche zusammenfassende Darstellung bei Spann, Die Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre (Anm. 9), S. 99–115; sehr knapp: Edgar Salin, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Bern/Tübingen 41951, S. 127–129, und Gerhard Stavenhagen, Geschichte der Wirtschaftstheorie, Göttingen 41969, S. 191–193, während Paul Mombert, Geschichte der Nationalökonomie, Jena 1927, S. 416–449 den Begriff der „politischen Romantik“ zu weit fasst (von Montesquieu und Herder bis zu Carlyle und Wilhelm von Ketteler).



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tritt er aus dem Reiche der Freiheit und der Persönlichkeit in das Gebiet der Sklaverei und der Sachen hinüber; umso unedler wird das Geschäft, umsomehr sinkt es […] zum bloßen Gewerbe hinab“120. Er setzte dagegen die Forderung nach religiös-moralischer Fundierung des menschlichen Wirtschaftens: „So lange die Religion der Ausgang und das Ende ist und in dem ihr angemessenen Ansehen […] steht, vertragen sich beide, das Sein und das Haben, die Liebe zum Werke und das Streben nach dem Ertrage, sehr wohl in demselben Menschen: so lange verträgt sich die Selbstliebe, welche allerdings nach Erweiterung der Eigentümlichkeit, also nach Haben strebt und von Gott dazu berufen ist, mit der Nächstenliebe, welche ihr gesamtes Sein dienend und opfernd dem von Gott vorgesetzten Herrn, dem gemeinen Wesen oder irgend einem gemeinnützigen Werke der Hand und der Kunst darbietet“121. Die sozialen Mißstände im England der frühen Industriellen Revolu­ tion hat Müller mit äußerster Schärfe kritisiert122, und auch in bezug auf das Grundeigentum hat er die sozialen Pflichten und Bindungen der Eigentümer mit großem Nachdruck betont. So stellte er fest, „daß ein strenges Privateigentum von Grund und Boden, von der Nahrungsquelle, auf die nicht bloß der vorübergehende Inhaber, sondern das ganze menschliche Geschlecht angewiesen ist, so unmöglich als unrechtlich ist; daß die Worte Privilegium und Monopol viel zu edel, viel zu menschlich sind, um den Raub zu bezeichnen, den die Theorien und Gesetzgebungen unsers Jahrhunderts begehen, indem sie ein absolutes Privateigentum an Grund und Boden […] feierlich anerkennen“123. Er beharrte darauf, dass Grund-

120  Müller,

Schriften zur Staatsphilosophie (Anm. 13), S. 236. S.  238 f. 122  Vgl. ebenda, S. 260 ff.  – Müller hat seine Kritik am Frühkapitalismus am Beispiel der wirtschaftlichen Entwicklung Englands näher ausgeführt und dabei einige der späteren Thesen von Karl Marx, aber auch von Benjamin Disraeli vorweggenommen; vgl. etwa die Feststellungen ebenda, S. 260 f.: „Man hat die Bemerkung gemacht, daß sich England infolge seines auf dem Grundsatze der Veräußerlichkeit aller Dinge beruhenden Steuer- und Schuldensystems, der Natur eines Bienenstaates annähere, und so wie dieser in ein taxenzahlendes Arbeitsvolk und in ein andres müßiges Kapitalisten- und Rentierer-Volk zerfalle, für welches letztere der größte Teil  der Taxen erhoben werde. Diese in hohem Grade wahre Bemerkung würde in die Sprache unsers gegenwärtigen Werkes übersetzt, also lauten: die beiden Gestalten, unter denen jeder einzelne Bürger erscheinen soll als Haupt eines Staates oder Kapital, und als Glied eines Staates, oder als Arbeiter, haben sich in England […] voneinander getrennt, und stellen sich in einem gewissen aufgelösten Zustande […] dar; Kapital und Arbeit, die sich überall wie Material und Werkzeug wechselseitig unterstützen und tragen sollen, zeigen sich in England in große und deshalb natürlicher Weise feindselige Massen getrennt“. 123  Ebenda, S. 271. 121  Ebenda,

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

eigentum ein von Gott verliehenes Amt darstelle124, das zum Wohle aller Einwohner eines Gemeinwesens ausgeübt werden müsse  – nicht aber zum alleinigen Vorteil des Amtsinhabers. Dass diese sozialkritischen Ideen freilich nicht auf eine irgendwie geartete Umwälzung bestehender Verhältnisse zielten, sondern – im Gegenteil – aus dem Geiste der Restauration stammten, belegen Müllers Äußerungen zur Gegenwart und Zukunft der Landwirtschaft125, die ihn als einen konsequenten Gegner der Aufhebung der Erbuntertänigkeit und der Kapitalisierung des ländlichen Wirtschaftens zeigen: „Die ewige Ordnung der Dinge erfordert ein dienstbares und Untertänigkeits-Verhältnis im Ackerbau, und der herrschende, unseelige Irrtum, daß eine allgemeine und bloß industrielle Bewirtschaftung des Bodens möglich, und das ganze Dienst- und Untertänigkeitswesen beim Landbau in ein Arbeits- und Lohnwesen zu verwandeln sei, hat, außer der revolutionären Richtung des Zeitgeistes überhaupt, nur darin seinen Grund, daß die Herren und Eigentümer des Bodens vergessen haben, wie, vor allen Dingen und vor allen ihren Untertanen sie selbst durch Gottes ewige und schlechthin unabänderliche Anordnung: glebae adscripti, Untertänige und Diener seien, und es Hochverrat sei, über ein Gut, dem sie als bloße Beamte und Stellvertreter zu dienen berufen sind, nach bloßer Willkür zu verfügen“126. Hier wird die Kehrseite der These von der strengen sozialen Bindung allen Eigentums sichtbar: Wenn die Eigentümer als „Beamte“ Gottes aufzufassen sind, dann verfügen sie tatsächlich nicht über das Recht zur eigenmächtigen fundamentalen Umgestaltung der traditionellen, überkommenen sozialen Verhältnisse und Ordnungen auf dem Lande. Die sich bei Müller bereits unübersehbar zu Wort meldende Kritik an den Mißständen der Frühindustrialisierung wurde von Franz von Baader  – der nach einer Bemerkung von Friedrich Lenz „vielleicht als ursprünglichster romantischer Denker auf dem Gebiet der Staats- und Gesellschaftslehre gelten“127 darf – noch konsequenter und deutlicher fortgeführt. Wie vor ihm Müller ging auch Baader davon aus, dass durch den Einfluss des Christentums „die Lehre und de[r] Begriff des Erwerbes, Besitzes und Genusses völlig umgestaltet“ worden sei, „indem es den heidnischen Begriff oder die Meinung eines absoluten Eigentums völlig zer124  Vgl.

ebenda, S. 273. hierzu noch immer die wichtige Studie von Friedrich Lenz, Agrarlehre und Agrarpolitik der deutschen Romantik, Berlin 1912. 126  Müller, Schriften zur Staatsphilosophie (Anm. 13), S. 287. 127  Friedrich Lenz, Friedrich List  – Der Mann und das Werk, München/Berlin 1936, S. 137. 125  Vgl.



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störte, und […] jede Verwendung, somit jeden Genuß desselben verwehrte, der nicht sozial, somit antisozial ist, denn wer nicht für die Sozietät lebt, der lebt gegen sie und jeder Separatist ist ein Narr in der Theorie und ein Verbrecher in der Praxis“128. Auch Baader beharrte auf der Auffassung, „daß in einem wahrhaft christlichen Volke jeder Besitz nur Amtsbesitz“129 sein dürfe. Diese Überzeugung führte Baader in seiner 1835 erschienenen berühmten Schrift mit dem wahrhaft barocken Titel „Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Proletairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät in Betreff ihres Auskommens sowohl in materieller als intellektueller Hinsicht aus dem Standpunkte des Rechts betrachtet“130 zu einer Sozialkritik von einer – jedenfalls in dieser Zeit – fast beispiellosen Schärfe: „Wer als Augenzeuge nur einen Blick in den Abgrund des physischen und moralischen Elends und der Verwahrlosigkeit geworfen hat, welchen der größere Teil  der Proletairs in England und Frankreich Preis gegeben ist, […] der wird […] gestehen müssen, daß die Hörigkeit, selbst in der härtesten Gestalt (als Leibeigenschaft […]), doch noch minder grausam und unmenschlich […] war […], als diese ­Vogelfreiheit, Schutz- und Hilflosigkeit des bei weitem größten Teils unserer, wie man sagt, gebildetsten und kultiviertesten Nationen“131. Baader, der die von ihm beschriebenen Verhältnisse z. T. aus eigener Anschauung kannte, empfahl als einzige Möglichkeit zur Verhinderung eines drohenden Umsturzes die Einbindung der Proletarier in einen korporativ organisierten Staat oder wenigstens „die Einbürgerung der Pro-

128  Baader,

Schriften zur Gesellschaftsphilosophie (Anm. 21), S. 303. S. 304.  – Dass Baader das individuelle Eigentumsrecht trotzdem nicht anzutasten gedachte, zeigen die Bemerkungen ebenda, S. 410: „Ein produktiver, wirklicher Bürger eines Staates ist jener, welcher hinreichend produktives Eigentum besitzt, um sowohl an den Staat von seinem reinen Erwerb Abgaben geben als um Eigentumslose als Dienende unterhalten zu können. Hierzu ist aber eine gewisse Größe als ein bestimmtes Moment seines Eigentums nötig, und falls man dieses durch Teilung so weit zertrümmerte, daß das Verhältnis des Besitzenden und Besitzlosen verschwände, somit auch jenes des Herrn und Dieners, so würde hiermit auch die Produktivität des Eigentums für den Staat verschwinden, und das alte Verhältnis würde sich doch wieder herzustellen suchen […] Das Projekt der Gleichheit des Eigentums wäre […] der Natur der Sozietät nicht minder widerstreitend als jenes der absoluten Gleichheit aller Stände vor dem Gesetze ohne Berücksichtigung der Ungleichheit und Unterschiedlichkeit ihrer Natur“. 130  Ebenda, S. 319–338; siehe dazu auch die wichtige Studie von Ernst Benz, Franz von Baaders Gedanken über den „Proletair“. Zur Geschichte des vor-marxistischen Sozialismus, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte  1 (1948), S. 97–123. 131  Baader, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie (Anm. 21), S. 324 f. 129  Ebenda,

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

letairs“ in die Sozietät132, – wozu als ein erster Schritt die volle Assoziationsfreiheit der Arbeiter, also die Erlaubnis zur Bildung eigener Interessenvereine, gewährt werden müsse. Sonst sei eine soziale und politische Revolution – die man in ihrem Kern sogar als berechtigt ansehen müsse – vollkommen unvermeidlich133. Schließlich hat auch Joseph Görres 1821 mit der ihm eigenen Sprachgewalt die „Klügler“ auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens attackiert, die sich „mit jener Eigensucht verbunden“ haben, „die Alles seyn will in Allem, Alles fressen und dem Andern nichts vergönnen, allein leben und Andern das Gleiche nicht gestatten mag, jenem unersättlichen, wolfsartigen Finanzhunger, der Alles verschlingt, ohne daß er je zur Genüge kä­ me“134. Eine weitere große – in gleicher Weise politische wie wirtschaftliche  – Gefahr sah er in der Aufrechterhaltung der großen stehenden Heere in Europa: Eben diese seien es, die „im Frieden das Mark der Länder fressen, jene vielfältigen Finanzkünste, die die Welt zerrütten, ­ nothwendig gemacht, jene ungeheuern Schuldenmassen aufgehäuft, und zuletzt das Papiersystem herbeygeführt haben, in dem Europa eine große Spielbank worden, wo der bankhaltende Fiskus und die Völker ihr Glück versuchen“135. Nicht zuletzt ist die Kritik der politischen Romantiker am modernen parlamentarischen Repräsentativsystem auch von ihren ökonomischen Grundgedanken her zu verstehen. Eine Repräsentation, in der „nur Reichtum und Grundbesitz repräsentiert werden sollen“136, lehnte Eichendorff ebenso ab wie Franz von Baader, der betonte, die Misere der „Proletairs“ müsse nicht zuletzt darauf zurückgeführt werden, dass sie „eben in den konstitutionellen Staaten (durch Einführung des bloß auf Gut und Geldbesitz begründeten Repräsentativsystems) auch zum nicht mehr gehört werdenden Teile des Volkes herunter gekommen“137 seien. IX. Die vorangegangene Vergegenwärtigung der Grundlagen wie der einzelnen Ausprägungen des spätromantischen politischen Denkens hat gezeigt, in wie starkem Maße diese politischen Konzeptionen und Entwürfe von der allgemeinen Zeiterfahrung der Ära zwischen 1789 und 1815 ge132  Ebenda,

S. 333. ebenda, S. 337. 134  Görres, Europa und die Revolution (Anm. 66), S. 281. 135  Ebenda, S. 280. 136  Eichendorff, Werke und Schriften (Anm. 23), Bd. IV, S. 1153. 137  Baader, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie (Anm. 21), S. 329. 133  Vgl.



Politisches Denken der deutschen Spätromantik193

prägt waren. In ihnen drückte sich zuerst einmal das Bedürfnis nach Verlangsamung des historischen Wandels aus,  – eines Veränderungsprozesses, der sich seit dem Ausbruch der Pariser Revolution im Sommer 1789 mit einer vorher nicht gekannten Schnelligkeit vollzogen hatte. Das abrupte Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahre 1806 wurde in Deutschland wiederum von vielen Zeitgenossen als überaus schmerzlicher historisch-politischer Kontinuitätsbruch, ja als Katastrophe empfunden  – und auch dies spiegelt sich im politischen Denken der Romantiker wider. Alle Differenzen und Unterschiede, die bei den einzelnen hier behandelten Autoren zu finden sind, können die eine Tatsache allerdings nicht verdecken, dass der Kern der politischen Bemühungen der spätromantischen Denker doch auf ein gemeinsames Ziel gerichtet ist: Es geht ihnen um eine umfassende und möglichst tiefdringende Kritik der europäischen Moderne, die sich gerade in jenen Jahren nach der politischen und industriellen „Doppelrevolution“ am Ende des 18. Jahrhunderts mit voller Macht zu entfalten begann. Die Ablehnung des modernen Ver­ ­ fassungsstaates und die gleichzeitige unnachsichtige Kritik auch der modernen Wirtschaft und industriellen Entwicklung mit allen ihren ­ ­Auswüchsen und sozialen Folgelasten, schließlich auch die deutliche Reaktion gegen den beginnenden Nationalismus innerhalb der einzelnen europäischen Völker sind nur der sichtbarste Ausdruck dieser umfassenden Modernitätskritik. Das führte einerseits wiederum zur Entwicklung und Propagierung stark vergangenheitsorientierter verfassungspolitischer Ideen, die in einer  – wie auch immer im einzelnen begründeten und ausgestalteten  – Forderung nach umfassender Restauration des traditionellen Ständestaates oder wenigstens nach einem neuständischen System gipfelten, das die mittelalterlichen Traditionen mit den Anforderungen eines neuen Zeitalters zu verbinden versuchte. Das führte aber andererseits auch frühzeitig zu einer scharfsinnigen Erkenntnis und Kritik der katastrophalen sozialen Mißstände der frühindustriellen Epoche  – und hier waren einzelne der spätromantischen Denker wie etwa Franz von Baader ihren liberalen Zeitgenossen in der Tat weit voraus. Nicht zuletzt aber – und dies dürfte, ungeachtet aller unleugbaren Defizite und Absonderlichkeiten, ebenfalls einen der Vorzüge des politischen Denkens der deutschen Spätromantiker ausmachen  – plädierten diese Autoren immer wieder für das Prinzip des Ausgleichs in Geschichte und Politik,  – ein Prinzip, das sie zuweilen, durchaus selbstkritisch, auch auf sich selbst anwandten. Es sei „ganz gut“, bemerkte Joseph von Eichendorff einmal, „daß in den romantischen Mondschein, der die frü-

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I. Von der Aufklärung zur Romantik

heren Jahrhunderte wunderbar beglänzte, das morgenkühle, scharfe Tageslicht noch zeitig genug hereinbrach, um die Klüfte und Spalten der längst unterwaschenen und verwitterten Felsen zu beleuchten, die sonst unerwartet über den Häuptern der Sorglosen zusammengestürzt wären.“ Und er fuhr fort: „Nicht darin liegt das Übel, daß der Verstand, im Mittelalter von gewaltigeren Kräften der menschlichen Natur überboten, sein natürliches Recht wieder genommen, sondern darin, daß er nun als Alleinherrscher sich keck auf den Thron der Welt gesetzt, von dort herab alles, was er nicht begreift und was dennoch zu existieren sich herausnimmt, vornehm ignorierend. Denn jede maßlose Ausbildung einer einzelnen Kraft, weil sie nur auf Kosten der anderen möglich, ist Krankheit, und so geht oft eine geistige Verstimmung durch ganze Generationen und gibt der Geschichte unerwartet eine abnorme Richtung“138. Das Bestreben, diese „abnorme Richtung“ zu korrigieren, wird man als das Hauptanliegen der politischen Spätromantik bezeichnen können, doch man wird andererseits wohl kaum sagen dürfen, dass Friedrich Schlegel und Adam Müller, dass Joseph Görres, Franz von Baader und Joseph von Eichendorff mit diesem Anliegen sonderlich erfolgreich gewesen sind.

138  Eichendorff, Werke

und Schriften (Anm. 23), Bd. IV, S. 1292.

II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

Heiliger Befreiungskampf?  Sakralisierende Kriegsdeutungen 1813–1815 I. „Geschichte als Sinndeutung des Sinnlosen“  – mit einer Reflexion über diesen Titel eines bekannten Buches des Philosophen Theodor ­Lessing lässt sich vielleicht die Grundproblematik des Themas der zeitgenössischen und ebenfalls der nachträglich vorgenommenen Sakralisierung der Befreiungskriege gegen Napoleon in ihrem Kern bereits erfassen1. Genau hierum ging es: um die religiös aufgeladene Sinngebung eines Kampfes, der in seinen Ausmaßen, aber auch in seiner Schrecklichkeit als bis dahin historisch beispiellos gelten musste. Denn in diesem Zusammenhang darf die Tatsache keineswegs übergangen werden, dass die von Napoleon begonnenen und geführten Kriege nach neuesten Schätzungen zu einem Gesamtverlust von nicht weniger als etwa fünf Millionen Menschen geführt haben, was  – im Vergleich zur damaligen Gesamtbevölkerungszahl in Europa – proportional in etwa den Verlusten des Ersten Weltkriegs entspricht2. Insofern ist es vielleicht kein Zufall, dass unmittelbar im Anschluss an die mit dem Jahr 1815 zu Ende gegangene geschichtliche Epoche zum ersten Mal durch einen bedeutenden Denker die Auffassung einer absoluten Sinnlosigkeit allen historischen Geschehens konsequent vertreten und stringent begründet werden konnte; gemeint ist Arthur Schopenhauer, der in seinem unmittelbar nach Beendigung der Befreiungskriege und unter deren Eindruck geschriebenen Hauptwerk3 „Die Welt als Wille und Vorstellung“ – in konsequentem Gegenpart zu seinem späteren Berliner Fakultätskollegen Hegel – „die Geschichte des Menschengeschlechts, das Gedränge der Begebenheiten, […] die vielgestaltigen Formen des menschlichen Lebens in verschiedenen Ländern und Jahrhunderten“ lediglich als Ansammlung von in sich vollkommen sinnlosen Zufälligkeiten deuten zu können meinte, ebenso „unwesentlich und gleichgültig wie den 1  Theodor Lessing, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen oder Die Geburt der Geschichte aus dem Mythos, 4. Aufl. Leipzig 1927. 2  Vgl. David Gates, The Napoleonic Wars 1803–1815, London 1997, S. 272. 3  Vgl. Rüdiger Safranski, Schopenhauer und Die wilden Jahre der Philosophie, München 1987, S. 287 ff.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

Wolken die Figuren, die sie darstellen, dem Bach die Gestalt seiner Strudel und Schaumgebilde“4. Damit aber negierte der Philosoph mit äußerster Radikalität die beiden bisher vorherrschenden, traditionellen Geschichtsbilder und grundlegenden Formen historischer Sinngebung, die – stets miteinander konkurrierend, aber auch in Wechselwirkung stehend – das historische Denken seit dem späten 17. Jahrhundert bestimmt hatten: das fortschrittsoptimistische Konzept der Aufklärung auf der einen, das traditionelle christliche Geschichtsbild einer Weltgeschichte als Heilsgeschehen auf der anderen Seite5. Freilich blieb Schopenhauer in seiner Zeit ein Außenseiter; seine pessimistische Weltbetrachtung und seine radikale, später von Friedrich Nietzsche und Theodor Lessing wieder aufgenommene Kritik historischer Sinngebung konnte sich – auch wenn sie ab Mitte des Jahrhunderts stärkere Beachtung finden sollte – außerhalb enger Denkzirkel kaum durchsetzen6. Gleichwohl verweist Schopenhauers schon kurz nach 1815 formulierte radikale Kritik der Geschichte auf das dahinter stehende Problem eines sinnhaften Verstehens, also einer Sinndeutung, eines sich in einen größeren geistigen Zusammenhang einfügenden Geschichtsbildes, das als solches damals wenigstens einen Zweck erfüllen musste: nämlich Erklärungen für soeben erlebte Schrecken und Katastrophen zu finden, vor allem für den gewaltsam herbeigeführten Verlust von Millionen Menschen – ja diese Verluste dadurch vielleicht etwas erträglicher zu machen, dass man ihnen im Rahmen eines umfassend erklärenden und deutenden Geschichtsmodells einen Sinn zu verleihen versuchte, der den Zeitgenossen, besonders den Hinterbliebenen, einleuchten konnte. Doch es ging hierbei ebenfalls noch um etwas Anderes, Grundsätz­ licheres, etwa um die Konkurrenz unterschiedlicher Geschichtskonzep­ tionen, damit im Kern um den Kampf gegensätzlicher politischer Richtungen, um den Streit zwischen Aufklärern und Gegenaufklärern, Radikalen, Liberalen, Konservativen und Reaktionären, Revolutionären und Gegenrevolutionären, Gläubigen und Atheisten, Anhängern der Moderne 4  Arthur Schopenhauer, Werke in zehn Bänden (Züricher Ausgabe), Bd. 1, Zürich 1977, S. 276 (Die Welt als Wille und Vorstellung III § 43). 5  Vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (zuerst 1949), in: derselbe, Sämtliche Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1983, S. 7–239. 6  Zum geistesgeschichtlichen Zusammenhang siehe auch die weit ausholende Darstellung und Deutung von Jürgen Große, Kritik der Geschichte. Probleme und Formen seit 1800, Tübingen 2006; sowie ebenfalls noch: Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, Hamburg 7 1978, S.  192 ff.



Heiliger Befreiungskampf? 199

und Modernitätskritikern. Diese beiden Aspekte also: erstens Orientierung durch Sinngebung und zweitens politischer Anspruch auf Deutungshoheit haben die allgemeine Debatte um eine Charakterisierung der Befreiungskriege vor und nach 1815 wesentlich bestimmt und im Ganzen tief geprägt. Allerdings sind nicht nur diese Aspekte zu berücksichtigen, wenn man die Frage nach den verschiedenen Formen, Motiven und Absichten sakralisierender Deutungen der antinapoleonischen Befreiungskriege in den Blick nehmen möchte, sondern es ist noch eine weitere wichtige Unterscheidung zu treffen, nämlich diejenige zwischen zeitgenössischen und späteren, d. h. retrospektiven Sinngebungen und Deutungsmustern der Befreiungskriege, die partiell durchaus ähnliche Motive und Strukturen aufweisen konnten, wenngleich in der rückblickenden Perspektive zumeist das Moment der umfassenden, d. h. auf das Ganze zielenden Sinngebung dominiert; hier kann man die zentrale Absicht zumeist in der ­Artikulation eines bestimmten Deutungsanspruchs erkennen, dem zuerst geschichtstheologische und geschichtsphilosophische, später vor allem politische Motive zugrunde lagen. II. Wenn wir zuerst auf das Jahr 1813 blicken und nach den zeitgenössischen Sinndeutungen des in diesem Jahr ausbrechenden Krieges fragen, dann fällt sofort auf, dass eine religiöse Überhöhung dieses Kampfes, der eigentlich nicht mehr und nicht weniger als das Resultat einer bestimmten machtpolitischen Konstellation war, von Anfang an präsent ist: in den offiziellen Kriegsproklamationen ebenso wie in der Kriegspublizistik und in besonderem Maße sogar in der zeitgenössischen Kriegslyrik der bekannten, im späteren 19. Jahrhundert sehr populären jungen Dichter und Soldaten der Befreiungskriege  – es genügt, an Namen wie Theodor Körner oder Max von Schenckendorff zu erinnern7; der Aufruf zum „Heiligen Krieg“ und dessen poetische Glorifizierung, ja Verklärung ist bei allen von ihnen zu finden. In dem berühmten Breslauer Aufruf des preußischen Königs vom 17. März 1813 „An mein Volk“ wurde gewissermaßen die offizielle, politische Version dieser Deutung formuliert, wenn es hieß: „Welche Opfer 7  Dazu die Hinweise bei Hans-Christof Kraus, Freiheitskriege als Heilige Kriege 1792–1815, in: Heilige Kriege. Religiöse Begründungen militärischer Gewaltanwendung: Judentum, Christentum und Islam im Vergleich, hrsg. v. Klaus Schreiner unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München 2008, S. 193– 218, hier S. 208 ff.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

auch von Einzelnen gefordert werden mögen, sie wiegen die heiligen Güter nicht auf, für die wir sie hingeben, für die wir streiten und siegen müssen […] Gott und unser fester Wille werden unserer gerechten Sache den Sieg verleihen, mit ihm einen sicheren glorreichen Frieden und die Wiederkehr einer glücklichen Zeit“8. Die Beschwörung der „heiligen Güter“, von denen hier die Rede war, diente freilich eher einem pragmatischen Zweck: der besonderen Motivation der in den Krieg ziehenden jungen Soldaten, denen hier eine leicht fassbare Sinndeutung ihres Kampfes geliefert werden sollte. Das fünf Monate später von Gentz verfasste und von Metternich inspirierte österreichische Kriegsmanifest glaubte bereits auf derartige Elemente verzichten zu können, lediglich im letzten Satz wurde die sichere Erwartung, man werde „unter dem Beistande des Himmels“9 kämpfen können, deutlich ausgesprochen. Führende Vertreter des damaligen deutschen Geisteslebens  – darunter Größen wie Ernst Moritz Arndt, Friedrich Schleiermacher und Joseph Görres – beteiligten sich dagegen mit wesentlich größerer Intensität und bedeutendem rhetorischen Aufwand an der inneren geistigen Mobilisierung dieser Zeit, und auch hier dominierten explizit und in auffälliger Weise vor allen anderen die religiösen Deutungsmuster10: Der Zweck der soeben mobilisierten Landwehr und des Landsturms, schrieb beispielsweise Arndt im Frühjahr 1813, am Beginn der Kämpfe, bestehe vor allem in der „Bewaffnung des ganzen Volkes zu einem großen und heiligen Kriege, damit Friede und Ruhe ehrenvoll wieder gewonnen wer­ den“11. Ein weiteres aufschlussreiches Beispiel für die religiös bewegte Stimmung am Beginn der Befreiungskriege bietet Schleiermachers berühmte Predigt vom 28. März 1813, in der er die Katastrophe des napoleonischen 8  Aufruf König Friedrich Wilhelms III. von Preußen, 17.  März 1813, in: HansBernd Spies (Hrsg.), Die Erhebung gegen Napoleon 1806–1814/15, Darmstadt 1981, S. 254–255, hier S. 255.  – Verfasser des Aufrufs war der liberal gesinnte Staatsbeamte Theodor Gottlieb von Hippel; vgl. hierzu Thomas Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III. Der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992, S. 372 f. 9  Österreichisches Kriegsmanifest (19.8.1813), abgedruckt in: Spies (Hrsg.), Die Erhebung gegen Napoleon (Anm. 8), S. 308–322, hier S. 322; zur Verfasserschaft und zur Entstehung vgl. Günther Kronenbitter, Wort und Macht. Friedrich Gentz als politischer Schriftsteller, Berlin 1994, S. 192 f. 10  Hierzu und zum Zusammenhang siehe auch Jörn Leonhard, Bellizismus und Nation. Kriegsdeutung und Nationsbestimmung in Europa und den Vereinigten Staaten 1750–1914, München 2008, S. 255–264. 11  Ernst Moritz Arndt, Was bedeutet Landsturm und Landwehr? (1813), in: derselbe, Werke, hrsg. v. Wilhelm Steffens, Bd. 10, Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart 1912, S. 171–186, hier S. 180.



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Heeres in Russland als ein „himmliche[s] unverkennbare[s] Zeichen, welches Gott der Herr“12 gegeben habe, bezeichnete und ausdrücklich den „Durchzug unsers Heeres zum Kampf zum entscheidenden Kampf um das höchste und edelste“ zum Anlass seiner Predigt nahm, damit, wie er hinzufügte, „auch für uns dieser heilige Krieg beginne mit demüthigend erhebenden Gedanken an Gott“13. Schon diese knappen Bemerkungen lassen erkennen, dass hinter den Formulierungen Schleiermachers eine geschichtstheologische und in gewisser Weise auch geschichtsphilosophische Deutung steckt, die auf den ersten Blick nur andeutungsweise zum Ausdruck kommt. Was aber bedeutet es, wenn Gott in Russland mit dem Zusammenbruch und der Flucht der „Grande Armée“ ein für alle Menschen sichtbares und deutbares Zeichen setzt und damit sogar den Beginn eines neuen Krieges zu markieren scheint? Einer solchen Feststellung kann nur die Überzeugung zugrunde liegen, dass Gott Herr der Geschichte ist und, wenn es ihm nötig erscheint, im historischen Geschehen selbst wirksam wird. Das seit Beginn der Revolutionskriege in den 1790er Jahren häufig herangezogene Erklärungsmodell des in die Geschichte eingreifenden, die sündige Menschheit züchtigenden, strafenden Gottes14 wird hier explizit als religiöses Deutungsmuster des beginnenden Befreiungskriegs verwendet. Schleiermacher ist keineswegs der einzige, der 1813 in dieser Weise argumentiert; in einer im Juli 1813 erschienenen anonymen Flugschrift mit dem Titel „Zur politischen Reformation“15 wird ebenfalls zum Krieg, dieser, wie es wörtlich heißt, „heiligen Anstrengung“, aufgerufen; mit Bezug auf den mächtigsten Verbündeten der Deutschen, den russischen Zaren, heißt es hier weiterhin: „Wohl uns, daß ein Alexander mit dem Oelzweige des Friedens an der Spitze mächtiger und siegreicher Heere dahin zieht! Sein Name weckt große Erinnerungen […] Unserm Alexander geht der Engel des Herrn voran, und dieser hält seinen Schild über ihn, denn er fördert die Sache des Ewigen!“16 12  Friedrich Schleiermacher, Sämmtliche Werke, II. Abt., Bd. 4: Predigten, Berlin 1835, S. 37–50, hier S. 37. 13  Ebd., S. 38. 14  Vgl. hierzu die (vom niederländischen Beispiel ausgehenden) Bemerkungen von Horst Carl, „Strafe Gottes“ – Krise und Beharrung religiöser Deutungsmuster in der Niederlage gegen die Französische Revolution, in: Horst Carl/Hans-Henning Kortüm/Dieter Langewiesche/Friedrich Lenger (Hrsg.), Kriegsniederlagen  – Erfahrungen und Erinnerungen, Berlin 2004, S. 279–295, bes. S. 280, 284 u. passim. 15  Abdruck (gekürzt) in: Spies (Hrsg.), Die Erhebung gegen Napoleon (Anm. 8), S. 298–306. 16  Ebd., S. 304.

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Noch stärker in der religiösen Metaphorik bewegt sich Görres, der im März 1814 im „Rheinischen Merkur“ die offene Abwendung der Deutschen von den Franzosen, denen sie bisher untertan sein mussten, mit dem Auszug des Volkes Israel aus Ägypten vergleicht: Wir „ziehen […] mit Weib und Kind zu unsern Brüdern hin, und Gottes Feuersäule geht vor uns her.“ Was die Franzosen bisher getan, so Görres weiter, „ist Alles schlecht gewesen und nichtswürdig und wurmstichig bis ins innerste Mark hinein und muß ausgerottet werden mit Feuers Gewalt. Darum ist der Krieg gegen sie wirklich ein geheiligter Zug, nur nicht zum gelobten Lande, vielmehr zur Schädelstätte, wo sie alles Gute auf Erden gekreuzigt haben, und mit Recht bezeichnen die Streiter in dieser Sache sich mit dem Kreuzeszeichen“17. Hier erscheint der „Heilige Krieg“ gegen Napoleon als ein neuer Kreuzzug der Christenheit gegen das Böse. Die sich, wie es schien, endlos hinziehenden Friedensverhandlungen in Wien und vor allem die zeitweilige Rückkehr Napoleons während der „Hundert Tage“ im Frühjahr 1815 befeuerten noch einmal die Metaphorik der deutschen Kriegspublizisten: Der „Höllenfürst“ sei „mit einem Male wieder aufgestanden“, schrieb Görres am 9. April 1815 im „Rheinischen Merkur“; es komme nun darauf an, ihn endgültig zu besiegen, auch mit Hilfe des Himmels, der  – wie Görres den „Fürsten und Völkern“ in seinem Artikel zurief – „mit euch streiten“18 werde, für das Gute, gegen das Böse. Und Arndt, der im Mai 1815 ebenfalls noch einmal zum „heiligen Krieg“ aufrief19, nahm sogar Görres’ Metaphern vom neuen Kreuz17  Joseph Görres, Die Verhältnisse der Rhein-Länder zu Frankreich (Rheinischer Merkur, 11.–19.3.1813), in: derselbe, Rheinischer Merkur, ausgewählt u. eingeleitet v. Arno Duch, München 1921, S. 19–29, hier S. 28, 29.  – Zur politischen Publizistik von Görres in den Jahren der Befreiungskriege siehe jetzt auch Monika Fink-Lang, Joseph Görres. Die Biografie, Paderborn/München/Wien/Zürich 2013, S.  145 ff. 18  Joseph Görres, Napoleons neue Politik (Rheinischer Merkur, 9.4.1815), in: Spies (Hrsg.), Die Erhebung gegen Napoleon (Anm. 8), S. 410–413, hier S. 412, 413. 19  Arndt, Was bedeutet Landsturm und Landwehr? (Anm. 11), Nachwort zur 2. Aufl. (datiert 18.5.1815), S. 184: „Dieser Krieg, der jetzt beginnt, ist ein heiliger und gerechter Krieg für die Religion, für die Freiheit und Ordnung der Welt gegen die Verruchtheit, Tyrannei und Gewalt; es ist ein Krieg der ehrenvollen und edlen Völker gegen eine Schar von treulosen und verbrecherischen Bösewichtern, welche gern wieder die Welt umkehren und alle Länder mit Brandstätten und Leichen füllen möchten, wie sie beinahe in die zwanzig Jahre getan haben. Denn wenn Bonaparten und den Hunderttausenden, welche ihn wiedergerufen haben, und welchen nichts als Lug und Trug und Raub und Gewalt gefällt, der Sieg gelänge, so würde das geschehen, was viele gute und fromme Menschen vor drei Jahren noch fürchteten: alle Treue und Gerechtigkeit und Gottesfurcht würde von der Erde verschwinden, und ein schändliches Gesindel von Tyrannen und Sklaven würde in der Welt übrigbleiben“.



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zug und vom Höllenfürsten auf, wenn er im Mai 1815 schrieb: „Die Hölle hat ihre Thore wieder gesprengt und der Erzteufel mit allen Teufeln haben sich zum zweiten Mal über Gottes schöne Erde ergossen, […] und alles wieder in Trug, Verrath und Blut zu verwirren. […] Auf! und vertilgt, was mit dem Schwerdte in der Hand nahet! denn es ist das Reich Satans, es ist die gegen Recht und Freiheit verschworne Rotte, welche gegen das Reich Gottes in den Kampf zieht Auf! ihr gesegneten und gerechten Krieger! auf mit dem heiligen Zeichen des Kreuzes! und zerschlagt sie, und zermalmt sie, und vernichtet sie, daß auch keine Spur von ihnen bleibe auf Erden! […] ehe diese Brut der Hölle vertilgt ist, kann Europa, kann Teutschland, kann Frankreich keine Ruhe haben“20. Die Zeugnisse dieser Art einer stark religiös überhöhten Kriegsmetaphorik, die zum heiligen Krieg, ja zum Kreuzzug des Guten gegen das Böse, gegen den in der Gestalt Napoleons verkörperten Höllenfürsten, den „Antichristen“ aufrufen, ließen sich beliebig vermehren21. In ihnen spiegeln sich zuerst einmal die Versuche prominenter Zeitgenossen, den in den Kampf ziehenden Soldaten eine in der Sache klar und einfach zu fassende Sinndeutung des Krieges und damit eine überzeugende Legitimation ihres Handelns zu vermitteln. Natürlich ging es ebenfalls um Vaterland und Freiheit, aber die religiöse Kriegslegitimation bedeutete noch etwas Weiteres, weil sie das ungeheure Geschehen jener Tage in den festen Rahmen damals noch nicht generell in Frage gestellter, weitgehend vorherrschender christlicher Weltbilder und Weltdeutungen, vor allem der ein­ fachen Menschen, hineinstellte und auf diese Weise derart fest verortete, dass eigentlich kein wirklicher Zweifel am Zweck, am Sinn und an der moralischen Richtigkeit dieses Kampfes aufkommen konnte. Aber es steckte bei näherem Hinsehen dennoch mehr dahinter als bloße, auf den konkreten Anlass berechnete und in ihrer gedanklichen Struktur eigentlich recht simple Kriegspropaganda mit der relativ durchsichtigen Zwecksetzung einer geistigen Mobilisierung und politisch-religiösen Motivierung der Kämpfenden. Denn eben diese religiöse Legitimation des soeben anbrechenden Kampfes verwies, wenn man sie genau durchdachte, auf eine geschichtstheologisch angelegte Deutung der Gesamtepoche vor dem Hintergrund der durch die Französische Revolution verursachten und eingeleiteten säkularen Umbrüche. 20  Ernst Moritz Arndt, Das Wort von 1815 über die Franzosen, in: Spies (Hrsg.), Die Erhebung gegen Napoleon (Anm. 8), S. 418–427, hier S. 421. 21  Vgl. hierzu auch Erich Pelzer, Die Wiedergeburt Deutschlands 1813 und die Dämonisierung Napoleons, in: „Gott mit uns“  – Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, hrsg. v. Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann, Göttingen 2000, S. 135–156.

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Vor allem darf man eines in diesem Zusammenhang nicht vergessen: nämlich den Anspruch des radikalen Flügels der französischen Revolu­ tionäre, mit der 1789 ausgebrochenen Revolution in Frankreich eine globale, eine universale Wende, einen Neubeginn der gesamten Weltgeschichte eingeleitet zu haben. Hierfür gibt es nicht nur zahlreiche Zeugnisse und Belege aus der politischen Rhetorik der Träger der Revolution vor allem während der Jahre 1793 und 179422, sondern dieser Anspruch zeigt sich ebenfalls in der Einführung einer neuen Zeitrechnung und eines neuen Wochen- und Jahreskalenders sowie in dem Versuch einer Beseitigung des Christentums und der Einführung einer neuen, säkularen, genuin „revolutionären Religion“ mit dem „Kult des Höchsten Wesens“23. Die radikalen Revolutionäre glaubten, wie Tocqueville später sagen sollte, vor allem an sich selbst und an die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen; ihre Überzeugungen und Leidenschaften wurden für sie am Ende zu einer Art neuer Religion („une sorte de religion nouvelle“), die ihr politisches Handeln bestimmte24. Aus christlicher Perspektive gesehen, mussten diese Anstrengungen der Jakobiner und des radikalen Flügels der Revolution als geradezu vom Teufel selbst inspirierte Versuche angesehen werden, die göttliche Ordnung in ihren Fundamenten zu erschüttern, mit dem Endziel, sie im Ganzen zu zerstören. Im Rahmen dieser Gegenperspektive konnte auch Napoleon  – obwohl er bekanntlich die revolutionäre Zeitrechnung bald abschaffte und die bereits als Kult erneut zugelassene christliche Reli­ gion als solche fortan keineswegs mehr in Frage stellte – letztlich vielen Betrachtern doch nur als Fortsetzer des 1789 begonnenen gigantischen Zerstörungswerks gelten. Denn Napoleon instrumentalisierte nicht nur, wie jeder aufmerksame Zeitgenosse mühelos erkennen konnte, die Kirche zu den Zwecken seiner Politik, sondern er bekannte sich auch nach der Annahme des Kaisertitels stets ausdrücklich zu den Zielen der Revolution, als deren Erbe und Vollender er sich selbst stets angesehen und bezeichnet hat25.

22  Siehe hierzu (auch mit weiteren Nachweisen) Kraus, Freiheitskriege als Heilige Kriege (Anm. 7), S. 197 ff. 23  Hierzu aufschlussreich: Mona Ozouf, Revolutionäre Religion, in: François Furet/Mona Ozouf (Hrsg.), Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1988, S. 833–849. 24  Alexis de Tocqueville, Oeuvres Complètes, ed. J[acob]-P[eter] Mayer, Bd. II: L’Ancien Régime et la Révolution, Paris 1952, S. 207 f.; das Zitat S. 208. 25  Vgl. etwa Jean Tulard, Napoleon oder der Mythos des Retters, Tübingen 1978, S. 191; Louis Madelin, Royalismus und Revolution, Basel 1938, S. 206.



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III. Doch erst nach dem zweiten und nunmehr dauerhaften Ende der napoleonischen Herrschaft, dem Abschluss des Wiener Kongresses und dem Beginn der Restauration war es politisch und geistesgeschichtlich möglich, die vorangegangene Revolutions- und Kriegszeit als eine in sich vollendete, d. h. abgeschlossene historische Epoche zu betrachten und zu deuten. Einige dieser nunmehr retrospektiven Deutungen aus explizit revolutionsgegnerischer Perspektive berührten sich aufs Engste mit der religiösen Legitimation und Sinndeutung der Befreiungskriege26. Die wohl radikalste und in ihrer Art konsequenteste Version dieser Art Epochendeutung vertrat der bekannteste und einflussreichste Denker des französischen politischen Traditionalismus, Joseph de Maistre. Bereits in seiner Kritik der Revolution in den 1796 erschienenen „Consi­ dérations sur la France“ hatte er die These entwickelt, dass Frankreich für die begangene Sünden der Revolution und der ihr vorangegangenen Aufklärung werde büßen müssen27, und in seinen Spätschriften nach seiner Rückkehr aus der langjährigen, in Russland verbrachten Emigration baute er dieses Geschichtsbild einer „répudiation du XVIIIe siècle“28 noch weiter aus: Er fasst die von ihm als genuine Abwendung von Gott interpretierte Aufklärung und die Revolution als ein einziges sündhaftes Geschehen zusammen  – beruhend auf einer „fundamentalen Verirrung der menschlichen Vernunft, einem Abfall der Kreatur vom Schöpfer“29 –, das am Ende von Gott schwer bestraft wird. Und der Krieg, damit letzten Endes auch der Befreiungskrieg Europas von der Herrschaft Napoleons, erscheint in dieser Hinsicht (auch wenn de Maistre diesen Begriff nicht explizit verwendet) als „heiliger Krieg“, weil er vom strafenden Gott verhängt wird. 26  Vgl. Jörn Leonhard, „Eine Art von Convulsion bis ins Innerste“  – Europäische Revolutionskonzepte und ihre Alternativen im langen 19. Jahrhundert, in: Klaus Ries (Hrsg.), Romantik und Revolution. Zum politischen Reformpotential einer unpolitischen Bewegung, Heidelberg 2012, S. 83–103, hier S. 90 ff.; HansChristof Kraus, Korporative Libertät und staatliche Ordnung. Zum konservativen Ordnungsdenken im Zeitalter der Revolution 1789–1850, in: Michael Großheim/ Hans Jörg Hennecke (Hrsg.): Staat und Ordnung im konservativen Denken, Baden-Baden 2013, S. 16–40, hier S. 22 ff. 27  Vgl. Joseph de Maistre, Considérations sur la France (1796), in: derselbe, Oeuvres completes, nouvelle edition, Lyon 1884, Bd. 1, S. 1–184, hier S. 52 ff. u. a. 28  Jean-Jacques Oechslin, Le mouvement ultra-royaliste sous la restauration. Son idéologie et son action politique (1814–1830), Paris 1960, S. 11, vgl. auch S. 24 ff. 29  Peter Richard Rohden, Joseph de Maistre als politischer Theoretiker. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Staatsgedankens in Frankreich, München 1929, S. 138.

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In de Maistres spätem Hauptwerk, den 1821 erschienenen „Soirées de St. Pétersbourg“30 wird genau dieser Gedanke explizit ausgeführt und begründet: Der Fluch seiner bösen Tat müsse, heißt es hier, „den Menschen […] mehr direkt und sichtbar treffen: wie die Sonne umzieht der Würgeengel (l’ange exterminateur) diesen unglücklichen Erdball, und läßt eine Nation nur ausruhen, um andere zu schlagen. Haben aber die Verbrechen, und besonders die Verbrechen einer gewissen Art, sich bis zu einem vorbezeichneten Grade gehäuft, dann beschleunigt der Engel seinen unermüdlichen Flug über alle Maßen. […] Er schlägt in ein und demselben Augenblicke alle Völker der Erde; ein andermal wirft er sich, als Vollstrecker einer genau angemessenen und unfehlbaren Rache auf gewisse Nationen und badet sie im Blute“31. Aus eben diesem Grund könne, wie de Maistre wenige Seiten später bemerkt, ein Krieg „göttlich“32 sein  – eben als gerechte Strafe Gottes zur Züchtigung der sündhaften Menschen oder eines einzelnen sündhaften Volkes; der Soldat in einem solchen heiligen oder göttlichen Krieg wird hierdurch zu nichts Geringerem als zu einem „Exekutor Gottes“, ja sogar – in einem weiteren Sinne – zum „Organ der göttlichen Welterziehung“33. Auch in Deutschland ist in den Jahren nach 1815 eine sehr ähnliche geschichtstheologische Gesamtinterpretation des Revolutionszeitalters vertreten worden, nicht selten im direkten Anschluss an eine sakralisierende Deutung der Befreiungskriege, deren umfassende Begründung hiermit gewissermaßen nachgeliefert wurde. So wiederum von Joseph Görres: „Die Revolution“, stellt er 1819 fest, „war ein großes Gottesgericht, in jenem Lande abgehalten, um erst an ihm und dann an der übrigen Welt vieljährige Schande und Uebelthat zu strafen, und eine Blutschuld, die mit den Zinsen und dem Erwerbe jener Generation vermehrt, von Geschlecht zu Geschlecht furchtbar wachsend fortgegangen, endlich auszulösen“34. Gemeint waren hiermit, wie bei de Maistre, die geistige Bewegung der Aufklärung und die Verfehlungen des vorrevolutionären 30  Enthalten

in: de Maistre, Oeuvres complètes (Anm. 27), Bde. 4–5. zitiert nach der deutschen Ausgabe: Joseph de Maistre, Die Abende von St. Petersburg oder Gespräche über das zeitliche Walten der Vorsehung, hrsg. v. Jean-Jacques Langendorf/Peter Weiß (dt. v. Moritz Lieber), Wien/Leipzig 2008, S. 312; das frz. Original in: de Maistre, Oeuvres complètes, Bd. 5 (Anm. 27), S. 25 f. 32  de Maistre, Die Abende (Anm. 31), S. 314; derselbe, Oeuvres complètes, Bd. 5 (Anm. 27), S. 26. 33  Wilhelm Schmidt-Biggemann, Politische Theologie der Gegenaufklärung: Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader, Berlin 2004, S. 71. 34  Joseph Görres, Teutschland und die Revolution (1819), in: derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. 13: Politische Schriften (1817–1822), hrsg. v. Günther Wohlers, Köln 1929, S. 35–143, hier S. 61. 31  Hier



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späten Ancien Régime, die im Revolutions- und Kriegszeitalter ihre von Gott verhängte Bestrafung und Sühne erfahren mussten. Zwar ohne direkte Berufung auf Görres, wohl aber auf de Maistre hat im deutschen Sprach- und Kulturbereich ebenfalls Friedrich Schlegel, der „romantische Konvertit“, in seinen 1828 in Wien gehaltenen und bald publizierten Vorlesungen über die „Philosophie der Geschichte“ genau diese Deutungen des 18. Jahrhunderts und des Revolutionszeitalters fortgeführt: Während der Zeit der Infektion ganz Europas durch die „Revolutionskrankheit“ sei „Frankreich der Hauptmittelpunkt und allgemeine Feuerherd der Zerstörung“ geblieben, auch noch und gerade nachdem „die ganze Gewalt der Revolution sich in der Person eines Mannes konzentriert hatte.“ Insofern sei, so Schlegel weiter, die Auseinandersetzung mit dem revolutionären Frankreich als „ein 21 Jahre fortwährender Religionskrieg“ aufzufassen, der dann wiederum 1815 in Wien „nur durch einen neuen, großen, europäischen Religionsfrieden geschlossen wer­ den“35 konnte.  – Das Deutungsmuster des „Heiligen Krieges“ wird von Schlegel hiermit auf das gesamte Zeitalter ausgeweitet; die eigentlichen Befreiungskriege und der anschließende Wiener Frieden erscheinen damit lediglich als Schlussakt einer mehr als zwei Jahrzehnte dauernden, hier als „Religionskrieg“ sakralisierten Katastrophenepoche. Diese religiösen, hier geschichtsphilosophisch untermauerten Deutungsmuster der Ära zwischen 1789 und 1815 – darüber hinaus auch des 18. Jahrhunderts insgesamt  – haben im katholischen Deutschland lange fortgewirkt, nicht zuletzt durch die – dank des Einsatzes von Moritz Lieber und Carl Joseph Windischmann weit verbreiteten – deutschen Übersetzungen der Schriften de Maistres36 und ebenfalls infolge der spätestens seit Ende der 1820er Jahre stark anwachsenden Autorität Joseph Görres’ und seines Münchner Kreises37. Im protestantischen Deutschland entwickelte sich die retrospektive Deutung der Befreiungskriege in eine etwas andere Richtung, wenngleich auch hier bestimmte religiöse und sakralisierende Denkmuster noch sehr lange fortwirkten. Hier hatte kein anderer als Hegel die Richtung vorgegeben, wenn er am Ende seiner in den Jahren 1822/23 und noch einmal 35  Alle Zitate: Friedrich Schlegel, Philosophie der Geschichte. In achtzehn Vorlesungen gehalten in Wien im Jahre 1828, in: derselbe, Kritische Ausgabe, Bd. 9, hrsg. v. Jean-Jacques Anstett, München/Paderborn/Wien 1971, S. 403 f. 36  Vgl. hierzu und zum geistesgeschichtlichen Zusammenhang auch die wichtige Studie von Matthias Klug, Rückwendung zum Mittelalter? Geschichtsbilder und historische Argumentation im politischen Katholizismus des Vormärz, Paderborn/München/Wien/Zürich 1995, bes. S. 133 f. u. passim. 37  Hierzu Fink-Lang, Joseph Görres (Anm. 17), S. 223 ff. u. passim.

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1830 gehaltenen „Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte“ ausführte, es habe dem Genie Napoleon Ehre gemacht, „daß er würdige Feinde nicht fand, sondern sie sich erst erzeugte und so seinen Fall selbst vorbereitete. Die Individualität und die Gesinnung der Völker, d. h. ihre religiöse und die ihrer Nationalität, hat endlich diesen Koloß gestürzt“38. Diese Bemerkung ist in geistesgeschichtlicher Hinsicht auch deshalb so bedeutsam, weil hier erstmals in zusammenfassender Betrachtung das religiöse und das nationale Moment in eins gesetzt werden: Die Befreiungskriege waren eben auch – das ist der Kern der Aussage Hegels – Nationalkriege, die sich religiös legitimierten. Jedenfalls blieb auch im protestantischen Deutschland eine sakralisierende Sinndeutung der Befreiungskriege noch lange erhalten, nachzuweisen etwa in dem populären, erstmals zum 50. Jubiläum der Befreiungskriege im Jahr 1864 erschienenen und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder neu aufgelegten Werk des aus dem Pietismus kommenden evangelischen Theologen, Schriftstellers und späteren Berliner Hofpredigers Wilhelm Baur mit dem Titel „Geschichts- und Lebensbilder aus der Erneuerung des religiösen Lebens in den deutschen Befreiungskriegen“. Schon in der umfassenden Einleitung dieses bereits in der ersten Ausgabe mehr als eintausend Druckseiten umfassenden Werkes39 wird die religiös-theologische Geschichtsdeutung klar markiert: Die „Betrachtung der deutschen Befreiungskriege“ zeige nur allzu deutlich, dass „in der religiösen Zerfahrenheit unsers Volks eine hauptsäch­ liche Ursache seines Falls, in der religiösen Zusammenraffung eine wesentliche Bedingung seiner Wiedererhebung“40 gelegen habe. Bei Baur taucht  – ein halbes Jahrhundert nach dem Ende der Befreiungskriege – noch einmal das gesamte Arsenal der um 1813/14 gängigen 38  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hrsg. v. Georg Lasson, Hamburg 1976, S. 931; etwas anders noch in der von Hegels Schülern bald nach dem Tod des Philosophen edierten Version: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sämtliche Werke, hrsg. v. Hermann Glockner, Bd. 11: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1928, S. 562: „Keine größeren Siege sind je gesiegt, keine genievolleren Züge je ausgeführt worden; aber auch nie ist die Ohnmacht des Sieges in einem helleren Lichte erschienen, als damals. Die Gesinnung der Völker, d. h. ihre religiöse und die ihrer Nationalität hat endlich diesen Koloß gestürzt […]“. 39  Wilhelm Baur, Geschichts- und Lebensbilder aus der Erneuerung des religiösen Lebens in den deutschen Befreiungskriegen, Bde. 1–2, Hamburg 1864, hier Bd. 1, V–XXIII (Einleitung); siehe zum politischen und historiographiegeschichtlichen Kontext dieses Werkes auch Martin Nissen, Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848–1900), Köln/Weimar/ Wien 2009, S. 253 f. 40  Baur, Geschichts- und Lebensbilder (Anm. 39), Bd. 1, XII.



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politischen Sakralisierungsformen auf: Napoleon wird ein weiteres Mal zum „Typus des Bösen“, ja zum „Dämon“41 stilisiert, den die „göttliche Weltregierung […] zwar als Gottesgeißel in ihren Plan aufnehmen“ konnte, „aber nur um ihn, nachdem er zur Züchtigung der Völker gedient, wegzuwerfen“42. Bereits das „Gottesgericht in Rußland“43 habe „eine gewaltige Wirkung auf das religiöse Leben der Völker“ ausgeübt, weil hier „eine Offenbarung, ein Wunder Gottes“ geschehen sei. Gott habe dem deutschen Volk auf diese Weise erst „die Kräfte […], die es noch hatte“, gezeigt und es schließlich auf den Weg der Befreiung geleitet: „Nicht die Menschen zogen voran im Streit und Gott kam helfend nach. Der helfende Gott zog voran und Schritt für Schritt folgte Deutschland seinen Fußstapfen“  – eine Formulierung, die an die von Görres seinerzeit beschriebene, den Deutschen voranschreitende „Feuersäule“ Gottes erinnert44! Nimmt man allerdings im Vergleich zu dieser stark religiös inspirierten populären Geschichtsschreibung die wissenschaftliche Historiographie seit den 1840er Jahren in den Blick, dann wird schnell ersichtlich, dass die sakralisierende Deutung der Befreiungskriege hier ausdrücklich nicht mehr übernommen wird. Bei einigen prominenten Autoren bleiben selbst die zeitgenössischen religiösen und im engeren Sinne politischtheologischen Sinndeutungen der Jahre um 1815 unerwähnt, so etwa bei Ranke und Droysen, die immerhin noch über eigene Kindheits- und Jugenderinnerungen an diese Zeit verfügen mussten45. Andere wiederum erwähnen wenigstens jene zeitgenössischen Selbstdeutungen, auch wenn sie sich hiervon im allgemeinen rasch distanzieren: Friedrich Bülau bemerkt in seiner 1842 erschienenen „Geschichte Deutschlands von 1806– 1830“, dass viele der damals lebenden Deutschen 1813 zwar für „die große heilige Sache“ in den Krieg gezogen seien  – um jene Empfindung ­jedoch anschließend sogleich als „Farbe und Stimmung“ zu identifizieren, die letztlich nur von „mittelalterlich-schwärmerischen […] Phantas­ tereien“46 geprägt gewesen sei.

41  Ebd.,

Bd. 1, S. 375. Bd. 1, S. 405. 43  Die Zitate: ebd., Bd. 1, S. 417, 431 f. 44  Siehe oben, Anm. 17. 45  Vgl. Leopold von Ranke, Aus Werk und Nachlass, hrsg. v. Walther Peter Fuchs/Theodor Schieder, Bd. 2: Über die Epochen der Neueren Geschichte, München  – Wien 1971, S. 434 f.; Johann Gustav Droysen, Vorlesungen über die Freiheitskriege, Bd. 2, Kiel 1846, S. 580–713. 46  Friedrich Bülau, Geschichte Deutschlands von 1806–1830, Hamburg 1842, S.  176 f. 42  Ebd.,

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Ähnlich (wenn auch im Ton etwas freundlicher) stellt Ludwig Häusser im 1857 erschienenen vierten Band seiner vielgelesenen „Deutschen Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des deutschen Bundes“ jene Zeit dar: Die Befreiungskämpfer seien religiös bewegt gewesen und gelegentlich sogar „aus der Predigt und vom Genuß des Abendmahls […] in den ‚heiligen‘ Krieg“47 gezogen. Freilich setzt Häusser das Adjektiv „heilig“ bereits in distanzierende Anführungszeichen, um damit deutlich zu machen, dass es sich hier um eine Beschreibung damaliger Empfindungen, nicht jedoch um seine eigene Deutung dieser historischen Vorgänge handelt. Dem entspricht ebenfalls, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, Gustav Freytags Darstellung im 1874 erschienenen letzten Band seiner populären „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“: „In Manchen“, jedoch „nicht in der Mehrzahl“, sei, bemerkt Freytag hier, „ein Zug von schwärmerischer Frömmigkeit“ gewesen; diese jedoch hätten sich nicht als bloße „Soldaten“, sondern als „Krieger“ empfunden, die in einem „heiligen Kriege“48 für die Sache des Guten und gegen das Böse gefochten hätten. Immerhin blieb sogar in Frankreich die Erinnerung daran lebendig, dass der Kriegsgegner von 1813 den Befreiungskampf gegen den „Empereur“ und damit auch gegen den Machtanspruch der eigenen Nation als etwas Erhabenes und Heiliges empfunden hatte. Kein geringerer als Ernest Renan, eine Schlüsselfigur der französischen Geistesgeschichte in der Mitte des 19. Jahrhunderts, bemerkte in einem 1857 publizierten Text, der Krieg der Jahre 1813 bis 1815 sei wohl der einzige des 19. Jahrhunderts gewesen, den „etwas Episches und Erhabenes“ ausgezeichnet habe: Denn der Krieg habe einer „ideellen Bewegung“ entsprochen und über eine wahrhafte geistige Bedeutung verfügt. „Ein Mann, der an diesem grandiosen Kampf teilnahm, erzählte mir, dass er, aufgeweckt durch das Geschützfeuer in der ersten, bei den Freikorps in Schlesien verbrachten Nacht, einem ungeheuer großen Gottesdienst beizuwohnen glaub­ te“49.

47  Ludwig Häusser, Deutsche Geschichte vom Tode Friedrichs des Großen bis zur Gründung des Deutschen Bundes, 4. Aufl., Bd. 4, Berlin 1869, S. 50. 48  Gustav Freytag, Gesammelte Werke, 3. Aufl., Bd. 21: Bilder aus der deutschen Vergangenheit IV, Leipzig 1911, S. 417. 49  Ernest Renan, M.  Augustin Thierry (1857), in: derselbe, Œuvres complètes, hrsg. v. Henriette Psichari, Bd. 2, Paris o. J. (1948), S. 86–108, hier S. 94: „La guerre de 1813 à 1815 est la seule de notre siècle qui ait eu quelque chose d’épique et d’élevé. Les autres campagnes de l’Empire n’offrent guère qu’un exercice de pure stratégie, dénué d’intérêt; celle dont je parle, au contraire, correspondit à un mouvement d’idées et eut une vraie signification intellectuelle. Un homme qui prit part à cette lutte grandiose me racontait que, reveille par la cannonade, dès la



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Der wohl letzte deutsche Historiker, der den Begriff des „heiligen Krieges“ noch einmal aufnahm, ja ihn in seine eigene Gesamtdeutung des antinapoleonischen Kampfes integrierte – wenn auch nicht in einem engeren religiösen oder geschichtstheologischen Sinne  –, war Heinrich von Treitschke. Schon den Krieg von 1806 bezeichnete er im 1879 erschienenen ersten Band  seiner „Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert“, als einen „heiligen Krieg“, wenn auch mit der auf den ersten Blick merkwürdigen Begründung, dass durch dessen „schreckliches Mißlingen […] die alte Ordnung des deutschen Lebens völlig vernichtet“50 worden sei – damit also in der Interpretation Treitschkes die Bahn freigemacht habe für die Entwicklung von etwas Neuem und Besserem. Im Beginn des Befreiungskrieges sieht er allerdings „den heiligen Kampf der Notwehr“51 und in seiner weiteren Darstellung betont er ebenfalls mehrfach die (nach seiner Deutung) besonders stark religiös motivierte Stimmung der Befreiungskämpfer; an markanter Stelle heißt es: „Die diesen Kampf mit Bewußtsein führten, fühlten sich auserwählt durch Gottes Gnade, das Reich der Arglist und der ideenlosen Gewalt zu zerstören, einen dauerhaften Frieden zu begründen, der allen Völkern wieder erlauben sollte, nach ihrer eigenen Art, in schönem Wetteifer sich selbst auszuleben“52. Treitschke deutet hier wenigstens an, dass auch nach seiner Auffassung Sieg und Niederlage im Krieg so etwas wie einen Ratschluss Gottes oder wenigstens des Schicksals darstellen, vielleicht sogar ein Gottesgericht; noch in seiner Politikvorlesung bemerkt er ausdrücklich: „bis an das Ende der Geschichte werden die Waffen ihr Recht behalten, und gerade darin liegt die Heiligkeit des Krieges“53. IV. Blickt man zurück und nimmt sowohl einige der zeitgenössischen sakralisierenden Kriegsdeutungen aus den Jahren 1813 bis 1815 als auch anschließend die retrospektiven Zuschreibungen und Interpretationen der Befreiungskriege im Gesamtzusammenhang geschichtstheologischer und geschichtsphilosophischer Deutungsperspektiven der Restaurationspremière nuit qu’il passa parmi les corps francs réunis en Silésie, il crut assister à un immense service divin“. 50  Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Leipzig 1927, Bd. 1, S. 238. 51  Ebd., S. 396. 52  Ebd., S. 426; vgl. auch S. 425. 53  Heinrich von Treitschke, Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, hrsg. v. Max Cornicelius, 5. Aufl., Bd. 1, Leipzig 1922, S. 39.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

zeit sowie der folgenden Jahrzehnte bis zur zweiten Jahrhunderthälfte gemeinsam in den Blick, dann lassen sich einige erste, in manchen Aspekten sicher erst vorläufige, d. h. noch erweiterungsbedürftige Resultate formulieren: 1. Der zeitgenössischen sakralisierenden Kriegsdeutung kam in den Jahren 1813 bis 1815 eine enorme Bedeutung zu, denn sie lieferte nicht nur vielen einzelnen, damals direkt oder indirekt an den Befreiungskämpfen Beteiligten eine eingängige, leicht fassliche und von vielen offenkundig auch als überzeugend empfundene Deutung des Krieges und damit auch eine Motivation für ihr eigenes Handeln als Teilnehmer dieses Kampfes. Wer unter der Führung Gottes für das gute und gegen das böse, dämonische Prinzip zu streiten bereit war, der musste in diesem welthistorischen Konflikt grundsätzlich auf der richtigen Seite stehen. 2. Der Topos des „Heiligen Krieges“ gegen das napoleonische Frankreich gab zugleich  – in weiterer Perspektive  – eine auf den ersten Blick sehr eingängige Zeit- und Epochendeutung der Revolutions- und Kriegs­ ära seit 1789. Wenn es zutraf, dass die europäische Menschheit seit dem Beginn der an allen religiösen Gewissheiten zweifelnden Aufklärung und erst recht mit dem Ausbruch der als „gottlos“ und blasphemisch empfundenen Französischen Revolution in ein Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit des Menschen eingetreten war, dann konnte, ja musste jeder Kampf gegen dieses geschichtliche Verhängnis als etwas „Heiliges“ gelten. 3. Einflussreiche Zeitdeuter der Epoche nach 1815 haben, partiell in explizier Anknüpfung an die sakralisierenden Kriegsdeutungen der ­Befreiungsjahre, hieraus eine eigene Deutung der Gesamtepoche entwickelt, in der die Revolution als Gottesgericht, die von ihr ausgelösten Kriege als „Strafe Gottes“ aufgefasst und in deren Rahmen die gegen Napoleon geführten Kämpfe als genuine „Religionskriege“ zur Wiederherstellung der  – durch Aufklärung und Revolution gewissermaßen unterbrochenen  – „wahren“ Geschichte der Menschheit zu deuten sind. Friedrich Schlegel konnte in diesem Sinne die These vertreten, „alles in den frühern Zeitepochen und Entwicklungsstufen […] Versäumte“ könne und müsse „in der vollendeten und wahren Wiederherstellung nachgeholt werden“, wenn am Ende „die Wahrheit vollständig siegen, und das Christentum wirklich triumphieren soll auf der Erde“54. 54  Alle Zitate: Schlegel, Philosophie der Geschichte (Anm. 35), S. 417. Dem entspricht die Grundthese einer vollständigen Verchristlichung sowohl des Staates als auch der Wissenschaft als Endziel aller menschlichen Bestrebungen in der Geschichte; beides sei zwar „noch nie ganz allgemein und vollkommen geschehen, obwohl viele Jahrhunderte hindurch die christlich gewordene Menschheit, nach



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4. und letztens: Schon bei Hegel ist eine Verbindung von religiöser und nationaler Deutung der Befreiungskriege zu finden, die von späteren deutschen Autoren – vornehmlich im protestantischen Deutschland – bewusst aufgenommen und weiter ausgebaut worden ist. Die religiösen Empfindungen vieler Befreiungskämpfer werden zwar von mehreren Autoren als zeitgenössisches und auch zeitgebundenes Faktum berichtet, jedoch nicht mehr in eine eigene Gesamtdeutung des Krieges mit einbezogen; es dominiert im allgemeinen sehr klar das nationale Motiv, d. h. die Deutung der Befreiungskriege als Beginn des gemeinsamen Kampfes um eine politische Einigung der deutschen Nation. Als Abschluss dieser Entwicklung, in der das religiöse und das nationale Moment gewissermaßen zu einer Einheit zusammengefügt werden kann man Treitschkes Bemerkung (wiederum in seiner Politikvorlesung) verstehen, es sei „ein Trugschluß, daß Kriege geführt werden um des materiellen Daseins willen; […] Es spielt hier das hohe sittliche Gut der nationalen Ehre mit, die von Geschlecht zu Geschlecht überliefert ist, die etwas absolut Heiliges hat und den Einzelnen zwingt sich ihr zu opfern. Dieses Gut steht über allem Preis und läßt sich nicht nach Talern und Groschen abwägen“55.  – Aus dem heiligen Kampf für die göttliche Ordnung und gegen das von Napoleon verkörperte Prinzip des Bösen wird am Ende der heilige Kampf für die eigene Nation. Das Religiöse und das Nationale fließen auf diese Weise untrennbar zusammen. Der 1896 verstorbene Treitschke dürfte einer der letzten Historiker gewesen sein, bei denen eine in dieser Form sakralisierende Betrachtungsweise der Befreiungskriege noch zu finden war. Als 1913 im Deutschen Reich das ganze Jahr über die großen, mit bedeutendem Aufwand inszenierten Jahrhundertfeiern des Beginns der Befreiungskriege abgehalten wurden56, spielte der „Heilige Krieg“ längst keine Rolle mehr; das natio­ nale Deutungsmuster hatte sich jetzt endgültig durchgesetzt  – in einer Zeit, in der bereits die ersten Anzeichen des nächsten großen Krieges in Europa sich drohend am Horizont abzuzeichnen begannen.

dem einen oder dem andern Ziele gerungen hat, und dieser Kampf und das innere Ringen dieser geistigen Entwicklung, eben den Inhalt der neuen Geschichte bildet“. Aus diesem Grund aber bestehe die nächste und wichtigste Aufgabe in der „weitere[n] Entwicklung des christlichen Staats und der katholischen Staatsgrundsätze […] im Gegensatz gegen den bisher so ausschließend herrschenden revolutionären Zeitgeist und das antichristliche Staatsprinzip“ (ebd., S. 418 f.). 55  Treitschke, Politik (Anm. 53), Bd. 1, S. 24. 56  Vgl. Wolfram Siemann, Krieg und Frieden in historischen Gedenkfeiern des Jahres 1913, in: Dieter Düding/Peter Friedemann/Paul München (Hrsg.), Öffent­ liche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 298–320.

Jacob Grimm – Wissenschaft und Politik I. Wer heute den Namen Jacob Grimm hört, denkt im Allgemeinen weniger an Politik, sondern vielmehr an die berühmte Sammlung der „Kinder- und Hausmärchen“, an das „Deutsche Wörterbuch“ und vielleicht noch an die „Göttinger Sieben“. Nur noch der Kenner weiß, in welch hohem Maße dieser große Gelehrte – einer der Begründer der Wissenschaft von deutscher Sprache und Literatur  – zugleich ein homo politicus im höchsten Sinne dieses Begriffs gewesen ist, eine Persönlichkeit, die seit frühester Jugend nicht nur ein besonders ausgeprägtes Interesse an allen politischen Dingen besessen hat, sondern sich sogar selbst, wenn auch nur ein einziges Mal und nicht für längere Zeit, politisch betätigt hat. Das hängt natürlich zuerst und vor allem mit der Zeit zusammen, in der Grimm aufwuchs  – eine Epoche größter politischer Veränderungen und Umbrüche. Geboren noch in der Welt des Ancien Régime, vier Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution, hat er die großen politischen Ereignisse in Europa etwa seit dem Frieden von Basel aus dem Jahre 1795 über den Reichsdeputationshauptschluss von 1803, die Niederlage von 1806 und das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Na­ tion, die Entstehung und Entwicklung des Rheinbundes, bis hin zu den Befreiungskriegen gegen Napoleon und zum Wiener Kongress, bewusst und aufmerksam miterlebt. Die Erfahrungen dieser Zeit haben ihn einfür allemal geprägt und sein späteres politisches Bewusstsein, nicht zuletzt seinen leidenschaftlichen Patriotismus, präformiert und in den zentralen Inhalten bestimmt. Doch noch etwas anderes kommt hinzu: Der große klassische Philologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff deutete es an, als er 1910 in einer Rede zum einhundertjährigen Bestehen der Berliner Universität ausführte: „Den Typus des deutschen Gelehrten wird für uns keiner so rein darstellen, als Jacob Grimm, und ihn recht fassen, reicht die Bezeichnung als Deutscher gar nicht hin, Hesse muß man sagen“1. Hiermit verwies Wilamowitz auf die landsmannschaftlichen Wurzeln, die für Jacob Grimms

1  Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen Leipzig 1928, S. 320.

1848–1914, 2.  Aufl.



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ganzes Leben bestimmend waren. In Hessen also, in der kleinen Stadt Hanau, wurde Jacob Grimm am 4. Januar 1785 als Sohn eines Amtmannes geboren. „Liebe zum Vaterland“  – zum „kleinen Vaterland“ Hessen natürlich –, so erinnerte er sich später, „war uns, ich weiß nicht wie, tief eingeprägt, denn gesprochen wurde eben auch nicht davon, aber es war bei den Aeltern nie etwas vor, aus dem eine andere Gesinnung hervorgeleuchtet hätte; wir hielten unsern Fürsten für den besten, den es geben könnte, unser Land für das gesegnetste unter allen“2. Was seinen späteren Beruf als Wissenschaftler anbetrifft, so war ihm dieser Weg durchaus noch nicht vorgezeichnet, obwohl er von sich sagte: „Ich hatte von Jugend auf eine ungeduldige, anhaltende Lernbegierde“3 und an anderer Stelle bemerkte: „von kindesbeinen an hatte ich etwas von eisernem Fleisze in mir“4. Der spätere Begründer der germanischen Philologie, der universale Kulturhistoriker, der er einmal werden sollte, kündigte sich noch nicht an, als er zwischen 1802 und 1805 in Marburg Rechtswissenschaft studierte. Hier war er Schüler des nur wenige Jahre älteren Friedrich Carl von Savigny, der dem empfänglichen jungen Studenten einen außerordentlichen Eindruck machte. Jacob Grimms Verehrung für seinen Lehrer, dessen wissenschaftlichen Grundüberzeugungen er sein Leben lang verpflichtet blieb, hielt bis zum Tode Savignys an, obwohl sich beider politische Überzeugungen später unterschiedlich entwickeln sollten. Nachdem der junge Jacob Grimm 1805 seinen Lehrer auf einer Stu­ dienreise nach Paris begleitet hatte, trat er 1806 ohne Studienabschluss als Beamter in das Kriegskollegium zu Kassel ein, um seine verwitwete Mutter und seine minderjährigen Geschwister zu unterstützen5. Von 1808 2  Jacob Grimm, Selbstbiographie (1831), in: derselbe, Selbstbiographie  – Ausgewählte Schriften, Reden und Abhandlungen, hrsg. von Ulrich Wyss, München 1984, S. 23. 3  Ebenda, S. 24. 4  Rede auf Wilhelm Grimm (1860); in: ebenda, S. 71; seit 1820 verwendete Jacob Grimm die konsequente Form der Kleinschreibung nebst einigen anderen Eigenheiten, die ich, obwohl sie sich nicht durchgesetzt haben, hier unverändert lasse. Es war keineswegs ein falsch verstandener Modernismus, der Jacob Grimm zu dieser Maßnahme veranlaßte, sonder eine, wie er meinte, konsequente Wiederaufnahme einer zu unrecht abgebrochenen Tradition: die Kleinschreibung sei, sagte er: „nichts […] als wiederhergestellte naturgemäße schreibweise, der unsere voreltern bis ins fünfzehnte jahrhundert, unsere nachbarn bis auf heute treu bleiben“. (Über das Pedantische in der deutschen Sprache [1847], in: ebenda, S. 143). 5  Zur Biographie Jacob Grimms vgl. Wilhelm Scherer, Jacob Grimm (zuerst 1863/64), 3. Aufl., hrsg. von Sigrid von der Schulenburg, Berlin 1921 (in manchen Einzelheiten überholt, aber wissenschafts- und rezeptionsgeschichtlich bedeutend); Ludwig Denecke: Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm, Stuttgart 1971

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

bis 1813 arbeitete er auf Empfehlung Johannes von Müllers als Hofbibliothekar Jerome Bonapartes, der sich fünf Jahre lang von Bruders Gnaden „König von Westfalen“ nennen durfte. Da es diesem „König“ um alles andere, nur nicht um geistige Bildung zu tun war, suchte der junge Bibliothekar, wie er später bemerken sollte, in dieser „zeit, wo das eintönige grau der schmach über Deutschlands himmel hieng […] trost und labung in der geschichte der deutschen literatur und sprache, es war eine unsichtbare, schirmende waffe gegen den feindlichen übermut, dasz in unscheinbaren aber unentreiszbaren gegenständen vorzüge und eigenheiten verborgen lagen und wieder entdeckt werden konnten, an denen unser bewustsein mit gerechter anerkennung haften durfte. von der grammatik und ihren nicht spärlichen früchten schritt ich vor zu der erforschung einheimischer poesie, sage und sitte.“6 Es sind also primär und vor allem politische Gründe gewesen, die Jacob Grimms Hinwendung zur deutschen Sprache und Kultur bewirkt haben. Das politische und das wissenschaftliche Element gingen im Dasein dieses außerordentlichen Mannes nach 1806 eine untrennbare Verbindung ein, deren Grund in den Jahren der Fremdherrschaft und der Befreiungskriege gelegt wurde, und die für sein gesamtes weiteres Schaffen prägend geworden ist7.

(mit unfassender Bibliographie der älteren Forschungsliteratur); Hermann Gerstner, Brüder Grimm in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1973; eine brauchbare, gut zusammengestellte Textsammlung ist: Wilhelm Schoof (Hrsg.): Jacob Grimm. Aus seinem Leben, Bonn 1961; das Familienleben der Grimms schildert anschaulich und eindrucksvoll der jüngere Maler-Bruder Ludwig Emil Grimm, Erinnerungen aus meinem Leben, hrsg. v. Wilhelm Praesent, Kassel  – Basel 1950, bes. S. 9 ff. u. passim.  – Neueste Gesamtdarstellung: Steffen Martus, Die Brüder Grimm. Eine Biografie, Berlin 2009. 6  Über die Alterthümer des deutschen Rechts (1841); in: Jacob Grimm, Kleine Schriften, Bde. I–VIII, Berlin 1864–1890, hier Bd. VIII, S. 546. 7  Vgl. zu diesem Problemkreis auch Roland Feldmann, Jacob Grimm und die Politik, Kassel o. J. [1970], sowie die knappe Skizze von Karl Otmar Freiherr von Aretin, Die Brüder Grimm und die Politik ihrer Zeit, in: Jacob und Wilhelm Grimm – Vorträge und Ansprachen in den Veranstaltungen der Akademie der Wissenschaften und der Georg-August-Universität in Göttingen anläßlich der 200. Wiederkehr ihrer Geburtstage, am 24., 26. und 28. Juni 1985 in der Aula der Georg-August-Universität Göttingen (Göttinger Universitätsreden, 76), Göttingen 1986, S. 49–66. – Neben den Schriften der Brüder Grimm bieten in erster Linie die Briefe viele Einblicke in ihr politisches Denken. Besonders wichtig in dieser Hinsicht sind der Briefwechsel mit Savigny (unten Anm. 47) und die kürzlich vollständige publizierte Korrespondenz der Brüder mit ihrem politisch tätigen Schwager Hassenpflug: Brüder Grimm, Briefwechsel mit Ludwig Hassenpflug, hrsg. u. bearb. v. Ewald Grothe (Brüder Grimm: Werke und Briefwechsel, Kasseler Ausgabe, Briefe, Bd. 2), Kassel/Berlin 2000.



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Es entspricht schlichtweg nicht den Tatsachen, wenn man später „Genügsamkeit, die Freude an der Armut, das Behagen in traulicher Enge“8 als exemplarische Wesenszüge Jacob Grimms herausstrich, wenn man ihn, wie es sein erster Biograph Wilhelm Scherer getan hat, als einen „kindliche(n) Mann, der kein Politiker war“9, zu charakterisieren suchte, oder sogar – natürlich in bösartig-polemischer Absicht – von ihm sagen zu können glaubte: „Er lebte mit oft großen und oft absurden Gedanken in seiner Kleinwelt, halb seiner Märchenromantik, halb einem hilflosen Biedermeier zugehörig“10  – so der Schriftsteller Walter Boehlich. Ob man nun aus liebenswürdigen oder eher gegenteiligen Motiven Jacob Grimm und seinen Bruder „zu Spitzweg-Figuren idyllisiert“11  – in beiden Fällen kommt dies einer objektiven Verfälschung gleich. Man braucht sich nur die zahlreichen politischen Artikel, Reden und Briefe Jacob Grimms vor Augen zu führen, um das Fehlurteil etwa von Georg Waitz, Jacob Grimm habe „keinen Gefallen in politischen Dingen“12 gehabt, zu widerlegen13. Im November 1813, nachdem der von Napoleon vertriebene Kurfürst nach Kassel zurückgekehrt war, stieg der begabte junge Bibliothekar zum Legationssekretär auf, zog als Begleiter des kurhessischen Gesandten 1814 mit dem Hauptquartier der Alliierten nach Paris und nahm in der gleichen Funktion als junger Diplomat 1815 am Wiener Kongreß teil. Die Farbigkeit und Präzision seiner Berichte über den Fortgang der Verhandlungen14 zeigen überdeutlich, mit welcher Intensität sich der junge Mann damals in das Getriebe der Politik gestürzt hatte; in seinem Nachlaß hat man sogar die scharfsinnige Kritik eines der Projekte für eine deutsche Bundesakte gefunden15. Aber mehr noch als alles andere beweisen seine meisterhaften Charakteristiken der führenden Staatsmänner den ihm eigenen politischen Scharfblick. Als sprechende Beispiele

8  Scherer,

Jacob Grimm (Anm. 5), S. 125. S. 202. 10  Walter Boehlich, Aus dem Zeughaus der Germanistik  – Die Brüder Grimm und der Nationalsozialismus; in: Der Monat, H. 217, Oktober 1966, S. 65. 11  Leo Stern, Der geistige und politische Standort von Jacob Grimm in der deutschen Geschichte (Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Philosophie, Geschichte, Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Jhg. 1963, Nr. 4), Berlin(-Ost) 1963, S. 6. 12  Georg Waitz, Zum Gedächtnis an Jacob Grimm. Gelesen in der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften den 5. Dezember 1863, Göttingen 1863, S. 21. 13  Vgl. auch Feldmann, Jacob Grimm und die Politik (Anm. 7), S. 60 ff. u. passim; Denecke, Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm (Anm. 5), S. 133 ff. 14  Vgl. Grimm, Kleine Schriften (Anm. 6), Bd. VIII, S. 407 ff. 15  Vgl. ebenda, Bd. VIII, S. 415 ff. 9  Ebenda,

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

seien hier nur die Passagen über Humboldt und Stein angeführt: „der minister Humboldt ist gescheidt und viel wissend. manche vermissen das herzliche in seinem wesen, dafür ist ihm viel licht gegeben. von ihm sollen die letzten verfassungspläne ausgehen und er verficht sie sonderlich; auch ist er unter allen am besten geeignet den franzosen auf ihren unterirdischen schleichwegen entgegen zu minieren. der minister Stein steht im eigenen verhältnis zur ganzen versammlung, ausgezeichnet durch die reinheit seines willens für Deutschland und überhaupt seine tüchtige bravheit, er treibt viel gutes, scheint aber zum unglück in vielen hauptplänen ohne den ergreifenden einflusz, der ihm gebührt, weil man allzu frühe vergessen zu haben scheint, welchen geistern man sieg und rettung verdankt, und was man vorher ohne sie geleistet“16. Doch im Ganzen sagten ihm der Kongreß und die dort stattfindenden Verhandlungen wenig zu. Der Länderschacher und die neuen Grenzziehungen innerhalb Deutschlands, die in vielen Einzelfällen althergebrachte Traditionen außer Acht ließen, fanden Jacob Grimms entschiedenes Mißfallen: „Soll denn“, schrieb er in einem Artikel für den von Görres herausgegebenen „Rheinischen Merkur“, „unsere volkwarme, bewegte Zeit und Meinung so mutwillig und frevelhaft hart von denen, die nach der Karte, den Flüssen und Bergen, nicht nach den Herzen Länder machen, angetastet werden? […] Derweil frieren wir […] und zürnen mit Fug und Erlaubnis über das sklavenmäßige Abtreten, Tauschen und Mischen der freien Leute, die wie ein zusammengerührter Brei sich nach und nach erst wieder setzten sollen“17. Vom Kongreßbetrieb, diesem, wie er sagte, „Gewirr von Grobheiten, Welthöflichkeiten, Intrige, Verschlossenheit und Leichtsinn“18, setzte er sich bald ab und verbrachte jede freie Stunde in den Wiener Bibliotheken. Er war froh, als er zu Ende des Jahres 1815 seine diplomatische Tätigkeit beenden und zur wissenschaftlichen Arbeit, zu der er sich zuerst und vor allem berufen fühlte, zurückkehren konnte. Jacob Grimms zunehmender Degout an seiner bisherigen politischen Aktivität hatte zwei Hauptgründe: Zum einen sagte ihm, dem ausgeprägten Romantiker und Verehrer der Vergangenheit, das politische Alltagsgeschäft nicht zu. Kompromisse auf Kosten idealer Vorstellungen und Ideen wollte er selbst nicht verantworten; politisches Taktieren, Intrigen spinnen, auch diplomatische Verstellung – dies alles war nicht seine Welt und entsprach nicht seinen Fähigkeiten. Und zum zweiten war Grimm tief enttäuscht über die ausgebliebene, von ihm nach dem Sieg über Napo­ leon aber sehnlichst erwartete deutsche Einigung, die er sich im Sinne 16  Vom

Congress (Rhein. Merkur 1815), in: ebenda, Bd. VIII, S. 407 ff. Brüder Grimm (Anm. 5) 25 f. 18  Ebenda, 26. 17  Gerstner,



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einer Erneuerung des Alten Reiches erhofft hatte. Dieser Traum war nach dem Ende des Wiener Kongresses allerdings ausgeträumt19. Trotzdem war und blieb er auch in seiner weiteren Laufbahn als Bibliothekar und Gelehrter an allen politischen Dingen brennend interessiert. Obwohl er sich nur noch ein einziges Mal, im Jahre 1848, vom Schreibtisch lösen und in die Arena des politischen Kampfes steigen sollte, verlor er doch niemals die Verbindung zu den politischen Bewegungen seiner Zeit. Noch im hohen Alter verfolgte er, nach der Erinnerung seines Neffen Herman Grimm, „die politischen Dinge […] mit Aufmerksamkeit. Wenn die Zeitung kam, legte er sogleich die Feder nieder und las sie genau durch“20. II. Die „romantische Wendung zur Identität der Deutschen, ihrer Geschichte und ihrer Kultur“, vollzog sich, wie Thomas Nipperdey bemerkt hat, in engstem Zusammenhang mit der „entstehenden nationalen Oppo­ sition“21 gegen die napoleonische Fremdherrschaft, ja sie empfing von dort her erst ihren historischen Stellenwert. Die politische Rückbesinnung auf deutsches Recht und deutsche Freiheit konnte erst dann umfassende Wirkungen entfalten, wenn sie fundiert war durch eine ebenfalls neue Besinnung auf die geistigen und kulturellen Traditionen des deutschen Volkes. Der romantischen Bewegung ist Jacob Grimm voll und ganz zuzurechnen; man hat ihn mit bedeutendem Recht einen „hoch­ karätige(n) Romantiker von reinstem Wasser“22 genannt. Zur Romantik gehört er nicht zuletzt wegen seiner Unterscheidung von Natur- und Kunstpoesie, die man als den konstitutiven Grundgedanken seiner Poetik bezeichnen kann. An Herder anknüpfend23, differenzierte er zwischen  – erstens  – ursprungstreuer, traditionell gebundener, intuitiv hervorgebrachter Naturdichtung, wozu er im Besonderen die großen mittelalterlichen Literaturwerke zählte, und  – zweitens  – losgebundener, selbstherrlicher, individualistischer Kunstdichtung, dem Werk 19  Dazu siehe statt vieler Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866 – Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 272 ff. u. a. 20  Herman Grimm, Essays  – Eine Auswahl, hrsg. v. Rolf Welz, Nürnberg 1964, S. 345. 21  Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866 (Anm. 19), S. 30. 22  Wilhelm Ebel, Jacob Grimm und die deutsche Rechtswissenschaft (Göttinger Universitätsreden 41), Göttingen 1963, S. 26; vgl. auch Scherer, Jacob Grimm (Anm. 5), S. 50, 120 ff.; Paul Kluckhohn, Das Ideengut der deutschen Romantik, 4. Aufl., Tübingen 1961, S. 111 ff. 23  Vgl. Scherer, Jacob Grimm (Anm. 5), S. 41 f.

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einzelner Dichter in erster Linie der neueren und der neuesten Zeit24. Nach Grimms Auffassung lebt allein die Naturpoesie oder Volkspoesie unter dem ganzen Volke, sie ist gewissermaßen aus dem unbewußten Gemüt des Ganzen hervorgetreten, während die Kunstpoesie oder Individual­poesie dem bewußten schöpferischen Tun des Einzelnen entspringt. Seine Präferenz hat Jacob Grimm wohl allzu einseitig der ersteren gegeben. Poesie war für ihn nichts anderes „als lebendige erfassung und durchgreifung des lebens“25 und konnte als solche nur dann wirklich echt sein, sich nur dann durch geistig-seelische Tiefe auszeichnen, wenn sie entstanden war durch einen geheimnisvollen, nicht weiter aufhellbaren, kollektiven Schöpfungsprozess aus den Tiefen des Volksgeistes. In seiner Phantasie fielen „Vorzeit, Sinnlichkeit, Ursprünglichkeit und Reinheit zusammen“26. Und Alfred Baeumler hat vollkommen recht, wenn er „in diesen Begriffen […] die Erkenntnistheorie“27 Grimms verborgen sah – eine eben unverkennbar und unübersehbar romantische Erkenntnistheorie28. Hierzu passt in seiner Sprachtheorie auf das genaueste die treffliche Formulierung von der „macht des schaffenden sprachgeistes, der wie ein nistender vogel wieder von neuem brütet, nachdem ihm die eier weggethan worden; sein unsichtbares walten vernehmen aber dichter und schriftsteller in der begeisterung und bewegung durch ihr gefühl“29. Die Sprache als lebendiges Wesen, das seine Kraft aus sich selbst schöpft als ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens, des Werdens und Vergehens  – dieser Gedanke ist das Ergebnis „einer Betrachtung, die in Sprache, Mythos und Poesie das geheimnisvolle Wehen der Notwendigkeit spürt“30. Mit diesen Worten hat Alfred Baeumler den zentralen Kern der Grimmschen Wissenschaft auf den Begriff gebracht und zugleich die 24  Vgl. Gedanken, wie sich die Sagen zur Poesie und zur Geschichte verhalten (1809); in: Grimm, Kleine Schriften (Anm. 6), Bd. I, S. 400 f. 25  Ebenda, Bd. I, S. 403. 26  Alfred Baeumler, Das mythische Weltalter  – Bachofens romantische Deutung des Altertums (zuerst 1926), München 1965, S. 133. 27  Ebenda. 28  Baeumler hat ebenda, S.  124  ff., besonders klar und überzeugend Jacob Grimms Zugehörigkeit zur Spätromantik herausgearbeitet; zur Nähe Grimms zu Bachofen vgl. ebenda, S. 131 ff., 134 ff. – Ulrich Wyss hat dagegen – aus seiner spezifischen Perspektive durchaus mit Recht  – festgestellt, es sei „gerade die Rationalität des Philologen, die Grimm gegen alle Versuchungen spätromantischer Geschichtsspekulation immunisierte“; Wyss, Einleitung, in: Grimm, Ausgewählte Schriften (Anm. 2), S. 19. 29  Vorrede zum I. Teil  der Deutschen Grammatik (1819); in: Grimm, Kleine Schriften (Anm. 6), Bd. VIII, S. 36. 30  Baeumler, Das mythische Weltalter (Anm. 26), S. 18.



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Perspektive auf den inneren Zusammenhang der deutschen historischen Schule eröffnet, damit auch die zahlreichen Verbindungslinien zwischen der gelehrten Arbeit Grimms, Savignys und Rankes sichtbar gemacht. Genauso wie jene beiden Zeit- und Gesinnungsgenossen hat Grimm stets an der Überzeugung vom organischen Wachstum von Recht, Sprache und Dichtung festgehalten31 und auf dem unhintergehbaren Faktum der Geschichtlichkeit aller Poesie, wie aber auch auf der poetischen Durchwirkung der Geschichte beharrt32. Eine solche Deutung zentraler Phänomene der Wirklichkeit konnte nicht ohne Folgen für das politische Denken bleiben. Die Distanz zum aufgeklärten Rationalismus, also zur Idee, dass der Mensch seine eigene sinnvolle Existenz selbst realisieren und seine politischen und kulturellen Institutionen zuallererst selbst schaffen muss, und zwar nach den Prinzipien der abstrakten Vernunft,  – die Distanz hierzu ist nicht zu übersehen. Die romantisch-historische, auch von Grimm vertretene Auffassung wurzelt in der Grundüberzeugung, dass das Wirkliche, gerade auch im kulturellen und politischen Bereich, nicht nach abstrakten Gesichtspunkten gleichsam mechanisch geschaffen werde, sondern dass es sich – eben als das Leben schlechthin – selbst schaffe, sich in organischer Abfolge verwirkliche. Das bedeutet: Die Wirklichkeit jeder Lebensform ist einmalig und unverwechselbar und kann nur dann angemessen erkannt werden, wenn man sich ihm unmittelbar, d. h. ohne einen (wie auch immer gearteten) normativen Anspruch nähert. In dieser Auffassung offenbart sich in der Tat, wie Erich Rothacker, dem wir die Erkenntnis dieser Zusammenhänge verdanken, richtig festgestellt hat, „ein Absolutheitsmoment alles produktiven Lebens. Seine Leistungen sind zu begreifen und zu messen, das Leben wird ebenso wenig gemessen wie begriffen“33. Verschiebt man diese rein philosophische Perspektive ins Politische, dann lässt sich sagen: Das unvoreingenommene Anerkennen dessen, was ist, der fundamentale Respekt vor dem, was Leben und Geschichte hervorbringen, die Priorität des Seienden vor dem Sein-Sollenden, zeigt die deutliche, nicht zu verkennende Distanz Jacob Grimms zum radikal-aufklärerischen Liberalismus dieser Epoche, der immer

31  Vgl. etwa: Von der Poesie zum Recht (1815); in: Grimm, Kleine Schriften (Anm. 6), Bd. VI, S. 155: „insgesamt ist alles recht, gleich der sage, an seinem ort selbstgewachsen und in der regel unentlich …“ [sic]. 32  Vgl. Grimm, Kleine Schriften (Anm. 6), Bd. I, S. 403 u. a. 33  Erich Rothacker, Savigny, Grimm, Ranke  – Ein Beitrag zur Frage nach dem Zusammenhang der historischen Schule (1923); in: derselbe, Mensch und Geschichte  – Studien zur Anthropologie und Wissenschaftsgeschichte, Bonn 1950, S. 42; vgl. auch ebenda, S. 32 ff.

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noch die im Kern revolutionären Ideen der „Machbarkeit“ neuer politischer Institutionen propagierte. In dem anderen Zentralmotiv seines politischen Denkens und Wollens blieb er indes zeitlebens ein entschiedener Liberaler: in seinem Streben nach Realisierung der Einheit Deutschlands und in seinem keineswegs nur kulturell, sondern eindeutig politisch grundierten Patriotismus. Nur ein Beispiel von vielen möglichen sei hier genannt: Als er sich 1830 bei einer Beförderung in der Kasseler Bibliothek, an der er seit 1816 wieder tätig war, übergangen fühlte, nahm er einen Ruf an die Universität Göttingen an. Am 13. November 1830 hielt er hier, nach der Vorschrift in lateinischer Sprache, seine akademische Antrittsrede mit dem für ihn sehr bezeichnenden Titel „De desiderio patriae“ – das man ruhig wörtlich mit „Über die Vaterlandsliebe“ übersetzten kann34. Von der Heimat und dem Vaterland als Grunderfahrungen es Menschen ist in diesem Text die Rede, und die Hauptthese lautet: Durch nichts anderes werde die Unentbehrlichkeit der Heimat so deutlich erkannt und herausgestellt „wie durch die Gemeinschaftlichkeit der Sprache […] ich behaupte, daß weder ein Volk wirklich blühen kann, das seine Muttersprache vernachlässigt, noch eine Sprache verfeinert werden kann von einem Volke, das seine Freiheit verloren hat“35. Von diesem – in seinem Werk immer wieder variierten – Gedanken einer inneren Parallelität von politischer und sprachlicher Entwicklung ausgehend, richtete Grimm „die Augen auf unser Vaterland […] Es ist ebenso unausbleiblich, daß das ganze Volk, dem es vorher bestimmt ist, seine vornehmsten Teile zu erhalten und sich durch die übrigen weiter zu erheben, nicht nur zu einer gehörigen Gebietsgröße heranwächst, sondern auch die einzelnen Stämme, aus denen es sich zusammensetzt, in einer Familie vereinigt“36. Dazu sei die Zeit wohl noch nicht reif, doch er fügte hinzu: „Die Muttersprache aber, die das festeste Fundament des Staates ist, sollten wir unermüdlich pflegen und verfeinern und nicht daran verzweifeln, daß, so weit und breit sie in Kraft steht, auch Deutschland sich erstreckt. Bei solcher Veränderung und ­Verwirrung der Verhältnisse, bei welcher uns in dieser unserer Zeit ein Übergang aus überlieferten Gewohnheiten in eine ganz neue Ordnung bevorsteht, tut es den Wachenden wie den Schlafenden not, die Liebe zur Heimat rein zu bewahren“37.

34  Früher unverständlicherweise als „Über das Heimweh“ übersetzt, obwohl der Inhalt unzweideutig nichts anderes als die Vaterlandsliebe thematisiert! 35  De desiderio patriae (lat.-dt. Ausg.), hrsg. v. Wilhelm Ebel, Kassel 1967, S. 12. 36  Ebenda, S. 13. 37  Ebenda, S. 17.



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Wie sehr ihn die deutsche Einheit als drängendes Problem und höchstes politisches Ziel auch in den folgenden Jahren bewegte, zeigt eine briefliche Äußerung an den befreundeten Historiker Dahlmann aus dem Jahre 1832. Als dieser seiner Empörung über einige als politisch reaktionär angesehene Beschlüsse des Deutschen Bundes Luft machte, entgegnete Grimm auf unerwartete Weise: ihn selbst, so schrieb er, rühre es geradezu, „endlich einmal wieder von einer allgemeinen deutschen Verfügung zu hören. So sehr bedürfen wir zerrissenes und verwaistes Volk der Empfindung des fortbestehenden Zusammenhanges, daß es uns bewegt noch irgendwo eine Kraft walten und sich um uns kümmern zu sehen. Dieses Bedürfnis gemeinschaftlich regiert zu werden fühlen wir so wesentlich, daß eben die Gemeinschaft uns naturnothwendig das Verlangen gut regiert zu werden fast nur sittlich nothwendig erscheint. Mit dieser Gesinnung habe ich noch weiten Raum für Hofnung und glaube daß noch nichts verloren ist“38.  – Jacob Grimms politische Priorität lautete, auf eine griffige Formel gebracht: Erst Einheit, dann Freiheit, oder noch präziser: Freiheit durch Einheit. Damit verortete er sich selbst auf dem rechten Flügel des deutschen Liberalismus, und gleichzeitig widersprach er entschieden der Parole „Lieber Freiheit ohne Einheit als eine Einheit ohne Freiheit“, die im selben Jahr 1832 der Anführer der aufgeklärten südwestdeutschen Liberalen, Karl von Rotteck, ausgegeben hatte39. Auch der Briefwechsel mit Ludwig Hassenpflug zeigt, wie sehr ihn jenes Thema in diesen Jahren umtrieb. Deutschland könne, schreibt Grimm seinem (zu jener Zeit von ihm noch geschätzten) Schwager unter dem Eindruck der erfolgreichen Pariser Julirevolution Ende 1830, „wohl durch sich selbst nach und nach ins rechte gleise kommen, wenn es abgesondert in der welt läge, aber in Europa trübt und verwirrt es sich immer mehr, und man sieht gar nicht ab, wie weit die umwälzung dringen und was sie für neue gestaltungen der Dinge hervorbringt.“ Sehr klar erkennt er hier den außen- und europapolitischen Kontext, ohne dessen Einfluss auf die deutschen Angelegenheiten der Deutsche Bund in seiner damals bestehenden Gestalt nicht denkbar war. „Unser unheil war“, fügt er hinzu, „daß, wie ich immer klarer einsehe, Preussen und Östreich nicht aus unserm kern und unserer mitte hervorgegangen sind, sondern aus den beiden endseiten, wo sich schon fremdes interesse in den deutschen sinn mischte.“ Den deutschen Großmachtdualismus zwischen den beiden Führungsmächten betrachtete Grimm also aus der kritischen Perspektive ei38  J. Grimm an Dahlmann, 15.7.1832; in: Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm, Dahlmann und Gervinus, hrsg. v. Eduard Ippel, Bde. I–II, Berlin 1885–1886, hier Bd. I, S. 20. 39  Vgl. Horst Ehmke, Karl von Rotteck der „politische Professor“ (Freiburger rechts- und staatswissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 3), Karlsruhe 1964, S. 3.

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nes typischen Angehörigen der deutschen Klein- und Mittelstaaten, die sich immer wieder einmal, wenngleich keineswegs immer, als die eigentlichen Sachwalter des wichtigsten nationalen Anliegens verstanden. Grimm fügte enigmatisch hinzu: „Unser öffentliches wesen muß nothwendig eine andere richtung erhalten und wer weiß, was Gott mit uns vorhat […]“40. III. Jacob Grimms in der Romantik wurzelnde, zwischen konservativen und liberalen Grundgedanken sich bewegende politische Ideenwelt muss man berücksichtigen, will man seiner Rolle als einer der berühmten „Göttinger Sieben“ gerecht werden41. – Im Jahre 1837 starb Wilhelm IV., König von Großbritannien und Hannover. Ihm folgte auf den englischen Thron seine Nichte Victoria, auf den hannoverschen Thron jedoch  – da hier die weibliche Erbfolge ausgeschlossen war – sein Bruder, der Herzog von Cumberland. In England war Ernst August I., wie er sich nun nannte, einer der Anführer der radikalen Adelspartei gewesen, ein bedingungsloser Gegner jeder Reform und jeder Liberalisierung von Staat und Gesellschaft. Was er in England nicht hatte erreichen können, versuchte er nun in Deutschland durchzusetzen42. Indem er gegen Artikel 56 der Wiener Schlussakte des Deutschen Bundes von 1820 verstieß, in dem festgelegt war, dass die bestehenden landesüblichen Verfassungen nur auf verfassungsgemäßem Wege wieder ab40  Alle Zitate aus: Brüder Grimm, Briefwechsel mit Ludwig Hassenpflug (Anm. 7), S. 117 (J. Grimm an L. Hassenpflug, 23.12.1830). 41  Vgl. zum folgenden Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. IV, Leipzig 1927, S. 630 ff., die cum ira et studio geschriebene Darstellung der Ereignisse; außerdem: Götz von Selle, Die Georg-AugustUniversität zu Göttingen 1737–1937, Göttingen 1937, S. 275 ff.; Rudolf Smend, Die Göttinger Sieben, Göttingen 1951; Ebel, Jacob Grimm und die deutsche Rechtswissenschaft (Anm. 22), S. 7 ff. (vgl. bes. den Exkurs S. 30 f., der die Problematik der Angelegenheit in ihrer ganzen juristischen Komplexität aufzeigt); Feldmann, Jacob Grimm und die Politik (Anm. 7), S. 175 ff.; Scherer, Jacob Grimm (Anm. 5), S.  193 ff.; Denecke, Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm (Anm. 5), S. 134 ff.; Gerstner, Brüder Grimm (wie Anm. 5), S. 82 ff.; umfassende Analyse aus staatsund verfassungshistorischer Perspektive bei Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd.  II, 3.  Aufl., Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1988, S.  91 ff. 42  Zur Lebensgeschichte dieses Königs siehe die immer noch unüberholte Biographie von Geoffrey Malden Willis, Ernst August König von Hannover, Hannover 1961, passim. Zur Geschichte der „Göttinger Sieben“ gibt der englische Autor eine interessant zu lesende „gegen den Strich gebürstete“ Darstellung aus der Perspektive des Monarchen, siehe bes. S. 170 ff.



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geändert werden könnten, erklärte Ernst August wenige Tage nach seinem Einzug in Hannover am 5.  Juli 1837 die erst seit 1833 bestehende Verfassung für unverbindlich; einige Monate später schaffte er sie dann vollständig ab; die Ständeversammlung wurde vertagt. Durch ganz Deutschland ging ein Sturm der Entrüstung, der sich nicht nur innerhalb des bürgerlichen und liberalen Lagers artikulierte. – Auch an der hannoverschen Landesuniversität Göttingen war man sich über die Ablehnung der königlichen Maßnahme weitgehend einig, allerdings wagten letztlich nur sieben Professoren, unter ihnen Jacob und Wilhelm Grimm, einen entschiedenen Protest gegen diesen Willkürakt: Sie beharrten auf der Gültigkeit ihres Beamteneides, den sie nicht nur auf den König, sondern auch auf die Verfassung geleistet hatten. Was dann folgte ist allgemein bekannt: Die Sieben wurden auf Befehl des Königs umgehend ihres Amtes enthoben, drei von ihnen, darunter Jacob Grimm, mussten Göttingen binnen drei Tagen verlassen, weil sie den Text der (zuerst nur intern eingereichten) Protesterklärung einigen Freunden zugänglich gemacht hatten.  – Ernst August kommentierte diese Maßnahme im Übrigen mit der Bemerkung, Professoren, Huren und Ballettänzerinnen könne man für Geld überall haben. In einer Rechtfertigungsschrift mit dem Titel „Jacob Grimm über seine Entlassung“ hat der Göttinger Gelehrte kurz nach dem Verlassen seiner Wirkungsstätte Aufschluß gegeben über die zentralen Motive seines Handelns. Er verortete sich selbst durchaus zwischen den Parteiungen der damaligen Zeit, und wer von im ein offenes Bekenntnis zum Liberalismus dieser Epoche erwartet hatte, wurde enttäuscht: „Ich fühle mich eingenommen für alles Bestehende, für Fürsten und Verfassungen […] Die Person des Fürsten bleibt uns geheiligt, während wir seine Maßregeln und Handlungen nach menschlicher Weise betrachten“43. Die „Constitutionellen“, die bemüht seien, „das Obere hinab, das Niedere hinauf zu rücken“, deren „eigentliches Gefallen […] das Gewöhnliche, Nützliche“44 sei, diejenigen unter den zeitgenössischen Liberalen, die „das Mittelalter (verachten) und […] wider Barbarei und Feudalismus“45 schreien, sind ihm, wie er hier ausdrücklich sagt, ebenso zuwider wie die „Absolutisten“, die „auf eine unnatürliche Tätigkeit aller Dinge“46 aus seien. Damit stimmt überein, was Grimm im Dezember 1837 an seinen Lehrer ­Savigny nach Berlin schrieb, der den Göttinger Protest nur mit Unbehagen be43  Jacob Grimm über seine Entlassung (1838); in: Grimm, Ausgewählte Schriften (Anm. 2), S. 45. 44  Ebenda, S. 44. 45  Ebenda, S. 45. 46  Ebenda, S. 44.

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trachtete: „Sie trauen mir zu, daß mir aller moderner Liberalismus von Grunde zuwider ist“, – und worauf es ihm wirklich ankam, formulierte er gleich darauf: „Aber mein Gewissen läßt sich keinen Meineid zumuten“47. Für Jacob Grimm stand also nicht nur der rein politische Aspekt im Vordergrund, also nicht nur die Überzeugung vom Wert einer geschriebenen, die Details des Staatslebens verbindlich regelnden Verfassung. Entscheidend war für ihn ebenfalls und nicht weniger der sittliche Aspekt des Professorenberufs, den er – im durchaus wörtlichen Sinn des „profiteri“  – als Bekennen der Wahrheit auffasste. In seiner Verteidigungsschrift heißt es dementsprechend: „Der offne, unverdorbene Sinn der Jugend fordert, daß auch die Lehrenden, bei aller Gelegenheit, jede Frage über wichtige Lebens- und Staatsverhältnisse auf ihren reinsten und sittlich­sten Gehalt zurückführen und mit redlicher Wahrheit beantworten“. Und zwar gelte dies, so Grimm weiter, keineswegs nur für die Professoren „des öffentlichen Rechts und der Politik“, die „kraft ihres Amtes angewiesen“ seien, „die Grundsätze des öffentlichen Lebens aus dem lauter­sten Quell ihrer Einsichten und Forschungen zu schöpfen“, sondern auch für alle anderen: „Lehrer der Geschichte können keinen Augenblick verschweigen, welchen Einfluß Verfassung und Regierung auf das Wohl oder Wehe der Völker übten, Lehrer der Philologie stoßen allerwärts auf ergreifende Stellen der Classiker über die Regierungen des Alterthums, oder sie haben den lebendigen Einfluß freier oder gestörter Volksentwicklung auf den Gang der Poesie und sogar den innersten Haushalt der Sprachen unmittelbar darzulegen“. Kurz gesagt, kein akademischer Lehrer dürfe gegen die zentrale Pflicht verstoßen, „den Sinn und das Bedürfnis der Jugend für das Heilige, Einfache und Wahre zu stimmen und zu stärken“48. Man könnte gerade diese Formulierungen als realitätsfernen und im Kern eigentlich zutiefst unpolitischen Idealismus eines bekennenden Romantikers abtun. Aber damit würde man Jacob Grimm und seinem Anliegen nicht gerecht. Gewiss mag man es als politisches Defizit auffassen, dass er sich mit dem konstitutionellen Liberalismus nicht anzufreunden vermochte, dass er es vermied, ein konkretes politisches Programm zu de47  J. Grimm an Savigny, 13.12.1837, in: Briefe der Brüder Grimm an Savigny, hrsg. von Wilhelm Schoof, Berlin/Bielefeld 1953, S. 390; diese Rechtfertigung konnte allerdings eine zunehmende Entfremdung beider Seiten nach 1838 nicht verhindern, vgl. hierzu: Adolf Stoll, Friedrich Karl v. Savigny – Ein Bild seines Lebens mit einer Samm­lung seiner Briefe, Bd. II, Berlin 1929, S. 500 ff. u. a.; Franz Wieacker, Savigny und die Gebrüder Grimm, in: derselbe, Gründer und Bewahrer – Rechtslehrer der neueren deutschen Privatrechtsgeschichte, Göttingen 1959, S.  146 ff. 48  Alle Zitate: Jacob Grimm über seine Entlassung (Anm. 43), 50.



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finieren und dass er so zäh das Althergebrachte, gerade auch die tradi­ tionelle Stellung der deutschen Fürsten, verteidigte. Entscheidend ist in diesem Fall aber, dass er am Recht als dem unabdingbaren Fundament alles politischen Handelns strikt festhielt. Das Recht stand seiner Überzeugung nach nicht nur über jedem einzelnen Untertanen eines Landes, sondern ebenfalls über dem Fürsten. Ungeachtet seiner sonst durch Tradition und Sitte geheiligten und bevorrechtigten Stellung kann es einem Monarchen trotzdem niemals zukommen, gegen das geltende Recht zu verstoßen. Ein solches Vorgehen stellt nichts weniger dar als einen fundamentalen Bruch mit althergebrachter Sitte, mit den ethischen Grundlagen jeder gemeinschaftlichen Ordnung des Menschen – und ist aus diesem Grunde unbedingt und kompromißlos abzulehnen. Denn ein bewußt vorgenommener Bruch der sittlichen Ordnung zerstört in letzter Konsequenz die Fundamente jeder sinnvollen menschlichen Existenz. Davon war Grimm zutiefst überzeugt, und noch das dem Nibelungenlied entnommene, berühmte Motto seiner Entlassungsschrift „War sind die eide komen?“ (Wohin ist es mit den Eiden gekommen?), deutet dies an. Eine solche Haltung wird man also kaum als „unpolitisch“ bezeichnen können. Es kam noch etwas anderes hinzu. Die Brüder Grimm haben sich zeitlebens – bei aller tief empfundenen, inneren Bindung an ihre hessische Heimat und bei allem Sinn für die historisch gewachsenen landschaftlichen Strukturen Deutschlands – als Gegner des deutschen Partikularismus, der deutschen Kleinstaaterei empfunden. Hierin sahen sie den Hauptgrund für die 1815 ausgebliebene innere Einigung ihres Vaterlandes. Als treibende Kraft dieser einheitshindernden partikularistischen Bestrebungen aber erschienen ihnen die deutschen Fürsten, denen es in egoistischer Verblendung immer nur um die Sicherung eigener Vorrechte und Vorteile, niemals aber um Deutschland als Ganzes ging; ein typische Beispiel hierfür boten die Kurfürsten von Hessen-Kassel gerade in den Verfassungskonflikten der 1830er Jahre49. Das heftige Aufbegehren der Brüder Grimm gegen König Ernst August von Hannover und dessen Verfassungspolitik im Jahre 1837 hatte also auch hierin eine seiner Ursachen50.

49  Hierzu siehe statt vieler die grundlegende Darstellung und Analyse von Ewald Grothe, Verfassungsgebung und Verfassungskonflikt. Das Kurfürstentum Hessen in der ersten Ära Hassenpflug 1830–1837 (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 48), Berlin 1996. 50  Hierfür finden sich sehr aufschlussreiche Belege im Hassenpflug-Briefwechsel; siehe zum Verhältnis der Brüder Grimm zu Hassenpflug und ihre Kritik an dessen hessisch-kleinstaatlicher Politik auch die Bemerkungen des Herausgebers Ewald Grothe in seiner Einleitung, in: Brüder Grimm, Briefwechsel mit Ludwig Hassenpflug (Anm. 7), S. 31 ff. u. passim.

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Nach dem Göttinger Desaster kehrten Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm wieder nach Kassel zurück, wo sie sich in ihre wissenschaftlichen Studien vergruben. Ende 1840 jedoch, nach dem Thronwechsel in Preußen, wurden Jacob und Wilhelm nach Berlin an die Königliche Akademie der Wissenschaften berufen, mit dem Recht  – aber nicht der Pflicht –, Vorlesungen an der Universität zu halten51. Dass Jacob Grimm den Blick für die politischen Notwendigkeiten und Forderungen des Tages indes, trotz aller Erfahrungen der vergangenen Jahre, keineswegs verloren hatte, zeigte seine Berliner Antrittsvorlesung „Über die Alter­ thümer des deutsche Rechts“ vom April 1841. Mit eindringlichen Worten wies er auf die tief gegründeten Analogien zwischen der Entwicklung des Rechts, der Entstehung und Entfaltung der Sprache sowie der politischen Geschichte hin; er forderte seine Zuhörer auf, sich der deutschen Geschichte, die er als „unsere unmittelbare Lehrerin“52 bezeichnete, zuzuwenden, um die Gegenwart aus der Vergangenheit heraus zu verstehen. „Mein Zweck“, so schloß er charakteristischerweise, „ist gleichwol ein practischer, denn was könnte practischer sein als das gefühl für das vaterland anzufachen“53. Als die schleswig-holsteinische Frage akut wurde, verfasste Grimm 1846 eine öffentliche Adresse an den preußischen König, die er zusammen mit anderen wissenschaftlichen Größen der preußischen Hauptstadt und der Berliner Universität, wie Ranke, Lachmann, Trendelenburg und Pertz, unterzeichnete. Man empfahl Friedrich Wilhelm IV. das „heilsamste Einschreiten“ in dieser vaterländischen Angelegenheit, denn sie habe „gar nichts gemein mit dem treiben der politischen parteien, die uns bewegen, sondern wird von den männern jeder farbe mit demselben auge angesehn, wenn sie es nur offen erhalten haben für das geliebte vater­ land“54. Und als zwei Jahre später die Revolution ausbrach, stellte Jacob Grimms Wahl in die Frankfurter Nationalversammlung eigentlich keine Überraschung dar55. Es ist überaus kennzeichnend für ihn, dass er sich keiner der bestehenden Fraktionen anschloss, was sich sinnfällig darin 51  Hierzu siehe Max Lenz, Geschichte der königlichen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin, Bd. II/2, Halle a. S. 1918, S. 13 ff.; Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. I/2, Berlin 1900, S. 916 ff. 52  Über die Alterthümer des deutschen Rechts (1841); in: Grimm, Kleine Schriften (Anm. 6), Bd. VIII, S. 550. 53  Ebenda, S. 551. 54  Adresse an den König für Schleswig-Holstein (1846); in: ebenda, Bd.  VIII, S. 431. 55  Vgl. hierzu v. a. Feldmann, Jacob Grimm und die Politik (Anm. 7), S. 234 ff.



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ausdrückte, dass er in der Paulskirche nicht innerhalb der Sitzreihen, sondern im Mittelgang, unmittelbar vor dem Rednerpult seinen Platz einnahm. Wie seine – nur spärlichen – Diskussionsbeiträge zeigen, ging es ihm weniger um Spezialprobleme der Organisation und Form eines künftigen deutschen Staates, sondern zuallererst um die noch nicht verwirklichte politische Einigung Deutschlands. Er stellte klar, dass die Verzettelung in der Behandlung formaler Fragen die deutsche Einigung verzögere und warnte nachdrücklich davor, durch eine falsche Geschäftsordnung einen „zu großen spielraum der doktrinären willkür zu eröffnen.“ Immer wieder wies er auf die zentrale Aufgabe der Versammlung hin: „uns allen ist aber auch die große angelegenheit des vaterlandes anvertraut. … das volk sehnt sich, erwartet eine baldige entscheidung über die hauptange­ legenheit“56. Sehr bezeichnend für seine  – in einem sehr spezifischen Sinne deutschen – liberalen politischen Grundüberzeugungen war nicht zuletzt die klare Stellungnahme, die er in der Grundrechtsdebatte gegen die sogenannten „Ideen von 1789“ und für den auf altgermanischer Tradition beruhenden deutschen Freiheitsbegriff abgab; es handelt sich um seinen berühmten Vorschlag für die Gestaltung des ersten Artikels der von der Paulskirche zuschaffenden neuen gesamtdeutschen Verfassungsurkunde: „Zu meiner Freude hat in dem Entwurf des Ausschusses unserer künftigen Grundrechte die Nachahmung der französischen Formel ‚Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘ gefehlt. Die Menschen sind nicht gleich […], sie sind auch im Sinne der Grundrechte keine Brüder; vielmehr die Brüderschaft […] ist ein religiöser und sittlicher Begriff, der schon in der heiligen Schrift enthalten ist, aber der Begriff von Freiheit ist ein so heiliger und wichtiger, daß es mir durchaus nothwendig erscheint, ihn an die Spitze unserer Grundrechte zu stellen. Ich schlage also vor, daß der Artikel I des Vorschlages zum zweiten gemacht, und dafür ein erster folgenden Inhalts eingeschaltet werde: ‚Alle Deutschen sind frei, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei‘. Ich leite also aus dem Rechte der Freiheit noch eine mächtige Wirkung der Freiheit her, wie sonst die Luft unfrei machte, so muß die deutsche Luft frei machen“57. Dieser Vorschlag fand in der Nationalversammlung keine Zustimmung.

56  (Über Geschäftsordnung); in: Grimm, Kleine Schriften (Anm. 6), Bd.  VIII, S.  436 f. 57  Franz Wigard (Hrsg.): Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Bd. I, Frankfurt a. M. 1848, S. 737.

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Auch ein anderer, ebenfalls berühmter Antrag, den Jacob Grimm am 1. August 1848 im Parlament der Paulskirche einbrachte und der erneut ein bezeichnendes Licht auf seine politischen Grundüberzeugungen wirft, wurde abgelehnt: die Abschaffung des Adels. Grimm beantragte einen Verfassungsartikel des Inhaltes: „Alle rechtlichen Unterschiede zwischen Adeligen, Bürgerlichen und Bauern hört auf, und keine Erhebung weder in den Adel noch aus einem niedern in den höheren Adel findet statt“58. Der Adel sei, so begründete Grimm seinen Antrag, nur mehr „eine Blume, die ihren Geruch verloren hat, vielleicht auch ihre Farbe.“ Doch die eigentliche Begründung griff tiefer: „Wir wollen die Freiheit, als das Höchste, aufstellen, wie ist es dann möglich, daß wir ihr noch etwas Höheres hinzugeben? Also schon aus diesem Grunde, weil die Freiheit unser Mittelpunkt ist, darf nicht neben ihr noch etwas anderes H ­ öheres bestehen. Die Freiheit war in unserer Mitte, so lange deutsche Geschichte steht, die Freiheit ist der Grund aller unserer Rechte von jeher gewesen; so schon in der ältesten Zeit. Aber neben der Freiheit hob sich eine Knechtschaft, eine Unfreiheit auf der einen und auf der anderen Seite eine Erhöhung der Freiheit selbst. In dieser Gliederung scheint mir ein Beweis gegen den Adel zu liegen. Als die härtere Unfreiheit sich in eine mildere auflöste und neben der härteren bestand, da entsprang auch eine Erhöhung der Freiheit in den Adel und des Adels in die fürstliche Würde. Nachdem diese Erhöhung der Unfreiheit aufgehört hat, muß auch die des Adels fallen“59. Bereits lange vor der Revolution hatte Grimm übrigen eine deutlich kritische Haltung gegenüber dem Adel eingenommen60. Dass Jacob Grimm an dieser Stelle historisch argumentiert, verwundert nicht; Gelehrtes und Politisches fließen hier bei ihm, wie stets, ineinander. Doch die Ideenwelt, die hier wenigstens im Ansatz sichtbar wird, besitzt tiefere Wurzeln und eine größere Bedeutung, als einer oberflächlichen Betrachtung auf den ersten Blick zugänglich sein mag. Grimms Äußerungen zur spezifisch „deutschen“ Freiheitstradition gehören in den größeren Zusammenhang der sogenannten germanischen Freiheitsidee, die letztlich zurückgeht auf die humanistische Rezeption der „Germa58  Ebenda,

Bd. II, S. 1311. Bd. II, S. 1310. 60  Dazu siehe auch die aufschlussreichen Äußerungen in einem Brief an den Schwager Hassenpflug vom 15.1.1835, in: Brüder Grimm, Briefwechsel mit Ludwig Hassenpflug (Anm. 7), S. 252: „Wenn ein unterschied zwischen adel und bürgerstand, für unser zeitalter recht und natürlich ist, so kann die meinung nicht sein, dass ausgezeichnete bürgerliche in den adel aufgenommen werden sollen, das würde heissen, dem einen theil, zu gunsten des andern, seine kraft entziehen, was ungerecht ist, und das ganze verhältnis zuletzt verrückt und über den haufen wirft“. 59  Ebenda,



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nia“ des Tacitus. Diese Auffassung schreibt der deutschen und auch der angelsächsischen verfassungspolitischen Tradition eine ihr inhärente, von der „römischen“ Tradition strikt unterschiedene, spezifische Freiheitsidee zu, die darin bestehen soll, dass ein Gemeinwesen im Kern aus einem Zusammenschluss „freier Männer“ besteht und dass jede Obergewalt, besonders jede fürstliche oder königliche Macht, auf dem Einverständnis eben dieser freien Männer beruht, also auch von ihr abzuleiten ist. Diese Idee ist etwa bei der Herausbildung des englischen Parlamentarismus wirksam geworden, und sie hat auch in Deutschland noch im 19. Jahrhundert bedeutende Wirkungen sowohl im liberalen wie auch im konservativen Lager ausgeübt61. Jacob Grimm kann als einer ihrer typischen Vertreter angesehen werden; auch er gehört in den größeren Zusammenhang eines – später sich verändernden – ebenfalls in Großbritannien und in Skandinavien zu findenden „politischen Germanismus“, dessen Bedeutung erst in Ansätzen erforscht worden ist62. Diese nur scheinbar radikalen, in ihren Wurzeln jedoch tief traditionalhistorischen Ideen Grimms führten ihn durchaus zu einer scharfen ­Kritik an allen Versuchen des von ihm strikt abgelehnten und als unhistorisch und doktrinär angesehenen linken Liberalismus und demokratischen Radikalismus zur Schaffung einer vollkommen neuen, alle historischen 61  Vgl. hierzu u. a. Erwin Hölzle, Die Idee einer altgermanischen Freiheit vor Montesquieu. Fragmente aus der Geschichte politischer Freiheitsbestrebungen in Deutschland, England und Frankreich vom 16.–18. Jahrhundert (Beiheft 5 der Historischen Zeitschrift), München/Berlin 1925; Hildburg Hunke, Germanische Freiheit im Verständnis der deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichtsschreibung, jur. Diss. Göttingen 1972; Dietmar Willoweit, Von der alten deutschen Freiheit. Zur verfassungsgeschichtlichen Bedeutung der Tacitus-Rezeption, in: Vom normativen Wandel des Politischen. Rechts- und staatsphilosophisches Kolloquium aus Anlaß des 70.  Geburtstages von Hans Ryffel, hrsg. v. Erk Volkmar Heyen (Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 94), Berlin 1984, S. 17–42; Ulrich Muhlack, Die Germania im deutschen Nationalbewußtsein vor dem 19. Jahrhundert, in: Beiträge zum Verständnis der Germania des Tacitus, Teil I, hrsg. v. Herbert Jankuhn/Dieter Timpe (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philol.-hist. Kl., 3. Folge, Nr. 175), Göttingen 1989, S. 128–154.  – Wichtig zum Zusammenhang ebenfalls Hans Maier, Das Freiheitsproblem in der deutschen Geschichte (Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe; Schriftenreihe, Bd. 201), Heidelberg 1992. 62  Siehe vor allem: Heinz Gollwitzer, Zum politischen Germanismus des 19. Jahrhunderts, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70.  Geburtstag am 19. September 1971, hrsg. von den Mitarbeitern des Max-Planck-Instituts für Ge­ schichte, Bd. I (Veröffentlichungen Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 36/I), Göttingen 1971, S. 282–356, zu Jacob Grimm S. 288 f.; neu abgedruckt auch in: derselbe, Weltpolitik und deutsche Geschichte. Gesammelte Studien, hrsg. v. HansChristof Kraus (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 77), Göttingen 2008, S. 287–361, hier S. 293 f.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

Bindungen abstreifenden politischen Ordnung. Es heißt in einem Brief aus dieser Zeit: „die unsinnigen democraten achten weder götter, noch göttersage und geschichte; sie möchten das ganze land aufreißen und den samen des unkrauts auswerfen“63. Noch deutlicher wurde er übrigens in der im Juni 1848 niedergeschriebenen Widmung seiner „Geschichte der Deutschen Sprache“ an den Freund und Berufskollegen Georg Gottfried Gervinus. Ein „roher wahn“ sei es, „alle unsere geschichte von Arminus an […] als unnütz der vergessenheit zu übergeben und blosz am eingebildeten recht der kurzen spanne unserer zeit mit dem heftigsten anspruch zu hängen“; es gelüste „diese selbstsüchtigen nach dem bodenlosen meer einer allgemeinheit, das alle länder überfluten soll“64. Leidenschaftlich mahnte Grimm, eingedenk der „herrlichkeit des lebendigen vaterlandes“ das in jeder Hinsicht wichtigste Ziel nicht aus den Augen zu verlieren: „Jetzt haben wir das politische im überschwank (sic), und während von des volks freiheit, die nichts mehr hindern kann, die vögel auf dem dach zwitschern, seiner heiszersehnten uns allein macht verleihenden einheit kaum den schatten. o dasz sie bald nahe und nimmer von uns wiche!“65 Doch auch dieses Mal wieder sollten Grimms Hoffnungen auf Einheit in „unserem widernatürlich gespaltenen vaterland“66 betrogen werden. IV. Jacob Grimm kehrte wieder dorthin zurück, wo für ihn allein Trost zu finden war: zur Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur. Man hat später seine Neigung, sich auch den kleinsten Detailproblemen der von ihm bearbeiteten Disziplinen mit besonderer Hingabe zu widmen, etwas typisch Deutsches sehen wollen. Bereits Sulpiz Boisserée hat in einem Brief an Goethe die Geisteshaltung und die Methode Jacob Grimms mit einer durchaus spöttische gemeinten, später viel zitierten Formulierung als „Andacht zum Unbedeutenden“ bezeichnet, die man vielleicht etwas vorschnell zum „Ehrennamen“ gemacht hat67. Jacob Grimms ausgesprochene Neigung, sich mit dem Kleinen und scheinbar Unbedeutenden zu befassen, ist nicht bestreitbar; er sagte selbst von sich: „von der groszen heerstrasze abwärts liebe ich es durch enge korn-

63  J. Grimm an J. W. Wolf, 28.6.1848; in: Private und amtliche Beziehungen der Brüder Grimm zu Hessen, hrsg. von E. Stengel, Bd. II, Marburg 1895, S. 310. 64  Jacob Grimm, Geschichte der Deutschen Sprache, 2.  Aufl., Leipzig 1853, S. III. 65  Ebenda, S. IV. 66  Ebenda, S. V. 67  Vgl. Scherer, Jacob Grimm (Anm. 5), S. 124.



Jacob Grimm – Wissenschaft und Politik233

felder zu wandeln und ein verkrochenes wiesenblümchen zu brechen, nach dem andere sich nicht niederbücken würden“68. Er bekannte sich also ausdrücklich zu dieser Eigenschaft, doch war er sich gleichzeitig bewusst, dass es sich hierbei nicht nur um eine verbreitete deutsche Eigenschaft, sondern um ein spezifisch deutsches Problem handelte. An einen französischen Gelehrten schrieb er einmal: „Unsere Art zu studieren und im Publikum aufzutreten weicht von der französischen ohne Zweifel oft zu unserem Nachteile ab, hängt aber zusammen mit unserer politischen Zerstückelung und Ohnmacht. Wir freuen uns still des Einzelnen und Kleinen …“69. Freilich blieb Grimm bei der Konstatierung dieses Tatbestandes keineswegs stehen, sondern er betonte mit Nachdruck die Notwendigkeit, zur wissenschaftlichen Synthese zu gelangen, also wiederum „das Kleine zur Erläuterung des Großen […] zu brauchen“70. Er hatte die abstrakt-rationalistischen Deduktionen des achtzehnten Jahrhunderts im Bereich der Sprach- und Literaturforschung als Irrweg erkannt und mit seiner konsequenten Anwendung der induktiven, vom vorliegenden Material, von Fakten und Tatsachen ausgehenden Forschungsmethode die moderne Sprach- und Literaturwissenschaft erst eigentlich begründet. Zu keiner Zeit allerdings beschränkte sich Jacob Grimms Wissenschaftsverständnis auf die jeweils engsten Bereiche seiner Fächer und Disziplinen. Sein beständiges Hinweisen auf die Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung71 und seine unablässige Betätigung auch in anderen Wissenschaften (im besonderen der Rechts- und Geschichtswissenschaften) bezeugen die Universalität seiner Persönlichkeit als Gelehrter: „Sprachforschung der ich anhänge und von der ich ausgehe“, bemerkte er beispielsweise, „hat mich doch nie in der weise befriedigen können, dasz ich nicht immer gern von den wörtern zu den sachen gelangt wäre; ich wollte nicht blosz häuser bauen sondern auch darin wohnen. mir kam es versuchenswerth vor, ob nicht der geschichte unseres volks das bett von der sprache her aufgeschüttelt werden könnte, und […] umgekehrt auch die geschichte aus dem unschuldigen standpunct der sprache gewinn entnehmen sollte“72. 68  Grimm, Geschichte der Deutschen Sprache (Anm.  64), S.  VIII; vgl. auch Grimm, Kleine Schriften (Anm. 6), Bd. VIII, S. 33 f., 545 f., sowie: Über Frauennamen aus Blumen; in: Grimm, Ausgewählte Schriften (Anm. 2), S. 215 u. a. 69  Zit. nach Scherer: Jacob Grimm (Anm. 5), S. 253; vgl. Geschichte der Deutschen Sprache, (Anm. 64), S. XIII. 70  Selbstbiographie; in: Grimm, Ausgewählte Schriften (Anm. 2), S. 137. 71  Vgl. u. a. Geschichte der Deutschen Sprache, (Anm. 64), S. VIII. 72  Ebenda, S. XI; zur geistigen Universalität Jacob Grimms vgl. auch die Bemerkungen bei Klaus Ziegler, Jacob Grimm und die Entwicklung des modernen

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

Sein Glaube an die Wissenschaft blieb auch in schweren Zeiten unerschüttert: „Von der wissenschaft hege ich die höchste vorstellung. alles wissen hat eine elementarische kraft und gleicht dem entsprungenen wasser, das unablässig fortrinnt, der flamme, die einmal geweckt ströme von licht und wärme aus sich ergieszt“73. Und wie sehr er seine eigene Wissenschaft von der Sprache und Literatur, trotz aller Detailversessenheit, auch später noch als genuin politische Wissenschaft begriff, zeigt – neben anderem – seine berühmte Definition eines Volkes: „ein volk ist der inbegriff von menschen, welche dieselbe sprache reden. das ist für uns Deutsche die unschuldigste und zugleich stolzeste erklärung, weil sie mit einmal über die gitter hinwegspringen und jetzt schon den blick auf eine näher oder ferner liegende, aber ich darf wol sagen einmal unausbleiblich heranrückende zukunft lenken darf, wo alle schranken fallen und das natürliche gesetz anerkannt werden wird, dasz nicht flüsse, nicht berge völkerscheide bilden, sondern dasz einem volk, das über berge und ströme gedrungen ist, seine eigne sprache allein die grenze setzen kann“74. Das Bild von Jacob Grimms Wissenschaftsverständnis müsste unvollständig bleiben, wenn ein Hinweis auf die kompensatorische Funktion fehlte, die er der deutschen Wissenschaft in ihrer Beziehung zur gegebenen, konkreten politischen Lage des eigenen Volkes zuwies. Am klarsten hat er dies vielleicht in seiner berühmten, im November 1849 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften gehaltenen Vortrag „Über Schule Universität Akademie“ ausgedrückt: „Wir Deutschen, denen zu heisz drückender schmach das ersehnteste recht eines freien volkes, das seiner ungehemmten einheit bisher noch vorenthalten wird, erblicken in einem solchen gebrechen gegenüber an sich dennoch groszen ersatz und trost dafür in dem anerkannten ruf, dasz was auf wissenschaft und deren förderung bezogen werden kann, alles bei uns fast in höherem grade vorhanden ist, als bei den mächtigen, einsichtsvollsten völkern der gegenwart […] und vermag der geist einen hinfälligen leib aufrecht zu erhalten […], so kann ohne ruhmredigkeit behauptet werden, dasz unsere wissenschaft und errungene literatur, das untilgbare gefühl für sprache und ­poesie es gewesen sind, die in zeiten härtester trübsal und tiefster ohnmacht des deutschen reichs das volk gestärkt, innerlich angefacht und deutschen Nationalbewußtseins; in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 74 (1963), S. 153, 155 f., 178. 73  Über Schule Universität Akademie (1849); in: Grimm, Kleine Schriften (Anm. 6), Bd. I, S. 214. 74  Über die wechselseitigen Beziehungen und die Verbindung der drei in der Versammlung vertretenen Wissenschaften (Vortrag auf der Germanistenversammlung Frankfurt a. M. 1846); in: Grimm, Kleine Schriften (Anm. 6), Bd. VII, S. 557.



Jacob Grimm – Wissenschaft und Politik235

erhoben, ja den sonst nichts hätte aufhalten mögen vor untergang uns bewahrt haben“75. Man sieht: Es war nicht nur die Freude an den Dingen selbst, nicht nur die vielzitierte „Andacht zum Unbedeutenden“, die den innersten Antrieb zu einem mit eisernem Fleiß erarbeiteten wissenschaftlichen Lebenswerk von außerordentlichem Umfang und höchstem Rang darstellte, sondern nicht weniger das Bewusstsein, dem eigenen Volk zu dienen, um auf diese Weise einen Beitrag zur ersehnten Einigung des Vaterlandes zu leisten. Aber Jacob Grimm war sich auch des Tragischen, das sich in einer solchen Existenz ausdrückte, in vollem Maße bewußt, denn er fuhr mit der Frage fort: „was […] mit verzehnfachtem selbstgefühl würden wir ausgerichtet haben, hätte aller unsrer wissenschaft, das heiszt der erhebung des geistes auch ein stolzes bewustsein der stärke und macht des vaterlandes, als eines bodens, von dem der geist sich schwingen, auf den er weilend sich nieder lassen könne, zum grunde gelegen?“76 Nicht nur die politischen Verhältnisse in Deutschland, die eine Einigung in weite Ferne gerückt erscheinen ließen, verdüsterten sein letztes Lebensjahrzehnt, sondern nicht weniger die Arbeit am „Deutschen Wörterbuch“. Beide Brüder hatten damit, wie Jacob Grimm in seiner Gedenkrede auf Wilhelm Grimm formulierte, „noch zuletzt gegen unseres lebens neige ein werk von unermeszlichem umfang auf die schultern genommen, besser, dasz es früher geschehen wäre […]“77. Die unerquick­ liche und eintönige Arbeit wurde dennoch mit dem gewohnten disziplinierten Fleiß absolviert, und 1854 konnte der erste Band dieses nicht genug zu rühmenden Werkes der Öffentlichkeit vorgestellt werden. In der Vorrede hob Jacob Grimm wiederum ausdrücklich den explizit politischen Charakter des Wörterbuches hervor. Wenn „nach dem gewitter von 1848 rückschläge lang und schwerfällig die luft durchziehen“, dann habe man auf andere Weise seine Pflicht für das Vaterland zu erfüllen, denn „seit den befreiungskriegen ist in allen edlen schichten der nation anhaltende und unvergehende sehnsucht entsprungen nach den gütern, die Deutschland einigen und nicht trennen, die uns allein den stempel voller eigenheit aufdrücken und zu wahren im stande sind“78. Er war sich bewusst, „ein vaterländisches werk, das alle freuen sollte, und reiche vor­ 75  Über Schule Universität Akademie (1849); in: Grimm, Kleine Schriften (Anm. 6), Bd. I, S. 213. 76  Ebenda. 77  Rede auf Wilhelm Grimm (1860); in: Grimm, Ausgewählte Schriften (Anm. 2), S. 75. 78  Jacob Grimm, Vorreden zum Deutschen Wörterbuch (Sonderausgabe), Darmstadt 1961, S. 14, vgl. S. 9.

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räte öfnet“79, zu schaffen, durch das „der ruhm unserer sprache und unsers volks, welche beide eins sind, […] erhöht sein werde“80. Er, der alte Mann, dessen Tage, wie er sagte, „nahe verschlissen“ waren, hinterließ den Deutschen das Wörterbuch als Geschenk und Vermächtnis, aber auch als Verpflichtung: „Deutsche geliebte landsleute, welches reichs, welches glaubens ihr seiet, tretet ein in die euch allen aufgethane halle eurer angestammten, uralten sprache, lernet und heiliget sie und haltet an ihr, eure volkskraft und dauer hängt in ihr“81. Es hat Augenblicke gegeben, in denen der alte Jacob Grimm von einem Gefühl des Scheiterns seiner zeitlebens verfolgten politischen Bestrebungen fast erdrückt worden ist. Im Jahre 1858 etwa übermannte ihn eine solche Stimmung; sie spiegelt sich besonders deutlich in einem Brief an Georg Waitz wider, in dem es heißt: „Wie oft muß einem das traurige Schicksal unseres Vaterlandes in den Sinn kommen und auf das Herz fallen, und das Leben verbittern. Es ist an gar keine Rettung zu denken, wenn sie nicht durch grosse Gefahren und Umwälzungen herbeigeführt wird. […] Es kann nur durch rücksichtslose Gewalt geholfen werden. Je älter ich werde, desto demokratischer gesinnt bin ich. Sässe ich nochmals in einer Nationalversammlung, ich würde viel mehr mit Uhland, Schroder stimmen, denn die Verfassung in das Geleise der bestehenden Verhältnisse zu zwängen, kann zu keinem Heil führen. Wir hängen an unsern vielen Errungenschaften und fürchten uns vor rohem Ausbruch der Gewalt, doch wie klein ist unser Stolz, wenn ihm keine Grösse des Vaterlandes im Hintergrund steht. In den Wissenschaften ist etwas Unvertilgbares, sie werden nach jedem Stillstand neu und desto kräftiger ausschla­gen“82. Diese vielzitierte Äußerung deutet in der Tat an, dass nach 1848, wie Wilhelm Scherer sagt, Jacob Grimms „ursprünglich konservativer Sinn […] mehr nach links abgedrängt“83 wurde. Immerhin zeigen die Formulierungen „Schicksal des Vaterlandes“ und „Größe des Vaterlandes“ klar genug, was hinter diesen Worten stand: das Ausbleiben der seit einem halben Jahrhundert erstrebten und leidenschaftlich herbeigesehnten Einigung Deutschlands. Zuerst und vor allem hierum ging es Jacob Grimm: Um Deutschland geeint zu sehen, wäre er auf seine alten Tage sogar noch zum Demokraten geworden84. Die Auffassung hingegen, Jacob Grimm sei 79  Ebenda,

S. 85.

80  Ebenda. 81  Ebenda. 82  Waitz,

Zum Gedächtnis an Jacob Grimm (Anm. 12), S. 23 f. Jacob Grimm (Anm. 5), S. 206. 84  Vgl. zur Deutung dieses Briefes auch Feldmann, Jacob Grimm und die Politik (Anm. 7), S. 253 f. 83  Scherer,



Jacob Grimm – Wissenschaft und Politik237

„ein protestierender Liberaler (nicht im Parteisinne) mit revolutionärer Neigung“85 gewesen, ist ebenso unzutreffend wie eine neuere Deutung, die Grimms politische Haltung generell jenseits des Liberalismus verorten möchte  – als „reformkonservativ“ oder als „konstitutionell-konser­ vativ“86. Beide Fehldeutungen unterschätzen jeweils die Breite des liberalen Spektrums gerade im Vormärz, aber auch noch nach der Revolution von 1848/49. Jacob Grimms Haltung entsprach sehr stark dem historisch-konstitutionell orientierten Liberalismus seines Freundes Dahlmann, dessen berühmte „Politik“ während der gemeinsamen Göttinger Zeit verfasst und in erster Auflage erschienen ist87. Ernst Rudolf Huber hat daher die beiden Grimms vollkommen zu Recht der (von ihm so genannten) „Professoren-Gruppe“ des konstitutionellen Liberalismus dieser Zeit, also dem „rechten Zentrum“ zugeordnet88. Sie zählten zu den Anhängern der konstitutionellen Monarchie, die eine Teilung der politischen Macht zwischen Monarchen und Parlament wünschten – damit also eine entschiedene Begrenzung der politischen Stellung der Monarchen, wie sie im Vormärz in Deutschland noch bestand89. Auf der anderen Seite aber wünschten sie keinen revolutionären Bruch mit der Vergangenheit, sondern eine „organische“ Anknüpfung und Fortentwicklung der deutschen politischen Institutionen im Einklang mit deutscher Tradition und deutscher Geschichte. Die letzten Elemente könnten in der Tat für eine eher konservative Grundorientierung der Grimms zeugen  – wenn da nicht eben auch die andere Seite ihres politischen Engagements zu berücksichtigen wäre: etwa Jacob Grimms berühmte Paulskirchenanträge zur Einführung einer umfassenden Freiheitsklausel in die Verfassung und zur Abschaffung des Adels, schließlich auch sein unbedingtes Eintreten für eine Überwindung des Deutschen Bundes und für die Schaffung eines neuen deutschen Nationalstaates. Wenigstens diese drei Aspekte seines politischen Denkens (von anderen zu schweigen) waren mit dem damaligen politischen Konservatismus, wie ihn etwa Hassenpflug, die Brüder 85  Denecke,

Jacob Grimm und sein Bruder Wilhelm (Anm. 5), S. 186. die neueste Deutung von Grothe: Einleitung, in: Brüder Grimm, Briefwechsel mit Ludwig Hassenpflug (Anm. 7), S. 42 f. 87  Siehe die kürzlich erschienene Neuausgabe: Friedrich Christoph Dahlmann: Die Politik (1835), hrsg. v. Wilhelm Bleek, Frankfurt am Main 1997. 88  Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. II (Anm. 41), S. 391 f. 89  Den Ernst von Jacob Grimms Eintreten für die Sache der „Constitution“  – besonders deutlich etwa in seinem Heimatland Hessen  – zeigt neuerdings einer der von Grothe edierten Briefe an den politisch exponierten Schwager: Brüder Grimm, Briefwechsel mit Ludwig Hassenpflug (Anm. 7), S. 276 f. (J. Grimm an L. Hassenpflug, 22.2.1837). 86  So

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

Gerlach, Friedrich Julius Stahl oder auch Jacob Grimms Lehrer Savigny vertraten, in keiner Weise vereinbar. Und darin änderte sich auch später nichts; die in gleicher Weise liberale wie nationale Einheitssehnsucht blieb die beherrschende politische Emotion des großen Gelehrten. Sie kommt nicht zuletzt in der großartigen Schiller-Rede zum Ausdruck, die er 1859 anlässlich der Festsitzung der Berliner Akademie zum einhundertjährigen Geburtstag des Dichters hielt: Petrarca, so führte Grimm aus, habe vor fünfhundert Jahren seinen Landsleuten von einem altdeutschen Brauch berichtet: Am Rhein werfe man alljährlich am Johannisabend unter Gesängen und Sprüchen Blumen in den Fluß, um auf diese Weise alles Unheil des nächsten Jahres wegzuschwemmen. „Welchen ausländischen mann“ fuhr er fort, „nun heute sein weg durch Deutschland […] geführt hätte, seinem blick wären in […] fast allen städten festliche züge heiterer und geschmückter menschen begegnet, denen unter vorgetragener fahnen auch ein prächtiges lied von der glocke erscholl. […] der frohernste gesang, die gewaltige fassung, hätte ihm jeder mund berichtet, sei von unsrer gröszten dichter einem, dessen vor hundert jahren erfolgte geburt an diesem tage eingeläutet und begangen werde. glocken brechen den donner und verscheuchen das unwetter. ach könnte doch auch, wie mit jenen blumen das unheil entflosz, an hehren festen alles fortgeläutet werden, was der einheit unseres volkes sich entgegen stemmt, deren es bedarf und die es begehrt“90. – Diese Rede, die sich zu einem begeisterten Hymnus auf die Klassiker Goethe und Schiller steigert, versäumt nicht den Hinweis, dass erst die Dichtung „die wohltätigste einigung aller enden des volks“91 im sprachlichen und geistigen Sinne vollendet hat. Beide Dichter waren sich – das betont Grimm mit Nachdruck  – „ihres strebens für unsere nation“92 stets unverbrüchlich sicher. Im Jahre 1859 starb Wilhelm Grimm. Sein Bruder Jacob, durch diesen Tod schwer getroffen, arbeitete dennoch ohne Unterbrechung weiter am Deutschen Wörterbuch. Er gelangte bis zum Artikel „Frucht“. Wenige Wochen nachdem er die von Lebensklugheit und tiefer Weisheit geprägte „Rede über das Alter“93 vor der Berliner Akademie gehalten hatte, starb er am 20. September 1863 in Berlin. Blickt man auf Jacob Grimms Wirken als Gelehrter auf der einen Sei­ te und als Politiker auf der anderen zurück, dann muss man zuerst und

90  Rede

auf Schiller (1859); in: Grimm, Kleine Schriften (Anm. 6), Bd. I, S. 375 f. S. 379. 92  Ebenda, S. 390. 93  Neu abgedruckt in: Grimm, Ausgewählte Schriften (Anm. 2), S. 216–234. 91  Ebenda,



Jacob Grimm – Wissenschaft und Politik239

vor allem konstatieren, dass für ihn zwischen diesen beiden Sphären seines beruflichen Lebens und seiner geistigen Existenz kein wirklich tiefdringender, jedenfalls kein fundamentaler Unterschied bestanden hat. Für ihn war beides – freilich auf einer höheren Ebene – untrennbar miteinander verbunden: Sein politisches Engagement kann nicht gedacht werden ohne den Hintergrund seiner wissenschaftlichen Arbeit, die ihm die Stichworte lieferte, um vom zentralen Faktum der Sprache und Kultur her politische Notwendigkeiten zu formulieren und Forderungen auszusprechen. Und seine wissenschaftliche Arbeit wiederum stellte für ihn – trotz aller vielberufenen „Andacht zum Unbedeutenden“ und trotz aller Hingabe an das Detail  – in letzter Konsequenz nichts Geringeres dar als einen bewußt und mit leidenschaftlicher Überzeugung geleisteten Beitrag zur Verwirklichung des Zieles der politischen Einheit Deutschlands. Damit war Jacob Grimm ein politischer Gelehrter wie sehr viele, vielleicht die meisten seiner deutschen Zeit- und Berufsgenossen in jener Epoche, die etwa von den Befreiungskriegen bis in die beginnende Bismarckzeit reicht. Und man kann ihm in der Rückschau auch nur dann gerecht werden, wenn man diese beiden Seiten der Medaille seiner Persönlichkeit in den Blick nimmt. Wer sich im Rahmen einer Gesamtwür­ digung seiner Persönlichkeit nur auf den vorgeblichen „Begründer der Germanistik“ zurückzieht, führt ebenso einen halbierten Grimm vor wie derjenige, der sich – unter welcher Perspektive und mit welchen Absichten auch immer  – ausschließlich auf den politisch Tätigen beschränkt. Am Ende seiner berühmten Rechtfertigungsschrift von 1837 hat Jacob Grimm selbst mit unzweideutiger Klarheit die innere Einheit der eigenen Existenz als Gelehrter und als politisch Handelnder zum Ausdruck gebracht: „Nun liegen meine Gedanken, Entschlüsse, Handlungen offen und ohne Rückhalt vor der Welt. Ob es mir fruchte oder schade, daß ich sie aufgedeckt habe, berechne ich nicht; gelangen diese Blätter auf ein kommendes Geschlecht, so lese es in meinem längst schon stillgestandnen Herzen. Solange ich aber den Athem ziehe, will ich froh sein gethan zu haben was ich that, und das fühle ich getrost, was von meinen Arbeiten mich selbst überdauern kann, daß es dadurch nicht verlieren sondern gewinnen werde“94.

94  Grimm,

Über seine Entlassung (Anm. 43), S. 63.

Machtwechsel, Legitimität und Kontinuität als Probleme des deutschen politischen Denkens im 19. Jahrhundert I. Wenn man sich aus heutiger Sicht darum bemüht, die Frage nach der Legitimität, also der Rechtmäßigkeit politischer Herrschaft, in historisch-vergleichender Perspektive zu stellen, wird man sehr schnell zu der Erkenntnis gelangen, dass der Idee der Legitimität1 in der Gegenwart ein ungleich geringerer Stellenwert zugemessen wird als im neunzehnten Jahrhundert. Dominierte damals eine heftige Auseinandersetzung um die angemessene Deutung von „Legitimität“  – seit 1789 einer der zentralen politischen Kampfbegriffe der Epoche –, so neigt man heute meistens zu einer eher abstrakten und nüchternen Behandlung dieses Themas. Immerhin wird auch in neueren rechtswissenschaftlichen Bestimmungen des Begriffs darauf abgehoben, dass Legitimität in der Regel etwas zu tun hat (oder doch wenigstens zu tun haben sollte) mit der Rückbindung an überpositive Grundsätze, an ethische und traditionsbedingte Wertsetzungen, die ihrerseits aber wiederum in hohem Maße zeitbedingt und ­relativ sind. So ist etwa  – um eine neuere juristische Definition aus der Feder von Helmut Quaritsch zu zitieren – jede staatliche Herrschaftsausübung als legitim anzusehen, „die mit den überwiegend anerkannten Rechtsvorstellungen der Kulturgemeinschaft übereinstimmt, welcher der Staat nach seiner Geschichte und dem Willen seines Volkes angehört“2.

1  Grundlegend hierzu sind immer noch die viel Material bietenden begriffsgeschichtlichen Studien von Thomas Würtenberger jun., Die Legitimität staatlicher Herrschaft. Eine staatsrechtlich-politische Begriffsgeschichte (Schriften zur Verfassungsgeschichte, 20), Berlin 1973; derselbe, Art. Legitimität, in: Adalbert Erler/ Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 1978, Sp. 1681–1686; derselbe, Art. Legitimität, Legalität, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 677–740. 2  Helmut Quaritsch, Art.  Legalität, Legitimität, in: Hermann Kunst/Roman Herzog/Wilhelm Schneemelcher (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Stuttgart/ Berlin 21975, Sp. 1463.



Machtwechsel, Legitimität und Kontinuität241

Doch im Allgemeinen wird man nicht sagen können, dass die Frage nach der Legitimität in der gegenwärtigen Diskussion eine in irgendeinem Sinne bedeutende oder herausragende Rolle spielt  – weder in der aktuellen Politik, noch in der Rechtswissenschaft oder auch der politischen Wissenschaft. Von anhaltender Bedeutung für eine historisch-­ soziologische Erforschung des Phänomens Legitimität bleibt natürlich Max Webers berühmte Bestimmung der „drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“, nämlich der legal-rationalen, der traditionellen und der charismatischen Legitimität3. An Webers Definition der modernen rationalen Legitimität hat in neuerer Zeit Niklas Luhmann anknüpfen können, der davon ausgeht, dass sich heutige Formen der Legitimität von den letzten Resten des naturrechtlichen Wahrheitsanspruchs befreit haben und nurmehr in der Gestalt von Entscheidungsverfahren auftreten, die deshalb legitimierend wirken, weil sie von den Staatsbürgern akzeptiert  – wenn auch im einzelnen keineswegs mehr durchschaut  – werden4. Gleichwohl ist auch diese These einer „Legitimation durch Verfahren“ nicht unwidersprochen geblieben, denn eine allzu technisch-abstrakte Behandlung politischer Mechanismen neigt dazu, die irrationalen Elemente, die auch im heutigen politischen Leben immer noch vorhanden sind, zu vernachlässigen oder gar vollständig aus dem Blick zu verlieren. Aber es gibt durchaus auch weiterhin Versuche einer konkreten inhaltlichen Bestimmung dessen, was Legitimität ist oder doch wenigstens sein sollte. So sieht etwa der Jurist Werner von Simson „die Hauptlegitima­ tion des Staates“ nicht nur in der „Erhaltung bestimmter Freiheitsbereiche“, sondern zuerst und vor allem in der „Bewahrung des Friedens“5, die er sogar dahingehend ausdehnt, dass es gewissermaßen die legitime 3  Vgl. Max Weber, Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: derselbe, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 475–488; derselbe, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Köln/Berlin 1964, S. 157–188 u. a. – Zu Webers Legitimitätsverständnis siehe auch Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft (Anm. 1), S. 277 ff. sowie Friedrich Wilhelm Stallberg, Herrschaft und Legitimität. Untersuchungen zu Anwendung und Anwendbarkeit zentraler Kategorien Max Webers (Kölner Beiträge zur Sozialforschung und angewandten Soziologie, 18), Meisenheim 1975. 4  Vgl. Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt  a.  M. 1983, S. 20 u. passim; seine Definition lautet (ebenda, S. 28): „Man kann Legitimität auffassen als eine generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen.“ 5  Werner von Simson, Zur Theorie der Legitimität, in: Henry Steele Commager/ Günther Doeker/Ernst Fraenkel/Ferdinand Hermens/William C. Havard/Theodor Maunz (Hrsg.), Festschrift für Karl Loewenstein aus Anlaß seines achtzigsten Geburtstages, Tübingen 1971, S. 459–473, hier S. 467 f.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

Verpflichtung eines gegenwärtigen Staates sei, sich auf der übernationalen Ebene mit anderen Staaten zur Erringung und Absicherung eines künftigen Weltfriedens zusammenzuschließen. Vergleicht man nun die – im Vorangegangenen von mir nur sehr knapp und ganz unvollständig skizzierten – heutigen Vorstellungen von Legitimität mit den Legitimitätskonzepten des späten achtzehnten und der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, dann fällt auf, dass in heutiger Sicht die Kontinuität einer politischen Herrschaftsform für die Begründung ihrer Legitimität in der Regel keine Rolle mehr spielt. So würde niemand  – um einige Beispiele aus der jüngsten Geschichte zu nennen – auf den Gedanken verfallen, etwa die neuen Regierungen Russlands oder der anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks mit dem Blick auf die lange Kontinuität der vorangegangenen kommunistischen Regime als illegitim zu bezeichnen; das gleiche gilt für die neuen politischen Systeme, die sich in den siebziger Jahren in Spanien und Portugal nach dem Ende der dortigen langjährigen autoritären Regime gebildet haben. Aber auch wenn die Entwicklung einmal umgekehrt verläuft – erinnert sei hier nur an die Errichtung von Militärdiktaturen 1967 in Griechenland und 1973 in Chile, auch an analoge Vorgänge in Südamerika –, orientiert sich die Kritik an der mangelnden Legitimität solcher Regime in der Regel an den politischen Grundwerten der westlichen Welt: Nicht etwa der Kontinuitätsbruch durch einen Staatsstreich wird beklagt, sondern mangelnde Meinungsfreiheit, Rechtsunsicherheit und Verletzung der elementaren Grund- und Menschenrechte. Außerdem – und auch dies sollte nicht ganz vergessen werden – spielt die Größe und weltpolitische Bedeutung eines solchen Staates eine gewichtige Rolle: Es ist eben einfacher, die Herrschaft des Diktators eines mittel- oder südamerikanischen Kleinstaates offen als illegitim zu kritisieren als die kommunistische Regierung einer Weltmacht, die sich ebensowenig wie jener um die Einhaltung elementarster Grundrechte schert. Dagegen spielte im neunzehnten Jahrhundert die Idee der Kontinuität eine wichtige, um nicht zu sagen herausragende Rolle bei der Bestimmung von Legitimität. Genau hiernach soll im Folgenden gefragt werden: In welcher Weise und mit welchen Zielsetzungen verbanden deutsche politische Autoren des neunzehnten Jahrhunderts  – und zwar vornehmlich des konservativen Lagers  – die Begriffe Legitimität und Kontinuität miteinander, und worin liegen die Ursachen für das Scheitern dieser Konzeption, genauer gesagt: für das Scheitern des Versuchs, Legitimität auch durch Rückbindung an die Idee der Notwendigkeit von Kontinuität zu begründen.



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II. Im alten Europa  – vor Beginn der Industriellen Revolution und den mit ihr einsetzenden immer rascheren Umwälzungen und Veränderungsprozessen in Lebenswelt und Politik – kam der Idee der Kontinuität eine ungleich größere Bedeutung zu als in späterer Zeit und erst recht als in unserer Gegenwart. Bevor ich auf das Thema der Legitimität zurückkomme, möchte ich kurz nach den Gründen für diesen Tatbestand fragen. Als erstes wird man wohl die negativen Erfahrungen in den Blick zu nehmen haben, die man im Bereich der konkreten Lebenswelt mit allen Formen der Diskontinuität machen musste: Das waren in der Regel kleinere oder auch größere kriegerische Auseinandersetzungen mit den üblichen Folgen für das Leben der Menschen – Hungersnöte, Seuchen, sozialer Zerfall. In dieser Perspektive erschien Kontinuität also als eine lebenswichtige Grundbedingung sozialer Existenz. Sodann muss man, was das Mittelalter betrifft, bestimmte geschichtstheologische Denkfiguren berücksichtigen, die ganz auf die Idee der Erhaltung von Kontinuität hin angelegt waren. Hier ist im besonderen an die wohl am wirkungsmächtigsten von Otto von Freising vertretene Reichstheologie zu erinnern6, an die Lehre von den „vier Weltreichen“, die der Kirchenvater Hieronymus in seinem Kommentar zum Buch des alttestamentarischen Propheten Daniel entwickelt hatte: die Welt besteht nach dieser Lehre so lange, wie das vierte Weltreich, also das (auf das babylonische, das persische und das griechische folgende) römische Reich existiert. Durch die „translatio imperii“7 von den Römern auf die Deutschen ist die Kontinuität dieses vierten Weltreiches gesichert  – und sein Bestand vermag, wenn es in Eintracht mit der Kirche zusammenwirkt, die Ankunft des Antichristen und damit das Ende der Welt aufzuhalten. Dieser Gedanke wurde vor allem in Krisenzeiten bedeutsam, denn, um 6  Hierzu siehe statt vieler die neuere grundlegende Arbeit von Hans-Werner Goetz, Das Geschichtsbild Ottos von Freising. Ein Beitrag zur historischen Vorstellungswelt und zur Geschichte des 12. Jahrhunderts, Köln/Wien 1984, S. 139 ff., 143 ff., 148 ff., 264 ff. u. passim; außerdem Ernst H. Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957, dt.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1990, S. 296 ff. 7  Vgl. Werner Goez, Translatio Imperii. Ein Beitrag zur Geschichte des Geschichtsdenkens und der politischen Theorien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Tübingen 1958; Notker Hammerstein, „Imperium Romanum cum omnibus suis qualitatibus ad Germanos est translatum“. Das vierte Weltreich in der Lehre der Reichsjuristen, in: derselbe, Geschichte als Arsenal. Ausgewählte Aufsätze zu Reich, Hof und Universitäten der Frühen Neuzeit. Hrsg. v. Michael Maaser/Gerrit Walther, Göttingen 2010, S. 58–74.

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eine Formulierung Hans Freyers aufzugreifen, „wenn eine Welt zerbricht […] verbürgt der Glaube an haltende Mächte die Zukunft; vielmehr nicht der Glaube an sie, sondern sie selbst verbürgen sie, wenn sie mitten im Zusammenbruch da sind und wirken“8. Neben und nach der eschatologischen Geschichtstheologie waren es wiederum bestimmte Elemente des seit dem dreizehnten Jahrhundert im Abendland intensiv rezipierten römischen Rechts9, die in den Dienst der Sicherung von Kontinuität gestellt wurden  – nun nicht mehr unbedingt mit dem Blick auf ein befürchtetes nahes Weltende, sondern mit dem Bestreben, erworbene Besitzstände zu wahren und kontinuierlich weiter zu tradieren. Die wohl bekannteste dieser juristischen Denkfiguren ist jene Theorie der „Zwei Körper des Königs“, denen Ernst Kantorowicz sein mit Recht berühmtes zweites Hauptwerk gewidmet hat10. Der König erscheint im Rahmen dieser insbesondere in England und Frankreich vertretenen Lehre gewissermaßen in doppelter Form: zum einen als reale, lebende und damit auch sterbliche Person, zum anderen als unsterbliche persona ficta, als eine die Zeiten überdauernde imaginäre Rechtsperson, die auch dann lebt und im staatsrechtlichen Sinne existiert, wenn der reale Mensch, der eine Königskrone trug, gestorben ist. Diese Theorie hatte vorrangig dem Zweck zu dienen, den Herrschaftsanspruch einer bestimmten Familie zu sichern sowie die Unversehrtheit des Kronbesitzes in Zeiten der Thronvakanz zu bewahren11. Schließlich sei als vierter Grund für die besondere Bedeutung von Kontinuität im Denken der Zeit vor 1800 auch die vielfach verbreitete organische Staatstheorie genannt: Das Gemeinwesen wurde als Person, als Organismus, als kollektiver Körper, als „Mensch im Großen“ aufgeFreyer, Weltgeschichte Europas, Stuttgart 21954, S. 379; vgl. auch ebenda, S.  379 ff., 390 ff. 9  Hierzu siehe das ältere Grundlagen- und Standardwerk von Friedrich Carl von Savigny, Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, Bde. 1–6, Heidelberg 1815–1831 u. ö.; außerdem Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, München/Berlin 41966, sowie Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs (Anm. 6), bes. S. 115 ff. u. passim 10  Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs (Anm. 6); hierzu auch Robert E. Lerner: Ernst Kantorowicz. Eine Biographie, Stuttgart 2020, S. 409–429. 11  Dass der Kontinuitätsgedanke auch von den Kritikern des absolutistischen Königtums im vorrevolutionären Frankreich mit dem Ziel der Wahrung und Behauptung der als legitim angesehenen Rechte der alten „Parlamente“ virtuos gehandhabt werden konnte, zeigt die interessante Studie von Wolfgang Schmale, Geschichte, Kontinuität und Wahrheit. Zum Problem der Legitimation von Politik im 18. Jahrhundert in Frankreich, in: Dieter Berg/Hans-Werner Goetz (Hrsg.), Ecclesia et regnum. Beiträge zur Geschichte von Kirche, Recht und Staat im Mittelalter. Festschrift für Franz-Josef Schmale, Bochum 1989, S. 339–349. 8  Hans



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fasst, der sich dementsprechend auch kontinuierlich und nicht etwa sprunghaft entwickelt12. Diese Lehre konnte sich auf die antike Staatsphilosophie seit Platon und Aristoteles berufen und hat bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein immer wieder neue Anhänger und Vertreter gefunden  – keineswegs nur bei konservativen Romantikern wie Adam Müller13, sondern auch bei ausgeprägt liberalen Autoren wie etwa Johann Caspar Bluntschli14. Vergegenwärtigt man sich die ebengenannten Tatbestände, dann leuchtet ein, warum man noch im vergangenen Jahrhundert der Idee der Kontinuität eine so herausragende Bedeutung beigemessen hat, und dann leuchtet ebenfalls ein, warum im Rahmen bestimmter politischer Denkfiguren Kontinuität und Legitimität miteinander verbunden wurden: vor allem anderen, um Krisen zu bewältigen, die durch plötzliche Umbrüche hervorgerufen wurden, um also die vielfach als katastrophisch empfundenen Folgen von Diskontinuität im historischen Prozess zu überwinden. Sehr früh schon stellte sich das immer wieder als zentral empfundene Problem der Begründung neuer Legitimität nach einem Kontinuitätsbruch, also, anders formuliert, die Frage: Zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Bedingungen kann nach einem abrupten, meistens sogar ­gewalttätig – durch Usurpation, Umsturz, Revolution oder Staatsstreich – vollzogenen Machtwechsel eine neue Herrscherdynastie, ein neues politisches System, eine neue Regierung Legitimität beanspruchen? Eine Durchsicht traditioneller Legitimitätsvorstellungen vermag zu zeigen, dass bereits mittelalterliche Autoren dieses Problem wenigstens im Ansatz erkannt hatten: So vertrat etwa William von Ockham die Auffassung, nur Gott allein wisse „um den genauen Zeitpunkt […], wann usurpierte und tyrannische Gewalt in legitime Herrschaft“ umschlage15. Der Calvinist Theodore de Bèze formulierte im sechzehnten Jahrhundert die These, auch ein tyrannischer Usurpator könne dann Legitimität be­ anspruchen, wenn ihm die „Zustimmung des Volkes“ sicher sei16, und François Fénelon wiederum beharrte um 1700 auf dem Grundsatz, dass die gewaltsame Absetzung einer seit unvordenklichen Zeiten regierenden 12  Vgl. statt vieler Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3: Die Staats- und Korporationslehre des Altertums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland (zuerst 1881), Ndr. Darmstadt 1954, S. 8 ff. u. passim; Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs (Anm. 6), S. 210 ff. 13  Vgl. hierzu vor allem Gisela von Busse, Die Lehre vom Staat als Organismus. Kritische Untersuchungen zur Staatsphilosophie Adam Müllers, Berlin 1928. 14  Vgl. Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft (Anm. 1), S. 211 ff. 15  Vgl. ebenda, S. 45. 16  Vgl. ebenda, S. 53.

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Herrscherfamilie stets ein Verbrechen sei; die Übernahme einer Krone durch eine andere Familie werde erst dann legitim, wenn kein Thronprätendent, kein Erbe des früheren Herrscherhauses mehr vorhanden sei17. Nach 1789 musste sich diese Frage mit besonderer Dringlichkeit erneut stellen, und es ist wohl kein Zufall, dass es gerade ein Engländer war, nämlich Edmund Burke, der als einer der ersten eine Antwort hierauf versuchte, denn er konnte bereits auf dem Hintergrund der Erfahrungen der englischen Revolutionen des siebzehnten Jahrhunderts und des Problems der umstrittenen Thronfolge des Hauses Hannover im Jahre 1714 argumentieren. Als „Old Whig“ und unbedingter Anhänger des Hauses Hannover18 konnte Burke nicht mehr auf die traditionelle Lehre vom „Divine right of kings“19 zurückgreifen, auf die sich die Stuarts stets berufen hatten. In seinen „Reflections on the Revolution in France“ führte Burke vielmehr den Gedanken aus, es komme nicht auf den Ursprung einer bestehenden und damit legitimen Herrschaft an, sondern eigentlich entscheidend sei zuerst und vor allem ihre Dauer – und er illustrierte diese These mit dem Beispiel der  – vorgeblich  – organischen und kontinuierlichen Verfassungstradition Englands. In dieser Sicht erschien die Französischen Revolution als bewusster Traditions- und Kontinuitätsbruch und damit als im Kern illegitim20. Ähnlich argumentierte wiederum – wenn auch ungleich stärker theologisch akzentuiert  – der Traditionalist Joseph de Maistre, wohl der ent17  Vgl.

ebenda, S. 90 f. Richmond Lennox, Edmund Burke und sein politisches Arbeitsfeld in den Jahren 1760 bis 1790. Ein Beitrag zur Geschichte der liberalen Ideen und des politischen Lebens in England, München/Berlin 1923; Philip Magnus, Edmund Burke. A Life, London 1939; Walter von Wyss, Edmund Burke. Denker, Redner und Warner, München 1966. 19  Vgl. John Neville Figgis, The Divine Right of Kings, Cambridge 21922; Gerald Straka, The Final Phase of Divine Right Theory in England, 1688–1702, in: The English Historical Review 77 (1962), S. 638–658; Gerhard A. Ritter, Divine Right und Prärogative der englischen Könige 1603–1640, in: derselbe, Parlament und Demokratie in Großbritannien. Studien zur Entwicklung und Struktur des politischen Systems, Göttingen 1972, S. 11–58. 20  Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France (1790), Harmondsworth 1982, bes. S. 115 ff. u. passim; vgl. hierzu auch Dietrich Hilger, Edmund Burke und seine Kritik der Französischen Revolution (Sozialwissenschaftliche Studien, 1), Stuttgart 1960, S. 81 f. u. a. – Als einer der ersten, die in Deutschland unter dem Einfluss Burkes diesen Gedanken aufgriffen, sei hier genannt: August Wilhelm Rehberg, Untersuchungen über die Französische Revolution nebst kritischen Nachrichten von den merkwürdigsten Schriften welche darüber in Frankreich erschienen sind, Bd. 1, Hannover/Osnabrück 1793, S. 70 f.; vgl., dazu auch die Bemerkungen bei Ursula Vogel, Konservative Kritik an der Bürgerlichen Revolution. August Wilhelm Rehberg (Politica, 35), Darmstadt/Neuwied 1972, S. 124. 18  Vgl.



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schiedenste und radikalste Gegner der Revolution21: Für ihn, der im Gegensatz zu Burke an der Lehre vom göttlichen Recht der Könige strikt festhielt, offenbarte sich Gott durch den von ihm gelenkten Gang der Geschichte22. Gott äußert sich, so de Maistre, „über die Legitimität einer Dynastie in einer für die Menschen erkennbaren Weise nur durch die Zeit, in der er sie bestehen läßt“23. Die Zeit ist also, wie de Maistre in einer für ihn typischen Formulierung sagt, Gottes „Premierminister für die weltlichen Angelegenheiten“24, durch den er den Menschen den von ihm gelenkten Gang der Geschichte offenbart und damit zugleich zeigt, welche Regierung legitim ist und welche nicht. Natürlich sind auch Revolutionen und Usurpationen von Gott gewollt  – aber sie sind deshalb nicht etwa legitim, sondern sie haben die Funktion eines göttlichen Strafgerichts über die sündhafte Menschheit und sie sind deshalb auch immer von begrenzter Dauer. Jedenfalls hat de Maistre auf der Grundlage dieser Überzeugung bereits 1796 die Restauration der französischen Monarchie vorhergesagt25. III. Mit einem Blick auf die gewaltige Umbruchsepoche zwischen 1789 und 1815 lässt sich zusammenfassend bemerken, dass in dieser Zeit „Legitimität“ zu einem politischen Kampfbegriff erster Ordnung wurde. In den ersten Jahren nach dem Ausbruch der Revolution handelte es sich vor allem darum, der revolutionären These entgegenzutreten, alle Formen traditioneller monarchischer Herrschaft seien durch Gewalt und Eroberung zustande gekommen, daher illegitim und durch Revolution zu beseitigen26. 21  Siehe über ihn die neueren grundlegenden Arbeiten von Robert Triomphe, Joseph de Maistre. Etude sur la vie et sur la doctrine d’un matérialiste mystique, Genf 1968; Richard A. Lebrun, Joseph de Maistre. An Intellectual Militant, Kingston/Montreal 1988. 22  Vgl. hierzu auch Peter Richard Rohden, Joseph de Maistre als politischer Theoretiker. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Staatsgedankens in Frankreich, München 1929, S. 169–219. 23  Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft (Anm. 1), S. 142. 24  Joseph de Maistre, Oeuvres, Paris 1841, Sp. 126: „Quant à la légitimité, si dans son principe elle a pu sembler ambiguë, Dieu s’explique par son premier ministre au département de ce monde, le temps“ (Essai sur le principe générateur des constitutions politiques, XXVII). 25  Vgl. ebenda, Sp. 70 ff. (Considérations sur la France, ch. IX). 26  Diese These vertrat besonders einer der einflussreichsten Autoren der Revolution: Thomas Paine, The Rights of Man (1791/92), (Everyman’s Library, 718) London/New York 1944, S. 163 ff.

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Am Ende der napoleonischen Herrschaft  – und damit auch des Revolutionszeitalters – in den Jahren 1814 und 1815 änderte sich die Perspektive27. Die französischen Autoren und Politiker, die sich nun als Verfechter der Legitimität im Sinne einer Restauration der bourbonischen Dynastie offenbarten, nämlich Chateaubriand, Constant und insbesondere Talleyrand, argumentierten jetzt vor dem Hintergrund der Erfahrung eines Vierteljahrhunderts, das in fast jeder Hinsicht von Diskontinuität, von Umbrüchen, Regimewechseln und ständig neuen Veränderungen auf der politischen Landkarte gezeichnet war. Chateaubriand und Constant machten Napoleons „Geist der Eroberung“, der Usurpation  – womit sowohl sein durch Staatsstreiche bestimmter politischer Aufstieg wie auch seine zahlreichen Kriege gemeint waren  – für die Katastrophe Frankreichs und Europas verantwortlich. Das einzige wirksame Heilmittel hiergegen sahen sie in der Wiederherstellung der legitimen Herrschaft der alten Dynastie der Bourbonen28. Es bleibt allerdings festzuhalten, dass diese beiden Autoren jetzt nicht mehr – und schon gar nicht Talleyrand – auf die alte Denkfigur des göttlichen Rechts der Könige zurückgriffen, sondern, im Gegenteil, den Legitimitätsgedanken im wesentlichen funktional begründeten: In der ge­ gebenen, konkreten Situation sahen sie in der Wiederherstellung der Herrschaft des legitimen Königshauses die einzige Möglichkeit zur Wiederherstellung von Ruhe, Ordnung, Sicherheit und Frieden. Außerdem machte sich niemand von ihnen zum Anwalt einer Rückkehr zum Status quo ante: Sie gingen, im Gegenteil, davon aus, dass die Bourbonen bereit sein müssten, aus ihren eigenen Fehlern während des Ancien Régime, die wesentlich zum Ausbruch der Revolution beigetragen hätten, für die Zukunft zu lernen. Und dass Frankreich fortan ein Verfassungsstaat zu sein hatte, unterlag für Chateaubriand, Constant und Talleyrand keinem Zweifel. Legitimität bedeutete für sie: Sicherung von Ordnung, Wohlstand und Frieden gegen die Usurpation durch Bindung an das althergebrachte Herrscherhaus. In diesem Sinne wurde der Begriff der Legitimität in der folgenden Restaurationsära von 1815 bis 1830 verstanden und  – auch im deutschsprachigen Bereich – von vielen politischen Autoren definiert, sei es nun 27  Vgl. zum Wandel des Legitimitätsverständnisses seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert auch die wichtige Studie von Otto Brunner, Bemerkungen zu den Begriffen „Herrschaft“ und „Legitimität“, in: derselbe, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 31980, S. 64–79. 28  Vgl. hierzu Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft (Anm. 1), S.  112 ff.; Alexander Gauland, Das Legitimitätsprinzip in der Staatenpraxis seit dem Wiener Kongreß (Schriften zum Völkerrecht, 20), Berlin 1971.



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zustimmend oder ablehnend. Der Kontinuitätsgedanke schien vorerst aus dem Spiel zu sein, denn eine Anknüpfung an die vorangegangene Revolution oder an das napoleonische System kam nicht in Frage. Doch bald tauchte ein altes Problem erneut auf: nämlich die Frage nach der werdenden Legitimität neuer Regierungen und neuer politischer Ordnungen. Nicht nur mit der französischen Julirevolution von 1830 stellte sich dieses Problem, sondern auch mit dem beginnenden Zerfall des Osmanischen Reiches und der Entstehung neuer Staaten auf dem Balkan, mit der Loslösung Südamerikas von spanischer und portugiesischer Vorherrschaft, nicht zuletzt auch in der Folge der spanischen Bürgerkriegswirren. Wenn es jetzt darum ging, die Legitimität neu entstandener Staaten und Regierungen, auch wenn sie durch Revolution oder Usurpation entstanden waren, zu definieren, dann blieb der Rückzug auf die traditionellen Argumentationsformen von fortdauernder Kontinuität oder vom göttlichen Königsrecht als Legitimationskriterien versperrt. Ein solcher Rückzug hätte bedeutet, jede neue politische Form, jede neue Regierung, die sich nicht traditional legitimieren konnte, als illegitim anzusehen und damit bestenfalls zu ignorieren. Wenn man unter den nun einmal gegebenen Umständen politisch wirken wollte, war eine derartige Argumentation nicht mehr möglich. Die Frage, die es jetzt zu beantworten galt, lautete: Wie, wann und unter welchen äußeren und inneren Bedingungen entsteht neue Legitimität? Dass diese Frage  – und damit auch der erneute Versuch, Legitimität durch Kontinuität zu bestimmen – nur für konservative Denker ein Problem darstellte, ist evident: Die führenden Liberalen der Zeit plädierten entweder, wie Dahlmann, dafür, den Begriff und das Konzept als historisch überholt ganz ad acta zu legen29, oder aber sie eigneten sich den Begriff auf ihre Weise an, um ihn, so etwa Rotteck30, mit eigenen Inhalten zu füllen: Legitim sollten in dieser Sicht nur noch diejenigen politischen Ordnungen sein, die sich den Grundsätzen der Volkssouveränität, der Gewaltenteilung und des Konstitutionalismus verpflichtet hatten31. Einer der ersten Autoren, die das Problem aus konservativer Perspektive in den Blick nahmen und eingehend erörterten, war der Schweizer

29  Vgl. Friedrich Christoph Dahlmann, Von politischen Drangsalen (1820), in: derselbe, Kleine Schriften und Reden, Stuttgart 1886, S. 133 ff., bes. S. 151, 171 ff. u. passim. 30  Vgl. Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft (Anm. 1), S. 204 f. 31  Vgl. Carl von Rotteck, Art. Legitimität, in: Carl von Rotteck/Carl Theodor Welcker (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. 8, Altona 21847, S.  476 ff.

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Carl Ludwig von Haller32, der in seiner von 1817 bis 1836 in sechs Bänden erschienenen „Restauration der Staats-Wissenschaft“ die bei weitem umfassendste und gerade in Deutschland stark beachtete konservative Theorie dieser Epoche entwickelte. In seinem zweiten Band  widmet er dem Problem der unrechtmäßigen Usurpation von Herrschaft breiten Raum. In seiner etwas umständlichen und weitschweifigen Art führt er aus, „daß langer, ungestörter, unwidersprochener Besiz zulezt auch die ursprüngliche Usurpation zum wirklichen Rechte macht, theils weil er die […] Verzichtleistung von Seite des früheren Eigenthümers vermuthen läßt, theils weil während demselben neue freywillige Verhältnisse und Verträge sich bilden, die ohne Ungerechtigkeit nicht wieder umgestürzt werden können. Es verhält sich in der moralischen wie in der physischen Welt. Die Natur heilet alle Wunden und bringt nach und nach alles wieder ins Geleise; ihre unbegreiflich herstellende Kraft corrigirt zulezt alle Thorheiten, alle Gewaltthaten der Menschen: sonst würde die Ordnung der Welt, welche der menschliche Unverstand stets zu verlezen droht, längst zu Grunde gegangen seyn“33. Auch auf dem politischen Gebiet gilt die Verjährung, so Haller, „in jedem einzelnen Fall nach dem allgemeinen Urtheil und Gefühl, welches deßwegen nicht willkührlich, sondern auf die Umstände und Thatsachen begründet ist, aus welchen einerseits auf die Rechte des dießmaligen Besizers, andererseits auf die stillschweigende Verzichtleistung von Seite des früheren Eigenthümers geschlossen wird. Die größten Juristen haben dieses anerkannt, und der Ausspruch der Vernunft wird auch hier von der allgemeinen Erfahrung bestätiget“34. Außerdem habe man die Tatsache zu berücksichtigen, so Haller weiter, „daß langer ungestörter Besiz nothwendig die Natur der Sache verändert. Während dem Verlauf einer so langen Zeit geschehen so viele Veränderungen, daß es unmöglich wird die Dinge in ihren vorigen Stand zurükzustellen; eine Menge neuer Verhältnisse sind angeknüpft, neue Verträge geschlossen worden, die von niemand widersprochen, an und für sich ganz erlaubt waren, und die ohne neues Unrecht, ohne zahllose Beleidigung vieler Unschuldigen, nicht 32  Vgl. Wilhelm Hans von Sonntag, Die Staatsauffassung Carl Ludwig von Hallers, ihre me­taphysische Grundlegung und ihre politische Formung, Jena 1929; Ewald Reinhard, Karl Ludwig von Haller, der „Restaurator der Staatswissenschaft“, Münster 1933; Heinz Weilenmann, Untersuchungen zur Staatstheorie Carl Ludwig von Hallers. Ver­such einer geistesgeschichtlichen Einordnung, phil. Diss. Bern 1955. 33  Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staats-Wissenschaft oder Theorie des natürlich-geselligen Zustands der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesezt [sic], Bd. 2, Winterthur 21820, S. 576. 34  Ebenda, S.  577 f.



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wieder umgestürzt werden können. Hat man nothwendig zwischen zwey Uebeln zu wählen, so ist es besser, daß eine alte längst vernarbte und vergessene Ungerechtigkeit mit ihren Folgen stehen bleibe, als daß neue Ungerechtigkeiten verübt werden, die viel größere Uebel herbeyziehen würden“35. Immerhin geht Haller davon aus, dass es unter Umständen mehrere hundert Jahre dauern könne, um solch eine Verjährung im Sinne der Begründung unwidersprochener neuer Legitimität herbeizuführen36. In Norddeutschland, genauer gesagt in Preußen war der Jurist und Politiker Ernst Ludwig von Gerlach37 einer der treusten und entschiedensten Verfechter der politischen Ideen Hallers38. Bereits ein Jahr nach der französischen Julirevolution vertrat er öffentlich die These, dass „ein unrechtmäßiger Besitz in einen rechtmäßigen sich verwandeln kann, wenn im Laufe der Zeit alle diejenigen […] hinwegfallen, welche berechtigt waren, einen solchen Besitz anzufechten oder wenn die Mittel, seine Unrechtmäßigkeit zu beweisen, verloren gehen“39. Und noch 1863 stellte er in einem Vortrag mit dem sprechenden Titel „Christentum und Königtum 35  Ebenda, S. 579.; konkrete Beispiele, der Geschichte und der jüngst vergangenen Epoche entnommen, nennt er ebenda, S. 580 f.: „So waren z. B. die Confiscation der Tempelherren-Güter in Frankreich, die Einziehung der Kirchen-Güter bey der Reformation, der Besizungen des Jesuiten-Ordens, der Deutsch-Herren und Johanniter-Ritter, die Sekularisationen so vieler geistlicher Staaten bey dem Westphälischen Frieden und nach den Französischen Revolutions-Kriegen, damals gewiß wahre Usurpationen und vor dem Richterstuhl der Gerechtigkeit nicht zu entschuldigen. Aber wenn der einzig begründete Ansprecher nicht mehr existirt, wenn inzwischen die Sache durch mehr hundertjährigen unwidersprochenen Besiz, durch viele Mutationen und Meliorationen, durch tausend neu angesponnene Verhältnisse Natur geändert hat [sic], wenn mit einem Wort die Restitution an den ursprünglichen Eigenthümer unmöglich ist und andere gar keinen Anspruch zu machen haben: wer wird das Recht des wirklichen Besizers noch bestreiten können? Demnach ist es keinem Zweifel unterworfen, daß eine Art von Verjährung auch unter unabhängigen Fürsten wie unter Privat-Personen Plaz findet, und daß mittels des langen, ungestörten und unwidersprochenen Besizes, selbst ursprünglich usurpirte Länder am Ende zum rechtmäßigen Eigenthum werden“. 36  Vgl. ebd. S. 580 (zit. in der vorigen Anm.). 37  Über ihn siehe Hans-Joachim Schoeps, Das andere Preußen. Konservative Gestalten und Probleme im Zeitalter Friedrich Wilhelms IV., Berlin 51981, S. 1–87; Hans-Christof Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 53), Bde. 1–2, Göttingen 1994. 38  Vgl. dazu Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (Anm. 37), Bd. 1, S. 81 ff., 120 ff. 39  [Ernst Ludwig von Gerlach]: Von einigen Einwürfen gegen die Lehre der heiligen Schrift vom göttlichen Rechte der Obrigkeiten, in: Evangelische Kirchenzeitung, Nr. 82, 12.10.1831, Sp. 653; vgl. hierzu und zum folgenden auch Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (Anm. 37), Bd. 1, S. 271 ff.

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von Gottes Gnaden im Verhältnis zu den Fortschritten des Jahrhunderts“ fest: „Jeder Besitz, jede Macht ist vom ersten Augenblicke an ein Keim werdenden Rechts. Sofort entwickeln sich daraus Rechtsverhältnisse kraft der Persönlichkeit des Besitzers. Diese Eigenschaft hat auch der unrechtmäßige Besitz und die unrechtmäßig erworbene Macht. Es ist wol [sic] keiner hier unter uns, an dessen Besitztum nicht unrechtmäßiger Erwerb klebt, wenn wir nur den Ursprung des Besitztums hinauf verfolgen könnten durch die Generationen. Aber ist niemand mehr da, der den ­Besitz oder die Macht anfechten will oder kann, so wird sie legitim. Die Uebergangszeit nur ist voll Dunkelheit und Zweifel“40. Zuweilen war Gerlach sogar fähig, aus dieser These Konsequenzen zu ziehen, die sich aus dem Munde eines entschiedenen Konservativen und Revolutionsgegners eher seltsam anhörten, in jedem Fall aber ungewöhnlich waren. So konnte er im April 1849 im Rückblick auf die von ihm nicht eben sehr geschätzte Frankfurter Nationalversammlung tatsächlich sagen: „Die Paulskirche ist revolutionär, sie ist usurpatorisch, aber sie ist nicht blos revolutionär, nicht blos usurpatorisch. Sie hat ein für die Entwickelung von Deutschland höchst bedeutendes Moment von Legitimität […] in sich. Bekanntlich hörten im März 1848 die deutschen Regierungen auf zu regieren. Der Bundestag zitterte vor seinem eignen Schatten, vor dem Laut seiner eignen Stimme. Da griff […] die Paulskirche zu. Wo niemand regieren will oder kann, ist jeder legitim, der es will und kann“41. Mit dieser Formulierung, mit der sich Gerlach in der Tat sehr weit vorwagte und die sich in dieser oder ähnlicher Form bei keinem anderen Konservativen dieser Zeit findet, hat er die Theorie der werdenden Legitimität noch radikalisiert, in jedem Fall aber erweitert: Denn dass in einer Situation, in der ein legitimer Herrscher vorübergehend zur Ausübung seiner Herrschaft unfähig ist, jeder, der die Fähigkeit und Möglichkeit zur Machtausübung besitzt, damit auch zu einer neuen politischen Herrschaft legitimiert ist, folgt keineswegs aus der Lehre von der neuen Legitimität. Denn selbst eine vorübergehende Unfähigkeit zur Ausübung von Herrschaft kann mittels besonderer Rechtstitel und -konstruktionen überbrückt werden – diese Funktion besaß neben anderen die bereits erwähnte Lehre von den „zwei Körpern des Königs“.

40  [Ernst Ludwig von Gerlach]: Christentum und Königtum von Gottes Gnaden im Verhältnis zu den Fortschritten des Jahrhunderts, in: Evangelische Kir­ chenzeitung, Nr. 23, 21.3.1863, Sp. 273. 41  [Ernst Ludwig von Gerlach]: Zwölf politische Monats-Rundschauen vom Juli 1848 bis dahin 1849, Berlin 1849, S. 163 (der Text erschien als „Rundschau zu Anfang April 1849“ zuerst in der Neuen Preußischen Zeitung).



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Einer der bekanntesten Restaurationstheoretiker der Ära nach der J­ ulirevolution war der Jurist und Publizist Carl Ernst Jarcke42, für den das Prinzip der Legitimität darin bestand, die äußerlich fassbare Lebensordnung der menschlichen Gesellschaft als auf Gottes Gebot gegründet anzuerkennen. Als ausgesprochen strenger Verfechter des Gottesgnadentums stellte er in scharfer Abgrenzung vom zeitgenössischen Liberalismus ausdrücklich fest, „daß Legitimität und Volkssouveränität nicht bloß factisch und in unserer heutigen Zeit, sondern ihrer Natur nach sich gegenseitig ausschließen“43. Doch selbst er sah sich ausdrücklich veranlaßt, das Problem der Entstehung neuer legitimer Rechtsverhältnisse eingehend in den Blick zu nehmen: „Uebrigens ist die Frage: ob im Laufe der Zeit aus Unrecht Recht werden könne? geradezu zu bejahen. Das sittliche Unrecht einer Usurpation erlischt freilich nicht und ändert sich nicht, wie denn überhaupt jede Handlung vor Gott das bleibt, was sie einmal war und ist; auch gibt es keine bestimmten Fristen, nach deren Ablauf ein illegitimer Besitz eines Thrones rechtmäßig würde. Aber im Laufe der Zeit kann der seines Besitzes Entsetzte oder der rechtmäßige Erbe seines Anspruchs dem ihm zustehenden Rechte entsagen, oder alle die, welche ein besseres Recht auf die usurpierte Krone besaßen, können durch den Tod wegfallen. – Ist jener Verzicht geleistet, ist das vertriebene Herrschergeschlecht ausgestorben, ist Niemand vorhanden, der befugt wäre, dem Usurpator oder dessen Nachkommen ihre Herrschaft streitig zu machen, dann und nicht eher ist der Besitz, welcher auf unrechtliche Weise angefangen hat, im Laufe der Zeit, wenn gleich nicht bloß durch denselben, rechtmäßig geworden, obwohl die Sünde, durch welche er entstand, durch ein späteres Factum weder ungeschehen gemacht noch gerechtfertigt werden kann“44. Einer der Mitbegründer und eifriger Mitarbeiter des zeitweilig von Jarcke geleiteten konservativen und streng legitimistischen „Berliner politischen Wochenblatts“45 war der Offizier, Diplomat und Schriftsteller Joseph Maria von Radowitz, zugleich einer der engsten und einfluss42  Siehe über ihn Frieda Peters, Carl Ernst Jarcke’s Staatsanschauung und ihre geistigen Quellen, phil. Diss. Köln 1926; Arthur Wegner, Carl Ernst Jarcke, in: Festschrift für Ernst Heinrich Rosenfeld, Berlin 1949, S. 65–117; Hans-Christof Kraus, Carl Ernst Jarcke und der katholische Konservatismus im Vormärz, in: Historisches Jahrbuch 110 (1990), S. 409–445. 43  Carl Ernst Jarcke, Vermischte Schriften, Bd. 3, München 1839, S. 122. 44  Ebenda, Bd. 3, S. 112 f. 45  Vgl. Wolfgang Scheel, Das „Berliner politische Wochenblatt“ und die politische und so­ziale Revolution in Frankreich und England. Ein Beitrag zur konservativen Zeit­ kritik in Deutschland (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, 36), Göttingen/Berlin/Frankfurt a. M. 1964.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

reichsten Freunde und Vertrauten König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen46. Auch Radowitz bestand mit Nachdruck darauf, dass die Zeit allein kein hinreichendes Kriterium für die Entstehung neuer Legitimität sein könnte; einer solchen, wie er in einem 1837 niedergeschriebenen politischen „Fragment“ formulierte, „grob materiellen Ansicht“ könne man „allerdings die Forderung machen, daß sie den Termin angeben möge“, an dem sich diese Umwandlung in Recht vollziehe: „das Unhaltbare“, fügte er hinzu, „und selbst Lächerliche einer solchen, das ganze sittliche Fundament des Rechts untergrabenden Behauptung springt in die Augen“47. Doch der Auseinandersetzung mit dem Tatbestand, dass es in konkreten Machtlagen auch zur Entstehung neuer Legitimität kommen kann und sogar muss, konnte allerdings auch Radowitz nicht ausweichen. Es komme, stellt er fest, „bei dem Länderbesitze […] lediglich darauf an, wer das beste Recht auf die Regierung hat. Nur diejenigen, welche ein besseres Recht als der Usurpator haben, sind befugt, durch Anwendung aller ihnen zu Gebote stehenden Mittel den […] unrechtmäßigen Besitzer zu vertreiben. Zur Seite hiebei stehen ihnen alle diejenigen Untertanen, für welche jener Usurpator ein unrechtmäßiger Herr ist. Letzteres ist nun eben der Punkt, wo die Einwirkung der Zeit so mächtig ist, nicht indem sie das Unrecht in Recht verwandelt, sondern indem sie neue Rechtsverhältnisse knüpft. […] Diese Beziehungen und Verpflichtungen nehmen im Laufe der Zeit reißend zu; nach wenigen Generationen steht schon die Gesamtmasse der Untertanen in positiver Verpflichtung gegen die Nachkommen des Usurpators und muß in ihnen rechtmäßige Herren sehen, gegen welche sie sich nicht auflehnen kann ohne entschiedene Sünde.“ Und Radowitz folgert hieraus: „So kann es nicht fehlen, daß nach Ablauf einer mäßigen Zeit die Herrschaft des Usurpators für niemand mehr unrechtmäßig ist als für die vertriebene Dynastie. Stirbt diese aus, oder verdunkelt sich in Jahrhunderten ihr Recht dergestalt, daß kein Anspruch mehr darzutun ist, oder entstehen Transaktionen, durch welche sie, wenn auch indirekt, die neue Herrschaft anerkennt, so tritt das Haus 46  Vgl. Paul Hassel, Joseph Maria von Radowitz, Bd. I: 1797–1848, Berlin 1905; Friedrich Meinecke, Radowitz und die deutsche Revolution, Berlin 1913; Emil Ritter, Radowitz. Ein katholischer Staatsmann in Preußen. Verfassungs- und konfessionsgeschichtliche Studie, Köln 1948; neuerdings insbesondere David E. Barclay, Ein deutscher „Tory democrat“? Joseph Maria von Radowitz (1797–1853), in: Hans-Christof Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker in Deutschland, Berlin 1995, S. 37–67; David E. Barclay, Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie, Berlin 1995, S. 267 ff.; Hermann Beck, Joseph Maria von Radowitz and the Implications of Nineteenth-Century German Social Thought, in: German History 13 (1995), S. 163–81. 47  Joseph Maria von Radowitz, Ausgewählte Schriften, hrsg. v. Wilhelm Corvinus, Bd. 2, Regensburg o. J. [1915], Bd. 2, S. 221.



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des Usurpators in die Fülle der unter Menschen erreichbaren Legitimität ein. An dem ursprünglichen Unrechte wird hierdurch gar nichts geändert, die Sünde des Usurpators bleibt genau dieselbe, alle Verbrechen, die er hiebei begangen, finden ihren vollen Lohn, aber seine Nachkommen sind dennoch legitim, weil niemand existiert, dem ein besseres Recht auf die Herrschaft zusteht als ihnen“48. Radowitz macht es sich nicht leicht; seine Kriterien sind streng und seine Zeitvorstellung  – wenigstens eine Generation – macht die Entstehung und Anerkennung neuer Legitimität zu einer langwierigen und komplizierten Angelegenheit. Einen plötzlichen Anspruch auf neue Legitimität für den (von Gerlach erwähnten) Fall, dass der bisherige legitime Inhaber der Macht seine Befugnisse kurzfristig nicht wahrzunehmen vermag, kennt Radowitz nicht. Auch der berühmteste deutsche Jurist dieser Epoche, Friedrich Carl von Savigny49, hat es in der Einleitung zu seinem großen Spätwerk, dem seit 1840 in acht Bänden erscheinenden, unvollendet gebliebenen „System des heutigen Römischen Rechts“ für notwendig befunden, sich zum Problem politischer Usurpation und dessen rechtlicher Bedeutung zu äußern, wenngleich er keineswegs ein so strenger Legitimist wie sein Schüler Gerlach und sein zeitweiliger Berliner Fakultätskollege Jarcke gewesen ist. Savigny geht davon aus, dass sich ein Volk und seine Institutionen langsam und kontinuierlich, gewissermaßen organisch und „natürlich“ entwickeln; „Zufall“ und „Willkühr“ kommen zwar vor, sind aber als „Anomalien“, als Ausnahme von der Regel zu betrachten: „Tritt nun ein fremdartiges historisches Moment in diesen natürlichen Bildungsprozeß ein“, bemerkt Savigny, „so kann dasselbe durch die sittliche Kraft und Gesundheit des Volkes überwunden und verarbeitet werden; gelingt diese Verarbeitung nicht, so wird ein krankhafter Zustand daraus hervorgehen. Auf diese Weise erklärt es sich, wie das, was ursprünglich Gewalt und Unrecht war, allmälig durch die dem Rechtszustand innewohnende Anziehungskraft dergestalt umgebildet werden kann, daß es in denselben als neuer, rechtmäßiger Bestandtheil übergeht“50.

48  Ebenda,

S.  223 f. Adolf Stoll, Friedrich Karl v. Savigny. Ein Bild seines Lebens mit einer Samm­lung seiner Briefe, Bde. I–III, Berlin 1927–1939; siehe auch Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny (Abhandlungen zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Bd. 58), Ebelsbach 1984; speziell zum politischen Denken Savignys: Dieter Strauch, Recht, Gesetz und Staat bei Friedrich Carl von Savigny, Bonn 1960, und Hans-Christof Kraus, Begriff und Verständnis des „Bürgers“ bei Savigny, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte, Romanistische Abteilung 110 (1993), S. 552–601. 50  Friedrich Carl von Savigny: System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, Berlin 1840, S. 33 f. 49  Vgl.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

Der letzte Autor, der hier zitiert werden soll, war ebenfalls einer der bekanntesten und allerdings auch umstrittensten Juristen seiner Zeit: Friedrich Julius Stahl51, zugleich Professor an der Berliner Universität und konservativer Parlamentarier, zuletzt im preußischen Herrenhaus. Im Gegensatz zu Savigny bekennt sich Stahl ausdrücklich und unzweideutig zum Königtum von Gottes Gnaden als der alleinigen Grundlage wahrer Legitimität52. Usurpation, Umsturz und Revolution sind für ihn nicht weniger als bereits für de Maistre und die Traditionalisten durchaus von Gott gewollt: als Strafe für menschliche Sünden: „Die Nemesis der Geschichte“, heißt es noch in der dritten Auflage der Stahlschen „Philosophie des Rechts“ von 1856, „unterbricht nun die Legitimität und straft so das Unrecht durch Unrecht, damit das Menschliche und Zeit­ liche nicht für eigenkräftig und unendlich gehalten werde. Dann wird auch die illegitim entstandene Dynastie im Laufe der Zeit, wenn die Generationen darüber hingegangen, zur legitimen. Denn was Gott zugelassen und durch die Zeiten erhalten hat, das ziemt der jetzigen Generation, die es ohne ihr Zuthun überkommen hat, nicht vor ihr Gericht zu ziehen, den Gang der Begebenheiten auszutilgen und noch einmal die Entscheidung zu beginnen“53. Stahl sieht sich sogar noch weniger als seine Vorgänger imstande, konkrete Angaben über den Zeitpunkt und darüber hinaus über die Umstände zu machen, unter denen die neue Legitimität Anspruch erheben kann, in ihr Recht einzutreten; er sagt: „Wann diese heiligende Kraft der Zeit eintrete, darüber gibt es keine Regel, ebenso wenig darüber, inwiefern der unrechtmäßigen aber bereits sicher geordneten Herrschaft Gehorsam gebühre, oder der Abfall von ihr zu Gunsten des rechtmäßigen vertriebenen Königs geboten sey. Das hängt von der besonderen Lage der Dinge und von den besonderen Aufforderungen der Individuen je nach ihrer Stellung ab. Es ist dieß kein Widerspruch im Princip der Legitimität selbst, so wenig als die Kollision der Pflichten ein Widerspruch im sitt­ lichen Gebot ist. Alle jene Kasuistik, bei welcher sich die Unmöglichkeit, 51  Vgl. Gerhard Masur, Friedrich Julius Stahl. Geschichte seines Lebens. Aufstieg und Entfaltung 1802–1840, Berlin 1930; Erwin Fahlbusch, Die Lehre von der Revolution bei Friedrich Julius Stahl, theol. Diss. (masch.) Göttingen 1954; Dieter Grosser, Grundlagen und Struktur der Staatslehre Friedrich Julius Stahls, Köln/ Opladen 1963; Wilhelm Füßl, Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802–1861). Das monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 33), Göttingen 1988. 52  Vgl. Friedrich Julius Stahl, Die Philosophie des Rechts, Bd. II/2: Rechts- und Staatslehre auf der Grundlage christlicher Weltanschauung, Heidelberg 31856, S.  250 ff. 53  Ebenda, S.  253 f.



Machtwechsel, Legitimität und Kontinuität257

ein Princip folgerichtig durchzuführen, ergibt, beweist nicht die Unrichtigkeit des Princips, sondern nur die Unvollkommenheit der irdischen Zustände. Das Princip der Legitimität selbst aber bezeichnet nichts Anderes als das Recht göttlicher Fügung im Gegensatze menschlicher That, die gegebene Autorität gegenüber der gemachten“54. Bereits diese letzten Formulierungen, mit denen sich Stahl  – in der Form elegant, den Inhalt betreffend aber doch eher dürftig  – mit einem höchst allgemein gehaltenen und eigentlich nichtssagenden Rekurs auf die „Unvollkommenheit der irdischen Zustände“ aus der Affäre zu ziehen versucht, zeigen mehr als deutlich, dass man es hier mit einem Rückzugsgefecht zu tun hat. Und in der Tat ist Stahl neben Gerlach der letzte der bedeutenderen konservativen Autoren der Zeit gewesen, der wenigstens versuchte, die Legitimitätstheorie in ihrer konkreten Anwendung auf zentrale Aspekte der Gegenwart mit neuem Leben zu erfüllen – wie sich bald zeigen sollte, ein sowohl in konkret-politischer wie auch in theoretisch-staatsrechtlicher Hinsicht vergebliches Anliegen. Immerhin konnten – dies sei nur am Rande bemerkt – alle der genannten Autoren bei ihrem Bemühen, das Problem der Entstehung neuer Legitimität aus ungerechter Usurpation und einer dieser folgenden neuen politischen Kontinuität zu lösen, auf eine bekannte Denkform des römischen Privatrechts zurückgreifen, die den meisten von ihnen – vermutlich auch den beiden Nichtjuristen Haller und Radowitz  – bekannt gewesen sein dürfte: die Rechtsfigur der sogenannten praescriptio, präziser auch als praescriptio acquisitiva oder praescriptio longi temporis bezeichnet, womit der Erwerb von Eigentum durch fortgesetzten Besitz in gutem Glauben umschrieben wird55. IV. Der Versuch einer Verbindung dieser beiden so heterogenen Elemente: der theologischen Rückbindung jeder legitimen Herrschaft an den Willen Gottes und der höchst profanen römischen Rechtsfigur der praescriptio, erwies sich letztlich, trotz allem rhetorischen Aufwand, den einige der zitierten Autoren betrieben, als eine Sackgasse, auf der Ebene der Theorie ebenso wie auf derjenigen der Praxis. Der konservative Versuch einer Verbindung von Legitimität und Kontinuität scheiterte allerdings nicht, wie einige liberale Kritiker, darunter 54  Ebenda,

S. 254. hierzu statt vieler Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs (Anm. 6), S.  178 ff. u. a.; Detlef Liebs, Römisches Recht, Göttingen 31987, S.  174 ff. 55  Vgl.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

Johann Caspar Bluntschli, meinten, an seiner inneren Widersprüchlichkeit. Bluntschli warf Ernst Ludwig von Gerlach in einem 1865 anonym publizierten Aufsatz56 vor, das von ihm vertretene Legitimitätskonzept der „Hallerschen Schule“ sei „auf einen falschen Grund gestellt, nämlich einen theologischen“. Es sei klar, so Bluntschli weiter, „daß ein göttliches Princip keine Durchbrechung verträgt, daß man aber die unleugbare große Bedeutung der Legitimität nur dann retten kann, wenn man die Frage historisch faßt und im concreten Falle nach den jeweils gegebenen Bedingungen entscheidet“57. Genau dieses Argument leuchtet aber nicht ein, denn der politisch-theologische Ansatz der Konservativen war umfassender als von Bluntschli angenommen: Wenn die Wirklichkeit als göttliche Ordnung aufgefasst wird und wenn man davon ausgeht, dass alles historische Geschehen nach göttlichem Willen und Ratschluss geschieht, dann sind auch Umsturz, Revolution und Usurpation von Gott gewollt  – und dann ist es geradezu eine Herausforderung für jede konservative Theorie der Legitimität, dieses Problem gedanklich in den Griff zu bekommen. Das Vertrauen auf eine alle irdischen Zustände überwölbende göttliche Ordnung58 erfordert beinahe zwingend die Überzeugung, dass es so etwas wie eine  – in ihren Einzelheiten dem Menschen unbegreifbare  – „göttliche Ökonomie“ der Dinge gibt, die dafür zu sorgen vermag, dass nach Perioden der Unordnung und des Zerfalls wiederum stets neue Ordnungen entstehen. Das historisch-politische Scheitern dieser Legitimitätsidee hängt also nicht unbedingt mit einer – vorzugsweise von liberalen Kritikern konstatierten  – inneren Widersprüchlichkeit zusammen, sondern liegt zuerst einmal in der Unbestimmtheit der von ihr genannten Kriterien. Sind es wenige Jahre, ist es eine Generation oder sind es mehrere, die vergehen müssen, damit neue Legitimität in Kraft tritt – oder kann es im Extremfall bereits eine momentane Unfähigkeit zur Herrschaftsausübung sein, um neue Legitimität entstehen zu lassen? Kann es neue Legitimität schon zu Lebzeiten eines Usurpators geben, oder sind es erst die – an der Usurpation unbeteiligten und damit im moralischen Sinne „unschuldigen“  – Nachkommen eines Usurpators, die ihre Herrschaft als legitim ansehen 56  J. C. H., Das Königthum von Gottes Gnaden, in: Zeitschrift für Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte, H. 2 (1865), S. 172–178. Die Chiffre des anonymen Verfassers kann, wie mir scheint, ziemlich sicher als „Johann Caspar Helveticus“ aufgelöst werden; diese Vermutung habe ich in meiner Gerlach-Biographie (Anm. 37), Bd. 1, S. 272, noch nicht geäußert. 57  J. C. H., Das Königthum von Gottes Gnaden (Anm. 56), S. 174 f. 58  Typisch in dieser Hinsicht die Berufung auf die „Ordnung der Welt“ bei Haller, Restauration der Staats-Wissenschaft (Anm. 33), Bd. 2, S. 576 (im oben, vor Anm. 33 gebrachten Zitat).



Machtwechsel, Legitimität und Kontinuität259

können? Kann eine vertriebene Herrscherfamilie solange mit Recht Anspruch auf eine ihr zukommende Legitimität erheben, bis der letzte Prätendent gestorben ist? Kann sie direkt oder vielleicht auch indirekt auf ihren Anspruch Verzicht leisten, und wenn ja, in welchen Formen? – Die Antworten, die von Seiten der konservativen Legitimisten auf diese Fragen gegeben wurden, fielen häufig vage und unbestimmt aus, außerdem gab es innerhalb des konservativen Lagers ebenso aufschlussreiche wie unübersehbare Differenzen. Nicht zuletzt aber  – und hierin musste ein gerade aus konservativer Perspektive wirklich gravierender Nachteil dieser Lehre liegen – konnte jeder potentielle oder auch wirkliche Usurpator sein eigentlich zutiefst illegitimes Handeln unter Berufung auf eine künftig entstehende neue Legitimität zu rechtfertigen versuchen  – innerhalb der spezifischen Logik dieser Argumentation war so etwas, trotz aller salvatorischen Klauseln bei verschiedenen Autoren, keineswegs undenkbar. Hierin lag die mögliche „Sprengwirkung“ dieser Doktrin begründet, die bereits HansJoachim Schoeps erkannt hat59. Selbst der alte Gerlach, der 1866 zum schroffen Kritiker der Bismarckschen Eroberungs- und Absetzungspolitik geworden war, musste sich von weniger entschiedenen Gesinnungs­ genossen vorhalten lassen, dass auch im neuen Deutschen Reich zumindest Keime sich entwickelnder künftiger Legitimität vorhanden seien60. Doch der eigentliche und ausschlaggebende Grund für das Scheitern, für das sang- und klanglose Verschwinden dieser Idee in Deutschland nach der Reichsgründung ist wohl einfach darin zu suchen, dass die Lehre der sich entwickelnden Legitimität den Erfordernissen der Zeit nicht mehr entsprach. Nach 1871 mussten vielen Zeitgenossen die heftigen Auseinandersetzungen, die noch eine Generation vorher über Wesen und Bestimmung der Legitimität geführt worden waren, fast wie eine Gespensterdiskussion über Scheinprobleme vorkommen. Mit Ausnahme vielleicht der schnell abnehmenden Zahl der „Verlierer von 1866“, die dem preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzler die illegitime Annexion von Hannover und Kurhessen nicht verzeihen wollten und dabei noch die Fahne der alten Legitimität hochzuhalten versuchten, gab es kaum jemanden mehr, der im Zeichen der so erfolgreichen „Realpolitik“ des „eisernen Kanzlers“ noch einmal die fast schon vergessenen Prinzipienkämpfe der vergangenen Ära wiederzubeleben versuchte. Andere Faktoren kamen hinzu: die Tendenz hin zur Demokratisierung und zur Massengesellschaft, der immer schneller sich vollziehende sozia59  Schoeps, 60  Vgl.

Das andere Preußen (Anm. 37), S. 21. Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach (Anm. 37), Bd. 2, S. 273.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

le und gesellschaftliche Wandel, insbesondere auch die fortschreitende Säkularisierung, die Auflösung traditioneller religiös geprägter Mentalitäten. Neue Formen von Legitimität entstanden, etwa die von Max Weber auf den Begriff gebrachte rationale Legitimität, gestützt auf einen funktionsfähigen bürokratischen Anstaltsstaat61. Für die Rechts- und Staatslehre um 190062 hatten die Streitfragen der Ära vor der Reichsgründung schon lange ihre Bedeutung verloren. Im deutschen Rechtspositivismus dieser Zeit, der bestrebt war, sich auf rein formale Problemstellungen im Rahmen der gegebenen Legalität zu beschränken, kam die Legitimität allenfalls am Rande vor, als ein Kuriosum aus einer längst im Dunkel tiefster Vergangenheit entschwundenen Epoche63. So heißt es etwa in Georg Jellineks berühmter „Staatslehre“, die zuerst im Jahre 1900 erschien, lapidar: Vorgänge wie etwa die Einverleibung oder Abtrennung von Staatsgebieten seien „stets in erster Linie faktischer Natur. […] Entthronte legitime Herrscher und Prätendenten aller Art haben kein Recht, eine ihren Ansprüchen entgegenstehende Ordnung, die sich behauptet hat, zu bestreiten oder anzuerkennen. Die Handlung derartiger Personen sind unter Umständen politisch von großer Bedeutung, rechtlich kann jede Handlung nur an einer bestehenden Rechtsordnung gemessen werden, wie immer diese entstanden sein mag. Von dieser aus sind aber solche Prätendentenakte entweder rechtlich gleichgültig oder rechtswidrig.“ Und er fügte ausdrücklich hinzu: „Nur wer eine lückenlose Naturrechtsordnung über dem positiven Staats- und Völkerrecht stehend behauptet und damit die Bedeutung der Machtverhältnisse für das Staatsleben verkennt, darf sich zur Lehre von dem Legitimitätsprinzip bekennen“64. Und eben dies kam für Jellinek wie für die große Mehrheit der Staatsrechtler seiner Zeit nicht in Frage. Auch die politischen Umbrüche von 1918, 1933 und 1945 brachten keine Erneuerung traditioneller Legitimitätskonzepte. Über die Legitimität

61  Siehe

oben, Anm. 3. hierzu vor allem die grundlegende Darstellung von Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992, S. 435 ff., 447 ff. 63  Eine Ausnahme, die nicht übersehen werden sollte, stellt die  – in der Ära nach dem Kulturkampf freilich marginalisierte – katholische Rechts- und Staatslehre dar; vgl. hierzu den Überblick bei Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft (Anm. 1), S. 258 ff. 64  Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3.  Aufl. (7. Neudruck), Darmstadt 1960, S. 285; vgl. auch Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft (Anm. 1), S. 246 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (Anm. 62), Bd. 2, S.  450 ff. 62  Siehe



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der Weimarer Verfassung stellte Carl Schmitt65 in seiner „Verfassungs­ lehre“ von 1928 ausdrücklich fest, dass es nur zwei Arten der Legitimität gebe: die dynastische und die demokratische; in Deutschland habe 1918 die letztere die erstgenannte abgelöst. Insofern bedeute, heißt es bei ihm, „Legitimität einer Verfassung […] nicht, daß eine Verfassung nach früher geltenden Verfassungsgesetzen zustandegekommen ist. Eine solche Vorstellung wäre geradezu widersinnig. Eine Verfassung kommt überhaupt nicht nach über ihr stehenden Regeln zustande. Außerdem ist es undenkbar, daß eine neue Verfassung, d. h. eine neue fundamentale politische Entscheidung sich einer früheren Verfassung unterordnet und von ihr abhängig macht. Wo es unter Beseitigung der früheren Verfassung zu einer neuen Verfassung kommt, ist die neue Verfassung nicht deshalb ‚illegitim‘, weil die alte beseitigt ist. Sonst würde ja die alte, beseitigte Verfassung weitergelten.“ Und er schließt: „Die Frage der Übereinstimmung der neuen mit der alten Verfassung hat also mit der Frage der Legitimität nichts zu schaffen. Die Legitimität der Weimarer Verfassung beruht auf der verfassungsgebenden Gewalt des deutschen Volkes“66. Für Schmitt stellte zwar, im ausdrücklichen Gegensatz zu Jellinek, die Legitimität wieder ein von der Rechtswissenschaft eingehend zu behandelndes Pro­ blem dar, doch eine Rückkehr zum Status quo ante des Kaiserreichs schloss er bereits zehn Jahre nach dessen Untergang offensichtlich aus. Damit war für ihn – wie für die allermeisten Juristen und Staatsdenker seiner Zeit  – auch eine Rückkehr zu traditionellen Legitimitätsvorstellungen kein Thema mehr. Und das gleiche gilt auch für die Zeit nach 1945 – trotz der kurzzeitigen „Wiederkehr des Naturrechts“ in der deutschen Rechtswissenschaft der Nachkriegszeit67 und trotz der zeitweilig forcierten Propagierung der Idee des „christlichen Abendlands“ im Kontext des Kalten Krieges. Für die Begründung der geistigen Grundlagen der neuen Bundesrepublik Deutschland konnte es keine Anknüpfung an irgendeine unmittelbare politische Kontinuität der Vergangenheit geben  – ohnehin wäre nur die Weimarer Republik in Frage gekommen, und gerade sie schied als An65  Zum Legitimitätsproblem bei Schmitt sei aus der inzwischen uferlosen Schmitt-Literatur eine in der Sache immer noch grundlegende ältere Studie genannt: Hasso Hofmann, Legitimität gegen Legalität. Der Weg der politischen Philosophie Carl Schmitts (Politica, 19), Neuwied/Berlin 1964; einige Hinweise auch bei Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft (Anm. 1), S. 269 ff. 66  Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), Berlin 61983, S. 88. 67  Vgl. Werner Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus? (Wege der Forschung, 16), Darmstadt 1972; Arthur Kaufmann, Die Naturrechtsdis­ kussion in der Rechts- und Staatsphilosophie der Nachkriegszeit, in: Aus Poli­tik und Zeitgeschichte, B 33/91, 9.8.1991, S. 3–17.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

knüpfungspunkt aus, da „Bonn“ nun einmal, und mit sehr einleuchtenden Gründen, gerade nicht „Weimar“ sein wollte. In der Gegenwart vermag der Versuch der Verbindung von Legitimität und Kontinuität auf den ersten Blick gar nicht mehr einzuleuchten. Ob allerdings die heute zumeist dominierende rein funktionale Bestimmung und Begründung der Legitimität politischer Herrschaft auch für die Zukunft ausreichen wird, ist freilich eine Frage, die nicht leicht beantwortet werden kann. Vielleicht hatte Edmund Burke so unrecht nicht, als er ­einmal bemerkte, dass  – um es mit den Formulierungen der berühmten Übersetzung von Friedrich Gentz zu sagen – ein „Staatsverein“ nicht wie eine gewöhnliche „Kaufmannssozietät“ betrachtet werden dürfe. Er setzte dagegen als typischer Vertreter der Kontinuitätslehre seiner Zeit den Gedanken, dass ein menschliches Gemeinwesen zuerst einmal „eine Gemeinschaft zwischen denen, welche leben, denen, welche gelebt haben, und denen, welche noch leben sollen“68, darstelle. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass diese Definition in Zeiten etwaiger künftiger Krisen und Umbrüche durchaus erneut an Aktualität gewinnen mag  – und damit vielleicht sogar der Gedanke, dass Legitimität unter Umständen doch etwas mit Kontinuität zu tun haben könnte.

68  Edmund Burke, Betrachtungen über die Französische Revolution. Aus dem Englischen übertragen von Friedrich Gentz, hrsg. v. Ulrich Frank-Planitz, Zürich 1986, S. 195.

Vom Traditionsstand zum Funktionsstand. Bemerkungen über „Stände“ und „Ständetum“ im deutschen politischen Denken des 19. Jahrhunderts I. Wer nach der Bedeutung der Begriffe und Konzepte „Stände“ und „Ständetum“ im deutschen politischen Denken des 19. Jahrhunderts1 fragt, der kommt um einen Rekurs auf den Zusammenhang zwischen politisch-gesellschaftlicher Entwicklung und sprachlich-begrifflicher Ausdifferenzierung nicht herum. Die Frage nach dem Primat entweder der sprachlichen Reflexion vor dem historisch gegebenen, konkreten Sein oder andererseits der gesellschaftlich-politischen Realität vor der Idee, d. h. vor der gedanklichen Durchdringung, kann heute getrost vernachlässigt werden, denn allzu offenkundig bestimmt weder das Bewusstsein das Sein noch das Sein das Bewusstsein, sondern es handelt sich allem Anschein nach um eine in vielfältigsten Formen vorhandene wechselseitige Interdependenz, die als solche zwar beschrieben, aber wohl nicht mehr generell in Frage gestellt werden kann. In seinen „Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft“ hat Niklas Luhmann ein Modell der historischen Gesellschaftsentwicklung skizziert, mit dessen Hilfe sich auch der Wandel bestimmter poli­ tischer Begrifflichkeiten präziser bestimmen und erklären lässt. Dieses Modell beruht auf der Theorie der geschichtlich sich entfaltenden Sys1  Vgl. u. a. die Überblicke in: Salomon Salomon-Delatour, Moderne Staatslehren, Neuwied/Berlin 1965 (Politica: Abhandlungen und Texte zur politischen Wissenschaft 18), S. 455–556, 568–602 u. a.; Hans Fenske/Dieter Mertens/Wolfgang Reinhard/Klaus Rosen, Geschichte der politischen Ideen. Von Homer bis zur Gegenwart, Frankfurt  a. M. 1987, 379–498; Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischern Ideen, Bd. 4, München/Zürich 1986, S. 79 ff., 127 ff., 153 ff., 255 ff. u. a.; Bernd Heidenreich (Hrsg.), Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, Berlin 22002; spe­ zieller orientiert auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts sind die immer noch grundlegenden Untersuchungen von Hartwig Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflußfeld des monarchischen Prinzips, Neuwied/Berlin 1968 (Politica: Abhandlungen und Texte zur politischen Wissenschaft 31); Hans Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf 1975 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 56).

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

temdifferenzierung. „Ein System ist differenziert“, sagt Luhmann, „wenn es selbst in sich Teilsysteme bildet, das heißt in sich selbst Systembildung wiederholt“2, also in sich selbst immer komplexere Strukturen ausbildet – und dies mit „einer zunehmenden Nichtübereinstimmung von Menschenwelt und selbstwüchsiger Natur“3. Für die Analyse historischer Gesellschaftsformen hat Luhmann ein dreistufiges Modell entwickelt4: Auf unterster Stufe steht die sogenannten segmentäre Differenzierung, also die eher primitive Gliederung in Familien, Clans, kleine Wohneinheiten wie Dörfer usw. – Auf der nächsthöheren Stufe folgt die bereits hochkulturelle stratifikatorische Differenzierung, also die gesellschaftliche Abstufung in bestimmte Schichten, die als solche auf dem Prinzip der Ungleichheit beruhen, also eine spezifische Rangordnung bedeuten. Die Beschränkungen dieser  – von Luhmann auch als „alteuropäisch“ bezeichneten  – Gesellschaftsdifferenzierung werden schließlich wiederum „gesprengt im Übergang zum Prinzip der funktionalen Differenzierung. Diese Differenzierungsform ist nur ein einziges Mal realisiert worden: in der von Europa ausgehenden modernen Gesellschaft“5. Den eigentlichen Übergang von Alteuropa zur modernen Welt lokalisiert Luhmann – hier weiß er sich mit Reinhart Koselleck und Otto Brunner im Wesentlichen einig6 – auf die Epoche „um 1800“. In dieser historischen Umbruchsepoche beginnt „die stratifizierte Gesellschaft Alteuropas“ sich zu öffnen, und sie initiiert einen Prozess, der im Laufe vieler Jahrzehnte schließlich zur Herausbildung einer auf neue Weise differenzierten modernen Gesellschaft führt, in der sich das Prinzip der funktionalen Differenzierung mehr oder weniger weitgehend durchgesetzt hat. Dass dieser sozial-gesellschaftlichen Entwicklung auch eine sprachlichbegriffliche Entwicklung korrespondiert, liegt auf der Hand, und Luhmann hat denn auch darauf hingewiesen, dass diese historische „Wende ihr eigenes historisches Bewusstsein formuliert“ und dabei nicht nur neue Begriffe in den Vordergrund stellt, sondern auch althergebrachte Begriffe neu definiert oder doch wenigstens neu bewertet. Das bedeutet: Bestimmte Begriffe wie Freiheit, Gleichheit, Individuum, Privatheit, 2  Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980, S. 21; siehe ebd. auch den Hinweis darauf, dass die Ausdifferenzierung „alle Begriffsgeschichte einbindet in einen umfassenderen Kontext gesellschaftlicher Bedingungen“. 3  Ebd., S. 25. 4  Das Folgende nach ebd., S. 25 ff., 44 f. u. passim. 5  Ebenda, S. 27. 6  Vgl. Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979; Otto Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 31980.



Vom Traditionsstand zum Funktionsstand265

­ utonomie, Funktion, Reflexion oder Leistung bekommen von jetzt an A eine umfassendere, nicht zuletzt explizit politische Bedeutung, während andererseits, so wiederum Luhmann, „Hierarchiebegriffe einen kritisier­ baren, im Kontext von Schichtung sogar einen negativen Akzent“7 erhalten. An dieser Stelle zeigt sich wieder einmal, dass Politik sich in nicht geringem Maße als Kampf um Begriffe und um deren angemessene Definition vollzieht, dass also politisches Handeln in diesem Sinne auch über eine semantische Dimension verfügt und dass sich, jedenfalls in bestimmten Fällen, zudem im geschichtlichen Wandel der Begriffsverwendung und der Bedeutungen, ebenfalls sozial-gesellschaftliche Veränderungen abbilden können. Der politische Begriff des „Standes“ eignet sich vorzüglich dazu, die Veränderungen innerhalb der deutschen politischen Semantik im Übergang von einer traditional-stratifizierten zu einer modern-funktionalen Gesellschaftsordnung während des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Ja, man wird sogar  – aus der entgegengesetzten Per­ spektive – feststellen können, dass die Wandlungen, welche die politische Idee des „Standes“ und des „Ständetums“ um und nach 1800 im politischen Denken Deutschlands durchgemacht haben8, nur vor dem Hintergrund eben jenes gesellschaftlichen Funktionswandels erst angemessen verstanden werden können. II. Der Begriff des Standes ist als solcher tief verwurzelt in den Urgründen einer politischen Ideenwelt, die man als alteuropäische Ordnungslehre9 bezeichnen könnte, also einem Konzept, das von der Grundannah7  Luhmann,

Gesellschaftsstruktur und Semantik I (Anm. 2), S. 32. dazu mit viel Material die umfassende, epochenübergreifende Gesamtdarstellung von Otto Gerhard Oexle/Werner Conze/Rudolf Walther, Stand, Klasse, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. v. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 155–284; aus der älteren Literatur vgl. noch Heinrich Herrfahrdt, Das Problem der berufsständischen Vertretung von der franzö­sischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart/Berlin 1921, S. 19–88; Ralph H. Bowen, German Theories of the Corporative State With Special Reference to the Period 1870–1919, New York/London 1947, passim, sowie (im wesentlichen an die Ergebnisse von Herrfahrdt anknüpfend) den knappen Überblick bei Peter Cornelius Mayer-Tasch, Korporativismus und Autoritarismus. Eine Studie zu Theorie und Praxis der berufsständischen Rechts- und Staatsidee, Frankfurt a. M. 1971, S. 10– 25. 9  Vgl. dazu die Überlegungen und Hinweise des Verfassers: Hans-Christof Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußi8  Vgl.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

me einer göttlich geordneten, daher in sich selbst letztlich innerlich harmonischen Weltordnung ausgeht. Diese Ordnung ist selbstverständlich geprägt von Rangunterschieden, von einer Stufenordnung der Dinge und Lebewesen, die von der unbelebten über die belebte Natur und die Menschenwelt bis hinauf in die Sphäre des Göttlichen reicht. Die Menschenwelt, zu der auch der Bereich des Politischen und Sozialen gehört, ist noch einmal in sich rangmäßig differenziert, also nach Schichten und nach Ständen, nach gesellschaftlichen Rängen und Stufen. Jeder Mensch wird nach dem Willen des Schöpfers in einen bestimmten Stand hineingeboren,  – was indes nicht unbedingt bedeutet, dass er während seines gesamten irdischen Lebens auf einer einzigen Stufe verharren muss. Im Allgemeinen verfügt er über die Freiheit des (in der Regel eher mühevollen und anstrengenden) Aufsteigens, aber auch des Absteigens in niedere soziale Ränge. Die Ordnung wird freilich niemals als solche in Frage gestellt, sondern stets als Ausdruck der Schöpfungsordnung Gottes gedeutet10. Dem entspricht die politisch-soziale Bedeutung des Standesbegriffs, der traditionell – zwar nicht ausschließlich, so doch hauptsächlich – zuerst als deskriptive Bezeichnung jeweils unterschiedlicher sozialer Rangstufen zu verstehen ist. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts jedoch begann der Begriff des Standes nicht nur in seinen normativen, sondern auch in seinen deskriptiven Elementen problematisch zu werden. Und die radikale Antwort, die Emmanuel Sieyès bekanntlich in seiner berühmten Schrift „Was ist der Dritte Stand?“ am Beginn der Französischen Revolution im Januar 1789 gab – also die These, eben jener Dritte Stand sei „alles“11  –, zielte im Kern bereits auf eine Auflösung des gesamten überkommenen Ständesystems und auf dessen Ersatz durch die inzwischen neu definierte und normativ aufgeladene Idee der Nation. In Deutschland freilich sollte sich diese Entwicklung sehr viel lang­ samer und auf größeren Umwegen vollziehen, gleichwohl finden sich auch hier mehr oder weniger deutliche Reflexe auf den beginnenden Zerschen Altkonservativen, Bde. 1–2, Göttingen 1994 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 53), hier Bd. 1, S. 185–212. 10  Vgl. zum mittelalterlichen Ordo-Gedanken immer noch Hermann Krings, Ordo – Philosophisch-historische Grundlegung einer abendländi­schen Idee, Halle a. S. 1941; neuestens zum Zusammenhang auch die umfassende politikphilosophische Analyse von Andreas Anter, Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, Tübingen 2004. 11  Emmanuel Sieyes, Was ist der dritte Stand?, Berlin 1924 (Klassiker der Politik, 9), S. 35; vgl. zum Zusammenhang auch Thomas Hafen, Staat, Gesellschaft und Bürger im Denken von Emmanuel Joseph Sieyes, Bern/Stuttgart/Wien 1994.



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fall der alten stratifizierten Gesellschaftsordnung und ihrer angestammten Normen und Werte. Das zeigt sich, um nur ein Beispiel unter vielen zu nennen, in der gleichzeitig stattfindenden Debatte um das neue preußische Gesetzbuch, das 1794 in Kraft gesetzte „Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten“. Während manche Kritiker des schon vorher publizierten Entwurfes das Fehlen einer genauen Auflistung der Stände monierten, antwortete der an der Entstehung des neuen Gesetzbuches mitbeteiligte Ernst Ferdinand Klein nicht zufällig im Jahre 1789 lapidar, das Wort Stand sei eines der Wörter, „die man am besten versteht, wenn man sie nicht erklären läßt“12. Und Carl Gottlieb Svarez wiederum formulierte in seinen berühmten Kronprinzenvorträgen, die er 1791/92 dem preußischen Thronfolger, dem späteren Friedrich Wilhelm III. hielt, wohl als einer der ersten in Deutschland, nicht mehr eine traditional geprägte, sondern eine ausschließlich funktional bestimmte Definition des Standes, wenn er feststellte, die „Mitglieder des Staates“ seien „nach Verschiedenheit der Geschäfte, zu welchem ein jeder nach den bestehenden Staatseinrichtungen hauptsächlich bestimmt ist, in verschiedene Stände oder Klassen eingeteilt“; er nennt im folgenden vier dieser Stände: Bauerstand, Bürgerstand, Adelsstand sowie – noch vor Hegel – den „Stand der Beamten“13. Außerdem gestand er ausschließlich dem Staat das Recht zu, „einem jeden seinen Rang in der bürgerlichen Gesellschaft anzuwei­ sen“14. In diesen Formulierungen deutet sich – auch wenn noch an einer ständischen Einteilung der Bevölkerung als solcher ausdrücklich festgehalten wird – bereits erstmals ein funktionales Ständekonzept an, also eines, 12  Ernst Ferdinand Klein, Nachricht von den Schlosserschen Briefen über die Gesetzgebung überhaupt und dem Entwurf des Preußischen Gesetzbuchs ins besondere, welche zu Frankfurth am Mayn im Fleischerschen Verlage, im Jahre 1789, erschienen sind, in: Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den preußischen Staaten 4 (1789), S. 326–390, hier 370; vgl. zu Kleins Rechts- und Staatsdenken auch Michael Kleensang, Das Konzept der bürgerlichen Gesellschaft bei Ernst Ferdinand Klein, Frankfurt a. M. 1998 (Ius Commune – Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte Frankfurt am Main; Sonderhefte, 108). 13  Carl Gottlieb Svarez, Vorträge über Recht und Staat, hrsg. v. Hermann Conrad/Gerd Kleinheyer, Köln/Opladen 1960 (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Bd. 10), S. 313; vgl. auch Adolf Stölzel, Carl Gottlieb Svarez. Ein Zeitbild aus der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, Berlin 1885; Günter Birtsch, Carl Gottlieb Svarez – Mitbegründer des preußischen Gesetzesstaates, in: Geschichte und politisches Handeln. Studien zu europäischen Denkern der Neuzeit – Theodor Schieder zum Gedächtnis, hrsg. v. Peter Alter/Wolfgang J. Mommsen/Thomas Nipperdey, Stuttgart 1985, S. 85–101. 14  Svarez, Vorträge über Recht und Staat (Anm. 13), S. 62.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

das sich, wie Svarez sagt, an den „Geschäften“, d. h. an den ökonomischsozialen (und gegebenenfalls auch administrativen) Funktionen jedes Standes orientiert und ihn eben von daher allererst definiert. Die Gründe für diesen Wandel sind vielfältig; Einflüsse der Französischen Revolution werden hier ebenso wirksam gewesen sein wie die neue Wirtschaftstheorie Adam Smiths, die dieser in seinem erstmals 1776 publizierten Hauptwerk über den „Wohlstand der Nationen“ verkündet hatte und die gerade in Preußen besonders starke Beachtung gefunden hatten. Freilich wurde auch die traditionelle Position  – nicht zuletzt angesichts ihrer Gefährdung unter dem Eindruck der starken Wirkungen der Französischen Revolution  – in Deutschland erneut vertreten und ausführlich begründet. Der Göttinger Historiker Christoph Meiners verteidigte 1792 in seiner „Geschichte der Ungleichheit der Stände unter den vornehmsten Europäischen Völkern“ eine ständisch gegliederte Ordnung der Gesellschaft unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die naturgegebenen und damit auch naturgewollten Unterschiede zwischen den Menschen: „Ungleichheit angebohrner, oder erworbener Vorzüge verursacht nothwendig Ungleichheit von Pflichten, wie von Rechten, oder Vorrech­ ten“15. Neben dem „naturgesetzlichen“ bemühte Meiners auch das historische Argument, indem er darauf hinwies, dass „unsere ältesten Vorfahren […] und auch die übrigen Europäischen Völker gleichen Ursprungs […] in den entferntesten Zeiten, welche uns zuverlässige Ueberlieferungen, und Geschichte schildern, in fünf oder wenigstens in vier verschiedene Classen, oder Stände eingetheilt“ gewesen seien, nämlich „in Knechte, Freygelassene, Freye, oder Gemeine, und in Edle“16. Am Ende seiner umfangreichen Darstellung räumte Meiners allerdings ein, dass auch nach seiner Überzeugung die traditionelle ständische Ordnung des Ancien Régime nicht mehr zu retten ist, denn „die Masse von Licht, welche sich über ganz Europa verbreitet hat, ist zu groß, als dass es in der Gewalt der Fürsten wäre, dieses Licht wieder auszulöschen, die 15  Christoph Meiners, Geschichte der Ungleichheit der Stände unter den vornehmsten Europäischen Völkern, Bde. 1–2, Hannover 1792, hier Bd. 1, S. 15; vgl. ebenda, S. 14: „Wenn der Nachlässige, der Träge, der Ungeübte, und Unwissende gleiche Rechte mit den Besitzern der entgegengesetzten Vorzüge haben sollte; so wäre dies eben so unnatürlich und ungerecht, als wenn der unmündige Knabe gleiche Rechte mit dem Erwachsenen, das schwache und furchtsame Weib gleiche Rechte mit dem starken, und muthigen Mann, und Missethäter gleiche Sicherheit und Achtung mit dem verdienstvollen Bürger erlangen sollte.“ – Siehe zu Meiners auch Friedrich Lotter, Christoph Meiners und die Lehre von der unterschied­ lichen Wertigkeit der Menschenrassen, in: Geschichtswissenschaft in Göttingen, hrsg. v. Hartmut Boockmann/Hermann Wellenreuther, Göttingen 1987 (Göttinger Universitätsschriften, A 2), S. 30–75. 16  Meiners, Geschichte der Ungleichheit (Anm. 15), Bd. 1, S. 23 f.



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Köpfe und Herzen von so vielen Millionen umzuschmelzen, und den ­Völkern und Ständen, welche bisher Unrecht litten, die Einsicht und das Gefühl dieses Unrechts zu rauben“17. Eine zeitgemäße ständisch gegliederte Ordnung, die altes Unrecht ebenso vermeide wie falsche Gleichheitsideen, sei darauf angewiesen, so jedenfalls die Konsequenz seiner Ausführungen, aus Teilen des niederen Adels und des höheren Bürgertums eine neue politisch-soziale Führungsschicht – damit gewissermaßen auch einen neuen, in dieser Art bisher noch nicht dagewesenen „Stand“ – zu begründen. Der gelehrte Autor bemühte hierbei ausdrücklich das Vorbild Großbritanniens, wo man nach seiner Deutung bereits die Anfänge einer solchen Entwicklung erkennen konnte18. III. In der Reformzeit der Jahre nach 1806 wurde, vor allem in Preußen und in verschiedenen Ländern des Rheinbundes, das überaus schwierige Werk einer durchgreifenden Erneuerung und Modernisierung von Staat und Gesellschaft in Angriff genommen. Wenn sich der Freiherr vom Stein etwa in seiner „Nassauer Denkschrift“ vom Juni 180719 „innig und lebhaft von der Vortrefflichkeit zweckmäßig gebildeter Stände“20 überzeugt zeigte und damit besonders die Bevölkerungsgruppe der größeren und kleineren Eigentümer im Blick hatte, dann wirkt dies fast wie ein Reflex auf die früheren Äußerungen von Svarez eineinhalb Jahrzehnte zuvor. Noch weiter ging indes Hardenberg in seiner berühmten Reformdenkschrift „Über die Reorganisation des Preußischen Staats“ vom 12.  September des gleichen Jahres21, in der er zwar ebenfalls noch einmal eine Bestandsaufnahme auf der Grundlage der gewohnten Einteilung in Adel, Bürgerstand und Bauernstand vorlegte, jedoch sogleich die Bemerkung anschloss, überhaupt gehöre „eine vernünftige Rangordnung, die nicht einen Stand vor dem anderen begünstigte, sondern den Staatsbürgern 17  Ebenda,

Bd. 2, S. 642 f. ebd., Bd. 2, S. 636 ff. 19  Freiherr [Karl] vom Stein, Staatsschriften und politische Briefe, hrsg. v. Hans Thimme, München 1921 (Der deutsche Staatsgedanke, I, 9), S. 19–37; immer noch grundlegend zum Leben und Denken Steins: Gerhard Ritter, Stein. Eine politische Biographie, Stuttgart 41981. 20  Stein, Staatsschriften (Anm. 19), S. 28; vgl. auch 26 ff. u. passim. 21  Abgedruckt in: Die Reorganisation des Preussischen Staates unter Stein und Hardenberg, hrsg. v. Georg Winter, Erster Teil: Allgemeine Verwaltungs- und Behördenreform. Bd. I: Vom Beginn des Kampfes gegen die Kabinettsregierung bis zum Wiedereintritt des Ministers vom Stein, Leipzig 1931 (Publikationen aus den Preussischen Staatsarchiven, 93), S. 302–363; vgl. Peter Gerrit Thielen, Karl ­August von Hardenberg 1750–1822. Eine Biographie, Köln/Berlin 1967. 18  Vgl.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

­ ller Stände ihre Stellen nach gewissen Klassen nebeneinander anwiese, a zu den wahren und keineswegs zu den außerwesentlichen Bedürfnissen eines Staats“22. Jetzt allerdings regte sich, im Unterschied zum letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, entschiedener und auch öffentlich vorgetragener Widerspruch, der nicht zufällig von einem Angehörigen des Adels – also des Traditionsstandes par excellence – vorgebracht wurde, der noch dazu für sich beanspruchte, im Namen und als legitimer Repräsentant seines Standes zu sprechen: Friedrich August Ludwig von der Marwitz23. In einer Aufzeichnung vom Oktober 1810 (die übrigens zuerst die Überschrift getragen hatte „Über die Mittel, den Ständen einen Einfluß auf die Gesetzgebung des Staats zu sichern“)24 bezeichnete Marwitz den Adel ausdrücklich als den „einzige[n] verfassungsmäßig anerkannte[n] Stand im Staate“, dazu auch als den einzigen „Repräsentante[n] und Leiter des Ackerbaus“, dem eben aus diesem Grunde die Pflicht obliege, für die Aufrechterhaltung der alten ständischen Verfassung einzutreten und wenn nötig auch zu kämpfen. Freilich, so Marwitz weiter, sei der Adel an der gegenwärtigen, aus seiner Sicht überaus desolaten Lage durchaus mitschuldig, weil er „durch die Schuld der Fürsten und fortgerissen durch den Zeitgeist“ aufgehört habe, „den ihm unterworfenen Boden als sein höchstes Gut anzusehen und in der Mitte seiner Vasallen ein Herr […] zu sein“25. Diese Formulierungen offenbaren ein Verständnis des Begriffes „Stand“, das dem modernen Verständnis ganz offenkundig diametral entgegengesetzt ist. Dass der alte traditionale Standesbegriff, der mit Marwitz’ Betonung der Bindung des Adelsstandes an seinen Boden sowie des Herrentums über seine „Vasallen“ hier noch einmal kraftvoll erneuert werden sollte, ausgerechnet in der Reformzeit nach 1806 wieder in die politische Debatte eingeführt wurde, zeigt deutlich genug, dass sich die neue, die moderne Begriffsdefinition noch keineswegs durchgesetzt hatte. Die Kontroverse zwischen Hardenberg und Marwitz markiert also auch auf der semantischen Ebene, d. h. ebenfalls im Bereich des Kampfes um die Deutungshoheit zentraler politischer Begriffe – in diesem Fall um den 22  Die

Reorganisation des Preussischen Staates (Anm. 21), S. 316. Person und Werk siehe Gerhard Ramlow, Ludwig von der Marwitz und die Anfänge konservativer Politik und Staatsanschauung in Preußen, Berlin 1930 (Historische Studien, 195), sowie Ewald Frie, Friedrich August Ludwig von der Marwitz 1777–1837. Biographien eines Preußen, Paderborn 2001. 24  Friedrich August Ludwig von der Marwitz, Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der Befreiungskriege, hrsg. v. Friedrich Meusel, Bd. 2/1: Tagebücher, politische Schriften und Briefe, Berlin 1913, S. 162–165. 25  Alle Zitate: ebd., S. 162 f. 23  Zu



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des „Standes“ –, dass der Konflikt zwischen traditionaler und moderner Welt, zwischen den Verteidigern einer stratifizierten und den Wegbereitern einer funktional differenzierten Gesellschaftsordnung jedenfalls in Deutschland in genau dieser Zeit ihren ersten Höhepunkt erreicht hatte. In gewisser Hinsicht eine mittlere Position zwischen Traditionalisten wie Marwitz und Reformern wie Hardenberg vertrat Ernst Moritz Arndt mit seiner 1814, im Jahr des ersten Sieges über Napoleon, publizierten Flugschrift „Über künftige ständische Verfassungen in Teutschland“26, in der er zwar den geistlichen Stand und dessen politische Rechte für historisch überholt erklärte27, sonst aber an einer dreiteiligen ständischen Gliederung nach Adel, Bürger und Bauern unbedingt festhalten wollte. Gleichwohl finden sich auch bei Arndt bereits einzelne Elemente einer funktional argumentierenden Theorie, so etwa, wenn er dem Adel „auf der Stufe der gesellschaftlichen Entwickelung, auf welcher wir jetzt stehen, die Rolle eines Vermittlers zwischen dem Volke und den Fürsten und zwischen den Fürsten und dem Oberhaupt des Reichs“28 zubilligen möchte. Ähnliches gilt auch für seine Bestimmung des Bürger- und des Bauernstandes29: Während er im Bürgerstand, vor allem in dessen ökonomischer Tätigkeit, das Element des immer rascher sich vollziehenden historischen Wandels wahrnimmt, hebt er, im Gegensatz hierzu, in besonderer Weise die Rolle des freien Bauernstandes hervor, dessen Bedeutung für Arndt darin liege, dass er in sich das beharrende, das konservierende Element darstelle – und auf diese Weise ein starkes Gegengewicht gegen die Gefahr eines zu raschen historischen Wandels bilde; zugleich bleibe das Bauerntum damit ein Garant gegen Dekadenz und Verweichlichung30. Der zweite Höhepunkt der im Konflikt Marwitz gegen Hardenberg sich erstmals manifestierenden Auseinandersetzung, also des Kampfes um die semantische Deutungshoheit des politisch zentralen Standesbegriffs, 26  Ernst Moritz Arndt, Über künftige ständische Verfassungen in Teutschland (1814), in: derselbe, Werke, hrsg. v. August Leffson/Wilhelm Steffens, Bd. 11, Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart o. J. [1912], S. 83–130; vgl. auch Ernst Müsebeck, Ernst Moritz Arndt. Ein Lebensbild, Bd. I: Der junge Arndt 1769–1815, Gotha 1914; Karl Heinz Schäfer, Ernst Moritz Arndt als politischer Publizist. Studien zu Pu­ blizistik, Pressepolitik und kollektivem Bewußtsein im frühen 19. Jahrhundert, Bonn 1974 (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, 13). 27  Vgl. Arndt, Über künftige ständische Verfassungen (Anm. 26), S. 102 ff. 28  Ebd., S. 120. 29  Vgl. ebd., S. 112 ff. 30  Vgl. ebd., S. 115: „Die Erde und die Geschäfte, welche sich zunächst und unmittelbar auf ihren Anbau beziehen, sind das Ruhende und Bleibende im Staate, das Bild des Festen und Ewigen; sie sind dem Wandelbaren und Unruhigen entgegengesetzt, was das Leben der Städte und der städtischen Gewerbe ist.“

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

folgte einige Jahre später, als unmittelbar nach der Befreiung von der napoleonischen Herrschaft im Zuge der Neuordnung Deutschlands die Deutsche Bundesakte beschlossen wurde, deren berühmtester Artikel Nr. 13 die ominöse und (gerade im Zusammenhang unserer Fragestellung) überaus vieldeutige Formulierung enthielt: „In allen Bundesstaaten wird eine Landständische Verfassung stattfinden“31. Der Sekretär des Wiener Kongresses, der engste Mitarbeiter Metternichs und glänzende Publizist Friedrich Gentz32, war 1819 einer der ersten, die diesem Begriff, ganz im Sinne der damals in Deutschland vorherrschenden Kräfte der Restauration, eine entschieden traditionale Auslegung gaben und damit jeden Versuch scharf zurückwiesen, unter „Landständen“ eine Versammlung von Volksrepräsentanten, also ein Parlament im modernen Sinne, zu verstehen. Für Gentz sind Landstände in letzter Konsequenz Traditionsstände und nicht Funktionsstände; er stellt ausdrücklich fest: „Landständische Verfassungen entspringen aus den für sich bestehenden, nicht von Menschenhänden geschaffenen Grundelementen des Staates, entwickeln sich mit der Entwicklung desselben und können und müssen ohne gewaltsame Verletzung vorhandener Rechte, auf demselben Wege, auf welchem sie sich gebildet haben, zur fortschreitenden Vervollkommnung gelangen“33. IV. Gentz hatte mit seiner kleinen Schrift in eine seit der Publikation der deutschen Bundesakte schwelende, öffentlich wie auch halböffentlich geführte Kontroverse um die angemessene Auslegung des Artikels 13 ebenso entschieden wie einseitig eingegriffen. Versucht man nun, die Debatte, die etwa zwischen 1815 und 1848 in Deutschland um den Begriff und die Deutung des „Standes“ und des „Ständetums“ geführt worden ist, nach ihren Hauptrichtungen und Argumentationslinien zu gliedern, dann wird man drei Schwerpunkte in der Unterscheidung setzen müssen: Erstens ist zu nennen die liberal-konstitutionelle Richtung, zweitens die altstän31  Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz, 31978, S. 88 (Deutsche Bundesakte v. 8.6.1815, Art. 13). 32  Vgl. Golo Mann, Friedrich von Gentz – Geschichte eines europäischen Staatsmannes, Frankfurt a.  M./Berlin/Wien 1972; Günther Kronenbitter, Wort und Macht. Friedrich Gentz als politischer Schriftsteller, Berlin 1994 (Beiträge zur politischen Wissenschaft, 71). 33  Friedrich Gentz, Über den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsentativ-Verfassungen (1819), neu abgedruckt in: Restauration und Frühliberalismus 1814–1840, hrsg. v. Hartwig Brandt, Darmstadt 1979 (Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, 3), S. 218–223 (Auszug), hier S. 219.



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disch-konservative Richtung und schließlich noch eine dritte, die man als die neuständisch-funktionale Richtung bezeichnen könnte34. Die liberal-konstitutionelle Richtung fand eine Reihe prominenter und eloquenter Vertreter, von denen hier nur einige genannt werden können. So ist am Anfang etwa Johann Friedrich Benzenberg zu erwähnen, den man auch den ersten rheinischen Liberalen genannt hat. In seinem schon 1816 publizierten, mehr als fünfhundert Druckseiten umfassenden Werk mit dem lapidaren Titel „Ueber Verfassung“ findet sich zwar ein eigener Abschnitt, der „von den Ständen“ handelt35, doch der Autor versteht hier bereits unter dem Begriff „Stände“ nichts anderes mehr als ein Synonym für Parlament, und zwar durchaus im Sinne einer repräsentativen Volksvertretung, die er sich, ganz nach dem britischen Vorbild, auch für Deutschland in der Form eines Zweikammerparlaments erhofft36. 34  Es sei an dieser Stelle keineswegs verschwiegen, dass es nach 1815 in Deutschland auch harmonisierende Ständetheorien gab, deren Anliegen es offensichtlich war, alle bestehenden Differenzen wenn nicht zu verleugnen, so doch als durchaus unwesentlich zu erweisen; sie lassen sich tatsächlich keiner der hier genannten drei Richtungen einordnen. Pars pro toto sei hier an den Historiker Karl Dietrich Hüllmann erinnert, der in einer „Zuschrift an die Deutschen“ (datiert: „November 1829“) am Beginn der zweiten Fassung seines Hauptwerks feststellte: Karl Dietrich Hüllmann, Geschichte des Ursprungs der Stände in Deutschland, Zweite Ausgabe, größtentheils ein neues Werk, Berlin 1830, IV f.: „Ein anderes Deutschland ist es, ein nach den Bedürfnissen der Zeit wieder aufgebautes […] Ein veredelter Geist lebt in den öffentlichen Verhältnissen. Kein Schlözer, kein Häberlin braucht mehr die Sache der Deutschen zu führen; sie ist gesichert durch die Macht der Sitte und der öffentlichen Meinung. Der Willkühr ist das Vermögen, der Eifersucht die Bedeutung, dem alten Hasse der Stachel, genommen. Worauf es hier insonderheit ankömmt: bei den vier Ständen ist das Mittelalterthümliche vertilgt. Die Geistlichkeit katholischer Bekennung ist der Reichthümer, hauptsächlich des großen Landeigenthums, und der Ausübung landesherrlicher Rechte, überhoben; daher nicht mehr die bürgerlichen und gesellschaftlichen Uebelstände, die in dem Gemälde jener Zeit den Schatten verstärken. Der Adel, bei aller ihm eigenen, hohen und gerechten Meinung für den Besitz eines unbeweglichen Vermögens, als Erhaltungsmittels alter Geschlechter, ist zugänglich für die Anerkennung des vollen Staatsbürgerthums der Besitzer eines beweglichen. Bedeutenden Einfluß hat die Umgestaltung der Staatsgesellschaft auf den Bürgerstand gehabt: er ist ihr ganz einverleibt worden, da der Staat aufgehört hat, ein Inbegriff von Genossenschaften zu seyn. Für den Bauernstand endlich ist in vielen Landesgebieten das neunzehnte Jahrhundert der bürgerliche Schöpfungstag. – Die Wunden sind geheilt, fast ohne Narben. Sorget, wackere Deutsche, daß sie nicht wieder aufbrechen!“ 35  [Johann Friedrich] Benzenberg, Ueber Verfassung, Dortmund 1816, S. 217 ff.; siehe auch Julius Heyderhoff, Johann Friedrich Benzenberg, der erste rheinische Liberale, Düsseldorf 1909 (Vereinsgabe des Düsseldorfer Geschichtsvereins 1909), ebenfalls Dajana Baum, Johann Friedrich Benzenberg (1777 – 1846). „Doktor der Weltweisheit“ und „Professor der Konstitutionen“ – Verfassungskonzeptionen aus der Zeit des ersten preußischen Verfassungskampfes, Essen 2008. 36  Vgl. Benzenberg, Ueber Verfassung (Anm. 35), S. 226 ff.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

Sicherlich der bedeutendste Widersacher von Gentz aus den Reihen der deutschen konstitutionellen Frühliberalen war Carl von Rotteck. In seinen ebenfalls 1819 publizierten „Ideen über Landstände“37 entwickelte er die wohl deutlichste und entschiedenste Gegenposition zur Gentzschen Auslegung des Artikels 13 der Bundesakte, indem er bereits im ersten Satz seiner Schrift den Begriff „Landstände“ definierte als „ein das gesamte zum Staat vereinigte Volk (oder einen Teil desselben) vorstellender […] Ausschuß, beauftragt, die Rechte des Volkes (oder Volksteiles) gegenüber der Regierung auszuüben. […] Stände sind Volksrepräsentanten gegenüber der Regierung“38. Damit hatte Rotteck die komplementäre Gegenposition zu Gentz präzise formuliert, und es war hiermit zugleich die funktionale der traditionalen Definition entgegengestellt: Stände ­definieren sich demnach nicht über ihre historisch und traditional bestimmte Existenz, sondern, folgt man Rotteck, lediglich und ausschließlich durch ihre Funktion – d. h. hier: durch ihre Funktion als r­ epräsentatives Gegengewicht gegen die Macht der Regierung sowie als Vehikel für die Mitwirkung des Volkes an der politischen Entscheidungsfindung eines Gemeinwesens. Der Ablehnung des traditionellen Ständebegriffs und dem Konzept einer engen Verbindung von „Ständetum“ und parlamentarischer Repräsentation, die Rotteck 1819 in paradigmatischer Weise vorgenommen hatte, sind nicht wenige politische Autoren der liberal-konstitutionellen Richtung im damaligen Deutschland gefolgt; es genügt, in diesem Zusammenhang etwa auf Wilhelm Traugott Krug39, Karl Heinrich Ludwig 37  Carl von Rotteck, Ideen über Landstände (1819), in: derselbe, Über Landstände und Volksvertretungen. Texte zur Verfassungsdiskussion im Vormärz, hrsg. v. Rainer Schöttle, Freiburg/Berlin/München 1997, S. 15–88; vgl. auch Gerhard Göhler, Volkssouveränität und konstitutionelle Monarchie: Karl von Rotteck, in: Hans Joachim Lieber (Hrsg.), Politische Theorien von der Antike bis zur Gegenwart, München 1991, S. 387–411. 38  Rotteck, Ideen über Landstände (Anm. 37), S. 18 f. 39  Bei Krug findet sich 1816 durchaus noch eine auf den ersten Blick ganz traditionell anmutende Ständelehre. So unterscheidet er in: Wilhelm Traugott Krug, Das Repräsentativsystem. Oder Ursprung und Geist der stellvertretenden Verfassungen, mit besonderer Hinsicht auf Deutschland und Sachsen (1816), in: derselbe, Gesammelte Schriften, Bd. 3. Braunschweig 1834, S. 277–319, hier S. 299 ff., noch die vier Stände des „Herren- oder Ritterstandes“, die „Geistlichkeit“, den „Bauernstand“ und den „Bürgerstand“, und er tritt im Gegensatz zur „mathematischen“ Repräsentation für die „dynamische“, d. h. „auf dem politischen Prinzip der Gewichtigkeit“ beruhende Repräsentation (ebd., S. 296 f.) ein. Dennoch bestimmt er die Stände inhaltlich neu: So soll der erste Stand nicht mehr nur aus Adligen bestehen, sondern  – ihrer ökonomischen Funktion entsprechend  – aus sämtlichen Gutsbesitzern, „sie mögen von adeliger Geburt sein oder nicht“ (ebd., S. 301). Und der zweite Stand soll nicht mehr nur die Geistlichkeit allein, sondern



Vom Traditionsstand zum Funktionsstand275

Pölitz40 oder Johann Christoph von Aretin41 hinzuweisen. Auch der Jurist Sebald Brendel, der 1817 eine umfangreiche Gesamtdarstellung einer Geschichte der Nationalrepräsentation in den Staaten „der alten und neuen Welt“ vorlegte42, hielt „die allgemeine Theilnahme der Bürger an ebenfalls „alle Gelehrten (zu denen auch die höheren, wissenschaftlich gebildeten Künstler gehören) umfassen“ (ebd., S. 302 f.). Außerdem besteht Krug auf einem Einkammerparlament, denn: „Die Vereinigung aller Volksvertreter in Eine Kammer gewährt […] den wesentlichen Vortheil, daß die verschiednen Stände sich nicht wie orientalische Kasten von einander absondern, sondern als Glieder einer und derselben großen Familie ansehn lernen, daß sie bei Besorgung ihrer besonderen Interessen den Blick mehr auf das Allgemeine und Gemeinschaftliche zu richten genöthigt sind […]“ (ebd., S. 306). Vgl. zum politischen Denken Krugs auch die knappen Hinweise bei Brandt: Landständische Repräsentation (Anm.1), S. 223– 227. 40  Pölitz unterschied 1823 (Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Die Staatswissenschaften im Lichte unsrer Zeit, Bd. 1, Leipzig 1823, S. 193 ff.) zwischen höheren, mittleren und niederen Ständen, wobei er zu den höheren Ständen „diejenigen Staatsbürger“ rechnete, „welche entweder bei der verfassungsmäßigen Versammlung der Stellvertreter des Volkes als Mitglieder desselben erscheinen, oder welche bei […] der Regierung und Verwaltung als eigentliche vorgesetzte Staatsbeamte und Behörden angestellt, und also blos dem Regenten und den Vertreter des Volkes verantwortlich sind“ (ebd., S. 194). Zu den mittleren Ständen gehören laut Pölitz „alle in abhängigen Verhältnissen […] angestellte Staatsbeamte; dann alle […] persönlich unabhängige, Grundeigenthümer, Gelehrte, Künstler, Kaufleute“ (ebd., S. 194 f.), während die niederen Stände wiederum alle diejenigen umfassen, „welche in persönlicher oder dinglicher Abhängigkeit zu den höhern und mittlern Ständen […] stehen“ (ebd., S. 195). Auch Pölitz’ Ständedefinition kennt ein funktionales Element: „Wenn in der Mitte der höhern Stände zunächst die erhaltende Kraft des Staates wirkt; so bewährt sich im Kreise der mittlern Stände zunächst die bewegende Kraft desselben“ (ebd., S. 195).  – In einer späteren Schrift (Karl Heinrich Ludwig Pölitz, Das constitutionelle Leben nach seinen Formen und Bedingungen, Leipzig 1831) hat der Autor die ständische Untergliederung der Gesellschaft auf „drei Hauptclassen menschlicher Thätigkeit“ zurückgeführt: „a) auf das besondere Interesse des Grundbesitzes, mit seinen beiden Unterarten des größern und des kleinern Grundbesitzes; b) auf das besondere Interesse der städtischen Gewerbe […]; und c) in [sic] das besondere Interesse der Intelligenz im Staate“ (ebd., S. 85). Pölitz trat für ein repräsentatives Parlament gerade mit dem Argument ein, dass nur mittels dieser Institution die bestehende Tendenz zur gewollten oder auch ungewollten Abschließung der Stände gegeneinander überwunden werden könne. – Siehe zu Pölitz auch Brandt: Landständische Repräsentation (Anm. 1), S. 214–223. 41  Vgl. Johann Christoph von Aretin, Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie. Ein Handbuch für Geschäftsmänner, studirende Jünglinge und gebildete Bürger, Bd. 1, Altenburg 1824, S. 244 f.; Aretin versteht unter einer „konstitutionellen Ständeversammlung“ bereits ein repräsentatives Parlament im modernen Sinne. 42  Sebald Brendel, Die Geschichte, das Wesen und der Werth der National-Repräsentation oder vergleichende historisch-pragmatische Darstellung der Staaten der alten und neuen Welt, besonders der deutschen, in Beziehung auf die Entste-

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

den öffentlichen Angelegenheiten durch Stellvertreter und Publicität“43 für eine mittlerweile nicht mehr hintergehbare Errungenschaft der Befreiungskriege gegen Napoleon. Einer ständischen Ordnung dagegen droh­ te nach seiner Überzeugung nichts anderes als Stagnation und Rück­schritt44. Sogar Friedrich Christoph Dahlmann, der innerhalb des liberalen Ideen­kreises im Vergleich zu den vier eben genannten Autoren als wesentlich konservativer einzuordnen ist, hat schließlich diesen Weg eingeschlagen: Obwohl er in der ersten Auflage seiner 1837 erschienenen „Politik“ darauf beharrt, der Staat solle sich nicht aus einzelnen Individuen, auch „nicht aus gleichartigen, sondern aus verschiedenartigen, so wenig als möglich künstlich gebildeten, so viel als möglich aus real vorhandenen Bestandtheilen gebaut seyn“45, d. h. aus real vorhandenen korporativen Bestandteilen, also eben letztlich den Ständen, zusammensetzen, plädiert er letztendlich dennoch nicht etwa für eine ständisch zusammengesetzte Volksvertretung, sondern für ein Zweikammernparlament nach englischem Vorbild46. Damit komme ich zur zweiten Denkströmung, nämlich zur altständisch-konservativen Richtung, die noch während des Vormärz eine ganze Reihe von  – zeitweise durchaus auch politisch einflussreichen  – Vertretern besessen hat. Die beiden wohl bedeutendsten Repräsentanten der Politischen Romantik sind in diesem Zusammenhang an erster Stelle zu nennen47. Adam Müller48 hat zwar kein ausführliches Verfassungsmodell hung, Ausbildung, Schicksale und Vorzüge der Volksvertretung oder der öffent­ lichen Theilnahme an der höchsten Staatsgewalt, Bde. 1–2, Bamberg/Leipzig 1817. 43  Ebd., Bd. 1, S. 66. 44  Vgl. ebd., Bd. 2, S. 314: „Ueberall, wo abgesonderte Stände, sey es in Curien, oder in der Pairskammer sich befinden, zeigt sich mit der Zeit eine entschiedene Abneigung gegen eine beständige und immer fortschreitende Reform der Verfassung.“ 45  Vgl. Friedrich Christoph Dahlmann, Die Politik (1835), hrsg. v. Wilhelm Bleek, Frankfurt  a. M. 1997 (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens, 7), S. 69 (§ 99); zum Zusammenhang siehe auch Hermann Christern, Friedrich Christoph Dahlmanns politische Entwicklung bis 1848. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Liberalismus, Leipzig 1921; Wilhelm Bleeck, Friedrich Christoph Dahlmann. Eine Biographie, München 2010, bes. S. 143–158 u. passim. XXX (Hrsg.): Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, Berlin 22002, S. 329–341. 46  Dahlmann, Die Politik (Anm. 45), S. 99 ff. (§§ 143 ff.). 47  Vgl. als Überblick: Hans-Christof Kraus, Politisches Denken der deutschen Spätromantik (in diesem Band, S. 157 - 194). 48  Vgl. über ihn vor allem Jakob Baxa, Adam Müller. Ein Lebensbild aus den Befreiungskriegen und aus der deutschen Restauration, Jena 1930; Benedikt



Vom Traditionsstand zum Funktionsstand277

vorgelegt, er hat jedoch angedeutet, wohin nach seiner Auffassung die Richtung zu gehen habe, wenn er feststellte, es komme beim „Problem der Organisation des Volkes […] nur darauf an, jene alten Ständeverfassungen [gemeint ist: diejenigen des Ancien Régime; H.-C. K.] zu beleben, zu vervollständigen, und sie anzupassen an den gegenwärtigen Zustand“, eben weil jene „überall entweder verläugneten oder noch bestehenden Fragmente einer ständischen Verfassung […] unvollständige aber sehr ehrenwerte Spuren einer Organisation des Volks in ehemaligen freyeren Zeiten“ darstellten, die, „da Natur und Bedürfniß sie erzeugt hat, […] mehr vermögen als die scharfsinnigste Erfindungs-Kraft des M ­ en­schen“49. In seinen berühmten Dresdner Vorlesungen über die „Elemente der Staats­kunst“ hat Müller bereits um 1808/09 ein funktional argumentierendes Verständnis des Ständetums strikt abgelehnt50. Und Friedrich Schlegel, dessen politisches Denken sich auf ähnlichen Pfaden bewegte51, lehnte „dieses Repräsentativsystem und das ganze Konstitutionswesen“, wie er es nannte, im zweiten Teil seiner Anfang der 1820er Jahre publizierten „Signatur des Zeitalters“52 ebenfalls entschieden ab: „Die ständischen Entwicklungen dagegen, in welchen das Neue, was wahrhaft zum Bedürfnis geworden, sich überall an das historisch Begründete, und eigentümlich Lokale, an das noch vorhandne Feste anschließt, bewähren sich in dem gleichen Maße, als die beste Stütze der Koehler, Ästhetik der Politik. Adam Müller und die politische Romantik, Stuttgart 1980; zu Müllers korporativen Ideen siehe ebenfalls den Überblick bei Bowen, German Theories of the Corporative State (Anm. 8), S. 31 ff. 49  Die Zitate aus: Adam Müller, Von der National-Repräsentation, in: derselbe, Vermischte Schriften über Staat, Philosophie und Kunst. Erster Theil, Wien 1812, S.  184 f. 50  Vgl. Adam Müller, Die Elemente der Staatskunst, hrsg. v. Jakob Baxa, Bde. 1–2, Wien/Leipzig 1922, hier Bd. 1, S. 190 f.: „Alle Constitutions-Künstelei unsrer Tage ist also nichts andres, als der immer unglückliche Versuch, ein Surrogat der Ständeverhältnisse des Mittelalters zu finden. Man theilte und zerschnitt die einzelnen Functionen und Qualificationen der Suveränetät, man theilte manufacturenartig den suveränen Willen und das suveräne Geschäft, welches unmöglich ist. Die Naturen, deren Conflict und Balance den Staat und die Familie ausmacht, sind von der Natur – im Staate und in der Familie – schon wahrhaft getheilt worden.  – Auf der Erkenntniß dieser, von ewigen, göttlichen Gesetzen angeordneten, Theilung beruhet alle Wissenschaft der Regierungsformen; sie ist auch mit der Idee des Staates verträglich, während alle Theilung der Functionen von dem Begriffe ausgeht, und die lebendigen Glieder des Staates selbst in kalte und todte Begriffe verwandelt“. 51  Vgl. Gerd-Peter Hendrix, Das politische Weltbild Friedrich Schlegels, Bonn 1962; Ernst Behler, Friedrich Schlegel, Reinbek bei Hamburg 1966. 52  Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, hrsg. v. Ernst Behler, I. Abt., Bd. 7: Studien zur Geschichte und Politik, München/Paderborn/Wien 1966, S. 483–596.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

monarchischen Ordnung, und als ein sicheres Befestigungsmittel der bürgerlichen Ruhe.“ Aus diesem Grunde lag für ihn nichts näher, als dass nach der politischen Neuordnung Europas von 1815 die deutschen Fürsten und Regierungen sich zuerst und vor allem darum zu bemühen hatten, „jene altständischen Einrichtungen nach deutscher Art wiederher­ zustellen, oder neu zu beleben“53. Als das „gute Prinzip im Kampfe des Zeitalters“ erkannte der strikt restaurativ orientierte Schlegel daher „im politischen Gebiet die historisch begründeten Stände und wesentlichen Korporationen, als eben auf jenem Positiven beruhend, und demnächst das ganze System der korporativen Grundsätze“54. Während Schlegel hier aus seinem Anliegen, mit seinen Stellungnahmen zuerst und vor allem die bestehende monarchisch-ständische Ordnung verteidigen zu wollen, keinerlei Hehl machte, versuchte sich Carl Ernst Jarcke, als Jurist angesehen und als politischer Publizist inzwischen in Wien zum Nachfolger von Gentz avanciert55, nochmals als Verteidiger der Lehre von einer strikten Trennung zwischen repräsentativen und ständischen politischen Systemen. Sein 1834 in Leipzig zuerst anonym erschienenes Buch „Die ständische Verfassung und die deutschen Constitutionen“ breitete auf mehr als zweihundert Seiten noch einmal alle diejenigen Argumente aus, die im Keim schon 1819 bei Gentz zu finden gewesen waren. Die „ständische Verfassung“, so Jarckes Hauptgedanke, sei „keine künstliche Erfindung, sondern eine natürliche und nothwendige Einrichtung, die sich von selbst aus den lebendigen Rechtsund Freiheitsbegriffen der germanischen Völker, aus ihren factischen Verhältnissen und der Summe ihrer gesellschaftlichen Einrichtungen“ ergeben habe; gegenwärtig existierten in Deutschland vier Stände: Adel, Geistlichkeit, Stadtbürger und der „freie Bauernstand“56, aus denen sich ohne Schwierigkeiten eine landständische Verfassung in einem wahren, Geschichte und Gegenwart miteinander verbindenden Sinne aufbauen lasse. Und noch 1846, zwei Jahre vor der Revolution, hat der altkonservativ gesinnte Berliner Jurist Carl Wilhelm von Lancizolle in seinem Buch „Ueber Königthum und Landstände in Preußen“ für die Bewahrung und 53  Die

Zitate ebd., S. 535. S. 538. 55  Vgl. Frieda Peters, Carl Ernst Jarcke’s Staatsanschauung und ihre geistigen Quellen, phil. Diss. Köln 1926; Hans-Christof Kraus, Carl Ernst Jarcke und der katholische Konservatismus im Vormärz, in: Historisches Jahrbuch 110 (1990), S. 409–445. 56  Die Zitate aus: [Carl Ernst Jarcke], Die ständische Verfassung und die deutschen Constitutionen, Leipzig 1834, S. 1 f., 42 f. 54  Ebd.,



Vom Traditionsstand zum Funktionsstand279

bestenfalls vorsichtige Weiterentwicklung der provinzialständischen Verfassung seines Landes plädiert  – mit dem Argument, dass allein diese dem „Geist der älteren deutschen Verfassungen“57 entspreche (womit natürlich das alte Ständetum gemeint war). Dem preußischen System der Provinziallandtage mit lediglich beratender, aber nicht mitentscheidender Funktion stehe, so Lancizolle mit einem gehörigen Maß an Zweckoptimismus, „sehen wir ab von all dem modischen Flitterstaat des Constitutionalismus, […] eine so vielseitige, so umfassende und so ersprießliche Wirksamkeit offen, wie in wenigen andern Staaten“58. Die Erweiterung der Provinzialstände zu „Reichsständen“, also zu einer gesamtstaatlichen ständischen Vertretung, lehnte Lancizolle zwar nicht ab, doch er warnte ausdrücklich vor der „Gefahr für die Krone“, die aus einer Erweiterung der finanzpolitischen und budgetrechtlichen Befugnisse der Stände erwachsen könne; einer solchen  – aus seiner Sicht höchst verhängnisvollen – Entwicklung könne in diesem Fall nur mit einer erneuten „Steigerung des absoluten Königthums“ wirksam begegnet werden59. Neben der liberal-konstitutionellen und der konservativ-altständischen gab es jedoch noch eine dritte Richtung, die man als die neuständisch-funktionale Richtung bezeichnen kann, und hier fanden sich nun tatsächlich Autoren sowohl liberaler wie auch konservativer und sogar frühsozialistischer Provenienz zusammen, deren gemeinsames Kennzeichen darin lag, dass sie alle  – wenn auch auf jeweils unterschiedliche Weise und natürlich mit stark differierender Zielsetzung  – versuchten, den Begriff des Standes neu zu definieren, d. h. ihn aus der überkommenen traditionalen Betrachtungsweise herauszunehmen und in den Zu57  Carl Wilhelm von Lancizolle, Ueber Königthum und Landstände in Preußen, Berlin 1846, S. 269; vgl. auch Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Bd. III/2 (Text), München/Berlin 1910, S. 315–318; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992, S.  150 f.; sowie Brandt, Landständische Repräsentation (Anm. 1), S. 117 f. 58  Lancizolle, Ueber Königthum und Landstände (Anm. 57), S. 465. 59  Vgl. ebd., 569: „Eine Gefahr für die Krone und somit für den inneren und äußeren Bestand Preußens könnte allerdings insonderheit aus einer Erweiterung der finanziellen Rechte der Stände erwachsen, wenn dieselben sich bis zu den gewöhnlichen Postulaten des Constitutionalismus sich erstrecken, wonach periodisch der ganze Staatshaushalt (die sogenannte Civilliste nicht ausgenommen) in Frage gestellt würde und die Positionen der Verwendung aller Gattungen von Einkünften bis ins Einzelne hinein von den Ständen oder ‚Volksvertretern‘ immer neu vereinbart werden müßten. Alsdann aber würde gegen immerhin mögliche Extreme des Mangels an Einsicht oder an gutem Willen Seitens der Stände, in einem Staate wie Preußen einzig und allein eine neue Kräftigung oder Steigerung des absoluten Königthums die unentbehrliche, aber doch gewiß nicht herbeizuwünschende Schutzwehr für das Bestehen des ganzen Staats gegen anarchische Auflösung darbieten können“.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

sammenhang einer neuen funktionalen Denkweise zu stellen. Anders formuliert: In ihren Schriften begann das funktionale Argument das traditio­ nale endgültig abzulösen. Auch hier kann ich wiederum nur wenige Schlaglichter auf einige besonders prominente Autoren werfen. Wilhelm von Humboldt60 ist hier an erster Stelle zu nennen, der sich 1819 in seiner ausführlichen Frankfurter Denkschrift „Über Einrichtung landständischer Verfassungen in den preußischen Staaten“61 scharf gegen die „Gründung volksvertretender Versammlungen nach bloß numerischen Verhältnissen“ aussprach, mit dem Argument, eine solche werde die gegenwärtig im Lande noch vorhandenen Genossenschaften und Stände „nach und nach zerstö­ren“62. Er plädierte dagegen entschieden für ein landständisches Modell, in dem, wie er sagte, genau diejenigen zusammentreffen, „welche ein am meisten gleiches Interesse haben, […] und dann ist nichts dagegen zu sagen, daß der Adel, die nicht adlichen Grundeigenthümer und die Städte drei verschiedene Kammern bilden“63. Humboldt argumentiert hier klar in funktionaler Weise: Grundeigentümer haben schon per definitionem ein fundamentales ökonomisches Interesse am Gemeinwesen, also müssen sie aus genau diesem Grunde, und zwar ständisch gegliedert, im Rahmen einer Ständeversammlung zur Mitwirkung im Staat herangezogen werden. Auf den ersten Blick ganz anders argumentierte Joseph Görres64 in seiner ebenfalls 1819 publizierten Schrift „Teutschland und die Revolution“, in der er seine Ideen für eine künftige politische Neuordnung Deutschlands vortrug65. Das traditionelle „Gerüst der verschiedenen Stände“ sei „ursprünglich durch die Gewalt und die Uebervortheilung der Einfalt durch List gegründet“ worden, daher lehnt er die hergebrachte Einteilung der Stände  – vor allem die immer noch bestehenden 60  Zum politischen Denken und Handeln sieh vor allem die immer noch unüberholte große Studie von Siegfried A. Kaehler, Wilhelm von Humboldt und der Staat. Ein Beitrag zur Geschichte deutscher Lebensgestaltung um 1800, Göttingen 21963; neuestens auch Dietrich Spitta, Die Staatsidee Wilhelm von Humboldts, Berlin 2004 (Schriften zur Rechtsgeschichte, 114). 61  Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Andreas Flitner/ Klaus Giel, Klaus, Bd. 4, Darmstadt 1982, S. 433–500. 62  Ebd., Bd. 4, S. 462. 63  Ebd., Bd. 4, S. 475. 64  Vgl. Heribert Raab, Joseph Görres. Ein Leben für Freiheit und Recht, Paderborn 1978; Monika Fink-Lang, Joseph Görres – Die Biografie. Paderborn 2013. 65  Neu abgedruckt in: Joseph Görres, Gesammelte Schriften, hrsg. v. Wilhelm Schellberg u. a., Bd. 13: Politische Schriften (1817–1822), hrsg. v. Günther Wohlers, Köln 1929, S. 35–143.



Vom Traditionsstand zum Funktionsstand281

Vorrechte des Adels  – entschieden ab. Er orientiert sich in seinem neuständischen System dagegen an der uralten platonischen Einteilung in das System der drei Stände: der Lehrstand als „Bewahrer aller göttlichen und menschlichen Weisheit“, sodann der Wehrstand als „Schirm und Hort des Vereines und […] Schutz des Thrones“, und dritten schließlich der Nährstand, der „die Kinder der Erde“ umfaßt, die „durch ihrer Hände Arbeit ihre Schätze“ heben und den „Handel und Wandel“ des Gemeinwesens in Bewegung halten66. Sieht man näher hin, dann plädiert auch Görres in seiner strikten Ablehnung des älteren, ausschließlich durch Tradition begründeten Ständetums67 für einen Wechsel hin zur funktional bestimmten Ständeordnung. Denn es ist klar, dass sein dreigliedriges Modell die eben genannten Stände von ihrer jeweiligen Funktion her definiert und lediglich auf diesem Wege auch politisch legitimiert. Schließlich hat auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel in seiner Rechtsphilosophie von 1821 eine Ständekonzeption entwickelt, die sich ebenfalls, wenn auch auf eine gänzlich andere Weise als bei Görres, von der altständischen Tradition sehr weit entfernt hatte68. Wiederum sind es drei verschiedene Stände oder Korporationen, die Hegel hier unterscheidet: 1. den ackerbauenden Stand, 2. den Stand des Gewerbes, und 3.  schließlich den sogenannten allgemeinen Stand, also die Beamtenschaft69, ein Stand, der sich, so Hegel, „dem Dienst der Regierung“70 66  Alle

Zitate: ebd., Bd. 13, S. 122, 121. vor allem ebd., Bd. 13, 122: „Die neuere Zeit […] hat eine andere Lehre aufgestellt. Dies Gerüst der verschiedenen Stände [gemeint ist die alte Einteilung der drei Stände Adel, Geistlichkeit, Bürger; H.-C.K.], ursprünglich durch die Gewalt und die Uebervortheilung der Einfalt durch List gegründet, seye an sich nichtig und verderblich; und dies Ansteigen durch Potenzen [..] sey für die Gesellschaft, die aus völlig gleichartigen Elementen bestehe, gänzlich unstatthaft, und könne für ihre Entwickelung nur einen nachtheiligen Einfluß äußern. Wie das Christenthum den Grundsatz der völligen Gleichheit aller Menschen vor Gott festgesetzt, so müsse auch vor dem Staate und vor dem Gesetze dieselbe Gleichheit gelten; indem was geistig wahr sey, ewig nicht leiblich im Realen sich selbst widersprechend als unwahr sich befinden könne“. Die traditionellen Vorrechte des Adelsstandes lehnt Görres dementsprechend strikt ab; dessen vermeintliche Funktion als „vermittelnder“ Stand bestreitet er vehement; vgl. ebd., S. 122 f. 68  Zu Hegels politischem Denken vgl. aus der Fülle der Literatur statt vieler: Franz Rosenzweig, Hegel und der Staat, Bde. 1–2, München/Berlin 1920; Rolf K. Hocevar, Hegel und der preußische Staat. Ein Kommentar zur Rechtsphilosophie von 1821, München 1973; Shlomo Avinieri, Hegels Theorie des modernen Staates, Frankfurt a. M. 1976. 69  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 41955, S. 176 ff. (§§ 203–205). 70  Ebd., S. 264 (§ 303). 67  Vgl.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

zu widmen hat. Diese Stände haben nach Hegel eine gleich doppelte Funktion zu erfüllen, d. h. sowohl die jeweiligen ständischen Einzelinte­ ressen zu vertreten wie auch – durch Vermittlung – für die Gesamtheit zu wirken. Hegel bemerkt: „Als vermittelndes Organ betrachtet, stehen die Stände zwischen der Regierung überhaupt einerseits, und dem in die besonderen Sphären und Individuen aufgelösten Volke andererseits. Ihre Bestimmung fordert an sie so sehr den Sinn und die Gesinnung des Staats und der Regierung als der Interessen der besonderen Kreise und der Einzelnen. Zugleich hat diese Stellung die Bedeutung einer mit der organisierten Regierungsgewalt gemeinschaftlichen Vermittelung, daß weder die fürstliche Gewalt als Extrem isolirt und dadurch als bloße Herrschergewalt und Willkür erscheine, noch daß die besonderen Interessen der Gemeinden, Korporationen und der Individuen sich isolieren“71. Das bedeutet: Die gewissermaßen verfassungspolitische Funktion der Stände besteht vor allem darin, die von Hegel konstatierte Spannung zwischen Staat und Gesellschaft zu überbrücken, damit also für das Ganze vermittelnd und ausgleichend zu wirken. Es mag auf den ersten Blick überraschen, dass auch der bedeutendste deutsche Frühsozialist vor Marx, Wilhelm Weitling, in seiner zuerst 1839 erschienenen Schrift „Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte“ sein utopisches Zukunftsmodell eines „großen Familienbundes der Mensch­heit“ mit kommunistischer Sozialordnung tatsächlich in drei verschiedene „Stände“ gliederte: den produzierenden „Bauernstand“, den arbeitenden „Werkstand“ und schließlich dem „Lehrstand“72. Dieses Modell begründete er wiederum rein funktional, denn um eine, wie auch immer geartete, ständische „Interessenvertretung“ konnte es in einem auf umfassende Gütergemeinschaft abzielenden Sozialmodell nicht mehr gehen. Weitling befand sich mit dem ersten und dem dritten der von ihm genannten Stände (dem noch von Görres so bezeichneten „Nährstand“ und dem Lehrstand) durchaus im Rahmen einer älteren Denktradition, die ihm als solche indes wohl kaum bewusst gewesen sein dürfte.

71  Ebd.,

S. 263 (§ 302). Wilhelm Weitling, Die Menschheit wie sie ist und wie sie sein sollte, (Neudruck der 2. Aufl. 1845), München 1895, S. 28–30; zu Weitling vgl. auch Ignacio Sotelo/Ralf Bambach, Utopie, Frühsozialismus und Sozialreform, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrsg. v. Iring Fetscher/Herfried Münkler, Bd. 4, München/Zürich 1986, S. 369–413, hier S. 395–397; umfassend jetzt Waltraud Seidel-Höppner, Wilhelm Weitling (1808–1871). Eine politische Biographie, Frankfurt a. M. 2014. 72  Vgl.



Vom Traditionsstand zum Funktionsstand283

V. Mit dem Jahr 1848 verlor der traditionelle, sich am altständischen ­ odell orientierende Ständebegriff endgültig seine Bedeutung, die er im M Rahmen der allgemeinen politischen Debatte während des Vormärz immerhin noch besessen hatte. Und es ist in diesem Zusammenhang keineswegs ein Zufall, dass der Begriff Landstände fortan in Deutschland zurückzutreten begann, gerade auch als Bezeichnung für eine repräsentative parlamentarische Versammlung. Die neuen Begriffe, die man nun verwendete, waren etwa: Nationalversammlung (für die Jahre 1848/49), Kammer, Abgeordnetenhaus oder auch Landtag; von „Landständen“ dagegen war fortan immer weniger die Rede, wenngleich sich Begriff und Form in einzelnen Ländern Deutschlands bekanntlich noch bis zum Ende des Kaiserreichs erhalten haben, erinnert sei etwa an die Ständeversammlung der beiden mecklenburgischen Herzogtümer73. Aufschlußreich ist nun aber, dass sich der politische Begriff des „Standes“ auch nach 1848 bzw. 1850 durchaus weiterhin in der politischen Debatte und nicht zuletzt im akademischen Diskurs gehalten hat  – jetzt freilich nicht mehr in seiner traditional-altständischen Variante, wohl aber in einer neuen, nunmehr funktional argumentierenden Form. Man kann diese Entwicklung, knapp zusammenfassend, als den endgültigen Übergang vom Traditionsstand zum Funktionsstand – oder vom Geburtsstand zum Berufsstand bezeichnen. Tatsächlich haben gerade unmittelbar nach dem wenig rühmlichen Ende der Revolution eine Reihe von liberalen Autoren, die z. T. vor 1848 als entschiedene Anhänger und Vertreter des repräsentativ-parlamentarischen Prinzips hervorgetreten waren, angesichts der neuen Lage  – vor allem mit Blick auf das offenkundige politische und parlamentarische Scheitern der Frankfurter Paulskirchenversammlung  – eine Umorientierung hin zu einer berufsständischen Konzeption vollzogen. Der wohl prominenteste dieser Autoren war ohne Zweifel Robert von Mohl74, der in seiner 1852 publizierten Schrift über die Mängel des

73  Vgl. dazu statt vieler Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bde. 1–8, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1960–1990, hier Bd. 1, S. 656; Bd. 2, S. 541 ff.; Bd. 4, S. 422 ff. 74  Grundlegend immer noch Erich Angermann, Robert von Mohl 1799–1875. Leben und Werk eines altliberalen Staatsgelehrten, Neuwied/Berlin 1962 (Politica, 8); vgl. ebenfalls Ulrich Scheuner, Der Rechtsstaat und die soziale Verantwortung des Staates. Das wissenschaftliche Lebenswerk von Robert v. Mohl, in: Der Staat 18 (1979), S. 1–30.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

„Repräsentativsystems“75 die in den Jahren 1848/49 gemachten bitteren Erfahrungen zu verarbeiten versuchte und auf diese Weise eine schroffen Kritik an der bisherigen „falsche[n] Bildung der vertretenden Versamm­ lungen“76 in Deutschland vorlegte. Dem herkömmlichen Modell einer ungegliederten parlamentarischen Repräsentation stellte Mohl nun eine neue Kombination aus berufsständischen und allgemeinen Elementen entgegen. Ihm ging es nicht zuletzt darum, die Wahl von  – nach seiner Überzeugung – unzulänglichen Abgeordneten zu verhindern, zu denen er „wesentlich zwei Gattungen“ zählte, nämlich: „Einmal laute, um nicht zu sagen vorlaute, Tadler der Regierung; gewöhnlich Advokaten oder sonstige missgelaunte Studirte. Zweitens aber knechtische Anhänger der Regierung; abhängige Beamte, oder die es werden wollen“77. Der Autor, der selbst über ausgedehnte Erfahrungen als Parlamentarier verfügte, reagierte hiermit nicht zuletzt auf das sowohl vor 1848 wie auch nach 1850 immer wieder sich bemerkbar machende Phänomen der „von oben“ instruierten Beamtenparlamentarier, die sich auf Weisung ihrer Vorgesetzten als Wahlkandidaten zur Verfügung stellen mussten und auch in ihrem Abstimmungsverhalten keineswegs frei, sondern von entsprechenden Weisungen der Regierung abhängig waren, wollten sie ihre beruf­ liche Existenz nicht gefährden. Dieser Karikatur eines „freien“ Parlamentarismus versuchte Mohl nun mit einem eigenen berufsständischen Modell entgegenzutreten. Das von ihm favorisierte Parlament sollte aus drei verschiedenen, nach Berufsständen gegliederten Kammern bestehen: Die erste sollte die sog. „materiellen Gruppen“ umfassen (d. h. großen und kleinen Grundbesitz, Handel und Gewerbe, Arbeiterschaft), die zweite die „geistigen Gruppen“ (Kirchen, Wissenschaft, Kunst), die dritte Kammer schließlich die „räumlichen Gruppen“ (also die Städte und die Gemeinden)78. Alle dieser drei Kammern – Mohl bezeichnet sie als „Sondervertretungen“79 – sollten jeweils getrennt tagen. Eine „Gesammtvertretung“, bestehend „aus den Ausschüssen sämmtlicher Sondervertretungen“, sollte nur dann zusammentreten, wenn Fragen von gesamtstaatlicher Relevanz (also etwa Verfassungsfragen, Staatshaushalt, Rechtspflege, auswärtige Angelegenheiten usw.) zur Diskussion und zur Entscheidung standen. Eine „Entschei-

75  Robert von Mohl, Das Repräsentativsystem, seine Mängel und die Heilmittel (1852), in: derselbe, Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. 1, Tübingen 1860, S. 367–458. 76  Ebd., Bd. 1, S. 392. 77  Ebd., Bd. 1, S. 409. 78  Vgl. ebd., Bd. 1, S. 408 ff. 79  Ebd., Bd. 1, S. 417.



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dung der Streitfragen über die Zuständigkeit der einen oder anderen Art von Vertretung“ sollte einem besonderen Ausschuss, bestehend aus den Vorständen der drei Sondervertretungen, vorbehalten bleiben80. Ein noch stärker rein berufsständisch ausgerichtetes Modell hat auch der liberale Jurist Heinrich Ahrens81 in seinen nach der achtundvierziger Revolution publizierten staatsphilosophischen Schriften vorgelegt. Bereits im ersten Band  seiner „Organischen Staatslehre“, erschienen 1850, entwickelt er die Idee, dass nach dem Ende des Ancien Régime „die Gliederung der Gesellschaft nach der Wesenheit der Funktionen“82  – und eben nicht mehr nach einem althergebrachten Modell ständischer Schichtung  – zu erfolgen habe: „Diese, gesellschaftlich nach den Lebenszwecken organisirten, Funktionen bilden die wahren, natürlichen zweckgemäßen Stände der Gesellschaft, in welche alle Mitglieder, ein jeder nach seinem vorwaltenden Lebenszwecke und Berufe, sich einreihen“. Diese „neue Ständegliederung der Gesellschaft“ sieht Ahrens zwar „noch in der Entwickelung begriffen“, gleichwohl ist sie nach seiner Auffassung bestimmt, „die alte, auf einer einseitigen und unvollständigen Eintheilung beruhende, Ständeordnung zu ersetzen“83. Wenn es stimmt, dass die Gesellschaft sich „nach den natürlichen, durch die verschiedenen Lebenszwecke gegebenen Ständen“ gliedert, dann wird man sie, so Ahrens weiter, als einen „vielfältige[n] Organismus“84 ansehen können, dem aus diesem Grunde auch ein korporativer Staatsaufbau entsprechen muss85. In seinem zwei Jahrzehnte später erschienenen „Naturrecht“ hat Ahrens noch einmal eine Darstellung und scharfe Kritik des aus seiner Sicht vollkommen unzulänglichen „atomistischen Wahlsystems“ vorgelegt86. Diesem stellt er das von ihm empfohlene „organische Wahlsys­ 80  Ebd.,

Bd. 1, S. 417 f. Evi Herzer, Der Naturrechtsphilosoph Heinrich Ahrens (1808–1874) (Schriften zur Rechtstheorie, 159), Berlin 1993; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts (Anm. 57), Bd. 2, S. 427–429. 82  Heinrich Ahrens, Die organische Staatslehre auf philosophisch-anthropologischer Grundlage, Bd. 1, Wien 1850, S. 68. 83  Die Zitate: ebd., Bd. 1, S. 69. 84  Die Zitate: ebd., Bd. 1, S. 70 f. 85  Ahrens entwickelt zwar kein bis ins institutionelle Detail gehendes neuständisches Modell, doch er deutet an, in welche Richtung diese Bildung gehen müsste, indem er (ebd., Bd. 1, S. 77) sieben Bereiche menschlicher Tätigkeit nennt, nach denen sich, und zwar im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion, die neuen Stände zu bilden hätten: „1. Religion, 2. Sittlichkeit, 3. Wissenschaft, 4. Erziehung, 5. Kunst (schöne), 6. Industrie (agricole und gewerbliche), 7. Recht“. 86  Heinrich Ahrens, Naturrecht oder Philosophie des Rechts und des Staates, Bde. 1–2, Wien 1870–1871, hier Bd. 2, S. 377 ff. 81  Vgl.

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tem“87 gegenüber, das gleich eine doppelte Gliederung einer Volksvertretung sowohl nach dem regionalen wie auch nach dem funktionsständischen Prinzip vorsieht88. Die berufsständische Kammer sei zu bilden „nach den hauptsächlichen Berufskreisen“, die Ahrens in den „Religionsgenossenschaften“ ebenso findet wie in den Institutionen der Wissenschaft und Kunst, in der „öffentlichen Sittlichkeits- und Wohlfahrtspflege und der volkswirthschaftlichen Arbeit in der Urproduction (Bergbau, Forstund Landwirthschaft), den Gewerben und dem Handel“. Hinzu kommen schließlich „der Berufsstand der Rechtsgelehrten in der staat­ lichen Rechtspflege […] und in der Verwaltung“89. Dieses – durchaus im Hinblick auf nationale Verschiedenheiten variable – System werde nichts Geringeres sein als „ein getreuer Ausdruck des Culturstandes und der Lebensrichtung eines Volkes auch in der Hinsicht, dass je nach der Bedeutung der in einem Volke vorherrschenden Culturarbeit, ein Gebiet mehr bevorzugt“90 werde. Im ausführenden Detail jedoch bleibt Ahrens’ Modell auch in seiner zweiten Fassung noch erstaunlich vage und unpräzise. Es war kein Zufall, dass sich nicht nur liberale, sondern ebenfalls auch konservative Autoren in der sogenannten Reaktionszeit der 1850er Jahre berufsständischen Konzepten annäherten. Der Bankrott des herkömm­ lichen Modells der Traditionsstände war so offenkundig, dass neuständische Ideen – die letztlich, wie hier noch einmal zu betonen ist, auf einer konsequent funktional argumentierenden Begründung beruhten  – nun auch von der konservativen Seite adaptiert zu werden begannen. Wilhelm Heinrich Riehl ist in diesem Zusammenhang zuerst zu nennen91, der in seinem (von der ideengeschichtlichen Forschung immer noch unterschätzten) Anfang der 1850er Jahre vollendeten und publizierten Hauptwerk „Die bürgerliche Gesellschaft“ den, wie er sagte, 87  Ebd.,

Bd. 2, S. 384. Bd. 2, S. 385: „Als Wiederspiegelung [sic] der sachlichen Gliederung der staatlich-geordneten Gesellschaft muss das Wahlsystem nach zwei wesentlichen Hinsichten und die Vertretung selbst in zwei Abtheilungen (Häusern, Kammern) organisirt werden, einerseits nach den Cultur- oder Berufskreisen der Religion, Wissenschaft u. s. w. und anderseits nach den, sämmtliche Berufskreise stets auch örtlich und in abgestufter Weise zusammenfassenden Gesammtverbänden, nach den Familien, den Gemeinden, Kreisen und Provinzen.“ 89  Die Zitate: ebd., Bd. 2, S. 385 f. 90  Ebd., Bd. 2, S. 391. 91  Vgl. Jasper von Altenbockum, Wilhelm Heinrich Riehl 1823–1897. Sozialwissenschaft zwischen Kulturgeschichte und Ethnographie, Köln/Weimar/Wien 1994 (Münstersche Historische Forschungen, 69); Heinz-Siegfried Strelow, Wilhelm Heinrich von Riehl (1823–1897), in: Bernd Heidenreich (Hrsg.), Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, Berlin 2 2002, 193–206. 88  Ebd.,



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„Sondergeist und Einigungstrieb im deutschen Volksleben“92 zu ana­ lysieren unternahm und in diesem Werk wiederum vier Hauptstände unterschied: die beiden traditionellen „Mächte des Beharrens“93, also ­ Bauern und Aristokratie, und die beiden modernen „Mächte der Bewe­ gung“94: d. h. das Bürgertum und den „vierten Stand“, also das Proleta­ riat. Die zentrale Funktion auch dieser vier „Stände“ ist damit im wesentlichen genannt: die gesellschaftliche Entwicklung durch Kraft und Gegenkraft, durch beharrendes und bewegendes Wirken im Gleichgewicht zu halten, d. h. also letztendlich zu verhindern, dass sich der allgemeine (und wohl unaufhaltsame) Wandel zu rasch, oder eben andererseits zu langsam vollzieht oder gar ins Stocken gerät. Entscheidend für Riehls sozialharmonische Argumentation und Zielsetzung bleibt die Unterordnung aller sozial gegebenen und auch notwendigen Trennungen unter e­ine überwölbende, nicht nur staatlich-politische, sondern ebenfalls gesellschaftliche Einheit des gesamten Volkes: „Das Reale ist die gesellschaftliche Sonderung, das Ideale die Einigung“95. Eine eher vermittelnde Position zwischen ständischer und parlamentarisch-repräsentativer Auffassung vertrat Friedrich Julius Stahl96, der in den 1850er Jahren die letzte Fassung seiner „Philosophie des Rechts“ vorlegte97. Auch Stahl hat von den traditionsständischen Ideen, die manche seiner konservativen politischen Gesinnungsgenossen in dieser Zeit noch vertraten, unwiderruflich Abschied genommen. Er definiert „Stand“ im Zusammenhang mit Lebensstellung und Beruf, also ebenfalls rein funktional: „Stand ist […] der besondere Lebensberuf für das Gemeinleben, der auch die Lebensstellung derer, die ihm obliegen, be­ stimmt“98. Insofern kann er anschließend zwischen öffentlichen Ständen und Privatständen unterscheiden: Zählen zu den ersten die Beamtenschaft, die Geistlichkeit und das Militär, so umfassen die zweiten nicht nur Grundbesitz, Ackerbau, Gewerbe und Handel, sondern ebenfalls „die Stände, die durch bloß geistige, d. i. stofflose Thätigkeit den Bedürfnissen Heinrich Riehl, Die bürgerliche Gesellschaft, Stuttgart 61866, S. 17. S. 41–196. 94  Ebd., S. 197–394. 95  Ebd., S. 29. 96  Vgl. Dieter Grosser, Grundlagen und Struktur der Staatslehre Friedrich Julius Stahls, Köln/Opladen 1963; Wilhelm Füßl, Professor in der Politik: Friedrich Julius Stahl (1802–1861). Das monarchische Prinzip und seine Umsetzung in die parlamentarische Praxis, Göttingen 1988 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 33). 97  Friedrich Julius Stahl, Die Philosophie des Rechts, Bde. I–II/2, Heidelberg 3 1854–1856. 98  Ebd., Bd. II/2, S. 42. 92  Wilhelm 93  Ebd.,

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

ihrer Mitbürger dienen: Aerzte, Advokaten, Lehrer, Künstler“99. Die Rechte des Adels, den er als „einen Stand politischen Vorzugs aus eigenem und erblichem Rechte“100 definiert, will er freilich nicht angetastet wissen. Doch auch den Adelsstand und dessen Rechte begründet Stahl um die Mitte der 1850er Jahre schon nicht mehr ausschließlich traditional oder religiös, sondern ebenfalls funktional, denn die „Bedeutung“ des Adels besteht für ihn nunmehr in einer bestimmten sozial-kulturellen Funktion, nämlich darin, „bestimmte ethische Triebfedern, eine bestimmte Lebenssitte, so wie eine bestimmte historische Nationalerinnerung zu bewahren“101. Die Ersetzung der parlamentarisch-repräsentativen Volksvertretung durch eine (wie auch immer im einzelnen zusammengesetzte) ständische Versammlung hat Stahl indes abgelehnt102. Er verteidigt ausdrücklich das nach 1849/50 in Preußen entstandene politische System einer aristokratisch-ständisch (d. h. nach Grundaristokratie, Stadt- und Landgemeinden) zusammengesetzten Ersten Kammer und einer nach dem Dreiklassenwahlrecht gewählten Zweiten Kammer, in dem er eine den realen, nachrevolutionären Gegebenheiten entsprechende richtige Mischung aus repräsentativ-parlamentarischen und ständischen Elementen erblicken zu können meint. Es sei, so schließt er mit Blick auf die politischen Debatten der Reaktionsära der 1850er Jahre, „wenigstens für größere Reiche nicht richtig, das Heilmittel und die Korrektur des revolutionären Repräsentativsystems in der Wiederbringung der strengen ständischen Drei-Gliederung, statt in dem Uebergewicht des aristokratischen und mit ihm des konservativen Elements zu suchen, und gegen die Macht der Dinge die Landesvertretung von politischen und religiösen Principien hinweg auf bloße ständische Interessen zu verweisen, statt sie von der Parteinahme für die falschen zur Parteinahme für die wahren politischen und religiösen Principien zu führen“103.  – Auch hier ließen sich weitere Autoren mit konservativ-neuständischen bzw. berufsständischen Ideen 99  Ebd.,

Bd. II/2, S. 51; vgl. auch S. 49 ff. Bd. II/2, S. 103; vgl. auch das Adelskapitel insgesamt, ebd., S. 103–118. 101  Ebd., Bd. II/2, S. 115. 102  Vgl. vor allem ebd., Bd. II/2, S. 365  ff., wo er die deutsche Debatte nachzeichnet, die seit 1815 um die richtige Interpretation einer „landständischen Repräsentation“ geführt worden ist. 103  Ebd., Bd. II/2, S. 447. – Aufschlussreich ist, dass sich Stahl mit seinem Plädoyer für eine „nationaleinheitliche Vertretung, aber auf ständischer Grundlage“ (ebd., S. 441) ausgerechnet auf das britische Beispiel beruft; vgl. ebd., S. 445–447: „Das Problem selbst aber ist nicht zweifelhaft: eine überwiegend aristokratische Kammer auf demokratischer (d. i. allgemein staatsbürgerlicher) Basis. Das [sic] dieses der wahre Typus der neuen Landesvertretung sey, bestätigt das Beispiel Englands. Nur hierdurch hat das Haus der Gemeinen sich so lange bewährt. Es 100  Ebd.,



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hinzufügen, etwa der Bonner Jurist Ferdinand Walter mit seinem 1863 publizierten Werk „Naturrecht und Politik“104. VI. Die politische Entwicklung im Deutschland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging bekanntlich andere Wege. In Preußen, dem zweitgrößten deutschen Staat, hielt man an einer zeitgemäßen Form des Parlamentarismus fest; hier setzte sich ein Zweikammersystem mit Herrenhaus als Adelskammer (seit 1854) und Abgeordnetenhaus durch, das auch in den meisten anderen deutschen Ländern, etwa in Bayern (hier stand die Kammer der Abgeordneten der Kammer der Reichsräte gegenüber), dominierte. Im Parlament des Norddeutschen Bundes und schließlich, ab 1871, im deutschen Reichstag hatte sich das repräsentativ-parlamentarische Prinzip gegenüber dem ständischen Prinzip – auch in dessen neuständischer Variante – endgültig durchgesetzt. Freilich war damit die Debatte über Neustände bzw. Berufsstände als mögliche Alternative zur repräsentativen parlamentarischen Vertretung im Bismarckreich noch keineswegs beendet. Immer dann, wenn der Parlamentarismus ins Zwielicht geriet, wenn es – etwa in der stets prekären Septennatsfrage  – zu mehr oder weniger schweren Konflikten zwischen Regierung bzw. oberster Reichsleitung und Reichstag kam, hat Bismarck gewisse Überlegungen über die Möglichkeiten einer Verfassungsänderung angestellt, die indes niemals wirklich zur Reife gediehen sind. Nach seinem Rücktritt sollte er in seinen „Gedanken und Erinnerungen“ feststellen: „Mir hat immer als Ideal eine monarchische Gewalt vorgeschwebt, welche durch eine unabhängige, nach meiner Meinung ständische oder berufsgenossenschaftliche Landesvertretung soweit kontrolliert wäre, daß Monarch oder Parlament den bestehenden gesetzlichen Rechtszustand nicht einseitig, sondern nur communi sensu ändern können, bei Öffentlichkeit und öffentlicher Kritik aller staatlichen Vorgänge durch Presse und Landtag“105. besteht nicht selbst in ständischer Gliederung, aber es ruht auf ständischer Unterlage: Stadt und Land, Freibesitzer und ritterliche Besitzer“. 104  Vgl. Ferdinand Walter, Naturrecht und Politik im Lichte der Gegenwart, Bonn 1863, bes. S. 306 ff. u. passim; vgl. die Hinweise bei Herrfahrdt, Das Problem der berufsständischen Vertretung (Anm. 8), S. 49 f.; siehe auch: Felix Bernard, Der Bonner Rechtsgelehrte Ferdinand Walter (1794–1879) als Kanonist, Würzburg 1986 (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft, 1). 105  Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke (Friedrichsruher Ausgabe), Bd. 15: Erinnerung und Gedanke. Kritische Neuausgabe, hrsg. v. Gerhard Ritter/ Rudolf Stadelmann, Berlin 1932, S. 15.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

Tatsächlich hat Bismarck noch in den späten Jahren seiner Reichskanzlerzeit mehrere Modelle und Möglichkeiten einer Änderung des bestehenden Systems erwogen, die allesamt im Kern auf eine Einschränkung der Befugnisse des Reichstages hinausliefen. Den Gedanken einer rein berufsständischen Vertretung hat er – im Zusammenhang seiner bis heute viel umstrittenen angeblichen „Staatsstreichpläne“106  – zwar erwogen, jedoch wegen seiner verfassungsmäßigen Unausführbarkeit bald wieder verworfen; eine weniger tiefgreifende Änderung hätte die von ihm ebenfalls zeitweilig in den Blick genommene Errichtung eines „Volkswirtschaftsrates“ als einer Art von zweiter, berufsständisch-korporativ zusammengesetzter Kammer bedeutet107. Freilich bleibt es zweifelhaft, wie es mit der verfassungspolitischen Legitimität einer solchen „DoppelRepräsentation“, eines Nebeneinanders zweier Repräsentativorgane, also eines „von Parteien getragenen volksgewählten Parlaments und einer von Verbänden getragenen Interessenvertretung“108, bestellt gewesen wäre. Alle diese Gedankenspiele der späten 1880er Jahre, die unmittelbar vor und während der Rücktrittskrise des März 1890 noch einmal erwogenen wurden, blieben jedoch in der Schwebe und waren nach Bismarcks Rücktritt ohnehin obsolet geworden. Auch im Bereich des politischen Denkens riss vor und nach 1900 der Strom derjenigen nicht ab, die berufsständische Modelle favorisierten und zu empfehlen versuchten. Als der wohl prominenteste Autor aus diesem Kreis ist der auch als Politiker hervorgetretene Nationalökonom Albert Schäffle zu nennen109, der das Modell einer Mischung aus allgemeinem und berufskörperschaftlichem Wahlrecht empfahl, also ein Modell, 106  Vgl. dazu neben Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (Anm. 73), Bd. 4, S. 202–228, auch Otto Pflanze, Bismarck, Bd. 2: Der Reichskanzler, München 1998, S.  335 ff. 107  Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (Anm. 73), Bd. 4, S. 1026 ff., bes. S. 1031–1037; Bowen, German Theories of the Corporative State (Anm. 8), S. 148– 156. 108  Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (Anm. 73), Bd. 4, S. 1036. 109  Über Schäffle existiert wenig Forschungsliteratur; den wichtigsten Überblick über Leben und Werk vermittelt deshalb immer noch seine Selbstbiographie: Albert Eberhard Friedrich Schäffle, Aus meinem Leben, Bde. 1–2, Berlin 1905; eine gut zusammenfassende Skizze liefert: W. Lang, Albert Eberhard Friedrich Schäffle, in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog, hrsg. v. Anton Bettelheim, Bd. 8, Berlin 1905, S. 106–117; vgl. neuestens auch den nützlichen Abriss in: Helmut Marcon/HeinrichStrecker (Hrsg.), 200 Jahre Wirtschafts- und Staatswissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Leben und Werk der Professoren, Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 245–261. Zu Schäffles berufsständischen Ideen siehe auch Bowen, German Theories of the Corporative State (Anm. 8), S. 124–136, sowie die knappen Hinweise bei Herrfahrdt, Das Problem der berufsständischen Vertretung (Anm. 8), S. 86 f.



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das gewissermaßen beanspruchte, die Vorzüge beider Vertretungsformen, der repräsentativen ebenso wie der berufsständischen, miteinander zu kombinieren110. Schäffle zählte sich keineswegs unter die Verächter des allgemeinen Stimmrechts; er sah, im Gegenteil, „die vollständige Elementarvertretung der Bevölkerung als einen großen, nicht mehr umzustoßenden Fortschritt“111 an. Doch in seinem Bestreben, sich „von den Uebertreibungen des besitzaristokratisch liberalen, als von den Uebertreibungen des gleichheitlich demokratischen Individualismus“ fern zu halten, vermißte er dasjenige, was er ausdrücklich als „die Vollständigkeit der Volksvertretung“112 bezeichnete, also die Repräsentation sämtlicher Gruppen, Körperschaften und sozialen Schichten des Volkes im Parlament113. Schäffle hatte dabei sowohl regionale wie soziale und berufsgenossenschaftliche Korporationen im Blick: er nennt neben den „Kommunalkörperschaften“ auch „Berufs- und Fachkörperschaften“, sodann ebenfalls „öffentliche Kirchenkorporationen“ beider christlicher Konfessionen, „akademische […] Senate von Wissenschaft, Technik und Kunst“, Vertreter des „Volks- und Mittelschulwesens“, und schließlich die „Landwirthschafts- und Gewerbekammern“ als Grundlagen einer ergänzenden korporativen Repräsentation114. Der mögliche Vorwurf, den man gegen ihn erheben könnte, seine Vorschläge mündeten doch letztlich in „eine ständische, eine neu-, wenn auch nicht mehr in eine altständische Vertretungsweise“, vermochte ihn indes nicht zu schrecken. Denn der Begriff des „Standes“ sei, wie er mit Nachdruck betont, sowohl im politischen wie im sozialen Sinn durchaus noch auf die Gegenwart anzuwenden115, 110  Albert Schäffle, Deutsche Kern- und Zeitfragen, Berlin 1894, S. 120–168 (Kern- und Zeitfragen der Volksvertretung insbesondere); derselbe, Deutsche Kern- und Zeitfragen. Neue Folge, Berlin 1895, S. 54–63 (Zwanzig Thesen über Volksvertretung). 111  Schäffle, Deutsche Kern- und Zeitfragen (Anm. 110), S. 135. 112  Die Zitate: ebd., S. 136. 113  Vgl. ebd., S. 136  f.: „Wenn die Volksgemeinschaft staatsrechtlich zugleich elementare Gruppenschichtung der Gesammtbevölkerung an Wählern, Steuerzahlern, Wehrpflichtigen und eine Gliederung von Kommunal- und Berufskörperschaften des öffentlichen Rechtes ist, so verlangt der Grundsatz der Vollständigkeit zum Elementarwahlrecht, und zwar dem allgemeinen, auch die unmittelbare oder wahlmäßige Vertretung der gedachten Körperschaften.“ 114  Vgl. ebd., S. 136 ff. 115  Vgl. ebd., S. 139: „Das Wort ständisch hat bekanntlich verschiedenen Sinn, einen politischen und einen socialen. Politisch heißen die Stände, seit der Zeit der altständischen Volksvertretung, alle abgesondert zur Vertretung gelangenden Theile des Volkskörpers, ehedem hoher Adel, niederer Adel, Städte, endlich die Bauernschaft (Landvolk) des Territoriums. Im socialen und wirthschaftlichen Sinne des Wortes aber erscheinen als Stände die Geistlichkeit, die Lehrer, die Künstler

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

selbst wenn man damit hier und da noch rückwärtsgewandte Assoziationen verbinde: „Mag man das neuständisch heißen oder nicht“, so Schäffle,  – gemeint ist jedenfalls ein politisches Vertretungssystem, das eine „vollständige […] Volksrepräsentation“ ermöglicht, die darin besteht, „daß theils die Masse wahltüchtiger Individuen durch das allgemeine Stimmrecht, theils die sämmtlichen öffentlichen Körperschaften, in welchen die Gesittungshauptkreise bereits dem öffentlichen Rechte angehören, zur Wahl von Abgeordneten berufen werden“116. Freilich hat sich Schäffle mit diesem Modell einer parlamentarisch-korporativen Doppelrepräsentation – das er etwas später auch für Österreich-Ungarn, wo er politisch tätig gewesen war, zu spezifizieren versuchte117  – nicht durchsetzen können. Noch einmal akut wurde die berufsständische Idee, nach einem Zwischenspiel während des Ersten Weltkrieges118, in der  – nicht nur deutschen, sondern internationalen  – Krise des Parlamentarismus während der Zwischenkriegszeit, als die „berufsständische Ideologie“119, wie Ernst Rudolf Huber sie nennt, nicht nur in den deutschsprachigen Ländern eine erneute, wenn auch nur recht kurze Blütezeit erlebte120. Der im deutschen Sprachraum wohl einflussreichste Verfechter eines solchen konsequent neuständischen Ansatzes war – übrigens unter ausdrücklicher Berufung auf die Gedankenwelt Adam Müllers – der österreichische Nationalökonom und Philosoph Othmar Spann, der seine I­ deen121 vor allem in und Gelehrten, die Rechtsanwälte, die Aerzte, die großen und kleinen Landwirthe, die Kaufleute, die Industriellen, die Handwerker u. s. w. Im ersteren politischen Sinn nun wären auch die Abgeordneten der öffentlichen Körperschaften ein Landstand, wie die Abgeordneten des allgemeinen Stimmrechts einen solchen darstellen, eines der Glieder der zweiten Ständekammer, nur nicht als eine fremdartige oder veraltete Zuthat zum Landtag, sondern als politisch vollwichtiges Glied der Vertretung unserer modernen Gesellschaft.“ 116  Die Zitate ebd., S. 139, 142; es heißt weiter (ebd., S. 142): „Auf der einen Seite stellt die ganze Summe der zum Wählen tüchtigen Individuen, jedes dieser Individuen in seiner besonderen socialen Schattirung das Volk dar. Auf der anderen Seite ergeben erst alle großen Körperschaften des öffentlichen Rechts zusammen für die Volksvertretung die unschätzbare Bürgschaft, daß jeder bedeutende Kreis territorialer und beruflicher Gliederung der Volksgesittung stets und jeder den anderen gegenüber wirklich vollständig vertreten ist.“ 117  Vgl. Schäffle, Deutsche Kern- und Zeitfragen. Neue Folge (Anm. 110), S. 54 ff. 118  Vgl. Bowen, German Theories of the Corporative State (Anm. 8), S. 160 ff. 119  Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (Anm. 73), Bd. 4, S. 1032. 120  Vgl. dazu die Hinweise bei Mayer-Tasch, Korporativismus und Autoritarismus (Anm. 8), S. 27 ff., 82 ff. u. passim; Panajotis Kondylis, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S. 494 ff. 121  Siehe dazu neben Martin Schneller, Zwischen Romantik und Faschismus. Der Beitrag Othmar Spanns zum Konservatismus in der Weimarer Republik,



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dem zuerst 1921 veröffentlichten Werk „Der wahre Staat“ entwickelte. Das von ihm entworfene umfassende Modell eines modernen, korporativ aufgebauten, aus Funktionsständen bestehenden Staatswesens122 hat in den 1920er und 1930er Jahren einiges Aufsehen erregt und eine nicht geringe Zahl von Anhängern gefunden. Die im Spann-Kreis zeitweilig gehegte Erwartung, der Nationalsozialismus werde auf das von Spann entwickelte Staats- und Gesellschaftsmodell zurückgreifen, erwies sich jedoch als gravierende Selbsttäuschung. Das Gegenteil war der Fall; die „Ständeideologien der Systemzeit“, wie sie im NS-Jargon bezeichnet wurden, erfuhren schärfste Ablehnung123. VII. Überblickt man den Weg der Entwicklung der Ständeidee vom Traditions- und Geburtsstand des ausgehenden Ancien Régime bis zu den rein berufsständischen Denkmodellen, die sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausbildeten, dann lässt sich feststellen, dass die Luhmannsche These einer Entwicklung von der stratfikatorischen hin zu einer funktionalen Gesellschaftsdifferenzierung sich im Wandel des Verständnisses der politischen Begriffe „Stand“ und „Ständetum“ auch auf der semantischen Ebene nachvollziehen lässt. Tatsächlich reicht bereits im frühen 19. Jahrhundert die rein traditionale Begründung einer ständischen Ordnung, also die Berufung auf Herkommen und die vermeintlich gegebene, „natürliche Ordnung der Dinge“, im Allgemeinen nicht mehr aus. Erforderlich wird jetzt etwas Neues, und dieses Neue macht sich auch in der Form der Begründung bemerkbar: Eine politische Ordnung wird nun  – zwar nicht ausschließlich, aber doch primär  – von ihren Funktionen her definiert, und das bedeutet wiederum: Wenn man, aus welchen Gründen auch immer, am ständischen Modell festhalten möchte, dann ist man nun mehr oder weniger gezwungen, sich auf die Anforderungen einer funktional argumentierenden Begründung der eigenen Auffassung Stuttgart 1970 (Kieler historische Studien, 12); Mohammed Rassem, Othmar Spann, in: Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Karl Graf Balles­ trem/Henning Ottmann, München 1990, S. 89–103. 122  Vgl. Othmar Spann, Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft gehalten im Sommersemester 1920 an der Universität Wien, Leipzig 1921, passim. 123  So in der Dissertation eines Juristen und SS-Offiziers aus dem Berliner Schülerkreis von Reinhard Höhn: Justus Beyer, Die Ständeideologien der Systemzeit und ihre Überwindung (Forschungen zum Staats- und Verwaltungsrecht, A, 8), Darmstadt 1941.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

einzustellen. Das gilt gerade auch für jene konservativen Autoren, die sich darum bemühen, im „neuständischen“ Modell wenigstens den ideellen Kern des „altständischen“ Urbilds zu retten und damit auch Stellung zu beziehen gegen die Gefahren einer vermeintlichen allgemeinen „Atomisierung“ und „Individualisierung“ des sozialen und politischen Lebens. Die Tragfähigkeit des Luhmannschen Modells der Gesellschaftsentwicklung kann im Rahmen dieser Ausführungen selbstverständlich nicht auf sozialhistorisch-empirischer Basis überprüft und diskutiert werden; dies muss anderen vorbehalten bleiben. Aber es spricht doch zweifellos einiges für die Anwendbarkeit dieses Ansatzes, wenn sich auf der Ebene der Semantik zentraler politischer Begriffe dieser Zeit nachweisen lässt, dass die von Luhmann vorgezeichneten Umrisslinien der sozialen Bewegung sich sozusagen semantisch „abgebildet“ haben. Genau dies kann die – hier allerdings nur überaus knapp und rudimentär – nachgezeichnete begriffshistorische Wandlung der Ausdrücke ‚Stand und Ständetum‘ im politischen Denken des 19. Jahrhunderts belegen. Und umgekehrt wiederum hat Luhmanns Konzept einen durchaus ergiebigen Deutungsrahmen geliefert, der es in der Tat ermöglicht, eben diese begriffsgeschichtliche Entwicklung nachzuzeichnen und zu interpretieren.

Parlamente und Parteien in liberalen und konservativen deutschen Staatslexika des 19. Jahrhunderts Es gehört zu den Besonderheiten der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts, dass politische Auseinandersetzungen zwischen den Angehörigen und Anhängern verschiedener politischer Richtungen und Gruppierungen sich nicht nur auf dem bis heute allgemein üblichen Weg der freien  – oder doch wenigstens halbwegs freien  – öffentlichen Meinungsäußerung vollzogen haben, also durch die politische Presse oder auch durch die Publikation von Flugschriften und Broschüren oder durch die parlamentarische Debatte, sondern ebenfalls auf dem Umweg über wissenschaftliche Publikationstätigkeit. Ein typisches  – vor allem wohl ein typisch deutsches – Beispiel hierfür stellen die umfangreichen, in der Regel vielbändigen politischen Staats- und Konversationslexika dar, die in Deutschland vor allem in der Zeit zwischen der Errichtung des Deutschen Bundes 1815 und der kleindeutschen Reichsgründung 1871 erschienen sind1. Hierfür gab es natürlich bestimmte Ursachen, die hauptsächlich in der restriktiven politischen Ordnung Deutschlands in den Jahren der Restauration und des Vormärz zwischen 1815 und 1848 zu suchen sind. In diesen Jahren wurde die freie politische Meinungsäußerung innerhalb der Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes, in mündlicher ebenso wie in schriftlicher Form, durch staatlich verfügte Einschränkungen aller Art stark behindert2. In diesem Zusammenhang sei besonders erinnert an das zu den Karlsbader Beschlüssen von 1819 gehörende sog. „BundesPreßgesetz“, in dem für „alle Schriften, die nicht über 20 Bögen im Druck

1  Zum Thema und zum geistesgeschichtlichen Zusammenhang vgl. auch Utz  Haltern: Politische Bildung und bürgerlicher Liberalismus. Zur Rolle des Konversationslexikons in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 223 (1976), S. 61–97. 2  Vgl. hierzu Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I–VIII, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1975–1990, hier Bd. I, S. 732 ff., Bd. III, S.  151 ff.; ebenfalls Karl-Georg Faber, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Restauration und Revolution. Von 1815 bis 1851 (Handbuch der Deutschen Geschichte, 3/I, 2. Teil), Wiesbaden 1979, S. 82 ff., 136 ff.; Wolfram Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806–1871 (Neue Deutsche Geschichte, 7), München 1995, S. 331 ff., 349 ff. u. a.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

stark sind“, die Zensur verfügt wurde3, was konkret bedeutete, dass ­alle Bücher mit weniger als 320 Druckseiten staatlicher Vorzensur unterlagen. Und erinnert sei natürlich ebenfalls an das Verbot aller politischen Vereine, ebenfalls durch Bundesbeschluss, in den sogenannten „Zehn Artikeln“ vom Juli 18324. So gehörte die mehrjährige, zumeist recht mühevolle Erarbeitung und Publikation großer, umfangreicher Staatslexika zu den wenigen noch verbliebenen Möglichkeiten, um innerhalb Deutschlands bestimmte politische Ideen auf legalem Wege öffentlich zu propagieren (oder überhaupt erst einmal zu formulieren), denn die damals tonangebenden politischen Kräfte gingen davon aus, dass nicht allzu viele Bürger imstande sein würden, derart umfangreiche, dazu noch eng spezialisierte Sammelwerke selbst zu erwerben  – und dann innerhalb der hier vorhandenen „Bleiwüsten“ vieler tausender von Druckseiten dort auch noch genau diejenigen Textstellen zu finden, die oppositionelles Gedankengut enthielten. Das erste große Staatslexikon enthielt einiges von diesem Gedankengut; es erschien zuerst in den Jahren 1834–1843 in 15 Bänden unter dem genauen Titel „Das Staatslexikon. Encyclopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände“; herausgegeben wurde es von zwei damals prominenten Juristen und Staatswissenschaftlern aus Südwestdeutschland, Karl von Rotteck (1775–1840) und Karl Theodor Welcker (1790–1869). Der zu seinen Lebzeiten sehr prominente, ja populäre Rotteck arbeitete zugleich als Historiker; seine mehrbändige „Allgemeine Geschichte vom Anfang der historischen Kenntnis bis auf unsere Zeiten“ (erschienen 1812–1826) gehörte zu den Hausbüchern des südwestdeutschen Bürgertums, und in seinem staatwissenschaftlichen Lehrbuch formulierte er die wesentlichsten Grundzüge des frühkonstitutionellen deutschen Liberalismus; im Mittelpunkt standen dabei die Grund- und Freiheitsrechte, Gewaltenteilung und moderne parlamentarische Repräsentation5. Rotteck war, wie treffend gesagt worden ist, ein „politischer Professor“ nicht in dem Sinne, dass er gewissermaßen im Nebenberuf Politik trieb, sondern er war jemand, „der als Professor politisch war“6. 3  Text in: Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, 3. Aufl. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978, S. 102–104 (Nr. 33), hier S. 102 (§ 1). 4  Text in: ebenda, S. 134 f. (Nr. 45), hier S. 134 (Art. 2). 5  Vgl. Horst Ehmke, Karl von Rotteck, der „politische Professor“ (Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen, 3), Karlsruhe 1964; Hermann Kopf, Karl von Rotteck  – Zwischen Revolution und Restauration, Freiburg i. Br. 1980. 6  Ehmke, Karl von Rotteck (Anm. 5), S. 11.



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Ähnlich stand es mit dem etwas jüngeren Welcker, der wegen seiner politischen Überzeugung ebenso wie Rotteck vor 1848 starke Beeinträchtigungen seiner Berufslaufbahn und seiner akademischen Tätigkeit hinzunehmen hatte7. Er setzte sich vor allem für eine grundlegende verfassungspolitische Reform des Deutschen Bundes ein; ebenso bekämpfte er besonders nachhaltig die Pressezensur. Als Herausgeber des ersten großen „Staatslexikons“ in deutscher Sprache vertraten Rotteck und Welcker sowie ihre zahlreichen Mitarbeiter aus ganz Deutschland einen entschieden liberalen, sich partiell am zeitgenössischen französischen Beispiel orientierenden Standpunkt, und die Bedeutung ihres Werkes liegt gerade darin, dass ihnen hiermit zum ersten Mal eine umfassende, viel beachtete, alle wesentlichen Aspekte aufgreifende und thematisierende Gesamtschau der bürgerlich-liberalen deutschen Ideenwelt in der Zeit des Vormärz gelungen war. Das im damals noch dänisch regierten Altona erschienene Lexikon war mit der Zeit derart erfolgreich, dass es noch in zwei weiteren, jeweils gründlich überarbeiteten und aktualisierten Auflagen veröffentlicht werden konnte8; zwischen 1845 und 1848 erschien die zweite (nach Rottecks Tod im Jahr 1840 nunmehr von Welcker allein herausgegebene und als Schriftleiter verantwortete) Auflage, und eine dritte wurde in den Jahren 1856 bis 1866 herausgebracht9. Ein konservatives Gegenstück zum liberalen Rotteck-Welckerschen Staatslexikon erschien erst nach der Revolution von 1848, zeitlich gesehen parallel zur dritten Auflage jenes liberalen Standardwerks. Es handelte sich um das „Staats- und Gesellschafts-Lexikon“, das auch den Nebentitel „Neues Conversations-Lexikon“ trug und herausgegeben wurde von Hermann Wagener. Der Herausgeber war zwar ebenfalls Jurist, aber kein Gelehrter im engeren Sinne, sondern Journalist und Politiker10; er 7  Vgl. Heinz Müller-Dietz, Das Leben des Rechtslehrers und Politikers Karl Theodor Welcker (Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, 34), Freiburg i. Br. 1968; Rainer Schöttle, Politische Freiheit für die deutsche Nation. Carl Theodor Welckers politische Theorie, Baden-Baden 1985. 8  Die Literatur zum Rotteck-Welckerschen Staatslexikon beschränkt sich in ihren Untersuchungen zumeist lediglich auf die erste Auflage; vgl. etwa Hans Zehntner, Das Staatslexikon von Rotteck und Welcker. Eine Studie zur Geschichte des deutschen Frühliberalismus (List-Studien, 3), Jena 1929; Claudia M. Igelmund, Frankreich und das Staatslexikon von Rotteck und Welcker. Eine Studie zum Frankreichbild des süddeutschen Frühliberalismus (Europäische Hochschulschriften, R. XIII, 119), Frankfurt a. M. 1987; Thomas Zunhammer, Zwischen Adel und Pöbel. Bürgertum und Mittelstandsideal im Staatslexikon von Karl v. Rotteck und Karl Theodor Welcker. Ein Beitrag zur Theorie des Liberalismus im Vormärz, Baden-Baden 1995. 9  Vgl. Müller-Dietz, Das Leben (Anm. 7), S. 40. 10  Siehe als Überblick Hans-Christof Kraus, Hermann Wagener (1815–1889), in: Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialis-

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hatte im Revolutionsjahr 1848 das Zentralorgan der preußischen Konservativen, die „Neue Preußische Zeitung“ (wegen des Eisernen Kreuzes im Titel auch „Kreuzzeitung“ genannt) mitbegründet und einige Jahre geleitet11; in späteren Jahren trat er als Parlamentarier, Theoretiker eines neuen sozialen Konservatismus, sodann auch als zeitweilig enger Mitarbeiter Bismarcks während der Zeit des Norddeutschen Bundes und in den ersten Jahren des neu gegründeten Reiches hervor12. Wagener unternahm zwischen 1859 und 1867 die Herausgabe des e­rsten umfassenden konservativen Staatslexikons in nicht weniger als 23 Bänden, das sich selbst durchaus als politisch-publizistisches Gegenstück zur inzwischen 3. Auflage des Rotteck-Welckerschen Lexikons verstand13. Beide in diesen Jahren erarbeiteten und publizierten Lexika spiegeln die politische Entwicklung Deutschlands in der aufregenden, mannigfache Umwälzungen und Veränderungen vorbereitenden Reichsgründungszeit anschaulich wider, in denen es nicht mehr nur um die bloße Ideenkonkurrenz, sondern um den Konflikt zwischen konkreten politischen Zielen ging: Der liberal-konservative Gegensatz verschränkte sich in diesen Jahren zunehmend mit anderen Frontstellungen, etwa der Frage nach einer kleindeutschen oder großdeutschen Lösung der deutschen Frage. Und nicht zuletzt erfolgten in diesen Jahren die ersten Gründungen einflussreicher politischer Parteien und Vereine (die in jener Zeit noch nicht strikt voneinander unterschieden wurden): 1859 des Deutschen Nationalvereins, 1861 der Deutschen Fortschrittspartei, 1862 des konservamus, hrsg. von Bernd Heidenreich, 2. Aufl., Berlin 2002, S. 537–586; Klaus Hornung, Preußischer Konservatismus und Soziale Frage – Hermann Wagener (1815–1889), in: derselbe, Vernunft im Zeitalter der Extreme. Die konservative Position, hrsg. von Harald Seubert, Nürnberg 2012, S. 54–80; grundlegend nunmehr: Christopher Peter, Hermann Wagener (1815 – 1889), Eine politische Biographie (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 181), Berlin 2020. 11  Siehe dazu Dagmar Bussiek, „Mit Gott für König und Vaterland!“ Die Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung) 1848–1892 (Schriftenreihe der Stipen­diatinnen und Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung, 15) Münster/Hamburg/London 2002, S. 56 ff. u. passim. 12  Vgl. Wolfgang Saile, Hermann Wagener und sein Verhältnis zu Bismarck  – Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Sozialismus (Tübinger Studien zur Geschichte und Politik, 9), Tübingen 1958. 13  Hierzu neuerdings vor allem Oliver Cnyrim, Aspekte eines konservativen Weltbilds. Hermann Wageners Staats- und Gesellschaftslexikon (1858/59–1867) (Mannheimer Historische Forschungen, 23). Ludwigshafen 2005, und Henning Albrecht, „Das ‚Staats- und Gesellschaftslexikon‘ von Hermann Wagener im Spiegel der Redaktionskorrespondenz“, in: Henning Albrecht/Gabriele Boukrif/Claudia Bruns/Kirsten Heinsohn (Hrsg.), Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Festgabe für Barbara Vogel, Hamburg 2006, S. 273–294.



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tiven Preußischen Volksvereins und des großdeutsch orientierten Deutschen Reformvereins. Im Entstehen begriffen waren zudem einerseits die sich parteipolitisch organisierende Arbeiterbewegung sowie andererseits der politische Katholizismus. Und eine weitere, die gesamte deutsche Öffentlichkeit damals beschäftigende Debatte betraf den preußischen Verfassungskonflikt zwischen Regierung und Parlament in den Jahren 1862 bis 1866, in dessen Rahmen (das kann an dieser Stelle nur knapp angedeutet werden) der konservative wie der liberale Standpunkt mit großer Heftigkeit aufeinanderprallten. Insofern erscheint es als angemessen, im Rahmen eines knappen Vergleichs der Standpunkte liberaler und konservativer Staatslexika sich auf die 1860er Jahre zu beschränken und die Ausführungen der beiden genannten Werke, der 3. Auflage des „Rotteck-Welcker“ sowie des Wagenerschen Lexikons14, zum Thema Parteien und Parlamentarismus vor dem Hintergrund der allgemeinen deutschen Entwicklungen seit 1858/59 gemeinsam in den Blick zu nehmen15. Denn es zeigt sich bei näherem Hinsehen sehr deutlich, in welch starkem Maße die Autoren der jeweiligen Lexikonartikel, die alle Mitte der 1860er Jahre verfasst und veröffentlicht worden sind, von den jeweiligen Zeitereignissen sowie von den aktuellen politischen und auch wissenschaftlichen Diskussionen dieser Zeit beeinflusst worden sind, diese Zeitereignisse kommentieren und in dieser Weise auch darauf reagieren – handele es sich nun um den Verfassungskonflikt in Preußen, um die Kontroversen zur deutschen Frage16 oder um die zeitgenössischen Veränderungen innerhalb der liberalen und der konservativen Bewegungen und Parteien17.

14  Nicht berücksichtigt werden kann an dieser Stelle ein weiteres liberales Staatslexikon, das von Johann Caspar Bluntschli und Karl Brater zwischen 1857 und 1870 herausgegebene elfbändige „Deutsche Staats-Wörterbuch“. 15  Erwähnt sei, dass es bereits eine ältere, allerdings sehr knappe und von mancherlei inhaltlichen Defiziten gekennzeichnete Vergleichsstudie gibt: Hans Puchta, Die Entstehung politischer Ideologien im 19. Jahrhundert, darge­stellt am Beispiel des Staatslexikons von Rotteck-Welcker und des Staats- und Gesellschaftslexikons von Herrmann Wagener, phil. Diss. Erlangen 1972; die hier thematisierten Bereiche des Parlamentarismus und der politischen Parteien werden in Puchtas Studie nicht behandelt. 16  Allgemein hierzu die Überblicksdarstellungen von Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866  – Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S.  674 ff.; Siemann, Vom Staatenbund (Anm. 2), S. 395 ff., 415 ff. 17  Hierzu vgl. aus zeitgenössischer Sicht Ludolf Parisius, Deutschlands politische Parteien und das Ministerium Bismarck, Bd. I, Berlin 1878, sowie Walter Schlangen (Hrsg.), Die deutschen Parteien im Überblick. Von den Anfängen bis heute, Düsseldorf 1979, S. 29–51.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

Der Artikel „Parteien (politische)“ im 11. Band  (1864) des RotteckWelckerschen Lexikons18 ist von seinem ungenannten Verfasser – obwohl zuerst nur vom Gegensatz der Konservativen und der Liberalen die Rede ist – von Anfang an darauf angelegt, den liberalen Standpunkt als einen der Mitte, ja der genuinen politischen Vermittlung zwischen den Extremen zu kennzeichnen. Der Ursprung aller Parteiungen ist zwar, wie es heißt, in der allgemeinen Tatsache zu finden, „daß es allerorts eine Klasse von Menschen gibt, welche die Sicherheit des Staats und das Wohl der Angehörigen desselben in der möglichsten Schonung des Bestehenden erblickt, und eine zweite Klasse, welche stets geneigt ist, die Mängel der vorhandenen Einrichtungen zu erkennen und zu Reformen zu schreiten. Es ist klar, daß beide Richtungen eine Berechtigung haben, daß sie aber einer Menge Unterabtheilungen und Schattirungen fähig sind, und daß die Extreme entweder zu einer thörichten Verherrlichung alles Alten, blos darum, weil es alt ist, oder zu einer kindischen Projectmacherei führen müssen“19. Hieraus nun leitet der ungenannte Autor des Artikels die weiteren Differenzierungen für die Zeit nach 1848 ab. Unter den Konservativen, die hier zumeist eher als „Legitimisten“ bezeichnet werden, unterscheidet der Artikel die am Mittelalter orientierten „Feudalen“, deren Absicht vornehmlich, wie es hier heißt, dahin gehe, „den Staat, wie er vor 1789 bestand, und selbst die Einrichtungen, die vor der Durchbildung des fürstlichen Absoilutiosmus in Geltung waren, möglichst vollständig ins Leben zurückzurufen“20. Neben diesen „Feudalen“, Anhängern der traditionalistischen politischen Lehre des Schweizers Carl Ludwig von Haller21, stehen unter den Konservativen die „Absolutisten“, „deren Ideal das Königtum ist, wie es vor der Französischen Revolution bestand“22. Beide unterscheiden sich zwar in vielen Details, stimmen aber gerade darin überein, dass sie in gleicher Weise hinter den mit der Französischen Revolution erreichten Stand der geschichtlichen Entwicklung zurückstreben, also letztlich die vorrevolutionäre Ordnung wiederherstellen wollen.

18  „Parteien (politische)“, in: Das Staats-Lexikon. Encyclopädie der sämmt­ lichen Staatswissenschaften für alle Stände, hrsg. v. Karl von Rotteck und Karl Welcker. 3. umgearbeitete, verbesserte und vermehrte Auflage, hrsg. v. Karl Welcker, Bd. XI, Leipzig 1864, S. 311–327 (der Artikel ist mit „G.“ gezeichnet). 19  Ebenda, Bd. XI, S. 311. 20  Ebenda, Bd. XI, S. 318. 21  Carl Ludwig von Haller, Restauration der Staats-Wissenschaft oder Theorie des natürlich-geselli­ gen Zustands der Chimäre des künstlich-bürgerlichen entgegengesezt [sic], Bd. I–VI, Winterthur 1820–1834. 22  „Parteien (politische)“ (Anm.18), S. 319.



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Die konsequenteste Gegenposition zu ihnen, also zur konservativ-legitimistischen Rechten, vertreten auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums wiederum die Demokraten und die „Radicalen“. Diese Partei könne nun, heißt es hier weiter, „bei einem eigentlich constitutionellen Königthum nicht stehen bleiben; wo sie es vermag, schafft sie die Monarchie vollends ab, denn nur in dieser Verfassungsform kann die Masse jedeen Augenblick selbstthätig in die Regierung eingreifen“23. Die „Radicalen“ erstreben also die Republik; ihr „Ideal“ ist, wie es hier wörtlich heißt, „die absolute Volksgewalt und die absolute Gleichheit“. Von ihnen werden auf diesem Wege nolens volens zugleich „die Grundlagen des Communismus und […] Socialismus“24 gelegt. Die richtige, angemessene Mitte zwischen den beiden Extremen auf der Rechten und der Linken, den legitimistischen und den radikal-demokratischen, in der Konsequenz sozialistisch-kommunistischen Parteiungen, stellen dagegen nur die Liberalen dar, also „jetzt eine in allen Ländern verbreitete Partei, welche die Volksfreiheit in dem Schutze der individuellen Freiheit gegen beschränkende Institutionen von seiten der Regierung wie gegen die Gewaltthätigkeit von seiten der Masse sucht, sodaß sich die rein menschliche Existenz ungestört entwickeln kann“25. Der Verfasser erinnert in seinem Artikel übrigens auch an die spanische Verfassung von 181226, und er bezeichnet es als den „wesentlichsten Vorzug der liberalen Partei, daß diese […] die einzige ist, […] welche Ordnung und Freiheit, die Rücksicht auf das Bestehende mit der Neubildung den Bedürfnissen einer fortschreitenden Zeit verbindet“27. Die Liberalen erweisen sich in der Sicht des Rotteck-Welckerschen Staatslexikons also als wahre Mittelpartei, dem gemäßigten Fortschritt verpflichtet, alle radikalen Umsturzideen aber entschieden bekämpfend. Der ungezeichnete Artikel „Parteien, politische“ im ebenfalls 1864 erschienen 15. Band  des Wagenerschen Staatslexikons ist dagegen ausge23  Ebenda,

Bd. XI, S. 323. Zitate ebenda, Bd. XI, S. 323 f. 25  Ebenda, Bd. XI, S. 325. 26  Vgl. ebenda, Bd. XI, S. 325: „Der Name [„Liberale“; H.-C.K.] als Parteibezeichnung ward zuerst in Spanien gebraucht. Während des Kampfes gegen die Napoleonische Gewaltherrschaft fochten Seite an Seite der altcastilische Grande und der catalonische Bauer, der Priester und der Patriot aus der Schule der Florida-Blanca und Campomanes. Als aber das Land befreit […] war, nannte man diejenigen, welche Spanien in die Reihe der constitutionellen Staaten einführen wollten, Liberale. Sie stifteten, anfangs erfolgreich, die Verfassung von 1812, die Ferdinand VII. 1814 abschaffte, 1820 beschwor und 1823 wieder in allen Punkten verletzte.“ 27  Ebenda, Bd. XI, S. 327. 24  Die

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sprochen knapp geraten; er umfasst im Ganzen nur eine einzige (allerdings eng bedruckte) Seite28; diese starke Beschränkung bringt es mit sich, dass auf die ausführlichen historischen Exkurse, die sich im liberalen Konkurrenzlexikon finden, vollständig verzichtet wird. Ähnlich jedoch wie im Artikel bei Rotteck-Welcker wird auch hier der Gegensatz zwischen den Parteien auf bestimmte Grundprinzipien zurückgeführt; so heißt es gleich zu Beginn: Parteien sind „Gruppen von Staatsbürgern, welche sich in einem politischen Principe begegnen, um gemeinschaftlich an dessen Verwirklichung arbeiten zu wollen“. Parteien bilden sich immer dann, „sobald in den Bürgern eines Staates das Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten lebendig wird, und zwar mit Nothwendigkeit; denn die geschichtliche Idee vollzieht sich nicht durch sich selbst, sondern durch die Individuen, welche sich von ihr erfüllen lassen“29. Waren es in liberaler Sicht die Gegensätze zwischen einerseits statisch-bewahrender, damit im Kern letztlich rückwärtsgewandter, und andererseits dynamischer, also zukunftsoffener Ausrichtung, so sind es in der konservativen Perspektive nun die beiden Gegensätze zwischen dem Individualismus, „welcher den Staat in das Belieben der zufällig Zusammenlebenden stellt und ihn lediglich als ein Product ihres Beliebens hervorgehen lassen will“, und der althergebrachten, geschichtlich legitimierten Autorität. „Der grassirende Liberalismus und dessen Consequenz, der Radicalismus wurzeln in dem Individualismus, welcher das Princip der Autorität, auf welches der Conservatismus sich stützt, zum Gegensatz hat.“ Dem entspricht die Auffassung, dass nicht die Autorität, sondern die Majorität „zum Ausgangspunkt der Regierung genommen werde“, aber eben hiermit werde, heißt es weiter, „die Demagogie auf den Plan gerufen“; die Parteien lösten sich im Rahmen immer härterer Parteikämpfe „leicht in Factionen auf, welche unter der Maske politischer allgemeiner Zwecke und Principien nur dem individuellem Belieben dienen und nach aufreibendem parlamentarischem Kampfe der Gewalt unterliegen“30. Diese letzte Bemerkung ist vielleicht eine Anspielung auf das zweite französische Kaiserreich oder auf den seinerzeit noch unentschiedenen preußischen Verfassungskonflikt, der am Ende des Artikels sogar unmittelbar thematisiert wird31. – Kurz gesagt: Aus der konserva28  „Parteien, politische“, in: Staats- und Gesellschafts-Lexikon. In Verbindung mit deutschen Gelehrten und Staatsmännern hrsg. v. Herrmann Wagener, Bd. XV, Berlin 1864, S. 204–205. 29  Ebenda, Bd. XV, S. 204. 30  Alle Zitate ebenda, Bd. XV, S. 205. 31  Vgl. ebenda, Bd. XV, S. 205: „Das Königthum in Preußen zeigt indeß mehr innere Kraft, als die Demokratie geglaubt hatte, und nach vorübergehender kurzer Entmuthigung hat die conservative P[artei] sich mit neuer Energie um den



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tiven Sicht wird das Parteiwesen nicht prinzipiell abgelehnt, aber vor allem in seinen problematischen Seiten aufgefasst. Wie steht es nun mit den beiderseitigen Stellungnahmen zum „Parlamentarismus“? Ein eigenes Stichwort hierzu fehlt, was auf den ersten Blick vielleicht überraschen mag, in beiden Lexika; das Rotteck-Welckersche verweist auf den längeren, immerhin fast 26 Seiten umfassenden Artikel „Landtag“, verfasst von dem angesehenen liberalen Historiker Karl Biedermann, Professor an der Universität Leipzig32. Unter diesem spezifisch deutschen Begriff handelt der Verfasser tatsächlich die historischen und gegenwartspolitischen Aspekte des Parlamentarismus als solchem ab33. Biedermanns Definition eines „Landtags“ ist  – trotz der hiermit verbundenen, historischen bis ins Mittelalter zurückreichenden Assoziationen – gleichwohl strikt modern; der Historiker ist von Anfang an bestrebt, den Landtag als „Repräsentation des Volks“ genau abzugrenzen von einer traditionellen Ständeversammlung, denn, so stellt er ausdrücklich fest, „das frühere Verhältniß, wonach die Stände zunächst nur ihre eigenen, beziehendlich die Rechte der Körperschaft, zu vertreten und zu wahren hatten, hat im modernen Staate der höhern Ansicht Platz gemacht, wonach der Landtag das ganze Volk, nicht einzelne Stände, vertritt“34. Der Landtag ist, so formulierte es Biedermann hier, „gegenüber dem Staatsoberhaupte und seinen Organen, der berufene und verpflichtete Vertreter, Wahrer und Beschützer der Rechte sowol des ganzen Landes als jedes Einzelnen.“ In genau diesem Sinne definiert Biedermann das Parlament als „ein nothwendiges und wesentliches Organ in dem Gesammtorganismus des Staats, zur vernünftigen Verwirklichung der Staatsidee“35; im Rahmen ausführlicher geschichtlicher Exkurse, im Besonderen auch zur britischen und französischen Parlamentsgeschichte, versucht er seine Definition historisch zu belegen und zu begründen. Ein Thron geschaart, um den nahe gerückten Kampf muthig aufzunehmen und kraftvoll durchzuführen.“ 32  Vgl. Winfried Schulze, „Karl Biedermann. Eine Studie zum Verhältnis von Wissenschaft, Publizistik und Politik im deutschen Vormärz“, in: Aus Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft  – Festschrift für Hans Herzfeld zum 80.  Geburtstag. Im Auftrag des Friedrich-Meinecke-Instituts hrsg. v. Dietrich Kurze (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 37), Berlin/New York 1972, S. 299–326; Richard J. Bazillion, Modernizing Germany. Karl Biedermann’s Career in the Kingdom of Saxony, 1835–1901, New York 1990. 33  (Karl Biedermann), „Landtag“, in: Das Staats-Lexikon (Anm. 18), Bd. IX, S. 405–431. 34  Die Zitate ebenda, Bd. IX, S. 407. 35  Die Zitate ebenda, Bd. IX, S. 407–408.

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allgemeines Wahlrecht – und damit die, wie er hier wörtlich sagt, „Demokratisirung der Landtage“36  – lehnt er dagegen, jedenfalls für die Gegenwart, prinzipiell ab. Um dies im Detail zu begründen, unterscheidet Biedermann zwischen bürgerlicher und politischer Freiheit. Während die Erstere als „ein durchaus allgemeines und unveräußerliches“ Recht anzusehen sei, umfasse die politische Freiheit „alle die Rechte, durch deren Ausübung die bürger­ liche Freiheit geschützt, geregelt und vor Eingriffen gesichert werden soll“, und aus diesem Grund müsse sich „ihr Gebrauch und der Grad ihrer Zutheilung an die verschiedenen Individuen […] nach der Natur des dadurch zu erreichenden Zwecks richten.“ Über das Recht zur Teilnahme an der Landesvertretung könne also „nicht nach abstracten Rechtsprincipien allein, sondern […] nach politischen, auf den Gesammtzweck des Staats gerichteten Erwägungen entschieden werden.“ Selbstverständlich dürfe „nicht eine oder einzelne bestimmte Klassen von Staatsbürgern allein jene Theilnahme […] usurpieren und andere Klassen schlechthin davon ausschließen dürfen“, dennoch sei eine Beschränkung dieses wichtigen Rechts notwendig, d. h. ein Wahlzensus also nicht nur vertretbar, sondern geradezu erforderlich, um eine allgemeine politische Radikalisierung, ausgehend etwa von sozial unzufriedenen Wählerschichten, zu vermeiden37. Über Art und Zeit des Übergangs von beschränkten zu unbeschränkten Wahlsystemen dürfe daher nur nach genauester Analyse gegebener Zustände entschieden werden (er verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf die britische Wahlreform von 1832). Es sei jedenfalls „der naturgemäßeste und heilsamste Gang politischer Entwickelung, wenn der Kreis der zur Ausübung des activen und passiven Wahlrechts Berufenen allmählich nach Maßgabe der wachsenden wirthschaftlichen und politischen Bildung und Selbständigkeit der Volksgenossen mehr und mehr ausgedehnt wird. Sollte man auf diese Weise zuletzt auch bis zu dem allerunbeschränktesten Wahlrecht gelangen, so würde dies dann sicherlich gefahrlos und nur ein erfreulicher Beweis der durch alle Schichten des Volks hindurchgedrungenen Befähigung und Ausübung politischer Rechte sein“38. Aus der liberalen Sicht Biedermanns entwickelt sich das Wahlrecht zum Parlament also parallel zum politischen Reifeprozess eines Volkes, und politische Reife wird hier offenkundig (jedenfalls ohne dies klar zu formulieren) begriffen als bleibende Distanz zu den Extremen beider politischer Richtungen. 36  Ebenda,

Bd. IX, S. 413. Zitate ebenda, Bd. IX, S. 415. 38  Ebenda, Bd. IX, S. 417. 37  Alle



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Der (ungezeichnete) Artikel „Parlament“ im 15. Band  des Wagenerschen Lexikons liefert – auf den ersten Blick wohl überraschend – lediglich einen knappen historischen Abriss zur französischen und englischen Parlamentsgeschichte39. Immerhin wird derjenige Leser, der hier Aufschlüsse zum Thema „parlamentarische Regierung“ sucht, auf den Artikel „Staat“ im Band  19, erschienen 1865, verwiesen40. In diesem ausführlichen, auch inhaltlich wesentlich gehaltvolleren Artikel41, der mit großer Wahrscheinlichkeit von dem in Halle lehrenden konservativen Historiker Heinrich Leo verfasst worden ist42, wird unterschieden zwischen zwei Unterarten der zeitgenössischen „beschränkten Monarchie“: nämlich erstens derjenigen „mit ständischer Vertretung“ und zweitens derjenigen „mit allgemeiner Volksvertretung“. Es verwundert nicht, dass die zweite vom Autor des Artikels kritischer als die erste gesehen wird. Er weist denn auch ausdrücklich darauf hin, dass eine Monarchie mit allgemeiner Volksvertretung dringend einer „Ersten Kammer“, also eines Oberhauses bedarf, denn als „vermittelnder Factor zwischen der Krone und der Versammlung der Volksvertreter ist die Erste Kammer namentlich für die repräsentative oder constitutionelle Monarchie unentbehrlich, und zwar umso unentbehrlicher, je mehr politische Rechte der Volksvertretung […] zugestanden sind“43. Eindeutig bevorzugt wird im konservativen Lexikon eine „Volksrepräsentation nach Ständen“, die auf dem Grundsatz beruht, „daß das Volk, als Begriff eine Abstraction, in der concreten Wirklichkeit aus einer Zu39  „Parlament“, in: Staats- und Gesellschafts-Lexikon (Anm.  28), Bd.  XV, S. 185–198. 40  Vgl. ebenda, Bd. XV, S. 198. 41  „Staat“, in: Staats- und Gesellschafts-Lexikon (Anm. 28), Bd. XIX, S. 578– 600. 42  Leo gehörte nicht nur zu den bekanntesten Mitarbeitern des Wagenerschen Lexikons, vgl. dazu Cnyrim, Aspekte eines konservativen Weltbilds (Anm. 13), S.  29–47 u. a.; Albrecht, „Das ‚Staats- und Gesellschaftslexikon‘  “ (Anm.  13), S. 291 f., sondern war selbst Autor einer 1856 erschienenen „Naturlehre des Staates“, die im Literaturverzeichnis des Artikels an erster Stelle genannt wird und zu der es im Artikel stärkste inhaltliche Parallelen gibt. Zu Leo siehe auch Christoph Freiherr von Maltzahn, Heinrich Leo (1799–1878) – Ein politisches Ge­lehrtenleben zwischen romantischem Konservatismus und Realpolitik (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 17), Göttingen 1979. 43  Alle Zitate aus: „Staat“, in: Staats- und Gesellschafts-Lexikon (Anm. 28), Bd. XIX, S. 597.  – Verwiesen wird an dieser Stelle ebenfalls auf den im letzten Band  des Staats- und Gesellschaftslexikons enthaltenen Artikel „Zweikammersystem“, in: ebenda, Bd. XXIII, S. 196–199. Hier wird übrigens noch einmal ausdrücklich vor den „Gefahren“ gewarnt, „zu welchen […] eine unbeschränkte Anwendung dieses Majoritäts-Princips führen kann“ (ebenda, Bd. XXIII, S. 198).

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

sammensetzung vielerlei Kategorien, Personenklassen oder Stände[n] besteht, erzeugt durch die Gleichheit der Beschäftigung und bürgerlichen Stellung, woraus eine Gleichheit der Interessen erwächst, die wieder eine gewisse Gleichförmigkeit der Denkart zur Folge hat. Nur durch seinen Stand gehört der Einzelne dem Volke an; was er für das bürgerliche Leben wirkt und dem Staate leistet, geschieht nur durch seinen Stand. […] Es wird demnach auch die Aufgabe des Staates sein, keinen dieser verschiedenen Stände von der Vertretung der Gesammtheit bei der Mitwirkung in Ausübung der Staatsgewalt auszuschließen“44. Den liberalen Vorwurf, eine Repräsentation nach Ständen gehöre ins Mittelalter und sei den Anforderungen der Moderne nicht mehr gemäß, weist der Verfasser des Artikels „Staat“ im Wagenerschen Lexikon zurück: Da eine Vertretung nach Ständen „einzig und allein der Natur des organischen Staates entspricht und die einzige wahre Vertretung aller großen Bestandtheile und Interessen des gesammten Volkes in richtigen Verhältnissen sichert“, habe sie auch in der Gegenwart noch ihre vollständige staatliche Berechtigung, „und es ist daher ein großer Irrthum, zu vermeinen, daß eine solche ständische Vertretung dem mittelalterlich ständischen System […] angehöre“45. Freilich wird der Artikel an dieser Stelle nicht konkreter; ein wie auch immer angelegtes „neuständisches“ Parlamentarismuskonzept legt der Autor nicht vor, obwohl in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hierüber von deutschen Autoren intensiv diskutiert worden ist46. Weiter vertieft werden diese Gedankengänge in einem weiteren Lexikonartikel über „Stände, ständisches Repräsentativsystem“47, in dem wenigstens in rudimentärer Form eine solche neuständische Ordnung (wie man sie nennen könnte) entworfen wird: In dieser neuen ständisch gegliederten Volksrepräsentation48 gibt es nur noch einen einzigen Geburtsstand, den Adel, ansonsten nur noch Berufsstände. Diese wiederum werden unterschieden (1) nach materiellen und (2) nach geistigen Berufsständen. Zu den materiellen Berufsständen zählen vor allem der Bauernstand, der Gewerbestand und der Handelsstand; zu den geistigen Berufsständen wiederum gehören u. a. die Geistlichen, die Lehrer, die Mediziner 44  Die

Zitate ebenda, Bd. XIX, S. 596. Zitate ebenda, Bd. XIX, S. 596–597. 46  Siehe hierzu nur Hans-Christof Kraus, Vom Traditionsstand zum Funk­ tionsstand. Bemerkungen über „Stände“ und „Ständetum“ im deutschen politischen Denken des 19. Jahrhunderts“, in diesem Band, S. 263 – 294. 47  „Stände, ständisches Repräsentativsystem“, in: Staats- und GesellschaftsLexikon (Anm. 18), Bd. XIX, S. 669–676. 48  Zum Folgenden vgl. ebenda, Bd. XIX, S. 670 ff. 45  Die



Parlamente und Parteien in deutschen Staatslexika des 19. Jahrhunderts307

und die Juristen, während die Beamten und Militärs keinen eigentlichen „Stand“ mehr bilden. Nicht zuletzt wird hier  – in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen liberalen Kritik  – klargestellt, „daß das Volk trotz seiner Gliederung in Stände immer noch eine nationale und staatsbürgerliche Einheit bleibt, und daß die Repräsentanten der Stände also nicht abgetrennt von einander […] nur diese, sondern jene Einheit ver­ treten“49, – und das bedeutet, dass „Stände“ in diesem modernen Sinne also mit denjenigen des Mittelalters nichts mehr zu tun haben. Noch entschiedener als im Rotteck-Welckerschen Staatslexikon wird im Wagenerschen Lexikon die Möglichkeit einer Republik als „gute“ Verfassung verworfen. Im letzten Teil  des Artikels „Staat“ wird über „die beste Verfassung“ räsoniert, die sich vor allem durch Kontinuität auszeichnen müsse. Nur die Monarchie stelle, gerade „wenn sie eine ­erbliche ist, durch ihre Stetigkeit allem ehrgeizigen Streben nach der Herrschaft das stärkste Hinderniß entgegen und wird dadurch die dauerhafteste Form der Staatsverfassung“. Und der Verfasser fügt hinzu, wiederum fraglos vor dem aktuellen Hintergrund des preußischen Verfassungskonflikts, dass der Schwerpunkt der politischen Macht stets beim Monarchen verbleiben müsse, denn: „Eine kräftige Alleinherrschaft ist das beste Mittel, die Zügellosigkeit der Massen zu steuern, Spaltungen und Bürgerkriege zu verhüten und den Staat in Ordnung zu hal­ten“50. Vergleicht man abschließend die Standpunkte, Definitionen und Thesen beider Lexika, so sind dabei die eigentlich selbstverständlichen, sehr verschiedenen Parteistandpunkte sicher weniger bemerkenswert, eher fallen andere Aspekte in den Blick: Hier sei nur ein einziger, in mancher Hinsicht aber recht aufschlussreicher Aspekt hervorgehoben, nämlich die ausgesprochene Neigung der liberalen wie der konservativen Autoren, sich selbst und die eigene Parteiposition nicht nur durch Inhalte, sondern in besonderem Maße auch durch Abgrenzungen – und zwar nicht nur jeweils voneinander! – zu definieren. Die Liberalen sind jetzt (sicher nicht zuletzt als Reaktion auf die Erfahrungen der Revolution von 1848/49 und auf die entstehende radikal sozialistische Arbeiterbewegung) bestrebt, sich entschiedener als früher gerade nach der linken Seite hin abzugrenzen: Die republikanische Staatsform wird jedenfalls für Deutschland mit Nachdruck eindeutig verworfen, dafür aber die gemäßigte Monarchie mit starker parlamentarischer Volksvertretung als besonders wünschbares und daher anzustrebendes politisches Nahziel herausgestellt. Und ebenfalls wird das allge49  Ebenda, 50  Ebenda,

Bd. XIX, S. 676. Bd. XIX, S. 599.

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II. Das 19. Jahrhundert: Traditionen im Wandel

meine und gleiche Wahlrecht für die Gegenwart nunmehr strikt abgelehnt; man lässt es allenfalls, unter mannigfachen Kautelen, als vages Zukunftsmodell gelten. Die Konservativen wiederum grenzen sich vorsichtig ab von früheren Formen unbeschränkter Monarchien, etwa der monarchischen Alleinherrschaft zur Zeit des vorrevolutionären Ancien Régime oder vom bürokratischen Absolutismus des Vormärz, und ebenso von feudalen mittelalterlichen Ordnungsvorstellungen, damit also auch von traditionellen ständischen Modellen, die darauf hinauslaufen, dass die Stände nur sich selbst und die eigenen Interessen repräsentieren. Dagegen orientieren sich die Konservativen bereits in Richtung auf neuständisch-korporative Konzepte, die den traditionellen Geburtsstand, den Adel, zwar noch berücksichtigen, ihn jedoch nicht mehr in den Mittelpunkt stellen, sondern vor allem die Berufsstände bereits im Blick haben. Die beiden Lexika aus den 1860er Jahren dokumentieren damit also die Phase eines weltanschaulich ebenso wie ideenpolitisch und politiktheoretisch gesehenen Übergangs von traditionellen Orientierungen, die man langsam abzustreifen beginnt, zu zeitgemäßeren Auffassungen. In gewisser Weise deuten sich hier bereits die  – wenigstens partiell gravierenden  – politischen Umorientierungen an, welche die Entwicklung des Liberalismus ebenso wie des Konservatismus in Deutschland nach dem Ende des Verfassungskonflikts im Jahr 1866 und dann vor allem seit der Reichsgründung von 1871 bestimmt haben. Die partielle begriffliche Unklarheit – übrigens auch in der Kennzeichnung und Kritik des jeweiligen Gegners – spiegelt ebenfalls jene Übergangsphase der neueren deutschen Geschichte zwischen Revolution und Reichsgründung wider, die hier gerade auch in ihren ideengeschichtlichen Nuancen und semantischen Veränderungen erkennbar wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind und bleiben die deutschen Staatslexika auch heute noch eine erstrangige Quelle zur Erforschung des politischen Bewusstseinswandels der Deutschen im 19. Jahrhundert.

III. Das 20. Jahrhundert: Zwischen Totalitarismus und Demokratie

Wilhelm Hasbach (1849–1920) – Theorie und Kritik der modernen Demokratie Wilhelm Hasbach (1849–1920) darf heute wohl als einer der großen Unbekannten, mindestens jedoch als einer der fast Vergessenen aus der Frühgeschichte der deutschen Politik- und Sozialwissenschaften gelten. Das liegt vielleicht daran, dass er, der dem Jahrgang 1849 angehörte, in gelehrten- und wissenschaftsgeschichtlicher, aber ebenfalls in politischer Hinsicht gewissermaßen einer akademischen „Zwischengeneration“ angehörte, die sich etwa in der Mitte zwischen der älteren Gelehrtengeneration eines Adolph Wagner oder eines Gustav Schmoller einerseits und den Jüngeren wie etwa Max Weber, Werner Sombart, Hugo Preuß und Otto Hintze andererseits findet. Gleichwohl war es gerade Hasbach, der das erste ausführlich angelegte, materialreiche und theoretisch durchdachte Werk vorlegte, das in deutscher Sprache über die ‚moderne‘ Demokratie verfasst wurde und in dem er versuchte, in empirischer Wahrnehmung ebenso wie in theoretischer Analyse dieses Grundphänomen der politischen Moderne umfassend  – wenn auch in keineswegs unkritischer Absicht  – zu beleuchten. Hierin wird man sicher die besondere Bedeutung dieses Autors sehen können, die es rechtfertigen mag, sich erneut mit Wilhelm Hasbach zu beschäftigen. Das ist bisher allerdings kaum geschehen; ein Überblicksaufsatz zur Geschichte der Wirtschaftswissenschaften in Kiel aus dem Jahr 1940, ein ebenfalls schon etwas älterer Lexikonartikel sowie eine im Jahr 2013 publizierte Abhandlung eines Kieler Politikwissenschaftlers scheinen fast die einzigen Texte zu sein, die Wilhelm Hasbachs Leben, akademische Karriere und sein wissenschaftliches Werk in den letzten Jahrzehnten zum Thema gemacht haben1. Immerhin gehörte dieser Gelehrte zu den Exponenten der bis heute erst in Ansätzen in ihrer Bedeutung und ihrem

1  Friedrich Hoffmann, Der Ausgang der Kameralistik und der erste Einsatz der Volkswirtschaftslehre, in: Paul Ritterbusch/Hanns Löhr/Otto Scheel/Gottfried Ernst Hoffmann (Hrsg.), Festschrift zum 275jährigen Bestehen der Christian-Al­ brechts-Universität Kiel, Leipzig 1940, S. 129–163, zu Hasbach S. 154–158; Siegfried Wendt, Hasbach, Wilhelm, in: Neue Deutsche Biographie 8 (1969), S. 17–18; Christian Patz, Wilhelm Hasbach – Politikwissenschaftler avant la lettre?, in: Wilhelm Knelangen/Tine Stein (Hrsg.), Kontinuität und Kontroverse. Die Geschichte der Politikwissenschaft an der Universität Kiel, Essen 2013, S. 211–230.

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III. Das 20. Jahrhundert: Zwischen Totalitarismus und Demokratie

Umfang erforschten Schmoller-Schule2, die sich in den Jahrzehnten des späten deutschen Kaiserreichs einer intensiven akademischen Förderung seitens des preußischen Kultusministeriums, vor allem des mächtigen und einflussreichen Ministerialdirektors und „heimlichen Kultus­ ministers“ Friedrich Althoff, erfreuen konnte3. Wer das Glück hatte, in dieses sehr eng gesponnene akademische Netzwerk um Gustav Schmoller aufgenommen zu werden, dessen berufliche und wissenschaftliche Laufbahn an einer deutschen Universität schien bald mehr oder weniger gesichert – das galt seinerzeit auch für Wilhelm Hasbach. I. Akademische Laufbahn und wissenschaftliches Werk Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass man in Hasbach einen für die akademische Welt des deutschen Kaiserreichs nicht gerade typischen Sozialaufsteiger erkennen kann, der es tatsächlich schaffte – er wurde in der Nähe von Mülheim/Ruhr als Sohn eines katholischen Bergmanns und als Enkel von Kleinbauern und Tagelöhnern geboren  –, sich aus allerengsten und sehr ärmlichen Verhältnissen zum ordentlichen Universitätsprofessor und Lehrstuhlinhaber an der Universität Kiel emporzuarbeiten, damit also gleich mehrfach die in dieser Zeit noch ausgesprochen starren, von Hasbach selbst auch schmerzlich empfundenen Klassenschranken4 zu überschreiten, um eine ausgesprochen bemerkenswerte und in dieser Form damals nicht oft anzutreffende berufliche Karriere zu absolvieren. Ohne extremen Fleiß, äußerst strikte Selbstdisziplin und ausgeprägte Anpassungsfähigkeit, aber eben auch ohne nachhaltige aka-

2  Einige Hinweise liefert bereits Carl Brinkmann, Gustav Schmoller und die Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 1937, S. 112 ff. u. passim; neuerdings siehe, bezogen vor allem auf Schmollers wirtschafts- und verwaltungshistorische Forschungen und Editionen, Wolfgang Neugebauer, Die „Schmoller-Connection“. Acta Borussica, wissenschaftlicher Großbetrieb im Kaiserreich und das Beziehungs­ ­ geflecht Gustav Schmollers, in: Jürgen Kloosterhuis (Hrsg.), Archivarbeit für Preußen. Symposion der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz aus Anlaß der 400. Wiederkehr der Begründung seiner archivalischen Tradition, Berlin 2000, S. 261–301, sowie Eric Grimmer-Solem, The Rise of Historical Economics and Social Reform in Germany 1864–1894, Oxford 2003, bes. S. 19–86 u. passim. 3  Zu Althoffs Wissenschafts- und Universitätspolitik siehe neben der immer noch wichtigen älteren Darstellung von Arnold Sachse, Friedrich Althoff und sein Werk, Berlin 1928, bes. S. 118 ff., besonders Bernhard vom Brocke, Hochschulund Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1881–1907: das „System Althoff“, in: Peter Baumgart (Hrsg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs (Preußen in der Geschichte, 1), Stuttgart 1980, S. 9–118. 4  Siehe dazu unten Anm. 79.



Wilhelm Hasbach (1849–1920)313

demische Protektion wäre dieser für jene Epoche höchst bemerkenswerte soziale und berufliche Aufstieg wohl kaum denkbar gewesen. Hasbach absolvierte, wie es scheint zuerst mit dem Ziel des gymnasialen Lehramts, seit 1868 ein Studium an der damaligen Akademie in Münster, das er anschließend an den Universitäten in Bonn und Tübingen fortsetzte, unterbrochen allerdings durch die Teilnahme am deutschfranzösischen Krieg und einen einjährigen Studienaufenthalt in Genf5. Im Jahr 1875 promovierte er in Tübingen mit einer philosophischen Dissertation über das Thema „Die platonische Idee in Schopenhauers Ästhetik“; in den folgenden fünf Jahren war er als Gymnasiallehrer tätig. Bald schon begann er sich, vermutlich ausgehend von Studien zu den philosophischen und theoretischen Grundlagen der Nationalökonomie, staatswissenschaftlichen Fragestellungen und Themen zuzuwenden; um 1879/ 80 arbeitete er für einige Zeit als Volontär im „Königlich Preußischen Statistischen Bureau“ in Berlin, das in jenen Jahren unter dem Direk­ torat von Ernst Engel als führende Institution ihrer Art nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa galt6; gleichzeitig hörte der junge Ökonom und Statistiker staatswissenschaftliche Vorlesungen bei ­Adolph Wagner an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Mit einem durch Wagner und Schmoller vermittelten Privatstipendium versehen, verbrachte Hasbach die Jahre 1881 und 1882 in Großbritan­ nien, um Material für eine Studie zum englischen Arbeiterversicherungswesen sowie für eine umfassende wissenschaftliche Darstellung zur Geschichte der englischen Landarbeiter zu sammeln7. Der wichtigste ­ Karriereschritt erfolgte jedoch 1884, denn in diesem Jahr konnte er sich – inzwischen gefördert nicht nur durch Adolph Wagner, sondern auch durch Gustav Schmoller und Friedrich Althoff  – an der Universität Greifswald mit der Aussicht auf ein dortiges Extraordinariat habilitieren mit einer immerhin knapp 450 Seiten starken Studie über „Das englische Arbeiterversicherungswesen“, die bereits im Jahr zuvor als Buch erschienen war8.

5  Diese

Angaben nach Wendt, Hasbach (wie Anm. 1), S. 17. jetzt vorzüglich Michael C. Schneider, Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt a.  M./New York 2013. 7  Vgl. Grimmer-Solem, The Rise of Historical Economics (wie Anm. 2), S. 233 f. 8  Wilhelm Hasbach, Das Englische Arbeiterversicherungswesen. Geschichte seiner Entwickelung und Gesetzgebung, Leipzig 1883; das Werk erschien als „Erstes Heft“ des fünften Bandes von Gustav Schmollers „Staats- und socialwissenschaftlichen Forschungen“. 6  Dazu

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III. Das 20. Jahrhundert: Zwischen Totalitarismus und Demokratie

Die für diesen Karriereschritt wohl letztlich entscheidende Empfehlung stammte von Wagner, der in einem Gutachten für Althoff9 die Qualitäten des jungen Nachwuchsgelehrten, seines Schülers, besonders herausgestrichen hatte: „Hasbach, schon etwas älter … ist Doctor der neueren Sprachen, war Gymnasiallehrer, warf sich dann in Berlin auf Nationalökonomie, gieng [sic] nach England, mußte wieder eine Lehrstelle annehmen, trieb aber daneben nationalökonomische Studien. Aus diesen ging das tüchtige Werk über die Arbeiterversicherung hervor. Ich emuthigte ihn, als er noch in England war, an die akademische Lehre in der Nationalökonomie zu denken. Seine philosophischen Studien befähigen ihn zu einer Richtung in der Nationalökonomie, wo tüchtige Kräfte noch viel leisten können. Ich erwarte hier etwas von ihm, nachdem er einmal einen festen Entschluß für diese Laufbahn gefaßt haben wird“. Gleichzeitig fügte Wagner jedoch hinzu: „Er ist pecuniär nicht ganz unabhängig, wenigstens nicht für länger gesichert“10, womit er andeutete, dass die oberste Berliner Wissenschaftsverwaltung, wenn sie denn entschlossen war, den jungen Nachwuchsgelehrten für eine preußische Universität zu gewinnen, möglichst rasch zugreifen müsste. Dieser Wink  – und auch die von Wagner in diesem Gutachten gestreuten Vorschusslorbeeren – verfehlten, wie sich rasch zeigen sollte, ihre Wirkung nicht. Auch Hasbachs Habilitationsschrift, wissenschaftlich vor allem durch Wagner betreut und wohl auch angeregt, wurde von der Fachwelt überwiegend positiv aufgenommen, was nicht zuletzt damit zusammenhing, dass es sich hierbei, wie bereits der Publikationsort anzeigte (Schmollers angesehene Reihe „Staats- und socialwissenschaftliche Forschungen“), um ein typisches Produkt der Schmollerschule im weiteren Sinne handelte11, also der jüngeren historischen Schule der Nationalökonomie entstammte12. Insofern kann man Hasbachs Studie als eine stark historischempirisch angelegte Untersuchung bezeichnen  – gemäß der kennzeichnenden, von Schmoller einige Jahre später, gegen Ende des Jahrhunderts, formulierten Maxime: „Wer nicht für jede volkswirtschaftliche Erscheinung den Staats- und Verwaltungsmechanismus, innerhalb dessen sich die socialen und wirtschaftlichen Prozesse abspielen, ganz genau kennt, 9  Abgedruckt in: Heinrich Rubner (Hrsg.), Adolph Wagner. Briefe  – Dokumente – Augenzeugenberichte 1851–1917, Berlin 1978, S. 219–222 (14.2.1884). 10  Beide Zitate ebd., S. 221. 11  Unter die Schmollerschüler wird Hasbach ausdrücklich auch von Carl Brinkmann gezählt; siehe derselbe, Gustav Schmoller (wie Anm. 2), S. 113; vgl. ebenfalls Harald Winkel, Die deutsche Nationalökonomie im 19. Jahrhundert, Darmstadt 1977, S. 113. 12  Hierzu vgl. Winkel, Die deutsche Nationalökonomie (wie Anm. 11), S. 101– 114.



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der wird mit seinen Schlüssen gar zu leicht ins Nebelhafte, Unsichere kommen“13. So ist es denn auch kaum verwunderlich, dass Hasbach als Forscherpersönlichkeit bald in den Fokus Althoffs rückte, nachdem seine ökonomische Erstlingsarbeit auch von Gustav Schmoller in einem von Althoff angeforderten Gutachten nachdrücklich als eine bedeutende und überdurchschnittliche fachwissenschaftliche Leistung gelobt wurde14; Hasbach habe, heißt es hierin, „ein Stück von der Welt gesehen, länger in England gelebt, und ist so mit einer Reife des Geistes und mit einer philosoph. Vorbildung an die Probleme des Staats- und Gesellschaftslebens herangetreten, welche den meisten jungen Dozenten fehlt“. Das Buch Hasbachs wurde von Schmoller zugleich vehement gegen Angriffe des prominenten Kollegen Lujo Brentano  – der damals die Kompetenz für die englische Wirtschaftsgeschichte vor allem für sich selbst beanspruchte – verteidigt: „Nach meiner Ansicht darf […] überhaupt nicht die allgemeine Tendenz eines solchen Buches, die stets subjektiv nach Charakter und Lebenserfahrung des Autors gefärbt ist, zum Ausgangspunkt des Urtheils genommen werden, sondern das Maß fachwissenschaftlicher Leistung. Und das ist ein großes in dem Buch. Es ist in der ganzen deutschen und englischen Litteratur das erste Werk, das in das Chaos der Geschichte der englischen friendly societies Klarheit gebracht hat, das die Geschichte der entsprechenden Gesetzgebung und aller einschlägigen Genossenschaftsbildungen abschließend darstellt“. Und Schmoller fügte als zusätzliches Lob noch die Bemerkung an: „Ein sehr großer Theil der Professoren der Nationalökonomie im preuß. Staate, mich selbst eingeschlossen, hatten als sie zu Extraordinarien ernannt wurden, keine so erhebliche Leistung aufzuweisen“15. Nicht zuletzt aufgrund dieses Gutachtens aus dem Sommer 1886 erhielt Hasbach, vor allem auf Betreiben Althoffs16, im Januar 1887 das 13  Gustav Schmoller, Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898, S. VIII. 14  Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin-Dahlem [künftig zitiert als: GStA PK], I. HA, Rep. 76 Va, Sekt. 7, Tit IV, Nr. 23, Bd. 11, Bl. 5r–5v (8.6.1886; Abschrift). 15  Alle Zitate: ebd., Bl. 5r. 16  Bereits im November 1883 hatte Althoff in einer Aktennotiz zur Besetzung der neu zu schaffenden Professur für Staatswissenschaften an der Universität Greifswald einmal angemerkt, wenn Hasbach seine Habilitation abgeschlossen haben werde, glaube er, Althoff, „kaum, daß ein Extraordinarius zu haben ist, der ihm an Tüchtigkeit gleich käme“ (GStA PK, I. HA, Rep. 76 Va, Sekt. 7, Tit. IV, Nr. 22, Bd. 9, Bl. 303r).

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(von ihm bereits vorher vertretungsweise besetzte) Extraordinariat an der Universität Greifswald  – übrigens gegen den ausdrücklichen Willen der zuständigen Fakultät, die eigentlich einen anderen Privatdozenten, Ludwig Elster, zu berufen wünschte und zudem bemängelte, dass Hasbach seit seiner Habilitation noch keine weiteren Publikationen vorgelegt habe17. Bereits im Jahr darauf wechselte er in gleicher Eigenschaft, dieses Mal jedoch offenkundig als „Fakultätsfavorit“, an die AlbertusUniversität zu Königsberg18, wo er nicht nur weitere umfangreiche wissenschaftliche Publikationen vorlegte, sondern auch eifrig bestrebt war, sich in Zeitschriftenbeiträgen und öffentlichen Äußerungen „als ­Polemiker gegen die politisch angeblich unfähige Sozialdemokratie und ihren Theoretiker Kautsky“ zu profilieren, „aber immerhin bemüht, sich […] als wortreicher Verteidiger der konstitutionellen Monarchie wie des sozialen Königtums in Szene zu setzen“19. Sein berufliches Ziel erreichte Hasbach im Jahr 1893, in dem er endlich als ordentlicher Professor für wirtschaftliche Staatswissenschaften an die Philosophische Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel berufen wurde, wo er anschließend bis 1906 akademisch wirken sollte. Hasbach erwies sich fortan, trotz immer wieder auftretender gesundheitlicher Beeinträchtigungen, als ein ausgesprochen produktiver Gelehrter, der sein damals sehr stark historisch ausgerichtetes Fach in dessen gesamter Breite, auch im Bereich der ökonomischen Theorie und deren Geschichte, zu vertreten vermochte20. In den Jahren 1890 und 1891 publizierte er zwei größere Untersuchungen über die philosophischen 17  GStA PK, I. HA, Rep. 76 Va, Sekt. 7, Tit. IV, Nr. 22, Bd. 10, Bll. 310r–310v (Kurator Steinmetz an Althoff, 25.5.1886); ebd., Bl. 319r–320v (Baumstark an Althoff, 4.7.1886, Abschrift); es heißt hier u. a., wohl die eigentlichen Gründe für die Ablehnung Hasbachs andeutend: „H[asbach] scheint aber überhaupt hier vereinsamt zu sein und dies mag an seiner Persönlichkeit liegen. Er gehört, wie ich wahrgenommen habe, nicht den akademischen Kreisen an. Er hätte sich in Berlin habilitieren sollen, wo auch seine Lehrer sind, die ihn auch persönlich genau kennen mögen“. 18  Zu Hasbachs Königsberger Zeit siehe jetzt (mit vielen weiteren Nachweisen und Informationen) Christian Tilitzki, Die Albertus-Universität Königsberg. Ihre Geschichte von der Reichsgründung bis zum Untergang der Provinz Ostpreußen (1871–1945), Bd. 1: 1871–1918, Berlin 2012, S. 102 ff., 541 f., 675. 19  Die Zitate ebd., S. 102; bereits früher erschien: Wilhelm Hasbach, Die Unfähigkeit der deutschen Sozialdemokratie zur sozialpolitischen Reformarbeit, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich 10 (1886), S. 215–222. 20  Einige Hinweise hierzu auch bei Gisela Wallgärtner, Der soziologische Diskurs im Kaiserreich. Auswertung sozialwissenschaftlicher Zeitschriften (Beiträge zur Geschichte der Soziologie, 2), Münster/Hamburg 1991, S. 122, 128, 135 ff., 142 f., 196, 288, 443 f., 446 f.



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Grundlagen der ökonomischen Theorien von François Quesnay und Adam Smith21 sowie über die Entwicklung der Wirtschaftstheorie Smiths22, und 1894 folgte eine nochmals mehr als 400 Seiten starke Gesamt­ darstellung der Geschichte der englischen Landarbeiter während des 19. Jahrhunderts, erschienen übrigens in der Schriftenreihe des „Vereins für Socialpolitik“23. Diese Schrift fand kurz darauf nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien starke Beachtung: Sie wurde zuerst 1908 in englischer Übersetzung unter dem Titel „A History of the English Agricultural Labourer“ herausgebracht, übrigens mit einem Vorwort von Sidney Webb, und sie erlebte bis 1966 noch drei weitere Auflagen bzw. Nachdrucke, galt damit also in Großbritannien lange als wissenschaftliches Standardwerk24. Im Weiteren befasste sich Hasbach in seinen wissenschaftlichen Publikationen mit Problemen der Dogmengeschichte und der Theorie der klassischen wie der modernen Nationalökonomie. Er galt allerdings als ausgesprochen streitbar und fand sich häufig in akademische Fehden mit bekannten Kollegen seines Faches verstrickt; als einer seiner wissenschaftlichen Intimfeinde galt Lujo Brentano, der zugleich wie er auf dem Gebiet der englischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte tätig war und innerhalb der deutschen Zunft als sein entschiedenster Widersacher gelten konnte25. Seine Schüler wiederum ließ Hasbach mit Vorliebe Themen aus seinen eigenen Arbeits- und Interessengebieten bearbeiten; so promovierte etwa sein später bekanntester Doktorand, Hjalmar Schacht, im Jahr 1899 bei ihm in Kiel mit einer Untersuchung über den „theoretische[n] Gehalt des englischen Merkantilismus“26.

21  Wilhelm Hasbach, Die allgemeinen philosophischen Grundlagen der von François Quesnay und Adam Smith begründeten politischen Ökonomie (Staatsund socialwissenschaftliche Forschungen, X/2), Leipzig 1891. 22  Wilhelm Hasbach, Untersuchungen über Adam Smith und die Entwicklung der Politischen Ökonomie, Leipzig 1891. 23  Wilhelm Hasbach, Die englischen Landarbeiter in den letzten hundert Jahren und die Einhegungen (Schriften des Vereins für Socialpolitik, 59), Leipzig 1894. 24  Wilhelm Hasbach, A History of the English Agricultural Labourer, transl. by Ruth Kenyon. With a Preface by Sidney Webb (Studies in Economics and Polit­ical Science, 15), London 1908; die weiteren Auflagen dieser Übersetzung erschienen 1920, 1927 und 1966. 25  Siehe etwa als typisches Beispiel: Wilhelm Hasbach, Prof. Dr. Lujo Brentano und Dr. Karl Kautsky. Ein Beitrag zur Kennzeichnung wissenschaftlicher Polemik, Greifswald 1891. 26  Hjalmar Schacht, Der theoretische Gehalt des englischen Merkantilismus (phil. Diss. Kiel 1899), Berlin 1900.

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Schacht war es auch, der in seinen Memoiren überliefert hat, dass Hasbach – er schildert ihn in seiner äußeren Erscheinung als „große[n] Mann mit rötlichem Haar, blitzblauen Augen, die hinter Brillengläsern hervorfunkelten, und graumeliertem Vollbart“  – schon zu jener Zeit, um 1900, eine gewisse Außenseiterstellung in Universität und Fakultät einnahm, denn er galt offenkundig als „hypochondrischer Sonderling“27. Ein anderer Schüler aus der Zeit um 1900, Friedrich Hoffmann, später der letzte Kurator der Universität Königsberg, erinnerte sich daran, dass „Hasbach, von aufrechter äußerer Haltung, … mit einer im Ton wenig wechselnden Stimme in ausgezeichnetem Stil und in klarstem Auf- und Durchbau hervorragende, jedoch nur wenig besuchte Kollegs“ gelesen und „sehr viel von den Teilnehmern am Seminar“ verlangt habe, jedoch am Ende nicht nur infolge schwacher Gesundheit, sondern auch „durch den geringen Erfolg seiner Lehrtätigkeit mißgestimmt“ die Universität vorzeitig verlassen habe28. Tatsächlich ist auch den Akten des preußischen Kultusministeriums zu entnehmen, dass der Kieler Staatswissenschaftler nicht nur als „Sonderling“, sondern auch als kränklich und ausgesprochen reizbar galt. Mit fast allen seiner Kollegen lebte er bald im Streit; in einem Bericht des Kieler Universitätskurators an das Berliner Kultusministerium heißt es bezeichnenderweise, Hasbach habe seine Kieler Kollegen „durch Ausbrüche unmotivirten Mißtrauens und heftiger Reizbarkeit vielfach verletzt“, so dass er mittlerweile an der Hochschule, an der er sich ständig von Intriganten verfolgt fühle, komplett isoliert sei29. Anfang 1906 beantragte Hasbach beim Kultusminister Conrad von Studt unter Beilegung von nicht weniger als fünf ärztlichen Attesten seine vorzeitige Entpflichtung aufgrund schwerwiegender Gesundheitsprobleme, die er überwiegend auf das für ihn unverträgliche Kieler Klima zurückführte, jedoch ebenfalls mit psychischer Labilität, Depressionen und vor allem einer gesteigerten nervösen Reizbarkeit begründete30. Der 27  Die Zitate: Hjalmar Schacht, 76 Jahre meines Lebens, Bad Wörishofen 1953, S. 105, dort auch (ebenda, S. 106 ff.) Aufschlussreiches zur Geschichte seiner Promotion. 28  Die Zitate in: Hoffmann, Der Ausgang der Kameralistik (wie Anm.  1), S. 155. 29  GStA PK, I. HA, Rep. 76 Va, Sekt. 9, Tit. 4, Nr. 1, Bd. 11, Bl. 85r–86v (Kurator Chalybaeus an das Kultusministerium, 8.3.1898). 30  Ebenda, Bd. 13, Bl. 163r–166v (Hasbach an Kultusminister Studt, 3.1.1906); u. a. heißt es in der Begründung: „[…] meine Nervosität hat in Kiel beträchtlich zugenommen: sowol [sic] infolge seines an Nebel, Regen, starken Depressionen, Wind und Sturm reichen, unaufhörlich wechselnden Klimas“, außerdem sei er nicht mehr gewillt, seine ständigen Konflikte mit der Kieler Universitätsverwaltung fortzuführen.



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Kieler Kurator unterstützte das Gesuch Hasbachs an das Ministe­rium mit dem Hinweis, dass sich Hasbachs krankhafte Reizbarkeit inzwischen „geradezu zum Verfolgungswahn gesteigert“31 habe. Das Ministerium gab endlich im November 1906 nach, und Hasbach wurde fortan aufgrund seiner – wie man damals sagte – „Neurasthenie“ von allen akademischen Verpflichtungen entbunden. In gewisser Weise erscheint der Kieler Staatswissenschaftler, der sich bereits im Jahr 1900 selbst einmal aus eigenem Entschluss in eine Nervenheilanstalt zurückgezogen hatte32, wie das personifizierte Beispiel für den Charakter jenes im Zuge der umfassenden Technisierung und Rationalisierung der modernen Lebenswelt mehrfach beschriebenen „Zeitalters der Nervosität“33. In seinen letzten dreizehn Lebensjahren hat sich der inzwischen von Kiel nach Dresden umgesiedelte Hasbach tatsächlich, wie er es in seinem Emeritierungsgesuch bereits angekündigt hatte34, weiterhin wissenschaftlich betätigt; es entstanden nicht nur eine Fülle von kleineren Studien und Abhandlungen, die teilweise auch in größeren Publikumszeitschriften, wie etwa Hardens „Zukunft“, erschienen35, sondern auch zwei größere, offensichtlich seit längerem vorbereitete Monographien zu explizit politischen bzw. staats- und politikwissenschaftlichen Gegenständen. Vielleicht bedeutete für Hasbach, wie vermutet wurde, die ­Beschäftigung mit Themen der „Arbeiterfrage“ und der sozialen Reform „eine Schwelle des Übergangs von nationalökonomischem zu politiktheoretischem Denken“36. Eventuell aber erfolgte dieser Perspektivenund Interessenwechsel auch nur als persönliche Reaktion eines Gelehrten auf die nach den Reichstagswahlen von 1907 und 1912 veränderte innenpolitische Lage in Deutschland sowie auf die damals virulente Debatte über Fragen einer allgemeinen Reform der Reichsverfassung. 31  Ebenda,

Bd. 13, Bl. 173v (17.2.1906). berichtet Hasbach in einem Schreiben an den Kultusminister Studt vom 23.8.1900, in: GStA PK, I. HA, Rep. 76 Va, Nr. 10208, Bl. 110r–110v. 33  Siehe dazu Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 2000, bes. S. 283 ff. u. passim. 34  Dort heißt es, GStA PK, I. HA, Rep. 76 Va, Sekt. 9, Tit. 4, Nr. 1, Bd. 13, Bl. 166v (3.1.1906): „Nachdem nunmehr meine Kraft erschöpft ist, habe ich das volle Vertrauen, dass mir durch meine Emeritierung die Möglichkeit gegeben werde, wenigstens mich wissenschaftlich während des Rests meines Lebens betätigen zu können“. 35  Vgl. den Dank an Harden in Hasbach, Die moderne Demokratie (wie Anm.  37), S. V. 36  Patz, Wilhelm Hasbach (wie Anm.  1), S. 221; vorher stellte bereits Hoffmann, Der Ausgang der Kameralistik (wie Anm. 1), S. 157, fest, Hasbach habe in seinen beiden letzten Büchern „die jahrhundertelange Linie der Behandlung der Politik durch den Kameralisten und Wirtschaftswissenschaftler weiter geführt“. 32  Das

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Zwei Schriften erschienen in dieser Zeit, die als Kern des wissenschaftlichen Spätwerks von Wilhelm Hasbach anzusehen sind und die  – obwohl heute weitgehend vergessen  – zu ihrer Zeit starke Beachtung fanden: Zuerst seine umfangreichste Abhandlung, die 1912 erschienene, in zweiter unveränderter Auflage noch einmal 1921 publizierte Monographie „Die moderne Demokratie“37, – sodann, kurz nach Kriegsende, eine 1919 veröffentlichte, bereits früher im Druck erschienene Einzelstudien noch einmal aufbereitende und zusammenfassende Studie über „Die parlamentarische Kabinettsregierung“38. Beide Bücher trugen übrigens den Untertitel „Eine politische Beschreibung“, was – je nach Betonung – unterschiedlich gedeutet werden kann: zum einen als bloße, empirisches Material zusammenfassende, vermeintlich wissenschaftlich-sachliche, quasi „neutrale“ Darstellung einer bestimmten Regierungsform bzw. einer politischen Institution, zum anderen aber ebenfalls als „politische“ Einschätzung – in diesem Sinne also auch als eine explizite Beurteilung und Bewertung aus der Perspektive einer bestimmten politischen Posi­ tion oder Überzeugung heraus. Tatsächlich liefert Hasbach mit diesen beiden Monographien dreierlei: zuerst eine historisch genau informierte, empirisch unterfütterte, faktengesättigte, stets an den realen politischen Entwicklungen orientierte Darstellung, zweitens eine theoretisch anspruchsvolle Analyse des thematisierten Gegenstandes und drittens aber auch eine aus explizit politischer Perspektive vorgenommene Kritik, die den Standpunkt des Ver­ fassers weder im Detail noch im Ganzen zu verleugnen versucht, sondern ihn mit aller wünschenswerten Klarheit zum Ausdruck bringt. Denn Hasbach präsentiert sich seinen Lesern  – und gerade das macht seine Studien auch für die heutige Lektüre besonders interessant  – weder als Anhänger oder Verfechter der modernen Demokratie noch der von ihm näher beleuchteten parlamentarischen Kabinettsregierung. „Die moderne Demokratie“ aus dem Jahr 1912 ist thematisch und inhaltlich breiter angelegt als die zweite Monographie von 1919. Auf nicht weniger als 620 Druckseiten entfaltet das „Demokratie“-Buch ein im Ganzen auch heute noch durchaus beeindruckendes Panorama seines Gegenstandes, dessen besondere Aktualität um 1910 bereits nicht mehr 37  Wilhelm Hasbach, Die moderne Demokratie. Eine politische Beschreibung, 2. unveränd. Aufl. Jena 1921. 38  Wilhelm Hasbach, Die parlamentarische Kabinettsregierung. Eine politische Beschreibung, Stuttgart – Berlin 1919; dieses Werk ist nicht als Monographie angelegt, sondern enthält insgesamt vier kurz vorher (1916–1918) konzipierte und veröffentlichte Abhandlungen zum Thema, die hier noch einmal, wie der Autor selbst sagt, „ergänzt, erweitert und verbessert […] zu einem Buche vereinigt sind“ (ebenda, S. XI).



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zu leugnen war. Markus Llanque bezeichnete Hasbachs Demokratie-Studie als „die bis dahin umfassendste deutschsprachige Schrift zur Geschichte und zum Erscheinungsbild der Demokratie in seiner Gegenwart“, die zugleich „auf fundierten Quellen- und Literaturkenntnissen der demokratischen Länder“ fußte; hiermit sei der Autor dieses Buches „zugleich der vielleicht kenntnisreichste Demokratietheoretiker des Kaiserreichs“39 gewesen  – freilich, wie gleich hinzuzusetzen ist, ebenfalls der kenntnisreichste deutsche Demokratiekritiker seiner Zeit. II. Analyse und Kritik der modernen Demokratie Wer es unternimmt, diejenige politische Ordnung wissenschaftlich zu beschreiben und zu analysieren, in der er selbst lebt, geht, wenn er kritisch argumentiert, stets ein gewisses Risiko ein. Im Allgemeinen bietet es sich an – sei es aus innerer Überzeugung, sei es aus politischer Klugheit – die bestehende Verfassungsordnung im Wesentlichen affirmativ zu beschreiben, um eventuell eintretende Sanktionen zu vermeiden. Diese können, etwa in autoritären oder totalitären Regimen, recht massiv ausfallen, aber sie sind natürlich auch in freiheitlichen Systemen möglich, etwa in der Form bestimmter Arten politischer Ächtung oder auch subtiler sozialer und gesellschaftlicher Ausgrenzungsmechanismen, die bereits von Tocqueville in seinem klassischen Amerika-Werk ebenso anschaulich wie treffend beschrieben worden sind40. Nur selten kommt es vor, dass im Großen und Ganzen systemkonform argumentierende und die bestehende Ordnung aus Überzeugung verteidigende Gelehrte gegen Ende ihres Lebens plötzlich, in der Folge eines gravierenden politischen Umbruchs, in die Lage geraten, nun auf einmal als Kritiker einer soeben neu etablierten politischen Ordnung auftreten zu müssen. Dieses merkwürdige Schicksal war in der Tat Wilhelm Hasbach vorbehalten, auch wenn er diesen seit dem November 1918 entstandenen Zwiespalt nicht mehr sehr lange aushalten musste, da er bereits im April 1920 starb. Publizistisch verstummte der alte Mann nach der Publikation seines 1919 veröffentlichten Werks über die parlamentarische Kabinettsregierung (die später immerhin vom prinzipiell ganz anders denkenden Max Weber als „glänzende politische Streitschrift“41 39  Markus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg (Politische Ideen, 11), Berlin 2000, S. 96; vgl. auch S. 125 f., 130 ff. u. a. 40  Vgl. Alexis de Tocqueville, Oeuvres complètes, hrsg. v. J.-P. Mayer, Bd. I: De la Démocratie en Amerique, Paris 1961, S. 257 ff., bes. 265 ff. 41  Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hrsg. v. Johannes Winckelmann, Köln/Berlin 1964, S. 219; auch in der

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gewürdigt worden ist). Der Verfasser verhehle nicht, heißt es tatsächlich im  – auf den 17.  Februar 1919 datierten  – Vorwort zu Hasbachs letztem Buch, „daß er den Sturz des konstitutionellen Staates, den Untergang der Monarchien und die Aufrichtung der Demokratie als ein großes Unglück für Deutschland betrachtet“42. Das zentrale Anliegen von Hasbachs in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Werk über die „moderne Demokratie“ sollte nach eigener Aussage darin bestehen, durch eine gewollt „ausführliche, breite Darstellung […] den schimmernden Nebel [zu] zerstreuen, der in Deutschland die Gestalt der Demokratie umwallt“43, und als diejenigen zeitgenössischen Kollegen, gegen deren Thesen er kritisch argumentierte, nannte er etwas später neben anderen vor allem Hans Delbrück und Hugo Preuß. Andere Autoren wiederum, auf die sich Hasbach ausdrücklich berief, waren neben den politikphilosophischen Klassikern  – unter denen er vor allen anderen Aristoteles und Montesquieu schätzte – die zeitgenössischen Analytiker der modernen, besonders der nordamerikanischen Massendemokratie; in diesem Zusammenhang werden, neben Alexis de Tocqueville44, u.  a. James Bryce45 und Woodrow Wilson46 sowie besonders Moisei Ostrogorski genannt, dessen 1902 erschienenes, nicht zuletzt in Deutschland stark beachtetes zweibändiges Werk über die Organisation und die politische Praxis der modernen Parteien in den angelsächsischen Staaten47 von Hasbach besonders intensiv rezipiert worden ist. Eine der zentralen Thesen, auf denen Hasbach seine Argumentation aufbaut, ist die des fundamentalen Gegensatzes von Liberalismus und Demokratie: „Der Liberalismus ist das natürliche Prinzip, weil die na„Protestantischen Ethik“ werden Hasbachs Forschungen von Weber übrigens sehr lobend erwähnt, siehe derselbe, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I, Tübingen 1920, S. 45, Anm. 1. 42  Hasbach, Die parlamentarische Kabinettsregierung (wie Anm. 38), S. XV; vgl. zu diesem Buch auch die knappen Bemerkungen bei Wolfgang Durner, Antiparlamentarismus in Deutschland, Würzburg 1997, S. 69 f., sowie Llanque, Demokratisches Denken (wie Anm. 39), S. 130 ff. Ebenfalls noch immer erhellend und auch rezeptionsgeschichtlich aufschlussreich ist die umfassende, sehr kritisch ausfallende Besprechung von Hasbachs Buch durch Richard Thoma in: Archiv des öffentlichen Rechts 40 (1921), S. 228–242. 43  Hasbach, Die moderne Demokratie (wie Anm. 37), S. III. 44  Siehe oben, Anm. 40. 45  James Bryce, The American Commonwealth, Bde. I–III, London 1888. 46  Woodrow Wilson, Constitutional Government in the United States, New York 1908. 47  M[oisei] Ostrogorski, Democracy and the Organization of political Parties, Bde. I–II, London 1902.



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türliche Ungleichheit die Grundlage seiner Forderungen bildet, der Demokratismus ist das künstliche Prinzip, weil er die natürliche Ungleichheit durch die ethische Forderung der Gleichheit aufheben möchte“48. In gewissermaßen idealtypischer Form erscheint dieser Gegensatz, blickt man in die Geschichte des älteren politischen Denkens, in der Konfrontation zwischen Montesquieu und Rousseau, die Hasbach bereits in der Einleitung knapp skizziert49; zu seinen Gewährsleuten aus dem 19. Jahrhundert zählen ausdrücklich Wilhelm von Humboldt und John Stuart Mill50. Im ersten Teil seiner Schrift untersucht Hasbach in jeweils eher knappen, aber im Allgemeinen sehr fundierten historischen Analysen die geschichtliche Entstehung der drei von ihm vornehmlich betrachteten demokratischen Republiken: der Schweiz, der Vereinigten Staaten von Nordamerika und der Republik Frankreich51. Das eigentliche Ziel seines historischen Exkurses wird rasch deutlich: Es ist dem Verfasser in erster Linie darum zu tun, die These zu widerlegen, es gebe so etwas wie eine historisch-politische Teleologie im Sinne einer gewissermaßen „geschichtlich notwendigen“, in diesem Sinne also unvermeidlichen Entwicklung hin zur modernen Demokratie. Alle der bekannten Demokratien der Gegenwart, darunter die drei genannten, seien, so Hasbachs erstes Fazit, einzig und allein aus dem Kontext einer jeweils ähnlichen konkreten historischen Lage heraus entstanden, nämlich als Folge bestimmter schwerer politischer Fehler einzelner regierender Monarchen. Insofern seien, wie Hasbach mit einer eigenartigen historischen Volte anmerkt, der spätmittelalterliche deutsche Kaiser Friedrich III., sodann die britischen Stuartkönige Jakob I. und Karl I., dazu König Georg III., schließlich auch die französischen Könige Ludwig XV. und Ludwig XVI. als „die eigentlichen Begründer der modernen Demokratie“52 zu bezeichnen. Bei der näheren Analyse der einzelnen Formen demokratischer Staatswesen hebt Hasbach die noch in einzelnen Schweizer Kantonen praktizierte „unmittelbare Demokratie“ besonders hervor53, die er – trotz kleinerer kritischer Anmerkungen  – insgesamt günstiger beurteilt als die 48  Hasbach, Die moderne Demokratie (wie Anm. 37), S. 17; vgl. auch S. 584: „Die tiefsten Ideen des Demokratismus sind Würde des Menschen, Gleichheit der Individuen, Unabhängigkeit, diejenigen des Liberalismus Wert der Persönlichkeit, Segen der Ungleichheit, Freiheit“. 49  Vgl. ebd., S. 15–31. 50  Vgl. ebd., S. 236. 51  Vgl. ebd., S. 33–121. 52  Ebd. S. 131. 53  Vgl. ebd., S. 136–141.

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moderne repräsentative Demokratie. Die letztere versteht Hasbach, sowohl in der Schweiz als auch in den USA, eigentlich als „pseudorepräsentative“ Demokratie, indem er anführt, es gebe beiderseits des Ozeans, jedenfalls auf der Ebene der Kantone und der amerikanischen Bundestaaten, neben repräsentativen gleichzeitig auch noch direktdemokratische Elemente, also die Möglichkeit des Referendums und teilweise sogar der Volksgesetzgebung54. Unter der im eigentlichen Sinne dieses Begriffs „parlamentarischen Demokratie“ versteht Hasbach letztendlich die politische Identität von Exekutive und Legislative; als eine solche begreift er die parlamentarische Kabinettsregierung  – ja, er geht sogar so weit, zu behaupten, die parlamentarische Demokratie müsse „alle der Teilung der Gewalten dienenden Einrichtungen zu brechen suchen, um die unumschränkte Herrschaft des Abgeordnetenhauses herzustellen. Einrichtungen, welche ihr widerstreben, sind die derjenigen eines konstitutionellen Fürsten nachgebildete einflußreiche Stellung des Präsidenten und die derjenigen des Abgeordnetenhauses gleichberechtigte Macht des Senates“55. Hier wird deutlich, wie stark Hasbach in dieser Hinsicht unter dem Einfluss Montesquieus steht, und dass für ihn ein wahrhaft freiheitliches und in eben diesem Sinne „liberales“ Gemeinwesen nur als eine politische Ordnung mit strikter Gewaltenteilung bestehen kann, die er vor allem in der konstitutionellen Monarchie verwirklicht sieht56, deren Verfassungsordnung aus den genannten Gründen einen – wie auch immer gearteten – radikaldemokratischen „Parlamentsabsolutismus“ ausschließt. Die eben zitierten Bemerkungen über einen starken Präsidenten und einen Senat, hier aufgefasst als gewissermaßen zwei konstitutionelle Wi54  Vgl.

ebd., S. 143 ff. S. 167; vgl. auch S. 170: „In allen Demokratien besteht die Tendenz, die Gewaltenteilung durch die Gewaltenvereinigung zu ersetzen, mit anderen Worten die ausführende und die richterliche einer anderen Gewalt zu unterwerfen. In der unmittelbaren und pseudo-repräsentativen Demokratie ist es das Volk, welches die Selbständigkeit aller, in der repräsentativen und parlamentarischen die gesetzgebende Gewalt, welche die Selbständigkeit der anderen bricht“; Hasbach beruft sich hier ausdrücklich auf Tocqueville und François Guizot (De la Démocratie en France, 1849). 56  Siehe dazu auch Wilhelm Hasbach, Gewaltentrennung, Gewaltenteilung und gemischte Staatsform, in: Vierteljahrschrift für Sozial-und Wirtschaftsgeschichte 13 (1916), S. 562–607, sowie bereits die frühere Abhandlung: derselbe, Ist Montesquieu ein Anhänger der Lehre von der Volkssouveränität?, in: Zeitschrift für Socialwissenschaft 2 (1911), S. 13–24, neuerdings wieder abgedruckt in: Edgar Mass/Paul-Ludwig Weinacht (Hrsg.), Montesquieu-Traditionen in Deutschland. Beiträge zur Erforschung eines Klassikers, Berlin 2005, S. 31–40; zu Hasbachs Montesquieu-Deutung im Kontext seiner Epoche siehe auch die knappen Bemerkungen in der Einleitung der Herausgeber des genannten Bandes, ebd., S. 9 f. 55  Ebd.,



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derlager eines allzu einflussreichen Abgeordnetenhauses, scheinen nur auf den ersten Blick eine besondere Wertschätzung der US-amerikanischen Verfassung durch Hasbach zu suggerieren – bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass dem keineswegs so ist. Lediglich ein einziges Mal findet sich die eher en passant formulierte und ebenfalls nicht explizit (wenn in diesem Fall sicher indirekt) auf die Vereinigten Staaten bezogene Feststellung, gelegentlich könne auch in einer parlamentarischen Demokratie „der Mehrheitswille durch andere Mächte, z. B. einen Verfassungsgerichtshof, gebrochen werden“57. Insgesamt jedoch zeichnet er gerade am Beispiel der USA ein deutlich anderes, wenigstens partiell ausgesprochen trübes, in der Konsequenz eindeutig negatives Bild bestimmter Erscheinungsformen der modernen Massendemokratie58. Das zeigt sich zuerst in Hasbachs außerordentlich kritischer Einschätzung der in den parlamentarisch-demokratischen Republiken der Gegenwart anzutreffenden modernen politischen Parteien, die er, ausgehend vor allem von den damals bereits einschlägigen Untersuchungen und ausführlichen Analysen Ostrogorskis59, in erster Linie als überaus effektiv organisierte, straff geführte und sehr geschickt gesteuerte politische „Wahlmaschinen“ beschreibt, deren Hauptzweck darin bestehe, sich in den Dienst bestimmter, zumeist nicht offen in Erscheinung tretender Interessen zu stellen und in einem verwaltungstechnisch wenig entwickelten Land wie den Vereinigten Staaten, in dem keine Melde- oder Ausweispflicht existiert, die Mobilisierung der Wählerschaft möglichst umfassend und erfolgreich zu organisieren60. Dieses System sei, so Hasbachs kritische Deutung, von Anfang an ganz bewusst auf Täuschung und Lüge aufgebaut und funktioniere vor allem durch den Missbrauch der Ideale der kleinen Leute seitens der gerissenen Agenten eines machtbewussten Großkapitals. Genau dies liege, so Hasbach weiter, gewissermaßen in der Natur der Sache, aus der sich in diesem Fall ergebe, „daß das Leben der Demokratien in dem Ringen der Parteien um die Herrschaft besteht, daß jede Partei mit allen Mitteln in den zahllosen Wahlkämpfen sich durchzusetzen suchen muß, was sehr viel Geld erfordert, daß die großen Unternehmungen zur Verwertung der gewaltigen in ihnen angelegten Kapitalien auf 57  Hasbach, 58  Hierzu

Die moderne Demokratie (wie Anm. 37), S. 334. vgl. vor allem ebd., S. 163 ff., 173 ff., 231 ff., 477 ff., 545 ff., 564 ff. u.

passim. 59  Siehe vor allem Ostrogorski, Democracy (wie Anm. 47), Bd. I, S. 329–529, 580–627 (zu Großbritannien); Bd. II, S. 149–440, 539–604 (zu den USA); bes. aufschlussreich auch die „conclusion“ des Werkes, ebd., S. 607–741. 60  Vgl. etwa Hasbach, Die moderne Demokratie (wie Anm. 37), S. 174.f., 447 ff., 471 ff. u. a.

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Schutz des inneren Marktes, ruhigen Fortgang ihrer Betriebe, lückenlose Aufträge bedacht sein müssen. So werden sich Partei und Großkapital gleichsam in die Arme getrieben“61, um in beiderseitigem Interesse ihre diskreten „politischen Handelsgeschäfte“ zu betreiben62. Und dies wiederum bedeute: „Je vollkommener die Parteiorganisation ist, um so abstoßender sind ihre Wirkungen. Die Partei gibt sich als Vertreterin des Volkes aus, und ist ein Werkzeug der Führer, welche häufig Geschäfts­ führer des großen Kapitals sind“; die nordamerikanische Demokratie manifestiere sich insgesamt in der Form eines abstoßend-grotesken Schauspiels: „[…] führende Kapitalisten, geführte Parteiführer, in ihren Zeitungen die öffentliche Meinung machend, welche dann die Massen der Armen und Ungebildeten als den Volkswillen an der Wahlurne ver­ künden“63. Die Wähler seien am Ende „der Tyrannei einer unverantwortlichen Klike [sic] von gewissenlosen und beutelüsternen Berufspolitikern“ ausgeliefert, deren „Beute […] in Staatsämtern und anderen Vorteilen“ bestehe, „die sie zur Belohnung für ihre Dienste von der Partei empfängt“64. Hieraus erwachse nun sogleich ein weiteres, in einer demokratischen Republik gewissermaßen institutionalisiertes Defizit, das in einer partiell unfähigen, dazu häufig noch korrupten Beamtenschaft bestehe65. Im Gegensatz zum deutschen Berufsbeamtentum – das von Hasbach hier allerdings kritiklos und ohne Frage idealisierend aufgefasst wird66  – sei die Stellung der politischen Beamten in demokratischen Staaten (hier allerdings wird Frankreich ausdrücklich ausgenommen!) als wesentlich prekärer anzusehen, nämlich gekennzeichnet „durch Volkswahl, kurze Amtsdauer, fehlenden Befähigungsnachweis, geringe Besoldung und mangelndes Ruhegehalt“67. Genau hierin sieht der Autor die Hauptursache für ein weiteres Grundübel demokratischer Gemeinwesen, nämlich nicht nur Korruption und Bestechlichkeit, sondern auch die Entstehung 61  Ebd.,

S.  475 f. ebd., S. 476: „Vorgänge der geschilderten Art werden […] in Demokratien mit einem dichten Schleier überzogen, wenigstens so lange, als nicht außerhalb stehende Kreise ihn zerreißen. In der konstitutionellen Monarchie steht das Parlament der Regierung als Gegner, wenn auch nicht immer als Feind, gegenüber, so daß es alle ihre Handlungen genau prüft; in der repräsentativen und parlamentarischen Demokratie stehen sich Parteien gegenüber, welche nacheinander die Regierung zu übernehmen hoffen und sich für diesen Fall gegenseitig Schonung angedeihen lassen“ (ebd.). 63  Die Zitate: ebd., S. 476 f. 64  Ebd., S. 478. 65  Vgl. ebd., S. 183–219. 66  Vgl. ebd., S. 219. 67  Ebd., S. 214. 62  Vgl.



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eines bestimmten Typus, nämlich des Berufspolitikers, der nichts anderes sei als ein „Mietling, dem es um den Lohn, nicht um die Sache zu tun ist“68, der den Staat in einer die Freiheit des Volkes gefährdenden Weise69 vorrangig als Beute betrachtet und dessen berufliches Hauptziel nicht etwa in der Durchsetzung des gemeinen Wohls, sondern zuerst und vor allem in der persönlichen materiellen Bereicherung besteht. Hierin erkennt Hasbach die in seiner Sicht unabdingbar notwendige Folge eines politischen Systems, das „Ämter und Stellen“ letztendlich nur als „parlamentarische Tauschwerte“70 auffassen könne. Bemerkenswerter als diese partiell zwar treffenden, teilweise jedoch stark einseitigen und wenig differenzierenden Ausführungen bleiben Hasbachs Erörterungen über das Problem der sozialen Demokratie,  – denn er, der wissenschaftlich im Umfeld Wagners, Schmollers und des „Vereins für Socialpolitik“ groß geworden war71, zeigt sich als entschiedener Verfechter einer intensiven sozialen Betätigung des Staates: Wenn es in bestimmten Demokratien, so etwa in den USA, keine aktive staatliche Sozialpolitik gebe, dann sei hierfür, so Hasbach, zwar nicht die Demokratie als solche verantwortlich, wohl aber „der Widerspruch zwischen der Demokratie und ihrer gesellschaftlichen Grundlage, welcher dem Kapitale ermöglicht, Parlament, Gerichtshöfe und Beamtentum zu beherrschen“. Aus diesem Grund könnten „sozialpolitische Gesetze“ in den USA „entweder nicht erlassen werden, oder, wenn erlassen, werden sie von den Gerichtshöfen als der Verfassung widersprechend für nichtig erklärt“72. Die zentrale Ursache hierfür liege darin – wie am Gegensatz zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten ablesbar sei –, dass in Deutschland ein starker Staat mit kraftvollen Institutionen, dazu noch mit einem Monarchen, der als solcher ohnehin, wie Hasbach sagt, „das stärkste Interesse daran“ habe, „das soziale Gleichgewicht zu erhalten“, aktiv für soziale Reformen sorge. Insbesondere könne ein derart organisierter Staat – Hasbach meint die konstitutionelle Monarchie – im gegebenen Fall „bestimmte Klassen zwingen, etwas zu tun, was sowohl in ­ihrem eigenen, wie im Interesse des Staates liegt; so die Versicherungs68  Ebd.,

S. 564. ebd., S. 274: „Die Vereinigten Staaten scheinen den anderen Demokratien auf dem Gebiete des Schutzes gegen willkürliche Verhaftung und Durchsuchung voraus zu sein, aber andererseits hat sich dort eine ‚Polizeigewalt‘ herausgebildet, welche die Freiheit bedenklich einschränkt“. 70  Ebd., S. 580. 71  Hierzu bes. Grimmer-Solem, The Rise of Historical Economics (wie Anm. 2), S. 183 ff. u. passim. 72  Hasbach, Die moderne Demokratie (wie Anm. 37), S. 335. 69  Vgl.

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pflicht für diejenigen Schichten der Bevölkerung, welche, hauptsächlich der Verarmung verfallend, die Versorgungspflicht der Gesamtheit bean­ spruchen“73. Was das „soziale Königtum“ leisten könne, sei unter den Bedingungen einer demokratisch-republikanischen Staatsform nicht zu bewerkstelligen74. Auf der Grundlage dieser Überlegungen hat Hasbach auch zwischen einer „gesunden sozialen Demokratie“ und einer „ungesunden“ unterschieden; während sich die erstere, orientiert an den Grundwerten einer, wie er bemerkt, „durch Privateigentum und Freiheit, Ehe und Familie charakterisierten Gesellschaftsordnung“75 um wahrhafte soziale Gerechtigkeit in den Grenzen des Möglichen bemühe, verfolge die andere die in seiner Sicht „ungesunde“ Idee einer radikalen Gleichmacherei, die am Ende nicht nur die Kulturwerte der europäischen Zivilisation, sondern letztlich auch das Institutionengefüge eines freiheitssichernden und im besten Sinne liberalen Gemeinwesens zu zerstören imstande sei. Insofern stellt eine konstitutionelle Monarchie, wie Hasbach sie auffasst, ein in nach Form und Inhalt genuin „gesundes“, nämlich Maß und Mitte verkörperndes Gemeinwesen dar, zwischen den Extremen eines ausufernden, die Politik nur als Mittel zum Zweck der Profitsteigerung gebrauchenden brutalen Kapitalismus amerikanischer Prägung einerseits, und der Bedrohung durch einen gleichmacherischen, alle Traditionen, Werte und eine gewachsene, funktionsfähige Eigentumsordnung im 73  Die Zitate: ebd., S. 334, 340. Die letzte Bemerkung bezieht sich auf eines der grundlegenden Strukturelemente der in den 1880er Jahren geschaffenen Bismarckschen Sozialversicherung, die dreifach finanziert war: durch anteilige Beitragszahlungen der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und des Staates.  – Schon im Schlusskapitel seiner Studie über die Geschichte der englischen Landarbeiter von 1894 hatte Hasbach übrigens den Einfluss des Staates auf die Gestaltung des sozialen Lebens, vor allem auf die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiter, nachdrücklich verteidigt, gerade weil (wie er mit einem Seitenblick keineswegs nur auf die britischen Verhältnisse anmerkt) zu befürchten sei, „daß die überwiegende Mehrzahl des Adels auch die Anforderungen nicht begreift, welche die Arbeiterfrage an sie stellt. Und es ist so wenig, was er leisten soll: nur guter Wille wird verlangt und das ernste Bestreben, der langsamen Entwicklung zu neuen socialen und wirtschaftlichen Bildungen keine künstlichen Hindernisse zu bereiten“; Hasbach, Die englischen Landarbeiter (wie Anm. 23), S. 388. 74  Vgl. Hasbach, Die moderne Demokratie (wie Anm. 37), S. 334: „Das soziale Königtum Lorenz von Steins ist eine Ergänzung der Lehre Montesquieus vom politischen Königtume; jenes soll ebenfalls eine bedrohliche Gewalt, die Gesellschaft und Staat zur Unfreiheit verdammende Macht bestimmter Klassen, brechen. Die Präsidenten der französischen und der nordamerikanischen Republik sind vor allem Parteihäupter, und selbst wenn sie ihr Amt als ein landesväterliches auffassen sollten, fehlt ihnen die zur Errichtung hoher Ziele nötige Macht“. 75  Ebd., S.  342 f.



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Kern zerstörenden, nach Hasbach also „ungesunden“, Sozialismus andererseits. Und noch ein weiterer Aspekt der Hasbachschen Demokratieanalyse verdient in diesem Zusammenhang festgehalten zu werden: Seine Warnung vor demjenigen, was er als die „irrationelle[n] Kräfte“ bezeichnet, die, so seine Formulierung, „in der Demokratie den Gang der Staatsgeschäfte stärker [bestimmen] als in der konstitutionellen Monarchie, wo der von den besten Räten unterrichtete Fürst und eine erste Kammer ein Gegengewicht gegen das Unvernünftige bilden können“76. Damit meint Hasbach  – hierin ein späteres Theorem Oswald Spenglers vorwegnehmend – die von ihm an anderer Stelle gelegentlich thematisierte Gefahr, dass „aus demokratischem Boden […] ein cäsaristisches Wesen“77 emporwachsen könne, zumal es in keiner, auch in keiner „geordneten Gesellschaft“ an Männern fehle, „die sich zu Dantons und zu Marats entwickeln könnten“78. An dieser Stelle wird wohl unmissverständlich klar, worin der eigentliche Grund für Hasbachs so entschiedenes Plädoyer für die traditionelle konstitutionelle Monarchie deutschen Typs zu suchen ist, die er freilich nur ex negativo, also im konfrontativen Vergleich mit der modernen Demokratie und deshalb hauptsächlich indirekt charakterisiert hat. Er erkennt in der Monarchie eine stabile und historisch bewährte, weil auf jahrhundertealte Erfahrungen und Traditionen gegründete politische und soziale Ordnung, die einerseits für Freiheit und Gerechtigkeit, auch für ein nicht geringes Maß sozialen Ausgleichs zwischen Reich und Arm zu sorgen vermag, ohne das bestehende Ordnungsgefüge als solches bereits in Frage zu stellen, – die aber andererseits eine überzeugende Alternative und zugleich ein Gegengewicht bildet gegen die moderne par­ lamentarisch-demokratische Regierungsform, die Hasbach als instabil, gewissermaßen fluide, durch die Möglichkeit von Fehlentwicklungen gefährdet und von politischen Demagogen bedroht ansieht. Immerhin hat er (hier vielleicht auch vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen als sozialer Aufsteiger) wenigstens eine politische Achillesferse der bestehenden monarchischen Ordnung am Schluss seines Buches recht deutlich, wenn auch nur knapp angesprochen: die Schwierigkeiten des sozialen 76  Ebd.,

S. 579. S. 176. 78  Ebd., S. 601; zur Voraussage Spenglers, der für das 20./21. Jahrhundert eine die liberalen und demokratischen Staatsbildungen in der abendländischen Kultur beendende Epoche des „Cäsarismus“ anbrechen sah, siehe Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie des Abendlandes, Bd. II: Welthistorische Perspektiven, München 1922, S. 521 f., 541 ff. u. a. 77  Ebd.,

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III. Das 20. Jahrhundert: Zwischen Totalitarismus und Demokratie

Aufstiegs in einer Klassengesellschaft79! Insofern wird man ihn auch nicht unbesehen, wie gelegentlich geschehen, als Vertreter einer „monar­ chistische[n] Verklärung der politischen Ordnung des Kaiser­ reichs“80, dessen Schwächen ihm durchaus bewusst waren, bezeichnen dürfen. Dass Wilhelm Hasbach als erstaunlich gut informierter Kenner der modernen Demokratie vor 1914 seinen Finger in manche Wunde dieser Staatsform gelegt hat und dass nicht wenige seiner kritischen Bemerkungen seinerzeit mehr als berechtigt waren, dürfte ebenso keinem Zweifel unterliegen wie die Tatsache, dass seine im Ganzen positive (wenn auch im Detail nicht unkritische) Charakteristik und Beurteilung der von ihm als genuin zukunftsfähig angesehenen, jedoch bereits wenige Jahre später historisch und politisch gescheiterten konstitutionellen Monarchie nur als Fehleinschätzung bezeichnet werden kann. Eines seiner Hauptargumente: eine stabile konstitutionelle Monarchie könne den Aufstieg „cäsaristischer“ Gestalten, radikaler Demagogen und gefähr­ licher Volkstribune zur politischen Macht im modernen Staat hemmen oder verhindern, wurde ebenfalls nur wenige Jahre später bereits durch das Beispiel von Mussolinis Aufstieg zur Macht widerlegt. Insofern bleibt am Ende ein insgesamt zwiespältiges Bild: In der Kraft der vorausschauenden Abschätzung politischer Veränderungs- und Entwicklungsprozesse wie auch in der Gesamtanalyse der modernen Demokratie war Wilhelm Hasbach anderen zeitgenössischen Denkern wie etwa Hugo Preuß, Max Weber oder auch Carl Schmitt sicher unterlegen. Auf der anderen Seite waren es jedoch die genuin demokratieskeptische Grundhaltung, aber auch eine stark empirisch geprägte wissenschaftliche Vorgehensweise, die Hasbach einen besonders präzisen Blick auf be79  Hasbach, Die moderne Demokratie (wie Anm. 37), S. 603: „Wie schwer wird es den Armen und Niedriggeborenen, emporzusteigen!“; denn es sei nicht zu übersehen, „daß die natürlichen Wälle in Monarchien künstlich erhöht werden durch die Forderung der Abstammung von bestimmten Familien, der Zugehörigkeit zu bestimmten Vereinen, durch die Vorschrift des Besuches bestimmter, von den höheren und mittleren Klassen besuchten Schulen, durch die Anordnung übermäßig langer Vorbereitungszeiten, um ärmere Bewerber fernzuhalten, durch erleichterte Prüfungsordnungen, damit die bestimmten Klassenangehörigen auch bei noch so mäßiger Begabung in die höchsten Stellungen gelangen können. Solche Erschwerungen oder Erleichterungen liegen nicht im Interesse des Volkes auch nicht im Interesse des Monarchen, wohl aber derjenigen, auf die sich der Monarch stützen muß, da ein anderer Teil  des Volkes einen törichten Monarchenhaß zur Schau trägt. Die Opfer dieser Politik sind an sich Anhänger weder der politischen noch der sozialen Demokratie, sondern Bekenner des liberalen Prinzips, daß es jedem erlaubt sein müsse, so hoch zu steigen, wie ihn seine Kräfte tragen. Aber sie werden häufig Demokraten“. 80  Patz, Wilhelm Hasbach (wie Anm. 1), S. 228.



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stimmte Defizite der modernen Demokratien sowie der parlamentarisch regierten Staaten seiner Zeit ermöglichten und damit zur Grundlage einer  – wenn auch gelegentlich über das Ziel hinausschießenden  – kritischen Schärfe einer Analyse werden konnten, die man bei vielen seiner dem parlamentarisch-demokratischen System aufgeschlossener gegenüberstehenden Zeitgenossen vergeblich sucht.

Demokratiekritik und antidemokratisches Denken in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg I. „Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik“  – unter diesem Titel erschien im Jahr 1962 ein bald sehr einflussreiches und viel­ zitiertes Buch, die Habilitationsschrift des jungen Politologen Kurt Sontheimer, das in seiner wohl etwas plakativen Gegenüberstellung von demokratischem und antidemokratischem politischen Denken1 in ge­ wisser Weise typisch für die frühe, soeben neubegründete Politikwissenschaft in Westdeutschland war, die sich zuerst und vor allem als „Demokratiewissenschaft“ verstand und den demokratischen Neubeginn in der Bundesrepublik Deutschland aktiv zu unterstützen und zu begleiten beabsichtigte2. Im politischen und ebenfalls im ideengeschichtlichen Kontext der zweiten Nachkriegszeit waren derartige Deutungen verständlich und vielleicht sogar notwendig, um einige immer noch virulente Geister der jüngsten Vergangenheit mit den Mitteln rationaler, wissenschaftlichkritischer Argumentation zu bannen und in Schach zu halten. Aus heutiger Sicht wird man hingegen einräumen müssen, dass derart grobschlächtige, weil allzu stark vereinfachende Dichotomien dem Phänomen, das sie beschreiben wollen, nicht mehr gerecht werden, weil sie die notwendigen Differenzierungen vermissen lassen, um ein so diffiziles Phänomen, wie es die unterschiedlichen Formen von Demokratiekritik nun einmal sind, angemessen und sachgerecht erfassen zu können. Insofern wird man zuerst einmal die Kritik der Demokratie von antidemokratischem Denken sorgfältig unterscheiden müssen, denn beides ist in keiner Weise miteinander identisch, sondern weist signifikante Unterschiede auf. Demokratiekritik auch kann von denjenigen geübt werden,

1  Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962 (gekürzte und ergänzte Studienausgabe München 1968). 2  Diesen Aspekt beleuchten, jeweils aus entgegengesetzter Perspektive, zum einen Hans-Joachim Arndt, Die Besiegten von 1945. Versuch einer Politologie für Deutsche samt Würdigung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1978, bes. S. 250 ff., 265 ff., und zum anderen Wilhelm Bleek, Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland, München 2001, S. 265 ff.



Demokratiekritik vor und nach dem Ersten Weltkrieg333

die der Demokratie als einer gegebenen Staatsform, vielleicht eines Nachbarlandes, keineswegs feindlich gegenüberstehen, und Demokratiekritik wird gelegentlich sogar von denjenigen formuliert werden, die auf dem Boden der Demokratie stehen. Im Allgemeinen kann man  – vor allem, was die Ära vor 1914 anbetrifft – von einer externen und einer internen Demokratiekritik sprechen, die jedoch beide keineswegs bereits an sich mit genuin „antidemokratischem“ Denken im Sinne einer Fundamentalkritik an dieser politischen Form identisch sind. Eine solche externe Demokratiekritik findet man in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg vor allem bei denen, die sich in ihrer Ablehnung einer demokratischen Staatsform für das Deutsche Reich auf das sogenannte Seeley-Axiom berufen haben. Der bedeutende englische Historiker Sir John Robert Seeley, Geschichtsschreiber des Britischen Empire und gleichzeitig ein hervorragender Kenner der deutschen, besonders der preußischen Geschichte, hatte in seiner 1896 erstmals erschienenen „In­ troduction to Political Science“ die These aufgestellt, das Maß der politischen Freiheit innerhalb eines Staates verhalte sich umgekehrt propor­ tional zu dem Druck, der auf seinen Grenzen laste3. Als Beispiele hierfür dienten ihm einerseits das durch seine geographische Insellage geschützte Großbritannien, das seit der Glorreichen Revolution auf eine große stehende Armee im Lande – und damit eben auch auf ein potentiell zur Repression freiheitlicher Bewegungen im eigenen Land einsetzbares In­ strument  – hatte verzichten können. Und andererseits hatte Seeley natürlich Preußen im Blick, das wegen seiner ungeschützten Grenzen und des auf sie ausgeübten Drucks potentiell feindlicher Nachbarmächte stets auf eine starke Armee angewiesen gewesen war und aus diesem Grund auch keine wirklich freiheitliche Regierungsform hatte entwickeln können4.

3  John Robert Seeley, Introduction to Political Science. Two Series of Lectures, London 1911 [zuerst 1896], S. 130 f.: „The community is under a pressure which calls for common action, and common action calls for government. It is reasonable therefore to conjecture that the degree of government will be directly proportional, and that means that the degree of liberty will be inversely proportional, to the degree of pressure. In other words, given a community which lives at large, in easy conditions and furnished with abundant room, you may expect to find that community enjoying a large share of liberty; given a community which has to maintain itself against great difficulties and in the midst of great dangers, you may expect to find in it little liberty and a great deal of government“. 4  Zum Kontext von Seeleys Denken siehe auch Adolf Rein, Sir John Robert Seeley. Eine Studie über den Historiker, Langensalza 1912, S. 53 ff.; Hans-Christof Kraus, Geschichtsschreibung als Schule der Politik – Zum Werk von John Robert Seeley, in: Internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für

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III. Das 20. Jahrhundert: Zwischen Totalitarismus und Demokratie

Führende deutsche Gelehrte und Wissenschaftler haben während des Kaiserreichs die von ihnen nachdrücklich postulierte Notwendigkeit einer konstitutionellen Monarchie mit eingeschränktem Parlamentarismus als Staatsform für Deutschland gerade unter Aufnahme dieses von Seeley formulierten Axioms begründet. Zu ihnen gehörten etwa Gustav Schmoller und Otto Hintze5, die in diesem Fall ihre externe Kritik der Demokratie nicht im engeren Sinne staatstheoretisch, sondern lagebedingt und erfahrungsgeschichtlich begründeten und damit den potentiell universalistischen Anspruch der demokratischen Regierungsform verneinten. Diese externe Kritik bedeutete jedoch keineswegs eine Fundamentalkritik der parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts als solcher, deren Eignung für die angelsächsischen Länder auch von den deutschen Vertretern des Seeley-Axioms nicht in Frage gestellt wurde. Ganz anders wiederum argumentierten Autoren, denen es um die ­ e­rausarbeitung einer internen Demokratiekritik ging, die also bemüht H waren, die Schwächen und Defizite der politischen Praxis real bestehender Demokratien in den Blick zu bekommen. Sie konnten dabei bereits an eine seit längerem bestehende Denktradition anknüpfen, die vor allem von Alexis de Tocqueville in seinem klassischen, in den frühen 1830er Jahren entstandenen Werk „Über die Demokratie in Amerika“ begründet und argumentativ ausgearbeitet worden war. Das betraf zum einen die mannigfachen Gefahren, die durch eine mögliche Tyrannei der Mehrheit über die Minderheit in einer ausschließlich auf dem Gleichheits- und Mehrheitsprinzip bestehenden politischen Ordnung entstehen konnten, zum anderen aber auch die von Tocqueville bereits sehr hellsichtig und präzise beschriebenen subtilen sozialen Ausgrenzungsmechanismen, mit denen in der frühen US-amerikanischen Demokratie diejenigen, die der Mehrheit nicht folgen wollten, zur Raison gebracht wurden6. Winfried Baumgart zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Wolfgang Elz/Sönke Neitzel, Paderborn/München/Wien/Zürich 2003, S. 65–81, hier S. 77 f. 5  Otto Hintze, Gesammelte Abhandlun­ gen, Bd. 1: Staat und Verfassung, Göttingen 1970, S. 366, 411, 433, 506; derselbe, Deutschland und das Weltstaatensystem, in: Otto Hintze/Friedrich Meinecke/Hermann Oncken/Hermann Schumacher (Hg.), Deutschland und der Weltkrieg, Leipzig/Berlin 1915, S. 3–51, hier S. 5 f. Gustav Schmoller, Herkunft und Wesen der deutschen Institutionen, in: Deutschland und der Weltkrieg, hrsg. v. Otto Hintze/Friedrich Meinecke/Hermann Oncken/Hermann Schumacher, 2. erw. Aufl., Leipzig/Berlin 1916 Bd. I, S. 199–231, hier S. 200. 6  Alexis de Tocqueville, Oeuvres Complètes, Bd.  I: De la Démocratie en Amérique 1, hg. v. J[acob]-P[eter] Mayer, Paris 1961, S. 265 ff.; zu den besonderen Gefahren des von Tocqueville hier erstmals präzise beschriebenen „demokratischen Despotismus“ siehe auch die Bemerkungen bei J[acob]-P[eter] Mayer, Alexis de Tocqueville – Prophet des Massenzeitalters, Stuttgart 1955, S. 60 ff.



Demokratiekritik vor und nach dem Ersten Weltkrieg335

Was der große französische Denker für die erste Jahrhunderthälfte geleistet hatte, unternahm um 1900 der aus Russland stammende Moissei Jakowlewitsch Ostrogorski, der in einem monumentalen zweibändigen Werk mit dem Titel „Democracy and the Organization of Political Parties“ auf nicht weniger als 1400 Druckseiten eine sehr subtile und kenntnisreiche Analyse der geistesgeschichtlichen, politischen und vor allem parteiorganisatorischen Voraussetzungen der modernen angelsächsischen Demokratien vorlegte7. Er arbeitete in seinen Analysen vor allem die Tendenz der modernen Parteien zur inneren Verkrustung von Strukturen, zur Etablierung von inneren Machtzirkeln, zur Verfestigung von Praktiken des Machterhalts und der Wahlmanipulation durch sogenannte Parteimaschinen  – wie etwa Tammany Hall in New York8  – und hauptamtliche Wahlmanager und Parteiangestellte heraus. Die modernen Demokratien waren in seiner Sicht gefährdet durch den Anspruch vor allem wirtschaftlicher und politischer Oligarchien auf die Erringung und den Erhalt politischer Macht  – ohne Rücksichtnahme auf den eigentlichen demokratischen Volkswillen, der durch manipulative Praktiken aller Art im Grunde in sein Gegenteil verkehrt werde9. Ostrogorskis seinerzeit aufsehenerregenden, durch viele konkrete Beispiele und eine Fülle empirischer Fakten untermauerten Analysen fanden auch in Deutschland Beachtung, etwa bei Robert Michels10, Max Weber11 und vor allem bei dem Kieler Staatswissenschaftler Wilhelm Hasbach12, einem Schüler von Gustav Schmoller und Adolph Wagner, 7  M[oissei] Ostrogorski, Democracy and the Organization of Political Parties, Bde. I–II, New York 1902; zum zeithistorischen Kontext und zur Bedeutung des Werkes siehe auch Rodney Barker/Xenia Howard-Johnston, The Politics and Political Ideas of Moisei Ostrogorski, in: Political Studies 23 (1975, S. 425–429; Cristiana Senigaglia: Analysen zur Enstehung der Massenparteien und zu ihrem Einfluß auf das Parlament: Ostrogorski, Michels, Weber, in: Parliaments, Estates & Representation 15 (1995), S. 159–184. 8  Dazu ausführlich Ostrogorski, Democracy (Anm. 7), Bd. II, S. 151  ff. u. passim. 9  Sehr aufschlussreich in diesem Zusammenhang auch Ostrogorskis „Appendix I: The Power of Social Intimidation as a Principle of Political Life“, ebenda, Bd. II, S. 745–754. 10  Robert Michels, Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie. Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens [zuerst 1911, erweiterte Aufl. 1925], Neuausgabe der 2. Aufl. hg. v. Werner Conze, Stuttgart 1957, S. 340, 434, 449, 457, 514. 11  Zu den Spuren des Einflusses von Ostrogorski auf Weber vgl. Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 3. Aufl. Tübingen 2004, S.  116 f., 424. 12  Siehe neben Christian Patz, Wilhelm Hasbach  – Politikwissenschaftler avant la lettre?, in: Wilhelm Knelangen/Tine Stein (Hg.): Kontinuität und Kontro-

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der die Thesen Ostrogorskis wohl am intensivsten rezipierte und für seine 1912 publizierte umfangreiche Monographie „Die moderne Demokratie  – Eine politische Beschreibung“ auswertete. Dieses im Jahr 1921 noch einmal unverändert neu aufgelegte Werk von immerhin mehr als 600 Seiten stellte viele Jahre lang das deutschsprachige, zeitweilig auf die Debatten in Deutschland großen Einfluss ausübende Standardwerk zum Thema dar13. Auch Hasbach gehörte, wie sein Lehrer Schmoller, wie Hintze und andere, zu den Verfechtern der deutschen konstitutionellen Monarchie und damit zu den entschiedenen Kritikern der modernen Demokratie, die er allerdings nicht nur mit Blick auf die USA, sondern auch unter Berücksichtigung Frankreichs und der Schweiz untersuchte. Drei zentrale Argumente bestimmen den Gedankengang dieses Buches: Erstens kritisiert Hasbach die damals bereits weit verbreitete Idee einer Art von historischer Teleologie, die in der modernen Demokratie gewissermaßen das Endziel der historischen Entwicklung der neuzeitlichen westlich-europäischen Welt erkennen zu können meint. Anhand breiter historischer Analysen kommt er vielmehr zu dem Ergebnis, dass die drei wichtigsten zeitgenössischen Demokratien, die der Vereinigten Staaten von Amerika, die der Republik Frankreich und die der schweizerischen Eidgenossenschaft, alle in der Folge konkret benennbarer schwerer historischer Krisen entstanden seien, damit also aus einer jeweils einmaligen geschichtlichen Konstellation heraus, keineswegs jedoch als das Ergebnis eines vermeintlich geradlinig verlaufenden historischen Prozesses. Zweitens betont Hasbach, ein bedeutender Kenner und Verehrer Montesquieus, immer wieder die Gefahren eines demokratischen Parlamentsoder Parteienabsolutismus, der aus einem verfassungsrechtlichen und damit in der Konsequenz machtpolitischen Übergewicht der Parlamente und der Parteien in den modernen Demokratien entstehen könne. Dem stellt er, unter ausdrücklicher Berufung auf Montesquieu, den gewaltenteiligen Charakter der konstitutionellen Monarchie gegenüber, die aufgrund ihrer Tendenz zur Austarierung innerer Machtgleichgewichte zwischen Krone, Regierung und Parlament Freiheitspotentiale erhalte, die in einer Demokratie mit besonders starkem Parlament und ausgeprägtem Parteiensystem hingegen gefährdet seien.

verse. Die Geschichte der Politikwissenschaft an der Universität Kiel, Essen 2013, S. 211–230; auch Hans-Christof Kraus, Wilhelm Hasbach – Theorie und Kritik der modernen Demokratie, in diesem Band S. 311–331. 13  Wilhelm Hasbach, Die moderne Demokratie. Eine politische Beschreibung [zuerst 1912], 2. unveränd. Aufl. Jena 1921.



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Drittens jedoch – und dies kann im Kontext seiner Zeit wohl auch als sein stärkstes Argument angesehen werden  – stellen für ihn, wie er im Anschluss an Ostrogorski vor allem am US-amerikanischen Beispiel aufzeigt, die Parteien und die von ihren Wahlmanagern in Gang gehaltenen Wahlmaschinen lediglich Instrumente im Dienst des großen Kapitals dar, das auf diese Weise seine Interessen sichere und letzten Endes auch politisch alle wichtigen Fäden in der Hand behalte. Hasbach bemerkt: „Je vollkommener die Parteiorganisation ist, um so abstoßender sind ihre Wirkungen. Die Partei gibt sich als Vertreterin des Volkes aus, und ist ein Werkzeug der Führer, welche häufig Geschäftsführer des großen Kapitals sind“. Insgesamt manifestiere sich die nordamerikanische Demokratie als ein abstoßend-groteskes Schauspiel: „[…] führende Kapitalisten, geführte Parteiführer, in ihren Zeitungen die öffentliche Meinung machend, welche dann die Massen der Armen und Ungebildeten als den Volkswillen an der Wahlurne verkünden“14. Die Wähler seien am Ende „der Tyrannei einer unverantwortlichen Klike [sic] von gewissenlosen und beutelüsternen Berufspolitikern“ ausgeliefert, deren „Beute […] in Staatsämtern und anderen Vorteilen“ bestehe, „die sie zur Belohnung für ihre Dienste von der Partei empfängt“15. Hierin sieht Hasbach auch den Hauptgrund für die extremen sozialen Gegensätze in den USA, die dort eben nicht, wie in Deutschland, durch eine aktive staatliche Sozialpolitik ausgeglichen werden können. Nur eine konstitutionelle Monarchie ist nach Hasbachs Auffassung, im Gegensatz zur modernen Demokratie, stark genug, die politische Macht des Großkapitals in Schach zu halten und sie in ein die sozialen Gegensätze ausgleichendes sozialpolitisches System einzubinden. Man findet also  – um an dieser Stelle bereits ein knappes Zwischen­ resümee zu formulieren  – im deutschen Kaiserreich vor 1914 vor allem eine externe und eine interne Demokratiekritik; die Fundamentalkritik an der Demokratie war hingegen nur bei einzelnen, weitgehend einflusslosen Autoren der radikalen politischen Rechten, etwa im Umfeld des Alldeutschen Verbandes, zu finden16. Das änderte sich jedoch während des Ersten Weltkriegs in geradezu fundamentaler Hinsicht. Die alliierte Kriegspropaganda, die besonders auf den Gegensatz zwischen westlich-demokratischer Freiheit auf der ei14  Ebenda,

S.  476 f. S. 478. 16  Siehe etwa, pars pro toto, Daniel Frymann [= Heinrich Claß], Wenn ich der Kaiser wär‘  – Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, 2. Aufl. Leipzig 1912, bes. S. 40 ff. u. passim; hierzu auch Johannes Leicht, Heinrich Claß 1868–1953. Die politische Biographie eines Alldeutschen, Paderborn 2012, S. 151 ff. 15  Ebenda,

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nen Seite und deutscher „militaristischer“ Tyrannei auf der anderen Seite abhob, rief in Deutschland entschiedene Gegenreaktionen hervor, die sich auf lange Sicht verhängnisvoll auswirken sollten17. Denn nun richtete sich die Kritik vieler deutscher Autoren, die ihrerseits politische Propagandaschriften gegen die westlichen Kriegsgegner verfassten, vor allem gegen die vermeintlich dort vorhandene demokratische Heuchelei. Wohl am schärfsten formuliert findet sich diese radikale Kritik der westlichen Demokratie ausgerechnet bei einem Engländer, der im Krieg deutscher Staatsbürger wurde und 1917 sein Büchlein „Demokratie und Freiheit“ veröffentlichte: Houston Stewart Chamberlain18. Die Demokratie ist nach der Überzeugung dieses Autors in gewisser Weise die Staatsform der Unfreiheit an sich, weil „unter den verschiedenen Arten der Tyrannei […] die bleiern schwerste die Tyrannei einer Mehrzahl ist. Von Plato und Aristoteles bis zum heutigen Tage hat jeder Denker in dieser Beziehung das gleiche Urteil gefällt. Gegen jegliche andere Tyrannei ist Auflehnung möglich; im schlimmsten Falle befreit Dolch oder Revolver ein unterdrücktes Volk; hier aber findet die Unterdrückung durch eine anonyme, unfaßbare Masse [statt], die sich als angeblichen ‚Volkswillen‘ gibt, und die Drahtzieher stehen verborgen dahinter“. Das zeige nicht nur die Lage in Frankreich, „wo eine Handvoll reicher Männer das Land nach Belieben regiert, das zeigt uns Amerika, wo die Vermögen immer ungeheurer werden und die Multimillionäre über allem Gesetze stehen“19. In seinem Herkunftsland Großbritannien wiederum herrsche, wie eh und je, niemand anderes als eine aristokratisch-großbürgerliche Clique aus Angehörigen der wohlhabenden Oberschicht, die das dortige Zweiparteiensystem auf überaus geschickte Weise zur Beförderung des eigenen Vorteils manipuliere und auf diese Weise das Parlament beherrsche. Bereits diese wenigen Zitate zeigen, wie Chamberlain hier vorgeht: Er nimmt einzelne Aspekte der internen Demokratiekritik, wie sie etwa von Ostrogorski, Hasbach und anderen formuliert worden waren, auf, vergrö17  Zu den politischen Debatten im Ersten Weltkrieg in Deutschland siehe u. a. Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, Göttingen  – Zürich  – Frankfurt  a. M. 1969; Markus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg (Politische Ideen, 11), Berlin 2000. 18  Houston Stewart Chamberlain, Demokratie und Freiheit, München 1917; zu Chamberlains Kriegspublizistik siehe ebenfalls Geoffrey G. Field, Evangelist of Race. The Germanic Vision of Houston Stewart Chamberlain, New York 1981, S.  352 ff., sowie Udo Bermbach, Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker, Stuttgart/Weimar 2015, S. 387 ff. 19  Die Zitate: Chamberlain, Demokratie und Freiheit (Anm. 18), S. 68 f.



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bert, verzerrt und radikalisiert sie anschließend jedoch in einer Weise, die sich von deren ursprünglicher Argumentation weit entfernt, um sie desto konsequenter im Dienst der deutschen Kriegspropaganda instrumentalisieren zu können20. So sieht er denn auch folgerichtig im „Parlamentarismus […] das Grundübel unserer Zeit. Wissenschaftlich betrachtet ist er ein Ungeheuer: allen wissenschaftlichen Erfordernissen […] schlägt er ins Gesicht; völkisch betrachtet, ist er ein Wahnsinn: kein Mensch auf Erden besitzt ein ‚Recht‘ auf einen Wahlzettel […]“21. Chamberlains Argumentation läuft im Ergebnis darauf hinaus, Freiheit vor allem als innere geistige Freiheit zu definieren, die nach seiner äußerst simplifizierenden Auffassung allein in Deutschland zu finden sei, nicht jedoch in den modernen westlichen Demokratien, in denen die herrschenden kapitalistisch-großbürgerlichen (in Großbritannien auch aristokratischen) Cliquen mittels einer von ihnen dirigierten und politisch instrumentalisierten Massenpresse die große Mehrheit der Menschen manipulierten und damit geistig beherrschten und unterdrückten; Demokratie könne also, unter diesem Blickwinkel betrachtet, nichts anderes sein als ein Regieren mittels systematischer Erzeugung von „Massenpsychosen“22. Nimmt man nicht nur Chamberlains vielleicht nicht zufällig im Jahr 1917 formulierte Polemik gegen die westliche Demokratie und den modernen Parlamentarismus, sondern auch ähnliche Schriften dieser Art in den Blick – man denke etwa an Sombarts „Händler und Helden“23 oder an Schelers „Genius des Krieges“24  –, dann wird hier ein Grundmuster erkennbar, das die Kritik an der Demokratie und die Polemik gegen die Demokratie, die sich später bei vielen deutschen Autoren der Zeit nach 1918 finden, nachhaltig bestimmt hat. Zwei Aspekte kommen hier zusammen: Zum einen bestimmte Elemente der bereits vor dem Ersten Weltkrieg formulierten externen und internen Demokratiekritik, die jedoch als solche noch nicht als genuin antidemokratisches Denken zu bezeichnen ist, 20  Zu seinen Gewährsleuten unter den Historikern zählte Chamberlain übrigens auch Jacob Burckhardt, vor allem dessen „Griechische Kulturgeschichte“, aus deren erstem Band  nach Auffassung Chamberlains reiche Belehrung „über das Chaotische, das aus den demokratischen Verfassungen sich ergab“, zu entnehmen sei (ebenda, S. 73). 21  Ebenda, S. 70. 22  Ebenda, S. 75. 23  Werner Sombart, Händler und Helden – Patriotische Besinnungen, München/ Leipzig 1915. 24  Max Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, Leipzig 1915.

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zum anderen jedoch ebenfalls das Erlebnis des Krieges und vor allem die Rezeption der Kriegspropaganda beider Seiten, die jeweils mit Verzerrungen, Vergröberungen, Verleumdungen und oft auch mit schlichten Falschinformationen gearbeitet hatte. Es war genau diese fatale Mischung einerseits aus sachlich durchaus begründbarer Kritik an bestimmten Aspekten der Verfassungswirklichkeit in den modernen Demokratien, andererseits jedoch ebenfalls aus Elementen grob verzerrender und verfälschender Kriegspropaganda, die im besiegten und durch den Versailler Vertrag politisch, ökonomisch und nicht zuletzt moralisch geknebelten Deutschland nach 1918/19 auf einen besonders fruchtbaren Boden fallen mussten. II. Dabei bleibt festzuhalten, dass die Krise des Liberalismus und der Demokratie in der Zwischenkriegszeit durchaus kein ausschließlich deutsches, sondern ein europäisches, in mancher Hinsicht sogar ein internationales Phänomen gewesen ist25. Der liberale Parlamentarismus schien in den Augen vieler Zeitgenossen ein historisch erledigtes, im Grunde dem 19. Jahrhundert angehörendes politisches Auslaufmodell zu sein; hingegen schien die Zukunft den neuen radikalen Ordnungsmodellen der äußersten Linken oder der Rechten zu gehören: dem Sozialismus, der Diktatur des Proletariats einerseits, der Militärdiktatur, dem autoritären Ständestaat oder sogar der faschistischen Diktatur andererseits. Zwar besaß die demokratisch-parlamentarische Republik in Deutschland natürlich ebenfalls ihre Anhänger und Verteidiger26, doch das größere allgemeine Interesse war in aller Regel den Gegnern der Demokratie sicher. Hierzu gehörte an erster Stelle Oswald Spengler, der im Jahr 1918 den ersten Band  seines aufsehenerregenden und sofort intensiv diskutierten geschichtsphilosophischen Hauptwerks „Der Untergang des Abendlandes“ veröffentlichte. Zwei Jahre später folgte seine erste explizit politische Schrift, die unter dem Titel „Preußentum und Sozialismus“ eine gnadenlose Abrechnung mit westlicher Demokratie und Parlamentaris25  Dazu etwa die Beiträge in: Rudolf von Thadden (Hg.), Die Krise des Libera­ lismus zwischen den Weltkriegen, Göttingen 1978. 26  Hierzu u. a. Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik. Von der konstitutionellen Staatslehre zur Theorie des modernen demokratischen Verfassungsstaats (Jus Publicum, 197), Tübingen 2010; neuerdings auch mehrere grundlegende Beiträge in: Detlef Lehnert (Hg.), Verfassungsdenker. Deutschland und Österreich 1870–1970, Berlin 2017.



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mus vorlegte27. Der simple Grundgedanke dieser Schrift besteht darin, die 1918/19 in Deutschland errichtete neue Republik als Kniefall vor der vorherrschenden politischen Ideologie der Sieger des Ersten Weltkriegs zu deuten  – mit anderen Worten: den modernen Parlamentarismus und die Demokratie als etwas „Westliches“, damit genuin „Undeutsches“ zu entlarven. Denn nach Spengler ist der deutsch-preußische politische „Instinkt“ folgendermaßen zu charakterisieren: „Die Macht gehört dem Ganzen. Der einzelne dient ihm. Das Ganze ist souverän. Der König ist nur der erste Diener seines Staates. […] Jeder erhält seinen Platz. Es wird befohlen und gehorcht. Dies ist, seit dem 18. Jahrhundert, autoritativer Sozialismus, dem Wesen nach illiberal und antidemokratisch, soweit es sich um englischen Liberalismus und französische Demokratie handelt“. Dass Spengler hier eine massive Vergröberung und Simplifizierung bestimmter Aspekte der externen Demokratiekritik der Zeit vor 1914 vornimmt, wird besonders in seiner Behauptung klar erkennbar, in Großbritannien sei „der Staat […], weltlich wie geistlich, abgeschafft und durch den Vorzug der Insellage ersetzt“ worden28. Auch die interne Demokratiekritik vergröbert Spengler, hier offenbar unter dem Einfluss des Buches von Hasbach, dem er die Kenntnis vieler Details und mittelbar wohl auch der Thesen von Ostrogorski und ähn­ lichen Autoren zu verdanken scheint29. Die Vermutung, dass Parteien, „vor allem englische Parteien, Teile des Volkes sind“, bezeichnet Spengler ausdrücklich als „dilettantische[n] Unsinn. In Wirklichkeit kann es, außer in Staaten vom Umfang weniger Dörfer, etwas wie Volksregierung, Regierung durch das Volk, gar nicht geben. Nur hoffnungslos liberale Deutsche glauben daran. Die Regierung liegt überall, wohin englische Regierungsformen gedrungen sind, in den Händen sehr weniger Männer, die innerhalb einer Partei durch die Erfahrung, ihren überlegenen Willen und ihre taktische Gewandtheit herrschen, und zwar mit diktatorischer Machtvollkommenheit“30. Im Übrigen seien „Demokratie und allgemeines Stimmrecht“ nichts anderes als „erprobte Methoden des Kapita27  Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus [1920], in: derselbe, Politische Schriften, München 1933, S. 1–105; zur politischen Publizistik Spenglers und ihrem Kontext siehe auch Anton Mirko Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, S. 215 ff.; zu Spenglers Rezeption der „Ideen von 1914“ auch S.  166 ff. 28  Die Zitate: Spengler, Preußentum und Sozialismus (Anm. 27), S. 15. 29  Spengler erwähnt Hasbachs Buch nicht, jedoch zeigen verschiedene Passagen, vor allem im zweiten Teil des „Untergangs des Abendlandes“, dass er aus dieser Quelle geschöpft haben muss. 30  Spengler, Preußentum und Sozialismus (Anm. 27), S. 59.

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lismus“ – also letzten Endes nichts anderes als ein dem Volk vorgetäuschtes System von Pseudofreiheiten in den Diensten einer anonymen „Pluto­ kratie“31. An dieser Stelle zeigen sich die von Spengler vorgenommenen starken Vergröberungen demokratiekritischer Auffassungen der Vorkriegszeit in besonders augenfälliger Weise: Hatten Männer wie Hintze, Schmoller, Delbrück, Hasbach und andere die konstitutionelle Monarchie als eine dem Deutschen Reich angemessene Staatsform verteidigt und gerechtfertigt, so erscheint in Spenglers Sicht jetzt nur noch ein autoritärer, in vermeintlich „preußischer“ Tradition staatssozialistisch organisierter Militärstaat als im eigentlichen Sinne „deutsch“, weil angeblich den deutschen Traditionen und deshalb auch dem, wie er sagt, „schicksalhaft“ bestimmten Wesen des deutschen Volkes entsprechend. Der Parlamen­ tarismus  – nach Spengler faktisch eine verhüllte Diktatur von Oligarchen und Plutokraten  – möge in Großbritannien deshalb funktionieren, weil er dem Wesen des Inselreichs und seiner Bewohner entspreche, er lasse sich jedoch auf Deutschland nicht übertragen, ebenso wenig wie die französische Demokratie. Ein zweites, im Detail sehr anschauliches Beispiel eines entschieden demokratiekritischen bis antidemokratischen Denkens findet sich bei Arthur Moeller van den Bruck in dessen politischem Hauptwerk, im Krisenjahr der Republik 1923 unter dem ominösen Titel „Das dritte Reich“ veröffentlicht32. Das Motto des dritten Kapitels mit der lapidaren Überschrift „Liberal“, könnte das des gesamten Buches sein und formuliert in der Tat einen tragenden Grundgedanken der Ideen Moellers: „An Liberalismus gehen die Völker zugrunde“33. An der deutschen parlamentarischen Demokratie seiner Gegenwart hat dieser Autor vor allem auszusetzen, dass in seiner Sicht das Volk keinen Anteil an ihr nehme, ja sie geradezu verachte; das gelte vor allem für den „Revolutionsparlamentarismus, den wir nach dem neunten November durch die Weimarer Verfasser bekamen. Er mag Gesetze beschließen oder er mag sie nicht beschließen, er bleibt im Volke völlig unbeachtet. Seine Verhandlungen sind vollkommen gleichgültig. Man erwartet nichts von ihm. Man traut ihm nichts zu. Man hat keinen Glauben“34.

31  Ebenda,

S. 61. Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich, Berlin 1923; zum biographisch-historischen Entstehungskontext siehe auch André Schlüter, Moeller van den Bruck. Leben und Werk, Köln/Weimar/Wien 2010, S. 287 ff., 347 ff. u. passim. 33  Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich (Anm. 32), S. 64. 34  Ebenda, S. 110. 32  Arthur



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Das wiederum hängt nach Moeller vor allem damit zusammen, dass die Träger der deutschen Revolution von 1918/19 davon überzeugt gewesen seien, es reiche aus, die westliche Demokratie in der Form des britischen oder französischen Parlamentarismus im Grunde einfach nachzuahmen, indem man „den Staat auf die Ziffer, die Summierung, die wurzellose Wählermasse stellte und dafür dann den Namen der Demokratie beanspruchte“. Das spezifisch deutsche Problem bestehe gegenwärtig nun darin, dass man nicht daran gedacht habe, gegen die Herrschaft der bloßen „Ziffer“ Schutzvorrichtungen in das politische System einzubauen, wie es in Großbritannien die Parteiregierung im Kabinett darstelle und in Frankreich der „Klüngel, der sich der Kammer zu seinen Privat­ zwecken, aber auch denjenigen Frankreichs zu bedienen wußte“35. In diesem einen Aspekt knüpft Moeller also an die schon im Vorkriegsdeutschland – aber eben nicht nur hier – vorhandene interne Demokratiekritik an, deren Vertreter die demokratische Staatsform als bloße Vorspiegelung einer Volksherrschaft, d.  h. als erfolgreich vorgenommene ­Kaschierung einer verdeckten Regierung von Klüngeln, Kartellen, Interessengruppen aller Art sowie von Parteimaschinen und deren Funktionären deuten. Interessant und aufschlussreich zugleich ist nun aber, dass Moeller, hier in deutlichem Gegensatz zu Spengler, die Demokratie – historisch gesehen – jedoch keineswegs als etwas genuin „Undeutsches“ abzutun versucht, sondern, im Gegenteil, die Überreste einer ursprünglich vorhandenen, in den Tiefen der deutschen Geschichte seit dem Spätmittelalter auffindbaren Tradition einer spezifisch „deutschen“ Demokratie erkennen zu können meint: „Wir waren ursprünglich ein demokratisches Volk“36. Moeller nennt hier keine Namen, aber die von ihm in diesem Zusammenhang verwendete Begrifflichkeit, seine Berufung auf Körperschaftsgedanke, Gemeinschaftsideen, auf das „Genossenschaftsrecht“, die Hervorhebung der „genossenschaftliche[n] Zusammenbindung der Selbstverwaltungen auf allen Gebieten“37, schließlich auf das Ständetum als ein Grundprinzip der alten deutschen Verfassungsordnungen – dies alles weist darauf hin, dass er hier bestimmte Einflüsse der deutschrecht­lichen Schule der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts aufgreift, die vor allem auf Otto von Gierke und dessen „Deutsches Genossenschaftsrecht“ zurückgehen38. 35  Die

Zitate: ebenda, S. 115. S. 111. 37  Ebenda, S. 112. 38  Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bde.  I–IV, Berlin 1868–1913; zur staatsrechtlich-politischen Einordnung und Bedeutung siehe auch 36  Ebenda,

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Es bleibt dabei letztlich unklar, welche Form eine nach Moellers Auffassung spezifisch „deutsche“ Demokratie, die sich deutlich von der west­lichen, d. h. britischen, amerikanischen und französischen Form abhebt, denn haben sollte. Vermutlich gingen seine Vorstellungen in Richtung eines „organisch“ aufgebauten, nach Berufsständen gegliederten korporativen Staatswesens, eventuell mit einer Ständekammer statt einer parlamentarischen Volksvertretung und natürlich ohne politische Parteien. Eine irgendwie geartete Rückkehr zum Bismarckreich, dessen Verfassung er kritisiert, und gar eine Restauration der Monarchie lehnt er, wie die meisten Autoren der Konservativen Revolution, strikt ab. Inhaltlich recht ähnlich, wenngleich in der Sache ausführlicher und differenzierter, argumentierte ein weiterer Autor dieser Strömung, Edgar Julius Jung, in seinem Buch „Die Herrschaft der Minderwertigen  – ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein neues Reich“, zuerst 1927 erschienen. Jung lehnt den Liberalismus ebenso konsequent ab wie vor ihm schon Spengler und Moeller van den Bruck, differenziert aber ähnlich wie der letztere zwischen radikaler moderner Demokratie einerseits und traditioneller, „organischer“ Demokratie andererseits39. Die zeitgenössische Demokratie, damit auch der Staat der Weimarer Reichsverfassung, verfällt dem Verdikt eines auf der Grundlage eines ­radikalen liberalen Individualismus aufgebauten „mechanischen Mehr­ heitssystem[s]“40, das sich als „Volksherrschaft“ nur ausgebe. Jung wendet sich jedoch nicht nur gegen die liberalen Voraussetzungen dieses Systems, sondern seine Kritik gilt vor allem den nach seinem Verständnis zutiefst korrupten und mit Hilfe manipulativer Mittel agierenden Protagonisten und den Strukturen des modernen Parteiensystems westlichen Zuschnitts  – und hiermit bewegt er sich wiederum in den Bahnen alles dessen, was bereits vor 1914 von der internen Demokratiekritik auf den Begriff gebracht worden war – auch hier jedoch wiederum in stark vergröberter Form und in scharf polemisch formulierter, abwertender Absicht. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. II: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914, München 1992, S. 359 ff., der das Werk Gierkes in den Kontext des gemäßigten deutschrechtlich geprägten Liberalismus des Kaiserreichs einordnet, was aber eine spätere Rezeption von konservativer Seite keineswegs ausschließt. 39  Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen, ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich [zuerst 1927], 3. erweiterte Aufl. Berlin 1930; dazu neuerdings vor allem Roshan Magib, Edgar Julius Jung (1894–1934): Political Theorist and Man of Action. A Political Biography. Phil. Diss. Birbeck College, University of London 2011, S. 107 ff. 40  Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen (Anm. 39), S. 225.



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Die politische Partei in der modernen parlamentarischen Demokratie verfüge, so Jung, „über Presse, Einpeitscher und sonstige Propagandamittel. Mit ihrer Hilfe wird die Öffentlichkeit, das heißt der Wähler, empfänglich gemacht für die Ansichten, mit welchen die hinter der Partei stehenden Interessengruppen die Stimme des Wählers zu erobern beabsichtigen. Das Parteiprogramm spielt also nur die Rolle des Köders. Die wahren Ziele der Partei werden verborgen und gehen den Wähler nichts an. Wird doch nach erfolgter Wahl die ganze Geschicklichkeit der Parteipresse aufgewendet, um die Kluft zwischen Wahlversprechungen und späterer praktischer Politik der Partei zu überbrücken. In der Regel […] muss [dies] bei der völligen geistigen Versklavung der Wähler glücken“41. Jung verweist nicht nur, wie vor ihm schon seit längerem andere Kritiker des modernen Parteiwesens, auf die hinter den Parteien stehenden anonymen Interessengruppen und Machtkartelle, sondern er betont ebenfalls nachdrücklich die immer stärker werdende Bedeutung der Partei­ organisationen: In den großen Parteien siege in aller Regel der Demagoge, stellt Jung fest, „in den kleinen der Intrigant. Wer die Beziehungen zu den Geldgebern, die Fäden zu bestimmten Machtgruppen, den Apparat der Parteibeamten in Händen hat, beherrscht die Partei“42; nach dem Krieg sei die frühere „Honoratiorenpartei“ des deutschen Kaiserreichs durch die im Kern korrupte, ihren Anhängern einträgliche Posten zuschanzende „Patronagepartei“ der Republik abgelöst worden. Als Gewährsmann für diese These nennt Jung hier u. a. Robert Michels43, der seinerzeit in seiner bekannten Studie „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“, vermutlich angeregt oder wenigstens beeinflusst durch die einschlägigen Forschungen von Ostrogorski, zu sehr ähnlichen Ergebnissen gelangt war44. Das Gegenmodell zur modernen parlamentarischen Demokratie westlichen Zuschnitts erkennt auch Jung, ähnlich wie vor ihm bereits Moeller van den Bruck, in einer organisch-berufsständisch aufgebauten politischen Gemeinschaft, die an den alten deutschen Gedanken der freien Genossenschaft anknüpft und die bestehenden Parlamente durch berufsständisch-korporativ gegliederte Interessenvertretungen ersetzen soll. Diese Konzepte, die damals etwa in partiell veränderter Form auch der frühe italienische Faschismus in den 1920er Jahren aufzugreifen und

41  Ebenda,

S. 233. S. 235. 43  Vgl. ebenda, S. 240. 44  Siehe oben, Anm. 10. 42  Ebenda,

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umzusetzen versuchte45 und die ebenfalls von Juristen und Ökonomen wie etwa Heinrich Herrfahrdt46 oder Othmar Spann47 in ihren wissenschaftlichen Publikationen propagiert wurden, sah Edgar Jung als mögliche und gangbare Alternative zur von ihm vehement abgelehnten westlichen, als „mechanistisch“ kritisierten Mehrheitsdemokratie französischen oder angelsächsischen Zuschnitts48. Versucht man abschließend ein kurzes Resümee, dann wird zuerst einmal die Feststellung getroffen werden müssen, dass unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs und den im Grunde verheerenden Wirkungen der Kriegspropaganda die vor 1914 klar erkennbaren Grenzen zwischen sachlicher, d. h. externer und interner Demokratiekritik einerseits und der radikalen Ablehnung, also einer Fundamentalkritik der modernen Demokratie andererseits verschwimmen, ja eigentlich zusammenfließen zu einer neuen antidemokratischen Ideologie. Hier wird bei den meisten Denkern der politischen Rechten die traditionelle Demokratiekritik deutlich zugespitzt und radikalisiert. Das hängt vor allem damit zusammen, dass dieses Denken sich nun in der Opposition befindet, also nicht mehr, wie noch bei Schmoller, Hasbach oder Hintze, die bis 1918 bestehende konstitutionelle Monarchie verteidigt, sondern die in Deutschland 1919 eingeführte demokratisch-republikanische Verfassung strikt ablehnt. Natürlich entwickeln diese neuen Autoren, von denen hier pars pro toto nur Spengler, Moeller van den Bruck und Jung angeführt worden sind, ihre Ideen, was nicht übersehen werden darf, in kritischer Auseinandersetzung mit den liberalen und demokratischen Denkern und Theoretikern, die es nach 1918 in Deutschland ebenfalls gegeben hat (von Alfred Weber bis Theodor Heuss, von Moritz Bonn bis Hermann Heller u. a.)49. Analysiert man die – meist nur rudimentär entwickelten – Gesellschafts-, 45  Aus zeitgenössischer deutscher Perspektive beleuchtet das Problem etwa Erwin von Beckerath, Wesen und Werden des faschistischen Staates, Berlin 1927; wichtig hierzu auch der Rezensionsaufsatz von Carl Schmitt, Wesen und Werden des faschistischen Staates (1929), in: derselbe, Positionen und Begriffe: im Kampf mit Weimar/Genf/Versailles 1923–1939, Berlin 1988, S. 109–115. 46  Heinrich Herrfahrdt, Das Problem der berufsständischen Vertretung von der franzö­sischen Revolution bis zur Gegenwart, Stuttgart/Berlin 1921. 47  Othmar Spann, Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau des Staates, Leipzig 1921; vgl. zur politischen Bedeutung Othmar Spanns Martin Schneller, Zwischen Romantik und Faschismus. Der Beitrag Othmar Spanns zum Konservatismus in der Weimarer Republik, Stuttgart 1970; Mohammed Rassem, Othmar Spann, in: Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Karl Graf Ballestrem/Henning Ottmann, München 1990, S. 89–103. 48  Vgl. Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen (Anm. 39), S. 224 ff. u. passim. 49  Siehe oben, Anm. 26.



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Sozial- und Verfassungsmodelle jener demokratiekritischen „konservativ revolutionären“ Autoren, dann erkennt man, dass die meisten dieser ­Ideen im Grunde auf mehr oder weniger autoritär geprägte Regime hinauslaufen, seien es Präsidial- oder Militärdiktaturen, seien es korpora­ tive Ständestaaten mit jeweils starker politischer Führung und konsequenter Ausschaltung des Parteienpluralismus. Insofern wird man sie zwar nicht als direkte Vorläufer, auch nicht als Stichwortgeber, jedoch gerade in ihrem publizistischen Kampf gegen die deutsche parlamentarische Demokratie von Weimar zumindest als gedankliche Wegbereiter des Nationalsozialismus – wenn auch in aller Regel wider Willen – ansehen müssen. Und das gilt auch dann, wenn manche von ihnen nach 1933 öffentlich attackiert wurden (gelegentlich sogar von Hitler persönlich) und publizistisch verstummten, wie Oswald Spengler, oder sogar von den Nationalsozialisten ermordet wurden, wie Edgar Julius Jung. Der Untergang der Weimarer Republik entpuppte sich schon sehr bald als Menetekel der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, und die radikale Demokratiekritik gerade der Zwischenkriegszeit muss in dieser Perspektive in erster Linie als ein zentrales Krisensymptom angesehen werden.

Russland im Geschichtsdenken Oswald Spenglers I. Die welthistorischen Ereignisse des Jahres 1991, der Zusammenbruch des Bolschewismus und die Auflösung der Sowjetunion, haben dazu geführt, den Prognosen und Gedanken Oswald Spenglers über die Geschichte, Gegenwart und Zukunft Russlands erneute Beachtung zu schenken. Hatte man die Äußerungen dieses Denkers einst als willkür­ liche Pseudoprophetien oder als Ausdruck westlich‑bürgerlichen Dekadenzbewusstseins abgetan, so erkennt man gegenwärtig nicht ohne Erstaunen die überraschende Aktualität und zuweilen fast unheimliche Präzision einiger seiner vor mehr als einem halben Jahrhundert niedergeschriebenen Reflexionen und Voraussagen. Vor allem im nachsowjetischen Russland selbst wendet man ihm erneute Aufmerksamkeit zu. In einem im August 1992 in einer der größten deutschen Tageszeitungen veröffentlichten Artikel bemerkt ein russischer Autor, Wiktor Kriwulin: „Für einen Menschen, der verstehen möchte, was heute in Rußland geschieht, ist es höchste Zeit, Oswald Spenglers vor siebzig Jahren erschienenes Buch ‚Der Untergang des Abendlandes‘ aufzuschlagen. Dieses Buch war für die russischen Intellektuellen von größter Bedeutung: Sie studierten es in den antibolschewistischen philosophischen Untergrundzirkeln der zwanziger Jahre. Die ins Exil gegangenen religiösen und existentialistisch orientierten Denker schrieben darüber, man polemisierte wütend dagegen oder stimmte ihm resigniert zu“1. Und im gegenwärtigen Russland, versichert Kriwulin, neigt man keineswegs nur zu einer resignierten, sondern zuweilen sogar zu einer begeisterten Zustimmung zu Spenglers Thesen, von denen die russische Intelligenz heute offenbar nicht weniger berührt und bewegt wird als in den Zwanziger Jahren. Führt man sich vor Augen, welche Resonanz die Äußerungen, Bemerkungen und Reflexionen Oswald Spenglers über Russland – die, was ihre Ursprünge anbetrifft, im politischen und geschichtsphilosophischen Denken des 19. Jahrhunderts zu verorten sind – seit der Zeit ihrer ersten Ver1  Wiktor Kriwulin, Das unsichtbare Buch  – Zwischen Regression und Anpassung an den Westen: Rußland und sein Unbewußtes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 177, 1. August 1992 (Wochenendbeilage).



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öffentlichung gefunden haben und gegenwärtig erneut finden, dann ist es in der Tat ebenso merkwürdig wie aufschlussreich, dass man diesem ­Thema in der wissenschaftlichen Literatur, aber auch im Bereich der politischen und zeitkritischen Publizistik bisher kaum eine nennenswerte Aufmerksamkeit gewidmet hat. Die Verfasser zweier umfangreicher Gesamtdarstellungen zum Leben und Werk Spenglers haben im Rahmen ihrer Arbeiten zwar mehr oder weniger ausführliche Zusammenfassungen der Spenglerschen Hauptthesen über das Problem Russland vorgelegt2, doch eine tiefergehende Interpretation oder angemessene geistesgeschichtliche Verortung sucht man hier  – wie übrigens auch in einer einschlägigen Studie über das europäische Russlandverständnis3  – vergebens. Im Grunde haben sich, sieht man genauer hin, bisher nur zwei Autoren etwas eingehender mit Spenglers Russlandbild befasst. In den Jahren des Kalten Krieges widmete sich Armin Baltzer der Frage nach der Aktualität der Spenglerschen Russlandthesen auf dem Hintergrund des Ost‑­ West‑­Konflikts4. Es sei vollkommen unzutreffend, bemerkte Baltzer 1962, Russland als ein Gebiet zu begreifen, „auf dem eine kleine Clique von Unmenschen und Gangstern die Herrschaft an sich gerissen hat und von dem aus diese Clique nun bemüht ist, an die Spitze aller Unzufriedenen, Rachsüchtigen und Verkommenen in der Welt zu treten“. Vielmehr sei der Bolschewismus „als etwas aus bestimmten äußeren und inneren Gegebenheiten und aus der Seelennot eines ganzen Volkes heraus Entstandenes zu werten“5. Er erinnerte ganz im Sinne der Thesen Spenglers daran, dass der „echte Russe […] noch fast ungebrochen über tiefere Seelenkräfte“ verfüge, „die uns im Westen  – ob wir uns zum Christentum be-

2  Vgl. Anton Mirko Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, S.  256 ff.; Detlef Felken, Oswald Spengler – Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München 1988, S. 200 ff. (zu diesem Buch vgl. die Rezension des Verfassers in: Historische Zeitschrift, Bd. 250 (1990), S. 460 f.). Unzureichend sind die Bemerkungen in der konzeptionell misslungenen, inhaltlich fehlerhaften und stilistisch unzumutbaren Monographie von Jürgen Naeher, Oswald Spengler, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 85 ff. 3  Vgl. Dieter Groh, Rußland im Blick Europas  – 300  Jahre historische Per­ spektiven, Frankfurt a. M. 21988, S.  373 f. 4  Vgl. Armin Baltzer, Philosoph oder Prophet? Oswald Spenglers Vermächtnis und Voraussagen, Neheim-Hüsten 1962, S. 29 f., 188 f., 193 ff., 217 ff., bes. 223– 264 (Kap. VI: Die Zukunft des Russentums). Ältere (und kürzere) Fassungen dieses Kapitels finden sich in zwei früheren Publikationen Baltzers, Untergang oder Vollendung – Spenglers bleibende Bedeutung, Göttingen 1956, S. 102–137, sowie in ders., Oswald Spenglers Bedeutung für die Gegenwart, Neheim-Hüsten 1959, S. 173–217. 5  Baltzer, Philosoph oder Prophet? (Anm. 4), S. 225 f.; vgl. S. 259 ff.

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III. Das 20. Jahrhundert: Zwischen Totalitarismus und Demokratie

kennen oder nicht  – weitgehend abhanden gekommen sind“6. In diesem Sinne sei der gegen den „Westen“ gerichtete Bolschewismus – vergleichbar den postkolonialen Befreiungsbewegungen in Afrika und Asien – ein Mittel der Selbstbehauptung urwüchsigen Russentums gegenüber west­ licher Herausforderung und Bedrohung7. Der Westen müsse erkennen, dass sich das „russische Volkstum […] im Marxismus seiner Prägung ein Verteidigungsmittel geschaffen“ habe, „um seine (schöpferische) Selbständigkeit im Rahmen des heutigen, fast ausschließlich abendländisch bestimmten Weltsystems ganz oder wenigstens teilweise zu behaupten“8. Erst wenn der Westen auf der Grundlage dieser Erkenntnis einen Per­ spektivenwandel vornehme und „das Russentum […] mit wirklicher Aufgeschlossenheit und Liebe“ betrachte, könne eine langsame Transformation des Bolschewismus beginnen  – mit der Folge eines Abbaus der Ost‑West‑Spannung und eines Schwindens der „Gefahr der atomaren Selbstvernichtung der Menschheit“9. Auch der amerikanische Historiker Gary L. Ulmen, der in einem 1980 anlässlich Spenglers einhundertstem Geburtstag erschienenen Sammelband einen Aufsatz über Spenglers Russlandbild veröffentlichte10, beabsichtigte „herauszufinden, was Spengler uns über die Geschichte […] zu sagen hat und welche Erkenntnisse sich daraus für unsere Zeit und die gegenwärtige Krise der ideologisch und politisch in Ost und West geteilten Welt ergeben“11. Diesem hochgesteckten Anspruch vermochte er allerdings nicht einmal ansatzweise zu genügen. Wenngleich er von der durchaus zutreffenden Feststellung ausging, es sei „nicht ohne Bedeu6  Ebenda,

S. 194; vgl. auch S. 193 ff., 217. ebenda, S. 227: „1917 lehnten sich große Teile des urwüchsigen, reich veranlagten russischen Volkes unter Führung einer Revolutionärsschicht gegen das veraltete, dem europäischen nur nachgeahmte russische Gesellschaftsgefüge auf. Eine bestimmte, wenn auch stark abgewandelte Ideologie von der Freiheit und dem Recht des arbeitenden Menschen diente dabei als intellektuelles Fundament. Durch beide Momente war von vornherein eine parallele Situation zu den Befreiungsbewegungen der unmittelbar unter europäischer Kolonialherrschaft stehenden Völker gegeben“. 8  Ebenda, S. 228. 9  Ebenda, S. 229; Baltzer fügte hinzu, er glaube, „daß Oswald Spengler (eine) reine Auffassung hinsichtlich des russischen Wesens und seiner heutigen Situation annähernd gelungen ist“ (ebenda); das Problem, „ob Spenglers Kulturhypothese gegenüber dem Rußland von gestern, heute und morgen an und für sich zutrifft“, bezeichnete er allerdings als „eine zweitrangige Frage“ (ebenda, S. 194)! 10  Gary L.  Ulmen, Metaphysik des Morgenlandes  – Spengler über Rußland, in: Spengler heute, hrsg. v. Peter Christian Ludz, München 1980, S. 123–173, 187–196. 11  Ebenda, S. 189; kurz vorher betont Ulmen, sein „Spenglerverständnis“ sei dadurch bestimmt, dass er – im Gegensatz zu Spengler – als seine „Ausgangsbasis eher Marx als Nietzsche ansehe“ (ebenda, S. 188)! 7  Vgl.



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tung“, dass Spengler „mehr über Rußland schrieb als über andere Länder mit Ausnahme Deutschlands“12, gelangte er doch (nach allerhand überflüssigen Präliminarien über Marx, Freud, Marcuse, Heidegger, zeitgenössische amerikanische Geschichtstheorie und ähnliche Dinge)13 über eine referierende Zusammenfassung der Russlandthesen Spenglers kaum hinaus. Allenfalls konnte er einige neue Informationen zu den Quellen von Spenglers Russlandbild liefern14, doch seine überdehnten Interpretationen und Spekulationen über einen angeblich von Spengler prophe­ zeiten „Sieg der faustischen Zukunft“ über ein „asiatisches“ Russland schossen weit über das Ziel hinaus15. Hieraus lässt sich folgern, dass man die Geschichtsphilosophie Spenglers gerade nicht zu einem Medium machen sollte, in das man eigene ­Ideen hineinprojiziert, sondern es kommt vielmehr darauf an, will man dieses Denken wirklich verstehen, das Gegen‑, In‑ und Miteinander von  kulturmorphologischen, geschichtsphilosophischen und politischen Elementen in den zahlreichen Bemerkungen und Äußerungen Oswald ­ Spenglers über Russland differenzierend herauszuarbeiten und angemessen, d. h. möglichst textnah zu interpretieren. Erst dann wird es möglich sein, die zeitgebundenen und epochenbestimmten Elemente der Spenglerschen Analysen von denjenigen zu trennen, die auch in der Gegenwart noch Bestand haben und vielleicht sogar noch immer erstaunliche Erkenntnisse vermitteln können. II. Seitdem Oswald Spengler seinen „Untergang des Abendlandes“ veröffentlichte, gibt es eine Diskussion über seine angeblichen Vorläufer – sowohl was seine am biologischen Modell orientierte Kulturlehre anbetrifft, als auch hinsichtlich seiner Voraussagen einer kommenden russischen Hochkultur16. Der Gedanke eines jugendfrischen, unverbrauchten Russlands, das dem müden, dekadenten, mehr oder weniger bereits an das Ende seiner historischen Entwicklung gelangten Europa gegenübergestellt wird, war allerdings um 1918 alles andere als neu; seit dem frühen 12  Ebenda,

S.  123 f. ebenda, bes. S. 123–144 u. a. 14  Vgl. ebenda, S. 146 f., 149 ff., 193, siehe dazu auch unten Abschnitt IV. 15  Vgl. ebenda, S. 166 ff. 16  Bereits 1921 klagte Spengler in einem Brief an seinen Verleger, er habe „mehr als fünfzig Vorgänger kennengelernt […] Inzwischen werden es weit über hundert geworden sein. Hätte ich auch nur die Hälfte davon lesen wollen, so wäre ich noch heute nicht zu Ende“; zit. in Felken, Oswald Spengler (Anm. 2), S. 60. 13  Vgl.

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19. Jahrhundert wurde er in Geschichtsschreibung und politischer Publizistik ebenso ausgiebig wie kontrovers diskutiert. Zuerst waren es katholisch‑traditionalistische und legitimistische Stimmen, die das zaristische Russland als Vertreter eines „neuen Weltalters“ feierten oder doch wenigstens, wie Franz von Baader, als letzte Hoffnung für den von Glaubensverlust und innerer Dekadenz zerfressenen Westen ansahen. August von Haxthausen, der in seinen einflussreichen „Studien über die inneren Zustände […] Rußlands“ den „Mir“ als angeblich ursprüngliche Form bäuerlich‑dörflichen Gemeinschaftslebens entdeckt zu haben glaubte, vertrat die These, Russland sei dem „alternden Europa“ durch seine „soziale und religiöse Kompaktheit“ überlegen, und erwartete – ebenso wie Thomas Carlyle  – von Russland die Rettung des Westens vor Dekadenz und Anarchie, während Donoso Cortés einwandte, selbst ein Europa siegreich überflutendes Russland werde am Ende am europäischen „Gift der Anarchie“ zugrunde gehen. Auch einige Vertreter der politischen Linken – inner‑ und außerhalb Russlands  – schlossen sich diesen Thesen an: So verkündete etwa Bruno Bauer, dass die Zukunft „den Russen“ gehöre, während Alexander Herzen und Nikolai Tschernyschewskij die These vom ursprünglich „sozialistischen“ russischen Menschen und vom „jungen“ russischen Volk, das die kapitalistisch‑dekadenten Nationen des Westens ablösen werde, nicht weniger wortgewaltig vertraten17. Doch hier sind Spenglers Vorläufer ebensowenig zu suchen wie im Lager der russischen Slawophilen, die, wie etwa Iwan Kirejewskij18, ebenfalls die Lehre vom jugendlich‑kulturschöpferischen Russland verbreiteten oder sogar, wie Nikolai Danilewskij19, eine organisch‑biologische Kulturlehre entwickelten, die sich fast wie eine Vorwegnahme der Spenglerschen ausnahm20. Allerdings ist es kaum wahrscheinlich, dass Spengler das erst 1920 auszugsweise ins Deutsche übertragene Werk „Rußland und Europa“ von Danilewskij gekannt hat21  – und wohl ebensowenig 17  Vgl. hierzu statt vieler immer noch die zusammenfassende Darstellung bei Groh, Rußland im Blick Europas (Anm. 3), S. 139 ff., 193 f., 241 ff., 248 ff., 252 ff., 310 ff., 332 u. a.  – Die hier vorhandenen Abschnitte über deutsche Autoren wie Baader, Haxthausen und Bauer sind jetzt allerdings durch die Beiträge in Reihe A, Bd. 3 des vorliegenden Sammelwerkes „West-östliche Spiegelungen“ weitgehend überholt. 18  Vgl. Iwan W. Kirejewskij, Rußland und Europa, übers. u. hrsg. v. Nicolai von Bubnoff, Stuttgart 1948. 19  Vgl. Nikolai Danilewskij, Rußland und Europa, übers. v. Karl Nötzel, Stuttgart 1920. 20  Vgl. H. Stuart Hughes, Oswald Spengler  – A Critical Estimate, New  York 2 1962, S. 76; Felken, Oswald Spengler (Anm. 2), S. 60. 21  Vgl. neben Ulmen, Metaphysik des Morgenlandes (Anm. 10), S. 147  f. auch den Aufsatz von Robert E.  Mac Master, Danilevsky and Spengler: A New Inter-



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wird ihm Heinrich Rückerts „Lehrbuch der Weltgeschichte in organischer Darstellung“ (erschienen 1857) bekannt gewesen sein, von dem sich Danilewskij hatte inspirieren lassen22. Im Gegenteil: Spengler stand dem Gedankengut der slawophilen Autoren ausgesprochen kritisch gegenüber. Im Panslawismus vermochte er nur „eine westlich‑politische Maske für das Gefühl einer großen religiösen Mission“23 zu sehen. Und was den zur Legende verklarten „Mir“ anbetraf, so fand sich bei Spengler die zutreffende Erklärung, dass der „ganz primitive Mir […] entgegen den Behauptungen sozialistischer und panslawistischer Schwärmer erst seit 1600 entstanden und seit 1861 aufgehoben worden“24 sowie überhaupt nur „aus der Verwaltungstechnik der Steuererhebung zaristischer Regierungen hervorgegangen“25 sei – was der russische Rechtshistoriker Boris Tschitscherin übrigens schon 1856 (in Auseinandersetzung mit den Thesen Haxthausens) ermittelt hatte26. Auch die beiden anderen deutschen Autoren des vorletzten Jahrhunderts, die man – nicht in jeder Hinsicht zu Recht – als „Vorläufer Spenglers“ zu bezeichnen pflegt, der Jurist und Historiker Karl Vollgraff und der klassische Philologe Ernst von Lasaulx27, dürften Spengler kaum (und wenn, dann allenfalls indirekt) beeinflusst haben. Immerhin waren Vollgraff und, ihm folgend, Lasaulx unter den ersten gewesen, die den Gedanken, dass Völker und Kulturen als Organismen anzusehen seien und als solche den Lebensbedingungen aller Organismen unterlägen, systematisch durchgeführt hatten28. Auch über das Problem „Europa und Russland“ haben beide Autoren bereits eingehend reflektiert: Während Vollgraff einen künftigen Kampf der Slawen und Germanen um die Weltherrschaft erwartete, gleichwohl die Slawen für weder staats‑ noch

pretation, in: The Journal of Modern History 26 (1954), S. 154–161, der ebenfalls den Unterschied zwischen beiden herausarbeitet. 22  Vgl. hierzu Joseph Vogt, Wege zum historischen Universum  – Von Ranke bis Toynbee, Stuttgart 1961, S. 39 ff. sowie Groh: Rußland im Blick Europas (Anm. 3), S. 395. 23  Oswald Spengler, Politische Schriften, München 1933, S. 101. 24  Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes  – Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. I, München 33–471923, Bd. II, München 16–301922, hier Bd. II, S. 432, Anm. 1. 25  Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. 111, vgl. S. 120. 26  Vgl. Groh, Rußland im Blick Europas (Anm. 3), S. 248. 27  Vgl. Hans-Joachim Schoeps, Vorläufer Spenglers  – Studien zum Geschichtspessimismus im 19. Jahrhundert (Beihefte der Zeitschrift für Religionsund Geistesgeschichte, 1), Leiden/Köln 1953; Groh, Rußland im Blick Europas (Anm.  3), S.  266 ff., 396 f. 28  Vgl. Schoeps, Vorläufer Spenglers (Anm. 27), S. 10.

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kulturfähig hielt29, sah Lasaulx in den Slawen  – und in dem von ihm postulierten künftigen messianisch-religiösen Slawenreich  – die Erben der europäisch‑abendländischen Kultur, so wie die Germanen einst das Erbe des griechisch‑römischen Altertums angetreten hatten30.  – Bereits diese wenigen Hinweise zeigen, dass Spenglers Lehren, die in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg eine große Resonanz erfuhren, tatsächlich mannigfache, bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichende Wurzeln besaßen. Auch wenn eine direkte Beeinflussung im Detail kaum nachweisbar sein dürfte, so ist doch die geistesgeschichtliche Tradition, in der Spengler steht, ohne große Schwierigkeiten zu rekonstruieren. Zudem hat sich Spengler ausdrücklich auf diejenigen beiden Denker berufen, die ihn nach eigener Aussage am meisten beeinflusst haben. Es dränge ihn, bemerkt er im Vorwort zur 1923 erschienenen Neufassung des ersten Bandes seines Hauptwerks, „noch einmal die Namen zu nennen, denen ich so gut wie alles verdanke: Goethe und Nietzsche. Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen, und wenn ich mein Verhältnis zu diesem in eine Formel bringen soll, so darf ich sagen: ich ­habe aus seinem Ausblick einen Überblick gemacht“31. An erster Stelle aber rangierte Goethe32: „Was er (Goethe, H.‑C.K.) die lebendige Natur genannt hat“, bemerkt Spengler, „ist genau das, was hier Weltgeschichte im weitesten Umfange, die Welt als Geschichte genannt wird“. Gerade indem ­Goethe dem mechanistischen das organische Denken entgegengestellt habe und auch „als Künstler wieder und immer wieder das Leben, die Entwicklung seiner Gestalten, das Werden, nicht das Gewordene heraus­ bildete“33, sei er zugleich zum Bahnbrecher einer neuen Sicht der historischen Welt geworden. Goethes Idee der Urpflanze und seine Lehre vom Urphänomen alles Lebendigen34 weise den Weg zu der Erkenntnis, dass auch ganze ­historische Kulturen nach dem gleichen organischen Gesetz entstehen, wachsen, aufblühen und sich entfalten, aber auch verwelken und schließlich untergehen. Da alles nach einem vergleichbaren Schema ablaufe, sei es möglich, so Spengler, „aus vereinzelten Daten politischer, wirtschaftlicher, religiöser Natur die organischen Grundzüge des Ge29  Vgl.

ebenda, S. 22 sowie Groh, Rußland im Blick Europas (Anm. 3), S. 268 ff. Siegbert Peetz, Die Wiederkehr im Unterschied  – Ernst von Lassaulx (Symposion, 87), Freiburg  i. Br./München 1989, S. 227, 312; Schoeps, Vorläufer Spenglers (Anm. 27), S. 50 f.; Groh, Rußland im Blick Europas (Anm. 3), S. 273 ff. 31  Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. I, S. IX. 32  Vgl. ebenda I, S. 67, Anm. 1: „Die Philosophie dieses Buches verdanke ich der Philosophie Goethes, der heute noch so gut wie unbekannten, und erst in viel geringerem Grade der Philosophie Nietzsches.“ 33  Ebenda I, S. 34. 34  Vgl. ebenda I, S. 143. 30  Vgl.



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schichtsbildes ganzer Jahrhunderte wiederzufinden“, – und bei dieser Methode handele es sich um „ein echt Goethesches, auf Goethes Idee vom Urphänomen zurückführendes Verfahren, das in beschränktem Umfange der vergleichenden Tier‑ und Pflanzenkunde geläufig ist, das sich aber in einem nie geahnten Grade auf den gesamten Bereich der Historie ausdehnen läßt“35. Eben dies war es, was Spengler in seinem Hauptwerk versuchte, und insofern begriff sich seine Geschichtsphilosophie tatsächlich „im Kern als eine historische Übersetzung der Naturphilosophie Goethes“36. Wenn Spengler beanspruchte, „von Nietzsche die Fragestellungen“37 zu haben, dann berief er sich nicht nur auf den dynamisch‑lebensphi­ losophischen Ansatz seines großen Vorbildes und ebenfalls keineswegs auf dessen kulturkritischen Relativismus38. In seiner Gedenkrede zum 80. Geburtstag Nietzsches scheute sich Spengler nicht, den einsamen Philosophen zum direkten Vorläufer seines eigenen Denkens zu stilisieren. Schon in seinem Frühwerk „Die Geburt der Tragödie“ habe Nietzsche „die Überlegenheit des Blicks“ besessen, „um ganzen Kulturen wie lebenden Einzelwesen ins Innere zu sehen“39. Nicht zuletzt habe Nietzsche „von Anfang an mit Selbstverständlichkeit von Kulturen wie von Schauspielen der Natur“ gesprochen und überdies bereits bemerkt, „daß jede geschichtliche Tatsache Ausdruck einer Seelenregung“ sei40. – Wor35  Ebenda I, S. 153. – Die sich hier erhebende Frage, warum Goethe seine Ideen denn nicht selbst auf die Geschichte angewandt habe, vermochte Spengler allerdings nur unzureichend zu beantworten; vgl. ebenda II, S. 34: „Goethe hatte von seiner Straßburger bis zur ersten Weimarer Zeit einen starken Hang zur Einstellung auf die Weltgeschichte – die Entwürfe zum Cäsar, Mahomet, Sokrates, Ewigen Juden, Egmont zeugen davon  –, aber seit jenem schmerzlichen Verzicht auf eine politische Wirksamkeit großen Stils, der aus dem Tasso noch in dessen endgültiger, vorsichtig resignierter Fassung zu uns redet, schaltete er gerade diese aus und lebte fortan mit der fast gewaltsamen Beschränkung auf das Bild der Pflanzen-, Tier- und Erdgeschichte, seiner ‚lebendigen Natur‘ und andrerseits in der Biographie“. 36  Felken, Oswald Spengler (Anm. 2), S. 53,  – wobei die Frage, inwieweit sich Spengler zu Recht oder zu Unrecht auf Goethe berufen hat, hier ungeklärt bleiben muss. 37  Anm. 31. 38  Zu Spenglers Nietzsche-Rezeption vgl. neben Felken, Oswald Spengler (Anm. 2), S. 157 ff., ebenfalls Massimo Ferrari Zumbini, Untergänge und Morgenröten – Über Spengler und Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 194–254; kritisch hingegen Alfred Baeumler, Kulturmorphologie und Philosophie, in: Spengler-Studien – Festschrift für Manfred Schröter, hrsg. v. Anton Mirko Koktanek, München 1965, S. 99–124, bes. S. 120 ff. 39  Oswald Spengler, Reden und Aufsätze, München 31951, S. 118. 40  Ebenda, S. 119; diese Feststellung sei, fährt Spengler fort, „ein so ungeheurer Schritt vorwärts in der historischen Vertiefung, daß es damals auch von ihm (Nietzsche, H.-C.K.) selbst in seiner Tragweite nicht übersehen wurde“.

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auf Spengler an dieser Stelle nicht zu sprechen kommt, ist in Nietzsches Werk gleichwohl ebenfalls präsent: die Prophezeiung einer russischen Zukunft. Als eines der „Zeichen des nächsten Jahrhunderts“ erkannte der Philosoph „das Eintreten der Russen in die Cultur“41. Nietzsche sah in Russland „die einzige Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die etwas noch versprechen kann“, und ihm schien „das erfinderische Vermögen und die Anhäufung von Willens‑Kraft am größten und unverbrauchtesten bei den Slaven zu sein“42. Schließlich setzte er sogar das Verhältnis Europas zu Russland mit demjenigen Griechenlands zu Rom seit der Epoche des Hellenismus in Parallele43. Insofern dürfte die Vermutung sehr naheliegen, dass Spengler auch durch diese Deutungen Nietzsches wichtige Anregungen für sein eigenes Denken empfangen hat. So lässt sich, blickt man sowohl auf die angeblichen als auch auf die wirklichen Vorläufer Spenglers zurück, tatsächlich behaupten, dass die im „Untergang des Abendlandes“ entfaltete Gedankenwelt in mehr als einer Hinsicht stark mit diversen intellektuellen Diskursen und bestimmten geschichtsphilosophischen Deutungen und Motiven des 19. Jahrhunderts zusammenhängt – ja diese Motive teils noch verstärkt, teils vergröbert und in jedem Fall neu formuliert und aktualisiert. Das gilt sowohl für Spenglers Kulturmorphologie und seine Geschichtsphilosophie als auch für seine zentrale These, die Zukunft werde einer im Entstehen begriffenen, neuen russischen Kultur gehören. III. Es dürfte kaum möglich sein, Oswald Spenglers Äußerungen und Voraussagen über Russland angemessen zu verstehen, ohne sich wenigstens in Umrissen seine Kulturmorphologie und die Grundzüge seines geschichtsphilosophischen Denkens vergegenwärtigt zu haben44. 41  Nietzsches Äußerungen zum Thema des europäisch-russischen Verhältnisses sind zusammengestellt bei Dmitrij Tschizewskij/Dieter Groh (Hrsg.), Europa und Rußland  – Texte zum Problem des westeuropäischen und russischen Selbstverständnisses, Darmstadt 1959, S. 512–516; vgl. auch Groh, Rußland im Blick ­Europas (Anm. 3), S. 360 ff. 42  Tschizewskij/Groh (Hrsg.), Europa und Rußland (Anm. 41), S. 515 f., 513. 43  Vgl. Groh, Rußland im Blick Europas (Anm. 3), S. 363. 44  Die Literatur über Spenglers Geschichtsdenken ist immens; an dieser Stelle sei daher nur verwiesen auf die Darstellungen bei Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit (Anm. 2), S. 144 ff.; Felken, Oswald Spengler (Anm. 2), S. 40 ff., 114 ff.; Vogt, Wege zum historischen Universum (Anm. 22), S. 51 ff.; Baeumler, Kulturmorphologie und Philosophie (Anm. 38), passim; Manfred Schröter, Metaphysik des Untergangs  – Eine kulturkritische Studie über Oswald Spengler, München 1949, S.  161 ff. und Pitrim A.  Sorokin, Kulturkrise und Gesellschaftsphilosophie  – Mo-



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Der Darlegung seines eigenen neuen Denkansatzes schickt Spengler eine fulminante Kritik der bisherigen historischen Periodisierung voraus. Die traditionelle Einteilung der Geschichte in Altertum, Mittelalter und Neuzeit bezeichnet er als „das unglaubwürdig dürftige und sinnlose Schema, dessen unbedingte Herrschaft über unser geschichtliches Denken uns immer wieder gehindert hat, die eigentliche Stellung der kleinen Teilwelt, wie sie sich seit der deutschen Kaiserzeit auf dem Boden des westlichen Europa entfaltet, in ihrem Verhältnis zur Gesamtgeschichte des höheren Menschentums nach ihrem Range, ihrer Gestalt, ihrer Lebensdauer vor allem richtig aufzufassen. Es wird künftigen Kulturen kaum glaublich erscheinen, daß dieser Grundriß mit seinem einfältigen, geradlinigen Ablauf, der […] eine natürliche Eingliederung der neu in das Licht unseres historischen Bewußtseins tretenden Gebiete gar nicht zuläßt, niemals ernstlich erschüttert wurde“45. Mit Nachdruck wendet sich Spengler gegen alle Formen einer linearen Geschichtsauffassung, die in ihrer jeweiligen Ausprägung fast stets irgendein – wie auch immer definiertes – Ziel der Geschichte postuliert46. In Anspielung auf die berühmten Formulierungen Kants in der Vorrede zur „Kritik der reinen Vernunft“ beansprucht Spengler sogar, eine kopernikanische Wende der Geschichtsbetrachtung herbeizuführen: „Ich nenne dies dem heutigen Westeuropäer geläufige Schema, in dem die hohen Kulturen ihre Bahnen um uns als den vermeintlichen Mittelpunkt alles Weltgeschehens ziehen, das ptolemäische System der Geschichte und ich betrachte es als die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, daß in diesem Buche ein System an seine Stelle tritt, in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylon, China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen Kultur […] eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen“47. Damit hat Spengler die von ihm gewissermaßen „entdeckten“ acht Kulturen genannt: alle acht sind  – bis auf die letzte, die sich in ihrem Endstadium befindende abendländische Kultur  – bereis untergegangen. Spengler nennt die Kulturen „Lebewesen höchsten Ranges“, sie „wachsen in einer erhabenen Zwecklosigkeit auf, wie die Blumen auf dem

derne Theorien über das Wesen und Vergehen von Kulturen und das Wesen ihrer Krisen, Stuttgart/Wien 1953, S. 88 ff. 45  Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. I, S. 21. 46  Vgl. ebenda I, S. 28: „… ‚die Menschheit‘ hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. ‚Die Menschheit‘ ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort“. 47  Ebenda I, S. 23 f.

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Felde“.48 Alle entwickeln sich nach einer analogen Gesetzmäßigkeit, sie sind, wie Spengler sagt, „Organismen“ und „Weltgeschichte ist ihre Gesamtbiographie“49. Er fügt hinzu: „Im Schicksal der einzelnen, auf­ einander folgenden, nebeneinander aufwachsenden, sich berührenden, überschattenden, erdrückenden Kulturen erschöpft sich der Gehalt aller Menschengeschichte“50. Jede Kultur wächst, erblüht und stirbt ab wie eine Pflanze: „Eine Kultur wird in dem Augenblick geboren, wo eine große Seele aus dem urseelenhaften Zustande ewig kindlichen Menschentums erwacht, sich ablöst, eine Gestalt aus dem Gestaltlosen, ein Begrenztes und Vergängliches aus dem Grenzenlosen und Verharrenden. Sie erblüht auf dem Boden einer genau abgrenzbaren Landschaft, an die sie pflanzenhaft gebunden bleibt. Eine Kultur stirbt, wenn diese Seele die volle Summe ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen, Glaubenslehren, Künsten, Staaten, Wissenschaften verwirklicht hat und damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt […] Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze Fülle innerer Möglichkeiten vollendet und nach außen hin verwirklicht, so erstarrt die Kultur plötzlich, sie stirbt ab, … ihre Kräfte brechen – sie wird zur Zivilisation“51. So durchläuft also nach der Lehre Spenglers jede Kultur „die Altersstufen des einzelnen Menschen. Jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Männlichkeit und ihr Greisentum“52 – und, wie hinzuzufügen ist, ihren Tod. Nach Spenglers Überzeugung besitzt jede Kultur „die ideale Lebensdauer von einem Jahrtausend“53, und das bedeutet, „jede Frühzeit, jeder Aufstieg und Niedergang, jede ihrer innerlich notwendigen Stufen und Perioden hat eine bestimmte, immer gleiche, immer mit dem Nachdruck eines Symbols wiederkehrende Dauer“54. Die Entwicklungsstadien der Goetheschen Urpflanze finden ihre analoge Verwirklichung in den Formen jeder Kultur: „Wie Blätter, Blüten, Zweige, Früchte in ihrer Gestalt, Tracht und Haltung, ein Pflanzendasein zum Ausdruck bringen, so tun es die religiösen, gelehrten, politischen, wirtschaftlichen Bildungen im Da48  Ebenda I, S. 29; auch hier findet sich die Berufung auf Goethe, denn Spengler betont, die Kulturen „gehören, wie Pflanzen und Tiere, der lebendigen Natur Goethes, nicht der toten Newtons an“. 49  Ebenda I, S. 141. 50  Ebenda I, S. 142. 51  Ebenda I, S. 144 f.  – Jede Kultur kann  – wie die Beispiele des „Ägyptizismus, Byzantinismus, Mandarinentum“ (ebenda, S. 145) belegen – wie „ein verwitterter Baumriese im Urwald, noch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch die morschen Äste emporstrecken“ (ebenda). 52  Ebenda I, S. 145. 53  Ebenda I, S. 149. 54  Ebenda (Bei Spengler ist das ganze Zitat gesperrt).



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sein einer Kultur“55. Im Anschluss an den biologischen Ausdruck der „Homologie“56 entwickelt Spengler seinen Begriff der „Gleichzeitigkeit“: Als „gleichzeitig“ in dem von ihm gemeinten Sinne bezeichnet er „zwei geschichtliche Tatsachen, die, jede in ihrer Kultur, in genau derselben  – relativen – Lage auftreten und also eine genau entsprechende Bedeutung haben“57. So lassen sich etwa, um einige Beispiele aus Wissenschaft und Kunst zu nennen, Pythagoras und Descartes, Archimedes und Gauß, Polygnet und Rembrandt als „Zeitgenossen“ bezeichnen. „Gleichzeitig erscheinen in allen Kulturen die Reformation, der Puritanismus, vor allem die Wende zur Zivilisation. In der Antike trägt diese Epoche die Namen Philipps und Alexanders, im Abendlande tritt das gleichzeitige Ereignis in Gestalt der Revolution und Napoleons ein“58. Dieses Schema homologer „Gleichzeitigkeiten“ meinte Spengler auf die gesamte Weltgeschichte anwenden zu können. Es konnte nicht ausbleiben, dass diese Ideen – die ja in der Tat sehr oft auf nicht weiter begründeten oder hinterfragten Intuitionen beruhten  – auf den scharfen Widerspruch der zeitgenössischen Philosophie und ­Wissenschaft stießen59. Eine Reihe angesehener deutscher Gelehrter tat sich 1921 zusammen, um im zweiten Heft des neunten Jahrgangs der angesehenen Zeitschrift „Logos“ mit Spengler abzurechnen  – freilich mit zweifelhaftem Erfolg. Denn auch wenn es den Professoren gelang, dem Autor des „Untergangs“ hier und dort einige Fehler, Missverständnisse oder auch Unkenntnis neuerer Forschungsergebnisse nachzuweisen60, war es doch andererseits kaum möglich, die zahlreichen Belege, die Spengler zusammengetragen und mit denen er seine Thesen untermauert 55  Ebenda

I, S. 150. ebenda I, S. 151: „als Homologie der Organe bezeichnet die Biologie deren morphologische Gleichwertigkeit im Gegensatz zur Analogie, die sich auf die Gleichwertigkeit ihrer Funktionen bezieht“. Als Beispiel nennt Spengler: „Homolog sind die Lunge der Landtiere und die Schwimmblase der Fische, analog – in bezug auf den Gebrauch – sind Lunge und Kiemen“. 57  Ebenda I, S. 152. 58  Ebenda  – Spengler hoffte tatsächlich den Beweis dafür antreten zu können, „daß ohne Ausnahme alle großen Schöpfungen und Formen der Religion, Kunst, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft in sämtlichen Kulturen gleichzeitig entstehen, sich vollenden, erlöschen; daß der inneren Struktur der einen die aller anderen durchaus entspricht; daß es nicht eine Erscheinung von tiefer physiognomischer Bedeutung im geschichtlichen Bilde der einen gibt, deren Gegenstück […] nicht in den übrigen aufzufinden wäre“ (ebenda). 59  Hierüber informiert immer noch am zuverlässigsten Schröter, Metaphysik des Untergangs (Anm. 44), S. 17–158. 60  Vgl. Logos  9 (1920/21), Heft  2 (S. 133–295) mit Beiträgen von Karl Joël, Eduard Schwartz, Wilhelm Spiegelberg, Ludwig Curtius, Erich Frank, Edmund Mezger, Gustav Becking. 56  Vgl.

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hatte, einfach zu ignorieren. Und darüber hinaus erregte die Tatsache, dass immerhin der bedeutendste Althistoriker der Zeit, Eduard Meyer, einigen der Grundideen und der zentralen Thesen Spenglers öffentlich zustimmte, einiges Aufsehen61. Noch mit Spenglers Tod im Jahre 1936 war der Streit um ihn und sein Werk nicht beendet  – und im Grunde dauert er bis in die Gegenwart an. IV. Nach der Lehre Spenglers sind die historischen Kulturen keineswegs als gegeneinander abgeschlossene, fensterlose Monaden anzusehen, sondern es gab und gibt immer wieder Berührungen, Überschneidungen und Einflüsse aller Art. „Alle Kulturen“, heißt es im ersten Band des „Untergangs“, „mit Ausnahme der ägyptischen, mexikanischen und chinesischen haben unter der Vormundschaft älterer Kultureindrücke gestanden; fremde Züge erscheinen in jeder dieser Formenwelten“62. Tritt eine solche Beeinflussung in massiver Form auf, dann hat man es nach Spengler mit einer historischen Pseudomorphose zu tun, die er als „Fälle“ definiert, „in welchen eine fremde alte Kultur so mächtig über dem Lande liegt, daß eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur Entfaltung ihres Selbstbewußtseins gelangt. Alles was aus der Tiefe eines frühen Seelentums emporsteigt, wird in die Hohlformen des fremden Lebens gegossen; junge Gefühle erstarren in ältlichen Werken und statt des Sichaufreckens in eigener Gestaltungskraft wächst nur der Haß gegen die ferne Gewalt zur Riesengröße“63. Die historische Pseudomorphose64 der magischen Kultur (wie Spengler die arabische Kultur nennt) bietet das wohl aufschlussreichste Beispiel einer solchen kulturellen Überlagerung. Denn da „die antike Zivilisation der Kaiserzeit mit einer scheinbaren Jugendkraft und Fülle riesenhaft“ aufragte, nahm sie zugleich „der jungen arabischen Kultur des Ostens Luft und Licht“65. Gewissermaßen eingerahmt von der greisen antiken und der sich seit dem Jahre 1000 n. Ch. in Westeuropa langsam 61  Vgl. Koktanek, Oswald Spengler (Anm.  2), S.  348  ff.; siehe auch unten, Anm. 64. 62  Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. I, S. 277. 63  Ebenda II, S. 227. 64  Trotz mancher Skepsis im Hinblick auf einige Details nennt Eduard Meyer, Spenglers Untergang des Abendlandes, Berlin 31925, S. 15, den Begriff der Pseudomorphose ausdrücklich „den glücklichen Ausdruck, den er (Spengler, H.-C.K.) in die Geschichtsbetrachtung eingeführt hat“. 65  Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. I, S. 145.



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entfaltenden jungen abendländischen Kultur ist die magische Kultur geographisch und historisch „die mittelste in der Gruppe hoher Kulturen, die einzige, welche sich räumlich und zeitlich fast mit allen anderen berührt“66. Und eben hierin liegt nach Spengler der Hauptgrund für die Tatsache, dass sie sich in keiner Periode ihrer Geschichte frei und ungehindert hat entfalten können  – ja dass sie bis jetzt noch gar nicht im eigentlichen Sinne als historische Einheit entdeckt, erkannt und erforscht worden ist67. Das zweite große Beispiel einer historischen Pseudomorphose aber stellt das petrinische Russland dar68. Obwohl oder vielleicht gerade weil Peter der Große „ein Mann von ungeheurer weltpolitischer Bedeu­ tung“69 war, wurde er zum „Verhängnis des Russentums“, indem er mit der Gründung der neuen Hauptstadt Sankt Petersburg (1703) die Pseudomorphose einleitete, „welche die primitive russische Seele erst in die fremden Formen des hohen Barock, dann der Aufklärung, dann des 19. Jahrhunderts zwang“70. Eine gigantische Umfälschung der tiefsten geistigen, seelischen und religiösen Intentionen der frührussischen Volkskultur war die Folge dieses gewaltsamen Eingriffs: „Ein Volkstum, dessen Bestimmung es war, noch auf Generationen hin geschichtslos zu leben, wurde in eine künstliche und unechte Geschichte gezwängt, deren Geist vom Urrussentum gar nicht begriffen werden konnte. Späte Künste und Wissenschaften wurden hereingetragen, Aufklärung, Sozialethik, weltstädtischer Materialismus, obwohl in dieser Vorzeit Religion die einzige Sprache war, in der man sich und die Welt verstand; in das stadtlose Land mit seinem ursprünglichen Bauerntum nisteten sich Städte fremden Stils wie Geschwüre ein. Sie waren falsch, unnatürlich, unwahrscheinlich bis ihr Innerstes“71. Die von Peter dem Großen herbeigeführte „Wandlung im Schicksal eines ganzen Volkes […] ist in der gesamten Geschichte vielleicht kein zweites Mal mit solchen Folgen nachzuweisen“. Seine Politik „nimmt Rußland aus den asiatischen Zusammenhängen heraus und macht es zu einem Staate westlichen Stils innerhalb der westlichen Staatenwelt“72. 66  Ebenda

II, S. 128. ebenda II, S. 127 ff.; I, S. 275 ff. 68  Vgl. hierzu vor allem ebenda II, S. 231  ff.; Spengler, Politische Schriften (Anm.  23), S.  98 ff., 110 ff. 69  Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. 112. 70  Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 231 f. 71  Ebenda II, S. 232. 72  Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. 112; vgl. ebenda, S. 112  f. die Ausführungen über die verwaltungstechnischen, wirtschaftlichen und militärischpolitischen Neuerungen, die auf Peters Reformen zurückgehen. 67  Vgl.

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Spengler arbeitet drei Phasen heraus, die in der neueren  – durch die Pseudomorphose geprägten  – russischen Geschichte sichtbar werden: „Um 1700 drängt Peter der Große dem Volk den politischen Barockstil mit Kabinettsdiplomatie, Hausmachtpolitik, Verwaltung und Heer nach westlichem Muster auf; um 1800 kommen die diesen Menschen ganz unverständlichen englischen Ideen in der Fassung französischer Schriftsteller herüber, um die Köpfe der dünnen Oberschicht zu verwirren; noch vor 1900 führen die Büchernarren der russischen Intelligenz den Marxismus, ein äußerst kompliziertes Produkt westeuropäischer Dialektik ein, von dessen Hintergründen sie nicht den geringsten Begriff haben“73. Die immense historische Bedeutung des Petrinismus wird von Spengler immer wieder mit Nachdruck hervorgehoben: „Trotz aller Schwächen einer künstlichen Schöpfung aus widerstrebendem Stoffe war der Petrinismus in den 200  Jahren seines Bestehens etwas Gewaltiges. Was er aufgebaut hatte, wird man erst aus einer fernen Zukunft zurückblickend würdigen, und an dem Trümmerhaufen, den er hinterließ, abschätzen können. Er hat ‚Europa‘ scheinbar wenigstens bis zum Ural ausgedehnt und zu einer Einheit der Kultur gemacht“74. Und trotzdem erscheint die Pseudomorphose aus der Perspektive der Spenglerschen Kulturmorphologie als ein schweres Verhängnis, als Katastrophe mit kaum zu überschätzenden Wirkungen und Folgen: „Der Petrinismus war und blieb ein Fremdkörper im Russentum. Es gab in Wirklichkeit nicht ein Rußland, sondern zwei, das scheinbare und das wahre, das offizielle und das unterirdische. Und das fremde Element trug das Gift herein, an welchem der gewaltige Körper krankte und starb. Es war der dem echten russischen Denken unzugängliche und unverständliche Geist des westlichen Rationalismus im 18. und des Materialismus im 19. Jahrhundert, der als russischer Nihilismus sein fratzenhaftes und gefährliches Dasein unter der ‚Intelligenz‘ der Städte führte. Es entstand ein Typus des intelligenten Russen, der […] seelisch und geistig durch Westeuropa bis zum Zynismus verflacht, entleert, verdorben ist. Mit 73  Ebenda,

S. 99. S. 113.  – Gleichwohl hat es Spengler, der Logik seines Ansatzes folgend, strikt abgelehnt, Russland als Teil Europas zu betrachten, vgl. insbesondere Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. I, S. 22, Anm. 1: „Es war allein das Wort Europa, mit dem unter seinem Einfluß entstandenen Gedankenkomplex, daß Rußland mit dem Abendlande in unserm historischen Bewußtsein zu einer durch nichts gerechtfertigten Einheit verband. Hier hat, in einer durch Bücher erzogenen Kultur von Lesern, eine bloße Abstraktion zu ungeheuren tatsächlichen Folgen geführt. Sie haben, in der Person Peters des Großen, die historische Tendenz einer primitiven Völkermasse auf Jahrhunderte gefälscht, obwohl der russische Instinkt ‚Europa‘ sehr richtig und tief mit einer in Tolstoi, Aksakow und Dostojewski verkörperten Feindseligkeit gegen das ‚Mütterchen Rußland‘ abgrenzt“. 74  Ebenda,



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­ oltaire fing es an und führte über Proudhon und Marx zu Spencer und V Häckel. Gerade die Oberklasse der Zeit Tolstois spielte sich damit auf, blasiert, geistreich sein wollend, glaubenslos, traditionsfeindlich und diese Weltanschauung drang hinab bis zur Hefe der großen Städte, den Literaten, Volksagitatoren und Studenten“75. Und diese wiederum infizierten, so Spengler, weite Schichten des einfachen Volkes mit westlich-dekadenten Ideen. Kurz: „Dies kindlich dumpfe und ahnungslose Russentum ist nun von ‚Europa‘ aus durch die aufgezwungenen Formen einer bereits […] vollendeten, fremden und herrischen Kultur gequält, verstört, verwundet, vergiftet worden“76,  – und der Bolschewismus könne deshalb nur als die logische Folge einer sich seit zwei Jahrhunderten vollziehenden kulturellen Katastrophe angesehen werden77. Dieser Sicht entspringt eine völlig neue Deutung und Periodisierung der russischen Geschichte, die Spengler mit Hilfe seiner kulturmorphologisch‑vergleichenden Betrachtungsweise vornimmt. So entspricht etwa „die russische Geschichte von 900 bis 1900 […] nicht der abendländischen in diesen Jahrhunderten, sondern derjenigen von der Römerzeit bis auf Karl den Großen“78. Spengler weitet seine Analogien auch auf spätere Epochen aus: so korrespondiert z. B. die russische Geschichte zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert der  – abendländischen  – Merowinger‑ und Frankenzeit, insbesondere in religionsgeschichtlicher Hinsicht79. Sogar die Geschichtsschreiber gleichen sich: So erscheint Nikolai Karamsin (1766–1826) tatsächlich als „gleichzeitiges“ Pendant zu Gregor von Tours80! Bis in die eigene Gegenwart hinein führt Spengler diesen Vergleich fort: „Diese jungen Russen vor dem Kriege, schmutzig, bleich, erregt, in Winkeln hockend und immer mit Metaphysik beschäftigt, alles mit den Augen des Glaubens betrachtend, selbst wenn sich das Gespräch dem Anschein nach um Wahlrecht, Chemie oder Frauenstudium bewegte  – das sind die Juden und Urchristen der hellenisti75  Spengler,

Politische Schriften (Anm. 23), S. 113 f. S. 99. 77  Vgl. ebenda, S. 114. 78  Ebenda, S. 110; Spengler fährt fort: „Unsre Heldendichtung von Arminius bis zum Hildebrand-, Roland- und Nibelungenlied wiederholt sich in den russischen Bylinen, Volksgesängen, die mit den Recken am Hofe des Fürsten Wladimir († 1015), mit Igors Heerfahrt und Ilja von Murom beginnen und über Iwan den Schrecklichen, Peter den Großen und den Brand von Moskau bis in die Gegenwart fruchtbar und lebendig geblieben sind“. 79  Vgl. Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 340 f. 80  Vgl. ebenda II, S. 231: „Ich rate jedem, der die fränkische Geschichte des Gregor von Tours (bis 591) und daneben die entsprechenden Abschnitte bei dem altväterischen Karamsin zu lesen, vor allen die über Iwan den Schrecklichen, Boris Godunow und Schuiski. Die Ähnlichkeit kann nicht größer sein“. 76  Ebenda,

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schen Großstädte, die der Römer mit so viel Spott, Widerwillen und heimlicher Furcht betrachtete“81. Tatsächlich hat Spengler während seiner Studentenzeit in Halle kurz nach 1900 Kontakte zu russischen Studenten unterhalten82. Und es ist durchaus anzunehmen, dass der Eindruck, den der junge Deutsche von seinen russischen Altersgenossen empfing, in Verbindung mit intensiver Lektüre russischer Dichter, vor allem der Romane und Schriften Dostojewskijs, maßgeblich zu Spenglers Russlandbild beigetragen hat. Überhaupt stellt sich hier die Frage nach der Art und der Qualität seiner Russlandkenntnisse. Man weiß, dass Spengler als Student die russische Sprache erlernt hat, um die Romane Dostojewskijs – von dem Dichter war er Zeit seines Lebens aufs höchste fasziniert83 – im Original lesen zu können84. Wie weit diese Sprachkenntnisse ausgeprägt waren, ist aus heutiger Sicht kaum mehr zu rekonstruieren85; jedenfalls zitiert oder erwähnt er in seinen Schriften russische Werke nicht im Original, sondern nur in deutscher Übersetzung. Immerhin hat er mit der Baltin Less Kaerrick, die unter einem Pseudonym nach dem ersten Weltkrieg die Werke Dostojewskijs ins Deutsche übertrug, über die Probleme der Übersetzung bestimmter russischer Ausdrücke und Texte korrespondiert86  – ein Austausch, der sich in einer langen Fußnote im zweiten Band  des „Untergangs des Abendlandes“ niedergeschlagen hat87. In der Tat ist es, wie Ulmen festgestellt hat, bemerkenswert, dass Spengler „– trotz der wenigen in Deutschland vorhandenen Rußlandhistoriker und russischen Quellen – so viel von russischer Geschichte und Kultur verstand“88. Er bezog sich, was die von ihm ausdrücklich herangezogenen Autoren anbetrifft, 81  Ebenda

II, S. 233. Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit (Anm. 2), S. 63 f. 83  Siehe zu Spenglers Dostojewskij-Deutung auch unten, Abschnitt V. 84  Vgl. Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit (Anm. 2), S. 20. 85  Auch Baltzer: Philosoph oder Prophet (Anm. 4), S. 230 kann seine Behauptung, Spengler habe mühelos russische Texte lesen könne, nicht eindeutig belegen, ebensowenig wie Ulmen, Metaphysik des Morgenlandes (Anm. 10), S. 193, Anm. 59, der es als „Tatsache“ ansehen zu können meint, „daß Spengler kaum mit der russischen Sprache vertraut war“. 86  Vgl. Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit (Anm. 2), S. 260 f. 87  Siehe dazu unten, Anm. 100. 88  Ulmen, Metaphysik des Morgenlandes (Anm. 10), S. 146; sehr treffend bemerkt Ulmen ebenda: „Spengler kann wegen der Kargheit seiner russischen Quellen kein Vorwurf gemacht werden. Um es deutlicher zu sagen: Er war mit Sicherheit mit mehr vertraut, als er zitiert (was übrigens für alle Kulturen, über die er schriebt, gilt). Seine laxe Haltung, was das Zitieren anbelangt, ist beabsichtigt. Es handelt sich einmal mehr um einen Protest gegen das ‚wissenschaftliche‘ Ethos, das die Forschung in Deutschland beherrschte …“. 82  Vgl.



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keineswegs nur auf Karamsin, sondern auch auf die 1898 in deutscher Übersetzung erschienenen „Skizzen russischer Kulturgeschichte“ des „Westlers“ Paul Milukow. Spengler verdankt diesem Werk ebenso viel wie Wilhelm Wollners „Untersuchungen über die Volksepik der Groß­ russen“, einer bereits 1879 veröffentlichten Leipziger philosophischen Dissertation89. Zudem kann es als sicher gelten, dass Spengler auch mit ­Alexander Brückners Schrift „Rußlands geistige Entwicklung im Spiegel seiner schönen Literatur“ (1908) und mit den umfangreichen Arbeiten des Tschechen Thomas G. Masaryk vertraut war, insbesondere mit dessen 1913 in deutscher Sprache publiziertem zweibändigen Werk „Zur russischen Geschichts‑ und Religionsphilosophie“90. Jedenfalls steht fest, dass sich Spengler überaus eingehend mit russischer Geschichte und Kultur anhand der ihm zugänglichen Quellen und Darstellungen befasst hat. So problematisch seine These einer Pseudomorphose als Verhängnis der russischen Kultur aus der Sicht heutiger wissenschaftlicher Forschung auch sein mag: Spenglers Deutung der russischen Geschichte ging keineswegs nur zurück auf eine Intuition, eine Eingebung, vielleicht eine geniale Idee, sondern beruhte auch auf eingehendem Studium, auf intensiver historischer Reflexion, auf dem Versuch einer jeden Europazentrismus vermeidenden  – und hierin sehr modernen  – kulturvergleichenden Betrachtungsweise sowie nicht zuletzt auf der Erfahrung persönlicher Begegnungen mit russischen Menschen. V. Es gehört zu den Kernthesen der Spenglerschen Kulturmorphologie, jede der großen historischen Hochkulturen zeichne sich durch ein eigenes Ursymbol aus91. Das Erwachen der „Seele“ einer Kultur bringe zugleich eine je eigene Art des Erfassens der räumlichen Außenwelt mit sich; und eben diese je eigene Art, dieser bestimmte und einzigartige ­Zugang zum räumlichen Dasein sei nichts anderes als das „Ursymbol“ 89  Vgl.

ebenda, S. 149 ff. ebenda, S. 193, Anm. 59 (Der bei Ulmen genannte Titel des Werkes von Masaryk ist inkorrekt). In den zwanziger Jahren erhielt Spengler von dem 1920 aus Rußland geflohenen Baltendeutschen Wolfgang E.  Groeger, der sich bald als Übersetzer russischer Literatur einen Namen machen sollte, zahlreiche Informationen über russische Themen und Probleme, auch über die aktuelle Lage in der Sowjetunion; vgl. hierzu: Der Briefwechsel zwischen Oswald Spengler und Wolfgang E. Groeger über russische Literatur, Zeitgeschichte und soziale Fragen, hrsg. v. Xenia Werner, Hamburg 1987. 91  Vgl. hierzu und zum folgenden Spengler, Untergang (Anm.  24), Bd.  I, S. 228 ff., 235 f., 244 ff., 257 f., Bd. II, S. 342, 433. 90  Vgl.

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einer Kultur92. „Erst aus der Art des Gerichtetseins im Raum“, führt Spengler diesen Gedanken aus, „folgt das ausgedehnte Ursymbol, nämlich für den antiken Weltblick der nahe, fest umgrenzte, in sich geschlossene Körper, für den abendländischen der unendliche Raum mit dem Tiefendrang der dritten Dimension, für den arabischen die Welt als Höhle“93. Aus dieser „Art der Ausgedehntheit“, d. h. aus diesem Ursymbol ist nun nach Spengler „die gesamte Formensprache“ der Wirklichkeit einer Kultur sowie „ihre Physiognomie im Unterschiede von der jeder anderen Kultur und vor allem von der beinahe physiognomielosen Umwelt des primitiven Menschen […] abzuleiten“. Das Ursymbol „ist im Formgefühl jedes Menschen, jeder Gemeinschaft, Zeitstufe und Epoche wirksam und diktiert ihnen den Stil sämtlicher Lebensäußerungen. Es liegt in der Staatsform, in den religiösen Mythen und Kulten, den Idealen der Ethik, den Formen der Malerei, Musik und Dichtung, den Grundbegriffen jeder Wissen­schaft“94. Auch das Russentum hat ein solches Ursymbol: es ist „die unendliche Ebene“95. Zwar findet diese in religiöser Hinsicht, aber auch „architektonisch noch keinen sicheren Ausdruck“96, da die russische Kultur ja eben erst am Beginn ihrer Entfaltung steht, trotzdem offenbart sich schon etwas von diesem Ursymbol in den Abwehrreaktionen des echten Russen gegen westliche Denk‑ und Verhaltensformen. Die faustische „Willenskultur“, die das „Ich“ und dessen Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt und deren religiöse Intentionen in der Rechtfertigung und schließlich der „Unsterblichkeit des Ich“ gipfeln97, ist, so Spengler, „genau das, was der echte Russe als eitel empfindet und verachtet. Die russische, willenlose Seele, deren Ursymbol die unendliche Ebene ist, sucht in der Brüderwelt, der horizontalen, dienend, namenlos, sich verlierend aufzugehen. Von sich aus an den Nächsten denken, sich durch Nächstenliebe sittlich zu heben, für sich büßen wollen ist ihr ein Zeichen west­ 92  Vgl. ebenda I, S. 228: „Eine tiefe Identität verknüpft beides: Das Erwachen der Seele, ihre Geburt zum hellen Dasein im Namen einer Kultur, und das plötzliche Begreifen von Ferne und Zeit, die Geburt der Außenwelt durch das Symbol der Dehnung, die von nun an das Ursymbol dieses Lebens bleibt und ihm seinen Stil und die Gestalt seiner Geschichte als der fortschreitenden Verwirklichung seiner innern Möglichkeiten gibt“. 93  Ebenda I, S. 228. 94  Alle Zitate ebenda I, S. 228 f. 95  Ebenda I, S. 261, 398. 96  Ebenda I, S. 261; selbst die bekannten Zwiebeltürme der russisch-orthodoxen Kirchen seien „noch kein Stil, aber das Versprechen eines Stils, der erst mit der eigentlich russischen Religion erwachen wird“ (ebenda). 97  Vgl. ebenda I, S. 397 f.



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licher Eitelkeit und frevelhaft wie das In‑den‑Himmel‑dringen‑wollen unsrer Dome im Gegensatz zur kuppelbesetzten Dachebene russischer Kirchen“98. Bis in Wortklänge und Bedeutungsformen der Sprache hinein meint Spengler den Differenzen zwischen dem abendländischen und dem russischen Ursymbol nachspüren zu können. Im Anschluss an seine mit Less Kaerrick geführte Korrespondenz99 heißt es im zweiten Band des „Untergangs“: „Das russische Wort für Himmel ist njébo, eine Verneinung (n). Der Mensch des Abendlandes blickt hinauf, der Russe blickt zum Horizont ins Weite. Man muß den Tiefendrang beider also dahin unterscheiden, daß er dort die Leidenschaft des Vordringens nach allen Seiten in den unendlichen Raum ist, hier ein Sichentäußern, bis das ‚Es‘ im Menschen mit der Ebene eins geworden ist. So versteht der Russe die Worte Mensch und Bruder: er sieht auch das Menschentum als Ebene. Der Gedanke, daß ein Russe Astronom ist? Er sieht die Sterne gar nicht; er sieht nur den Horizont. Statt Himmelsdom sagt er Himmelsabhang. Es ist das, was mit der Ebene irgendwo in der Ferne den Horizont bildet. Das kopernikanische System ist seelisch für ihn etwas Lächerliches, mag es mathematisch sein, was es will“100. Hier hat zweifellos die spätere Wirklichkeit die Spenglerschen Spekulationen in besonders handgreiflicher Weise ad absurdum geführt, und Spenglers erster Biograph Koktanek bemerkt denn auch mit vollem Recht: „Eine schlagendere Widerlegung spielerischer Theorie durch die Wirklichkeit als die russische Astronautik gibt es kaum“101. Das eigentlich auslösende Moment für Spenglers Interesse an Russland, ja für die Faszination, die alles Russische auf ihn ausübte, dürfte letzten Endes in der Lektüre der großen russischen Dichter des 19. Jahrhunderts zu suchen sein102. So verwundert es nicht, dass der zentrale Ab98  Ebenda

I, S. 398. oben, Anm. 86. 100  Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 362 f., Anm. 1; vgl. ebenda: „Russische Mystik besitzt nichts von jener hinaufschwebenden Inbrunst der Gotik, Rembrandts, Beethovens, die bis zum himmelstürmenden Jubel anwachsen kann. Gott ist hier nicht die azurne Tiefe dort oben. Die mystische russische Liebe ist die der Ebene, die zu den Brüdern unter gleichem Drucke, immer längs der Erde – längs der Erde; die zu den armen gequälten Tieren, die auf ihr wandern, zu den Pflanzen, niemals zu den Vögeln, Wolken und Sternen. Das russische wolja, unser Wille, bedeutet vor allem Nicht-müssen, Freisein – nicht für, sondern von etwas, vor allem von der Verpflichtung zu persönlicher Tat. Willensfreiheit erscheint als der Zustand, in dem kein anderes ‚Es‘ befiehlt und man sich also der Laune hingeben kann“. 101  Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit (Anm. 2), S. 260. 102  Bereits als Schüler las Spengler Tolstoi, Dostojewskij und Turgenjew; vgl. ebenda, S. 45, Anm. 2; Felken, Oswald Spengler (Anm. 2), S. 16. 99  Siehe

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schnitt im „Untergang des Abendlandes“, der sich mit Gegenwart und Zukunft Russlands befasst, aus einer Gegenüberstellung Tolstois und Dostojewskijs besteht, in denen sich für Spengler das alte, durch die Pseudomorphose verfälschte, sowie das neue Russland einer künftigen Kultur personifizieren: „Tolstoi ist das vergangene, Dostojewski das kommende Rußland. Tolstoi ist mit seinem ganzen Innern dem Westen verbunden. Er ist der große Wortführer des Petrinismus, auch wenn er ihn verneint. Es ist stets eine westliche Verneinung. […] Sein mächtiger Haß redet gegen das Europa, von dem er selbst sich nicht befreien kann. Er haßt es in sich, er haßt sich. Er wird damit der Vater des Bolschewismus. Die ganze Ohnmacht dieses Geistes und ‚seiner‘ Revolution von 1917 spricht aus den nachgelassenen Szenen: ‚Das Licht leuchtet in der Finsternis‘. Diesen Haß kennt Dostojewski nicht. […] Für ihn hat das alles, Petrinismus und Revolution, bereits keine Wirklichkeit mehr. Aus seiner Zukunft blickt er wie aus weiter Ferne darüber hin. Seine Seele ist apokalyptisch, sehnsüchtig, verzweifelt, aber dieser Zukunft gewiß“103. Tolstoi als geistige Persönlichkeit repräsentiert nach Spengler das petrinische System „auch noch durch seine Auflehnung, einen Protest in westlicher Form gegen den Westen“104. Deshalb gehört er  – als Dichter wie als „Sozialethiker“  – nicht zu Russland, sondern zu „Europa“, zum Westen; deshalb ist er der eigentliche Widerpart Dostojewskijs: „Tolstoi ist durchaus ein großer Verstand, ‚aufgeklärt‘ und ‚sozial gesinnt‘. Alles was er um sich sieht, nimmt die späte, großstädtische und westliche Form eines Problems an. Dostojewski weiß gar nicht, was Probleme sind. Jener ist ein Ereignis innerhalb der westlichen Zivilisation. Er steht in der Mitte zwischen Peter dem Großen und dem Bolschewismus. Die russische Erde haben sie alle nicht zu Gesicht bekommen. Was sie bekämpfen, wird durch die Form, in der sie es tun, doch wieder anerkannt. Das ist nicht Apokalyptik, sondern geistige Opposition. Sein Haß gegen den Besitz ist nationalökonomischer, sein Haß gegen die Gesellschaft sozialethischer Natur; sein Haß gegen den Staat ist eine politische Theorie. Daher seine gewaltige Wirkung auf den Westen. Er gehört irgendwie zu Marx, Ibsen und Zola. Seine Werke sind nicht Evangelien, sondern späte, geistige Literatur“105. 103  Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 234  f.; Spengler zitiert anschließend die bekannten Worte Iwan Karamasows zu seinem Bruder Aljoscha, in denen Europa als „großer Friedhof“ bezeichnet wird. 104  Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. 122. 105  Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 235; vgl. ebenda, S. 236: „Tolstoi ist ein Meister des westlichen Romans – Anna Karenina wird von keinem zweiten auch nur entfernt erreicht  –, ganz wie er auch in seinem Bauernkittel ein Mann der Gesellschaft ist“.



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Ganz anders dagegen Dostojewskij, der für Spengler eigentlich kein Dichter, schon gar kein „Literat“, sondern im Grunde ein homo religiosus in bedeutendster, tiefster Ausprägung, ein Heiliger, ein Mystiker und Prophet in einem ist106. Die bisherigen „westlichen“ Deutungen der säkularen Gestalt dieses Mannes gehen in die Irre: „Man verkennt Dostojewski, einen Heiligen in der vom Westen erzwungenen widersinnigen und lächerlichen Gestalt eines Romanschriftstellers, wenn man seine sozialen ‚Probleme‘ anders auffaßt als seine Romanform. Sein Wirklichstes steht mehr zwischen als in den Zeilen und steigert sich in den ‚Brüdern Karamasow‘ zu einer religiösen Tiefe, neben der nur Dante genannt werden darf“107. – Allerdings stand Spengler in den Jahren um 1920, als er diese Zeilen schrieb und drucken ließ, mit seiner Deutung Dostojewskijs durchaus nicht allein. Ähnliche Auffassungen vertraten auch andere – interessanterweise vornehmlich deutsche  – Autoren, von denen hier stellvertretend nur an den Schriftsteller und Literaturkritiker Werner Mahrholz erinnert werden soll, der 1922 (also zeitgleich mit dem zweiten Band von Spenglers „Untergang“) eine Dostojewskij‑Monographie veröffentlichte, in der dem russischen Dichter eine geradezu hymnische Verehrung als dem Künder eines erneuerten christlichen Evangeliums zuteil wurde108. Auch hiermit mag der große Eindruck zusammenhängen, den Spenglers Deutung Russlands auf seine Zeitgenossen ausübte. Im zweiten Band des „Untergangs“ hat Spengler seine Charakteristik Dostojewskijs als des religiösen Repräsentanten der kommenden russischen Kultur in der Form einer zugespitzten Konfrontation mit Tolstoi präzise herausgearbeitet: Während dieser in einer Reihe mit Marx, Ibsen, Zola stehe, so gehöre demgegenüber „Dostojewski […] zu niemand, wenn nicht zu den Aposteln des Urchristentums. Seine ‚Dämonen‘ waren in der russischen Intelligenz als konservativ verschrien. Aber Dostojewski sieht diese Konflikte gar nicht. Für ihn ist zwischen konservativ und revolu­ tionär überhaupt kein Unterschied: beides ist westlich. Eine solche Seele sieht über alles Soziale hinweg. Die Dinge dieser Welt erscheinen ihr so

106  Bereits 1915 bemerkte Spengler in einem Brief; Oswald Spengler, Briefe 1913–1936, hrsg. v. Anton Mirko Koktanek, München 1963, S. 45: „Ich schätze […] den anderen Dostojewski, den Mystiker, das große Kind. […] Da gleicht er den ältesten deutschen Dichtern der Karolingerzeit (Hildebrandslied); er ist episch, intuitiv, ahnungslos tief. Da lernt man das neue Volkstum kennen (‚Rußland‘ ist ein falsches Wort dafür), das hinter Moskau unterirdisch heranreift und im nächsten Jahrtausend […] eine neue Kultur […] beginnen wird. […] Ich finde das alles in Dostojewski; ich weiß, daß die meisten es dort nicht finden“. 107  Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. 99 f., vgl. ebenda, S. 98, 116, 122. 108  Vgl. Werner Mahrholz, Dostojewskij  – Ein Weg zum Menschen, zum Werk, zum Evangelium (Der Neue Bund, Heft 3), Berlin 1922, bes. S. 62 ff. u. passim.

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unbedeutend, daß sie auf ihre Verbesserung keinen Wert legt. Keine echte Religion will die Welt der Tatsachen verbessern. Dostojewski wie jeder Urrusse bemerkt sie gar nicht; sie leben in einer zweiten, metaphysischen, die jenseits der ersten liegt. Was hat die Qual einer Seele mit dem Kommunismus zu tun? Eine Religion, die bei Sozialproblemen angelangt ist, hat aufgehört, Religion zu sein. Dostojewski aber lebt schon in der Wirklichkeit einer unmittelbar bevorstehenden religiösen Schöpfung. Sein Aljoscha ist dem Verständnis aller literarischen Kritik […] entzogen; sein Christus, den er immer schreiben wollte, wäre ein echtes Evangelium geworden wie jene des Urchristentums, die gänzlich außerhalb aller antiken und jüdischen Literaturformen stehen“109. Diese Konfrontation der beiden großen russischen Dichter vollendet Spengler bis zur letzten Konsequenz: „Tolstoi, nicht Marx ist der eigentliche Führer zum Bolschewismus. Dostojewski ist sein künftiger Über­ winder“110, heißt es in dem 1922 gehaltenen Vortrag „Das Doppelantlitz Rußlands und die deutschen Ostprobleme“, – und der Kommentar hierzu lautet im „Untergang“: „Anfang und Ende stoßen hier zusammen. Dostojewski ist ein Heiliger, Tolstoi nur ein Revolutionär. Von ihm allein, dem echten Nachfolger Peters, geht der Bolschewismus aus; nicht das Gegenteil, sondern die letzte Konsequenz des Petrinismus, die äußerste Herabwürdigung des Metaphysischen durch das Soziale und eben deshalb nur eine neue Form der Pseudomorphose“111. Dagegen ist „der echte Russe ein Jünger Dostojewskis, obwohl er ihn nicht liest, obwohl und weil er überhaupt nicht lesen kann. Er ist selbst ein Stück Dostojewski“  – und zwar deshalb, weil der Dichter als „Heiliger“, als Prophet, Mystiker und Evangelist nichts anderes darstellt als gewissermaßen die Personifizierung der kindlich‑frühen Religiosität einer langsam aufdämmernden Kultur: „Das Christentum Tolstois war ein Mißverständnis. Er sprach von Christus und meinte Marx. Dem Christentum Dostojewskis gehört das nächste Jahrtausend“112. Es versteht sich, dass vor dem Hintergrund dieser Voraussagen der Bolschewismus für Spengler ein besonders gewichtiges, zuerst nicht leicht deutbares, weil den eigenen Prophezeiungen scheinbar zuwiderlaufendes Phänomen sein musste, obwohl er 1915 einmal die russische Revolution vorausgesagt hatte113. Denn der Erfolg der bolschewistischen Revolution bedeutete ja den Sieg Tolstois, nicht Dostojewskijs, und damit 109  Spengler,

Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 235 f. Politische Schriften (Anm. 23), S. 122. 111  Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 236. 112  Ebenda, S.  236 f. 113  Vgl. Spengler, Briefe (Anm. 106), S. 41. 110  Spengler,



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nur die Ablösung der alten durch eine „neue Form der Pseudomorphose“114. Der schnelle und in seiner praktischen Konsequenz so radikale und tiefgreifende Sieg der Bolschewiki beweise, so Spengler weiter, nur die Hohlheit und Künstlichkeit der vorherigen politischen und sozialen Ordnung115, zeige aber zugleich, dass mit diesem Vorgang nichts anderes als „die endgültige Selbstzerstörung des Petrinismus von unten her“ eingesetzt habe: „Nur das Künstliche der Schöpfung Peters des Großen gibt die Erklärung dafür, daß eine kleine Gruppe von Revolutionären, fast ohne Ausnahme Dummköpfe und Feiglinge, eine solche Wirkung hatte: es war ein schöner Schein, der plötzlich zerstob“116. Nimmt man Spenglers Deutungsversuche des Bolschewismus, die in seinen schriftlichen Äußerungen der Jahre zwischen 1919 und 1933 zu finden sind, als Ganzes in den Blick, dann lassen sich zwei Phasen unterscheiden: Reicht die erste bis etwa 1924, also bis zu Lenins Tod, der ja in der Tat einen deutlichen Einschnitt der Geschichte Sowjetrusslands darstellt, so ist die zweite Phase auf die frühen dreißiger Jahre zu datieren, als sich Spengler noch einmal nach mehrjährigem Schweigen ausgiebig zu politischen Tages‑ und Zeitfragen äußerte und als sich die Sowjet­ union bereits unter der Herrschaft Stalins und damit in einer neuen Phase ihrer Entwicklung befand. Am Beginn der zwanziger Jahre vermochte Spengler im Sieg des Bolschewismus keine Widerlegung, sondern, im Gegenteil, geradezu eine Bestätigung seiner Thesen über die Gegenwart und Zukunft Russlands zu sehen. Das „russische Leben“, bemerkt er 1922, habe einen völlig „anderen Sinn“ als dasjenige des Westens: „Die unendliche Ebene schuf ein weiches Volkstum, demütig und schwermütig, auch seelisch in der flachen Weite aufgehend, ohne eigentlich persönlichen Willen, zur Unterwerfung geneigt“. Und eben hierin liege „die Voraussetzung der großen Politik von Dschingiskhan bis Lenin“. Spengler fügt zur Stützung seiner 114  Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 236; vgl. ebenda: „War die Gründung von Petersburg die erste Tat des Antichrist, so war die Vernichtung der von Petersburg aus gebildeten Gesellschaft durch sich selbst die zweite: so muß das Bauerntum es innerlich empfinden. Denn die Bolschewisten sind nicht das Volk, auch nicht ein Teil von ihm. Sie sind die tiefste Schicht der ‚Gesellschaft‘, fremd, westlerisch wie sie, aber von ihr nicht anerkannt und deshalb vom Haß der Niedrigen erfüllt“; vgl. auch Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. 114. 115  Vgl. Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 413, Anm. 1: „Die Leichtigkeit, mit welcher in Rußland die vier sogenannten Stände der petrinischen Zeit – Adel, Kaufleute, Kleinbürger, Bauern  – durch den Bolschewismus ausgelöscht worden sind, beweist, daß sie bloße Nachahmung und Verwaltungspraxis waren, aber ohne alle Symbolik, die sich durch Gewalt nicht ersticken läßt“. 116  Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. 121; vgl. ebenda, S. 99.

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These vom „vorkulturellen“ Zustand des russischen Volkes das Folgende an: „Die Russen sind außerdem Halbnomaden, auch heute noch. Es wird selbst dem Regiment der Sowjets nicht gelingen, das Schweifen der Fa­ brikarbeiter von einer Fabrik zur anderen, ohne Not, nur aus der Sehnsucht des Wanderns heraus, zu verhindern. Deshalb ist der durchgebildete Facharbeiter in Rußland so selten. Auch dem Bauern ist die Heimat nicht das Dorf, die Landschaft seiner Geburt, sondern die weite russische Ebene“117. Aber nicht nur hiermit hängt für Spengler das „vollkommene Fiasko […] der Einrichtung der Sowjetwirtschaft durch proletarische Theoreti­ ker“118 zusammen, auf das er ebenfalls schon 1922 im zweiten Band des „Untergangs“ zu sprechen kommt. Denn da es sich bei der modernen ­Nationalökonomie „von Smith bis Marx um die bloße Selbstanalyse des wirtschaftlichen Denkens einer einzigen Kultur“119  – und zwar derjenigen des Abendlandes  – handele, sei das Scheitern der marxistischen Wirtschaftspolitik in Sowjetrussland ganz unvermeidbar. In dieser Einschätzung wurde Spengler übrigens von Eduard Meyer  – der 1925 der Sowjetunion einen Besuch abstattete, über den er dem ihm befreundeten Geschichtsphilosophen ausführlich berichtete – besonders nachdrücklich bestätigt120. Die Situation der russischen Wirtschaft sei, so Spengler, überhaupt nur dann zu verstehen, wenn man die religiöse Problematik mit in den Blick nehme: das „ganze mystische Innenleben“ der Russen zeichne sich gerade darin aus, „das Denken in Geld als Sünde“ zu empfinden. Indem er auf Tolstois Schriften und Gorkis „Nachtasyl“ verweist, fährt Spengler, 117  Ebenda, S. 110 f.; Spengler beruft sich zur Stützung dieser These auf „viele Erzählungen von Ljeßkow und vor allem auf Gorki“ (ebenda, S. 110, Anm. 2). Auch später hat er an der Auffassung eines russischen „Halbnomadentums“ festgehalten; vgl. Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung  – Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1933, S. 44. 118  Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 588. 119  Ebenda  – Spengler führt im Folgenden aus, dass jedes Wirtschaftsleben „Ausdruck eines Seelenlebens“ (ebenda II, S. 589) und damit auch einer Kulturseele bzw. des diese Seele prägenden kulturellen Ursymbols sei. 120  Vgl. Spengler, Briefe (Anm. 106), S. 418 (E.  Meyer an Spengler, 1.10.1925): „Von höchstem Interesse ist, zu sehen, wie der Versuch, die Theorien des Marxismus und Kommunismus im Wirtschaftsleben durchzuführen, tatsächlich völlig gescheitert ist – auf politischem Gebiet liegt das natürlich anders –, und wie Lenin, von dessen Persönlichkeit man einen gewaltigen Eindruck erhält, das Steuer herumgeworfen hat. In der Richtung geht die Entwicklung weiter und führt langsam innerhalb des neuen Rahmens doch wieder in die natürlichen Bahnen zurück“. Meyer spielte hier an auf die von Lenin für einige Jahre verfolgte „Neue Ökonomische Politik“ (russisch: NEP).



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seine analogisierende Betrachtungsweise wieder aufnehmend, fort: „Hier liegen heute wie in Syrien zur Zeit Jesu zwei Wirtschaftswelten übereinander […], eine obere, fremde, zivilisierte, die vom Westen eingedrungen ist und zu der als Hefe der ganz abendländische und unrussische Bolschewismus der ersten Jahre gehört, und eine stadtlose […] in der Tiefe, die nicht rechnet, sondern ihren unmittelbaren Bedarf eintauschen möchte. Man muß die Schlagworte der Oberfläche als eine Stimme auffassen, aus welcher der ganz mit seiner Seele beschäftigte einfache Russe den Willen Gottes heraushört. Der Marxismus unter Russen beruht auf einem inbrünstigen Mißverständnis. Man hat das höhere Wirtschaftsleben des Petrinismus ertragen, aber weder geschaffen noch anerkannt. Der Russe bekämpft das Kapital nicht, sondern er begreift es nicht“121. Auf diese Weise sei es auch zu erklären, warum die Sowjetunion keine im eigentlichen Sinne marxistische Wirtschaft eingeführt habe: „Sie versucht […] die Wirtschaftsformen der industriellen Arbeit und der kapitalistischen Spekulation ebenso zu erhalten wie den autoritären Staat“, bemerkt Spengler, „nur daß sie an Stelle der zaristischen Regierung und der privatkapitalistischen Wirtschaftsformen die Regierung einer Gruppe und den Staatskapitalismus setzt, der sich der Doktrin wegen Kommunismus nennt“. Wirtschaftlich gesehen sei also, fasst Spengler zusammen, der Bolschewismus nichts anderes als „der groteske Versuch“, den „gesellschaftlichen Oberbau“ des Petrinismus „nach den Theorien von Karl Marx planmäßig in seinen Gegensinn zu verkehren“122. Doch Spengler deutet den Bolschewismus nicht nur als Fortsetzung des früheren Petrinismus mit anderen  – wenngleich ebenfalls „westlichen“ – Mitteln, sondern zugleich als eine Art von „Raubrittertum“, das sich in der Vergangenheit noch stets den traditionellen Führungsschichten entgegengestellt habe: Neben die Fürsten und Minister träten in bestimmten historischen Umbruchsphasen immer wieder „Volksmänner und Revolutionshelden, deren Eifer sich in einem Schlaraffenleben und dem Sammeln gewaltiger Reichtümer erschöpft“ habe – und hier bestehe „zwischen Versailles und dem Jakobinerklub, Unternehmern und Arbeiterführern, russischen Gouverneuren und Bolschewisten […] kaum ein Unterschied“123. Eine Persönlichkeit nahm Spengler bei dieser Charakteristik allerdings nachdrücklich aus – Lenin. Ihn sah Spengler als „Cäsarengestalt, seit Rhodes die bedeutendste“124. Stets habe Lenin „unter 121  Spengler,

Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 622 f., Anm. 3. Politische Schriften (Anm. 23), S. 121. 123  Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 596. 124  Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. 294.  – Spengler kennzeichnet die politische Endphase jeder Hochkultur als „Cäsarismus“, also bestimmt durch 122  Spengler,

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der Idee“ gelebt, „durch die stille Arbeit der kommunistischen Organisationen an Stelle der Botschafter des Zaren ein geheimes Heer in allen Weststaaten zu unterhalten, das eines Tages aufbrechen und den Traum Alexanders  I. von der heiligen Allianz unter russischem Schutz in einer revolutionären unter dem Sowjetstern verwirklichen sollte. Mit seinem Tode ist der Nimbus des Ideals zu Ende, nicht nur die Persönlichkeit, die es in sich verwirklichte. Um so mehr als die wirtschaftlichen Formen des Ideals trotz der Ströme von Blut völlig versagt haben und das ungeheure Gebiet auch durch die beschleunigte Rückkehr zum Privateigentum und Privatgeschäft vor einer neuen Katastrophe nicht mehr zu bewahren ist“125. Lenin erscheint hier, in einem 1924 verfassten Text Spenglers, also als eine „westliche“ Gestalt, als ein „roter Zar“ gewissermaßen, der den imperialistischen Machtanspruch des russischen Reiches  – und damit des petrinischen Systems  – auf seine Weise fortzusetzen versuchte und eben deshalb scheitern musste. Diese Äußerungen Spenglers konnte Lenin selbst nicht mehr zur Kenntnis nehmen, wie Spengler umgekehrt von den ziemlich abfälligen Bemerkungen Lenins über ihn und sein Werk wohl ebenfalls nichts erfahren hat. Denn der russische Revolutionsführer vermochte in dem deutschen Geschichtsphilosophen und seiner Theorie nichts anderes als einen besonders sinnfälligen Ausdruck westeuro­ päisch‑bürgerlichen Dekadenzbewusstseins zu sehen126. das Auftreten großer Herrscherfiguren, eben der „Cäsaren“, die das politische Chaos jener Spätzeiten neu in Form zu bringen versuchen; vgl. Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. I, S. 50 ff.; II, S. 418, 521 ff., 541 ff., 565 ff. u. a. 125  Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. 294. 126  Lenin äußerte sich über Spengler 1922 in einem Artikel zum zehnjährigen Jubiläum der „Prawda“; vgl. W. I. Lenin, Werke, Bd. 33, Berlin (-Ost) 1971, S. 335 f.: „Das alte bürgerliche und imperialistische Europa, das daran gewöhnt ist, sich für den Nabel der Welt zu halten, ist verfault und im ersten imperialistischen Gemetzel wie ein stinkendes Geschwür geplatzt. Wie sehr auch die Spengler und alle gebildeten Spießer, die imstande sind, über ihn in Begeisterung zu geraten (oder sich wenigstens mit ihm zu beschäftigen), aus diesem Grunde auch jammern mögen, so ist dieser Niedergang des alten Europas doch nur eine Episode in der Geschichte des Untergangs der Weltbourgeoisie, die sich bei der imperialistischen Ausplünderung und Unterdrückung der Mehrheit der Erdbevölkerung überfressen hat“ (zuerst erschienen in: Prawda, Nr. 98, 5.5.1922). – In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass sich maßgebliche intellektuelle Vertreter des russischen Geisteslebens der zwanziger Jahre, darunter nicht nur Emigranten, mit Spengler befasst und dessen Thesen intensiv rezipiert haben – so etwa Fjodor Stepun, Ossip Mandelstam und Alexej Tolstoj  –, und dass auch der erste Band  des „Untergangs des Abendlandes“ noch 1923 in russischer Übersetzung in der Sowjetunion erscheinen konnte; bereits vorher waren „Pessimismus“ und „Preußentum und Sozialismus“ (letzteres freilich in einer um die scharf antimarxistischen Passagen gekürzten Fassung) übersetzt worden; vgl. hierzu die Informationen in:



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Das Problem einer angemessenen Deutung des Bolschewismus und der gravierenden politischen Veränderungen in Russland hat Spengler in den zwanziger Jahren weiterhin intensiv beschäftigt. Langsam begann er davon abzugehen, den Bolschewismus ausschließlich als westlichen Import und damit nur als Übergangsphänomen zu sehen. Der Bolschewismus der ersten Jahre, heißt es schon in einem Text von 1922, habe „einen doppelten Sinn. Er vernichtete ein künstliches, volksfremdes Gebilde, von dem er selbst als ein zugehöriger Rest einstweilen zurückbleibt. Darüber hinaus aber macht er die Bahn für eine neue Kultur frei, die irgendwann einmal zwischen ‚Europa‘ und Ostasien erwachen wird. Er ist mehr ein Anfang als ein Ende“127. Deutlicher wurde Spengler zwei Jahre später, im November 1924, in einem Interview mit dem „Svenska Dagbladed“128: Der entscheidende Vorgang der Gegenwart sei, „daß der Bolschewismus in Rußland  – ursprünglich ein westlicher Importartikel  – nunmehr vom russischen Volke aufgenommen und zu einer mystischen Einheit mit den ursprünglichen sozialen Institutionen der Russen und der ebenso ursprünglichen und lebendigen Religiosität verschmolzen ist“; er sei heute, fuhr Spengler fort, „seinem Wesen nach eine religiöse Bewegung […] Der Bolschewismus war gewiß eine westländische Bewegung, und seine Führer sind und waren ihrer Gesinnung nach Westeuropäer; aber wie bei der Romanisierung Galliens der germanische Einschlag den Kulturformen einen ganz anderen Charakter verlieh, so haben die Russen den Bolschewismus nach ihrem eigenen Wesen umgeschaffen“129. Briefwechsel Spengler/Groeger (Anm. 90), S. 16 ff., 45, 72. – Im November 1923 erhielt Spengler von Wolfgang Groeger die folgende Mitteilung: „Der zweite Band des „Untergangs“ ist in Rußland verboten – nicht wegen der Ausführungen über die Bolschewisten, was ausgelassen worden wäre, sondern wegen der Erörterungen über ‚Religion‘ im allgemeinen“ (ebenda, S. 45). 127  Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. 121. 128  Die wichtigsten Passagen dieses Interviews sind (nach einem Referat der „Münchner Neuesten Nachrichten“) abgedruckt bei Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit (Anm. 2), S. 267 f.; hiernach das Folgende. 129  Ebenda – Diese Deutung des Bolschewismus als eines quasi-religiösen Phänomens, die Spengler wohl als einer der ersten vorgetragen haben dürfte, wurde später von anderen übernommen und vielfach variiert. Hingewiesen sei an dieser Stelle nur auf Gerhard Ritter, Das Rätsel Rußland  – Geschichtliche Betrachtungen über das Verhältnis Rußlands zum Abendland, in: derselbe, Lebendige Vergangenheit  – Beiträge zur historisch-politischen Selbstbesinnung, München 1958, S. 213–252, hier S. 228: „Der Bolschewismus […] kann als ein Umschlag des russisch-nationalen Sendungsbewußtseins aus dem christlich-religiösen in den Materialismus betrachtet werden; seine Predigt von dem Beruf des russischen Volkes, das Ideal einer klassenlosen Gesellschaft als erstes der Welt zu verwirklichen […], trägt deutlich den Charakter einer neuen, mit religiöser Inbrunst verkündeten Heilslehre. Die marxistische Doktrin von der klassenlosen und staatsfreien Gesellschaft der Zukunft nahm auf russischem Boden sogleich eschatologische Züge

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Anfang der dreißiger Jahre veränderte sich Spenglers Perspektive ein weiteres Mal. Der Bolschewismus hatte sich inzwischen  – entgegen den früheren Vermutungen Spenglers – als ein dauerhaftes Phänomen erwiesen, das neue Fragen aufwerfen musste: „Der Bolschewismus war 1922 mit Lenin identisch. Mit Stalin ist eine entschiedene Wandlung eingetreten“, heißt es im („Oktober 1932“ datierten) Vorwort zu Spenglers „Politischen Schriften“, und er fährt fort: „Aber wird sich diese ungeheure Volksmasse durch neue Machthaber langsam aus der geistigen Beschränktheit des westeuropäischen Kommunismus befreien oder wird sie vom Bauerntum her durch eine religiöse Erweckung befreit werden? Das ist die Frage von damals und von morgen“130. Spengler wusste sie in dieser Zeit nicht eindeutig zu beantworten – und eine gewisse Ratlosigkeit, die aus diesen Formulierungen spricht, ist kaum zu verkennen. Sein eigentlicher Perspektivenwechsel wird erst in der im folgenden Jahr verfassten Schrift „Jahre der Entscheidung“ deutlich, die eine Darstellung und Analyse der „weißen“ und der „farbigen Weltrevolution“ gegen das alte Europa und gegen dessen, dem Imperialismus des 19. Jahrhunderts entstammende Machtstellung enthält. Jetzt erscheint der Bolschewismus in einem völlig neuen Licht, nämlich als zentraler Aspekt des Kampfes von „Asien gegen Europa“. Spengler betont: „Moskau“ sei, „geheimnisvoll und für abendländisches Denken und Fühlen völlig unberechenbar, der entscheidende Faktor für Europa seit 1812, […] seit 1917 für die ganze Welt“. Und er fügt hinzu: „Der Sieg der Bolschewisten bedeutet geschichtlich etwas ganz anderes als sozialpolitisch oder wirtschaftstheoretisch. Asien erobert Rußland zurück, nachdem ‚Europa‘ es durch Peter den Großen annektiert hatte […] Dies ‚Asien‘ […] ist eine Idee, und zwar eine Idee, die Zukunft hat“131. Dieser Vorgang drückt sich für Spengler nicht zuletzt darin aus, dass „die Bolschewisten den Schwerpunkt ihres Systems immer weiter nach Osten verlegt“132 haben, wodurch sie – hiermit nimmt Spengler das Scheitern von Hitlers Russlandfeldzug gedanklich vorweg  – vom Westen aus militärisch unangreifbar geworden sind133. an, das heißt sie ersetzte den inbrünstigen Glauben der Frommen an das Nahen des Gottesreichs“. 130  Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. VIII f. 131  Spengler, Jahre der Entscheidung (Anm. 117), S. 43. 132  Ebenda. 133  Vgl. ebenda, S. 43  f.: „Die Bevölkerung dieses gewaltigsten Binnenlandes der Erde ist von außen unangreifbar. Die Weite ist eine Macht, politisch und militärisch, die noch nie überwunden worden ist; das hat schon Napoleon erfahren. Was sollte es einem Feinde nützen, wenn er noch so große Gebiete besetzt? […] Die machtpolitisch wichtigsten Industriegebiete sind sämtlich östlich von Moskau,



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Aus dieser neuen Perspektive gesehen verliert der Bolschewismus seinen „westlichen“ Charakter; er erscheint nun nicht mehr als eine neue Form der Pseudomorphose, sondern als spezifisch „asiatisches“ Phänomen: „Dies Bolschewistenregiment ist kein Staat in unserem Sinne, wie es das petrinische Rußland gewesen war. Es besteht wie Kiptschak, das Reich der ‚goldenen Horde‘ in der Mongolenzeit, aus einer herrschenden Horde  – kommunistische Partei genannt  – mit Häuptlingen und einem allmächtigen Khan und einer etwa hundertmal so zahlreichen unterworfenen, wehrlosen Masse. Von echtem Marxismus ist da sehr wenig, außer in Namen und Programmen. In Wirklichkeit besteht ein tartarischer Absolutismus, der die Welt aufwiegelt und ausbeutet, ohne auf Grenzen zu achten, es seien denn die der Vorsicht, verschmitzt, grausam, mit dem Mord als alltäglichem Mittel der Verwaltung, jeden Augenblick vor der Möglichkeit einen Dschingiskhan auftreten zu sehen, der Asien und Europa aufrollt“134. Diese Formulierungen, die sich fast als Vorausdeutung auf die späteren Jahre der Ära Stalins ausnehmen, lassen gleichwohl eine zentrale Frage im Sinne der Spenglerschen Konzeption unbeantwortet: Steht der Bolschewismus nun im Dienste einer künftigen Kultur, der er die Bahn freimacht, oder sucht er sie zu verdecken, zu unterdrücken, zu verhindern? Doch statt eine klare Antwort zu geben, vermag Spengler im Jahr 1933 nur weitere Fragen aufzuwerfen: Zwar habe Russland 1917 „die ‚weiße‘ Maske“ abgelegt und sei „wieder asiatisch“ geworden, „aus ganzer Seele und mit brennendem Haß gegen Europa“135, – es habe sich zu einem Teil jener „farbigen Weltrevolution“ gegen den Westen entwickelt; dennoch sei es erklärtermaßen weiterhin kommunistisch, also in diesem Sinne „westlich“. Spengler fragt: „Aber ist das kommunistische Programm überhaupt noch ernst gemeint, als Ideal nämlich, dem Millionen von Menschen geopfert worden sind und um dessen willen Millionen hungern und im Elend leben? Oder ist es nur ein äußerst wirksames Kampfmittel der Verteidigung gegen die unterworfene Masse, vor allem die Bauern, und des Angriffs gegen die verhaßte, nichtrussische Welt, die zersetzt

zum großen Teil östlich vom Ural bis zum Altai hin, und südlich bis zum Kaukasus aufgebaut worden. Das ganze Gebiet westlich Moskaus, Weißrußland, die ­Ukraine, einst von Riga bis Odessa das lebenswichtigste des Zarenreiches, bildet heute ein phantastisches Glacis gegen ‚Europa‘ und könnte preisgegeben werden, ohne daß das System zusammenbricht. Aber damit ist jeder Gedanke an eine Offensive vom Westen her sinnlos geworden. Sie würde in einen leeren Raum stoßen“. 134  Ebenda, S. 44. 135  Ebenda, S. 150.

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werden soll, bevor man sie niederwirft?“136 Zu einer eindeutigen Antwort gelangt Spengler allerdings auch jetzt nicht. Zwar sei, heißt es weiter, das politische System der Sowjets „mit seinen westeuropäisch‑rationalistischen Zügen, die noch aus der literarischen Unterwelt von Petersburg stammen, viel zu künstlich“, und es könne daher auch „keine Niederlage überleben“. Aber verschwände damit auch der Bolschewismus? „Sowjetrußland“, antwortet Spengler, „würde durch irgendein anderes Rußland abgelöst und die regierende Horde wahrscheinlich abgeschlachtet werden. Aber damit wäre nur der Bolschewismus marxistischen Stils überwunden, der nationalistisch‑asiatische würde hemmungslos ins Gigantische wachsen“137. Hierin also besteht der Kern der neuen Deutung Spenglers: Der Bolschewismus erweist sich als ein durch eine eigentümliche Doppelnatur ausgezeichnetes historisches Phänomen; westlich und östlich, europäisch und asiatisch, marxistisch und despotisch, die „neue Kultur“ zugleich unterdrückend und auf andere Weise dennoch fordernd! Denn: „In Rußland sind 1917 beide Revolutionen, die weiße und die farbige, zugleich ausgebrochen. Die eine, flach, städtisch, der Arbeitersozialismus mit dem westlichen Glauben an Partei und Programm, von Literaten, akademischen Proletariern und nihilistischen Hetzern vom Schlage Bakunins im Verein mit der Hefe der großen Städte gemacht, […] schlachtete die petrinische Gesellschaft von großenteils westlicher Herkunft ab und setzte einen lärmenden Kultus ‚des Arbeiters‘ in Szene […] Darunter aber, langsam, zäh, schweigend, zukunftsreich, begann die andere Revolution des Muschik, des Dorfes, der eigentlich asiatische Bolschewismus“138. Diese nunmehr zwei Formen des Bolschewismus befänden sich in der Gegenwart (also Anfang der dreißiger Jahre) in eine erbittert geführte Auseinandersetzung verstrickt: Stalins brutale Maßnahmen zur Unterdrückung und Ausrottung der Kulaken und damit des traditionellen russischen Bauerntums überhaupt erscheinen in Spenglers Sicht nur als der sinnfällige Ausdruck für den Kampf des „westlichen“ gegen den „östlichen“ Bolschewismus139. 136  Ebenda,

S.  44 f. S. 45. 138  Ebenda, S.  151 f. 139  Vgl. bes. ebenda, S. 152: „Der Arbeitersozialismus […] begann […] mit dem Bauernhaß aller städtischen Parteien […] den Kampf gegen dies konservative Element, das stets in der Geschichte alle politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bildungen in den Städten überdauert hat. Er enteignete den Bauern und führte die tatsächliche Leibeigenschaft und Fronarbeit, die Alexander  II. seit 1862 aufgehoben hatte, wieder ein und brachte es durch feindselige und bürokratische Verwaltung der Landwirtschaft […] dahin, daß heute die Felder verwildert sind, der 137  Ebenda,



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Freilich wurde Spengler niemals müde, immer wieder den Niedergang und das endliche Verschwinden des „westlichen“, also marxistischen Bolschewismus vorauszusagen. Schon im zweiten Band  des „Untergangs“ heißt es über die Ereignisse von 1917: „Es war das Volk, das […] nur aus dem Trieb, sich von einer Krankheit“ – gemeint ist die Pseudomorphose – „zu heilen, die westeuropäische Welt durch ihren Abhub“  – gemeint ist der Bolschewismus Lenins – „zerstörte und diesen selbst ihr nachsenden wird“140. Und im Rußland‑Vortrag von 1922 stellt Spengler fest: „Die Schöpfung Lenins ist westlich, […] ist der großen Mehrzahl der Russen fremd, feindlich und verhaßt, und sie wird in irgendeiner Weise […] vergehen“141. In den 1933 veröffentlichten „Jahren der Entscheidung“ schließlich verkündet Spengler das Ende des „weißen“ Bolschewismus: „Aber der ‚weiße‘ Bolschewismus ist […] rasch im Schwinden begriffen. Man wahrt nur noch das marxistische Gesicht nach außen, um in Süd­ asien, Afrika, Amerika den Aufstand gegen die weißen Mächte zu entfesseln und zu leiten. Eine neue, asiatischere Schicht von Regierenden hat die halbwestliche abgelöst“, denn heute gelte: „Rußland ist der Herr ­Asiens. Rußland ist Asien“142. Es war eben dieser Perspektivenwechsel, der es Spengler gestattete, die These von der künftigen russischen Hochkultur, die sich natürlich nicht mit einer Fortdauer der „zweiten Pseudomorphose“ eines bolschewistischen Systems vereinbaren ließ, aufrecht zu erhalten: Indem der „asiatische“ über den „europäischen“ Bolschewismus siegt, bereitet er zugleich der neuen Kultur den Weg. VI. An seiner Vision einer langsam aufdämmernden, neuen Kultur auf dem Territorium des alten Russland hat Spengler bis zu seinem Tode festgehalten. Auch die Tatsache einer wenigstens vorläufigen Permanenz des bolschewistischen Regimes vermochte ihn von dieser Überzeugung letztlich nicht abzubringen, obwohl er sich zu manchen Interpretationssprüngen veranlasst sah, um seine große Hypothese weiterhin aufrecht er­ halten zu können. Die doch eher tastende Unsicherheit, mit der er sich Anfang der zwanziger Jahre um eine seiner Theorie entsprechende InterViehreichtum der Vergangenheit auf einen Bruchteil zusammengeschmolzen und die Hungersnot asiatischen Stils ein Dauerzustand geworden ist …“. 140  Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 236 (Hervorhebung vom Verf.). 141  Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. 120 f. 142  Spengler, Jahre der Entscheidung (Anm. 117), S. 152  f.; zum zeitgenössischen Kontext dieser Spenglerschen Erneuerung des Schlagworts von der „Gelben Gefahr“ (das er in dieser Form allerdings nicht verwendet) vgl. auch die Hinweise und Bemerkungen bei Felken, Oswald Spengler (Anm. 2), S. 215 ff.

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pretation des Phänomens Bolschewismus bemühte, dürfte nicht zuletzt auch dazu beigetragen haben, dass ein von ihm ursprünglich geplantes Schlusskapitel für den zweiten Band  des „Untergangs“  – es sollte die Überschrift „Das Russentum und die Zukunft“ tragen – am Ende ungeschrieben blieb143. Trotzdem finden sich in fast allen seiner weiteren Schriften verstreute Bemerkungen und Hinweise zum Problem Russland. Spengler blieb überzeugt: „Das Russentum ist das Versprechen einer kommenden Kultur, während die Abendschatten über dem Westen länger und länger werden“144. Die gegenwärtig in Russland und „Asien“ vorhandenen religiösen, geistigen, politischen Formen seien letztendlich ohne wirkliche historische Bedeutung; denn alles werde sich, so Spengler, in absehbarer Zeit „grundlegend umgestalten. Was heute da ist, ist lediglich die durch Worte nicht zu bestimmende, ihrer selbst unbewußte neue Art von Leben, mit dem eine große Landschaft schwanger ist und das sich auf dem Wege zur Geburt befindet“145. In dieser Feststellung ist gleichzeitig die Voraussage enthalten, der Bolschewismus stelle in letzter Konsequenz tatsächlich nichts anderes als ein Oberflächen‑ und Übergangsphänomen dar, das früher oder später verschwinden werde146. Auf welche Weise dies aber geschehen solle  – darüber finden sich bei Spengler freilich nur einige wenige (zuweilen recht disparate) Spekulationen. 1919 ging er noch davon aus, den Bolschewismus werde „ein neuer Zarismus irgendwelcher Gestalt ablö­ sen“147. Drei Jahre später bezeichnete er „das gläubige Bauerntum“ als den „Todfeind des Bolschewismus“, das gerade durch die brutale Unterdrückung seitens des sowjetischen Regimes „zum Bewußtsein seines ganz 143  Vgl. die Ankündigung noch in der 15.–22. unveränderten Auflage des I. Bandes, München 1920, S. 616. Schon Baltzer, Philosoph oder Prophet (Anm. 4), S. 233 hat auf das Fehlen dieses vorgesehenen Abschlusskapitels hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht, dass sich „große Partien dieses geplanten Kapitels […] über den ganzen II. Band ‚Untergang‘ verstreut“ finden. Unzutreffend ist daher die Behauptung von Ulmen, Metaphysik des Morgenlandes (Anm. 10), S. 152 f., Spenglers „Konzeption von Rußland“ sei nur „im Rahmen seiner Beschäftigung mit den ‚arabischen Problemen‘ im allgemeinen und den historischen Pseudomorphosen im besonderen […] zu verstehen“. 144  Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. 98. 145  Spengler, Jahre der Entscheidung (Anm. 117), S. 43. 146  Vgl. Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. 99: „Petrinismus und Bolschewismus haben gleich sinnlos und verhängnisvoll mißverstandene Schöpfungen des Westens, wie den Hof von Versailles und die Kommune von Paris, dank der unendlichen russischen Demut und Opferfreude in starke Wirklichkeiten umgesetzt. Dennoch haften ihre Einrichtungen an der Oberfläche russischen Seins und die eine wie die andre ist der beständigen Möglichkeit plötzlichen Verschwindens und ebenso plötzlicher Wiederkehr ausgesetzt“. 147  Ebenda, S. 102.



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anders gearteten Willens gelangen wird. Es ist das Volkstum der Zukunft, […] das ohne Zweifel und wenn auch noch so langsam, den Bolschewismus in seiner heutigen Form ablösen, verwandeln, beherrschen oder vernichten wird“148. Und 1924 führte er diesen Gedanken folgendermaßen fort: „In der Bauernschaft der russischen und asiatischen Erde […] regt sich die religiöse Inbrunst, halb christlich‑orthodox, halb bolschewistisch verkleidet, ihres eigentlichen Wesens noch kaum bewußt, und aus ihr kann eines Tages die große Erscheinung hervorgehen, die in einem ungeheuren Ansturm das Bild Asiens […] von Grund auf verändert. Vielleicht wird eines Tages die heilige Revolution ebenso blutig losbrechen wie einst die rote“149. Überhaupt charakterisierte Spengler das von ihm stets aufs Neue angekündigte Erscheinen einer neuen russischen Kultur zuerst und immer wieder als ein religiös bestimmtes Phänomen. Die „Zukunft des unterirdischen Rußland“, stellte er schon 1919 fest, liege nicht „in der Lösung politischer oder sozialer Verlegenheiten, sondern in der sich vorbereitenden Geburt einer neuen Religion, der dritten aus den reichen Möglichkeiten des Christentums, so wie die germanisch‑abendländische Kultur um das Jahr 1000 mit der unbewußten Schöpfung der zweiten begann“. Und kein anderer als Dostojewskij sei „einer der voraufgehenden Verkünder dieses noch namenlosen, aber heute schon mit einer stillen, unendlich zarten Gewalt eindringenden Glaubens“150. Im zweiten Band des „Untergangs“ charakterisierte Spengler diese neue Religion noch präziser: „Das Russentum der Tiefe läßt heute eine noch priesterlose, auf dem ­Johannesevangelium aufgebaute dritte Art des Christentums entstehen, die der magischen unendlich viel näher steht als der faustischen, die deshalb auf einer neuen Symbolik der Taufe beruht und, weit entfernt von Rom und Wittenberg, in einer Vorahnung künftiger Kreuzzüge über Byzanz hinweg nach Jerusalem blickt“151. Auf diese sich ankündigende neue Religion wiesen zudem, wie Spengler anmerkt, noch weitere Phänomene voraus, etwa die alte Idee eines russischen „dritte[n] Rom“152 oder auch Dostojewskijs religiös‑politische Visionen aus den 1870er Jahren, als der Dichter während des Balkankrieges unaufhörlich „die religiöse 148  Ebenda, S. 122; Spengler fügt hinzu: „Wie das geschieht, kann heute niemand wissen. Es hängt unter anderm vom Auftreten und Ausbleiben entscheidender Männer ab, die […] das Schicksal in ihre eiserne Hand nehmen“. 149  Ebenda, S. 294. 150  Ebenda, S. 102; vgl. auch S. 111. 151  Spengler, Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 623, Anm. 3. 152  Vgl. Spengler, Politische Schriften (Anm. 23), S. 117; grundlegend hierzu immer noch Hildegard Schaeder, Moskau das dritte Rom – Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der slawischen Welt (1929), Darmstadt 21957.

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Sendung des Russentums gegen Byzanz“153 predigte. Nicht zuletzt werde, so Spengler, in Russland der Typus neuer religiöser Führergestalten entstehen – „Führer zu Kreuzzügen und märchenhaften Eroberungen“154. Auf eine bis ins Einzelne gehende Charakterisierung jener künftigen russischen Kultur wollte sich Spengler freilich nicht einlassen. Die verstreuten Bemerkungen hierzu, die sich in seinen Schriften finden lassen, bestehen im Wesentlichen aus einer Anwendung seines Prinzips einer analogisierenden Betrachtungsweise, genauer gesagt: aus einer – auf der Analyse der Strukturprinzipien bisheriger Kulturen aufbauenden – prognostischen Vorausschau auf das Kommende. So sind für ihn, wie er im zweiten Band  des „Untergangs“ ausführlich darlegt, Adel und Priestertum die beiden „Urstände“, die sich in der einen oder anderen Weise in jeder Kultur finden lassen155. Deshalb ist Spengler überzeugt, dass sich „in Zukunft […] echter Adel und Priestertum russischen Stils herausbil­ den“156 werden. Eine weitere Voraussage bezieht sich auf die, wie Spengler meinte, abgrundtiefe Technikfeindlichkeit der entstehenden Kultur: „Der Russe (blickt) mit Furcht und Haß auf diese Tyrannei der Räder, Drähte und Schienen, und wenn er sich heute und morgen auch der ­Notwendigkeit fügt, so wird er einst das alles aus seiner Erinnerung und seiner Umgebung streichen und eine ganz andere Welt um sich errichten, in der es nichts von dieser teuflischen Technik mehr gibt“157. Das ist zweifellos – aus der Perspektive der Gegenwart gesehen – eine kaum zu übertreffende Fehlprognose, die auch durch die Annahme nicht korrigiert werden kann, das russische Volk versuche sich „über die unstillbare Sehnsucht nach dem landmäßigen Dasein ursprünglicher Kultur“ durch eine Art technizistischer „Überbietungshysterie […] hinwegzutäuschen“158. Hier hat die Spenglersche Geschichtsprophetie tatsächlich ekla­tant danebengegriffen. Eines freilich sollte – nimmt man Spenglers Aussagen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Russentums noch einmal in den Blick – festgehalten werden: seine eminente „Achtung vor dem russischen Volk“159. Spengler, der oft als Vorläufer oder geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus bezeichnet wurde (was er allenfalls in seiner Ver153  Spengler,

Politische Schriften (Anm. 23), S. 116. S. 122. 155  Vgl. Spengler: Untergang (Anm. 24), Bd. II, S. 412 ff., 596 u. a. 156  Ebenda II, S. 412, Anm. 1. 157  Ebenda II, S. 631, Anm. 1. 158  Baltzer, Philosoph oder Prophet (Anm. 4), S. 246. 159  Darauf hat Felken, Oswald Spengler (Anm. 2), S. 202 mit Recht hingewiesen. 154  Ebenda,



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achtung und Ablehnung der Demokratie gewesen ist), hat in den Russen niemals ein „slawisches Untervolk“ oder gar eine „minderwertige Rasse“ gesehen. Im Gegenteil: Dem genauen Leser seiner Schriften kann seine geheime Bewunderung für die Russen nicht verborgen bleiben. Die Völker des Westens, einschließlich seines eigenen, des deutschen Volkes, sah Spengler am Ende ihres historischen Weges angelangt; sie konnten auf eine große Vergangenheit zurückblicken, eine Zukunft aber besaßen sie nicht mehr. Ganz anders dagegen die Russen, über die er 1919 bemerkte: „Die Russen sind überhaupt kein Volk wie das deutsche und englische, sie enthalten die Möglichkeit vieler Völker der Zukunft in sich wie die Germanen der Karolingerzeit“. Und er fügte hinzu: „Das Russentum ist das Versprechen einer kommenden Kultur […]“160. VII. Oswald Spenglers Ideen über Gegenwart und Zukunft Russlands erweisen sich  – so faszinierend viele ihrer einzelnen Elemente manchem heutigen Laser immer noch erscheinen mögen  – in mehr als einer Hinsicht als problematisch und kritikbedürftig. Hierzu noch zwei Bemerkungen. Erstens hat man die als solche keineswegs zufriedenstellende theoretische Fundierung der Spenglerschen Geschichtsphilosophie in den Blick zu nehmen. Immer wieder arbeitet Spengler mit Begriffen wie „Tendenz“, „Bestimmung“, „vorbestimmt“,161 also mit der nur intuitiv begründeten  – oder besser: behaupteten Annahme einer quasi‑naturgesetzlichen Entwicklung historischer Phänomene. Seine eigene, spezifisch geschichtliche Erkenntnisweise bezeichnet Spengler als „Physiognomik“, die er der naturwissenschaftlich‑exakten „Systematik“ gleichrangig gegenüber­ zustellen versucht162, wie er dem „Kausalitätsprinzip“ seine eigene „Schick­salsidee“ entgegensetzt163. Er selbst erhob also nicht den Anspruch, sich auf der Ebene einer exakt wissenschaftlich-analytischen Betrachtungsweise zu bewegen, sondern auf derjenigen einer intuitiven Erkenntnis, die mit Analogien und subjektiven Deutungen arbeitet – gleichwohl aber beansprucht, zu allgemein gültigen Aussagen gelangen zu können. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass Spengler sich selbst im Gespräch mit einem so andersgearteten, in der Sphäre der strengen Wissenschaft lebenden Gelehrten wie Max Weber dazu bekannte, ein „Dich160  Spengler,

Politische Schriften (Anm. 23), S. 98. Untergang (Anm. 24), Bd. I, S. 22, Anm. 1, 228; II, S. 232 u. a. 162  Vgl. ebenda I, S. 127 ff. 163  Vgl. ebenda I, S. 154 ff. 161  Spengler,

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ter“ zu sein164. Deshalb wird man davon ausgehen müssen, dass die Wirkung von Spenglers Ideen  – und damit auch seiner Russland‑Thesen  – begrenzt war und ist. Von der Wissenschaft werden sie bis heute allenfalls am Rande zur Kenntnis genommen. Zweitens muss daran erinnert werden, dass Spengler in seiner Beurteilung des Bolschewismus immer wieder geschwankt hat, was sich auch in manchen durchaus widersprüchlichen Äußerungen niederschlug. Man denke nur an seine Deutung des Hauptstadtwechsels von Petersburg nach Moskau. Behauptet er an einer Stelle: „Die Schöpfung Lenins ist westlich, ist Petersburg“165, d. h. aus dem Geist des Petersburger „Petrinismus“ entstanden, so heißt es anderswo ebenso eindeutig: „Rußland hat mit der symbolischen Verlegung seiner Hauptstadt von Petersburg nach Moskau den Schritt zurückgenommen, den Peter der Große getan hatte: sich als europäische Macht zu konstituieren […] und Asien als Mittel zu europäischen Zwecken zu behandeln. Heute gilt das Umge­ ­ kehrte“166. Zwischen diesen Äußerungen liegen nur zwei Jahre  – und doch schließen sie in dieser Form einander aus. Ein ähnlich unsicheres Schwanken verraten die (im Vorangehen behandelten) Spekulationen und Vermutungen über einen alten und einen neuen, einen westlichen und einen östlichen, einen „europäischen“ und einen „asiatischen“ Bolschewismus – wenngleich Spengler immer an seiner Überzeugung festgehalten hat, dass es sich beim Regime der Sowjets nur um ein letzten Endes vorübergehendes historisches Oberflächenphänomen handele, dessen Ende zwar nicht exakt vorauszusagen, aber doch abzusehen sei. Bedeutet dies nun aber, dass Spenglers Ideen und Thesen aus heutiger Sicht wertlos sind, dass sie deshalb auch nichts zur Erkenntnis der gegenwärtigen Situation Russlands167 nach dem Untergang des Bolschewismus beitragen können? Das doch wohl nicht. Denn auch wenn es um die erkenntnistheoretische Exaktheit und die wissenschaftliche Präzision dieser Thesen schlecht bestellt sein mag, so ist damit noch nicht gesagt, dass im Einzelfall auf den Wegen der Intuition, aber auch der weit ausgreifenden Analogie keine sinnvolle Erkenntnis gewonnen werden kann. Ein Indiz dafür, ob Spenglers Ideen über Russland aus heutiger Sicht noch von Bedeutung sind oder nicht, kann man in der Resonanz suchen, auf welche eben diese Ideen in Russland selbst stoßen. Und das gegenwärtige Interesse der Russen an Spengler ist nicht zu übersehen, wie der eingangs zitierte Wiktor Kriwulin bestätigt: „Spenglers makrohistorische 164  Vgl.

Marianne Weber, Max Weber – Ein Lebensbild, Tübingen 1926, S. 687. Politische Schriften (Anm. 23), S. 120. 166  Ebenda, S. 293. 167  Dieser Text wurde 1993 verfasst! 165  Spengler,



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Parallelen gewinnen derzeit in Rußland neue Anhänger, und das Interesse für sie verstärkt sich mit der sich beschleunigenden ‚Verwestlichung‘, die vorläufig nur von einem rapiden Sinken des Lebensstandards begleitet wird, […] vor allem in Moskau. Mehr noch, gerade Moskau wird heute zum Objekt eines elementaren, untergründigen Hasses, zur neuen Babylonischen Hure, wo sich die ‚käuflichen Agenten des Westens‘ festgesetzt haben, die Demokraten, die Rußland angeblich ausrauben und zerstören. Die westlichen Lebensformen sind für die nationale Mentalität wie eh und je zu kompliziert und fremdartig“168. Wendet man Spenglers Kategorien auf die heutige Lage an, dann bleiben dem Russland der Gegenwart zwei Möglichkeiten künftiger Entwicklung: entweder entsteht – nach Petrinismus und Bolschewismus – eine dritte Pseudomorphose, die sich erneut an das westliche Vorbild anlehnt, oder aber es bildet sich tatsächlich etwas anderes, ganz Neues heraus – ein eigenständiges, sich ausschließlich auf die eigenen Wurzeln zurückbesinnendes neugeborenes Russland, und im Extremfall vielleicht sogar die von Spengler prophezeite neue Kultur. Fest steht nur, dass sich gegenwärtig, folgt man dem Zeugnis Kriwulins, sowohl die eine wie die andere Möglichkeit abzeichnet169. Die Würfel darüber, welchen Weg das neue Russland einschlagen wird, sind noch nicht gefallen, Manches spricht dafür, dass die Russen auch künftig versuchen werden, beide ­Wage zu beschreiten, dass Russland also sein „Doppelantlitz“, von dem Spengler einst im Jahr 1922 sprach, nicht verlieren wird. Deshalb kann man aus heutiger Sicht das Verdienst Spenglers vor allem darin sehen, dass er den Blick auf die Erkenntnis dieses Doppelantlitzes nicht nur freigemacht, sondern auch in einer Weise geschärft hat, die in den zahlreichen anderen Deutungen russischer Geschichte, Gegenwart und Zukunft wohl kein Gegenstück besitzt. 168  Kriwulin,

Das unsichtbare Buch (Anm. 1). ebenda: „Diese neue russische Pseudomorphose wird dadurch kompliziert werden, daß sich Rußland aus seiner Ablehnung des gegenwärtigen Augenblicks heraus in zwei Richtungen zugleich entwickelt, die sich gegenseitig ausschließen: Ein Teil der Russen, in der Hauptsache die Bewohner der großen Industriezentren, übernimmt, ohne nachzudenken oder sich umzusehen, eilends alles Westliche und orientiert sich dabei an den äußeren und mitunter schlechtesten Seiten der Konsumgesellschaft […] Die andere, ziemlich große Bevölkerungsgruppe wendet sich inbrünstig der vorrevolutionären Vergangenheit zu und ahmt diese getreulich nach, was öfters zu absurden, karnevalesken Formen führt“. Obwohl selbst eindeutig „westlich“ gesinnt, betont Kriwulin nachdrücklich, ganz im Spenglerschen Sinne, „die andere Seite der russischen Mentalität […], ihren tief eingewurzelten Konservatismus und ihr Mißtrauen gegen alles Fremde“ (ebenda). Was Kriwulin hier ablehnt, ja als Gefahrenmoment hervorhebt, wäre für Spengler wohl nur einmal mehr ein Ausdruck für die unbewusste russische Sehnsucht nach einer eigenen, neuen Kultur. 169  Vgl.

Das Geheime Deutschland – Zur Geschichte und Bedeutung einer Idee I. Als in der Nacht des 20. Juli 1944 die wichtigsten Verschwörer des an diesem Tag durchgeführten und gescheiterten Staatsstreichs im Hof des Berliner Bendlerblocks vor das Erschießungskommando geführt wurden, da schied der Hauptverschwörer und Hitler-Attentäter Claus Graf von Stauffenberg mit einem Ausruf aus dem Leben, dessen Inhalt und Deutung bis heute umstritten ist. Nach der ersten großen, schon 1952 erschienenen Darstellung des Widerstandes von Eberhard Zeller, der aus dem Freundeskreis der drei Brüder Stauffenberg kam, lauteten diese letzten Worte: „Es lebe unser heiliges Deutschland“1. Diese Überlieferung hat sich bis in die Gegenwart fortgesetzt, doch in neuerer Zeit haben sich die Zweifel an der Korrektheit dieses Berichts verstärkt. Was also mag Stauffenberg in der letzten Sekunde seines Lebens gerufen haben? Beschwor er das „geheiligte Deutschland“, wie sein wichtigster Biograph Peter Hoffmann bis heute meint2, gebrauchte er die Formulierung „heimliches“ oder gar „geheimes Deutschland“, wie es bereits früher und neuerdings wieder so gewichtige Autoren wie Edgar Salin3, Joachim Fest4 oder Thomas Karlauf5 behauptet haben? Diese schwie­rige Frage wird endgültig wohl niemals hinreichend beantwortet werden können, zumal alle diejenigen, die darüber einigermaßen verlässlich hätten Auskunft geben können – eben weil sie Augen- und Ohrenzeugen waren 1  Eduard Zeller, Geist der Freiheit. Der zwanzigste Juli. München o. J. [1952], S. 236, ebenfalls noch in der neuesten 6. Aufl. Berlin 2004, S. 399; siehe auch derselbe, Oberst Claus Graf Stauffenberg. Ein Lebensbild. Paderborn 2008, S. 282; vgl. ebenfalls Christian Müller, Oberst i. G. Stauffenberg. Eine Biographie. (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte, 3) Düsseldorf o. J. [1970], S. 508. 2  Vgl. Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder. Stuttgart 21992, S. 443, mit 598 f., Anm. 318. 3  Vgl. Edgar Salin, Um Stefan George. Erinnerung und Zeugnis. München/ Düsseldorf 21954, S. 324. 4  Vgl. Joachim Fest, Staatsstreich. Der lange Weg zum 20.  Juli. Berlin 1994, S. 280. 5  Vgl. Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München 2007, S. 638.



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und weil sie Stauffenberg als Persönlichkeit kannten, daher auch wissen konnten, wovon er sprach –, diesen Tag ebenso wenig überlebt haben wie der Attentäter und Anführer des Staatsstreiches selbst6. Wie also der berühmte letzte Ausruf Stauffenbergs auch lautete – wir wissen es nicht und wir werden es wohl niemals genau erfahren, doch es können und dürfen begründete Vermutungen darüber angestellt werden, und hierzu zählt auch die Annahme, dass es tatsächlich das „heimliche“ oder sogar das „geheime Deutschland“ gewesen ist, das Stauffenberg unmittelbar vor seinem gewaltsamen Tod beschworen hat. Denn der Gedanke an dieses in einem ganz bestimmten Sinne verstandene „geheime Deutschland“ hat ihn, wie wir heute wissen, seit frühester Jugend intensiv bewegt und für sein ganzes weiteres Leben tief geprägt. War es also die Idee des „geheimen Deutschland“, die den Hitler-Attentäter wesentlich zu seiner Tat motiviert hat? Und wenn ja: Wie ist diese Idee zu verstehen, die zu einer Tat beitrug, die wiederum – wäre sie gelungen – wohl den Lauf der Weltgeschichte geändert hätte? Woher stammt diese Idee, wie ist sie im einzelnen zu bestimmen, welche Wandlungen hat sie durchgemacht – und auf welche Weise konnte sie endlich zum zentralen, motivierenden Moment für eine wesentliche politische Tat der jüngeren deutschen Geschichte werden? Auf alle diese Fragen soll im Folgenden eine Antwort zu geben versucht werden, freilich eine – wie bei diesem Thema wohl nicht anders möglich  – unvollständige und rudimentäre, vielleicht nur vorläufige Antwort. II. Die Frage nach der Entstehung, Bedeutung, Wandlung und Wirkung von Ideen in der Geschichte zählt bis heute zu den am meisten umstrittenen Themen der historischen Wissenschaften, und zwar deshalb, weil sie an das Grundverständnis dessen reicht, was jeweils als Wirklichkeit aufgefasst wird. Nicht wenige deutsche Denker und Historiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben unter dem Eindruck der Klassik, der Romantik und des deutschen Idealismus wie selbstverständlich angenommen, dass es, um hier mit Wilhelm von Humboldt zu sprechen, „Ideen“ sind, „die ihrer Natur nach, ausser dem Kreise der Endlichkeit liegen, aber die Weltgeschichte in allen ihren Theilen durchwalten und beherrschen,“ ja dass sogar „jede menschliche Individualität“ im letzten 6  Zu den verschiedenen Überlieferungsversionen der letzten Worte Stauffenbergs vgl. auch die Hinweise bei Joachim Kramarz, Claus Graf Stauffenberg. 15. November 1907 – 20. Juli 1944. Das Leben eines Offiziers. Frankfurt a. M. 1965, S. 220, Anm. 49.

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Sinne als „eine in der Erscheinung wurzelnde Idee“7 aufgefasst werden kann. Die Epoche der von Humboldt und Ranke geprägten Historiographie8, die beide jeweils noch davon ausgingen, in den Ideen seien „die großen herrschenden Tendenzen der Jahrhunderte“ zu finden und die den historischen Prozess gewissermaßen als „Komplex dieser Tenden­ zen“9 verstehen und deuten zu können meinte, ist längst vergangen. Aber auch jene diametral entgegengesetzte Auffassung, die in den Ideen wiederum nichts anderes sah und sieht als bloße Derivate bestimmter sozialer und ökonomischer Entwicklungsstufen der Geschichte  – und daher als von der historischen Betrachtung eher zu vernachlässigende Phänomene – vermag heute im Allgemeinen nicht mehr zu überzeugen. Am ehesten wird man die Ideen noch als Gedankenkonstrukte definieren können, gewissermaßen als geistige Akte der Verdichtung von in bestimmter Weise wahrgenommener und gedeuteter Wirklichkeit mit dem Hauptzweck der Orientierung und damit auch der Sinngebung. Nach welchen Regeln und Gesetzen eine solche Konstruktion vor sich geht und im Einzelnen verfährt, darf wohl als noch immer ungeklärt angesehen werden. Kaum zu bestreiten dürfte allerdings die anthropologische Tatsache sein, dass Ideen aus einem bestimmten Bedürfnis der Menschen heraus entstanden sind, das sich wiederum, so Helmuth Plessner, aus der „Gegenüberstellung des Menschen gegen seine […] Lebenssituation“ ergibt: Es handelt sich dabei letztlich um die Grundfrage menschlicher Existenz, also um „jede Frage, die der Mensch sich tausendmal im Lauf seines Lebens vorzulegen hat: was soll ich tun, wie soll ich leben, wie komme ich mit dieser Existenz zu Rande“ – und eben diese Frage ist es, die nach Plessner den „wesenstypischen Ausdruck der Gebrochenheit“ der Menschen auf den Begriff bringt, eine Frage also, „der keine noch so naive, naturnahe, ungebrochene, daseinsfrohe und traditionsgebundene Epoche der Menschheit sich entwinden konnte“10. 7  Die Zitate: Wilhelm von Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtschreibers, in: derselbe, Werke in fünf Bänden, hrsg. v. Andreas Flitner/Klaus Giel, Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Darmstadt 31980, S. 601, 603. 8  Als Gesamtüberblick ist (trotz zeitbedingter Patina) immer noch sehr in­ struktiv: Heinrich Ritter von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart. Bde. 1–2, München/Salzburg 21964, hier Bd. 1, S. 167– 192, 239–292, 414–416, 419–423. 9  Beide Zitate: Johann Goldfriedrich, Die historische Ideenlehre in Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Geisteswissenschaften, vornehmlich der Geschichtswissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin 1902, S. 401 f.; vgl. zum Problem der „historischen Ideenlehre“ auch die Bemerkungen bei Srbik, Geist und Geschichte (Anm. 8), Bd. 1, S. 183–185, 256–258. 10  Alle Zitate aus: Hellmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin/New York 31975, S. 309.



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Hinter den Ideen der Menschen stehen also ihre spezifischen Sinngebungsbedürfnisse, und schon deshalb sind sie aus der Geschichte nicht wegzudenken, ja sie stellen in gewisser Weise sogar einen integralen Bestandteil historischen Geschehens dar. Aus diesem Grunde hat auch die neuere historische Forschung die Frage nach der Bedeutung von Ideen in der Geschichte erneut gestellt und dabei durchaus den Blick auf deren Funktion als „gesellschaftliche Gestaltungskraft“11 im neuzeitlichen Europa gerichtet. Wenn auch, wie zu Recht betont worden ist, das Kernproblem, nämlich die Aufhellung der „Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Ideen“12, derzeit noch nicht ausreichend bewältigt worden ist, so wird doch auch von der neueren Geschichtsschreibung „die Überzeugung von der wirklichkeitskonstituierenden Kraft von Ideen und Symbolen“13 letztlich nicht mehr ernsthaft bestritten, und auch eine vermeintlich „neue“ Geistes- und Ideengeschichte, die sich den sozialen, biographischen und politischen Kontexten im weitesten Sinne zu öffnen bestrebt ist, wird die Eigenmächtigkeit und Eigenwirksamkeit von Ideen in der Geschichte (auch wenn eine solche oft nur begrenzt sein mag) nicht mehr wirklich in Frage stellen können. Die Idee, um die es hier geht, das „Geheime Deutschland“, entstammt jedenfalls älterer Tradition und ist  – wenn auch nicht unbedingt schon im Sinne einer strengen begrifflichen Fassung  – bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert nachweisbar. Die eigentlich dahinter stehende Grundidee, nämlich die Auffassung, das im Innersten Wahre, das wirklich Große, das im eigentlichen Sinne Bedeutende erhebe sich derart hoch über die alltägliche Welt, dass es nur einer kleinen Schar Auserwählter zugänglich, nur einer überschaubaren Elite der Wissenden erkennbar sei, ist im Grunde uralt; sie geht letztlich auf antike Denktraditionen zurück, vor allem auf die Philosophie Platons, der die Möglichkeit einer wirk­ lichen Erkenntnis der Ideen und damit des wahren Seins nur einer sehr 11  Vgl. hierzu den instruktiven Sammelband von Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für eine erneuerte Geistesgeschichte. München 2006.  – In diesem Zusammenhang ist ebenfalls die seit 2007 erscheinende „Zeitschrift für Ideengeschichte“ zu nennen. 12  Lutz Raphael, „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit“: Bemerkungen zur Bilanz eines DFG-Schwerpunktprogramms, in: Raphael/Tenorth (Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft (Anm. 11), S. 25. Kurze neuere Einführungen in die Thematik finden sich auch bei Günther Lottes, Neue Ideengeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hrsg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch. Göttingen 2002, S. 261–269; ­Luise Schorn-Schütte, Neue Geistesgeschichte, in: ebenda, S. 270–280. 13  Raphael, Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit (Anm. 12), S. 26.

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kleinen Gruppe der Wissenden, also den Philosophen im eigentlichen Sinne, zuschrieb. So nimmt es nicht Wunder, dass diejenigen, die sich in der Epoche um und nach 1900 als die eigentlichen Träger der Idee des Geheimen Deutschland angesehen haben, die Angehörigen des höchst exklusiven Kreises um den Dichter Stefan George14, sich immer wieder auf Platon berufen haben, in dessen über die Zeiten hinweg sich erstreckende Wirkungsgeschichte sie sich selbst einreihten15. Die Idee eines nur im Verborgenen existierenden, eines von dem real-äußerlichen streng unterschiedenen „geistigen Deutschland“ findet sich tatsächlich, wie man heute weiß, in der jüngeren deutschen Geistesgeschichte in den verschiedensten Ausprägungen und Zusammenhängen  – und vor allem immer dann, wenn der Zustand des im äußerlichen Sinne „realen“, des wirklichen Deutschlands Anlass zur Klage und Kritik gab. Bei Schiller, Hölderlin sowie bei Wilhelm und Caroline von Humboldt ist der Gedanke wenigstens nachweisbar; später haben ihm Heine und Hebbel ebenso Ausdruck verliehen wie die nachmals berühmten, in ihrer politischen Grundtendenz freilich nicht unproblematischen kulturkritischen Auto14  Hierzu grundlegend: Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 206  ff. u. passim; Rainer Kolk, Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890– 1945. (Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte, 17.) Tübingen 1998; sodann (in der Deutung zuweilen anfechtbar) Robert E. Norton, Secret Germany. Stefan George and his Circle. Ithaca/London 2002; wichtiges Material enthält: Bernhard Zeller (Hrsg.), Stefan George 1868–1968. Der Dichter und sein Kreis. (Sonderausstellungen des Schiller-Nationalmuseums; Katalog 19.) München 1968; aus der älteren (z. T. von Angehörigen des Kreises verfassten) Literatur bleiben – trotz subjektiver Perspektive und zuweilen problematisch-einseitiger Interpretation – wegen ihres Informationsgehalts wichtig: Friedrich Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890. Berlin 1930 (die aus der Perspektive und unter Mitwirkung des Dichters geschriebene, gewissermaßen offizielle Darstellung des Kreises), sodann Robert Boehringer, Mein Bild von Stefan George. München/Düsseldorf 1951, 21967 (im Folgenden nach der 1. Aufl. zitiert); Kurt Hildebrandt, Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis. Bonn 1965; eine an Max Weber orientierte sozialpsychologische (und gegenüber dem Denken des Kreises sehr kritisch eingestellte) Interpretation liefert Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995. Neuerdings aus ganz anderer Perspektive auch: Manfred Riedel, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg. Köln/Weimar/Wien 2006. 15  Vgl. dazu u. a. Ernst Eugen Starke, Das Plato-Bild des George-Kreises. Phil. Diss. Köln 1959, sowie Stefan Rebenich, „Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel“. Platon im George-Kreis, in: George-Jahrbuch 7 (2008/09), S. 115–141. Aus dem Kreis heraus oder in seinem Umfeld sind u. a. entstanden: Heinrich Friedemann, Platon. Seine Gestalt. Berlin 1914, Kurt Singer, Platon, der Gründer. München 1927; Kurt Hildebrandt, Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht. Berlin 1933.



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ren des frühen deutschen Kaiserreichs, Paul de Lagarde und Julius Langbehn16. III. Die Möglichkeit zur Anknüpfung an diese ältere Tradition war also gegeben, als sich der Kreis um Stefan George daran machte, die Idee des Geheimen Deutschland als Selbstdeutung zu übernehmen. Tatsächlich war der im Jahr 1868 geborene, aus dem Rheinland stammende George nach einer Formulierung von Gottfried Benn „das großartigste Durchkreuzungs- und Ausstrahlungsphänomen, das die deutsche Geistesgeschichte je gesehen hat“17. Denn die ungemein weitreichende Wirkung dieses einflussreichen, sich aber im Verborgenen inszenierenden Mannes, sein zwingender Eindruck, die offenkundige Faszination, die von dem Dichter ausging18, erstreckte sich weit über das literarische Leben im engeren Sinne hinaus; bekanntlich haben einige der bedeutendsten Persönlichkeiten des deutschen Geisteslebens und der deutschen Wissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diesen Dichter nicht nur als Künstler, sondern im eigentlichen Sinne als Künder und Seher einer neuen Zeit geradezu kultisch verehrt.

16  Statt an dieser Stelle Einzelnachweise zu geben sei nur verwiesen auf die zusammenfassenden Darstellungen bei Eckhart Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk „Kaiser Friedrich der Zweite“. (Frankfurter Historische Abhandlungen, 25.) Wiesbaden 1982, S. 74–80; Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Anm. 2), S. 64 f.; Ulrich Raulff, „In unterirdischer Verborgenheit“. Das geheime Deutschland  – Mythogenese und Myzel. Skizzen zu einer Ideen- und Bildergeschichte, in: Barbara Schlieben/Olaf Schneider/Kerstin ­ Schulmeyer (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft. Göttingen 2004, S. 93–115. 17  Diese in der Sache überaus treffende Feststellung wird  – allerdings ohne Nachweis  – zitiert bei Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 2, der sich in diesem Fall auf sein Gedächtnis verlassen haben mag; in Gottfried Benns (nicht gehaltener) „Rede auf Stefan George“ von 1934 heißt es, Gottfried Benn, Gesammelte Werke in acht Bänden. Hrsg. v. Dieter Wellerhoff, Wiesbaden 1968, Bd. 4, S. 1028–1041, hier S. 1033: „Mir scheint seit je dieser Einbruch Georges in die deutsche Wissenschaft eines der rätselhaftesten Phänomene der europäischen Geistesgeschichte zu sein, wohl nicht allein erklärbar aus dem Werk Georges, sondern auch dadurch, daß man sich der Verfassung der Wissenschaften um 1900 erinnert, ihres völlig substantiellen und moralischen Kernschwunds, ihrer weltanschaulichen Zerrüttung und methodischen Verwirrung durch die Naturwissenschaften […]“. 18  Neuerdings dargestellt und gedeutet durch Karlauf, Stefan George (Anm. 5), passim.

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Dem Umfeld Stefan Georges angehören, ihm, dem „Meister“, persönlich nahe sein zu dürfen, galt als höchste Ehre und Auszeichnung, und der Kreis derjenigen, die dem Dichter für längere oder manchmal auch kürzere Zeit nahegestanden haben, kann sich in der Tat sehen lassen, denn es befanden sich viele klangvolle Namen darunter: Dichter und ­Privatgelehrte wie Ludwig Klages, Karl Wolfskehl und Berthold Vallentin, Literaturwissenschaftler wie Friedrich Gundolf, Ernst Bertram, Norbert von Hellingrath, Max Kommerell und Rudolf Fahrner, Historiker wie Kurt Breysig, Friedrich Wolters und Ernst Kantorowicz, Philosophen, Nationalökonomen, Juristen und Mediziner wie etwa Georg Simmel, Kurt Hildebrandt, Edgar Salin, Ernst Morwitz, aber auch bildende Künstler wie Melchior Lechter, Ludwig Thormaehlen und Frank Mehnert. Sie alle standen dem Dichter nahe, die meisten von ihnen verehrten ihn zeitweilig oder lebenslang als Meister, als begnadeten Deuter und Seher der Zeit und im Grunde auch als Sinngeber der eigenen Existenz19. Dieses erstaunliche, in der neueren deutschen Geistesgeschichte wahrhaft einzigartige Phänomen ist wohl hauptsächlich zurückzuführen auf das heute nur schwer nachzuempfindende außerordentliche Charisma, das von dem Menschen George ausgegangen ist. Es verwundert nicht, dass Max Weber sein berühmtes Konzept der „charismatischen Herrschaft“ nach Begegnungen mit dem Dichter, mit dem er vor dem Ersten Weltkrieg mehrfach im kleinen Kreis in Heidelberg zusammengetroffen war, entwickelt hat20; Weber war und blieb zwar stark beeindruckt von der Persönlichkeit Georges, ohne ihr jedoch, wie so viele andere, zu verfallen. George selbst hat den von ihm absolut beherrschten und im Inneren streng kontrollierten Kreis um seine Persönlichkeit, der durchaus

19  Nach außen hin war man indessen bemüht, die Eigenart des nach dem Ersten Weltkrieg schon weithin bekannten „Kreises“ gewissermaßen „sozialverträglich“ kompatibel zu machen; so ist etwa Gundolfs Definition aus seinem GeorgeBuch von 1920 zu verstehen: Friedrich Gundolf, George. Berlin 31930, S. 31, Anm. *): „Der Kreis ist weder ein Geheimbund mit Statuten und Zusammenkünften, noch eine Sekte mit phantastischen Riten und Glaubensartikeln, noch ein Literatenklüngel […], sondern es [sic] ist eine kleine Anzahl Einzelner mit bestimmter Haltung und Gesinnung, vereinigt durch die unwillkürliche Verehrung eines großen Menschen, und bestrebt der Idee, die er ihnen verkörpert (nicht diktiert) schlicht, sachlich und ernsthaft durch ihr Alltagsleben oder durch ihre öffentliche Leistung zu dienen. Alles was darüber draußen gemunkelt wird ist Klatsch von Dummköpfen, Witzbolden, Schwindlern oder Verleumdern“. 20  Vgl. hierzu neben Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen 1926, S.  464 ff., Wolters, Stefan George (Anm. 14), S. 471 ff., und Joachim Radkau, Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. München/Wien 2005, S. 468 ff., besonders Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 410 ff., und ebenfalls die wichtigen Bemerkungen bei Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 80 ff.



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mehr darstellte und sein wollte als nur eine „Dichterschule“21, gerne als „staat“ bezeichnet, damit gewissermaßen als sein eigenes kleines Herrscherreich, in dem er sich als der verborgene Regent eines im eigentlichen, wahren Sinne geistigen Deutschlands fühlen und verstehen konnte22. In diesem Sinne begriff George, wie es einer seiner engsten Vertrauten, Ernst Morwitz, Jahrzehnte nach dem Tod des „Meisters“ einmal formuliert hat, unter dem Begriff „Staat“ durchaus „nicht äußere Staatenbildung, sondern das Verhalten von Mensch zu Mensch, eine neue Gemeinschaftsbildung, zu der wenige von Geburt aus, wie er glaubt, befähigt sind, eine grössere Zahl aber durch Erziehung geeignet gemacht werden kann“23. Genau diese Art der Gemeinschaftsbildung strebte der Dichter an, dem es seit Beginn seiner Kunstausübung, also seit den 1880er Jahren – durchaus anknüpfend an das Werk der französischen Symbolisten um Mallarmé  – darum zu tun war, vor allem demjenigen entgegenzuwirken, das man im Anschluss an Weber und andere Theoretiker der Moderne die „Entzauberung der Welt“24 genannt hat. Tatsächlich stellt eine an Radikalität nur schwer zu überbietende Gegenwartskritik die eigentliche geistige Triebkraft von Georges dichterischem Werk dar. Die – von ihm so erfahrene  – vollkommen sinnentleerte Moderne, gipfelnd in letztlich zweckloser „Arbeits- und Kulturbetriebsamkeit“25, im Fortschreiten einer immer ungehemmter sich vollziehenden, zerstörerischen Kapitalisierung und Industrialisierung der zeitgenössischen Lebenswelt, die im Grunde lediglich noch die von Nietzsche vorausgesehenen „letzten Men21  Vgl. Karlhans Kluncker, Der George-Kreis als Dichterschule, in: derselbe, Das Geheime Deutschland. Über Stefan George und seinen Kreis. Bonn 1985, S. 11–23. 22  Hierzu jetzt grundlegend Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 362 ff., 385 ff., 405, 410 ff. u. a., sowie Wolfgang Graf Vitzthum, Stefan George und der Staat, in: Festschrift für Martin Heckel zum siebzigsten Geburtstag. Hrsg. v. Karl-Hermann Kästner/Knut Wolfgang Nörr/Klaus Schlaich, Tübingen 1999, S. 915–939, bes. S. 925; erhellend ebenfalls Ulrich Raulff, Der Dichter als Führer: Stefan George, in: derselbe (Hrsg.), Vom Künstlerstaat. Ästhetische und politische Utopien. München/Wien 2006, S. 127–143.  – Die Bezeichnung „staat“ stammt aus der Zeit um 1910 und geht vermutlich auf Wolters zurück; vgl. Hildebrandt, Erinnerungen an Stefan George (Anm. 14), S. 46. 23  Ernst Morwitz, Kommentar zu dem Werk Stefan Georges. Düsseldorf/München 21969, S. 351; zu Morwitz und zu dessen Stellung innerhalb des „Kreises“ vgl. Boehringer, Mein Bild von Stefan George (Anm. 14), S. 143, 173 ff. u. a.; Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 377 ff. u. passim. 24  Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. I, Tübingen 9 1988, S. 94. 25  Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 90; vgl. zum Zusammenhang auch ebenda, S. 69–102.

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schen“ hervorbringe26  – mit den berühmten Worten Max Webers im „stahlharte[n] Gehäuse“ der modernen Arbeitswelt also nurmehr „Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz“27  –, dieser Moderne also opponierte George sowohl mit dem Beispiel seiner Persönlichkeit als auch mit aller Wucht des ihm zur Verfügung stehenden dichterischen Ingeniums. Max Weber hat das durchaus erkannt, indem er (nach einer sehr treffenden Formulierung Manfred Riedels) akzeptierte, „dass der wertvollste Teil von Georges lyrischem Werk menschenmögliches Standhalten gegenüber dem städtisch-zivilisatorischen Lebenstaumel am Grunde der Moderne gestaltete; einsame, erschütterte Menschen, die nicht gleich jenen über dem Erdboden schwebenden Figuren zeitgenössischer Jugendstilkunst zu Schemen in zauberhaft schönen Naturenklaven erstarren, sondern in bewusst gewählter Vereinsamung sich der gesellschaftlich verhängten ‚Erniedrigung des Herzens‘ zu erwehren suchen“28. Weniger mochte er freilich mit der ästhetischen Utopie anfangen können, die der Dichter dagegenzustellen bestrebt war: dem an das vermeintliche „Sehertum“ seiner beiden von ihm so aufgefassten, einsamen und verkannten, endlich im Wahnsinn sterbenden Vorläufer Hölderlin und Nietzsche anknüpfenden Ideal des „schönen Lebens“, einer im vollen Sinne wahrhaft menschlichen, kunst- und gemeinschaftserfüllten Existenz fern von den Verirrungen der modernen, säkularisierten Lebenswelt29. George folgte darin einer bereits bei Hölderlin anklingenden Vision einer allgemeinen geistig-seelischen Erneuerung – durch die Vermählung des wahrhaft Hellenischen mit dem wahrhaft Deutschen zu einer höheren geistigen Synthese30. Diese ästhetische Utopie des „schönen Lebens“ wurde seit der im Gedichtband von 1899, „Der Teppich des Lebens“, gestalteten Vision vom 26  Vgl. Friedrich Nietzsche, Werke. Hrsg. v. Karl Schlechta, Bde. 1–3, München 1969, hier Bd. 2, S. 264. 27  Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. I (Anm. 24), S. 203 f.; zur Herkunft dieser Formulierung siehe Hans-Christof Kraus, Kontroversen um Puritanismus und Kapitalismus. Zur neuen kritischen Edition der „Protestantischen Ethik“ von Max Weber, in: Jahrbuch Politisches Denken 2015, Berlin 2016, S. 257–264, hier S. 260 f. 28  Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 84. 29  Vgl. dazu vor allem Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 257 ff., sowie Kolk, Literarische Gruppenbildung (Anm. 14), S. 168 ff., 339 ff. 30  Die herausragende Bedeutung Hölderlins für Georges „Sehertum“ und dessen eigentümlich „hesperisches“ Geschichtsbild ist umfassend und in der Sache sehr überzeugend herausgearbeitet worden von Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 38–68.



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Engel als Boten, der dem empfänglichen Leser den Weg zu eben dieser neuen Lebensform weist31, zur verbindenden Idee des engsten Kreises der Anhänger und Verehrer, die sich um den Dichter gesammelt hatten32. In einem zentralen frühen Text zum Selbstverständnis des Kreises, Friedrich Wolters kleiner Schrift „Herrschaft und Dienst“ von 1909, findet sich das Ideal in die für jene Zeit charakteristische Formulierung gefasst, „dass um und über uns schönheit und grösse ihre unantastbaren zepter führen“33. Die von George ausgehende kreisbildende Kraft manifestierte sich nicht zuletzt in der von ihm veranstalteten und allein verantworteten Herausgabe des Periodikums „Blätter für die Kunst“, das in zwölf Folgen zwischen 1892 und 1919 erschienen ist und ausschließlich dem Dichter und den von ihm als würdig erachteten Angehörigen seines Kreises zur Publikation ihrer Dichtungen zur Verfügung stand34. Zwischen 1910 und 1912 erschien dazu kurzzeitig ein weiteres Organ des Kreises, das vornehmlich der kritischen Auseinandersetzung mit den Gegnern sowie grundsätzlichen theoretischen Verlautbarungen des Kreises gewidmet sein sollte: das „Jahrbuch für die geistig Bewegung“, herausgegeben von den damals wohl engsten Vertrauten Georges, Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters35. 31

31  Stefan George, Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel. (Gesamt-Ausgabe, 5.) Berlin 1932, 9–35; siehe dazu auch Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 257 f. 32  Wobei freilich anzumerken ist: Hildebrandt, Erinnerungen an Stefan George (Anm. 14), S. 61, Anm. 21: „Wer zum Kreise gehörte, das wußte allerdings in jedem Augenblick allein George“. 33  Friedrich Wolters, Herrschaft und Dienst. Berlin 21920, S. 57; über Wolters vgl. neben der frühen Würdigung durch einen Angehörigen des Kreises: Kurt Hildebrandt, Friedrich Wolters Vermächtnis, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 25 (1931), S. 352–359, auch dessen Korrespondenz mit George: Michael Philipp (Hrsg.), Stefan George – Friedrich Wolters. Briefwechsel 1904–1930. Amsterdam 1998, darin bes. die Einleitung von Michael Philipp, S. 5–61; Salin, Um Stefan George (Anm. 3), S. 125–162; Michael Philipp, Wandel und Glaube. Friedrich Wolters  – Der Paulus des George-Kreises, in: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘. Tübingen 2001, S. 283–299; Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 431 ff., 525 ff. u. a. 34  Vgl. Karlhans Kluncker, Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan Georges. (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, 24.) Frankfurt  a.  M. 1974; siehe ebenfalls Norton, Secret Germany (Anm. 14), S. 129 ff. u. passim; Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 105 ff. u. passim. 35  Vgl. dazu neben den rückblickenden Bemerkungen des Miteditors Wolters, Stefan George (Anm. 14), S. 383  ff., auch Kolk, Literarische Gruppenbildung (Anm.  14), S.  312 ff., 362 ff.; Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 444 ff., 451 ff.

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III. Das 20. Jahrhundert: Zwischen Totalitarismus und Demokratie

Im Eingangstext des ersten Bandes dieses „Jahrbuchs“ – einem wirklichen Schlüsseltext zum Verständnis und zur Selbstinterpretation des Kreises  –, den einer der ältesten Freunde und Mitstreiter Georges, Karl Wolfskehl, verfasste36, findet sich nun zum ersten Mal die Selbstdefinition der Ideen dieses Kreises als Manifestation eines bisher unbekannten „geheimen Deutschland“, das sich freilich, wie der Autor sagt, entschieden gegen „die allgemeinen bestrebungen der zeit“ stelle und daher entschlossen sei, keinen „frieden zu machen mit zeit und öffentlichkeit“37. Mit Blick auf Georges „Blätter für die Kunst“ und deren Bedeutung stellt Wolfskehl hier apodiktisch fest: „[…] was heute unter dem wüsten oberflächenschorf noch halb im traume sich zu regen beginnt, das geheime Deutschland, das einzig lebendige in dieser zeit, das ist hier, nur hier zu wort gekommen“38. Als einen neuen, wenn auch überaus schwierig zu beschreitenden Weg zum Menschen und zum Leben preist Wolfskehl die von George ausgehende Erneuerung; allein diese gebe dem Kreis, wie er sagt, „die furcht und das hoffen darin wir heute glühen: dass eine bewegung aus der tiefe, wenn in Europa dergleichen noch möglich ist, nur von Deutschland ausgehen kann, dem geheimen Deutschland, für das jedes unserer worte gesprochen ist, aus dem jeder vers sein leben und seinen rhythmus zieht, dem unablässig zu dienen glück, not und heiligung unseres lebens bedeutet“39. Wenn Wolfskehls Zukunftsvisionen in diesem Text  – ungeachtet aller ausladenden (und damit gewissermaßen „kreistypischen“) Rhetorik  – in der Substanz eigentümlich blass blieben, dann wohl deshalb, weil die­ jenigen, an die sich seine Worte vor allen anderen wandten, im Grunde bereits wussten, was gemeint war40. Genau zwei Jahrzehnte später hat Friedrich Wolters in seiner 1930 erschienenen, von George selbst inspirierten und streng zensierten, gewissermaßen „offiziösen“ Geschichts36  Karl Wolfskehl, Die Blätter für die Kunst und die neueste Literatur, in: Jahrbuch für die geistige Bewegung 1 (1910), S. 1–18. 37  Beide Zitate: ebenda, S. 12 f. 38  Ebenda, S.  14  f.; es heißt weiter, S. 15: „Dass dies geheime Deutschland nicht verdorrt ist, dass es vernehmlicher denn seit langem aus seiner berg- und höhlenentrückung herauf will ans licht, das gibt uns die tiefe zuversicht für eine zukunft, die gewiss ernst, schwer und düster, gewiss voll der unerhörtesten erschütterungen sein wird, in der aber auch zum lezten male vielleicht die tiefen sich offenbaren wollen“. 39  Ebenda, 18. 40  Nämlich die von allem vordergründig Politischen sich abhebende, ästhetisch grundierte geistesaristokratische Vision des „Dienstes“ in Absetzung von der „gleichheit der würdelosen gebärde“ und der „freiheit der ziellosen verneinung“ in der Gegenwart, so die Formulierungen bei Wolters, Herrschaft und Dienst (Anm. 33), S. 55; vgl. auch ebenda, S. 53 ff.



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darstellung der Entwicklung des Kreises mit dem Titel „Stefan George und die Blätter für die Kunst“ hierauf im Rückblick eine Antwort versucht, indem er bemerkt, dass zu jener Zeit, also vor dem Ersten Weltkrieg, „der glühende Lebenskern […] im Schoße des geheimen Deutschland davor gesichert“ werden musste, „ein Gegenstand für das allgemeine Warenhaus des öffentlichen Deutschland zu werden“41. Auch Wolters hat keinen Zweifel daran gelassen, dass die frühen Bestrebungen und Ziele des Kreises letztlich genuin unpolitischer Natur gewesen seien und seinerzeit „alles Staatliche und Gesellschaftliche“42 weit hinter sich gelassen hätten. Sogar noch im Ersten Weltkrieg hat ein bedeutender Angehöriger des Kreises, der Ende 1916 gefallene junge und hochbegabte Hölderlin-Forscher Norbert von Hellingrath43, in seinem im Februar 1915 gehaltenen Vortrag „Hölderlin und die Deutschen“ den esoterisch-ästhetischen und damit letztlich außerpolitischen und überhistorischen Charakter der Idee ein weiteres Mal ausdrücklich betont, indem er feststellte: „Ich nenne uns ‚Volk Hölderlins‘, weil es zutiefst im deutschen Wesen liegt, daß sein innerster Glutkern unendlich weit unter die Schlackenkruste, die seine Oberfläche ist, nur in einem geheimen Deutschland zutage tritt; sich in Menschen äußert, die zum mindesten längst gestorben sein müssen, ehe sie gesehen werden und Widerhall finden; in Werken, die immer nur ganz Wenigen ihr Geheimnis anvertrauen, ja den meisten ganz schweigen, Nicht-Deutschen wohl nie zugänglich sind“44. In diesen Worten findet sich die esoterische Fassung des Begriffs und der Idee vom Geheimen Deutschland tatsächlich auf die Spitze getrieben, womit der Verfasser dieser Worte, wie man vermuten kann, nicht zuletzt die extreme Distanz 41  Wolters,

Stefan George (Anm. 14), S. 382 f. S. 433; gerade indem die „Blätter für die Kunst“ und deren Autoren alles Staatliche und Gesellschaftliche, damit ebenfalls „alle Weltverbesserungen und Allbeglückungsträume […] von der Kunst ausgeschieden und in der Neugestaltung der Dichtung und der dichterischen Bildung des Menschen ihre einzige Aufgabe suchten, verwandten sie alle gesammelte Kraft darauf, einen neuen Lebenskern im Volke zu bilden, der unangetastet von den tausend Wirren der Zeit sein Wachstum entfalten und die Formen eines gemeinsamen Lebens aus seinem Eigengesetzte entwickeln konnte“. 43  Vgl. Helmut Wocke, Zwei Früh-Vollendete. Bernhard von der Marwitz  – Norbert von Hellingrath, Hameln 1949, S. 33–50; Bruno Pieger, Karl Wolfskehl und Norbert von Hellingrath. Die Spur einer Freundschaft, in: Castrum Peregrini, S. 239–240 (1999), S. 115–133; Salin, Um Stefan George (Anm. 3), S. 93 ff.; Zeller (Hrsg.), Stefan George 1868–1968 (Anm. 14), S. 368 ff.; jetzt auch Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 406 ff. 44  Norbert von Hellingrath, Hölderlin und die Deutschen (1915), in: derselbe, Hölderlins Vermächtnis. Hrsg. v. Ludwig Pigenot, München 21944, S. 119–150, hier S.  120 f. 42  Ebenda,

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III. Das 20. Jahrhundert: Zwischen Totalitarismus und Demokratie

der Hölderlin-Welt zur Gegenwart des schrecklichen Krieges zum Ausdruck zu bringen versuchte. IV. Auch Stefan George wurde in seiner Weltsicht  – wenngleich freilich nicht in seinem Selbstbewusstsein – durch den Krieg aufs Schwerste erschüttert. Er nahm zwar nicht daran teil, doch eine Reihe seiner Freunde, auch Mitglieder des Kreises, blieben auf dem Feld oder trugen schwere körperliche und seelische Verwundungen davon45. In seinem berühmten, zuerst 1917 gedruckten Gedicht mit dem lapidaren Titel „Der Krieg“46 formuliert der Dichter eine schneidende Absage an den gedankenlosen Nationalismus der Zeit: „Am streit wie ihr ihn fühlt nehm ich nicht teil“. Und ebenfalls heißt es dort: „Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein. / Nur viele untergänge ohne würde.. / […] Der alte Gott der schlachten ist nicht mehr. / Erkrankte welten fiebern sich zu ende / In dem getob.“ Ein ausgesprochen katastrophisch-düsteres Gegenwartsgemälde entwarf George hier; die einstige, von ihm verkündete Vision des „schönen Lebens“ schien im und durch den Krieg vernichtet. In einem weiteren, kurz nach dem Krieg entstandenen Gedicht mit dem Titel „Dichter in Zeiten der Wirren“ hat George auf das deutsche Nachkriegschaos, wie er es empfand, reagiert und seine Schlussfolgerungen gezogen47: Während der Dichter „im stillern gang der Zeit“ den Menschen die „schönheit“ brachte, muss er sich in Zeiten des Krieges und der Katastrophen wandeln: und zwar zum dichterischen Seher, zum Propheten des Kommenden: „Und wenn im schlimmsten jammer lezte hoffnung / Zu löschen droht: so sichtet schon sein aug / Die lichtere zu45  Zusammenfassend hierzu: Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 458 f., 464 ff., sowie Jürgen Egyptien, Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg, in: Braungart/Oelmann/Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘ (Anm. 33), S. 197–212. 46  Im folgenden zitiert nach dem späteren Wiederabdruck in: Stefan George, Das Neue Reich (Gesamt-Ausgabe, 9), Berlin 1928, S. 27–34; vgl. zu dieser zentralen Dichtung Georges auch Morwitz, Kommentar (Anm. 23), S. 417–426; Karlauf, Stefan George (Anm.  5), S.  496  ff.; ebenfalls Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 100 ff., der die ungemein komplexe Dichtung freilich allzu sehr nur als „Anti-‚Krieg‘-Gedicht“ (ebd., S. 100) interpretiert, sowie Egyptien, Die Haltung Georges (Anm. 45), S. 206 ff.; vgl. zur Deutungsproblematik auch die (trotz aller Einseitigkeit) immer noch erhellenden Beobachtungen bei Gundolf, George (Anm. 19), S. 276 f. 47  Im Folgenden zitiert nach dem späteren Wiederabdruck in: George, Das Neue Reich (Anm. 46), S. 35–39; dazu auch Morwitz, Kommentar (Anm. 23), S. 426–431.



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kunft“. George richtete seine Hoffnung hier ganz bewusst auf die neue Generation: „Ein jung geschlecht das wieder mensch und ding / Mit echten maassen misst, das schön und ernst / […] Sich gleich entfernt von klippen dreisten dünkels / Wie seichtem sumpf erlogner brüderei“. Der „einzige der hilft“, der hier ebenfalls beschworene Mann der Zukunft, soll aus diesen Menschen erwachsen, Ordnung und Zucht wiederherstellen und endlich „das Neue Reich“ pflanzen. Dieses Gedicht – das oft als positiv gemeinte Vorausdeutung auf Hitler missverstanden worden ist48  – darf gleichwohl, wie bereits vorher die „Krieg“-Dichtung, als Ausdruck von Georges Hinwendung zum Politischen angesehen werden. Der zum „Seher“ gewordene Dichter hat die ehemals zentrale Vision der „Schönheit“ zwar nicht aus dem Auge verloren, doch vorerst beiseite gelassen, um sich seiner neuen Aufgabe zu widmen: Orientierung und Sinngebung in „Zeiten der Wirren“ zu vermitteln. Diese Wendung vom vorrangig Ästhetischen zum genuin Politischen hat denn auch die Vision des Geheimen Deutschland nicht unberührt gelassen: Das „geistige Reich“ kann sich angesichts der Nöte und Wirrsale der Zeit nach dem von Deutschland verlorenen Weltkrieg nicht mehr auf die – freilich noble, nun aber in mehr als einer Hinsicht unzeitgemäß gewordene – Idee des „schönen Lebens“ beschränken, sondern muss seinen Einfluss fortan auch in anderen Lebensbereichen geltend machen. George selbst hat sich allerdings niemals mehr so weit vorgewagt wie in den wahrhaft martialischen Schlussversen des „Dichter[s] in Zeiten der Wirren“. In dem ebenfalls kurz nach dem Krieg entstandenen und ebenso berühmten Gedicht, das nun tatsächlich den Titel „Geheimes Deutschland“ trug, veröffentlicht allerdings erstmals 1928 in seinem letzten Gedichtband „Das Neue Reich“49, verwies George alle politischen Spekulationen, die sich an frühere poetische Äußerungen von ihm knüpfen konnten, vorerst ins Reich der Fabel, indem er eine Möglichkeit künftiger Erneuerung im Zeichen des „Geheimen Deutschland“ weit in

48  Das bezog sich vor allem auf die  – jenen angekündigten „Mann“ feiernden – Schlusszeilen des Gedichts: „[…] er heftet / Das wahre sinnbild auf das völkische banner / Er führt durch sturm und grausige signale / Des frührots seiner treuen schar zum werk / Des wachen tags und pflanzt das Neue Reich“.  – Siehe dazu auch die kontroversen Bemerkungen bei Morwitz, Kommentar (Anm. 23), S. 430 f. (der jede politisch-aktualisierende Deutung ablehnt), sowie bei Norton, Secret Germany (Anm. 14), S. 680 ff., und Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 578 ff. 49  George, Das Neue Reich (Anm.  46), S. 59–65; vgl. Morwitz, Kommentar (Anm. 23), S. 440–446; Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 555 f.; zum Zusammenhang vgl. auch Nina Gutschinskaja, Sprache als Prophetie: zu Stefan Georges Gedichtband ‚Das Neue Reich‘, in: Braungart/Oelmann/Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘ (Anm. 33), S. 114–124.

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die Zukunft hinausschob; sein „mahnwort“ an die „brüder“, mit dem das Gedicht endet, lautet denn auch: „Dass was meist ihr emporhebt / dass was meist heut euch wert dünkt / Faules laub ist im herbstwind / Endesund todesbereich: / Nur was im schützenden schlaf / Wo noch kein taster es spürt / Lang im tiefinnersten schacht / Weihlicher erde noch ruht  – /  Wunder undeutbar für heut / Geschick wird des kommenden tages“50. Zwar hatte George mit diesen Worten, wie man wenigstens vermuten kann, einige der gerade innerhalb der jüngeren Kreisgeneration gehegten politischen Phantasien als „faules laub im herbstwind“ verworfen oder bestenfalls in eine ferne Zukunft verwiesen, doch die von ihm mit dem „Krieg“-Gedicht erstmals eingeleitete konsequente Wende hin zum Politischen ließ sich auf diese Weise nicht korrigieren – zumal es George auch in seinen persönlichen Verlautbarungen (und vieles davon ist durch Aufzeichnungen seiner Jünger und Verehrer dokumentiert) an Stellungnahmen zur zeitgenössischen Politik keineswegs fehlen ließ51. Und zwei der begabtesten unter den jüngeren Angehörigen des Kreises, die beide erst nach dem Krieg zu George gestoßen waren und später zu den bedeutenden Gelehrten ihrer Zeit zählen sollten, haben Georges Wendung zur Politik aufgenommen und weitergedacht: gemeint sind Max Kommerell und Ernst Kantorowicz52. Im Jahr 1928 veröffentlichte Kommerell53 das unter Aufsicht von George konzipierte und geschriebene, nachmals berühmte und wegen seines heute missverständlichen Titels auch berüchtigte Werk „Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik“, in dessen Mittelpunkt die Idee steht, dass die großen Dichter eines Volkes (Kommerell behandelt hier Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul und – natürlich – Hölderlin) zugleich in einem höheren Sinne seine Propheten und Gesetzgeber sind54. Und wenn hier ausdrücklich die Rede davon war, „daß in aller 50  George,

Das Neue Reich (Anm. 46), S. 64 f. (gerade auch politische) Äußerungen Georges sind überliefert in den Erinnerungsbüchern von Salin, Um Stefan George (Anm. 3); Hildebrandt, Erinnerungen an Stefan George (Anm. 14); Berthold Vallentin, Gespräche mit Stefan George. Amsterdam 1961; Edith Landmann, Gespräche mit Stefan George. Düsseldorf/München 1963. 52  Beider Bedeutung im Rahmen der Nachkriegsentwicklung des „Kreises“ wird reflektiert bei Raulff, Der Dichter als Führer (Anm. 22), 133 ff., und Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 547 ff. 53  Vgl. über Kommerell statt vieler Walter Busch/Gerhart Pickerodt (Hrsg.), Max Kommerell. Leben – Werk – Aktualität. Göttingen 2003, bes. auch S. 391–402 (Literatur über Kommerell). 54  Max Kommerell, Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock – Herder – Goethe – Schiller – Jean Paul – Hölderlin [1928]. Frankfurt a. M. 2 1940; vgl. dazu auch Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 573 ff., sowie einige Be51  Zahlreiche



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Dichtung ein verantwortlicher Wille, eine Maß setzende Gesinnung wirksam“ sei, dass um 1800 die zentrale Aufgabe des wahren Dichters als „Führer“ darin bestanden habe, „den Deutschen aus trüber Wirrnis und Zerspaltenheit hinaufzuleiten zum einheitlichen Gesetz“, und dass er gerade nicht lediglich der „Schalter im unverbindlichen Traumreich“ sein dürfe, „der nicht mehr die Tat, den nicht mehr die Tat kennt, und schließlich nur noch der tändelnde Erreger bürgerlicher Hoch- und Klein­ gefühle“55 sei, dann war dies natürlich (ohne dass der Name hier noch hätte erwähnt werden müssen) vor allem auf George gemünzt, den die Angehörigen des Kreises bekanntlich als genuinen Nachfolger Hölderlins sahen. So endet dieses Buch denn auch mit einer Apotheose auf jenen unglücklichen Dichter, der gleichwohl  – wenn auch in seiner Zeit noch unerkannt  – „dem Deutschen ein so ungeheures Anrecht auf Macht, ein solches Gefühl ausschließenden Wertes und Ranges verleihen“56 konnte. Das Geheime Deutschland wird hier zwar nicht als solches benannt – es ist aber dennoch in Kommerells Formulierungen indirekt gegenwärtig, nämlich dort, wo er Sehertum und meisterliche Herrschaft feiert und mit martialischen Schlussformulierungen den Ausblick öffnet auf „ein innig ernstes Morgen, wo die Jugend die Geburt des neuen Vaterlandes fühlt in glühender Einung und im Klirren der allzu tief vergrabenen Waffen“57. Das zweite, nur kurz vorher erschienene, in jedem Fall noch bedeutendere Werk jener Jahre, das aus dem Kreis um Stefan George erwuchs, hat seine Berühmtheit bis heute ebenfalls nicht eingebüßt: es handelt sich um die Biographie Kaiser Friedrichs II. von Ernst Kantorowicz58. Was von Kommerell in seinem Buch allenfalls angedeutet wurde, findet sich merkungen bei Klaus Schuhmacher, Der Dichter als Führer. Eine mythopoetische Hybride zwischen den Kriegen, in: Braungart/Oelmann/Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘ (Anm. 33), S. 156–172, hier S. 156–159. 55  Die Zitate ebenda, S. 284, 299 f. 56  Ebenda, S. 477; über Hölderlins Stellung in seiner Zeit heißt es bei Kommerell mit bedeutungsvollem Vorausblick auf George, ebenda, S. 451 f.: „Die Stunde des geistig-öffentlichen Deutschland schlug nicht ihm. die von ihr gebotene Tat schien ihm ein Versäumen. Allein  – so löst sich der Widersinn einer nur ihm geltenden Stunde – seine Stunde war Vorbereitung“. 57  Ebenda, S. 483. 58  Vgl. Eckhart Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk „Kaiser Friedrich der Zweite“. (Frankfurter Historische Abhandlungen, 25.) Wiesbaden 1982; Alain Boureau, Kantorowicz. Geschichten eines Historikers. Stuttgart 1992; grundlegende Beiträge zu Leben und Werk finden sich auch in: Robert L. Benson/Johannes Fried (Hrsg.), Ernst Kantorowicz. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton  – Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt. (Frankfurter Historische Abhandlungen, 39.) Stuttgart 1997.

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bei Kantorowicz nun in aller Deutlichkeit ausgesprochen: das klare und offene Bekenntnis zum Geheimen Deutschland. Wie das Werk Kommerells wurde auch die von Kantorowicz verfasste Kaiser-Biographie59 von George höchstpersönlich genauestens redigiert und anschließend in die von ihm verantwortete Reihe der „Werke aus dem Kreis der Blätter für die Kunst“ beim Berliner Bondi-Verlag aufgenommen60. Insofern darf man davon ausgehen, dass auch dieses Buch vom Dichter als authentische Kundgebung des von ihm geleiteten Kreises aufgefasst wurde. In der Vorbemerkung des 1927 erschienenen ersten Bandes berichtet Kantorowicz: „Als im Mai 1924 das Königreich Italien die Siebenhundertjahrfeier der Universität Neapel beging, einer Stiftung des Hohen­ staufen Friedrich II., lag an des Kaisers Sarkophag im Dom zu Palermo ein Kranz mit der Inschrift: SEINEN KAISERN UND HELDEN DAS GEHEIME DEUTSCHLAND. Nicht dass die vorliegende Lebensgeschichte Friedrichs II. durch diesen Vorfall angeregt worden wäre […] wohl aber durfte er aufgenommen werden als Zeichen, daß auch in anderen als gelehrten Kreisen eine Teilnahme für die großen deutschen Herrschergestalten sich zu regen beginnt  – gerade in unkaiserlicher Zeit“61. Die hier dargestellte Begebenheit war durchaus keine Mystifikation des Autors, sondern hat sich wirklich ereignet  – auch wenn man bis heute nicht genau weiß, von wem dieser Kranz wirklich niedergelegt wurde. Jedenfalls ist bekannt, dass sich gerade in jenen Monaten (April/Mai 1924) eine Reihe älterer und jüngerer Angehöriger des „Kreises“ in Sizilien befanden, neben Kantorowicz waren es u. a. Erika Wolters, Kurt Singer, Berthold und Diana Vallentin und der junge Berthold von Stauffenberg. Dass Kantorowicz an der Kranzniederlegung wenigstens mitbeteiligt war, darf allerdings angenommen werden62.

59  Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite. Bde. 1–2, Berlin 1927–1931 (Nachkriegsausgabe: Düsseldorf/München 1963). 60  Vgl. hierzu bes. Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George (Anm. 58), S.  149 ff.; Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 558 ff. 61  Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite (Anm. 59), Bd. 1, S. 7. 62  Die Behauptung, Friedrich Wolters habe den Kranz im Dom von Palermo niedergelegt, die bereits früher ohne Beleg von Morwitz, Kommentar (Anm. 23), S. 440, aufgestellt und anschließend von Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George (Anm. 58), S. 75, wiederholt worden ist, kann als widerlegt gelten, da sich Wolters in der besagten Zeit in Deutschland aufhielt; vgl. dazu Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 176, und Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 557: „Wer von ihnen (d. h. den damals in Palermo persönlich anwesenden Angehörigen des „Kreises“; H.-C.K.) den Kranz niederlegte, mit dem die Sage vom Geheimen Deutschland letztlich begründet wurde, ist nicht mit Sicherheit auszumachen, am ehesten wohl Erika Wolters. Sie war es auch, die nach dem Besuch Palermos in ei-



Das Geheime Deutschland403

Auch der Schluss des Buches konnte nicht nur bei den Eingeweihten Aufsehen erregen, denn der Rätselspruch der Sibylle nach des Kaisers Tod im Jahr 1250, der dessen mythisches Weiterleben andeutete: „ER LEBT UND LEBT NICHT“ wurde vom Autor unbesehen auf das deutsche Volk angewendet, das ebenso wie der größte seiner mittelalterlichen Kaiser zugleich lebe und nicht lebe, d. h. als Sichtbares ebenso wie als Unsichtbares – also verborgenes, geheimes Deutschland – anwesend sei63. Wenn George selbst nur im Ansatz die Wende hin zur historisch-politischen Welt vollzogen hatte, so war diese jetzt bei Kommerell und in noch deutlich stärkerem Maße bei Kantorowicz durchgeführt: denn ein Geheimes Deutschland, das sich nicht mehr nur zu seinen Dichtern, Sehern und Denkern wie Hölderlin und Nietzsche bekennt, sondern (nach der Formulierung Kommerells) seine Waffen ausgräbt und sich ausdrücklich auf seine „Kaiser und Helden“ beruft, hat die innere Wandlung bereits vollzogen. Und das bedeutete auch: das Geheime Deutschland war eben nicht mehr so „geheim“, wie es einstmals, vor dem Krieg, gewesen war. Es trat nun ganz bewusst nach außen, es bekannte sich zu seiner Bedeutung und seiner Aufgabe. Friedrich Wolters hat es nur wenige Jahre nach Kantorowicz in seiner offiziellen Geschichte des George-Kreises  – zweifellos ebenfalls mit ausdrücklicher Zustimmung Georges  – mit sehr klaren Worten formuliert: „Der Dichter (George; H.-C.K.) rettet unsere alten und neuen Träume in sein Reich, das außer der Zeit und dem Volke steht, weil es ihr Verderben nicht teilt, das dennoch mitten in ihnen steht, weil es die einzige Form des gestaltenden Lebens ist, aus dem eine neue Gemeinschaft von deutschen Menschen erwachsen ist“. George habe sich „Schritt um Schritt zum Herrn der Gegenwart gemacht, und ‚das heimliche Kaisertum‘ seines vierzigjährigen Wirkens unter den Deutschen ist jetzt sichtbar geworden. […] Wie eine offene und dennoch unbetretbare Insel liegt sein verborgenes Deutschland mitten im öffentlichen Deutschland, mitten in einer Menschheit, deren Gefüge in allen Fugen zittert, deren Führer noch, wo sie zu lenken glauben von den entfesselten Zeitgewalten getrieben werden und nur wissen, daß ihnen keine Wahl bleibt als ödester Friede oder wildester Kampf“64. Auch diese, von Wolters jetzt so deutlich konstatierte Wandlung Stefan Georges vom verborgenen Dichter-Seher zum „heimlichen Kaiser“ der

nem Brief an George den entscheidenden Satz prägte: ‚Ich suchte Friedrich II. und fand den Meister‘.“ 63  Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite (Anm. 59), Bd. 1, S. 632. 64  Wolters, Stefan George (Anm. 14), S. 527.

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Deutschen65 drückt die Wendung ins Historisch-Politische deutlich genug aus. Nur ein einziges Mal ist ein Angehöriger des Kreises indessen noch deutlicher geworden – und dies war wiederum Ernst Kantorowicz. Bevor er, obwohl hochdekorierter Frontsoldat des Weltkrieges und anschließend sogar Freikorpskämpfer66, von den Nationalsozialisten infolge seiner jüdischen Abstammung endgültig von seinem historischen Lehrstuhl an der Universität Frankfurt am Main vertrieben wurde, hielt Kantorowicz dort am 14. November 1933 jene später so berühmt gewordene Vorlesung, die den lapidaren Titel „Das Geheime Deutschland“ trug und die vollständig erst im Jahr 1997 – also mehr als dreißig Jahre nach Kantorowicz’ Tod – veröffentlicht worden ist67. Was der Historiker in seiner Friedrich-Biographie mehr angedeutet als ausgesagt hatte, fand in dieser  – durchaus als urpersönliches und zugleich entschieden politisches Bekenntnis aufzufassenden – Vorlesung allerdeutlichste Formulierung: Kantorowicz berief sich nun offen auf die von George und Wolfskehl inaugurierte Tradition dieser Idee, griff sogar ausdrücklich auf Lagarde und Langbehn zurück68, ging aber gleichwohl weit über sie alle hinaus, indem er gleich zu Anfang feststellte, dass „mit dem Glauben an das Sein eines ‚geheimen Deutschland‘ “ sich ebenfalls „der Glauben an die Nation und ihre glänzende Wiedergeburt“ verbun-

65  Das von Wolters an dieser Stelle verwendete Bild eines „heimlichen Kaisers“ der Deutschen stammte von dem hier natürlich nicht erwähnten Julius Langbehn; siehe [Julius Langbehn], Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen [1890]. Leipzig 61–661925, S. 352–356; siehe hierzu ebenfalls die Bemerkungen bei Raulff, „In unterirdischer Verborgenheit“. Das geheime Deutschland (Anm. 16), S.  99 f. 66  Vgl. Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George (Anm. 58), S. 18 ff.; Boureau, Kantorowicz (Anm. 58), S. 47 ff.; ausführlich und grundlegend nunmehr Robert E. Lerner: Ernst Kantorowicz. Eine Biographie. Stuttgart 2020, S. 122 ff. u. passim. 67  Ernst Kantorowicz, Das Geheime Deutschland. Vorlesung, gehalten bei der Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit am 14.  November 1933. Edition von Eckhart Grünewald, in: Benson/Fried (Hrsg.), Ernst Kantorowicz (Anm. 58), S. 77–93.  – Zur Deutung und Interpretation dieses hermetischen Textes siehe vor allem Eckhart Grünewald, „Übt an uns mord und reicher blüht was blüht!“. Ernst Kantorowicz spricht am 14. November 1933 über das „Geheime Deutschland“, in: Benson/Fried (Hrsg.), Ernst Kantorowicz (Anm. 58), S. 57–76, und Ulrich Raulff, Apollo unter den Deutschen. Ernst Kantorowicz und das ‚geheime Deutschland‘, in: Gert Mattenklott/Michael Philipp/Julius H. Schoeps (Hrsg.), „Verkannte brüder“? Stefan George und das deutsch-jüdische Bürgertum zwischen Jahrhundertwende und Emigration. (Haskala. Wissenschaftliche Abhandlungen, 22.) Hildesheim/Zürich/New York 2001, S. 179–197; Lerner: Ernst Kantorowicz (Anm. 66), S.  206 ff. 68  Vgl. Kantorowicz, Das Geheime Deutschland (Anm. 67), S. 78 f.



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den habe: „Das ‚geheime Deutschland‘ “, sagt Kantorowicz, „ist gleich einem Jüngsten Gericht und Aufstand der Toten stets unmittelbar nahe, ja gegenwärtig … ist tödlich-faktisch und seiend. Es ist die geheime Gemeinschaft der Dichter und Weisen, der Helden und Heiligen, der Opfrer und Opfer, welche Deutschland hervorgebracht hat und die Deutschland sich dargebracht haben.. die Gemeinschaft derer, die – obwohl bisweilen fremd erscheinend – dennoch allein das echte Antlitz der Deutschen erschufen. Es ist als Gemeinschaft ein Götterreich wie der Olymp, ist ein Geistereich wie der mittelalterliche Heiligen- und Engelsstaat […] es ist die in Stufen und Ränge geordnete Heroenwelt des heutigen, des künftigen und des ewigen Deutschland“69. Vor der Folie seiner anfangs durchaus konkret formulierten nationalpolitischen Hoffnungen70 entfaltet Kantorowicz in verschiedenen Einzelbestimmungen sein spezifisches, tatsächlich weit über Georges frühere Visionen hinausgehendes Bild des Geheimen Deutschland – und dies gelingt ihm auch nur deshalb, weil er vorher ausdrücklich die Differenz zwischen einem „engeren“ und einem „weiteren“, also dem historischpolitischen Geheimen Deutschland, eingeführt hat71. In diesem weiteren Geheimen Deutschland, also jener sich über die Zeiten hinweg erstreckenden heimlichen Gemeinschaft aller großen Deutschen, die zugleich „ein Reich der Mysterien und Mythen“ ist, findet sich auch dasjenige aufgehoben, was es für George bereits vor dem Krieg darstellte, nämlich ein Reich der Schönheit, von Kantorowicz jetzt erweitert „zu der im ‚geheimen Deutschland‘ verkörperten Dreieinheit, die da heisst: Schönheit Adel Grösse!“. In diesem Sinne ist das Geheime Deutschland für Kantorowicz „ein Reich zugleich von dieser und nicht von dieser Welt.. ein Reich zugleich da und nicht da.. ein Reich zugleich der Toten und der Lebenden, das sich wandelt und dennoch ewig ist und unsterblich“72. 69  Ebenda,

S. 80. dieser Aspekt wird von einigen Interpreten dieses ebenso bemerkenswerten wie enigmatischen und hermetischen Textes fast ausgeblendet, indem sie besonders stark den aktuellen, hier freilich verdeckt und stark verfremdet formulierten Gegensatz des Historikers zum nationalsozialistischen Regime herausstreichen; vgl. etwa Raulff, Apollo unter den Deutschen (Anm. 67), S. 180: „Radikal unterscheidet Kantorowicz zwischen der Wirklichkeit des ‚Dritten Reiches‘ und den Denkbildern des ‚Geheimen Deutschland‘  – und denkt gar nicht daran, dieser zu entraten, weil jene sie mißbrauchten. Er will den Mythos des ‚Geheimen Deutschland‘ vor unsauberen Händen retten und entrichtet dafür den Preis der Irrealisierung“. 71  Kantorowicz, Das Geheime Deutschland (Anm. 67), S. 79. 72  Die Zitate: ebenda, S. 81; die letzte Formulierung spielt unverkennbar an auf Edmund Burkes berühmte Bestimmung einer Nation: „[…] it becomes a partnership not only between those who are living, but between those who are living, 70  Gerade

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Und zugleich stellt es eine – wenngleich nur in mythisch-andeutungsvollen Formulierungen vergegenwärtigte  – geistige Alternative zum nationalsozialistischen Reichsverständnis dar. Kantorowicz nimmt im weiteren Verlauf seiner Vorlesung alle jene älteren und neueren Auffassungen und Mythen, die das Geheime Deutschland schon früher begleiteten, erneut auf und integriert sie in seine umfassende Bestimmung dieser Idee: von der einmaligen deutsch-hellenischen Wahlverwandtschaft über „Kaiser und Adel“ als die jeweils sich wandelnden, aber überhistorischen eigentlichen Träger dieser Idee, über das Motiv der Erziehung zur „Schönheit“73 bis hin zu dem wahrhaft Georgeschen Gedanken, „dass im ‚geheimen Deutschland‘ fast immer die höchsten Throne gerade Jene innehaben, welche dem öffentlich sichtbaren Deutschland als ‚Fremdeste‘ erschienen“74. So kann er zu einer sehr weiten Bestimmung kommen, die er in die für ihn charakteristische Formulierung fasst: „im ‚geheimen Deutschland‘ ist der innerste wesenhafte Kern der Nation selbst geborgen, und wer ihn einmal erschaut, ist auf ihn auch verpflichtet wie der Soldat auf die Fahne“75. Eben in diesem Sinne werde das Geheime Deutschland „die jungen Deutschen zum Kult von Adel Schönheit Grösse erziehen […], auf dass sie in Staat und Volk wirken“ – und dies wird so lange möglich und auch notwendig sein, bemerkt Kantorowicz am Ende dieses überaus suggestiven Textes, „bis dereinst ‚geheimes Deutschland‘ und das sichtbare Reich miteinander eins werden, ineinander übergehen und einander nur widerspiegeln“76. Die mythische Verklärung dieser Idee hat mit jener Vorlesung von Ernst Kantorowicz wohl ebenso ihren Höhepunkt erreicht wie gleichzeitig ihre  – auf die Gegenwart bezogene, aber über sie hinausweisende  – entschiedene Politisierung77. Der große Anreger aller dieser Ideen, Stefan those who are dead, and those who are to be born“; Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France and on the Proceeding in Certain Societies in London Relative to that Event. Hrsg. v. Conor Cruise O’Brien, Harmondsworth 1982, S.  194 f. 73  Vgl. Kantorowicz, Das Geheime Deutschland (Anm. 67), S. 81, 92. 74  Ebenda, S. 84.  – Diese Feststellung entspricht recht genau demjenigen, was bereits Kommerell, Der Dichter als Führer (Anm. 54), S. 449 ff. im Jahr 1928 über Hölderlin als verborgener „Seher“ und geistiger Führer der Deutschen und zwei Jahre später auch Wolters, Stefan George (Anm. 14), S. 433 ff. über die wenigstens anfangs vergleichbare Rolle Georges im wilhelminischen Kaiserreich verkündet hatten. 75  Kantorowicz, Das Geheime Deutschland (Anm. 67), S. 88. 76  Die Zitate: ebenda, S. 92 f. 77  Eine „Politisierung“ auch  – aber eben nicht nur  – als „subversiv“ verstandener „Anschlag auf die NS-Ideologie“, wie Raulff, Apollo unter den Deutschen (Anm. 67), S. 181, meint.



Das Geheime Deutschland407

George selbst, hat den Text des Historikers nicht mehr lesen können: zwar schickte Kantorowicz sogleich ein eigenes Exemplar an den schwerkranken „Meister“, der sich bereits seit Mitte 1933 in der Schweiz befand, doch George starb, bevor ihn die Vorlesung seines Jüngers erreichte, am 4. Dezember 1933 in Locarno78. Schon Ende Juli dieses Jahres hatte der Dichter Deutschland für immer verlassen, doch als ausdrücklicher Akt persönlicher Ablehnung der dortigen neuen politischen Verhältnisse ist dies  – anders als manche seiner Verehrer später behauptet haben79  – wohl nicht aufzufassen. Zwar entzog er sich dem Ansinnen des neuen preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, des Nationalsozialisten Bernhard Rust, vom neuen Staat einen Ehrensold und eine angesehene Stellung in der neu zu ordnenden Preußischen Dichterakademie anzunehmen80, doch er ließ dem Minister mitteilen, dass er, George, selbst „die ahnherrschaft der neuen nationalen bewegung […] durchaus nicht“ ablehne und auch seine „geistige mithilfe […] nicht beiseite[schiebe]“, sich jetzt aber nicht mehr in die Pflicht nehmen lassen wolle, da er seit langem getan habe, was er „dafür tun konnte“, und im übrigen sei „die jugend die sich heut um mich schart […] mit mir gleicher meinung“81. Diese Formulierung aus einem Brief an seinen Freund, den Berliner Kammergerichtsrat Ernst Morwitz, an den sich das Ministerium gewandt hatte, stellt die einzige wirklich authentische Äußerung des Dichters zum Nationalsozialismus dar; sie kann weder als eindeutiges Bekenntnis für die neuen deutschen Machthaber noch als klare Ablehnung gedeutet wer78  Vgl. Grünewald, „Übt an uns mord und reicher blüht was blüht!“ (Anm. 67), S. 58, 74; siehe zum Zusammenhang ebenfalls Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S.  626 ff. 79  Vgl. Boehringer, Mein Bild von Stefan George (Anm. 14), S. 199; vgl. in diesem Zusammenhang ebenfalls den 1944 verfassten Vortrag von Elisabeth Gundolf, Stefan George und der Nationalsozialismus, in: dieselbe., Stefan George. Zwei Vorträge. Amsterdam 1965, S. 52–76, sowie Graf Vitzthum, Stefan George und der Staat (Anm. 22), S. 929 f., 933 ff. 80  Hierzu vgl. neben Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 619 ff., bes. auch Karl Korn, Stefan George, in: derselbe, Rheinische Profile. Stefan George, Alfons Paquet, Elisabeth Langgässer. Pfullingen 1988, S. 9–110, hier S. 86–103. Wichtig zum Zusammenhang ebenfalls Kolk, Literarische Gruppenbildung (Anm. 14), S. 483– 508. 81  Hier zit. nach Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 622, der den Text nach einem Entwurf und Abschriften im Stefan-George-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek/Stuttgart abdruckt. Die für den von Minister Rust beauftragten Oberregierungsrat im Ministerium, Dr. Kurt Zierold, bestimmte Abschrift (die, wie ein Vergleich beider Fassungen zeigt, nur einen Teil des Schreibens von G ­ eorge an Morwitz vom 15.5.1933 enthält) findet sich mitsamt dem Begleitbrief von Morwitz an Zierold im Faksimile abgedruckt bei Korn, Stefan George (Anm. 80), S. 91–93.

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den  – viel eher als das wohl bewusste Sich-Entziehen eines alten und schwerkranken Mannes, der seinen Tod nahen fühlte und jede Art von engerer politischer Bindung, die er früher stets vermieden hatte, auch jetzt  – und nun aus wahrlich besseren Gründen  – von sich wies. Wie ­George auf Kantorowicz’ neue Vergegenwärtigung des Geheimen Deutsch­ land angesichts der schon in ihren ersten Zügen sichtbar werdenden Verunstaltung des Landes durch den Nationalsozialismus reagiert hätte  – man weiß es nicht. Immerhin darf man wohl annehmen, dass ihm jene von dem Historiker skizzierte Vision einer „geheimen Gemeinschaft der Dichter und Weisen, der Helden und Heiligen“82 als Gegenbild zur neuen deutschen Wirklichkeit nicht überraschend erschienen und in der Sache wohl auch kaum unwillkommen gewesen wäre. Indessen verbieten sich weitergehende Spekulationen. V. Aber noch eine weitere bedeutende, tiefgreifende und vor allem folgenreiche Wandlung hat die Idee des Geheimen Deutschland vollzogen, wiederum in der Folge historischer Umbrüche von säkularem Ausmaß. Diese Wandlung ist nun vor allem verbunden mit den drei Brüdern Berthold, Alexander und Claus von Stauffenberg  – und in einem gewissen Abstand auch mit dem ihnen in enger Freundschaft verbundenen George-Jünger und Germanisten Rudolf Fahrner. Bereits im Mai 1923 waren die damals noch sehr jungen Stauffenberg-Brüder über gemeinsame Freunde und Bekannte bei dem Dichter eingeführt worden83, der stets Ausschau nach jungen Talenten hielt, die seinen Kreis bereichern konnten. Alle drei Brüder dichteten damals, und sie erfuhren die Begegnung mit Stefan George als einen entscheidenden Wendepunkt in ihrem Leben. Noch Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hat der einzige Überlebende der Brüder, Alexander Graf Stauffenberg, in einem Vortrag seine „vorbehaltlose Verehrung und Bewunderung“ für George und dessen Werk sowie für das „Menschenbildnertum“ des Dichters ausgedrückt84. 82  Kantorowicz,

Das Geheime Deutschland (Anm. 67), S. 80. Müller, Oberst i. G. Stauffenberg (Anm. 1), S. 37 ff., S. 44 ff.; Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Anm. 2), S. 50 ff.; Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (Anm. 1), S. 10 ff. u. passim; Boehringer, Mein Bild von Stefan George (Anm. 14), S. 192 ff.; Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 562 ff., und Wolfgang Graf Vitzthum, Kein Stauffenberg ohne Stefan George. Zu Widerstandswirkungen des Dichters, in: Staat im Wort. Festschrift für Josef Isensee, hrsg. v. Otto Depenheuer/ Markus Heintzen/Matthias Jestaedt/Peter Axer, Heidelberg 2007, S. 1109–1126. 84  Zitiert nach einem ungedruckten Text Alexander von Stauffenbergs bei Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Anm. 2), S. 52; vgl. dazu jetzt 83  Vgl.



Das Geheime Deutschland409

Woher kam die Bewunderung dieser jungen Menschen für den damals bereits älteren Dichter? Es war nicht nur das in der Tat beeindruckende Künstlertum, ebenfalls wohl nicht ausschließlich das bereits bekannte Charisma dieses Mannes, sondern eher schon dessen Anspruch, über sein Dichtertum hinaus auch als „Seher“, damit als Vermittler von Orientierung und Sinngebung zu wirken. „An die zukunft zu denken hat keinen sinn: es wird bald alles im wilden chaos enden. Ich sehe nichts anderes mehr“. Diese Worte finden sich in einem Brief von Berthold Stauffenberg an seinen Bruder Claus aus dem Inflations- und Krisenjahr 192385; sie drücken recht deutlich den Gemütszustand und die Hoffnungslosigkeit der jungen Adligen in der frühen Nachkriegszeit aus. Vor diesem Hintergrund mag man vielleicht den Enthusiasmus verstehen, mit dem sich die drei Brüder, vor allem Berthold und Claus, dem neuen Idol Stefan George zuwandten, der ihnen mit seiner Vision eines seherischen Künstlertums und des durch seinen Kreis konstituierten Geheimen Deutschland zugleich eine Zukunftshoffnung wie auch eine Sinndeutung der als chaotisch und hoffnungslos erfahrenen Gegenwart vermitteln konnte86. Wenn Claus von Stauffenberg später nach eigener Aussage einmal die „Gnade seines Lebens“ darin gesehen hat, „den besten Freund in meinem Bruder (Berthold) gefunden zu haben und dem größten Mann meiner Zeit (George) verbunden zu sein“87, dann vergegenwärtigt dieser Satz noch einmal den immensen, kaum zu überschätzenden Einfluss, den der Dichter auf den späteren Offizier und Hitler-Attentäter ausgeübt hat. Neben Max Kommerell, der indessen schon Ende der 1920er Jahre aus dem George-Kreis ausschied, war es vor allem Rudolf Fahrner, der im Laufe der Jahre einen immer bedeutenderen Einfluss auf das Denken der Brüder ausübte88. Fahrner hatte im Jahr 1933 zuerst zu denjenigen jüngeren Angehörigen des Kreises gehört, von denen sich einige bereits vor Georges Tod und erst recht anschließend dem Nationalsozialismus zugeauch Karl Christ, Der andere Stauffenberg. Der Historiker und Dichter Alexander von Stauffenberg. München 2008, S. 27 ff. 85  Zitiert nach Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Anm. 2), S. 48 (Berthold an Claus von Stauffenberg, 20.6.1923). 86  Vgl. hierzu auch Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 174 ff., und zum Zusammenhang Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Anm. 2), S. 42 ff. 87  Hier zitiert nach Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 21 (mündliche Mitteilung Nina Gräfin von Stauffenbergs an Kurt Finker). 88  Zu Max Kommerell als „Mentor“ Claus von Stauffenbergs vgl. die Darstellung von Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 176 ff.; zu Fahrner Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Anm. 2), S. 159 ff.; ebenfalls dessen erstmals vollständig edierte, aufschlussreiche Selbstbiographie: Rudolf Fahrner, Erinnerungen 1903–1945, in: derselbe, Erinnerungen und Dokumente. Bd. 2, hrsg. v. Stefano Bianca/Bruno Pieger, Köln/Weimar/Wien 2008, S. 25–262.

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wandt hatten; Fahrner selbst war der SA beigetreten89, wohl auch um seiner akademischen Karriere willen, die ihn 1934 auf den angesehenen Heidelberger Lehrstuhl des verstorbenen Friedrich Gundolf geführt hatte. Schon zwei Jahre später musste er allerdings seine Stellung unter politischem Druck bereits wieder räumen; nach einigen Jahren als Privatgelehrter wurde er 1939 an die Universität Athen berufen. Hier verbrachte er die Kriegsjahre bis 1944, zuerst als Hochschullehrer, anschließend unter äußerst schwierigen, teilweise dramatischen Umständen als Leiter des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts in der griechischen Hauptstadt90. Fahrner, ein Schüler von Gundolf und Wolters und ebenfalls ein bedingungsloser Verehrer Stefan Georges, lernte die Brüder Stauffenberg Mitte der 1930er Jahre näher kennen.91 Ob Claus von Stauffenberg nach einer Bemerkung in den (erst kürzlich vollständig publizierten) Erinnerungen Fahrners tatsächlich schon „seit 1936 […] mit dem Gedanken an eine Erhebung befasst“92 gewesen ist, mag dahingestellt bleiben; diese Behauptung wird durch andere Zeugnisse jedenfalls nicht gestützt. Wichtig für das Denken und das spätere Handeln Stauffenbergs aber wurde die Tatsache, dass der soeben von seinem Lehrstuhl entfernte Fahrner schon seit einiger Zeit an einer geistesgeschichtlichen Studie über Ernst Moritz Arndt arbeitete, für die sich Stauffenberg aus einem ganz bestimmten Grund besonders interessierte: denn ihn selbst verbanden familiäre Überlieferung und Abstammung mit der napoleonischen Zeit und der Epoche der Befreiungskriege; in mütterlicher Linie stammten die drei Stauffenbergbrüder direkt von Gneisenau ab, sie waren dessen Ururenkel93.

89  Vgl. Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Anm. 2), S. 112; Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 187. 90  Hierzu Frank-Rutger Hausmann, „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht“. Die Deutschen Wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 169.) Göttingen 2001, S. 238–255, dort auch S. 238, 242 ff. einige biographische Informationen über Fahrner; sodann ebenfalls Fahrners eigene Darstellung in: Fahrner, Erinnerungen: 1903–1945 (Anm. 88), S. 172–251 (Kap. 12–14); eine Biographie Fahrners fehlt bisher. 91  Vgl. Müller, Oberst i.  G. Stauffenberg (Anm. 1), S. 149; Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Anm. 2), S. 160 f.; Fahrner, Erinnerungen 1903– 1945 (Anm. 88), S. 183 ff. 92  Fahrner, Erinnerungen 1903–1945 (Anm. 88), S. 196. 93  Vgl. Müller, Oberst i. G. Stauffenberg (Anm. 1), S. 149.



Das Geheime Deutschland411

Jedenfalls hatten die Brüder an der Entstehung des von Fahrner im Jahr 1937 veröffentlichten Buches über Arndt94 einen bedeutenden Anteil, und die weitere Beschäftigung des Autors mit dieser Epoche dürfte von ihnen wesentlich mit angeregt und gefördert worden sein. Das nächste und im Zusammenhang der geistig-politischen Entwicklung von Claus und Berthold von Stauffenberg noch interessantere Resultat von Fahrners Studien war eine kleine Monographie über Gneisenau, die 1942 in dem exklusiven kleinen Delfinverlag erschien95, den der Autor mit einigen engen Freunden und Vertrauten gegründet hatte, unter unausgesprochener Anknüpfung an die Tradition von Georges einstigen „Blättern für die Kunst“96. Diese Hinwendung ausgerechnet zur Geschichte Deutschlands um und nach 1800, die man mit einer seinerzeit populären Darstellung als das „Zeitalter der deutschen Erhebung“97 bezeichnet hat, kam nicht von ungefähr. Jener Zeitepoche, in welcher der „Seher“ Hölderlin neben Kleist, Goethe und Jean Paul lebte und wirkte, hatte bereits seit jeher (keineswegs erst seit Kommerells großer Darstellung von 1928) das besondere Interesse Georges und seines Kreises gegolten. Hierbei allerdings galt es ein – aus spezifisch Georgescher Perspektive gesehen  – nicht geringes Problem zu überwinden: Denn der auf seine französisch-lothringische Abstammung besonders stolze Dichter war zeitlebens ein ausgeprägter Verehrer Napoleons gewesen98, und auch eine Reihe der früheren Veröffentlichungen des Kreises, vor allem die Napoleon-Bücher Berthold Vallentins99, hatten den großen Korsen immer wieder geradezu hymnisch gefeiert100; lediglich Max Kommerell hatte es sich 1928 erlauben können, den Korsen auch mit einigen kritischen Formulierungen zu bedenken101. Für Fahrner, der sich seit Mitte der 1930er 94  Rudolf Fahrner, Arndt  – Geistiges und politisches Verhalten. Stuttgart 1937; zur Entstehungsgeschichte siehe Fahrner, Erinnerungen 1903–1945 (Anm. 88), S. 182 ff.; vgl. ebenfalls Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 204 ff. 95  Rudolf Fahrner, Gneisenau. München 1942. 96  Vgl. Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 211; Fahrner, Erinnerungen 1903–1945 (Anm. 88), S. 184 ff. 97  Friedrich Meinecke, Das Zeitalter der deutschen Erhebung. Bielefeld/Leipzig 1906 u. ö. 98  Vgl. Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 35 ff. 99  Berthold Vallentin, Napoleon. Berlin 1923; derselbe, Napoleon und die Deutschen. Berlin 1926. 100  Siehe beispielsweise die Variation des (in dieser Hinsicht immer sehr dankbaren) „Goethe und Napoleon“-Themas bei Friedrich Gundolf, Goethe, Berlin 1922, S. 536–544; vgl. auch derselbe, Dichter und Helden, Heidelberg 1921, S. 57 f. 101  Vgl. Kommerell, Der Dichter als Führer (Anm. 54), S. 427 f.: Der „korsische Dämon“, der „durch unser klassisches Zeitalter“ geschritten sei, habe es zu einem „erst in der Überwirklichkeit des heroischen Raumes“ geborenen „Heros“ nur

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Jahre den entschiedenen Verächtern, ja fanatischen Gegnern Napoleons, Arndt und Gneisenau zuwandte, um sie als historisch-politische Gestalten neu zu deuten, war es nicht eben leicht, diesen Gegensatz auszugleichen102. Er überspielte ihn indessen keineswegs, sondern thematisierte ihn gerade im Arndt-Buch von 1937 sehr ausführlich, freilich ohne den gegen Napoleon gerichteten, fanatischen Hass Arndts zu rechtfertigen oder gar zu übernehmen. Im Gegenteil: er versuchte die Gestalt des deutschen Dichters und Schriftstellers gerade dadurch aufzuwerten, dass er ihn an der Größe seines ärgsten Gegners maß103 – eine Größe, die in Frage zu stellen dem überzeugten Georgianer Rudolf Fahrner natürlich auch in dieser Zeit nicht in den Sinn kommen konnte104. Auf das Lob der „Deutschen Erhebung“105 kam es ihm vor allem an, und auf eine neue Vergegenwärtigung der Leistungen der preußischen Reformer, die, wie Fahrner jetzt durchaus mehrdeutig formulierte, „in Wahrheit […] heute noch in ein künftiges Deutschland weisen“106. Wie diese Bemerkung gemeint sein konnte, zeigt in noch stärkerem Maße sein aus der Arndt-Monographie erwachsenes zweites Buch, die 1942 publizierte knappe „Gneisenau“-Studie107. Dieser schmale Band schildert auf ausgesprochen spannende Weise vor allem die Jahre 1809 durch das Wirken der Dichter gebracht: „Trotz Goethes erschöpfenden Worten über den Ordner und Herrscher, über Seinen Kaiser: der Heros Bonaparte wäre als bestaunt-gefürchteter Meteor bildlos verloschen ohne den einzigen, ihm so fremden Deuter, Hölderlin“. 102  Zur Entstehung der „Arndt“-Studie siehe vor allem die Darstellung des Autors: Fahrner, Erinnerungen 1903–1945 (Anm. 88), S. 182 ff. mit Betonung der Tatsache, dass der Schriftsteller Arndt von Stefan George besonders geschätzt worden sei (ebenda, 183); hierzu auch Gundolfs Mitteilung in einem Brief an Wolters vom 13.6.1917, in: Christophe Fricker (Hrsg.), Friedrich Gundolf  – Friedrich Wolters. Ein Briefwechsel aus dem Kreis um Stefan George. Köln/Weimar/Wien 2009, S. 163 f. – Siehe zu Fahrners Arndt-Monographie ebenfalls Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 203 ff. 103  Vgl. Fahrner, Arndt (Anm. 94), bes. S. 141 ff., 151 ff. u. a. 104  Vgl. die bezeichnenden Äußerungen ebenda, S. 67: „Die Männer der Erhebung kamen […] zwischen diesen Gegnern [gemeint sind die Vertreter der alten Mächte auf dem Wiener Kongress; H.-C.K.] in die seltsamste und verhängnisvollste Lage. Gegen Napoleon, dem sie mit ihren stärksten Regungen zugeordnet waren, mußten sie um des künftigen Bestandes von Deutschland willen den äußersten Kampf betreiben“; und ebenda, S. 155, spricht Fahrner wiederum von „Arndts tiefe[r] Gebundenheit an Napoleon“ und von der „Gewalt dieser feindlichen Jüngerschaft“ usw. 105  Ebenda, S. 77. 106  Ebenda, S. 75. 107  Zur Entstehung vgl. die Bemerkungen bei Fahrner, Erinnerungen 1903– 1945 (Anm. 88), S. 196 f.; vgl. bereits die ausführlichen Abschnitte zu Gneisenau in: Fahrner, Arndt (Anm. 94), S. 17–23, 211–228 u. a.



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bis 1813, in denen Gneisenau mit seinen Freunden und Mitstreitern, darunter Scharnhorst und Clausewitz, Stein und Arndt in strengster Geheimhaltung die Erhebung gegen Napoleon und damit den Befreiungskrieg vorbereitete  – gewissermaßen als ein Geheimes Deutschland ihrer Zeit108. Es ist für den nachträglichen Betrachter nicht einfach zu ermessen, welche Formulierungen dieses andeutungsreichen Buches tatsächlich als wirkliche Anspielungen auf die deutsche Widerstandsbewegung gelesen werden können, von der am Ende die Erhebung des 20. Juli 1944 ausgehen sollte, aber die Glorifizierung Gneisenaus als eines Heroen des Widerstandes gegen Napoleon darf durchaus als eine zwar verdeckte, aber ganz bewusst vorgenommene parallele Stilisierung seines Urenkels Claus von Stauffenberg im Kontext der deutschen Widerstandsbewegung gelesen werden109 – und in gewisser Hinsicht sogar „als Manifest des ‚geheimen Deutschland‘  “110. Stauffenberg selbst hat den Band seines Freundes Fahrner, wie überliefert ist, seit dessen Erscheinen immer wieder studiert111  – vielleicht vor allem mit Blick auf dessen Schlussformulierungen, in denen über den „Besieger Napoleons“ und „Befreier Deutschlands“ gesagt wird: „In der Stille aber wirkten seine Schöpfungen und Taten, und sie wirken noch, vieles in sich bergend, weiter, zukunftsträchtig und vielleicht schicksalbestimmend“112. Diese letzten Bemerkungen Fahrners wird man – in Kenntnis des Entstehungskontextes dieser Schrift – nun ohne jeden Zweifel auf Stauffenberg beziehen dürfen, über dessen Widerstandstätigkeit Fahrner nach eigener Erinnerung bereits genau informiert war. Claus von Stauffenberg selbst hat, wie man heute ebenfalls weiß, in den Jahren 1943/44 den engsten Kreis der Widerstandsbewegung „stets als Geheimes oder als Heimliches Deutschland bezeichnet“113, und er nahm vielleicht gerade aus diesem Grund eine Anregung auf, die ihm Fahrner in seiner Gneise108  Fahrner,

Gneisenau (Anm. 95), S. 14 ff. u. passim. auch die spätere, m. E. überzeugende Selbstdeutung durch Fahrner, Erinnerungen 1903–1945 (Anm. 88), S. 196: „[…] meine ‚Gneisenau‘-Arbeit nahm immer mehr einen Charakter an, der das Bild der geschichtlichen Gestalt mit dem des erhofften Befreiers ineinanderwachsen liess“; vgl. auch die ebenfalls auf Claus von Stauffenberg bezogene Äußerung ebenda, S. 254: „Er hatte die Wirkung, dass sich durch ihn bedeutende und aus innerer Tiefe lebende Menschen zeigten und sich um ihn sammelten, so dass man die vielverdunkelte Substanz unseres Volkes erscheinen sah“. 110  So ausdrücklich Riedel, Geheimes Deutschland (Anm. 14), S. 211. 111  Vgl. Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Anm. 2), S. 465, der sogar anmerkt, ebenda, S. 466: „Wenn Fahrner es auch nicht ausgesprochen hat, muß ihm die Parallele Arndt-Gneisenau/Fahrner-Stauffenberg bewußt gewesen sein“. 112  Fahrner, Gneisenau (Anm. 95), S. 99. 113  Salin, Um Stefan George (Anm. 3), S. 324. 109  So

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nau-Schrift vermittelt hatte. Der Autor berichtet darin (historisch wohl nicht in allen Aspekten korrekt114) über ein Vorhaben Gneisenaus und seiner Freunde im Jahr 1812, als sie durch die Unterwerfung König Friedrich Wilhelms III. unter Napoleon die Ehre Preußens gefährdet sahen: „Die um sich greifende knechtische Gesinnung und ihre Geschichtsfälschungen scheuend legten sie in einem geheimen Bekenntnis gemeinsam ihre Gesinnung nieder, damit künftige Zeiten erführen, auch wenn sie selbst zugrunde gehen sollten, dass damals Männer gelebt, die die ganze Schmach gesehen und empfunden hätten“115. Zu Ende Juni 1944, als das Attentat auf Hitler unmittelbar bevorzustehen schien, wurde der damals noch in Athen lebende und unter immer schwierigeren Bedingungen arbeitende Fahrner von Stauffenberg unter einem Vorwand nach Deutschland gerufen116. Der Gelehrte, der zu den überaus wenigen Überlebenden aus dem innersten Zirkel des Widerstandes gehörte, hat später in seinen Erinnerungen an diese Zeit darüber berichtet: Es ging nicht nur darum, in strengster Geheimhaltung die ersten Aufrufe des Widerstands an die deutsche Bevölkerung im Falle eines gelungenen Attentats auf den Diktator sprachlich und inhaltlich neu zu redigieren, sondern es sollte ebenfalls  – offensichtlich nach dem Vorbild Gneisenaus in Fahrners Schilderung  – „ein Eid […] entworfen werden, der auch bei allen Trennungen und Gefährdungen, die nach der zu erwartenden Niederlage und Besetzung Deutschlands drohten, doch diejenigen verbinde, die eine deutsche Zukunft mittragen könnten“117. So entstand noch wenige Tage vor dem Attentat des 20.  Juli jenes merkwürdige Dokument, das als der „Schwur“ oder der „Eid“ des engeren Stauffenberg-Kreises in die Geschichte eingegangen ist. Überlebt hat der Text dieses Eides tatsächlich nur in einem einzigen, von Claus von Stauffenberg handschriftlich korrigierten Exemplar, das Fahrner noch am 20.  Juli selbst heimlich in einem Versteck in den Alpen deponieren konnte; erst 1992 ist dieses Dokument vollständig und im Faksimile publiziert worden118. „Wir glauben“, heißt es darin, „an die Zukunft der 114  Vgl. dazu die Bemerkungen und Hinweise bei Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Anm. 2), S. 465 f. 115  Fahrner, Gneisenau (Anm. 95), S. 57; vgl. bereits Fahrner, Arndt (Anm. 94), S. 15 mit Anm. *). 116  Vgl. Fahrner, Erinnerungen 1903–1945 (Anm. 88), S. 252  ff.; vgl. auch den Ausschnitt aus einem früheren Manuskript Fahrners in: Zeller: Geist der Freiheit, 6. Aufl. (Anm. 1), S. 363–366. 117  Fahrner, Erinnerungen 1903–1945 (Anm. 88), S. 253. 118  Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Anm. 2), S. 396 f.; vollständiger Abdruck ebenfalls bei Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (Anm. 1), S. 237.



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Deutschen. Wir wissen im Deutschen die Kräfte, die ihn berufen, die Gemeinschaft der abendländischen Völker zu schönerem Leben zu führen. Wir bekennen uns im Geist und in der Tat zu den großen Überlieferungen unseres Volkes, das durch die Vermischung hellenischer und christ­ licher Ursprünge in germanischem Wesen das abendländische Menschentum schuf. Wir wollen“, heißt es dann weiter, „eine Neue Ordnung, die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt, verachten aber die Gleichheitslüge und beugen uns vor den naturgegebenen Rängen“119. Dieses Zitat umfasst nur die erste Hälfte jenes „Eides“, aber bereits aus diesen Formulierungen geht klar hervor, worum es sich hierbei handelt: um nichts weniger als um die wohl letzte Manifestation (und damit zugleich auch die letzte Selbstdeutung) des Geheimen Deutschland120. Der Elitegedanke des George-Kreises, der sich gegen die „Gleichheitslüge“ wendet, ist hier ebenso präsent wie die einst von Hölderlin entworfene und von George begeistert aufgenommene Idee einer Verschmelzung des Hellenischen mit dem Deutschen, und endlich findet sich hier auch jene, an dieser Stelle nur auf den ersten Blick befremdliche, dem Eingeweihten aber sofort verständliche Idee des „schöneren Lebens“, die sich seit den ersten Anfängen in der Dichtung Georges finden lässt und die ebenfalls die ästhetische Utopie der Frühzeit des Kreises noch einmal anklingen lässt. Dieser Gedanke ist vielleicht gerade das zentrale und über die Zeiten hinweg verbindende Motiv der Idee des Geheimen Deutschland, das sich nicht nur bei Hölderlin und George121, sondern auch bei Wolters122 und vor allem in Kantorowicz’ großer Vision von 1933 findet, in der die künftige Jugend nicht nur zu Adel und Größe, sondern eben auch zur Schönheit erzogen werden sollte123  – und ein allerletztes Mal in Stauffenbergs kurz vor der entscheidenden Tat niedergeschriebenem Eid der Verschwörer des 20. Juli 1944. Sieht man genau hin, dann hat die Idee des Geheimen Deutschland im Text dieses Eides ebenso wie in Stauffenbergs Tat eine weitere, eine zweite Wandlung vollzogen: War nach dem Ersten Weltkrieg die frühere ästhetische Utopie Georges vom außerpolitisch gedachten „schönen Le119  Vgl. zur Genese und Bedeutung des Eides auch den Exkurs bei Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Anm. 2), S. 463–472. 120  So auch Grünewald, „Übt an uns mord und reicher blüht was blüht!“ (Anm. 67), S. 75; vgl. ebenfalls die Bemerkungen bei Kolk, Literarische Gruppenbildung (Anm. 14), S. 533. 121  Im „Vorspiel“ zu: George, Der Teppich des Lebens (Anm. 31), S. 9–35, hier S. 12. 122  Wolters, Herrschaft und Dienst (Anm. 33), S. 57. 123  Vgl. Kantorowicz, Das Geheime Deutschland (Anm. 67), S. 81, 92.

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ben“ abgelöst worden von der geschichtlich-politischen Vision eines angekündigten Wiederaufstiegs der deutschen Nation im Zeichen seiner Kaiser und Helden, seiner Seher, Dichter und Propheten, die vor allem Ernst Kantorowicz wortmächtig verkündet hatte, so wandelt sich unter dem Einfluss Stauffenbergs der Gedanke des Geheimen Deutschlands noch einmal: zur sittlich-moralisch grundierten Widerstandsidee im Kampf gegen einen Tyrannen, der nicht nur gegen alle als spezifisch deutsch empfundenen geschichtlichen, politischen und moralischen Traditionen stand, sondern der ebenfalls im Begriff war, nicht nur Deutschland, sondern auch Europa in den Abgrund zu reißen. Wenn in Stauffenbergs Eid, ebenso wie in den ersten vorbereiteten Aufrufen der Verschwörer an das deutsche Volk nach einem geglückten Attentat, mehrfach mit besonderem Nachdruck „Recht und Gerechtigkeit“ als Leitmaxime einer „Neuen Ordnung“ für die Zeit nach Hitler beschworen wurden124, dann konnte der Attentäter sich hiermit gleichzeitig auf eine zentrale Aussage von Georges Gedicht „Geheimes Deutschland“ berufen, in dem zu lesen war, dass eine künftige „ordnung […] ins ewige recht“125 führen müsse. Und schon aus diesem Grunde liegt die Annahme sehr nahe, dass Stauffenberg tatsächlich mit einem Ruf auf das Geheime Deutschland in den Tod gegangen ist. VI. Hiermit schließt sich in gewisser Weise der Kreis126, denn man wird, zumindest in einem vordergründigen Sinne, nicht sagen dürfen, das Ge124  In der im Original verschollenen, später rekonstruierten „Regierungserklärung“ der Verschwörergruppe des 20. Juli 1944, abgedruckt in Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hrsg.), Widerstand in Deutschland 1933–1945. München 1994, S. 332–344, heißt es sogar, ebenda, S. 333: „Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts“. (Ob es sich dabei um den Aufruf handelt, an dessen Formulierung bzw. Redigierung Rudolf Fahrner nach eigener Aussage beteiligt war, ist nicht bekannt). Vgl. hierzu auch Graf Vitzthum, Kein Stauffenberg ohne Stefan George (Anm. 83), S. 1119. 125  George, Das Neue Reich (Anm. 46), S. 39. 126  Nachträglich sei, was das „Schließen des Kreises“ anbetrifft, ausdrücklich hingewiesen auf einen erstaunlichen Brief von Ernst Kantorowicz, verfasst kurz nachdem ihn die Nachricht vom gescheiterten Anschlag des 20. Juli 1944 erreicht hatte, den der Kantorowicz-Biograph Ralph E. Lerner ans Licht gezogen hat. Am 23. Juli 1944 schrieb der Historiker an eine Freundin, bezugnehmend auf „das erfolglose – und doch erfolgreiche – Attentat auf Hitler. Mir gefror das Blut in den Adern, als ich im Radio den mir so vertrauten Namen Stauffenberg hörte, und mir war sofort klar, dass es kein anderer als Klaus […] gewesen sein kann […] Dass ein Mann, der in demselben Umkreis wie ich und als Freund Stefan Georges groß geworden ist, der sein würde, der die erste Bombe werfen und so der Eckpfeiler



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heime Deutschland habe den Zweiten Weltkrieg überlebt; jedenfalls haben die von Stauffenberg und Fahrner im Geist ihres Meisters Stefan George formulierten Maximen, die sich im „Schwur“ der Verschwörer des 20. Juli finden, – einmal abgesehen von der Forderung nach Wiederherstellung von Recht und Gerechtigkeit – tatsächlich keinen feststellbaren Einfluss auf die Politik und das Denken der Deutschen in der Nachkriegszeit gewinnen können. Natürlich war jener „Schwur“, wie treffend gesagt worden ist, „kein Entwurf für praktische Politik, sondern die Niederschrift eines Ideals im ursprünglichen Sinn, eines inneren Bildes. Er zeigt auch die Schattenseite des Nichtwissens, wie die künftige Gesellschaft funktionieren sollte“127. Immerhin hat die Idee des Geheimen Deutschland, geboren im Umkreis eines alle Politik verachtenden, sich als „Seher“ in der Tradition Hölderlins und Nietzsches verstehenden charismatischen Dichters eine ungemein bemerkenswerte Wandlung aufzuweisen: Von der sich vor 1914 unpolitisch, zeit- und kulturkritisch gebenden Vision des „schönen Lebens“ als Fernziel einer geistig-seelischen Erneuerung Europas aus hellenisch-deutschem Geist über die nach dem Ersten Weltkrieg unverbrämt nationalistisch grundierte Beschwörung eines neuen Aufbruchs der deutschen Nation durch Rückbesinnung auf die Ewigkeitswerte einer großen Vergangenheit bis hin zur politisch, rechtlich und moralisch fundierten Idee des  – im Notfall auch gewaltsam agierenden  – Widerstandes gegen eine bis dahin in der Geschichte nie gekannte Tyrannei hat der Gedanke des Geheimen Deutschland tatsächlich eine in jeder Weise bemerkenswerte, ja im Grunde außerordentliche Entwicklung vollzogen. Der gewaltige Schlusspunkt, den Claus von Stauffenberg dabei gesetzt hat, war hierfür letztlich entscheidend. Es lässt sich sogar sagen: Wäre Stauffenberg nicht gewesen, hätte er nicht gehandelt, dann sähe man heute vermutlich in der Idee des Geheimen Deutschland die im besten Falle interessante und originelle Phantasie eines etwas abseitigen Dichter- und Gelehrtenzirkels in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit dem 20. Juli 1944 aber kann man dies eben nicht mehr sagen: Obwohl es fehlgeschlagen ist, bleibt Stauffenbergs Attentat gegen Hitler die einzige, die zentrale, ja die im Grunde wirklich symbolische Tat des Geheimen Deutschland, mit der es für alle Zeiten bewiesen hat, dass es in einem entscheidenden Augenblick der deutschen Geschichte das bessere Deutsch­land repräsentierte. der Revolte gegen dieses Monster sein würde; […] dass der erste Schuss aus dieser Gruppe fiel  – all das ist nicht überraschend und ist genauso, wie es sein sollte“; zitiert in: Lerner: Ernst Kantorowicz (Anm. 66), S. 338; vgl. auch S. 441 f. 127  Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (Anm. 2), S. 471.

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Ob vom Geheimen Deutschland außerhalb dieses Vermächtnisses etwas Künftiges bleiben wird, darf man wohl als ungewiss ansehen. Stefan George selbst hat einmal in einer seiner letzten überlieferten Äußerungen bemerkt: „die gesetze des geistigen und des politischen sind gewiss sehr verschieden  – wo sie sich treffen und wo geist herabsteigt zum allgemeingut das ist ein äusserst verwickelter vorgang“128. Diese Formulierungen wird man auch auf das Geheime Deutschland beziehen können, von dem der Dichter selbst in seinem gleichnamigen Gedicht sagt, es sei „wunder undeutbar für heut“, aber zugleich auch „Geschick […] des kommenden tages“129, und auf das sich vielleicht ebenfalls die von Ernst Kantorowicz zitierten, auf den verborgenen Kaiser und das deutsche Volk bezogenen Worte der Sibylle anwenden lassen: „Es ist und es ist nicht“.

128  Aus Georges Brief an Ernst Morwitz vom 10.  Mai 1933, hier zit. nach dem Abdruck in: Karlauf, Stefan George (Anm. 5), S. 622. 129  George, Das Neue Reich (Anm. 46), S. 65.

Über einige geistesgeschichtliche Voraussetzungen des Nationalsozialismus I. Wenn es darum gehen soll, die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus knapp und auch nur in ausgewählten zentralen Aspekten zu beleuchten, dann muss man sich gleich zu Beginn über die Bedeutung und das Verständnis von „Geistesgeschichte“ im Klaren sein. Es kann sich dabei  – und erst recht bei diesem Thema  – nicht um eine ausschließlich ideen- oder gar theoriegeschichtliche Analyse handeln, die sich lediglich auf die Sphäre eines vermeintlich „reinen Denkens“ bezieht  – denn so etwas gibt es überhaupt nicht, und schon gar nicht im Bereich des Politischen, mit dem wir es hier zu tun haben. Eine Geistesgeschichte mit politischem Anspruch verweist immer bereits auf eine enge, letztlich untrennbare Verbindung der Geschichte des – hier im weitesten Sinne verstandenen – politischen Denkens oder Reflektierens mit der Realgeschichte, also mit der Geschichte der politischen Entwicklungen und sozialen Veränderungen. Diese realgeschichtlichen Vorgänge wirken auf das politische Denken ebenso ein, wie andererseits wiederum politische Ideen auf den Gang realgeschichtlicher Ereignisse zurückwirken können. Genau im Sinne dieser kaum zu entflechtenden, mehr oder weniger in allen uns bekannten historischen Epochen aufzufindenden Interdependenz von Denken und Handeln soll der Begriff der Geistesgeschichte – im Rahmen einer eher vorläufigen und bewusst weit gefassten Definition – jetzt und im folgenden verstanden werden. Die ernstzunehmenden, also jenseits bloßer politischer Propaganda angesiedelten Versuche einer geistesgeschichtlichen Verortung und Herleitung des Nationalsozialismus begannen bereits unmittelbar nach der vernichtenden Niederlage Deutschlands von 1945. Diese ersten, noch eher tastenden Deutungsversuche erscheinen aus heutiger Perspektive auf den ersten Blick zwar ausgesprochen grobflächig und undifferenziert, dazu in starkem Maße geprägt von den jeweiligen politischen Standorten und Voreingenommenheiten ihrer Verfasser, sie bleiben aber trotzdem auch heute noch von Interesse, weil sie Aufschluss geben können über die spezifischen Orientierungsbedürfnisse der ersten Nachkriegszeit, denen sie entsprungen sind, und weil sie zugleich zeigen, in

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welcher Weise im ersten Jahrzehnt nach 1945 die ideengeschichtliche Abrechnung mit dem Nationalsozialismus selbst wiederum politisch instrumentalisiert worden ist. Die erste und lange Zeit bekannteste Analyse des Nationalsozialismus nach dem Krieg hat Friedrich Meinecke in seinem unmittelbar nach Kriegsende begonnenen, schon 1946 erschienenen Buch „Die deutsche Katastrophe“ unternommen1. Der bekannte Ideenhistoriker und Nestor der geistesgeschichtlichen Richtung innerhalb der neueren Geschichtswissenschaft verblieb mit seinen (von ihm selbst auch nur als sehr vorläufig verstandenen) Analysen2 der soeben vollendeten Tragödie stark im Allgemeinen: Er machte für die Katastrophe von 1945 etwa den Niedergang der religiösen Bindungen, die Überschätzung der modernen Technik – er nannte dies die Verdrängung des homo sapiens durch den homo faber3 – sowie den amoralischen „Massenmachiavellismus“4 in der Form eines extremen Nationalismus verantwortlich. Etwas konkreter wurde er nur an einer Stelle: nämlich dort, wo er auf ein, wie er meinte, deutsches Spezifikum zu sprechen kam. Im „deutschen Geiste“ lag, wie er ausführt, „ein oft stürmischer Hang vom Bedingten der Wirklichkeit, die ihn umgab und vielleicht stärker bewegte, reizte und quälte als andere Völker, rasch emporzusteigen zum Unbedingten, zu einer metaphysischen, zuweilen auch nur quasi-metaphysischen Welt, die ihn erlösen sollte“. Dieser Hang sei sowohl in Luther und der Goethezeit als auch „im deutschen Idealismus, zumal dem Hegelschen“, kulminiert. Dieser „alte metaphysische Drang des deutschen Geistes“ habe die Tendenz zum Abgleiten ins rein Innerweltliche in sich enthalten und habe – nicht zuletzt „aus Irrtum und Perversion“5 – in einem verhängnisvollen Machtkult geendet. Partiell an Meineckes Thesen anknüpfend, argumentierte ebenfalls der Freiburger Historiker Gerhard Ritter in seinem 1948 publizierten Buch „Europa und die deutsche Frage“. Wie sein älterer Kollege machte auch Ritter im Rahmen seiner „Betrachtungen über die geschichtliche Eigen-

1  Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, 2. Aufl. Wiesbaden 1946. 2  Siehe dazu u.  a. (mit weiteren Hinweisen) Wolfgang Wippermann, Friedrich Meineckes ‚Die deutsche Katastrophe‘. Ein Versuch zur deutschen Vergangenheitsbewältigung, in: Friedrich Meinecke heute, hrsg. v. Michael Erbe (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 31), Berlin 1981, S. 101–121. 3  Vgl. Meinecke, Die deutsche Katastrophe (Anm. 1), S. 62. 4  Vgl. ebenda, S. 79 ff. 5  Die Zitate ebenda, S. 83.



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art des deutschen Staatsdenkens“6 gewisse Tendenzen der „Staatsgläubigkeit“ des deutschen Idealismus seit den politischen Erfahrungen der napoleonischen Epoche für die spätere Entwicklung hin zum Nationalsozialismus wenigstens mitverantwortlich7, doch er arbeitete durchaus auch andere, nämlich nichtdeutsche geistesgeschichtliche Traditionsstränge heraus. Vor allem betonte er die zentrale Idee des „demokratischkollektivistische[n] Staat[es]“, der  – „aus der streng-logischen Konsequenz der Rousseauschen Gedankengänge entwickelt“  – sich am Ende als „der unbeschränkteste aller Despoten“8 erwiesen habe. Und er verwies in diesem Zusammenhang auf die Französische Revolution, in der zuerst der in diesem Sinne „neue Begriff politischer Volksgemeinschaft“ zur Wirksamkeit gekommen sei und die den Aufstieg Napoleons als des ersten modernen Diktators überhaupt erst möglich gemacht habe9. Als Ritters entschiedenster Gegner trat der seit 1950 in München lehrende, aus Sachsen stammende Historiker Karl Buchheim auf, ein katholischer Konvertit, der die hauptsächlichsten geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus vor allem in der vermeintlichen Obrigkeitshörigkeit des deutschen Luthertums und im „preußischen Geist“ finden zu können glaubte, der von Friedrich dem Großen über Fichte bis hin zu Treitschke traditionell durch Unfreiheit, Militarismus, Autokratie und genuinem Antiliberalismus gekennzeichnet gewesen sei. Diese Auffassungen, die Buchheim u. a. in seinem 1951 publizierten Buch „Leidensgeschichte des zivilen Geistes“ vertrat10, reflektierten nur besonders anschaulich, was in jener Zeit gerade in bestimmten Kreisen in Süddeutschland, etwa auch im Umfeld der seit 1946 in Augsburg erscheinenden katholisch-konservativen Zeitschrift „Neues Abendland“, über dieses Thema gedacht wurde11.

6  Gerhard Ritter, Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens, München 1948; zum Kontext dieser Schrift siehe auch Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert (Schriften des Bundesarchivs, 58), Düsseldorf 2001, S. 484–496. 7  Vgl. Ritter, Europa und die deutsche Frage (Anm. 6), S. 63 ff. 8  Die Zitate: ebenda, S. 47. 9  Vgl. ebenda, S. 48 f.; das Zitat S. 48. 10  Karl Buchheim, Leidensgeschichte des zivilen Geistes  – oder die Demokratie in Deutschland, München 1951, bes. S. 11 ff. u. passim. 11  Vgl. Felix Dirsch, Individualisierung und Traditionsbewahrung. Das katholische Milieu der 1950er Jahre und die Zeitschrift „Neues Abendland“, in: FrankLothar Kroll (Hrsg.), Die kupierte Alternative. Konservatismus in Deutschland nach 1945 (Studien und Texte zur Erforschung des Konservatismus, 6), Berlin 2005, S. 101–124, hier S. 116 f.; vgl. zum Zusammenhang auch Winfried Schulze,

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Ein nicht geringes Aufsehen erregten in jener Zeit der Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit über die jüngste Vergangenheit aber auch marxistische und kommunistische Publikationen, von denen hier wenigstens die beiden wichtigsten, auch im Westen stark beachteten, genannt werden sollen. Schon 1945 publizierte der  – zu dieser Zeit sich noch im mexikanischen Exil befindliche  – KPD-Funktionär und spätere Kulturminister der DDR, Alexander Abusch, sein (bereits ein Jahr später auch in Berlin veröffentlichtes) Buch „Der Irrweg einer Nation“, in dem er den Verlauf der neueren deutschen Geschichte einer radikalen Kritik aus streng marxistischer Perspektive unterzog12. Auch der Kommunist Abusch machte wie Buchheim  – wenngleich natürlich aus entgegengesetztem Blickwinkel  – vor allem das (von ihm in verzerrender Perspektive gesehene) „Preußentum“ für den Nationalsozialismus verantwortlich13, doch er benannte ebenfalls in überraschend starkem Maße vor allem geistesgeschichtliche Ursachen: darunter etwa den Hang der Deutschen zur unpolitisch-romantischen Träumerei und zu einer zutiefst weltfremden und politikfernen „Innerlichkeit“, ja zu einer Flucht ins Reich der Träume, die immer wieder aufs Neue der politischen Reaktion zugearbeitet und damit allen liberalen und fortschrittlichen Tendenzen in der deutschen Entwicklung massiven Schaden zugefügt habe14. Noch wesentlich schärfer konturierte der ungarisch-deutsche Philosoph Georg Lukács die bei Abusch nur anklingenden Vorwürfe in seinem erstmals 1953 im Ost-Berliner Aufbau-Verlag veröffentlichten Buch mit dem plakativen Titel „Die Zerstörung der Vernunft“. Im Gegensatz zu dem schmalen Bändchen von Abusch präsentierte sich Lukács’ umfangreiches, fast siebenhundert Druckseiten umfassendes Werk als philosophische und geistesgeschichtliche Untersuchung, die es vornahm, eine neue, ebenfalls aber strikt politische Deutung der jüngeren deutschen Geistesgeschichte aus streng marxistischer Perspektive zu präsentieren15. Lukács kam es darauf an, den vermeintlichen „Unheilsweg“ der deutschen geistigen Entwicklung von der Romantik über die Philosophien Schellings und Nietzsches bis hin zu Spengler, Heidegger und schließlich Rosenberg und Hitler kritisch zu rekonstruieren16. Nach seiner Auffassung hatte der in der deutschen Romantik entstandene philosophische Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, S. 207–227, bes. S.  211 ff. 12  Alexander Abusch, Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte, Berlin 1946. 13  Vgl. ebenda, S. 30 ff., 105 ff. u. a. 14  Vgl. ebenda, S. 144 ff., 150 ff., 159 ff. u. a., bes. S. 162 („Innerlichkeit“). 15  Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin (-Ost) 1953. 16  Vgl. vor allem ebenda, S. 103–317.



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„Irrationalismus“ in mehr oder weniger gerader Linie zum Faschismus geführt17, während die andere, die „vernünftige“, sozusagen die Heilslinie deutschen Denkens, verkörpert vor allem durch Hegel und seine Schule, über Marx und Engels endlich im Denken Lenins und damit im sowjetischen Kommunismus der damaligen Gegenwart kulminierte. Den Nationalsozialismus verstand Lukács als letztes Glied dieser geistesgeschichtlichen Entwicklung – in seiner Formulierung als „demagogische Synthese der Philosophie des deutschen Imperialismus“18. Alle diese aus den ersten Nachkriegsjahren stammenden frühen Deutungen der geistesgeschichtlichen Ursprünge und Voraussetzungen des Nationalsozialismus  – und zwar sowohl die „westlichen“ wie die „östlichen“  – zeigen nur allzu rasch ihre historisch bedingten Defizite. Zum einen erscheinen sie als zu undifferenziert und grobschlächtig, weil sie aus dem umfangreichen Repertoire der neueren deutschen oder z. T. auch europäischen Geistesgeschichte jeweils immer nur einzelne Phänomene herausheben, anschließend isolieren und zu vermeintlich zentralen Ur­ sachen des Nationalsozialismus und damit der deutschen Katastrophe erklären wollen, und zum anderen sind sie fast alle  – vielleicht mit der einzigen Ausnahme Meineckes – bestimmt von in der Regel leicht zu erkennenden und zu durchschauenden politisch-ideologischen Voreingenommenheiten. Daneben dürfen ebenfalls grundsätzliche methodologische Zweifel nicht ignoriert werden. Denn wer eine ausschließlich geistesgeschichtlich vorgehende Analyse unternimmt, kommt nicht darum herum, sich mit einigen kritischen Einwänden zu befassen, die Alfred Heuß bereits vor Jahren einmal in sehr bedenkenswerter Weise auf den Begriff gebracht hat19. Heuß weist zum einen darauf hin, dass alle menschlichen Ideen von einiger historischer und politischer Bedeutung stets von vornherein in geschichtliche Zusammenhänge eingebunden sind und dass „die praktische Fruchtbarkeit der ‚Ideen‘ von ihrer Vieldeutigkeit und Anpassungsfähigkeit lebt“; insofern bleibe „es eine Frage für sich, inwieweit überhaupt Handlungsentwürfe für die Zukunft dieselbe einzufangen vermögen“. Jeder in einem anspruchsvollen Sinne politisch Handelnde sei zudem in einem so hohen Grade in die bestehende, ungemein kom­ plexe Wirklichkeit eingebunden, ja geradezu verstrickt, und lerne „bei 17  Vgl.

ebenda, besonders S. 1–29, 75–103 u. passim. S. 565. 19  Vgl. zum folgenden Alfred Heuß, Kritische Bemerkungen zur „geistesgeschichtlichen“ Interpretation historisch-politischer Phänomene (zuerst in: Festschrift für Joseph Klein, Göttingen 1967), in: derselbe, Gesammelte Schriften in drei Bänden, Bd. 3, Stuttgart 1995, S. 2062–2071. 18  Ebenda,

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seinem Werk nicht nur die ‚Welt‘ in einem höheren Maße als zuvor kennen, sondern auch sich selbst“, dass es mehr oder weniger ausgeschlossen sei, „die politische Wirklichkeit zu Emanationen von ‚Ideen‘ zu stempeln; und jede historische Analyse, die zu derartigen Ergebnissen käme, hätte den Verdacht der Unrichtigkeit gegen sich“20. Hieraus folgert Heuß, dass es zuerst einmal darauf ankommen muss, „innerhalb einer differenzierten politischen Handlungs- oder Zustandsanalyse der ‚Idee‘ ihren Platz zuzuweisen und sie ihrem Gewicht nach zu den zahlreichen Faktoren neben ihr in ein Verhältnis zu setzen“, und vor allem die Frage zu stellen, inwieweit politisch Handelnde überhaupt fähig sind, anspruchsvolle Ideen in ihrer ganzen Tiefe und weitreichenden Bedeutung zu verstehen. Im Rahmen der Begründung einer rein politischen Zielsetzung steht „die ‚Idee‘ in der Regel im Zeichen beliebiger Verfügbarkeit“. Und auch sonst „wäre es zumeist ein Irrtum, wollte man in Ansehung irgendwelcher theoretischer Einsichten und Behauptungen annehmen, sie wären imstande, das Ganze auch nur der praktisch denkbaren und notwendigen Weltbezüge für den Menschen zu beinhalten“; lediglich „dürre Doktrinäre leben allein aus dem ‚Katechismus‘ ihrer ‚Weltanschauung‘, und ihre Menschlichkeit ist dann auch danach“21. Im Ganzen aber  – so die Quintessenz der Überlegungen von Heuß  – müsse festgehalten werden: „Die Menschen sind keine Marionetten am Drahte der ‚Ideen‘, und nichts wäre verkehrter, als etwa die Kontinuität einer geistesgeschichtlichen Tradition all den Handlungsabläufen zu unterstellen, die auf diese oder jene Weise die betreffende Überlieferung sich zunutze machen und an irgendwelchen Stellen anzapfen“22. Dies gelte ge20  Alle Zitate ebenda, S. 2068; als „Musterbeispiel“ der von ihm kritisierten Art und Weise geistesgeschichtlicher Interpretation nennt er Meineckes „Deutsche Katastrophe“ (vgl. ebenda, S. 2066). 21  Die Zitate ebenda, S. 2069 f.; im Folgenden bemerkt Heuß, der Mensch könne „sich mit seinem ‚idealen‘ Rückbezug noch sosehr als ‚vernünftiges‘ Wesen erweisen wollen, die Durchschlagskraft revolutionärer Taten wird trotzdem aus anderen, ‚unbewußteren‘ Quellen gespeist; und diese bei der Untersuchung der Motive und Voraussetzungen zu unterschlagen, kann ein größerer Irrtum sein, als überhaupt darauf zu verzichten, die rational-weltanschauliche Komponente ernst zu nehmen. Selbstverständlich ist weder das eine noch das andere zu empfehlen; und eine Politik, die fast ausschließlich das Medium doktrinärer Argumentation benutzt, ist gewiß damit schon als historisches Phänomen sehr wesentlich charakterisiert. Man darf nur nicht die Syntax der Erörterungen für den realen Antrieb und die vitalen Energiequellen halten. Der Haushalt der menschlichen Kräfte, Triebe, Wünsche, Vorstellungen, Denkgewohnheiten und vor allem des mit jeder äußeren Situation gegebenen Zwanges ist eine sehr komplexe Ganzheit; und sie begreifen heißt nicht zuletzt diesen verschiedenen Komponenten jeweils ihren richtigen Stellenwert zuzuschreiben“ (ebenda, S. 2071). 22  Die Zitate ebenda, S. 2070.



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rade auch für eine nähere Analyse der Voraussetzungen des Nationalsozialismus23. Die Kritik von Heuß an der Möglichkeit einer vornehmlich geistes­ geschichtlichen Interpretation historischer und politischer Phänomene läuft im Kern darauf hinaus, nachdrücklich deren Undifferenziertheit, mangelnde Komplexität zu betonen und auf deren methodologische ­Einäugigkeit hinzuweisen – und diese Kritikpunkte sind in der Tat ernst zu nehmen, weil sie tatsächliche Defizite namhaft machen. Freilich wird man allerdings auch gegen einige von Heuß vorgebrachte Argumente selbst wiederum kritische Einwendungen zu machen haben: Zuerst einmal müsste klarer herausgearbeitet werden, worin die von Heuß so stark betonten „irrationalen“ Momente menschlicher Verhaltensweisen im Bereich des Politischen bestehen und in welchem Verhältnis zu deren „ratio­ nalen“ Momenten sie sich befinden, zweitens berücksichtigt er hier zu wenig, dass auch die „Weltbezüge“ eines politisch Handelnden von diesem in ideologischer Perspektive gesehen und gedeutet werden können. Und drittens übergeht Heuß in diesem Fall etwas zu souverän die Tatsache, dass in der neueren und neuesten Geschichte immer wieder einzelne Epochen mit einer stark realistisch-pragmatisch orientierten Politik deutlich unterschieden werden können von anderen Zeitabschnitten, die wiederum in besonders ausgeprägter Weise ideenpolitisch und damit ideologisch geprägt worden sind, wie etwa die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, das Zeitalter der weltweiten Konfrontation der „Ideologiestaaten“, und im Grunde auch noch, wenigstens partiell, die Jahrzehnte des internationalen Ost-West-Konflikts nach 1945. II. Das Problem einer präziser vorgehenden, daher auch in den Resultaten genaueren geistesgeschichtlichen Verortung des Nationalsozialismus liegt aber noch auf einer ganz anderen Ebene. Die Tatsache ist nicht zu leugnen, dass es sich bei der sogenannten „nationalsozialistischen Weltanschauung“ eben nicht, wie etwa beim Marxismus-Leninismus, um ein weitgehend logisch geschlossenes Gedankensystem mit explizit philosophischem und theoretischem Anspruch handelt, sondern um ein eher eklektisch zu23  Vgl. die Feststellung ebenda: „Es geht wirklich nicht an, Herder und Novalis ‚geistesgeschichtlich‘ mit der Politik Alfred Rosenbergs und Hitlers zu verbinden; und bei aller Reserve, die dem Wagnerianer H. St. Chamberlain gebührt, ihn mit der Praxis des Dritten Reiches zu identifizieren, hieße Buchstaben für Taten zu nehmen und die menschliche Substanz eines dem Großbürgertum des 19. Jahrhunderts angehörenden, in seiner Weise immerhin gebildeten Literaten mit der Stümperei seines weltanschaulichen Synkretismus zu verwechseln“.

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sammengefügtes, wenn auch in sich gedanklich durchaus konsistentes Bündel verschiedener Ideenbestandteile. Nur: Eine sozusagen „klassische“ oder „kanonische“ Theorie oder Philosophie des Nationalsozialismus gibt es nicht, und das macht auch die Zugänge zu den geistesgeschicht­ lichen Voraussetzungen dieses Phänomens zu einem Problem. Und noch ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Gemeint ist ein gewisser „Binnenpluralismus“ innerhalb der von den zentralen Ideologen und Hauptinterpreten des Nationalsozialismus vertretenen Ideen. Seit FrankLothar Krolls grundlegender Untersuchung über die verschiedenen Erscheinungsformen der nationalsozialistischen Ideologie wissen wir, dass es zwischen den Überzeugungen und Auffassungen nicht nur Hitlers und Rosenbergs, sondern auch Darrés, Himmlers und Goebbels’ im Detail starke Unterschiede gab, die auch bei der Analyse der geistesgeschichtlichen Voraussetzungen dieses Phänomens nicht außer Acht gelassen werden dürfen24. Immerhin lassen sich im Rahmen dieser Interpretation wenigstens zwei zentrale Merkmale feststellen, die allen Ausprägungen inhärent gewesen sind, nämlich die Tendenz zur grundlegenden zukunftsweisenden „Erneuerung“ und zur „Utopie“ der Schaffung eines „neuen Menschen“ und einer „neuen Welt“. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass in Zweifelsfällen den weltanschaulichen Positionen Hitlers immer ein Primat zukam, was durch die Tatsache noch erleichtert wurde, dass gerade „sie infolge ihres weitmaschigen und in vielen Fällen auf präzise inhaltliche Festlegung bewußt Verzicht leistenden Bezugssystems Raum für die Aufnahme unterschiedlicher Weltanschauungsziele boten und sich insofern […] zumindest partiell als eine Art ‚Integrationsideologie‘ “25 innerhalb des Nationalsozialismus erwiesen. Dies alles also macht es schwierig, sich mit den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus zu befassen. Doch auch wenn der Nationalsozialismus keine einheitliche, gültige und damit politisch verbindliche, gar noch gedanklich und geistesgeschichtlich stringente Theorie entwickelt hat, sondern sich eher als ein eklektisches Ideologiegebäude erweist, sollte man nicht den Fehler machen, das Denken Hitlers und seiner Mitkämpfer einfach mit Joachim Fest als bloßen ideologischen Müll oder geistesgeschichtlich belanglosen „Ideenschutt“ abzutun26,

24  Frank-Lothar Kroll, Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn/München/Wien/Zürich 1998. 25  Ebenda, S. 310. 26  Vgl. Joachim Fest, Hitler  – Eine Biographie, Frankfurt  a.  M./Berlin/Wien 1973, S. 287–313, bes. S. 296 („Ideenschutt“); in der Grundtendenz ähnlich: Lucien Febrve, Der Nationalsozialismus  – eine Doktrin?, in: derselbe, Das Gewissen des Historikers, hrsg. v. Ulrich Raulff, Frankfurt a. M. 1990, S. 109–112 (eine 1939 pu-



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denn damit machte man es sich letzten Endes zu einfach27. Es ist, was diesen Aspekt anbetrifft, Ernst Nolte zuzustimmen, der bereits 1963 bemerkte, es sei zwar „richtig, daß sich für nahezu jede These Hitlers zahlreiche Parallelen in der deutschen politischen Vulgärliteratur finden lassen. Zur Ganzheit zusammengefaßt, bilden sie gleichwohl ein Ideengebäude, dessen Folgerichtigkeit und Konsistenz den Atem verschlägt“28. Nicht zuletzt macht die ungeheure und in ihren Konsequenzen historisch beispiellos destruktive Kraft, die gerade von diesen Ideen und den aus ihnen abgeleiteten Handlungsnormen ausgegangen ist, eine nähere Untersuchung ihrer Voraussetzungen zu einer unabweisbaren Notwendigkeit. Dabei bietet es sich an, gerade nicht mehr den Weg der großen geistesgeschichtlichen Ableitung zu beschreiten, sondern viel eher den Blick auf einzelne unterschiedliche, aber prägende und folgereiche ideenpolitische Leitgedanken und Denkmotive zu richten. Dies soll im Folgenden anhand von acht ausgewählten, besonders kennzeichnenden und zentralen dieser Motive versucht werden  – freilich ohne den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Zuerst einmal sollte ausdrücklich klargestellt werden, dass es sich beim Nationalsozialismus, trotz vieler einzelner vermeintlich „atavistischer“ Details, um eine genuin moderne politische Ideologie gehandelt hat, also um ein – wie gesagt: begrenzt konsistentes – politisches Ideengebilde, das ganz auf die Zukunft hin orientiert war und konsequent utopistische Züge trug29. Der radikal-biologistische politische Naturalismus, die Erhebung von Volk und Rasse zu politischen Leitkategorien, das Zukunftsprogramm der Lebensraumeroberung in gigantischen Ausmaßen, die Ausschaltung jahrhundertelang überlieferter europäischer Ordnungsvorstellungen und Wertsysteme, die Abwendung vom traditionellen Staatsverständnis und ebenfalls von freiheitlichen Partizipations- und Machtbeschränkungsideen, endlich auch die rigorose Verneinung der zweitausendjährigen christlichen Tradition Europas verweisen hinlänglich auf die genuin modernen Wurzeln und Ziele des Nationalsozialismus. blizierte Auseinandersetzung mit dem Buch von Edmond Vermeil, Les Doctrinaires de la Révolution allemande, Paris 1939). 27  So auch Barbara Zehnpfennig, Hitlers ‚Mein Kampf‘  – Eine Interpretation, 3. Aufl. München 2006, die hierzu anmerkt (ebenda, S. 31): „Vielleicht liegt eine gefährliche Unterschätzung der Brisanz des Hitler’schen Denkens in einer derartigen Konzentration auf seine oft abstoßende, oft triviale Erscheinungsweise“. 28  Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action française  – Der italienische Faschismus  – Der Nationalsozialismus (1963), 5. Aufl. München/Zürich 1979, S. 55. 29  Vgl. Kroll, Utopie als Ideologie (Anm. 24), bes. S. 311  f. u. passim, sowie Eberhard Jäckel, Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, erw. u. überarb. Neuausgabe, Stuttgart 1981, S. 29 ff., 55 ff. u. passim.

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Dem entspricht es, dass einige zentrale Denkmotive, die später – unter freilich sehr veränderten Bedingungen  – in der nationalsozialistischen Ideologie wirksam wurden, bereits erstmals im 18. Jahrhundert zu finden sind, dem Jahrhundert der Aufklärung also, in dem die moderne Welt mit allen ihren Widersprüchen ihren Ausgang genommen hat. Die Idee einer engen Einheit von Herrscher und Beherrschten, die später in Hitlers Idee eines vom „Führer“ geeinten und geführten „Volkskörpers“ gipfelte, findet sich bereits – wenigstens dem Ansatz nach – in den Auffassungen eines heute fast vergessenen politischen Schriftstellers der französischen Spätaufklärung: Simon Nicolas Henri Linguet (1736–1794). Die Erscheinung dieses merkwürdigen Denkers fällt aus allen gängigen Kategorien jener Epoche vollkommen heraus30, denn er bekämpfte in seinen Schriften, vor allem in seiner „Theorie des lois civiles“, der Untersuchung „Du plus heureux gouvernement“ und in den etwas späteren „Lettres sur la théorie des loix civiles“31, nicht nur sehr scharf die überkommenen Institutionen des französischen Ancien Régime wie Adel, Kirche, überhaupt die Stände und die „parlements“  – mit der Ausnahme allerdings des absoluten Königtums –, sondern er attackierte mit ebensolcher Heftigkeit auch die demokratischen und frühliberalen Ideen jener Zeit. Zu den Hauptzielscheiben seiner Invektiven zählten keineswegs nur Rousseau und die radikalen „philosophes“, sondern vor allem auch Montesquieu32 und alle diejenigen, die in der damaligen britischen Verfassung ein politisches Ideal sehen zu können meinten33. Linguet suchte in der Tat, wie treffend gesagt worden ist, „mit rascher Hand […] alle die Lieblingslehren der Zeit zu zerstören und auch die Hoffnungen, welche sie auf die Zukunft setzten“34.

30  Zu Linguet siehe pars pro toto: H[arold] R[ichard] G[oring] Greaves, The Political Ideas of Linguet, in: Economica 10 (1930), S. 40–55; Hans Ulrich Thamer, Revolution und Reaktion in der französischen Sozialkritik des 18. Jahrhunderts. Linguet, Mably, Babeuf, Frankfurt a. M. 1973, S. 37–53; Henry Vyverberg, Limits of Nonconformity in the Enlightenment: The Case of Simon-Nicolas-Henri Linguet, in: French Historical Studies 6 (1969/70), S. 474–491; Daniel Baruch, Simon ­Nicholas Henri Linguet ou l’Irrécupérable, Paris 1991. 31  Simon Nicholas Henri Linguet, Théorie des Lois Civiles ou Principes Fondamentaux de la Société, Londres 1767 (Neuausgabe Paris 1984); derselbe, Du Plus Heureux Gouvernement, ou Parallele des Constitutions Politiques de l’Asie avec celles de l’Europe, Londres 1774; derselbe, Lettres sur la Théorie des Loix Civiles, &c., Amsterdam 1770. 32  Siehe etwa Linguet, Théorie des Lois Civiles (Anm. 31), S. 44 ff. u. passim. 33  Vgl. Linguet, Lettres sur la Théorie des Loix Civiles (Anm. 31), S. 94 ff. 34  Eugen Guglia, Die konservativen Elemente Frankreichs am Vorabend der Revolution. Zustände und Personen, Gotha 1890, S. 373.



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Linguet gerierte sich in seinen Schriften als konsequenter Verteidiger einer absolut verstandenen monarchischen Herrschafts- und Staatsgewalt sowie als entschiedener Kritiker, ja Verächter aller Institutionen, die eben jene Herrschaftsgewalt einschränken konnten, wie etwa der tradi­ tionellen Stände, Parlamente oder eben auch jeder Form einer institutionalisierten Teilung der politischen Gewalten, wohingegen er die damals im allgemeinen strikt perhorreszierte „asiatische Despotie“ nachdrücklich und auf provokative Weise verteidigte. Sein – freilich niemals prägnant umrissenes – politisches Programm scheint in der Vorstellung einer untrennbaren Einheit von König und Volk, von Herrscher und Beherrschten ohne störende Zwischengewalten und in konsequenter Anwendung unbeschränkter, absoluter Herrschaftsgewalt bestanden zu haben. Fraglos würde man Linguet – der übrigens von beiden Regimen verfolgt wurde, der unter Ludwig XVI. jahrelang in der Bastille saß und 1794 von den Jakobinern aufs Schafott geschickt wurde  – eine ihm in dieser Form nicht zukommende Bedeutung zuweisen, wenn man in ihm bereits einen direkten Vorläufer des Faschismus sähe. Aber einen Vorschein des nur wenig später in Frankreich Wirklichkeit werdenden Bonapartismus wird man in seinen Ideen schon erblicken können, denn „sans doute le Bonapartisme existait-il avant Bonaparte“35. Jedenfalls hat Linguet im Kern und im Prinzip wenigstens ein zentrales Motiv späterer Ideologien des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts vorweggenommen: die postulierte Einheit eines mit absoluter Macht versehenen Herrschers mit seinem Volk. Ebenfalls der Spätaufklärung entstammt übrigens die erste, noch sehr rudimentäre, nichtsdestoweniger mit streng wissenschaftlichem Anspruch auftretende und mit großem Aufwand empirisch untermauerte Formulierung der modernen Lehre von der Ungleichheit der menschlichen Rassen. Diese Lehre ist nicht etwa, wie oft behauptet worden ist, erstmals in dem bekannten gleichnamigen Werk des französischen Grafen Arthur de Gobineau aus den Jahren 1855/56 zu finden, sondern bereits bei David Hume, der in seinem Essay „Of National Character“ aus dem Jahr 1742 die Überlegenheit der Weißen gegenüber allen anderen menschlichen Rassen behauptete36. Mit streng wissenschaftlichem Anspruch wurde diese These (eventuell durch Hume angeregt) ein halbes Jahrhundert später in einigen Schriften des Göttinger Historikers, Philo35  Jean Tulard, Aux origines du Bonapartisme: Le culte de Napoléon, in: Le Bonapartisme. Phénomène historique et mythe politique, hrsg. v. Karl Hammer/ Peter Claus Hartmann (Beihefte der Francia, 6), Zürich/München 1977, S. 5–10, hier S. 5. 36  Vgl. David Hume, Politische und ökonomische Essays, hrsg. v. Udo Bermbach, Bd. 1, Hamburg 1988, S. 165 f., Anm. 13.

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sophen und Völkerkundlers Christoph Meiners (1747–1810)37 entwickelt, der in seinem zuerst 1789 (und in zweiter erweiterter Auflage 1793) erschienenen „Grundriß der Geschichte der Menschheit“, gestützt auf das Material von etwa zweihundert zeitgenössischen Reiseberichten und völkerkundlichen Studien38, seine Lehre von zwei hauptsächlichen Stämmen der Menschheit darlegte: einerseits den in seiner Sicht hochwertigen, hellhäutigen, schönen, intelligenten und fleißigen „Kaukasiern“ und andererseits den vermeintlich minderwertigen, dunkelhäutigen, hässlichen, geistig beschränkten und zur Faulheit neigenden „Mongolen“, aus denen sich u. a. die Schwarzafrikaner abgezweigt hätten39. Meiners entwickelt hier eine rassisch untermauerte Kulturstufenlehre, die in vier Stufen von den „Wilden“ über die etwas höher stehenden „Barbaren“ und die „Halb-Aufgeklärten“ endlich zu den „Aufgeklärten“ führt, zu denen selbstredend ausschließlich die Weißen zählen40. Zu den besonders problematischen Schlussfolgerungen der Lehren von Meiners (die hier allerdings nur in äußerster Verkürzung skizziert werden können), zählten u. a. die Thesen, dass auch die Juden in abstammungsmäßiger und kultureller Hinsicht deutlich unter den Weißen stünden41 und dass die Versklavung der Schwarzafrikaner gewissermaßen durch ihre Natur gerechtfertigt sei; die grausamen Praktiken des damaligen Sklavenhandels hat er allerdings mit deutlichen Worten kritisiert42. Aus neueren Forschungen ist bekannt, dass Meiners’ Lehren von späteren An­ thropologen und Rassenforschern, darunter auch von Gobineau, aufgegriffen und weiterentwickelt worden sind43. Als drittes zentrales Denkmotiv der nationalsozialistischen Weltanschauung ist – mit dem zweiten eng verbunden – eine rassenideologisch 37  Friedrich Lotter, Christoph Meiners und die Lehre von der unterschied­lichen Wertigkeit der Menschenrassen, in: Geschichtswissenschaft in Göttingen, hrsg. v. Hartmut Boockmann/Hermann Wellenreuther (Göttinger Universitätsschriften, A 2), Göttingen 1987, S. 30–75. 38  Vgl. Alexander Ihle, Christoph Meiners und die Völkerkunde (Vorarbeiten zur Geschichte der Göttinger Universität und Bibliothek, 9), Göttingen 1931; materialreich, aber in Teilen problematisch: Sabine Vetter, Wissenschaftlicher Reduktionismus und die Rassentheorie von Christoph Meiners. Ein Beitrag zur Geschichte der verlorenen Metaphysik in der Anthropologie, Aachen 1996. 39  Vgl. Christoph Meiners, Grundriß der Geschichte der Menschheit, 2. sehr verbesserte Aufl. Lemgo 1793, S. 29 ff., 59 ff. u. passim. 40  Vgl. ebenda, S.  129–140; vgl. Vetter, Wissenschaftlicher Reduktionismus (Anm. 38), S. 200 f. 41  Vgl. Vetter, Wissenschaftlicher Reduktionismus (Anm. 38), S. 19 f. 42  Vgl. Meiners, Grundriß der Geschichte der Menschheit (Anm. 39), S. 228– 234. 43  Vgl. Vetter, Wissenschaftlicher Reduktionismus (Anm. 38), S. 223–238.



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unterfütterte Geschichtsphilosophie in den Blick zu nehmen, die weniger mit den zutiefst pessimistischen Depravationstheorien eines Gobineau zu verbinden ist, sondern sich auf das Werk des aus Großbritannien stammenden, aber auf dem Kontinent lebenden Kulturphilosophen und Schriftstellers Houston Stewart Chamberlain stützen konnte44. In seinem umfassenden Hauptwerk mit dem Titel „Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts“, veröffentlicht im Jahr 1899, entwickelte Chamberlain erstmals eine vornehmlich auf rassischer Grundlage aufbauende Geschichtsdeutung, deren Grundaxiom in der Überzeugung bestand, dass lediglich die „arisch-germanische Rasse“ als genuin kulturschöpferisch anzusehen sei, während die jüdische Rasse ein hierzu diametral entgegengesetztes, damit genuin destruktives Prinzip verkörpere45. Auf mehr als eintausend Druckseiten entwickelte Chamberlain seine Deutung der neueren abendländischen Geschichte, die, kurz gesagt, einem historischen Dreischritt entspricht: Erstens sei die Entstehung des „Erbes der Alten Welt“, darunter versteht er vor allem Hellenische Kunst und Philosophie, Römisches Recht und das frühe Christentum, im Kern indoeuropäischen oder „arischen“ Ursprungs46. Zweitens versinke diese Welt in der Spätantike als Folge eines durch vermehrte negative Rassenmischung entstandenen „Völkerchaos“ in Dekadenz und Barbarei47, dagegen erschaffe drittens der um die Jahrtausendwende auftretende, selbst wiederum aus „guter“ Rassenmischung entstandene „Germane“ zwischen 1200 und 1800 eine neue Kultur, deren Bedeutung Chamberlain in allen Bereichen von Wirtschaft und Wissenschaft, Politik, Weltanschauung, Religion und Kunst nachzuweisen versucht48. Bedroht wird diese vermeintlich genuin „arisch-germanische“ Kultur durch das als eine Art von Gegenrasse verstandene Judentum, dessen angeblich im „Materialismus“ gipfelndes geistiges Grundprinzip49 dem „idealistischen“ und deshalb kulturschöpferischen Germanentum prinzipiell und grundsätzlich

44  Vgl. Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Wahnfried und die „Grundlagen“: Houston Stewart Chamberlain, in: Propheten des Nationalismus, hrsg. v. Karl Schwedhelm, München 1969, S. 105–123, 290–295; Geoffrey G. Field, Evangelist of Race. The Germanic Vision of Houston Stewart Chamberlain, New York 1981; Udo Bermbach, Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker, Stuttgart/Weimar 2015. 45  Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, Bde. 1–2, 4. Aufl. München 1903. 46  Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 41–251. 47  Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 263–459, Bd. 2, S. 547–644. 48  Vgl. ebenda, Bd. 2, S. 693–1003. 49  Vgl. ebenda, Bd. 1, S. 230 ff. u. a.

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entgegengesetzt sei50. – Diese rassenideologische Kultur- und Geschichtsphilosophie hat nachweislich stärksten Einfluss auf das Denken Hitlers (der Chamberlain noch persönlich begegnet ist) und anderer führender Nationalsozialisten, vor allem Alfred Rosenbergs, ausgeübt51. Als viertes Denkmotiv im Nationalsozialismus ist dasjenige zu nennen, was man wohl am treffendsten als politischen Naturalismus bezeichnen kann52, also der recht grob in politische Kategorien übertragene Sozialdarwinismus, der als ein spezifischer Teilaspekt modernen Denkens um und nach 1900 nicht nur in Deutschland, sondern auch im übrigen Europa sowie in Nordamerika weite Verbreitung gefunden hat53. Der keineswegs nur rein akademisch und wissenschaftlich, sondern ebenfalls weltanschaulich und damit in seiner Konsequenz auch politisch motivierte Darwinismus, der im deutschsprachigen Kulturraum wohl am wirkungsmächtigsten von dem in Jena lehrenden Zoologen und Darwin-Schüler Ernst Haeckel vertreten worden ist, vergröberte und verbreiterte die biologische Abstammungslehre und die hiermit verbundenen Ideen vom „struggle for life“ und vom „survival of the fittest“ zu pseudo-politischen Argumenten. Diese Denkströmung ging im modernen Deutschland nach 1900, wie es Hans-Günter Zmarzlik treffend formulierte, „in der umfassenden Strömung einer Vulgäraufklärung auf […], deren Anhänger auf naturwissenschaftliche Weltdeutung, Fortschrittsglauben und antiklerikale bis antichristliche Gesinnungen eingeschworen waren“54. Jedenfalls ist der Einfluss sozialdarwinistischer Kernthesen und Grundüberzeugungen – wie vor allem die Ideen vom „Kampf ums Dasein“, vom „Rassenkampf“, auch von Menschenzüchtung durch „Rassenhygiene“ und Ähnliches mehr  – auf die Entstehung der nationalsozialistischen 50  Vgl.

ebenda, Bd. 1, S. 463 ff., Bd. 2, S. 693 ff. u. a. dazu neben Field, Evangelist of Race (Anm. 44), S. 407–445, und Bermbach, Houston Stewart Chamberlain (Anm. 44), S. 553–613, auch Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche (Anm. 28), S. 351 ff.; zu Rosenberg siehe Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005, S. 188 ff. 52  Hier folge ich Helmut Kuhn, German Philosophy and National Socialism, in: The Encyclopedia of Philosophy, hrsg. v. Paul Edwards, Bd. 3, New York/London 1967, S. 309–316, bes. S. 309: „Hitler’s thinking was fundamentally pervaded by a crude and unreflective naturalism“. 53  Gute Überblicke bei Hans-Günter Zmarzlik, Der Sozialdarwinismus in Deutschland als geschichtliches Problem, in: derselbe, Wieviel Zukunft hat unsere Vergangenheit? Aufsätze und Überlegungen eines Historikers vom Jahrgang 1922, München 1970, S. 56–85, 262–267; Hannsjoachim W. Koch, Der Sozialdarwinismus. Seine Genese und sein Einfluß auf das imperialistische Denken, München 1973; Markus Vogt, Sozialdarwinismus. Wissenschaftstheorie, politische und theologisch-ethische Aspekte der Evolutionstheorie, Freiburg i. Br./ Basel/Wien 1997. 54  Zmarzlik, Der Sozialdarwinismus in Deutschland (Anm. 53), S. 71. 51  Vgl.



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Weltanschauung kaum zu überschätzen55; gerade in Hitlers Denken ist er auf Schritt und Tritt zu finden56. Ein fünftes, ebenfalls zentrales Element der nationalsozialistischen Ideologie kann im unbedingten Vorrang einer genuin neuen Volksidee vor dem traditionellen Staatsgedanken gesehen werden. In einer der bekanntesten Passagen von „Mein Kampf“ bekannte sich Hitler ausdrücklich zur, wie er sagt, „völkische[n] Weltanschauung“, welche „die Bedeutung der Menschheit in deren rassischen Urelementen“ erkenne. Diese Weltanschauung wiederum sehe „im Staat prinzipiell nur ein Mittel zum Zweck und faßt als seinen Zweck die Erhaltung des rassischen Daseins der Menschen auf“57. Die geistesgeschichtlichen Wurzeln dieser „völkischen“ Ideen sind nun kaum im Volksgedanken der deutschen Romantik oder in der „Volksgeist“-Lehre des deutschen Idealismus bzw. der Historischen Rechtsschule zu suchen, sondern zuerst und vor allem in den Leitgedanken und Konzepten der seit etwa 1890 mächtig aufstrebenden völkischen Bewegung in Deutschland58. Vom oftmals disparaten und schwer zu überschauenden, neuerdings (vor allem in den Arbeiten von Uwe Puschner) erstmals gründlicher erforschten Gedankengut dieser Bewegung führen, von personellen Kontinuitäten einmal abgesehen, viele Linien hin zur nationalsozialistischen Ideologie, darunter vor allem auch ein extrem ausgeprägter Antisemitismus. Der die verschiedenen völkischen Strömungen jedoch einende Grundgedanke, dass nämlich Volk und Rasse rangmäßig über Staat und Individuum einzuordnen seien, zählt ebenfalls zum Grundbestand der nationalsozialistischen politischen Ideenwelt, die damit auch in den abseitigen Ideen der „Völkischen“ des Kaiserreichs einen ihrer wichtigsten geistesgeschichtlichen Vorläufer aufzuweisen hat.

55  Vgl. dazu etwa die knappen Bemerkungen bei Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, 6. Aufl., Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1979, S. 12 ff.; siehe ebenfalls Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche (Anm. 28), S. 348 ff., der in diesem Zusammenhang besonders auf die Bedeutung des (seinerzeit auch ins Deutsche übersetzten) französischen Sozialanthropologen Georges Vacher de Lapouge hingewiesen hat, sowie sowie Karlheinz Weißmann, Der Nationale Sozialismus. Ideologie und Bewegung 1890–1933, München 1998, S. 119 ff. 56  Vgl. hierzu statt vieler nur die Bemerkungen bei Zehnpfennig, Hitlers Mein Kampf (Anm. 27), S. 127 ff. 57  Die Zitate: Adolf Hitler, Mein Kampf (164.–166. Aufl.), München 1935, S. 420 f. 58  Vgl. Uwe Puschner/Walter Schmitz/Justus H.  Ulbricht (Hrsg.): Handbuch zur „Völkischen Bewegung“ 1871–1918, München/New Providence/London/Paris 1996; grundlegende neue Gesamtdarstellung: Uwe Puschner, Die völkische Bewegung im Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001.

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III. Das 20. Jahrhundert: Zwischen Totalitarismus und Demokratie

Vom völkischen Ideengut ist das sechste gedankliche Grundmotiv kaum zu trennen, der rassisch fundierte und begründete Radikalantisemitismus, der innerhalb der nationalsozialistischen Weltanschauung und des Hitlerschen Denkens bekanntlich einen zentralen Rang eingenommen hat. Die geistesgeschichtliche Genese des modernen Antisemitismus ist zu komplex und zu vielstimmig, als dass sie in diesem Zusammenhang auch nur in rudimentärer Weise rekonstruiert werden könnte59; festzuhalten bleibt, dass ebenfalls etwa seit Mitte der 1880er Jahre eine Zunahme antisemitischer Aktion und Propaganda sowie deren ansteigende Radikalisierung festzustellen ist  – ablesbar etwa an den Schriften zweier der wichtigsten antisemitischen Ideologen jener Zeit: Edouard Drumont in Frankreich60 und Eugen Dühring in Deutschland61. Ihren ersten Höhepunkt erreichte die europäische antisemitische Bewegung bekanntlich im Frankreich der Dreyfus-Affäre. Die Wirkungen, die von hier aus auf die frühe nationalsozialistische Bewegung und deren Gedankengut – vermittelt etwa durch Autoren wie Dietrich Eckart  – ausgegangen sind, brauchen im Detail kaum nachgezeichnet zu werden, sie sind in ihren zentralen Aspekten mit Händen zu greifen62. Als siebentes geistesgeschichtliches Zentralmotiv nationalsozialistischer Ideologie ist die entschiedene Gegnerschaft gegen das Christentum zu sehen – auch wenn dieser Aspekt nach 1933 von Propaganda, Parteiund Staatsführung aus politisch-taktischen Motiven heraus oft zurückgenommen, manchmal sogar geleugnet worden ist. Keine direkte, wohl aber eine indirekt-vermittelte Wirkung der geistesgeschichtlich höchst einflussreichen, an Radikalität kaum zu überbietenden Kritik des Christentums durch Friedrich Nietzsche als Religion der Schwachen, der Schlechtweggekommenen und Ressentimentbehafteten, kann hier als sicher gelten. Das Christentum, heißt es bei ihm an entscheidender Stelle 59  Vgl. statt vieler die erschöpfende Darstellung von Léon Poliakov: Geschichte des Antisemitismus, Bde. 6–8, Worms 1987–1988. 60  Edouard Drumont, La France Juive, Bde. 1–2, Paris 1885–1886. 61  Eugen Dühring, Die Judenfrage als Frage der Racenschädlichkeit für Existenz, Sitte und Cultur der Völker, 3. Aufl. Karlsruhe  – Leipzig 1886; siehe auch Peggy Cosmann, Physiodicee und Weltnemesis. Eugen Dührings physiomoralische Begründung des Moral- und Charakterantisemitismus, Göttingen 2007, sowie die ungedruckte ausführliche Gesamtdarstellung von Dührings Denken durch James Gay, The Blind Prometheus of German Social Science. Eugen Dühring as Philosopher, Economist, and Controversial Social Critic, Diss. Erfurt 2012. 62  Es sei in diesem Zusammenhang nur darauf hingewiesen, dass die ebenso primitive wie wirkungsvolle Fälschung der sogenannten „Protokolle der Weisen von Zion“ bereits 1923 vom nationalsozialistischen „Chefideologen“ Alfred Rosenberg neu herausgebracht worden ist: Alfred Rosenberg, Die Protokolle der Weisen von Zion und die jüdische Weltpolitik, München 1923.



Geistesgeschichtliche Voraussetzungen des Nationalsozialismus435

in der „Götzendämmerung“ von 1888, „stellt die Gegenbewegung gegen jede Moral der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums dar  – es ist die ­antiarische Religion par excellence: […] der Sieg der Tschandala-Werte, das Evangelium der Armen, […] der Gesamt-Aufstand alles Niedergetretenen, Elenden, Mißratenen, Schlechtweggekommenen gegen die ‚Rasse‘ “63. Diese Formulierungen, aus dem komplexen Zusammenhang der Philosophie und Religionskritik Nietzsches herausgerissen, konnten in der Tat nationalsozialistisch rezipiert werden. Hitler selbst hat dies bekanntlich nicht getan, er kannte von Nietzsche vermutlich nur wenig mehr als dessen Namen, doch seine privatim während des Krieges mehrfach geäußerte Auffassung einer historischen Gleichartigkeit von Christentum und Bolschewismus64 steht jedenfalls in einer geistesgeschichtlichen Traditionslinie, die sich unter anderem auch von Nietzsche herleiten lässt. Achtens und letztens schließlich ist ein Gedankenmotiv der nationalsozialistischen Ideologie hier anzuführen, das in diesem Zusammenhang meistens nicht erwähnt wird, das aber ebenfalls wichtig und wirksam gewesen ist – vor allem dann, wenn man die wenigstens zeitweilig bedeutende Anziehungskraft dieser Idee auf bestimmte deutsche Intellektuelle und Gelehrte des frühen 20. Jahrhunderts verstehen möchte. Es handelt sich um die Idee eines durchaus welthistorisch zu verstehenden, aber allein von Deutschland ausgehenden „dritten Weges“ zwischen Ost und West, d. h. zwischen einer in gleicher Weise als nivellierend und in letzter Konsequenz kulturzerstörend angesehenen, angelsächsisch geprägten „westlichen“ Zivilisation einerseits und „östlichem“ russischem Despotismus, ja letztlich asiatischer Barbarei andererseits. Diese Überzeugung eines von der deutschen Kultur geprägten „wahren Weges“ der Welt und der Menschen in die Zukunft hat  – ungeachtet einzelner Vorläufer aus der Zeit vor 1914  – vor allem im Ersten Weltkrieg einen bedeutenden Aufschwung erlebt; sie gehört zu den tragenden Konzepten der sog. „­Ideen von 1914“. Sogar bei politisch gemäßigten Geistern wie Max Weber ist die  – von ihm einmal im Jahr 1916 formulierte  – Auffassung zu finden, Deutschland müsse schon deshalb siegen, weil es in diesem Krieg um nichts weniger als um die künftige „Gestaltung der Kultur der Erde“ gehe, und die zivilisierte Menschheit dürfe nun einmal nicht vor die Alternative zwi63  Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerrung (1888), in: derselbe, Werke, hrsg. v. Karl Schlechta, Bd. 2, München 1969, S. 982. 64  Vgl. dazu vor allem Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941– 1944. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims, hrsg. v. Werner Jochmann, München 1980, S. 41, 96–99, 134, 150, 152, 236, 322.

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III. Das 20. Jahrhundert: Zwischen Totalitarismus und Demokratie

schen „angelsächsische[r] Konvention“ und „russische[r] Bürokratie“65 gestellt werden. In wesentlich verschärfter Form findet sich eben dieser Gedanke vor und nach 1933 bei verschiedenen geistesgeschichtlich gewichtigen Autoren: „Kapitalismus und Sozialismus“ seien, befand etwa Ernst Jünger 1930 in seinem Aufsatz „Die totale Mobilmachung“, eigentlich nur „Gegensätze untergeordneter Art, sie sind zwei Seiten der großen Kirche des Fortschritts, die sich hier vertragen und dort in erbittertem Kampfe stehen. Keine aber durchbricht die Grenzen des gemeinsamen Glaubensraumes“66. Und Oswald Spengler bemerkte in seiner letzten Schrift „Jahre der Entscheidung“, erschienen im Sommer 1933, dass der amerikanische „Dollarimperialismus, der […] überall die westeuropäische […] Wirtschaft zu untergraben und auszuschalten sucht, […] mit seiner Einordnung der politischen Macht in wirtschaftliche Tendenzen“ und ebenfalls mit seiner allgemeinen Nivellierung „genau dem bolschewistischen“ gleiche67. Martin Heidegger stellte 1935 in seiner später berühmt gewordenen Vorlesung „Einführung in die Metaphysik“ auch unter Bezugnahme auf Gedanken Nietzsches die Frage nach dem künftigen Schicksal des Abendlandes: „Dieses Europa, in heilloser Verblendung immer auf dem Sprunge, sich selbst zu erdolchen, liegt heute in der großen Zange zwischen Rußland auf der einen und Amerika auf der anderen Seite. Rußland und Amerika sind beide, metaphysisch gesehen, dasselbe; dieselbe trostlose Raserei der entfesselten Technik und der bodenlosen Organisation des Normalmenschen“68; nur aus der Mitte Europas heraus, also aus 65  Max Weber, Deutschland unter den europäischen Weltmächten (1916), in: derselbe, Gesammelte politische Schriften, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 4. Aufl. Tübingen 1980, S. 157–177, hier S. 176; dazu auch Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, 2. Aufl. Tübingen 1974, S. 206–304, bes. S.  220 ff. 66  Ernst Jünger, Die totale Mobilmachung (1930), in: derselbe, Politische Publizistik 1919 bis 1933, hrsg. v. Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 558–582, hier S. 578; vgl. auch Heimo Schwilk, Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben, München/ Zürich 2007, S. 340–352. 67  Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung. Erster Teil: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung, München 1933, S. 49; vgl. dazu auch Anton Mirko Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, S. 441–447. 68  Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik (1935), 5. Aufl. Tübingen 1987, S. 28; zum geistesgeschichtlich-politischen Zusammenhang der Kulturkritik Heideggers siehe auch Daniel Morat, Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Georg Jünger 1920– 1960, Göttingen 2007, S. 105–142; aufschlussreich zu einigen Motiven und Quellen von Heideggers Amerikabild: Heinz Dieter Kittsteiner, Heideggers Amerika als Ursprungsort der Weltverdüsterung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45 (1997), S. 599–617.



Geistesgeschichtliche Voraussetzungen des Nationalsozialismus437

Deutschland könne „die große Entscheidung über Europa“ fallen – eben „durch die Entfaltung neuer geschichtlich geistiger Kräfte aus der Mitte“.69 Den Nationalsozialismus deutete Heidegger dabei – wenn auch, wie ausdrücklich gesagt werden muss, nur zeitweilig  – als genuine und berechtigte Gegenbewegung sowohl gegen den kapitalistischen als auch gegen den bolschewistischen Nihilismus. Es ist in der Tat erstaunlich, dass dieser Gedanke bis in die letzte Kriegszeit hinein immer wieder als eine Art von retrospektiver geschichtsphilosophischer Legitimation des Nationalsozialismus aufgefasst worden ist, so etwa noch 1943 von Carl Schmitt, der in seinem Aufsatz über die „letzte globale Linie“ bemerkt, heute verteidige sich „die Sub­ stanz Europas“ gegen die „raum- und grenzenlosen Imperialismen des kapitalistischen Westens und des bolschewistischen Ostens“70 sowie gegen den Anspruch des einen wie des anderen, der Eigenständigkeit des Großraums Europa buchstäblich den Boden zu entziehen, – oder bei dem Philosophen Alfred Baeumler, der im gleichen Jahr die „verhängnisvolle Einwirkung, die der Universalismus auf die Entwicklung der Nationen ausgeübt hat“71, beschwor und noch 1944 im Bolschewismus lediglich einen „reformierte[n], fortgeschrittene[n] Amerikanismus“72 zu erkennen meinte – mit der jeweils gleichen, in seiner Sicht grauenerregenden Perspektive einer „Verwandlung der Welt in einen kollektivistischen Groß­ betrieb“73.

69  Heidegger,

Einführung in die Metaphysik (Anm. 68), S. 29. Schmitt, Dier letzte globale Linie (1943), in: derselbe, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hrsg. v. Günter Maschke, Berlin 1995, S. 441–448, hier S. 447; freilich ist Schmitts Argumentation im vierten Kriegsjahr deutlich anders akzentuiert und bereits wesentlich defensiver angelegt als diejenige Heideggers von 1935, denn es heißt weiter (ebenda): „Der globalen Einheit eines planetarischen Imperialismus – mag er nun kapitalistisch oder bolschewistisch sein – steht eine Mehrheit sinnerfüllter, konkreter Großräume gegenüber. Ihr Kampf ist zugleich ein Kampf […] um die Frage, ob es überhaupt noch eine Koexistenz mehrerer selbständiger Gebilde auf unserem Planeten geben soll oder nur noch die von einem einzigen ‚Herrn der Welt‘ konzedierten dezentralisierten Filialen regionaler oder lokaler Art“. 71  Alfred Baeumler, Weltdemokratie und Nationalsozialismus. Die neue Ordnung Europas als geschichtsphilosophisches Problem, Berlin 1943, S. 17. 72  Aus Baeumlers ungedrucktem Manuskript „Antikapitalistisches Manifest“ von 1944, zitiert nach Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Bde. 1–2, Berlin 2002, hier Bd. 2, S. 1153. 73  Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie (Anm. 72), Bd. 2, S. 1154. 70  Carl

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III. Das 20. Jahrhundert: Zwischen Totalitarismus und Demokratie

III. Diese im Vorangegangenen nur jeweils sehr knapp nachgezeichneten acht mehr oder weniger zentralen gedanklichen Motive des nationalsozialistischen Ideenkonglomerats – die Vorstellung einer untrennbaren Einheit von Führer und Volk, sodann die Überzeugung von der prinzipiellen Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Menschenrassen, die Idee eines rassisch determinierten Ablaufs der Geschichte, der sozialdarwinistisch grundierte politische Naturalismus, die Überzeugung vom grundsätz­ lichen Vorrang von Volk und Rasse vor Staat und Individuum, der Radikalantisemitismus, die diffamierende Abwertung des christlichen Wertesystems, endlich die Idee der welthistorischen deutschen Aufgabe einer Rettung der Menschheit vor der verderblichen Alternative einer angelsächsisch-kapitalistischen oder asiatisch-bolschewistischen Barbarei  – sie alle lassen sich in geistesgeschichtlicher Perspektive mehr oder weniger klar verorten, sie alle wurzeln in Gedanken, Ideen und Überzeugungen, die sich seit der Aufklärungsepoche bis etwa in die Zeit des Ersten Weltkriegs hinein gebildet haben, sie alle waren, wenn auch manchmal nur in rudimentärer Form, zuweilen lediglich in Andeutungen, bereits vor Hitler und vor der eigentlichen Herausbildung der nationalsozialistischen Weltanschauung vorhanden. Es bleibt in jedem Fall festzuhalten, dass alle diese zentralen Ideologiebestandteile, diese Ideologeme des Nationalsozialismus sich seit Beginn der Moderne, seit dem 18. Jahrhundert herausgebildet haben und dass eben jene Ideologie mit den Grundmotiven ihrer radikalen Traditionsfeindschaft, ihrer konsequenten Zukunftsorientierung, ihrem genuinen Antiindividualismus und Antiliberalismus, endlich auch ihrem ebenso entschieden antimetaphysischen und religionsfeindlichen, in seinen Konsequenzen extrem brutalen politischen Naturalismus etwas nach Form und Inhalt vollkommen Neues gewesen ist, ein Phänomen der modernen, durchrationalisierten und durchtechnisierten Welt, das nichts, aber auch gar nichts zu tun hat mit den traditionellen politischen Ordnungen und den Lebenswelten des vorrevolutionären alten Europa. Und noch etwas anderes sollte nicht vergessen werden: Manche der einzelnen Ideenbausteine, die mit zur Grundausstattung des nationalsozialistischen Ideenkonglomerats gehörten, konnten als solche und für sich gesehen noch nicht unbedingt als gefährlich oder verderblich aufgefasst werden: Die Überzeugung, es könne ein Mittelweg zwischen Kapitalismus und Kommunismus gefunden werden, gehört ebenso dazu wie die Idee vom Vorrang des Volkes vor dem Staat. Die eigentliche politische Brisanz dieser Gedanken entstand erst durch ihre Kombination, also durch die Mischung vieler, teilweise ausgesprochen heterogener Einzel-



Geistesgeschichtliche Voraussetzungen des Nationalsozialismus439

bestandteile zu einer neuen Gesamtideologie  – die sich genau dann, als die Möglichkeit der realen Umsetzung ihrer politischen Ziele entstand, in ihren Konsequenzen absolut verheerend auswirken sollte. Gerade vor dem Hintergrund dieser Tatsache, dieser überaus bitteren historischen Erfahrung erwächst aber immer noch die Notwendigkeit einer möglichst präzisen Analyse dieser Ideen und damit ebenfalls einer weiteren, noch genaueren Erforschung der geistesgeschichtlichen Voraussetzungen des Nationalsozialismus.

Nachweis der Erstveröffentlichungen 1. Kriegsfolgenbewältigung und ‚Peuplierung‘ im Denken deutscher Kameralisten des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Matthias Asche/Michael Herrmann/Ulrike Ludwig/Anton Schindling (Hrsg.): Krieg, Militär und Migration in der Frühen Neuzeit (Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit, 9), Münster/Berlin 2008, S. 265–279. 2. Fürstenlehre und Spätaufklärung in Preußen  – Johann Jakob Engels Kronprinzenvorträge für Friedrich Wilhelm III. aus dem Jahr 1791, in: Klaus Hildebrand/Udo Wengst/Andreas Wirsching (Hrsg.): Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Von der Aufklärung bis zur Gegenwart – Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Möller, München 2008, S. 33–50. 3. Kontinuität und Reform  – Zur Geschichte des politischen Denkens in Deutschland zwischen Spätaufklärung und Romantik, in: Politisches Denken – Jahrbuch 2014, Berlin 2014, S. 183–203. 4. Andreas Riems Darstellung und Kritik der Verfassung von England, in: Karl H. L. Welker (Hrsg.): Andreas Riem  – Ein Europäer aus der Pfalz (Schriften der Siebenpfeiffer-Stiftung, Bd. 6), Stuttgart 1999, S. 147–170. 5. Ernst Brandes und der deutsche Zeitgeist um 1800, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), S. 308–328. 6. Die Jenaer Frühromantik und ihre Kritik der Moderne, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 47 (1995), S. 205–230. 7. Politisches Denken der deutschen Spätromantik, in: Literaturwissenschaft­ liches Jahrbuch 38 (1997), S. 111–146; auch in: Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus, Liberalismus, Sozialismus, hrsg. v. Bernd Heidenreich, 2. völlig neu bearb. Aufl., Berlin 2002, S. 33–69. 8. Heiliger Befreiungskampf? Sakralisierende Kriegsdeutungen 1813–1815, in: Historisches Jahrbuch 134 (2014), S. 44–60. 9. Jacob Grimm – Wissenschaft und Politik, in: Bernd Heidenreich/Ewald Grothe (Hrsg.): Kultur und Politik  – Die Grimms, Frankfurt a. M. 2003, S. 149– 178. 10. Machtwechsel, Legitimität und Kontinuität als Probleme des deutschen politischen Denkens im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Politik 45 (1998), S. 49–68. 11. Vom Traditionsstand zum Funktionsstand. Bemerkungen über ‚Stände‘ und ‚Ständetum‘ im deutschen politischen Denken des 19. Jahrhunderts, in: Roland Gehrke (Hrsg.): Aufbrüche in die Moderne – Frühparlamentarismus zwischen altständischer Ordnung und monarchischem Konstitutionalismus



Nachweis der Erstveröffentlichungen441 1750–1850. Schlesien  – Deutschland  – Mitteleuropa (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte, Bd. 12), Köln/Weimar/Wien 2005, S. 13–44.

12. Parlamente und Parteien in liberalen und konservativen deutschen Staatslexika des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 40 (2018), S. 16–26. 13. Wilhelm Hasbach: Theorie und Kritik der modernen Demokratie, in: Detlef Lehnert (Hrsg.): „Das deutsche Volk und die Politik“. Hugo Preuß und der Streit um „Sonderwege“ (Historische Demokratieforschung, 12), Berlin 2017, S. 109–128. 14. Demokratiekritik und antidemokratisches Denken in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Ivan Jordovi´c/Uwe Walter (Hrsg.): Feindbild und Vorbild. Die athenische Demokratie und ihre intellektuellen Gegner (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F., 74), Berlin/Boston 2018, S. 311–327. 15. „Untergang des Abendlandes“  – Russland im Geschichtsdenken Oswald Spenglers, in: Gerd Koenen/Lew Kopelew (Hrsg.): Deutschland und die Russische Revolution 1917–1924 (West-östliche Spiegelungen, R. A, Bd. 5), München 1998, S. 277–312. 16. Das Geheime Deutschland  – Zur Geschichte und Bedeutung einer Idee, in: Historische Zeitschrift 291 (2010), S. 385–417 [Text der am 28.  Mai 2009 an der Universität Passau gehaltenen Antrittsvorlesung]. 17. Über einige geistesgeschichtliche Voraussetzungen des Nationalsozialismus, in: Manuel Becker/Stephanie Bongartz (Hrsg.): Die weltanschaulichen Grundlagen des NS-Regimes  – Ursprünge, Gegenentwürfe, Nachwirkungen. Tagungsband der XXIII. Königswinterer Tagung im Februar 2010 (Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 20.  Juli 1944 e.  V., Bd. 15), Berlin 2011, S. 21–40.

Personenregister Abbt, Thomas  110 Abusch, Alexander  422 Ahrens, Heinrich  285 f. Aksakow, Iwan  362 Alexander der Große König von Makedonien  359 Alexander I. Zar von Russland  176, 201, 374 Alexander II. Zar von Russland  378 Althoff, Friedrich  311, 313–315 Ancillon, Johann Peter Friedrich  60 Angelus Silesius (Johannes Scheffler)  140 Archenholz, Johann Wilhelm von  69, 74, 92 f. Archimedes  359 Aretin, Johann Christoph von  275 Aristoteles  245, 322 Arminius  232 Arndt, Ernst Moritz  98, 107, 200, 202 f., 271, 410–413 Arnim, Achim von  162 Arnim, Bettina von  133, 162

Becher, Johann Joachim  6–9

Baader, Franz von  161, 165 f., 170, 172, 176, 181, 187 f., 190–194, 352 Bachofen, Johann Jakob  135 Bacon, Francis  143 Baeumler, Alfred  134–136, 220, 437 Bakunin, Michail  378 Baltzer, Armin  349 f., 380 Basedow, Johann Bernhard  111 f. Baudelaire, Charles  136 Bauer, Bruno  352 Baumann, Christian Jacob  10 Baur, Wilhelm  208 Baxa, Jakob  159

Boehlich, Walter  217

Beck, Christian August  48 Becket, Thomas  82 Becking, Gustav  359 Beckmann, Johann  13 Behler, Ernst  136 f. Bell, William  12 Below, Georg von  132, 158 Benjamin, Walter  135 f. Benn, Gottfried  391 Benzenberg, Johann Friedrich  58, 60, 273 Bertram, Ernst  392 Beyme, Karl Friedrich von  24 Bèze, Theodore de  245 Biedermann, Karl  303 f. Bielfeld, Jakob Friedrich von  12–14, 17, 49, 54 Bismarck, Otto von  289 f., 298, 344 Blackstone, William  73, 86, 88 Bluntschli, Johann Caspar  245, 258, 299 Böckenförde, Ernst-Wolfgang  163 Bohrer, Karl Heinz  135–137 Boisserée, Sulpiz  232 Bonald, Louis Gabriel Ambroise de  56, 186 Bonn, Moritz Julius  346 Boris Godunow Zar von Russland  363 Brandes, Ernst  54–56, 58, 67 f., 92, 98–126 Brandes, Georg  157 Brandes, Georg Friedrich  99 Brater, Karl  299

Personenregister443 Brendel, Sebald  275 Brentano, Clemens  162 Brentano, Lujo  315, 317 Breysig, Kurt  392 Brückner, Alexander  365 Brunner, Otto  264 Bryce, James  322 Buchheim, Karl  421 f. Bülau, Friedrich  209 Bürger, Gottfried August  110 Büsch, Johann Georg  110 Burckhardt, Jacob  339 Burgh, James  73 Burke, Edmund  64, 73, 87, 100, 116, 172, 246, 262, 405

Descartes René  143, 359

Callender, James Thomson  72 f. Calvin. Johannes  82 Carlyle, Thomas  188, 352 Chalmers, George  73 Chamberlain, Houston Stewart  338 f., 425, 431 f. Chateaubriand, François-René de  248 Claß, Heinrich  337 Clausewitz, Carl von  413 Conring, Hermann  5 Constant, Benjamin  188, 248 Craig, Gordon  131, 135, 158 Croce, Benedetto  129 f., 158 Curtius, Ludwig  359

Elster, Ludwig  13, 18, 316

Disraeli, Benjamin  189 Donoso Cortés, Juan  352 Dostojewskij, Fjodor  362, 364, 367–370, 381 Droysen, Johann Gustav  209 Drumont, Edouard  434 Dschingis Khan  377 Dühring, Eugen  434 Eberhard, Johann August  25 Eckart, Dietrich  434 Eggers, Christian Ulrich Detlev von  53 Eichendorff, Joseph von  162, 165, 168, 173, 178–180, 192–194 Engel, Ernst  313 Engel, Johann Jakob  21–41 Engels, Friedrich  423 Ernst August I. König von Hannover  224 f., 227 Fahrner, Rudolf  392, 408–414, 416 f. Fénelon, François  245 Fest, Joachim  158, 386, 426 Fichte, Johann Gottlieb  30, 32, 54, 128, 135, 141, 144, 421 Fouqué, Friedrich de la Motte  162 Frank, Erich  359 Franz I. Kaiser von Österreich  176 Freud, Sigmund  351

Dacheröden, Caroline von (siehe Humboldt) Dahlmann, Friedrich Christoph  58, 223, 237, 249, 276 Dalberg, Carl Theodor von  80 Danilewskij, Nikolai  352 Dante Alighieri  369 Darjes, Johann Georg  12, 15 f. Darré, Richard Walther  426 Darwin, Charles  432 Delbrück, Hans  322, 342

Freyer, Hans  244 Freytag, Gustav  210 Friedrich II. Kaiser  401–404 Friedrich III. Kaiser  323 Friedrich der Große König von Preußen  18, 23, 25, 48 f., 106–108, 123 f., 210, 421 Friedrich Wilhelm I. König von Preußen  106, 151 Friedrich Wilhelm II. König von Preußen  24–26, 108

444 Personenregister Friedrich Wilhelm III. König von Preußen  22, 24, 26–28, 36, 39 f., 151 f., 176, 199, 267, 414 Friedrich Wilhelm IV. König von Preußen  160, 228, 254 Fuhrmann, Martin  20 Garve, Christian  23, 25 Gauß, Carl Friedrich  359 Gentz, Friedrich  102, 200, 262, 272, 274, 278 Georg I. König von Großbritannien  89 Georg III. König von Großbritannien  83, 323 George, Stefan  390–412, 415–418 Gerlach, Ernst Ludwig von  237 f., 251 f., 255, 257–259 Gerlach, Leopold von  237 f. Gervinus, Georg Gottfried  232 Gierke, Otto von  343 f. Gneisenau, August Neidhardt von  410–414 Gobineau, Arthur de  429–431 Goebbels, Joseph  426 Görres, Joseph  161, 169, 173, 175–177, 180 f., 184, 186, 192, 194, 200, 202, 206 f., 209, 218, 280–282 Goethe, Johann Wolfgang von  23, 59, 110, 120, 128, 141, 232, 238, 354 f., 400, 411, 420 Goldsmith, Oliver  74 Gorki, Maxim  372 Goyon de La Plombanie, Henri de  12 Gregor von Tours  363 Grimm, Herman  219 Grimm, Jacob  214–239 Grimm, Wilhelm  215, 225, 228, 235, 238 Groeger, Wolfgang E.  365, 375 Grünewald, Eckhart  402 Guizot, François  324 Gundolf, Friedrich  392, 395, 410, 412

Haeckel, Ernst  363, 432 Häusser, Ludwig  210 Haller, Albrecht von  49, 54 Haller, Carl Ludwig von  178, 250 f., 257, 300 Hamann, Johann Georg  160 Harden, Maximilian (Felix Ernst Witkowski)  319 Hardenberg, Carl August Fürst von  57, 269, 271 Hasbach, Wilhelm  311–331, 335–337, 341 f., 346 Hass, Martin  40 Hassenpflug, Ludwig  223, 227, 237 Haxthausen, August von  352 Hebbel, Friedrich  390 Heeren, Arnold Hermann Ludwig  102, 109 Hegel Georg Wilhelm Friedrich  107, 128, 185, 197, 207 f., 213, 267, 281 f., 420, 423 Heidegger, Martin  351, 422, 436 f. Heine, Heinrich  129, 157, 390 Heller, Hermann  346 Hellingrath, Norbert von  392, 397 Herder, Johann Gottfried  43, 110, 118, 128, 160, 188, 219, 400, 425 Herrfahrdt, Heinrich  346 Hertzberg, Ewald Friedrich von  12, 18, 48 f. Herzen, Alexander  352 Heß, Ludwig von  12, 17 Hettner, Hermann  134 Heuß, Alfred  45, 423–425 Heuss, Theodor  346 Hieronymus  243 Hildebrandt, Kurt  392 Himmler, Heinrich  426 Hintze, Otto  311, 334, 336, 342, 346 Hippel, Theodor Gottlieb von  200 Hitler, Adolf  347, 376, 386 f., 399, 414, 416 f., 422, 425–428, 432–435, 438 Hobbes, Thomas  143

Personenregister445 Hölderlin, Friedrich  390, 394, 397 f., 400 f., 403, 411 f., 415, 417 Hoffmann, Friedrich  318 Hoffmann, Peter  386 Huber, Ernst Rudolf  237, 292 Huch, Ricarda  158 Hüllmann, Karl Dietrich  273 Humboldt, Alexander von  23, 128 Humboldt, Caroline von  24, 390 Humboldt, Wilhelm von  23 f., 128, 218, 280, 323, 387 f., 390 Hume, David  74, 429 Ibsen, Henrik  368 f. Iwan IV. der Schreckliche Zar von Russland  363 Jacobi, Friedrich Heinrich  160 Jakob I. König von Großbritannien  323 Jarcke, Carl Ernst  253, 255, 278 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter)  128, 400, 411 Jellinek, Georg  260 f. Jérôme Bonaparte  216 Jesus Christus  370, 373 Joël, Karl  359 Johnson, Samuel  73 Joseph II. von Habsburg-Lothringen, Kaiser  48, 55, 108 f., 124 Jünger, Ernst  436 Jung, Edgar Julius  344–347 Jung-Stilling, Johann Heinrich  12, 16 Justi, Johann Heinrich Gottlieb  12 f., 16 f. Kaerrick, Less (Elisabeth)  364 Kant, Immanuel  22, 25, 31, 35, 43, 102, 113, 115, 118 f. Kantorowicz, Ernst H.  46, 244, 392, 400–408, 415 f., 418 Karamsin, Nikolai  363

Karl der Große fränkischer Kaiser  363 Karl I. König von Großbritannien  323 Karl V. deutscher Kaiser  175 Karlauf, Thomas  386 Kautsky, Karl  316 Ketteler, Wilhelm Emmanuel Freiherr von  188 Kierkegaard, Sören  136 Kirejewskij, Iwan  352 Klages, Ludwig  392 Klein, Ernst Ferdinand  267 Kleist, Heinrich von  131, 411 Klopstock, Friedrich Gottlieb  42, 110, 160, 400 Kluckhohn, Paul  131, 158 Körner, Theodor  198 Koktanek, Anton Mirko  367 Kommerell, Max  392, 400–403, 409, 411 Konrad I. deutscher König  175 Koselleck, Reinhart  264 Kriwulin, Wiktor  348, 384 f. Kroll, Frank-Lothar  160, 426 Krünitz, Johann Georg  15 f. Krug, Wilhelm Traugott  274 f. Küntzel, Georg  40 Lachmann, Karl Lagarde, Paul de  131, 391, 404 Lancizolle, Carl Wilhelm von  278 f. Langbehn, Julius  391, 404 Lasaulx, Ernst von  353 f. Lau, Theodor Ludwig  8 f., 18 Law, John  123 Lechter, Melchior  392 Leib, Johann George  8 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm  48 Lenin, Wladimir  371–374, 376, 379, 384, 423, 425 Lenz, Friedrich  190 Leo, Heinrich  305

446 Personenregister Lerner, Ralph E.  416 Lessing, Gotthold Ephraim  110, 112, 118 Lessing, Theodor  197 f. Lichtenberg, Georg Christoph  118 Lieber, Moritz  207 Linguet, Simon Nicholas Henri  428 f. Llanque, Markus  321 Ludwig XIV. König von Frankreich  187 f. Ludwig XV. König von Frankreich  323 Ludwig XVI. König von Frankreich  323, 429 Luhmann, Niklas  241, 263–265, 294 Luise, Königin von Preußen  151 f. Lukács, Georg  130 f., 136, 157, 422 f. Luther, Martin  149, 420 f. Machiavelli, Niccolò  121, 174 Mahrholz, Werner  369 Maistre, Joseph de  56, 186, 205–207, 246, 247, 256 Mallarmé, Stéphane  393 Malthus, Thomas Robert  19 f. Mandelstam, Ossip  374 Marat, Jean Paul  116 Marcuse, Herbert  351 Maria Theresia von Habsburg  48 Marwitz, Friedrich August Ludwig  270 f. Marx, Karl  189, 282, 351, 363, 368–370, 372, 423, 425 Masaryk, Thomas Garrigue  365 Maurras, Charles  134, 157 May, Karl  131 Mehnert, Frank  392 Meinecke, Friedrich  420, 423 Meiners, Christoph  268, 430 Meister Eckhart (Eckhart von Hochheim)  140 Mendelssohn, Moses  25

Metternich, Clemens Wenzel Lothar Fürst von  200 Meyer, Eduard  372 Mezger, Edmund  359 Michels, Robert  335, 345 Mill, John Stuart  323 Milukow, Paul  365 Mirabeau, Honoré Gabriel Riqueti Comte de  107 Mirabeau, Victor Riqueti Marquis de  11 Möller, Horst  22, 37, 41 Moeller van den Bruck, Arthur  135, 342, 343–346 Möser, Justus  19, 110 Mohl, Robert von  283 F: Montesquieu, Charles Louis de Secondat de  4, 47, 54, 69, 188, 322–324, 336, 428 Moritz, Karl Philipp  71, 74 Morwitz, Ernst  392 f., 402, 407 Moser, Johann Jacob  47 Mozart, Wolfgang Amadeus  24 Müller, Adam Heinrich  61, 63 f., 159 f., 164, 167, 171, 174, 176, 178, 184–186, 188–190, 194, 245, 276 f., 292 Müller, Johannes von  216 Musil, Robert  135 Napoleon Bonaparte  172, 174 f., 197, 202 f., 205,  208 f., 216–218, 248, 271, 276, 359, 376, 410–414, 421, 429 Necker, Jacques  123 Newton, Isaac  143 Nicolai, Friedrich  21, 23, 26 Niebuhr, Barthold Georg  57 Nietzsche, Friedrich  136, 198, 354–356, 393 f., 417, 422, 434 f. Nipperdey, Thomas  219 Nolte, Ernst  427 Novalis (Georg Friedrich Philipp von Hardenberg)  107, 128, 135, 140, 142, 146–153, 174, 425

Personenregister447 Ostrogorski, Moisei  322, 325, 335 f., 341, 345 Otto von Freising  243 Papini, Giovanni  134 Pertz, Georg Heinrich  228 Peter der Große Zar von Russland  361–363, 368, 371, 376, 384 Petrarca, Francesco  238 Petty, William  73 Pfeiffer, Johann Friedrich von  3, 12, 14, 17 f. Philipp II. König von Makedonien  359 Philippi, Johann Albrecht  12–14, 17 Pitt, William d. Ä.  123 Pitt, William d. J.  90 f., 95 Platon  245, 313, 389 f. Plessner, Kelmuth  388 Pölitz, Karl Heinrich Ludwig  274 f. Polygnet  359 Postlethwayt, Malachy  73 Preuß, Hugo  311, 322, 330 Proudhon, Pierre-Joseph  363 Pütter, Johann Stephan  47 Puschner, Uwe  433 Pythagoras  359 Quaritsch, Helmut  240 Quesnay, François  317 Radowitz, Joseph Maria von  253– 255, 257 Ramler, Karl Wilhelm  23 Ranke, Leopold von  209, 221, 228, 388 Raulff, Ulrich  406 Rehberg, August Wilhelm  54–56, 102, 246 Reimarus, Hermann Samuel  113 Rembrandt (Rembrandt Harmens­ zoon van Rijn)  359, 404 Renan, Ernest  210 Rhodes, Cecil  373

Riedel, Manfred  391, 394 Riehl, Wilhelm Heinrich  131, 286 f. Riem, Andreas  66–97 Ritter, Gerhard  375, 420 Robespierre, Maximilien de  116 Rosenberg, Alfred  422, 425 f., 432, 434 Rothacker, Erich  221 Rotteck, Carl von  223, 249, 274, 296–303, 307 Rousseau, Jean-Jacques  29, 111, 323, 421, 428 Rückert, Heinrich  353 Rust, Bernhard  407 Salin, Edgar  386, 392 Savigny, Friedrich Carl von  59, 215, 221, 225 f., 238, 255 f. Schacht, Hjalmar  317 f. Schäffle, Albert  290–292 Scharnhorst, Gerhard Johann David von  413 Scheler, Max  339 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  127, 143 f., 148, 152, 156, 422 Schenckendorff, Max von  199 Scherer, Wilhelm  217, 236 Schiller, Friedrich  24, 43, 50, 110, 128, 238, 390, 400 Schlegel, August Wilhelm  127, 129, 141, 160, 162 Schlegel, Friedrich  61– 63, 127, 129, 135 f., 141–143, 146–148, 151, 153 f., 160 f., 164 f., 167 f., 170 f., 174 f., 177–184, 186 f., 194, 207, 212, 277 f. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst  142, 162, 200 f. Schlözer, August Ludwig von  51, 54 Schmalz, Theodor Anton Heinrich  30 Schmitt, Carl  133–136, 157, 261, 330, 437 Schmoller, Gustav von  311–315, 327, 334–336, 342, 346 Schoeps, Hans-Joachim  259

448 Personenregister Schopenhauer, Arthur  197, 198, 313 Schröder, Ferdinand  236 Schütz, Wilhelm von  162 Schuiski siehe Wassili IV. Schwartz, Eduard  359 Seckendorff, Veit Ludwig  6 Sedlmayr, Hans  136 Seeley, John Robert  333 f. Seillière, Ernest  134 Servet, Michael  82 Shebbeare, John  73 Sieyès, Emmanuel Joseph  90, 266 Simmel, Georg  392 Simson, Werner von  241 Sinclair, John  73 Singer, Kurt Smith, Adam  74, 268, 317, 373 Smollett, Tobias  74 Sombart, Werner  311, 339 Sonnenfels, Joseph von  12, 13 Sontheimer, Kurt  332 Spann, Othmar  159, 292, 293, 346 Spencer, Herbert  363 Spengler, Oswald  329, 340–344, 346 f., 348–385, 422, 436 Spiegelberg, Wilhelm  359 Spittler, Ludwig Timotheus  52, 54 Stahl, Friedrich Julius  238, 256 f., 287 f. Stalin, Josef  376–378 Stamm-Kuhlmann, Thomas  27 Stauffenberg, Alexander Graf von  408 Stauffenberg, Berthold Graf von  402, 408 f., 411 Stauffenberg, Claus Graf von  386 f., 408–411, 413–417 Steffens, Henrik  162 Stein, Karl Reichsfreiherr vom und zum  218, 269, 413 Stepun, Fjodor  374 Steuart, James  18 Stolleis, Michael  344

Studt, Conrad von  318 Süßmilch, Johann Peter  10 f. Svarez, Carl Gottlieb  40, 267–269 Swift, Jonathan  74 Tacitus  67, 231 Talleyrand, Charles-Maurice de  248 Thormaehlen, Ludwig  392 Tieck, Ludwig  127, 147, 162 Tocqueville, Alexis de  204, 321 f., 324, 334 Tolstoi, Alexej  374 Tolstoi, Leo  362 f., 367 f., 370, 372 Townsend, Joseph  19 Träger, Claus  136 Treitschke, Heinrich von  211, 213, 421 Trendelenburg, Friedrich Adolf  228 Tschernyschewskij, Nikolai  352 Tschitscherin, Boris  353 Turgenew, Iwan  367 Uhland, Ludwig  162, 236 Ulmen, Gary L.  350, 364 Vacher de Lapouge, Georges  433 Vallentin, Berthold  392, 402, 411 Vallentin, Diana  402 Victoria Königin von Großbritannien  214 Vollgraff, Karl  353 Wagener, Hermann  297–299, 301, 305–307 Wagner, Adolph  311, 313 f., 327, 335 Wagner, Richard  131 Waitz, Georg  217, 236 Walpole, Robert  83 Walter, Ferdinand  289 Walzel, Oskar  158 Wassili IV. Schuiski Zar von Russland  363 Webb, Sidney  317 Weber, Alfred  346

Personenregister449 Weber, Max  129, 137–139, 146, 164, 241, 260, 311, 321 f., 330, 335, 383, 390, 392–394, 435 Weitling, Wilhelm  282 Welcker, Karl Theodor  296–303, 307 Wendeborn, Gebhard August Friedrich  68 f., 73 f. Werner, Hans-Georg  136 Wieland, Christoph Martin  43, 110, 128 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von  214 Wilhelm I. Kurfürst von Hessen-Kassel  217 Wilhelm IV. König von Großbritan­ nien  224 William von Ockham  245 Wilson, Thomas Woodrow  322 Winckelmann, Johann Joachim  110

Windischmann, Carl Joseph  207 Wladimir I. Großfürst von Kiew  363 Wolff, Christian  10, 22 Wolfskehl, Karl  392, 396, 404 Wollner, Wilhelm  365 Wolters, Erika  402 Wolters, Friedrich  392 f., 395–397, 402–404, 410, 412, 415 Wyss, Ulrich  220 Young, Arthur  19 Zedlitz, Karl Abraham von  23 Zehnpfennig, Barbara  427 Zeller, Eduard  386 Zierold, Kurt  407 Zimmermann, Johann Georg  110 Zmarzlik, Hans-Günter  432 Zola, Émile  368 f.