Wegbereiter der Globalisierung: Multinationale Unternehmen der westeuropäischen Chemieindustrie in der Zeit nach dem Boom (1960er–2000er Jahre) [1 ed.] 9783666371042, 9783525371046


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German Pages [913] Year 2023

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Wegbereiter der Globalisierung: Multinationale Unternehmen der westeuropäischen Chemieindustrie in der Zeit nach dem Boom (1960er–2000er Jahre) [1 ed.]
 9783666371042, 9783525371046

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Christian Marx

Wegbereiter der Globalisierung Multinationale Unternehmen der westeuropäischen Chemieindustrie in der Zeit nach dem Boom (1960er–2000er Jahre)

Nach dem Boom Herausgegeben von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael

Christian Marx

Wegbereiter der Globalisierung Multinationale Unternehmen der westeuropäischen Chemieindustrie in der Zeit nach dem Boom (1960er–2000er Jahre)

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit Mitteln des Gottfried Wilhelm Leibniz-Programms der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Bayer Werk, Leverkusen. © picture alliance / Rupert Oberhäuser Satz: textformart, Göttingen Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2566-7246 ISBN 978-3-666-37104-2

Inhalt

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.1 Gegenstand und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1.1.1 Untersuchungsgegenstände: Vier Fallbeispiele . . . . . . . . 20 1.1.2 Wahrnehmung und Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1.1.3 Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1.1.4 Multinationale Unternehmen und Globalisierung . . . . . . 38 1.2 Analyserahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.2.1 Ökonomische Ansätze zu multinationalen Unternehmen und Direktinvestitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1.2.2 Ansätze zum Management und zur Organisation multinationaler Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1.2.3 Internationalisierung als Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1.2.4 Historische Erklärungsansätze zu multinationalen Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 1.3 Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1.3.1 Zeithistorische Rahmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1.3.2 Sozial- und wirtschaftshistorische Befunde . . . . . . . . . . 62 1.3.3 Unternehmens- und branchenspezifische Studien . . . . . . 66 Multinationale Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Unternehmenshistorische Forschungen zur Phase nach dem Boom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Chemiebranche und Chemieunternehmen . . . . . . . . . . 70 1.4 Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1.5 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 2. Grundkonstellationen der Internationalisierung in der Chemieindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2.1 Neue Herausforderungen in der Zeit nach dem Boom . . . . . . . 79 2.1.1 Polit-ökonomische Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Europäische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

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Inhalt

Neue Währungsrelationen nach dem Ende von Bretton Woods . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Ökonomischer Strukturwandel und Ölpreiskrisen . . . . . . 85 Ökologiebewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Der Fall des Eisernen Vorhangs und der Aufstieg Asiens . . 91 2.1.2 Industrie- und produktspezifische Dimensionen . . . . . . . 93 Chemiefasern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Kunststoffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Pharmaerzeugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Agrochemikalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Farben und Lacke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2.2 Auslandsaktivitäten westeuropäischer Chemieunternehmen im Nachkriegsboom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2.2.1 Bayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2.2.2 Hoechst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2.2.3 AKU / VGF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 2.2.4 Rhône-Poulenc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 2.2.5 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 3. Multinationale Unternehmen am Ende des Booms: Auslandsexpansion als Reaktion auf die neuen Herausforderungen der langen 1970er Jahre (1965–1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.1 Bayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.1.1 Auslandsexpansion über Inlandsakquisitionen . . . . . . . . 154 3.1.2 Auslandsinvestitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.1.3 Auslandsbeteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Die kanadische Beteiligungs- und Finanzierungsgesellschaft Bayforin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Expansion auf dem US -Markt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Europäische Integration und Unternehmenskooperationen . 183 3.1.4 Sparten- und Produktentwicklungen . . . . . . . . . . . . . . 192 3.1.5 Ende des Wachstums? – Desinvestments bei Bayer . . . . . . 196 3.1.6 Internationale Standortkonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . 203 3.1.7 Gesamtstruktur des Auslandsgeschäfts . . . . . . . . . . . . 207 3.1.8 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 3.2 Hoechst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 3.2.1 Inlandsbeteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3.2.2 Auslandsinvestitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 3.2.3 Auslandsbeteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 »Hoechst en France« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 »­Hoechst in Britain« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246

Inhalt

7 Westeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 »Expansion on the US market« . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Südafrika – Indien – Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 3.2.4 Sparten- und Produktentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . 283 3.2.5 Gesamtstruktur des Auslandsgeschäfts . . . . . . . . . . . . 291 3.2.6 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

3.3 AKU / VGF / A kzo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 3.3.1 Die Fusion von AKU und Glanzstoff (1969) . . . . . . . . . . 300 3.3.2 Die Fusion von AKU und KZO zur Akzo (1969) . . . . . . . . 313 3.3.3 Die Umstrukturierung von Enka / Glanzstoff innerhalb des Akzo-Konzerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Der Strukturplan 1972 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Enka Glanzstoff in der Wirtschaftskrise Mitte der 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Die Übernahme und der Wiederverkauf der belgischen Tochter Fabelta . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Standortkonkurrenz in multinationalen Unternehmen: Das Beispiel der Ferenka Ltd. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Die Neuordnung der Enka-Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . 346 Die Enka-Gruppe in der zweiten Ölpreiskrise . . . . . . . . . 350 Die Produkt- und Umsatzstruktur von Enka Glanzstoff bzw. Enka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Auslandsbeteiligungen der Enka Glanzstoffbzw. Enka-Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 3.3.4 Die Internationalisierung des Akzo-Konzerns . . . . . . . . 368 Expansion nach der Konzerngründung . . . . . . . . . . . . 368 Akzo in den USA: Die Gründung von Akzona . . . . . . . . 375 Akzo in den Ölpreiskrisen der 1970er Jahre . . . . . . . . . . 379 Umsatzstruktur des Akzo-Konzerns . . . . . . . . . . . . . . 386 3.3.5 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 3.4 Rhône-Poulenc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 3.4.1 Die Umstrukturierung der französischen Chemieindustrie (1966–1971) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 3.4.2 Investitionstätigkeit bei Rhône-Poulenc . . . . . . . . . . . . 400 3.4.3 Rhône-Poulenc in der weltwirtschaftlichen Krise der 1970er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 3.4.4 Die Auslandsgesellschaften der Rhône-Poulenc-Gruppe . . 428 May & Baker Ltd. (Großbritannien) . . . . . . . . . . . . . . 430 RIQT bzw. Rhodia S. A. (Brasilien) . . . . . . . . . . . . . . . 438 Société de la Viscose Suisse S. A. bzw. Viscosuisse (Schweiz) 443 Deutsche Rhodiaceta AG bzw. Rhodia AG (Bundesrepublik) 444

8

Inhalt

SAFA (Spanien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Rhodia Inc. bzw. Rhône-Poulenc Inc. (USA) . . . . . . . . . . 453

3.4.5 Umsatzstruktur der Rhône-Poulenc-Gruppe . . . . . . . . . 459 3.4.6 Die Nationalisierung von Rhône-Poulenc und die dritte Umstrukturierung der französischen Chemieindustrie (1981/82) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 3.4.7 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 4. Multinationale Unternehmen nach den Krisen der 1970er Jahre: Aufbruch in Globalisierung und Finanzmarktkapitalismus (1983–2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 4.1 Bayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 4.1.1 Nach den Krisen der langen 1970er Jahre: Bayer im Chemieboom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 477 4.1.2 (Bayer-)Welt im Wandel: Markterweiterung im Osten . . . . 485 4.1.3 Auslandsbeteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Westeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 Nordamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498 Lateinamerika: Mexiko und Brasilien . . . . . . . . . . . . . 507 Asien: Japan – Indien – China . . . . . . . . . . . . . . . . . 511 4.1.4 Gesamtstruktur des Auslandsgeschäfts . . . . . . . . . . . . 520 4.1.5 »Portfolio gestrafft, Kerngeschäfte gestärkt.« . . . . . . . . . 531 4.1.6 Die Übernahme von Aventis CropScience . . . . . . . . . . . 539 4.1.7 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 4.2 ­Hoechst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 4.2.1 ­Hoechst im Höhen- und Sinkflug des US -Dollars . . . . . . 552 4.2.2 Der Fall der Mauer und die Öffnung der osteuropäischen Märkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 4.2.3 Auslandsbeteiligungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 570 Force permanente: Roussel Uclaf und Société Française ­Hoechst (SFH) . . . . . . . . . . . . . . . . 571 Ups and downs: ­Hoechst U. K. Ltd. und Berger, Jenson & Nicholson Ltd. (BJN) . . . . . . . . . . . . . . . . . 590 Westeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 Das Hineinwachsen in den US -Markt . . . . . . . . . . . . . 602 Lateinamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 Indien – Japan – China – Südafrika . . . . . . . . . . . . . . 618 4.2.4 Zur Struktur des Auslandsgeschäfts bis Mitte der 1990er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 628 4.2.5 »­Hoechst Aufbruch 1994« – Der Beginn des Ausverkaufs und die Übernahme von Marion Merrell Dow (1994–1996) . 634

Inhalt

9 4.2.6 Von der Strategischen Management Holding zur Fusion mit Rhône-Poulenc (1996–1999) . . . . . . . . . . . . . . . . 642 4.2.7 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658

4.3 Akzo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662 4.3.1 Enka im Chemie(-faser)boom der 1980er Jahre . . . . . . . . 664 Neue Arbeitsgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Die Umstrukturierung der Enka-Gruppe ab 1985 . . . . . . 674 4.3.2 Der Umbau der Akzo-Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 678 Anziehungskraft der USA und Verankerung in Westeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 679 Der Verkauf von American Enka und der Erwerb von Stauffer Specialty Chemicals . . . . . . . . . . . . . . . . 682 4.3.3 Das Ende des 1980er-Jahre-Booms und des Ost-West-Konflikts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 688 4.3.4 Internationale Megafusionen Teil 1: Akzo und Nobel (1993/94) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 692 4.3.5 Internationale Megafusionen Teil 2: Die Übernahme von Courtaulds und die Gründung von Acordis (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 4.3.6 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 706 4.4 Rhône-Poulenc . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 708 4.4.1 Strategische Unternehmensentscheidungen im Chemieboom der 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . 711 Konsolidierung unter Loïk Le Floch-Prigent (1983–1986) . . 712 Expansion unter Jean-René Fourtou (1986–1991) . . . . . . . 717 Gründung von Rhône-Poulenc Rorer (RPR) und Beteiligung an Roussel Uclaf . . . . . . . . . . . . . . . . . . 728 4.4.2 Die Auslandsgesellschaften der Rhône-Poulenc-Gruppe . . 734 May & Baker Ltd. (Großbritannien) . . . . . . . . . . . . . . 734 Rhodia S. A. (Brasilien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 736 Viscosuisse S. A. (Schweiz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 740 Rhodia AG (Bundesrepublik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 741 SAFA (Spanien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746 Rhône-Poulenc Inc. (USA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747 4.4.3 Umsatzstruktur der Rhône-Poulenc-Gruppe . . . . . . . . . 757 4.4.4 Von der Reprivatisierung zur Großfusion mit ­Hoechst (1993–1999) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764 4.4.5 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 776

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Inhalt

5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781 5.1 Außenhandel, ausländische Direktinvestitionen und multinationale Unternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 782 5.2 Standortwahl und europäische Integration . . . . . . . . . . . . . 787 5.3 Investments und Desinvestments – Strategische Weichenstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 790 5.4 Differenzen – Parallelen – Konkurrenten . . . . . . . . . . . . . . 798 5.5 Vom Chemiegiganten zum Übernahmekandidaten – Imperial Chemical Industries . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 802 5.6 Organisations- und Managementtrends . . . . . . . . . . . . . . . 805 6. Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813 6.1 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813 6.2 Periodika und Zeitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824 6.2.1 Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824 6.2.2 Zeitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 824 6.3 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 825 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 873 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 879 Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 880 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885 Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885 Firmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892

Dank

Dieses Buch behandelt nicht nur die wechselhafte Periode der Zeit nach dem Boom, die durch zahlreiche gesellschaftliche, kulturelle, politische und wirtschaftliche Um- und Aufbrüche gekennzeichnet war, vielmehr hat es auch selbst eine Geschichte. Ihren Ausgang nahm die Studie 2010/11, als der Forschungsverbund »Nach dem Boom« unter der Leitung von Anselm Doering-­Manteuffel (Eberhard Karls Universität Tübingen) und Lutz Raphael (Universität Trier) in eine zweite Förderphase aufbrach. Zum damaligen Zeitpunkt standen weite Teile der Wirtschaftspresse, aber auch der gegenwartsnahen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften unter dem Eindruck der Weltfinanzkrise 2007/08 und der nachfolgenden Eurokrise. Wachsende Staatsschulden und dauerhaft disparate Währungsentwicklungen erschienen als die größten Probleme, wohingegen die weltweite ökonomische Verflechtung kaum infrage gestellt wurde. Der Abschluss der Studie in Form der Drucklegung fiel in eine Zeit, als die CoronaPandemie und der Ukraine-Krieg zahlreiche weltwirtschaftliche Zusammenhänge auseinandergerissen hatten. Nach dem Durchbruch der Globalisierung in den 1990er Jahren fand nun unter dem Eindruck geschlossener Containerterminals und unterbrochener Lieferketten der Begriff der Deglobalisierung eine gewisse Verbreitung, auch wenn die meisten Unternehmer:innen und Politiker:innen weiterhin auf die Vorteile einer internationalen Arbeitsteilung hinwiesen. An dieser Stelle ist nicht der Ort, um Zukunftsprognosen abzugeben, vielmehr möchte ich in der Rückschau einer Reihe von Personen danken, ohne deren Unterstützung das Projekt schwerlich zu realisieren gewesen wäre. Mein herzlicher Dank geht zunächst an Lutz Raphael (Universität Trier), der das Projekt in jeder erdenklichen Form unterstützt und mich über Jahre hinweg gefördert hat. Ferner danke ich den beiden anderen Gutachtern, Ursula Lehmkuhl (Universität Trier) und Werner Plumpe (Goethe-Universität Frankfurt), die das umfangreiche Manuskript gelesen und gewürdigt haben. Das vorliegende Buch stellt die überarbeitete und stark gekürzte Version meiner Habilitationsschrift dar, die im Sommersemester 2020 vom Fachbereich III der Universität Trier angenommen wurde. Der Vortrag vor dem Kolloquiumsausschuss fand am 15. Juli 2020 statt. Die Kürzungen des Habilitationsmanuskripts betrafen vor allem die Vorbedingungen der Internationalisierung vor 1945, die makroökonomische Entwicklung über ausländische Direktinvestitionen sowie Trends der Unternehmensorganisation. Darüber hinaus wurde die Internationalisierung der BASF als weiteres Beispiel herausgenommen sowie der Wandel der Eigentums- und Kapitalverhältnisse der behandelten Unternehmen weggelassen. Jene Ergebnisse werden separat als Aufsätze publiziert.

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Dank

Grundbedingung für die Konzeption und Erarbeitung der Habilitation war ein intellektuell inspirierender Ort, der zugleich hinreichend Raum für geistige Ausflüge zu Neuem, längere Archivreisen zu entfernten Quellenbeständen und Ruhe zum Schreiben ermöglichte. Die Universität Trier mit dem Forschungsverbund »Nach dem Boom« bot hierfür eine hervorragende und produktive Arbeitsatmosphäre. Besonders die zahlreichen internen Workshops stellten ein unverzichtbares Element dar, um sich in offener Diskussion über die Charakteristika dieser Zeitepoche zu verständigen. Neben den überaus ertragreichen Impulsen von Lutz Raphael seien hier vor allem die anregenden Gespräche mit Morten Reitmayer sowie mit Anselm Doering-Manteuffel, Martin Kindtner und Silke Mende hervorgehoben. Als studentische Hilfskräfte haben sich Mona Mengert und Sabine Friedrich verdient gemacht. Darüber hinaus profitierte die Arbeit von vielfältigen Ideen und Fragen der Kolleg:innen, die an den Forschungskolloquien anderer Lehrstühle teilgenommen haben. Ein Dank gilt daher den Einladungen von Carsten Burhop (Köln / Bonn) und Günther Schulz (Bonn), Jan-Otmar Hesse (Bielefeld / Bayreuth), Ingo Köhler (Göttingen), Werner Plumpe (Frankfurt / Main) und Alexander Nützenadel (Berlin). Ebenso zog das Projekt gewinnbringende Erkenntnisse aus den vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam organisierten Tagungen über die Energiekrisen der 1970er Jahre, die westliche Strukturpolitik seit den 1960er Jahren sowie den ökonomischen Strukturwandel der 1970er und 1980er Jahre; hierfür sei Ralf Ahrens, André Steiner, Frank Bösch und Rüdiger Graf gedankt. Der erfolgreiche Abschluss dieses Projekts beruht auf zahlreichen in- und ausländischen Quellenbeständen. Neben den von Lutz Raphael gewährten DFG Mitteln des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises erlaubten die Stipendien des DHI Paris (Karl-Ferdinand-Werner-Fellowships) und die Gerald D. FeldmanReisebeihilfen der Max Weber Stiftung umfangreiche Recherchen in Paris und London, für die ich an dieser Stelle danken möchte. Es war ein Privileg, in den Räumlichkeiten des DHI Paris im mondänen Stadtteil Marais zu wohnen und zu arbeiten. Auf diese Weise konnte der Blick auf die deutsche Chemieindustrie entscheidend um eine westeuropäische Perspektive ergänzt werden. Ein ganz spezieller Dank gilt den zahlreichen Archivar:innen, die mich über die Jahre hinweg mit unzähligen Unterlagen und Informationen versorgt haben. Hier sind Jürgen Weise und Christian Hillen (RWWA), Hans-Hermann Pogarell und Thore Grimm (Bayer-Archiv), Antoine Tricarico und Olivier de Boisboissel (Sanofi-Archiv), Stefan Hofmann, Stephan Dinges und Markus Korb (HoechstArchiv), Isabella Blank-Elsbree (BASF-Unternehmensarchiv) sowie Fred van Daalen (Akzo) besonders hervorzuheben. Bei der Abgabe und Drucklegung des Manuskripts hatten sich beruflich bereits neue Wege am Institut für Zeitgeschichte in München eröffnet, wo ich äußerst herzlich empfangen wurde und meine Forschungsergebnisse in einem neuen kollegialen Umfeld immer wieder konstruktiv diskutieren konnte. Neben Andreas Wirsching und Magnus Brechtken sei hier besonders Boris Gehlen (Stuttgart), Stefan Grüner, Rouven Janneck, Martina Steber, Sebastian Voigt,

Dank

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Thomas Schlemmer, Thomas Raithel, Niels Weise und Bernhard Gotto gedankt. Zu guter Letzt halfen Daniel Sander, Celine Semenic und Matthias Ansorge vom Verlag Vanden­hoeck & Ruprecht aus dem Manuskript ein Buch zu machen. Neben DFG -Mitteln des Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises hat die Geschwister Boeh­ringer Ingelheim Stiftung schließlich die Veröffentlichung der Studie durch einen groß­zügigen Druckkostenzuschuss möglich gemacht. Die intensive Beschäftigung mit der westeuropäischen Chemieindustrie und ihren Unternehmen wurde nicht nur durch viele Institutionen und Personen gefördert, sie erforderte auch viel Zeit, die an anderer Stelle fehlte. Den größten Dank schulde ich daher meiner Frau Marcia Fernandes Marx und meinem Sohn, dessen Geburt in die Anfangsphase dieser Arbeit fiel. Ihnen sei dieses Buch gewidmet.

1. Einleitung

Als der deutsche Chemiekonzern Bayer 2018 im Rahmen einer »Monster-Hochzeit«1 die US -Saatgutfirma Monsanto erwarb und zahlreiche Wettbewerbshüter wie Umweltschützer vor der Marktmacht des zusammengeschlossenen Konzerns warnten, zeigte sich einmal mehr die Bedeutung multinationaler Konzerne. Befürchtungen hinsichtlich des Machtpotenzials gegenüber landwirtschaftlichen Betrieben und der Umweltverträglichkeit der Chemieprodukte wurden laut.2 Dabei hatten zahlreiche Staaten wie die wichtigen Agrarstandorte USA , Brasilien, China und auch die EU dem Zusammenschluss unter Auflagen zugestimmt. Nachdem Bayer sich bereit erklärt hatte, landwirtschaftliche Geschäfte und weitere Anteile im Wert von rund neun Milliarden US -Dollar zu veräußern, stimmten die US -Behörden der Monsanto-Übernahme für 66 Mrd. US -Dollar zu. Es war die größte Akquisition in der Geschichte von Bayer und zugleich das größte Desinvestment in der Geschichte der US -Kartellbehörden. Nutznießer der Kartellauflagen war mit der BASF ein anderer deutscher Chemiekonzern, der auf diese Weise sein landwirtschaftliches Standbein international ausbauen konnte.3 Aus der Perspektive des Jahres 1945 war die Übernahme von Monsanto durch Bayer nahezu unglaublich, denn nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die deutschen Unternehmen ihr Auslandsvermögen sowie ihre Markenzeichen und ­Patente im Ausland verloren und standen in den USA im Grunde vor dem Nichts. Zwar kehrten sie unter der Ägide des Wirtschaftswunders über den Export wieder auf den Weltmarkt zurück, doch für umfangreiche Auslandsinvestitionen fehlten ihnen sowohl die notwendige Kapitalbasis als auch der Marktzugang.4 Zudem hatten ausländische Konkurrenten während des Krieges vielfach ihre Marktanteile im Ausland übernommen. Erst ab Mitte der 1960er Jahre stiegen die deutschen Auslandsinvestitionen wieder merklich an und reihten sich damit in einen breiteren Prozess wachsender ausländischer Direktinvestitionen ein, der als Reaktion auf nachlassende Konjunkturaussichten im Inland und die zunehmenden internationalen Währungsturbulenzen der 1970er Jahre zu verstehen ist. Das Ende des Booms stellte die westeuropäischen Chemiekonzerne vor enorme Herausforderungen. Dabei zeigt die Bayer-Monsanto-Episode aus dem 1 »Monster-Hochzeit«, in: Der Spiegel 13/2018, 24.03.2018, S.  78–82. 2 »Gift fürs Geschäft«, in: Der Spiegel 2/2019, 05.01.2019, S. 61–64. 3 »US forces Germany’s Bayer to shed $9 billion in ag business in biggest ever antitrust selloff«, in: CNBC 29.05.2018 (online: https://www.cnbc.com/2018/05/29/bayer-will-sell-basf9-billion-in-assets-to-allow-monsanto-purchase.html, letzter Zugriff: 14.02.2023] 4 Buchheim, Wiedereingliederung; Dörre, Wirtschaftswunder; Hardach, Rückkehr; Kleedehn, Internationalisierung.

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Einleitung

Jahr 2018, dass die in den 1960er und 1970er Jahren anlaufenden ökonomischen Prozesse keinesfalls nur mit Niedergang und Abstieg gleichzusetzen waren. Freilich war die westeuropäische Chemie- und Pharmaindustrie nicht mit den Strukturproblemen der Eisen- und Stahlindustrie, des Bergbaus oder der Textilindustrie seit den 1960er Jahren konfrontiert; sie gehörte jedoch ebenso wenig zur New Economy, deren informationstechnische Unternehmen infolge der Entwicklung des Mikrochips einen fulminanten Aufstieg erlebten. In dieser Perspektive ist die Chemie- und Pharmabranche als eine mittlere Industrie anzusehen, für die sich weder ein Niedergangs- noch ein Aufstiegsnarrativ wirklich eignen und die damit beispielhaft für die janusförmige Mischung von altvertrauten und neuartigen Strukturen in der Zeit nach dem Boom steht. Zwar blieben Namen wie Bayer und BASF erhalten, doch unterlagen die strategische Ausrichtung, die geografische Reichweite, die Gliederung des Unternehmens, die Organisation der Arbeit wie auch die unternehmensinternen Entscheidungsprozesse tiefgreifenden Veränderungen. Für die Akteure der Chemieindustrie war die globalisierte Welt des Jahres 2000 eine vollkommen andere als 1970. Die deutsche Chemieindustrie hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg enorme Weltmarktanteile, und ihre Unternehmen waren zu jener Zeit technologisch weltweit führend. Zwar konnten sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht unmittelbar an diese Tradition anknüpfen, doch war die chemische Industrie neben der elektrotechnischen Industrie und dem Maschinenbau auch in der Bundesrepublik eine der am stärksten auslandsorientierten Industriezweige. Sie stellt damit ein interessantes Untersuchungsfeld für die Transformations- und Internationalisierungsprozesse im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts dar. Die Verbindung zwischen Bayer und Monsanto ging letztlich bis in die 1950er Jahre zurück, als beide gemeinsam das US -Joint Venture Mobay Chemical Company gründeten, welches Bayer 1967 vollständig übernahm und zur Expansion auf dem US -Markt nutzte. Jene beschleunigte Internationalisierung ab den 1960er Jahren und die damit einhergehende Rolle multinationaler Unternehmen für die jüngste Globalisierungswelle bilden den Kern der folgenden Studie.

1.1 Gegenstand und Fragestellung Mit dem Ende des Nachkriegsbooms geriet das produktive Fundament der westeuropäischen Industriegesellschaften grundlegend ins Wanken. Unter den neuen Rahmenbedingungen steigender Inflationswerte und deutlich anwachsender Rohstoff- und Energiekosten bei anhaltend hohen Lohnkosten sahen sich die Unternehmensleitungen angesichts des zunehmenden internationalen Konkurrenzdrucks zu tiefgreifenden Umstrukturierungen und strategischen Neuausrichtungen gezwungen.5 Seit Mitte der 1960er Jahre veranlasste die 5 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom (2012), S. 52–60.

Gegenstand und Fragestellung

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nachlassende wirtschaftliche Dynamik die Manager zahlreicher westeuropäischer Firmen dazu, das Auslandsgeschäft auszubauen, um auf diese Weise die »Grenzen des Wachstums« zu umschiffen.6 Zugleich setzte im Zuge der europäischen Integration in Westeuropa ein Prozess wirtschaftlicher Kooperation ein, in dessen Rahmen viele Firmen mit ihren nationalen und europäischen Wettbewerbern Joint Ventures gründeten oder in aufeinanderfolgenden Stufen fusionierten. Die Rate ausländischer Direktinvestitionen schnellte in die Höhe. Zwar stellten multinationale Unternehmen keine grundlegende Innovation des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts dar, allerdings erreichten ihre Zahl und ihre Größe in dieser Phase eine neue Dimension und kündigten damit den Beginn des jüngsten Globalisierungsprozesses an. Insofern sind die 1970er Jahre als eine weltweite Zäsur in der Geschichte multinationaler Unternehmen anzusehen, die sich uneingeschränkt in das Narrativ eines beschleunigten Strukturwandels einfügen.7 Ein Rückgriff auf die 1960er Jahre und eine Einordnung in die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts ist in diesem Zusammenhang unabwendbar, um die Problemkonstellation der Unternehmen in einen angemessenen Zeithorizont zu rücken. Hinter den sich verändernden Zahlenkolonnen verbargen sich vielfach Verschiebungen, die über den strukturellen Wandel der Wirtschaft hinausgingen und das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Ökonomie grundlegend umgestalteten. Der Umbau westlicher Industriegesellschaften und ihrer Produktionsregime ist ohne eine tief in die Unternehmen eindringende und zugleich sich gegenüber gesellschaftlichen Prozessen öffnenden Unternehmensgeschichte kaum zu verstehen.8 Schon in den 1960er Jahren gab es in vielen westeuropäischen Staaten erste Anzeichen einer sich abschwächenden Konjunktur. Dass auch zu Beginn der 1970er Jahre vielfach noch Produktionsanlagen errichtet und Kapazitäten ausgebaut wurden, lag nicht zuletzt an der Zeitverzögerung zwischen der Entscheidung für eine Investition und ihrer Inbetriebnahme. Vor dem Erfahrungshintergrund der Boomjahre änderte sich die Erwartungshaltung zahlreicher Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft nur langsam. Viele Investitionen, die in den 1970er Jahren wirksam wurden, waren daher bereits vor dem häufig als Epochenschwelle herangezogenen Doppeljahr 1973/74 in die Wege geleitet worden. Während der Beginn der Phase nach dem Boom in mehreren Studien auf die Zeit um 1970/75 datiert wird, wandelten sich die unternehmerischen Perspektiven – in Übereinstimmung mit verschiedenen kultur-, mentalitäts- und konsumhistorischen Befunden – schon etwas früher.9

6 Meadows / Meadows, Limits. Vgl. hierzu: Kupper, Visionen; Schmelzer, Hegemony. 7 Chandler / Mazlish, Introduction, hier S. 2; Dunning / Lundan, Multinational Enterprises, S. 189–196, 738–740; Jones, Multinationals from the 1930s to the 1980s, hier S. 88. 8 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom (2012), S. 118–121. 9 Doering-Manteuffel / Raphael, Einleitung, hier S. 10–11.

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Einleitung

Damit soll die These eines »Strukturbruchs« und eines »sozialen Wandels von revolutionärer Qualität« nicht in Abrede gestellt werden, allerdings deutet diese Beobachtung darauf hin, dass es den einen alle gesellschaftlichen Felder übergreifenden Strukturbruch zu einem singulären Zeitpunkt nicht gegeben hat.10 Vielmehr ereigneten sich schon in den 1960er und dann in verdichteter Form in den 1970er Jahren eine Vielzahl einzelner Brüche, die in ihrer Summe eine zeitliche Phase formierten, welche sich in ihrer gesellschaftlichen und ökonomischen Ausprägung von den Jahrzehnten davor unterschied.11 Diese Idee einer Phase multipler Brüche erlaubt es nicht nur verschiedene soziale, politische, kulturelle und wirtschaftliche Felder in den Blick zu nehmen, sie bietet für die vorliegende Studie auch die attraktive Möglichkeit, die Entwicklungen mehrerer Unternehmen zu erkunden, deren Zeitlichkeiten mit Blick auf ihre Strategien und Strukturen nicht immer völlig deckungsgleich waren. Nicht zuletzt unterstreicht jene Flexibilität der Zeithorizonte, dass Problembezüge, Fragestellungen und Untersuchungsgegenstände – und nicht Dekaden oder Archivzugänge – den zeitlichen Horizont des Erkenntnisinteresses bestimmen. Der Strukturbruch (im Singular) erfolgte nicht an einem Ort und er erfasste auch nicht die gesamte Industrie zur gleichen Zeit.12 Dies deutet auf den ambivalenten Charakter der Zeit nach dem Boom hin, denn diese war nicht nur durch den Niedergang von Industrien, Werksschließungen und Arbeitsplatzverlagerungen gekennzeichnet, sondern ebenso durch unzählige Aufbrüche  – von der Ausweitung betrieblicher Mitbestimmung (1972/76) bis zur Gleichberechtigung von Mann und Frau im Namens-, Ehe- und Scheidungsrecht (1976/77).13 Hier liegen auch unzweifelhaft die Anfänge der Digitalisierung und der jüngsten Globalisierung, um die für die Wirtschaft bedeutendsten Basisprozesse der Vorgeschichte unserer Gegenwart herauszugreifen. Eine verklärende Erinnerung an die guten Lebens- und Arbeitsverhältnisse der 1970er Jahre – inmitten des Kalten Krieges ohne Computer, Mobiltelefon und Navigationsgerät – dürfte der ab 1990 geborenen Generation ohnehin weltfremd vorkommen. Ein Denkmodell sich öffnender und schließender Möglichkeitshorizonte, das sowohl die Niedergänge als auch die Aufbrüche umfasst, erscheint in dieser Perspektive wesentlich ertragreicher. Tatsächlich unterlag die westeuro10 Doering-Manteuffel, Brüche; Doering-Manteuffel / R aphael, Nach dem Boom (2008); Raphael, Gesellschaftsgeschichte, S. 15–16. Die inzwischen fest etablierte Chiffre »Nach dem Boom« für den Zeitraum zwischen den 1970er und den 2000er Jahren bezieht sich keineswegs nur auf eine Abschwächung ökonomischer Wachstumsraten im Vergleich zu den Boomjahren, sondern ist als Topos für ein Bündel gesellschaftlicher Veränderungsprozesse zu verstehen. Vgl. für den Zeitraum der Boomjahre: Kaelble, Boom. 11 Hier endete gewissermaßen die von Ulrich Herbert proklamierte »Hochmoderne«; in vielen westeuropäischen Staaten war es der Anfang vom Ende des montanindustriell geprägten Zeitalters. Vgl. Herbert, High Modernity. 12 Doering-Manteuffel, Vielfalt, hier S. 139–140. 13 Marx, Betrieb. Vgl. zur Liberalisierung in den 1960er Jahren: Herbert, Wandlungsprozesse.

Gegenstand und Fragestellung

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päische Chemie- und Pharmaindustrie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts grundlegenden Umwälzungen, ohne dass dies mit ihrem Bedeutungsverlust gleichzusetzen wäre. Immerhin trug der Umsatz der Chemie- und Pharmaunternehmen in Deutschland 2018 zu etwa zehn Prozent des Gesamtumsatzes im verarbeitenden Gewerbe bei.14 Der Strukturwandel der westeuropäischen Chemieindustrie kann im Folgenden nicht in allen seinen Facetten erfasst werden. Sowohl das Selbstverständnis der Unternehmer und Manager als auch die Rolle der Chemiegewerkschaften sowie der Wandel von Arbeitsbeziehungen und Tätigkeiten im Produktionsprozess können nur gestreift werden.15 Für mehrere der hier im Fokus stehenden Unternehmen konnten die Verschiebungen managerieller Tätigkeiten, der Arbeitsanforderungen und der Zusammensetzung der Belegschaften bereits an anderer Stelle ausgeführt werden.16 Ebenso sind die Wechselwirkungen zwischen dem ökonomischen und dem politischen Feld im Bereich des Verbandswesens oder der Lobbyarbeit nicht Gegenstand der folgenden Untersuchung.17 Stattdessen konzentriert sich die Arbeit auf die strategischen Entscheidungen mehrerer europäischer Chemiekonzerne hinsichtlich des Auslandsgeschäfts. Im Mittelpunkt stehen hierbei vier europäische Großkonzerne der chemischpharmazeutischen Industrie: Bayer, Hoechst, Akzo und Rhône-Poulenc.

14 Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch 2018. Wiesbaden 2018, S. 522, 553. 15 Vgl. zum Wandel von Industriearbeit: Raphael, Industriearbeit(er); Raphael, Arbeitsbiografien; Raphael, Gesellschaftsgeschichte. Vgl. für eine europäische Perspektive zu den industriellen Beziehungen in britischen, französischen und deutschen Unternehmen: Lane, Management. Vgl. zur europäischen Gewerkschaftsgeschichte nach 1945: Ebbinghaus / Visser, Trade Unions; zur Pharmaindustrie: Rampeltshammer, Globalization; zu den industriellen Beziehungen in der deutschen Chemieindustrie: Müller-Jentsch, Arbeitgeberverbände; Schudlich, Tarifpolitik; sowie speziell zum Verhältnis von Gewerkschaften und multinationalen Unternehmen die zahlreichen Veröffentlichungen von Thomas Fetzer: Fetzer, Forschungsvorschlag; Fetzer, Works Councils; Fetzer, Europäisierung; Fetzer, Challenges; Fetzer, Birth; Fetzer, Paradoxes; Lecher, Konstituierung. Ferner: Andresen, Radikalisierung; Priemel, Gewerkschaftsmacht. Vgl. zur Rolle und zum Selbstverständnis von Unternehmern: Dietz, Aufstieg. Einige der oben genannten Perspektiven sind Gegenstand noch laufender Projekte. So untersucht Sebastian Voigt am Institut für Zeitgeschichte (München) in einem Forschungsprojekt »Westdeutsche Gewerkschaften und der ›Strukturbruch‹. Die Politik des DGB , der IG CPK und der HBV in den 1970er und frühen 1980er Jahren« die Wandlungsprozesse des Deutsche Gewerkschaftsbunds (DGB), der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV) sowie der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik (IG CPK). 16 Marx, Vermarktlichung; Marx, Reorganization. 17 Vgl. für die Wechselwirkungen zwischen multinationalen Konzernen und politischem Feld jüngst: Glässer, Marktmacht.

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Einleitung

1.1.1 Untersuchungsgegenstände: Vier Fallbeispiele Die drei großen deutschen Chemiekonzerne Bayer, Hoechst und BASF waren allesamt in den 1860er Jahren gegründet worden und hatten bis zum Ersten Weltkrieg global eine führende Stellung auf zahlreichen Produktmärkten erreicht.18 Seit der Jahrhundertwende verstärkte sich in der deutschen Wirtschaft die Tendenz zur Unternehmenskonzentration und sie erreichte in der Zwischenkriegszeit ihren Höhepunkt. Die Gründung der IG Farbenindustrie AG (IG Farben) 1925 steht exemplarisch für diese branchenübergreifende Entwicklung.19 Zugleich galt Deutschland aufgrund seiner etwa 2.500 Industriekartelle Mitte der 1920er Jahre weltweit als »Land der Kartelle«. Auch in dieser Hinsicht stellte die Chemieindustrie ein Paradebeispiel dar, deren Kartellierung weit über den nationalen Kontext hinausragte.20 Allerdings verloren die deutschen Unternehmen infolge des Ersten Weltkriegs ihren Auslandsbesitz sowie ihre Marken- und Patentrechte im Ausland und fielen daher auf dem Weltmarkt gegenüber ihren Konkurrenten zurück. Ähnlich erging es ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg, wobei der Verlust von Produktionsstätten in der sowjetisch besetzten Zone, Kriegsschäden infolge von Luftangriffen, die Zerschlagung der IG Farben und die temporäre Entfernung der Konzernleitung hinzukamen. Folglich waren die drei westdeutschen Unternehmen nach ihrer Wiedergründung zu Beginn der 1950er Jahre zunächst darauf bedacht, ihre inländischen Produktionsstätten wieder in Gang zu bringen. Die Rückkehr auf den Weltmarkt erfolgte unter Ausnutzung günstiger Währungsverhältnisse primär über den Export, auch wenn bereits in den Jahren des Wirtschaftswunders erneut die ersten ausländischen Produktionsstätten eröffnet wurden.21 Der Leverkusener Bayer-Konzern schloss in den 1950er Jahren zunächst Vertreterverträge mit verschiedenen Auslandsgesellschaften ab, um den Auslandsvertrieb von Bayer-Produkten aus westdeutscher Produktion anzukurbeln. Die Möglichkeit zum (Wieder-)Markteintritt über die Gründung eigener Auslandsgesellschaften stand Bayer in vielen Fällen noch nicht wieder offen.22 Stattdessen 18 Die BASF war ursprünglich gleichfalls Teil dieser Untersuchung, doch wurde letztlich auf eine detaillierte Darstellung ihrer Auslandsstrategie verzichtet. Dies ist neben dem bereits seitenreichen Umfang der vorliegenden Studie zum einen damit zu begründen, dass mit der Darstellung von Werner Abelshauser bereits eine moderne Unternehmensgeschichte der BASF vorliegt; zum anderen konnte bei den anderen Fallbeispielen auf einen deutlich größeren Archivbestand zurückgegriffen werden. Die Auslandsstrategie der BASF wird daher nur im Fazit verstärkt aufgegriffen, um die anderen Fallbeispiele besser einordnen zu können. Vgl. Abelshauser, BASF. 19 Plumpe, I. G. Farbenindustrie. 20 Schröter, Farbstoffkartell; Schröter, Kartellierung; Schröter, Kartelle. 21 Buchheim, Wiedereingliederung; Hardach, Rückkehr; Herbst / Bührer / Sowade, Marshallplan; Neebe, Überseemärkte; Neebe, Weichenstellung. 22 Kleedehn, Internationalisierung.

Gegenstand und Fragestellung

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drang das Unternehmen unter ihrem Vorstandsvorsitzenden Ulrich Haberland (1951–1961) über unabhängige Vertreterunternehmen ins Ausland vor, welche in der Folgezeit oftmals übernommen wurden und damit die Basis für weitere Expansionsschritte bildeten. Parallel bemühte sich Bayer um den Rückerhalt seiner Warenzeichen und Namensrechte. Während dies in Argentinien, Brasilien und Frankreich gelang, blieb dem Konzern eine entsprechende Nutzung in den USA untersagt. Im Zusammenspiel mit dem Ziel größerer Kundennähe und aufgrund der Größe des US -Markts setzte Bayer daher schon früh auf eine Produktion vor Ort und gründete 1954 mit dem US -Unternehmen Monsanto das Joint Venture Mobay. Infolge der sich verstärkenden internationalen Konkurrenz in den 1960er Jahren wurde die Vorstellung, stärker in die Auslandsmärkte expandieren zu müssen, zunehmend handlungsanleitend. Neben den lateinamerikanischen Märkten und den USA rückte nun besonders Westeuropa in den Fokus. Dies spiegelte sich zum einen im Zusammenschluss der beiden größten westeuropäischen Fotoproduzenten, der Bayer-Tochter Agfa und der Firma Gevaert, zur Agfa-Gevaert-Gruppe 1964 sowie zum anderen in der Fertigstellung des Bayer-Werks in Antwerpen 1967 wider. Zusammengenommen bildete dies die Ausgangslage für die beschleunigte Internationalisierung nach dem Boom. Ähnlich gestaltete sich die Entwicklung des Frankfurter Hoechst-Konzerns. Auch hier stellte die Rückeroberung der Auslandsmärkte nach 1945 ein zentrales Unternehmensziel dar. Nachdem Hoechst 1952 aus alliierter Zwangsverwaltung entlassen worden war, erhöhte sich zum ersten Mal die Geschwindigkeit des Auslandsengagements. In den USA gründete das Management unter der Leitung von Karl Winnacker 1953 die Intercontinental Chemical Corporation (ICC), welche anschließend über Beteiligungen an Vertriebsgesellschaften expandierte und 1961 in American Hoechst Corporation (AHC) umbenannt wurde.23 Die Unternehmensleitung drang somit in einer ersten Phase ebenfalls über Handelsund Verkaufsvertretungen ins Ausland vor, erst ab den 1960er Jahren ging sie zum Aufbau ausländischer Produktionsbetriebe und zur Übernahme ausländischer Gesellschaften über. Neben den USA und Lateinamerika hatte Westeuropa traditionell einen hohen Stellenwert für das Auslandsgeschäft von Hoechst. Hier errichtete das Unternehmen gleichsam zu Bayer Mitte der 1960er Jahre ein Werk an der westeuropäischen Küste (Vlissingen / Niederlande). Zwischen 1968 und 1974 erwarb Hoechst ferner schrittweise das französische Pharmaunternehmen Roussel Uclaf, womit der westdeutsche Konzern zeitweilig zum weltweit größten Pharmahersteller aufstieg. Die verstärkte Internationalisierung als Antwort auf die ökonomischen Herausforderungen der 1970er Jahre richtete sich somit einstweilen auf den westeuropäischen Markt.24 Am Ende der Dekade gewannen dann die USA an Anziehungskraft. Mitte der 1980er Jahre intensivierten alle hier untersuchten Unternehmen ihre Anstrengungen, über Akquisitionen auf dem US -Markt zu expandieren. Neben den begrenzten Wachstumsmöglich23 Klein, Operation. 24 Marx, Multinationale Unternehmen.

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Einleitung

keiten im Inland und den internationalen Währungsschwankungen bildeten die Zukunftserwartungen an das Marktpotenzial der USA und die dortigen Forschungsmöglichkeiten den Hintergrund für diese Entscheidung. Im Fall von Hoechst demonstrierte besonders die Übernahme des US -Unternehmens Celanese 1986 diesen Expansionsdrang.25 Bei Akzo bildet die Konzerngründung 1969 den Startpunkt der Untersuchung. Allerdings blickten AKU und Glanzstoff zu diesem Zeitpunkt schon auf eine langjährige Kooperation zurück. Schon 1921 hatten die Vereinigte Glanzstoff-Fabriken AG (VGF) und die N. V. Nederlandse Kunstzijdefabriek (Enka) eine Vereinbarung über einen technischen Patent- und Erfahrungsaustausch geschlossen. In den 1920er Jahren entwickelte sich VGF zu einem der größten Viskosehersteller der Welt, doch geriet das Unternehmen 1929 in große finanzielle Schwierigkeiten. Daraufhin übernahm die kleinere, aber finanziell gesündere Enka die Aktienmehrheit der hoch verschuldeten VGF, und die deutschen Aktionäre der VGF wurden an der neuen niederländischen Muttergesellschaft Algemeene Kunstzijde Unie N. V. (AKU) beteiligt. Beide Seiten verständigten sich auf ein weitgehend paritätisches Leitungsmodell. Doch die folgenden Jahre boten reichlich Konfliktstoff für jenes Modell, da die Eigentumsverhältnisse einem ständigen Wandel unterlagen – nicht zuletzt aufgrund der nationalsozialistischen Aggressions- und Kriegspolitik. Auf eine niederländische Dominanz in den 1930er Jahren folgten die deutsche Besatzungsherrschaft während des Zweiten Weltkriegs und die Enteignung deutscher Anteilseigner nach 1945. Infolgedessen begann nach dem Krieg ein lang anhaltender Konflikt um die Macht- und Kontrollbeziehungen bei AKU / VGF, der seinen Abschluss erst mit der Fusion 1969 fand.26 Auch im Fall von AKU / VGF blieben die Gründung der EWG und der wachsende Konkurrenzdruck nicht ohne Wirkung. Schon 1967 wies Der Spiegel auf die wachsende internationale Konkurrenz auf dem westdeutschen Kunstfasermarkt hin: »Deutschen Hosen, Teppichen und Gardinen droht Überfremdung.«27 Nach dem Auslaufen des Patentschutzes für Polyesterfasern Ende 1966 betraten mit Imperial Chemical Industries (ICI), DuPont und Kodak neue ausländische Chemiekonzerne den westdeutschen Kunstfasermarkt, der in den vorangegangenen zwölf Jahren den Handelsmarken Trevira von Hoechst und Diolen von VGF vorbehalten gewesen war. Der zunehmende Wettbewerb und der Bedeutungsverlust nationaler Grenzen in Westeuropa machten die bisherige, lose koordinierte Arbeitsteilung entlang von Ländergrenzen obsolet, während die einseitige Produktstruktur im Chemiefasergeschäft zugleich enorme Umstrukturierungen und Neugewichtungen verlangte. In der französischen Chemieindustrie machten sich die Öffnung der europäischen Grenzen und der erhöhte Wettbewerbsdruck in den 1960er Jahren 25 Klein, Operation. 26 Marx / Wubs, National conflicts; Wubs, Miracle. 27 »Markt im Netz«, in: Der Spiegel 12/1967, 13.03.1967, S. 74–77.

Gegenstand und Fragestellung

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gleichfalls bemerkbar. Vor diesem Hintergrund wurden die französischen Chemieunternehmen zwischen 1966 und 1971 neu geordnet, wobei Rhône-Poulenc u. a. die französische Firma Pechiney-Saint-Gobain übernahm und mit dem französischen Unternehmen Progil fusionierte. International war Rhône-Poulenc vor allem über drei große Auslandsgesellschaften in Großbritannien, Brasilien und den USA sowie in abgeschwächter Form in der Bundesrepublik, der Schweiz und Spanien tätig. Im Unterschied zu den westdeutschen Unternehmen hatte die französische Unternehmensgruppe ihre Auslandsgesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg nicht verloren und konnte ihr Auslandsgeschäft daher kontinuierlich fortsetzen. Gleichwohl geriet Rhône-Poulenc  – wie viele französische Unternehmen – während der 1970er Jahre gegenüber internationalen Konkurrenten ins Hintertreffen.28 Die Verstaatlichung zahlreicher französischer Großunternehmen 1981/82 war daher nicht nur ein politisches Projekt, sondern sollte auch ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit erhöhen und feindliche Übernahmen verhindern. Fortan bildeten die beiden Unternehmensbereiche Gesundheit und Agrochemie die Kernpfeiler des Unternehmens. Sowohl der britische Chemiekonzern Imperial Chemical Industries (ICI) als auch die schweizerischen multinationalen Chemie- und Pharmakonzerne sind nicht Teil dieser Studie. ICI war 1926 in Reaktion auf den Zusammenschluss der IG Farben durch die Fusion von vier britischen Unternehmen gegründet worden und umfasste ebenfalls eine breit gefächerte Produktpalette, welche von Sprengstoffen und Industriechemikalien bis hin zu Düngemitteln, Insektiziden und Farbstoffen reichte.29 Der in Großbritannien ansässige Chemiekonzern war gleichfalls international aufgestellt, übernahm 1971 beispielsweise das große US -Unternehmen Atlas Chemical Industries, und besaß bei vielen Produkten auf dem britischen Markt eine dominante Position. Ende der 1980er Jahre geriet der britische Konzern in die Krise und gliederte 1993 die ertragsstarken Bereiche Pharmazie, Agrochemie, einen Teil der Spezialchemie sowie biologische Produkte in ein neu gegründetes Unternehmen namens Zeneca aus. Der verbliebene ICI-Konzern zog sich während der 1990er Jahre immer stärker aus der Produktion chemischer Massenware zurück und konzentrierte sein Geschäft auf Spezialchemikalien, denen eine geringere Konjunkturabhängigkeit und eine höhere Rendite nachgesagt wurde. Dennoch kam ICI nicht aus der Krise heraus und musste weitere Firmenverkäufe zur Schuldentilgung tätigen. Schließlich wurde ICI 2007 von AkzoNobel übernommen und ein Teil des Geschäfts (Klebstoffe und Electronic Materials) an das deutsche Unternehmen Henkel weiterverkauft.30 Die Entwicklung von ICI bietet damit spannende Anknüp28 Cayez, Rhône-Poulenc. 29 Vgl. zur Unternehmensgeschichte von ICI bis in die 1950er Jahre: Reader, Forerunners; Reader, First Quarter-century; Coleman, Technologietransfer; Coleman, Strategies. Vgl. zur Organisationsgeschichte bis zum Beginn der 1970er Jahre: Pettigrew, Giant. 30 »Chemiefusion perfekt: Akzo Nobel kauft ICI«, in: Handelsblatt 13.08.2007 [11.11.2019]; »ICI agrees to be bought by Akzo«, in: BBC News 13.08.2007 [11.11.2019]; Owen / Harrison, ICI .

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Einleitung

fungspunkte für die übrigen Fallbeispiele, auf die immer wieder vergleichend Bezug genommen wird.31 Grundsätzlich wurde die Auswahl der Unternehmen von drei Überlegungen geleitet. Erstens liegt der Arbeit die Ausgangshypothese zugrunde, dass der sich herausbildende europäische Binnenmarkt in den 1960er Jahren eine große Wirkungsmacht auf die Verbreitung multinationaler Unternehmen in Westeuropa hatte. Die Verbindungen zwischen Bayer und Rhône-Poulenc, zwischen Hoechst und Roussel Uclaf sowie zwischen AKU und Glanzstoff lassen sich nur vor dem Hintergrund des entstehenden westeuropäischen Marktes erklären.32 Bei den vier für die Studie ausgewählten Fallbeispielen befand sich der Sitz des Mutterunternehmens mit den Niederlanden, der Bundesrepublik und Frankreich jeweils in Gründungsstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Damit unterlagen sie in dieser Hinsicht ähnlichen strukturellen Bedingungen, die in dieser Form für ICI erst später (mit dem Beitritt Großbritanniens zur EWG) und für die schweizerischen Unternehmen überhaupt nicht gegeben waren. Die Unternehmensentwicklungen der beiden Basler Firmen Ciba und J. R.  Geigy, welche 1970 zur Ciba-Geigy AG fusionierten und 1996 mit dem schweizerischen Unternehmen Sandoz den Novartis-Konzern formten, werden daher wie das Pharmaunternehmen Hoffmann-La Roche lediglich vergleichend herangezogen; zumal hierzu umfangreiche Darstellungen vorliegen.33 Zweitens ist die Chemieindustrie  – nicht zuletzt wegen ihrer hohen Forschungskosten und der damit verbundenen Kapitalintensität – besonders durch Großunternehmen geprägt. Darüber hinaus fungierten zahlreiche Großunternehmen im Ausland als Vorreiter für nachfolgende heimische Firmen und sind in dieser Perspektive als Flaggschiff-Unternehmen anzusehen, deren Entscheidungen über das Einzelunternehmen hinausstrahlten.34 Drittens wurde die Auswahl durch die gegenseitige Wahrnehmung der Akteure bestimmt. Das Bayer-Vorstandsmitglied Karl Heinz Büchel berichtete in einer Vorstandssitzung im März 1982 über ein Treffen führender Forschungsleiter in den USA, an dem neben den namhaften US -Firmen aus dem europäischen Raum Bayer, BASF, Hoechst, Rhône-Poulenc und ICI teilgenommen hätten.35 Ähnlich stellte sich die 31 Auch nach mehreren Anläufen wurde kein Zugang zum Konzernarchiv von ICI gewährt. In einigen öffentlichen lokalen britischen Archiven lagern Unterlagen zu einzelnen Standorten oder Divisionen, die das Fehlen von Quellen zur Konzernspitze jedoch kaum aufwiegen können. Neben einigen Akten aus den National Archives (Kew / London) bieten die Geschäftsberichte daher die einzige wesentliche Grundlage. Vgl. hierzu: British Library, ICI Annual Report (1983–2006); London School of Economics Library, ICI Annual Report (1959–2002). Ein Dank gilt an dieser Stelle Ray Stokes (University of Glasgow), Peter Morris (London Science Museum) und Rory Miller (University of Liverpool) für ihre Hilfe bei der Suche nach ICI-Unterlagen. 32 Marx, Europa. 33 Bieri u. a., Roche; Dettwiler, Basel; Zeller, Novartis. 34 Ähnlich argumentiert: Lane, Emergence, hier S. 73–74. 35 BAL 380-7-64 Bayer Vorstandssitzung (16.03.1982).

Gegenstand und Fragestellung

25

Situation für Rhône-Poulenc dar. In der eigenen Perspektive der Manager waren 1975/76 die Hauptkonkurrenten der französischen Chemiegruppe – neben den US -Konzernen (DuPont, Union Carbide, Dow Chemical und Monsanto) die europäischen Konzerne Montedison (Italien), Ciba-Geigy (Schweiz) und ICI (Großbritannien) sowie Hoechst, BASF, Bayer und Akzo.36 Die Auswahl der vorliegenden Arbeit umfasst damit führende Chemiekonzerne des EWG -Raums. Das italienische Unternehmen Montedison wurde von den übrigen Chemiekonzernen nur auf bestimmten Produktfeldern als ebenbürtiger Konkurrent wahrgenommen. Montedision war 1966 aus der Fusion des Chemieunternehmens Montecatini und des Stromversorgers Edison entstanden. Über die beiden Holdings Ente Nazionale Idrocarburi (ENI) und Istituto per la Riconstruzione Industriale (IRI) hielt der italienische Staat ab Ende der 1960er Jahre knapp 20 Prozent des Aktienkapitals, doch übte er einen maßgeblichen Einfluss auf die Besetzung des Verwaltungsrats und damit auf die Leitlinien der Unternehmenspolitik aus. In den 1970er Jahren wurde auch Montedison massiv von der ökonomischen Krise erfasst.37 Neben den Unternehmensakteuren nahmen auch externe zeitgenössische Finanzanalysten jene Konzerne als unmittelbare Konkurrenten wahr. Die auf Finanzanalysen spezialisierte französische Gesellschaft Société de Documentation et d’Analyses Financières S. A. (DAFSA) erstellte 1975 ein Gutachten zu Rhône-Poulenc, in dem man sich gleichfalls auf BASF, Bayer, Hoechst, ICI, Rhône-Poulenc und Akzo bezog.38 Dabei variierten die Stellung und das Konkurrenzverhältnis zu anderen Unternehmen in Abhängigkeit vom Produkt. Eine Eurostaf-Dafsa-Analyse aus dem Jahr 1987 zeigt die Rangfolge der jeweils zehn größten europäischen Chemieunternehmen nach der Höhe des Umsatzes für fünf Produktbereiche. Während die BASF hier im Pharmabereich beispielsweise gar nicht gelistet war, stand sie bei Kunststoffen und Düngemitteln an Position zwei. Umgekehrt verhielt es sich bei Hoechst und Bayer mit ihren starken Pharmasparten. Obschon Akzo und Rhône-Poulenc ihr Produktangebot im Rahmen von Umstrukturierungen und Fusionen seit 1969/70 deutlich ausweiteten, zeigt die Übersicht die fortbestehende starke Verankerung beider Unternehmen im Chemiefasergeschäft.

36 AHGS , RP.SA BH3759–a Rhône-Poulenc S. A. Financial Year 1975, S. 20; AHGS , RP.SA BH0082 B.B2 Nr. 4 Groupe Rhône-Poulenc Comité Exécutif (25.06.1976, 01.07.1976), Structure du financement de l’industrie chimique. Position du Groupe Rhône-Poulenc 1970–1975 (28.06.1976), Quelques éléments de stratégie financière relatifs à l’industrie chimique (30.06.1976). Vgl. hierzu auch: Marthey, Industrie, S. 145–152. 37 Gröteke, Friedhelm: »Aufstand der Aktionäre«, in: Die Zeit, 28.02.1969. Vgl. grundlegend zu Montedison: Marchi / Marchionetti, Montedison. Zuhayr Mikdashi zufolge hielten IRI und ENI 1973 19,6 % der Montedison-Anteile. Vgl. Mikdashi, Aluminum, hier S. 178. 38 BNF: Lucot, Sylvie: Dafsa Analyse. Rhône-Poulenc (Collection Analyses de Groupes). Paris 1977.

26

Einleitung

Tabelle 1: Übersicht über die zehn größten europäischen Chemieunternehmen nach Produktbereichen (1986) Pharma

Pflanzliche Arzneimittel

Rang

Name

N*

Umsatz in Mio. FF

Rang

Name

N*

Umsatz in Mio. FF

1

Hoechst

D

21.803

1

Bayer

D

18.826

2

Ciba-Geigy

CH

20.311

2

Ciba-Geigy

CH

13.800

3

Bayer

D

19.975

3

Royal Dutch  / ​ Shell

GB -NL

7.889

4

Sandoz

CH

15.353

4

ICI

GB -NL

7.159

5

Glaxo

GB

12.964

5

Rhône-­ Poulenc

F

6.350

6

HoffmannLa-Roche

CH

12.598

6

Hoechst

D

5.380

7

BoehringerIngelheim

D

11.352

7

BASF

D

5.280

8

ICI

GB

9.915

8

Schering

D

4.174

9

Wellcome

GB

9.521

9

Sandoz

CH

2.713

10

Rhône-­ Poulenc

F

9.500

10

HoffmannLa-Roche

CH

1.018

Kunststoffe

Chemiefasern

Rang

Name

N*

Umsatz in Mio. FF

Rang

Name

N*

Umsatz in Mio. FF

1

Bayer

D

27.500

1

Hoechst

D

11.943

2

BASF

D

20.760

2

Akzo

NL

10.088

3

Royal Dutch  / ​ Shell

GB -NL

18.324

3

Rhône-­ Poulenc

F

9.579

4

Hoechst

D

15.725

4

BASF

D

7.000

5

Solvay

I

15.677

5

Courtaulds

GB

6.695

6

Ciba-Geigy

CH

14.106

6

ICI

GB

6.667

7

EniChem

I

11.220

7

Montedison

I

5.054

8

Montedison

I

10.000

8

Snia-BPD

I

4.123

9

DSM

NL

9.754

9

Bayer

D

4.000

10

Atochem

F

8.685

10

EniChemFibre

I

3.235

Gegenstand und Fragestellung

27

Düngemittel Rang

Name

N*

Umsatz in Mio. FF

1

Norsk Hydro

N

24.600

2

BASF

D

11.896

3

ICI

GB

10.133

4

CdF Chimie

F

6.877

5

DSM

NL

6.127

6

EMC

F

4.803

7

Montedison

I

3.840

8

Kemira

SF

3.831

9

Superfos

DK

3.500

10

EniChem

I

3.311

Quelle: BNF: Brousseau, Éric / L amprière, Luc (Eurostaf Dafsa, Europe Stratégie Analyse Financière): Les grands groupes mondiaux de la chimie (Collection Analyses de Comportements. Études de strategies comparées). Paris: Trefle 1987, S. 7–9. (* »Nationalität« der Muttergesellschaft)

Die hier untersuchten Unternehmen waren somit nicht auf allen Gebieten unmittelbare und gleichwertige Konkurrenten; selbst innerhalb großer Arbeitsgebiete konnten sie sich durch Spezialisierungen auf bestimmte Medikamente, Kunststoffe oder Pflanzenschutzmittel voneinander abgrenzen. Hierin lag ein Grund dafür, dass die drei großen westdeutschen Chemiekonzerne auch nach der Bereinigung ihrer gemeinsamen Beteiligungen 1969/70 noch gegenseitig bedeutsame Lieferanten blieben. Dennoch lassen sich mehrere Produktbereiche ausmachen, auf denen nahezu alle Fallbeispiele geschäftlich aktiv waren – besonders nachdem Akzo und Rhône-Poulenc ihr Produktangebot verbreitert hatten. Neben der Herstellung anorganischer und organischer Chemikalien gehörten hierzu vor allem die Bereiche Human- und Tiermedizin (Pharma), Landwirtschaft (Pflanzenschutz / Düngemittel), Chemiefasern, Farben und Farbstoffe, Lacke, Kunststoffe sowie Informationstechnik. Daneben gab es eine lange Liste weiterer Produkte, die von Kosmetika über Körperpflegeartikel und Sonnenbrillen bis hin zu Kautschukerzeugnissen reichte. Jene Produkte wurden nur von einigen Unternehmen und teils auch nur temporär angeboten. Die Verbreiterung ihrer Produktpaletten im Rahmen von Diversifizierungsstrategien, wie sie damals weit über die Chemieindustrie hinaus en vogue waren, machte die Unternehmen zu vielfältigen Konkurrenten. Seit etwa 1980 wandelte sich diese unternehmenspolitische Mode in Richtung einer Konzentration auf Kernkompetenzen. Die großen Tanker der europäischen Chemieindustrie

28

Einleitung

schienen kaum noch steuerbar. An ihre Stelle trat das Leitbild des schlanken, auf spezifische Fähigkeiten konzentrierten (Netzwerk-)Unternehmens.39 Die enge Verbindung zwischen Pharma- und Chemieindustrie war bei westeuropäischen Unternehmen ohnehin deutlich stärker ausgeprägt als bei ihren US -Konkurrenten.40 Zwei weitere Gründe sprachen für die Abtrennung von Unternehmensteilen. Zum einen waren einige Arbeitsgebiete wie das Chemiefaser- und das Standardkunststoffgeschäft in den 1970er Jahren in eine tiefe Absatz- und Preiskrise geraten. Da ihre Verluste nicht dauerhaft von den anderen Sparten aufgefangen werden konnten, mussten sie nach Meinung des Managements umstrukturiert, verkauft oder geschlossen werden. Zweitens drängten spätestens ab Mitte der 1980er Jahre Finanzanalysten immer vehementer darauf, die unübersichtlichen Konzerngebilde in klar ausgerichtete und leichter zu bewertende Unternehmensteile umzuwandeln. Da die Bedeutung von Ratings und Rankings für die Finanzierung der Unternehmen im Zeitverlauf zunahm, fanden jene Forderungen immer größeres Gehör. Die Konzentration auf die Life Sciences (Pharma und Pflanzenschutz) und gleichzeitige Abspaltung traditioneller Chemiegebiete kennzeichneten die Unternehmensentwicklungen mehrerer Fallbeispiele in den 1980er und 1990er Jahren. Der Aufstieg des Finanzmarkt-Kapitalismus in Verbindung mit dem weltweiten Konjunkturrückgang zu Beginn der 1990er Jahre verschärfte abermals die Konkurrenzbedingungen und löste schließlich eine neue Runde internationaler Fusionen und Umstrukturierungen aus.41 Die an Dynamik gewinnende Deregulierung internationaler Finanzmärkte veränderte sowohl die Strukturen und die Strategien der Unternehmen als auch deren interne Entscheidungslogiken. Die Organisation von Arbeit und Produktion tendierte immer deutlicher in Richtung Vermarktlichung und Beschleunigung.42 Dabei wurde die Liberalisierung der globalen Wirtschaft von dem Gedanken westlicher Regierungen getragen, auf diese Weise die ökonomische Krise und die anhaltende Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen zu können. Die hierdurch verursachte Beschleunigung der Globalisierung war folglich auf das Handeln konkreter Akteure auf dem politischen und ökonomischen Feld zurückzuführen, auch wenn diese von

39 Kleinschmidt, Blick. 40 Chandler, Industrial Century. Die Grundstruktur der Chemie- und Pharmaindustrie etablierte sich Chandler zufolge bereits in den 1920er Jahren. Nur wenigen Firmen gelang es anschließend zur Führungsgruppe weltweit tätiger Chemie- und Pharmaunternehmen aufzusteigen. Er sieht daher die europäischen Unternehmen als wesentliche Konkurrenten der US -Konzerne an, wohingegen die japanischen Unternehmen nur eine untergeordnete Rolle spielten. Infolgedessen entwickelte die »japanische Herausforderung« für die westeuropäischen Chemieunternehmen weitaus weniger Brisanz als für die westeuropäischen und nordamerikanischen Autobauer. 41 Windolf, Finanzmarkt-Kapitalismus. 42 Marx, Manager; Marx, Vermarktlichung. Vgl. auch Rödder, Gegenwart, S. 49–53.

29

Gegenstand und Fragestellung

Tabelle 2: Übersicht über die zwanzig führenden Chemieunternehmen der Welt (1986) Unternehmen Akzo

Umsatz in Mio. DM Anteil des Chemieumsatzes in %

Anzahl der Beschäftigten

12.825

85

73.700

8.544

65

14.000

BASF

32.486

70

115.800

Bayer

34.834

80

179.500

Ciba-Geigy

16.795

90

79.400

Dow Chemical

25.112

86

56.600

DSM

16.466

58

28.600

DuPont

79.473

44

165.000

Exxon Chemical

14.306

100

k.A.

Henkel

9.071

65

33.600

Hoechst

34.986

85

181.700

8.453

88

57.400

ICI

28.295

88

123.800

Monsanto

14.959

82

52.200

Montedison

15.655

70

94.200

Rhône-Poulenc

12.707

78

83.400

Shell Chemicals

16.209

100

k.A.

Solvay

9.034

80

45.400

Sumitomo Chemical

6.532

100

9.200

21.429

67

103.200

Asahi Chemical

Hoffmann-La Roche

Union Carbide

Quelle: Amecke, Chemiewirtschaft, S. 43. Anmerkung: Die Unternehmen wurden nach der Größe ihres Umsatzes (nur Chemieanteil) ausgewählt; zusätzlich wurden zwei japanische Unternehmen aufgenommen, die aufgrund ihres Umsatzes alleine nicht zu den 20 größten Chemieunternehmen gehörten. Vgl. Amecke, Chemiewirtschaft, S. 41–55.

30

Einleitung

ihnen oftmals als ungesteuerter, äußerlicher Prozess wahrgenommen wurde.43 Gleichzeitig lösten sich in diesem Zusammenhang die nationalen Beziehungsgeflechte zwischen den Unternehmen über Kapital- und Personalrelationen auf, welche bis dahin unwillkommene Übernahmen verhindert, langfristige Finanzierungen gesichert und Unternehmenskrisen aufgefangen hatten. Die stabilen Verflechtungen über die »Deutschland AG« gehörten lange Zeit zu den herausragenden Charakteristika der deutschen Unternehmenslandschaft; auch in den Niederlanden oder Frankreich zerfielen ab Mitte der 1990er Jahre ähnliche Unternehmensverbindungen.44 Dass internationale Fusionen und multinationale Unternehmen ab den 1980er Jahren weniger im Fokus öffentlicher Kritik standen, hing zum einen damit zusammen, dass sich der öffentliche Diskurs in weiten Teilen der west­lichen Welt inzwischen verschoben und sich staatliche Akteure und internationale Organisationen auf freiwillige Verhaltensgrundsätze für multinationale Unternehmen geeinigt hatten; zum anderen war auch der Öffentlichkeit bekannt, dass zahlreiche der »übermächtigen« multinationalen Konzerne in den 1970er Jahren in schwere Krisen gerutscht waren.45 Darüber hinaus geriet die in den 1970er Jahren noch lebendige, marxistische Kritik an multinationalen Konzernen mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus zunehmend in Vergessenheit. Der Zusammenschluss von Bayer und Monsanto 2018 wurde denn auch vor allem mit Blick auf die durch Monsanto-Produkte verursachten Umweltschäden, die damit einhergehenden Risiken für Bayer-Anteilseigner und die Marktmacht gegenüber landwirtschaftlichen Produzenten kritisiert, und weniger in Hinsicht auf ihre Rolle im Nord-Süd-Konflikt oder die Auswirkungen auf die Beschäftigten.

1.1.2 Wahrnehmung und Relevanz Zeitgenössische Thesen zur Konzentration des »internationalen Kapitals« in den 1970er Jahren erfassen die Bedeutung multinationaler Unternehmen nur unzureichend. Auch der oftmals herangezogene Vergleich zwischen unternehmerischen Umsatzzahlen und volkswirtschaftlichen Sozialprodukten, mit dem 43 Wirsching, Demokratie und Globalisierung, S. 75. Auch Jürgen Osterhammel und Niels Petersson verweisen auf die Bedeutung staatlichen Handelns: »Die multinationalen Konzerne der Gegenwart, die globale Produktionsnetze organisieren, in denen einzelne Produktionsschritte auf die jeweils kostengünstigsten Standorte verteilt werden, sind aber ein Produkt der Liberalisierung der Waren- und Kapitalmärkte seit den 1970er Jahren.« Vgl. Osterhammel / Petersson, Globalisierung, S. 98. 44 Ahrens / Gehlen / Reckendrees, Deutschland AG ; Beyer, Globalisierung; Fennema / Heemskerk, Nieuwe Netwerken; Morin, Transformation; Windolf, Corporate Network. 45 Vgl. zum Begriff der Krise, der in der vorliegenden Arbeit in ökonomischer Perspektive zur Umschreibung einer massiv nachlassenden Nachfrage, unternehmerischer Verluste o. ä. genutzt wird: Raphael, Krisen. Vgl. zu einem weiter gefassten Krisenbegriff: Gotto u. a., Krisen (2012); Gotto u. a., Krisen (2013).

Gegenstand und Fragestellung

31

das Machtpotenzial multinationaler Konzerne belegt werden soll, erscheint nur wenig aussagekräftig. Allerdings nahmen die Anzahl, die Größe und der Einfluss multinationaler Unternehmen durch in- wie ausländische Übernahmen und Auslandsgründungen seitdem zweifellos zu.46 Konzerne wie die BASF oder Hoechst fügten sich mit ihren hohen Weltmarktanteilen und ihren gewaltigen Auslandsinvestitionen geradezu idealtypisch in das Bild vieler zeitgenössischer, kapitalismuskritischer Beobachter ein und dienten zahlreichen marxistisch orientierten Studien als Beispiele für die Konzentrationstendenzen im Kapitalismus.47 Neben Journalisten, Gewerkschaftern und Politikern48 befassten sich auch immer mehr Wissenschaftler mit dem Thema »multinationale Unternehmen« und rückten hierbei insbesondere das ausbeuterische Verhältnis zur sogenannten »Dritten Welt« in den Mittelpunkt.49 Die zunehmende öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber multinationalen Unternehmen drückte sich gleichfalls in einer 1974 veröffentlichen Serie des Nachrichtenmagazins Der Spiegel über »Konzerne kontra Staat. Die Macht der Multis« aus, in der auf deren Machtzuwachs gegenüber staatlichen Institutionen hingewiesen wurde.50 Nach ersten Anfängen in den 1960er Jahren erlebte die kritische Erforschung multinationaler Unternehmen in den 1970er Jahren eine wahre Hochkonjunktur. Diese Entwicklung blieb auch den Unternehmen nicht verborgen, die mit Formen der Gegenmobilisierung reagierten. Illustrativ hierfür ist ein in Genf ansässiges Forschungsinstitut (Institut de Recherche et d’Information sur les Multinationales (IRM)), welches zu Beginn der 1980er Jahre mehrere Studien über multinationale Unternehmen und deren gesellschaftliche Bedeutung anregte. Hinter dem Institut stand das schweizerische Unternehmen Nestlé, das damit der Berner Arbeitsgruppe »Dritte Welt« begegnen wollte, die Mitte der 46 Jones, Global Capitalism, S. 16–41. 47 Vgl. exemplarisch: Barnet / Müller, Krisenmacher; Grou, Structure; Räuschel, BASF. Mit Blick auf Westeuropa besonders: Axt, Multinationale Konzerne; Froemer, Multinationale Unternehmen; Krosigk, Multinationale Unternehmen. Auch die Kirchen schalteten sich in diese Diskussion ein: Harms, Multinationale Unternehmen. 48 Vgl. exemplarisch: Bayer / Busse von Volbe / Lutter, Fragen (u. a. mit einem Beitrag von Kurt Biedenkopf). Im November 1974 hielt beispielsweise auch Bundeskanzler Helmut Schmidt in der Friedrich-Ebert-Stiftung (Bonn) einen Vortrag über multinationale Unternehmen, die einerseits als Motoren des Wachstums anzusehen seien, doch andererseits nationale Regelungen umgingen, um Steuern zu vermeiden. Vgl. RWWA 195-B6-2-17 Ansprache von Bundeskanzler Helmut Schmidt (07.02.1975). Vgl. für die Debatte in Großbritannien in den 1970er Jahren: National Archives (Kew): FO 973/13 Multinational Companies (1978); T 366/165 Multinational Companies – General Policy (1976). 49 Vgl. exemplarisch: Kisker, Konzerne; Pollak / R iedel, Multinationale Konzerne; Senghaas / Menzel, Konzerne. 50 Die Serie wurde auf dem Titelbild der Spiegel-Nummer 18/1974 mit obigem Wortlaut angekündigt. Vgl. ferner »Stärker als der Staat?«, in: Der Spiegel 18/1974, 29.04.1974, S. 36–54; »Stärker als der Staat?«, in: Der Spiegel 19/1974, 06.05.1974, S. 61–77; »Stärker als der Staat?«, in: Der Spiegel 21/1974, 20.05.1974, S. 46–62.

32

Einleitung

1970er Jahre die Broschüre »Nestlé tötet Babys« herausgebracht hatte. Tatsächlich erlangte das Institut in den folgenden Jahren aufgrund seiner weitgehend ausgewogenen Studien eine gewisse Reputation; damit verlor Nestlé jedoch das Interesse an seiner Arbeit, und auch andere multinationale Unternehmen sahen keinen Grund mehr, sich länger an seiner Finanzierung zu beteiligen. Im Zusammenspiel mit einem nachlassenden öffentlichen Interesse an multinationalen Unternehmen hatte dies zur Konsequenz, dass das IRM 1986 wieder geschlossen wurde.51 Das multinationale Unternehmen verlor als Problem der sozial-, wirtschafts- und politikwissenschaftlichen Forschung in den 1980er Jahren merklich an Bedeutung; an seine Stelle trat in den 1990er Jahren die Frage nach der mangelnden Attraktivität eines Standorts oder eines Landes für internationale Investoren.52 Die Konjunktur der Erforschung multinationaler Unternehmen drückt damit auch die Dynamiken in den gegenwartsnahen Wissenschaftsdisziplinen aus.53 Auch westdeutschen Konzernetagen blieb jene Entwicklung der gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Rezeptions- und Wirkungskontexte nicht verborgen. Im Januar 1973 berichtete Bayer-Vorstandsmitglied German Broja seinen Vorstandskollegen von einer internationalen Konferenz in Genf, die sich dem Thema »Multinationale Unternehmen« angenommen hatte und von Unternehmern, Gewerkschaftlern und Regierungsvertretern besucht worden war. Seitens der westdeutschen Chemieunternehmen hatte Hoechst-Vorstand Erhard Bouillon stellvertretend für die Branche teilgenommen und seine Unternehmerkollegen anschließend mit Entsetzen von den gewerkschaftlichen Vorstößen zur rechtlichen Begrenzung multinationaler Unternehmen informiert.54 Während sich die Öffentlichkeit der Ausbreitung jener Unternehmensform hilflos gegenübersah, da sie nationale Formen der Kontrolle aushebeln konnte, sahen sich die Unternehmen selbst vielfach in der Defensive  – sowohl gegenüber einer 51 Pitteloud, Unwanted Attention; »Konzerne: Kleiner David«, in: Der Spiegel 27/1976, 28.06.1976, S. 112–113. Vgl. exemplarisch für die Studien des IRM : Buckley / A rtisien, Arbeitsmarkt; Michalet, Multinationale Unternehmen. 52 Meteling, Konkurrenz. 53 Junne, Aufstieg, hier besonders S. 408. 54 BAL 387-1-12 Bayer Vorstandssitzung (05.01.1973). Vgl. zu den Vorstößen der OECD und der ILO : BAL 379/36 Erklärung der Regierungen der OECD -Mitgliedstaaten über internationale Investitionen und multinationale Unternehmen (21.06.1976), Dreigliedrige Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik der Internationalen Arbeitsorganisation (16.11.1977); Petrini, Demanding Democracy; Petrini, Capital; Poeche, Multinationale Unternehmen. Neben den ILO -Prinzipien bekannte sich die BASF zur Einhaltung der 1976 verabschiedeten OECD -Leitsätze für multinationale Unternehmen. Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der BASF versuchte ab den 1960er Jahren ein positives Image hinsichtlich der sozialen und ökologischen Verantwortung des Unternehmens zu erzeugen, gleichwohl verzichtete sie darauf, die Geschäftsbeziehungen zum südafrikanischen Apartheitsregime näher zu beleuchten. Vgl. Hagemann-Wilholt, Unternehmenskommunikation, S. 214–216.

Gegenstand und Fragestellung

33

wachsenden gesellschaftlichen und umweltpolitischen Kritik als auch aufgrund einer von ihnen selbst verursachten, zunehmenden internationalen Konkurrenz. Die volkswirtschaftliche Abteilung im Bayer-Vorstandsstab kennzeichnete die Lage des Unternehmens in den 1970er Jahren daher wie folgt: »Seit Anfang der 70er Jahre gibt es eine internationale Diskussion über die sogenannten Multis. Sie ging von Amerika aus und zielte gegen einige US -Konzerne, die sich in Mittel- und Südamerika in innere Angelegenheiten dortiger Länder eingemischt, Bestechungsgelder gezahlt und marktbeherrschende Positionen missbraucht hatten. Es blieb nicht bei Einzelvorwürfen. Vielmehr wurde argumentiert, wenn einzelne Multis sich unkorrekt verhielten, sei dies bei allen anderen auch zu vermuten. Deshalb müsse man sie kontrollieren. Entwicklungsländer, Oststaaten, gesellschaftliche Gruppen von den Gewerkschaften bis zu den Kirchen, auch einige westliche Industrieländer mit sozialistisch geführten Regierungen vereinigten sich in der Forderung nach Kontrolle der Multis. Selbst ein CDU-Politiker wie Professor Biedenkopf schrieb 1972 in einem Leitartikel in der FAZ , eine Kontrolle der Multis sei unumgänglich. Der Bogen der Gegner ist also weit gespannt.«55

Diese Form der Wahrnehmung war typisch für die Haltung des Managements multinationaler Unternehmen. Auch die BASF bemühte sich ein Stück Deutungshoheit zurückzugewinnen und beteiligte sich 1974 an einer öffentlichen Anhörung des Bundestagsausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit zum Thema »Multinationale Unternehmen«  – vor allem um der verbreiteten Kritik gegenüber der Tätigkeit multinationaler Unternehmen in der sogenannten »Dritten Welt« entgegenzuwirken.56 Der Bundestagsausschuss stellte daraufhin klar, dass multinationale Unternehmen aus seiner Sicht nicht mehr aus der Weltwirtschaft wegzudenken seien – insbesondere aufgrund ihrer Funktion für die internationale Arbeitsteilung und den internationalen Kapital- und Technologietransfer. Zwar forderte er von ihnen eine höhere öffentliche Transparenz durch die Aufstellung einer Weltsozialbilanz, aber grundsätzlich kam der Ausschuss ganz im Sinne der BASF zu dem Schluss, dass sich die in der Öffentlichkeit erhobenen Vorwürfe im Hearing nicht bestätigt hätten.57 Drei weitere Aspekte stützen jene Überlegungen hinsichtlich der zeitgenössischen Wahrnehmung und Relevanz von multinationalen Unternehmen: Erstens warnte der französische Publizist und Politiker Jean-Jacques Servan-Schreiber schon 1968 vor der amerikanischen Herausforderung: Le Défi américain. Hierbei zielte er weniger auf die technologische, organisatorische oder produktionstech55 BAL 379/36 Helmut Albert: Verhaltenskodices für Multis (17.11.1980). Vgl. hierzu auch: Ciafone, Counter-Cola. 56 Geschäftsbericht BASF 1974, S. 47. 57 BASF Unternehmensarchiv, Vorstandsprotokolle, Vorstandssitzung (04.03.1975), Bundestagsanhörung Multinationale Unternehmen (20.02.1975, Anlage 8 zu 7/75); Kratz, Multinationale Unternehmen.

34

Einleitung

nische Überlegenheit der US -Firmen, vielmehr richtete er sein Augenmerk auf die Eroberung zentraler europäischer Industriestrukturen durch US -Konzerne. Demnach bestand die Gefahr, dass in der Rangfolge der industriellen Weltmächte nach den USA und der Sowjetunion bald nicht mehr die europäischen Staaten, sondern die US -Unternehmen in Europa auf Platz Drei stünden. Diskussionen über das Für und Wider amerikanischer Direktinvestitionen in Westeuropa waren nicht neu, allerdings hatte deren Bestand seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1958 tatsächlich stark zugenommen. In einigen Schlüsselbereichen des technisch-industriellen Fortschritts nahmen US -Konzerne schon Mitte der 1960er Jahre in Europa eine beherrschende Stellung ein. Servan-Schreiber zufolge war eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit in Westeuropa notwendig, wenn man sich nicht vollständig in die Abhängigkeit der USA begeben wollte. Während bei Servan-Schreiber somit noch die US -amerikanischen Multinationals im Zentrum der Kritik standen, rückten in den 1970er Jahren zunehmend die »eigenen« europäischen Unternehmen in den Fokus.58 Zweitens wurden multinationale Unternehmen aufgrund ihres Bedeutungsgewinns und ihres Drohpotenzials seit Ende der 1960er Jahre zunehmend Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Viele Entscheidungsträger auf dem politischen Feld bemühten sich, die dem Nationalstaat enthobenen multinationalen Unternehmen wieder einzuhegen. Im Jahr 1974 wurde unter Leitung des UN-Wirtschafts- und Sozialrats ein Centre on Transnational Corporations (UNCTC) geschaffen, das den Auftrag hatte, einen Verhaltenskodex (code of conduct) für multinationale Unternehmen zu erstellen – letztlich aber in den 1990er Jahren ergebnislos aufgelöst wurde. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) konnte sich hingegen 1976 auf eine gemeinsame Erklärung über internationale Investitionen und multinationale Unternehmen verständigen. Ein Jahr später folgte die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) mit einer dreigliedrigen Grundsatzerklärung über multinationale Unternehmen und Sozialpolitik (Tripartite Declaration), und auch auf europäischer Ebene gab es entsprechende Vorstöße. Freilich verweisen jene Initiativen auf die wachsende Aufmerksamkeit und das Unbehagen vieler nationalstaatlicher Akteure gegenüber weltweit agierenden Unternehmen, doch wurden diese Erklärungen für die Unternehmen rechtlich nicht bindend. Vielmehr stand es ihnen offen, sich freiwillig jenen Grundsätzen anzuschließen. Für die im Licht der Öffentlichkeit stehenden Unternehmen gewannen jene Normsetzungen somit vor allem für die Außendarstellung und das Image an Relevanz.59 58 Servan-Schreiber, Défi Américain. Vgl. hierzu auch : »Les Américains dans l’industrie chimique européenne«, in: Le Monde, 28.07.1970; Bach, Ende, hier S. 135–136; Cotteret, Image; N. N., Image. 59 Buckley / A rtisien, Arbeitsmarkt, pp. 82–89; Eichner / Hennig, Aspekte; European Communities, Protection; Hennings, Verhältnis; Petrini, Capital; Warlouzet, Governing Europe, S. 57–77. Vgl. speziell für die US -Perspektive: Oliveiro, Multinational Enterprises.

Gegenstand und Fragestellung

35

Drittens kann der fulminante Bedeutungszuwachs multinationaler Unterneh­ men auch auf dem Feld der wissenschaftlichen und literarischen Produktion nachgewiesen werden. Die Häufigkeit des Begriffs »multinationals« in englischsprachigen Textkorpora zeigt einen rasanten Anstieg der Verwendung des Wortes in den 1970er Jahren  – und ihren Bedeutungsverlust seit Anfang der 1980er Jahre.60 In den 1990 Jahren stellten multinationale Unternehmen ein Alltagsphänomen dar, das weder in der Presse noch seitens der Wissenschaft oder der Politik eine besondere Aufmerksamkeit erfuhr. Eine Reihe von Grundregeln für multinationale Unternehmen war inzwischen verabschiedet worden. Die Auseinandersetzungen über die Rolle multinationaler Unternehmen wurden durch Kontroversen über (nationale wie regionale) Standortbedingungen und die Auswirkungen der Globalisierung abgelöst, obschon international tätige Konzerne an beiden unmittelbar beteiligt blieben.61

1.1.3 Fragestellung Multinationale Unternehmen waren keineswegs ein genuines Gewächs der 1970er Jahre, vielmehr reicht ihre Geschichte viel weiter zurück.62 Dennoch nahm ihre Verbreitung wie auch ihre Problematisierung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts rapide zu. Vor diesem Hintergrund fragt die folgende Studie nach der Bedeutung multinationaler Unternehmen für die Um- und Aufbrüche in der Zeit nach dem Boom. Hierbei stehen die Auslandsstrategien der Unternehmen im Mittelpunkt. In welche Richtung bewegten sich die Unternehmensstrategien, inwiefern fand ein qualitativer wie quantitativer Wandel statt, und inwieweit lassen sich die grundlegenden ökonomischen und gesellschaftlichen Verschiebungen mit der Entwicklung multinationaler Unternehmen erklären? Dabei wird davon ausgegangen, dass es zwischen den konkreten sozialen und ökonomischen Situationen und den übergeordneten generalisierten Denkweisen jener Zeit komplexe Wechselwirkungen gab.63 Mit dem Ende des Konsenses über 60 Die Aussage basiert auf einer Auswertung des Google Books Ngram Viewer. Jenes Instrument ermittelt per Data Mining, wie häufig in einer großen Menge digitalisierter Bücher ausgewählte Wörter oder Wortfolgen (n-grams) auftreten. An der Aussagekraft des Google Books Ngram Viewer kann mit Blick auf die zugrundeliegende Literaturbasis und die einzelnen Analyseverfahren sicherlich Kritik geübt werden; an der Grundtendenz zur Begrifflichkeit »multinationals« dürfte dies wenig ändern. 61 Meteling, Konkurrenz. Laut Bach folgte in der »Globalisierungsrede« auf die Betonung multinationaler Unternehmen in den 1970er Jahren im Sprachgebrauch die Globalisierung der Märkte. Vgl. Bach, Ende, besonders S. 135–138. 62 »Sie [multinationale Unternehmen, C. M.] sind im Grunde so alt wie die Weltwirtschaft. Wenn man will, kann man sie schon im Spätmittelalter ausmachen. […] Multinationale Gesellschaften sind also keine neue Erscheinung der Nachkriegszeit.« Fischer, Weltwirtschaft, hier S. 220–221. 63 Vgl. hierzu bereits Marx, Interesse.

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Einleitung

die polit-ökonomische Steuerungskompetenz des Keynesianischen Modells in den krisenhaften 1970er Jahren drangen neue Ordnungskonzepte in Unternehmen und Gesellschaft ein, die den Markt als Steuerungsprinzip aufwerteten. In Bezug auf die Unternehmen betraf dies sowohl die stärkere Anlehnung an die Entwicklung der Produktmärkte als auch den Einzug von Marktlogiken in unternehmensinterne Entscheidungsprozesse. Jene neuen Denkmodelle entstanden in Unternehmen nicht im luftleeren Raum, sondern als konkrete Antworten auf neue Herausforderungen. Die Studie geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass die hier behandelten Unternehmen ab Mitte der 1960er Jahre vor fundamentalen polit-ökonomischen wie auch industrie- und produktspezifischen Veränderungen standen, auf die sie reagieren mussten. Hierzu gehörten die Realisierung eines gemeinsamen europäischen Marktes und die neuen internationalen Währungsturbulenzen, der Bedeutungsgewinn ökologischer Fragen, das nachlassende Wirtschaftswachstum und die Ölpreiskrisen wie auch der ökonomische Aufstieg Asiens. Der Studie liegt die Grundthese zugrunde, dass die Antwort im Ausbau der Auslandsproduktion lag. Hier gilt es nach den konkreten Motiven und den Entscheidungsspielräumen der beteiligten Akteure wie auch möglichen Zielkonflikten zu fragen. Welche zeitgebundenen Konstellationen können den rapiden Anstieg ausländischer Direktinvestitionen erklären? In einem ersten Schritt ist zunächst zu fragen, welche Ausgangsposition die Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg hatten und welche Stellung sie auf den verschiedenen Märkten bis Mitte der 1960er Jahren einnahmen. Angesichts der Vermögens-, Marken- und Patentverluste deutscher Unternehmen im Ausland unterschied sich ihre Lage deutlich von französischen, niederländischen, britischen oder schweizerischen Firmen. Hieran anknüpfend folgt in den beiden Kapiteln 3 und 4 die quellenbasierte Darstellung der vier Fallbeispiele. Dabei unterlagen einzelne Produktbereiche durchaus voneinander abweichenden Konjunkturentwicklungen. Gleichwohl folgt die Arbeit der Grundidee, für den übergreifenden Konzern- bzw. Unternehmenszusammenhang spartenübergreifende Kennzeichen der Auslandsstrategien herauszuarbeiten. Dabei steht die Frage im Vordergrund, warum die Unternehmen zu einem spezifischen Zeitpunkt ihr Auslandsengagement in einem bestimmten Land intensivierten. Wo lagen die Zentren der Auslandsinvestitionen und womit lassen sich Verschiebungen zwischen regionalen Großräumen erklären? Sowohl die Fragestellung als auch die Struktur des Textes folgen daher stärker regionalen als produktspezifischen Aspekten. Ziel der Studie ist eine quellengesättigte, kollektive Unternehmensgeschichte zur Multinationalisierung westeuropäischer Chemieunternehmen von der Mitte der 1960er Jahre bis zum Beginn der 2000er Jahre, welche die Leitlinien des Auslandsgeschäfts systematisch analysiert. Der Vergleich mehrerer westeuropäischer Konzerne verspricht aufschlussreiche Einsichten in die Gemeinsamkeiten und Unterschiede einer beschleunigten Multinationalisierung, die weit über die Chemieindustrie hinausreicht. Eine spannende Frage lautet zudem, ob die Produktionsmodelle der westeuropäischen Chemieunternehmen im Zeitverlauf

Gegenstand und Fragestellung

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konvergierten und sich ein one-best-way herauskristallisierte, oder ob unternehmensspezifische Differenzen fortbestanden oder sich gar vergrößerten. Darüber hinaus muss geklärt werden, ob sich bestimmte Zeiträume identifizieren lassen, in denen sich unternehmerische Transformationen verdichteten. Ferner wird danach gefragt, ob ausländische Tochtergesellschaften, die in Ländern mit anderen kulturellen Traditionen errichtet wurden, in ihrer Struktur eher dem Herkunftsland des Unternehmens entsprachen (home country effect) oder ob sie eher die kulturellen Muster des Gastlandes abbildeten (host country effect). Diese Effekte lassen sich aus Platzgründen und teils auch mangels aussagekräftiger Quellen nicht für alle Tochtergesellschaften in ihren Verästelungen darstellen und werden daher durch einzelne Tiefenbohrungen abgebildet. Die Verteilung der Produktionsstandorte über den transatlantischen Wirtschaftsraum hinweg ging zugleich mit einem Wandel des zentralisierten, integrierten Großkonzerns einher. Die neu eingeschlagenen Unternehmensstrategien, die in den 1960er und 1970er Jahren noch stärker von Prozessen der Europäisierung als von der an Fahrt gewinnenden Globalisierung beeinflusst waren, wurden somit von einer Änderung der Organisationsstruktur begleitet.64 An dieser Stelle ist zu fragen, inwiefern es zur Herausbildung eines europäischen Typus des multinationalen Unternehmens kam.65 Während bereits einige wirtschaftshistorische Arbeiten zur »Amerikanisierung« deutscher Unternehmen nach 1945 entstanden sind, steht die historische Forschung zur Multinationalisierung westeuropäischer Unternehmen ab den 1960er Jahren noch an ihrem Anfang.66 Welchen Regeln und Ratschlägen folgten die Unternehmensleiter beim Umbau ihrer Konzerne? Reagierten die Unternehmen auf das Ende des Booms mit unterschiedlichen strategischen Entscheidungen oder zeichneten sich hier Parallelen ab? Welches Verhältnis bestand zwischen der Konzernleitung am Sitz des Mutterunternehmens und den Leitungsebenen der ausländischen Tochtergesellschaften? In diesem Zusammenhang ist ferner zu fragen, welches Personal für die Auslandsgesellschaften rekrutiert wurde und inwiefern sich das Selbstverständnis der Manager und die Anforderungen an das Management veränderten.67

64 Fligstein / Merand, Globalization. Für Frankreich: Eck, Américanisation. Vgl. zur Historisierung des Europäisierungsprozesses: Conway / Patel, Europeanization. 65 Dyas / T hanheiser, Enterprise; Schröter, Investigation; Whittington / Mayer, European Corporation. 66 Ahrens, Business; Hilger, Amerikanisierung; Kleinschmidt, Blick; Schröter, Americanization. Zu Frankreich: Barjot, Americanisation; Eck, Américanisation. 67 Auf eine ausführliche Darstellung der Organisationsentwicklung der Unternehmen wird im Rahmen dieser Studie verzichtet. Vgl. hierzu bereits Marx, Interesse; Marx, Reorganization. Ebenso sind die Finanzierung der Auslandsgesellschaften und der Wandel des Aktionärskreises nicht Gegenstand der Untersuchung und werden an anderer Stellen in Aufsatzform behandelt. Vgl. zu unterschiedlichen Dimensionen der Internationalisierung: Hassel u. a., Dimensionen.

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Einleitung

1.1.4 Multinationale Unternehmen und Globalisierung Multinationale Unternehmen können als Knotenpunkte angesehen werden, von denen aus zahlreiche Wandlungsprozesse in der Zeit nach dem Boom zu erklären sind.68 Während sich die vorliegende Arbeit primär auf unternehmensstrategische Entscheidungen in Westeuropa konzentriert, wären gleichfalls Themen wie die Partizipationsmöglichkeiten von Belegschaften, neue Formen von Sozialprotesten und Arbeitskonflikten, die Generierung und Ausnutzung von Innovationen oder der Wandel von Produktions- und Bildungswissen möglich gewesen. Ebenso wird das Feld politischer Regulierungs- und Einhegungsversuche weitgehend ausgeklammert. Mit Blick auf jüngere Forderungen in der Zeitgeschichte nach einer verwobenen Geschichte west- und osteuropäischer Gesellschaften ist eine weitere Einschränkung zu treffen.69 Weder gab es in den 1970er und 1980er Jahren privatwirtschaftliche Unternehmen aus Mittel- und Osteuropa, die in gleicher Weise wie westeuropäische Firmen international expandierten, noch stellten die staatssozialistischen Länder Mittel- und Osteuropas zu jener Zeit eine zentrale Anlageregion für westeuropäische Auslandsinvestitionen dar. Zwar gab es geschäftliche Kontakte durch den »Eisernen Vorhang«70, doch handelte es sich dabei im Wesentlichen um Export- und Wechselgeschäfte und nicht um den Aufbau ausländischer Produktionsanlagen. Erst mit dem Ende des Kalten Krieges und den Transformationsprozessen seit 1990 trat jene Region stärker in den Fokus international tätiger Konzerne. Dabei überlagerten sich in der Bundesrepublik einigungsbedingte Probleme und die Herausforderungen der globalen Wirtschaft. In Fragen der Privatisierung und Deregulierung fungierte der Osten vielfach als neoliberales Experimentierfeld.71 Der Gewinn politischer, ökonomischer, kultureller und gesellschaftlicher Freiheitsgrade war keineswegs umsonst zu haben, sondern verursachte enorme Folgekosten.72 Ziel der folgenden Arbeit ist es, eine kollektive Unternehmensgeschichte auszubreiten, welche die ökonomischen und gesellschaftlichen Verschiebungen in der jüngsten Zeitgeschichte miterklären will. Angesichts des Aktionsradius der über ihren Heimatmarkt hinaus agierenden Unternehmen öffnet die Untersuchung ihren Blick für länderübergreifende Trends – vor allem im westeuropäischen und transatlantischen Raum. Die Fokussierung auf wenige Fallbeispiele steht somit keineswegs im Gegensatz zu trans- oder globalgeschichtlichen Ansätzen; im Gegenteil können multinationale Unternehmen geradezu als Parade­beispiele nationaler Entgrenzung angesehen werden, über die geografisch

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Sluyterman / Wubs, Agents. Bösch, Geteilte Geschichte; Kleßmann, Staatsgründung. Fäßler, Wirtschaftsbeziehungen. Ther, Ordnung. Wirsching, Preis. Vgl. auch Doering-Manteuffel / Raphael, Epochenbruch, hier S. 34–37.

Gegenstand und Fragestellung

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voneinander entfernte Entwicklungen zusammengedacht werden können.73 Die Berücksichtigung (west-)europäischer und globaler Erklärungsansätze ist letztlich dem Untersuchungsgegenstand geschuldet. Für die in westeuropäischen Staaten ansässigen multinationalen Unternehmen blieb Westeuropa der zentrale politische und ökonomische Handlungsraum. Zwar waren die Unternehmen in ihre nationalen Institutionensets (wie die »Deutschland AG«)74 eingebunden, doch operierten sie vor allem im zusammenwachsenden europäischen Raum. Hierbei bestanden zwischen dem Prozess der europäischen Integration und der Herausbildung multinationaler Unternehmen zahlreiche Wechselwirkungen.75 Mit den massiven Zukäufen in den USA und dem ökonomischen Aufstieg asiatischer Länder ab Mitte der 1980er Jahre wurde jener Horizont merklich erweitert. Dies deutet auf die Rolle multinationaler Unternehmen für den jüngsten Globalisierungsprozess hin und bringt zugleich das Erfordernis zum Ausdruck, eine auf Westeuropa fokussierende Erzählung um ihre globalen Zusammenhänge zu erweitern. Die Geschichte westeuropäischer multinationaler Unternehmen kann aufgrund ihres weltweiten Expansionsdrangs letztlich nicht auf den geografischen Raum Westeuropas begrenzt bleiben.76 Zahlreiche zeithistorische Studien betonen die Trias anwachsender Warenund Kapitalströme, steigender Auslandsinvestitionen und multinationaler Konzerne für die unter dem Schlagwort »Globalisierung« firmierenden Verflechtungen, ohne dabei die Wechselwirkungen zwischen jenen drei Aspekten und die Motive, Wahrnehmungen und Erwartungen der Beteiligten näher zu untersuchen. In dieser Perspektive möchte die vorliegende Studie tiefer in die Entstehungskontexte von Globalisierung eindringen. Wie bei multinationalen Unternehmen handelt es sich auch bei Globalisierung um kein vollständig neues Phänomen am Ende des 20. Jahrhunderts.77 Auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind bereits ein funktionierender Weltmarkt, ein freier Welthandel, Wanderungsbewegungen, multinationale Konzerne und Formen der internationalen Arbeitsteilung als Anzeichen für Globalisierung zu beobachten.78 Gleichwohl folgt die vorliegende Studie der ver73 Conrad, Europa; Cooper, Europe; Espagne, Überlegungen; Feldman, Transnational History; Plumpe, Ölkrise; Raphael, Globalisierungsgeschichte. Vgl. zum mangelnden Dialog zwischen westeuropäischen Erklärungsansätzen für die Zeit seit den 1970er Jahren: Levsen, Einführung. 74 Ahrens / Gehlen / Reckendrees, Deutschland AG . 75 Marx, Europa; Ramírez-Pérez, Multinational corporations. Vgl. zur europäischen Integration auf ökonomischer Ebene exemplarisch: Bussière, Intégration; Van Laer, Liberalization; Spoerer, Fortress Europe; Thiemeyer, Motive. 76 Vgl. zur Forderung nach einer europäischen Geschichte in globalen Zusammenhängen: Kaelble, Europäische Geschichte. 77 Fäßler, Globalisierung, S. 74–97; Raphael, Globalisierungsgeschichte. Vgl. für die USA : Sargent, Globalization; für Deutschland demnächst: Lingelbach, Globalgeschichte. 78 Osterhammel / Petersson, Globalisierung, S. 15. Peter Fäßler schlägt vier Merkmale zur Kennzeichnung von Globalisierung vor: Expansion sozialer Interaktionsräume; Verdichtung von Interaktionsnetzwerken; globale Wechselwirkungen; strukturelle Transforma-

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Einleitung

breiteten Einsicht, wonach jene Merkmale von Globalisierung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in einer zuvor ungekannten Dynamik konvergierten und letztlich neue Formen kapitalistischer Wirtschaftsordnungen hervorbrachten.79 »Die Logik der Kapitalmärkte schlägt nun viel direkter auf die Unternehmensstrategien durch als in den Zeiten des ausgeprägten Eigentümer- oder Managerkapitalismus.«80 Es scheint daher gerechtfertigt, die 1970er Jahre als Zäsur in der Geschichte der »zweiten« Globalisierung und gleichsam als Übergang zu einem globalen und digitalen Finanzmarktkapitalismus zu betrachten.81 Eine ähnlich herausgehobene Stellung wird den 1970er Jahren in Bezug auf die Verbreitung multinationaler Unternehmen zugeschrieben.82 Dies galt in besonderer Weise für westeuropäische Unternehmen. Während die USA als Kapitalgeber die weltweiten ausländischen Direktinvestitionen in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg dominierten, fiel ihr Anteil von 50 Prozent 1967 auf 26 Prozent 1990. Gleichzeitig stieg das absolute Investitionsaufkommen dank europäischer und japanischer Investitionen deutlich an; die USA entwickelten sich zu einem bedeutenden Zielort von Auslandsinvestitionen.83 Globalisierung und multinationale Unternehmen sind somit unzweifelhaft eng miteinander verbunden. Vor diesem Hintergrund versteht sich die folgende Untersuchung als Teil einer in räumlicher Perspektive offenen Zeitgeschichte, welche Gegenstände und Akteure in ihren globalen Zusammenhängen betrachtet.84 Dass sich der Begriff der Globalisierung nur schwer fassen lässt, ist vor allem damit zu begründen, dass er zugleich einen Prozess und einen Diskurs beschreibt, welche beide in der Vergangenheit ihren Anfang nahmen und – trotz gegenläufiger Strömungen infolge der Corona-Pandemie und des wachsenden

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tion von Gesellschaften. Vgl. Fäßler, Globalisierung, S. 30–33. Vgl. für eine Definition von Globalisierung als Transformation von Gesellschaftsformation: Altvater / Mahnkopf, Grenzen, S. 31–36. Für eine soziologische Perspektive auf Globalisierung mit historischen Passagen: Martell, Globalization. Vgl. als wirtschaftshistorische Annäherungen an Prozesse der Globalisierung ferner: Borchardt, Globalisierung; Bordo / Taylor / Williamson, Globalization; Tilly, Globalisierung. Kocka, Geschichte des Kapitalismus, S. 92–99; Raphael, Globalisierungsgeschichte, hier S. 206; Wirsching, Preis, S. 226–227. Cornelius Torp weist in Bezug auf die Exportquoten, den Nettokapitaltransfer, die Bedeutung multinationaler Unternehmen sowie die Überformung durch internationale Institutionen deutliche Differenzen zwischen der Globalisierung vor 1914 und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach. Vgl. Torp, Globalisierung, hier S. 588–592; Torp, Globalisierung, S. 46–50. Kocka, Geschichte des Kapitalismus, S. 97. Windolf, Finanzmarkt-Kapitalismus. Chandler / Mazlish, Introduction, hier S. 2. Vgl. ähnlich Sluyterman / Wubs, Agents, hier S. 158. Jones, Multinationals from the 1930s to the 1980s, hier S. 88, 98–99. Mazlish / Buultjens, Global History. Der Geschichte der Globalisierung wird zeitweise vorgeworfen, teleologisch eine Geschichte fortschreitender Verflechtung zu erzählen, ohne Prozesse der Deglobalisierung zu berücksichtigen, doch kann eine moderne Globalisierungsgeschichte ähnliche Entwicklungen miteinfangen.

Gegenstand und Fragestellung

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Wirtschaftsnationalismus  – bis zur Gegenwart andauern.85 Teilweise wird in ihm ein Nachfolger für den abgenutzten Begriff der Modernisierung gesehen. Laut Pierre Bourdieu wurde das Schlagwort der Globalisierung primär dafür genutzt, »neoliberale« Interessen mittels wirtschaftspolitischer und sozialstaatlicher Reformen durchzusetzen.86 Seit den frühen 1990er Jahren erfuhren der Begriff und die mit ihm verbundenen Denkfiguren eine rasante Verbreitung, auch weil sie unmittelbar an lebensweltliche Erfahrungen anknüpften. In dieser Hinsicht stellte Globalisierung eine sinnstiftende Synthesekategorie zur Verfügung, mit der der eigene Erfahrungsraum wie auch die Außenwelt erklärt werden konnten. Die Empfindung, im Zeitalter der Globalisierung zu leben, verbreitete sich schnell.87 Im Folgenden steht weniger der Diskurs als der konkrete historische Prozess der Globalisierung im Zentrum, obschon das Sprechen über Globalisierung gleichfalls in Unternehmen wirksam wurde. Auch Manager beteiligten sich an Debatten über Globalisierung.88 Dabei war Globalisierung keineswegs ein ungesteuerter Prozess, denn viele Entscheidungsträger glaubten, die aktuelle Wirtschaftskrise und die rasant steigende Arbeitslosigkeit durch weitere Liberalisierungsmaßnahmen wirksam bekämpfen zu können. Während sich Manager, Politiker und andere Akteursgruppen vielfach nicht über ihre Rolle in der Globalisierung bewusst waren, nahmen sie den Bedeutungsgewinn multinationaler Unternehmen durchaus wahr. Neben der technologischen Revolution im Zuge der Digitalisierung und dem Wandel der Wirtschafts- und Finanzpolitik unter Heranziehung marktradikaler Rezepte stellten die expandierenden ausländischen Direktinvestitionen Andreas Wirsching zufolge die dritte verursachende Kraft der Globalisierung dar. »Die wichtigsten Träger dieser Entwicklung waren und sind die multinationalen Konzerne, deren Zahl von 1980 bis 2007 dramatisch anstieg.«89 Aufgrund der seit Ende der 1960er Jahre entstehenden Herausforderungen für die westlichen Volkswirtschaften drangen westeuropäische Unternehmen verstärkt auf ausländische Märkte vor. Dabei unterschied sich die von den 85 Bach, Erfindung. Vgl. aus historischer Perspektive: Epple, Globalisierung; Nützenadel, Globalisierung. Vgl. zusammenfassend für die sozialwissenschaftliche Debatte um Globalisierung: Altvater / Mahnkopf, Grenzen; Beck, Was ist Globalisierung?; Beck, Politik der Globalisierung; sowie bzgl. der Bedeutung des Handels, der internationalen Kapitalmärkte und der multinationalen Unternehmen: Perraton u. a., Globalisierung. 86 Altvater / Mahnkopf, Grenzen, S. 28; Bourdieu, Mythos; Knöbl, After Modernization. 87 Bach, Ende; Eckel, Historisierung; Fäßler, Globalisierung, S. 14–22; Jarausch, Globalisierungsdebatte. Die Rekonstruktion von »Globalisierungsrede« über wissenschaftliche Schriften ist oftmals weitgehend losgelöst von sozialen, politischen und ökonomischen Verschiebungen. Vgl. bspw. Bach, Erfindung. 88 Vgl. Lubinski / Wadhwani, International entrepreneurship. Olaf Bach weist zu Recht darauf hin, dass sich im unternehmerischen Handeln die Vorstellung von Globalisierung als externer Zwang entwickelte. Vgl. Bach, Ende, hier S. 137. 89 Wirsching, Preis, S. 227–230 [Zitat S. 229]; Wirsching, Demokratie und Globalisierung, S. 75–76. Vgl. zum Zusammenhang von Globalisierung, multinationalen Unternehmen und nationaler Forschungs- und Technologiepolitik: Oppenländer, Globalisierung.

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krisenhaften Entwicklungen der 1970er Jahre angestoßene Globalisierung der Finanzen, der Kommunikation und der Produktion in ihrem Ausmaß durchaus von Globalisierungsprozessen vor dem Ersten Weltkrieg. Nicht nur der Handel, sondern vor allem die Auslandsproduktion stieg ab den 1970er Jahren rasant an; Großunternehmen begannen erst jetzt damit, globale Liefer- und Produktionsketten mit regionalen Produktionszentren aufzubauen und strebten bei einzelnen Produktlinien eine Weltmarktführerschaft an. Der Anstieg des europäischen Anteils am direkt investierten Auslandskapitalstock zwischen 1980 und 2000 war auf den industriellen Kern der europäischen Wirtschaft zurückzuführen  – mit gewissen Ausnahmen wie Großbritannien  –, während die USA zum weltgrößten Exporteur von Dienstleistungen avancierten.90 Vor diesem Hintergrund scheint es ertragreich, mit der Chemieindustrie eine Branche heranzuziehen, die für nahezu alle (west-)europäischen Volkswirtschaften eine zentrale Bedeutung hatte. Die neuen Herausforderungen in der Zeit nach dem Boom begründen den Untersuchungszeitraum, welcher von den späten 1960er bis zu den frühen 2000er Jahren reicht. Diese Zeitspanne wird als eine zusammenhängende Phase aufgefasst, in der grundlegende soziale, ökonomische, wirtschaftspolitische und kulturelle Verschiebungen in Westeuropa stattfanden. Es spricht einiges dafür, das Ende der 1990er Jahre als Schlusspunkt jener Übergangsphase zu den Strukturen der Gegenwart anzusehen, als Unternehmensverflechtungen zerbrachen, die marktliberale Politik der Deregulierung und Entriegelung endgültig ihre Wirksamkeit entfaltete und das Internet als sichtbarstes Zeichen der Digitalisierung seinen Siegeszug antrat.91 Auch die Globalisierung zeigte nun ihre volle Durchschlagskraft. In dieser Hinsicht stellte die zweite Hälfte der 1990er Jahre eine weitere Phase eines beschleunigten sozio-ökonomischen Wandels dar.92 Aus der Perspektive der Unternehmen wird deutlich, dass sich der Erwartungshorizont der Akteure innerhalb der letzten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts bereits zu Beginn der 1980er Jahre einmal verschob.93 Dies hing weniger unmittelbar mit der politischen »Wende« um das Jahr 1980 zusammen, auch wenn es hier mit der Regierungsübernahme von Margaret Thatcher (1979) und Ronald Reagan (1981), dem Ende der sozialliberalen Koalition (1982/83) 90 Wirsching, Preis, S. 238–241. 91 Jarausch, Globalisierungsdebatte, hier S. 341–342; Wirsching, Preis, S. 323. 92 Berghoff, Epochenschwelle; Doering-Manteuffel, Vielfalt, hier S. 139–145; Doering-­ Manteuffel / R aphael, Nach dem Boom (2012), S. 14–16; Kocka, Geschichte des Kapitalismus, S. 84; Steiner, Abschied, hier S. 34. Fäßler orientiert sich am politischen »Epochenjahr« 1989/90 und geht ab 1990 von einer dritten Globalisierungsphase aus. Vgl. Fäßler, Globalisierung. 93 Zweifellos waren die 1970er Jahre auf gesamtwirtschaftlicher Ebene noch erfolgreicher als das Nachfolgejahrzehnt, doch für die hier im Zentrum stehenden Unternehmen waren die 1980er Jahre wesentlich erfolgreicher. Vgl. dazu Plumpe, Ölkrise. Vgl. für eine Diskussion über die Jahre 1966/67, 1973 und 1981/82 als Zäsuren der deutschen Nachkriegsgeschichte: Borchardt, Zäsuren.

Analyserahmen

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und dem Wahlsieg Mitterrands (1981) zu Verschiebungen im politischen Feld kam. Vielmehr hellten sich die ökonomischen Perspektiven nach den krisenhaften 1970er Jahren für viele Chemieunternehmen deutlich auf. Dies galt nicht in gleicher Weise für andere Industriezweige, deren Beschäftigungsabbau die Arbeitslosenzahlen in Westeuropa weiter nach oben steigen ließ. In Frankreich veränderte sich infolge der Verstaatlichungspolitik zudem das institutionelle Gefüge, in dem Unternehmen operierten. Vor diesem Hintergrund unterliegt die vorliegende Arbeit einer zeitlichen Zweiteilung, welche zunächst die Herausforderungen der 1970er Jahre (Kapitel 3) und anschließend die Auf- und Umbrüche der 1980er und 1990er Jahre in den Blick nimmt (Kapitel 4). Dabei scheint das Jahr 1982 aus der Perspektive westeuropäischer Chemieunternehmen eine stärkere Wasserscheide als das »Epochenjahr« 1979 zu sein.94 Ende der 1990er Jahre entfalteten nicht nur »neoliberal« genannte Ordnungsvorstellungen auf der politischen Bühne ihre Wirkungskraft, beispielsweise durch die Implementierung von Marktideen in klassischen Bereichen des Sozialstaats95, vielmehr traten die hier untersuchten Unternehmen mit dem ökonomischen Aufstieg der asiatischen Staaten96, dem Bedeutungsgewinn von Aktionärsinteressen sowie umfangreichen Umstrukturierungen innerhalb der Gruppe der weltweit größten Pharma- und Chemiekonzerne in eine neue Entwicklungsphase ein. Die frühen 2000er Jahre bilden aus diesem Grund den Schlusspunkt der Studie.

1.2 Analyserahmen Den Ausgangspunkt für die vorliegende Arbeit bilden die thesenartigen Annährungen an die jüngste Zeitgeschichte, welche von einem tiefen sozialen Wandel und einer Pluralität verschiedenartiger Strukturbrüche in der Zeit nach dem Boom ausgehen.97 Die westeuropäische Chemieindustrie steht gewiss nicht für das Ende der alten Industriebranchen, auch wenn Werksschließungen wie im Chemiefaserbereich zweifellos Krisen in angestammten Industrieregionen bewirken konnten, vielmehr zeigt sich bei der chemischen Industrie das ambivalente Bild untergehender und aufstrebender Produktbereiche innerhalb einer Branche. Sie eignet sich daher besonders gut, um die teils widersprüchlichen Entwicklungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts einzufangen. Darüber hinaus zeichnet sie sich schon früh durch ein hohes Maß an Internationalisierung aus, wodurch die Aufbrüche in Richtung Globalisierung und die über den Nationalstaat hinausgehenden Verflechtungen besonders gut nachgezeichnet 94 95 96 97

Bösch, Umbrüche; Bösch, Zeitenwende. Hockerts, Wohlfahrtsstaat. James, Rambouillet, S. 223–236. Doering-Manteuffel, Vielfalt; Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom (2012).

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werden können. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen hierbei die Unternehmensstrategien der vier ausgewählten Großunternehmen. Dabei werden unter einer Unternehmensstrategie die langfristig orientierten Entscheidungen verstanden, in welchen Produktbereichen und Märkten ein Unternehmen tätig sein soll, welche Ressourcen verwendet und welche Verfahren angewandt werden sollen, und ob die Produktpalette erweitert oder verkleinert (Diversifikation / Kernkompetenz) werden soll.98 Dabei konnten externe Einflüsse wie disruptive Ereignisse in Form von ökonomischen Krisen oder politischen Umbrüchen unternehmerische Entscheidungen erfordern, die in dieser Form kaum vorhersehbar und planbar waren und deren Ausgang ebenso wenig vorherbestimmbar war. Nichtsdestotrotz mussten in solchen Situationen langfristig wirksame Entscheidungen gefällt werden. Dies galt im Untersuchungszeitraum beispielsweise für die Zeit der Ölpreiskrisen oder den Umbruch 1989/90.99 Jene Entscheidungen sind in einem doppelten Sinne gebunden: Zum einen sind sie in nationale Wirtschaftssysteme mit ihren Regelungen und Marktentwicklungen eingebettet; zum anderen müssen sie innerhalb des Unternehmens formuliert und durchgesetzt werden. Hierbei sind Überlegungen der französischen Regulationsschule hilfreich, die darauf verweisen, dass zur Durchsetzung einer bestimmten Strategie zunächst ein Governance-Kompromiss unter Einschluss aller Unternehmensakteure gefunden werden muss.100 Vor diesem Hintergrund wird das Unternehmen im Folgenden in Anlehnung an Thomas Welskopp als soziales Handlungsfeld mit unterschiedlichen Anspruchsberechtigten und konfligierenden Interessen angesehen, auf dem eine Vielzahl von Akteuren und Sozialgruppen zusammentrifft, die in komplexe Konfigurationen aus asymmetrischen Machtbeziehungen und vielseitigen Kooperationsstrukturen eingebunden sind. Noch deutlicher wird dies auf der Ebene des Betriebs, der nicht nur als Ausfluss strategischen Managementhandelns zu verstehen ist, sondern als komplexes Sozialsystem mit formalen und informellen Strukturen begriffen werden muss.101 Bereits 1991 haben Steven Tolliday und Jonathan Zeitlin die Selbstverständlichkeit des Managements, ein Unternehmen nach seinen Vorstellungen führen zu können, in Frage gestellt.102 Zweifellos unterliegt die Rationalität des Managementhandelns durch die Unkontrollierbarkeit der Produkt-, Finanz- und Arbeitsmärkte sowie das institutionelle Eigengewicht der Betriebe gewissen Beschränkungen.103 Großstandorte der Chemieunternehmen 98 Vgl. aus der Vielzahl der vorhandenen Strategiedefinitionen exemplarisch den folgenden Syntheseversuch: Schreyögg, Unternehmensstrategie, besonders S. 5. 99 Plumpe, Wie entscheiden Unternehmen? 100 Boyer / Freyssenet, Produktionsmodelle, besonders S. 40–45. 101 Welskopp, Betrieb; Welskopp / L auschke, Mikropolitik. Vgl. für einen stärker sozialwissenschaftlich orientierten, mikropolitischen Ansatz in Bezug auf multinationale Unternehmen: Dörrenbacher, Mikropolitik. 102 Tolliday / Z eitlin, Power. 103 Welskopp, Betrieb, hier S. 124.

Analyserahmen

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wie in Leverkusen, Frankfurt-Höchst, Ludwigshafen (Deutschland)  oder in Antwerpen (Belgien), Tarragona (Spanien) und Freeport (USA) besaßen für die Entwicklung der Konzerne eine hohe Relevanz und konnten betriebliche Eigenlogiken entwickeln. Zugleich zeigten sich im Preisverfall von Chemiefasern oder dem Zusammenbruch stabiler Währungsverhältnisse in den 1970er Jahren die Unwägbarkeiten auf den Produktmärkten und im Währungssystem. Diese Überlegungen hinsichtlich des Unternehmens als Ort sozialer Beziehungen fallen besonders scharf bei den montanmitbestimmten Konzernen der deutschen Eisen- und Stahlindustrie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ins Auge, bei denen das divergente Interessengeflecht institutionell verankert wurde. In der deutschen Chemieindustrie galten in dieser Hinsicht bis zum Mitbestimmungsgesetz von 1976 die Regelungen nach dem Betriebsverfassungsgesetz. In den westeuropäischen Nachbarstaaten waren jene institutionellen Strukturen weniger ausgeprägt. Jene Perspektive wird in der folgenden Darstellung allerdings aus drei Gründen nur punktuell gestreift. Erstens ist es für die hier ausgewählten Großkonzerne angesichts ihrer Beschäftigtenzahl kaum möglich auf die Betriebsebene zu wechseln, ohne das Gesamtunternehmen dabei aus dem Blick zu verlieren; zweitens sind insbesondere zu den ausländischen Fabriken oftmals nur rudimentäre Bruchstücke überliefert, die eine tiefergehende Analyse lokaler Sozialbeziehungen nicht zulassen. Drittens wurden die Entscheidungen, im Ausland zu investieren, ausländische Unternehmen zu übernehmen oder bestehende Auslandswerke auszubauen, weitgehend vom Vorstand des Mutterunternehmens getroffen. Soweit Unterlagen verfügbar waren, wurden auch Betriebsratsprotokolle oder Niederschriften von Aufsichtsratssitzungen eingesehen, an denen Belegschaftsvertreter teilnahmen, doch geben diese Dokumente nur wenige Hinweise auf Interessendivergenzen hinsichtlich der Auslandsstrategie.104 Solange der Ausbau des Auslandsgeschäfts Hand in Hand mit der Vergrößerung des Exports ging und er auf diese Weise inländische Arbeitsplätze sicherte, konnten Betriebsräte und Gewerkschafter jenen Entscheidungen vorbehaltlos zustimmen. Als sich Desinvestments in den 1970er und 1980er Jahren dann allmählich zu einem probaten Mittel der Unternehmenspolitik entwickelten und sich infolgedessen der Eindruck verfestigte, Auslandsinvestitionen gingen zulasten des inländischen Investitionsvolumens, führte dies zu scharfen Konflikten; es änderte aber wenig an der Entscheidungskompetenz des Managements auf diesem Feld der Unternehmenspolitik. Ohne damit die Relevanz unternehmerischer Sozialbeziehungen unterschätzen zu wollen, werden bei der Suche nach Motiven für den Ausbau der Auslandsproduktion und nach Begründungen für die Auswahl bestimmter Länder und Regionen die Positionen des Managements im Vordergrund stehen. Das heißt nicht, dass das Management dabei immer erfolgreich war. Gerade die Ausblendung sozialer und kultureller Dimensionen konnte die Rentabilität von Auslandsinvestitionen gefährden. 104 Müller-Jentsch, Konfliktpartnerschaft; Müller-Jentsch, Arbeitgeberverbände.

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Neben der Perspektive auf das Innere des Unternehmens muss auch seine äußere Einbettung in unterschiedliche Wirtschaftssysteme erläutert werden. Mit der Ausweitung des Auslandsgeschäfts über den Export hinaus stellte sich für die Unternehmensleitungen die Frage, inwiefern ihr im Heimatland praktiziertes Produktionsmodell auf das Ausland übertragbar war. Robert Boyer geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass es nicht ein einziges technologisch begründetes, überlegenes Modell für alle Wirtschaftsräume gibt, sondern ein Prozess der Hybridisierung stattfinde, bei dem über ständiges Lernen und Selektion einige Elemente aus dem Mutterland übertragen und an die Institutionen des Gastlandes angepasst und gleichzeitig neue Elemente aus dem Gastland aufgenommen würden.105 Diese Überlegungen bieten auch für die vorliegende Studie eine reizvolle Perspektive. Besonders in den USA stellten viele der hier behandelten Unternehmen in den 1970er und 1980er Jahren fest, dass technologische Verfahren und Managementstrukturen nicht eins zu eins übertragbar waren, sondern eine Anpassung an die lokalen Gegebenheiten erforderten. Als besonders nützlich erweisen sich in diesem Zusammenhang die Überlegungen von Richard Whitley und Glenn Morgan über das grenzüberschreitende Verhalten multinationaler Unternehmen und ihre Einbettung in nationale Wirtschaftssysteme (National Business System).106 Demnach sind multinationale Unternehmen bestrebt, die im Heimatland erfolgreich entwickelten Praktiken und Strukturen auf ihre ausländischen Tochtergesellschaften in den jeweiligen Gastländern zu übertragen. Hierdurch entstehen Wechselwirkungen und ein interdependenter, dynamischer Zusammenhang zwischen multinationalen Unternehmen und nationalen Wirtschaftssystemen. Dabei wird das Unternehmen als komplexe Organisation mit widersprüchlichen internen Prozessen und Konflikten angesehen, so dass jener institutionell inspirierte Ansatz mit den obigen Gedanken über Unternehmen als soziale Räume kompatibel ist. Eine Schlüsselfrage in diesem Zusammenhang ist, inwieweit die Unternehmen in der Lage sind, aus dem Wirtschaftsmodell ihres Heimatlandes international einen Wettbewerbsvorteil zu ziehen, und inwiefern es hierbei zu Anpassungs- und Angleichungsprozessen – auf der Ebene des Unternehmens wie auch zwischen den verschiedenen Wirtschaftssystemen – kommt.107 Dies verweist nicht zuletzt auf die international vergleichende Kapitalismusforschung (varieties of capitalism) und die Frage, ob multinationale Unternehmen durch ihr grenzüberschreitendes Handeln zur Konvergenz unter-

105 Boyer, Hybridization. Vgl. zur Rekonfiguration von Produktionsmodellen unter den Bedingungen zunehmender Internationalisierung: Boyer, Économie politique, S. 246–260. 106 Geppert / Matten / Schmidt, Hintergründe; Morgan, Multinational Firm; Whitley, Capitalism; Whitley, International firms; Whitley, Institutions. Whitley differenziert mehrere Internationalisierungsstrategien und verdeutlicht damit, dass es keinen one-best-way für alle Unternehmen gab. 107 Morgan / W hitley / K ristensen, Firm; Morgan / W hitley / Moen, Capitalism.

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schiedlicher Kapitalismusformen beigetragen haben.108 Zweifellos gehörte ihr Führungspersonal zur Kerngruppe politischer, kultureller und ökonomischer Akteure, welche die jüngste Globalisierung vorangetrieben haben. Multinationale Unternehmen hatten über ihr Handeln und ihre weltumspannenden Organisationen einen wesentlichen Anteil an der Herausbildung globaler, kapitalistischer Wirtschaftsstrukturen und -routinen, doch entstand auf diese Weise bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts kein neues, globales Wirtschaftssystem, dessen Ausbildungs-, Arbeits- und Produktmärkte vollkommen einheitlich aussahen. Technologische Entwicklungen und Prozesse der Liberalisierung und Deregulierung in der Weltwirtschaft veränderten sowohl die liberalen wie auch die koordinierten Marktwirtschaften (Liberal Market Economies / Coordinated Market Economies), doch blieben Unterschiede zwischen den nationalen Wirtschaftssystemen bestehen. Eine vollständige Konvergenz ist nicht in Sicht.109 Während einige Studien davon ausgehen, dass multinationale Unternehmen aufgrund der Globalisierung autonom und ungebunden in einem globalen Raum operieren110, verweisen andere auf die starke Eingebundenheit von Unternehmen in die Umwelt ihres Heimatlandes und bestreiten, dass multinationale Unternehmen nationalstaatliche Regulierungen unterlaufen könnten; die aus der Internationalisierung resultierenden Rückwirkungen auf die Unternehmen seien entsprechend gering.111 Überzeugender sind an dieser Stelle jedoch die von Whitley und Morgan betonten Wechselwirkungen zwischen Unternehmen und Wirtschaftssystemen, die über den engen Kontext der Ökonomie hinaus auf grundsätzliche gesellschaftliche Verschiebungen infolge der wirtschaftlichen Internationalisierung verweisen. Mit Blick auf Unternehmensstrategien hat Christel Lane zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die oben genannten Ansätze multinationale Unternehmen vielfach zu stark als Ergebnis nationaler oder globaler Wirtschaftsstrukturen konstruieren, wohingegen unternehmerische Interessen und branchentypische Entwicklungen zu wenig berücksichtigt würden. »It is useful to view international firms as organizations with complex internal processes of contradiction and conflict and a company’s globalization path as the outcome of political negotiation between powerful actors in and around the company.«112

108 Hall / Soskice, Varieties; Hall / T helen, Institutional change. Vgl. zur Kapitalismusforschung: Berghahn / Vitols, Kapitalismus; Marx / Reitmayer, Introduction. Vgl. anregend für die niederländische Perspektive: Sluyterman / Wubs, Agents. 109 Morgan, Multinational Firm; Whitley, International firms; Thelen, Varieties. Christel Lane konstatiert nach wie vor Unterschiede zwischen dem deutschen und dem angelsächsischen Kapitalismus, gleichwohl sieht sie hier eine gewisse Tendenz zur Angleichung – insbesondere zugunsten von Aktionärsinteressen und zu Lasten der Beschäftigten. Vgl. Lane, Transformation. 110 Ohmae, Borderless World; Ohmae, End. 111 Hirst / T hompson, Globalization. 112 Lane, Emergence, hier S. 71.

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In diesem Sinne werden multinationale Unternehmen im Folgenden als komplexe Aushandlungsforen verstanden, die im Inneren wie auch mit der Außenwelt kommunizierten, auf ökonomische und branchenspezifische Herausforderungen reagieren mussten und zugleich unternehmerischen Pfadabhängigkeiten folgten. Trotz dieser Einbettung waren ihre Wege nicht apodiktisch vorgegeben, vielmehr besaßen die einzelnen Unternehmensakteure beachtenswerte Handlungsspielräume bei der Ausgestaltung der Strategien. Es gab parallele Entwicklungen, doch in konkreten Situationen konnten sich die Akteure auch gegen unternehmensübergreifende Trends entscheiden. Die Geschichte multinationaler Unternehmen kann somit nur durch die gleichzeitige Berücksichtigung struktureller Bedingungen und individueller Handlungsmotive erklärt werden.113 Ausgehend von jenen Überlegungen zur mehrfachen Gebundenheit multinationaler Unternehmen orientiert sich die folgende Studie an einem mehrdimensionalen methodischen Gerüst, welches einerseits Anleihen bei der wirtschaftsund sozialwissenschaftlichen Erforschung multinationaler Unternehmen macht und andererseits unternehmenshistorische Werkzeuge heranzieht. Vor dem Hintergrund der kaum mehr überschaubaren Menge möglicher Analyseansätze für multinationale Unternehmen in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften werden hier nur die für die vorliegende Untersuchung relevanten Forschungsstränge knapp skizziert. Dabei lassen sich neben den bereits genannten sozialwissenschaftlichen Studien zur vergleichenden Institutionenanalyse und historischen Beiträgen vor allem (makro-) ökonomische Herangehensweisen, welche auf der Verteilung ausländischer Direktinvestitionen fußen, handlungsorientierte Managementkonzepte sowie stärker auf den Prozesscharakter von Internationalisierung gerichtete Ansätze voneinander unterscheiden.114

1.2.1 Ökonomische Ansätze zu multinationalen Unternehmen und Direktinvestitionen Im Jahr 1960 wies Stephen Hymer in seiner Dissertation erstmals darauf hin, dass multinationale Unternehmen nicht nur als ökonomische Einheiten zu betrachten sind, die Kapital von einem Land in ein anderes Land transferieren. Vielmehr betonte er, dass ausländische Direktinvestitionen immer mit der Übertragung eines ganzen Pakets von Ressourcen einhergehen. Ihm zufolge bräuchten multinationale Konzerne eine Art von Vorteil, um in einer fremden Umgebung operieren und konkurrieren zu können. Er ging davon aus, dass es für Unternehmen grundsätzlich schwieriger und riskanter sei, ihre Geschäfte im Ausland zu organisieren. Daher würden sie den Export in der Regel vorziehen, 113 Geppert / Mayer, Global. 114 Vgl. für einen Überblick über theoretische Ansätze zu multinationalen Unternehmen: Buckley, Business history, hier S. 309–318; Morgan, Multinational Firm, hier S. 3–9.

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wenn die Chancen auf dem ausländischen Markt gering und die Zollschranken nicht zu hoch wären.115 Auch das von Raymond Vernon in den 1960er Jahren entwickelte Produktzyklus-Modell verwies darauf, dass Unternehmen normalerweise eine Produktion am Heimatstandort bevorzugen würden, da sie dort enge Kontakte zu Lieferanten und Kunden hätten.116 Erst wenn Produkt und Produktion in eine Standardisierungsphase eingetreten seien, würde die Produktion ins Ausland verschoben. Beide Ansätze verweisen damit im Grunde auf das Argument der Eigentumsvorteile (ownership advantages). Darüber hinaus machte eine Reihe institutionenökonomischer Ansätze auf die überlegene Koordinationsfähigkeit multinationaler Unternehmen im Vergleich zu grenzüberschreitenden Markttransaktionen aufmerksam. Eine Zusammenarbeit mit einem ausländischen Partnerunternehmen konnte sich konfliktreich gestalten und bot aufgrund von Informationsasymmetrien grundsätzlich Möglichkeiten für opportunistisches Verhalten und Betrug. Auslandsvertretungen arbeiteten oftmals nicht ausschließlich für ein Unternehmen und zeigten deshalb weniger Einsatzbereitschaft für die spezifischen Interessen einer einzelnen Firma. Zudem bestand die Gefahr, dass sich Lizenznehmer das Know-how über Produktionsprozesse aneigneten. Die Gründung oder der Kauf einer ausländischen Tochtergesellschaft war daher vielfach mit geringeren Trans­a ktionskosten zu begründen. Peter Buckley und Mark Casson verweisen in diesem Zusammenhang auf Probleme bei der Übertragung immaterieller Ressourcen: Wissen und vor allem Erfahrung lassen sich nur schwerlich über Märkte transferieren, weshalb die Internalisierung von Unternehmensbereichen oftmals als überlegene Lösung grenzüberschreitender Transaktionen angesehen wird.117 Auf dieser Grundlage entwickelte John Dunning in den 1970er Jahren sein eklektisches OLI-Paradigma, welches auf unternehmensspezifische Faktoren (ownership-specific advantages), Standortfaktoren am Zielort (location-specific advantages) sowie die bereits genannten Internalisierungsvorteile (internalization incentive advantages) zielt und damit frühere Elemente zu Direktinvestitionen sowie Aspekte aus der Wirtschaftsgeografie und der Transaktionskostentheorie miteinander verbindet.118 Es gilt bis heute als der dominierende Ansatz über den Zusammenhang von multinationalen Unternehmen und Di115 Hymer, Operations. 116 Vernon, Investment; Vernon, Sovereignty at Bay. 117 Buckley, Limits; Buckley / Casson, Future. Buckley und Casson übertrugen damit Überlegungen von Ronald Coase auf international operierende Unternehmen. Vgl. Coase, Firm. 118 Dunning, Trade; Dunning, Multinational Enterprises. Einige Elemente des OLI-Paradigmas werden in ähnlicher Weise auch von anderen Autoren zur Erklärung der Globalisierung von Märkten und Produktion herangezogen; hierzu gehören beispielsweise die unternehmensspezifischen Vorteile des Unternehmens (O-Vorteile), die gewissermaßen die von Michael Porter identifizierten Wettbewerbsvorteile darstellen. Vgl. Dunning / Lundan, Multinational Enterprises, S. 109; Porter, Advantage.

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rektinvestitionen. Während Eigentumsvorteile in überlegenen Technologien, Verfahren oder Produkten, einer leistungsfähigeren Organisation, dem privilegierten Zugang zu Kapital, Skalen- und Synergieeffekten (economies of scale / scope) oder dem erleichterten Zugang zu Rohstoffen bestehen konnten, waren Standortfaktoren oftmals an tarifäre und nicht-tarifäre Handelshemmnisse, politische Investitionsanreize, die Marktgröße und Kaufkraft im Gastland, die Faktorausstattung, niedrigere Löhne, Restriktionen im Kapitaltransfer oder Wechselkursverhältnisse gebunden. Die Internalisierung von Teilbereichen, d. h. die Eingliederung von Elementen in die hierarchischen Strukturen des Unternehmens, musste den Managern gewinnbringender erscheinen als der Rückgriff auf den Markt oder eine lose Kooperation mit einem ausländischen Unternehmen.119 Diese Zusammenstellung unterschiedlicher Faktoren kann das interne Wachstum von multinationalen Unternehmen gut erklären, doch widmet der ursprüngliche Ansatz der steigenden Bedeutung externen Wachstums über Fusionen und Akquisitionen recht wenig Raum. Dabei wurden Merger & Acquisitions für die Entwicklung multinationaler Unternehmen immer bedeutsamer und bei einigen Übernahmen kam es sogar vor, dass Standortnachteile in Kauf genommen wurden, um die globale Stellung auszubauen oder auf einen bestimmten Absatzmarkt vorzudringen.120 »By the 1990s, cross-border mergers and acquisitions had become the main driving force of world FDI.«121 Ebenso wurden der Transfer von Vorteilen aus den Auslandsgesellschaften an das Mutterunternehmen und der Prozesscharakter von Internationalisierung in frühen Fassungen des OLI-Paradigmas nur wenig berücksichtigt. Dunnings eklektischer Ansatz erfuhr in den folgenden Jahren daher viele Ergänzungen und Ausdifferenzierungen. Hierzu gehörte nicht zuletzt die Rückbindung des Paradigmas an Theorien über Institutionen, ihren Transfer und ihren Wandel über den Zeitverlauf.122 Letztlich umfasste es sowohl die Innen- und Außenbeziehungen des Unternehmens, die Rolle von Technologien und Innovationen, Aspekte der Personalführung wie auch die Implikationen für das Verhältnis von multinationalen Unternehmen und Politik. Damit steht ein breites Potpourri möglicher Analyserichtungen und -formen zur Verfügung, die hier nicht alle im Detail dargelegt werden können und lediglich in Auswahl für die oben ausgebreitete Fragestellung genutzt werden. Dies ist insbesondere möglich, weil Dunnings Paradigma keine in sich geschlossene Theorie darstellt, sondern aus verschiedenartigen Ansätzen zusammengesetzt ist.123 Zwar betont Dunning, dass sein Ansatz an der Schnittstelle zwischen makroökonomischen Theorien über internationalen Handel und mikroökonomischen 119 Dunning, Multinational Enterprises, besonders S. 263–286. Siehe hierzu auch: Williamson, Markets. 120 Ruch, Akquisitionen; Wortmann, Komplex, S. 122–140. 121 Jones, Global Capitalism, S. 151. 122 Dunning / Lundan, Multinational Enterprises, S. 116–144. 123 Ebd., S. 95.

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Theorien über Unternehmen angesiedelt sei und das Unternehmen daher nicht länger als »black box«124 verstanden würde, tatsächlich argumentiert er aber stark auf der Ebene internationaler Direktinvestitionen. Vor diesem Hintergrund muss sich die empirisch gestützte, historische Unternehmensforschung ein Stück weit vom verengten Blickwinkel des OLI-Paradigmas lösen und einigen stärker management- und prozessorientierten Ansätzen zuwenden, um die facettenreiche Entwicklung multinationaler Unternehmen in ihrer Komplexität erfassen zu können.

1.2.2 Ansätze zum Management und zur Organisation multinationaler Unternehmen Viele wirtschaftswissenschaftliche Studien zum Aufbau und der Führung von multinationalen Unternehmen folgen der Chandlerschen Annahme structure follows strategy125, d. h. sie beschreiben die Management- und Organisationsstrukturen des Unternehmens als Ausfluss der Unternehmensstrategie. Mit der Ausbreitung weltweit agierender US -Konzerne entwickelten sich vor allem in den USA seit den 1960er Jahren zahlreiche Konzepte, um die empirisch beobachtbaren Veränderungen jener Strukturen zu erklären. Am Ende der Dekade begründete Howard V. Perlmutter sein viel beachtetes Stufenmodell, das die Strategieentwicklung internationaler Unternehmen plausibel machen wollte und sich mit der Frage beschäftigte, ob die strategische Ausrichtung und die Managementmethoden des Mutterunternehmens auf die verschiedenen ausländischen Tochtergesellschaften oktroyiert werden können oder angepasst werden müssen.126 Hierbei ging Perlmutter davon aus, dass die Internationalisierung eines Unternehmens mit einfachen Aktivitäten im Ausland  – wie dem Export  – beginnt, welche (ethnozentrisch) von der Konzernzentrale gesteuert würden. Anschließend würden die Wertschöpfung im Ausland und der Einsatz ausländischer Führungskräfte zunehmen; die stärkere Orientierung am Gastland würde zugleich mit einer erhöhten Anpassung der Produkte an die Bedürfnisse des lokalen Marktes einhergehen. Auf diese Weise würde sich der Einfluss der Zentrale auf die Auslandsgesellschaften reduzieren und eine polyzentrische Managementstruktur entstehen. Schließlich würde sich die Eigenständigkeit der ausländischen Tochtergesellschaften ausweiten, welche im Rahmen einer dezentralen, weltmarktorientierten (geozentrischen) Struktur zunehmend zentrale Aufgaben für den Gesamtkonzern übernehmen würden; Führungspositionen würden unabhängig von der Nationalität besetzt. Jene drei Perspektiven wurden später um die Idee einer regiozentrischen Orientierung ergänzt, bei der die 124 Ebd. 125 Chandler, Strategy. 126 Perlmutter, Evolution.

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Ausrichtung, die Organisation und das Management in bestimmten Regionen vereinheitlicht würden – beispielsweise durch den Aufbau regionaler Produktionszentren und die Einteilung in homogene Ländergruppen.127 Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive ist Perlmutters Vorstoß einerseits reizvoll, da er im Gegensatz zu vielen anderen wirtschaftswissenschaftlichen Ansätzen den Wandel von Unternehmensstrukturen unter den Bedingungen der Internationalisierung betont und die Herausforderungen beschreibt, die sich in international tätigen Unternehmen durch die Kompetenzverteilung zwischen Mutter- und Auslandsgesellschaften ergeben; andererseits bildet jenes deterministische Stufenmodell, welches von einem singulären Entwicklungspfad ausgeht, nur sehr begrenzt die Bandbreite unternehmerischer Entwicklungsverläufe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Im Unterschied zu Perlmutter entwickelten Christopher A. Bartlett und Sumantra Goshal auf der Grundlage von neun Fallstudien aus den USA, Europa und Japan eine Typologie weltweit tätiger Unternehmen, die insbesondere für die Begriffsklärung von multinationalen Unternehmen hilfreich ist.128 Hierbei stand das Spannungsverhältnis zwischen einer notwendigen Anpassung an die lokalen Bedingungen des Gastlandes (local responsiveness) und dem Bestreben des Mutterunternehmens, die Kontrolle über die Auslandsgesellschaften zu behalten (global integration), im Mittelpunkt. Während internationale Unter­nehmen demnach die Strategien und das Wissen der Muttergesellschaft weitgehend übernahmen und sich wenig gegenüber dem Gastland anpassten, zeichneten sich multinationale Unternehmen durch selbstständige Tochtergesellschaften und eine hohe Anpassung an die lokalen Bedürfnisse und Gegebenheiten aus. Daneben sahen Bartlett / Goshal das globale Unternehmen, welches versuchte, den Weltmarkt mit einer möglichst zentralisierten Wertschöpfung im Heimatland zu bedienen, um auf diese Weise Skaleneffekte und Kostenvorteile (economies of scale) zu erzielen. Lokale Besonderheiten hatten in diesem Fall nur eine untergeordnete Bedeutung. Die zentrale These lautet letztlich, dass jene drei Unternehmensformen bei fortschreitender Internationalisierung in Richtung einer transnationalen Struktur konvergieren, welche sich aus vielen weltweit verstreuten, weitgehend eigenverantwortlichen und kontextgebundenen Einheiten zusammensetzt  – ähnlich zum geozentrischen Unternehmen von Perlmutter. Der Unternehmenszentrale kam in dieser netzwerkartigen

127 Heenan / Perlmutter, Development. Der Ansatz wird gemäß der unterschiedlichen Orientierungssysteme auch als EPRG -Modell (Ethnozentrisch, Polyzentrisch, Regiozentrisch, Geozentrisch) bezeichnet. 128 Bartlett / Goshal, Managing. Im Unterschied zu Bartlett / Goshal zielt Whitley nicht auf den Grad zentraler Kontrolle durch das Mutterunternehmen, sondern auf die organisatorische Integration grenzübergreifender operativer Tätigkeiten und Untereinheiten. In dieser Lesart von Whitley weisen sowohl globale als auch transnationale Unternehmen einen hohen Grad organisatorischer Integration auf. Vgl. Whitley, International firms, besonders S. 35.

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Organisationslösung lediglich die Koordination der an die lokalen Märkte angepassten Einheiten zu.129 International operierende Unternehmen unterlagen somit einem doppelten Druck: Zum einen mussten sie ihre Auslandsgesellschaften an die lokalen Gegebenheiten des Auslands anpassen; zum anderen waren sie bestrebt, eine einheitliche, länderübergreifende Organisationsstruktur zu schaffen. Im Ergebnis würde diese Gleichzeitigkeit lokaler Differenzierung und globaler Integration zu einem transnationalen Unternehmen führen.130 Jener Vorschlag unterstellt ein Übermaß an Machbarkeit und räumt der Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Entwicklungen nur wenig Platz ein. Die Kritik an Bartlett / Goshal richtete sich erstens gegen die Annahme einer vollständigen Durchsetzung von Managementstrategien, die die Eigeninteressen und das Widerstandspotenzial der Niederlassungen nicht berücksichtigen würde, sowie zweitens gegen die Vorstellung von Unternehmen als Wirtschaftseinheiten ohne nationalspezifische Bindungen.131 Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass den Unternehmen unterschiedliche strategische Optionen zur Verfügung standen, dass die Unternehmensstrategien in mehrere nationalspezifische Wirtschaftssysteme eingebettet waren, und dass zwischen beiden Ebenen zahlreiche Wechselwirkungen bestanden.132 Der fruchtbare Beitrag von Bartlett / Goshal ist darin zu sehen, dass ihre Typologie auf unterschiedliche Begriffsformen und Organisationslösungen international agierender Unternehmen verweist, auch wenn sich eine exakte Grenzziehung zwischen den verschiedenen Führungsstrategien empirisch als schwierig erweist.133 In der folgenden Untersuchung wird – sofern nicht explizit auf internationale, globale oder transnationale Unternehmen Bezug genommen wird – in der Regel der Begriff des multinationalen Unternehmens verwendet, der sowohl in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften wie auch in der Geschichtswissenschaft die größte Verbreitung hat und bei dem von einem auf Direktinvestitionen basierenden, grenzüberschreitend tätigen Unternehmen ausgegangen wird.134

129 Mense-Petermann / Wagner, Transnationale Konzerne, hier S. 13–16. 130 Bartlett / Goshal, Managing. 131 Mense-Petermann / Wagner, Transnationale Konzerne, hier S. 16–22; Wächter, Global Players. 132 Dörre, Globalisierung; Whitley, Capitalism. 133 Hassel u. a., Dimensionen. 134 »Allgemein sind multinationale Unternehmen unabhängig von ihrer Rechtsform, Struktur und Größe durch den Besitz von Betriebsstätten in mehr als einem Land bzw. durch die grenzüberschreitende Reichweite ihrer Organisation definiert.« Berghoff, Unternehmensgeschichte, S. 127. Vgl. ferner zur Definition des multinationalen Unternehmens: Dunning / Lundan, Multinational Enterprises, S. 3–5.

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1.2.3 Internationalisierung als Prozess Sowohl der Ansatz von Perlmutter als auch der Übergang zum transnationalen Unternehmen bei Bartlett / Goshal verweisen bereits auf den Wandel von Organisations- und Managementstrukturen infolge zunehmender Internationalisierung von Unternehmen.135 Am deutlichsten haben Jan Johanson und Jan-Erik Vahlne diesen Prozesscharakter fortschreitender Auslandstätigkeit herausgestellt.136 Das in den 1970er Jahren entwickelte, sogenannte UppsalaModell ging davon aus, dass die Internationalisierung von Unternehmen bestimmten Mustern folgt, die sich in gleicher oder ähnlicher Abfolge immer wieder beobachten lassen. Dieses verhaltensorientierte Modell besagt, dass sich die Unternehmensakteure zunächst dafür entscheiden, über den Export in (kulturell wie geografisch) nahegelegene Auslandsmärkte vorzudringen, um aufgrund von Lernprozessen anschließend Vertriebs-, Lager- und Serviceeinrichtungen im Ausland zu etablieren sowie Lizenzen dorthin zu vergeben. Johanson / Vahlne gehen in diesem Zusammenhang von einer psychischen Distanz (psychic distance) zwischen dem Heimat- und dem Gastland aus, die sich aus der Summe der Faktoren zusammensetzt, welche den Informationsfluss zum Markt verhindern – wie Sprache, Ausbildung, Managementpraktiken oder kulturelle Spezifitäten. Häufig folgte auf die Etablierung von Vertriebsstrukturen dann der Aufbau ausländischer Produktionsstätten, die in einer letzten Stufe zu eigenständigen Tochtergesellschaften umgebaut wurden.137 Indem die Autoren auf kulturell voneinander abweichende Verhaltensformen zwischen dem Heimat- und dem Gastland aufmerksam machten, ebneten sie den Weg für eine Forschungsrichtung, die sich mit den Nachteilen beschäftigt, welche ein Unternehmen aufgrund seiner Fremdartigkeit auf einem ausländischen Markt hat (liability of foreignness).138 Ferner gewannen mit dem weltweiten Aufstieg japanischer Unternehmen und der Verbreitung der japanischen Arbeitsorganisation in den 1970er und 1980er Jahren Fragen interkultureller Differenzen und der

135 Vgl. zur Internationalisierung als Lernprozess im OLI-Paradigma von Dunning, der insgesamt fünf Phasen (Export; Marketing und Vertrieb; Auslandsproduktion; Vertiefung und Ausweitung; integriertes multinationales Netzwerk) unterscheidet: Dunning / Lundan, Multinational Enterprises, S. 212–232. Vgl. zum Problem mangelnder zeitlicher Kontextualisierung in wirtschaftswissenschaftlichen Studien: Buckley, Business history, hier S. 320–324. 136 Johanson / Vahlne, Learning. 137 Johanson / Vahlne, Learning. Johanson / Vahlne erweiterten ihr Modell 2009, indem sie den Markt nicht mehr als Spielfeld unabhängiger Anbieter und Nachfrager im neoklassischen Sinne konstruierten, sondern als Beziehungsgeflecht ansahen; damit wurde die Zugehörigkeit zu bestimmten Netzwerken wichtiger für die Reduzierung von Unsicherheit als psychische Distanz. Vgl. Johanson / Vahlne, Revisited. 138 Vgl. exemplarisch Lubinski, Liability.

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möglichen Übertragbarkeit von Managementmodellen an Bedeutung.139 Auch jene Perspektiven sind bei der Untersuchung der westeuropäischen Chemiekonzerne miteinzubeziehen. Während das Uppsala-Modell geeignet ist, um das Vordringen von Unternehmen auf neue Produktmärkte zu erklären, ist seine Aussagekraft hinsichtlich einer ressourcenbasierten Internationalisierung begrenzt. Ebenso wenig kann es die Verlagerung von Produktionskapazitäten, den Rückzug aus bestimmten Märkten oder die Zunahme von Desinvestitionen seit den 1980er Jahren begreiflich machen.140 In dieser Hinsicht ist jenes Entwicklungsmodell mittels der empirisch gestützten Erklärungen der vorliegenden Studie weiterzuentwickeln.141

1.2.4 Historische Erklärungsansätze zu multinationalen Unternehmen Die unternehmenshistorische Forschung zu multinationalen Unternehmen orientiert sich in weiten Teilen an jenen genannten wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Ansätzen.142 In diesem Zusammenhang will die vorliegende Arbeit neue Impulse geben, indem sie zum einen in die black box des multinationalen Unternehmens hineinschaut, und zum anderen über eine kollektive Unternehmensgeschichte eine vergleichende Perspektive in die Erzählung einzieht.143 Innerhalb der Geschichtswissenschaft sind in methodischer Hinsicht vor allem die Arbeiten von Mira Wilkins und Geoffrey Jones heranzuziehen. Während sich Wilkins schon in den 1960er und 1970er Jahren mit der weltweiten Ausbreitung US -amerikanischer Unternehmen beschäftigte144, wies sie in den 1980er Jahren auf die Bedeutung des frei-stehenden Unternehmens (free-standing company) hin, bei dem ein ausländischer Investor seine Hauptgeschäftstätigkeit in einem anderen Land als dem Sitz des Unternehmens ausübt. Damit lieferte sie einen wichtigen Beitrag zur Erklärung britischer Auslandsinvestitio139 Kleinschmidt, Blick; Olie, Mergers, S. 27–72. Vgl. zum Verhältnis von Nationalität und Kultur in Unternehmen ferner: Godelier, Corporate Nationality. 140 Dunning / Lundan, Multinational Enterprises, S. 91–93. 141 Die in diesem Abschnitt aufgeführten Theorie- und Methodenangebote werden nicht als Quelle gedeutet, sondern als Sekundärliteratur der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gelesen. Vgl. hierzu: Dietz / Neumaier, Nutzen; Graf / Priemel, Zeitgeschichte; Pleinen / R aphael, Zeithistoriker. 142 Vgl. Berghoff, Unternehmensgeschichte, S. 127–131. Im Oxford Handbook of Business History werden multinationale Unternehmen lediglich im Beitrag von Geoffrey Jones intensiver behandelt, doch wird hier kein analytisches Instrumentarium ausgebreitet. Vgl. Jones / Z eitlin, Handbook of Business History. 143 Vgl. anregend als kollektive Unternehmensgeschichte: Stokes / Banken, Aus der Luft gewonnen. 144 Wilkins, Emergence of Multinational Enterprise; Wilkins, Maturing; Wilkins / Hill, Ford on Six Continents.

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nen vor dem Ersten Weltkrieg.145 Während jenes Konzept für die vorliegenden Fallbeispiele nur von untergeordneter Bedeutung ist, besitzt ihr Erklärungsmodell zur geografischen Ausbreitung multinationaler Unternehmen größere Relevanz. Wilkins gibt hierfür fünf Parameter an: (1) Marktchancen, (2) politische Stabilität, (3) Vertrautheit mit dem Land (in Bezug auf Sprache und Kultur), (4) geografische Nachbarschaft, und (5) Erfahrungen aus vorangegangenen Investitionen.146 Diesem Modell zufolge würden Unternehmen somit Länder als Investitionsziel vorziehen, die sich durch gute Marktaussichten, eine hohe politische Stabilität und kulturelle Ähnlichkeiten auszeichneten und in denen man schon in der Vergangenheit gute Erfahrungen mit Investitionen gemacht hatte. Nicht zuletzt schließt Wilkins damit an die Überlegungen von Johanson / Vahlne zur kulturellen Distanz zwischen Heimat- und Gastland an. Darüber hinaus sind jene Studien von Geoffrey Jones hervorzuheben, die sich in methodischer Perspektive mit multinationalen Unternehmen beschäftigen, auf den Zusammenhang zu Prozessen der Globalisierung eingehen und einen Kontext zwischen multinationalen Unternehmen und dem politischen Feld herstellen. Jones macht darauf aufmerksam, dass sich viele Auslandsgesellschaften zu hybriden Organisationen entwickelten, die sowohl Charakteristika des Heimat- wie auch des Gastlandes aufwiesen  – ähnlich zu den Überlegungen bei Boyer oder Whitley.147 Allerdings zeigt er, dass die steigende Autonomie ausländischer Gesellschaften kein unumkehrbarer Prozess war, sondern zahlreiche US -Unternehmen in den 1960er Jahren begannen, ihr Nordamerika- und Europageschäft wieder stärker zu integrieren – nicht zuletzt im Rahmen neuer Kommunikationsmöglichkeiten. Zudem veranschaulicht Jones, dass die grenzüberschreitende Verlagerung des Unternehmenssitzes angesichts anhaltender Kapitalrestriktionen in den 1970er Jahren anhielt, obschon auch gegenläufige Trends zu beobachten waren.148 Hier wird deutlich, dass empirisch dichte Beschreibungen davor schützen, Entwicklungen aus den Augen zu verlieren, welche den gängigen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Erklärungsansätzen zuwiderlaufen. Am Beispiel des niederländisch-britischen Konsumgüterproduzenten Unilever hat Jones ferner die Bedeutung von Kontakten zu lokalen Wirtschafts- und Regierungseliten nachgewiesen.149 Jenes Verhältnis zwischen multinationalen Unternehmen und politischen Entscheidungsträgern bildet nicht den Mittelpunkt der vorliegenden Studie, aber es gewinnt in Ländern mit Importbeschränkungen und / oder Kapitalrestriktionen immer wieder an Relevanz und spielt 145 Wilkins, Free Standing Company; Wilkins / Schröter, Free-Standing Company. 146 Wilkins, Host to Transnational Investments. Im Original: opportunity parameter, political parameter, familiarity parameter, third-country parameter, corporate parameter. 147 Boyer, Hybridization; Whitley, International firms, hier S. 35–38. 148 Jones, Nationality, hier besonders S. 160–162. Vgl. zur Bedeutung des Computers auch: Danyel / Schuhmann, Wege; Wirsching, Durchbruch. 149 Jones, Renewing Unilever; Jones, Learning. Vgl. hierzu auch: Fligstein, Transformation; Jones / Lubinski, Political Risk.

Forschungsstand

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insbesondere für die französischen Gesellschaften nach der Verstaatlichung 1981/82 eine wichtige Rolle. Mit Blick auf die Frage nach der Bedeutung multinationaler Unternehmen für die jüngste Phase der Globalisierung und die damit einhergehenden Umwälzungen westlicher Industriegesellschaften sind zudem jene Arbeiten heranzuziehen, welche sich explizit mit der Entwicklung des globalen Kapitalismus beschäftigen. Indem Jones auf die wachsende Zahl grenzüberschreitender Fusionen und Akquisitionen seit den 1980er Jahren aufmerksam macht oder die Rolle von Desinvestments betont, ergänzt er die geradlinigen, auf das innere Wachstum fokussierenden Erklärungsansätze entscheidend.150 »The recognition that multinationals are profoundly heterogeneous is one of the most important lessons from history. Business enterprises which crossed borders over the last two centuries represented an enormous diversity.«151 Insofern ist Peter Buckley zuzustimmen, der davon ausgeht, dass unternehmenshistorische Studien an theoretische Konzepte rückzubinden sind, gleichzeitig aber fordert, dass sie sich nicht darauf beschränken, sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Theorien zu testen, sondern eigene Gedanken voranbringen und bestehende Ansätze fortentwickeln sollten.152

1.3 Forschungsstand 1.3.1 Zeithistorische Rahmungen Den Ausgangspunkt der nachfolgenden Untersuchungen stellen die thesenartigen Annäherungen an die jüngste Zeitgeschichte von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael dar.153 Während Burkart Lutz 1984 noch die historische Einzigartigkeit der Nachkriegsgesellschaft herausstellte  – quasi als Rückkehr der Ökonomie zu ihrem »normalen« zyklischen Verlaufsmuster –154 weisen Doering-Manteuffel und Raphael darauf hin, dass der Umbruch der 1970er Jahre weitaus tiefgreifender war. Es fand ein grundlegender Wandel der industriellen Produktion statt, der auch die ökonomischen und sozialen Leitvorstellungen erfasste, die nationalen Wohlfahrtsysteme veränderte und sich nachhaltig auf die Berufs- und Lebenswelt westeuropäischer Industriegesellschaften auswirkte.155 Mit dem Ende stabiler Wechselkurse (Bretton Woods), dem ersten Ölpreisschock 1973/74 und dem Nachlassen der Konjunktur gerieten nicht nur ökonomische Kennzahlen, sondern auch das Gesellschaftsmodell der Boomjahre unter Druck. 150 151 152 153 154 155

Jones, Global Capitalism, besonders S. 147–155; Jones, Globalization. Jones, Global Capitalism, S. 289. Buckley, Business history, hier S. 326. Doering-Manteuffel, Brüche; Doering-Manteuffel / R aphael, Nach dem Boom (2008). Lutz, Traum; Werding, Wende. Wirsching, Erwerbsbiographien.

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Der bis dahin dominierende Anspruch der keynesianischen Globalsteuerung wurde immer stärker in Frage gestellt, da seine Steuerungsinstrumente nicht aus Stagflation und industriellem Strukturwandel hinausführten. Das Vertrauen in eindeutige wissenschaftliche Handlungsanweisungen ging verloren.156 Obschon die etablierten Rezepte der Wirtschaftswunderjahre nicht mehr griffen, wäre es jedoch verfehlt, die Zeit nach dem Boom ausschließlich mit einem Niedergangsnarrativ zu belegen. Der von Konrad Jarausch herausgegebene Sammelband über das »Ende der Zuversicht« bringt jene Sichtweise im Titel deutlich zum Ausdruck, doch auch hierin finden sich mit Blick auf die bundesdeutsche Vergangenheitspolitik, die Konsumgesellschaft oder die Frauenbewegung Anzeichen eines Aufbruchs.157 Zwar verlangsamten sich die Reallohnsteigerungen in den 1970er Jahren, dennoch fanden infolge von sinkenden Realpreisen (bspw. in der Unterhaltungselektronik) Konsumsteigerungen statt – nicht zuletzt aufgrund der Internationalisierung der Produktion.158 Zu ähnlichen Befunden kommen Jörg Lesczenski und Sina Fabian in Bezug auf die Ausweitung des Tourismus während der 1970er Jahre.159 Auf dem politischen Feld nutzte die Christdemokratie ihre Zeit in der Opposition für eine politisch-programmatische Neuformierung. Während Bernd Faulenbach in Anbetracht der Regierungspolitik der SPD und des Einflusses sozialdemokratischer Ordnungsmuster die These eines »sozialdemokratischen Jahrzehnts«160 vertritt, zeigt Frank Bösch, dass keineswegs alle Christdemokraten während der 1970er Jahre in eine düstere Zukunft blickten, sondern die sozio-ökonomische Krise ebenso als Chance verstanden, um sich inhaltlich zu erneuern und wieder an die Regierung zu kommen.161 Ähnlich positiv konnotierte Befunde ließen sich für die neuen sozialen Bewegungen, neue Formen der politischen Partizipation oder die Entstehung der Grünen formulieren.162 Aufbrüche und Niedergänge sind somit kein Widerspruch, sondern geradezu ein Kennzeichen der Zeit nach dem Boom.163 Dem Niedergang des Fortschrittsparadigmas und keynesianischer Denkmodelle stand der Aufstieg einer monetaristischen Wirtschaftstheorie gegen156 Schanetzky, Ernüchterung. Vgl. auch Metzler, Staatsversagen. 157 Jarausch, Ende. Weitaus offener hatte Jarausch dies zuvor in einem Aufsatztitel formuliert, auch wenn er dort ebenfalls in der neuen Krisenrhetorik und -wahrnehmung die Hauptveränderungen der 1970er Jahre sah. Vgl. Jarausch, Krise oder Aufbruch? Vgl. zur Debatte über die Zeit seit den 1970er Jahren auch: Gilcher-Holtey u. a., Debatte; Kaelble, Period; sowie Wirsching, Turning Point. 158 König, Wende. Vgl. hierzu auch: Wirsching, Konsum. 159 Fabian, Boom; Lesczenski, Urlaub. 160 Faulenbach, Siebzigerjahre; Faulenbach, Reformeuphorie. 161 Bösch, Krise. Auch Axel Schildt geht eher von einer Gemengelage als von einem »roten Jahrzehnt« aus. Vgl. Schildt, Tendenzwende. 162 Vgl. exemplarisch: Jaeger / K leinschmidt / Templin, Protest; Mende, Geschichte; Milder, Greening Democracy. 163 Marx / Reitmayer, Gewinner.

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über, welche die staatliche Globalsteuerung als Modell einer versunkenen Zeit ansah und den Staat als ökonomische Steuerungsinstanz abwertete. Während auf der einen Seite der Machtverlust des Staates gegenüber multinationalen Unternehmen beklagt wurde, forderte man auf der anderen Seite einen Rückbau staatlicher Eingriffsmöglichkeiten. Der Bedeutungsgewinn jener Ideen bewirkte letztlich weder das Ende des Nationalstaats noch die Abschaffung des Sozialstaats in Westeuropa. Die Staatsquote wie auch die absoluten Sozialausgaben blieben auf hohem Niveau, doch gingen die 1970er und 1980er Jahre angesichts steigender Arbeitslosenzahlen durchaus mit sozialen Einschnitten einher.164 Auf diese Weise etablierte sich schrittweise ein »neoliberales« Ordnungsmodell, welches seine Schlagwörter erfolgreich in die politische Sprache transportierte und in der politischen Praxis seinen Niederschlag in Formen der Deregulierung und Privatisierung fand, um zwei ordnungspolitische Schlüsselbegriffe der 1980er Jahre zu nennen.165 Andreas Wirsching hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Epoche des »Neoliberalismus« analytisch noch ein wenig konturiertes Feld darstelle.166 Dieser Befund gilt weiterhin. Sicherlich erfasste der Widerruf des Nachkriegskonsenses nicht jeden Winkel wirtschaftspolitischen Handelns, doch die im Fahrwasser »neoliberaler« Gedankenspiele realisierte, fundamentale Liberalisierung der Handelsströme und Finanzmärkte ist unbestreitbar und schuf die Grundlage für die fortschreitende Internationalisierung der Unternehmen und den Durchbruch der Globalisierung.167 Darüber hinaus ist an dieser Stelle eine Forschungsrichtung anzuführen, die sich aus historischer Perspektive mit den zeitgenössischen Diagnosen des Wandels beschäftigt. Sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Vorhersagen gewannen angesichts der allgemeinen Verunsicherung und der »Neuen Unübersichtlichkeit«168 zweifellos an Bedeutung und schufen kollektive Erwartungshorizonte. Ihre Begriffe und Theorien spiegeln nicht nur das Problembewusstsein der Zeit wider, vielmehr stellten sie das Fundament her, auf dem die Zeitgenossen ihre Entscheidungen fällten. Dies galt auch für Unternehmer, Manager, Gewerkschafter oder Verbandsfunktionäre. Ebenso ist der Aufstieg der Unternehmensberater mit dem wachsenden Bedürfnis nach mehr Erwartungssicherheit in einer als zunehmend komplex empfundenen Umwelt zu 164 Süß, Umbau; Wirsching, Neoliberalismus. Winfried Süß zufolge veränderte sich die diskursive Rahmung durch die verstärkte Thematisierung sozialer Ungleichheit in der Zeit nach dem Boom markant, während die sozialpolitische Problemlösungskultur bemerkenswert stabil blieb. 165 Süß, Privatisierung. 166 Wirsching, Neoliberalismus. Ferner Rödder, Gegenwart, S. 54–55. Vgl. zur ursprünglichen Bedeutung des Begriffs »Neoliberalismus«: Mirowski / Plehwe, Road; Slobodian, Globalists. 167 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom (2012), S. 63–70; Jarausch, Globalisierungsdebatte; Rödder, Gegenwart, S. 49–53; Wirsching, Preis, S. 226–269; Wirsching, Demokratie und Globalisierung, S. 73–88. 168 Habermas, Neue Unübersichtlichkeit.

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begründen. Erwartungen können hier als Fiktionen verstanden werden, mit deren Hilfe sich die Akteure ihre zukünftige Gegenwart vorstellten und auf dieser Grundlage handlungsfähig wurden, um Innovationen anzustoßen oder Investitionen zu tätigen.169 Neben der Studie über das »Ende des Wachstums«170 gehört das Mitte der 1970er Jahre erschienene Buch von Daniel Bell über die postindustrielle Gesellschaft zu den interessantesten Werken über die Zukunft der westlichen Industriestaaten.171 Bell sah in der nachindustriellen Gesellschaft nicht nur eine Dienstleistungsgesellschaft aufkommen, in der harte körperliche (Industrie-) Arbeit an Bedeutung verlor, sondern erkannte vor allem die zentrale Dimension von Wissen und Technologie für zukünftige Entwicklungen.172 Die Verlagerung arbeitsintensiver Industrien aus Westeuropa in andere Teile der Welt ging in bestimmten westeuropäischen Regionen mit Prozessen der Deindustrialisierung einher; global betrachtet handelte es sich hierbei jedoch nicht um einen Niedergang industrieller Produktion, vielmehr verschoben sich die Gewichte zwischen den Produktionszentren.173 Zudem blieben – auch in Westeuropa – zahlreiche Dienstleistungen an einen industriellen Kern gekoppelt.174 Die westeuropäische Chemieindustrie durchlief zweifelsfrei einen tiefgreifenden Wandel im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, aber im Vergleich zu anderen traditionellen Industriebranchen eignet sie sich nicht als Beleg für eine Entwicklung in Richtung einer postindustriellen Welt.175 Vor dem Hintergrund der postindustriellen Diagnose unterbreitete Ronald Inglehart seine Überlegungen hinsichtlich einer Präferenzverschiebung von »materiellen« zu »postmateriellen« Werten, die jüngst von der Geschichtswissenschaft in den Blick genommen wurden.176 In diesem Kontext haben sich Bernhard Dietz und Jörg Neuheiser mit der Frage beschäftigt, inwiefern ein vermeintlicher Wertewandel auch in der Arbeitswelt und in der Leitung von Unternehmen zu beobachten ist. Ohne zeitgenössischen Beschreibungen zum Wertewandel zu erliegen, wird hier deutlich, dass der ökonomische und soziale Wandel nach dem Boom mit dem Bedeutungsgewinn neuer Leitideen einherging.177

169 Beckert, Imaginierte Zukunft. 170 Meadows / Meadows, Limits. 171 Bell, Post-Industrial Society. 172 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom (2012), S. 80–81. 173 Plumpe / Steiner, Mythos, hier S. 12–13. 174 Steiner, Abschied, hier S. 52. 175 Vgl. Marx, Reorganization. 176 Dietz / Neumaier / Rödder, Wertewandel; Rödder, Wertewandel. 177 Dietz, Aufstieg; Dietz / Neuheiser, Wertewandel. Vgl. zu den sozialwissenschaftlichen Konzepten der Risikogesellschaft, der reflexiven Modernisierung, der Postmoderne wie der Zweiten Moderne: Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom (2012), S. 85–94; Rödder, Moderne.

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Neben jenen in der deutschen Forschungslandschaft verankerten Ansätzen liegt eine Reihe weiterer Strukturierungs- und Deutungsangebote aus dem französischen und angelsächsischen Sprachraum vor.178 Obschon die immer engeren Verflechtungen zwischen den westeuropäischen Gesellschaften ein Signum des untersuchten Zeitraums sind, gibt es im Grunde keine europäische oder gar globale Debatte über den Charakter jenes Zeitabschnitts. Zwar nehmen einige US -Studien eine globale Perspektive für sich in Anspruch, doch letztlich werden hier vor allem nationale Inhalte in einen globalen Kontext gerückt; ähnlich national zentriert sind auch die Arbeiten aus Frankreich oder Großbritannien.179 In dem von Niall Ferguson herausgegebenen Sammelband »The Shock of the Global«,180 der an großen internationalen Entwicklungslinien orientiert ist, zeigt sich, wie sehr sich nationalstaatliche Souveränität unter den Bedingungen einer an Fahrt gewinnenden Globalisierung veränderte – nicht zuletzt aufgrund der Ausbreitung multinationaler Konzerne.181 In ihrer Bewertung sind die Beiträge heterogen. Während Charles S. Maier in den 1970er Jahren eine Krise westlicher Industriegesellschaften innerhalb des Kapitalismus sieht, zweifelt Ferguson den Krisencharakter der Dekade an.182 Die französischen Debatten über die letzten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts konzentrieren sich auf den politisch-kulturellen Wandel und nutzen besonders das Jahr 1968 als Fluchtpunkt.183 Der in der französischen Zeit­ geschichte wirkmächtige Terminus der vingt décisives, der auf den Kulturhistoriker Jean-François Sirinelli zurückgeht, umfasst den Zeitraum 1965 bis 1985 und umschreibt einen beschleunigten soziokulturellen und politischen Wandel Frankreichs, der sich bewusst von wirtschaftshistorischen Deutungen abhebt.184 Eine Ausnahme von dieser national zentrierten Lesart bietet das Buch von Philippe Chassaigne, der neben Frankreich auch Entwicklungen in Großbritannien, der Bundesrepublik und den USA berücksichtigt. Hier werden nicht nur politische und ökonomische Aspekte beleuchtet, sondern auch Themen wie Wissenschaft und Technologie, Terrorismus oder Zukunftsvorstellungen verhandelt.185 Die jüngste Ausgabe jenes Buches nimmt explizit Bezug auf die zeithistorischen Debatten in Großbritannien, den USA und der Bundesrepublik.186 Mit Blick auf 178 Vgl. zusammenfassend: Bösch, Krisendeutungen; Geyer, Suche. 179 Levsen, Einführung. 180 Ferguson u. a., Shock. Vgl. zum Zäsurcharakter der 1970er Jahre aus US -Perspektive: Rodgers, Age. 181 Oliveiro, Multinational Enterprises. 182 Ferguson, Crisis; Maier, Malaise. 183 Levsen, Einführung, hier S. 223–227. Vgl. exemplarisch Artières / Zancarini-Fournel, Histoire collective; Lazar, La gauche. 184 Sirinelli, Vingt Décisives. Sirinelli knüpft damit an das ältere soziologische Konzept der seconde révolution française von Henri Mendras an. Vgl. Mendras, Seconde Révolution française. 185 Chassaigne, Les années 1970. Fin d’un monde et origine de notre modernité. 186 Chassaigne, Les années 1970. Une décienne révolutionnaire.

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die 1980er Jahre sind ferner die älteren, polit-ökonomisch inspirierten Arbeiten des Wirtschaftsgeografen John Tuppen anzuführen.187 Die britische Zeitgeschichtsforschung steht einerseits nach wie vor stark unter dem Eindruck des ökonomischen Niedergangs (decline), andererseits wird die Prägekraft solch negativer Deutungen ebenso als zeitgenössische Diagnose historisiert.188 Obschon viele Studien somit einen »düsteren« Titel haben, werden dort auch Aufbrüche  – wie im Tourismus- und Konsumbereich  – diskutiert. Trotz der Bedeutung ökonomischer Prozesse für das Verständnis britischer Entwicklungen werden wirtschaftliche Aspekte in vielen Überblicksdarstellungen weitgehend ausgeblendet.189 Begrüßenswert ist in dieser Hinsicht ein Sammelband, der sich auf die Suche nach neuen Ideen zu den 1970er Jahren macht und dabei fortbestehende zeitgenössische Deutungen kritisch analysiert.190

1.3.2 Sozial- und wirtschaftshistorische Befunde Um 1965 hatte es den Anschein, als sei das fordistische Produktionsregime zum dauerhaften Ordnungsmodell für Wirtschaft und Gesellschaft in Westeuropa aufgestiegen. Der liberale Nachkriegskonsens zwischen Kapital, Arbeit und Staat verband die ökonomische Theorie des Keynesianismus mit dem Glauben an die permanente Überwindung sozialer Spannungen durch Wachstum und Produktivität.191 Ihren prägnantesten Ausdruck fand diese Form des Fortschrittdenkens in der Konzertierten Aktion.192 Doch während das von Daniel Bell schon 1960 verkündete ideologiefreie Zeitalter in Westdeutschland näher zu kommen schien, deuteten ausgeprägte Klassengegensätze in Großbritannien sowie scharfe ideologische Fronten zwischen Linksparteien und bürgerlichem Lager bzw. zwischen Gewerkschaften und Unternehmern in Frankreich und Italien auf einen Fortbestand klassischer Konfliktlinien hin. Spätestens mit dem Erstarken einer neuen linken Bewegung und der Wiederkehr ökonomischer Problemlagen brachen die teils schon überwunden geglaubten gesellschaftlichen Risse ab Ende der 1960er Jahre wieder auf. Schon vor dem Ende des Booms 187 Tuppen, France under Recession; Tuppen, Chirac’s France. 188 Levsen, Einführung, hier S. 220–223. Vgl. zur Historisierung des decline: Tomlinson, Politics; Tomlinson, Thrice denied; Tomlinson, De-industrialization. Vgl. zusammenfassend auch: Lowe, Life. 189 Sandbrook, State; Sandbrook, Mad; Turner, Crisis. Einer dekadologischen Geschichtskultur folgend lieferte Alwyn W. Turner gleichsam Werke zu den 1980er und 1990er Jahren: Turner, Rejoice; Turner, Classless Society. Vgl. für eine politikgeschichtlich inspirierte Lesart der britischen Geschichte: Geppert, Revolution; Geppert, ThatcherKonsens. 190 Black / Pemberton / T hane, Reassessing. Vgl. zur Privatisierung in Großbritannien: Billings / Wilson, Privatization. 191 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom (2012), S. 39–45. 192 Rehling, Spannungsfeld.

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waren einige Industriezweige in eine krisenhafte Lage geraten. Hierzu zählten sowohl der westdeutsche Steinkohlenbergbau wie auch die westeuropäische Textilindustrie.193 Lutz Raphael hat die damit einhergehenden Prozesse der Deindustrialisierung in Westeuropa und ihre Folgen für die betroffenen Belegschaften und traditionelle Industrieregionen jüngst nachgezeichnet.194 Infolgedessen stieg die Arbeitslosigkeit in allen westeuropäischen Ländern in den 1970er und 1980er Jahren enorm an. Vor allem die Jugendarbeitslosigkeit entwickelte sich in Italien, Frankreich und Großbritannien zu einem zentralen Problem.195 Mit Blick auf Veränderungen in den Arbeitswelten und den Arbeitsbeziehungen ist an dieser Stelle ferner der von Knud Andresen, Ursula Bitzegeio und Jürgen Mittag herausgegebene Sammelband hervorzuheben. Auch hier werden die beschleunigte Öffnung der Weltmärkte und damit einhergehende Verlagerungen von Industriearbeit in ressourcen- und wachstumsstarke Märkte außerhalb der klassischen Industriestaaten als wesentliche Kennzeichen des letzten Drittels des 20. Jahrhundert festgemacht.196 Mit Blick auf den sektoralen Strukturwandel und die Internationalisierung in der Zeit nach dem Boom sind außerdem die Beiträge von André Steiner hervorzuheben, der die begrenzte Aussagekraft des Drei-Sektoren-Modells betont und dieses als Ausdruck modernisierungstheoretischen Denkens enttarnt; zudem zeigt er, wie stark die westdeutsche Wirtschaft noch lange in die europäische und weniger in die weltweite Arbeitsteilung eingebunden war.197 Neben weiteren Überblickswerken zur britischen, französischen und bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte nach 1945 ist an dieser Stelle ferner auf zwei Felder zu verweisen, die in unmittelbarem Zusammenhang zu den Aufund Umbrüchen nach dem Boom stehen.198 Erstens handelt es sich hierbei 193 Hesse, Puzzle; Hordt, Kumpel; Lindner, Faden; Lindner, Erdölkrise; Schnaus, Sterben. 194 Raphael, Gesellschaftsgeschichte, S. 38–56. Vgl. auch: Ambrosius, Deindustrialisierung. Vgl. für Frankreich ferner: Daumas / K haraba / Mioche, Désindustralisation; Lamard / Stoskopf, Désindustrialisation; Wirsching, Deindustrialization. 195 Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom (2012), S. 52–60; Doering-Manteuffel / ​ Raphael, Epochenbruch; Raithel, Jugendarbeitslosigkeit; Raithel / Schlemmer, Arbeitslosigkeit. 196 Andresen / Bitzegeio / Mittag, Strukturbruch. 197 Ahrens / Steiner, Wirtschaftskrisen; Steiner, Doppelkrise; Steiner, Kristallisationspunkt; Steiner, Abschied. Vgl. zum ökonomischen Strukturwandel auch: Hesse, Strukturwandel. Für die Bundesrepublik: Gornig, Leitsektoren. Steiner bezweifelt, ob das Bild des »Strukturbruchs« den ökonomischen Wandel im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts beschreiben kann; gleichwohl spricht er von einem intensivierten und beschleunigten Strukturwandel. Vgl. Steiner, Abschied, hier S. 53–54. Vgl. in ähnlicher Lesart: Plumpe, Ölkrise. Gerold Ambrosius sieht in den 1970er Jahren den Anfang vom Ende der traditionellen Wirtschaftsstrukturen. Vgl. Ambrosius, Sektoraler Wandel, besonders S. 24. 198 Vgl. Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte; Ambrosius, Wirtschaftsraum Europa; Eck, Économie française; Eck, La France; Härtel u. a., Globalisierung; Pollard, Development; Pollard, International Economy; Wilson, British business history.

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um Studien, die die Vorbedingungen und Auswirkungen der Ölpreiskrisen untersuchen.199 Für Rüdiger Graf zerstörte der Einsatz der »Ölwaffe« 1973 die komplexen, aber eingespielten Kommunikations- und Interaktionsroutinen der globalen Ölwirtschaft; hierdurch wurde die Souveränität zahlreicher westlicher Industriestaaten herausgefordert, deren Wirtschafts- und Wohlfahrtsmodell in weiten Teilen auf billigem Erdöl aufbaute.200 Die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) erlebte zwischen den beiden Ölkrisen den Höhepunkt ihrer Macht; gleichzeitig strömten infolge des erhöhten Ölpreises immer mehr PetroDollars auf der Suche nach lukrativen und langfristigen Anlagemöglichkeiten nach Westeuropa und Nordamerika.201 Bei den untersuchten Fallbeispielen zeigte sich dies am deutlichsten bei der Hoechst AG, bei der eine staatliche Ölgesellschaft Kuwaits Anfang der 1980er Jahre ein Viertel des Aktienkapitals übernahm. Zweitens ist die vorliegende Untersuchung im Kontext der wieder aufstrebenden Kapitalismusforschung zu sehen. Während dem Kapitalismusbegriff lange der fade Beigeschmack staatssozialistischer Parteipropaganda anheftete, erfuhr er ab Ende der 1990er Jahre eine Wiederbelebung. Nach dem Ende des Systemgegensatzes und den Lobeshymnen auf die Überlegenheit der kapitalistischen Wirtschaftsweise traten die Unterschiede zwischen verschiedenen kapitalistischen Produktionsregimen stärker zutage. In diesem Zusammenhang setzten Peter Hall und David Soskice einen Meilenstein in der vergleichenden Kapitalismusanalyse, indem sie zwischen liberalen und koordinierten Marktwirtschaften unterschieden.202 Ihre Überlegungen sind vor allem hervorzuheben, weil sie Unternehmen als Schlüsselakteure kapitalistischer Wirtschaftsordnungen identifizieren – auch wenn dieser Anspruch in empirischen Arbeiten bisher nur selten eingelöst wurde.203 Gleichzeitig hielt ein Teil der Sozialwissenschaften an der Idee der inneren Widersprüche des Kapitalismus fest und sah nicht zuletzt angesichts der langfristigen Schuldenpolitik westeuropäischer Regierungen seit den 1970er Jahren und der Finanzkrise 2007/08 das Ende des (demokratischen) Kapitalismus kommen.204 199 Hohensee, Ölpreisschock. Die jüngst veröffentlichte Darstellung von Stefan Göbel über den Verlauf der Ölpreiskrisen und die wirtschaftlichen Auswirkungen auf fünf Länder (Deutschland, USA , Japan, Großbritannien und Frankreich) bietet zwar einen breiten Überblick auf Basis der existierenden (sozialwissenschaftlichen) Literatur, fördert aber wenig neue (quellenbasierte) Erkenntnisse zutage. Vgl. Göbel, Ölpreiskrisen. 200 Graf, Petroknowledge. Vgl. für These eines Souveränitätswechsels auf dem Ölmarkt ferner: Bini / Garavini / Romero, Oil Shock; Graf, Oil Weapon; Yergin, Prize. Vgl. zur Transformation der multinationalen Ölkonzerne, deren Marktmacht von 1960 bis 1975 weitgehend erhalten blieb: Glässer, Marktmacht. 201 Garavini, Rise; Marx, Security. 202 Hall, Stabilität; Hall / Soskice, Varieties; Soskice, Production Regimes. Hierzu mit Blick auf Europa: Goey, Varieties. 203 Berghahn / Vitols, Kapitalismus; Marx / Reitmayer, Introduction; Sluyterman, Varieties. 204 Vgl. exemplarisch: Altvater, Ende; Streeck, Zeit; Streeck, Kapitalismus. Vgl. hierzu aus kritisch-historischer Perspektive: Priemel, Littérature engagée; Rischbieter, Schönheit; Plumpe, Überdehnung; Tanner, Restdemokratie; Tooze, Inflation.

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Neben jenen sozialwissenschaftlichen Forschungssträngen erlangte die Kapitalismusdiskussion auch in der Geschichtswissenschaft wieder eine große Breitenwirkung.205 Hier sei auf die Lesart von Jürgen Kocka verwiesen, der seit den 1970er Jahren einen tiefgreifenden qualitativen Wandel vom Managerkapitalismus zu Formen eines Finanzmarkt-, Finanz- oder Investorenkapitalismus sieht. Erstens sei der Finanzsektor infolge des Endes stabiler Wechselkurse, der einsetzenden Deregulierung und einer Deindustrialisierung in Teilen der westlichen Welt enorm ausgedehnt worden; zweitens habe die private wie staatliche Verschuldung exorbitant zugenommen (»Pumpkapitalismus«206); und drittens hätten sich die Machtverhältnisse in vielen Unternehmen mit der Hinwendung zum Shareholder Value durchgreifend verschoben. Während Manager aufgrund des vielfach breit gestreuten Kapitalbesitzes und der engen Verflechtung mit anderen Unternehmen und Banken bis dahin eine erhebliche Durchsetzungskraft gegenüber den Eigentümern besaßen, gewannen Investoren mit kurzlebigeren Anlagehorizonten  – die sogenannten »Neuen Eigentümer«207  – im Zusammenspiel mit Fonds-Direktoren, Investment-Bankern und Rating-Experten an Steuerungskraft. Die Unternehmensleitungen folgten verstärkt der Logik der Kapitalmärkte und entschieden immer öfter auf der Basis standardisierter betriebswirtschaftlicher Kennzahlen.208 Der Blick auf die Akteure jener Veränderungsprozesse verweist nicht zuletzt auf die Frage, inwiefern die Internationalisierung von Kapital, Produktion und Absatz auch mit einer Internationalisierung von Managementvorstellungen und -lebensläufen einherging.209 Auch Werner Plumpe betrachtet die 1970er und 1980er Jahre als eine Wasserscheide, in denen der ökonomische Strukturwandel eine deutliche Beschleunigung erfuhr und der Kapitalismus infolge der Liberalisierung der Märkte seinen globalen Siegeszug antrat.210 Nicht zuletzt im Fahrwasser bundesdeutscher Wirtschafts- und Währungspolitik änderten sich die semantischen Konstellationen im übrigen EWG -Europa.211 Die Krise des »realen Staatssozialismus« kam mit dem Niedergang des Keynesianismus in der westlichen Welt zusammen. Steigende Staatsschulden und die zunehmende Skepsis gegenüber der staatlichen Steuerungsfähigkeit ebneten einer »neoliberalen« Politik den Weg, deren Stoßrichtung in der Beseitigung der tatsächlichen oder vermeintlichen Hemmnisse einer freien Marktentwicklung lag. »Die ›neoliberale‹ Politik [in den USA und Großbritannien, C. M.] mit ihrer Begünstigung des Unternehmenshandelns unter der mehr oder weniger offensiven Devise ›Enrichissez-vous‹ weckte auch 205 Archiv für Sozialgeschichte 56 (2016): Sozialgeschichte des Kapitalismus im 19. und 20. Jahrhundert; Beckert, King Cotton; Budde, Kapitalismus; Kocka, Brille; Kocka / Linden, Capitalism; Lenger, Challenges; Lenger, Kapitalismus, Plumpe, Problem. 206 Dahrendorf, Krise. 207 Windolf, Unternehmenskontrolle; Windolf, Neuen Eigentümer; Windolf, Risiko. 208 Kocka, Geschichte des Kapitalismus, S. 92–99, 117. 209 Freye, Führungswechsel; Godelier, Élites; Hartmann, Top-Manager; Joly, Diriger. 210 Plumpe, Ende; Plumpe, Herz, S. 513–544. Vgl. auch Frieden, Global Capitalism. 211 Höpner / Schäfer, Ökonomie.

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bei Unternehmen in Kontinentaleuropa und Japan […] erhebliche Begehrlichkeiten.«212 Im Unterschied zu den Jahren des New Deal in den USA und zum westdeutschen »Konsenskapitalismus«213 der ersten Nachkriegsjahrzehnte nahm die soziale Ungleichheit im transatlantischen Wirtschaftsraum wieder deutlich zu.214 Mit Blick auf Unternehmen lag das Neue vor allem darin, dass jener mehrfach unter dem Begriff der »Finanzialisierung« zusammengefasste Prozess nicht auf den Finanzsektor begrenzt blieb, sondern auch die Entscheidungslogiken und Machtrelationen in Industrieunternehmen veränderte. In der über den Tellerrand nationaler Wirtschaftssysteme hinausblickenden Kapitalismusforschung tritt die unübersehbare globalgeschichtliche Wende der 1970er Jahre damit noch deutlicher hervor als in anderen Bereichen der Geschichtswissenschaft.215

1.3.3 Unternehmens- und branchenspezifische Studien Im Umfeld unternehmenshistorischer Forschungen lassen sich für die vorliegende Arbeit drei Forschungsstränge voneinander abgrenzen. Hier sind erstens Forschungen zu multinationalen Unternehmen zu nennen, zweitens unternehmenshistorische Untersuchungen, welche sich mit den Umstrukturierungen in der Zeit nach dem Boom befassen, sowie drittens Studien zur Chemieindustrie und den hier ausgewählten Fallbeispielen. Multinationale Unternehmen Vor dem Hintergrund der bereits im Analyserahmen genannten sozial- und geschichtswissenschaftlichen Publikationen beschränkt sich der folgende Abschnitt auf wenige relevante Werke.216 Zunächst ist auf die zahlreichen Veröffentlichungen von Mira Wilkins und Geoffrey Jones zu multinationalen Unternehmen in den USA und Großbritannien zu verweisen. Dabei hat Wilkins vor allem Studien zur Entstehung von multinationalen Unternehmen in den USA 212 Plumpe, Herz, S. 522. 213 Angster, Konsenskapitalismus. 214 Doering-Manteuffel, Zeitbögen. Vgl. kritisch zur Gleichsetzung des postwar consensus in den USA und des sozialen Konsenses in der Bundesrepublik: Leendertz, Zeitbögen, besonders S. 213. Inwiefern die Funktionsbedingungen des Kapitalismus zur Steigerung sozialer Ungleichheit führten, ist nach wie vor umstritten. Vgl. Plumpe, Herz; Sassen, Ausgrenzungen; Lenger, Kapitalismuskritik. 215 Berghoff, Financialization; Berghoff / R ischbieter, Introduction. Um den Bedeutungsgewinn des Marktes und des Finanzbereichs auszudrücken und gleichzeitig den Prozess der Digitalisierung einzufangen, wird im Folgenden von »digitalem Finanzmarkt-Kapitalismus« gesprochen. Vgl. Doering-Manteuffel / Raphael, Nach dem Boom (2012), S. 26–27; Plumpe, Herz, S. 574; Windolf, Finanzmarkt-Kapitalismus. 216 Vgl. grundlegend Hertner / Jones, Multinationals.

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vor dem Ersten Weltkrieg verfasst, zugleich aber auch einige Entwicklungslinien über Direktinvestitionen bis in die 1990er Jahre nachgezeichnet.217 Jones beschäftigte sich hingegen intensiv mit multinationalen Handels- und Finanzunternehmen in Großbritannien im 19. und 20. Jahrhundert.218 Im deutschsprachigen Raum sind zum einen die Publikationen von Peter Borscheid zum Versicherungswesen heranzuziehen;219 zum anderen haben Harald Wixforth und Ralf Ahrens einen Band zur Internationalisierung des Bankwesens seit den 1950er Jahren herausgegeben.220 In Bezug auf die Literaturlage zu multinationalen Unternehmen sind aus historischer Perspektive zwei Bemerkungen zu machen: Erstens gibt es eine Vielzahl von Untersuchungen, die sich auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg konzentrieren;221 zweitens ist inzwischen eine Reihe von Studien entstanden, welche einzelne, international tätige Unternehmen über einen längeren Zeitraum in den Blick nehmen. Hier kann die vorliegende Arbeit Anleihen machen, doch steht die Problematisierung der jüngsten Zeitgeschichte wie auch der Ausbau des Auslandsgeschäfts dort meist nicht im Mittelpunkt.222 Weitaus größere Relevanz besitzen Analysen, die sich mit Formen der Internationalisierung nach 1945 auseinandersetzen.223 Neben dem Sammelband von Geoffrey Jones und Harm G.  Schröter über multinationale Unternehmen in Kontinentaleuropa224 sowie der von John Dunning und Peter Robson herausgegebenen Darstellung über den Zusammenhang von multinationalen Unternehmen und Europäischer Gemeinschaft225 sind an dieser Stelle die Arbeiten von Claudia Nieke, Annika Biss und Ulrich Kreutzer über die Internationalisierung von Volkswagen, BMW und Siemens hervorzuheben. Im Unterschied zu zahlreichen Veröffentlichungen, die multinationale Unternehmen auf der Basis ausländischer Direktinvestitionen untersuchen, dringt Biss tief in ihren Untersuchungsgegenstand ein. Sie zeigt, wie der Münchener Autobauer bis Anfang der 1980er Jahre weltweite Konzernstrukturen aufbaute, die selbst dem Dauerkonkurrenten Daimler-Benz überlegen waren.226 217 Wilkins, Emergence of Multinational Enterprise; Wilkins, Multinational Enterprise to 1930 218 Jones, Britische multinationale Unternehmen; Jones, Multinational Banking; Jones, Global Capitalism. 219 Borscheid / Feiber, Internationalisierung; Borscheid / Pearson, Insurance Industry. 220 Ahrens / Wixforth, Strukturwandel. Vgl. speziell für Familienunternehmen: Lubinski / ​ Fear / Fernández Pérez, Family multinationals. 221 Vgl. exemplarisch: Schröter, Aufstieg. 222 Vgl. exemplarisch: Bähr / Erker, Bosch; Dejung, Fäden; Erker, Wettbewerb. 223 Vgl. für die Zeit vor 1945 exemplarisch: Teichova / L évy-Leboyer / Nussbaum, Multinational Enterprise. 224 Jones / Schröter, Rise of Multinationals. 225 Dunning / Robson, Multinationals. 226 Biss, Internationalisierung; Nieke, Internationalisierung; Kreutzer, Siemens. Vgl. ferner: Faust, Spannungsfelder; Göke, Volkswagen; Grunow-Osswald, Internationalisierung; Ludwig, Herausforderungen. Götz Hanjo Borsdorf hebt die Bedeutung geringerer In-

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Darüber hinaus sind hier zumindest zwei Untersuchungen anzuführen, welche im sozialwissenschaftlichen Kontext entstanden sind, aber eine historische Perspektive integrieren. Zum einen kritisiert Michael Wortmann in seiner Dissertation die gängigen ökonomischen und managementtheoretischen Modelle multinationaler Unternehmen und entwickelt ein Modell einer »komplexen Globalisierung«, welches auf externes Wachstum durch Übernahmen und unternehmensinterne Restrukturierungen auf globaler Ebene abhebt. Neben jenen theoretischen Überlegungen und seiner Darstellung der Standortdebatte sind zudem die von ihm gewählten Fallbeispiele (Heidelberger Druckmaschinen, Continental, Hoechst) für die vorliegende Studie relevant.227 Zum anderen ist die Dissertation von Sebastian Schief zu nennen, der die Internationalisierung deutscher Konzerne anhand von Direktinvestitionen im Ausland untersucht. Er arbeitet für zwei Fallbeispiele (RWE , Allianz) die unternehmensstrategischen Leitlinien wie auch die Motive der Beteiligten heraus und betont die unternehmerischen Pfadabhängigkeiten sowie die geografische Konzentration auf den Raum der Europäischen Union und Nordamerika.228 Unternehmenshistorische Forschungen zur Phase nach dem Boom Inzwischen liegen einige unternehmenshistorische Arbeiten vor, die sich mit unterschiedlichen Facetten des Wandels in der Zeit nach dem Boom beschäftigen. Hierzu gehört zuvorderst ein von Morten Reitmayer und Ruth Rosenberger herausgegebener Sammelband, welcher die Zusammenhänge zwischen den Veränderungen auf dem wirtschafts- und währungspolitischen Feld, den Umbrüchen auf Betriebsebene und dem Wandel unternehmerischer Leitbilder untersucht.229 Indem Unternehmen nicht nur als Warenproduzenten auf Märkten auftraten, sondern zunehmend selbst als Waren auf einem Markt gehandelt wurden, entstand  – so Werner Plumpe  – eine doppelte Kontingenz, die der Unternehmensberatung die Werkstore öffnete. Gerade der fiktionale Charakter der Beraterliteratur machte dabei ihren eigentlichen Wert aus, da er angesichts der neuen Unübersichtlichkeit wieder zu einer entscheidungsermöglichenden Erwartungsbildung beitrug.230 Mit Blick auf die einschlägigen Veränderungen am Ende des Untersuchungszeitraums, welche gerne unter den Schlagwörtern Finanzialisierung, Aufstieg des Shareholder Value und Auflösung der »Deutschland AG« subsummiert werden, existiert ferner ein Sammelband, der die Strukturveränderungen der deutschen formationskosten als Vorteil ausländischer Tochtergesellschaften gegenüber dem Export oder der Vergabe von Lizenzen hervor. Vgl. Borsdorf, Internationalisierung. 227 Wortmann, Komplex. 228 Schief, Globalisierung. Vgl. ferner: Dörrenbacher / Plehwe, Grenzenlose Kontrolle. 229 Reitmayer / Rosenberger, Unternehmen. Vgl. zu den neu entstehenden Leitbildern in den 1970er und 1980er Jahren auch die Beiträge in: Dietz / Neuheiser, Wertewandel. 230 Plumpe, Ende; Plumpe, Fiktionen. Vgl. auch Bauer / Burr, Ende.

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Unternehmensverflechtung in den Blick nimmt. Während stabile Kapital- und Personalverflechtungen deutsche Großunternehmen jahrzehntelang vor feindlichen Übernahmen schützten und eine langfristige, auf Qualitätsproduktion ausgerichtete Investitionspolitik ermöglichten, büßte die Finanzierung mittels langfristiger Bankkredite in den 1990er Jahren an Bedeutung ein. Infolgedessen fielen die Kapital- und Personalverflechtungen fort. Die Internationalisierung der Unternehmen und die Liberalisierung der Finanzmärkte hatten hieran einen entscheidenden Anteil.231 Unternehmensübergreifend ist auch die Studie von Bob Hancké angelegt, der die polit-ökonomische Entwicklung des Beziehungsverhältnisses von Staat und Unternehmen in Frankreich für die frühen 1980er Jahre nachzeichnet.232 Außerdem sind einige Arbeiten zu nennen, welche sich mit dem strukturellen Wandel anderer Industriebranchen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts beschäftigen. Neben den bereits angeführten Arbeiten zur Chemiefaser- und Bekleidungsindustrie233 zeigt Ralf Ahrens in diesem Zusammenhang, dass der Maschinenbau den beschleunigten Strukturwandel deutlich erfolgreicher als traditionelle Industriebranchen wie Montanindustrie oder Schiffbau bewältigte. Das Schlagwort der Deindustrialisierung kennzeichnet weder die Entwicklung der chemischen Industrie noch des Maschinenbaus. Auf die schwieriger gewordenen Produktions- und Absatzbedingungen im Inland reagierten auch viele Maschinenbauer mit verstärkten Investitionen im Ausland.234 Für die Automobilindustrie konnte Ingo Köhler nachweisen, wie stark sich das Marktverständnis bei den Unternehmensleitungen wandelte. In dieser Lesart bildeten die 1960er und 1970er Jahre die Sattelzeit des modernen Marketingmanagements, indem sich vereinzelt genutzte Marketingmethoden zu einem neuartigen Regelsystem der Unternehmenssteuerung verdichteten.235 Obschon sich die Einführung neuer Marketingmethoden für die Produzenten von (Grund-)Chemikalien nicht als drängendstes Problem darstellte, gilt es jene Dimension im Blick zu behalten – insbesondere bei bestimmten Produktgruppen für den Endkundenmarkt (wie Arzneimitteln oder Speichermedien).236

231 Ahrens / Gehlen / Reckendrees, Deutschland AG . Vgl. besonders: Marx, Internationalisierung; Marx, Governance. Vgl. auch: Beyer, Globalisierung; Fennema / Heemskerk, Nieuwe Netwerken; Morin, Transformation; Windolf, Corporate Network. 232 Hancké, Large Firms. Vgl. zum Verhältnis von Staat und multinationalen Unternehmen in Deutschland und Frankreich mit Bezügen zu BASF, Bayer, Hoechst und Rhône-­ Poulenc auch: Sally, States and Firms. 233 Lindner, Faden; Lindner, Erdölkrise; Schnaus, Sterben; Schnaus, Kleidung. 234 Ahrens, Maschinenbau, besonders S. 68–72. Vgl. zur Stahlindustrie: Mény / Wright, Politics of Steel. Vgl. zum Werftensterben: Neumann, Unternehmen Hamburg, S. 137–154; Wegenschimmel, Zombiewerften. 235 Köhler, Auto-Identitäten, besonders S. 477. 236 Kreutle, Marketing-Konzeption, besonders S. 372–395.

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Chemiebranche und Chemieunternehmen Die Forschungslage zur Geschichte der westeuropäischen Chemieindustrie in den letzten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ist insgesamt als überschaubar zu bezeichnen. Freilich existieren einige Studien zur Branchenentwicklung und zu Einzelunternehmen, doch vielfach brechen diese bereits in den 1960er oder 1970er Jahren ab. Aus unternehmenshistorischer Perspektive stellt die Internationalisierung der westeuropäischen Chemieindustrie in der Zeit nach dem Boom zweifellos ein Desiderat dar. Zur Einordnung der untersuchten Fallbeispiele können Untersuchungen von Harm G. Schröter herangezogen werden, der die Auslandsinvestitionen der deutschen Chemieindustrie im Zeitraum 1870 bis 1965 quantitativ untersucht hat.237 Hier wird deutlich, dass die Unternehmen nicht erst in den 1960er Jahren ins Auslandsgeschäft einstiegen, sondern bereits vor dem Ersten Weltkrieg eine herausgehobene Position auf dem Weltmarkt hatten. Vor diesem Hintergrund gilt es, das Verhältnis von Pfadabhängigkeiten und Kontinuitäten in Bezug auf die Internationalisierung auszutarieren. Neben solchen quantitativen Herangehensweisen sind ferner international vergleichende Publikationen zu nennen, welche die Chemieindustrie in einen längeren Entwicklungskontext rücken und spezifische Einzelfragen an den Industriezweig adressieren. Hierzu gehört der Sammelband von Louis Galambos, Takashi Hikino und Vera Zamagni über die weltweite Chemieindustrie im petrochemischen Zeitalter sowie die Studie von Ashish Arora, Ralph Landau und Nathan Rosenberg, in der auch Innovations- und Finanzaspekte der Branche beleuchtet werden.238 Außerdem ist an dieser Stelle auf die Überblicksdarstellung von Alfred D. Chandler zu verweisen, der die Bedeutung von Forschung und Entwicklung für den langfristigen Unternehmenserfolg betont und die Veränderungen infolge der petrochemischen und der antibiotischen Revolution aufzeigt. Aufgrund des Wissensvorsprungs der etablierten Unternehmen war es für Newcomer lange Zeit nahezu unmöglich, zur weltweit führenden Gruppe von Chemie- und Pharmakonzernen aufzusteigen – dies änderte sich erst am Ende des 20. Jahrhunderts.239 Mit Blick auf das Beziehungsgeflecht von Unternehmen, 237 Schröter, Auslandsinvestitionen 1870 bis 1930; Schröter, Auslandsinvestitionen 1930 bis 1965. Vgl. für die Chemieindustrie in den 1970er Jahren: Jungnickel, Internationalisierung; Loibl, US -Direktinvestitionen. Ferner grundlegend: Schreyger, Direktinvestitionen. 238 Arora / L andau / Rosenberg, Chemical Industry; Galambos / Hikino / Z amagni, Global Chemical Industry; Petri, Technologietransfer. Vgl. speziell zum Verhältnis von Umweltfragen und Chemieindustrie nach 1945: Grant, Government Environmental Policy; Jones / Lubinski, Green Giants; Jungkind, Umweltrisiko; Marx, Leck im Raumschiff Erde; Nuhn, Entwicklungslinien; Wagner, Konfigurationsentscheidungen. 239 Chandler, Industrial Century. Vgl. speziell für die deutsche Chemieindustrie: Abelshauser, Produktionsregime der chemischen Industrie; Lesch, German Chemical Industry; Wengenroth, German Chemical Industry.

Forschungsstand

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Wirtschaftsverbänden und Staat sind hier ferner die Arbeiten von Christopher S. Allen, Alberto Martinelli sowie von Wyn Grant, William Paterson und Colin Whitson anzuführen.240 Überdies wird neben jenen historisch angelegten Untersuchungen auf einige sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Studien zurückgegriffen. Hierzu zählt die Darstellung der Branchenstruktur von Wolf Rüdiger Streck ebenso wie die wirtschaftsgeografische Habilitation von Harald Bathelt, der die Prozessstrukturen der chemischen Industrie in Deutschland analysiert. Dabei betont er die räumlichen Implikationen des industriellen Strukturwandels. Krisenhafte Entwicklungspfade würden nicht in allen Teilräumen in gleicher Weise auftreten, vielmehr seien traditionelle Industrieregionen mit standardisierter Massenproduktion weitaus stärker vom Strukturwandel betroffen als Industrieräume mit Schlüsseltechnologien oder hochwertigen Dienstleistungen.241 Zudem greift die Arbeit die Ergebnisse von Jürgen Kädtler auf, der die Herausbildung global koordinierter Produktionsnetzwerke deutscher Chemiekonzerne nachzeichnet und die Zusammenhänge zwischen Finanzialisierung, Unternehmensmodell und industriellen Beziehungen beleuchtet. Im Unterschied zu anderen soziologischen Studien sieht Kädtler bei der Umgestaltung der Unternehmen keine externen Finanzmarktzwänge am Werk, stattdessen hebt er das Management mit seinen Rationalitäts- und Legitimitätsvorstellungen als treibende Kraft der strategischen Neuausrichtung hervor.242 Ähnlich interpretiert auch Sigurt Vitols den Wandel nationaler Corporate-Governance-Systeme nicht alleine mit dem Bedeutungsgewinn des Shareholder Value, vielmehr sähen sich Unternehmensleitungen immer gleichzeitigen Veränderungen in anderen Bereichen, wie den Arbeits- und Produktmärkten, ausgesetzt. Dabei hätten sie durchaus Wahl­ optionen gehabt. Während sich die Strategien und Strukturen von BASF, Bayer und Hoechst in den ersten Nachkriegsjahrzehnten noch geähnelt hätten, würden sie sich seit Mitte der 1990er Jahre stark auseinander entwickeln.243 Schließlich kann die folgende Arbeit auf einer Reihe von Publikationen zu den untersuchten Einzelunternehmen aufbauen, auch wenn mit Ausnahme der BASF keine umfassenden unternehmenshistorischen Darstellungen vorliegen. Werner Abelshauser unterstreicht die Orientierung an Hochtechnologien und diversifizierter Qualitätsproduktion sowie die Verbundchemie als strategischen Kern der BASF seit ihrer Neugründung 1952. Faktenreich werden unternehmerische Handlungen hier in breitere institutionelle Arrangements eingebettet, allerdings

240 Allen, Change; Allen, Chemical Industry; Grant, Organization; Grant, Government-Industry Relationships; Grant / Paterson / W hitson, Government; Martinelli, International Markets. 241 Bathelt, Chemiestandort; Streck, Industrie. 242 Kädtler, Netz; Kädtler, Netze; Kädtler, Umbruch; Kädtler, Business; Kädtler, Industrieller Kapitalismus; Kädtler / Hertle, Industriepolitik; Kädtler / Sperling, Globalisierung. 243 Vitols, Wege.

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unterbleibt eine systematische Analyse des Auslandsgeschäfts.244 Daneben sind inzwischen Untersuchungen zum geplanten Bau eines eigenen Kernkraftwerks sowie zur Energiesituation der Chemieindustrie entstanden, welche gleichfalls den Anpassungsdruck und die Wandlungsfähigkeit der Chemieunternehmen akzentuieren.245 Für die beiden anderen deutschen Chemiekonzerne gibt es keine vergleichbaren wissenschaftlichen Gesamtdarstellungen. Zu Hoechst hat zum einen der ehemalige Direktor für Öffentlichkeitsarbeit Ernst Bäumler eine größere Darstellung sowie eine Biographie über Rolf Sammet verfasst246; zum anderen liegen für bestimmte Fragestellungen – mit Blick auf die Geschäfte mit der DDR oder das Engagement in den USA –247 einzelne Spezialstudien vor.248 Zudem ist an dieser Stelle die Dissertation von Wilhelm Bartmann zu erwähnen, der vergleichend die Pharmabereiche von Bayer, Hoechst und Schering untersucht und die Zusammenarbeit zwischen Hoechst und dem französischen Pharmaunternehmen Roussel Uclaf behandelt.249 Darüber hinaus sind in jüngerer Zeit mehrere Arbeiten entstanden, welche sich mit der Unternehmensentwicklung in den 1990er und frühen 2000er Jahren beschäftigen. Hierbei handelt es sich durchweg um sozialwissenschaftliche Studien, welche Hoechst als Beispiel für den Bedeutungsgewinn des Shareholder Value-Prinzips und die Aufwertung des Kapitalmarkts heranziehen.250 Vor allem Stefan Eckert beschäftigt sich in seiner Habilitation mit dem Zusammenhang von Aktionärsorientierung und Globalisierung bei Hoechst und beleuchtet damit einen wichtigen Aspekt der jüngsten Unternehmensgeschichte.251 Ferner sind für diesen Zeitraum die beiden umfangreichen, in ihrer Interpretation polarisierenden Werke des Journalisten Christoph Wehnelt sowie des ehemaligen Hoechst-Vorstandsmitglieds Karl-Gerhard Seifert zu nennen.252

244 Abelshauser, Produktionsregime der chemischen Industrie; Abelshauser, Neugründung. Vgl. zum China-Geschäft der BASF ab 1990: Grabicki, Reise. Für das Engagement der BASF auf den osteuropäischen Märkten: Kreutle, Schwieriger Osten. Vgl. ferner zur BASF: Friege / Kaiser, IG Farben-Nachfolger; Räuschel, BASF. 245 Marx, Energiehunger; Marx, Failed Solutions; Marx, Atomzeitalter; Sauer, Ölkrisen; Schröter, Ölkrisen und Reaktionen; Schröter, Strategische F&E; Schröter, Strategic R&D; Seubert, Energie. 246 Bäumler, Sammet; Bäumler, Farben. Vgl. als Autobiographie ferner: Lanz, Weltreisender. 247 Karlsch, Milliardengeschäft; Klein, Operation; Vlaanderen, Hoechst. 248 Vgl. für eine Darstellung von Quellen aus dem Hoechst-Archiv: Metternich, Unternehmensarchiv; Schreier / Wex, Hoechst; Trouet, Hoechst-Konzern. Weniger relevant, obschon Hoechst als Fallbeispiel herangezogen wird: Launer, Entwicklung. 249 Bartmann, Pharmabereiche. 250 Becker / Sablowski, Netz; Eckert, Konvergenz; Eckert, Shareholder Value bei Hoechst; Menz / Becker / Sablowski, Shareholder-Value. 251 Eckert, Unternehmenspolitik. 252 Seifert, Goodbye Hoechst; Wehnelt, Hoechst. Im Gegensatz zu Seifert und Wehnelt: Grand / Bartl, Management.

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Für alle drei deutschen Fallbeispiele wurden bereits die personellen Kontinuitäten und Karrierewege der Vorstandsmitglieder zwischen 1952 und 1990 analysiert.253 Darüber hinaus liegen zu Bayer Untersuchungen über die Thematik der Mitbestimmung und der Forschung vor. Auf letzterem Feld hat Rouven Janneck jüngst auf die Zusammenhänge zwischen Forschungssteuerung und Organisationswandel verwiesen.254 Als besonders erfreulich mit Blick auf die Internationalisierung erweist sich die Studie von Patrick Kleedehn, dessen Untersuchung zwar bereits 1961 (Ära Haberland) abbricht und sich lediglich auf vier geografische Märkte beschränkt, aber dennoch einen gewichtigen Baustein zur Erklärung der Internationalisierung von Bayer liefert.255 Außerdem ist hier die sozialwissenschaftliche Dissertation von Tina Guenther anzuführen, welche sich auf der Basis von Interviews mit dem Struktur- und Kulturwandel Bayers im organisationalen Feld der »Deutschland AG« beschäftigt und auf die Aufwertung von Markt- und Finanzaspekten verweist.256 Daneben kann auf die 1988 von Erik Verg, Gottfried Plumpe und Heinz Schultheis zusammengestellte Festschrift zum 125-jährigen Jubiläum zurückgegriffen werden, welche trotz ihres chronologischen Aufbaus zu zahlreichen Einzelaspekten interessante Einblicke liefert – freilich weitgehend aus der Sicht des Unternehmens.257 Schließlich hat sich Silke Fengler in ihrer Dissertation intensiv mit dem Zusammenschluss zwischen der Agfa, einem deutschen Tochterunternehmen von Bayer, und dem belgischen Fotochemieunternehmen Gevaert N. V.  Mortsel beschäftigt. Die Fusion der beiden Gesellschaften fand bereits 1964 vor dem Hintergrund der zunehmenden Konkurrenz US -amerikanischer und japanischer Firmen statt und verdeutlicht, dass sich – in einigen Teilmärkten – schon vor 1973 Krisenanzeichen festmachen lassen. Zugleich war der grenzüberschreitende Zusammenschluss ein unternehmensrechtliches Novum, für den auf europäischer Ebene noch kein verbindlicher Rahmen existierte. Damit liefert Fenglers Studie einen bedeutsamen Referenzpunkt zur Beurteilung der Funktionsfähigkeit und des Erfolgs multinationaler europäischer Unternehmen.258 Ähnlich bunt gestaltet sich der Forschungsstand zur deutschen Vereinigte Glanzstoff-Fabriken AG (VGF) und ihrem niederländischen Mutterunternehmen Akzo. Auch in diesem Fall gibt es vor allem einige, im Umfeld des Unternehmens entstandene Veröffentlichungen. Als besonders ertragreich erweist sich die quellennahe Beschreibung aus der Feder des ehemaligen Vorstandsmitglieds 253 Bartmann, Pharmabereiche; Bartmann / Plumpe, Kontinuitäten. 254 Janneck, Forschung; Janneck, Lifesciences; Tenfelde u. a., Mitbestimmung und Sozialpolitik. Vgl. bei Tenfelde als unternehmenshistorischer Überblick: Erker, Bayer. Von geringer Relevanz für die vorliegende Studie: Luxi, Wissen; Raasch, Mentalitätsgeschichte. Zeitgenössisch ferner: Hoechst AG , Mitarbeiter. 255 Kleedehn, Internationalisierung. Vgl. für den spanischen Markt: Puig, Bayer; sowie vergleichend: Ludwig, Herausforderungen. 256 Guenther, Strukturwandel. 257 Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine. 258 Fengler, Fotoindustrie. Vgl. zur Hoechst-Tochtergesellschaft Messer: Lesczenski, Messer.

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Ludwig Vaubel, die einen tiefen Einblick in die Sichtweise des (deutschen) Managements erlaubt.259 Während für die Entwicklung des deutschen Unternehmensteils in den 1970er Jahren ferner auf die Darstellung des ehemaligen Leiters der Werkzeitschrift Karl-Heinz Asperger zu verweisen ist, liegt mit der Arbeit von Bas Klaverstijn gleichfalls ein niederländisches Pendant vor.260 Neben weiteren Studien, die sich mit Einzelfragen auseinandersetzen – wie der Schließung von Betrieben oder der Belegschaft der Glanzstoff AG –261 liegt mit der von Jonathan Steffen herausgegebenen Veröffentlichung ein Gesamtüberblick zur Akzo-Konzernentwicklung vor  – abermals aus der Perspektive des Unternehmens.262 Als differenzierter und gehaltvoller sind die Beiträge von René L. Olie und Ben Wubs einzustufen. So zeigt Wubs, wie und warum niederländische Firmen nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer der bedeutendsten Investorengruppe in der Bundesrepublik aufstiegen.263 Über den französischen Chemiekonzern Rhône-Poulenc liegt zwar eine wissenschaftliche Abhandlung von Pierre Cayez vor, doch endet diese bereits mit dem Jahr 1975.264 Die Studie liefert wichtige Einblicke in die Entwicklung der 1960er und frühen 1970er Jahre; der anschließende Zeitraum ist hingegen größtenteils nur über zeitgenössische Quellen zu erschließen. Als weitere Sekundärliteratur zum Unternehmen sind hier allenfalls die frage- wie narrationslose Beschreibung von Etienne P. Barral sowie die unternehmensnahe, auf ein breites Publikum ausgerichtete Darstellung von Fabienne Gambrelle und Félix Torres anzuführen.265 Von größerem Wert sind hingegen die Ausführungen von Hervé Joly über die Familie Gillet, die in den 1960er und 1970er Jahren einen bedeutenden Einfluss auf das Unternehmen nahm,266 sowie mit Blick auf die Verstaatlichung und anschließende Privatisierung verschiedene (zeitgenössische) sozialwissenschaftliche Publikationen.267 Darüber hinaus liegt über May & Baker, ein großes britisches Tochterunternehmen von Rhône-Poulenc, zumindest bis in die 1980er Jahre eine unternehmenshistorische Untersuchung vor.268 Neben jenen Veröffentlichungen zu den konkreten Fallbeispielen bieten jüngere Studien zu europäischen Chemie- und Pharmaunternehmen eine wichtige 259 Vaubel, Glanzstoff, 2 Bände. Vgl. hierzu auch: Zempelin, Unternehmenskultur. 260 Asperger, Glanzstoff; Klaverstijn, Samentwijnen. Für die Zeit vor 1949: Langenbruch, Glanzstoff. 261 Vitt / Haase, Glanzstoff; Wicht, Glanzstoff. Vgl. hierzu auch: Northrup / Rowan, Akzo; Piehl, Gewerkschaftssolidarität. 262 Steffen, Answers. 263 Olie, Mergers; Sluyterman / Wubs, Over Grenzen; Wubs, Miracle. Vgl. ferner: Kleinschmidt, Company; Kleinschmidt, America. 264 Cayez, Rhône-Poulenc. 265 Barral, Molécules; Gambrelle / Torres, Rhône-Poulenc. Vgl. speziell für den Pharmabereich: Chauveau, Invention; Quirke, Collaboration; Quirke, Antibiotics; Quirke, Targeting; Ruffat, Synthélabo. 266 Joly, Gillet; Peyrenet, Gillet. 267 Vgl. exemplarisch: Goldstein, Privatisations; Hancké, Large Firms; Schmidt, State. 268 Slinn, May & Baker.

Quellenlage

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Kontrastfolie. Während sich der Forschungsstand über den britischen Chemiekonzern ICI  – auch aufgrund des versperrten Archivzugangs  – in Grenzen hält,269 liegen zu einigen anderen Unternehmen (wie Merck270, Beiersdorf271, Henkel272, Solvay273, Novartis274, Roche275 oder Courtaulds276) inzwischen Vergleichsstudien vor, um die strategischen Entscheidungen in einen unternehmensübergreifenden Kontext einordnen zu können.277

1.4 Quellenlage Die Studie basiert auf einer breiten Quellengrundlage, welche im Folgenden nur knapp umrissen wird. Neben gedruckten Quellen wie statistischen Erhebungen zu ausländischen Direktinvestitionen oder länderspezifischen Daten zur Struktur der Chemiebranche sowie Zeitungsartikeln278 und Veröffentlichungen der Unternehmen und Branchenverbände279 wurden zahlreiche Unternehmensquellen in diversen Archiven herangezogen. Hierbei wurde auch eine überschaubare Menge an Akten zu Chemiegewerkschaften – aus dem Archiv für soziale Bewegungen (Bochum), den Archives Confédération Française Démocratique du Travail (Paris) und den Archives Confédération Générale du Travail (Paris) – eingesehen. Der Kern der Untersuchung beruht auf Beständen in öffentlichen Archiven sowie in den Unternehmensarchiven. Ein Grundstock an Informationen konnte aus den jährlichen Geschäftsberichten gewonnen werden, die für mehrere Unternehmen im Wirtschaftsarchiv der Universität zu Köln lagern, auch wenn diese stets die Sichtweise der Unternehmensleitung darstellen; für andere (Tochter-)Gesellschaften konnten solche Geschäftsberichte in (Univer269 Coleman, Strategies; Pettigrew, Giant; Reader, Forerunners; Reader, First Quartercentury. Die Darstellungen von William Joseph Reader und Donald Cuthbert Coleman reichen nur bis Anfang der 1950er Jahre; das Buch von Andrew M.  Pettigrew endet weitgehend in den 1960er und 1970er Jahren. 270 Burhop, Wirtschaftswunder. 271 Reckendrees, Beiersdorf. 272 Feldenkirchen / Hilger, Henkel; Hilger, Internationalisation; Hilger, Reaction; Ruch, Akquisitionen. 273 Homburg, Diversification. 274 Zeller, Novartis. 275 Bieri u. a., Roche. 276 Owen, Courtaulds. 277 Vgl. für die Entwicklung der drei deutschen Chemiekonzerne bis 1980 ferner: Lorentz / Erker, Chemie. Weniger einschlägig: Fischer, Henning Berlin. 278 Im Rahmen des Projekts wurden die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Der Spiegel, Die Zeit, das Handelsblatt, der Economist und Le Monde systematisch ausgewertet. 279 Vgl. exemplarisch: Verband der Chemischen Industrie (Hg.): Chemische Industrie (diverse Jahrgänge); Verband der Chemischen Industrie (Hg.): Chemiewirtschaft in Zahlen (diverse Jahrgänge).

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sitäts-)Bibliotheken oder den entsprechenden Unternehmensarchiven ausfindig gemacht werden.280 Im Bayer-Archiv (Leverkusen) wurden sowohl Unterlagen zur geschichtlichen Entwicklung des Konzerns und zu verschiedenen Beteiligungsgesellschaften als auch Quellen zur Kooperation mit Rhône-Poulenc und aus dem Konzernstab eingesehen. Material der Regionalen Koordinierung innerhalb des Konzernstabs sowie die Protokolle der Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen erwiesen sich als Fundgrube, um die auslandsstrategischen Leitlinien konzise herauszuarbeiten. Im Archiv der ehemaligen Hoechst AG (Frankfurt / Main) konnten nicht nur die Geschäftsberichte und Niederschriften zu den Hauptversammlungen eingesehen werden, vielmehr waren hier auch zahlreiche Akten zu Auslandsmärkten verfügbar, welche mit spartenbezogenen Unterlagen abgerundet werden konnten. Darüber hinaus wurde die Quellengrundlage zu Hoechst um zwei wesentliche Bestände ergänzt: Zum einen um Unterlagen über die britische Tochtergesellschaft Berger, Jenson & Nicholson, welche sich in den Hackney Archives (London) und in der British Library (London) befinden; zum anderen sind zahlreiche Quellen zur französischen Tochtergesellschaft Roussel Uclaf im Unternehmensarchiv von Sanofi (Paris) überliefert. Hier lagert zugleich der Bestand zu Rhône-Poulenc. Für beide französischen Unternehmen konnten neben den Geschäftsberichten diverse Unterlagen zur Leitungsebene recherchiert und eingesehen werden. Darüber hinaus wurden für Rhône-Poulenc und Roussel Uclaf diverse Dokumente in der Bibliothèque Nationale de France (Paris) und in den Archives Nationales (Paris) ermittelt. Als besonders günstig erwies sich die Quellenlage im Fall des Akzo-Konzerns, denn neben dem umfangreichen Bestand zur deutschen Vereinigten GlanzstoffFabriken AG und ihren Nachfolgegesellschaften im Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv zu Köln (RWWA) existiert ein ansehnlicher Quellenkorpus auf niederländischer Seite. Die Überlieferung im RWWA umfasst sowohl Quellen der AKU- und der VGF-Leitung als auch Schriftgut zu den in- und ausländischen Gesellschaften. Im niederländischen Gelders Archief (Arnheim) befinden sich zwei große Bestände zu AKU bzw. Akzo, welche die Unternehmensentwicklung gehaltvoll dokumentieren. Hier werden nicht nur die Vorstandsprotokolle von Enka-Glanzstoff aufbewahrt, vielmehr gibt das Material auch detailliert über die Fusion 1969 sowie die Umstrukturierungen des Konzerns in den 1970er Jahren Auskunft. Schließlich wurde die Quellengrundlage für spezifische Einzelfragen um Unterlagen in weiteren Archiven ergänzt. Dieses in seiner Aussagekraft heterogen strukturierte Materialkonvolut bietet eine stabile und breitgefächerte Basis, um die zentralen unternehmensstrategischen Entscheidungen mit Blick auf das Auslandsgeschäft vergleichend zu 280 Die Geschäftsberichte von Hoechst befinden sich in der Bibliothek der Universität Trier; diejenigen der Deutschen Rhodiaceta / R hodia in der Freiburger Universitätsbibliothek; diejenigen von Rhône-Poulenc oder ICI bspw. in der British Library, der Bibliothèque Nationale de France oder der London School of Economics Library.

Aufbau der Arbeit

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analysieren. Zahlreiche Unterlagen wurden im Rahmen dieser Studie erstmals zu Forschungszwecken genutzt und geben empirisch belastbare Aussagen über den beschleunigten ökonomischen und gesellschaftlichen Wandel im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.

1.5 Aufbau der Arbeit Die Vergrößerung des Auslandsgeschäfts folgte vielfach unternehmensspezifischen Pfadabhängigkeiten. Gleichzeitig kann die Internationalisierung der Unternehmen nur durch den beschleunigten ökonomischen Strukturwandel und die neuen Problemkonstellationen seit Ende der 1960er Jahre erklärt werden. Vor diesem Hintergrund werden in Kapitel 2 zunächst die Herausforderungen für die Unternehmen in der Zeit nach dem Boom und ihre Internationalisierungsschritte während des europäischen Nachkriegsbooms skizziert. Während deutsche Unternehmen ihren Auslandsbesitz sowie Marken- und Patentrechte im Ausland infolge des Zweiten Weltkriegs verloren, konnten niederländische, französische oder britische Firmen ihre Internationalisierung nach 1945 unter den neuen weltwirtschaftlichen Bedingungen des Kalten Krieges recht ungehindert fortsetzen. Doch auch in einigen deutschen Fällen bestanden Kontakte zu ehemaligen Beschäftigten im Ausland sowie zu ausländischen Zulieferern und Kunden fort. In den Kapiteln 3 und 4 werden dann die Auslandsstrategien der Fallbeispiele im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet. Im Vergleich zu den beiden ersten Nachkriegsjahrzehnten standen die Unternehmensführungen ab Ende der 1960er Jahre vor vollkommen neuen Herausforderungen. Die auf die beiden Ölpreiskrisen folgenden ökonomischen Einbrüche erschütterten die westeuropäische Chemieindustrie schwer und ließen angesichts der Wirkungslosigkeit wirtschafts- und währungspolitischer Maßnahmen das Vertrauen in die Machbarkeit staatlichen Handelns schwinden. Viele Unternehmensbereiche rutschten in die roten Zahlen; zugleich ließen sich unternehmerische Kalkulationen in Zeiten von Stagflation und schwankender Wechselkurse schwerer erstellen. Mit der Überwindung der Krise 1982/83, den sich aufhellenden Absatzmöglichkeiten auf dem US -Markt, der Expansion in die USA ab Mitte der 1980er Jahre und der Öffnung in Richtung Osteuropa und Asien ab 1989/90 schlugen die Unternehmen eine neue Richtung ein. Während Kapitel 3 daher die Zeitspanne von Mitte der 1960er bis Anfang der 1980er Jahre untersucht, nimmt Kapitel 4 den anschließenden Zeitraum bis zum Beginn der 2000er Jahre in den Blick. Die Binnengliederung jener beiden Hauptkapitel orientiert sich an den ausgewählten Unternehmen, da die Firmen nicht im Gleichschritt expandierten. Auf die neuen Herausforderungen gaben die Konzerne vielfach unternehmensspezifische Antworten. Obschon viele Unternehmen produktbezogene Orga-

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nisationsstrukturen aufbauten, folgt die Arbeit in den Unterkapiteln keiner Gliederung nach Produktgruppen  – auch wenn Fragen nach produktspezifischen Entwicklungen immer wieder aufgegriffen werden. Dies ist damit zu begründen, dass in jener Zeit auch regionale Strukturierungen – wie die Bildung von landesspezifischen Holdings oder die Etablierung von Auslandsabteilungen – zunahmen und die Bedeutung landesspezifischer Entwicklungen für die vorliegende Studie höher einzustufen ist. Stattdessen gliedern wiederkehrende Fragen über die Entwicklung von Auslandsinvestitionen und -beteiligungen, nach den bedeutendsten Auslandsmärkten, der Form der Marktdurchdringung und den Motiven sowie nach der Gesamtstruktur des Auslandsgeschäfts die beiden Kapitel. Jene Fragen stellen die Leitachsen der Studie dar. Westeuropa sowie Nord- und Lateinamerika bilden hierbei in geografischer Perspektive die Schwerpunkte. Die Unterkapitel zu den vier Fallbeispielen in den Kapiteln 3 und 4 sind angesichts ähnlicher zeitspezifischer Herausforderungen und Chancen sowie Formen der Kooperation und Konkurrenz miteinander verwoben, gleichwohl lassen sich die Abschnitte zu Bayer, Hoechst, Rhône-Poulenc und Akzo in jenen beiden Kapiteln auch hintereinander lesen. Es steht den Leserinnen und Lesern offen, der vorliegenden Struktur zu folgen oder bei jedem Unternehmen den konventionellen Weg der Chronologie einzuschlagen. Zentrale Aspekte der Einzelkapitel werden bereits in Zwischenfazits festgehalten, während das abschließende Fazit die Ergebnisse der Studie in Bezug auf ihre leitenden Fragen nochmals systematisch vergleichend diskutiert. Auf diese Weise soll ein empirisch dichtes Gesamtbild über die auslandsstrategischen Leitlinien westeuropäischer Chemieunternehmen entstehen, das in seiner Aussagekraft über den Kontext des Einzelunternehmens hinausgeht und damit ein Stück weit zur Einordnung der jüngsten Vergangenheit in die westeuropäische Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg beiträgt.

2. Grundkonstellationen der Internationalisierung in der Chemieindustrie

2.1 Neue Herausforderungen in der Zeit nach dem Boom Als sich am 15. November 1975 fünfzig Kilometer vor Paris auf Schloss Rambouillet die elitäre Runde der Staatsoberhäupter und Regierungschefs der sechs größten westlichen Industriestaaten traf, um über Maßnahmen gegen die anhaltende Konjunktur- und Währungskrise zu beraten, befanden sich ihre Volkswirtschaften in einer ökonomischen Situation, die für viele Zeitgenossen vor dem Hintergrund der Boomphase kaum vorstellbar war.1 Seit Ende der 1960er Jahre stieg die Unsicherheit für Unternehmen länderübergreifend in zahllosen Bereichen an. Während Forderungen nach verstärkter Partizipation und Mitbestimmung Konsensfindungen in den Arbeitsbeziehungen erschwerten und die Kapital- und Finanzbeziehungen angesichts einer ansteigenden Inflation und der Auflösung fester Wechselkurse unübersichtlicher wurden, führten die Sättigung einzelner Märkte, die Ausdifferenzierung von Konsumwünschen sowie der konjunkturelle Abschwung in Verbindung mit kletternden Rohstoffpreisen zu zahlreichen unternehmerischen Unwägbarkeiten. Im Gegensatz zur Boomphase, als produzierte Waren meist einen Abnehmer fanden, musste das Management die Unternehmen seit den 1970er Jahren stärker an Marktentwicklungen koppeln und Kapazitätsanpassungen nach unten vornehmen. Die Unsicherheit auf den (Produkt-)Märkten stieg an, gleichzeitig gewann der Markt gegenüber einer keynesianischen Wirtschaftspolitik als Steuerungsprinzip an Bedeutung. Die westeuropäischen Chemiekonzerne waren Teil jener Prozesse und standen dabei vor enormen Herausforderungen. Gleichzeitig öffneten sich neue Chancen. Zum einen gab es branchenübergreifende Problemlagen wie zoll- und handelsrechtliche Veränderungen oder Verschiebungen der Währungsrelationen, zum anderen industrie- und produktspezifische Entwicklungen, welche aus der Neugestaltung von Rohstoff- und Produktmärkten, dem Ende von Produktzyklen oder technologischen Neuerungen resultierten.

1 James, Rambouillet, besonders S. 7–14.

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Grundkonstellationen der Internationalisierung in der Chemieindustrie

2.1.1 Polit-ökonomische Dimensionen Europäische Integration Bereits die Gründungsakte der Organisation for European Economic Cooperation (OEEC) (1948) zur Durchführung des Marshallplans verwies darauf, dass eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten für den Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso wünschenswert wie notwendig sei. Das Scheitern einer politischen Integration in der ersten Hälfte der 1950er Jahre bewirkte eine noch stärkere Verlagerung auf ökonomische Aspekte.2 Die Römischen Verträge von 1957 sahen die Schaffung eines gemeinsamen Marktes der sechs Mitgliedsländer innerhalb von 12 bis 15 Jahren vor, der in drei Stufen von je vier Jahren realisiert werden sollte. Hierbei bildete die Zollunion den Kern des EWG -Vertrages. Neben der Reduzierung der Binnenzölle sollten ferner mengenmäßige Beschränkungen beim Im- und Export sowie weitere, den freien Warenverkehr behindernde Regelungen abgeschafft werden.3 Die EWG ging damit weit über eine sektorale Integration hinaus. Sie wurde bald zur wichtigsten Institution der wirtschaftspolitischen Integration Westeuropas und veränderte die Grundlagen unternehmerischer Planungen. Bis zur vorhergesehenen Realisierung des gemeinsamen Marktes (im Zeitkorridor 1970–73) mussten die Unternehmen ihre Strategien an die neuen europäischen Wettbewerbsbedingungen anpassen. Hierbei galt es zum einen zu klären, wie sich die Firmen auf dem vergrößerten Markt aufstellen wollten, ob sie hier sowohl in Bezug auf ihre Größe als auch hinsichtlich ihres Innovationspotenzials wettbewerbsfähig waren oder sich mit Wettbewerbern zusammenschließen mussten. Letzteres gewann besonders vor dem Hintergrund US -amerikanischer Konzerne, die den westeuropäischen Binnenmarkt als attraktive Anlageregion entdeckten, an Relevanz. Zum anderen unterlag die Standortwahl fortan neuen Bedingungen, da der Binnenmarkt Zoll- und andere Handelsaspekte in den Hintergrund treten ließ. Gleichwohl ging dies nicht mit einer vollständigen Homogenisierung westeuropäischer Standortbedingungen einher, da nationale Förder- und Subventionierungssysteme sowie das Qualifikationsniveau der Belegschaften und die industriellen Beziehungen weiterhin divergierten. Für westeuropäische Unternehmensakteure stellte sich Anfang der 1960er Jahre mit Blick auf die europäische Integration die Frage, wie verlässlich und dauerhaft jenes europäische Projekt sein würde. Mit der Gründung der EFTA erhöhte sich diese Unsicherheit, denn damit existierten in Westeuropa zunächst

2 Clemens / Reinfeldt / Wille, Integration, S.  123–130, 260–274; Herbst / Bührer / Sowade, Marshallplan; Neebe, Weichenstellung; Schröter, Wiedervereinigung, hier S. 377–379. 3 Ambrosius, Wirtschaftsraum Europa, S. 87–91; Clemens / Reinfeldt / Wille, Integration, S. 130–132.

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zwei konkurrierende Handelsblöcke.4 Hierbei galt die EWG keineswegs a priori als Erfolgsmodell und auch Unternehmen der EWG -Länder waren nicht automatisch tiefer darin eingebunden. Die handelspolitische Teilung Westeuropas war für die westdeutsche Automobilindustrie beispielweise wenig verheißungsvoll, erzielten die westdeutschen Pkw-Hersteller in den EFTA-Mitgliedsstaaten doch traditionell hohe Absatzzahlen. Erst in den frühen 1960er Jahren stieg der Export westdeutscher Fahrzeuge in die übrigen EWG -Staaten sprunghaft an, nicht zuletzt aufgrund der integrativen Wirkung der EWG -Institutionen.5 Die europäische Integration tangierte multinationale Unternehmen aber nicht nur in Fragen der Zoll- und Handelspolitik, vielmehr gab es auch Überlegungen, größere, international wettbewerbsfähige Unternehmensstrukturen zu fördern. Allerdings stießen jene Vorstöße mangels einer einheitlichen europäischen Industriepolitik bald an ihre Grenzen. Auf europäischer Ebene tauchte der Begriff »Industriepolitik« zum ersten Mal 1967 auf, als Euratom, EGKS und EWG zu den Europäischen Gemeinschaften (EG) zusammengeführt wurden, ein für die Industrie zuständiger Kommissar (Guido Colonna di Paliano) ernannt und eine entsprechende Generaldirektion geschaffen wurde. Das von der Europäischen Kommission 1970 angenommene Colonna Memorandum beinhaltete u. a. die Unterstützung einzelner Industriesektoren sowie Forschungsmittel für europäische Unternehmen. Vor dem Hintergrund hoher ausländischer Direktinvestitionen aus den USA sollten damit für europäische Firmen Anreize gesetzt werden, sich in Westeuropa zu größeren Einheiten (European Champions) zusammenzuschließen – vor allem in den zukunftsträchtigen Branchen Atomund Weltraumindustrie, Fahrzeugbau sowie Elektronik- und Pharmaindustrie. Diese industriepolitische Strategie der Umstrukturierung nationaler in europäische Unternehmen orientierte sich teilweise an der Industriepolitik nationaler Champions wie man sie insbesondere aus Frankreich kannte.6 Bereits 1965 hatte die EG -Kommission in einem Memorandum zur Unternehmenskonzentration grenzüberschreitende Unternehmenszusammenschlüsse im Interesse weiterer europäischer Integrationsfortschritte als wünschenswert bezeichnet.7 Im Endeffekt gingen aus dem Colonna Memorandum keine konkreten Maßnahmen hervor; auch das von Altiero Spinelli 1973 vorgeschlagene Aktionsprogramm für eine gemeinsame Industriepolitik führte zu keinen konkreten Ergebnissen, aber diese Initiativen wiesen zumindest in Richtung einer europäischen Industriepolitik und sie zeigen, dass die Herausbildung multinationaler Unternehmen, sofern sie denn in der Hand der Europäer waren, von vielen politischen Entscheidungsträgern positiv bewertet wurde.8 Hier wurde ein 4 Ambrosius, Wirtschaftsraum Europa, S. 91–95. 5 Biss, Internationalisierung, S. 64–67, 239–244. 6 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 262–266; Bussière, Anfänge; Warlouzet, European Industrial Policy; Weidemann, Bedeutung, S. 158. 7 Poeche, Multinationale Unternehmen, S. 21. 8 Bussière, Erfindung, hier S. 271–272; Michaelis, Communications, S. 80–84.

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Möglichkeitsraum geschaffen, in dem Unternehmen expandieren konnten. Die europäische Wirtschaftsintegration sollte eine Ressource gegen die »amerikanische Herausforderung« (Le Défi américain) darstellen.9 Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Bildung europäischer Champions auf der Wunschliste europäischer Politiker stand, gleichwohl war dabei offen, inwieweit die Staaten hierbei mitunternehmerisch tätig werden sollten und ob sich die Privatunternehmen dazu bereitfanden. Die Förderung jener grenzübergreifenden Unternehmensstrukturen wurde in den 1970er Jahren dann weitgehend von Umweltund Wachstumsfragen sowie von Fragen hinsichtlich der Partizipationsrechte von Beschäftigten in multinationalen Unternehmen überdeckt.10 Neue Währungsrelationen nach dem Ende von Bretton Woods Als die Finanzminister und Notenbankpräsidenten von mehr als 40 Ländern im Juli 1944 in Bretton Woods zusammenkamen, bestand ihr Ziel darin, Europa als Wirtschaftsraum und gewichtigen Handelspartner der USA wieder herzustellen und damit einen stabilen Rahmen für eine prosperierende Weltwirtschaft zu schaffen. Die neu geschaffene internationale Währungsordnung basierte auf einem fixen Wechselverhältnis zwischen dem US -Dollar und anderen Währungen sowie der festen Goldkonvertierung des US -Dollars als Ankerwährung.11 Die Bundesrepublik trat dem Bretton Woods System 1949 bei und ratifizierte es drei Jahre später. Obschon die westlichen Industriestaaten im System fester Wechselkurse in den 1950er Jahren ökonomisch kräftig wuchsen, hatte jene Währungsordnung auch ihre Kehrseiten, denn feste Wechselkurse behinderten eine autonome Geldpolitik der einzelnen Nationalstaaten, die am Ende des Nachkriegsbooms vielfach eine expansive Geldpolitik betreiben wollten, um der ansteigenden Arbeitslosigkeit entgegenzuwirken.12 In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zeigten sich die Schwachstellen des Systems immer deutlicher: Ungleich schnell wachsende Volkswirtschaften, voneinander abweichende Wirtschaftspolitiken und unterschiedliche Produktions- und Produktivitätsfortschritte mehrten den Auf- und Abwertungsdruck zwischen den Währungen.13 Der Druck auf die Bundesrepublik nahm zu, die DM aufzuwerten, und auch im Fall Frankreichs blieben die währungspolitischen Beziehungen zu den übrigen Mitgliedern des Bretton Woods Systems nicht

9 Servan-Schreiber, Défi Américain. Vgl. für die Bundesrepublik: Kiesewetter, Amerikanische Unternehmen. 10 Brösse, Industriepolitik, S. 306–309; Simons, Industriepolitik, S. 219–239. 11 Burhop / Becker / Bank, Deutschland, hier S. 197–198; Frieden, Global Capitalism, S. 278– 300; James, IMF; Sylla, Breakdown. 12 Sylla, Breakdown, hier S. 82. 13 Burhop / Becker / Bank, Deutschland, hier S.  206–215.

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spannungsfrei.14 Wenige Tage nach dem Machtwechsel in Bonn beschloss die neue sozialliberale Koalition im Oktober 1969 eine 8,5-prozentige Aufwertung der DM . Umgekehrt wurde der französische Franc im selben Jahr abgewertet, obschon die französische Regierung dies ein Jahr zuvor noch abgelehnt hatte.15 Nur zwei Jahre später, im Mai 1971, brach der Dollarwert nach Freigabe des DM-Wechselkurses innerhalb weniger Wochen um fast zehn Prozentpunkte ein. Daraufhin sah sich auch die US -Administration zum Handeln gezwungen und beschloss im August 1971 die nominale Goldbindung des US -Dollars aufzuheben (Nixon-Schock).16 Der Druck auf die US -Währung ließ nicht nach und so beschlossen mehrere westeuropäische Staaten im März 1973 aus dem System fester Wechselkurse auszusteigen und zu freien Wechselkursen überzugehen. Allerdings erfüllten sich die Hoffnungen in den Souveränitätsgewinn nationaler Wirtschafts- und Geldpolitik nicht. In jedem Fall aber brach damit der feste Wechselkursmechanismus zusammen. Parallel wurde das 1947 abgeschlossene Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen (GATT), dem die Bundesrepublik 1951 beigetreten war, fortgeführt und über die Kennedy-Runde (1964–1967), die Tokio-Runde (1973–1979) und die Uruguay-Runde (1986–1994) in seiner Reichweite ausgedehnt. Bei gleichzeitig sinkenden Transportkosten trug der Abbau von Handelsbarrieren und Zöllen dazu bei, dass der Welthandel seit den 1970er Jahren schneller als die Weltproduktion wuchs.17 Für die Unternehmen veränderten sich die monetären Rahmenbedingungen infolge des Übergangs zu flexiblen Wechselkursen fundamental, und sie stellten vor allem die Finanzabteilungen der Firmen vor große Herausforderungen. Fortan galt es stärker als bisher Preisschwankungen aufgrund wechselhafter Währungsverhältnisse einzukalkulieren. Auch die Rentabilität in- wie ausländischer Anlagen und damit einhergehende Investitions- und Standortentscheidungen mussten zukünftig Währungsschwankungen berücksichtigen.18 Für die Bundesrepublik ging das Ende von Bretton Woods mit einer enormen Aufwertung der DM gegenüber dem US -Dollar, aber auch gegenüber den übrigen westeuropäischen Währungen einher. Hierin unterschied sie sich von den meisten ihrer europäischen Nachbarn. Im Vergleich zu den übrigen Währungs-

14 Bordo / Simard / W hite, France; Monnet, Coopération; Prate, Bretton Woods; Diether Stolze: »Besiegt de Gaulle den Dollar?«, in: Die Zeit Nr. 36, 02.09.1966; »Frankreich. Währungskrise. Gold zurück«, in: Der Spiegel 48/1968, 25.11.1968, S. 140–142. 15 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 260; Burhop / Becker / Bank, Deutschland, hier S. 221; Alecke, Geldpolitik, S. 62–96; Gall, Abs, S. 319–322; Größ, Aufbruch, S. 15–52; James, France, hier S. 146–147; Sylla, Breakdown, hier S. 83–84. 16 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 268; Frieden, Global Capitalism, S. 339–342; James, Cooperation, S. 205–218. 17 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 221; Burhop / Becker / Bank, Deutschland, hier S. 219–228; Plumpe / Steiner, Mythos, hier S. 11; Flassbeck, Bretton Woods. 18 Vgl. generell zur Wirtschaftspolitik nach dem Ende von Bretton Woods: Werner / Pierenkemper, Wirtschaftspolitik.

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schwankungen nahmen sich die Unterschiede in der Entwicklung von DM und niederländischem Gulden hingegen moderat aus. Vor allem ab 1977 verlor der US -Dollar gegenüber den westeuropäischen Währungen nochmals an Gewicht. Erst zu Beginn der 1980er Jahre erholte sich die US -Währung wieder. Hierdurch verbilligten sich Importe in die USA, allerdings zum Preis eines anwachsenden Defizits im US -Staatshaushalt und in der US -Handelsbilanz. Für alle exportstarken europäischen Firmen ergaben sich hieraus außerordentliche Wachstumsmöglichkeiten – auch für die westdeutsche Chemieindustrie. Dabei drängte sich die Frage auf, inwieweit Auslandsgewinne über den Export oder lokale Produktionsstätten zu erzielen und wie Auslandsinvestitionen zu finanzieren waren. Richard Tilly zufolge verstärkte die Volatilität der Wechselkurse die Nachfrage westdeutscher Unternehmen nach internationalen Finanzdienstleistungen.19 Für die westeuropäischen Unternehmen wurde von politischer Seite der Versuch unternommen, die währungspolitischen Schwankungen wieder zu begrenzen. Bereits 1969 hatten die westeuropäischen Staats- und Regierungschefs den Rat der Wirtschafts- und Finanzminister zur Ausarbeitung eines Stufenplans für die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion aufgefordert (»Werner-Plan«). Zwar scheiterte der Werner-Plan an den divergierenden wirtschaftspolitischen Positionen der Mitgliedsländer, doch verständigte sich der EWG -Ministerrat im März 1972 auf einen europäischen Wechselkursverbund, in dessen Rahmen die EWG -Währungen innerhalb einer bestimmten Bandbreite (±2,25 %) schwanken durften (»Währungsschlange«). Allerdings geriet jene Vereinbarung unter den Bedingungen der ersten Ölpreiskrise und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Rezession unter Druck. Frankreich verließ den Währungsverbund 1974 und 1976 gleich zwei Mal, und auch Großbritannien, Italien, Norwegen und Schweden beschritten eigene Wege.20 Die Währungsschwankungen wurden auf diese Weise nicht abgestellt, doch demonstrierten die Anstöße auf europäischer Ebene, dass die politischen Akteure die Risiken flexibler Wechselkurse erkannt hatten. Weitere Vorschläge in Richtung einer Währungsintegration blieben zunächst erfolglos. Erst Ende der 1970er Jahre wurde die Idee eines Europäischen Währungssystems (EWS) ausgearbeitet, das 1979 in Kraft trat und einen Wechselkursmechanismus beinhaltete, der zur besseren Planbarkeit unternehmerischer Entscheidungen beitrug.21

19 Tilly, Regulation, hier S. 210. 20 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 267–269; Ambrosius, Wirtschaftsraum Europa, S.  113–117, 127–128; Clemens / Reinfeldt / Wille, Integration, S.  203–205. 21 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 269–271; Ambrosius, Wirtschaftsraum Europa, S.  129–131; Bussière / Dumoulin / Schirmann, Milieux économiques; Clemens / Reinfeldt / ​ Wille, Integration, S. 206–208; Tomann, Integration.

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Ökonomischer Strukturwandel und Ölpreiskrisen Das dynamische Wirtschaftswachstum der 1950er Jahre setzte sich zunächst auch in der darauffolgenden Dekade in Westeuropa fort. Die westdeutschen Unternehmen waren inzwischen auf den Weltmarkt zurückgekehrt, für andere Länder wie Griechenland, Spanien oder Portugal begann erst jetzt die eigentliche Phase hoher ökonomischer Wachstumsraten.22 Auch Frankreich erlebte erst in den 1960er Jahren die wirtschaftliche Hochphase der Trente glorieuses. An den Wachstumsraten gemessen setzte sich Frankreich damit in den 1960er Jahren europaweit an die Spitze.23 Der konjunkturelle Einbruch 1966/67 dämpfte die ökonomischen Erwartungen in Europa nur kurzzeitig, denn die Wachstumsrate des europäischen Sozialprodukts stieg 1968 wieder auf 5,1 Prozent an und die Arbeitslosenquoten in der Bundesrepublik, Frankreich oder den Niederlanden blieben auf niedrigem Niveau.24 Jenes dauerhaft hohe Wachstum ließ viele Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftspolitiker annehmen, ökonomische Krisen, wie man sie aus der Zwischenkriegszeit kannte, seien durch ökonomische (Gegen-)Steuerungen vermeidbar.25 Gleichwohl warnten einige Zeitgenossen vor der Rückkehr ökonomischer Krisen. Tatsächlich waren die Bedingungen des Nachkriegsbooms in weiten Teilen Westeuropas Anfang der 1970er Jahre nicht mehr gegeben. Die Kriegszerstörungen waren weitgehend beseitigt, der Nachholbedarf im Konsum inzwischen befriedigt, die Primärgüterpreise bereits vor dem Ölschock angestiegen und die Produktivitätslücke zu den USA geschlossen.26 In Anbetracht zunehmender Preissteigerungen reduzierten sich zudem die Exportvorteile. Dies machte zugleich deutlich, dass bedeutende alte Industriezweige Westeuropas, wie die Textilindustrie, der Schiffbau oder die Stahlindustrie, international nicht länger wettbewerbsfähig waren. Da die betroffenen Industriezweige mehr Beschäftigte abbauten als andere Branchen aufnehmen konnten, stieg die Arbeitslosigkeit in den westeuropäischen Industrieländern an und führte zu den Folgeproblemen europäischer Wohlfahrtsstaaten.27 Als die innerhalb der OPEC zusammengeschlossenen arabischen Förderländer (OAPEC) im Herbst 1973 anlässlich des Jom-Kippur-Krieges ankündigten, ihre Fördermengen um etwa fünf Prozent zu drosseln, um die westlichen Länder von ihrer Unterstützung Israels im Nahostkonflikt abzubringen, lösten sie die erste Ölpreiskrise der 1970er Jahre aus. Die politischen und wirtschaftlichen 22 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 219–222, 283–319; Ambrosius, Wirtschaftsraum Europa, S. 95–96; Bernecker, Wirtschaftswunder; Hardach, Rückkehr. 23 Eck, Économie française, S. 3–43; Requate, Frankreich, S. 101–106. 24 Ambrosius, Wirtschaftsraum Europa, S. 96. 25 Plumpe, Wirtschaftskrisen, S. 92–93. 26 Lindlar, Wirtschaftswunder; Lutz, Traum; Lutz, Singularität; Plumpe, Ölkrise; Plumpe, Wirtschaftskrisen, S. 93–97. 27 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 392; Raithel / Schlemmer, Arbeitslosigkeit.

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Entscheidungsträger in den westlichen Industriestaaten hatten sowohl die hohe Abhängigkeit ihrer Ökonomien vom nahöstlichen Öl als auch den Souveränitätswechsel auf dem Erdölsektor zugunsten der Förderländer unterschätzt. Der Ölpreis kletterte daraufhin am 17. Oktober 1973 um etwa 70 Prozent von rund drei US -Dollar pro Barrel auf über fünf US -Dollar an und durchbrach am Ende des Jahres die Marke von zehn US -Dollar. Zwar entschärfte der Währungsverfall des US -Dollars die ansteigenden Rohstoff- und Energiekosten für westeuropäische Länder – insbesondere für die Bundesrepublik –, doch wurden die wachsenden Ölpreise hierdurch nicht vollständig kompensiert.28 Zudem gestalteten sich die Preiserhöhungen und Lieferkürzungen für die westlichen Staaten höchst unterschiedlich. Während befreundete Staaten, wie die arabischen Ölimportländer, Brasilien, Frankreich, Großbritannien, Indien, Spanien und mehrere afrikanische Länder, welche die diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen hatten, im gleichen Umfang wie vor der Krise beliefert wurden, erhielten die neutralen Länder, zu denen auch die Bundesrepublik zählte, nur die Restmengen. Erst im März 1974 wurde Westdeutschland in die Riege der befreundeten Staaten aufgenommen, nicht zuletzt aufgrund der Mitwirkung Bonns an der EG -Nahosterklärung vom 6. November 1973. Deutlich stärker traf es die Niederlande und die USA, die als feindliche Staaten eingestuft wurden und die Auswirkungen eines vollständigen Lieferstopps zu bewältigen hatten. Ein politischer Erfolg der mit den Ölpreiserhöhungen verbundenen Forderungen blieb aus. Die partielle Rücknahme der Förderkürzungen Ende 1973 demonstrierte diesen Misserfolg und garantierte den westeuropäischen Industriestaaten eine hinreichende Versorgung mit Erdöl. Doch gingen diese Maßnahmen letztlich mit einem dauerhaften Anstieg des Ölpreises einher. Fortan mussten die westlichen Industrieländer zusätzliche Mittel zur Deckung ihres Rohstoff- und Energiebedarfs aufwenden, welche zukünftig den erdölfördernden Ländern zur Verfügung standen, um ihre eigenen Volkswirtschaften aufzubauen und Investitionen in den westlichen Verbraucherländern zu tätigen.29 Da die Anlagemöglichkeiten begrenzt waren, entstand ein Überangebot an Liquidität, das fortan die Wege des liberalisierten Weltkapitalmarkts nutzte und damit einen weiteren Grundstein für den entstehenden Finanzmarktkapitalismus legte.30 Entscheidend ist, dass die (europäischen) Chemieunternehmen auf die Ressource Öl in doppelter Hinsicht als Rohstoff wie als Energieträger angewiesen waren. Zudem verursachte die Ölpreiskrise erhebliche Probleme bei der Beschaf­ fung anderweitiger Grundstoffe. Der deutsche Sachverständigenrat zur Begut28 Hohensee, Ölpreisschock. 29 Bini / Garavini / Romero, Oil Shock; Graf, Oil Weapon; Graf, Petroknowledge; Hellema / ​ Wiebes / Witte, Netherlands; Hohensee, Erpressung; Hohensee, Ölpreisschock; Maull, Ölmacht. 30 Gray, Learning; Plumpe, Ölkrise, hier S. 114–117; Marx, Security; Sargent, Globalization, hier S. 59.

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achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung prognostizierte in seinem Dezember-Gutachten 1973 denn auch Versorgungsprobleme für die chemische Industrie.31 Es gilt daher im Folgenden zu zeigen, mit welchen Maßnahmen die Unternehmensleitungen auf jene Herausforderungen Anfang der 1970er Jahre reagierten und ob hieraus Ableitungen für ihre Auslandsstrategien gezogen wurden. In vielen westlichen Industriestaaten nahm die Inflation – bereits vor den Erdölpreiserhöhungen im Herbst 1973 – zu, so dass zugleich Probleme der Geldwertstabilität an Bedeutung gewannen; mit der sprunghaften Verteuerung von Erdölprodukten erhielt die Inflation nochmals Aufwind. Im Fall der Bundesrepublik sah sich die Bundesbank besonders stark dem Ziel der Währungsstabilität verpflichtet und erließ daher monetäre Restriktionen. Im Zusammenspiel mit den Ölpreiserhöhungen und der Verunsicherung der Verbraucher stürzte die Konjunktur ab, so dass sich die Wachstumszahlen der Jahre 1973 bis 1979 im Vergleich zum Zeitraum 1960 bis 1973 europaweit etwa halbierten. Bereits 1972 hatte eine im Auftrag des Club of Rome erstellte Studie öffentlichkeitswirksam vor den Grenzen des Wachstums gewarnt.32 Im Unterschied zu anderen westlichen Staaten setzte sich das Wachstum in Frankreich 1973/74 zwar zunächst fort, doch auch hier ging die Industrieproduktion 1975 zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg zurück. In der Bundesrepublik spitzte sich die zweite Nachkriegsrezession 1974/75 zu einer tiefgreifenden Krise zu, in deren Folge die Arbeitslosenzahl erstmals im Jahresdurchschnitt auf über eine Million anstieg. Besonders in Großbritannien kam es während der 1970er Jahre zu einem verhängnisvollen Zusammenspiel von niedrigen Wachstumsraten, fortschreitender Deindustrialisierung und hohen Inflationswerten.33 Auch wenn die hohen Wachstumsraten bis in die 1960er Jahre nur unter den Bedingungen der Rekonstruktion zu erklären sind und insofern in den 1970er Jahren eine gewisse ökonomische »Normalisierung« einsetzte, bildete die Boomphase den Erfahrungshintergrund vieler Zeitgenossen und macht damit die große Ernüchterung am Ende der Prosperitätsphase verständlich.34 Der in zahlreichen zeitgenössischen und sozialwissenschaftlichen Texten zu findende pessimistische Grundton in Bezug auf die 1970er Jahre spiegelt jedoch weder die Entwicklung der Weltwirtschaft noch des Welthandels wider. Tatsächlich verschoben sich die weltwirtschaftlichen Gewichte zugunsten anderer Weltregionen, während die Volkswirtschaften in den USA und Westeuropa zu ihren langfristigen Wachstumspfaden zurückkehrten.35 Aus globaler Perspek31 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Ölkrise. 32 Meadows / Meadows, Limits; Kupper, Visionen. 33 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 394–395; Eck, Économie française, S. 44–45; Eich / Tooze, Inflation; Ferguson, Crisis, hier S. 7; Plumpe, Wirtschaftskrisen, S. 96–98. 34 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 395–396; Schanetzky, Ernüchterung. 35 Plumpe, Ölkrise. Vgl. für die Aufbrüche in der Zeit nach dem Boom: Reitmayer, Belle Époque.

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tive fand in den 1970er Jahren kein Umbruch in ein postindustrielles Zeitalter statt; auf dieser Ebene ist die Dekade eher als Auftakt in eine neue Phase der Globalisierung zu verstehen. Gleichwohl gingen jene weltwirtschaftlichen Verschiebungen durchaus mit Prozessen der Deindustrialisierung in einzelnen Regionen – beispielsweise in Westeuropa – einher.36 Während sich der wirtschaftliche Strukturwandel somit höchst unterschiedlich vollzog, gab es mit der Herausbildung globaler Finanz- und Kapitalmärkte sowie mit der Öffnung der Weltwirtschaft zwei Entwicklungen, die nahezu alle Länder erfassten. Hierbei nahmen multinationale Unternehmen sowohl die Rolle des Gestalters als auch diejenige des Betroffenen ein.37 »Der Untergang der Währungsordnung von Bretton Woods, die damit verbundene Chance zur Liberalisierung des Weltkapitalverkehrs und die gleichzeitige Liberalisierung des Welthandels waren weltwirtschaftshistorisch gesehen daher die entscheidenden Veränderungen der 1970er Jahre.«38 Der industrielle Strukturwandel39 wurde durch jene Prozesse nicht ausgelöst – bereits seit Ende der 1950er Jahre standen in der Bundesrepublik der Bergbau, die Eisen- und Stahlindustrie sowie der Schiffbau unter enormen Druck.40 Sie führten allerdings zu einer gewaltigen Intensivierung und Beschleunigung desselben unter den Bedingungen erhöhter internationaler Konkurrenz. In der europäischen Schwerindustrie setzte sich die lang anhaltende Krise in den 1970er Jahren fort, zugleich verschwanden weite Teile der Textilindustrie und des Schiffbaus aus Westeuropa. Andere Branchen wie der Maschinenbau und die Automobilindustrie erwiesen sich als weitaus anpassungsfähiger.41 Auch die westeuropäischen Chemiekonzerne blieben Teil der Unternehmenslandschaft. Es gilt daher zu fragen, mit welchen Maßnahmen sie auf den verschärften Strukturwandel reagiert haben und inwieweit die Unternehmensleitungen mit ihren Entscheidungen zu jenem ökonomischen Strukturwandel beitrugen. Zwar erschwerten die neuen Währungsverhältnisse den westdeutschen Export, gleichzeitig eröffnete die Liberalisierung des Handels für die exporterprobte westdeutsche Wirtschaft enorme Chancen. Für die ökonomischen wie die politischen Entscheidungsträger lag der Kern der Krise vor allem darin, 36 Ambrosius, Deindustrialisierung; Plumpe / Steiner, Mythos; Raphael, Gesellschaftsgeschichte, S. 38–56. 37 Fäßler, Globalisierung, S. 190. 38 Plumpe, Ölkrise, hier S. 111. Vgl. hierzu auch: Eichengreen, Globalizing Capital. 39 Unter dem Begriff »Strukturwandel« wird im Folgenden nicht das Drei-Sektoren-Modell nach Jean Fourastié, sondern die strukturelle, unternehmensübergreifende Veränderung von Industriebranchen verstanden. Vgl. zur Begrifflichkeit: Hesse, Strukturwandel; Steiner, Kristallisationspunkt; Steiner, Abschied. Als Überblick zur (außen-)wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik: Bellers / Porsche-Ludwig, Außenwirtschaftspolitik; Glastetter / Högemann / Marquardt, Entwicklung; Gornig, Leitsektoren. 40 Nonn, Ruhrbergbaukrise; Plumpe, Krisen. 41 Ahrens, Maschinenbau; Plumpe, Ölkrise, hier S. 117–121; Schröter, Wiedervereinigung, hier S. 393–394; Tilly / Triebel, Automobilwirtschaft.

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dass den ökonomischen Problemen nicht mehr mit den Theorien und Strategien der zurückliegenden Jahrzehnte zu begegnen war.42 Es wäre sicherlich falsch, die zeitgenössische Krisensemantik und die damit verbundene dramatisierende Gegenwartserfahrung auf einfältige Weise zu replizieren, denn die 1970er Jahre waren auch ein Aufbruch in eine weniger nationalstaatlich abgeschottete und liberalere Zeit. Der Rückzug auf Krisen­ semantiken und Krisendiskurse bietet methodisch zwar festen Grund, schränkt die Beschreibung von gesellschaftlich weitreichenden Unterbrechungen bisheriger Routinen, Funktionalitäten und Erwartungshaltungen jedoch stark ein.43 Überzeugend ist in dieser Hinsicht Charles S. Maier, der in den 1970er Jahren eine von drei systemischen Krisen des 20. Jahrhunderts sieht und sie als Krise der bestehenden Industriegesellschaften begreift.44 Als die islamische Revolution im Frühjahr 1979 die monarchische Staatsform im Iran durch eine Islamische Republik ersetzte, löste sie infolge der Verknappung der Ölmenge bald eine erneute Verteuerung des Erdöls aus. Bereits 1978 hatten Streiks die iranische Wirtschaft in weiten Teilen des Landes lahmgelegt. Mit Ausbruch des ersten Golfkrieges zwischen Iran und Irak im September 1980 verschärfte sich die Lage in der Region nochmals.45 Der Ölpreis überstieg 1981 erstmals die 30-US -Dollar-Grenze und zog damit eine weltweite Wirtschaftskrise nach sich.46 Die 1980 einsetzende Rezession war tiefer und hartnäckiger als diejenige von 1974/75 und verschärfte die außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Unternehmen nochmals. Die Kosten für Rohstoffimporte schnellten nach oben, das Welthandelsvolumen ging zurück, und mehrere Entwicklungs- und Schwellenländer stürzten in eine langanhaltende Schuldenkrise.47 Infolgedessen stiegen Arbeitslosenzahlen, Inflationsraten und Staatsverschuldung in den westlichen Industrieländern an. Konnte der erste Ölpreisschock noch unmittelbar auf einen militärischen Konflikt zurückgeführt werden, wurde nun die strukturelle Instabilität des Ölmarkts offensichtlich. Erst nach 1979/80 fand daher ein gesellschaftlicher Bewusstseinswandel im Hinblick auf die Energie- und Rohstoffversorgung statt.48 Dieser Wandel machte konservative Regierungen mit marktliberalen Lösungsansätzen und einer monetaristischen Geldpolitik mehrheitsfähig.49 Die Unternehmen mussten sich dauerhaft auf jene neue wirtschaftliche Konstellation einstellen. 42 Steiner, Kristallisationspunkt, hier S. 43. 43 Ferguson, Crisis, besonders S. 9–10. 44 Maier, Two Sorts; Maier, Malaise, besonders S. 44–48. Der Begriff (Wirtschafts-)Krise wird im Folgenden gebraucht, um Phasen tiefgreifender Konjunkturrückgänge oder gesamtwirtschaftlicher Störungen zu beschreiben. Vgl. Boyer, Économie politique, S. 80–106; Borchardt, Krisen; Plumpe, Wirtschaftskrisen, S. 8–9; Plumpe, Ölkrise, hier S. 122–123; Raphael, Krisen. 45 Bösch, Schah; Bösch, Zeitenwende; Weißgerber, Iranpolitik. 46 Hohensee, Ölpreisschock, S. 78. 47 Rischbieter, Risiken. 48 Hohensee, Ölpreisschock, S. 240. 49 Bösch, Umbrüche.

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Ökologiebewegung Neben die wirtschafts- und währungspolitischen Schwierigkeiten gesellte sich spätestens in den 1970er Jahren ein gesellschaftliches Klima zunehmender umweltpolitischer Sensibilität, das vonseiten der Chemieindustrie gerne mit dem Begriff »Chemophobie« desavouiert wurde. Viele Unternehmen wiesen die Anschuldigungen über hervorgerufene oder zu erwartende Umweltprobleme zunächst einfach zurück und beklagten insbesondere die (kritische)  Haltung der Medien. Die Firmen mussten den Umgang mit einer zunehmend kritischen Öffentlichkeit erst einmal erlernen und stärkten hierzu intern den Bereich der Öffentlichkeitsarbeit. Dabei waren nach einer demoskopischen Umfrage in Westdeutschland 1984 immerhin 73 Prozent der Befragten der Ansicht, die Vorteile der Chemieindustrie würden ihre Nachteile überwiegen.50 In der Bundesrepublik spiegelte sich die um das Jahr 1970 zu verordnende Trendwende zum einen in der von Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) betriebenen Umweltpolitik »von oben« und der Gründung neuer Institutionen wie dem Umweltbundesamt 1974 wider; zum anderen mündeten die Bedrohungsszenarien in den Neuen Sozialen Bewegungen und dem Entstehen der Grünen als neuer Partei.51 Auf das »1950er Syndrom«52 stark ansteigender Umweltbelastungen infolge des Durchbruchs der industriellen Massenproduktion mit billigen Preisen für fossile Energieträger schloss sich die »1970er Diagnose«53 an, in der die Belas­ tungen der Konsumgesellschaft als akute Probleme wahrgenommen wurden.54 Dramatische Unfälle wie in Seveso 1976 erhöhten das Bewusstsein für die Gefahren der Chemieproduktion.55 Überlegungen über die Nachhaltigkeit der industriellen Massenproduktion fanden verstärkt Aufmerksamkeit, auch wenn die Unfallgefahren und Umweltprobleme noch nicht immer abschätzbar waren.56 Mit der Metapher »Raumschiff Erde« hatte Kenneth Boulding schon 1966 gegen die Vorstellung Position bezogen, die Menschheit würde in einem offenen System leben, und ein Ende der verschwenderischen Ressourcenausbeutung gefordert.57 Dabei galten Chemieunternehmen aufgrund singulärer Unfälle wie auch wegen ihrer ständigen Verunreinigung von Flüssen, Böden und Luft als Umweltverschmutzer.58 Das nahezu grenzenlose Zutrauen in die Möglichkeiten 50 Amecke, Chemiewirtschaft, S. 299–305. 51 Bergmeier, Umweltgeschichte; Mende, Geschichte; Uekötter, Umweltgeschichte, S. 28–38, 67–68. 52 Pfister, Syndrom. 53 Kupper, Diagnose. 54 Arndt, Umweltgeschichte; Engels, Zeitgeschichte; Hünemörder, Epochenschwelle; Kleinschmidt, Technik und Wirtschaft, S. 132–133. 55 Jungkind, Umweltrisiko; Legler, Wettbewerbsfähigkeit, S. 8. 56 Hünemörder, Kassandra. 57 Boulding, Economics; Reith, Konvergenzen, hier S. 351. 58 Amecke, Chemiewirtschaft, S. 305–315; Carson, Silent Spring; Forter, Farbenspiel; Henneking, Industrie; Homburg / Travis / Schröder, Chemical Industry; Simon, DDT.

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der Technik verlor nach dem Boom an Glaubwürdigkeit. Kurzfristig konnte die Industrie versuchen, den Argumenten der Umweltschützer über Gegendarstellungen und Kommunikationskampagnen zu begegnen, doch letztlich mussten Produktionsprozesse und Produkte auf ihre Umweltverträglichkeit geprüft werden. In der Bundesrepublik wie auch in anderen westeuropäischen Staaten wurden seit den 1970er Jahren auf diesem Gebiet zahlreiche Gesetze erlassen. Einige Unternehmen gingen daher in den 1980er Jahren zu einem integrierten Umweltschutz über, der sowohl die Produktionsverfahren, die hergestellten Güter als auch mögliche Nebenprodukte umfasste. Indem umwelt- und klimapolitische Ideen global an Bedeutung gewannen, konnten »grüne« technologische Verfahren und Produkte international einen Wettbewerbsvorteil bringen und eröffneten damit wiederum neue unternehmerische Chancen.59 Mit dem Chemieunfall im indischen Bhopal 198460, dem Großbrand im Industriegebiet »Schweizerhalle« bei Basel 198661 und dem Reaktorunglück von Tschernobyl62 im selben Jahr häuften sich Mitte der 1980er Jahre mehrere industrielle Großunfälle, die endgültig Zweifel am technischen Machbarkeitsglauben weckten, die Kritik an der Produktion chemischer Güter noch einmal bestärkten und einen Wandlungsprozess im Verständnis des Mensch-NaturVerhältnisses auslösten.63 Jene komplexen Prozesse werden im Folgenden nicht detailliert dargestellt, aber umweltpolitische Aspekte werden berücksichtigt, sofern sie die Auslandsstrategie der Unternehmen beeinflussten. Der Fall des Eisernen Vorhangs und der Aufstieg Asiens Mit der demokratischen Revolution in Ost- und Ostmitteleuropa und der anschließenden Integration jener Märkte in die Weltwirtschaft, der Vertiefung und Erweiterung der europäischen Integration sowie dem ökonomischen Aufstieg asiatischer Staaten – allen voran Chinas – erfuhr die weltwirtschaftliche Ordnung ab dem Epochenjahr 1989/90 entscheidende Änderungen. Sowohl die Schaffung eines europäischen Binnenmarktes als auch die Realisierung der Wirtschaftsund Währungsunion trugen in den 1990er Jahren zu einer gewissen ökonomischen Belebung bei, doch verschärften sich infolge der europäischen Harmonisierungs- und Liberalisierungspolitik nochmals die Konkurrenzbedingungen.64 Neben der Vertiefung der Zusammenarbeit stand die Europäische Union parallel vor der Herkulesaufgabe ihrer bisher größten Erweiterung. Nach dem 59 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 457–469; Schröter, Wiedervereinigung, hier S. 397–398. 60 »Indien: Die chemische Apokalypse«, in: Der Spiegel Nr. 50/1984, 10.12.1984, S. 108–120. 61 »Wir sollten aufwachen und überlegen«, in: Der Spiegel 47/1986, 17.11.1986, S. 138–151. 62 Arndt, Tschernobyl. 63 Arndt, Umweltgeschichte; Radkau, Ära der Ökologie. 64 Clemens / Reinfeldt / Wille, Integration, S.  221–248; Höpner / Schäfer, Grundzüge; Patel, Projekt Europa, S. 135–144; Wirsching, Preis, S. 155–164.

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Übergang zu demokratischen Staatsformen in Ostmitteleuropa sowie dem Beitritt von Schweden, Finnland und Österreich 1995 stand alsbald die Osterweiterung der EU auf der Agenda. Der Fall des »Eisernen Vorhangs« hatte die osteuropäischen Märkte für multinationale Konzerne Westeuropas geöffnet und damit neue Expansionsmöglichkeiten geschaffen, doch hielten sich westliche Industrieunternehmen angesichts nachlassender Konjunkturdaten in Westeuropa und Nordamerika mit Großinvestitionen zunächst zurück. Erst als sich Mitte der 1990er Jahre die ökonomischen Aussichten in den Transformationsstaaten aufhellten, betrachteten immer mehr westliche Unternehmen die ostmitteleuropäischen Märkte als günstige Investitionsgelegenheit. »Nach dem schleppenden Beginn klopften multinationale Unternehmen nicht nur aus Westeuropa, mit Deutschland an der Spitze, sondern aus aller Welt […] mit ihren Investitionsplänen an.«65 Gleichwohl nährten der ökonomische Rückstand zahlreicher ostmitteleuropäischer Staaten und innereuropäische wirtschaftliche Ungleichgewichte die Skepsis gegenüber einer raschen Erweiterung. Umgekehrt wussten die demokratischen Kräfte Westeuropas aufgrund der stabilisierenden Wirkung um die politische Bedeutung eines Beitritts. Die Osterweiterung der EU kam gewissermaßen einer historischen Notwendigkeit gleich, die kaum jemand bestreiten wollte und 2004 für zahlreiche ostmitteleuropäische Staaten Realität wurde. Ökonomisch holten viele von ihnen durch die »neoliberale« Schocktherapie der frühen 1990er Jahre und die zunehmende Investitionstätigkeit bis in die 2000er Jahre gegenüber dem Westen auf. Als sie der EU beitraten, betrug ihr Rückstand nicht mehr als im Fall der Süderweiterung. Allerdings folgte der Weg nach Europa nun weitaus stärker »neoliberal« definierten Gesetzmäßigkeiten einer globalisierten Wirtschaft.66 Der Bedeutungsgewinn globaler ökonomischer Verflechtungen sowie die Verschiebung der weltwirtschaftlichen Gewichte und der internationalen Arbeitsteilung drückten sich im Grunde nirgends deutlicher als im ökonomischen Aufstieg Chinas aus. Mit dem Wegfall des Ost-West-Konflikts konnte sich China ganz auf seine wirtschaftliche Entwicklung konzentrieren und avancierte innerhalb weniger Jahre von einem vielversprechenden Schwellenland zur Werkbank der Welt. Hohe ökonomische Wachstumsraten und ein riesiger Binnenmarkt kennzeichneten die chinesische Entwicklung in den 1990er Jahren – insbesondere in der Asienkrise 1997/98 erwies sich China als Stabilitätsanker. Entsprechend groß war die Anziehungskraft für westliche multinationale Unternehmen, die jedoch mit restriktiven Investitionsmöglichkeiten konfrontiert waren, große kulturelle Distanzen überwinden mussten, und auch Menschenrechtsverletzungen nur bis zu einem gewissen Grad ausblenden konnten. Damit hatten

65 Wirsching, Preis, S. 246. 66 Burckhard, Produktionsverlagerungen; Clemens, Integration; Clemens / Reinfeldt / Wille, Integration, S. 232–234; Kershaw, Achterbahn, S. 574–589; Ther, Ordnung, besonders S. 156–173; Wirsching, Preis, S. 164–175, 241–247.

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sich die polit-ökonomischen Herausforderungen und Gelegenheitsstrukturen für multinationale Unternehmen gegenüber den frühen 1970er Jahren massiv gewandelt.67

2.1.2 Industrie- und produktspezifische Dimensionen Die westeuropäischen Chemieunternehmen taumelten Ende der 1960er Jahre in eine über eine Dekade andauernde Strukturkrise, die erst in der ersten Hälfte der 1980er überwunden werden konnte. Der Wirtschaftsaufschwung in den USA und der starke Anstieg des Dollar-Kurses Mitte der 1980er Jahre bescherten vor allem den exportorientierten Konzernen aus Westdeutschland neue Rekordgewinne, während sie im Inland ihre Rolle als Wachstumsmotor einbüßten.68 Im Ausland hingegen erlangten sie erneut übermäßigen Erfolg. »›Nie‹, frohlockt Volker Kalisch, Sprecher des Verbands der Chemischen Industrie, ›sind im Ausland so viel deutsche Chemieerzeugnisse gekauft worden wie heute. Nicht nur in den USA selbst nämlich haben die Chemiker vom Rhein Freude am Reagan Boom. Auf allen bedeutenden Märkten der Welt kommen sie dank der US Konjunktur plötzlich groß ins Geschäft.‹«69 Jene prosperierenden Wirtschaftsaussichten schienen aus der Perspektive der 1970er Jahre kaum vorstellbar.70 Aufgrund der Produktheterogenität chemischer Erzeugnisse können hier nur die wesentlichen Entwicklungslinien in fünf ausgewählten Chemiebereichen skizziert werden, in denen alle hier untersuchten Unternehmen tätig waren. Grundsätzlich lässt sich der Markt für chemische Erzeugnisse in Vor-, Zwischen- und Endprodukte aufteilen, wobei unter den beiden Ersteren Industriechemikalien zu verstehen sind, die vornehmlich zwischen Marktpartnern der Chemieindustrie gehandelt werden. Die Nachfrage nach anorganischen oder organischen Chemikalien, deren Entwicklung im Folgenden nicht explizit ausgeführt wird, orientierte sich an den Veränderungen der nachgelagerten chemischen Sparten. In der Bundesrepublik wuchs in den 1970er Jahren vor allem die Inlandsnachfrage nach Ammoniak (für Düngemittel und technische Anwendungen) und Phosphorverbindungen (zur Waschmittelproduktion) überdurchschnittlich, wohingegen sich die Nachfrage nach Schwefel schwach entwickelte. Unter den organischen Industriechemikalien stach der Bedarf an Ethylen und Propylen zur Herstellung von Kunststoffen und Chemiefasern mengenmäßig heraus, allerdings flachte die westeuropäische Produktion in diesen beiden Verwendungsbereichen in den 1970er Jahren deutlich ab. Im Bereich der End67 Brink, Kapitalismus; Mühlhahn, China, S. 113–162; Naughton, Chinese Economy; Wirsching, Preis, S. 238–239, 376–377. 68 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 432–433. 69 »Ein unehelicher Boom«, in: Die Zeit, 12.10.1984. 70 Vgl. grundlegend zur Entwicklung der Chemieindustrie: Amecke, Chemiewirtschaft; Löbbe, Chemieindustrie; Streck, Industrie.

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produkte hatten Agrochemikalien, Pharmazeutika, Kunststoffe, Chemiefasern und Hilfsstoffe sowie Farben und Lacke während des Untersuchungszeitraums die größte Marktbedeutung.71 Chemiefasern Innerhalb der europäischen Chemieindustrie nahmen Chemiefasern während des Booms, aber auch noch in den 1970er Jahren eine zentrale Rolle ein. In der Bundesrepublik betrug ihr Anteil an der Gesamtproduktion chemischer Erzeugnisse 1970 immerhin noch 8,5 Prozent, allerdings reduzierte sich dieser Wert bis 1982 um mehr als die Hälfte auf 3,9 Prozent. Der Chemiefaserbereich erfuhr somit einen tiefgreifenden Wandel, weshalb den mit ihm verbundenen Umstrukturierungen auf Unternehmensebene besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Je nach Rohstoffgrundlage und Verarbeitungsform lassen sich unterschiedliche Chemiefasern unterscheiden. Nach der Entwicklung von Chemie­fasern auf Zellulosebasis im 19. Jahrhundert (v. a. Viskose-, Azetat- und Cupro-Fasern) entstanden in den 1930er Jahren verschiedene Typen synthetischer Fasern (v. a. Polyamid-, Polyester- und Polyacrylnitril-Fasern). Hierbei kann nochmals zwischen Filamentgarn aus einem einzigen Faden und Spinn- bzw. Stapelfasern aus einer Vielzahl dünnster Fäden differenziert werden.72 Nach dem Siegeszug der Chemiefaser im europäischen Nachkriegsboom geriet jene Produktgruppe ab Ende der 1960er Jahre in eine langanhaltende Krise, die auf den Einbruch in der europäischen Textil- und Bekleidungsindustrie zurückzuführen war.73 Während die Textilindustrie in Frankreich und der Bundesrepublik in den 1950er Jahren noch zu den bedeutendsten industriellen Arbeitgebern mit jeweils etwa 600.000 Beschäftigten zählte, waren im Jahr 1976 nur noch 340.000 in der westdeutschen, 320.000 in der französischen und 480.000 Personen in der britischen Textilindustrie beschäftigt.74 In der Bundesrepublik wurden fast 80 Prozent der Chemiefasern für die Herstellung von Kleidungsstücken sowie von Heim- und Haushaltstextilien genutzt. Besonders der steigende Import von Textilien, dessen Anteil am westdeutschen Inlandsverbrauch von einem Viertel 1970 auf die Hälfte 1980 anstieg, brachte die westdeutsche Textilindustrie in Bedrängnis. Daran änderte auch das 1974 abgeschlossene Multifaserabkommen (Multi Fibre Agreement, MFA) wenig, das 71 Streck, Industrie, S. 41–42, 172–183, 244–251, 348–362. 72 Ebd., S. 201. 73 »Flaute für Fasern und Fäden«, in: Die Zeit, 25.10.1974. Ein englischer Journalist fasste den Chemiefaserboom der Nachkriegsjahre wie folgt zusammen: »To make chemical fibres in the fifties was next to the governments licence to print money.« Vgl. RWWA 195-Y8-22 »Hoher Preis der Parität«, in: Manager (12/1975). 74 Industrievereinigung Chemiefaser e. V., Chemiefaserindustrie 77, S. 11; Lindner, Faden, besonders S. 9, 79; Statistisches Bundesamt (Hg.): Statistisches Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland 1957, Wiesbaden, 1957, S. 207.

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das Baumwolltextilabkommen von 1962 ersetzte und eine protektionistische Beschränkung des internationalen Handels mit Textilien zulasten der Entwicklungsländer darstellte, um die kaum mehr wettbewerbsfähige Textilindustrie westlicher Industrieländer zu schützen.75 Dabei konnte der Chemiefaseranteil am gesamten Faserverbrauch schwerlich erhöht werden, da die Substitution von Naturfasern weitgehend abgeschlossen – im Zuge des Aufkommens ökologischer Bewegungen sogar teilweise rückläufig – war. Im Ergebnis führte dies zu erheblichen Erlösproblemen. Die Verluste der westeuropäischen Chemiefaserhersteller waren beträchtlich und werden für den Zeitraum 1975 bis 1981 auf etwa zehn Milliarden DM beziffert. Der Druck auf die Unternehmensleitungen, ihre Unternehmen umzustrukturieren, stieg damit erheblich.76 In Westeuropa gerieten in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre besonders die italienischen Hersteller in die Kritik, da hier staatlich subventionierte Neuanlagen errichtet wurden, wohingegen andere westeuropäische Produzenten bereits mit dem Abbau von Kapazitäten begonnen hatten.77 Im Fall der Bundesrepublik bot der Export von Chemiefasern zweifellos ein Ventil, um den begrenzten Absatzmöglichkeiten im Inland zu begegnen. Folglich stiegen die westdeutschen Ausfuhren in den 1970er Jahren kräftig an und erreichten 1982 fünf Sechstel der inländischen Produktion, doch damit konnte der inländische Nachfragerückgang nicht vollständig kompensiert werden. Zugleich stieg die Importquote merklich. Jene beiden Entwicklungen waren Ausdruck eines sich verschärfenden internationalen Wettbewerbs. Besonders zwischen der Bundesrepublik, Frankreich, Italien und den Niederlanden fand ein reger Chemiefaserhandel statt, wohingegen die Lieferungen in die und aus den USA in Abhängigkeit von den Wechselkursrelationen schwankten. Spätestens seit den 1960er Jahren hatten sich die US -Chemiefaserhersteller zu gewichtigen Konkurrenten der westeuropäischen Erzeuger auf dem Weltmarkt entwickelt.78 In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre sahen sich die westeuropäischen Hersteller insbesondere bei Polyester-Filamentgarnen und Polyacryl-Spinnfasern enormen US -Importen ausgesetzt und warfen den US -Herstellern Dumping-Methoden vor. So stieg der Anteil der US -Polyester-Filamentgarn-Importe zwischen 1978 und 1979 auf dem italienischen Markt von 1,7 auf 34 Prozent und auf dem britischen Markt von 6,3 auf 24 Prozent.79 Gleichzeitig entstanden mit der Verlagerung der Textilproduktion nach Ostasien erhebliche Kapazitäten zur Erzeugung von Textilfasern vor Ort, so dass 75 Gesamtverband der Textilindustrie in der Bundesrepublik Deutschland, WTA; Hamilton, Textiles trade; Industrievereinigung Chemiefaser e. V., Chemiefaserindustrie 77, S. 15; Industrievereinigung Chemiefaser e. V., Chemiefaserindustrie 1978, S. 10; Industrievereinigung Chemiefaser e. V., Chemiefaserindustrie 1979, S. 14. 76 Bäumler, Farben, S. 386–387; Streck, Industrie, S. 202–203, 378–381. 77 Industrievereinigung Chemiefaser e. V., Chemiefaserindustrie 77, S. 7. 78 Streck, Industrie, S. 203–204. 79 Industrievereinigung Chemiefaser e. V., Chemiefaserindustrie 1979, S. 10; Industrievereinigung Chemiefaser e. V., Chemiefaserindustrie 1980, S. 10.

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ein Export der westeuropäischen Hersteller dorthin weitgehend ausgeschlossen war. Bei der Herstellung textiler Chemiefasern handelte es sich um eine weitgehend ausgereifte Technologie, deren Verbreitung kaum aufzuhalten war. Die in Taiwan und Südkorea in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre errichteten Kapazitäten entsprachen nahezu denjenigen der gesamten Bundesrepublik; außerdem wurden beachtliche Produktionskapazitäten in Indonesien, Indien, Thailand und Südamerika aufgebaut und nur bei einem Bruchteil davon handelte es sich um ausländische Produktionsstätten westeuropäischer Chemiekonzerne. Der Anteil der Länder außerhalb der Triade (Westeuropa, USA, Japan) an der Weltproduktion von Chemiefasern stieg daher zwischen 1970 und 1980 von 7,5 auf 24 Prozent.80 Nachdem die westeuropäischen Hersteller in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre enorme Verluste eingefahren und ihre Kapazitäten reduziert hatten, stabilisierte sich ihre Lage ab 1979/80, doch setzte nun in der weltweiten Produktion von Chemiefasern eine Stagnationsphase – nicht zuletzt als Folge der zweiten Ölpreiskrise – ein.81 Diese Grundtendenzen hatten auch in den 1980er und 1990er Jahren Bestand  – auch weil die Textilherstellung nicht wieder nach Westeuropa zurückkehrte. Obschon sich die Marktlage nach Abschluss eines europäischen Strukturkrisenkartells etwas entspannte, lassen sich daher zwei wesentliche Verschiebungen ausmachen, welche die westeuropäischen Produzenten vor gewaltige Herausforderungen stellten.82 Erstens ging die Nachfrage nach zellulosischen Chemiefasern sukzessive zurück, wohingegen die gesamte Weltproduktion an Chemiefasern – insbesondere die Nachfrage nach synthetischen Fasern  – anstieg. Infolgedessen mussten alte Produktionslinien geschlossen und neue, innovative Chemiefaserprodukte entwickelt werden. Auf dem Gebiet technischer Fasern ergaben sich für viele westeuropäische Hersteller hierbei durchaus profitable Chancen, aber ebenso Risiken. Zweitens stieg der Weltanteil asiatischer Chemiefaserhersteller weiter an. Allein die drei größten Erzeugerländer in Asien (Taiwan, Südkorea und China) produzierten 1992 25 Prozent der weltweiten Chemiefaserproduktion. Der Weltmarktanteil der USA, Japans und Westeuropas war zusammengenommen inzwischen auf unter 50 Prozent gefallen. Mit der Liberalisierung des Welttextilhandels verschärften sich die Probleme für die westeuropäischen Chemiefaserhersteller. Während das Multifaserabkommen (MFA) Importquoten zum Schutz der Textil- und Bekleidungsindustrie in den westlichen Industrieländern festgesetzt hatte, fiel jener Schutzwall im Rahmen der Uruguay-Runde (1986– 1994) und wurde 1995 durch ein zehnjähriges Übergangsabkommen (Welttextilabkommen) ersetzt. Anschließend unterlag die Branche ab 2005 den üblichen Regeln der Welthandelsorganisation, wodurch die Textilimporte aus Asien nach Westeuropa noch weiter anstiegen. Damit stand die Chemiefaserproduktion wie 80 Schnaus, Sterben; Streck, Industrie, S. 204–206, 379. 81 Industrievereinigung Chemiefaser e. V., Chemiefaser-Industrie 1982, S. 5. 82 Marx, Cartel; Schröter, Kriseninstrumente.

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kaum ein anderer Zweig der Chemieindustrie in der Zeit nach dem Boom unter einem enormen Wettbewerbs- und Anpassungsdruck.83 Kunststoffe Die technische Abgrenzung zwischen synthetischen Chemiefasern und Kunststoffen ist aufgrund der gleichen Rohstoffbasis in vielen Fällen fließend. Auch Kunststoffe erlebten im europäischen Nachkriegsboom eine fulminante Verbreitung. Zwischen 1950 und 1970 stieg die jährliche Weltproduktion an Kunststoffen von 1,5 Mio. Tonnen auf 29 Mio. Tonnen. Dabei betrug der westdeutsche Anteil an der Weltproduktion 1970 etwa 15 Prozent, wohingegen derjenige Großbritanniens, Frankreichs oder Italiens bei jeweils nur etwa fünf bis sechs Prozent lag; übertroffen wurde die westdeutsche Produktion nur von Japan (17,7 %) und den USA (30,7 %).84 Petrochemische Produkte bildeten in den 1970er Jahren den Ausgangsstoff für die Erzeugung von Kunststoffen, die mit einem Anteil von 15 Prozent an der gesamten westdeutschen Chemieproduktion 1982 den bedeutendsten Bereich unter den chemischen Spezialstoffen einnahmen. Die westdeutschen Kunststofferzeuger überschätzten vor dem Hintergrund der Boomerfahrung die zukünftige Nachfrage, so dass sich die Auslastung der Produktionskapazitäten mit dem Einbruch 1974 zu einem drängenden Problem entwickelte. Auch wenn die westdeutsche Kunststoffproduktion 1978 wieder das Niveau des Spitzenjahres 1973 erreichte, blieben die Zahlen merklich hinter den Wachstumserwartungen zurück. Gleichzeitig verschärfte sich der Wettbewerb, da viele Ölkonzerne in die Kunststoffproduktion vorwärts integrierten. Dies führte einerseits zu einem Verdrängungswettbewerb über den Preis; andererseits bemühten sich zahlreiche Regierungen oder Staatsunternehmen in Westeuropa darum, Arbeitsplätze in diesem Segment mit staatlicher Hilfe zu erhalten.85 Derartige Subventions- und Hilfspakete waren sozialpolitisch zweifelsohne notwendig, um den industriellen Strukturwandel abzufedern, aufhalten konnten sie ihn nicht. Im Jahr 1981 waren die Kapazitäten bei Standardkunststoffen in Westeuropa nur noch etwa zu 60 Prozent ausgelastet. Praktisch alle Standardkunststoffe – Polyethylen (PE), Polyvinylchlorid (PVC) oder Polystyrol (PS) – waren hiervon betroffen, lediglich die Nachfrage nach Polypropylen (PP) blieb relativ stabil. Hierauf mussten die Kunststoffproduzenten reagieren: Mit dem Abbau von Kapazitäten, der Senkung der Preise, einer Verlagerung an kosten83 Industrievereinigung Chemiefaser e. V., Chemiefaser-Industrie 1992, besonders S. 5; Löbbe, Chemiefaserindustrie. 84 Peffgen, Industrie, S. 17–19. 85 Streck, Industrie, S. 192–195; Verband der Chemischen Industrie, Chemiewirtschaft in Zahlen 1981, S. 54. Streck zufolge entfiel 1981 ein Drittel der Produktionskapazitäten für Standardkunststoffe in Westeuropa auf staatliche Unternehmen. Vgl. Streck, Industrie, S. 196 Fußnote 40.

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günstigere Standorte oder einer Expansion auf ausländische Märkte. Auch die Absatzprobleme anderer Industriezweige – wie der Kunststoff verarbeitenden Automobilindustrie – wirkten sich negativ auf die Kunststofferzeuger aus. Ab Mitte der 1970er Jahre verlangsamte sich daher in der Bundesrepublik die Nachfrage nach Kunststoffen. Dabei produzierten die westdeutschen Hersteller nicht nur für den Heimatmarkt, vielmehr war die Bundesrepublik der größte Hersteller von Kunststoffen in Westeuropa und exportierte in den 1970er Jahren etwa die Hälfte der Produktion – vor allem in die übrigen Mitgliedsländer der EWG. Doch die Bundesrepublik war zeitweise auch der größte Kunststoffimporteur der Welt und deckte etwa ein Drittel des heimischen Bedarfs im Ausland. Während sich der Handel innerhalb der EWG äußerst lebhaft entwickelte, war der westeuropäische Markt nach außen relativ abgeschottet. Für nicht-europäische Unternehmen gab es daher durchaus Anreize innerhalb der EWG zu produzieren; hierdurch nahm der internationale Wettbewerb weiter zu.86 Schließlich wirkte sich das Aufkommen der Ökologiebewegung in besonderer Weise auf die Kunststoffproduktion aus. Umweltschützer kritisierten nicht nur Einwegverpackungen und die damit hervorgerufenen Probleme der Müllbeseitigung, vielmehr wurden zunehmend die gesundheitsgefährdenden Anteile in vielen Kunststoffen beanstandet. Natürlich konnten die Erzeuger kurzfristig versuchen, Gesundheitsrisiken abzustreiten; langfristig halfen aber nur Maßnahmen, welche sowohl den industriellen Strukturwandel als auch die gesellschaftlich an Wirkungsmacht gewinnenden Ökologieaspekte akzeptierten.87 Ähnlich wie bei den mit ihnen verwandten Chemiefasern lagen die größten unternehmerischen Chancen bei Kunststoffen in der Entwicklung neuer, höherwertiger Sorten, die schwerer nachzuahmen waren und eine größere Gewinnspanne hatten. Temperatur- und formbeständige Kunststoffe sowie Kunststoffe mit technischen Eigenschaften boten aus der Sicht westeuropäischer Konzernleitungen das größte Potenzial. Mengenmäßig stieg die Produktionsmenge an Kunststoffen in Europa wie auch weltweit in den 1980er und 1990er Jahren weiter an  – im Vergleich zu den 1950 weltweit hergestellten 1,5  Mio. Tonnen betrug die globale Kunststoffherstellung 2018 über 350 Mio. Tonnen. Der Kunststoffzweig erlebte somit global betrachtet keineswegs einen Niedergang, doch unterlagen die Produktausrichtung und die Produktionsverfahren zweifellos einem tiefgreifenden Wandel.88

86 Streck, Industrie, S. 192–196, 371–374. 87 Ebd., S. 196–197. 88 Teltschik, Großchemie, S. 295–302; Wissenschaftliche Dienste. Deutscher Bundestag, Dokumentation. Die europäische Produktionsmenge an Kunststoff stieg von 19,8 (1976) über 27,4 (1989) auf 56,1 (2002) Mio. Tonnen; weltweit von 50 (1976) über 100 (1989) auf 200 (2002) Mio. Tonnen (ohne PET-, PA-, PP- und Polyacryl-Fasern). Von den 360 Mio. Tonnen (2018) entfielen ca. 17 % auf Europa (EU-28 inkl. Norwegen und Schweiz), 18 % auf die NAFTA-Staaten und 51 % auf Asien (davon 30 % auf China). Vgl. PlasticsEurope. Association of Plastics Manufacturers, Facts 2019, S. 14–15.

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Pharmaerzeugnisse Im Unterschied zu Chemiefasern und Kunststoffen gehört die Herstellung von Pharmazeutika  – neben der Farbstofferzeugung  – zu den ältesten Produktionszweigen der europäischen Chemieindustrie. In der Bundesrepublik umfasste der Pharmabereich 1980 14,6 Prozent des gesamten Produktionswerts der chemischen Industrie. Der Vergleich mit den Jahren 1960 (9,7 %) und 1970 (12,8 %) verweist dabei auf die steigende Bedeutung jenes Bereichs; die Pharmaproduktion wuchs somit wertmäßig schneller als die übrige Chemieproduktion. Obschon es Anfang der 1980er Jahre etwa 1.000 Arzneimittelhersteller mit mehr als 145.000 Präparaten in der Bundesrepublik gab, zeigte sich sowohl bei den Herstellern als auch bei den Produkten eine starke Konzentration: So entfielen etwa zwei Drittel des westdeutschen Apothekenumsatzes auf lediglich 500 Präparate; zugleich vereinigten die zehn führenden Konzerne etwa 40 Prozent der Gesamtproduktion auf sich, nicht zuletzt aufgrund der hohen und steigenden Entwicklungskosten in der Pharmaforschung.89 Zugleich gab es hinsichtlich der Marktbeschaffenheit klare Differenzen zu anderen Chemieprodukten, denn der Absatz von Pharmaprodukten folgte weniger der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung, vielmehr wurden hier länderspezifische Zulassungssysteme, die jeweiligen Organisationsformen der Sozial- und Krankenversicherung sowie deren finanzielle Leistungsfähigkeit wirksam. Bevölkerungsgröße und -struktur sowie staatliche Vorschriften (bspw. beim Impfschutz) waren daher ebenso maßgebend für die Nachfrageentwicklung wie das ökonomische Wachstum. In der Bundesrepublik zeigte die Inlandsnachfrage nach Pharmazeutika in den 1970er Jahren stetig aufwärts, lediglich 1976 und 1979 verlangsamte sich das Wachstum – preisbereinigt ging sie seit Mitte der 1970er Jahre sogar erstmals zurück. Dass der Pharmamarkt in einem Wechselverhältnis zu gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen stand, zeigte sich schon in den 1960er Jahren, als der Contergan-Skandal das Vertrauen in die Selbstkontrolle der Pharmaindustrie untergrub.90 89 Streck, Industrie, S. 219–221, 223. Vgl. zur Entwicklung der Pharmabranche ferner: Bathelt, Chemiestandort, S. 249–297. Der Wert der in der Bundesrepublik erzeugten Pharmazeutika stieg von 7 Mrd. DM (1971) auf 15 Mrd. DM (1980). Vgl. Verband der Chemischen Industrie, Chemiewirtschaft in Zahlen 1981, S. 62. Vgl. zur Entwicklung der (west-)deutschen Pharmabranche und seiner rechtlichen Regulierung: Bartmann, Pharmabereiche; Burhop u. a., Merck; Hommel, Outsourcing, S. 69–93; Lenhard-Schramm, Contergan, S. 80–134. Im Gegensatz zur zweiten, für die westeuropäische Chemieindustrie konstitutiven Innovationsphase (1880–1930), in der deutsche Unternehmen im Bereich der Innovationen dominierten, besaßen in der vierten Phase (1960–1980) amerikanische, britische und schweizerische Firmen das größte Innovationspotenzial. Vgl. Achilladelis / A ntonakis, Dynamics, besonders S. 545. 90 Crumbach, Sprechen; Lenhard-Schramm, Contergan.

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Die wachsende gesellschaftliche Sensibilität für Umwelt- und Gesundheits­ risiken mündete im Zusammenspiel mit der Diskussion um eine Kostendämpfung im Gesundheitswesen in eine verstärkte staatliche Arzneimittelregulation, die die Handlungsfreiheiten der Pharmaindustrie gegenüber den Boomjahren deutlich einschränkte.91 Ähnliche Ansätze zur Reduzierung der Gesundheitskosten lassen sich zu dieser Zeit auch in anderen Ländern mit großen Pharmamärkten – wie beispielsweise in Frankreich – finden. Angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den 1970er Jahren nahm die Staatsverschuldung in Westeuropa zu, so dass die Sozialversicherungsträger in Anbetracht knapper Kassen Maßnahmen zulasten der Versicherungszahler ergriffen. Diese Änderungen gingen zugleich mit Vorschriften zur neuen Preisgestaltung von Pharmaprodukten einher.92 Auch der Außenhandel mit pharmazeutischen Erzeugnissen wich von der Außenhandelsstruktur anderer Chemieprodukte ab, da staatlich festgesetzte Preise, günstige Imitationen und Generika den Absatz im Ausland erschwerten. Insbesondere die Währungsschwankungen der 1970er Jahre stellten den Industriezweig vor neue Herausforderungen, da beispielsweise die DM-Aufwertungen aufgrund festgesetzter Apothekenverkaufspreise im Ausland nicht auf das lokale Preisniveau aufgeschlagen werden konnten. So hatte Belgien im Februar 1972 die Preise für pharmazeutische Spezialitäten eingefroren, und die griechischen Behörden hatten seit Ende 1971 keine Anträge auf Erhöhung der pharmazeutischen Spezialitätenpreise mehr genehmigt. Ähnlich gestaltete sich die Lage in Frankreich und Italien. Der französische Zolltarif und italienische Höchstpreise für vergleichbare inländische Produkte erschwerten den Import von Arzneimittelspezialitäten aus der Bundesrepublik; im Fall Italiens eröffnete die EG -Kommission schließlich sogar ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Verstoß gegen Art. 30 des EWG -Vertrages.93 In diesem Zusammenhang gehörte auch das Patentrecht innerhalb Europas zu den umstrittenen Themen. Obschon es durch das Münchener Patentabkommen vom 15. Oktober 1973 und das Luxemburger Abkommen vom 15. Dezember 1975 über das Europäische Patent für den Gemeinsamen Markt, welches seit Oktober 1977 in Kraft war, zu einer gewissen Harmonisierung gekommen war, zeigten sich bei der Anwendung und Auslegung nationaler Patentgesetze oftmals Differenzen – insbesondere im Fall Italiens und beim Beitrittskandidaten Spa-

91 Im Jahr 1978 wurde in der Bundesrepublik das Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetz und 1981 das Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz (KVEG) erlassen. 92 Boom, Nationale Regulierung; Chauveau, Invention, S. 652–654; Streck, Industrie, S. ­221–222, 402. 93 Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. V., Jahresbericht 1973/74, S. 40–43; Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. V., Jahresbericht 1981/82, S. 58–65. Vgl. für die unterschiedlichen europäischen Maßnahmen zur Kostendämpfung in den 1990er Jahren: Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. V., Jahresbericht 1992/93, S. 90–96.

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nien.94 Gleichwohl gelang es der westdeutschen Pharmaindustrie ihren Export in den 1970er Jahren kräftig zu steigern, auch wenn der nicht-preisbedingte Inlandsabsatz schneller wuchs und die Exportquote folglich rückläufig war. Da die Einfuhren parallel um mehr als das Dreifache stiegen, reduzierte sich der Ausfuhrüberschuss. Im internationalen Vergleich nahm die Bundesrepublik jedoch auch Anfang der 1980er Jahre noch eine Spitzenstellung unter den Arzneimittel exportierenden Ländern ein.95 Regional dominierten bei den bundesdeutschen Einfuhren die westlichen Industriestaaten mit über 90 Prozent96, während Italien, Japan und Österreich Hauptabnehmerländer westdeutscher Produkte waren. Die sogenannten Entwicklungsländer in Afrika, Asien und Lateinamerika nahmen mit einem Viertel des westdeutschen Exports eine beachtliche Rolle ein. Gleichwohl stützte sich das Auslandsgeschäft vornehmlich auf die westlichen Industriestaaten, deren Gesellschaften sich durch ein hohes Einkommensniveau und eine lange Lebenserwartung auszeichneten. Der steigende Anteil der höheren Altersgruppen kompensierte hier die Auswirkungen einer rückläufigen Bevölkerungszahl. Zwar zeichneten sich Ende der 1970er Jahre am Horizont die durch die Biound Gentechnologie in Zukunft zur Verfügung stehenden Möglichkeiten in der Pharmaforschung ab, aber zu diesem Zeitpunkt stand die westeuropäische Pharmaindustrie zuvorderst vor der Herausforderung, dem wachsenden Kostenbewusstsein im Gesundheitssektor zu begegnen. Zudem war die Zulassung gentechnischer Forschungen in Politik und Öffentlichkeit umstritten und erforderte zunächst eine Form der Verrechtlichung, bei der westeuropäische Forschungsstandorte gegenüber den USA ins Hintertreffen zu rutschen drohten.97 Der zeitgleich fortlaufende europäische Integrationsprozess zeigte sich nicht nur im Patentrecht, auch die Produktion und der Handel von Arzneimitteln waren hiervon betroffen und wurden erstmals 1965 im Rahmen einer europäischen Richtlinie (65/65/EWG) vereinheitlicht. Während jene Liberalisierung für wettbewerbsstarke Unternehmen Chancen eröffnete, führte die verschärfte Konkurrenz bei vielen französischen Laboratorien zu massiven Finanzproblemen. Zahlreiche kleinere Laboratorien verfügten nur über eine geringe finanzielle Ausstattung und waren daher gezwungen, ausländische Lizenzen zu erwerben, oder gerieten unter ausländische Kontrolle; umgekehrt konnten ausländische Pharmakonzerne auf diese Weise auf den französischen Markt vordringen. 94 Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. V., Jahresbericht 1981/82, S. 55–57. 95 Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. V., Jahresbericht 1981/82, S. 58; Streck, Industrie, S. 222–223. 96 Mehr als 50 % der bundesdeutschen Einfuhren entfielen auf die EG -Länder, wobei die Schweiz, Großbritannien und Frankreich an der Spitze standen. 97 Drews, Zukunft, besonders S. 105–142; Streck, Industrie, S. 223–225, 403–405; Teltschik, Großchemie, S. 319–324. Noch in den 1990er Jahren diskutierten Vertreter der EG / EU, der USA und Japans über eine Harmonisierung ihrer Zulassungsverfahren, die bis dahin immer noch keine politische Realität war. Vgl. Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. V., Jahresbericht 1992/93, S. 72.

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Dies hatte zur Folge, dass 1974 immerhin 44 Prozent der Arzneimittelverkäufe in Frankreich in der Hand ausländischer Gesellschaften waren, während jener Anteil in der Bundesrepublik nur bei 35 Prozent lag; allerdings erreichte dieser Wert in Großbritannien 65 und in Belgien sogar 80 Prozent. Zugleich stieg der Export der französischen Pharmaindustrie – ähnlich zur Bundesrepublik – in dieser Zeit von 14 (1960) über 17 (1974) auf 20 Prozent (1980) an.98 Der Bedeutungsgewinn des Außenhandels und die damit einhergehende wachsende Konkurrenz waren somit länder- und unternehmensübergreifende Phänomene der westeuropäischen Pharmaindustrie. Neben dem wachsenden Kostendruck im Gesundheitswesen, der in der Bundesrepublik schließlich seinen Niederschlag im Gesundheitsstrukturgesetz 1992 fand, kristallisierten sich seit den 1980er Jahren für die europäischen Pharma- und Chemiekonzerne drei miteinander verwobene Probleme heraus.99 Erstens stiegen die Forschungs- und Entwicklungskosten wie auch die Dauer, bis ein Medikament auf den Markt gebracht werden konnte, immer weiter an, so dass sich die Zeitspanne des Patentschutzes und damit der lukrative Nutzungszeitraum verkürzten. Hieraus entwickelte sich – zweitens – die Strategie auf sogenannte Blockbuster umzuschwenken, d. h. sich auf Wirkstoffe mit einem hohen Marktpotenzial zu konzentrieren. Dieser Bedeutungsgewinn der späteren Verwertungsmöglichkeiten war einerseits verständlich, barg aber andererseits das Risiko in sich, finanziell vom Erfolg eines einzigen Medikaments abhängig zu werden. Schlug diese Konzentration auf einen Wirkstoff fehl, stand gegebenenfalls die gesamte Pharmasparte zur Disposition. Drittens entwickelte sich – neben der zunehmenden Bedeutung rezeptfreier Medikamente zur Selbstmedikation (Over-the-counter, OTC)100  – ein Markt für Generika. Nachahmerpräparate waren Arzneimittel, deren Wirkstoffe mit einem bereits früher zugelassenen Medikament übereinstimmten und daher in der Regel einem vereinfachten, schnelleren Zulassungsverfahren unterlagen. Jene Verwertung vorhandenen Wissens widersprach dem Credo zahlreicher forschungsstarker Pharmaunternehmen, die hierin eine unzulässige Nutzung ihres Forschungswissens oder zumindest keine anzustrebende Unternehmensstrategie erblickten. Nicht zuletzt fürchtete man hierdurch in eine Forschungssackgasse zu geraten. Umgekehrt entwickelte sich das Geschäft mit Generika seit den 1980er Jahren jedoch immer dynamischer, weshalb bald auch europäische Unternehmens­ leitungen die Aufnahme derartiger Produktlinien erwogen. Während der Außenhandel mit Arzneimitteln in geografischer Perspektive einigermaßen stabil blieb – Anfang der 1990er Jahre gehörten Japan, die 98 Chauveau, Défi. 99 Vgl. Löbbe, Chemieindustrie, S. 111–127. Vgl. zur Struktur der Weltpharmamarkts in den 1980er Jahren vor allem die Studie von James Taggart, der hierbei die Bedeutung multinationaler Unternehmen und technologischer Entwicklungen betont: Taggart, Pharmaceutical industry. 100 Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. V., Jahresbericht 1992/93, S. 81–87; Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. V., Jahresbericht 2000/2001, S. 18.

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Schweiz, Italien, Großbritannien, die USA und Frankreich zu den größten Abnehmern von Medikamenten aus bundesdeutscher Produktion –, kam es infolge des Bedeutungsgewinns von Blockbustern und Generika in Verbindung mit dem Aufstieg der Gen- und Biotechnologie sowie dem unternehmensstrategischen Schwenk in Richtung Kernkompetenzen weltweit zu tiefgreifenden Strukturverschiebungen. Während sich die BASF beispielsweise aus dem Pharmageschäft zurückzog, stärkten andere Konzerne den Pharmabereich im Rahmen einer strategischen Konzentration auf die sogenannten Life Sciences.101 Agrochemikalien Die Produkte der Agrarchemie zur Förderung der landwirtschaftlichen Erzeugung lassen sich in die Bereiche Pflanzennährstoffe (Düngemittel) sowie Mittel zur Bekämpfung von Schädlingen, Krankheiten oder Unkraut aufteilen. In der Bundesrepublik war die Düngemittelerzeugung wert- und mengenmäßig in den 1970er Jahren der bedeutendere der beiden Produktionsbereiche, deren Anteil an der Gesamterzeugung chemischer Produkte 1970 bei 4,6 Prozent lag. In vielen westeuropäischen Ländern war der Düngemittelmarkt zu jener Zeit nur noch begrenzt ausdehnungsfähig, gleichwohl ging man davon aus, dass die Intensität der Anwendung in einigen Staaten  – insbesondere in Frankreich und Groß­ britannien – noch ausgeweitet werden könnte. In der Bundesrepublik wuchs die Inlandsnachfrage nach Düngemitteln zwischen 1970 und 1981 in konstanten Preisen nur unbedeutend an.102 Anders sah dies im Außenhandel aus, wo sich die Gewichte stärker verschoben. Die wertmäßige Einfuhr in die Bundesrepublik stieg zwischen 1970 und 1982 nominal fast um das Zehnfache, real immer noch mehr als das Vierfache an. Nach Abzug der Preissteigerungen erreichten die Ausfuhren, von denen zwei Drittel nach Europa exportiert wurden, hingegen nur das Niveau zu Beginn der 1970er Jahre. Vor allem der Aufbau ausländischer Produktionsstrukturen für Stickstoffdünger und die zunehmende Eigenverarbeitung von Rohphosphaten in vielen Ländern machten sich hier bemerkbar. Die osteuropäischen Länder (ohne die DDR) steigerten ihren Anteil am bundesdeutschen Import erfolgreich von drei auf neun Prozent zwischen 1970 und 1980, doch stammten immer noch neun Zehntel aus den westlichen Industrieländern. Dabei war die regionale Herkunft je nach Düngerart unterschiedlich: Während Stickstoffdünger primär aus den übrigen EG -Staaten sowie Österreich, Spanien, Portugal und den RGW-Ländern bezogen wurde, stammte der phosphathaltige Dünger vor allem aus Marokko, Tunesien und den USA . Niedrigere Energie- und Transportkosten führten in Verbindung mit veränderten Wechselkursparitäten im Ergebnis dazu, 101 Bürgi / Strasser, Pharma; Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie e. V., Jahresbericht 1992/93, S. 29; Teltschik, Großchemie, S. 317–319. 102 Streck, Industrie, S. 183–185.

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dass 1981/82 45 Prozent der westdeutschen Inlandsnachfrage auf dem Stickstoffdüngermarkt durch Importe abgedeckt wurden.103 Die westdeutsche Produktion sowohl stickstoff- als auch phosphorhaltiger Düngemittel ging infolgedessen in den 1970er Jahren zurück; veraltete Produktionsanlagen wurden weitgehend stillgelegt. Die westdeutsche Düngemittelerzeugung auf Stickstoffbasis kehrte erst 1980 auf das Niveau von 1971 zurück; bei den phosphorhaltigen Düngemitteln erreichte sie selbst 1980 nur 77 Prozent des Jahres 1971. Schließlich machte sich auch der industrielle Strukturwandel in anderen Branchen bemerkbar. Infolge von Betriebsschließungen in der Eisenund Stahlindustrie nahm das Aufkommen an Thomasschlacke, die zu Phosphatdünger weiterverarbeitet werden konnte, sukzessive ab und damit auch die westdeutsche Produktion phosphathaltiger Düngemittel. Insgesamt war die Lage auf dem bundesdeutschen Markt in den 1970er Jahren von einer Gemengelage aus steigenden Importen, stagnierenden Exporten und einem gleichbleibenden Verbrauch gekennzeichnet, und dieses Muster setzte sich auch in den 1980er Jahren fort.104 Neue ausländische Produktionsstandorte konnten Düngemittel vielfach günstiger herstellen, so dass die Produktionskapazitäten für Stickstoff-Dünger in der Bundesrepublik zwischen 1980 und 1989 etwa halbiert wurden.105 Parallel ging der mengenmäßige Einsatz von Düngemitteln – sowohl von Stickstoff- als auch von Phosphatdünger absolut und pro Hektar – in der Bundesrepublik seit Mitte der 1980er Jahre zurück.106 Der Anteil der Pflanzenschutzmittel an der chemischen Gesamtproduktion der Bundesrepublik nahm in den 1970er Jahren leicht um etwa zwei Prozent zu.107 Der Pflanzenschutzsektor war in den 1960er Jahren aufgrund seiner Gesundheitsrisiken besonders in die öffentliche Kritik geraten. Nicht zuletzt die zwischen 1962 und 1971 während des Vietnamkriegs durchgeführten Einsätze mit verschiedenen Entlaubungsmitteln hatten für große öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt. Daneben kritisierten Umweltschützer die unspezifische Wirkungsweise von Breitbandpräparaten. Da Risiken und Nutzen von Pflanzenschutz- und Insektenbekämpfungsmitteln von Land zu Land unterschiedlich bewertet wurden, variierten die Auflagen der nationalen Behörden – ähnlich zum Pharmamarkt. Die Manager mussten folglich entscheiden, ob sie ein Produkt für alle Märkte entwickeln wollten oder nationalspezifische Lösungen präferierten. Trotz der öffentlichen Kritik an den von Pflanzenschutzmitteln ausgehenden Umweltgefahren nahm die Nachfrage in der Bundesrepublik während der 1970er Jahre real um mehr als das Zweieinhalbfache zu. Das zentrale Standbein 103 Ebd., S. 184–187, 363–366; Verband der Chemischen Industrie, Chemiewirtschaft in Zahlen 1981, S. 53. 104 Streck, Industrie, S. 184–187, 363–366. 105 Teltschik, Großchemie, S. 312–313. 106 Kopsidis, Landwirtschaft, hier S. 246–247; Franzmann, Entwicklung. 107 Streck, Industrie, S. 187; Verband der Chemischen Industrie, Chemiewirtschaft in Zahlen 1981, S. 53.

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der westdeutschen Pflanzenschutzproduktion bildete allerdings der Export. Nimmt man nicht die Produktions-, sondern die Wirkstoffmenge als Grundlage zur Berechnung der Exportquote, so lag diese Anfang der 1980er Jahre bei über 90 Prozent; hiervon entfielen 1982 53 Prozent auf Westeuropa. Die hohen Import- und Exportquoten verweisen auf die fortgeschrittene Spezialisierung und bereits vollzogene Schritte der Internationalisierung.108 Zu Beginn der 1980er Jahre stagnierte der Weltmarkt für Pflanzenschutzmittel. Geringere Anbauflächen in den USA und Europa in Verbindung mit einem steigenden Umweltbewusstsein und verschärften staatlichen Regulierungen verschlechterten die Absatzbedingungen. Grund zur Hoffnung bot aus der Perspektive der Hersteller allenfalls die »grüne« Gentechnologie, mit deren Hilfe spezielle Eigenschaften auf Pflanzen übertragen werden sollten, um ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber Krankheiten und Schädlingen zu erhöhen. Allerdings war eine solche Pflanzenschutzmittel-Forschung aufwendig und erforderte erhebliche finanzielle Mittel.109 Zugleich stieg die gesellschaftliche Skepsis gegenüber genmanipuliertem Saatgut. Aus der Sicht von Chemieunternehmen stellte sich zudem die Frage, inwiefern gentechnologische Erkenntnisse für den Pharma- wie auch den Agrochemiebereich nutzbar waren. Der strategische Schwenk in Richtung Life Sciences, d. h. die Konzentration auf die beiden miteinander verwobenen Bereiche Pharma und Agrochemikalien, folgte dieser Logik. Farben und Lacke Die Erzeugung von Farbstoffen kennzeichnet nicht nur den Aufstieg vieler europäischer Chemiefirmen im 19. Jahrhundert, die Sparte Farbmittel und Lacke bildete auch im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts noch ein zentrales Standbein der europäischen Chemieindustrie. Der Gesamtbereich Farbmittel und Lacke lässt sich wiederum in zahlreiche Teilbereiche – wie anorganische Pigmente, organische Farbstoffe, Lacke und Anstrichmittel oder Künstler- und Keramikfarben  – differenzieren. In der Bundesrepublik entfielen 1970 noch 12 Prozent am Produktionswert der gesamten Chemieindustrie auf die Summe aus Mineralfarben, organischen Farbstoffen, Lacken und Anstrichmitteln. Die bundesdeutsche Produktion von organischen und anorganischen Farbstoffen als Vorprodukt von Lacken und Anstrichmitteln sowie für industrielle Färbevorgänge fand nach wie vor in wenigen Großbetrieben statt, wohingegen die Herstellung von Lacken und Anstrichmitteln wesentlich breiter gestreut war. Farbmittel und Lacke fanden in nahezu allen Bereichen der Wirtschaft Anwendung, folglich entsprach die Entwicklung ihrer Produktionsmenge weitgehend derjenigen der gewerblichen Wirtschaft. Die Absatzprobleme in der Automobil-

108 Streck, Industrie, S. 187–192, 367–370. 109 Teltschik, Großchemie, S. 312–317.

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industrie und die schwache Bautätigkeit ab Mitte der 1970er Jahre wirkten sich daher unmittelbar auf die Inlandsnachfrage aus.110 Infolge der Ölpreiskrise 1973/74 erhöhten sich in der Bundesrepublik die Preise für die wichtigsten Ausgangsstoffe zur Lackherstellung (Naphtha, Ethylen, Propylen) und auch die Börsenkurse für die bei der Lackherstellung genutzten Metallpigmente auf der Basis von Blei und Zink stiegen sprunghaft an; zugleich erfolgte wenige Monate nach dem Inkrafttreten des Bundes-Immissionsschutzgesetzes 1974 die erste Novelle zur »Technischen Anleitung zur Reinhaltung der Luft« (TA Luft). Mit der TA Luft gerieten die bisherigen Orientierungspunkte der Branche ins Wanken. »Was lange Jahre hindurch als Gradmesser für Erfolg und Expansion galt, wurde nun zum Problem  – die Menge der verbrauchten organischen Lösemittel.«111 Die Reduzierung organischer Lösemittel und der Ersatz giftiger Bestandteile entwickelten sich zu zentralen Herausforderungen. In den 1980er Jahren brachten nahezu alle Anbieter umweltschonende, lösemittelarme oder -freie Varianten ihrer bisherigen Produkte auf den Markt.112 Neben den konjunkturellen und umweltpolitischen Problemen verhinderten auch neue technische Verfahren einen Anstieg der Nachfrage: Lacksparende Techniken wie das elektrostatische Lackieren, geringere Schichtdecken und farbensparende Drucktechniken waren ebenfalls für die Stagnation auf dem Inlandsmarkt verantwortlich.113 Fortschreitende Produktspezialisierung und zunehmende internationale Arbeitsteilung machten sich auch hier bemerkbar. Im Fall der Bundesrepublik stieg lediglich der bereits hohe Exportanteil organischer Farbstoffe nicht weiter an, der schon Anfang der 1970er Jahre bei ca. 75 Prozent lag. Im Fall der Mineralfarben kletterte die Exportquote hingegen zwischen 1970 und 1981 von 33 auf fast 50 Prozent. Die niedrigste Außenhandelsintensität wies der Teilbereich Lacke und Anstrichmittel auf, da hier vielfach eine umfangreiche Beratung durch die Kunden gewünscht wurde; nichtsdestotrotz verdoppelten sich auch hier die Ausfuhr- und die Einfuhrquoten. Für die westeuropäischen Farbmittel- und Lackhersteller stellte sich daher die Frage, inwieweit sie ihre bisherige Exportstrategie fortsetzen oder den Aufbau ausländischer Produktionsstätten forcieren sollten.114 Im Unterschied zu anderen Teilsegmenten der Chemieindustrie zeichnete sich der Markt für Farben und Lacke in den 1970er Jahren insgesamt durch eine weitgehende Stagnation aus. In der Bundesrepublik wuchs die Produktion in 110 Streck, Industrie, S. 206–209. Vgl. zur Entwicklung des Arbeitsgebiets Farben und Lacke ferner: Bathelt, Chemiestandort, S. 205–247. 111 Dohnke, Lack Story, S. 103. 112 Dohnke, Lack Story, S. 102–126. Nicht zuletzt die Offenlegung der Dünnsäureverklappung aus der Titandioxidproduktion in die Nordsee brachte der Lack-Branche in Zeiten zunehmenden Umweltbewusstseins ein Imageproblem ein. Vgl. Bluma, Technik; Dohnke, Lack Story, S. 115. 113 Streck, Industrie, S. 208–209, 382–384. 114 Ebd., S. 209–211, 385–387.

Auslandsaktivitäten westeuropäischer Chemieunternehmen

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jenem Jahrzehnt zwar mengenmäßig um etwa 20 Prozent, der preisbereinigte Produktionswert stieg hingegen nur leicht um zwei bis drei Prozent an. Auch vom Export gingen nur begrenzt produktionssteigernde Impulse aus.115 Wachstumschancen ergaben sich vor allem aus der Internationalisierung anderer Industriebranchen – wie der Automobilindustrie –, denen man mit der Produktion vielfach ins Ausland folgte. Insgesamt sind die größten produkt- und industriespezifischen Herausforderungen in der Erhöhung von Energie- und Rohstoffkosten, der Verlagerung bestimmter Produktionsprozesse, dem Hinzutreten neuer Konkurrenten sowie dem Auslaufen von Produktlinien zu sehen. Allerdings stand die westeuropäische Chemieindustrie damit nicht vor einem ähnlichen Niedergang wie die Eisen- und Stahlhütten oder die Werften, denn aus dem Wissens- und Erfahrungsvorsprung der etablierten Unternehmen ergaben sich in Verbindung mit der Digitalisierung von Produktionsprozessen und neuen Forschungsmöglichkeiten im Rahmen der Bio- und Gentechnologie zugleich große Chancen, um im globalen Wettbewerb angestammte Führungspositionen zu behaupten.

2.2 Auslandsaktivitäten westeuropäischer Chemieunternehmen im Nachkriegsboom Obschon die IG Farben zwei Drittel ihres Vermögens in Mittel- und Ostdeutschland sowie im Ausland infolge des Zweiten Weltkriegs verloren hatte, erreichten ihre drei großen westdeutschen Nachfolgeunternehmen (BASF, Bayer, Hoechst) schon 1953 wieder über 90 Prozent des Gesamtumsatzes der IG Farben aus dem Kriegsjahr 1943. Dabei entwickelte sich der Export verhältnismäßig schnell zum Wachstumsmotor. Dank des Koreabooms erlebte auch die Chemieindustrie einen unerwartet schnellen Aufstieg und war in jener Zeit für 15 Prozent aller westdeutschen Exporte verantwortlich. Damit erwirtschafteten die IG FarbenNachfolger etwa ein Drittel ihrer Umsätze im Außenhandel.116 Chandler zufolge blieben deutsche und schweizerische Chemie- und Pharmafirmen auch nach 1945 die Hauptkonkurrenten der US -Konzerne. Demnach lagen die Markteintrittsbarrieren in der chemischen Industrie seit den 1920er Jahren aufgrund wissenschaftlicher Expertise und Erfahrung so hoch, dass es für Newcomer nahezu unmöglich war, größere Marktanteile zu erobern. Natürlich hatten die protektionistische Wirtschaftspolitik der Zwischenkriegszeit, die nationalsozialistische Autarkiepolitik und die Kriegswirtschaft die Gewichte zwischen den großen Chemiekonzernen verschoben, gleichwohl dominierten 115 Ebd., S. 210–211, 388–393; Verband der Chemischen Industrie, Chemiewirtschaft in Zahlen 1981, S. 57–58. 116 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 428–429.

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jene Firmen nach wie vor einen Großteil des Weltmarkts.117 Dabei gab es zwischen den drei großen IG Farben-Nachfolgern lange eine gewisse Arbeitsteilung. Während Bayer vor allem in der Pharma- und Pflanzenschutzherstellung sowie in der Kunststoff-, Kunstfaser- und Farbenproduktion tätig war, beinhaltete das Produktportfolio der BASF Basischemikalien, Düngemittel und Industrieprodukte. Hoechst hatte seinen Schwerpunkt hingegen bei Kunststoffen, Kunstfasern und Pharmaprodukten. Das Benchmarking zwischen den drei Firmen gehörte bis in die 1980er Jahre zum Kern ihrer Unternehmenspolitik und dies galt auch hinsichtlich ihrer Auslandsstrategie.118 Um wieder möglichst schnell auf den Weltmarkt zurückzukehren und zugleich den Anschluss an die Petrochemie zu finden, bemühten sich die westdeutschen Chemieunternehmen in den 1950er und 1960er Jahren um eine Zusammenarbeit mit ausländischen Konzernen – sowohl im Inland als auch im Ausland. BASF und Shell verständigten sich 1952 auf den gemeinsamen Bau der Rheinischen Olefinwerke in Wesseling, Bayer gründete mit dem britischen Mineralölkonzern BP 1957 die Erdölchemie GmbH in Dormagen und kooperierte ferner mit dem US -Chemieunternehmen Monsanto.119 In der Petrochemie ging Hoechst zunächst eigene Wege; erst 1961 gab das Unternehmen jenes Arbeitsgebiet auf und schloss – wie seine westdeutschen Konkurrenten – Lieferverträge mit ausländischen Produzenten. Ferner gründete Hoechst mit dem US -Chemieunternehmen Hercules Powder Company 1957 das Gemeinschaftsunternehmen Abieta Chemie in Gersthofen zur Verarbeitung von Harzen.120 Während die Versorgung mit petrochemischen Vorprodukten bei der Zusammenarbeit mit ausländischen Unternehmen im Inland im Vordergrund stand, zielten die Kooperationen im Ausland primär auf die (Rück-)Eroberung von Marktanteilen.

2.2.1 Bayer Zwar wurde die Farbenfabriken Bayer AG im Dezember 1951 formal neu gegründet, tatsächlich bedeutete das Ende des Zweiten Weltkriegs aber eine weniger tiefe Zäsur, als man zunächst hätte annehmen können. Die Erfahrung des weiterbeschäftigten Personals war eine Grundvoraussetzung für die Rückkehr auf den Weltmarkt. Forschung und Entwicklung blieben in den 1950er und 1960er Jahren in der Bundesrepublik beheimatet, erst ab den 1970er Jahren baute Bayer seine Forschungsaktivität in Japan und den USA aus. Bis dahin beschränkte 117 Chandler, Industrial Century, S. 114. 118 Erker, Bayer, S. 46–47. 119 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 429–430; Stokes, Opting, besonders S. 133–175. Erst 2001 übernahm BP die restlichen 50 % von Bayer. 120 Bäumler, Farben, S. 271–276; Schreier / Wex, Hoechst, S. 232, 239; Stokes, Opting, S. ­176–196. Die Hoechst-Anteile gingen am 1. Juli 1997 auf die Clariant Deutschland GmbH über.

Auslandsaktivitäten westeuropäischer Chemieunternehmen

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sich das Aufgabengebiet ausländischer Forschungseinrichtungen in der Regel auf die Anpassung vorhandener Produkte an lokale Gegebenheiten. Auf vielen Märkten war das Traditionsunternehmen Bayer schon aus der Zeit vor dem IG Farben-Zusammenschluss bekannt und konnte durch diese Kontinuität des Firmennamens und vieler Warenzeichen  – mit Ausnahme der USA  – wieder schnell Marktanteile gewinnen. Darüber hinaus setzte Bayer seine Zusammenarbeit mit Firmen aus der Zeit vor 1945 fort – wie im Fall von Rhône-Poulenc oder dem US -Unternehmen National Lead –, allerdings handelte es sich hierbei eher um Einzelfälle, die auf aktuelle Geschäftslagen zurückzuführen waren.121 Dass die westdeutschen Unternehmen gegenüber ihren ausländischen Konkurrenten technologisch nicht vollständig abgehängt worden waren, zeigte sich auch darin, dass Bayer 1963 schon wieder 60 Prozent des Weltumsatzes mit Produkten machte, die erst innerhalb der vergangenen 15 Jahre auf den Markt gekommen waren.122 Patrick Kleedehn hat die Internationalisierung von Bayer in der Zeit zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Jahr 1961 detailliert für vier Länder – Brasilien, Argentinien, Frankreich und die USA – nachgezeichnet. Dabei unterschieden sich die Entwicklungen je nach Land und Produktsparte.123 Bereits 1949 konnte Bayer-Chef Ulrich Haberland stolz verkünden, dass die deutsche Chemieindustrie auch im Export wieder lieferfähig sei.124 Die Auslandsquote von Bayer betrug zu diesem Zeitpunkt 15 Prozent. Sie kletterte in den beiden darauffolgenden Jahren schnell auf über 30 Prozent und wuchs bis 1961 auf 46 Prozent – damit lag sie höher als bei Hoechst oder BASF mit jeweils etwa 40 Prozent um 1960. Die Rückkehr auf den Weltmarkt war schon deshalb ein Erfordernis, weil die hohen Forschungs- und Entwicklungskosten über eine hinreichend große Produktionsmenge wieder erwirtschaftet werden mussten. Dabei variierte der Exportanteil zwischen den verschiedenen Sparten erheblich. Während die Chemikaliensparte in den 1950er Jahren für 30 bis 40 Prozent aller Bayer-Exporte verantwortlich war, rutschte der Farbenexportanteil von über 30 auf unter 20 Prozent. Dies war auch eine Folge der Entscheidung, schwerpunktmäßig in den Kunststoff- und Chemiefaserbereich zu investieren, und ging zulasten der Pharma- und Farbensparte. Gleichwohl war die Auslandsquote der Farbensparte 1961 mit nahezu zwei Dritteln des Umsatzes eine der höchsten im Konzern; im Faserbereich lag sie nur bei rund einem Drittel des Umsatzes, da Zollbarrieren – auch im Fall von Industrieländern wie Frankreich oder den USA – und der Devisenmangel der Schwellenländer das Fasergeschäft behinderten. Zudem galten Kunstfasern zu jener Zeit in vielen Schwellenländern noch als Luxusprodukt. Bayer verzichtete daher in den 1950er Jahren auf eine Auslandsproduktion von Chemiefasern. Im Pharmageschäft konnte Bayer den 121 Kleedehn, Internationalisierung, S. 331–334. Vgl. zur Namensproblematik von Bayer in den USA nach 1945: Ludwig, Herausforderungen, S. 166–177. 122 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 427. 123 Kleedehn, Internationalisierung. 124 Abelshauser, Wirtschaftsgeschichte, S. 426.

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Grundkonstellationen der Internationalisierung in der Chemieindustrie

Forschungsausfall der 1940er Jahre zwar durch Lizenzen kompensieren, doch scheiterte das Unternehmen mit dieser Strategie auf den Auslandsmärkten; zumal die begrenzten Forschungsmittel nicht ausreichten, um dem Anspruch einer Spitzenposition in allen Pharmabereichen zu genügen. Erst auf Grundlage einer höheren Mittelausstattung ab Mitte der 1960er Jahre gewann die Pharmasparte wieder an Bedeutung. Die größte Auslandsquote aller Bayer-Sparten hatte 1961 der Pflanzenschutz, dessen erfolgreiche Entwicklung auf einer gut sortierten Produktpalette und den recht mühelosen Zugangsmöglichkeiten auf ausländische Märkte beruhte.125 Auch während der Boomphase trug die Errichtung ausländischer Produktionsstätten bereits zur Internationalisierung von Bayer bei  – wenn auch in deutlich geringerem Umfang als der Export. Schon früh nach dem Zweiten Weltkrieg begann Bayer mit dem Wiederaufbau von Verkaufs- und Beratungsgesellschaften in den wirtschaftlich fortschrittlichen Märkten Lateinamerikas, d. h. in Argentinien, Brasilien, Mexiko und Uruguay. Der Export wurde über eigene Vertriebsgesellschaften und fremde Vertretungen abgewickelt, deren Zahl in Lateinamerika bis Ende der 1950er Jahre auf 30 anstieg. Darüber hinaus errichtete Bayer aufgrund von Einfuhrbeschränkungen – vor allem für Pflanzenschutzmittel und pharmazeutische Produkte – lokale Fertigungsstrukturen im Ausland. In diesen Fällen lieferte das westdeutsche Stammhaus vielfach Wirkstoffkonzentrate, die vor Ort zu gebrauchsfertigen Produkten weiterverarbeitet und verpackt wurden. Nachdem 1956 ein deutsch-brasilianisches Abkommen über das deutsche Altvermögen abgeschlossen worden war, kam es in den darauffolgenden fünf Jahren zu einer wahren deutschen Investitionswelle in Brasilien. Für Bayer stellte Brasilien zu jener Zeit das bedeutendste Investitionsland unter den lateinamerikanischen Staaten dar, in die bis Ende der 1950er Jahre nahezu die Hälfte aller Auslandsinvestitionen von Bayer floss.126 Um möglichst schnell wieder auf dem brasilianischen Markt Fuß zu fassen, wurde dem Neuaufbau einer Vertreterorganisation Vorrang eingeräumt. Im Jahr 1952 erwarb Bayer hierfür das vormalige IG Farben-Tochterunternehmen Alianca Comercial de Anilinas S. A. zurück. Mit einem Kaufpreis von 4,75  Mio. DM handelte es sich um die erste große Auslandsinvestition von Bayer nach dem Zweiten Weltkrieg. Zwei Jahre später erfolgte die Angliederung der C ­ orantes e Insecticidas Comérico e Indústria S. A. (Cidasa), durch welche die lokale Farbzwischenproduktion erweitert wurde. Schließlich wollte Bayer den brasilianischen Bichromat-Markt nicht US -Konkurrenten überlassen und errichtete hierfür eine Produktionsanlage in Brasilien. Hintergrund waren insbesondere Importrestriktionen, da die brasilianische Regierung bestrebt war, eine eigene anorganische Grundstoffindustrie aufzubauen. Daraufhin erwarb

125 Kleedehn, Internationalisierung, S. 336–341. 126 Kleedehn, Internationalisierung, S. 169–171. Vgl. zum Export nach Brasilien: Breimhorst, Exportsicherheit.

Auslandsaktivitäten westeuropäischer Chemieunternehmen

111

Bayer 1955 die Companhia de Acidos S. A. in Belford Roxo, die 1956 in Bayer do Brasil Indústrias Químicas S. A. umbenannt wurde und sich bis zu Beginn der 1960er Jahre zum bedeutendsten Bayer-Produktionskomplex im lateinamerikanischen Raum entwickelte. Bis in die späten 1950er Jahre häufte sie allerdings erhebliche Verluste an. Im Chemiefaserbereich erwirtschaftete Bayer weder in Brasilien noch in Argentinien nennenswerte Umsätze. In Brasilien deckten die Rhône-Poulenc Tochtergesellschaft Rhodiaceta und ihre Untergesellschaften mit einer Kapazität von 400 Tonnen / Jahr und das brasilianische Unternehmen Matarazzo mit etwa 50 Tonnen / Jahr die Nachfrage nach Acetatseide nahezu vollständig.127 Im Pharmageschäft zeigte sich recht schnell, dass eine reine Exportstrategie für Brasilien aufgrund von Einfuhrrestriktionen, eines ungünstigen Wechselkurses und einer schwankenden brasilianischen Außenhandelspolitik nicht zum Erfolg führen würde. Im Jahr 1955 erwarben Hoechst und Bayer daher gemeinsam die verstaatlichte, ehemalige IG Farben-Tochtergesellschaft A Chimica Bayer Ltda., aus der sich Hoechst jedoch noch im selben Jahr zurückzog. Die umbenannte A Química Bayer konfektionierte zahlreiche Bayer-Präparate und verzeichnete ein hohes Umsatzwachstum, allerdings blieb die Bilanz bis Ende der 1950er Jahre gleichfalls negativ; erst Anfang der 1960er Jahre konnte das Stammhaus seine Zuschüsse einstellen. Insgesamt stieg der Anteil der lokalen Bayer-Produktion am Pharmaumsatz in Brasilien während der zweiten Hälfte der 1950er Jahre deutlich an und übertraf bei weitem die Lieferungen aus Leverkusen. Im Pflanzenschutz blieb das Volumen der Bayer-Auslandsproduktion hingegen gering. Noch zu Beginn der 1960er Jahre wurde jenes Geschäft weitgehend mit Exporten aus Deutschland bestritten.128 Auch in Argentinien bestimmten zunächst Lieferungen aus dem Stammhaus das Auslandsgeschäft. Ab Mitte der 1950er Jahre kamen erste Beteiligungen in produzierende Gesellschaften hinzu. Im Jahr 1954 beteiligte sich Bayer mit 45 Prozent an der Farbstofffabrik Fábrica Argentina de Anilinas S. A. (Anilsud), wodurch der Anteil der lokalen Produktion am Farben-Umsatz von Bayer in Argentinien bis 1961 auf knapp die Hälfte anstieg und sich Bayer wieder zu einer festen Größe auf dem argentinischen Markt etablierte. Nur ein Jahr später erwarb Bayer 35 Prozent des neu gegründeten Chemieunternehmens Fábrica Argentina de Fenol y Derivados S. A. (Fensud) zur Phenolproduktion. In beiden Fällen kooperierte Bayer mit dem argentinischen Mischkonzern Bunge & Born, der von den technischen Kenntnissen des westdeutschen Unternehmens profitieren wollte; umgekehrt sah Bayer dies als Chance, um auf den argentinischen Markt vorzudringen.129

127 Kleedehn, Internationalisierung, S. 216–244; Reinert, Bayer, S. 176–177; Verg / ​Plumpe / ​ Schultheis, Meilensteine, S. 352–357. 128 Kleedehn, Internationalisierung, S. 244–251; Reinert, Bayer, S. 176. 129 Kleedehn, Internationalisierung, S. 172–216; Reinert, Bayer, S. 176–177.

112

Grundkonstellationen der Internationalisierung in der Chemieindustrie

In den USA und Frankreich stellte sich die Situation aufgrund der politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen vollkommen anders dar. Im Vergleich zu den südamerikanischen Staaten verfügten beide Länder über eine hochentwickelte Infrastruktur, ein ausdifferenziertes Zulieferernetzwerk, gut ausgebildetes Personal und große Absatzmöglichkeiten – allerdings auch über konkurrenzfähige einheimische Unternehmen. Zudem behinderten hohe Importzölle in beiden Fällen das Exportgeschäft. Zumindest im Fall Frankreichs wurde der Außenhandel mit der Gründung der EWG jedoch liberalisiert. Weder in den USA noch in Frankreich gelang es Bayer hingegen, das infolge des Zweiten Weltkrieges enteignete Alteigentum zurückzuerlangen. Besonders in den USA erwies sich die Lage nach 1945 als schwierig, da das westdeutsche Unternehmen weder den Namen »Bayer« noch das »Bayer-Kreuz« auf dem US -Markt verwenden durfte. Da sich der US -Zollsatz für Farbprodukte während der 1950er Jahre zeitweise auf 40 Prozent des Verkaufspreises belief, entschied sich Bayer für die Errichtung einer Auslandsproduktion und übernahm hierfür die Mehrheit an der Pharma Chemical Corporation mit Betriebsstätten in Newark und Bayonne (New Jersey) sowie an der bisherigen Vertriebsgesellschaft Verona Dyestuffs. Beide wurden 1957 zur Verona-Pharma Chemical Corporation zusammengeschlossen. Infolge der zunehmenden Produktion im Gastland sank der BayerAnteil an der westdeutschen Farbstoff-Ausfuhr in die USA um 1960 von über 35 auf unter 25 Prozent.130 Während Bayer auch im Chemikaliengeschäft mit dem Joint Venture Mobay  – insbesondere zur Polyurethan-Herstellung  – eine Auslandsproduktion aufbaute, verzichtete das Unternehmen aufgrund der Dupont-Konkurrenz auf dem US -Markt auf eine lokale Produktionsstätte für Chemiefasern. Der Entschluss zur Errichtung von Mobay 1954 (mit Produktionsanlagen in New Martinsville / West Virginia bzw. ab 1972 im texanischen Baytown), der trotz des verminderten Bayer-Finanzanteils wegen des Know-how-Transfers immerhin noch 25 Millionen DM erforderte, resultierte nicht zuletzt aus der Forderung der US -Abnehmerindustrie – speziell der Automobilindustrie – nach einer lokalen Produktion oder der Lagerung eines Halbjahresbedarfs in den USA, um Lieferverzögerungen zu verhindern. Über Mobay drang Bayer aber nicht nur auf den US -Markt vor, vielmehr fand ein gegenseitiger Wissenstransfer statt, aus dem Bayer auch Vorteile für die heimische Produktion ziehen konnte. Aufgrund der steigenden Nachfrage entwickelte sich das Unternehmen günstig, doch 1964 strengte das US -Justizministerium auf Grundlage der Anti-Trust-Gesetzgebung eine Klage gegen Mobay an. Während Monsanto zu einem Prozess bereit war, wollte Bayer in der Aufbauphase nicht in langwierige Rechtsstreitigkeiten verwickelt werden. Monsanto nahm daraufhin 1967 das Bayer-Angebot zur Übernahme der restlichen Mobay-Anteile an. Der westdeutsche Konzern ersparte sich auf diese Weise nicht nur einen Prozess, es gelang ihm auch, die vollständige 130 Kleedehn, Internationalisierung, S. 252–280; Ludwig, Herausforderungen, S. 73–76, 100–104.

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Kontrolle über Mobay und damit einen festen Platz auf dem US -Chemikalienmarkt zu erlangen.131 Der große US -Pharmamarkt fiel als Absatzregion für Bayer-Produkte in den 1950er Jahren hingegen nahezu vollkommen aus. Die scharfe Konkurrenz durch europäische und US -Firmen und hohe US -Zölle erschwerten den Export, und auch die Zusammenarbeit mit der Schenley-Gruppe, von der Bayer Penizillinlizenzen erworben hatte, erwies sich als wenig fruchtbar. Noch 1960 gehörten die USA nicht zu den 28 größten, mit Bayer-Pharmaprodukten belieferten Staaten der Welt. Erfolgreicher entwickelte sich das Pflanzenschutzgeschäft in den USA . In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre schnellten die entsprechenden Bayer-Exporte in die Höhe, doch wurden sie bald durch die Auslandsproduktion der Chemagro Corporation substituiert, an der Bayer seit 1953 mit einem Drittel und ab 1961 mehrheitlich beteiligt war. Im Jahr 1967 erfolgte auch hier die Übernahme der verbliebenen Anteile. Dieser Weg, die Gründung von Gemeinschaftsunternehmen mit ausländischen Partnerfirmen und anschließende Übernahme der restlichen Anteile, war durchaus typisch für die Internationalisierung westdeutscher Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg.132 In Frankreich unterhielt Bayer seit Ende der 1940er Jahre wieder verschiedene Handelsvertretungen: Die Société Générale des Produits Chimiques (SOGEP) für den Verkauf von Chemikalien, die Distribution des Colorants (DISTRI) für den Vertrieb von Bayer-Farben und -Fasern sowie die Bayer-Phytochim im Pflanzschutzbereich. Bayer hatte mit der SOGEP und der DISTRI zunächst nur Vertreterverträge abgeschlossen, aber die Beteiligungen in den folgenden Jahren sukzessive aufgestockt. Aufgrund französischer Einfuhrlizenzen, hoher Zollsätze für bestimmte Farbprodukte und der Konkurrenz durch Schweizer Unternehmen gestaltete sich das Farbstoffgeschäft in Frankreich während der ersten Nachkriegsjahre schwierig. Der Bayer-Anteil an der westdeutschen Farbstoff-Ausfuhr nach Frankreich lag in den 1950er Jahren bei 30 bis 35 Prozent. Vor dem Hintergrund der andauernden Importrestriktionen erwog Bayer gemeinsam mit Hoechst eine lokale Produktion aufzunehmen und hierfür den südfranzösischen Farbstoffhersteller Gemaco zu übernehmen, doch letztlich scheiterte das Projekt. Weitere Anläufe für eine derartige Produktion in Frankreich wurden von Bayer in den 1950er Jahren nicht mehr unternommen; vor allem die Verbesserung des zollpolitischen Umfelds infolge der EWG -Verträge 131 Chandler, Industrial Century, S. 120–121; Kleedehn, Internationalisierung, S. 280–290; Ludwig, Herausforderungen, S. 107–108; Reinert, Bayer, S. 171–173; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 440–441. Um die Reputation des Unternehmens in den USA wieder herzustellen, investierte Bayer nach dem Zweiten Weltkrieg auch in die Öffentlichkeitsarbeit. Vgl. zur Public-Relations-Arbeit von Bayer durch Julius Klein in den USA während der 1950er und 1960er Jahre: Ludwig, Herausforderungen, S. 138–148. 132 Kleedehn, Internationalisierung, S. 290–299; Ludwig, Herausforderungen, S. 105–110; Reinert, Bayer, S. 173–174; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 333, 466–467, ­486–487. Im Jahr 1971 wurde Chemagro in die Baychem Corporation eingegliedert und 1974 zur Agricultural Chemical Division von Mobay.

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Grundkonstellationen der Internationalisierung in der Chemieindustrie

sprach für einen Ausbau des Exports. Im Jahr 1958 übernahm Bayer deshalb 39 Prozent der DISTRI-Anteile. Ab 1962 firmierte die DISTRI unter dem Namen Bayer France, die SOGEP ab 1970 als Bayer Chimie.133 Im Pharmabereich schloss Bayer 1951 mit der Firma Produits Chimiques et Pharmaceutiques de Monaco (Dr. Paris) des Apothekers Dr. Raymond Paris ein Herstellungs- und Vertriebsabkommen ab, das zunächst auf Aspirin und Aspirin-Kombinationen in Frankreich beschränkt war, später jedoch auf weitere Produkte und die meisten Staaten der Französischen Wirtschaftsunion erweitert wurde. Nachdem dieses Unternehmen 1961 in Laboratoires des Spécialités Pharmaceutiques Bayer S. A. (Monaco) umbenannt worden war, übernahm die kanadische Holding-Gesellschaft Bayforin (Toronto) 1965 auch die übrigen Anteile der Firma, die fortan als Bayer Pharma S. A. firmierte. Neben jenen Beziehungen unterhielt Bayer vor allem enge Kontakte zu Rhône-Poulenc. Kurz vor Inkrafttreten der Römischen Verträge unterzeichneten beide Seiten im November 1957 ein Briefabkommen, in dem sie sich darauf verständigen, sich gegenseitig über Forschungen in der Humanmedizin zu informieren und Optionen auf Patentlizenzen zu gewähren. Obschon aus dieser Zusammenarbeit zunächst keine bedeutenden Produkte hervorgingen, wurde die Forschungskooperation in den 1960er Jahren intensiviert. Hier zeigte sich die Bedeutung des zusammenwachsenden europäischen Marktes für unternehmensstrategische Kooperationen.134 Da Frankreich zu jener Zeit der bedeutendste Markt für Pflanzenschutzmittel in Europa war, gründete Bayer für diesen Produktbereich 1950 eine dritte Vertriebsgesellschaft (Bayer-Phytochim). Ferner übernahm ab 1951 die am französischen Markt etablierte Firma Standard Française des Pétroles den Verkauf von Bayer-Pflanzenschutz-Produkten. Wenngleich auch hier Einfuhrgenehmigungen und Zölle das Geschäft behinderten, war Frankreich 1957 der viertwichtigste Auslandsmarkt der Bayer-Pflanzenschutz-Sparte, allerdings schwankte die Höhe ihrer Exporte nach Frankreich in den folgenden Jahren erheblich.135 Während es sich bei den drei Bayer-Gesellschaften DISTRI, SOGEP und Phytochim um Handelsvertretungen handelte, die 1975 zur neuen Firma Bayer France fusionierten136, wurde mit der Progil-Bayer-Ugine (PBU) 1959 eine Produktionsgesellschaft in Frankreich gegründet, an der Bayer wiederum über die Bayforin mit 50 Prozent beteiligt war. Hintergrund für die Gründung des Gemeinschaftsunternehmens war die verstärkte Konkurrenz durch US -Unternehmen sowie der europäische Integrationsprozess. Als 1958 bekannt wurde, dass US -Chemieunternehmen Produktionsstützpunkte für Isocyanate und 133 Kleedehn, Internationalisierung, S. 309–318; Reinert, Bayer, S. 183–184; Verg / Plumpe / ​ Schultheis, Meilensteine, S. 311. 134 BAL 324-5 Vereinbarung zwischen Farbenfabriken Bayer AG , Leverkusen und RhônePoulenc S. A., Paris (17.12.1965); Kleedehn, Internationalisierung, S. 323–326; Verg / ​ Plumpe / ​Schultheis, Meilensteine, S.  312. 135 Kleedehn, Internationalisierung, S. 326–330. 136 BAL 009/L Bayer France SA , Puteaux.

Auslandsaktivitäten westeuropäischer Chemieunternehmen

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Polyester innerhalb der EWG – speziell in Frankreich – planten, durch welche die hohen französischen Einfuhrzölle umgangen werden sollten und bald der gesamte europäische Binnenmarkt bedient werden sollte, sah Bayer einen wichtigen Absatzmarkt bedroht und schloss mit den beiden mittelgroßen französischen Chemieunternehmen Société Progil S. A. und Société d’Electro-Chimie, d’Electro-Metallurgie et des Aciéries Electriques d’Ugine einen entsprechenden Kooperationsvertrag zur Herstellung von Isocyanaten, Polyester und Polyether ab. Die großen französischen Chemieunternehmen hatten zuvor kein Interesse an einer solchen Verbindung gezeigt. Erst als die französische Chemieindustrie Anfang der 1980er Jahre umstrukturiert wurde, gab Bayer diese Beteiligung an Rhône-Poulenc ab und belieferte den französischen Markt fortan wieder aus Deutschland.137 Auch in Italien begann die Rückeroberung des Marktes über ein ausländisches Unternehmen. Hier übertrug Bayer der Compagnie Farmaceutica S. A., mit der man seit 1925 zusammenarbeitete, im Rahmen eines Vertretungs- und Fabrikationsvertrages ab 1950 die Belieferung des italienischen Marktes mit dem gesamten Bayer-Produktsortiment. Neben Farbstoffen und Pflanzenschutzmitteln war die Herstellung von Emaille und Keramik eine Bayer-Spezialität in Italien, die ab 1962 von der Bayer-Tochter Emails S.p.A. vorangetrieben wurde. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges stellte Bayer Emaille-Produkte her und verstärkte dieses Produktfeld 1969 durch die Übernahme eines Werks des US Konzerns Glidden im belgischen Brügge. Ähnlich zu Frankreich wurden auch in Italien die einzelnen Tochtergesellschaften 1967 zu Bayer Italia S.p.A. zusammengefasst.138 Im Vergleich zu anderen europäischen Staaten tätigte Bayer in Spanien nach 1945 erst recht spät größere Direktinvestitionen. Seit 1967 stellte Bayer Hispania Industrial (BHI) in Barcelona Lackrohstoffe her, aber erst 1971 errichtete die spanische Tochtergesellschaft einen großen Produktionsstandort in Tarragona. In Großbritannien bemühte sich die westdeutsche Unternehmensleitung hingegen schon in den 1950er Jahren nach bewährtem Muster über Handelsvertretungen – J. M. Steel & Co. Ltd. für Chemikalien, Baywood Chemicals für Pflanzenschutzmittel, Industrial Dyestuffs Ltd. für Farbstoffe, Fibretex Ltd. für Fasern und FBA Pharmaceuticals für Arzneimittel – um eine Wiederankurbelung des Geschäfts. Allerdings gründete Bayer erst zu Beginn der 1960er Jahre eigene britische Tochtergesellschaften (Bayer Dyestuffs Ltd. (1963), Bayer Chemicals (1964)), die 1968 unter dem Dach der Holdinggesellschaft Bayer U. K. Ltd. versammelt und 1974 mit dieser verschmolzen wurden. Bayer Chemicals ging aus der Übernahme der Firma J. M. Steel & Co. hervor, an der sich Bayer bereits 1954 beteiligt hatte. Hier ist erneut das Internationalisierungsmuster von anfänglicher Beteiligung zu vollständiger Integration erkennbar. Im Unterschied zu Groß137 Kleedehn, Internationalisierung, S.  318–322; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 312–313, 543. 138 Reinert, Bayer, S. 185; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 436–439.

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Grundkonstellationen der Internationalisierung in der Chemieindustrie

britannien spielten ausländische Chemieunternehmen wie Bayer, Schering oder Akzo für die Entwicklung der spanischen Chemieindustrie eine große Rolle; unter den westdeutschen Konzernen besaß Bayer in Spanien eine herausragende Stellung.139 Trotz aller nationalen Unterschiede zeigt sich damit in Westeuropa ein ähnliches Bild der Internationalisierung. Während in der ersten Hälfte der 1950er Jahre der Export und die Schaffung von Distributionswegen im Vordergrund standen, wurden die Handelsvertretungen und ersten ausländischen Produktionsstätten ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zunehmend unter dem Dach nationaler Holdinggesellschaften zusammengefasst und ausgebaut. Asien hatte für Bayer in den ersten Nachkriegsjahrzehnten als Produktionsstandort und Absatzregion hingegen kaum Bedeutung. Während Bayer in Indien ab den 1950er Jahren zumindest Kunststoffe und Kautschuk in begrenztem Umfang absetzen konnte und einige Investitionen (Bayer Agrochem Private Ltd. (1958)) vornahm – erst 1970 folgte der Bau eines größeren Werks in Thane bei Mumbai –, spielte China bis 1989 eine marginale Rolle. In Japan arbeitete Bayer seit 1951 mit dem japanischen Pharmaunternehmen Takeda zusammen, doch an eigene Produktionsanlagen war aufgrund des fehlenden Zugangs zu den Abnehmerbranchen lange nicht zu denken. Erst 1973 wurde die Pharmatochter Bayer Yakuhin als Gemeinschaftsunternehmen von Bayer, Takeda und Yoshitomi gegründet. Auch zur Herstellung von Polyurethanen – für die japanische Automobilindustrie  – wurde 1969 ein Gemeinschaftsunternehmen namens Sumitomo Bayer Urethane geschaffen.140 Als entscheidender Schritt zur Organisation des Auslandsgeschäfts erwies sich 1957 die Gründung der Bayer Foreign Investments Ltd. (Bayforin) in Toronto, unter deren Schirm fortan alle Bayer-Beteiligungen in Nord- und Südamerika, Afrika und Westeuropa zusammengefasst wurden und über die der ausländische Kapitalmarkt zur Finanzierung der Auslandsgesellschaften erschlossen wurde. Bis 1961 vereinte die kanadische Holding-Gesellschaft 39 europäische, sechs nordamerikanische, 29 süd- und mittelamerikanische sowie vier afrikanische Auslandsbeteiligungen. Zwischen 1952 und 1961 investierte Bayer 221,3 Millionen DM für den Erwerb von Auslandsbeteiligungen. Der Großteil dieser Investitionen wurde ab 1957 über die Bayforin abgewickelt, die 1961 insgesamt 83 Auslandsbeteiligungen  – in 64 Fällen davon Mehrheitsbeteiligungen – hielt; das Leverkusener Stammhaus kontrollierte hingegen direkt nur 32 Auslandsgesellschaften. Der Großteil der Bayer-Beteiligungen waren reine Verkaufsgesellschaften (insgesamt 64 von 115 im Jahr 1961). Dies galt auch für die Bayforin mit 22 Produktions- und 47 Verkaufsgesellschaften. Die Gesamt139 Reinert, Bayer, S. 186–188; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 464–465. 140 Lubinski, Navigating Nationalism, S. 225–228; Reinert, Bayer, S. 178–182; Verg / Plumpe / ​ Schultheis, Meilensteine, S. 456–459, 584–589, 592. Der Farbstoffhandel mit Japan wurde zunächst über die Firma Ott Shokai, später über die 1955 gegründete Hongkonger Handelstochter Chemdyes organisiert. 1960 wurde die Handelsfirma »Chemdyes Doitsu Senryo« in Tokio gegründet, die ab 1964 unter dem Namen »Bayer Japan« firmierte.

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Auslandsaktivitäten westeuropäischer Chemieunternehmen

summe des in den Bayforin-Unternehmen arbeitenden Kapitals (inkl. Krediten und Bürgschaften) betrug 1961 über 350 Millionen DM und verdeutlicht angesichts von Beteiligungen der Bayer AG in Höhe von 360 Millionen DM die Bedeutung der Bayforin als Anlagegesellschaft. Vom Buchwert der Auslandsbeteiligungen 1961 in Höhe von 122,4 Millionen DM entfielen 107,9 Millionen DM auf die Bayforin.141 Diese Struktur der Bayforin blieb bis Mitte der 1960er Jahre erhalten. Die Unterschiede zwischen dem investierten Kapital, d. h. dem Anschaffungswert, und dem Bilanzwert verwiesen auf die voneinander abweichenden Entwicklungen der Auslandsgesellschaften und bildeten den Erfahrungshintergrund für nachfolgende auslandsstrategische Entscheidungen. Tabelle 3: Verteilung der Bayforin-Beteiligungen (1965) Anzahl

Mio. US $

  Europa

Anschaffungswert bis Ende 1965 in %

Bilanzwert am 31.12.1965 Mio. US $

in %

40

13,7

24

21,9

34

Nordamerika

4

17,8

31

24,3

37

Mittelamerika

11

2,7

5

3,3

5

Südamerika

17

21,9

38

14,5

22

Afrika

5

0,8

1

0,7

1

Australien

1

0,8

1

0,8

1

78

57,7

100

65,5

100

Summe

Quelle: Geschäftsbericht Bayer 1966, S. 41.

Während Vertriebsgesellschaften unter den 51 europäischen Beteiligungsgesellschaften 1961 dominierten, machten Importrestriktionen und Devisenmangel in vielen lateinamerikanischen Staaten die Aufnahme einer Produktion notwendig. Die Zahl der Auslandsbeteiligungen lag dort zwar niedriger – in den USA und Kanada bei 7, in Mittel- und Südamerika bei 32 –, doch im Vergleich zu Europa hatte Bayer hier mit 4 bzw. 19 Fabrikationsgesellschaften wesentlich stärker in die Auslandsproduktion investiert und mit 75 bzw. 101 Millionen 141 BAL 009/L Bayer Foreign Investments Ltd. (Bayforin) (23.10.1962); BAL 009/L Bayfo­ rin Board Meetings (1958–1969), »Bayer verstärkt Auslandsinteressen«, in: Frankfurter Rundschau 179, 06.08.1958, »Die Bayer-Expansion im Ausland«, in: Der Tag 181, 07.08.1958, »Bayforin an 79 Gesellschaften beteiligt«, in: Handelsblatt 241, 15.12.1961, Hanns Gierlichs: Bayer Foreign Investments Limited, in: Bayer-Berichte, Heft 8, 1961; Geschäftsbericht Bayer 1965, S. 69; Erker, Bayer, S. 48; Kleedehn, Internationalisierung, S. 341–342; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 365; »Farben-Bayer verlangsamen ihre Expansion«, in: Die Zeit (01.05.1958).

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Grundkonstellationen der Internationalisierung in der Chemieindustrie

DM auch höhere finanzielle Mittel aufgewendet. Zwischen 1952 und 1961 floss

etwa die Hälfte der Auslandsinvestitionen nach Lateinamerika – vor allem nach Brasilien und Argentinien –, gefolgt von den USA und Kanada mit etwa einem Drittel, erst an dritter Stelle stand Westeuropa. Der Absatzschwerpunkt lag hingegen in Westeuropa, auf das 60 Prozent des Auslandsabsatzes entfielen. Zusammengenommen erwirtschaftete Bayer zu Beginn der 1960er Jahre knapp 80 Prozent des Umsatzes in Westeuropa (inkl. der Bundesrepublik). Im Vergleich zur westdeutschen Chemieindustrie war Bayer noch internationaler aufgestellt. Die Bayer-Exportquote übertraf diejenige der Branche um das Zweifache, so dass Bayer 1961 für etwa ein Viertel aller bundesdeutschen Chemieexporte verantwortlich war. Die Auslandsquote lag bei 46,3 Prozent; hierbei stieg der Anteil der Auslandsproduktion am Auslandsumsatz zwischen 1959 und 1962 von 14,4 auf 20,1 Prozent. Nachdem Bayer 1947/48 wieder das Exportgeschäft aufgenommen hatte, verlagerte sich das Unternehmenswachstum in den 1960er Jahren zunehmend ins Ausland. Bayer hatte durch den Verlust seines Auslandsvermögens und seiner Patente zwar erhebliche Eigentumsvorteile einbüßen müssen, doch blieben umfangreiche Kenntnisse und Erfahrungen über Produktion und Vermarktung chemischer Erzeugnisse im Kern erhalten. Während die eingangs eingeschlagene Exportstrategie vor allem den Aufbau von Handelsvertretungen erforderte, machten hohe Zollbarrieren, Handelshemmnisse sowie der Wunsch nach größerer Kundennähe den Aufbau ausländischer Produktionsbetriebe notwendig. Aus unternehmenspolitischen wie aus finanziellen Gründen war dies erst ab Mitte der 1950er Jahre in größerem Umfang möglich. Angesichts der Begrenztheit des westdeutschen Kapitalmarkts war die Kapitalaufnahme auf ausländischen Kapitalmärkten – ab 1957 insbesondere über die Bayforin – für Direktinvestitionen im Ausland unerlässlich. Auf eine Lizensierung der eigenen Technologie verzichtete die Unternehmensleitung hingegen; nach dem Krieg wäre dies aufgrund der Patentverluste auch wenig realistisch gewesen. Stattdessen zielte Bayer auf die eigene Verwertung der Forschungen im In- und im Ausland.142 Innerhalb Europas richteten sich Standortentscheidungen aufgrund des liberalisierten Handelsumfeldes meist nach den Produktionsbedingungen und fielen wegen der Synergieeffekte vielfach auf das Stammhaus in Leverkusen. Gleichwohl entschied die Unternehmensleitung in den 1950er Jahren, ein Produktionswerk in der Nähe der belgischen Hafenstadt Antwerpen zu errichten, das sowohl über Rhein und Schelde als auch über das Eisenbahn- und Autobahnnetz an das Leverkusener Hauptwerk angeschlossen werden sollte. Nicht nur der ansteigende Export und die begrenzten Expansionsmöglichkeiten an den bisherigen Standorten, auch der zunehmende Bezug überseeischer Rohstoffe machte eine Lage an der Küste wünschenswert. Zudem gab es im Großraum Antwerpen ausreichend qualifizierte Arbeitskräfte. Innerhalb der EWG erfolgten Standortentscheidungen somit immer weniger aufgrund handels- oder zoll142 Bartmann, Pharmabereiche, S. 315–319; Kleedehn, Internationalisierung, S. 341–361.

Auslandsaktivitäten westeuropäischer Chemieunternehmen

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politischer Schranken, vielmehr gewannen andere Faktoren – wie Infrastruktur und Arbeitskräfte – an Bedeutung, und letztlich erfolgten die Erweiterungen auch als Gegenmaßnahmen gegenüber den in Westeuropa expandierenden US -Chemiekonzernen. Nachdem 1961 die N. V. Bayer S. A. in Antwerpen gegründet worden war, erfolgte 1965 die Grundsteinlegung für das Werk, welches zwei Jahre später als fünftes Bayer-Werk  – neben Leverkusen, Elberfeld, Dormagen und Uerdingen  – seine Produktion aufnahm. Dem Produktionsstandort Antwerpen kam eine weitaus höhere Bedeutung als vielen anderen Auslandsinvestitionen zu, insbesondere zur Versorgung der westdeutschen Werke, weshalb die Hannoversche Allgemeine im März 1966 auch titelte: »Ein ›zweites Leverkusen‹ in Antwerpen«.143 Nahezu zeitgleich entschied sich auch der BASF-Vorstand 1964 zur Gründung eines neuen Werks in Antwerpen. Ende der 1960er Jahre folgte zudem die Degussa. Neben den drei westdeutschen Konzernen waren schließlich auch Solvay, Dow, Monsanto und weitere Chemieunternehmen in Antwerpen ansässig, das in jener Zeit zum bedeutendsten Chemie-Standort Europas avancierte.144 Im Unterschied zu anderen Auslandsinvestitionen wog die Bayer-Unternehmensleitung im Fall Antwerpen weniger zwischen einer Auslandsproduktion oder einer Exportstrategie ab, vielmehr wurde jenes Werk fest mit den westdeutschen Produktionsstrukturen verkoppelt. Hierzu trug insbesondere der Bayer-Vorstandsvorsitzende Ulrich Haberland bei, der die Gründung der EWG unterstützte und fest an die Zukunft des europäischen Binnenmarktes glaubte.145

2.2.2 Hoechst Ähnlich wie Bayer drang auch Hoechst nach 1945 über Handels- und Verkaufsvertretungen ins Ausland vor und konnte hier an Erfahrungen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anknüpfen.146 In vielen Fällen wurden nach dem Krieg wieder Handelsbeziehungen mit ausländischen Chemiehändlern  – aus den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Großbritannien oder der Schweiz – geknüpft, die in einer zweiten Phase in Agenturbeziehungen mündeten und später – in einem dritten Schritt – zu Auslandsvertretungen von Hoechst ausgebaut wurden. In einem Rückblick auf seine Tätigkeit bei Hoechst betonte Kurt Lanz, langjähriges für das Auslandsgeschäft zuständiges Vorstandsmitglied, dass es in der unmittelbaren Nachkriegszeit keinen auslandsstrategischen Masterplan gegeben habe, vielmehr habe man die Chancen genutzt, welche sich im Ausland 143 BAL 009/H-1 Werk Antwerpen, Belgien; Kleedehn, Internationalisierung, S. 343–344; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S.  414–417. 144 Mittmann, Industrie, S. 267–280. 145 Kleedehn, Internationalisierung, S. 132–134. 146 Bäumler, Farben, S. 131–162.

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ergeben hätten. Die Wiederankurbelung des Geschäfts erforderte den Aufbau einer Vielzahl von (kleineren) Auslandsvertretungen, gleichwohl übernahm Lanz zu jener Zeit das Prinzip seines damaligen Chefs Walther Ludwigs, nach Möglichkeit nicht mehrere Gesellschaften parallel im Ausland zu führen, sondern zentrale Landesvertretungen zu etablieren. Auf breiter Front durchgesetzt wurde dieses Prinzip erst ab Mitte der 1960er Jahre.147 Wie Bayer war auch Hoechst im Dezember 1951 als Farbwerke Hoechst AG vormals Meister, Lucius & Brüning neu gegründet worden. Während Lanz unter dem neuen Vorstandsvorsitzenden Karl Winnacker zum »Außenminister« avancierte, bekam Rolf Sammet – ab 1966 Werksleiter von Hoechst – die Rolle des »Innenministers« übertragen.148 Nach dem Ende der alliierten Restriktionen stiegen die Auslandsaktivitäten erstmals wieder spürbar an. Schon 1949 hatte Hoechst einen Vertretervertrag mit der Firma Pontosan S. A. in Brasilien abgeschlossen, an der sich das Stammhaus 1952 mit 55 Prozent beteiligte; 1957 wurde Pontosan in Hoechst do Brasil umgewandelt. Obschon Brasilien geografisch weit entfernt vom Heimatstandort des Konzerns lag, gehörte der brasilianische Markt zu den angestammten Liefergebieten, in die Hoechst schon vor dem Ersten Weltkrieg »Außenbeamte« entsandt hatte. Im Jahr 1955 gründeten Hoechst und das US -Chemieunternehmen Grace das 50:50 Joint Venture Fongra in Suzano bei São Paulo, um DDT sowie Lösungs- und Textilhilfsmittel herzustellen. Obwohl die Fabrik erst 1958 eingeweiht wurde, schied Grace bereits 1959 wieder aus und verkaufte seine Anteile an Hoechst. Neben dem Wiederaufbau eines Vertriebsnetzes waren solche Gemeinschaftsbeteiligungen, die Hoechst oftmals zu einem späteren Zeitpunkt übernahm, typisch für die Wiederankurbelung des Auslandsgeschäfts.149 In Frankreich, Großbritannien und Italien lässt sich jenes Verlaufsmuster der Internationalisierung nach 1945 ebenfalls nachzeichnen. Die Rückerschließung der Märkte begann auch hier über (fremde)  Vertriebsvertretungen, wie die französische Société Peralta oder die britische Lawfer Chemical Company, an denen sich Hoechst sukzessive beteiligte und die sich in den 1960er Jahren zu den typischen Landesgesellschaften entwickelten.150 In Großbritannien lief 147 Lanz, Weltreisender, S. 45–47. 148 Hoechst-Archiv, Hoe 42 C/2/1/d, Bericht des Vorstands (Geschäftsbericht Hoechst 1952); Lanz, Weltreisender, S. 52–54; Trouet, Hoechst-Konzern. 149 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 138/Geschichte verschiedener Hoechst Gesellschaften Ausland / L änderblätter A–L: Brasilien (o. D.); Lanz, Weltreisender, S. 466–470. Vgl. zu ähnlichen Entwicklungen in Argentinien und Mexiko: Lanz, Weltreisender, S. 453–458, 476–480. 150 Ähnlich verlief die Entwicklung in Belgien oder Portugal. Auch in Belgien wurde der Vertrieb 1949 zunächst einem belgischen Unternehmen (Société Commerciale et Thérapeutique Belge (Socothéra)) überantwortet, das 1964 mehrheitlich erworben und in Hoechst Belgium S. A. umbenannt wurde. In Portugal erwarb Hoechst 1966 die restlichen Anteile des 1955 gegründeten Joint Ventures Quimica Hoechst Lda. und benannte es in Hoechst Portuguesa Lda. um. Vgl. Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 138, Geschichte

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der Vertrieb von Hoechst-Produkten in den ersten Nachkriegsjahren zunächst über die 1947 von Leopold Laufer gegründete Lawfer Chemical Company, an der sich Hoechst bis 1954 mit 48 Prozent beteiligte; ein Jahr später wurde die Vertriebsgesellschaft in Hoechst Chemicals Ltd. umbenannt. Nahezu zeitgleich gründete der Chemiekonzern mit Horlicks Ltd. in Großbritannien die Hoechst Pharmaceuticals (1956) sowie mit Bayer, Cassella und Union Oxide im Farbstoffbereich die Firma Industrial Dyestuffs Ltd. (1954), die 1963 mehrheitlich von Hoechst und Cassella übernommen und in Hoechst Cassella Dyestuffs Ltd. umbenannt wurde. Im Jahr 1965 änderte Hoechst Chemicals dann den Namen in Hoechst U. K. Ltd., welche fortan als Holding für die anderen Beteiligungen in Großbritannien fungierte. Das Aktienkapital von Hoechst U. K. stieg infolgedessen bis Dezember 1969 auf eine Million Pfund an.151 Ähnlich wie bei Bayer entwickelte sich auch Frankreich nach der schrittweisen Aufhebung alliierter Kontrollen wieder zu einem zentralen Absatzmarkt von Hoechst. Der Chemiekonzern erschloss den Markt in einer ersten Phase über eine französische Handelsvertretung, aus der 1950 die Société Peralta entstand. Mittelsmann zu französischen Industriekreisen, die zunächst das Kapital der Gesellschaft bereitstellten, war Paul Neumann, der vor dem Zweiten Weltkrieg die Schering-Niederlassung in Frankreich geleitet hatte. François Edouard Donnay, bereits seit 1950 im Management der Peralta, übernahm 1962 die Leitung der Handelsgesellschaft – zunächst als Président-directeur général (1962–78), später als Président du directoire (1978–83). Im Jahr 1964 wurde die Firma Peralta in Hoechst Peralta, 1969 in Hoechst France und 1978 schließlich in Société Française Hoechst umbenannt. Sie spiegelt damit das typische Verlaufsmuster der Internationalisierung – von einer fremden Handelsgesellschaft zu einem eigenen Produktionsbetrieb – wider. Da Frankreich einer der wichtigsten Exportmärkte der westdeutschen Chemieindustrie war, sollte hier ein ähnlich dichtes Netz von Vertriebsstützpunkten wie in der Bundesrepublik entstehen.152 Zudem erwarb Hoechst seit 1956 in Frankreich sukzessive kleinere Produktionsstätten und gründete neue Gesellschaften, deren Produktionsprogramm von Kunstharzen über Polypropylen bis zu Feinchemikalien reichte. So errichteten Hoechst und der französische Mischkonzern Nobel-Bozel 1957 die S. A. Polysynthèse, der 1969 schließlich der gesamte Chemiebereich von Nobel-Bozel übertragen wurde. In diesem Zusammenhang wurde ihr Aktienkapital von 1,8 auf 29,8 Millionen FF erhöht und ihr Name in Nobel Hoechst Chimie geändert. verschiedener Hoechst Gesellschaften Ausland, Länderblätter A–L: Hoechst Belgium S. A. (01.01.1991); Hoe. Ausl. 139/Geschichte verschiedener Hoechst Gesellschaften Ausland / L änderblätter M–Z: Hoechst Portuguesa S. A.R. L. (1991). 151 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 138/Geschichte verschiedener Hoechst Gesellschaften Ausland / L änderblätter A–L: Hoechst U. K. Ltd. (01.01.1989); Lanz, Weltreisender, S. 85–87. 152 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98: Historique de la Société Française Hoechst (05.09.1985); Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 120 Hoechst im Ausland 1964–65: »Hoechst verstärkt das Frankreich-Geschäft«, in: FAZ , 17.07.1964, »Der Gemeinsame Markt in der Praxis«, in: Frankfurter Neue Presse, 17.07.1964; Lanz, Weltreisender, S. 67–69.

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Anfang der 1970er Jahre nutzte das Hoechst-Management seine Chance und übernahm das Joint Venture (bis 1975) vollständig. Hier zeigte sich erneut das typische Verlaufsmuster der Internationalisierung. Eine ähnliche Entwicklung fand bei der Société Normande de Matières Plastiques, einer 1956 gegründeten Tochtergesellschaft von Air Liquide zur Produktion von Polypropylen und Polyethylen, statt. Nachdem Hoechst 1963 ein Drittel des Aktienkapitals übernommen hatte, weitete der westdeutsche Konzern seinen Anteil 1971 auf 50 Prozent aus. Parallel versuchte er seit 1954 seine Pharmaaktivitäten in Frankreich auszudehnen, allerdings war dies mit der Auflage verbunden, vor Ort zu produzieren. Folglich gründete Hoechst mit der Société Industrielle pour la Fabrication des Antibiotiques (SIFA) die neue Gesellschaft Union Chimique Continentale (UCC), die 1956 die Pharmafirma Somédia ins Leben rief, aus der später die Laboratoires Hoechst hervorgingen. Neben den Betrieben in Lamotte, Lillebonne, Stains und L’Aigle nahm 1965 ein neu errichtetes, fünftes Werk in Dijon eine Kunstharzproduktion für Farben und Lacke auf, die sich zu einem bedeutenden Lieferanten der französischen Automobilindustrie  – vor allem von Renault  – entwickelte.153 Obschon die westeuropäischen Märkte im Zuge der europäischen Integration zusammenwuchsen, setzte Hoechst somit im benachbarten Ausland nicht alleine auf eine Exportstrategie, sondern etablierte schon während der 1950er und 1960er Jahre mehrere Produktionsbetriebe – vor allem über Joint Ventures  –, auch wenn das Auslandsengagement im Vergleich zu den 1970er Jahren noch bescheiden blieb. In Italien brachte Hoechst das Farbstoffgeschäft wieder über die von ehemaligen IG Farben-Angestellten gegründete Handelsgesellschaft Colea in Gang. Die Wiederaufnahme von Beziehungen zu ehemaligen IG Farben-Firmen und deren Beschäftigten war ein Merkmal der Internationalisierung, das nicht allein für Italien galt. Im italienischen Arzneimittelgeschäft gestaltete sich die Situation schwieriger, da die Warenzeichen als Feindeigentum sequestriert und in eine neue Gesellschaft namens Emelfa eingebracht worden waren. Auch hier fanden frühere IG Farben-Mitarbeiter wie Georg Wörn eine Anstellung. 1953/54 erwarb Hoechst die Mehrheit der Emelfa Società s.r.l. Sie wurde 1964 in Hoechst Emelfa S.p.A. und 1968 – nach Übernahme der restlichen Aktien – in Hoechst Italia S.p.A. umbenannt. Zwischen 1954 und 1968 stieg das Aktienkapital von Hoechst Italia, der in Italien der Vertrieb aller Hoechst-Produkte oblag, kontinuierlich von 15 Millionen auf eine Milliarde Lire an. Ferner erwarb Hoechst die ASCA , um die Ozalid-Produktion (Lichtpauspapier) der enteigneten IG FarbenVertretung fortzuführen. Auch in Italien waren somit die Anknüpfung an das Auslandsgeschäft vor 1945, die gemeinsame Beteiligung an Unternehmen mit 153 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98: Nobel Hoechst Chimie (1975), Laboratoires Hoechst (9/75), Historique de la Société Française Hoechst (05.09.1985); Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 138/Geschichte verschiedener Hoechst Gesellschaften Ausland / Länderblätter A–L: Société Française Hoechst-Gruppe. Seit 40 Jahren auf dem französischen Markt (o. D.).

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ausländischen Partnern und ihre vollständige Übernahme in den 1960er Jahren kennzeichnend für die Internationalisierung von Hoechst.154 Obschon die spanische Wirtschaft unter dem Franco-Regime keineswegs in der Weise prosperierte wie die übrigen westeuropäischen Staaten, schloss Hoechst noch 1951 mit der Firma Masalto, Productos Químico-Farmacéuticos S. A. in Barcelona einen Vertretervertrag für den Vertrieb pharmazeutischer Produkte ab. Ferner nahm Hoechst mit der Electro-Química de Flix S. A., einer ehemaligen IG Farben-Auslandstochter, an der Hoechst in den 1950er Jahren wieder eine Minderheitsbeteiligung erwarb, die Fertigung von Arzneimitteln auf. Erst die wirtschaftsliberalen Reformen ab Ende der 1950er Jahre zogen ein spanisches Wirtschaftswunder nach sich. Da eine Konzession als pharmazeutisches Laboratorium in Spanien zu jener Zeit nur schwer zu erlangen war, übernahm Flix die Aktien der Masalto, welche im Besitz einer solchen Genehmigung war und anschließend 1953 in Laboratorios Activión S. A. umbenannt wurde. Gleichzeitig gründete ein anderes Flix-Tochterunternehmen die Firma Activion S. A. als neue Vertriebsgesellschaft. Im Jahr 1960 wurden die Produktions- und die Vertriebsgesellschaft dann zur Hoechst Ibérica S. A. fusioniert. Hoechst hielt hieran offiziell lediglich 37,5 Prozent, während die übrigen 62,5 Prozent treuhänderisch von der Banco Comercial Transatlantico gehalten wurden. Im Jahr 1964 erteilte die spanische Regierung Hoechst schließlich die Genehmigung, das gesamte Aktienkapital in Höhe von 75 Millionen Peseten zu erwerben. Trotz der schwierigen Ausgangsbedingungen gelang es Hoechst damit auch in Spanien, bis Mitte der 1960er Jahre eine eigenständige und handlungsfähige Tochtergesellschaft aufzubauen. Da Hoechst Ibérica seit 1963 auch den Vertrieb von Farbstoffen, Chemikalien und anderen Zwischenprodukten übernommen hatte  – lediglich der Vertrieb von Hoechst-Pflanzschutzmitteln und -Stickstoffdünger oblag der Sociedad Anónima de Abonos Medem in Madrid –, zog sich Hoechst aus der Vertriebsgesellschaft Unicolor S. A. zurück, die nach 1945 das Geschäft der IG Farben-Nachfolgegesellschaften weitergeführt hatte. Hoechst veräußerte seinen Fünf-Prozent-Anteil an die beiden, mit jeweils zehn Prozent an der Unicolor beteiligten westdeutschen Konkurrenten Bayer und BASF.155 154 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 138/Geschichte verschiedener Hoechst Gesellschaften Ausland / ​Länderblätter A–L: Hoechst Italia S.p.A. (01.01.1991); Lanz, Weltreisender, S. 136–137, 144–145; Schreier / Wex, Hoechst, S. 221. Emelfa war abgeleitet von Meister (M), Lucius (L) und Farmaceutici (Fa). 155 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 115/Spanien, Hoechst Ibérica S. A. (01.06.1965), Sociedad Anónima de Abonos Medem (01.06.1965), Electro-Química de Flix S. A. (01.06.1965); Lanz, Weltreisender, S. 156–158. Unicolor arbeitete eng mit der Farbstoff-Fabrik Fabricación Nacional de Colorantes y Explosivos S. A. (FNCE) zusammen, an der die IG Farben seit 1926 hälftig beteiligt war. Im Jahr 1966 waren BASF und Bayer mit jeweils 25 % und Unicolor mit 17 % an der FNCE beteiligt; die übrigen 33 % Prozent waren in der Hand spanischer Aktionäre. Ihr Produktionsschwerpunkt lag in Herstellung von Farbmitteln, Zwischenprodukten und weiteren Hilfsmitteln. Vgl. Geschäftsbericht BASF 1966, S. 50; Puig, El crecimiento. Vgl. zur Bedeutung ausländischer Unternehmen für die Entwicklung der spanischen Chemieindustrie: Puig, Groups.

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Neben dem radikalen wirtschaftspolitischen Kurswechsel ab 1959 hin zu einer »Politik der offenen Tür« war das Land vor allem aufgrund des spanischen Beitritts zur OECD 1959 und zum GATT 1963 für ausländische Kapitalanleger attraktiv geworden. Infolgedessen stieg die Industrieproduktion zu Beginn der 1960er Jahre etwa doppelt so schnell wie der Durchschnitt der EWG -Länder. Zudem wurde die spanische Wirtschaftspolitik auf eine marktwirtschaft­ liche Ordnung ausgerichtet, um eine spätere Assoziierung mit der EWG zu ermöglichen. Im Rahmen dieser wirtschaftspolitischen Öffnung genehmigte das spanische Industrieministerium 1965 die Annahme ausländischer technischer Hilfe. Hierzu gehörte auch ein Patentvertrag in der Faserherstellung, den Hoechst mit der Industrias Químicas Textiles S. A. abschloss, sowie die Weitergabe von Wissen über optische Bleichmittel von Bayer an die Fabri­cación Nacional de Colorantes y Explosivos S. A. (FNCE). Ausländisches Kapital und Wissen waren für den ökonomischen Aufschwung Spaniens somit von hoher Bedeutung. Dies zeigte sich auch im sprunghaften Anstieg ausländischer Direktinvestitionen, die 1965 gegenüber dem Vorjahr um 75 Prozent zunahmen; Investitionen in die Chemieindustrie hatten – nicht zuletzt aufgrund der Bedürfnisse der spanischen Agrarwirtschaft  – mit 20 Prozent einen hohen Stellenwert. Vorreiter jener Entwicklung waren multinationale US -Gesellschaften, deren Anteil bei über 50 Prozent lag, gefolgt von der Schweiz; an dritter Stelle stand mit etwa zehn Prozent der ausländischen Direktinvestitionen die Bundesrepublik.156 In den USA gründete Hoechst 1953 zunächst die Intercontinental Chemical Corporation (ICC) als Beratungsgesellschaft mit einem Kapital von 20.000 US Dollar und expandierte über Beteiligungen an mehreren Vertriebsgesellschaften – Progressive Color & Chemicals Co. Inc. (1953), Carbic Color & Chemical Company Inc. (1957). Winnacker war bereits 1951 in die USA gereist, um die Möglichkeiten zur Wiederaufnahme des US -Geschäfts zu prüfen. Aufgrund der Größe des US -Marktes verfolgte er zielstrebig die Strategie, Hoechst jenen Markt wieder zugänglich zu machen. Leiter der ICC wurde anfangs Paul Klee (1903–1971), der vor dem Krieg in der IG Farben-Vertretung in den USA gearbeitet hatte, nach 1945 kurzzeitig bei Bayer tätig gewesen war und 1951 zum Vorstandsmitglied der Hoechst-Tochtergesellschaft Knapsack-Griesheim ernannt worden war. Es war vor allem Klee, der die Präsenz von Hoechst in Nordamerika vorantrieb und hierfür zunächst die Leitung der kanadischen Tochtergesellschaft übernahm. Schon 1958 konnte er nach Deutschland berichten, dass das Nordamerikageschäft alles in allem gut angelaufen sei: ICC schloss mit kleinem Gewinn ab, Carbic war über die Anfangsschwierigkeiten hinweg, und Progressive steigerte ebenfalls den Umsatz. Auch in den USA standen der Aufbau von

156 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 120 Hoechst im Ausland 1964–65: »Spanien als Anlageland« (Finanz und Wirtschaft 1965), VWD -Chemie (05.02.1965), Rolf Görtz: »Eine Fabrik in Spanien?«, in: Die Welt, 10.08.1965.

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Verkaufsorganisationen und der Absatz von Farbstoffen in den frühen 1950er Jahren somit im Vordergrund.157 Im Arzneimittelbereich schloss Hoechst hingegen mit Upjohn ein Generallizenz-Abkommen, das Upjohn das exklusive Recht zusprach, neue Pharma-Entwicklungen von Hoechst auf dem US -Markt zu verwerten. Erst 1960 entschloss sich der Hoechst-Vorstand nach intensiven Debatten von der bisherigen Lizenzstrategie im Arzneimittelgeschäft abzugehen und eigene Produktionsstätten in den USA aufzubauen. Grund für den Erwerb von Lloyd Brothers 1960 für vier Millionen US -Dollar war nicht nur die verbesserte Kapitalbasis des Konzerns; die Entscheidung lag auch darin begründet, dass die USA zu dieser Zeit der größte Arzneimittelverbraucher und der fortschrittlichste Pharmamarkt der Welt waren.158 Im Jahr 1961 wurde ICC in American Hoechst Corporation (AHC) umbenannt, womit der Name »Hoechst« wieder auf dem US -Markt präsent war. Bis zur Reorganisation von AHC 1964 fungierte diese als Holdinggesellschaft für die Vertriebs- und Fabrikationsbeteiligungen von Hoechst in den USA . In jenem Jahr wurden die Hoechst-Tochtergesellschaften Carbic-Hoechst Corporation, Hostachem Corporation (ehemals Progressive) und Hoechst Chemical Corporation, die fortan als AHC-Divisionen organisiert waren, mit AHC verschmolzen. Nachdem das genehmigte AHC-Aktienkapital noch 1953 auf 500.000  US -Dollar erhöht und bis 1959 sukzessive auf fünf Millionen US -Dollar angehoben worden war, wurde in Anbetracht der sich ausweitenden Geschäftstätigkeit von Hoechst in den USA 1960 eine weitere Erhöhung auf 15 und 1965 auf 20 Millionen US -Dollar bewilligt. Damit verfügte Hoechst Mitte der 1960er Jahre wieder über eine ansehnliche US -Tochtergesellschaft mit sechs Divisionen und etwa 1.050 Beschäftigten. AHC gliederte sich zu jener Zeit in die Hoechst Pharmaceutical Company Division (Cincinnati / Ohio), die Animal Health Division (Kansas City / Missouri), die Chemicals and Plastics Division (Mountainside / New Jersey), die Dyes and Pigments Division (Mountainside / New Jersey), die Rhode Island Works Division (Coventry / R hode Island) sowie die Research and Technical Division (New York City / New York). Damit bildete sie weite Teile der Produktpalette des westdeutschen Mutterunternehmens ab.159 Aus der HoldingGesellschaft ICC mit lose verbundenen Unternehmen hatte sich bis 1978 eine operative Koordinationszentrale mit acht Divisionen und fünf Produktionsgesellschaften entwickelt.160 157 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. / A merika / Ordner 1, Max Edgar Klee an Konrad Weil (10.11.1958), American Hoechst Corporation (30.08.1967); »Max Edgar Klee, an industrialist«, in: New York Times, 05.11.1971; Lanz, Weltreisender, S. 410–412; Schreier / Wex, Hoechst, S. 220; Vlaanderen, Hoechst, S. 11, 25–32. 158 Lanz, Weltreisender, S. 412–419. 159 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl.  /  A merika  /  Ordner 1, American Hoechst Corporation (30.08.1967); Vlaanderen, Hoechst, S. 32–35. 160 Vlaanderen, Hoechst, S. 13.

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Darüber hinaus kontrollierte AHC seit 1960 mehrheitlich den Druckplattenhersteller Azoplate Corporation, mit dem man gemeinsam mit der deutschen Hoechst-Tochtergesellschaft Kalle AG die Reproduktionstechnik im Konzern stärkte. Ferner übernahm AHC 1962 die Aktien der Hoechst Uhde Corporation und gründete 1964 mit der Stauffer Chemical Company das 50 : 50 Joint Venture Stauffer Hoechst Polymer Corporation, um Polyester-Schlauch- und PVC-­Folien herzustellen. Im Jahr 1970 wurde auch dieses Gemeinschaftsunternehmen vollständig von Hoechst übernommen und bildete die Basis für die spätere Film Division von AHC .161 Auffällig am Wiederaufbau des Auslandsgeschäfts in den USA waren die vor allem individuell geprägten Verbindungen zu früheren Beschäftigten der IG Farben-Gesellschaften. Klee war 1930 in die Finanzabteilung der General Aniline Works eingetreten, die ein Jahr zuvor mit anderen IG Farben-Beteiligungen in den USA unter dem Dach der American IG Chemical Corporation – wenig später in General Aniline & Film (GAF) umbenannt – zusammengefasst worden waren. Auch Harry Wilhelm Grimmel war 25 Jahre bei der GAF und ihren Vorgängerfirmen tätig, bis er 1948 eine eigene Farbenfabrik in Rhode Island (Metro Dyestuff Corporation) eröffnete, welche 1954 von Hoechst übernommen wurde und den Grundstein für die Rhode Island Works legte. Im Fall von Azoplate bestanden ebenso enge Beziehungen nach Deutschland. Der Mitbegründer und Präsident von Azoplate, Wilhelm Friedrich von Meister (1903–1978), war ein Enkel eines Begründers von Meister, Lucius & Co. bzw. der Farbwerke Hoechst. Jene Beziehungen verweisen auf die Bedeutung personaler Netzwerke sowie auf die Erfahrungen und das Wissen einzelner Personen hinsichtlich der Beschaffenheit des US -Marktes, zu denen das Hoechst-Management aufgrund einer gemeinsamen Vergangenheit Vertrauen hatte. Persönliche Beziehungen hatten hier oftmals eine Brückenfunktion. In vielen Fällen bestanden zudem langjährige Geschäftsbeziehungen. Neben der Möglichkeit über Joint Ventures mit US -Konzernen auf den Markt vorzustoßen, war jenes Kontaktfeld zentral für den Wiederaufbau lokaler Vertriebs- und Produktionsstrukturen.162 Im Vergleich zu den US -Chemiekonzernen blieb das Hoechst-Engagement in den USA bis in die 1960er Jahre gleichwohl bescheiden. Nach Angaben des AHC -Präsidenten Dieter zur Loye war es bis Mitte der 1970er Jahre wichtig, 161 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. / A merika / Ordner 1, Azoplate Corporation (30.08.1967), Stauffer Hoechst Polymer Corporation (30.08.1967), Hoechst Uhde Corporation (30.08.1967); Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 139/Geschichte verschiedener Hoechst Gesellschaften Ausland / L änderblätter M–Z: USA (1975); Vlaanderen, Hoechst, S. 47–53, 68–75. Das 1921 gegründete Anlagenbau-Unternehmen Uhde wurde aufgrund seiner Kenntnisse in der Ammoniakherstellung und Hochdrucktechnik 1952 von Hoechst übernommen. Die frühere Uhde-US -Tochtergesellschaft »The Uhde Corporation« wurde 1959 in »Hoechst-Uhde Corporation« umbenannt. 162 Lanz, Weltreisender, S. 410–411; Kleinschmidt, Blick, S. 310–311; O’Reilly, I. G. Farbenindustrie; Vlaanderen, Hoechst, S. 25, 28, 47. Die 1953 erworbene Progressive war ebenfalls von einem deutschstämmigen Geschäftsmann, Adolf Kuhl, geleitet worden.

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überhaupt auf dem US -Markt präsent zu sein, in einer darauffolgenden Phase bis Mitte der 1980er Jahre habe man versucht, am Markt zu bestehen, und erst seitdem sei es das Ziel, ähnlich hohe Profite wie die US -Konkurrenz zu erwirtschaften.163 Auch Winnacker glaubte in den 1950er Jahren noch nicht an hohe Gewinne in den USA, gleichwohl sah er es als notwendig an, auf diesen großen Markt vorzustoßen, auch aufgrund der US -Konkurrenz in Westeuropa. »Die Amerikaner machen in umgekehrter Richtung eine Art Kolonialpolitik, die uns in den nächsten Jahren viel zu schaffen machen wird. Wir werden von Deutschland aus eingehen, wenn wir uns nicht aufraffen, und sozusagen in unserer Höhle ausgeräuchert.«164 Obschon der Schwerpunkt der Auslandstätigkeit von Hoechst nach 1945 in Westeuropa sowie den latein- und nordamerikanischen Staaten lag, investierte das Unternehmen in den 1950er Jahren – wenn auch in kleinerem Umfang – in Asien. In Indien kooperierte Hoechst mit einheimischen Unternehmen wie auch mit seinen westdeutschen Konkurrenten. So war die 1957 gegründete Hoechst Pharmaceuticals Ltd. (HPL) ein Joint Venture von Hoechst und der indischen Mallya-Gruppe. Da die indische Regierung nicht nur den Import von Medikamenten, sondern auch von Arzneirohstoffen beschränkte, war der Anteil importierter Rohstoffe am Rohmaterialeinsatz bei HPL verschwindend gering. Die indische Pharmapolitik zielte auf eine nationale Selbstversorgung mit Arzneimitteln, die den Staatsunternehmen und einheimischen Firmen eine führende Rolle zuschrieb und die Handlungsmöglichkeiten ausländischer Gesellschaften enorm einengte. Neue Produkte und Zubereitungsverfahren mussten genauso wie die Herstellungsmenge und Preise genehmigt werden. Sowohl die Produktion als auch der Marktzugang unterlagen somit zahlreichen Restriktionen. Für die Herstellung und den Vertrieb von Kunststoffen setzte Hoechst ebenfalls auf die Zusammenarbeit mit einheimischen Unternehmen und errichtete 1961 mit der im Textilgeschäft tätigen, indischen Mafatlal-Gruppe das Gemeinschaftsunternehmen Hoechst Dyes & Chemicals. Zwei Jahre zuvor, 1959, hatte Hoechst im Farbstoffbereich mit Bayer und Wacker Chemie die Colour Chem Ltd. gegründet. Neben der Kooperation mit einheimischen Firmen stellte das gemeinsame Vorgehen westdeutscher Unternehmen im Ausland ein weiteres Charakteristikum der Internationalisierung nach 1945 dar.165 Im Falle Japans ließen Importrestriktionen und fehlende Kontakte zur Abnehmerindustrie sowohl eine Exportstrategie als auch den Aufbau eigener Produktionsstätten wenig aussichtsreich erscheinen. Daher bemühte sich das Hoechst-Management hier um die Errichtung von Gemeinschaftsunternehmen. Im Jahr 1952 gründete Hoechst mit der Grodtmann-Gruppe (45 %) und Liebermann, Waelchli & Co. (30 %) die in der Schweiz ansässige Dyestuffs & Chemicals 163 Wengenroth, German Chemical Industry, S. 152–155. 164 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. / A merika / Ordner 1, Winnacker an Weil (02.08.1959). 165 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 58 I / Hoechst G-Beteiligungen im Ausland / L änder A–Z/​ 4. Asien: Hoechst in Indien (1982), Bombay (o. D.); Lanz, Weltreisender, S. 295–298.

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Trading Co. Ltd. als Handelsunternehmen, welches im Folgejahr unter dem Namen Hoechst Dyestuffs & Chemicals Trading Co. Ltd. (HDCT) den Verkauf von Hoechst-Produkten in Japan aufnahm. Die Firma Johann Grodtmann war von 1895 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges für den Vertrieb von HoechstFarbstoffen – später auch weiterer IG Farben-Produkte – in China und Japan zuständig. Während das China-Geschäft seit Gründung der Volksrepublik keine Bedeutung mehr hatte, versuchte Hoechst nach dem Krieg möglichst schnell wieder auf den vielversprechenden japanischen Markt vorzustoßen. Hierzu verständigte sich Hoechst 1954 mit der Kowa Company Ltd. auf die Gründung des 50:50 Joint Ventures Nippon Hoechst K. K. (gegründet 1956) zur Pharmafertigung; 1962 folgte ein 50:50 Joint Venture (Hoechst Gosei K. K.) mit Nippon Gōsei K. K. zur Produktion und zum Vertrieb von PVA-Dispersionen; und 1967 beteiligten sich Hoechst und Mitsubishi Chemical Industrie Ltd. jeweils hälftig an der Kasei Hoechst K. K. zur Herstellung von Remazol-Farbstoffen. Schließlich übernahm ab 1966 die neu gegründete Hoechst Japan Ltd.  – das erste eigenständige Tochterunternehmen von Hoechst in Japan – den Vertrieb sämtlicher importierten wie auch lokal hergestellten Hoechst-Produkte. Indem Hoechst auf diese Weise den Vertrieb zusammenlegte, verbesserte das Unternehmen seine Zugangschancen auf den japanischen Markt. Gleichzeitig zeigt sich hier erneut das Muster zur Zentralisierung der Landesgesellschaften.166 Nahezu zeitgleich erwarb die HDCT 1965/66 gemeinsam mit der neu gegründeten Hoechst Finanz-Holding S. A. in Luxemburg die Immobiliengesellschaft Empire Real Estate Co. Ltd., welche im Besitz des von Hoechst in Akasaka / Tokio genutzten Bürogebäudes war. Bemerkenswerter als jenes eigentumsrechtliche Detail ist die zunehmende internationale Kapitalverflechtung, welche über multinationale Finanzinstitute und Unternehmen – und eben auch über Industriekonzerne wie Hoechst – seit den 1960er Jahren hergestellt wurde.167 Hoechst hatte die Verschiebung von Beteiligungen in ausländische Holdinggesellschaften zunächst zurückgestellt, um die Vorteile der Entwicklungshilfe-Steuergesetze und die Abschreibungsmöglichkeiten für Anlaufverluste nicht aufgeben zu müssen. Nachdem jene steuerlichen Bestimmungen für die ausländischen Beteiligungen von Hoechst jedoch Mitte der 1960er Jahre entfallen waren, wurden zahlreiche Auslandsbeteiligungen auf die Finanzholdings in Zürich und Luxemburg verschoben. Die Farbwerke Hoechst Investment AG in der Schweiz war 1962 gegründet worden. Die ausländischen Finanzholdings sollten aber nicht nur die Beteiligungen verwalten, sondern den Konzern auch finanziell entlasten, indem sie zinsgünstige Mittel zur Finanzierung der Hoechst-Auslandsprojekte 166 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 74/Japan, Hoechst Japan Ltd. (15.09.1967), Nippon Hoechst Ltd. (15.09.1967), Hoechst Gosei K. K. (15.08.1967), Kasei Hoechst K. K. (15.09.1967), »Hoechst in Japan«, in: Im Blickpunkt. Beilage zum Mitarbeiterbrief für Führungskräfte 1/1991; Hoechst Gruppe in Japan (April 1988); Lanz, Weltreisender, S. 265–267. 167 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 74/Japan, Empire Real Estate Co. Ltd. (15.09.1967), Hoechst Gruppe in Japan (April 1988).

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auf ausländischen Kapitalmärkten beschafften. Damit entwickelten sich die Finanzholdings seit den 1960er Jahren zu einem unverzichtbaren Bestandteil der Auslandsexpansion.168 Dies galt nicht nur für Chemiekonzerne, sondern ebenso für andere international tätige Unternehmen wie Siemens oder AEG.169 Im Jahr 1970 wurde schließlich in Willemstad auf der karibischen Insel Curaçao – Teil der niederländischen Antillen – die Hoechst Investment and Finance N. V. zur Auslandsfinanzierung gegründet. Im Unterschied zu den 1950er Jahren, als die Kapitalbasis vieler westdeutscher Unternehmen infolge des Zweiten Weltkriegs noch schmal war und ausländische Finanztöchter  – wie die Bayforin – primär der Kapitalbeschaffung im Ausland dienten, gewann die Frage der Besteuerung in den 1960er Jahren bei der Gründung von Investment- und Finanzgesellschaften zunehmend an Bedeutung. Nach einem Steuerabkommen zwischen den USA und den niederländischen Antillen mussten Gesellschaften in den USA mit Sitz in Curaçao ihre Dividenden nicht mit dem üblichen US -Satz von 30 Prozent, sondern lediglich mit 15 Prozent besteuern.170 In den Niederlanden selbst investierte Hoechst in den 1960er Jahren ebenfalls erhebliche Mittel. Nachdem Hoechst 1950 nach bewährtem Muster eine Minderheitsbeteiligung an einer Vertriebsgesellschaft erworben hatte, deren Kapital 1965 hälftig und 1973 vollständig übernommen wurde, gründete der Konzern 1966 die Hoechst Vlissingen N. V., welche ab 1968 eine energieintensive Phosphorproduktion aufnahm. Die Phosphor-Nachfrage war in den vorangegangenen Jahren aufgrund des Bedarfs der Waschmittelindustrie beträchtlich gestiegen und konnte auch durch die erweiterten Anlagen des Hoechst-Werks Knapsack nicht mehr befriedigt werden. Ähnlich wie Antwerpen erwies sich 168 Hoechst-Archiv, H0046059 Auslandsorganisation, Memorial Amtsblatt des Großherzogtums Luxemburg: Hoechst Finanz-Holding S. A. (26.07.1967), Finanzierung Ausland (14.11.1966); Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 139/Geschichte verschiedener Hoechst Gesellschaften Ausland / L änderblätter M–Z: Schweiz (01.01.1987). Der Luxemburger Finanzplatz gewann in den 1960er Jahren enorm an Attraktivität. Mit der Etablierung der Finanz-Holding wurde die Anwaltskanzlei Paul Elvinger, André Elvinger und Jean Hoss beauftragt, deren Teilhaber (André Elvinger) bereits dem Verwaltungsrat der BASF-Holding in Luxemburg angehörte. Vgl. Hoechst-Archiv, H0046059 Auslandsorganisation, Jedzig zur Luxemburger Holding (18.07.1966). Noch 1966 wurde der Luxemburger Finanz-Holding eine Schweizer Anleihe in Höhe von 578 Mio. LF (etwa 45 Mio. DM) zur Verfügung gestellt, so dass sie in jenem Jahr Darlehen in Höhe von 614 Mio. LF (etwa 48 Mio. DM) an Konzernunternehmen vergeben konnte. Vgl. Hoechst-Archiv, H0046059 Auslandsorganisation, Hoechst Finanz-Holding S. A. Bilanz 1966. 169 Siemens verfügte 1973 über die »Siemens Europa Finanz AG« in Luxemburg, die »Siemens Beteiligungen AG « und die »Merkur Finanz AG « in der Schweiz, die »Siemens Overseas Investments Ltd.« in Kanada sowie die »Siemens Western Finance N. V.« auf den niederländischen Antillen (Willemstad / Curaçao). AEG hatte in Luxemburg die »AEG -Finanz-Holding S. A.« sowie in der Schweiz die »AEG -Telefunken International AG « und die »AEG -Telefunken Interfinance AG « gegründet. Vgl. Kisker, Konzerne, S. 38–41. 170 Gerken / Märkt / Schick, Steuerwettbewerb, S.  104; Schreier / Wex, Hoechst, S.  291; Schlesinger, Rudolf H.: Steuerparadies in Curaçao, in: Die Zeit, 28.06.1963.

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Vlissingen aufgrund niedriger Energiepreise, seiner frachtgünstigen Verkehrslage an einem Seehafen sowie der vorteilhaften Arbeitsmarktlage als günstiger Produktionsstandort, der enger als andere Auslandsinvestitionen mit den westdeutschen Produktionsstrukturen verbunden wurde. Der Entschluss des Hoechst-Managements, in Vlissingen Gelände zu erwerben, wurde aber vor allem durch die vertraglich abgesicherte Verpflichtung des niederländischen Staates befördert, das Gelände aufzuspülen und einen Hafen für Binnenschiffe anzulegen, der einen Weitertransport über Rotterdam ermöglichte. In diesem Entgegenkommen zeigte sich der zunehmende, besonders durch multinationale Unternehmen hervorgerufene Wettbewerb zwischen europäischen Produktionsstandorten. Angesichts nachlassender Wachstumsraten, rückläufiger Staatseinnahmen und steigender Arbeitslosenzahlen konkurrierten staatliche Instanzen vermehrt um Industrieansiedlungen und läuteten damit eine neue Phase im internationalen Standortwettbewerb ein. Noch vor der ersten Ölpreiskrise hatten die drei großen westdeutschen Chemiekonzerne BASF, Bayer und Hoechst damit an den infrastrukturellen Knotenpunkten Antwerpen und Vlissingen Produktionsstandorte eröffnet.171 Insgesamt entwickelte sich das Auslandsgeschäft von Hoechst schon in der Zeit zwischen 1952 und 1965 dynamischer als das Inlandsgeschäft – der Auslandsumsatz stieg in dieser Phase mehr als doppelt so stark, allerdings von einem recht niedrigen Niveau ausgehend. Der Export aus inländischen Produktionsstätten betrug 1952 169 Millionen DM, die Auslandsproduktion lediglich eine Million DM . Bis 1965 verzehnfachte sich der Export auf über 1,6 Milliarden DM; noch stärker wuchs die Auslandsproduktion auf 582 Millionen DM, die damit etwa ein Viertel zum Auslandsumsatz beitrug. Hier zeigte sich bereits die graduelle Transformation des Auslandsgeschäfts von Verkaufsorganisationen zu Produktionsstätten.172 Gleichwohl war 1965 auch noch der Großteil der in ausländischen Gesellschaften tätigen Personen  – etwa 6.500 von 10.000  – in Vertriebsorganisationen beschäftigt. Dies verweist auf die Exportstrategie in den ersten Nachkriegsjahrzehnten, die typisch für die gesamte Branche war und nicht zuletzt aus der begrenzten Größe des westdeutschen Marktes resultierte.173 Hoechst durchlief die unterschiedlichen Phasen der Internationalisierung, wie sie im Uppsala-Modell beschrieben werden – von der Erfahrungssammlung am Heimatmarkt über den Export bis hin zu ausländischen Produktionsstätten – nach 1945 im Parforceritt.174 Marktspezifisches Wissen erklärt nur einen 171 Geschäftsbericht Hoechst 1966, S. 27–28; Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 120 Hoechst im Ausland 1964–65: »Hoechst geht nach Holland«, in: Börsenzeitung, 04.12.1965, »Hoechst has major plans for Benelux. Hoechst phosphorus plant for Benelux«, in: European Chemical News, 10.12.1965; Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 138/Geschichte verschiedener Hoechst Gesellschaften Ausland / Länderblätter A–L: Hoechst Holland N. V. (01.01.1991); Mittmann, Industrie, S. 287–289. 172 Bartmann, Pharmabereiche, S. 263–265. 173 Chandler, Industrial Century, S. 134–138; Geschäftsbericht Hoechst 1965, S. 16–17. 174 Johanson / Vahlne, Learning.

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Teil dieser raschen Expansion. Die Wiedereroberung ausländischer Märkte war vor allem durch die Erfahrungen und Kontakte aus der Zeit vor 1945 sowie durch die zeitgenössischen Erwartungen gegenüber zukünftigen Marktentwick­ lungen gekennzeichnet. Dabei blieb der Auslandsumsatz bis 1965 noch unter der 50-Prozent-Marke. Erst ab Ende der 1960er Jahre stieg er wesentlich stärker an, erreichte bis 1975 zwei Drittel des Gesamtumsatzes und verdeutlicht damit den Bedeutungsgewinn der Auslandsmärkte am Ende des europäischen Nachkriegsbooms.175

2.2.3 AKU / VGF Im Vergleich zu den IG Farben-Nachfolgern gestaltete sich die Situation für AKU / VGF nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich anders, denn die Frage der Vermögenskonfiskation im Ausland stellte sich hier in abgewandelter Form. Die VGF-Leitung hatte im August 1939 einen Vertrag mit AKU ausgehandelt, der den deutschen Einfluss auf die Besetzung der im Deutschen Reich gelegenen Verwaltungsstellen sicherte und damit der Zielsetzung der politischen Machthaber entsprach.176 Nur wenige Wochen später wurde der Vertrag als Folge des Kriegsausbruchs erneut geändert, denn die AKU-Leitung befürchtete, die Westmächte könnten die in ihren Territorien gelegenen AKU-Betriebe als Feindvermögen behandeln. Folglich schieden sowohl die deutschen Mitglieder aus den Leitungsorganen der AKU als auch die niederländischen aus Vorstand und Aufsichtsrat der VGF aus. Nach der Besetzung der Niederlande im Mai 1940 traten die deutschen Vertreter wieder in den Vorstand und den Aufsichtsrat der AKU ein. Gleichzeitig übernahm die Deutsche Bank über ihre Amsterdamer Tochtergesellschaft Handel-Maatschappij H. Albert De Bary & Co. AKU-Aktien an der Amsterdamer Börse, die teilweise einem aus der Deutschen Bank (10 %) und der VGF-Tochtergesellschaft Spinnfaser AG in Kassel (90 %) bestehenden Konsortium übertragen wurden. Nach dem Aktienumtausch 1929 lagen etwa 60 Prozent des Stammkapitals in deutschen Händen. Dieser Anteil war zwischen 1931 und 1937 infolge der Devisenbewirtschaftung laut Hermann Josef Abs auf etwa 30 Prozent gefallen. Während des Krieges stieg der Anteil deutscher AKU-Aktionäre hingegen wieder auf über 50 Prozent an. Gleichwohl blieb die Kontrolle der AKU den Besitzern der Stammaktien weitgehend entzogen, da die Besetzung der Führungspositionen weiterhin an die paritätisch zwischen der niederländischen und der deutschen Gruppe verteilten nom. 48.000 hfl. Prioritätsaktien gebunden war.177

175 Geschäftsbericht Hoechst 1970, S. 72–73; Geschäftsbericht Hoechst 1975, S. 78; »Deutsche Firmen bauen mehr im Ausland«, in: Handelsblatt Nr. 177, 16.09.1970, S. 10. 176 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 63–65. 177 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 66–83, 114.

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Grundkonstellationen der Internationalisierung in der Chemieindustrie

Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges endete der deutsche Einfluss auf die

AKU zunächst vollständig. Damit stellte sich zugleich die Frage, wer die Kon­ trolle über die VGF erlangen sollte. Die in deutschem Besitz befindlichen AKU-

Aktien im Wert von nom. 63,5 Mio. hfl. wurden aufgrund der niederländischen Feindvermögensgesetzgebung ebenso enteignet wie die nom. 24.000 hfl. AKUPrioritätsaktien der deutschen Gruppe. Die zwischen AKU und VGF geschlossenen Verträge wurden für nichtig erklärt, zudem untersagte man den deutschen Mitgliedern eine Mitwirkung in den Leitungsorganen der AKU. Damit war das bisherige deutsch-niederländische Unternehmensmodell nicht mehr existent. Nach intensiven Verhandlungen einigten sich beide Seiten darauf, den 1949 neu gebildeten VGF-Aufsichtsrat paritätisch mit deutschen und niederländischen Vertretern zu besetzen und ein niederländisches Mitglied in den VGF-Vorstand zu wählen. Neben der Leitungs- war auch die Eigentumsfrage zu klären. Mit der niederländischen Feindgesetzgebung war für den AKU-Besitz in den Niederlanden zwar eine verbindliche Rechtsgrundlage geschaffen worden, doch hiergegen machten deutsche AKU-Aktionäre Ansprüche auf Rückgabe bzw. Entschädigung geltend. Zudem war noch ungeklärt, wie AKU / VGF-Eigentum in den Besatzungszonen und im Ausland behandelt werden sollte. Insbesondere war die Frage offen, ob es sich bei den im Ausland gelegenen Fabriken um deutsches oder niederländisches Eigentum handelte. Während der AKU in Großbritannien die Möglichkeit eingeräumt wurde, ihre Tochtergesellschaft Britenka Ltd. zurückzukaufen, musste AKU in den USA auf ihre Mehrheitsbeteiligungen an den VGF-Gründungen North American Rayon und American Bemberg verzichten und obendrein 400.000 US -Dollar zahlen. Im Gegenzug erhielt sie ihre Aktienmehrheit an der Amerenka vollständig zurück.178 Bereits 1949 hatten VGF und AKU wieder ein Gentleman Agreement über die technische Zusammenarbeit auf dem Viskosegebiet geschlossen, um international konkurrenzfähig zu bleiben. Die eigentlichen Verhandlungen über die Neugestaltung der deutsch-niederländischen Unternehmensbeziehungen setzten aber erst 1951 ein und führten 1953 zu einer Neuregelung, wonach die AKU aus ihrem Besitz nom. 20 Mio. VGF-Stammaktien an ein westdeutsches Bankenkonsortium unter Führung der Deutschen Bank gegen Zahlung von 13,5  Mio. hfl. abgab, welches die Aktien früheren AKU-Aktionären und anderen Interessenten anbot. Zudem wurden alle Vorkriegsaktionäre der AKU (ca. 31 % des AKU-Kapitals), deren Aktien von niederländischer Seite enteignet worden waren, pro nom. 1.000 hfl. AKU-Aktie mit einem Barbetrag von 300  DM von der VGF entschädigt. Damit hielt AKU nach wie vor über 75 Prozent des VGF-Aktienkapitals. Darüber hinaus vereinbarten beide Seiten, die Meinungsverschiedenheiten über den Fortbestand der Verträge von 1929 für die Dauer des neuen zehnjährigen Vertrages ruhen zu lassen. Damit hatte man zwar einen Modus Vivendi gefunden, das eigentliche Problem hinsichtlich der Eigentumsund Verfügungsrechte aber nicht gelöst. 178 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 84–104.

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Zehn Jahre später musste das Verhältnis der beiden Konzernteile deshalb neu diskutiert werden. Im VGF-Vorstand hielt man an der bisherigen Konstruktion  – vier Deutsche und ein niederländischer Vertreter der AKU  – fest. Im VGF-Aufsichtsrat gestaltete sich dies schwieriger. Da das neu erlassene Betriebsverfassungsgesetz den Belegschaftsvertretern ein Drittel der Aufsichtsratsmandate zusicherte, verständigten sich die niederländische und die deutsche Leitungsebene darauf, Parität lediglich zwischen den Kapitaleignern herzustellen und im Falle von Entscheidungen, bei denen der niederländischen Gruppe vertraglich ein Veto zustand (bspw. bei internationalen Fragen), Parität durch entsprechendes Abstimmungsverhalten der deutschen Mitglieder herzustellen. Ziel der deutschen Seite war eine möglichst selbstständige Führung des deutschen Konzernteils, da ihr eine Mitwirkung in der Führung der niederländischen Konzernmutter AKU versagt blieb. Hierfür übertrug die VGF den vier deutschen Kapitalvertretern im Aufsichtsrat jeweils nom. 10.000 DM Vorzugsaktien mit 24-fachem Stimmrecht, die bei Ausscheiden an den Nachfolger zu übertragen waren. Zudem koordinierten die Mitglieder der deutschen Gruppe ihr Abstimmungsverhalten und waren hierfür eigens in einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts zusammengeschlossen, deren Vorsitzender bis zu ihrer Auflösung 1969 der gleichzeitig amtierende Aufsichtsratsvorsitzende Hermann J. Abs (1939–1969) war.179 nom. DM 20 Millionen VGF-Stammaktien

keine Deutschen im Aufstichtsrat und im Vorstand (Ausnahme: Abs seit 1962) 48 Prioritätsaktien (AKU-Stichting)

AKU

VGF

Stammaktien (niederländische Aktionäre)

deutsches Bankenkonsortium

Stammaktien (deutsche Aktionäre)

Abbildung 1: Neuregelung der AKU / VGF-Besitzverhältnisse (1953)

Der Siegeszug der Chemiefaser verschaffte beiden Konzernteilen während der ersten Vertragsphase enorme Wachstumsmöglichkeiten. Auch wenn das Unabhängigkeitsstreben der deutschen Seite und die niederländischen Bemühungen um eine alleinige Konzernführung zu Spannungen führten, entwickelten sich beide Gesellschaften aufgrund der steigenden Nachfrage erfolgreich. In einer Zusatzvereinbarung 1959 verständigten sich AKU und VGF ferner auf die gemeinsame Durchführung von Auslandsprojekten, u. a. in Japan, Brasilien, der Sowjetunion, der Türkei und Rumänien. Als Grundregel galt dabei, dass AKU 179 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 104–114. Vgl. zur strategischen Ausrichtung der VGF in den 1950er Jahren und ihrer Orientierung an den USA : Kleinschmidt, Company; Kleinschmidt, America.

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Grundkonstellationen der Internationalisierung in der Chemieindustrie

die Auslandsaktivitäten des Konzerns vertrat. Nur in Ausnahmefällen – wie bei der 1965 mit der indischen Birla-Gruppe errichteten Century Enka Ltd. (AKU (22,5 %), VGF (22,5 %)) – wurde hiervon abgewichen. Dabei herrschte insbesondere im Verkaufsbereich Unsicherheit über die Abgrenzung der Interessensbereiche, so dass die 1953 getroffene Regelung nur aufgrund der hohen Nachfrage als tragfähiges Unternehmenskonzept angesehen werden konnte. Vor allem die Gründung der EWG löste bei AKU / VGF rege Betriebsamkeit aus. Offen war beispielsweise die Frage, ob eine oder zwei Verkaufsorganisationen bestehen sollten, wie der europäische Markt aufgeteilt werden sollte, und ob gemeinschaftliche Warenzeichen verwendet werden sollten. Ebenso war strittig, inwiefern eine Produktspezialisierung der einzelnen Konzernteile vorangetrieben werden sollte. Viele dieser Fragen blieben noch bis weit in die 1960er Jahre ungeklärt.180 Neben den unternehmensinternen Koordinations- und Abgrenzungsproblemen erforderte das Ende der Vertragslaufzeit  – bis zum 31. Dezember 1961 hätte eine Kündigung durch eine Partei erfolgen müssen – eine Neubewertung der Vertragsbeziehungen. Trotz partieller Differenzen überwogen nach Ansicht der beiden Leitungsgremien letztlich die Vorteile der Kooperation, so dass der Vertrag um fünf Jahre verlängert wurde.181 Nahezu zeitgleich wurde ein engeres Zusammengehen mit dem britischen Chemiefaserhersteller Courtaulds diskutiert  – immerhin hatte VGF mit Courtaulds bereits 1925 die Glanzstoff Courtaulds GmbH (GC) in Köln gegründet und 1959 vertraglich einen technischen Erfahrungsaustausch auf dem Viskosegebiet vereinbart, dem sich auch AKU anschloss. Doch zum einen waren AKU und Courtaulds weltweit auf vielen Märkten harte Wettbewerber; zum anderen erschwerte der Sitz von Courtaulds außerhalb der EWG eine Zusammenarbeit. Im Frühjahr 1964 endeten daher die Gespräche über eine Intensivierung der Beziehungen. Das Interesse von Courtaulds resultierte nicht zuletzt aus dem Eindringen großer Chemieunternehmen in das britische Fasergeschäft. Neben DuPont hatte ICI nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet synthetischer Fasern eine überaus starke Stellung gewonnen und 1961 erfolglos versucht, die Aktienmehrheit von Courtaulds zu erwerben. Eine Kooperation mit einem anderen europäischen Chemiefaserkonzern wäre für Courtaulds somit wünschenswert gewesen.182 Im Ergebnis übernahm VGF im November 1964 für 16,7 Millionen DM die 50-Prozent-Beteiligung an der GC von Courtaulds und benannte die Firma in Glanzstoff Köln GmbH um.183 Neben den Werken des VGF-Stammhauses am Unternehmenssitz 180 Geschäftsbericht Glanzstoff 1964, S. 17; Geschäftsbericht Glanzstoff 1968, S. 15; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 116–124. Zur Bedeutung des europäischen Integrationsprozesses: Marx, Europa. Auch französische Unternehmen wie Saint-Gobain mussten ihr Verhältnis zwischen Unternehmenszentrale und ausländischen Tochtergesellschaften infolge des zusammenwachsenden Marktes neu strukturierten. Vgl. Eck, Entreprises françaises, S. 435–436. 181 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 123–124. 182 Owen, Courtaulds, S, 48, 55–61; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 126–130. 183 Geschäftsbericht Glanzstoff 1964, S. 20, 24.

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in Wuppertal sowie in Kelsterbach, Oberbruch und Obernburg verfügte VGF damit Mitte der 1960er Jahre über sechs inländische Mehrheitsbeteiligungen.184 Der deutsche Unternehmensteil VGF kontrollierte zu diesem Zeitpunkt jedoch keine ausländischen Produktionsgesellschaften. Zwar war der Auslandsumsatz der VGF-Gruppe 1964 auf ca. 300 Millionen DM angewachsen, doch war dieses Ergebnis lediglich auf den gestiegenen Export zurückzuführen. Die Exportquote der VGF-Gruppe war zwischen 1960 und 1964 von 18 auf 24 Prozent geklettert; 1968 erreichte sie 34 Prozent. Dass die Unternehmensleitung Mitte der 1960er Jahre den Export weiter ausbauen wollte, spiegelte sich besonders in der Gründung ausländischer Vertriebsgesellschaften wider. Nachdem VGF 1963 ihre erste ausländische Vertriebsgesellschaft in Paris gegründet hatte, folgten 1964 entsprechende Eröffnungen in Österreich (VGF Verkaufsbüro in Österreich GmbH, Wien), Dänemark (Glanzstoff A / S, Gentofte)  und Schweden (Svenska Glanzstoff AB, Göteborg). Gleichwohl war die VGF-Produktion zu jener Zeit noch im Wesentlichen auf die westdeutsche Textil- und Bekleidungsindustrie  – inklusive der Gardinenstoffhersteller, der Teppich-, Möbelund Dekorationsstoffwebereien  – sowie auf die westdeutsche Reifenindustrie ausgerichtet. Hier erwirtschaftete das Unternehmen den Großteil seiner Umsätze. Damit unterschied sich VGF deutlich von den drei großen westdeutschen Chemiekonzernen.185 Da der AKU / VGF-Vertrag 1963 nur um fünf Jahre verlängert worden war, stand ab 1965 erneut die Frage der Fortführung im Raum. Dabei galt der Ausbalancierung der Interessen entlang nationaler Grenzen ein besonderes Augenmerk. Der deutsche Konzernteil VGF befand sich seit Ende des Zweiten Weltkrieges in einer defensiven Position und sah seine Verhandlungsmacht mit zunehmender Entfernung von der bis Kriegsende geltenden Regelung schwinden. Zwar hatte es schon zuvor Initiativen für eine engere Zusammenarbeit gegeben – Anfang 1961 hatten die beiden AKU-Vorstände Johannes Meynen und Leendert Meerburg jährlich stattfindende Konzernratstagungen eingerichtet –, doch selbst ein international gewandter Bankier wie Abs vertrat noch 1965 die Position, dass die Verantwortlichen bei AKU primär eine niederländische Position einnehmen würden. Diese stark national eingefärbten Positionen erschwerten eine Konsensfindung. Die deutsche Gruppe sah Mitte der 1960er Jahre kaum eine Chance für eine Reaktivierung des paritätischen Unternehmensmodells. Hans Joachim Schlange-Schöningen, der 1950 in die VGF-Exportabteilung eingetreten war und seit 1960 dem VGF-Vorstand angehörte, wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass jede Beschränkung der VGF im Verkauf und bei 184 Beteiligungen mit VGF -Anteil: J. P. Bemberg AG , Wuppertal-Barmen (80,8 %); Spinnfaser AG , Kassel (99,2 %); Glanzstoff Köln GmbH, Köln (100 %); Kunstseiden AG (Kuag), Wuppertal-Elberfeld (99,7 %); Barmer Maschinenfabrik AG (Barmag), Remscheid-Lennep (68,8 %); Carbosulf Chemische Werke GmbH, Köln (66,7 %). Vgl. Geschäftsbericht Glanzstoff 1964, S. 18. 185 Geschäftsbericht Glanzstoff 1964, S. 7, 10, 24; Geschäftsbericht Glanzstoff 1968, S. 7, 12.

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Auslandsprojekten angesichts der Internationalisierung der Märkte langfristig die Selbstständigkeit der VGF bedrohe.186 Trotz dieser Differenzen brachte die Kooperation nach wie vor Vorteile für beide Seiten. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der zunehmenden Konkurrenz infolge des Eindringens großer Chemiekonzerne wie DuPont, ICI, Monsanto, Bayer oder Hoechst auf den Chemiefasermarkt kamen Vits, Schlange-Schöningen, Meynen und Meerburg im Oktober 1965 zu dem Schluss, dass ein gemeinsames Vorgehen auch in Zukunft sinnvoll sei. Daraufhin erarbeitete der VGF-Vorstand bis Februar 1966 ein Memorandum aus, das eine engere Zusammenarbeit von AKU und VGF in der Rohstoffversorgung, der Produktion und dem Vertrieb vorsah. Im Unterschied zu den vorwärts integrierenden Chemiekonzernen hatte sich AKU / VGF in der Vergangenheit aufgrund niedriger Rentabilitätserwartungen ganz bewusst gegen eine Rückwärtsintegration entschieden. Angesichts der Caprolactam-Kapazitätserweiterungen von BASF und Bayer hielt man hieran auch Mitte der 1960er Jahre fest. Zudem glaubte die VGF-Leitung sich gegenüber der BASF in einer Sonderstellung zu befinden. Die BASF belieferte die westdeutschen VGF-Werke seit Jahrzehnten mit Caprolactam und AH-Salz und räumte der VGF hierbei Vorzugspreise ein. Abs hatte zudem dafür gesorgt, dass der BASF-Vorstandsvorsitzende Carl Wurster ab 1957 dem Aufsichtsrat der VGF angehörte. Diese Allianz gründete auf dem Umstand, dass die BASF der VGF im Gegensatz zu Bayer und Hoechst keine Konkurrenz bei der Chemiefaserherstellung machte. Doch erwies sich diese Position für die BASF auf Dauer als unbefriedigend, so dass der Ludwigshafener Konzern Interesse an einer Kapitalbeteiligung zeigte. Auch von Seiten der VGF bestand hieran Interesse. Folglich brachte Vits den Gedanken ins Spiel, der BASF eine 25-Prozent-Aktienbeteiligung an VGF oder AKU zu überlassen. Doch die niederländische AKU-Führung lehnte sowohl eine solche Aktienabgabe als auch Bezugsverpflichtungen für die Konzernwerke in den Niederlanden und den USA ab. Hintergrund dieser Entscheidung waren feste Vertragsverbindungen der AKU mit dem niederländischen Rohstoff- und Chemieunternehmen De Nederlandse Staatsmijnen (DSM), von dem die AKU-Werke ihren Caprolactam-Bedarf bezogen, sowie das mit der American Oil Company (Amoco) im Juni 1964 in Betrieb genommene Gemeinschaftsunternehmen N. V. Petrochemie AKU-Amoco in Delfzjil, das die Rohstoffe für die AKU-Polyesterproduktion bereitstellte. Auch die Idee, neue Rohstoffe nur gemeinsam mit der BASF zu verspinnen, fand nicht die Zustimmung der AKU-Führung und so scheiterten die Verhandlungen im November 1964. Die »besonderen« Beziehungen der VGF zur BASF kamen damit langsam an ihr Ende – spätestens mit der Übernahme der Phrix-Werke durch die BASF 1968. Bereits ein Jahr zuvor 1967 war Wurster aus dem VGF-Aufsichtsrat ausgeschieden. Hier zeigte sich, dass die strategischen Überlegungen der VGF nicht aufgegangen waren. Auch die BASF wollte sich nun auf dem Chemiefasermarkt etablieren. Die Lieferant-Abnehmer186 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 120, 131–132.

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Beziehung zwischen BASF und VGF wurde daher zunehmend durch das Konkurrenzverhältnis auf dem westdeutschen Chemiefasermarkt überschattet.187 Angesichts der gescheiterten Kooperationspläne und der sich verschärfenden internationalen Konkurrenz blieb der VGF nur eine engere Verzahnung mit der AKU. Das VGF-Memorandum sah hierfür die Schaffung optimaler Betriebsgrößen  – konkret nur eine einzige europäische Produktionsstätte für jedes Produkt  – sowie eine einheitliche Typen- und Preispolitik für neue Erzeugnisse vor. Eine Zusammenfassung der Vertriebsorganisationen oder etablierten Marken wurde hingegen als unzweckmäßig angesehen. Als Argument gegen eine vollständige Zusammenführung brachte VGF hervor, dass die Produkte beider Gesellschaften nicht beliebig austauschbar und die Marken international etabliert seien. Falls AKU und VGF seitens der Kunden nicht mehr als getrennte Lieferanten behandelt würden, sei mit einem Verlust von Marktanteilen zu rechnen. Die Führungsrolle in der westdeutschen Chemiefaserindustrie drohte dann an Hoechst oder Bayer zu fallen. Inwieweit derartige Konsequenzen realistisch waren, ist aus der Retrospektive schwer zu beurteilen. Zweifellos zeigen die vorgebrachten Forderungen aber die von den Akteuren wahrgenommene Notwendigkeit, ihr Unternehmen in einen größeren Verbund zu integrieren, um international wettbewerbsfähig zu bleiben. Letztlich stimmten Vits und der seit 1966 neu amtierende AKU-Vorstandsvorsitzende Klaas Soesbeek sowie gewichtige Persönlichkeiten des Aufsichtsrats darin überein, dass eine Vertiefung der AKU / VGF-Beziehungen wie auch eine Zusammenarbeit mit einer dritten Firmengruppe wünschenswert seien. Vor diesem Hintergrund vereinbarten beide Seiten im September 1966, von einer Kündigung des Kooperationsvertrages für weitere fünf Jahre abzusehen. Es war zugleich die letzte Vertragsverlängerung, denn bis Ende 1967 war auf beiden Seiten die Entscheidung für eine vollständige Fusion gefallen.188

2.2.4 Rhône-Poulenc Von Vermögens- und Patentverlusten infolge des Zweiten Weltkrieges war Rhône-Poulenc weit weniger betroffen. Zwar musste Rhône-Poulenc nach der Besetzung Frankreichs 1940 die Beschlagnahmung italienischer und britischer Tochtergesellschaften hinnehmen, aber nach 1945 erhielt das Unternehmen wieder rasch Zugriff auf seinen ausländischen Besitz. Insbesondere machte Rhône-Poulenc gegenüber den US -Unternehmen DuPont, Merck & Co. und Abbot Laboratoires nach dem Krieg Forderungen für Lizenzgebühren geltend. Nach einem im Mai 1946 abgeschlossenen Abkommen zwischen den USA und Frankreich erstattete die französische Regierung den Gegenwert der Lizenzgebühren abzüglich eines Anteils für Kriegsaufwendungen. Hiervon profitierte 187 Abelshauser, Neugründung, S. 531–547; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 132–135, 242. 188 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 135–138.

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neben der Muttergesellschaft Rhône-Poulenc vor allem die Tochtergesellschaft Rhodiaceta. Die teils verspäteten Dividendenzahlungen und jene Erstattungen erklären die komfortable Finanzsituation nach 1945.189 Daneben bemühte sich Rhône-Poulenc um eine rasche Revidierung der von Bayer bzw. der IG Farben aufgezwungenen Lösung hinsichtlich der in Frankreich genutzten Produktrechte. Eine während des Krieges vollzogene Kapitalerhöhung bei Théraplix wurde für gegenstandslos und die von Bayer investierten 24,4 Millionen Francs als Kompensation für Forderungen von Rhône-Poulenc an Bayer erklärt.190 Ferner zeigte Rhône-Poulenc großes Interesse, seine Position auf dem deutschen Markt wieder zu festigen. Der 1942 eingesetzte Hermann Linnemann blieb über das Kriegsende hinweg bis 1960 Leiter der Deutschen Rhodiaceta AG (DRAG), wie die Deutsche Acetatkunstseiden AG Rhodiaseta (DAR) seit 1951 hieß. Bis in die 1990er Jahre hielt die Konzernmutter an diesem Prinzip fest, den Vorstand – insbesondere den Vorsitz – mit einem Deutschen zu besetzen. Die Kontrolle über das Unternehmen wurde hingegen durch einen französisch dominierten Aufsichtsrat sichergestellt. Diese Dominanz spiegelte sich besonders auf der Kapitalseite wider, die stets den Vorsitzenden stellte, während die deutschen Belegschaftsvertreter für eine national ausgewogene Stimmengewichtung sorgten.191 Unter den ausländischen Tochtergesellschaften erlebte die DRAG eine der rasantesten Entwicklungen im Nachkriegsboom. Allein zwischen 1955 und 1961 wurde die Nylonproduktion von 1.242 auf 6.678 Tonnen gesteigert; zudem stellte die DRAG eine enorme Menge von Zigarettenfiltern her, die unter dem Markennamen »Rhiakabel« vertrieben wurden. Dies war nur durch eine Ausweitung der Beschäftigten möglich. Zwischen 1951 und 1961 wuchs die Belegschaft von 2.596 auf 3.650 Personen an.192 Darüber hinaus war Rhodiaseta an der Rottweiler Kunstseidenfabrik, einem ehemaligen Werk der IG Farben, beteiligt. Im Zuge einer Kapitalerhöhung 1948 hatte das Comptoir des textiles artificiels (CTA) 47 Prozent, die Schwäbische Zellstoff AG 25 Prozent und die Deutsche Rhodiaseta zehn Prozent des Aktienkapitals übernommen und damit den französischen Einfluss auf das Werk gesichert. Der Vorstand der 1938 gegründeten Schwäbischen Zellstoff AG, Michel Labbé-Laurent, stand exemplarisch für den französischen Einfluss auf die Schwäbische Zellstoff AG und wurde Aufsichtsratsmitglied der Rottweiler Kunstseidenfabrik. In den ersten Nachkriegsjahren gehörte die Schwäbische Zellstoff AG zu den wenigen großen französischen Auslandsbeteiligungen in Westdeutschland, bis eine deutsche Gruppe unter Führung des Bankhauses Sal. Oppenheim 1955 25 Prozent der Aktien aus französischem Besitz übernahm 189 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 146–147. 190 Ebd., S. 151–152; Lacroix-Riz, Industriels, S. 205–212. 191 Eck, Entreprises françaises, S. 19–20, 86; Geschäftsberichte Deutsche Rhodiaceta AG (1959–1977) und Rhodia AG (1978–1989). 192 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 212–213; Eck, Entreprises françaises, S. 119–120. Seit 1970 übernahm die DRAG den Vertrieb aller textilen Erzeugnisse der Rhône-Poulenc-Gruppe in der Bundesrepublik. Vgl. Geschäftsberichte Deutsche Rhodiaceta 1969.

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und sich der französische Anteil hierdurch auf eine 25-Prozent-Beteiligung der Société commerciale et d’étude pour la cellulose (CECEL) reduzierte. Im Fall der Rottweiler Kunstseidenfabrik blieb der französische Einfluss hingegen erhalten. Bis 1963 gelang es der französischen Auslandstochter von Rhône-Poulenc, Deutsche Rhodiaceta, ihren Kapitalanteil an der Rottweiler Kunstseidenfabrik auf 76 Prozent zu steigern. Die Kunstseidenfabrik fügte sich gut in die Produktpalette der Deutschen Rhodiaceta ein. Schon 1964 errichtete das Rottweiler Unternehmen eine moderne Nylonspinnerei zur Herstellung von Nylon-66-Garnen, weitete seine Belegschaft entsprechend aus und geriet – nicht zuletzt aufgrund jener Kapazitätserweiterungen – wie andere europäische Chemiefaserunternehmen in den 1970er Jahren in eine massive Absatz- und Preiskrise.193 Der Großteil der Filialen und Beteiligungen von Rhône-Poulenc war schon vor 1940 mit dem Mutterunternehmen verbunden. Besonders in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre kamen dann zahlreiche inländische Gemeinschaftsgründungen mit Firmen aus der Öl- und Chemiebranche hinzu.194 Diese Joint Ventures verweisen auf die zahlreichen Verflechtungen innerhalb der französischen Chemieindustrie sowie auf den Versuch französischer Chemiefirmen, in die Petrochemie vorzustoßen. Damit unterschieden sie sich ganz wesentlich von den westdeutschen Unternehmen. Darüber hinaus zeigt eine Reihe weiterer inländischer Gemeinschaftsunternehmen den Bedeutungsgewinn der Chemiefaser für die französische Chemieindustrie. Im Jahr 1948 gründeten Société des Usines Chimiques Rhône-Poulenc (SUCRP) (37,5 %), Rhodiaceta (40 %) und Saint-Gobain (22,5 %) den französischen Vinylfaserhersteller Rhovyl; 1955 ging aus der Interessengemeinschaft zwischen Rhône-Poulenc, Rhodiaceta und Rovatex (einer Untergesellschaft der CTA) die Firma Crylor zur Produktion von Acrylfasern hervor; und 1961 übernahm Rhodiaceta die 1954 gegründete Société Valentinoise d’Applications Textiles, um die von Péchiney entwickelte Chemiefaser Rilsan herzustellen. Gemeinschaftsgründungen erwiesen sich aus der Perspektive französischer Manager somit als probates Mittel, um der wachsenden Nachfrage und der Konkurrenz durch ausländische Anbieter zu begegnen.195 Hinsichtlich der Präsenz auf ausländischen Märkten lassen sich durchaus Parallelen zur westdeutschen Chemieindustrie erkennen. Auch im Fall von Rhône-Poulenc standen die süd- und nordamerikanischen sowie die westeuropäischen Märkte hoch im Kurs. Mit der Rhodia Argentina, der Rhodia Uruguya, der Rhodia Brasileira und der Acetica verfügte Rhône-Poulenc Ende der 1950er Jahre in drei südamerikanischen Ländern über Tochtergesellschaften. Daneben waren die Companhia Brasileira Rhodiaceta, die Fabrica de Artefados de Tecidos Valisère und die Rhodiaseta Argentina speziell für die Versorgung des 193 Eck, Entreprises françaises, S. 42–44, 98, 125–130; »Schwäbische Zellstoff wieder deutsch«, in: Die Zeit, 21.04.1955; Geschäftsbericht der Deutschen Rhodiaceta AG 1963; Hoppenstedt & Co., Leitende Männer 1953, S. 449. 194 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 181–185. 195 Aftalion, Industry, S. 282; Cayez, Rhône-Poulenc, S. 209–211.

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Chemiefasermarkts zuständig. Ergänzt wurde das brasilianische Produktionsprogramm 1948 durch die Gründung der Sociedad Rhodosa de Raion, welche Viskosefasern und Reifengarn herstellte. Zehn Jahre später gehörte Rhodosa zu den Hauptproduzenten von Viskose in Brasilien, die infolge des Aufbaus einer umfangreichen Automobil- und Reifenindustrie durch ausländische Auto- und Reifenkonzerne stark nachgefragt wurde.196 Nicht zuletzt aufgrund der importsubstituierenden Industrialisierungspolitik vieler südamerikanischer Staaten wurde der Aufbau lokaler Produktionsanlagen notwendig. Allerdings hemmten die instabilen Währungsverhältnisse auch die französischen Auslandsgesellschaften in ihrer Entwicklung.197 Mitte der 1960er Jahre organisierte Rhône-Poulenc seine südamerikanischen Tochtergesellschaften neu und zentralisierte die Chemie- und Chemiefaserwerke unter einer einheitlichen Leitung. Die brasilianischen Firmen wurden 1965 in der Rhodia Industrias Químicas e Têxteis (RIQT) zusammengeführt, die mit über 10.000 Beschäftigten neben May & Baker die wichtigste Auslandsgesellschaft der Rhône-Poulenc-Gruppe darstellte. In ähnlicher Weise fusionierten die beiden argentinischen Tochtergesellschaften zur Rhodia Argentina Q ­ uimica y Textil. Ziel der Umstrukturierung war ein einheitlicheres Auftreten der RhônePoulenc-Gruppe auf den jeweiligen Auslandsmärkten. Generaldirektor JeanClaude Achille verzeichnete in der Folgezeit eine erfreuliche Entwicklung der südamerikanischen Beteiligungen, die der steigenden lokalen Nachfrage kaum nachkamen.198 In den USA wurde 1948 die Rhodia Inc. eröffnet, die in den Anfangsjahren vor allem auf den Vertrieb ausgerichtet war. Im Jahr 1956 erwarb sie eine Produktionsstätte von DuPont in New Brunswick (New Jersey). Ähnlich zu den westdeutschen Tochtergesellschaften in den USA waren die Ergebnisse der Firma in den 1950er Jahren jedoch ernüchternd: Im Jahr 1958 hatte Rhodia Inc. bis Jahresmitte Verluste in Höhe von über 60.000 Dollar angehäuft. Gleichwohl hielt Rhône-Poulenc an seinem US -Investment fest, um auf dem US -Markt präsent zu bleiben, und weitete seine Produktion ab Ende der 1960er Jahre sogar aus. Hierzu wurde 1969 in Freeport (Texas) eine Fabrik zur Herstellung von Vitaminen und Aromaten aufgebaut und 1970 die Veterinärdivision »Hess and Clark« des US -Pharmaunternehmens Richardson Merrell Inc. übernommen. Darüber hinaus vereinbarte Rhône-Poulenc 1964 mit dem US -Unternehmen Ives Laboratories, einer Tochtergesellschaft des US -Konzerns American Home Products (AHP) die exklusive Verwertung seiner Pharmalizenzen in den USA . Wie in einigen deutschen Fällen war die Zusammenarbeit mit einem US -Unternehmen 196 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 188–189, 215–219. Marktanteile in Brasilien: Matarazzo (50,55 %), Nitroquimica (34,39 %), Fibra (3,88 %), Rhodosa (11,18 %). 197  Geschäftsbericht Bayer 1966, S. 41; AHGS , RP.SA-BH2253-G13–1, Rhône-Poulenc S. A. Exercice 1966, S. 20–21. 198 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 251–252. Vgl. zur Biographie von Achille: https://www. whoswho.fr/decede/biographie-jean-claude-achille_906, letzter Zugriff: 09.05.2022.

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ein probates Mittel, um auf den US -Markt vorzustoßen. Gleichzeitig wurde das US -Geschäft 1964 über zwei weitere Gesellschaften ausgeweitet. Zum einen drang Rhône-Poulenc durch die Übernahme der Chipman Chemicals Company auf den US -Pflanzenschutzmarkt vor; zum anderen wurde die Morovis Manufacturing Company in Delaware gegründet, welche ein Texturierwerk in Puerto Rico betrieb. Im Rahmen einer Konzentration des US -Geschäfts zwischen 1967 und 1970 integrierte Rhône-Poulenc dann sowohl Chipman als auch Hess and Clark in die Rhodia Inc.199 In Westeuropa verfügte Rhône-Poulenc neben der Deutschen Rhodiaceta, der spanischen Sociedad Anonima de Fibras Artificiales (SAFA) und der schweizerischen Société de la Viscose Suisse – alle drei Hersteller von Kunstfasern – zudem über das 1935 mit Montecatini gegründete und im Pharmabereich tätige 50:50 Joint Venture S. A. Farmaceutici Italia (Farmitalia).200 Daneben wurde die italienische Tochtergesellschaft Rhodiaceta italiana 1950 mit dem von Montecatini kontrollierten Faserproduzenten Società elettrochimica del Toce zur »Rhodiatoce« verschmolzen. Pharmaprodukte und Chemiefasern waren somit die zentralen Produkte, mit denen Rhône-Poulenc nach dem Zweiten Weltkrieg auf die ausländischen Märkte vordrang. Hierbei nutzte Rhodiaceta insbesondere die im Lizenzabkommen mit DuPont enthaltene Möglichkeit, Unterlizenzen an seine europäischen Tochtergesellschaften zu vergeben.201 Nachdem RhônePoulenc 1961 mehrere Tochtergesellschaften in ehemaligen französischen Kolonialgebieten – Madagaskar, Senegal, Marokko – gegründet hatte, verlagerte sich die Investitionstätigkeit ab Mitte der 1960er Jahre stärker nach Westeuropa, wo Rhône-Poulenc sein europäisches Vertriebsnetz mit der Gründung von Socares in Spanien, Rhodia Hellas in Griechenland und Rhodia Nederland in den Niederlanden abrundete.202 Von weitaus größerer Bedeutung als jene Vertriebsgesellschaften war May & Baker, die Auslandstochter von Rhône-Poulenc in Großbritannien. Obschon die französische Regierung nach 1945 darauf drängte, französische Sterling199 AHGS , RP.SA BH0940-C21-1 »Rhodia Inc.» in: Rhône-Poulenc S. A. 1974. Spécial 1975, S. 8 ; Cayez, Rhône-Poulenc, S. 185–186, 250–251. 200 Die Société de la Viscose Suisse wurde 1906 in Emmenbrücke als Tochtergesellschaft der französischen Unternehmergruppe Ernest Carnot gegründet und stellte ab 1908 Zellulosefasern her. Im Jahr 1924 wurde eine weitere Fabrik in Widnau errichtet. Vgl. Danner / Müller, Emmenbrücke. Im Jahr 1923 gründete die spanische Industriellenfamilie Vilà-Marques mit Unterstützung der Gillet-Bernheim-Gruppe in Form der Société de la Viscose Suisse die spanische Gesellschaft Sociedad Anonima de Fibras Artificiales (SAFA), die 1927 ein neues Werk in Blanes in Betrieb nahm. Vgl. Gotze, Chemiefasern, S. 32; Puig, La Seda, S. 133. 201 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 186–189, 211–214; Sanofi-Archiv, RP. SA-BH2253-G13–1, Rhône-Poulenc Exercice 1961, S. 19–22. 202 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 249–250; AHGS , RP.SA-BH2253-G13–1, Rhône-Poulenc S. A. Exercice 1966, S. 22. Vgl. zur Bedeutung der EWG -Gründung und des Verlusts des französischen Kolonialmarkts für die französischen Unternehmen: Touchelay, Internationalisation.

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Investitionen zu veräußern, um ihre Kriegsschulden gegenüber Großbritannien abtragen zu können, hielt Rhône-Poulenc an dem Investment fest und schloss mit May & Baker 1946 einen neuen Vertrag über den Vertrieb ihrer Pharmaprodukte ab. Dieser beinhaltete insbesondere eine Lizenzregelung und eine Aufteilung der weltweiten Märkte. Demnach war jeweils ein Unternehmen für den Vertrieb aller Produkte in einer Reihe von Ländern verantwortlich, während beide Unternehmensteile in anderen Regionen parallel vorgingen. May & Baker, das in den vorangegangenen fünf Jahren recht eigenständig gewirtschaftet hatte und auch zukünftig weniger von seiner französischen Konzernmutter dominiert sein wollte, wurde der Verkauf seiner eigenen Produkte und derjenigen von Rhône-Poulenc im Commonwealth (mit Ausnahme Kanadas), in Skandinavien (mit Ausnahme Schwedens) und einem Teil des Mittleren und Fernen Ostens zugestanden. In den USA, Japan und einigen staatssozialistischen Staaten vermarktete May & Baker hingegen nur seine eigenen Produkte. Besonders in Kanada zeigten sich nach 1945 die Interessengegensätze der Unternehmensteile, denn beide reklamierten diesen Markt zunächst für sich. Im Unterschied zum Pharmabereich konkurrierten May & Baker und Rhône-Poulenc bei Feinchemikalien auf allen Märkten. Insgesamt umfasste die Produktpalette der britischen Tochtergesellschaft neben Feinchemikalien und Pflanzenschutzmitteln eine Reihe von Pharmazeutika, die May & Baker teils selbst entwickelte, teils übernahm die britische Tochter Patente des Mutterunternehmens. Im Antibiotikabereich nahmen May & Baker wie Rhône-Poulenc eher eine Nachzüglerposition ein. Neben den umfangreichen Produktionsanlagen in Dagenham errichtete May & Baker 1955 »auf der grünen Wiese« in Norwich ein neues Werk zur Herstellung von Pflanzenschutzmitteln (insbesondere Herbiziden), welches das Wachstum des Unternehmens in den 1950er und 1960er Jahren demonstrierte.203 May & Baker war mehr als eine gewöhnliche Auslandstochter, vielmehr versprach sich die französische Konzernleitung hiervon einen Zugang zu den Märkten der Commonwealth-Staaten. Infolgedessen veränderten die Dekolonisation und der Versuch der neu entstandenen Staaten, eine heimische Wirtschaft aufzubauen, das Verhältnis von May & Baker zu seinen Filialen und damit auch dasjenige zwischen der britischen Tochter- und der französischen Muttergesellschaft. Stärker als in der Zwischenkriegszeit musste sich May & Baker für ausländisches Kapital öffnen und zur Einhaltung von Local-ContentVorschriften ausländische Produktionsstätten einrichten. In den Jahren 1947/48 wurden Filialen in Südafrika (Port Elizabeth) und Indien (Mumbai) errichtet; weitere Tochtergesellschaften folgten bis Anfang der 1960er Jahre in Pakistan und Australien. In Indien stieg Ende der 1950er Jahre der Druck der Regierung, ein lokales, nicht-europäisches Management zu implementieren und indische Kapitalgeber zu beteiligen, dem das Unternehmen schließlich nachgab. Bis 1965 wurden 40 Prozent des Gesellschaftskapitals von May & Baker India Ltd. vom britischen Mutterunternehmen veräußert; lediglich ein Europäer verblieb in der 203 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 186–188; Slinn, May & Baker, S. 145–162, 169–170.

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Verwaltung der indischen Tochtergesellschaft. Durch die Eröffnung einer Fabrik in Bhandup, einem Vorort von Mumbai, 1961 wurde die Auslandsproduktion von May & Baker weiter gestärkt; mit 800 Beschäftigten handelte es sich bei den indischen Fabriken um die größte Auslandsproduktion von May & Baker. Infolgedessen überstieg die Fertigung in Indien Mitte der 1960er Jahre sogar die Importe aus Großbritannien. Die Auslandsproduktion wuchs somit in vielen Fällen schneller als der Export, gleichwohl büßte Letzterer seine Bedeutung nicht vollkommen ein, vielmehr stieg die Exportquote bei May & Baker von 50 Prozent 1936 auf 61 Prozent 1961. Dennoch arbeitete 1965 immerhin ein Viertel der Beschäftigten außerhalb Großbritanniens. Diese Verschiebung in Richtung ausländischer Produktionsstätten war organisatorisch nur über ein System regelmäßiger Besuche des Auslandspersonals in Dagenham und der britischen Unternehmensleitung in ausländischen Tochtergesellschaften zu bewerkstelligen. Auf diese Weise wandelten sich die Unternehmensstrukturen von May & Baker und das Verhältnis zu den ehemaligen Kolonialgebieten, gleichwohl er­achteten die britische Unternehmensleitung und die französische Konzernleitung jene Märkte nach wie vor als ihr traditionelles Absatzgebiet – ganz im Gegensatz zu westdeutschen Unternehmen, die von ihrer vermeintlichen kolonialen Unbeflecktheit profitierten.204 Anfang der 1960er Jahre zeichnete sich vor dem Hintergrund des europäischen Marktes und der internationalen Konkurrenz ein deutlicher Wandel in der Unternehmensentwicklung von Rhône-Poulenc ab. In diesem Rahmen wurde 1961 der große Chemiefaserproduzent Celtex übernommen, die Chemiebranche in Frankreich reorganisiert und die Muttergesellschaft in eine Holding umgewandelt wurde. Nachdem Rhône-Poulenc in den 1950er Jahren ein enormes Wachstum innerhalb einer stabilen Unternehmensverfassung erlebt hatte – im Wesentlichen beruhte die Unternehmensorganisation zu dieser Zeit noch auf der Gründungsstruktur aus dem Jahr 1928 –, trat der Konzern in den 1960er Jahren in eine neue unternehmenshistorische Phase ein.205 Die Entstehung eines gemeinsamen europäischen Marktes führte zu verschärften Konkurrenzverhältnissen zwischen den verschiedenen Untergesellschaften. Daneben erforderte das intensive Unternehmenswachstum eine Änderung der bestehenden Strukturen. Von besonderer Bedeutung war hierbei die Konstruktion des CTA, der Vereinigung französischer Kunstfaserhersteller, die an den meisten französischen Chemiefaserunternehmen beteiligt war. Im Jahr 1951 wurden die Beteiligungen an zahlreichen Kunstfaserproduzenten, an Cellophane sowie an einigen Finanzgesellschaften – vielfach unter der Bezeichnung Gillet-Gruppe zusammengefasst – in einer Holdinggesellschaft namens Celtex zusammengeführt. Das Portfolio der Celtex umfasste damit nicht nur 100 Prozent der CTA und der Cellophane, sondern auch zahlreiche Beteiligun204 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 186–188; Kleinschmidt / Ziegler, Dekolonialisierungsgewinner; Slinn, May & Baker, S. 163–172. 205 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 159–160.

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gen der Rhodiaceta-Gruppe. Genau hier entstand während der 1950er Jahre ein Spannungsverhältnis, denn zum einen kooperierten CTA und Rhodiaceta im Vertrieb miteinander; zum anderen war die CTA – bzw. nach ihrer Gründung die Holdinggesellschaft Celtex  – mit 50 Prozent direkt am Aktienkapital der Rhodiaceta beteiligt, die sich zu jener Zeit dynamischer als die Muttergesellschaft entwickelte. Auf Produktebene wurde diese Situation durch den Wettbewerb zwischen den von Rhodiaceta hergestellten Chemiefasern Nylon und Tergal und den Viskoseprodukten der CTA noch verschärft. Bereits 1959 wurde deshalb ein Interessenvertrag zwischen der CTA und der Rhodiaceta abgeschlossen, der die Gewinnverteilung des Verkaufs neu regelte. Gleichwohl blieben die strukturellen Probleme bestehen.206 Neben CTA und Rhodiaceta gehörte der Film-, Folien- und Druckpapierhersteller Cellophane Ende der 1950er Jahre zu den umsatzstärksten Unternehmen der Celtex. Jene Gruppe bestand nicht nur aus dem französischen Mutterunternehmen La Cellophane, sondern auch aus einer in Basel ansässigen Finanzgesellschaft namens La Cellophane S. A. sowie mehreren ausländischen Produktionsbetrieben in Mexiko, Schweden, Spanien und Großbritannien. Bei allen diesen ausländischen Tochtergesellschaften handelte es sich um Joint Ventures mit ausländischen Firmen. Im Fall der British Cellophane hielt Celtex sogar nur 25 Prozent, wohingegen der britische Partner Courtaulds 75 Prozent des Aktienkapitals kontrollierte. Da sowohl Celtex als auch Rhône-Poulenc somit neben ihren inländischen Betrieben auch über zahlreiche Auslandstöchter verfügten, brachte die Fusion nicht nur eine Reorganisation der Chemieindustrie in Frankreich mit sich, vielmehr entstand auf diese Weise auch ein bedeutsamer französischer Player auf den ausländischen Märkten.207 Nachdem beide Unternehmen den Fusionsvertrag im Juni 1961 unterzeichnet hatten, erhöhte SUCRP ihr Aktienkapital in zwei Schritten, bot diese Erhöhung den Celtex-Aktionären an und nahm die Celtex anschließend auf. Nicht nur im Fall der Rhodiaceta, auch bei einigen Auslandsfirmen befand sich das Gesellschaftskapital fortan in der Hand eines einzigen Unternehmens, nämlich von Rhône-Poulenc, dessen Produktionsschwerpunkt sich infolge des Zusammenschlusses in Richtung Chemiefasern verlagerte. Im Jahr 1962, ein Jahr nach der Fusion, dominierten Faserprodukte mit 63 Prozent den Umsatz des Chemiekonzerns. Gerade dieser Bedeutungsgewinn des Fasersektors macht nicht nur einen Vergleich von Rhône-Poulenc mit den ebenfalls im Fasergeschäft aktiven Konzernen Hoechst und Bayer interessant, sondern plausibilisiert auch die Hinzuziehung des Akzo-Konzerns als Vergleichsfolie. Mit der Konzentration der französischen Chemiefaseraktivitäten bei Rhône-Poulenc entstand auf dem Gebiet der synthetischen Fasern ein neuer machtvoller europäischer Akteur, der durchaus mit traditionellen Chemiefaserunternehmen wie Courtaulds oder Glanzstoff konkurrieren konnte. Den Vorwurf eines Monopols wollte sich die 206 Ebd., S. 219–223. 207 Ebd., S. 224.

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Unternehmensleitung dabei nicht gefallen lassen, auch wenn man auf dem französischen Markt eine dominante Position eingenommen hatte, schließlich sei man Teil eines europäischen Marktes.208 Bereits vor der Integration der Celtex in Rhône-Poulenc nahm bei Société des Usines Chimiques Rhône-Poulenc (SUCRP) der Anteil der Einnahmen aus Beteiligungen aufgrund des umfangreichen Netzes von Filialen und Tochtergesellschaften enorm zu. Innerhalb von nur fünf Jahren verdoppelte sich jener Einnahmenanteil von 32 Prozent 1955 auf 61 Prozent 1960. SUCRP wandelte sich infolgedessen immer stärker von einem Industrieunternehmen zu einer Finanzholding mit Industriebeteiligungen. Der Zusammenschluss mit Celtex verstärkte diesen Trend noch einmal. Die Unternehmensleitung erachtete es deshalb als notwendig, die Organisationsstruktur anzupassen. Die Lösung sah man in einer Aufspaltung des Mutterunternehmens in eine neue Holdinggesellschaft namens Rhône-Poulenc S. A., welche die Beteiligungen aller Gruppengesellschaften verwaltete und der die Dividenden und Gewinne aus den Tochtergesellschaften zuflossen, und in eine erneuerte SUCRP, unter der die Vertriebs-, Service- und Forschungsabteilungen sowie eine der beiden Fabriken der Société normande de produits chimiques (Saint-Fons) zusammengefasst wurden.209 Sowohl La Cellophane, Rhodiaceta, Rhovyl als auch SUCRP waren fortan Tochtergesellschaften der Rhône-Poulenc S. A., dem neuen Gravitationszentrum der Rhône-Poulenc-Gruppe, dessen inländische Beteiligungen sich 1961 auf nom. 2,25 Mrd. FF beliefen und damit etwas mehr als doppelt so hoch wie die Auslandsbeteiligungen in Höhe von nom. 868 Mio. FF lagen. Trotz dieser starken Verankerung im Ausland blieb Rhône-Poulenc zu jener Zeit primär auf den französischen Markt ausgerichtet und unterschied sich darin von der Exportstrategie, die viele westdeutsche Unternehmen eingeschlagen hatten: »… sachant que notre mission prioritaire est de servir le marché français […]. L’exportation […] vient nous apporter des débouchés complémentaires, certes considérables, mais elle ne constitue pas la base de départ de nos activités.«210 Dabei variierten die Bedeutung ausländischer Märkte und die gewählte Auslandsstrategie je nach Produkt. Während die Exportquote der Chemie- und Pharmabereiche 1961 bei 25 Prozent lag, betrug sie im Fall der Rhodiaceta und der übrigen Chemiefaserhersteller nur 19 Prozent, allerdings verfügten RhônePoulenc bzw. Rhodiaceta auf diesem Gebiet bereits über beträchtliche Aus208 Ebd., S. 225–227; »Glückliche Insel in der Flaute«, in: Die Zeit, 30.06.1961. 209 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 227–230. Neben den Forschungszentren (Centre Nicolas Grillet, Centre des Carrières, Centre d’Études de Vénissieux) und der Fabrik in SaintFons bei Lyon (Département du Rhône) verfügte die SUCRP Anfang der 1960er Jahre in Roussillon (Département Isère), in Vitry-sur-Seine (Île-de-France)  und in Saint-­ Aubin-lès-Elbeuf (Département Seine-Maritime)  über größere Produktionsstätten. Vgl. AHGS , RP.SA-BH2253-G13–1, Rhône-Poulenc S. A. Exercice 1961, S. 8–15; Cayez, Rhône-­Poulenc, S. 244–245; Laferrère, Histoire. 210 AHGS , RP.SA-BH2253-G13-1, Rhône-Poulenc S. A. Exercice 1961, Allocution du Président, S. 1–3 [Zitat].

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landskapazitäten.211 Ähnlich zu den westdeutschen Konzernen wuchs RhônePoulenc schon in den 1960er Jahren stärker im Ausland als im Inland. Während der Gesamtumsatz der Rhône-Poulenc-Gruppe zwischen 1962 und 1965 um etwa 30 Prozent anstieg, wuchs der Umsatz der ausländischen Gesellschaften im selben Zeitraum um die Hälfte an (+49,3 %). Gleichzeitig kündigte sich in diesem Zeitraum ein neues Problem an: Chemiefasern fanden bis dahin einen reißenden Absatz, doch sank der Umsatz jener Sparte 1965 erstmals gegenüber dem Vorjahr. Der Umsatz bei Chemiefasern stieg zwischen 1962 und 1965 um 22,9 Prozent, aber der Bereich Chemie und Pharmazie verzeichnete in dieser Zeit ein Wachstum von 58,6 Prozent. Die Chemiefaser hatte ihren Höhepunkt als Umsatz- und Gewinnbringer überschritten.212 Tabelle 4: Exporte aus französischen Gesellschaften der Rhône-PoulencGruppe in Prozent (1966) Chemie und Pharmazie  

Chemiefasern

Filme und Folien

Anteil am Export

Anteil am Gesamtumsatz*

Anteil am Export

Anteil am Gesamtumsatz*

Anteil am Export

Anteil am Gesamtumsatz*

EWG

23,6

7,4

26,7

5,9

18,1

3,6

EFTA

20,4

6,5

13,4

2,9

19,2

3,8

6,9

2,2

29,5

6,5

19,8

3,9

Europa (insgesamt)

50,9

16,1

69,6

15,3

57,1

11,3

Afrika

20,5

6,5

11,1

2,4

16,1

3,2

Amerika

14,8

4,6

12,2

2,7

7,2

1,4

Asien / Ozeanien

13,8

4,4

7,1

1,6

19,6

3,9

restliches Europa

Summe

100

31,6

100

22,0

100

19,8

Quelle: AHGS , RP.SA-BH2253-G13–1, Rhône-Poulenc S. A. Exercice 1966, S. 16. (chimie et pharmacie = Chemie und Pharmazie, textiles = Chemiefasern, pellicules et films plastiques = Filme und Folien); * Gesamtumsatz der Sparte.

In der Exportstruktur zeigen sich im Vergleich zu den westdeutschen Chemiefirmen drei Besonderheiten. Erstens lag die Exportquote der deutschen Konzerne (Bayer 52,1 %; BASF 40,2 %; Hoechst 38,8 %) 1966 wesentlich höher als diejenige von Rhône-Poulenc (25,6 %), obschon auch diese deutlich angestiegen war. Die Exportquote der Rhône-Poulenc-Textilsparte (Chemiefasern), die in den

211 AHGS , RP.SA-BH2253-G13–1, Rhône-Poulenc S. A. Exercice 1961, S. 15–16. 212 AHGS , RP.SA-BH2253-G13–1, Rhône-Poulenc S. A. Exercice 1966, S. 9.

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1960er Jahren den Großteil des Umsatzes ausmachte, stieg von 22 Prozent 1966 auf 31 Prozent 1968. Als Faustregel galt für den Gesamtkonzern, dass etwa die Hälfte in Frankreich produziert und verkauft, ein Viertel in Frankreich produziert und anschließend exportiert, und ein Viertel im Ausland produziert und verkauft wurde. Zweitens nahmen die europäischen Staaten in der Exportstrategie deutscher Firmen eine noch zentralere Rolle ein als bei Rhône-Poulenc – bei Bayer gingen 1966 beispielsweise 64 Prozent des Exports nach Europa. Drittens hatte Afrika aufgrund der fortbestehenden Wirtschaftsbeziehungen Frankreichs zu seinen ehemaligen Kolonialgebieten für den Export von Rhône-Poulenc eine deutlich höhere Bedeutung als für Bayer, BASF oder Hoechst. Im Jahr 1966 hatten 16 Prozent aller Rhône-Poulenc-Exporte Afrika als Ziel. Als Produktionsstandort besaß der afrikanische Kontinent hingegen auch für Rhône-Poulenc kaum Gewicht. Hier betrieb der französische Konzern lediglich in Algier (Algerien) eine Pflanzenschutzfabrik und über seine Tochtergesellschaft May & Baker in Port Elizabeth (Südafrika) eine Pharmaproduktion.213 In den 1960er Jahren fanden bei Rhône-Poulenc somit gleich drei tiefgehende Einschnitte statt. Hierzu gehörte zunächst einmal der bereits angesprochene Zusammenschluss mit der Celtex-Gruppe 1961, in dessen Folge der Bereich der Chemiefasern an Bedeutung gewann. An zweiter Stelle sind hier die Jahre 1963/64 zu nennen, in denen der langjährige Siegeszug der Chemiefasern seinen Höhepunkt erreichte und auf personaler Ebene Wilfrid Baumgartner (1963–1973) den bisherigen Präsidenten der Rhône-Poulenc-Gruppe Marcel Bô (1959–1963) ablöste, und schließlich – drittens – die Eingliederung von Progil und Péchiney-Saint-Gobain in Rhône-Poulenc 1969. Mit dem Jahr 1964 endete für Rhône-Poulenc im Chemiefaserbereich eine nach dem Zweiten Weltkrieg begonnene Wachstumsperiode. Fortan bestimmten Überkapazitäten, fallende Preise und Erlösschwächen die Entwicklung der Chemiefasersparte. Dies war nach dem Zusammenschluss mit der CeltexGruppe umso bedeutsamer, denn hierdurch hatte jener Bereich innerhalb des Chemiekonzerns deutlich an Gewicht zugenommen. Der zeitgleiche Wechsel an der Konzernspitze ist vor allem hervorzuheben, weil hiervon auch das Verhältnis zwischen Unternehmen und Staat betroffen war. Obschon Marcel Bô noch eine klassische Karriere im Unternehmen gemacht hatte, intensivierten sich bereits unter seiner Leitung die Kontakte ins politische Feld. Noch deutlicher personifizierte Baumgartner diesen Wandel, der 1925 als Finanzinspektor (Inspecteur des Finances) in die staatliche Finanzverwaltung eingetreten war, nach dem Zweiten Weltkrieg den Posten eines Gouverneurs in der Banque de France bekleidet hatte und 1960 zum französischen Finanz- und Wirtschafts-

213 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 234–237; Geschäftsbericht BASF 1966, S. 11, 19–21; Geschäfts­ bericht Bayer 1966, S. 17; Geschäftsbericht Hoechst 1966, S. 14–15; AHGS , RP.SA-BH2253G13–1, Rhône-Poulenc S. A. Exercice 1966, S. 16.

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Grundkonstellationen der Internationalisierung in der Chemieindustrie

minister ernannt worden war. Baumgartner verkörperte damit die für die französische Elite typische Form der Pantouflage, d. h. der engen personellen Verflechtung von Politik und Wirtschaft.214

2.2.5 Zwischenfazit Bei allen parallelen Entwicklungen der europäischen Chemieunternehmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts  – hinsichtlich der Implementierung neuer technologischer Verfahren, der Einführung neuer Produkte, des Wechsels der Rohstoffgrundlage sowie des Bedeutungsgewinns ausländischer Märkte – gab es über das Epochenjahr 1945 hinweg doch einen überaus bedeutsamen Unterschied, der im Verlust von Auslandsvermögen und Patenten zu sehen ist. Die Zerschlagung der IG Farben und die damit verbundenen Auseinandersetzungen der Entflechtung oder die rechtlich umstrittenen Eigentumsverhältnisse bei Glanzstoff stellten Probleme dar, von denen Rhône-Poulenc oder ICI allenfalls peripher bei Untergesellschaften betroffen waren. Hierin ist auch ein wesentlicher Unterschied zu US -Chemieunternehmen zu sehen.215 Rhône-Poulenc musste zwar ebenfalls die Beziehungen zu May & Baker und zur Deutschen Rhodiaceta neu justieren, doch wurden diese Eigentumsansprüche nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die bei allen Unternehmen sichtbaren Auseinandersetzungen über Eigentumsrechte waren gewissermaßen eine Folge ihrer bereits vor 1945 angelaufenen Multinationalisierung. Noch entscheidender aber ist, dass der Bedeutungsverlust deutscher Unternehmen auf dem Weltmarkt infolge der NS -Aggressionspolitik die traditionelle Exportstrategie deutscher Chemiefirmen nicht in Frage stellte. Die Rückeroberung des Weltmarkts hatte für westdeutsche Unternehmen nach 1945 daher einen wesentlich höheren Stellenwert als für französische oder britische Firmenleitungen, die ihre Position auf dem nationalen Heimatmarkt und in ihren ehemaligen Kolonialgebieten festigen wollten. Erschwert wurde jene Rückkehr deutscher Firmen nicht nur durch Konkurrenten aus Westeuropa und den USA, die inzwischen große Marktanteile übernommen hatten, sondern besonders durch den Kapital- und Devisenmangel westdeutscher Firmen. Erst ab den 1960er Jahren verfügten auch westdeutsche Unternehmen aufgrund ihrer Gewinne aus der Zeit des Wirtschaftswunders wieder über hinreichende Kapitalkraft, um Auslandsinvestitionen in größerem Umfang zu finanzieren.216 214 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 230–232; Feiertag, Baumgartner; Hartmann, Eliten und Macht, S. 39–44, 83–102; Joly, Diriger, besonders S. 300–301, 305–306. Marcel Bô gehörte bereits in den 1920er Jahren dem Direktorium der Rhodiaseta an, wurde 1934 Directeur Général, 1953 Vice-président Directeur Général und 1959 Président Directeur Général (PDG) von Rhône-Poulenc. Vgl. Jacquillat, Marcel Bô. 215 Wilkins, German Chemical Firms, hier S. 289. 216 Schröter, Außenwirtschaft, hier S. 103–104.

 

 

 

Gesamtumsatz (Mutterunternehmen)

Export

Exportquote in %

1961

46,30

1.412,8

3.051,7

 

 

 

Bayer AG

 

 

 

49,27

2.303,0

4.674,0

BASF Gruppe

1967

47,68

1.677,0

3.517,0

 

 

 

BASF AG

 

 

 

50,45

3.330,0

6.600,0

42,98

2.420,0

5.630,0

 

 

 

HoechstKonzern

1967

HoechstWelt

25,60

1.029,5

4.021,5

53,20

2.907,8

5.465,7

1966

RhônePoulencGruppe

 

 

 

49,98

442,4

885,2

1966

ICI-Gruppe

31,48

156,2

496,2

 

 

 

ICI Ltd.

Quelle: Geschäftsbericht Bayer 1967, S. 71; Geschäftsbericht BASF 1969, S. 15; Geschäftsbericht Hoechst 1967, S. 1; Rhône-Poulenc Rapport Annuel 1966, S. 16; Rhône-Poulenc Rapport Annuel 1967, S. 9; Annual Report ICI 1966, S. 6–8, 20–22. (Bayer, BASF und Hoechst in Mio. DM; Rhône-Poulenc in Mio. FF; ICI in Mio. £)

50,35

1.837,9

Auslandsumsatz

Auslandsanteil in %

3.650,4

Gesamtumsatz (Gruppe)

BayerGruppe

Tabelle 5: Auslandsanteil und Exportquote bei Bayer, BASF, Hoechst, Rhône-Poulenc und ICI

Auslandsaktivitäten westeuropäischer Chemieunternehmen

149

150

Grundkonstellationen der Internationalisierung in der Chemieindustrie

Eine deutliche Parallele zwischen den westeuropäischen Chemiekonzernen ist hingegen im stärkeren Wachstum des im Ausland erwirtschafteten Umsatzes zu sehen. Schon in den 1950er und 1960er Jahren stieg ihr Auslandsumsatz schneller als ihr Inlandsumsatz. In allen Fällen überragte der Auslandsumsatz auf Gruppenebene ab Mitte der 1960er Jahre den inländischen Umsatz.217 Auffällig ist sicherlich die hohe Exportquote der drei großen westdeutschen Konzerne mit ihrer breiten Produktpalette. Der Exportanteil der westdeutschen VGF blieb hingegen noch bis 1962 unter 20 Prozent. Hier spiegelte sich die enge Bindung des Chemiefaserherstellers an die westdeutsche Textil- und Bekleidungsindustrie wider.218 Bis Mitte der 1960er Jahre waren Bayer, BASF und Hoechst wieder auf den Weltmarkt zurückgekehrt. Für die französischen und britischen Unternehmen erhöhte sich durch diesen Wiederaufstieg der deutschen Konzerne und die gleichzeitige Expansion von US -Firmen der Wettbewerb in doppelter Hinsicht. Darüber hinaus geriet ihr bisheriges Geschäftsmodell, das auf einer starken Bindung an ehemalige Kolonialgebiete beruhte, angesichts der Versuche vieler in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten, eine heimische Industrie aufzubauen, und des Wegfalls zollpolitischer Vorteile unter enormen Druck. Der starke Ausbau des Exports findet sich in ähnlicher Form nur in der schweizerischen Chemieindustrie, die die spezifischen lokalen Nachteile eines kleinen Heimatmarktes bei gleichzeitigem Fehlen einer hinreichenden Rohstoffgrundlage durch eine Konzentration auf höherwertige Produkte und einen hohen Ausfuhranteil zu kompensieren versuchte. Die Liberalisierung des Handels nach 1945 förderte auch bei den schweizerischen Unternehmen den Ausbau des Exportgeschäfts, gleichwohl entstanden für sie infolge der Teilung Westeuropas in die beiden Wirtschaftsblöcke EWG und EFTA – letzterer trat die Schweiz 1960 bei – neue Handelsbarrieren. Etwa ein Drittel des schweizerischen Chemieexports ging während der 1950er und 1960er Jahre in die EWG -Staaten. Erst das 1972 abgeschlossene Freihandelsabkommen zwischen der EWG und der Schweiz erleichterte den Zugang zum westeuropäischen Markt. Hauptexporterzeugnisse der schweizerischen Chemieunternehmen waren bis in die 1960er Jahre Farbstoffe; ihre Bedeutung ließ von da an jedoch deutlich nach, wohingegen sich der Anteil der Pharmazeutika in den 1970er Jahren verdoppelte und bis in die 1990er Jahre auf über 50 Prozent kletterte. Umgekehrt nahm die Bedeutung westeuropäischer Chemieerzeugnisse beim schweizerischen Import ab den 1950er Jahren sichtbar zu, auch wenn dessen Umfang im Vergleich zum Export gering blieb. Der Anteil europäischer Importe stieg von 55 Prozent 1951 auf 85 Prozent Ende der 1960er Jahre, während der »Amerika«-Anteil im gleichen Zeitraum von 35 auf 12 Prozent fiel.219

217 Auf eine Darstellung der AKU / VGF -Zahlen wurde verzichtet, da beide erst 1969 vollständig fusionierten. 218 Geschäftsbericht Glanzstoff 1964, S. 4–7. 219 Müller, Export-Dependence.

Auslandsaktivitäten westeuropäischer Chemieunternehmen

151

Nimmt man diese Ergebnisse zur schweizerischen Chemieindustrie hinzu, so zeigt sich, dass einzelne Unternehmensstrategien an die jeweiligen nationalen Wachstumsmodi gebunden blieben. Die Exportorientierung westdeutscher Unternehmen besaß nicht nur eine weit zurückreichende Pfadabhängigkeit, vielmehr erleichterte die jahrelange Unterbewertung der DM im Zusammenspiel mit der liberalen bundesdeutschen Außenwirtschaftspolitik den Export westdeutscher Industriegüter.220 Die Auslandsstrategie von Rhône-Poulenc war hingegen an die postkolonialen Bindungen Frankreichs gekoppelt. Zugleich schirmte der Staat die französischen Unternehmen bis 1958 über Importkontingente und Devisenkontrollen vor einem übermäßigen internationalen Wettbewerb ab.221 Die großen Umstrukturierungen innerhalb der französischen Chemieindustrie – der Zusammenschluss von Rhône-Poulenc mit der CeltexGruppe (1961) und die Eingliederung von Progil und Péchiney-Saint-Gobain (1969)  – fanden im Rahmen der staatlichen Förderung großer, international wettbewerbsfähiger Industriekomplexe statt. Diese Konzentration war letztlich Ergebnis unternehmerischer Strategien und französischer Industriepolitik und sie war in gewisser Weise typisch für die gesamte Chemieindustrie, in der einzelne Großkonzerne aufgrund hoher Forschungs- und Entwicklungskosten dominierten. Newcomer konnten kaum zu den führenden Chemie- und Pharmaunternehmen aufschließen.222 Neben diesen Unterschieden zeigen sich drei gewichtige Gemeinsamkeiten: Erstens in der Produktpolitik, zweitens im Verbleib der Forschungsaktivitäten am Heimatstandort, und drittens in der geografischen Orientierung in Richtung Westeuropa. Neben Kunststoffen erlebten vor allem Chemiefasern ab den 1950er Jahren einen wahren Nachfrageboom, von dem alle Chemieunternehmen profitieren wollten. Besonders eindrücklich änderte Rhône-Poulenc seine Produktpolitik, wohingegen die BASF diesen Schritt erst relativ spät vollzog. Die Organisation der Produktion variierte hingegen zwischen den verschiedenen Firmen. Zwar folgten bis Mitte der 1960er Jahre alle Unternehmen dem technologischen Pfad der Petrochemie, doch die dezentrale Produktionsstruktur von Rhône-Poulenc wich markant vom Verbundprinzip der BASF ab. Wenn es in den Auslandsstrategien während der 1960er Jahre einen klaren Gewinner gab, dann hieß er Westeuropa – genau genommen EWG. Bereits die Ankündigung eines gemeinsamen Marktes schürte bei vielen Unternehmern große Erwartungen. Bei Glanzstoff erkannte man schon früh die ökonomische Bedeutung der EWG und die mit Inkrafttreten des EWG -Vertrages zwischen Rhône-Poulenc und Bayer vereinbarte Forschungskooperation muss ebenfalls

220 Schröter, Wiedervereinigung, hier S. 374–375. 221 Eck, La France, S. 281–289. 222 Chandler, Industrial Century. Die Bedeutung von Großunternehmen in der chemischen Industrie zeigte sich auch im Zusammenschluss der beiden schweizerischen Firmen Ciba AG und J. R. Geigy AG 1970. Vgl. Müller, Export-Dependence, hier S. 202–220.

152

Grundkonstellationen der Internationalisierung in der Chemieindustrie

als Reaktion auf den zusammenwachsenden Markt interpretiert werden.223 Die europäischen Chemieunternehmen begriffen den europäischen Integrationsprozess dabei vor allem als Chance. Die Ideen einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vertrugen sich mit den Expansionsstrategien der Unternehmen, und umgekehrt trugen die Unternehmen über den Ausbau ihres Europageschäfts zur ökonomischen Integration Europas bei.

223 Marx, Europa; BAL 324-5 Vereinbarung zwischen Farbenfabriken Bayer AG , Leverkusen und Rhône-Poulenc S. A., Paris (17.12.1965).

3.

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms: Auslandsexpansion als Reaktion auf die neuen Herausforderungen der langen 1970er Jahre (1965–1982)

Aufgrund der zahllosen Auslandsaktivitäten der Chemieunternehmen können im Folgenden nicht sämtliche Verästelungen berücksichtigt werden. So nahmen beispielsweise zum 1. Januar 1968 Bayer-Vertriebsgesellschaften in Äthiopien, Algerien und Nigeria ihre Tätigkeit auf.1 Nach weiteren Jahren der Auslandsexpansion umfasste der Bayer-Konzernabschluss 1988 immerhin 28 inländische und 162 ausländische Tochterunternehmen, bei denen Bayer die Mehrheit hielt; weitere 176 Tochterunternehmen blieben wegen ihrer untergeordneten Ertrags- und Finanzlage selbst für den Konzernabschluss unberücksichtigt.2 Die nachfolgenden Kapitel können daher nur die wichtigsten auslandsstrategischen Entscheidungen der Firmen beleuchten.

3.1 Bayer Die Auslandsstrategie von Bayer richtete sich nicht nur nach den Entwicklungsmöglichkeiten der ausländischen Märkte, sie war ebenso mit der Entwicklung des westdeutschen Heimatmarktes und der inländischen Unternehmensstrategie verknüpft. Im Fall von Bayer bedeutete dies, dass der Konzern in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre eine Reihe inländischer Beteiligungen erwarb und veräußerte und sich dies aufgrund ihrer Internationalität wiederum auf das Auslandsgeschäft auswirkte. Unter der Vielzahl der inländischen Beteiligungen werden nur zwei besonders markante Vorgänge herausgegriffen, die die Leitungsorgane über mehrere Jahre hinweg beschäftigten, nämlich die zweite Flurbereinigung zwischen den drei großen IG Farben-Nachfolgern und die Übernahme der Metzeler-Gruppe.

1 BAL 387/1-8 Bayer Vorstandssitzung (18.07.1967). 2 Geschäftsbericht Bayer 1988, S. 96.

154

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

3.1.1 Auslandsexpansion über Inlandsakquisitionen Neben den drei großen Chemieunternehmen BASF, Bayer und Hoechst ragten bei der Aufteilung des IG Farben-Besitzes nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Werke, nämlich die Cassella Farbwerke Mainkur AG und die Chemischen Werke Hüls AG (CWH), aus den übrigen Firmen heraus. Während die Produktpalette der Cassella hochwertige Farbstoffe, Kunstharze und Pharmazeutika umfasste, waren die CWH im Nationalsozialismus zum zweitgrößten Produzenten von synthetischem Gummi aufgestiegen. Beide Unternehmen waren nach 1945 groß genug, um das fein austarierte inländische Machtgefüge zwischen den drei großen westdeutschen Chemiekonzernen aus dem Gleichgewicht zu bringen, wenn sie unter die Kontrolle eines der drei Konzerne fielen oder von einem ausländischen Konzern als Einfallstor für den westdeutschen Markt übernommen worden wären.3 Im ersten Fall eigneten sich BASF, Bayer und Hoechst daher Mitte der 1950er Jahre jeweils 25,1 Prozent des Cassella-Grundkapitals an und verhinderten auf diese Weise eine beherrschende Stellung eines Konkurrenten.4 Die Eigentumsverhältnisse der CWH waren etwas komplexer, denn neben der Chemie- hatte auch die Kohleindustrie hieran ein Interesse. Sowohl die Bergwerksgesellschaft Hibernia als auch die Gelsenkirchener Bergwerks-AG (GBAG) – letztere über die Kohleverwertungsgesellschaft – waren bei der Neugründung 1953 mit jeweils 25 Prozent an CWH beteiligt. Die übrigen 50 Prozent des Stammkapitals lagen vorerst bei der Chemie-Verwaltungs-AG, einer Nachfolgeorganisation der entflochtenen IG Farbenindustrie, an der Bayer, Hoechst und BASF Anteile hielten.5 Als sich Mitte der 1950er Jahre – nicht zuletzt aufgrund der Koreakrise – für die westdeutschen Unternehmen neue Möglichkeiten am Markt für synthetischen Kautschuk (Buna) eröffneten, nahmen CWH und die drei großen IG Farben-Nachfolger den Ausbau der Kautschukkapazitäten in Angriff. Nachdem die Gründung eines selbstständigen Unternehmens unter Einbeziehung der Reifenindustrie gescheitert war, errichteten CWH mit 50 Prozent sowie BASF, Bayer und Hoechst mit jeweils 16⅔ Prozent des Gesellschaftskapitals im Juni 1955 die Buna-Werke Hüls GmbH (BWH). Trotz des deutschen Know-hows auf diesem Gebiet hatte sich das CWH-Management in technischer Hinsicht hierfür um US -Lizenzen (von Houdry Process Corporation und Esso) bemühen müssen und einen engen Erfahrungsaustausch mit US -Unternehmen betrieben, der von den drei großen IG -Nachfolgern teils argwöhnisch beobachtet wurde. Mit der Gründung war ein Schritt in Richtung Nachfragebefriedigung getan, aber die Lösung des gesellschaftsrechtlichen Konstruktionsproblems von CWH und BWH stand noch aus.6 3 Abelshauser, Neugründung, hier S. 464. 4 Ebd., hier S. 464. 5 Ebd., hier S. 465; Lorentz / Erker, Chemie, S. 155–205. 6 Abelshauser, Neugründung, hier S. 466–469; Lorentz / Erker, Chemie, S. 117, 205–209; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S.  351, 394.

Bayer

155

Erst zum Jahreswechsel 1969/70 war der Weg für die zweite Entflechtung frei.7 Hibernia – und damit der bundeseigene Veba-Konzern – und Bayer übernahmen je zur Hälfte von der Hoechst AG deren inzwischen auf 51,42 Prozent angewachsene Beteiligung an der Chemie-Verwaltungs-AG. Bereits 1967 hatte die BASF ihr Desinteresse am gesamten CWH-Komplex geäußert und ihren Anteil an der BWH zu gleichen Teilen an Hoechst und Bayer verkauft. Im Gegenzug erhielt Hoechst 25,10 Prozent des Cassella-Kapitals von Bayer und 25,39 Prozent von BASF und verfügte damit dort über 75,59 Prozent des Gesellschaftskapitals. Für diese BASF-Beteiligung an Cassella stellte Bayer dem Ludwigshafener Konzern wiederum ein 25,6-Prozent-Paket an der Herbol-Werke Herbig Haarhaus AG zur Verfügung und zahlte BASF zusätzlich 46,3 Mio. DM in bar. Schon im August 1966 hatte Bayer eine 25-Prozent-Beteiligung an CWH erworben und damit den Anteil von Bayer und Hibernia an CWH auf 50 Prozent erhöht; nach der Flurbereinigung verfügten Bayer und Hibernia somit direkt über 50 Prozent des CWH-Kapitals und über einen 70-Prozent-Anteil an der Chemie-Verwaltungs-AG, welche die übrigen 50 Prozent des CWH-Kapitals hielt. Gleichzeitig erwarb Bayer für 45,1 Millionen DM von Hoechst deren 50-Prozent-Beteiligung an der Synthesekautschuk-Beteiligungsgesellschaft mbH, die im Besitz von 50 Prozent der BWH war. Auf diese Weise erhöhte die Bayer AG ihre Beteiligung an der BWH auf 50 Prozent, während die übrigen 50 Prozent bei CWH lagen und damit auch von Leverkusen kontrolliert wurden.8 Durch jene Beteiligungsverschiebungen konnten vor allem Bayer und Hoechst ihre Stellung innerhalb der westdeutschen Chemieindustrie ausbauen und sich zwei Filetstücke – CWH und Cassella – aus dem ehemaligen IG Farben-Besitz sichern. Damit ging die gemeinsame Nachkriegszeit der deutschen Großchemie endgültig zu Ende.9 Dabei ist die zweite Flurbereinigung nicht nur als eine Verschiebung inländischer Beteiligungsverhältnisse anzusehen, vielmehr ist sie auch für die Internationalisierung der westdeutschen Chemiekonzerne von mehrfacher Bedeutung. Erstens war hiermit der Weg für eine grundlegende Neuorganisation der Unternehmensstruktur frei. Diese war einerseits angesichts des Unternehmenswachstums im Boom notwendig, andererseits war sie Bedingung für die Expansion der Auslandsproduktion. Zweitens reduzierte sich die Zahl der Interessenüberschneidungen, insbesondere bei den großen Untergesellschaften, bei denen BASF, Bayer und Hoechst gegenseitig einen Ausbau des (Auslands-)Geschäfts 7 Vgl. zur zweiten Entflechtung insgesamt: Abelshauser, Neugründung, S. 457–478; Lorentz / Erker, Chemie, S.  155–290. 8 BAL 387/1-8 Bayer Vorstandssitzung (20.12.1966, 24.05.1967, 05.09.1967, 03.10.1967); BAL 387/1-9 Bayer Vorstandssitzung (18.03.1969, 15.04.1969, 24.06.1969, 15.07.1969, 07.10.1969, 21.10.1969); Bäumler, Farben, S. 311–313; Erker, Bayer; Geschäftsbericht Bayer 1966, S. 11; Geschäftsbericht Bayer 1969, S. 17–18; Geschäftsbericht Hoechst 1970, S. 15; Lorentz / Erker, Chemie, S. 262–263. 9 Abelshauser, Neugründung, hier S. 478; Teltschik, Großchemie, S. 248–253.

156

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

blockierten, so dass jene Firmen – wie Cassella oder CWH – fortan selbst ins Ausland vordringen konnten.10 Drittens führte die Flurbereinigung zu einer gewissen Abgrenzung strategischer Interessen. Dies bedeutete nicht den sofortigen Abbruch jeglicher Kontakte, vielmehr fand auch in den 1970er Jahren noch ein regelmäßiger Gedankenaustausch der drei großen Konzerne auf Vorstandsebene statt und ebenso bestanden zahlreiche Lieferbeziehungen fort.11 Auch im Ausland kooperierten die westdeutschen Chemiekonzerne weiterhin. So erwarben Bayer und Hoechst Anfang der 1970er Jahre mit der Compania Quimica, einer Tochtergesellschaft des multinationalen Bunge & Born-Konzerns, je ein Drittel der Aktien der argentinischen Firma Anilsud zur Herstellung von Farbstoffen und erhöhten ihre Beteiligungen 1980 auf jeweils 50 Prozent.12 Dennoch agierten die IG Farben-Nachfolger insgesamt zunehmend unabhängiger voneinander. Auf einer Unternehmenskonferenz im September 1981 analysierte der Bayer-Vorstand intensiv die Entwicklung von BASF, Bayer und Hoechst. Der Vergleich der regionalen Gliederung des Weltumsatzes und des Anteils der Auslandsproduktion zeigte große Ähnlichkeiten zwischen Bayer und Hoechst, während die BASF im Inland eine stärkere Position hatte. Das zweite Beispiel – die Übernahme der Metzeler-Gruppe – steht im Zusammenhang mit dem Ausbau der Kautschukinteressen. Metzeler gehörte zeitweise zu den führenden europäischen Schaumstoff-, Kautschuk- und Kunststoffproduzenten.13 Nach einer Kapitalerhöhung des Kunststofffolienherstellers

10 Im Zusammenhang mit der Übernahme von CWH ist zudem die Übernahme einer 50 %-Beteiligung an der Faserwerke Hüls GmbH (FWH) – einem 1961 gegründeten Joint Venture von CWH und Eastman Kodak – zu nennen. Indem Bayer die US -Anteile 1968 übernahm, kamen die Faserwerke Hüls wieder unter »westdeutsche Kontrolle«. Vgl. BAL 387/1-11 Bayer Vorstandssitzung (01.02.1972); Geschäftsbericht Bayer 1968, S. 11, 20. 11 BAL 302/026, Kurt Hansen, Gespräche mit Hoechst und BASF (1955–1961); BAL 302/041, Kurt Hansen, Gespräche mit Hoechst und BASF (1967–1972); BAL 302/265, Kurt Hansen, Besondere Vereinbarungen mit Hoechst und der BASF (1961–1971); BAL 387/1-9 Bayer Vorstandssitzung (22.04.1968); BAL 387/1-11 Bayer Vorstandssitzung (04.01.1972, 04.04.1972); BAL 387/1-14 Bayer Vorstandssitzung (04.06.1974); BAL 387/1-15 Bayer Vorstandssitzung 21.05.1975); Erker, Bayer, hier S. 47. BASF, Bayer und Hoechst tauschten sich auch in den 1970er Jahren noch über ihre Umsatzentwicklungen, ihre geplanten Dividendenhöhen und Kapitalerhöhungen sowie die Entwicklung einzelner Sparten aus. Vgl. BAL 387/1-11 Bayer Vorstandssitzung (01.02.1972); BAL 387/1-12 Bayer Vorstandssitzung (17.04.1973); BAL 387/1-17 Bayer Vorstandssitzung (05.07.1977); BASF Unternehmensarchiv, Vorstandsprotokolle, Vorstandssitzung (13.04.1970). Außerhalb des Beteiligungsbereichs waren die größten Lieferanten von Bayer 1973: Hoechst (169 Mio. DM), BASF (95 Mio. DM), Solvay (39 Mio. DM), BP (31 Mio. DM) und Degussa (29 Mio. DM). Vgl. BAL 387/1-15 Zentralbereich Beschaffung. Berichterstattung vor dem Vorstand (19.11.1974). 12 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 57 I / Hoechst G-Beteiligungen im Ausland / L änder A–Z/3. Lateinamerika, Hoechst Report Nr. 42/43: Neue Perspektiven in einem großen Land. ­Hoechst in Argentinien (Dezember 1984/Januar 1985). 13 Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S.  394–399.

157

Bayer

Tabelle 6: Anteile an Chemiemärkten in Prozent (1980)  

Bayer

Hoechst

BASF

Summe

Bundesrepublik

6,8

9,2

15,5

31,5

übrige EG

2,3

2,5

2,2

7,0

übriges Westeuropa

2,7

2,5

2,6

7,8

Ostblock

0,3

0,4

0,3

1,0

Nordamerika

1,4

1,1

1,1

3,6

Lateinamerika

2,6

2,1

1,7

6,4

Japan

0,6

0,6

0,4

1,6

übriges Asien

1,8

2,1

0,6

4,5

Australien, Afrika

2,6

5,3

2,3

10,2

Gesamt

1,8

2,0

2,2

6,0

Quelle: BAL 379/36 Unternehmenskonferenz (10.09.1981)

Wolff & Co. AG in Walsrode im Dezember 1967 auf nom. 20 Mio. DM übernahm Bayer 1967/68 von der Metzeler-Gruppe in zwei Tranchen Wolff & Co.-Aktien im Wert von nom. 10,5 Mio. DM und verschaffte sich auf diese Weise eine Mehrheit von 52,5 Prozent. Im Gegenzug räumte Bayer der finanziell angeschlagenen Verkäuferin ein langfristig gesichertes Darlehen ein.14 Die ehemalige Pulverfabrik Wolff & Co. hatte in den 1950er und 1960er Jahren die Herstellung von Waschmittelzusätzen und Bindemitteln sowie von Methylcellulose (als Hauptbestandteil vieler Tapetenkleister) aufgenommen. Die Metzeler Gummiwerke AG, welche ab 1965 unter dem Namen Metzeler AG firmierte, hatte nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Produktpalette von Gummi- und Kunststoffwaren ständig erweitert und erst 1965 das Aktienkapital der Wolff & Co. AG erworben. Nachdem Bayer bereits 1972 im Zuge einer Kapitalerhöhung ein größeres Aktienpaket der in finanzielle Schieflage geratenen Metzeler AG erworben hatte, kam man im April 1974 dazu überein, dass Bayer die drei Betriebsgesellschaften der Metzeler AG, nämlich die Metzeler Kautschuk GmbH in München, die Metzeler Schaum GmbH in Memmingen und die Correcta Werke GmbH in Bad Wildungen / Mannheim, sowie die verbliebenen 47,5 Prozent des Grundkapitals der Wolff Walsrode AG übernehmen würde. Anschließend wurde die CorrectaTochtergesellschaft VKI-Rheinhold & Mahla AG in Mannheim als spartenfüh-

14 BAL 387/1-8 Bayer Vorstandssitzung (12.12.1967); Geschäftsbericht Bayer 1967, S. 13–15, 22.

158

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

rende Gesellschaft im Kunststoffbereich direkt von Bayer übernommen und Correcta fortan als Untergesellschaft der VKI geführt.15 Für Bayer bot der Einstieg bei Metzeler nicht nur eine zuverlässige Absatzbasis für Polyurethan-Schaumstoffe und synthetischen Kautschuk, er versetzte den Chemiekonzern vor allem in eine bessere Ausgangsposition, um einen international wettbewerbsfähigen westdeutschen Reifenproduzenten zu erschaffen, denn Bayer war über eine Holding auch an den beiden großen, noch selbstständigen Reifenherstellern Continental und Phoenix beteiligt.16 Damit rückt die internationale Perspektive jenes Übernahmeakts ins Blickfeld, denn die Beteiligung von Bayer an Metzeler bedeutete nicht nur die Angliederung eines westdeutschen Reifen- und Kunststoffherstellers, sie muss insgesamt im Zusammenhang mit dem ökonomischen Strukturwandel und der zunehmenden internationalen Konkurrenz ab Anfang der 1970er Jahre gesehen werden. Unter führenden deutschen Großunternehmen stand zu dieser Zeit nämlich die Frage im Raum, ob die Bundesrepublik und ihre Automobilindustrie einen national eigenständigen, international konkurrenzfähigen Reifenhersteller benötigten. Der Leverkusener Konzern hatte als größter westeuropäischer Synthese-Kautschuk-Produzent hieran ein lebhaftes Interesse. In der europäischen Reifenbranche hatte es im Herbst 1969 intensive Bemühungen gegeben, die bestehende, enge Zusammenarbeit zwischen den westeuropäischen Reifenproduzenten Dunlop, Pirelli und Continental in eine gesellschaftsrechtliche Fusion zu überführen. Dies hätte den neuen Konzern zwar nahezu zu einem Monopolisten auf dem westdeutschen Markt gemacht, doch lehnte der Continental-Vorstand das Angebot ab, da die Aktienmehrheit auf diese Weise in ausländische Hände gelangt wäre. Auch die divergierenden Vorstellungen über die zukünftige reifentechnologische Entwicklung sprachen für diese Entscheidung. Eine große europäische Reifenallianz kam somit nicht zustande. Bereits 1966 war Michelin aus dem Viererbündnis mit Dunlop, Pirelli und Continental ausgeschieden. Dunlop und Pirelli gründeten daraufhin im Januar 1970 den größten europäischen Gummi- und Reifenkonzern (»Dunelli«) und galten damit als Vorreiter einer neuen industriepolitischen Ära grenzüberschreitender »Euro-Konzerne«.17 Zwar näherten sich Michelin und Continental 1970/71 nochmals einander an und selbst eine Kooperation zwischen Continental und der Dunlop-Pirelli-Gruppe schien zeitweise möglich, doch letztlich ent-

15 BAL 387/1-13 Bayer Vorstandssitzung (02.04.1974, 08.04.1974); Geschäftsbericht Bayer 1973, S. 13; Geschäftsbericht Bayer 1974, S. 16; Geschäftsbericht Bayer 1975, S. 14. Mitarbeiterzahlen der Metzeler-Gruppe 1974: Kautschuk 10.475 (davon im Ausland: 1.714), Schaum 4.018 (2.078), Kunststoff 5.256 (361). Vgl. BAL 387/1-15 Anlage zum Protokoll der Vorstandssitzung (18.06.1975). 16 Vgl. zur Internationalisierung von Continental: Erker / Fehlhaber, Continental, S. 327–361; Wortmann, Komplex, S. 89–100. 17 Erker, Wettbewerb, S. 646; Montenegro, Pirelli; Shepherd, Dunlop-Pirelli Merger.

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stand hieraus keine schlagkräftige europäische Reifenkoalition unter Einschluss westdeutscher Hersteller.18 Dabei sahen die Entscheidungsträger von Continental eine Zusammenarbeit mit einem anderen Reifenunternehmen durchaus als notwendig an. Bevor Goodyear bzw. Pirelli die westdeutschen Reifenhersteller Fulda (1961) bzw. Veith (1964) übernommen hatten, hatte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank Hermann Josef Abs einen Verkauf an einen ausländischen Konzern zu verhindern gesucht, indem er Continental den Vorschlag machte, Metzeler, Fulda und Veith zu übernehmen. Doch Continental hatte jene Idee Anfang der 1960er Jahre verworfen. Als der Druck in der Reifenbranche Ende des Jahrzehnts erneut zunahm, gewannen jene Überlegungen nochmals an Bedeutung. In dieser Situation trat die Deutsche Bank in Kooperation mit Bayer als industriepolitischer Akteur auf. Hintergrund bildeten einige Industriebeteiligungen der Deutschen Bank, die 1969/70 nicht nur eine 10-Prozent-Beteiligung an Continental, sondern auch ein größeres Aktienpaket der Phoenix-Gummiwerke erworben hatte. Abs als Aufsichtsratsvorsitzender von Phoenix und Alfred Herrhausen als Aufsichtsratsvorsitzender von Continental trieben daraufhin das Projekt eines international konkurrenzfähigen, westdeutschen Reifenkonzerns voran. Die Deutsche Bank, Bayer und die Münchener Rückversicherungsgesellschaft bündelten ihre Anteile an den beiden Gummi-Unternehmen in der Beteiligungsgesellschaft Corona GmbH, die rund 33 Prozent an Continental und 62,5 Prozent an der Hamburger Phoenix Gummiwerke AG hielt.19 Grundsätzlich herrschte zwischen den Vorständen von Continental und Phoenix Anfang 1971 Einvernehmen über eine engere Zusammenarbeit, doch gingen die Auffassungen in Detailfragen schon bald immer weiter auseinander. Obschon die Großaktionäre an ihrer Verschmelzungsidee festhielten, entwickelten sich immer stärkere Bedenken gegen die von den Eigentümern oktroyierten Fusionspläne, die 1972/73 allesamt scheiterten.20 Letztlich lehnte es auch der Bayer-Konzern ab, seinen Anteil an der Corona über die Einbringung der Metzeler-Gruppe zu erhöhen und damit die Verantwortung für eine »Deutsche Reifenunion« zu übernehmen. Hier zeichnete sich bereits ab, dass eine Sanierung 18 BAL 387/1-10 Bayer Vorstandssitzung (07.07.1970, 21.07.1970, 03.11.1970, 17.11.1970, 04.01.1971, 02.02.1971); BAL 387/1-11 Bayer Vorstandssitzung (21./28.03.1972). Selbst Ende 1972 zeigten sowohl Michelin als auch Goodyear noch Interesse an einer Zusammenarbeit mit den in der Corona zusammengeführten Reifenherstellern, wobei Bayer eine Kooperation mit Michelin bevorzugte. Vgl. BAL 387/1-12 Bayer Vorstandssitzung (17.10.1972, 19.12.1972). 19 BAL 387/1-10 Bayer Vorstandssitzung (08.12.1970, 15.12.1970, 03.08.1971); BAL 387/1-11 Bayer Vorstandssitzung (17.08.1971, 07.09.1971, 21.12.1971); »Kaus macht Kasse«, in: Die Zeit 13.10.1972; Geschäftsbericht Bayer 1971, S. 14; Erker, Wachsen, S. 75–79; Erker, Wettbewerb, S. 647–648; Erker / Fehlhaber, Continental, S. 86–97; Gall, Abs, S. 344–348; Sattler, Herrhausen, S. 313–328. 20 BAL 387/1-11 Bayer Vorstandssitzung (23.11.1971, 07.12.1971, 11.04.1972, 15.05.1972, 06.06.1972); BAL 387/1-12 Bayer Vorstandssitzung (21.11.1972, 05.12.1972, 05.01.1973); Erker, Wachsen, S. 79–90; Sattler, Herrhausen, S. 328–337.

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der Metzeler Kautschuk GmbH (MKG) durch Bayer langfristig mit einem Rückzug aus dem Reifensektor und dem Ausbau eines technischen Gummisektors einhergehen würde.21 Innerhalb der deutschen Reifenindustrie gab es somit zwar enge Kapitalverflechtungen, hieraus erwuchs im Endeffekt aber kein nationaler Reifenhersteller. Viele Produzenten waren miteinander verbunden und kooperierten auch bei Vorprodukten; lediglich im Vertrieb gingen sie getrennt vor und wahrten nach außen das Bild von Selbstständigkeit und Wettbewerb. Schließlich unternahmen die Beteiligten in den Jahren 1976 bis 1978 einen letzten Versuch. Dieses Mal scheiterten die Verhandlungen an Bayer. Zwar wollte der Bayer-Vorstandsvorsitzende Herbert Grünewald Continental und Metzeler zusammenführen, doch fand er angesichts der verlustreichen Investitionspolitik des Chemiekonzerns im Reifen- und Fasersektor hierfür keine Mehrheit im eigenen Vorstand. Darüber hinaus lehnte die Münchener Rück eine Erweiterung der Corona um Metzeler ab und drohte in diesem Fall mit einem Rückzug aus der Corona. Ebenso verliefen 1977 zahlreiche Gespräche von Bayer mit Vertretern von Pirelli, Michelin und Goodyear im Sande. Daher kündigte der Bayer-Konzern schließlich den Rückzug von Metzeler aus dem Pkw-Reifengeschäft an. Mehr als sechs Jahre nach Beginn der Fusionsverhandlungen kamen diese somit ergebnislos an ihr Ende.22 Im August 1978 beschloss der MKG -Aufsichtsrat bis Ende 1979 die gesamte Reifenproduktion mit Ausnahme des Zweiradreifensektors einzustellen.23 Den21 BAL 387/1-13 Bayer Vorstandssitzung (16.10.1973); BAL 387/1-15 Sondersitzung des Vorstands (06.09.1974); BAL 387/1-16 Bayer Vorstandssitzung (11.01.1977, 01.02.1977, 01.03.1977); Erker, Wachsen, S. 114–121. 22 BAL 387/1-16 Bayer Vorstandssitzung (19.10.1976); Erker, Wachsen, S. 114–121; Sattler, Herrhausen, S. 337–357. Die Corona Beteiligungsgesellschaft mbH wurde 1978 aufgelöst; ein Drittel ihres Aktienbestands an der Continental Gummi-Werke AG und der Phoenix AG fiel entsprechend an Bayer zurück. Vgl. BAL 387/1-17 Bayer Vorstandssitzung (20.12.1977); Geschäftsbericht Bayer 1978, S. 15. Ab 1983 verkauften Bayer und die Deutsche Bank in einem koordinierten Verfahren schrittweise ihre Continental-Aktien. Vgl. BAL 380/7-66 Bayer Vorstandssitzung (15.03.1983). Auch an einer langfristigen Beteiligung an Phoenix zeigte Bayer ab Anfang der 1980er Jahre kein Interesse mehr und stimmte sich bzgl. des Verkaufs von Phoenix-Aktien mit der Deutschen Bank ab. Nachdem sich die Überlegungen zur Zusammenfassung der Reifenindustrie aufgelöst hatten, Bayer bereits die Beteiligungen an Continental und Metzeler abgegeben hatte und Phoenix 1986 seit drei Jahren wieder eine Dividende ausschüttete, sahen Bayer und die Deutsche Bank den Augenblick gekommen, ihre restlichen PhoenixAktien zu verkaufen. Die Bayer-Beteiligung belief sich zu diesem Zeitpunkt noch auf nom. 12,2 Mio. DM . Der Phoenix-Vorstand stimmte der Loslösung von Bayer und Deutscher Bank zu. Vgl. BAL 380/7-66 Bayer Vorstandssitzung (07./08.12.1982); BAL 380/8-10 Bayer Vorstandssitzung (11.03.1986), Aktennotiz Schaub: Phoenix AG / A ktionärsgespräch (27.02.1986); BAL 380/8-11 Bayer Vorstandssitzung (08.04.1986); BAL 380/8-12 Bayer Vorstandssitzung (01.07.1986); BAL 384/1-44 Bayer Aufsichtsratssitzung (23.04.1986). 23 BAL 387/1-17 Bayer Vorstandssitzung (08.08.1978, 04./06.09.1978).

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noch entwickelten sich die Metzeler Gesellschaften Ende der 1970er Jahre alles andere als günstig und erforderten umfangreiche Sanierungsmaßnahmen. In diesem Zusammenhang wurde die Belegschaft der MKG zwischen 1978 und 1981 um fast 3.000 Mitarbeiter verringert.24 Schließlich wurde die Übernahme der Metzeler Gesellschaften für die Bayer-Auslandsstrategie noch aus einer anderen Perspektive bedeutsam, denn Metzeler Kautschuk GmbH (MKG) und Metzeler Schaum GmbH (MSG) fungierten in den folgenden Jahren selbst als Ausgangspunkte der Internationalisierung und verfügten Anfang der 1980er Jahre über Auslandsgesellschaften in Spanien, Großbritannien, Dänemark und Belgien. Die Sanierung der bestehenden Gesellschaften und die Erweiterung des Auslandsgeschäfts waren hierbei untrennbar miteinander verbunden und sollten die Metzeler-Gesellschaften langfristig wieder in die Gewinnzone führen.25

3.1.2 Auslandsinvestitionen Im Unterschied zum Aufbau eines Vertriebsnetzes erforderte der Ausbau ausländischer Produktionsstrukturen deutlich mehr Kapital für Investitionen in Fabrikgebäude, Büroräume oder Maschinen. Im Folgenden werden daher verschiedene Schwerpunkte der Sachanlage-Investitionen in den Blick genommen. Dabei fällt zum einen auf, dass Bayer mit ausländischen Firmen an mehreren großen Gemeinschaftsunternehmen (Erdölchemie GmbH, Agfa-GevaertGruppe, Mobay) beteiligt war; zum anderen spiegelt sich hier die Fokussierung auf den westeuropäischen und den nordamerikanischen Markt wider. Mitte der 1960er Jahre waren die Geschäftsaussichten bei Bayer noch glänzend, auch wenn die Differenz zwischen der Steigerung des Mengen- (10,5 %) und des Wertumsatzes (8,3 %) bei der Bayer AG 1965 im Vergleich zum Vorjahr auf einen Rückgang der Verkaufspreise und damit bereits auf ein Ende der guten Nachfrage hindeuteten. Besonders bei Faser-Erzeugnissen, Pharma-Produkten und Isocyanaten hatte Bayer Preissenkungen vornehmen müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dennoch kalkulierte der Bayer-Vorstand mit einem Investitionsvolumen von rund vier Mrd. DM für die Jahre 1966 bis 1969. Neben den inländischen Investitionen – in Leverkusen, Dormagen und Uerdingen – lagen die Schwerpunkte zu dieser Zeit bei der Erdölchemie GmbH in Dormagen / ​ Köln, der deutsch-belgischen Agfa-Gevaert-Gruppe, der N. V. Bayer S. A. in Antwerpen sowie den beiden US -Gesellschaften Mobay Chemical Company in Pittsburgh und Verona Corporation in Union / New Jersey.26

24 BAL 380/7-62 Bayer Vorstandssitzung (08.09.1981). 25 BAL 380/7-62 Bayer Vorstandssitzung (08.09.1981, 22.09.1981, 06.10.1981), Vorstandsstab Regionale Koordinierung an Bayer-Vorstand (04.09.1981). 26 Geschäftsbericht Bayer 1965, S. 10–19; Geschäftsbericht Bayer 1966, S. 10–15; Geschäftsbericht Bayer 1967, S. 12–17; Geschäftsbericht Bayer 1969, S. 17.

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In Leverkusen investierte Bayer in die anorganischen und organischen Produktionsanlagen, in die Farbstoffproduktion und in eine neue Konfektionierung für Arzneimittel, in Dormagen kamen Produktionsanlagen für Kautschuk, Kunststoffe, Insektizide und Herbizide hinzu; gleichzeitig erweiterte Bayer hier seine Faserkapazitäten, während im Werk Uerdingen die Isocyanatefertigung und die Kunststoffkapazitäten ausgebaut wurden.27 Damit wurden die bestehenden, insbesondere auf den Export angelegten Produktlinien in den deutschen Werken gestärkt. Der Standort Dormagen entwickelte sich immer mehr zu einer Chemiefaserfabrik – vor allem für die Bayer-Textilfaser Dralon (Acrylfaser), mit der Bayer zu einem der größten Acrylfaseranbieter der Welt aufstieg. Infolgedessen geriet Bayer während der 1970er Jahre bei fallenden Chemiefaserpreisen enorm unter Druck. Der Nachfragerückgang in Westdeutschland stellte das Unternehmen, dessen Synthese-Faserkapazitäten zu dieser Zeit noch zu 90 Prozent in der Bundesrepublik angesiedelt waren, vor große Herausforderungen. Die europäischen Wettbewerber hatten ihre Produktion bereits weit stärker regional diversifiziert: Im Fall von Hoechst und Akzo befanden sich 1972 immerhin 21 Prozent ihrer Synthese-Faserkapazitäten in den USA; der Anteil des Heimatmarktes betrug bei Hoechst lediglich 70 Prozent, bei ICI sogar nur 58 und bei Rhône-Poulenc 48 Prozent. Das Bayer-Management konzentrierte die Faseraktivitäten auf das Kerngebiet der Acrylfasern, verzichtete schrittweise auf die Produktion von Polyester-, Acetat- oder Kupferspinnfasern (Cupro-Fasern), stellte 1976 Teile der Perlon-Produktion (Perlon-Filament) in Dormagen ein und ordnete Kurzarbeit  – sowie ein Jahr später auch Versetzungen und Entlassungen – für die Beschäftigten an. Fasern aus Polyamid oder Polyurethanen entwickelten sich zu Spezialprodukten für besondere Anwendungsgebiete – von Angelschnüren bis Badeanzügen.28 Die von Bayer und dem britischen Mineralölkonzern BP 1957 gegründete Erdölchemie GmbH (EC) in Dormagen mit ihren Großcrackern stellte wegen der BP-Beteiligung in gewisser Weise eine inländische Form der Multinationalisierung dar. Sie gehörte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zu den inländischen Investitionsschwerpunkten, da die Nachfrage nach petrochemischen Produkten anhielt und EC an das mitteleuropäische Ethylen-Pipeline-Netz angeschlossen wurde. Obschon die Verkaufspreise in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre nachließen, investierten Bayer und BP in einen weiteren Ethylen-Cracker und eine zweite Polyethylen-Anlage, so dass die EC-Belegschaft zwischen 1970 und 1980 von etwa 2.500 auf über 3.000 Beschäftigte anstieg. Doch um das Jahr 1980 verschlechterten sich die Geschäftsaussichten. In der ersten Hälfte des Geschäfts27 Geschäftsbericht Bayer 1965, S. 21–22; Geschäftsbericht Bayer 1966, S. 21–22. 28 BAL 387/1-12 Bericht Dr. Koch über die Fasersparte (Vorstandssitzung 17.10.1972), Bayer Vorstandssitzung (20.03.1973); BAL 387/1-13 Bayer Vorstandssitzung (19.06.1973); BAL 387/1-16 Bayer Vorstandssitzung (07.12.1976, 01.02.1977); Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 341, 361, 505. Synthese-Faserkapazitäten 1972 in 1.000t: Bayer (189), Hoechst (297), Courtaulds (184), ICI (357), Akzo (560), Montedison (163), Rhône-Poulenc (412).

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jahres 1982/83 häufte EC aufgrund ansteigender Rohstoffpreise und gering ausgelasteter Kapazitäten einen Verlust von 60 Mio. DM an. Bayer fühlte daher bei BP vor, ob der britische Konzern an einer kompletten Übernahme interessiert sei, doch BP wiegelte ab.29 Der britische Mineralölkonzern zeigte nur noch wenig Interesse an EC und schlug Bayer im Oktober 1983 umgekehrt die Übernahme der BP-Anteile vor. Vor diesem Hintergrund machte Alfons Kottmann seinen Bayer-Vorstandskollegen den Vorschlag, EC entweder stillzulegen oder an einen Dritten zu verkaufen, wobei er hier insbesondere an Saudi-Arabien dachte, das sich zu jener Zeit an einer europäischen Raffinerie beteiligen wollte. Doch kam das Geschäft letztlich nicht zustande. Stattdessen wurde die ungeliebte Tochter EC von Bayer und BP gemeinschaftlich fortgeführt, bis BP 2001 schlussendlich die Bayer-Anteile übernahm.30 Die deutsch-belgische Zusammenarbeit im Rahmen der Agfa-GevaertGruppe steht ebenfalls exemplarisch für die in den 1960er Jahren einsetzende, neue unternehmenshistorische Ära grenzüberschreitender »Euro-Konzerne«.31 Die westeuropäische Fotochemieindustrie reagierte auf die veränderten internationalen Marktverhältnisse der 1960er Jahre und das Eindringen von US -Konkurrenten nach Westeuropa mit einer Welle von nationalen und europäischen Zusammenschlüssen. So übernahm der britische Chemiekonzern ICI den Fotochemiehersteller Ilford Ltd. und die schweizerische Ciba AG den größten französischen Fotochemieerzeuger Société Lumière. In diesem Kontext übertrug die Bayer AG ihre Anteile an verschiedenen westdeutschen Fotochemieunternehmen ihrer 100-prozentigen Tochtergesellschaft Agfa AG. Zugleich kamen Überlegungen auf, die Agfa AG mit dem belgischen Fotochemieunternehmen Gevaert zusammenzubringen. Rationalisierungs- und Synergieeffekte sollten Kosten senken, die Position auf dem westeuropäischen Markt sollte dauerhaft gesichert werden, und auch ein Wiedereintritt auf den US -Fotomarkt sollte durch die Fusion wieder möglich werden. Daraufhin einigten sich beide Seiten 1964 auf einen grenzübergreifenden Zusammenschluss zwischen der Agfa AG (Leverkusen) und der Gevaert N. V. (Mortsel), die ein unternehmensrechtliches Novum darstellte. Sowohl die Agfa AG als auch die eigens gegründete Holdinggesellschaft Gevaert N. V. übernahmen jeweils 50 Prozent der deutschen Agfa-Gevaert AG und der belgischen Agfa-Gevaert N. V., deren Leitungsgremien paritätisch aus ein und demselben Personenkreis von Deutschen und Belgiern bestanden. Die fein austarierten Personalbesetzungen hatten auch steuerrechtliche Gründe, 29 BAL 380/7-65 Bayer Vorstandssitzung (07.09.1982, 05.10.1982); Geschäftsbericht Bayer 1969, S. 30; Geschäftsbericht Bayer 1977, S. 54; Geschäftsbericht Bayer 1980, S. 52. 30 BAL 380/7-68 Bayer Vorstandssitzung (18.10.1983). Der Absatz der EC konnte 1984 auch nicht über die Hoechst AG ausgeweitet werden, die ein Angebot zur Lieferung von bis zu 250.000 Tonnen Ethylen jährlich ablehnte, stattdessen einen 10-Jahres-Vertrag mit UK-Wesseling abschloss und ihre 25 %-Beteiligung an UK Wesseling gegen eine 25 %-Beteiligung an Ruhrchemie mit Rheinbraun tauschte. Vgl. BAL 380/7-69 Bayer Vorstandssitzung (10.01.1984). 31 Vgl. grundlegend: Fengler, Fotoindustrie; Devos, Agfa-Gevaert.

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waren aber vor allem den Bemühungen geschuldet, nationale und kulturelle Empfindsamkeiten angemessen zu berücksichtigen. Nicht zuletzt fürchteten viele Gevaert-Aktionäre angesichts der Größe des westdeutschen Chemiekonzerns jeglichen Einfluss zu verlieren. Offiziell mischte sich der Bayer-Vorstand zwar nicht in das operative Geschäft der Agfa-Gevaert-Gruppe ein, tatsächlich aber nahm der Bayer-Vorstandsvorsitzende Kurt Hansen in vielfältiger Weise Einfluss auf strategische wie operative Fragen der Agfa AG.32 Die in die Fusion gesetzten Hoffnungen erfüllten sich jedoch nur teilweise, denn die zunehmende internationale Konkurrenz – japanische Kamerahersteller verdrängten die westdeutschen Hersteller in den 1960er Jahren fast vollständig vom US -Markt – schlug sich sowohl im Export als auch auf dem Inlandsmarkt nieder. Folglich nahmen auch die Spannungen innerhalb der Agfa-GevaertGruppe zu. Die belgischen Vorstandsmitglieder forderten Anfang der 1970er Jahre insbesondere die Schließung des defizitären Camerawerks in München, doch sowohl die deutschen Vorstandsmitglieder als auch Kurt Hansen hielten vorerst am Camerawerk als Vorspannbetrieb des fotochemischen Geschäfts fest. Zwar wurde 1970 die paritätische Doppelspitze durch eine eingliedrige Unternehmensleitung ersetzt, doch fiel es dem Vorstand der Agfa-GevaertGruppe immer schwerer, sich auf gemeinsame Positionen zu einigen. Zugleich wurde der Spielraum für Neuentwicklungen angesichts des engen finanziellen Rahmens immer kleiner. Als sich die Verlustsituation der Kameraproduktion durch den Wettbewerb mit Eastman Kodak und den japanischen Herstellern nochmals verschärfte, wurde die seit den 1920er Jahren verfolgte Geschäftsstrategie schließlich aufgegeben und die Kameraproduktion in München 1982 eingestellt. Die Aufgabe des Amateurkamerageschäfts war beileibe kein Einzelfall, vielmehr durchlief die gesamte westdeutsche Kameraindustrie seit den 1960er Jahren eine tiefgreifende Strukturkrise, der zahlreiche Marktteilnehmer zum Opfer fielen.33 Agfa-Gevaert erwirtschaftete Ende der 1970er Jahre erhebliche Verluste und benötigte nicht zuletzt wegen des ansteigenden Silberpreises – des wichtigsten Rohstoffs der fotochemischen Industrie – neues Kapital. Anfang 1980 vereinbarten die Bayer AG und Gevaert Photo-Producten N. V. daher das Gesellschaftskapital um 200 Mio. DM aufzustocken. Allerdings wurde diese Kapitalerhöhung alleine von der westdeutschen Bayer AG getragen, so dass sich das Beteiligungsverhältnis von 50:50 zugunsten von Bayer auf 60:40 verschob, auch wenn AgfaGevaert zunächst noch als binationales Unternehmen weitergeführt wurde.34 Zudem wurde eine organisatorische Neuordnung vorgenommen, in deren Folge die Holding Agfa AG die 60-prozentige Beteiligung an der deutschen Agfa-­Gevaert AG und eine 35-prozentige Beteiligung an der belgischen Agfa-Gevaert N. V. 32 Fengler, Fotoindustrie, S. 134–142. 33 BAL 380/7-65 Bayer Vorstandssitzung (02./03.11.1982); Fengler, Fotoindustrie, S. 142–163; Reinert, Bayer, S. 179. 34 BAL 387/1-18 Bayer Vorstandssitzung (22.01.1980); Geschäftsbericht Bayer 1979, S. 15.

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übernahm, wobei Bayer an der belgischen Betriebsgesellschaft nochmals direkt 25 Prozent hielt.35 Schließlich fällte der Bayer-Vorstand die Entscheidung, das deutsch-belgische Unternehmen vollständig zu übernehmen und stellte der Agfa AG 1981 hierfür ein beteiligungsähnliches Darlehen in Höhe von 325 Mio. DM zur Verfügung, mit denen die verbliebenen 40 Prozent Agfa-Gevaert-Anteile von der Gevaert Photo-Producten N. V. erworben wurden. Im Rahmen einer weiteren Kapitalerhöhung 1981 flossen der Agfa-Gevaert AG nochmals 137,5 Mio. DM und der Agfa-Gevaert N. V. eine Mrd. BEF (60,4 Mio. DM) zu.36 Indem die Bayer AG die bisherigen Verluste der Agfa-Gevaert AG im Rahmen ihrer Bilanz abschrieb und neues Kapital in das Unternehmen investierte, legte sie den Grundstein für eine nahezu vollständige Neuentwicklung des fotochemischen Sortiments in den folgenden drei Jahren. Zugleich wurde die Belegschaft reduziert. Allen Beschäftigten, die 1981 das 59. Lebensjahr erreicht hatten, wurde eine Frühpensionierung angeboten, für die das Management Kosten von ca. zehn Mio. DM einkalkulierte. Die Auflösung der grenzübergreifenden Überkreuzverflechtung hob die Blockade innerhalb des binationalen Gruppenvorstands auf und versetzte ihn in die Lage, eine neue, zukunftsweisende Strategie zu implementieren, doch dauerte es noch bis 1988, bis die Agfa-Gevaert AG wieder Gewinne an die Bayer AG abführen konnte.37 Auf diese Weise blieb Bayer auf dem westeuropäischen Markt für Fotochemikalien ein bedeutender Player. In den USA übernahm Bayer Anfang 1967 die 50-Prozent-Beteiligung der Monsanto Company an dem US -Joint Venture Mobay, nachdem ein Verkauf des Monsanto-Pakets an Gulf Oil, Texaco, Koppers Company oder Consolidated Coal zuvor gescheitert war.38 Mit der Abgabe des Monsanto-Aktienpakets für 20 Mio. US -Dollar war insbesondere die Anti-Trust-Klage des US -Justizministeriums vom Tisch, welche das US -Department of Justice im April 1964 gegen Mobay erhoben hatte und durch die deutlich geworden war, dass die AntitrustBehörden in Joint Ventures konkurrierender Unternehmen eine prinzipielle Einschränkung des Wettbewerbs sahen. Jene Verbotsdrohung hing fortan wie ein Damoklesschwert über ähnlichen Kooperationsformen, und sie gefährdete die Expansionsstrategie westdeutscher Konzerne, die nach dem Verlust ihres Auslandsvermögens infolge des Zweiten Weltkrieges versuchten, über Joint Ventures wieder auf den US -Markt vorzustoßen. Im Fall von Mobay ging die Übernahme zum Leidwesen der Bayer-Führung allerdings nicht mit einem wirtschaftlichen Erfolg einher, vielmehr litt das US -Tochterunternehmen unter erheblichen ökonomischen und technischen Problemen. Bayer intensivierte daher in die tech35 Geschäftsbericht Bayer 1980, S. 15. 36 BAL 380/7-61 Weitkemper an Bayer-Vorstand (22.05.1981), Bayer Vorstandssitzung (27.04.1981); Geschäftsbericht Bayer 1981, S. 15. 37 BAL 380/7-61 Bayer Vorstandssitzung (02.06.1981); Fengler, Fotoindustrie, S. 173–177. 38 BAL 380-1-4 Bayer Vorstandssitzung (02.02.1965), Bayer außerordentliche Vorstandssitzung (29.07.1965); Geschäftsbericht Bayer 1966, S. 13; Geschäftsbericht Bayer 1967, S. 15; Kleedehn, Internationalisierung, S. 280–290; Ludwig, Herausforderungen, S. 107–108; Reinert, Bayer, S. 171–173; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 440–441.

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nische Zusammenarbeit und den gegenseitigen Erfahrungsaustausch und setzte zudem einen Verbindungsmann ein, der die Kontrolle durch die westdeutsche Muttergesellschaft erhöhen sollte.39 Erdölchemie, Agfa-Gevaert, Bayer-Antwerpen, Mobay und Verona (bzw. später Baychem Corporation) bildeten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre neben den bestehenden westdeutschen Bayer-Werken die Investitionsschwerpunkte des Konzerns – regional betrachtet neben der Bundesrepublik somit Belgien und die USA . In unmittelbarer Nähe zum Bayer-Werk in Antwerpen gründete Bayer mit Shell 1969/70 ein 50:50 Joint Venture zur Herstellung von Isocyanaten für Polyurethane, die sogenannte Bayer-Shell Isocyanates N. V., und verstärkte damit nochmals ihr Engagement in Belgien.40 Anfang der 1970er Jahre weitete sich dieser Kreis spürbar aus, beispielsweise um die übernommene Wolff Walsrode AG und die Metzeler-Gruppe, die japanische Sumitomo Bayer Urethane Co. Ltd. (ein 50:50 Joint Venture mit der japanischen Sumitomo Chemical Co. Ltd.)41, die spanische Bayer Hispania Industrial S. A. und schließlich um ein neues BayerWerk, das im norddeutschen Brunsbüttel errichtet wurde.42 Größere Sachanlagen-Investitionen wurden in den 1970er Jahren ferner bei der brasilianischen Bayer do Brasil S. A. in Rio de Janeiro, der peruanischen Bayer Industrial S. A. in Lima und der iranischen Aliaf-Public Joint Stock Co. in Teheran getätigt.43 Angesichts der breiten Produktpalette der Bayer AG zeichneten sich auch die Investitionen durch eine hohe Heterogenität aus. Schwerpunkte bildeten in den 1970er Jahren zweifellos Chemiewerkstoffe, Pflanzenschutzmittel und Pharmaerzeugnisse in den USA, Fototechnik und -chemie in Belgien sowie der weltweite Aufbau von Chemiefaserkapazitäten (wie im Iran oder in Peru). Obschon sich die Marktaussichten für Chemiefasern aus heimischer Produktion verdüsterten, bauten die westeuropäischen Chemieunternehmen weltweit neue Kapazitäten auf  – teilweise aufgrund des Wegfalls des Patentschutzes für bestimmte Produkte, teilweise als Versuch auf neue Märkte zu expandieren. Damit trieben sie den internationalen Wettbewerb weiter an.44 39 Abelshauser, Neugründung, hier S. 528–529; BAL 380-1-8 Bayer Vorstandssitzung (17.01.1967, 03.02.1967, 21.02.1967, 18.07.1967); Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 440–441. 40 BAL 387/1-9 Bayer Vorstandssitzung (02.12.1969); Geschäftsbericht Bayer 1970, S. 33. 41 Geschäftsbericht Bayer 1969, S. 37. Die Sumitomo Bayer Urethane Co. Ltd. stellte ähnlich zu Bayer-Shell in Antwerpen Polyurethan-Vorprodukte her. 42 Geschäftsbericht Bayer 1970, S. 16. 43 BAL 387/1-11 Bayer Vorstandssitzung (05./08.10.1971); Geschäftsbericht Bayer 1972, S. 12; Geschäftsbericht Bayer 1973, S. 12; Geschäftsbericht Bayer 1979, S. 14. 44 Geschäftsbericht Bayer 1980, S. 14. Mitte der 1960er Jahre hatte der Bayer-Vorstand mit Planungen für eine Dralon-Produktion in Peru begonnen, welche die gesamte südamerikanische Westküste beliefern sollte, doch wurde das Projekt wegen des geringen Entwicklungspotenzials des Marktes – und explizit nicht wegen politischer oder Währungsrisiken  – zurückgestellt. Ende 1966 genehmigte der Bayer-Vorstand dann doch eine Dralon-Anlage für die peruanische Bayer Quimicas Unidas S. A. Im Jahr 1969 errichtete daraufhin die neu gegründete Bayer Industrial S. A. für 50 Mio. DM eine große

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Hauptinvestitionsgebiet blieb die Bundesrepublik.45 Neben Westeuropa und den USA investierte Bayer in den 1970er Jahren größere Summen in Japan, Lateinamerika (besonders in Brasilien) und im Nahen Osten. Außerhalb Europas war Bayer  – wie andere deutsche Chemie- und Pharmafirmen (Hoechst oder Merck)46 – traditionell gut in Lateinamerika vertreten. Im Fall Brasiliens stimmte der Bayer-Vorstand 1968 der Errichtung einer eigenen Pharma-Konfektionierung zu, obschon er mehrjährige, erhebliche Anlaufverluste erwartete. Die Genehmigung für die Vier-Millionen-DM Investition wurden vor allem erteilt, weil die Bayer-Leitung im brasilianischen Pharmamarkt erhebliche Wachstumspotenziale sah.47 Obschon die Wirtschaftspolitik im lateinamerikanischen Raum die Geschäftstätigkeit erschwerte, expandierte Bayer auch in den 1970er Jahren dort weiter. Mitte der Dekade diskutierte der Bayer-Vorstand intensiv über die Errichtung einer TDI-Anlage (Toluylen-Diisocyanat als Vorprodukt für zahlreiche Schaumstoffe)  in der brasilianischen Industriestadt Cubatão im Bundesstaat São Paulo. Dabei gestand sich der Vorstand selbst ein, dass Wirtschaftlichkeitsrechnungen in diesem Fall nur von sekundärer Bedeutung seien, da für das Geschäft Zölle und Preise bestimmend seien, die weitgehend von politischen Gegebenheiten abhingen.48 Infolge der wirtschaftlichen Krise kürzte das BayerManagement im Dezember 1975 jedoch kurzerhand die vorgesehenen Investitionen für die TDI-Anlage in Höhe von 30 auf 15 Mio. DM und entschied sich Ende der 1970er Jahre, das Gelände in Cubatão wieder komplett zu verkaufen. Insgesamt gestaltete sich die ökonomische Entwicklung Brasiliens Ende der 1970er Jahre wieder erfreulicher. Infolgedessen stiegen auch Umsatz und Ergebnis der Tochtergesellschaft Bayer do Brasil wieder an, die zum bedeutendsten

45 46 47 48

Dralon-Fabrik in Lima, welche Peru, Bolivien und Chile beliefern sollte; noch im selben Jahr gab es Pläne die Kapazität von 6.000 jato auf 8.500 bis 12.000 jato zu erhöhen. Der Bayer-Vorstand genehmigte 1969 jedoch nur die Finanzierung der Energieanlagen, eine Erweiterung sollte hingegen durch die Gewinne der peruanischen Gesellschaft bestritten werden. In einem Anpassungsvertrag mit dem peruanischen Industrieministerium wurde 1972 die Erhöhung auf 12.000 jato festgeschrieben. Als schwierig erwiesen sich in diesem Fall die Eigentumsverhältnisse, denn eine ausländische Mehrheitsbeteiligung war gesetzlich nur erlaubt, wenn der Staat mindestens 30 % der Anteile besaß. Vgl. BAL 380-1-4 Bayer Vorstandssitzung (20.10.1964, 01.12.1964); BAL 387/1-7 Bayer Vorstandssitzung (01.03.1966, 10.03.1966); BAL 387/1-8 Bayer Vorstandssitzung (02.11.1966); BAL 387/1-9 Bayer Vorstandssitzung (20.12.1968, 15.04.1969, 16.12.1969); BAL 387/1-11 Bayer Vorstandssitzung (04.07.1972, 15.08.1972); Geschäftsbericht Bayer 1969, S. 36. Insgesamt wurden Ende der 1970er Jahre zwei Drittel der Sachanlagen-Investitionen in der Bundesrepublik und ein Drittel im Ausland eingesetzt. Vgl. Geschäftsbericht Bayer 1978, S. 14. Burhop, Wirtschaftswunder, hier S. 399–404. Vgl. für Mannesmann exemplarisch: Nellißen, Mannesmann-Engagement. BAL 387/1-8 Bayer Vorstandssitzung (05.12.1967, 23.01.1968). BAL 387/1-16 Bayer Vorstandssitzung (16.03.1976, 18.05.1976).

168

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Farbstoffhersteller Südamerikas avancierte.49 Folglich erweiterte Bayer den Produktionsstandort in Belford Roxo im Bundesstaat Rio de Janeiro, an dem Bayer seit Ende der 1950er Jahre chemische Grundprodukte für Farbstoffe sowie Textilhilfsmittel und Pflanzenschutzmittel herstellte.50 Der Bedeutungsgewinn anderer Weltregionen drückte sich ferner darin aus, dass den Bayer-Aktionären zur Hauptversammlung im Juni 1975 der Film »Bayer in Asien« gezeigt wurde, der auf die geschäftlichen Perspektiven in Japan, Indien, Indonesien und Thailand einging.51 Bereits 1951 hatte Bayer mit dem renommierten japanischen Pharmaunternehmen Takeda und dessen Tochtergesellschaft Yoshitomi eine Zusammenarbeit vereinbart, um den Export von Bayer-Medikamenten nach Japan anzukurbeln, die 1973 in die Gründung des Gemeinschaftsunternehmens Bayer Yakuhin mündete. Daneben errichtete Bayer 1969 mit Sumitomo Chemical das Joint Venture Sumitomo Bayer Urethane (SBU), welches die steigende Nachfrage der expandierenden japanischen Automobilindustrie nach Schaumstoffen nutzen sollte.52 Gleichwohl zeigte eine unternehmensinterne Analyse des japanischen Chemiemarkts 1979, dass Bayer hier nur einen Marktanteil von 0,6 Prozent hatte, während der Bayer-Anteil am Weltchemiemarkt bei 1,7 Prozent lag. Aus dieser Perspektive war Bayer in Japan immer noch weit unterrepräsentiert. Ab Anfang der 1980er Jahre verstärkte das Management daher seine Expansionsbemühungen in Richtung Japan. Dabei ging man davon aus, dass der japanische Markt kaum von außen – also über den Export – beliefert werden könne, und hielt daher an Joint Ventures zur Marktdurchdringung fest.53 Obgleich die großen Umweltbewegungen der 1970er Jahre noch vor der Tür standen, maß die Unternehmensleitung diesem Themenkomplex seit den 1960er Jahren in zunehmendem Maße Bedeutung bei, wohl auch wegen der besonderen öffentlichen Sensibilität gegenüber den Verschmutzungen der Chemieindustrie. Von den 804 Mio. DM inländischen Sachanlagen-Investitionen 1969 entfielen ca. 80 Prozent auf Fabrikations-, Energie- und Verkehrsbetriebe, ca. 11 Prozent auf Forschung, Entwicklung und Anwendungstechnik und etwa 3,5 Prozent (28  Mio. DM) auf die Reinhaltung von Wasser und Luft. Besonders der Bau von Großkläranlagen erforderte zu dieser Zeit viel Kapital. Im Jahr 1966 war der Grundstein für das Gemeinschaftsklärwerk für Haushalts- und Industrieabwässer in Leverkusen-Bürrig gelegt worden.54

49 BAL 387/1-16 Sondersitzung des Vorstands (11.12.1975); BAL 387/1-17 Bayer Vorstandssitzung (03.05.1977); BAL 387/1-18 Bayer Vorstandssitzung (05./06.12.1978, 16.10.1979). 50 Reinert, Bayer, S. 177; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 355–357. 51 Bayer, Rede. 52 Reinert, Bayer, S. 179; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 584–589. 53 BAL 379/36 Protokoll der 27. Unternehmenskonferenz (22.04.1982); BAL 387/1-18 Bayer Vorstandssitzung (04.09.1979). Für die Jahre 1982–1986 waren für Japan Sachanlage-Investitionen in Höhe von 246,4 Mio. DM vorgesehen. 54 Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S.  422–429.

Bayer

169

Die Geschäftsleitung wies jene hohe absolute Zahl von 28 Mio. DM im Geschäftsbericht aus, um zu zeigen, dass man sich der Nebeneffekte einer chemischen Großproduktion annahm; umgekehrt befürchtete sie aber, dass »sich in Zukunft Genehmigungsverfahren für den Bau neuer und die Erweiterung bestehender chemischer Anlagen [durch behördliche Regelungen zur Luft- und Wasserreinhaltung, C. M.] erheblich verzögern werden. […] Wir müssen auf die Gefahr schwerer Schäden für die Wettbewerbsfähigkeit eines im weltweiten Konkurrenzkampf stehenden Unternehmens […] hinweisen.«55 Trotz der im Vergleich zu US -Unternehmen höheren Bereitschaft westdeutscher Chemieunternehmen in umweltverträgliche Produkte und Prozesse zu investieren, machte das Bayer-Management hier die Grenzen seines umweltpolitischen Engagements klar.56 Ferner wurde der internationale Wettbewerb als Argument gegen Auflagen im Inland angeführt und damit versteckt mit der möglichen Umlenkung von Investitionen ins Ausland gedroht.57 Die internationale Dimension der Umweltproblematik wurde im Juli 1976 offensichtlich, als sich in der chemischen Fabrik Industrie Chimiche Meda Società Azionaria (ICMESA) im italienischen Seveso, einer Tochtergesellschaft des schweizerischen Hoffmann-La Roche-Konzerns, ein Chemieunfall ereignete, bei dem eine unbekannte Menge von hochgiftigem Dioxin freigesetzt wurde. Bei der Abkühlung einer Produktionsanlage zur Herstellung von Trichlorphenol hatte zuvor eine Explosion stattgefunden. Nicht zuletzt die große internationale Aufmerksamkeit führte dazu, dass der Bayer-Vorstand daraufhin die dauerhafte Stilllegung der eigenen Anlage für Trichlorphenol beschloss, obschon man das eigene Verfahren als beherrschbar einstufte.58 Die internationale Reichweite zeigte sich auch darin, dass internationale Organisationen, wie das United Nations Environment Programme (UNEP), das Thema aufgriffen. Der Ansatz des UNEP verweist auf das Fehlen international gültiger Umweltrechtstandards zu jener Zeit und war insbesondere gegen multinationale Unternehmen gerichtet, die sich nationalen Umweltregelungen ein Stück weit entziehen konnten.59 Bei der langfristigen Betrachtung der Investitionsentwicklung von Sach­ anlagen fällt eine Entwicklung ins Auge: Während Investitionen und Abschreibungen der Bayer-Gruppe 1960 bis 1966 recht kontinuierlich anstiegen und die Investitionen deutlich über den Abschreibungen lagen, galt diese Regel in der 55 Geschäftsbericht Bayer 1969, S. 17. 56 Jones / Lubinski, Green Giants. Bis in die 1960er Jahre argumentierten westdeutsche wie US -amerikanische Chemieunternehmen gleichermaßen, dass ihre Verschmutzungen für den wirtschaftlichen Fortschritt notwendig und unumgänglich seien; erst ab den 1970er Jahren wichen die Unternehmensentwicklungen in Bezug auf den Umweltschutz stärker voneinander ab. 57 Geschäftsbericht Bayer 1971, S. 16–17. 58 BAL 387/1-16 Bayer Vorstandssitzung (03.08.1976). Vgl. zu Seveso: Hofmann, Lernen; Patzel-Mattern, Unmöglichkeit; Teltschik, Großchemie, S. 269–273; Uekötter / K irchhelle, Seveso. 59 BAL 387/1-17 Bayer Vorstandssitzung (23.05.1978).

267

296

312

356

379

466

527

641

632

673

834

893

1.097

1961

1962

1963

1964

1965

1966

1967

1968

1969

1970

1971

1972

 

Abschreibungen in Mio. DM

1960

1952–1968

Jahr

1.135

1.501

1.872

1.340

664

739

1.059

780

635

571

590

586

464

8.116

Investitionen in Mio. DM

0,967

0,595

0,446

0,502

0,952

0,867

0,498

0,597

0,597

0,623

0,529

0,505

0,575

 

Abschrei­ bungenInvestitionenRatio

400

548

509

324

113

158

210

90

 

 

 

 

 

933

absolut in Mio. DM

35,2

36,5

27,2

24,2

17,0

21,4

19,8

11,5

 

 

 

 

 

11,5

in %

576

590

564

459

425

471

400

356

286

268

274

257

236

 

Investitionsanteil der aus- Abschreibunländischen Gesellschaften gen in Mio. DM

Bayer-Gruppe (bis 1971)/Bayer-Welt (ab 1972)

Tabelle 7: Abschreibungen und Investitionen in Sachanlagen bei Bayer (1960–1986)

535

717

1.119

804

449

496

697

566

462

381

490

498

404

 

Investitionen in Mio. DM

davon Bayer AG

1,077

0,823

0,504

0,571

0,947

0,950

0,574

0,629

0,619

0,703

0,559

0,516

0,584

Abschrei­ bungenInvestitionenRatio

170 Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

1.290

1.257

1.321

1.571

1.673

1.737

1.699

1.788

1.880

1.844

1.922

2.018

2.031

1974

1975

1976

1977

1978

1979

1980

1981

1982

1983

1984

1985

1986

2.373

2.058

1.842

1.872

2.058

2.539

2.659

2.240

1.727

1.889

1.652

1.903

1.797

1.213

0,856

0,981

1,043

0,985

0,914

0,704

0,639

0,775

0,969

0,832

0,800

0,661

0,718

0,957

962

984

927

906

832

983

1154

1007

614

475

446

936

657

396

40,5

47,8

50,3

48,4

40,4

38,7

43,4

45,0

35,6

25,1

27,0

49,2

36,6

32,6

865

1.074

759

763

807

802

742

730

708

686

648

625

648

618

1.002

779

638

514

683

904

894

760

612

684

633

685

880

652

0,863

1,379

1,190

1,484

1,182

0,887

0,830

0,961

1,157

1,003

1,024

0,912

0,736

0,948

Anmerkung: Bis 1971 umfasste die Bayer-Gruppe die Bayer AG sowie die in- und ausländischen Beteiligungsgesellschaften, an denen die Bayer AG oder im Falle einer mehrstufigen Beteiligung die jeweilige Muttergesellschaft mit 50 % und mehr beteiligt war. Die Gruppendaten enthielten nur die Zahlen entsprechend des jeweiligen direkten oder indirekten Beteiligungsverhältnisses. Die Welt-Daten beziehen sich auf den gleichen Kreis, enthielten jedoch die Zahlen zu 100 %, also ohne Berücksichtigung des Beteiligungsverhältnisses. Im Geschäftsjahr 1972 wurde der Begriff der Bayer-Gruppe aufgegeben. Ab 1987 bilanzierte Bayer nach neuem Bilanzrecht. Vgl. Geschäftsbericht Bayer 1971, S. 12; Geschäftsbericht Bayer 1972, S. 12.

Quelle: Geschäftsberichte Bayer (1965–1986); eigene Berechnungen.

1.161

1973

Bayer

171

172

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Folgezeit nur noch eingeschränkt. Erstmals brachen die Investitionen 1967/68 ein, um sich anschließend zwar kurzzeitig zu erholen, doch 1972/73 sanken sie erneut deutlich ab. Das Unternehmen beschrieb dies selbst in etwas beschönigender Form als planmäßige »Konsolidierungsphase«60. In den Jahren mit einer geringeren Investitionsquote lagen Investitionen und Abschreibungen nahezu gleich auf. Auffällig ist zudem, dass die Investitionen in der ökonomischen Krise 1974/75 nicht absanken, aber 1982/83 deutlich einbrachen. Hierin spiegeln sich zum einen längerfristige Investitionshorizonte wider, zum anderen zeigt sich hier das Ausmaß der Krise Anfang der 1980er Jahre. Jene Entwicklung der Bayer-Gruppe / Bayer-Welt zeigt sich in ähnlicher Weise bei der Bayer AG, allerdings verschob sich das Verhältnis von Abschreibungen und Investitionen hier noch stärker. Ab Mitte der 1970er Jahre häuften sich hier die Jahre, in denen die Abschreibungen die Investitionen überstiegen. Zusammengenommen deutet dies auf ein nachlassendes Investitionsverhalten des Bayer-Konzerns in den 1970er Jahren hin.61 Im Geschäftsbericht 1977 wurde explizit festgehalten, dass der Anteil für Erweiterungsinvestitionen zurückgefahren wurde, während Investitionen zur Erhaltung und für den Umweltschutz zunahmen.62 Parallel gewannen Auslandsinvestitionen enorm an Bedeutung. Während der Investitionsanteil der ausländischen Gesellschaften 1952 bis 1968 bei durchschnittlich 11,5 Prozent lag, stieg dieser Wert über 20,2 (1960–1965) und 34,7 (1971–1978) auf 43,2 Prozent (1979–1983). Es lässt sich also festhalten, dass Investitionen gegenüber Abschreibungen tendenziell zurückgingen und zugleich der Auslandsanteil an den Investitionen erheblich anstieg. Die Bundesrepublik bildete weiterhin den Investitionsschwerpunkt, sie hatte als Anlageregion jedoch erheblich gegenüber dem Ausland an Gewicht eingebüßt.63

3.1.3 Auslandsbeteiligungen Neben dem Ausbau von Produktionsanlagen bestehender Gesellschaften gewann die Auslandsproduktion besonders über neue oder höhere Beteiligungen an ausländischen Gesellschaften an Bedeutung. Im Jahr 1965 wurde das Gesellschaftskapital der N. V. Bayer S. A. in Antwerpen um 964 Mio. auf eine Mrd. belgische Francs (ca. 80 Mio. DM) erhöht. Im Jahr 1968 erfolgte eine weitere Erhöhung um 625 Mio. belgische Francs (ca. 50 Mio. DM) zur Finanzierung neuer Investitionen. Daneben blieb die Beteiligungs- und Finanzierungsgesellschaft Bayforin in Toronto maßgeblich für die Investitionstätigkeit im Ausland, denn 60 Geschäftsbericht Bayer 1972, S. 12. 61 Bei der Bayer-Gruppe / Bayer-Welt (bzw. der Bayer AG) lag der Quotient zwischen 1960 und 1966 im Durchschnitt bei 0,56 (0,60), im Zeitraum 1967 bis 1983 hingegen bei 0,78 (0,94). 62 Geschäftsbericht Bayer 1977, S. 14. 63 Geschäftsberichte Bayer (1965–1986); eigene Berechnungen.

Bayer

173

die ausländischen Aktivitäten sollten möglichst unter Schonung des westdeutschen Kapitalmarkts finanziert werden. Die kanadische Beteiligungs- und Finanzierungsgesellschaft Bayforin Allein 1965 beteiligte sich die Bayforin an einer Kapitalerhöhung der ProgilBayer-Ugine (PBU) in Paris um fünf Mio. FF, steigerte ihre Beteiligungen an der österreichischen Chemie GmbH und an den bestehenden Fabrikationsgesellschaften in Lateinamerika und übernahm das gesamte Gesellschaftskapital der australischen Vertretung Bayer Leverkusen Ltd. sowie ein Drittel der Anteile der Firma Henry H. York & Co. Ltd. in Neuseeland.64 Im Jahr 1967 erhöhte Bayforin ihre US -Beteiligung an der Chemagro Corporation (Kansas City / Missouri) auf nahezu 100 Prozent, ein Jahr später erwarb sie ferner eine 50-Prozent-Beteiligung an der Chrome Chemicals Ltd. in Südafrika.65 Vor dem Hintergrund dieser vielen Zukäufe wurde es 1968 notwendig, das Kapital der Bayforin selbst um fünf Mio. kanadische Dollar (CAD) auf 37,5 Mio. CAD (ca. 139,8 Mio. DM) anzuheben; bis 1971 stieg es schrittweise auf 52,5 Mio. CAD.66 Darüber hinaus wurden ab 1968 mehrere westeuropäische Landesgesellschaften in Kooperation mit der Bayforin umstrukturiert und konsolidiert: In Großbritannien gründete die Bayforin 1968 die Holdinggesellschaft Bayer U. K. Ltd. mit Sitz in Richmond (Surrey), die den vorher von der Bayforin gehaltenen Aktienbesitz an Bayer Chemicals Ltd., Baywood Chemicals Ltd., Bayer Dyestuffs Ltd., FBA Pharmaceuticals Ltd., Haarmann & Reimer Ltd., Bayer Fibres Ltd. und Bayer Dyestuffs Manufacturing Ltd. übernahm.67 Bayer U. K. etablierte eine ausdifferenzierte divisionale Struktur (Pharmaceutical Division, Consumer Products Division, Polyurethane Division, Rubber Division, Dyestuffs Division, Inorganics and Organics Division, Fibres Division, Agrochemicals Division), deren Produktpalette von Herzkreislaufprodukten und Antiinfektiva über Süßstoffe und Fungizide bis zu Schäumen und Lacken für die Automobilindustrie reichte.68 64 Geschäftsbericht Bayer 1965, S. 22–23. 65 Bayer zeigte ab Ende der 1960er Jahre Interesse am südafrikanischen Markt und gründete 1969 mit einem südafrikanischen Verbindungsmann ein 50:50 Joint Venture. In den 1970er Jahren wurden noch weitere Investitionen für Südafrika diskutiert, letztlich blieb Bayer gegenüber der langfristigen ökonomischen Entwicklung Südafrikas aber skeptisch. Vgl. BAL 387/1-9 Bayer Vorstandssitzung (15.04.1969); BAL 387/1-12 Bayer Vorstandssitzung (03.04.1973); BAL 387/1-16 Bayer Vorstandssitzung (06.04.1976). 66 BAL 387/1-10 Bayer Vorstandssitzung (06.07.1971). 67 BAL 329/632 »Bayer (U. K.) Ltd. gegründet«, in: Industriekurier Nr. 126, 15.08.1968, »Neue Bayer-Holding in England«, in: Handelsblatt, 15.08.1968, »Holding-Gesellschaft in Großbritannien gegründet«, in: Bayer Presse-Information, 13.08.1968; Geschäftsbericht Bayer 1967, S. 13; Geschäftsbericht Bayer 1968, S. 20–21. 68 British Library (London), Bayer UK . Report and Accounts 1983. Um 1980 hatte Bayer U. K. etwa 1.000 Beschäftigte. Nach 15 Jahren wurde der Sitz von Bayer U. K. im Herbst 1983 von Richmond (Surrey) nach Newbury (Berkshire)  verlegt; erst nach 32 Jahren

174

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Die größere Eigenständigkeit der drei großen westdeutschen Konzerne zeigte sich auch im Ausland. In Spanien lösten BASF und Bayer ihre gemeinsame Vertriebs- und Produktionsorganisationen auf, indem Bayforin von der BASFGruppe 1970 deren 29,5-Prozent-Beteiligung an Unicolor und deren 25-ProzentBeteiligung an der Fabricación Nacional de Colorantes y Explosivos S. A. (FNCE) erwarb.69 Hier wurde im Herbst 1968 die Vertriebsgesellschaft Bayer Hispania Comercial S. A. (BHC) gegründet, die an die Stelle der Verkaufsvertretung Unicolor trat und deren Kapital je hälftig von der Bayforin und der Bayer Hispania Industrial S. A. (BHI) gehalten wurde, wobei Bayforin an letzterer wiederum mit 87,5 Prozent beteiligt war. Neben der Beteiligung an Vertriebsgesellschaften tätigte Bayer Ende der 1960er Jahre in Spanien zudem große Investitionen auf dem Polyurethangebiet.70 Schon 1966 war das Bayer-Management zu dem Ergebnis gekommen, dass eine verstärkte Auslandsproduktion in Spanien angesichts der beschleunigten Industrialisierung Spaniens sinnvoll sei, und baute daher ab 1969 einen zweiten Produktionsstandort in Tarragona auf. Während BHI in Prat bei Barcelona seit 1965 vor allem Alkydharze, Polyesterharze und Kunststoffe herstellte und ab 1969 dort auch die Erzeugung von Kautschuk-Chemikalien aufnahm, entstand in Tarragona eine Anlage für Vorprodukte von PolyurethanSchaumstoffen, wie sie im Fahrzeugbau und in der Bau- und der Möbelindustrie eingesetzt wurden. Bereits 1972 wurde in Quart de Poblet bei Valencia zusätzlich eine Pflanzenschutzmittel-Formulieranalage in Betrieb genommen. Damit verfügte Bayer Anfang der 1970er Jahre über eine breite Produktionsbasis in Spanien und gehörte zu den führenden Chemiefirmen des Landes.71 Auch in den USA wurden die einzelnen Bayer-Tochtergesellschaften zusammengefasst: Im Jahr 1971 erfolgte die Fusion der US -Tochtergesellschaften Chemagro Corporation, Mobay Chemical Company, Verona Corporation, Baytex Inc., FBA Pharmaceuticals Inc. und Vero Beach Laboratories Inc. unter dem Dach der neu errichteten Baychem Corporation mit Sitz in New York.72 Bei jener Neuorganisation der US -Gesellschaften griff Bayer auf die Ergebnisse einer bei

69 70 71

72

wechselte Bayer U. K. 2015 erneut in moderne Gebäude in Green Park, Reading (Berkshire). Vgl. BAL , »›Bayer House‹ in Newbury wurde jetzt feierlich eröffnet: Die englische Tochter zog ins Grüne«, in: Unser Werk 35. (70.) Jahrgang, Heft 5, 1984, S. 4–5; »Council ›didn’t do enough‹ to stop Bayer leaving Newbury«, in: NewburyToday, 29.10.2015; Verg /​ Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S.  447, 552–553. Geschäftsbericht Bayer 1970, S. 34. Vgl. zur Vorgeschichte der FNCE bis 1965: Puig, El crecimiento; Puig, Business; Puig, Auslandsinvestitionen. BAL 380-1-8 Bayer Vorstandssitzung (13.02.1967); BAL 387/1-9 Bayer Vorstandssitzung (04.06.1968, 02.07.1968); Geschäftsbericht Bayer 1967, S. 13; Geschäftsbericht Bayer 1968, S. 20–21. BAL 009/L Bayer Hispania S. A. gegründet (03.01.1966), Bayer verstärkt Aktivität in Spanien (12.12.1968), Neue Produktionsstätten der Bayer Hispania Industrial (21.04.1969), Chemiewerk der Bayer Hispania bei Tarragona im Aufbau (02.02.1970), Fabrikationsanlage für Pflanzenschutzmittel in Spanien (06.06.1972), Ausbau der Bayer Hispania Industrial in Tarragona (09.10.1972); BAL 387/1-7 Bayer Vorstandssitzung (03.05.1966). BAL 387/1-10 Bayer Vorstandssitzung (01.06.1971); Geschäftsbericht Bayer 1971, S. 14.

175

Bayer

der Beratungsgesellschaft Arthur D. Little in Auftrag gegebenen Studie zurück und demonstrierte damit den wachsenden Beratungsbedarf von Industrieunternehmen seit den 1960er Jahren. Die Ausbreitung von Beratungsunternehmen war Ausdruck einer zunehmenden Komplexität unternehmerischer Entscheidungen in der Zeit nach dem Boom.73 Zum Jahreswechsel 1972/73 übertrugen die Bayer AG und die Bayforin ihre Beteiligungen von jeweils etwa 25 Prozent auf die Bayer International Finance N. V. (BIF) in Willemstad / Curaçao, die damit alleiniger Aktionär der Baychem wurde. Zur gleichen Zeit wurden auch die Bayer-Interessen in der Schweiz und in den Niederlanden in einer Landesgesellschaft zusammengefasst.74 Bei der Konsolidierung der Auslandsbeteiligungen handelte es sich somit um einen länderübergreifenden Prozess zwischen 1968 und 1970. Im Mai 1969 hatte sich der Bayer-Vorstand darauf verständigt, »daß es generell erstrebenswert ist, unsere Interessen in den verschiedenen ausländischen Staaten unter einem Dach zusammenzufassen, wobei die Frage der zweckmäßigsten Form (Holding oder Einheitsgesellschaft) von Fall zu Fall […] zu entscheiden sein wird.«75 In diesem Zusammenhang hatte Bayer 1969 auch die drei brasilianischen Gesellschaften Aliança, A Chimica Bayer und Bayer do Brasil zu einer einheitlichen Firma namens Bayer do Brasil S. A. mit Sitz in São Paulo zusammengeführt.76 Tabelle 8: Beteiligungen der Bayforin (1968–1975) Anzahl 1968  

Anschaffungs- Bilanzwert am wert bis Ende 31.12.1968 1968 Mio. US $

in %

Mio. US $

in %

47

17,4

19

32,6

33

Nordamerika

4

42,7

47

41,1

Mittelamerika

11

3,4

4

Südamerika

18

23,2

Afrika

6

Australien /  Neuseeland

Europa

Summe

Anzahl 1975

Beteiligungsvermögen zum 31.12.1975 Mio. US $

in %

42

66,9

54,1

41

1

1,5

1,2

4,4

4

11

5,8

4,7

26

17,3

17

18

43,4

35,1

1,9

2

1,5

2

6

3,8

3,1

2

2,2

2

2,5

3

2

2,2

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88

90,8

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99,4

100

80

123,6

100,0

Quelle: Geschäftsbericht Bayer 1970, S. 37; Geschäftsbericht Bayer 1975, S. 51. 73 74 75 76

BAL 387/1-11 Bayer Vorstandssitzung (07.09.1971); Plumpe, Fiktionen.

Geschäftsbericht Bayer 1972, S. 13.

BAL 387/1-9 Bayer Vorstandssitzung (06.05.1969).

Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S.  357.

176

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Die herausragende Finanzierungsfunktion der Bayforin wird besonders darin deutlich, dass sie mit einem von Bayer zur Verfügung gestellten Kapital von 45 Mio. CAD bis Ende 1970 Beteiligungen im Umfang von 129,3 Mio. US -Dollar geschaffen hatte. Ein wesentliches Ziel der Bayforin-Gründung 1957, nämlich aus der Enge des westdeutschen Kapitalmarkts auszubrechen und aus Kanada als internationalem Finanzzentrum jener Zeit neue ausländische Finanzierungsquellen zu erschließen, war somit erreicht. Dabei hatte sich Bayforin die notwendigen Mittel zunächst vor allem auf dem US -Markt und ab Ende der 1960er Jahre vermehrt auf dem Euromarkt beschafft. Bayer folgte hier dem Prinzip, Auslandsinvestitionen möglichst weitgehend im Ausland zu finanzieren. Grundsätzlich beschränkten sich die Aktivitäten der Bayforin auf die Verwaltung und Finanzierung der Auslandsbeteiligungen, d. h. sie war weder mit dem Export noch mit der Patentverwertung im Ausland betraut – genauso sahen die Aufgabengebiete der beiden anderen Finanzierungsgesellschaften Bayer Finance S. A. (Bayfinasa) in Luxemburg und Bayer International Finance N. V. (BIF) in Willemstad / Curaçao auf den niederländischen Antillen aus.77 Der ökonomische Nutzen einer Zwischeneinheit in Form jener Finanzierungsgesellschaften lag vor allem in der Umgehung zwischenstaatlicher Kapitalverkehrsbeschränkungen sowie der steuer- und kostengünstigen Aufnahme von Kapital auf den internationalen Finanzmärkten.78 Expansion auf dem US-Markt Während die Anzahl der Bayforin-Beteiligungen in den folgenden Jahren einigermaßen stabil blieb, kam es bis Mitte der 1970er Jahre zu einer merklichen Verschiebung im Beteiligungsgefüge, denn der nordamerikanische Anteil sank auf 1,2 Prozent des Beteiligungsvermögens herab. Dies war auf die Übertragung der US -Beteiligungen auf die Bayer International Finance N. V. (BIF) in den steuerlich günstig gelegenen, niederländischen Antillen zurückzuführen.79 Die BIF war im Rahmen umfangreicher Kapitalerhöhungen der Mobay um 13,4 Mio. US -Dollar und der Verona um 9,1 Mio. US -Dollar 1969/70 gegründet worden, mit denen der Ausbau der beiden Gesellschaften finanziert wurde, und fungierte

77 Geschäftsbericht Bayer 1970, S. 21–22. Die Bayfinasa war insbesondere zur Aufnahme eines Kredits in Höhe von 15 bis 25 Mio. US -Dollar gegründet worden, mit dem die Restfinanzierung der N. V. Bayer S. A. garantiert wurde. Durch die Zwischenschaltung dieser Holdinggesellschaft konnte die belgische Abzugssteuer (précompte mobilière)  auf die Zinsen des Kredits gespart werden. Vgl. BAL 387/1-7 Bayer Vorstandssitzung (06.09.1966); BAL 387/1-8 Bayer Vorstandssitzung (06.12.1966). 78 Eilenberger, Finanzierungsentscheidungen, S. 273–277. Die Bayer Finance S. A. in Luxemburg wurde am 21. Dezember 1966 mit einem Grundkapital von 1,5 Mio. US -$ gegründet. Vgl. BAL 009/L Bayer Finance SA , Luxemburg. 79 Ogle, Archipelago Capitalism.

Bayer

177

fortan als Finanzholding für die US -Beteiligungen.80 Sie war es deshalb auch, die 1974 für ca. 50 Mio. US -Dollar das gesamte Aktienkapital des US -Pharmaunternehmens Cutter Laboratories Inc. in Berkeley (Kalifornien) übernahm. Die Firma Cutter war vor allem aufgrund ihrer Veterinärmedizin, ihrer Nähe zu universitären Forschungseinrichtungen und ihres Vertriebsnetzes ein attraktiver Übernahmekandidat, an dem auch Akzo Interesse gezeigt hatte.81 Anschließend änderte Baychem Corporation ihren Namen in Mobay Chemical Corporation, da inzwischen rechtliche Schwierigkeiten mit der ähnlich lautenden US -Firma Raychem aufgetreten waren und Bayer unter dem Namen Mobay seit 1955 erfolgreich Polyurethane in den USA produzierte. Mobay stand künftig für das chemisch-industrielle Geschäft von Bayer in den USA . Eine neue Landesgesellschaft namens Rhinechem Corporation mit Sitz in New York fungierte fortan (anstelle von Baychem) als Finanzholding von Cutter und Mobay, um eine konsolidierte Konzernsteuererklärung in den USA abgeben zu können.82 Nach der Akquisition beließ Bayer das Führungspersonal von Cutter in seiner Position, lediglich der bisherige Präsident David Cutter wurde Chairman und Chief Executive, um dem Bayer-Repräsentanten Theodor H. Heinrichs als Präsident Platz zu machen. Gleichwohl reduzierte Bayer das Personal an der Cutter-Zentrale durch Entlassungen oder vorzeitige Pensionierungen bis November 1974 um etwa 70 Personen.83 Durch den Erwerb von Cutter wurden 1974 zwei Voraussetzungen für die Bayer-Pharmasparte in den USA geschaffen: Erstens erreichte die Pharmasparte in den USA damit eine kritische Masse für das Veterinärgeschäft; zweitens gelang auf diese Weise der Eintritt in das Health Care-Geschäft. Nach der in Leverkusen festgelegten Konzernstrategie sollte Cutter in den folgenden Jahren in allen betriebenen Produktlinien aggressiv expandieren. Tatsächlich verdreifachte sich der Umsatz des Unternehmens bis 1981.84

80 BAL 387/1-9 Bayer Vorstandssitzung (07.10.1969); Geschäftsbericht Bayer 1970, S. 34–35. Verona verfügte 1968 über 7–8 % des US -Farbstoffmarktes und wollte den Anteil bis 1978 auf 15 % steigern. Da die Pharma-Produktion in den beiden Werken in Bayonne ihre Kapazitätsgrenze erreicht hatte und eine Expansion dort kaum möglich war, errichtete Verona in Bushy Park (South Carolina) Ende der 1960er Jahre ein neues Werk und verlegte die Farbenproduktion dorthin. Insgesamt waren für den Aufbau des neuen Standorts Bushy Park bis 1978 Investitionen in Höhe von 75 Mio. US -Dollar vorgesehen, die über den Reingewinn von Verona und US -Kredite finanziert werden sollten. Vgl. BAL 387/1-9 Bayer Vorstandssitzung (16.10.1968). 81 BAL 387/1-13 Bayer Vorstandssitzung (16.10.1973, 20.11.1973, 08.01.1974); Geschäfts­ bericht Bayer 1973, S. 13; Ludwig, Herausforderungen, S. 222; RWWA 195-A6-21 Personal Notes of the meeting of the supervisory council and the board of management of Akzo (18.12.1973). 82 BAL 387/1-13 Bayer Vorstandssitzung (02.10.1973); BAL 387/1-14 Bayer Vorstandssitzung (07.05.1974, 18.06.1974); Geschäftsbericht Bayer 1974, S. 16, 47; Ludwig, Herausforderungen, S. 221–222. 83 BAL 387/1-15 Bericht über Cutter (11.11.1974). 84 BAL 380/7-61 Pharma-Spartenleitung an Bayer-Vorstand (12.05.1981).

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Hintergrund für den Erwerb einer etablierten US -Firma wie Cutter war nicht zuletzt die schwache Stellung von Bayer auf dem US -Pharmamarkt, für die man vor allem den Verlust des Bayer-Kreuzes und der Marke Aspirin verantwortlich machte. Ende der 1960er Jahre zeichnete sich eine gewisse Bewegungsbereitschaft auf Seiten des US -Unternehmens Sterling ab, das die entsprechenden Rechte erworben hatte – zumindest für die Benutzung des Namens Bayer und des Bayer-Kreuzes außerhalb der USA . Tatsächlich erstreckten sich die Rechte Sterlings zu jener Zeit noch weit über die USA hinaus, weshalb Sterling als Ausgleichzahlung für die Nutzung außerhalb der USA 1969 noch 7,2 Mio. US -Dollar forderte.85 Zwar gelang es Bayer 1970 in einem gerichtlichen Vergleich, seinen Namen und seine Markenzeichen von Sterling für 2,8 Millionen US -Dollar weltweit zurückzukaufen, ausgenommen hiervon blieben aber die USA und Pharmaprodukte in Kanada.86 Der Verlust der Markenrechte war gewiss hinderlich für das US -Geschäft, gleichwohl war der Mangel an pharmazeutischen Innovationen, mit denen Bayer gegen die starke US -Konkurrenz hätte bestehen können, für die schwache Position auf dem schnelllebigen US -Markt schwerwiegender. Erst mit der Übernahme von Cutter und Miles änderte sich die Lage für die Bayer-Pharmasparte in den USA .87 Die hohe Bedeutung des US -Markts zeigte sich nicht zuletzt darin, dass 1975 von den Investitionen der Bayer AG in Beteiligungen in Höhe von 113  Mio. DM insgesamt 53  Mio. DM auf den Auslandsbereich und hiervon wiederum 48 Mio. DM auf die BIF entfielen.88 Bereits ein Jahr später wurde das BIF-Kapital um weitere 70 Mio. US -Dollar (ca. 179 Mio. DM) auf 120 Mio. US -Dollar angehoben, um die Eigenkapitalbasis von Mobay und Cutter zu stärken und eine neue Beteiligungsgesellschaft namens Harmon Colors Corporation zu gründen, die im Januar 1977 von Allied Chemical Anlagen zur Herstellung organischer Pigmente erwarb.89 Doch damit war der Ausbau des US -Geschäfts noch nicht zu Ende. Zum einen gründete die Rhinechem-Holding 1977 eine weitere 100-prozentige Beteiligungsgesellschaft namens Rhinechem Laboratories Inc. in Wilmington, die mit Hilfe eines Übernahmeangebots bis Januar 1978 97 Prozent des Aktienkapitals des Pharmaunternehmens Miles Laboratories Inc. in Elkhart (Indiana) erwarb.90 Miles war selbst ein international tätiges Unternehmen mit 55 Produktionsstätten in 21 Ländern und 31 Joint Ventures, mit dem sich Bayer endgültig auf dem US -Pharmamarkt festsetzte. Der Erwerb kostete Bayer über 250 Millionen

85 BAL 387/1-9 Bayer Vorstandssitzung (16.12.1969); Reinert, Bayer, S. 175. 86 BAL 387/1-10 Bayer Vorstandssitzung (17.02.1970); Geschäftsbericht Bayer 1970, S. 22; Ludwig, Herausforderungen, S. 166–177, 224–225; Reinert, Bayer, S. 175. 87 Bartmann, Pharmabereiche, S. 318–319, 335–337. 88 Geschäftsbericht Bayer 1975, S. 14. 89 Geschäftsbericht Bayer 1976, S. 14–16. 90 Geschäftsbericht Bayer 1977, S. 14–15.

Bayer

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US -Dollar.91 Da auch das US -Management den Kauf befürwortete, handelte es sich bei den unter dem Decknamen »BALM« geführten Verhandlungen um eine »freundliche Übernahme«.92 Der Bayer-Konzern sicherte seine Eigentumsrechte anschließend über eine Bayer-Mehrheit im Board von Miles ab, während Heinrichs wiederum die Funktion eines Koordinators und Franz J.  Geks die Sprecherfunktion im Miles-Vorstand übernahm. Da Miles neben anderen Produkten auch Antibiotika im Sortiment hatte, bei deren Vertrieb und Marketing man auf die entsprechenden Bayer-Forschungen verweisen wollte, musste insbesondere die mit Sterling 1964 getroffene Vereinbarung über die Verwendung des Bayer-Namens in den USA geklärt werden, um eine Verwechslung mit »The Bayer Company«, einer Division von Sterling Drug, und deren Bayer Aspirin zu vermeiden. Um keine neuen rechtlichen Auseinandersetzungen zu provozieren, untersagte die Leverkusener Konzernzentrale Miles Pharmaceuticals daher explizit den Einsatz des Bayer-Kreuzes.93 Zum anderen übernahm Bayer 1977 die verbliebenen Anteile am US -amerikanischen Pflanzenschutzmittelhersteller Helena Chemical Company in Memphis (Tennessee), an der die Bayforin bis dahin nur 50 Prozent hielt.94 Im Jahr 1969/70 hatte Bayer von Diamond Shamrock das Helena-Paket erworben, doch entwickelte sich das Unternehmen in den 1970er Jahren wenig zufriedenstellend, weshalb der Bayer-Vorstand zwischenzeitlich den Verkauf wie auch den Erwerb der restlichen Aktien diskutiert hatte. Mit der vollständigen Übernahme sollte die langfristige Profitabilität des Unternehmens wieder hergestellt werden.95 Im Fall von Cutter war die Medical Division schon vor der Bayer-Übernahme das Sorgenkind des Unternehmens und auch unter der Bayer-Leitung wurde sie nicht profitabel. Die Ratlosigkeit des Managements drückte sich darin aus, dass man 1981 die Unternehmensberatung McKinsey zu Hilfe rief. Dabei kam man zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Produkten der Medical Division im Wesentlichen um medizinische Standardgüter mit geringem Innovationspotenzial handelte. Ein ausgeglichenes Betriebsergebnis erforderte diesen Überlegungen

91 Ludwig, Herausforderungen, S. 222–223; Reinert, Bayer, S. 173; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 489, 514–519. 92 BAL 387/1-16 Bayer Vorstandssitzung (03.02.1976, 16.03.1976); BAL 387/1-17 Bayer Vorstandssitzung (23.08.1977, 06.09.1977, 20.09.1977, 04.10.1977). Bayer hatte bereits 1975 Interesse an Miles gezeigt, eine zu dieser Zeit geplante, gemeinsame Übernahme mit Beecham aber abgelehnt, da Beecham die Konsumgüterdivision für sich reklamiert hatte. Morgan Stanley schätzte den Kaufpreis vorab auf 180–220 Mio. US -$. 93 BAL 380/7-61 Rechtsabteilung an Bayer-Vorstand: From Domeboro to Acylureidopenicillin. The Foundation of Miles Pharmaceuticals (24.04.1981), Pharma-Spartenleitung an Bayer-Vorstand (21.04.1981); BAL 387/1-17 Bayer Vorstandssitzung (25.10.1977). 94 Geschäftsbericht Bayer 1977, S. 14–15. 95 BAL 387/1-9 Bayer Vorstandssitzung (02.12.1969); BAL 387/1-16 Bayer Vorstandssitzung (01.06.1976); Geschäftsbericht Bayer 1970, S. 35.

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

zufolge Investitionen von 80 bis 100 Mio. US -Dollar.96 Besonders der Verkauf von Infusionslösungen brachte keinen Gewinn. Zwischen 1974 und 1981 hatte die Division Verluste in Höhe von 61,3 Mio. US -Dollar angehäuft. Vor diesem Hintergrund entschloss sich der Bayer-Vorstand im März 1982 das gesamte Geschäft zu verkaufen. Gleichzeitig sollte die Profitabilität der US -Tochter­ gesellschaft Mobay wieder hergestellt werden, indem das ABS -Geschäft (Acrylnitril-Butadien-Styrol) abgespalten wurde, welches Mobay erst 1980 für drei Mio. US -Dollar von Abtec, einer gemeinsamen Tochtergesellschaft von B. F. Goodrich und Cosden Oil, erworben hatte. Mobay hatte durch den Erwerb die Position auf dem US -Kunststoffmarkt verbessern wollen, doch nach der Übernahme entwickelte sich die Nachfrage wesentlich schlechter als erwartet – insbesondere aufgrund des Einbruchs des Exportgeschäfts, eines erheblichen Nachfragerückgangs in den USA und zahlreicher Qualitätsprobleme. Innerhalb von nur drei Jahren hatte Mobay bis 1982 mit dem ABS -Geschäft einen Verlust von 18 Mio. US -Dollar erwirtschaftet. Bayer wollte fortan nicht nur auf dem US -Markt präsent sein, sondern dort auch Geld verdienen, und machte sich deshalb daran, chronisch defizitäre Unternehmensbereiche abzuspalten. Die Beispiele Cutter und Mobay verdeutlichen damit einen Wandel im unternehmerischen Handeln. Während Bayer in den 1950er und 1960er Jahren stetig expandiert hatte, wurden nun auch der Verkauf von Firmen und die Abspaltung von Unternehmensteilen zu einer unternehmerischen Routine – und dies galt auch für neu hinzugeworbene Firmenteile im Ausland.97 Die Aufgabe des ABS -Geschäfts bei Mobay und die Stilllegungen bei Cutter belasteten das Betriebsergebnis zwar einmalig erheblich – Rhinechem schloss 1982 mit einem Verlust von 38,5 Mio. US -Dollar ab, der sich bei der BIF inklusive der Zinsen zu einem Verlust nach Steuern von 73,5 Mio. US -Dollar summierte –, ermöglichten aber langfristig eine solide Unternehmensentwicklung. Seit Bestehen der BIF waren damit im US -Geschäft Verluste in Höhe von 165  Mio. US -Dollar angefallen, zu denen nochmals 36 Mio. US -Dollar Kursverluste hinzugerechnet werden mussten. Einen gewissen Abschluss fand diese kostspielige Expansion auf dem US -Markt Anfang 1983, als das Bayer-Management die Pharmainteressen in den USA bündelte, indem die Miles Laboratories die Cutter Laboratories im Wege einer Fusion übernahmen.98 Anschließend setzte die Bayer AG Franz J. Geks unter Beibehaltung seines Bayer-Vorstandsmandats und seiner Funktion als Sprecher der Bayer-PharmaSparte als CEO bei Miles ein. Die Übernahme der Spitzenposition eines großen 96 BAL 380/7-61 Pharma-Spartenleitung an Bayer-Vorstand (12.05.1981). Im Jahr 1977 hatte die Bayer Pharmasparte ebenfalls McKinsey für eine Overhead-Value-Analysis eingesetzt. Vgl. BAL 387/1-16 Bayer Vorstandssitzung (01.03.1977). 97 BAL 380/7-63 Sparte KL an Bayer-Vorstand (24.02.1982), Sparte PH an Bayer-Vorstand (25.02.1982), Bayer Vorstandssitzung (02.02.1982, 02.03.1982); BAL 380/7-64 Bayer Vorstandssitzung (16.03.1982). 98 BAL 380/7-65 Bayer Vorstandssitzung (02./03.11.1982, 16.11.1982), Pharma Spartenleitung an Bayer-Vorstand (28.10.1982); Geschäftsbericht Bayer 1982, S. 15, 39.

Bayer

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US -Unternehmens durch einen deutschen Manager – auch wenn sich das Kapi-

tal in deutschen Händen befand – war keineswegs eine Selbstverständlichkeit. »Es wird bei Miles als selbstverständlich akzeptiert, daß die Nummer eins ein Deutscher ist. Man hält es aber für unabdingbar, daß der zweite Mann Amerikaner ist.«99 Dieser Haltung schloss sich der westdeutsche Bayer-Vorstand vorbehaltlos an, für den die Rücksichtnahme auf nationale Empfindsamkeiten eine Selbstverständlichkeit darstellte, wenn er auf diese Weise auf den US -Markt vordringen konnte.100 Sowohl die schwankenden Wechselkurse als auch niedrigere Arbeits- und Energiekosten in den USA beförderten die Bayer-Investitionen in den USA, noch stärker aber wirkte die Anziehungskraft der USA aufgrund ihrer Marktgröße. Im Fall des Pharmabereichs kamen die schwierigen Zulassungsverfahren mit der Federal Drug Administration hinzu, die Newcomern den Markteintritt erschwerten. Hier griff Bayer gerne auf die erfahrenen Pharma-Teams von Miles und Cutter zurück.101 Die Übernahme der Miles Laboratories eignet sich aber nicht nur dafür, die enorme Anziehungskraft des US -Markts für europäische Pharmahersteller zu demonstrieren, vielmehr verdeutlicht sie zugleich die zunehmende internationale Verflechtung seit den 1970er Jahren – wie auch die damit einhergehenden politischen Risiken der Internationalisierung. Denn seit Bekanntwerden der Übernahmepläne Ende 1977 liefen immer wieder Boykottdrohungen aus dem arabischen Raum in Leverkusen ein. Die Arabische Liga informierte das westdeutsche Management, dass Miles in allen arabischen Staaten boykottiert werde und im Fall eines Erwerbs Bayer gleichfalls dieses Schicksal drohe.102 More than three years ago, and after publishing the news stating that your company is intending to buy the American company Miles Laboratories Inc., the Boycott Authorities had contacted you clarifying to you that the said American company is banned in all Arab countries, and purchasing it will endanger your interests in the Arab countries. But your company carried on finalizing that deal which made it the parent of a company banned in the Arab countries – a fact which – under the rules in force in the Arab countries – should have led to boycotting your own company and all its other subsidiaries as well.103

Da Leverkusen auf die Forderungen zunächst nicht reagierte, setzte die Arabische Liga der Bayer AG im Januar 1981 eine Frist von drei Monaten, innerhalb derer umfangreiche Unterlagen – insbesondere über die israelischen Tochtergesellschaften Miles Chemicals (Israel) Ltd., Miles-Yeda Ltd. und Miles-Yissum 99 BAL 380/7-66 Bayer Vorstandssitzung (01.03.1983). 100 BAL 380/7-66 Bayer Vorstandssitzung (01.02.1983). 101 Gehrmann, Wolfgang: Die Riesen fühlen sich zu klein. Deutsche Chemiekonzerne suchen Wachstum in den USA , in: Die Zeit, 13.02.1981. 102 BAL 387/1-17 Bayer Vorstandssitzung (08.11.1977, 08.08.1978); BAL 387/1-18 Bayer Vorstandssitzung (23.01.1979). Vgl. hierzu Behr, Unternehmen; Forbes / Kurosawa / Wubs, Multinational Enterprise; Kobrak / Wüstenhagen, Globalization. 103 BAL 380/7-59 League of Arab States an Bayer AG (12.01.1981).

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Ltd.  – einzureichen seien. Eine weitere Fristverlängerung lehnte das syrische Boykott-Büro im April 1981 strikt ab.104 Daraufhin beschloss die Miles-Unternehmensleitung im September 1981,  – letztlich auch aus wirtschaftlichen Gründen – die Zitronensäureanlage in Israel nicht weiter zu betreiben und an die israelische Gruppe Petrochemical Industries Ltd. zu verkaufen, womit man den Boykott-Forderungen weitgehend entgegenkam. Gleichwohl blieb Bayer vorerst auf der Boykott-Liste der Arabischen Liga. Das Bayer-Management schätzte die hierdurch verursachten, jährlichen Umsatzeinbußen auf 150 bis 200 Mio.  DM . Erst im Juli 1985 wurden die Sanktionen gegen Bayer aufgehoben.105 Die Auflistung der geglückten Übernahmen und Joint Ventures verdeckt den Blick auf die zahlreichen Kandidaten, bei denen der Bayer-Vorstand letztlich von einer Zusammenarbeit absah. In vielen Fällen mochten Produktausrichtung, Verfahrensweisen oder Anlagen den Ausschlag geben. Die missglückte Übernahme des Pigment-Geschäfts der Chemetron Corporation Ende der 1970er Jahre zeigt jedoch, dass auch wirtschaftspolitische Gründe gegen eine Übernahme sprechen konnten. Chemetron war kurz zuvor vom US -Unternehmen Allegheny Ludlum Industries Inc. (Pittsburgh) aufgekauft worden, das aber wenig Interesse an dessen Chemiegeschäft zeigte und hierfür einen Käufer suchte. In diesem Kontext gewann das Bayer-Management im August 1978 den Eindruck, dass sich das Klima in den USA gegenüber Mergers & Acquisitions inzwischen gewandelt habe und die Antitrust-Behörden auch bei nur geringen Erfolgschancen Verfahren einleiten würden. Jene Verfahren machten Übernahmen zu einem kaum kalkulierbaren Risiko, denn zum einen musste mit einem mehrjährigen kostspieligen Rechtsstreit gerechnet werden; zum anderen konnte ein weiterer Verlust entstehen, falls man gezwungen wurde, das erworbene Unternehmen wieder unter Druck zu verkaufen. Der Bayer-Vorstand erwartete  – zu Recht  – einen Eingriff der Federal Trade Commission (FTC) und ein entsprechendes Antitrust-Verfahren, sollte er Chemetron übernehmen. Dies war darauf zurückzuführen, dass Harmon Colors Corporation, eine US Tochtergesellschaft der Rhinechem, 1977 der achtgrößte Produzent organischer Pigmente in den USA war und einen Marktanteil von sechs Prozent hatte. Im Fall eines Rechtsstreits hätte Bayer auf absehbare Zeit ohne die Zustimmung der US Antitrust-Behörde FTC keine Akquisitionen in den USA mehr tätigen dürfen.106 104 BAL 380/7-59 League of Arab States an Bayer AG (12.01.1981); BAL 380/7-61 Bayer Vorstandssitzung (27.04.1981). 105 BAL 380/7-62 Bayer Vorstandssitzung (06.10.1981); BAL 380/7-64 Bayer Vorstandssitzung (16.03.1982); BAL 384/1-43 Bayer Aufsichtsratssitzung (06.09.1985). 106 BAL 387/1-17 Bayer Vorstandssitzung (04.10.1977, 08.08.1978, 22.08.1978, 04./06.09.1978); Moran / Prager, Merger, S. 413. Schon im Fall der Miles-Übernahme hatte die FTC ein kartellrechtliches Prüfungsverfahren eingeleitet. Im Jahr 1978 erwarb Bayer ferner für 54,7 Mio. US -$ das ABS - und das Latexgeschäft von Uniroyal. Auch hier musste Bayer gemäß der neuen Ausführungsverordnung des US -Gesetzes von 1976 die Fusion vor Vollzug (closing) bei den Antitrust-Behörden – FTC und Justizministerium – anmelden. Vgl. BAL 387/1-17 Bayer Vorstandssitzung (06.12.1977, 08.08.1978).

Bayer

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Als das Gericht im Oktober 1978 schließlich entschied, dass Chemetron während des Antitrust-Überprüfungsverfahrens nicht durch Rhinechem übernommen werden durfte, machte die US -Firma Allegheny Ludlum von ihrem Rücktrittsrecht Gebrauch und ersparte Bayer einen langjährigen, kostspieligen Rechtsstreit. Daraufhin ergriff der westdeutsche Konkurrent BASF seine Chance, erwarb das Pigment-Geschäft von Chemetron und musste sich anschließend mit der FTC auseinandersetzen, da die US -Behörde auch im Fall der BASF einen Verstoß gegen die bestehenden Antitrust-Regelungen sah.107 Europäische Integration und Unternehmenskooperationen Trotz der hohen Bedeutung des US -Geschäfts blieb der Bayer-Konzern ein weitgehend europäisches Unternehmen und baute seine dortigen Kooperationen und Produktionsstrukturen seit den 1960er Jahren sukzessive aus. Hier wirkte besonders die EWG -Gründung stimulierend. Bereits 1959 spekulierte die Wochenzeitschrift »Die Zeit«, dass die Einführung der Bayer-Aktie an der Pariser Börse sicherlich nicht ohne Einvernehmen mit dem größten französischen Chemiekonzern Rhône-Poulenc vonstattengegangen sei.108 Tatsächlich gab es seit November 1957 ein Briefabkommen zwischen beiden Unternehmen, das auf einer Zusammenarbeit vor und während des Zweiten Weltkrieges aufbaute und aus dem sich Mitte der 1960er Jahre eine engere Forschungskooperation entwickelte. Daneben hatten die in der EWG produzierenden Chemieunternehmen nicht nur ein Verbindungsbüro in Brüssel eröffnet, das sogenannte Secrétariat International des Groupements Professionnels des Industries Chimiques des Pays de la Communauté Economique Européenne (SIIC), welches im Oktober 1972 nach der Entscheidung Großbritanniens zum EWG -Beitritt im Conseil Européen des Fédérations de l’Industrie Chimique (CEFIC) aufging und das dann sowohl die Länder der EWG als auch der EFTA umfasste, vielmehr hielten die Unternehmensspitzen der größten westdeutschen und französischen Chemiekonzerne (BASF, Bayer, Hoechst, Rhône-Poulenc und Pechiney Ugine Kuhlmann) seit spätestens Anfang der 1960er Jahre auch regelmäßige Treffen ab, bei denen sie sich über die wirtschaftliche und soziale Lage in Europa, ihr Verhältnis zu den EG -Institutionen, die Fortentwicklung der EG -Institutionen, die ökonomischen Beziehungen zu den USA und Japan sowie – ab Ende der 1960er Jahre – auch über Währungs-, Mitbestimmungs- und Umweltaspekte austauschten. Hauptaufgabe des CEFIC war die Interessenvertretung der europäischen Chemieindustrie gegenüber der EG -Kommission.109 107 BAL 387/1-18 Bayer Vorstandssitzung (17.10.1978, 23.10.1978); Gehrmann, Wolfgang: Die Riesen fühlen sich zu klein. Deutsche Chemiekonzerne suchen Wachstum in den USA , in: Die Zeit 13.02.1981; Wallace, Enterprise, S. 505. 108 »EWG -Kapitalmarkt kommt«, in: Die Zeit, 30.01.1959. 109 BAL 302/187 Bisherige Termine mit Repräsentanten der französischen Chemie (1962– 1973), Beziehungen mit der EWG (Paris, 27.2.1972). Vgl. zur Einflussnahme multi-

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

In Bezug auf die USA störte die europäischen Chemieunternehmen 1972 vor allem, dass die übrigen GATT-Länder den USA mehrmals eine Verlängerung des American Selling Price (ASP) gewährt hatten, obschon das ASP-System als Ergebnis der Kennedy-Runde längst hätte abgeschafft werden müssen. Gemäß ASP-System berechnete sich der Zolltarif nach dem Marktpreis eines vergleichbaren US -Produkts und nicht auf Grundlage des Ausfuhrpreises des Exporteurs. Hierdurch wurde der Export in den USA stark erschwert. Erst nach der TokioRunde (1973–79) kamen die USA der Beseitigung des ASP-Systems im Jahr 1980 nach.110 Des Weiteren verständigten sich die fünf großen westdeutschen und französischen Chemiekonzerne 1972 darauf, gemeinsam der wachsenden Kritik gegenüber multinationalen Unternehmen zu begegnen. Sie registrierten mit Sorge, dass nicht nur Gewerkschaften Kritik an multinationalen Unternehmen übten, sondern sich inzwischen auch die UNO, das GATT, die OECD, die EWG, das Europäische Parlament und sogar die NATO mit ihrer Bedeutung beschäftigten. Stärker als bisher wollten die Chemieunternehmen jener Kritik öffentlich entgegentreten.111 Noch intensiver als der Gedankenaustausch zwischen den größten franzö­ sischen und westdeutschen Chemiekonzernen gestaltete sich die konkrete Zusammenarbeit zwischen Rhône-Poulenc und Bayer. Mit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge 1958 unterzeichneten sie ein Abkommen, welches den Informationsaustausch über erfolgsversprechende Produkte auf dem Gebiet der Humanmedizin sowie gegenseitige Optionen auf Patentlizenzen für Frankreich bzw. die Französische Union und Westdeutschland vorsah. Da sich diese Form der Kooperation auf dem zusammenwachsenden europäischen Markt als ebenso notwendig wie nützlich erwies, vertieften Bayer und Rhône-Poulenc ihre Beziehungen Mitte der 1960er Jahre. Die hohen Kosten in der Pharmaentwicklung sprachen für eine Spezialisierung und Rationalisierung der Fertigung, weshalb zukünftig auch gegenseitig Produktionsmöglichkeiten genutzt werden sollten. Hintergrund der Vertiefung war insbesondere die Konkurrenz durch international tätige Pharmahersteller – vor allem aus den USA –, die über Forschungs-, Herstellungs- und Vertriebsmittel verfügten, welche diejenigen von Bayer oder Rhône-Poulenc weit überstiegen.112 nationaler Unternehmen auf die europäische Wirtschaftspolitik auch: Ramírez-Pérez, Multinational corporations. 110 BAL 302/187 Beziehungen zu den USA unter GATT-Gesichtspunkten (Paris, 27.02.1972), Neue Entwicklungen der US -Handelspolitik (Hoechst, 17.03.1972); »Stiller Vorbehalt«, in: Die Zeit, 19.04.1968; Institut für Zeitgeschichte, Akten zur Auswärtigen Politik 1973, S. 400–401; Rasch, Festsetzung; Sautter, Zölle, hier S. 664. 111 BAL 302/187 Punkt 6. Verschiedenes: Problematik der multinationalen Unternehmen (Paris, 27.2.1972). Die Unternehmen konnten bei ihrer Lobbyarbeit insbesondere auf Ergebnisse des Arbeitskreises »Multinationale Unternehmen« des Verbands der Chemischen Industrie (VCI) zurückgreifen. 112 BAL 324-5 Vereinbarung zwischen Farbenfabriken Bayer AG , Leverkusen und RhônePoulenc S. A., Paris (17.12.1965).

Bayer

185

Obschon Bayer und Rhône-Poulenc über Stützpunkte im Heimatmarkt des jeweils anderen verfügten, erschien ihnen eine intensive Kooperation unter den Bedingungen zunehmender internationaler Konkurrenz und der europäischen Integration unumgänglich. In den folgenden Jahren intensivierten sich die Beziehungen immer weiter. Darüber hinaus hatte sich Bayer neben den drei französischen Handelsvertretungen 1959 über Bayforin mit 50 Prozent an der Produktionsgesellschaft Progil-Bayer-Ugine (PBU) beteiligt. Auch hier war die Ursache eine Mischung aus US -Konkurrenz und europäischer Integration.113 Nicht nur der gemeinsame europäische Markt spielte für das PBU-Projekt eine Rolle, auch die 1958 gegründete Europäische Investitionsbank (EIB) war in diesem Fall von Bedeutung, denn die drei Gründungsfirmen Progil, Bayer und Ugine erhielten von der EIB 1961 hierfür einen zinsgünstigen Kredit in Höhe von zehn Millionen Francs. Progil, Bayer und Ugine griffen mit der EIB bereitwillig auf eine europäische Institution zurück, deren Ziel in der wirtschaftlichen Entwicklung des Binnenmarkts lag, und trugen zugleich mit der PBU zur ökonomischen Integration Westeuropas bei.114 Als Folge der Umstrukturierungen in der französischen Chemieindustrie gingen die PBU-Anteile der französischen Seite Anfang der 1970er Jahre an Rhône-Poulenc über, so dass Bayer und Rhône-Poulenc ab 1976 jeweils zu 50 Prozent an PBU beteiligt waren.115 US -Direktinvestitionen in die EWG wirkten oftmals impulsgebend für solche europäischen Gemeinschaftsprojekte, da die US -Chemieunternehmen Westeuropa inzwischen als einen Gesamtmarkt betrachteten. Dies hatte zur Folge, dass sich auch die europäischen Unternehmen schneller an den gemeinsamen Markt anpassten und es zunehmend als notwendig erachteten, sich zu größeren, kapital- und forschungskräftigen Einheiten zusammenzuschließen.116 Im Pharmabereich setzte Bayer weiterhin auf die bestehende Forschungskooperation mit Rhône-Poulenc. Der im April 1966 abgeschlossene Vertrag wurde zunächst auf fünf Jahre befristet und sah einen zu gleichen Teilen aus Vertretern der beiden Unternehmen bestehenden Koordinierungsrat vor. Daneben entstand eine ganze Reihe von Ausschüssen, die auf bestimmte Themen zugeschnitten waren, u. a. eine Forschungs-, eine Produktions- und eine Ver-

113 Kleedehn, Internationalisierung, S.  318–322; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 312. 114 Historical Archives of the European Union (Florenz), Banque Européenne d’Investissement (BEI), BEI .06.A-02.03, Le projet Progil Bayer Ugine / BEI Projet FR 19617001 Progil Bayer Ugine / BEI-2017 (1959–1961), BEI-2018 (1961), BEI-2019 (1961–1970), BEI-2020 (1961–1971). 115 Archives Historiques du Groupe Sanofi, Paris (AHGS) RP.SA BH0082 B.B2 Nr. 7, Groupe Rhône-Poulenc Comité Exécutif (30.12.1976), Note de Présentation au Comité Exécutif du Protocole d’Accord RPI / Bayer AG relatif à PBU (13.12.1976); Geschäftsbericht Bayer 1980, S.  56; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S.  543. 116 Loibl, US -Direktinvestitionen.

186

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

triebskommission.117 Die Aufteilung der Arbeitsgebiete zwischen Bayer und Rhône-Poulenc bei der Verwertung von Patenten bereitete mit Ausnahme der USA keine Probleme, da beide Vertragspartner Patente in gleicher Weise nutzen konnten. Für die USA hatte Rhône-Poulenc allerdings 1964 mit dem US -Unternehmen Ives Laboratories, einer Tochtergesellschaft des US -Konzerns American Home Products (AHP), die exklusive Verwertung seiner Lizenzen vereinbart. Im Fall eines bedeutenden, gemeinschaftlich entwickelten Produkts hätte Ives davon profitiert, wenn Rhône-Poulenc die Lizenz hielt und Bayer wäre ausgleichsberechtigt gewesen; umgekehrt wäre Ives ausgleichsberechtigt gewesen, wenn Bayer über die Lizenz in den USA verfügt hätte. Daraufhin entwickelten sich langwierige Verhandlungen zwischen Bayer, Rhône-Poulenc und AHP, doch weder eine Beteiligung von Bayer an Ives noch ein Zusammenschluss von Bayer und Rhône-Poulenc auf dem Pharmagebiet oder ein Gewinnpool boten aus Antitrustgründen eine Lösung. Den Vorschlag des AHP-Chairman William F. LaPorte im Dezember 1965, Bayer enger an AHP zu binden und zeitlich begrenzte Lizenzen an AHP zu vergeben, lehnte Bayer ab, da sich der Leverkusener Konzern möglichst schnell und dauerhaft an einer US -Gesellschaft mit Markterfahrung und Vertriebsorganisation beteiligen wollten. Daraufhin erklärte sich LaPorte schließlich mit der Bayer-Rhône-Poulenc-Vereinbarung einverstanden.118 Bis Ende der 1960er Jahre wurde der Informationsaustausch zwischen Bayer und Rhône-Poulenc auf zahlreiche weitere Gebiete – wie Chemikalien, Silikone, Pflanzenschutzmittel oder Veterinärmedizin – ausgedehnt, aber Kern des Abkommens blieb der Pharmabereich.119 Im Jahr 1970 verhandelten beide Seiten über die Gründung eines 50:50 Joint Ventures für die Gebiete der Insektizide, Veterinärprodukte und Ergänzungsmittel für Tierfutter. Im Fall von RhônePoulenc war hiervon aber nicht nur das Mutterunternehmen betroffen, son117 BAL 324-5 Protokoll über die Besprechung Rhône-Poulenc / Bayer am 8.10.1965 (11.10.1965), Vereinbarung zwischen Farbenfabriken Bayer AG , Leverkusen und Rhône-Poulenc S. A., Paris (17.12.1965); BAL 324-19 Zusammenarbeit Bayer-R. P. (16.10.1981). Vgl. zu den Kommissionen: BAL 324-7 Zusammenarbeit Bayer / R hône-Poulenc. Forschungskommission. Protokoll der Tagung in Vitry-sur-Seine am 8.6.1966 bzw. in Wuppertal am 11.12.1969 (16.06.1966 bzw. 29.12.1969). 118 BAL 324-4 Coopération Rhône-Poulenc / Bayer USA (08.12.1965), Bayer – Rhône-Poulenc – Ives – American Home. Besprechungen in New York vom 1. bis 3. Dezember 1965 (08.12.1965), Aktennotiz Geks (22.02.1966); BAL 324-5 Notiz über eine Besprechung mit Rhône-Poulenc am 21.6.1965 in Leverkusen (23.06.1965). Im Jahr 1976 bewertete Rhône-Poulenc die Beteiligung an Ives Laboratories neu und trennte sich letztlich von dem US -Joint Venture mit AHP. Vgl. AHGS , RP.SA BH0082 B.B2 Nr. 1, Groupe Rhône-Poulenc Comité Exécutif (06.02.1976), Roger Berg an G ­ aetano Pirrone betr. AHP / Ives (02.02.1976); AHGS , RP.SA BH0082 B.B2 Nr. 2, Groupe RhônePoulenc Comité Exécutif (05.03.1976); AHGS , RP.SA BH0082 B.B2 Nr. 14, Groupe RhônePoulenc Comité Exécutif (30.09.1977, 04.11.1977). 119 BAL 324-2 Aktennotiz über eine Besprechung mit Rhône-Poulenc am 13.9.1968 (18.09.1968), Aktennotiz über eine Besprechung mit L.  Gilbert, Rhône-Poulenc am 14.3.1969 (18.03.1969).

Bayer

187

dern insbesondere die Tochtergesellschaften SUCRP, Spécia, Institut Mérieux und May & Baker. Zudem war der Umsatz sehr ungleich verteilt. Während Rhône-Poulenc 75 Prozent der französischen Produktion im Inland absetzte und 25 Prozent auf den Export fielen, verhielt es sich bei Bayer mit einem Exportanteil von 75 Prozent gerade umgekehrt.120 Die geplante, enge Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Veterinärmedizin kam daher letztlich nicht zustande. Dies wurde zu einem belastenden Moment für die Beziehungen.121 Als Anfang der 1970er Jahre die Frage der Vertragsverlängerung anstand, war von der anfänglichen Euphorie nur noch wenig zu spüren. Die Verantwortlichen bei Bayer hielten das Grundkonzept des Forschungsvertrages »Gemeinsam forschen, in der Produktion kooperieren und im Vertrieb getrennt vorgehen« nach wie vor für richtig, räumten aber Probleme ein – vor allem im Vertrieb. Es entstanden u. a. Konflikte, wenn nur einer der beiden Partner bereit war, ein neues Medikament auf den Markt zu bringen, oder wenn das gleiche Präparat in einem Land durch zwei verschiedene Firmen vertrieben wurde. Beide Unternehmen sahen letztere Form des Doppelvertriebes aufgrund der Tendenz der Gesundheitsbehörden, Doppelregistrierungen zurückzuweisen und Zweitanmeldungen als generische Produkte einzustufen, als problematisch an. »So richtig die Konzeption, zwei verkaufen mehr als einer, vor 4–5 Jahren war, so sehr muß man jetzt aufgrund der bereits feststellbaren und zu erwartenden sich verschärfenden Haltung der Gesundheitsbehörden daran Zweifel haben.« Da erst 1970 die ersten Präparate der gemeinsamen Forschung in den Vertrieb gingen, hielt der Bayer-Vorstand eine abschließende Beurteilung der Forschungskooperation für verfrüht und wollte erst in fünf Jahren über die Fortführung oder Beendigung der Kooperation entscheiden.122 Die deutsch-französische Zusammenarbeit wurde 1971 daher zunächst weitergeführt, doch blieben Meinungsverschiedenheiten bestehen. Schon 1973 stellte sich erneut die Frage, wie der Vertrag nach 1976 ausgestaltet werden sollte. Hierbei wurde sowohl erwogen die Zusammenarbeit auf risikoreiche Forschungsgebiete als auch auf rein projektbezogene Studien zu beschränken. Doch für eine dauerhafte Kooperation fehlte inzwischen die Grundlage. Im März 1975 erklärte Rhône-Poulenc, dass man die Zusammenarbeit sowohl auf dem Gebiet der Primärforschung als auch bei der Entwicklung von Präparaten nicht fortführen wolle. Nach jahrelangen Folgeverhandlungen über die Bewertung von Pipeline-Produkten wurde der Vertrag im März 1979 rückwirkend zum 30. Juni 1974 für beendet erklärt.123 120 AHGS , RP.SA BH101 C.C14 Nr. 6 Rhône-Poulenc S. A. Comité de Direction (25.03.1970). 121 BAL 324-19 Zusammenarbeit Bayer-R. P. (16.10.1981). 122 BAL 324-8 Protokoll über die Sitzung des Koordinierungsrates Rhône-Poulenc / Bayer (08.12.1970 [Zitat], 15.06.1972). 123 BAL 324-8 Protokoll über der Koordinierungsratssitzung (07.09.1973), Internes Ergebnisprotokoll der Besprechung mit RP (13.03.1975); BAL 324-19 Notiz über Besprechung mit Rhône-Poulenc (3.8.1977), Agreement between Bayer and Rhône-Poulenc (28.1.1977), Zusammenarbeit Bayer-R. P. (16.10.1981); Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 312.

188

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Bayer versuchte daraufhin seine eigenen Kräfte in Frankreich zu bündeln und fusionierte 1975 seine Vertriebsgesellschaften Phytochim und Bayer Chimie mit der französischen Tochtergesellschaft Bayer France, die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre einem starken Rationalisierungsdruck mit umfangreichen Personaleinsparungen und einem verstärkten EDV-Einsatz ausgesetzt war.124 Umgekehrt suchte Rhône-Poulenc 1975 nach einem alternativen westdeutschen Kooperationspartner in der Pharmaforschung.125 Doch war weder die Zusammenarbeit von Rhône-Poulenc mit einem Forschungslabor noch der Zusammenschluss der französischen Bayer-Gesellschaften oder der Vertrieb über Bayer Pharma ein adäquater Ersatz für die vorangegangene Forschungskooperation, der immer die Option einer Großfusion innegewohnt hatte. Bayer Pharma hatte Mitte der 1960er Jahre zwar eine kleinere Chemie- und Pharmaproduktion mit knapp über 100 Beschäftigten in Sens (Departement Yonne) aufgebaut, die etwa 60 Prozent ihrer Grundstoffe aus Leverkusen bezog, doch im Vergleich zu den übrigen Produktionsstrukturen von Bayer und Rhône-Poulenc nahm sie sich bescheiden aus.126 Das Ende der langjährigen Kooperation zeigt, dass sich die verstärkte ökonomische Verflechtung in Westeuropa nicht stromlinienförmig auf einen Endpunkt zubewegte. Auch Rückschläge oder Sackgassen waren möglich. Natürlich blieb Bayer auch danach auf dem französischen Markt präsent. Das fortbestehende Interesse am französischen Markt wurde nicht zuletzt in einer Großinvestition 1980 deutlich. Bayer verständigte sich mit der französischen Tochtergesellschaft des US -Reifenherstellers Firestone (Firestone France S. A.) auf den Kauf eines Kautschuk-Werks in Port-Jérôme-sur-Seine bei Lillebonne im Arrondissement Le Havre, das 1962 die Produktion aufgenommen hatte, über etwa 400 Beschäftigte verfügte und die bestehende Bayer-KautschukHerstellung in der Bundesrepublik (Dormagen), Spanien, Italien, Großbritannien, Brasilien und Indien ergänzen sollte. Jene Übernahme veranschaulicht zwei für die Entwicklung multinationaler Unternehmen typische Phänomene: Zum einen gewannen Verhandlungen zwischen multinationalen Unternehmen über Auslandsbeteiligungen an Bedeutung, d. h. der grenzüberschreitende Kauf und Verkauf von Werken und Unternehmensbeteiligungen entwickelte sich zu einem gängigen Instrument der Unternehmenspolitik. Zum anderen riefen derartige Übernahmen regelmäßig die nationalen (und europäischen) Wettbewerbsbehörden auf den Plan. Die Bayer-Übernahmen in den USA (Miles, Cutter) hatten die US -Antitrust-Behörde alarmiert; ebenso waren die EG -Wettbewerbshüter und das Bundeskartellamt im Fall der Umstrukturierungen der europäischen Chemiefaserhersteller hellhörig geworden. Auch 124 BAL 009/L Bayer fusioniert Vertriebsgesellschaften in Frankreich (Mai 1975); BAL 339/076, Frankreich, Bayer France (1973–1978); Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 313; Reinert, Bayer, S. 183–185. 125 AHGS , RP.SA BH0083 B.B2 Nr. 10, Groupe Rhône-Poulenc Comité Exécutif (19.09.1975), Division Santé: Allemagne (19.09.1975). 126 BAL 009/L Recherche pour l’avenir (6/1970).

Bayer

189

im Firestone-Fall schaltete sich das Bundeskartellamt ein, da die Übernahme die Stellung von Bayer in Westdeutschland in unzulässiger Weise verstärke, und verbot den Zusammenschluss, obschon das Werk nicht in der Bundesrepublik ansässig war und 90 Prozent der Produktion außerhalb der Bundesrepublik abgesetzt wurden. Dieses Urteil des Bundeskartellamts war bemerkenswert, denn zum ersten Mal untersagte die Behörde eine Fusion zwischen Unternehmen, die beide ihren Sitz im Ausland hatten; formal verhandelten hier zwei französische Unternehmen (Bayer France bzw. Bayer Elastomère und Firestone France) miteinander. Das Bundeskartellamt stellte sich jedoch auf den Standpunkt, dass die Auswirkungen auf den westdeutschen Markt einen Eingriff rechtfertigen würden, und wandte sich damit zugleich gegen das französische Industrieministerium, das der Fusion zugestimmt hatte. Letztlich wurde der Beschluss des Bundeskartellamts wegen erkennbarer Formmängel gerichtlich aufgehoben und der Fusion stattgegeben. Der Fall Firestone-Bayer zeigt damit beispielhaft die Schwierigkeit nationaler Behörden, die Marktmacht multinationaler Konzerne nachzuweisen und einzuhegen, und umgekehrt das völlige Unverständnis auf Seiten des Managements, das sich in einem internationalen Wettbewerb sah, in dem die Unternehmen von einer marktbeherrschenden Stellung weit entfernt waren.127 Die beim Bayer-Vorstandsstab angesiedelte Regionale Koordinierung machte im November 1981 hinsichtlich des Vorgehens in den wichtigsten Auslandsmärkten nochmals darauf aufmerksam, dass Frankreich, Italien, Großbritannien und Spanien für rund 54 Prozent des Europa-Umsatzes (ohne Inland) und rund 19 Prozent des Bayer-Welt-Umsatzes verantwortlich seien. Bayer Italia war um 1980 das drittgrößte Chemieunternehmen Italiens, dessen eigene Produktion für ein Drittel des Umsatzes sorgte und angesichts protektionistischer Tendenzen ausgebaut werden sollte. In Spanien stand die Bayer-Gruppe mit ihren rund 20 Gesellschaften umsatzmäßig hinter Explosivos Rio Tinto sogar auf Platz zwei.128 Auch für den deutschen Pharmaproduzenten Merck waren Italien und Spanien in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die wichtigsten europäischen Märkte.129 127 BAL 009/L Bayer Presse-Information (16.04.1980), »Bayer kauft Firestone-Werk in Frankreich«, in: Börsen-Zeitung 73, 16.04.1980; »Kartellamt zieht Bremse«, in: Stuttgarter Zeitung 227, 30.09.1980; »Kartellamt untersagt die Fusion«, in: Handelsblatt 189, 01.10.1980; »Kartellamt gegen Fusion in Frankreich«, in: Börsen-Zeitung 188, 01.10.1980; »Klagt Firestone gegen Bayer-France?«, in: Börsen-Zeitung 189, 02.10.1980; »Der Streit um Bayer-Firestone geht weiter«, in: FAZ Nr. 276, 27.11.1980; »Kartellamt unterliegt bei Bayer / Firestone«, in: Börsen-Zeitung 229, 28.11.1980; »Bayer darf Firestone übernehmen«, in: FAZ 277, 28.11.1980; »Das Bundeskartellamt wird aus dieser Fusion lernen«, in: Handelsblatt 231, 01.12.1980; Pahlow / Rassow, Marktprognosen. 128 BAL 009/L Beteiligungen und Tochtergesellschaften der Bayer AG . Strategie der BayerBeteiligungsgesellschaften (1981). 129 Burhop, Wirtschaftswunder, hier S. 397–398. Vgl. zur Entwicklung von Großunternehmen in Italien und Spanien: Binda, Dynamics; Binda / Colli, Big business.

190

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Im Vergleich zur Größe des Marktes blieb Bayer in Frankreich hingegen auch nach der Firestone-Übernahme produktionsmäßig unterrepräsentiert, doch bei fallenden innereuropäischen Zollschranken sah das Bayer-Management kaum einen Grund dies zu ändern, zumal der Standort Lillebonne bei Bedarf ausgebaut werden konnte. Grundsätzlich war die Bayer-Struktur auf vielen ausländischen Märkten infolge vorangegangener Übernahmen fragmentiert. Dies galt auch für Großbritannien, wo Bayer neben Bayer U. K. über die Tochtergesellschaften von Haarmann & Reimer, Agfa-Gevaert, Miles, Cutter und Metzeler vertreten war. Hier zeigte sich, welche Probleme die Angliederung bestehender multinationaler Unternehmen nach sich zog, denn die Integration international tätiger Unternehmen machte Abstimmungen auf vielen Teilmärkten notwendig. Insgesamt entfielen um 1980 noch ca. 65 Prozent der Bayer-Produktion auf die Bundesrepublik und 35 Prozent auf das Ausland, wobei die Anteile Westeuropas und der USA mit jeweils 14 Prozent etwa gleichauflagen. Zusammengenommen ergab sich mit dem Inlandsanteil damit auch im Jahr 1980 noch eine starke Konzentration der Produktion in Westeuropa.130 Neben den Absatzmöglichkeiten infolge der hohen Kapitalkraft und der Verfügbarkeit von qualifiziertem Fachpersonal sprach auch das niedrige politische Risiko für den Aufbau von Produktionsstätten in Westeuropa. Eine detaillierte Studie von Alfons Kottmann für die Planungskonferenz des Bayer-Vorstands im November 1981 untersuchte die gegenwärtige Situation von Bayer in Frankreich, Italien, Großbritannien und Spanien und bezog für die Beurteilung jener Märkte neben dem Geschäftsklimaindex und den Transfermöglichkeiten für Erträge und Kapital explizit politische Risiken mit ein. Im Grunde schätzte man das Geschäftsklima, die Transfermöglichkeiten und die politische Stabilität nirgends höher als im Inland (und in Japan) ein – trotz sozialdemokratisch geführter Regierung. Nicht zuletzt hierin lag ein Grund für die Fortsetzung der Exportstrategie bei gleichzeitigem Ausbau der Auslandsproduktion. Die größere Bedeutung der einzelnen westeuropäischen Staaten gegenüber Japan zeigte sich vor allem in den Umsatzzahlen, die zu jener Zeit in Frankreich und Italien etwa doppelt so hoch wie in Japan waren. Hieraus ergaben sich gute Gründe vor Ort zu produzieren. Die Gründung ausländischer Produktionsstandorte lässt sich

130 BAL 009/L Beteiligungen und Tochtergesellschaften der Bayer AG . Strategie der BayerBeteiligungsgesellschaften (1981); Reinert, Bayer, S. 183–188. Vgl. zu Bayer France, Bayer Italia und Bayer Hispania Comercial: BAL 339/033, Italien, Bayer-Italia, Monats-, Quartals- und Jahresberichte (1967–1973); BAL 339/034, Italien, Bayer-Italia, Jahresberichte (1974–1977); BAL 339/075, Frankreich, Bayer France Jahresberichte (1975–1977); BAL 339/076, Frankreich, Bayer France (1973–1978); BAL 339/087, Spanien, Bayer Hispania Comercial (1974–1975); BAL 339/088, Spanien, Bayer Hispania Comercial (1974–1976); BAL 339/089, Spanien, Bayer Hispania Comercial (1972–1975); BAL 339/091, Spanien, BHI / BHC / F NCE / Unicolor (1974); BAL 339/112, Spanien, Bayer Hispania / Fabrication Nacional de Colorantes (FNCE) (1965–1972); Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 310–313, 436–439, 464–465.

191

Bayer

Tabelle 9: Beurteilung von Länderrisiken bei Bayer. Prognose auf fünf Jahre (1981)   Punktsystem

Geschäftsklima  

politisches Risiko  

Idealfall

Transfer­ möglichkeiten  

100

0

100

stabil, kaum Risiko

70–99

1–20

70–99

mäßiges Risiko

55–69

21–35

55–69

hohes Risiko

40–54

36–45

40–54

extrem schlecht

0–39

46–100

0–39

Länder

Mrz 81

Jul 81

Mrz 81

Bundesrepublik

78,0

75,5

16

Italien

46,0

46,0

Frankreich

62,5

Großbritannien

Jul 81

Mrz 81

Jul 81

17

73,0

75,7

45

45

63,0

63,3

58,0

27

37

72,0

61,9

61,5

60,5

31

32

68,5

68,1

Spanien

57,5

55,0

37

38

50,0

50,0

Japan

76,0

76,0

19

18

73,0

72,0

Indonesien

46,0

46,0

50

50

49,0

52,1

Quelle: BAL 009/L Alfons Kottmann: Strategie der Bayer-Beteiligungsgesellschaften (1981)

daher nicht an einem einzigen Faktor festmachen, sondern nur multikausal erklären.131 In einer Vorstandskonferenz im Mai 1982 unterstrich Grünewald abermals, dass sich die Unternehmensaktivitäten weiterhin auf Europa konzentrieren würden und der Ausbau der sechs europäischen Bayerwerke – Leverkusen, Elberfeld, Uerdingen, Dormagen, Antwerpen und Brunsbüttel – Vorrang hätten. Im Vergleich zu den 1960er Jahren, als ein Mangel an Bauplatz und Arbeitskräften herrschte, sahen sich Grünewald und Dittmar Anfang der 1980er Jahre in einer völlig neuen Situation, die durch Überkapazitäten, hohe Arbeitslosigkeit und hinreichendes Baugelände charakterisiert war. Investitionsprojekte an neuen Standorten konnte es Grünewald und Dittmar zufolge daher in Zukunft nur in sehr begrenztem Maße geben, zumal zunächst die Kapazitätsreserven bei den bestehenden europäischen Werken und den großen Beteiligungsgesellschaften  – insbesondere in den USA – genutzt werden sollten.132 131 BAL 009/L Alfons Kottmann: Strategie der Bayer-Beteiligungsgesellschaften (1981). 132 BAL 380/7-64 Ergebnisvermerk über die Vorstandskonferenz (25.06.1982).

192

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

3.1.4 Sparten- und Produktentwicklungen Die auslandsstrategischen Entscheidungen variierten teilweise zwischen den Arbeitsgebieten, weshalb im Folgenden die Auslandsentwicklungen der Sparten näher in den Blick genommen werden. Besonders dramatisch stellte sich die Situation im Fasergeschäft dar, das bei Bayer zwischen 1970 und 1980 einen Ergebnisverlust von 1,046 Mrd. DM erwirtschaftete, d. h. seit 1975 etwa 100 Mio. DM pro Jahr. Unter Berücksichtigung einer Verzinsung des eingesetzten Aufwands beliefen sich die Belastungen aus der Perspektive des Unternehmens sogar auf insgesamt 3,15 Mrd. DM . Dies musste von den übrigen Sparten ausgeglichen werden. Der Bayer-Vorstand beschloss daher Anfang 1981, auf allen Gebieten Kosten zu senken und auf dem Perlon-Gebiet die Zusammenarbeit mit einem anderen Faserhersteller zu prüfen. Ein von Franz-Josef Weitkemper vorgelegter Bericht über die Fasersparte zeichnete ein düsteres Bild. Er bezweifelte selbst die Rentabilität auf dem Gebiet der bekannten Dralon-Fasern.133 Solche Verluste im Faserbereich waren keineswegs eine Ausnahme. Der Vorstandsvorsitzende von Rhône-Poulenc Jean Gandois gab bei einem Treffen mit dem Bayer-Vorstandsvorsitzenden Herbert Grünewald im Dezember 1980 unumwunden zu, dass die Fasersparte von Rhône-Poulenc 1980 einen Verlust von 550 Mio. FF erwirtschaftet habe, zu denen weitere 250 Mio. FF als Aufwendungen für Sozialpläne hinzuzurechnen seien.134 Die dramatische Situation der europäischen Chemiefaserindustrie in den 1970er Jahren ließ sich kaum durch den Aufbau neuer ausländischer Produktionsstandorte beheben. Auf dem europäischen Chemiefasermarkt herrschte inzwischen ein intensiver Wettbewerb. Anfang der 1970er Jahre hatten Bayer und Hoechst daher sogar zeitweilig erwogen, ihre weltweiten Faseraktivitäten vollständig zu vereinigen, und 1976 verhandelte Bayer kurzzeitig – und letztlich erfolglos – mit Enka Glanzstoff über das Modell eines Joint Ventures der beiden Fasersparten.135 Am Jahresende 1974 erreichte die Krise einen vorläufigen Höhepunkt, als die Faserkapazitäten in Dormagen nur zu etwa 50 Prozent ausgelastet waren und zahlreiche Produktionsstraßen stillgelegt werden mussten.136 Insgesamt ergaben sich aus der Chemiefaserkrise für Bayer zwei Konsequenzen: Erstens wurde auch Bayer Teil des 1978 abgeschlossenen und 1982 verlängerten, europäischen Strukturkrisenkartells, in dessen Rahmen enorme Kapazitäten einfacher Textil- und Teppichfasern abgebaut wurden. Leverkusen beteiligte sich damit an einer Form der Marktkonsolidierung, die typisch für den westdeutschen Kapitalismus war und weniger dem aufziehenden Bild der 133 BAL 380/7-59 Bayer-Vorstandssitzung (06.01.1981). 134 BAL 380/7-59 Bayer-Vorstandssitzung (23.12.1980). 135 BAL 387/1-10 Bayer Vorstandssitzung (20.04.1971, 06.07.1971, 20.07.1971); BAL 387/1-11 Bayer Vorstandssitzung (06.06.1972); BAL 387/1-16 Bayer Vorstandssitzung (05.10.1976). 136 BAL 387/1-15 Bayer Vorstandssitzung (17.12.1974, 07.01.1975).

193

Bayer

Tabelle 10: Kapazitäten der westeuropäischen Chemiefaserindustrie (1977/80) Unter­ nehmen

Jahr

PAC Spifa

PA-Fil. PA-Fil. PA-Fil. PATextil Teppich Techn. Spifa

PES -Fil. PES Textil Spifa

PES -Fil. Techn.

Bayer

1977

140,0

16,0

12,5

8,4

24,0

15,1

40,0



 

1980

140,0



12,5

8,4

24,0



6,0



Courtaulds

1977

212,0

44,0

10,1





12,5





 

1980

185,0

33,8







12,5





Enka

1977



40,0

42,0

51,0

13,0

84,0

64,0

21,2

 

1980



19,0

41,0

45,5

13,0

75,1

61,0

30,6

Fabelta

1977

30,0

5,8



1,0









 

1980

30,0

7,4

1,3

1,2









Hoechst

1977

78,0









84,0

124,0

25,0

 

1980

78,0









62,5

112,0

28,0

ICI

1977



80,0

35,0

24,0

53,0

50,0

56,0

14,0

 

1980



73,0

32,0

24,0

51,0

40,0

47,0

14,0

RPI

1977

54,0

83,0

15,0

14,0

23,0

46,0

65,0

6,0

 

1980

35,0

52,5

18,5

6,0

23,2

37,0

40,0

6,2

Signatarfirmen (ohne »Italiener«)

1977

514,0

568,8

114,6

98,4

113,0

291,6

349,0

66,2

1980

468,0

185,7

105,3

85,1

111,2

227,4

266,0

78,8

»Italiener«

1977

268,0

103,3



9,0

40,5

85,5

78,0



 

1980

280,0

86,5

7,0

7,0

38,0

66,0

95,0



Signatarfirmen insgesamt

1977

782,0

372,1

114,6

107,4

153,5

377,1

427,0

66,2

1980

748,0

272,2

112,3

92,1

149,2

293,4

361,0

78,8

NichtSignatar­ firmen

1977

292,0

115,0

112,4

17,6

46,5

108,0

217,0

0,8

1980

285,5

114,8

90,2

17,5

51,3

113,6

194,0

3,7

Gesamt

1977

1.074,0

487,1

227,0

125,0

200,0

485,1

644,0

67,0

 

1980

1.033,5

387,0

202,5

109,6

200,5

407,0

555,0

82,5

76

76

71–79

87

66

83

78

Kapazitätsaus­ lastung 1981 in %

80

Quelle: BAL 380/7-61 Spartenleitung Fasern an Bayer-Vorstand (23.02.1981). Anmerkung: Angaben in 1.000 Jahrestonnen. Die Signatarfirmen umfassten die Unternehmen, welche das europäische Strukturkrisenkartell unterzeichnet hatten; die italienischen Unternehmen wurden separat aufgeführt, da sie im Gegensatz zu ihren europäischen Konkurrenten noch weitere Kapazitäten aufbauen wollten und teilweise Sonderregelungen aushandeln konnten. Vgl. ausführlich hierzu: Marx, Cartel. Fil=Filament; PA=Polyamid; PAC =Polyacryl; PES =Polyester; Spifa=Spinnfaser.

194

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Marktidee entsprach.137 Zweitens griff das Management auf eine Praktik zurück, die sich seit der Umstrukturierung westeuropäischer Konzerne Ende der 1960er Jahre in den Unternehmenszentralen etabliert hatte: Bayer schaltete das Beratungsunternehmen McKinsey ein. Sowohl dem Bayer-Vorstand als auch der Faserspartenleitung war 1981 klar, dass der Perlon-Betrieb auch in den kommenden Jahren nicht mehr aus der Verlustzone herauskommen würde und deshalb stillzulegen sei.138 Unübersichtlicher war hingegen die Lage der DralonFertigung, weshalb McKinsey eine Gemeinkostenuntersuchung und eine Studie über die im Dralon-Sektor einzuschlagende Geschäftspolitik erstellte. Eine »objektive« Studie aus der Hand externer Experten sollte abermals die Lösung bringen und das Management vor Anfeindungen im Fall von Arbeitsplatzverlusten schützen, schließlich waren allein von der Perlon-Stilllegung 681 Mitarbeiter im Faserbereich und weitere 80 Personen in der Caprolactam-Produktion betroffen, auch wenn jene Beschäftigten im Rahmen der natürlichen Fluktuation abgebaut werden sollten.139 Für die Perlon-Produktion sah der Bayer-Vorstand keine Zukunft mehr. »Der Markt ist überbesetzt und die Auslastung der Anlagen auch für die kommenden Jahre zu niedrig, als daß wir mit einer substantiellen Verbesserung des Ergebnisses rechnen können. Trotz guter Qualität unserer Produkte zahlt der Markt nicht die zur Kostendeckung benötigten Preise. […] Nach reiflicher Abwägung aller […] Aspekte stimmt der Vorstand deshalb dem Auslaufen der Produktionsbetriebe für Perlon in Dormagen zu.«140 An dieser Entscheidung änderte auch der Gesamtbetriebsrat der Bayer AG nichts, der eine Weiterführung der Perlon-Produktion grundsätzlich befürwortete, gleichzeitig aber auch schon seine Kooperationsbereitschaft im Fall einer Stilllegung signalisiert hatte, sofern keine Kündigungen ausgesprochen würden.141 Die Herstellung von Acrylfasern wurde in Dormagen hingegen fortgesetzt, auch weil Bayer aufgrund der für 1981 vorgesehenen Schließungen bei Fabelta und Rhône-Poulenc-Textile (RPT) eine steigende Auslastung der eigenen Anlagen erwartete.142 Letztlich blieb die Zukunft des westeuropäischen Chemiefasergeschäfts Anfang der 1980er Jahre ungewiss, und auch bei Bayer hatte sich zu jener Zeit noch keine langfristige Strategie für die Fasersparte durchgesetzt. Als der US -Konzern Monsanto 1983 seine Chemiefaserwerke in Lingen (Bundesrepublik) und Coleraine (Nordirland) dem italienischen Hersteller Montefibre zum Verkauf anbot, aber Montefibre kein Interesse an dem Werk in Lingen zeigte, setzte im BayerVorstand eine lebhafte Diskussion über Neu-Investitionen im Textilfaserbereich ein. Während die Spartenleitung Fasern sowie Franz-Josef Weitkemper und 137 BAL 380/7-65 Sparte Fasen an Bayer-Vorstand mit Anhang (12.10.1982). Vgl. ausführlich zum Strukturkrisenkartell im Faserbereich: Marx, Cartel; Schröter, Kriseninstrumente. 138 BAL 387/1-10 Bayer Vorstandssitzung (06.04.1971). 139 BAL 380/7-60 Bayer-Vorstandssitzung (03./04.03.1981). 140 BAL 380/7-61 Bayer Vorstandssitzung (17.03.1981). 141 BAL 380/7-61 Gesamtbetriebsrat Bayer AG an Grünewald (13.03.1981). 142 BAL 380/7-61 Spartenleitung Fasern an Bayer-Vorstand (23.02.1981).

Bayer

195

Gerhard Fritz mit der Akquisition die Auslastung des Werks Dormagen steigern wollten, warnte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende Hermann Josef Strenger vor Investitionen auf dem Gebiet der Acrylfasern, die in den vergangenen zehn Jahren stets Verluste gebracht hätten. Trotz der Vereinbarung zwischen den westeuropäischen Herstellern bestanden Strenger zufolge weltweit noch erhebliche Überkapazitäten.143 Gleichwohl folgte der Vorstand mehrheitlich der Auffassung von Weitkemper und Fritz, übernahm 1983 die Faserwerke Lingen GmbH und stärke damit nochmals das Acrylfasergeschäft.144 Ähnlich zur Chemiefaserproduktion war das goldene Zeitalter der Kunststoffe erst in den Nachkriegsjahrzehnten angebrochen. Die weltweite Kunststoffproduktion wuchs nach dem Zweiten Weltkrieg enorm an: Von etwa 1,5 Mio. Tonnen 1950 auf ca. 30 Mio. Tonnen 1970. Das Bayer-Management erwartete auch für die 1970er Jahre ein deutliches Wachstum und rechnete mit einer Weltkunststoffproduktion von 95  Mio. Tonnen im Jahr 1980  – entsprechend fielen die Kapazitätsplanungen aus. Im Fall von Bayer war die Kunststoff- mit der Lackerzeugung in der Sparte KL (Kunststoffe und Lacke) zusammengefasst, deren Hauptabnehmer 1973 die Elektroindustrie (23,1 %), der Fahrzeugbau und das Transportwesen (14,5 %) sowie die Textil- (11,7 %) und die Möbelindustrie (11,3 %) waren. Auffällig war hier vor allem der hohe Umsatzanteil des KL-Beteiligungsbereichs, der in der ersten Hälfte der 1970er Jahre bei nahezu 50 Prozent lag und  – neben Wolff Walsrode  – auf zahlreiche ausländische Beteiligungsgesellschaften (N. V. Bayer, Mobay, Bayer Italia und PBU) zurückzuführen war. Von Produktseite her gehörte die Kunststoffproduktion im Fall von Bayer damit eindeutig zu den Wegbereitern der Multinationalisierung und in gewisser Weise galt dies auch noch für die Chemiefaserherstellung, obschon beide Produkte in den 1970er Jahren tief in die Krise gerieten.145 Im Pharmabereich war Bayer in der ersten Hälfte der 1970er Jahre in Anbetracht steigender Kosten für Forschung und Entwicklung zunehmend dazu gezwungen, sich auf weniger Arbeitsgebiete zu konzentrieren. Dieser Trend war zwar auch bei anderen Unternehmen zu beobachten, allerdings lag der Forschungsaufwand für Pharmaaktivitäten bei Bayer deutlich unter demjenigen des Hoechst-Konzerns oder des US -Unternehmens Merck & Co. Das BayerManagement legte daher zu Beginn der 1970er Jahre neun Schwerpunktgebiete fest, auf denen man zukünftig gezielt forschen wollte.146 Umgekehrt investierte Bayer aber hohe Summen in Pharmabeteiligungen – vor allem auf dem US -Markt (Cutter / Miles). Die Absatzmöglichkeiten für die Sparten Pharma wie Pflanzenschutz blieben in der Krise 1975 wesentlich besser als für Chemiefasern oder 143 BAL 380/7-66 Bayer Vorstandssitzung (12./13.04.1983), Spartenleitung Fasern an BayerVorstand (21.02.1983). 144 Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S.  559. 145 BAL 387/1-14 Bericht der Spartenleitung KL vor dem Vorstand (16.04.1974). 146 BAL 387/1-12 Referat Schraufstätter (20.02.1973). Vgl. grundlegend zur Forschung bei Bayer: Janneck, Forschung.

196

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Kunststoffe, weshalb im Werk Elberfeld im Unterschied zu Leverkusen, Dormagen oder Uerdingen zu diesem Zeitpunkt auch keine Kurzarbeit angemeldet wurde.147 Letztlich bewirkte diese Erfahrung eine langfristige Gewichtsverlagerung zwischen den Sparten. Während der Umsatzanteil der Bayer-Welt bei anorganischen und organischen Chemikalien 1971 wie auch noch 1983 konstant bei jeweils 7 Prozent lag und ebenso Kautschuk (6 %), Kunststoffe und Lacke (10–11 %) oder Polyurethane (9 %) ihre Anteile hielten, rutschte der Anteil der Farben von 11 auf 6 und derjenige der Fasern von 8 auf 2 Prozent ab. Der Pharmaanteil kletterte hingegen von 9 auf 16 und der Pflanzenschutzanteil von 11 auf 13 Prozent.148 Auch wenn der Bayer-Konzern in den 1970er Jahren seine Chemiefaser- und Kunststoffaktivitäten in Lateinamerika oder dem Nahen Osten noch ausbaute, zeichnete sich hier eine Entwicklung ab, die ihre volle Durchschlagskraft erst in den 1990er Jahren mit einer stärkeren Ausrichtung auf wenige Kerngeschäftsfelder entfalten sollte. Die Internationalisierung des Unternehmens und dessen produktspezifische Ausrichtung waren dabei untrennbar miteinander verkoppelt, auch wenn sie nicht in allen Ländern und bei allen Produkten in dieselbe Richtung wirkten.

3.1.5 Ende des Wachstums? – Desinvestments bei Bayer Das Bayer-Management gewöhnte sich in den 1970er Jahren schrittweise an den Gedanken, dass es Unternehmensteile gab, die sich nur schwerlich rentabel unter dem Dach der Bayer AG fortführen ließen. Hiervon waren weder in- noch ausländische Beteiligungen ausgenommen, obwohl man ins Ausland expandieren wollte. Im Inland stachen vor allem zwei Unternehmensverkäufe – CWH und Duisburger Kupferhütte – heraus. Obschon CWH zu den Filetstücken des ehemaligen IG Farben-Besitzes zählte und Bayer sich lange und erfolgreich gegen eine Übernahme von CWH durch BASF oder Hoechst widersetzt hatte, fanden schon bald nach der zweiten Flurbereinigung Verhandlungen zwischen Veba und Bayer über die Zukunft der CWH statt, die letztlich auf einen Rückzug Bayers hinausliefen. Bereits im Oktober 1972 kamen beide Seiten dazu überein, dass einer der beiden Partner unbeschränkte Eingriffsrechte erhalten sollte, um die notwendigen Rationalisierungen anzustoßen. Eine schnelle Umstrukturierung war jedoch zunächst kaum möglich, denn Hoechst hatte seine Beteiligung nur unter der Prämisse verkauft, dass sich das Kräftegleichgewicht von Bayer und Hibernia in den nächsten sieben Jahren nicht verändern würde. Damit wollte Hoechst eine Ex-

147 BAL 387/1-15 Bayer Vorstandssitzung (21.05.1975). 148 BAL 001-005-026 Bayer. Namen, Zahlen, Fakten 1984/85, S. 21; Geschäftsbericht Bayer 1977, S. 13.

Bayer

197

pansion von Hibernia bzw. Veba auf den Chemiesektor verhindern. Dennoch fanden seit 1971 regelmäßige Dreier-Gespräche zwischen Bayer, Veba und CWH statt. Allerdings wollte Veba zu diesem Zeitpunkt noch nicht den Bayer-Anteil an CWH erwerben, sondern lieber die Erdölchemie vollständig übernehmen. Dies lehnte jedoch der Bayer-Vorstand ab. Erst 1973 zeigte Veba Interesse am Erwerb des CWH-Pakets.149 Nachdem zahlreiche Abgrenzungen zwischen CWH und Bayer geklärt waren und das Bundeskartellamt im Mai 1978 der geplanten CWH-Übernahme durch Veba zugestimmt hatte, gab die Bayer AG zunächst ihren Chemie-VerwaltungsAG -Anteil an Veba ab, deren Anteil infolgedessen von 43,65 auf 62,3 Prozent anstieg. Anschließend bündelte Veba ihre Chemieaktivitäten bei CWH und übernahm 1980 schließlich die restlichen, direkt von Bayer gehaltenen 25 Prozent der CWH. Insgesamt flossen hierdurch 600 Mio. DM als Kaufpreis an Bayer. Die Veba AG steigerte auf diese Weise ihren CWH-Anteil auf 87,3 Prozent und integrierte vorwärts in Richtung der verbrauchernahen Chemieprodukte, während CWH über ihre Muttergesellschaft fortan über eine sichere petrochemische Basis verfügte.150 Das zweite Beispiel war die 1876 durch mehrere Chemieunternehmen gegründete Duisburger Kupferhütte AG (DKH), deren Aufgabe in der Verarbeitung von Reststoffen bestand, welche bei der Schwefelsäureerzeugung aus Pyriten anfielen.  Jahrzehntelang gewann die DKH aus Reststoffen Kupfer, Zink, Blei, Kadmium und Roheisen. Das Unternehmen stellte zugleich eines der letzten Bindeglieder zwischen den IG Farben-Nachfolgegesellschaften dar, denn BASF, Bayer und Hoechst hielten  – auch nach der Flurbereinigung  – jeweils etwa 31 Prozent des Gesellschaftskapitals. Als die chemische Industrie die Erzeugung von Schwefelsäure im Zuge der steigenden Mineralölverarbeitung jedoch auf Elementarschwefel umstellte und damit die aus Schwefelkies anfallenden Abbrände als Rohstoffe entfielen, wurde der Duisburger Kupferhütte ihre Geschäftsgrundlage entzogen. Hinzu stieg die Produktion von Naturschwefel in einigen Ländern Südamerikas und in Polen deutlich an, so dass der Tonnenpreis zwischen 1968 und 1971 um 50 Prozent gesunken war. Ebenso stürzten die Preise für Kupfer, Nickel und Kadmium ab und rissen das Unternehmen 1970/71 in eine tiefe Krise. Gleichwohl waren Bayer, BASF und Hoechst 1972/73 noch bereit, umfangreiche Umstrukturierungen zu finanzieren. Als DKH Mitte der 1970er Jahre jedoch erneut hohe Verluste anhäufte, beschlossen die drei Ge149 BAL 387/1-11 Bayer Vorstandssitzung (19.10.1971, 07.12.1971); BAL 387/1-12 Bayer Vorstandssitzung (17.10.1972, 21.11.1972, 05.06.1973); BAL 387/1-13 Bayer Vorstandssitzung (18.12.1973). 150 BAL 387/1-15 Bayer Vorstandssitzung (06.05.1975); BAL 387/1-17 Bayer Vorstandssitzung (20.12.1977); Geschäftsbericht Bayer 1978, S. 15; Lorentz / Erker, Chemie, S. 263–267. Im April 1975 wurden die nom. 57,8 Mio. DM Chemie-Verwaltungs-Anteile von Bayer mit 353,5 Mio. bewertet; die direkten nom. 77,5 Mio. DM CWH-Anteile mit 473,5 Mio. DM . Vgl. BAL 387/1-15 Bayer Vorstandssitzung (22.04.1975).

198

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

sellschafter ihre Anteile zu verkaufen. Im Jahr 1978 erfolgte daher die Abgabe ihrer DKH-Beteiligungen an die britische Rio Tinto Zinc-Gruppe (RTZ).151 Doch nicht nur im Inland gab Bayer Beteiligungen ab. Nachdem die Kooperationspartner die Aussichten der deutsch-französischen Progil-Bayer-Ugine (PBU) auf dem Polyurethanesektor in den 1960er Jahren optimistisch eingeschätzt hatten, erwirtschaftete PBU in den 1970er Jahren umfangreiche Verluste, so dass das Eigenkapital in Höhe von 40 Mio. FF 1980 weitgehend aufgezehrt war. Da die Gesellschafter auch in Zukunft Verluste erwarteten und Bayer kein neues Kapital für eine Neuausrichtung bereitstellen mochte, vereinbarte Bayer mit Rhône-Poulenc im Dezember 1980 aus der PBU auszusteigen, indem Bayforin ihre PBU-Gesellschaftsanteile (nom. 20  Mio. FF) an Rhône-Poulenc veräußerte.152 Auch im Fall der spanischen FNCE stellte das Bayer-Management aufgrund wirtschaftlicher Probleme Verkaufsüberlegungen an. Nachdem Bayer hier den BASF-Anteil übernommen hatte, verfügte die Bayforin über 50 Prozent des Kapitals, weitere 20,6 Prozent lagen bei Unicolor sowie 29,4 Prozent bei spanischen Aktionären. Obschon die FNCE ihr Personal seit 1977 von 400 auf 300 reduziert hatte, erwirtschaftete sie 1981 immer noch einen Verlust von 5,3 Mio.  DM . Die Farbtechnologie der FNCE entsprach bei weitem nicht mehr dem Stand der Technik, ein Ausbau war aufgrund der Lage in einem Wohnviertel kaum möglich, und obendrein erwartete der Bayer-Vorstand vom EG -Beitritt Spaniens eine weitere Verschärfung der Konkurrenzsituation. Vor diesem Hintergrund sprach sich das Bayer-Management Anfang der 1980er Jahre für einen Rückzug aus der FNCE aus, doch wurde die spanische Tochtergesellschaft noch mehrere Jahre weitergeführt.153 Ein letztes Beispiel  – die Aliaf in Teheran  – soll die Bandbreite möglicher Desinvestitionsgründe darlegen. Im Jahr 1970 hatte Bayer von Allied Chemical Corporation eine 50-Prozent-Beteiligung an der iranischen Chemiefaserfabrik Sherkat Sahami Aliaf erworben und anschließend deren Kapazitäten ausge151 BAL 387/1-12 Bayer Vorstandssitzung (16.01.1973); BAL 387/1-16 Bayer Vorstandssitzung (02.11.1976, 21.12.1976, 01.02.1977); BAL 387/1-17 Bayer Vorstandssitzung (08.08.1978); BAL 387/1-18 Bayer Vorstandssitzung (17.10.1978, 22.12.1978); BASF UA , Vorstandsprotokolle, Vorstandssitzung (06.06.1978, 20.06.1978), Schreiben an RTZ , London (06.06.1978, Anlage 4 zu 18/78); BASF UA , Vorstandsprotokolle, Vorstandssitzung (18.07.1978); BASF UA , Vorstandsprotokolle, Vorstandssitzung (17.10.1978); »Sie hatten kein Glück mit dem Kies«, in: Die Zeit, 19.02.1971; Geschäftsbericht Bayer 1978, S. 15; Geschäftsbericht Hoechst 1978, S. 24; Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 519. 152 BAL 339/052, Frankreich, PBU (Progil-Bayer-Ugine), Zentrale Anwendungstechnik II (1970–1979); BAL 380/7-59 Bayer Vorstandssitzung (23.12.1980), Vereinbarung zwischen Bayer und Rhône-Poulenc (22.12.1980); Reinert, Bayer, S. 184. 153 BAL 380/7-64 Bayer Vorstandssitzung (15.06.1982), Sparte Farben an Bayer-Vorstand (02.06.1982); BAL 380/7-65 Bayer Vorstandssitzung (02./03.11.1982); BAL 380/8-12 Bayer Vorstandssitzung (01.07.1986). Anfang 1987 wurden die FNCE -Anteile an Unicolor (41,06 %) auf die Bayer Hispania Industrial S. A. (BHI) übertragen. Vgl. hierzu: BAL 380/8-14 Bayer Vorstandssitzung (03.02.1987), Konzernfinanzen Finanzsekretariat an Bayer-Vorstand (04.12.1986).

Bayer

199

baut – auch weil die iranische Regierung auf eine rasche Erweiterung gedrängt hatte.154 Obschon das Gros der weltweiten Auslandsinvestitionen weiterhin innerhalb der Triade zirkulierte, drangen multinationale Unternehmen auch in andere, kulturell entferntere und politisch unstabilere Weltregionen vor. Der Iran gehörte trotz langjähriger Geschäftsverbindungen nicht zu den bisherigen Investitionsschwerpunkten von Bayer. Obgleich sich die Kontakte zu den ira­nischen Behörden ab 1973 aufgrund eines in Aussicht gestellten Baus einer ­Caprolactam-Anlage im Iran intensivierten, stellte Hansen im März 1974 mit Blick auf die anstehende iranisch-deutsche Investitionskonferenz fest, dass seitens der westdeutschen Industrie nur wenige konkrete Pläne für neue Investitionen im Iran vorliegen würden, auch wenn die Presse die geschäftlichen Möglichkeiten im Iran in höchsten Tönen lobte. Letztlich entschied sich der Bayer-Vorstand aus wirtschaftlichen Gründen aus dem Caprolactam-Projekt auszusteigen, wenngleich nach geltenden Importrestriktionen nur 30 Prozent des Bedarfs durch Importe gedeckt werden durften und zudem mit einer Verstimmung der iranischen Regierung gerechnet werden musste.155 154 BAL 387/1-9 Bayer Vorstandssitzung (21.10.1969); BAL 387/1-12 Bayer Vorstandssitzung (19.12.1972, 05.06.1973); Geschäftsbericht Bayer 1970, S. 27. AKU hatte vor der Bayer-Übernahme ebenfalls mit Allied über einen Verkauf der Aliaf verhandelt. Vgl. RWWA 195-A2-38 Protokoll der gemeinsamen AKU / Glanzstoff-Vorstandsbesprechung (10.06.1969). Iranische Industrielle traten 1969 auch an Rhône-Poulenc zwecks des Aufbaus einer Chemiefaserproduktion heran, woraufhin Rhodiaceta mit einer iranischen Gesellschaft einen Vertrag über das Herstellungsverfahren und die Lieferung entsprechender Maschinen abschloss und Rhône-Poulenc S. A. einen Anteil von 30 % an der neu zu gründenden Gesellschaft Rhodia Iran übernahm; weitere 25 % befanden sich in der Hand einer befreundeten lokalen Bank. Zudem entschied Rhône-Poulenc 1971, sich an zwei iranischen Gesellschaften (Teheran Chimie und Teheran Pharma) zu beteiligen, die von den beiden westdeutschen Pharmafirmen Grünenthal und Boehringer Mannheim gegründet worden waren. Vgl. AHGS , RP.SA-BH0129-G. G.13-1 Exercice Rhône-Poulenc S. A. 1973, S. 12; AHGS , RP.SA BH101 C.C14 Nr. 5 Rhône-Poulenc S. A. Comité de Direction (22.12.1969); AHGS , RP.SA BH101 C.C14 Nr. 6 Rhône-Poulenc S. A. Comité de Direction (25.03.1970, 27.05.1970); AHGS , RP.SA BH101 C.C14 Nr. 7 Rhône-Poulenc S. A. Comité de Direction (29.06.1971, 28.07.1971), Iran – Fabrication de produits pharmaceutiques (25.06.1971); AHGS , RP.SA BH0083 B.B2 Nr. 9, Groupe Rhône-Poulenc Comité Exécutif (29.08.1975), Cessions d’actions de Teheran Chimie et Teheran Pharma (25.08.1975). 155 BAL 302/188, Kurt Hansen, Iranreise (1974); BAL 387/1-13 Bayer Vorstandssitzung (02.10.1973, 22.01.1974, 19.03.1974); BAL 387/1-15 Bayer Vorstandssitzung (18.02.1975, 03.06.1975); BAL 387/1-1 Bayer Vorstandssitzung (01.03.1977); »Iran. Ziemlich crazy«, in: Der Spiegel 18/1976, 26.04.1976, S. 142–146. Obgleich sich die Beziehungen in den Iran Anfang der 1970er Jahre verdichteten und der Machtzuwachs der ölproduzierenden Länder schon vor der ersten Ölpreiskrise registriert wurde, verzichteten Bayer, Hoechst und BP in Absprache mit dem Bundeswirtschaftsministerium im Sommer 1973 auf eine Joint Venture-Raffinerie im Iran. Vgl. BAL 387/1-13 Bayer Vorstandssitzung (19.06.1973). Im Rahmen des Geschäftsausbaus Mitte der 1970er Jahre sollte das Aliaf-Kapital erhöht, ein Teil der Aktien an die Belegschaft ausgegeben und der Bayer-Anteil auf 34 % sinken; letztlich verblieb der Bayer-Anteil aber bei 50 %. Vgl. BAL 387/1-15 Bayer Vorstandssitzung (21.01.1975).

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Für die weitere Entwicklung der Aliaf, die von 1976 bis 1978 aufgrund negativer Ergebnisse etwa die Hälfte ihres Kapitals verloren hatte, war vor allem die Rückkehr Ajatollah Chomeinis 1979 von Bedeutung, denn der damit verbundene Beginn der Islamischen Revolution gilt nicht nur als Auslöser der zweiten Ölpreiskrise, mit ihr wurde auch die konstitutionelle Monarchie im Iran durch eine neue Staatsform ersetzt. Zwischen den Gesellschaftern der Aliaf herrschte zu dieser Zeit Dissenz über eine mögliche Sanierung des Unternehmens. Zudem gingen die Meinungen bei der Bewertung von Bayer-Altschulden deutlich aus­einander, weshalb die Bayer AG ihr Engagement ab 1979 schrittweise zurückfuhr. Schließlich musste die Aliaf mit dem Jahreswechsel 1978/79 ihre Produktion aufgrund zahlreicher Streiks einstellen.156 Erst im März 1979 wurde das Revolutionskomitee in der Aliaf wieder aufgelöst; der in der Revolutionsphase eingesetzte Generalmanager blieb hingegen in seiner Funktion.157 Dabei war Bayer beileibe kein Einzelfall. Auch andere westdeutsche Unternehmen, wie das Firmenkonsortium unter Führung der Siemens-Tochtergesellschaft Kraftwerk Union (KWU), das Mitte der 1970er Jahre mit dem Bau des Atomkraftwerks Buschihr am Persischen Golf begonnen hatte, oder der US -Konkurrent DuPont waren im Iran geschäftlich aktiv. Westdeutsche Unternehmen hatten nach dem deutsch-iranischen Vertrag von 1965, der den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen garantierte, kräftig im Iran investiert. Mitte der 1970er Jahre gehörte der Iran zu den größten außereuropäischen Handelspartnern der Bundesrepublik. Neben der Bayer AG betrieben zu dieser Zeit die Hoechst AG, die Merck KGaA, die Schering AG, die Boehringer Mannheim GmbH und die Grünenthal GmbH im Iran Pharmaproduktionsstätten. Doch die Euphorie der späten 1960er Jahre verflog langsam.158 Mitte der 1970er Jahre fiel die Bayer Pharma Iran AG unter das vom Schah erlassene iranische »Volksaktiengesetz«, wonach öffentliche Firmen 99 Prozent und private Firmen 49 Prozent ihres Aktienkapitals der Öffentlichkeit anbieten mussten. Bayer setzte sich umgehend mit dem Bundeswirtschaftsministerium und dem Auswärtigen Amt in Verbindung und entschied daraufhin keine neuen Investitionen im Iran zu tätigen und das Engagement bei der Aliaf schrittweise zu beenden. Ebenso schränkte Hoechst seine Iran-Investitionen ein.159 156 BAL 387/1-13 Bayer Vorstandssitzung (21.06.1977); BAL 387/1-18 Bayer Vorstandssitzung (09.01.1979, 03.07.1979, 07.08.1979, 02.10.1979); Bösch, Schah; Geschäftsbericht Bayer 1978, S. 60. Die BASF holte die Familienangehörigen ihrer fünf im Iran tätigen Delegierten sowie einen der BASF-Repräsentanten im Januar 1979 in die Bundesrepublik zurück. Vgl. BASF UA , Vorstandsprotokolle, Vorstandssitzung (09.01.1979). Vgl. grundsätzlich zum politischen Risiko multinationaler Unternehmen: Forbes / Kurosawa / Wubs, Multinational Enterprise; Kobrak / Wüstenhagen, Globalization. 157 BAL 387/1-18 Bayer Vorstandssitzung (03.04.1979). 158 Blaszczyk, Synthetics for the Shah; »Das ist wie ausgestorben«, in: Der Spiegel 7/1979, 12.02.1979, S. 63–65; Weißgerber, Iranpolitik, besonders S. 87–116, 234–235. 159 Vgl. BAL 387/1-16 Bayer Vorstandssitzung (07.10.1975, 18.05.1976); Lanz, Weltreisender, S. 338.

Bayer

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Im Juli 1980 eskalierte die Situation, als das iranische Gesundheitsministerium die Verstaatlichung aller ausländischen Pharmaunternehmen einleitete. Hiervon war auch die Auslandsgesellschaft Bayer Pharma Iran AG betroffen, die Bayer 1961 errichtet hatte und die 1967 um eine Pflanzenschutz-Formulier- und Abfüllanlage erweitert worden war.160 Der Vorstandsvorsitzende der Hoechst AG Rolf Sammet klagte 1980 vor allem darüber, dass Hoechst im Vertrauen auf den Erhalt der Investitionen in den 1960er Jahren Bankbürgschaften abgegeben habe, die nun fällig zu werden drohten. Hoechst war bereits seit den 1950er Jahren auf dem iranischen Markt tätig und hatte hier 1965 die Hoechst Industrie AG zur Fertigung von Arzneimitteln und Mowilith-Dispersionen gegründet. Insgesamt hatte die westdeutsche Pharmaindustrie 1980 etwa 100 Mio. DM in die iranische Arzneimittelfertigung investiert. Entsprechend titelte die Bild-Zeitung im Juli 1980: »40 Millionen weg! Khomeini enteignet Hoechst und Merck«.161 Spätestens 1981 bestand unter den westdeutschen Pharmaunternehmen kaum mehr Hoffnung auf eine Rückgabe der Auslandsbeteiligungen, weshalb sie zusammen mit dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie auf eine Entschädigungslösung drängten, doch blieben mehrere Vorstöße in diese Richtung ergebnislos.162 160 BAL 009/L Bayer baut in Teheran, in: Chemische Industrie XI , November 1961; BAL 380/7-60 Bayer Vorstandssitzung (03./04.03.1981); BAL 387/1-18 Bayer Vorstandssitzung (18./19.03.1980). 161 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 58 I / Hoechst G-Beteiligungen im Ausland / L änder A–Z/4. Asien, »Iran-Risiken. Den Deutschen droht Enteignung«, in: Rheinischer Merkur, 09.05.1980; »40 Millionen weg! Khomeini enteignet Hoechst und Merck«, in: Bild, 10.07.1980, »Deutsche Firmen im Iran enteignet«, in: Stuttgarter Nachrichten, 10.07.1980, »Iran enteignet deutsche Firmen«, in: Frankfurter Rundschau, 10.07.1980, »Pharma-Verband: Bonn hat ›harte Reaktion‹ zugesichert«, in: Frankfurter Rundschau, 12.07.1980, »Iran: Weiter Ungewißheit über die deutschen Pharma-Werke«, in: Offenbach Post, 15.07.1980; Geschäftsbericht Hoechst 1965, S. 41; Geschäftsbericht Hoechst 1966, S. 42; Lanz, Weltreisender, S. 337–338. 162 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 58 I / Hoechst G-Beteiligungen im Ausland / L änder A–Z/​ 4. Asien, »Deutsche Pharma-Firmen bitten um Hilfe«, in: Stuttgarter Zeitung, 21.07.1981. Trotz des Eingriffs auf Eigentumsebene und der Einsetzung iranischer Regierungsbeamte ins Management im Juli 1980 hielt die Hoechst Industrie AG ihre Beziehungen zur westdeutschen Muttergesellschaft zunächst noch aufrecht. Nachdem die westlichen Pharmafabriken Mitte 1980 unter Zwangsverwaltung gestellt worden waren, bereitete die iranische Regierung Anfang 1981 die Verstaatlichung vor. Im April 1981 riss die Berichterstattung der iranischen Pharmafertigung nach Frankfurt / Main ab, so dass Hoechst die Verträge kündigte und die Führung des Namens »Hoechst« untersagte. Vgl. Hoechst-Archiv, H0159232, GL 2.3 Pharma, Protokoll der 82. Sitzung des AK Produktion Pharma am 04.11.1980 (17.11.1980), Protokoll der 88. Sitzung des AK Produktion Pharma am 12.08.1981 (08.09.1981); Hoechst-Archiv, Hoechst H0159240, GL 2.2 Pharma, Protokoll der 238. Geschäftsführersitzung (07.07.1980); Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 58 I / Hoechst G-Beteiligungen im Ausland / L änder A–Z/4. Asien »Iran will 14 westliche Pharma-Firmen verstaatlichen«, in: Wiesbadener Kurier, 24.01.1981. Im Geschäftsjahr 1984 gab die Hoechst AG ihre Beteiligung an der Hoechst Industrie AG in Teheran endgültig ab. Vgl. Geschäftsbericht Hoechst 1984, S. 20.

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Die Aliaf arbeitete Ende 1980 zwar wieder mit Gewinn, allerdings war eine Schuldenrückzahlung an die deutsche Bayer AG aufgrund des Devisen­ mangels kaum möglich. Das westdeutsche Management war durchaus bereit, der Forderung der Foreign Investment Organisation, eine dem iranischen Finanzministerium zugeordnete Behörde, nachzukommen, den Bayer-Anteil an der Aliaf abzugeben, allerdings bestand Leverkusen auf die Begleichung der Altschulden, auf eine Bewertung des Aktienkapitals in Höhe des Kaufpreises und auf einen Transfer der Beträge in einer harten Währung.163 Diese Haltung traf auf den Widerspruch der iranischen Bankenvertreter im Board, die eine Kapitalherabsetzung und anschließende Wiederaufstockung unter Ausschluss Bayers vorsahen, was de facto einer weiteren Enteignung gleichgekommen wäre.164 Bayer ging schrittweise die Kontrolle über die Aliaf verloren, auch weil die beiden deutschen Manager Roßdeutscher und Schnell Anfang 1982 keine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung mehr erhielten und deshalb abgezogen werden mussten.165 Der Druck, die Aliaf kostenlos in iranische Hände zu geben, nahm enorm zu. Botschaftsrat Gert Strenziok vermeldete am 22. Juli 1982: »In der Hauptversammlung der Aliaf am 11.7.1982 wurde den iranischen Bayer-Vertretern angedroht, sie würden umgebracht, wenn sie bestimmten […] Unternehmensentscheidungen nicht zustimmen würden.«166 Die Verhandlungen zogen sich über die komplette zweite Jahreshälfte hin. Erst Ende 1982 und Anfang 1983 wurde ein Teil der Bayer-Forderungen beglichen und nahezu zeitgleich eine Entschädigungsregelung für die Enteignung der Bayer Pharma Iran AG erzielt, für die der Bund Ausgleichsmittel in Höhe von ca. 1,4 Mio. DM bereitstellte.167 Neben Problemen mit ausländischen Beteiligungen wurde auch der westdeutsche Außenhandel in den Iran massiv behindert. Auf der einen Seite erhöhten geringe Ölexporte und hohe Kriegskosten die Devisenprobleme des Landes; auf der anderen Seiten waren inzwischen sowohl die Pharma- als auch die Pflanzenschutzmittel-Importe auf nationale Importbehörden übertragen worden. Bayer zeigte weiterhin Interesse am iranischen Markt, immerhin erwirtschaftete die Bayer-Welt 1980 hier einen Umsatz von etwa 400 Mio. DM, gleichwohl musste Bayer auch das Personal der 1955 als Joint Venture mit lokalen Aktionären gegründeten Bayer Iranchemie AG (BICH) 1982 reduzieren, da die Behörden einen Teil jener Aufgaben übernommen hatten.168 Unter dem Blickwinkel der Ver163 164 165 166 167

BAL 380/7-59 Bayer Vorstandssitzung (02.12.1980). BAL 380/7-60 Bayer Vorstandssitzung (03./04.03.1981). BAL 380/7-63 Bayer Vorstandssitzung (05.01.1982).

Geiger / Peter / Lindemann, Akten zur Auswärtigen Politik 1983, S. 817.

BAL 380/7-65 Bayer Vorstandssitzung (24.08.1982, 19.10.1982); BAL 380/7-66 Bayer

Vorstandssitzung (01.03.1983). Am 12.05.1987 erfolgte der endgültige Verkauf der Aliaf an die iranische Staatsfirma Bonyade. Vgl. BAL 380/8-16 Bayer Vorstandssitzung (19.05.1987). 168 BAL 380/7-63 Bayer Vorstandssitzung (05.01.1982); BAL 380/7-65 Bayer Vorstandssitzung (24.08.1982, 19.10.1982); BAL 380/7-66 Bayer Vorstandssitzung (01.03.1983). Von 118 Mitarbeitern der BICH sollten 75 ausscheiden. Im März 1984 lag der Bayer-Anteil

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sorgungssicherheit im Rohstoffbereich spielten die direkten Verbindungen des westdeutschen Chemiekonzerns in den Nahen Osten hingegen eine untergeordnete Rolle; hier kooperierte Bayer weiterhin mit den großen Mineralölfirmen. Ähnlich sind Kontakte nach Algerien und Libyen nach der zweiten Ölpreiskrise zu beurteilen, von denen sich die nordafrikanischen Staaten Know-how zum Aufbau petrochemischer Anlagen versprachen.169 Die hier aufgeführten Desinvestments verdeutlichen vor allem drei Aspekte: Erstens zeigt sich, dass Desinvestitionen  – wie Investitionen  – durch unterschiedliche Motive begründet waren. Die Veräußerung konnte durch neue technologische Verfahren und den ökonomischen Strukturwandel bestimmt sein, aber ebenso durch den Rückzug von einem bestimmten Markt oder die als zu gering erachtete Rentabilität einer Beteiligung oder – wie im Fall Iran – durch politische Restriktionen. Zweitens gab es innerhalb des Managements nur bedingt Widerstände gegen den Verkauf von Beteiligungen. Angesichts der zunehmend schwierigeren finanziellen und ökonomischen Lage hielten die Unternehmensleitungen immer weniger an ihren Beteiligungen fest und betrachteten diese immer stärker als austauschbare und handelbare Objekte. Jene zunehmende Leichtigkeit beim Erwerb und Verkauf von Unternehmensbeteiligungen führte langfristig drittens zur Herausbildung eines internationalen Markts für Unternehmensbeteiligungen und genau jener Markt wirkte mit seinen Bewertungskriterien wieder auf unternehmensinterne Entscheidungen zurück.

3.1.6 Internationale Standortkonkurrenz Der unternehmensstrategischen Entscheidung für oder gegen eine (Des-)Investition gingen stets zahlreiche Abwägungsprozesse voran. Dies war im Grunde nichts Außergewöhnliches. Neu war hingegen für deutsche Unternehmer, dass sie bei ihren Entscheidungsprozessen in der Zeit nach dem Boom einen sich weitenden Raum einbezogen, der zunächst Westeuropa und mit Abstrichen Nordund Lateinamerika umfasste, sich dann in Richtung USA öffnete und spätestens ab den 1990er Jahren auch Asien einschloss. Auf diese Weise kristal­lisierten sich die Vor- und Nachteile von Produktionsstandorten immer deutlicher heraus und konnten auch gegeneinander ausgespielt werden.170 Ein Beispiel aus dem europäischen Kontext soll jene zunehmende internationale Konkurrenz zwischen Produktionsstandorten verdeutlichen.

an der BICH bei 84 %; die übrigen 16 % wurden von Pari Alamir gehalten. Vgl. BAL 380/7-70 Bayer Vorstandssitzungen. Veränderungen in den Geschäftsführungen und Aufsichtsorganen der in- und ausländischen Beteiligungsgesellschaften (1984). 169 BAL 387/1-14 Bayer Vorstandssitzung (04.06.1974). 170 Vgl. zur Standortwahl in den USA im Allgemeinen und der Degussa 1973/74: Schlichting / K rüger, Niederlassungen, S. 30–34, 118–119.

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Angesichts des anhaltenden ökonomischen Wachstums begab sich der BayerVorstand in den 1960er Jahren auf die Suche nach einem Standort für ein neues Bayer-Werk. Da die Manager eine Lage an der Küste favorisierten, kamen vor allem die Hafenstädte Antwerpen in Belgien, Teeside in Nordostengland und Brunsbüttel in Schleswig-Holstein in Betracht. Während Bayer in Antwerpen über ein ausbaufähiges Werk verfügte und der Standort auch ansonsten den Anforderungen genügte, erfüllte Brunsbüttel nicht die gleichen Ansprüche. Nachdem ein eigenständiger Industriekomplex in Großbritannien aufgrund des anstehenden EWG -Beitritts nicht mehr notwendig und der Standort Teeside damit aus dem Rennen war, fand eine intensive Untersuchung der Produktionsbedingungen an den beiden verbliebenen Standorten statt.171 Erst nach finanziellen Zugeständnissen des Landes Schleswig-Holstein fiel die Entscheidung zugunsten von Brunsbüttel, wo Kurt Hansen im Oktober 1973 den Grundstein legte. Neben dem Entgegenkommen politischer Entscheidungsträger zeigte sich hier die Rücksichtnahme eines deutschen Managements auf nationale Belange – besonders nachdem die vorangegangenen Investitionen in ein Großwerk nach Antwerpen geflossen waren.172 Ab 1970 lotete der Bayer-Vorstandsstab zudem die Möglichkeiten einer Industrieansiedlung in Frankreich aus. Nachdem sich Bayer bereits mit mög­ lichen Standorten an der Seine-Mündung (Le Harve), in Brest und Dünkirchen beschäftigt hatte, kristallisierte sich schließlich das Elsass als Favorit heraus. Hierzu nahm das Unternehmen Kontakt zum Comité pour l’Économie Bas Rhinoise, zur Hafenverwaltung von Straßburg sowie zur Handelskammer in Straßburg auf. Als mögliche Standorte wurden Offendorf, Gambsheim und Marckolsheim ins Auge gefasst. Da das Gelände in Offendorf frühestens ab 1975 zu bebauen war und Gambsheim noch nicht über einen Anschluss an den Rhein verfügte, schälte sich recht schnell die direkt am Rhein gelegene Industriezone um das französische Dorf Marckolsheim heraus. Im Vergleich zu anderen französischen Regionen wurde die günstige Arbeitskräftesituation hervorgehoben. Nach vertraulicher Auskunft von Rhône-Poulenc war dies auch der Grund für den Ausbau des Rhône-Poulenc-Werks in Chalampé südlich von Marckolsheim. Selbst ein Bedarf von mehreren tausend Arbeitskräften konnte regional gedeckt werden; zudem waren diese in der Regel alle zweisprachig. Darüber hinaus erwartete Bayer im Universitätsdreieck Straßburg-Freiburg-Basel keinen Mangel an Führungskräften. Die gesicherte Energieversorgung, der Anschluss an den Rhein und wichtige Bahnlinien, die Versorgung des Raums Straßburg / Karlsruhe über Ölpipelines aus Marseille sowie die Arbeitskräftesituation bei angemessenem Lohnniveau sprachen für Marckolsheim.173 171 BAL 339/61 Rundschreiben Vorstandsstab  – Regionale Koordinierung mit Anlage 2 (12.10.1973). 172 Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S.  478. 173 BAL 339/61 Aktennotiz betr. Ansiedlungsmöglichkeiten für Industrie in Frankreich (02.04.1970).

Bayer

205

Dabei war Marckolsheim abseits der Küste keineswegs als universeller Produktionsstandort nutzbar, vielmehr erwies sich der Absatzmarkt als entscheidender Standortfaktor. Produktlinien mit einem hohen Übersee-Exportanteil kamen hierfür nicht in Frage. Eine Bayer-Studie zeigte, dass das Oberrheintal aufgrund der angrenzenden europäischen Absatzmärkte jedoch für eine konsumnahe Produktion – wie die Herstellung der Bayer-Kunststoffe Novodur und Makrolon – ein optimaler Standort war. Wegen seiner zentraleuropäischen Lage bot das Elsass für Bayer eine sinnvolle Ergänzung zu den bisherigen Werken im nördlichen Mitteleuropa. Zudem erschien es der Bayer-Leitung angesichts der Währungsproblematiken vorteilhaft, einen Standort in einem der Hauptexportländer Frankreich oder Italien zu suchen. Darüber hinaus wurde Marckolsheim im Juli 1973 von französischer Seite als Förderzone eingestuft, so dass Investitionshilfen zu erwarten waren.174 Neben einer möglichen Herstellung von Kunststoffen erwog die Spartenleitung »Anorganische Chemikalien« den Bau einer Glasfaserfabrikation am Standort Marckolsheim. Im Oktober 1973 kam die Projektplanung bei einem internationalen Standortvergleich Antwerpen-Brunsbüttel-Marckolsheim zu dem Ergebnis, dass eine Produktion in Marckolsheim rentabler als an den anderen beiden Orten sei. Vor allem die geografische Lage zwischen den beiden größten europäischen Glasfasermärkten Frankreich und Bundesrepublik und in der Lücke zwischen den Produktionsschwerpunkten Grenoble und Aachen / ­Lüttich war demnach vorteilhaft. Neben den guten Transportwegen und dem günstigen Lohnniveau hob die Projektplanung die Lage im außerdeutschen Währungsgebiet hervor, zumal sich in Frankreich auch die Produktionsstätten der wichtigsten Wettbewerber befanden. Trotz der günstigen Verkehrsanbindung und der vorteilhaften Energie- und Rohstoffversorgung lag Antwerpen an der Peripherie des deutsch-französischen Glasfasermarktes. Dies galt gleichermaßen für Brunsbüttel, wo die Energiekosten am höchsten waren. Brunsbüttel befand sich nicht nur im gleichen Währungsgebiet wie das Mutterunternehmen, der norddeutsche Raum wies auch praktisch keinen Bedarf auf und ein Export nach Großbritannien und Skandinavien erschien aufgrund der dortigen Kapazitäten kaum lohnenswert. Insgesamt ergab ein Rentabilitätsvergleich deshalb, dass der Standort Marckolsheim für eine Glasfaserproduktion günstiger als Antwerpen oder Brunsbüttel war. Brunsbüttel landete in dieser Kalkulation auf dem letzten Platz.175 Da die Chemischen Werke Hüls (CWH) zeitgleich beabsichtigten, eine PVCProduktion in Fessenheim aufzubauen, kam der Bayer-Vorstand von der Idee einer Kunststoffproduktion im Elsass jedoch bald wieder ab und verfolgte ab

174 BAL 339/61 Rundschreiben Vorstandsstab – Regionale Koordinierung mit Anlagen 1–4 (12.10.1973), Zentralbereich IN an Vorstand (30.10.1973). 175 BAL 339/61 Spartenleitung »Anorganische Chemikalien« an den Vorstand mit Anlage (29.10.1973).

206

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Tabelle 11: Einzelkosten der Standorte Antwerpen, Brunsbüttel und Marckolsheim (1973) Antwerpen

Brunsbüttel

Marckolsheim

Einheit

Elektrische Energie

33,00

44,00

39,25

DM ‰ KWh

Erdgas

48,65

130,00

70,15

DM ‰ Nm3

Personalkosten

8.690

7.998

6.173

1.000  DM / a

Quelle: BAL 339/61 Spartenleitung »Anorganische Chemikalien« an den Vorstand mit Anlage (29.10.1973).

Ende 1973 nur noch den Vorschlag einer Faserfabrikation.176 Angesichts der ökonomischen Turbulenzen und der damit einhergehenden Investitionsbeschränkung bei Bayer diskutierte der Vorstand im März 1974 allerdings nochmals grundlegend die Fortführung des Glasfaserprojekts. Da Bayer bereits erhebliche Forschungsanstrengungen geleistet hatte, entschied der Vorstand zwar, das Projekt weiterzuverfolgen, verlegte die Produktion aber an den Standort Antwerpen, wo bereits bestehende Anlagen zur Verfügung standen.177 Daraufhin änderte die Fasersparte ihre Strategie und stellte im Juni 1974 den Antrag eine 36.000-Jahrestonnen-Anlage zur Herstellung von Dralonfasern in Marckolsheim zu errichten. Auch hierfür wurde nochmals der Standort Antwerpen geprüft, letztlich entschied sich der Vorstand jedoch für Marckolsheim, da die dort kalkulierten Investitionskosten (183,5 Mio. DM) deutlich niedriger als in Antwerpen (192,9 Mio. DM) lagen.178 Bayer nahm nun Verhandlungen mit den Straßburger Behörden (Service de Mines Bas Rhin, Service de Mines Strasbourg, Port Autonome de Strasbourg) auf und ermittelte ein Gesamtinvestitionsvolumen von 400 Mio. FF; hiervon entfielen ca. 13 Mio. FF (ca. 7 Mio. DM) auf den Kauf des Geländes. Damit ergab sich ein durchschnittlicher Preis von knapp 7 DM / m2 für ein voll erschlossenes Industriegelände. Dies wurde von Bayer als durchaus günstig angesehen.179 Obschon Marckolsheim zunächst aus Gründen der Konsumnähe und der verfügbaren Arbeitskräfte gewählt worden war, waren im Endeffekt – ähnlich zu Brunsbüttel  – staatliche Hilfen entscheidend. Die Abteilung für regionale

176 BAL 387/1-13 Bayer-Vorstandssitzung (06.11.1973). 177 BAL 387/1-13 Bayer-Vorstandssitzung (05.03.1974); Verg / Plumpe / Schultheis, Meilensteine, S. 417. 178 BAL 387/1-14 Bayer-Vorstandssitzung (04.06.1974, 02.07.1974); BAL 339/61 »M. Sicuani confirme le projet de »Bayer», un géant de la chimie, sur la zone de Marckolsheim«, in: Dernières Nouvelles d’Alsace, 15.09.1974; BAL 339/62 Notiz Standort Faseranlage. Vergleich Antwerpen / Marckolsheim (26.06.1974). 179 BAL 339/61 Standort Marckolsheim / Elsass. Angaben zum Grundstück-Kaufvertrag (04.10.1974), Vermerk Frankreich Faser-Projekt (08.10.1974).

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Entwicklung im französischen Finanzministerium (Délégation à l’Aménagement du Territoire et à l’Action Règionale, DATAR) gestand Bayer im September 1974 eine Prämie von 20 Mio. FF zu, obwohl der Höchstsatz üblicherweise bei maximal sechs Mio. FF lag; allerdings knüpfte sie die Bewilligung an die Bedingung, innerhalb von drei Jahren 400 Arbeitsplätze in der Industriezone Marckolsheim zu schaffen. Bayer akzeptierte diese Forderung, schließlich sollte das Werk in seiner letzten Ausbaustufe eine Belegschaft von 1.500 bis 2.000 Personen umfassen. Ferner wurde der Geländekauf mit zehn  Mio. FF subventioniert, eine Ausbildungshilfe gewährt und der Betrieb für die ersten fünf Jahre ab Inbetriebnahme von der Gewerbesteuer befreit.180 Damit war der Entschluss eigentlich gesichert, doch die Krise in der europäischen Chemiefaserindustrie nahm im Laufe des Jahres dramatische Ausmaße an, so dass sich die Unternehmensleitung im November 1974 entschloss, das Projekt für sechs Monate auf Eis zu legen. Eine Neuinvestition war angesichts der Talfahrt der europäischen Chemiefaserhersteller nicht mehr zu rechtfertigen. Gegenüber ihren französischen Verhandlungspartnern betonten die Bayer-Vertreter zwar wiederholt, dass die Entscheidung nur vertagt und das Elsass nach wie vor ein attraktiver Standort sei, doch letztlich wurde das BayerWerk in Marckolsheim nie realisiert. Entscheidend hierfür war die Tatsache, dass die Krise der europäischen Chemiefaserindustrie noch bis in die 1980er Jahre andauerte.181 Die Standortverhandlungen über Antwerpen, Brunsbüttel und Marckolsheim verdeutlichen zum einen das wachsende Spannungsverhältnis zwischen in- und ausländischen Produktionsstandorten nach dem Boom. Dabei spielten nationale Empfindsamkeiten und das Verständnis des Bayer-Managements als deutsche Unternehmensleitung durchaus noch eine Rolle. Zum anderen zeigt sich hier die zunehmende internationale Konkurrenz staatlicher Akteure um privatwirtschaftliche Investitionen in Industrieanlagen, um neue (Industrie-) Arbeitsplätze zu schaffen.

3.1.7 Gesamtstruktur des Auslandsgeschäfts Die Entscheidungen für eine beschleunigte Auslandsexpansion lassen sich deutlich an den Umsatzzahlen des Bayer-Konzerns ablesen. Wechselnde Abgrenzungen im Untersuchungszeitraum – zwischen Bayer-Gruppe, Bayer-Welt und Bayer-Konzern – erschweren eine durchgehende Betrachtung, gleichwohl

180 BAL 339/61 Bayer Vorstandsstab Regionale Koordinierung an Vorstand (09.10.1974); BAL 339/62 Aktennotiz über eine Besprechung in Straßburg am 11.9.1974 (12.09.1974), Staatshilfen in Frankreich (14.11.1973). 181 BAL 339/62 Aktennotiz Polke (09.12.1974); BAL 387/1-15 Bayer-Vorstandssitzung (05.11.1974); Marx, Cartel.

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

lassen sich zwei Entwicklungen klar ablesen.182 Erstens stiegen tendenziell über die gesamte zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts der Auslandsumsatz, die Auslandsproduktion wie auch der Export aus der Bundesrepublik deutlich an; ab Mitte der 1980er Jahre erwirtschaftete der Bayer-Konzern etwa 80 Prozent seines Umsatzes im Ausland. Zweitens wuchsen der Anteil ausländischer Gesellschaften – als Merkmal der Multinationalisierung – und infolgedessen auch der Auslandsumsatz schneller als die Exportquote an, die in den 1970er Jahren die 60-Prozent-Marke durchbrach. Bemerkenswert ist, dass jene langfristigen Entwicklungen weitgehend unabhängig von kurzfristigen Konjunkturverschiebungen waren, auch wenn einzelne Auf- und Abschwünge (wie 1974/75) ihre Spuren hinterließen.183 Gleichwohl kann der rasante Anstieg der Auslandsproduktion in den beiden Dekaden ab Mitte der 1960er Jahre durchaus als Reaktion auf die nachlassende Nachfrage im Inland interpretiert werden.184 182 Vgl. zur Umsatz- und Investitionsstruktur nach Regionen und Produktgruppen sowie zur betriebswirtschaftlichen Entwicklung einiger Auslandsbeteiligungen auch das bei Kiehne zusammengetragene Zahlenmaterial für den Zeitraum 1975–1986: Kiehne, Geschäftsfeldplanung. Die Bayer-Gruppe umfasste die Bayer AG , die in- und ausländischen Beteiligungsgesellschaften, an denen die Bayer AG oder im Falle einer mehrstufigen Beteiligung die jeweilige Muttergesellschaft mit 50 % und mehr beteiligt war. Die Gruppen-Daten enthalten die Zahlen nur entsprechend dem jeweiligen direkten und indirekten Beteiligungsverhältnis. Die Welt-Daten bezogen sich auf den gleichen Kreis, enthielten jedoch die Zahlen zu 100 %, d. h. ohne Berücksichtigung des jeweiligen Beteiligungsverhältnisses. Innenlieferungen waren jeweils ausgeschaltet. Entsprechend weicht der Umsatzanteil ausländischer Gesellschaften teils erheblich voneinander ab. Während für das Jahr 1966 der Anteil ausländischer Gesellschaften am Umsatz der Bayer-Gruppe 19,2 % betrug, lag dieser Wert bei der Bayer-Welt bei 36,8 %. Da ab dem Geschäftsbericht 1972 keine Gruppen-Daten mehr ausgewiesen und die Welt-Daten für die 1960er Jahre zurückgerechnet wurden, liegen der nachfolgenden Grafik die Welt-Daten zugrunde. Da die Abweichungen beim Auslandsumsatz wesentlich geringer sind, wurden hier für den Zeitraum 1956 bis 1962 die Gruppen-Daten herangezogen. Ab 1987 bilanzierte Bayer nach neuem Bilanzrecht; der Begriff »Bayer-Welt« wurde daher 1986/87 durch »Bayer-Konzern« ersetzt. Im Rahmen der verstärkten Orientierung nach Sparten verzichtete Bayer ab Anfang der 1990er Jahre darauf, den Export der deutschen Bayer AG auszuweisen. Vgl. Geschäftsbericht Bayer 1970, S. 75; Geschäftsbericht Bayer 1971, S. 12; Geschäftsbericht Bayer 1972, S. 83. 183 In der Krise 1975 beschloss der Vorstand auf Beförderungen und Werkszulagenverträge der Führungskräfte ausnahmslos zu verzichten; im Tarifbereich erfolgten Beförderungen nur unter hohen Voraussetzungen. Zudem wurde eine Einstellungssperre verhängt; ab Juni wurden breitflächig Kurzarbeit vereinbart, vorzeitige Pensionierungen durchgeführt, Reparaturen zurückgestellt und die Vorräte abgebaut. Vgl. BAL 387/1-15 Bayer Vorstandssitzung (21.05.1975, 03.06.1975, 18.06.1975, 01.07.1975, 02.09.1975). Im Zeitraum Juni bis Dezember 1975 sparte Bayer durch Kurzarbeit ca. 50 Mio. DM ein; weitere 72 Mio. DM kamen über den Abbau von Überstunden im Zeitraum Januar bis Dezember 1975 hinzu. Vgl. BAL 387/1-16 Bayer Vorstandssitzung (21.10.1975). 184 Der Zuwachs an in- und ausländischen Tochtergesellschaften seit den 1960er Jahren vergrößerte insbesondere die Bandbreite an Personalführungssystemen, weshalb sich der

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Bayer 90

80

in Prozent

70

60

50

40

30

00 20

95 19

90 19

85 19

80 19

75 19

70 19

65 19

60 19

19

55

20

Anteil des Auslandsgeschäfts am Umsatz der Bayer-Welt in % Exportanteil der Bayer AG in % Anteil ausländischer Gesellschaften am Umsatz der Bayer-Welt in %

Abbildung 2: Auslandsgeschäft des Bayer-Konzerns (1956–1995) Quelle: Bayer Geschäftsberichte (diverse Jahrgänge); eigene Berechnungen.

Einen gewissen Abschluss erfuhren die krisenhaften 1970er Jahre mit dem Abschwung 1982/83, dessen Auswirkungen das Bayer-Management kurzfristig durch Kostendämpfungen – ähnlich zur Situation 1975 – begrenzen wollte. Der Bayer-Vorstand beschloss daher im Juli 1982, zum Jahreswechsel 1982/83 keine Beförderungen vorzunehmen, keine neuen Pensionszusagen auszusprechen, den einzelnen Unternehmensbereichen Einsparziele in Höhe der zu erwartenden Preissteigerungen vorzugeben und seine zurückhaltende Genehmigungspolitik in Investitionsfragen 1983 fortzusetzen. Die Etats für Werbung, Instandhaltung und Forschung wurden auf dem Niveau von 1982 fortgeschrieben, gleichzeitig wurden die Belegschaft um ca. 1.200 Beschäftigte und die Vorratsmengen um zehn Prozent reduziert.185 Selbst bei Pkw-Neuanschaffungen setzte Bayer fortan Bayer-Vorstand für die Entwicklung eines vollständig neuen Personalführungssystems für die leitenden Angestellten und Führungskräfte entschied. Vgl. hierzu Reuber, Spitze, S. 186–193. 185 BAL 380/7-64 Bayer Vorstandssitzung (20.07.1982), Kosteneinsparungen im Bayer AG Bereich (19.07.1982); BAL 380/7-65 Bayer Vorstandssitzung (07.09.1982). Zur Reduzierung des Personals wurde neben der 59er-Regelung, d. h. Arbeitslosigkeit bis zur Frühverrentung mit 60, von Bayer auch eine 58er-Regelung ins Leben gerufen, wonach das Arbeitslosengeld auf 100 % des bisherigen Nettoeinkommens aufgestockt wurde und nach Ablauf des Arbeitslosengeldes 90 % des bisherigen Nettoeinkommens zuzüglich der Krankenversicherungsbeiträge an den Arbeitnehmer flossen. Vgl. BAL 380/7-66 Zentrale Personalabteilung (08.04.1983).

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auf wirtschaftlichere und kostengünstigere Varianten und auch Bewirtungsund Reisekosten sollten gesenkt werden. Für Inlandsflüge galt daher: »Ab sofort fliegen alle Firmenangehörigen nur noch Economy-Klasse.«186

3.1.8 Zwischenfazit Der Bayer-Konzern hatte auch schon in den ersten Nachkriegsjahrzehnten massive Anstrengungen unternommen, wieder auf den Weltmarkt zurückzukehren, und bis in die 1960er Jahre auf seinen traditionellen Märkten in Westeuropa sowie Nord- und Lateinamerika Fuß gefasst.187 Ein singulärer Strukturbruch zu einem konkreten Zeitpunkt hinsichtlich der Internationalisierung des Unternehmens lässt sich daher nur schwerlich ausmachen.188 Gleichwohl verweisen Umstrukturierungen in- und ausländischer Beteiligungen im Rahmen der Flurbereinigung, die Neuorganisation von Auslandsgesellschaften und die Gründung einer internationalen Finanzierungs- und Beteiligungsgesellschaft (BIF) um 1970 auf einen grundlegenden Wandel, der mit dem beschleunigten Ausbau des Auslandsgeschäfts in Zusammenhang stand. Zum Bedeutungsgewinn der Auslandsproduktion trug zu dieser Zeit auch die Übernahme von Unternehmen mit Sitz in der Bundesrepublik bei, denn sowohl die CWH als auch die Metzeler-Gruppe waren nicht auf den westdeutschen Markt begrenzt. Gleichzeitig stand der Leverkusener Konzern über verschiedene Gemeinschaftsunternehmen (Erdölchemie, Agfa-Gevaert-Gruppe, Mobay, Bayer Yakuhin, SBU) in Beziehung zu ausländischen Unternehmen und war auf diese Weise in ausländische Märkte eingebunden. Gerade diese Joint Ventures gehörten neben den beiden neu errichteten Werken in Antwerpen und Brunsbüttel zu den Investitionsschwerpunkten des Bayer-Konzerns in den 1970er Jahren. Joint Ventures stellten somit ein beliebtes Mittel dar, um auf ausländische Märkte vorzudringen – insbesondere im Fall restriktiver Marktzugänge wie in Japan. Zwar floss der Großteil der Investitionen nach wie vor in die westdeutschen Werke, doch nahm der Investitionsanteil der ausländischen Gesellschaften spürbar zu. Bei der Ausweitung des Auslandsgeschäfts knüpfte Bayer einerseits an weit zurückreichende Geschäftsverbindungen an und war  – im Sinne von Pfadabhängigkeit  – bestrebt, seine Position auf den traditionellen Absatzmärkten wieder zu stärken, andererseits wirkten nach 1945 neue Impulse auf die Unternehmensstrategie ein. Hierzu gehörten der europäische Integrationsprozess, die internationale Liberalisierung von Handelsbeziehungen wie auch der Aufstieg neuer Wirtschaftsregionen. Die enge Einbettung von Bayer in den europäischen Wirtschaftsraum zeigte sich besonders in der Forschungskooperation 186 BAL 380/7-65 Anlage: Kosteneinsparungen im Bayer AG -Bereich (07.09.1982). 187 Kleedehn, Internationalisierung. 188 Doering-Manteuffel, Vielfalt.

Bayer

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mit Rhône-Poulenc. Während diese Verbindung in den 1960er Jahren vertieft wurde, schwand die Euphorie angesichts zunehmender Probleme in der konkreten Umsetzung dahin. Zwar wurde der Forschungsvertrag zu Beginn der 1970er Jahre noch einmal verlängert, doch im Grunde gab es hierfür kaum noch eine Basis. Stattdessen traten die USA immer stärker in den Fokus der Bayer-Manager. Für den Ausbau des Auslandsgeschäfts besaß die kanadische Finanzierungsgesellschaft Bayforin eine herausragende Bedeutung. Sie hatte Zugang zum internationalen Finanzmarkt und konnte dort unter Umgehung zwischenstaatlicher Kapitalverkehrsbeschränkungen steuer- und kostengünstig Kapital aufnehmen. Auf diese Weise war Bayer nicht mehr auf den westdeutschen Kapitalmarkt begrenzt. Die Bayforin war damit ein wesentliches Merkmal der finanziellen Internationalisierung eines weltweit tätigen Chemiekonzerns. Dies gilt in ähnlicher Form auch für die steuerlich günstig gelegene BIF, die fortan als Finanzholding für die US -Beteiligungen fungierte und die Großakquisition des US -Pharmaunternehmens Cutter Laboratories 1974 finanzierte. Mit der Übernahme von Cutter wollten die Bayer-Manager die schwache Stellung des Konzerns auf dem US -Pharmamarkt verbessern, für die sie nicht zuletzt den Verlust des Bayer-Kreuzes und der Marke Aspirin verantwortlich machten. In dieser Hinsicht gelang es Bayer 1970 zumindest, seine Markenzeichen außerhalb der USA und Kanadas zurück zu erwerben. Der US -Markt besaß für die Unternehmensleitung bereits in den 1960er Jahren eine hohe Attraktivität. Seit der Übernahme der Monsanto-Anteile 1967 verfügte Bayer mit Mobay wieder über eine eigene große US -Gesellschaft, gleichwohl war deren Bedeutung im Vergleich zur US -Konkurrenz bescheiden. Erst die Akquisitionen von Cutter (1974) und Miles (1978) machten aus Bayer einen ernstzunehmenden Wettbewerber in den USA . Im Vergleich zu seinen westeuropäischen Konkurrenten expandierte Bayer hiermit relativ früh in Nordamerika. Während der Zugewinn an Marktanteilen bis dahin im Vordergrund stand, wollten die Bayer-Manager ab Anfang der 1980er Jahre in den USA auch Geld verdienen und trennten sich daher auch dort von defizitären Unternehmensbereichen. Hierin ist eine Parallele zu anderen westeuropäischen Unternehmen wie dem Hoechst-Konzern zu sehen, dessen US -Beteiligungen bis in die 1980er Jahre ebenfalls kaum Gewinne abwarfen. Die USA waren zu dieser Zeit der größte Chemiemarkt der Welt, auf dem Bayer unbedingt präsent sein wollte, und sie besaßen zudem durch ihre führende Position auf zahlreichen Forschungsfeldern eine besondere Anziehungskraft. Während der 1950er und 1960er Jahre war der Bayer-Konzern im In- wie Ausland stetig gewachsen. In der Zeit nach dem Boom expandierte das Unternehmen weiter, doch daneben entwickelten sich Betriebsschließungen und Desinvestments zu einem ständigen Mittel der Unternehmenssteuerung. Dies war – sieht man von kleineren Beteiligungsverkäufen und den Transfers im Rahmen der Flurbereinigung einmal ab – ein Novum. Dabei lagen den Desinvestments unterschiedliche Motive zugrunde. Die Veräußerung von Beteiligungen konnte

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durch politischen Druck, den ökonomischen Strukturwandel, den Rückzug von einem bestimmten Markt oder die als zu gering erachtete Rentabilität begründet sein. Zwar stieg die weltweite Produktion von Kunststoffen und Chemiefasern weiter an, doch ging das goldene Zeitalter jener beiden Produktgruppen bei vielen westeuropäischen Chemieunternehmen in den 1970er Jahren zu Ende. Ihre Produktionsstätten für textile Chemiefasern und Massenkunststoffe standen daher oftmals auf der Streichliste. Im Gegensatz hierzu waren die Bayer-Sparten Pharma und Pflanzenschutz besser durch die Krise gekommen, so dass die Unternehmensleitung diese beiden Geschäftsbereiche ausbaute. Parallel intensivierte sich der internationale Standortwettbewerb, bei dem politische Akteure zunehmend über Subventionen und Vergünstigungen um privatwirtschaftliche Investitionen für ihre Region rangen. Darüber hinaus rief der sich ausweitende grenzüberschreitende Kauf und Verkauf von Werken und Unternehmensbeteiligungen regelmäßig die nationalen (und europäischen) Wettbewerbsbehörden auf den Plan. Zur Einhaltung von Wettbewerbsregeln wurde in einigen Fällen ein Teilverkauf des Kaufobjekts erforderlich. Indem die Unternehmen ihre Internationalisierung immer stärker über Akquisitionen vorantrieben und zugleich andere Unternehmensteile veräußerten, entwickelte sich sukzessive ein internationaler Markt für Unternehmen(-sbeteiligungen), dessen Bewertungskriterien letzten Endes wieder auf unternehmensinterne Entscheidungen rückwirkten.

3.2 Hoechst Bis 1970 hatte Hoechst schon zahlreiche ausländische Vertriebsgesellschaften gegründet, mit dem Werk in Vlissingen einen infrastrukturell günstig gelegenen europäischen Seehafenstandort aufgebaut und mit den Finanzierungsgesellschaften in Luxemburg, Zürich und Curaçao den Weg zum internationalen Kapitalmarkt betreten. Den Übergang von Vertriebsgesellschaften zu ausländischen Produktionsstrukturen hielt bereits der Geschäftsbericht der Hoechst AG 1965 fest.189 Unter Rückgriff auf seine Auslandserfahrungen vor 1945 durchlief der westdeutsche Chemiekonzern die unterschiedlichen Phasen des Internationalisierungsprozesses im Parforceritt.190 Marktspezifisches Wissen erklärt nur einen Teil dieser Expansionsbewegung. Daneben wirkten spezifische Erwartungen der Zeitgenossen gegenüber der zukünftigen Entwicklung der Auslandsmärkte und Erfahrungen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg zusammen. Die wirtschaftliche Situation im Inland bot den Hoechst-Managern in Anbetracht steigender Lohn-, Energie- und Rohstoffkosten wenig Wachstumsmöglichkeiten. Ihre Appelle für eine moderate Lohnentwicklung fanden an 189 Geschäftsbericht Hoechst 1965, S. 39. 190 Johanson / Vahlne, Learning; Johanson / Vahlne, Revisited.

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der Wende von den 1960er zu den 1970er Jahren wenig Gehör, vielmehr unterstützten breite Teile der Bevölkerung und der Politik im Rahmen der von Wirtschaftsminister Karl Schiller geforderten »sozialen Symmetrie« hohe Lohnforderungen und betrachteten die wilden Streiks 1969 als legitime Form einer »zweiten Lohnrunde«.191 Ebenso waren die Vorstöße westdeutscher Chemiekonzerne zur Nutzung billiger Atomkraft von keinem Erfolg beschieden.192 Der neue Hoechst-Vorstandsvorsitzende Rolf Sammet (1969–1985) machte deshalb deutlich, dass das Hauptgewicht der Investitionen in der Bundesrepublik auf Rationalisierungen liegen würde und Neuanlagen lediglich für neu entwickelte Produkte gebaut würden, »auf Export gerichtete Erweiterungsinvestitionen verloren jedoch an Bedeutung.«193 Für Sammet war spätestens Mitte der 1970er Jahre klar: »Das Wachstum […], das wird nicht im Inland, sondern im Ausland stattfinden.«194 Dabei konzentrierte sich die Unternehmensleitung auf die angestammten Märkte in Westeuropa sowie in Nord- und Südamerika und spiegelte damit die Gesamtstruktur der Direktinvestitionen der westdeutschen Chemieindustrie wider. Die in die Zukunftsmärkte der 1960er Jahre gesetzten Hoffnungen in Südamerika erfüllten sich nur teilweise, stattdessen rückten die westeuropäischen Staaten und mit zeitlicher Verzögerung die USA ins Visier der Expansionsbemühungen.195

3.2.1 Inlandsbeteiligungen Wie im Fall von Bayer werden im Folgenden zunächst einige grundlegende inländische Unternehmensentscheidungen skizziert, die unmittelbar mit der Auslandsstrategie des Konzerns verbunden waren.196 Von den zahlreichen inländischen Unternehmensakquisitionen und -beteiligungen werden hierfür fünf Beispiele – Hans Schwarzkopf GmbH, Dr. Kurt Herberts & Co. GmbH, Friedrich Uhde GmbH, Messer Griesheim GmbH und Union Rheinische Braunkohlen Kraftstoff AG, Wesseling (UK Wesseling) – herausgegriffen. Noch 1967 wurde der überwiegende Teil der Beteiligungsaufwendungen in Höhe von 279 Mio. DM für inländische Beteiligungen genutzt. Hierzu gehörte 191 Birke, Eigen-Sinn; »Eindringlicher Appell an lohnpolitische Vernunft«, in: Handelsblatt Nr. 178, 17.09.1970, S. 1; »Hoechst diesmal nicht sehr glücklich«, in: Handelsblatt Nr. 184, 25./26.09.1970, S. 11. 192 Marx, Failed Solutions; Marx, Atomzeitalter. 193 Sammet, Rolf: »Ein völlig neues Bild«, in: Management 6, 1976, S. 37. Zitiert nach Struve, Konzerne, hier S. 313. 194 Wirtschaftswoche Nr. 24, 06.06.1975. Zitiert nach Struve, Konzerne, hier S. 313. 195 Wengenroth, German Chemical Industry, hier S. 152–155. 196 Auf eine nochmalige Darstellung der Verhandlungen zwischen Bayer, BASF und Hoechst über den ehemaligen IG Farben-Besitz und ihre Gemeinschaftsbeteiligungen wird angesichts der obigen Ausführungen im Bayer-Abschnitt an dieser Stelle verzichtet. Vgl. hierzu auch: Bäumler, Farben, S. 311–313.

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der Erwerb der Reichhold Chemie AG in Hamburg, eine Mehrheitsbeteiligung an der Süddeutschen Chemiefaser AG in Kelheim sowie ein Aktienpaket der Chemie-Verwaltungs-AG.197 Dies änderte sich im Geschäftsjahr 1968. Zwar übertrafen die Investitionen der deutschen Konzerngesellschaften in Sach­ anlagen mit 657 Mio. DM deutlich diejenigen der ausländischen Gesellschaften (248 Mio. DM), allerdings lagen die Investitionen in Inlandsbeteiligungen mit 253  Mio. DM in diesem Jahr unter denjenigen in Auslandsbeteiligungen mit 317 Mio. DM . Entsprechend hielt der Geschäftsbericht fest: »Zur Stärkung der internationalen Position betreibt das Unternehmen mit besonderer Intensität den Aufbau von Produktionskapazitäten im Ausland. Der Unternehmenspolitik entsprechend hat sich der Anteil der Auslandsinvestitionen an den Gesamtinvestitionen ständig erhöht. Diese Tendenz wird sich in Zukunft noch verstärken, um der Behinderung unseres Auslandsgeschäfts durch währungs- und zollpolitische Maßnahmen vorzubeugen.«198 Im Jahr 1969 wurden von 362 Mio. DM Beteiligungsaufwendungen 302 Mio. DM im Ausland investiert. Von den verbliebenen 60  Mio. DM für Inlandsbeteiligungen entfiel ein Großteil auf den Ausbau des Kosmetikgeschäfts, da sich Hoechst mit 25 Prozent an der Hans Schwarzkopf GmbH in Hamburg beteiligte, die mit ihren 4.000 Beschäftigten zu den führenden Unternehmen auf dem Gebiet der Haarkosmetik zählte. Auch Schwarzkopf besaß wiederum mehrere Tochtergesellschaften im In- und Ausland – vorwiegend im europäischen Raum.199 Die anwendungstechnischen Abteilungen von Hoechst entwickelten bereits seit einigen Jahren Rahmen-Rezepturen für Kosmetika, zugleich bot sich das umfangreiche ausländische Vertriebsnetz von Hoechst für den Verkauf von Kosmetika an, insofern war der Aufbau einer eigenen Kosmetiklinie verlockend. Der Hoechst-Vorstand entschied sich in dieser Situation für eine Expansion über Beteiligungen und erwarb 1968 zunächst die etablierte Firma Marbert-Kosmetika, ein Jahr später erfolgte die Schwarzkopf-Beteiligung.200 Im Jahr 1970 erhöhte die Hoechst AG ihren Schwarzkopf-Anteil auf 48,85 Prozent des Stammkapitals; die übrigen 51,15 Prozent verblieben im Besitz der Familie Schwarzkopf. Die Beteiligung an Schwarzkopf veranschaulicht die Wechselwirkungen zwischen Inlandsbeteiligungen und Auslandsgeschäft. Bereits 1968 hatte Hoechst mit der Herstellung und dem Vertrieb von Schwarzkopf-Produkten im Ausland begonnen – besonders in Lateinamerika und Ostasien, aber auch in Portugal und Norwegen. In Japan gründeten die Mitsui Petrochemical Ind. Ltd. und Hoechst 1969 beispielsweise die Firma Loumar Cosmetics, die fortan die Fertigung und den Vertrieb von Schwarzkopf- und Marbert-Kosmetika in Japan übernahm. Inlandsbeteiligungen wurden auf diese Weise strategisch genutzt,

197 Geschäftsbericht Hoechst 1967, S. 19. 198 Geschäftsbericht Hoechst 1968, S. 13. 199 Geschäftsbericht Hoechst 1969, S. 25, 39. 200 Bäumler, Farben, S. 309–310.

Hoechst

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um das Auslandsgeschäft auszubauen. Dies gilt in ähnlicher Form auch für die nachfolgenden Beispiele.201 Im Jahr 1972 übernahm Hoechst von der Eigentümerfamilie Herberts 51 Prozent der Lackfirma Dr. Kurt Herberts & Co. GmbH vorm. Otto Louis Herberts in Wuppertal; die übrigen 49 Prozent verblieben zunächst im Kreis der Familie Herberts. Das Unternehmen mit einem Stammkapital von nom. DM 40 Mio. hatte etwa 3.000 Beschäftigte und produzierte vor allem Fahrzeuglacke, Baufarben, Speziallacke und weitere Standardprodukte für zahlreiche Industriezweige.202 Nur vier Jahre später übernahm Hoechst 1976 auch die restlichen 49 Prozent. Anschließend konzentrierte der Konzern seine Lackaktivitäten bei der Dr. Kurt Herberts & Co. GmbH, indem er ihr 1977 die im Lackgeschäft tätigen Hoechst-Tochtergesellschaften Spies Hecker GmbH in Köln, Flamuco GmbH Vereinigte Farben- und Lackfabriken in München und Helmstedter Lack- und Chemische Fabrik GmbH in Helmstedt übertrug und ihr Stammkapital um nom. DM zehn Mio. auf nom. DM fünfzig Mio. erhöhte.203 Im Jahr 1979 folgte die Übertragung der niederländischen Wagemakers-Lakfabrieken N. V. in Breda und der schweizerischen Flamuco Merz AG in Pratteln auf Herberts sowie eine weitere Kapitalerhöhung auf nom. DM 57,5 Mio. Jene Beteiligungsverschiebungen hatten zur Folge, dass der Welt-Umsatz der Herberts GmbH Ende der 1970er Jahre deutlich über dem Inlandsumsatz lag und 40 Prozent ihrer Beschäftigten außerhalb der Bundesrepublik arbeiteten.204 Damit ist auch die Beteiligung an Herberts als Teil einer Konzernstrategie zur Ausweitung des Auslandsgeschäfts zu verstehen. Mit Blick auf das Auslandsgeschäft des Hoechst-Konzerns sind ferner die inländischen Tochtergesellschaften Friedrich Uhde GmbH und Messer Griesheim GmbH zu nennen. Die Friedrich Uhde GmbH war aus einem 1921 gegründeten Ingenieurbüro des Firmengründers Friedrich Uhde hervorgegangen, an dem sich die IG Farbenindustrie 1937 beteiligt hatte. Im Zuge der Entflechtung waren die Anteile 1952 an die Knapsack-Griesheim AG übertragen worden, an der die Farbwerke Hoechst AG die Mehrheit hielt. Schließlich hatte Hoechst die Uhde-Anteile selbst übernommen. Am 1. Januar 1975 übernahm die Hoechst AG 201 Geschäftsbericht Hoechst 1970, S. 15; Lanz, Weltreisender, S. 267. Bis 1972 fiel die Anzahl der Beschäftigten infolge von Rationalisierungen auf 2.642. Vgl. Geschäftsbericht Hoechst 1972, S. 51. 202 Bäumler, Farben, S. 308–309; Geschäftsbericht Hoechst 1972, S. 12; Geschäftsbericht Hoechst 1974, S. 54. 203 Geschäftsbericht Hoechst 1976, S. 25, 42. Bereits 1972 wollte der Geschäftsbereich G die europäischen Lackinteressen von Hoechst über die Gründung einer Betriebs- oder Verwaltungsgesellschaft straffen, da die größten Konkurrenten auf diesem Gebiet – aus Sicht des Geschäftsbereichs G waren dies Akzo, BASF und ICI – effizienter organisiert waren. Letztlich wurden aber erst 1976/77 der Geschäftsbereich G und die Lackgesellschaften neu strukturiert. Vgl. Hoechst-Archiv, H0159145, GG 1 Lacke und Kunstharze, Geschäftsbereich G. Hoechster Lackgruppe (12.12.1972), Albert an Lanz (13.07.1972). 204 Geschäftsbericht Hoechst 1978, S. 39; Geschäftsbericht Hoechst 1979, S. 39.

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auch die verbliebenen Uhde-Anteile und steigerte ihre Beteiligung von 77,5 auf 100 Prozent. Die Friedrich Uhde GmbH plante und vertrieb chemische Anlagen und war in der in- wie ausländischen Ingenieurberatung tätig. Ihre Schwerpunkte lagen in der Konstruktion von Düngemittel- und Petrochemie-Anlagen und von Maschinen zur Kunststoff- und Fasererzeugung sowie ab Ende der 1960er Jahre zunehmend in der Errichtung von umwelttechnischen Anlagen zur Abwasser- und Abluftreinigung sowie zur Energierückgewinnung. Die Firma Uhde ist im Rahmen der Hoechst-Auslandsstrategie vor allem aus zwei Gründen hervorzuheben. Zum einen war das Unternehmen hauptsächlich im Ausland tätig – 1965 führte es Projekte in 25 Ländern aus, Mitte der 1970er Jahre entfielen etwa 90 Prozent seines Umsatzes auf das Auslandsgeschäft –205; zum anderen trug Uhde über den Bau schlüsselfertiger ausländischer Produktionsanlagen wiederum selbst zur Verschärfung des internationalen Wettbewerbs bei. Dies galt besonders für Arbeitsgebiete, auf denen der Mutterkonzern selbst Produkte anbot. Während Uhde im Ausland in den 1970er und 1980er Jahren erfolgreich Ammoniak- und Düngemittelanlagen errichtete, drückten steigende Importe auf den westdeutschen Markt und verschärften die Lage für die westdeutschen Düngemittelhersteller. Infolgedessen traf der Hoechst-Vorstand 1984 die Entscheidung, die Düngemittelherstellung im Stammwerk einzustellen und im Werk Ruhrchemie in Oberhausen zu konzentrieren. Im Jahr 1990 wurde auch die Produktion in Oberhausen aufgegeben. Die von westdeutschen und anderen europäischen Unternehmen oftmals beklagte Zunahme des internationalen Konkurrenzdrucks war somit oftmals unmittelbar mit ihrer eigenen Internationalisierung verbunden.206 Auch die Messer Griesheim GmbH ist aufgrund ihres Auslandsgeschäfts hier anzuführen. Der Hoechst-Vorstandsvorsitzende Karl Winnacker und Hans Messer als Vertreter des Frankfurter Familienunternehmens Messer beschlossen 1964 eine neue Gesellschaft namens Messer Griesheim GmbH zu gründen, an der Hoechst mit zwei Dritteln und Messer mit einem Drittel beteiligt wurde. Das neue Unternehmen umfasste die bisherige Adolf Messer GmbH, das Frankfurter Werk Griesheim-Autogen sowie die Düsseldorfer Werksgruppe Sauerstoff der Knapsack-Griesheim AG und war auf die Produktion und den Vertrieb von Industriegasen spezialisiert. Bereits im ersten Geschäftsjahr hatte das Auslandsgeschäft einen Anteil von 25 Prozent, bis 1975 stieg dieser Wert auf 32 Prozent. Dabei exportierte Messer Griesheim nicht nur Gase sowie Schweiß- und Schneidwerkzeuge, vielmehr war die Firma über ihre schweizerische Finanzholding Likos AG in Zürich an zahlreichen ausländischen Beteiligungen in Frankreich, den Niederlanden und Südafrika beteiligt und erwarb 1975 zudem

205 Hierzu gehörten insbesondere Aufträge aus den staatssozialistischen Ländern und dem Nahen Osten. 206 Bäumler, Farben, S. 469, 510–511; Geschäftsbericht Hoechst 1965, S 29, 36; Geschäftsbericht Hoechst 1974, S. 28, 52; Geschäftsbericht Hoechst 1975, S. 49.

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das US -Unternehmen Burdett Oxygen Co. in Norristown (Pennsylvania).207 Der Auslandsanteil am Umsatz von Messer Griesheim betrug auch in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre etwa ein Drittel und war neben dem Export auf Beteiligungen an nord- und lateinamerikanischen Tochtergesellschaften zur Fertigung von Brennschneidmaschinen, Schutzgas-Schweißgeräten und Schweißelektroden sowie auf Produktionsanlagen für Industriegase in Frankreich und den USA zurückzuführen.208 Infolge steigender Eigenleistungen der ausländischen Gesellschaften, eines wachsenden Exports aus westdeutschen Werken und des Erwerbs von sechs Industriegaswerken in den USA stieg der Anteil des Auslandsumsatzes 1981 schließlich auf 44 Prozent.209 Damit war Messer Griesheim weit mehr als eine reine Inlandsbeteiligung. Neben der Vorwärtsintegration ins Kosmetik- (Schwarzkopf)  und Lackgeschäft (Herberts) investierte Hoechst Mitte der 1970er Jahre auch in die entgegengesetzte Richtung. Nachdem die BASF 1969 den Kasseler Erdgas- und Erdölproduzenten Wintershall übernommen hatte, einigte sich Hoechst 1974 mit der Rheinischen Braunkohlenwerke AG, einer RWE -Tochtergesellschaft, auf den Erwerb einer 25-prozentigen Beteiligung an der Union Rheinische Braunkohlen Kraftstoff AG, Wesseling (UK Wesseling), die ein Grundkapital von nom. 134 Mio. DM hatte. Mit der Übernahme des Aktienpakets wollte Hoechst den Einstieg Dritter verhindern und die eigene Versorgungssicherheit erhöhen, denn die UK Wesseling war ein bedeutender Lieferant chemischer Vorprodukte, welche die Lieferungen der Caltex-Raffinerie ergänzten.210 Bei Bekanntwerden der Beteiligungspläne leitete das Bundeskartellamt ein Fusionskontrollverfahren ein, doch nachdem der Partnerschaftsvertrag dahingehend geändert wurde, dass die Einflussnahme von Hoechst nicht über die bisherigen Bezüge petrochemischer Vorprodukte hinausgehen würde, stimmte das Bundeskartellamt dem Kauf zu. Allerdings stand damit eine Genehmigung für eine Erhöhung der Beteiligung kaum zu erwarten.211 Zu Beginn der 1980er Jahre verabschiedete sich der Hoechst-Vorstand wieder von der Strategie der Rückwärtsintegration, trennte sich 1984 von der UK Wesseling-Beteiligung und übernahm im Gegenzug von der UK Wesseling deren Drittelbeteiligung an der Ruhrchemie  AG, wodurch letztere zu einer 100-prozentigen Hoechst-Tochtergesellschaft wurde, 207 Bäumler, Farben, S. 300–304; Geschäftsbericht Hoechst 1965, S. 37; Geschäftsbericht Hoechst 1975, S. 51; Lesczenski, Messer, S. 68–88. 208 Geschäftsbericht Hoechst 1977, S. 39–40; Geschäftsbericht Hoechst 1978, S. 39–40; Geschäftsbericht Hoechst 1979, S. 41. 209 Geschäftsbericht Hoechst 1980, S. 42; Geschäftsbericht Hoechst, S. 43. 210 Bäumler, Farben, S. 282–289; Geschäftsbericht Hoechst 1974, S. 28; Geschäftsbericht Hoechst 1976, S. 25; »Hoechst kauft Raffinerie«, in: Der Spiegel, 35/1974, 26.08.1974, S. 56; Hoechst-Archiv, Hoe 42 C/2/1/d Jahrgang 3, »Hoechst erwirbt erste Rohöl-Beteiligung«, in: Süddeutsche Zeitung, 31.10.1974. 211 Bericht des Bundeskartellamtes über seine Tätigkeit im Jahre 1975 sowie über Lage und Entwicklung auf seinem Aufgabengebiet, in: Bundestagsdrucksache 7/5390, 7. Wahlperiode, 16.06.1976, S. 38–39.

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die anschließend über einen Verschmelzungsvertrag als Werk Ruhrchemie in die Hoechst AG eingegliedert wurde.212 Während der Einstieg von Hoechst bei UK Wesseling auf die Versorgungssicherheit des Konzerns zielte und mit der wachsenden Unsicherheit gegenüber der Entwicklung der internationalen Energie- und Rohstoffmärkte in den 1970er Jahren zu erklären ist, zielten die anderen Beteiligungen auf eine Sicherung des inländischen Absatzes, auf eine Festigung der inländischen Position in den jeweiligen Produktzweigen sowie auf einen Ausbau des Auslandsgeschäfts. Da das Hoechst-Management möglichst mit allen Produkten im In- und Ausland vertreten sein wollte, war es an der Internationalisierung seiner inländischen Tochtergesellschaften interessiert. Infolgedessen traf die auch unternehmensintern gewählte Bezeichnung »Inlandsbeteiligung« in vielen Fällen immer weniger den Charakter der international tätigen Untergesellschaften.

3.2.2 Auslandsinvestitionen Die Schwerpunkte der Auslandsinvestitionen lagen 1965 laut Hoechst-Geschäftsbericht in Spanien, Indien, Australien und den USA . Dies suggerierte eine weltweite Streuung der Aktivitäten. Ein Blick auf die kontinentale Verteilung der Auslandsinvestitionen zeigt jedoch, dass Westeuropa (102 Mio. DM) sowie Nord(79 Mio. DM) und Lateinamerika (72 Mio. DM) mit zusammen ca. 85 Prozent den Hauptanteil hieran trugen.213 Das investierte Kapital (gemessen am nominalen Grundkapital der ausländischen Gesellschaften) in den Jahren 1970 und 1980 offenbart, dass diese Schwerpunktsetzung auch im folgenden Jahrzehnt fortgesetzt wurde, allerdings verschob sich das Gewicht in Richtung Westeuropa und USA . In Westeuropa standen Großbritannien, Frankreich und die Niederlande – also andere Industriestaaten – im Zentrum der Investitionstätigkeit. Die gegenüber multinationalen Unternehmen gerichtete Kritik, sie würden ihre Produktion im großen Stil in Staaten der »Dritten Welt« verlagern und dort Arbeitskräfte bei niedrigen Lohnkosten ausbeuten, trifft deshalb nur eingeschränkt zu. Vielmehr fand schon in den 1960er und 1970er Jahren ein erhöhter Wettbewerb zwischen Ländern mit ähnlichem Entwicklungsniveau statt. Auch im Rahmen globaler Konzerne wurden Produkte nicht allein dort produziert, 212 Schreier / Wex, Hoechst, S. 335. Hoechst, Mannesmann und Thyssen hielten Anfang der 1980er Jahre je ein Drittel der Ruhrchemie-Aktien. Nachdem Mannesmann und Thyssen ihre Anteile je zur Hälfte an Hoechst und UK Wesseling verkauft hatten, verfügte Hoechst über zwei Drittel und UK Wesseling über ein Drittel der Ruhrchemie-Aktien. Vgl. Hoechst-Archiv, Ordner »Ruhrchemie«, »Hoechst erhöht seine Beteiligung an Ruhrchemie«, in: Hoechst informiert (30.09.1981); »Hoechst integriert die Ruhrchemie in den Konzern«, in: Der Tagesspiegel, 27.04.1984; »Ruhrchemie wurde Werk der Hoechst AG«, in: Hoechst Presse-Information (08.06.1988). 213 Geschäftsbericht Hoechst 1965, S. 40. Vgl. zur Entwicklung von Hoechst in Australien: Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 63: Australien.

Hoechst

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wo es weltweit am billigsten war. Hier wirkten Volumenmengen und staatliche Regulierungen genauso mobilitätseinschränkend wie fehlendes Fachpersonal oder eine mangelnde Infrastruktur. Jürgen Kädtler zufolge gab es unterschiedliche Mobilitätskonstellationen, die sich als Standortligen begreifen lassen: Eine globale Verlagerungsliga für industrielle Standardprodukte ohne komplexe technologische Erfordernisse sowie eine Hochlohnliga für Spezialprodukte und industrielle Standardprodukte auf der Basis komplexer und langfristiger Kompetenz- und Anlagevoraussetzungen. Es gab kaum Standortkonkurrenz zwischen diesen beiden Ligen, durchaus aber innerhalb der beiden Ligen. Dabei erfuhr das transnational agierende Management einen Machtzuwachs im Vergleich zu den räumlich stärker gebundenen Beschäftigten.214 Grundsätzlich lässt sich bei Hoechst in der Organisationsentwicklung der ausländischen Tochtergesellschaften eine ähnliche Tendenz wie bei Bayer feststellen. Auch das Hoechst-Management sah es in den 1960er Jahren als notwendig an, die Konzerninteressen in den einzelnen Ländern stärker zu bündeln, und errichtete daher ab Mitte der Dekade zahlreiche Landesgesellschaften, welche die bisher unverbundenen Einzelgesellschaften zusammenführten. Bereits 1965 waren die Interessen in Großbritannien in der Hoechst U. K. Ltd. zusammengefasst worden, 1966 folgte in Dänemark die Etablierung der Dachgesellschaft Hoechst Danmark A / S und in Österreich die Gründung der Holdinggesellschaft Hoechst Austria GmbH, die die Anteile an der Vedepha GmbH, an der KremsKnapsack Phosphorprodukte GmbH und an der Austria Faserwerke GmbH übernahm.215 Ab 1967 straffte der Hoechst-Konzern auch seine niederländischen Aktivitäten und fasste zunächst den Vertrieb über die neu gegründete Nederlandse Hoechst Maatschappij N. V. bzw. über Hoechst Holland N. V. zusammen. Während Hoechst Vlissingen N. V., die Polymeerfabrieken Breda N. V., die Weerter Kunststoffenfabrieken N. V. und die Tercanal N. V. 1971 zur neuen Hoechst Holland N. V. – einer produzierenden Tochtergesellschaft – fusionierten, firmierte die bisherige Vertriebsgesellschaft Hoechst Holland N. V. fortan als Hoechst Holland Verkoop N. V. Möglich wurde diese Fusion nicht zuletzt aufgrund einer steuerlich günstigen Sonderregelung. Erst im Frühjahr 1974 wurde die Ver214 Kädtler hat dies für Chemie- und Pharmaunternehmen in den 1990er Jahren herausgearbeitet. Vgl. Kädtler, Umbruch, S. 312–317. 215 Geschäftsbericht Hoechst 1966, S. 40–41. Im Jahr 1974 wurde die Hoechst Austria GmbH in eine AG umgewandelt und übernahm das Aktienkapital der Vianova AG und der Stolllack AG . Infolge der Integration von Beteiligungen stieg der Personalstand der Hoechst Austria GmbH in der ersten Hälfte der 1970er Jahre von ca. 200 auf 500; in der zweiten Dekadenhälfte schwankte er zwischen 500 und 600 Personen. Der Anteil der Eigenproduktion der Hoechst Austria AG verdoppelte sich zwischen 1973 und 1978 von 8 auf 16 %; Mitte der 1970er Jahre lag der Exportanteil der Hoechst Austria Gruppe bei ca. 25 %. Vgl. zur Geschäftsentwicklung der Hoechst Austria AG und den österreichischen Beteiligungsverflechtungen des Hoechst-Konzerns: Hoechst-Archiv, Österreich / Hoe.- Austria / Gesch.-Berichte (1974–1991).

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

2.500

in Mio. DM

2.000

1.500

1.000

500

0

1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985

gesamt

davon im Ausland

Abbildung 3: Investitionen in Sachanlagen bei Hoechst (1969–1985) Quelle: Geschäftsberichte Hoechst 1969–1985; Deutsche Bundesbank: Zeitreihen-Datenbanken / Makroökonomische Zeitreihen / Unternehmen und private Haushalte / Preise / lange Reihen / Erzeugerpreise gewerblicher Produkte (online); deflationiert nach Erzeugerpreisen gewerblicher Produkte (Basisjahr 1969); eigene Berechnungen.

triebsgesellschaft mit der Hoechst Holland N. V. verschmolzen und die Hoechst Holland Verkoop N. V. aufgelöst, so dass nur noch eine übergeordnete Landesgesellschaft bestand.216 Diese Entwicklung war nicht auf Europa begrenzt. In den USA waren die Einzelgesellschaften bereits 1964 mit der American Hoechst Corporation (AHC) verschmolzen worden, und auch in Japan errichtete das Management 1966 eine Dachgesellschaft namens Hoechst Japan Ltd., an der die Hoechst AG (80 %) und die Hoechst Fernost AG (20 %) beteiligt waren. Sie koordinierte fortan zentral den Vertrieb aller Hoechst-Produkte in Japan und der in Japan hergestellten Erzeugnisse.217

216 Geschäftsbericht Hoechst 1967, S. 29; Geschäftsbericht Hoechst 1970, S. 58; Geschäftsbericht Hoechst 1971, S. 16, 60–61; Geschäftsbericht Hoechst 1974, S. 59; Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 138/Geschichte verschiedener Hoechst Gesellschaften Ausland, Hoechst Holland N. V. (01.01.1991); Lanz, Weltreisender, S. 195. 217 Geschäftsbericht Hoechst 1966, S. 42. Die Hoechst Fernost AG war zunächst ein 50:50 Joint Venture der Hoechst AG und der Eutraco S. A., d. h. der Grodtmann Gruppe; 1979 übernahm Hoechst den 50 %-Anteil der Eutraco. Der Anteil der Hoechst Fernost AG an Hoechst Japan Ltd. sank bis 1991 auf 12,8 %, die Hoechst AG hielt 1991 entsprechend 87,2 % der japanischen Tochtergesellschaft. Vgl. Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 74/Japan, Hoechst in Japan (29.08.1990), Horst Waesche (Geschäftsführer der Hoechst Japan Ltd.): Hoechst in Japan (Beilage zum Mitarbeiterbrief für Führungskräfte 1/1991).

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Es waren vor allem jene Auslandsbeteiligungen, über die Hoechst im Ausland wuchs. Die Investitionen in Sachanlagen geben diesen Expansionsprozess hingegen nicht wieder. Die Unternehmensleitung betonte zwar 1971, dass 81 Prozent der Sachanlageinvestitionen auf das westliche Europa und neun Prozent auf Nordamerika entfielen, doch lag der Schwerpunkt hier nach wie vor in der Bundesrepublik (64,5 %).218 Ein Blick auf die langfristige, deflationierte Investitionsentwicklung in Sachanlagen zeigt zudem, dass der Hoechst-Konzern seine Sachanlageninvestitionen nach einem Schub um 1970 deutlich absenkte und diese anschließend  – sowohl im In- als auch im Ausland  – auf einem recht stabilen Niveau verharrten. Zwar überschritten die Gesamtinvestitionen in Sachanlagen 1985 mit 2,4  Mrd. DM erstmals diejenigen des Jahres 1970 (2,2 Mrd. DM), unter Berücksichtigung des ansteigenden Preisniveaus blieben sie aber letztlich konstant, und dies galt grundsätzlich auch für die ausländischen Sachanlageinvestitionen. Es waren somit primär Unternehmenszukäufe und Eigeninvestitionen der ausländischen Gesellschaften, über die Hoechst auf die ausländischen Märkte vordrang.

3.2.3 Auslandsbeteiligungen Obschon Hoechst seine Position in den USA in den 1960er Jahren durch ein bedeutendes Joint Venture mit dem US -Unternehmen Hercules Inc. festigte, expandierte der Chemiekonzern zu dieser Zeit noch stärker auf dem westeuropäischen Markt. Die Kapitalaufwendungen für ausländische Beteiligungen in Höhe von 317 Mio. DM verteilten sich 1968 zu 56 Prozent auf Europa, zu 21 Prozent auf Nordamerika, zu 14 Prozent auf Lateinamerika und zu neun Prozent auf die übrige Welt.219 Dies lag nicht zuletzt an den Erwartungen des Managements hinsichtlich der von einem gemeinsamen westeuropäischen Markt ausgehenden Wachstumsimpulse. »Die Zukunft wird ungeachtet aller Erschwernisse den europäischen Binnenmarkt bringen. Wir haben deshalb das Netz unserer europäischen Beteiligungen 1969 weiter verstärkt.«220 In den Niederlanden investierte Hoechst ab Mitte der 1960er Jahre besonders in den Standort Vlissingen, an dem eine energieintensive und von überseeischen Rohstofflieferungen abhängige Phosphorproduktion errichtet wurde. Während der 1970er Jahre zählte Vlissingen zu den bedeutendsten Investitionsschwerpunkten des Hoechst-Konzerns in Kontinentaleuropa. Allein bis zur Eröffnung des Werks im September 1968 hatte Hoechst in einer ersten Baustufe 110 Millionen Mark dort investiert. Neben dem Zugang zum Seehafen und einem großen Arbeitskräfteangebot sprach Kurt Lanz zufolge vor allem 218 Geschäftsbericht Hoechst 1971, S. 14 219 Hoechst-Archiv, Hoe 42 C/2/1/d Jahrgang 3, Erläuterungen von Karl Winnacker zum Geschäftsbericht (21.04.1969). 220 Geschäftsbericht Hoechst 1969, S. 36.

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die Unterstützung durch die Vlissinger Behörden  – bei der Erschließung des Geländes und der Versorgung mit Erdgas und Strom aus Kernenergie  – für den Standort, auch wenn der Güterumschlag des Vlissinger Hafens weit hinter demjenigen von Rotterdam oder Antwerpen lag. Bis Ende 1969 war der zweite, Anfang 1973 dann der dritte Phosphorofen errichtet, womit die Jahreskapazität der Phosphorproduktion von 30.000 auf 99.000 Tonnen stieg. Anfang der 1970er Jahre dehnte die Unternehmensleitung die Fabrikation in Vlissingen zudem mit einer Anlage für Dimethylterephthalat (DMT) auf Vorprodukte für Chemiefasern aus.221 Daneben beteiligte sich Hoechst in den Niederlanden 1966 an einer Kunststofffabrik des US -Unternehmens Foster Grant Co. Inc. in Breda, die man fortan als 50:50 Joint Venture betrieb.222 Foster Grant hatte die Fabrik erst 1963 in Betrieb genommen und Hoechst France den Vertrieb des dort hergestellten Polystyrols in Frankreich übernommen. Kooperationen zwischen multinationalen Unternehmen waren somit nichts Außergewöhnliches, auch wenn der Expansionsdrang US -amerikanischer Multis sonst gerne kritisiert wurde. Zwei Jahre später übernahm Hoechst die Anteile des US -Partners und verfügte damit über eine eigene Polystyrol-Produktion in den Niederlanden, deren Kapazität im selben Jahr auf 75.000 Jahrestonnen erhöht wurde.223 Im Zuge von Umstrukturierungen und Desinvestitionen nach der zweiten Ölpreiskrise gab das Hoechst-Management 1985 die Produktion des wenig rentablen Polystyrols auf und verkaufte seine Produktionsanlagen in den USA und den Niederlanden. In diesem Zusammenhang ging die Kunststofffabrik in Breda mit ihren 275 Beschäftigten an Shell, das damit seine Polystyrol-Kapazitäten in Großbritannien und Frankreich ergänzte.224 Der mehrfache Eigentümerwechsel verdeutlicht, dass sich die Beschäftigten multinationaler Unternehmen zunehmend daran gewöhnen mussten, dass Unternehmensentscheidungen, von denen sie unmittelbar betroffen waren, oftmals in fernen – dem Zugriff nationaler Gewerkschaften entzogenen – ausländischen Konzernzentralen getroffen wurden. Mit dem Bedeutungsgewinn multinationaler Unternehmen machten immer mehr Beschäftigte diese Erfahrung.225 221 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 120, »Hoechst geht nach Holland«, in: Börsen-Zeitung, 04.12.1965, »Hoechst has major plans for Benelux«, in: European Chemical News, 10.12.1965; Lanz, Weltreisender, S. 185–192. 222 Nach Gründung des Joint Ventures wurde die Firma Foster Grant Chemie N. V. in Polymeerfabrieken Breda N. V. umbenannt. 223 Bäumler, Farben, S. 341; Lanz, Weltreisender, S. 194–195, 427–428; Geschäftsbericht Hoechst 1966, S. 40; Geschäftsbericht Hoechst 1967, S. 29; Geschäftsbericht Hoechst 1968, S. 19, 28–29; Vlaanderen, Hoechst, S. 138. 224 Geschäftsbericht Hoechst 1985, S. 3, 42; »Shell neemt fabriek over van Hoechst«, in: Reformatorisch Dagblad, 14.12.1985, S. 11. 225 Im Fall des belgischen Automobilwerks in Vorst bei Brüssel mussten sowohl die Belegschaft als auch das lokale Management 1980 die unerwartete Schließung des Standorts durch die Pariser Konzernzentrale der französischen, multinationalen Peugeot-CitroënGruppe hinnehmen. Vgl. Petrini, Demanding Democracy.

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Neben dem Bau des niederländischen Werks ragen in der Akquisitionspolitik des Hoechst-Konzerns in den 1970er Jahren vor allem zwei Beteiligungen  – Roussel Uclaf in Frankreich und Berger, Jenson & Nicholson (BJN) in Groß­ britannien – heraus, die im Folgenden näher beleuchtet werden. »Hoechst en France« Nachdem Hoechst zu Beginn der 1950er Jahre begonnen hatte, den französischen Markt über eine Handelsgesellschaft zu erschließen, folgten ab Mitte der Dekade sukzessive Akquisitionen und Gesellschaftsgründungen, die zu einer breiten Landesproduktion führten. Im Jahr 1966 gründete Hoechst mit mehreren Partnern die Oxochimie S. A., die in Lavéra bei Marseille Oxo-Alkohole erzeugte. Neben Hoechst (25 %) und Ruhrchemie (25 %) waren die französische Naphtachimie S. A. (37,5 %) und die Société Commerciale Melle-Bezons (12,5 %) beteiligt.226 Darüber hinaus vergrößerte der Hoechst-Konzern Ende der 1960er Jahre die Kapazitäten für Mowilith-Dispersionen bei der Polysynthèse S. A. und für Polypropylen bei der Société Normande de Matières Plastiques S. A. (SNMP).227 Im Januar 1971 genehmigte der französische Finanzminister die Erhöhung des Hoechst-Anteils an SNMP von 33 auf 50 Prozent.228 Vor dem Hintergrund jener Erwerbungen wurde in der Organisationsstruktur von Hoechst 226 Geschäftsbericht Hoechst 1966, S. 40; Geschäftsbericht Hoechst 1968, S. 29; HoechstArchiv, Hoe. Ausl. 98a, Oxochimie S. A. (1975); Hoechst-Archiv, H0073209, Hoechst France, KDA : Das Engagement von Hoechst in Frankreich (10.04.1970). Naphtachimie war ein Joint Venture von Rhône-Poulenc und Société Française des Pétroles B. P.; 1971 übernahm Naphtachimie die Melle-Bezons-Anteile an Oxochimie und erhöhte ihre Beteiligung damit auf 50 %. Vgl. AHGS , RP.SA BH101 C.C14 Nr. 7 Rhône-Poulenc S. A. Comité de Direction (30.03.1971). Ab 1976 verschlechterte sich die finanzielle Lage von Oxochimie rapide, so dass 1977 eine Sanierung notwendig wurde, in deren Rahmen die Aktionäre frisches Kapital in Höhe von 50 Mio. FF zur Verfügung stellten. Vgl. AHGS , RP.SA BH0082 B.B2 Nr. 15, Groupe Rhône-Poulenc Comité Exécutif (25.11.1977), Note pour le Comité Exécutif (23.11.1977). 227 Geschäftsbericht Hoechst 1967, S. 29; Hoechst-Archiv, H0073209, Hoechst France, KDA : Das Engagement von Hoechst in Frankreich (10.04.1970). Neben Hoechst waren das französische Industriegasunternehmen Air Liquide und das französische Chemieunternehmen Société chimique des charbonnages de France (CdF-Chimie) je zu einem Drittel an SNMP beteiligt. Vgl. Hoechst-Archiv, H0073210, Hoechst France, Hoechst in Frankreich (1970). 228 Hoechst-Archiv, H0073213, Hoechst France, Procès-verbal du conseil d’administration (12.11.1970), Comité de direction (18.02.1971, 18.05.1971). Die Investitionen der SNMP wurden nicht alleine über Kapitalerhöhungen seitens der Hoechst AG finanziert. Für die geplante Erweiterung der Fabrik in Lillebonne 1973/74 im Umfang von knapp 100 Mio. FF bemühte sich SNMP 1971 vielmehr um Anleihen in Höhe von 50 Mio. FF, von denen 30 Mio. FF von der französischen Bank Crédit National und 20 Mio. FF von der Europäischen Investitionsbank bereitgestellt wurden.

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France 1970 ein Comité de Direction eingerichtet, welches neben den Vorstandsmitgliedern der Hoechst France auch die Direktionsmitglieder der übrigen französischen Hoechst-Gesellschaften umfasste.229 Multinationale Unternehmen waren somit weit mehr als nur grenzüberschreitende Transferstellen von Kapital, vielmehr bildeten sie vielfältige, teils landesspezifische Unternehmensstrukturen aus.230 Noch bevor es hier zu einer langfristigen Umgestaltung kam, erfuhr das Frankreich-Geschäft mit der schrittweisen Übernahme des französischen Pharmaherstellers Roussel Uclaf, dem zu dieser Zeit zweitgrößten französischen Pharmaunternehmen nach Rhône-Poulenc, einen außergewöhnlichen Schub. Hoechst übernahm 1968 zunächst eine 43-prozentige Beteiligung an der Compagnie Financière Chimio, deren Aktienkapital nom. 41  Mio. FF betrug und die die Mehrheit an Roussel Uclaf S. A. mit einem Grundkapital von nom. 123,6 Mio. FF hielt.231 Finanziert wurde die Übernahme der Aktien durch eine Kapitalerhöhung bei Hoechst um nom. 45 Mio. DM neue Aktien, die von einem Konsortium unter Führung der Dresdner Bank übernommen wurden und mehr als 200 Mio. DM in die Kasse des Chemiekonzerns spülten. Da das Wachstum ab dem Ende des Booms zunehmend auf Unternehmensakquisitionen beruhte, entwickelten sich die spezifischen Fähigkeiten des Übernahmekandidaten oder Fusionspartners zu entscheidenden Motiven. Die Gründe für die Zusammenarbeit mit dem französischen Pharmakonzern Roussel Uclaf lagen denn auch in dessen Kenntnissen in der Pharmaforschung und dessen Stellung auf dem französischen Markt, aber ebenso in dem Ziel, mit einer starken deutsch-französischen Gruppe auf dem zusammenwachsenden europäischen Markt präsent zu sein.232 Entsprechend erfuhr die Kooperation international große Aufmerksamkeit.233 Nicht zuletzt war ein stärkeres Engagement in Frankreich angesichts der Wachstumsaussichten des französischen Pharmamarktes aus Sicht von Hoechst wünschenswert.234

229 Hoechst-Archiv, H0073213, Hoechst France, Procès-verbal du conseil d’administration (24.03.1970). 230 Hymer, Operations. 231 Geschäftsbericht Hoechst 1968, S. 19; Geschäftsbericht Hoechst 1968, S. 29. 232 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-26, Stratégie Internationale. Hoechst-Roussel Uclaf 1968–1988. 20 ans de coopération exemplaire. Un état d’esprit européen, in: Uclafilm – Revue du Groupe Roussel-Uclaf, Nr. 70, Novembre 1988, S. 3–5. 233 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-34, »Pharmacie franco-allemande«, in: L’Express, 30.09.1968, »Roussel Uclaf et le groupe chimique allemand Hoechst cherchent à renforcer leur coopération«, in: Le Monde, 27.09.1968, »Hoechst steigt groß in Frankreich ein«, in: Handelsblatt, 02.10.1968; »West Germans Buy Into Roussel Uclaf«, in: Herald Tribune, 02.10.1968; »Farbwerke Hoechst Buys Indirect Interest in French Company«, in: The Wall Street Journal, 02.10.1968; »Pharma-Partner für den Weltmarkt«, in: Frankfurter Neue Presse, 02.10.1968; »Pep pills for the chemical giants«, in: The Economist, 05.–11.10.1968; »Gemeinsamer Markt. Roussel Uclaf. Deutsche dürfen«, in: Der Spiegel 41/1968, 07.10.1968, S. 76. 234 Chauveau, Invention, S. 463–563.

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Der Ursprung des Unternehmens Roussel Uclaf ging auf die Gründung des Familienbetriebs Laboratoire du Docteur Roussel durch Gaston Roussel vor dem Ersten Weltkrieg 1911 zurück. Dieser hatte mit Albert Caldairou und Alfred Lindeboom 1920 zunächst das Institut de Sérothérapie Hémopoïétique (ISH) ins Leben gerufen; 1928 folgte der Bau der Usines Chimiques des Laboratoires Françaises (Uclaf) in Romainville als erster französischer Produktionsstätte für Pharmazeutika aus chemischen Grundstoffen. Unter der Leitung von Jean-Claude Roussel, dem Sohn von Gaston Roussel, wurden die bestehenden Fabriken und Laboratorien 1961 zur Roussel Uclaf-Gruppe zusammengeschlossen. Noch in den 1920er Jahren waren Filialen in Spanien, Italien und Belgien eröffnet worden; in den 1930er Jahren folgten weitere Gründungen in Mexiko, Brasilien und Argentinien und in den 1950er Jahren in Lateinamerika, Asien (Indien und Japan) sowie in Afrika. Bei der Ende der 1960er Jahre zwischen Hoechst und Roussel Uclaf vereinbarten Zusammenarbeit standen sich somit zwei Unternehmen mit zahlreichen ausländischen Beteiligungen gegenüber, auch wenn der Kern beider Gesellschaften auf Europa ausgerichtet war.235 Neben Marktzugangschancen und Wissen in der Pharmaforschung spielten unternehmensspezifische Entwicklungen auf der Eigentumsebene des französischen Unternehmens und persönliche Beziehungen zwischen dem Leitungspersonal eine entscheidende Rolle. Angesichts steigender Kosten in der Pharmaforschung, welche langfristig die finanziellen Möglichkeiten eines Familienunternehmens überstiegen, erschien eine Kooperation mit einem Partnerunternehmen aus Sicht von Roussel Uclaf sinnvoll. Besonders der Tod von Germaine Roussel (1897–1967), der Ehefrau von Gaston Roussel (1877–1947), führte bei einigen Familienmitgliedern zu der Überlegung, einen Teil des Firmenbesitzes zu verkaufen. Eine mögliche Beteiligung US -amerikanischer Investoren hatte Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle abgelehnt, da er um den Ausverkauf der französischen Wirtschaft fürchtete und sich die US -Unternehmen General Electric und Chrysler bereits bei der Pariser Computerfirma Machines Bull bzw. der Autofabrik Simca eingekauft hatten.236 Die Zunahme ausländischer – insbesondere US -amerikanischer – Firmen auf dem französischen Markt seit Mitte der 1960er Jahre hatte eine alarmierende Wirkung auf die politischen Entscheidungsträger. Während 1964 in der französischen Pharmaindustrie 36 ausländische Tochtergesellschaften tätig waren (davon 15 US -amerikanische, fünf britische und vier deutsche), waren es 1972 bereits 82 Auslandsgesellschaften (davon 32 US -amerikanische, 10 britische und 19 deutsche Unternehmen). Dies hatte zur Folge, dass 1974 insgesamt 44 Prozent aller in Frankreich verkauften Medikamente aus der Produktion ausländischer 235 Bartmann, Pharmabereiche, S. 273–275; Bäumler, Farben, S. 297; Chauveau, Invention, S. 574–575; Seine-Saint-Denis Conseil Général, Roussel; Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98 Historique du Groupe Roussel Uclaf (1990). 236 »Gemeinsamer Markt. Roussel Uclaf. Deutsche dürfen«, in: Der Spiegel 41/1968, 07.10.1968, S. 76.

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Gesellschaften stammten; in der Bundesrepublik mit ihren starken Pharmaherstellern lag dieser Anteil nur bei 35 Prozent, in Großbritannien hingegen sogar bei 65 Prozent. Die häufige Beteiligung ausländischer Gesellschaften an französischen Laboratorien und die damit verbundene starke Präsenz ausländischer Firmen unter den in Frankreich produzierenden Pharmaherstellern war nicht zuletzt auf die schwache finanzielle Ausstattung vieler kleinerer französischer Laboratorien sowie auf das Verbot des Imports pharmazeutischer Spezialitäten zurückzuführen, das erst 1972 aufgehoben wurde.237 Zwar hatte de Gaulle formal kein Recht, den Verkauf französischer Firmenbeteiligungen ins Ausland zu unterbinden, doch war es in solchen Fällen üblich, die Regierung zu informieren und um Einwilligung zu bitten. Einem Verkauf an einen westdeutschen Konzern wollte de Gaulle hingegen zustimmen. Diese Entscheidung entsprach seinem außenpolitischen Credo, das gegen die Dominanz der USA in der westlichen Hemisphäre gerichtet war. Die Liaison zwischen Hoechst und Roussel Uclaf ist daher vor allem auf die Spezifitäten eines Familienunternehmens in Verbindung mit der industriepolitischen Zielsetzung der französischen Regierung jener Zeit zurückzuführen.238 Die schwache Stellung vieler französischer Pharmafirmen wurde durch ihre hohe Eigenfinanzierung noch verschärft, da in der Pharmaforschung immer höhere Investitionen notwendig wurden. Viele französische Laboratorien waren infolgedessen auf ausländische Lizenzen angewiesen. In Verbindung mit einem recht großen Absatzmarkt lud diese Situation ausländische Pharmaunternehmen zu Beteiligungskäufen bei mittelgroßen Firmen mit einem weitaufgespannten Vertriebsnetz geradezu ein. Für das zweitgrößte französische Pharmaunternehmen Roussel Uclaf galt dies nur eingeschränkt, schließlich stellte dessen starker Forschungsbereich einen Grund für die Hoechst-Beteiligung dar.239 Als sich Miteigentümer Henri Roussel dazu entschloss, seine Firmenanteile zu veräußern, fädelte sein Bruder und Firmenchef Jean-Claude Roussel 1968 im Zuge einer Kooperationsvereinbarung den Verkauf von 43 Prozent der Roussel Uclaf kontrollierenden, nicht börsennotierten Holding Compagnie Financière Chimio an Hoechst ein. Persönliche Gespräche zwischen Jean-Claude Roussel und Hoechst-Vorstand Kurt Lanz hatten ein Vertrauensverhältnis geschaffen, das eine zuvor erwogene Abgabe des französischen Pakets an den westdeutschen Konkurrenten Bayer verhindert hatte. Auch das BASF-Management hatte kurzzeitig – und letztlich erfolglos – Hoffnungen gehegt, sich am Kapital des zweitgrößten französischen Pharmaherstellers zu beteiligen. Lanz war bereits mit 38 Jahren in den Vorstand der Farbwerke Hoechst gekommen und dort für 237  Chauveau, Invention, S. 584–592, 656; Chauveau, Défi, hier S. 959. Für die kleinen und mittleren französischen Laboratorien stellte die Internationalisierung eine besondere Herausforderung dar. Vgl. Chauveau, Invention, S. 648. 238 »Gemeinsamer Markt. Roussel Uclaf. Deutsche dürfen«, in: Der Spiegel 41/1968, 07.10.1968, S. 76. 239 Chauveau, Défi, hier S. 959–961.

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den Aufbau der Auslandsorganisation zuständig. Seinen eigenen Lebenserinnerungen zufolge begannen die Gespräche im Frühjahr 1968 im Hotel Carlton in Cannes, wo sich Jean-Claude Roussel seiner alljährlichen Kur unterzog  – nur unweit des Sommerhauses von Lanz in Rayol-Canadel-sur-Mer. Neben Jean-Claude Roussel wirkte auf französischer Seite der damalige Assistent des Firmenchefs Henri Monod entscheidend bei den Verhandlungen mit; auf deutscher Seite waren dies neben Lanz der Präsident von Hoechst France François Donnay, der Jurist und spätere Hoechst-Vorstand Martin Frühauf sowie der Chef der Hoechst-Pharmaforschung Hansgeorg Gareis. Letztlich entschied sich Jean-Claude Roussel für Hoechst, da ihm der Frankfurter Chemiekonzern im Gegensatz zu Leverkusen den weitgehenden Fortbestand der unternehmerischen Eigenständigkeit zusicherte.240 Laut der zwischen Jean-Claude Roussel und Hoechst getroffenen Vereinbarung waren alle Fragen, die in die Zuständigkeit der Unternehmensführung (conseil d’administration) von Chimio und Roussel Uclaf fielen, einvernehmlich zu treffen; eine Weitergabe der Chimio-Aktien ohne Einverständnis der anderen Seite war ausdrücklich untersagt.241 Die Bayer-Direktoren Walter Salzer, Kurt Hansen, Franz J. Geks und Ernst Schraufstätter hatten im April 1968 die Fabriken von Roussel Uclaf im Raum Paris besichtigt, um sich ein Bild über den technischen Stand der Anlagen zu machen. Die Idee von Jean-Claude Roussel, Bayer für 40 Mio. Dollar einen 40-prozentigen Minderheitsanteil an der Holding-Gesellschaft Chimio einzuräumen, stieß bei Bayer jedoch auf strikte Ablehnung. Der Bayer-Vorstand bestand auf eine Beteiligung von mindestens 51 Prozent, um dirigierend in das französische Unternehmen eingreifen zu können, und verhandelte parallel mit dem französischen Chemiekonzern Rhône-Poulenc über die Möglichkeit eines gemeinsamen Vorgehens bei Roussel Uclaf. Dieses Bündnis hatte seinen Ursprung in der langjährigen Forschungskooperation zwischen Bayer und Rhône-Poulenc und stieß auf massive Kritik bei Jean-Claude Roussel. Daher traf Roussel Uclaf im Juni 1968 mit Hoechst eine Vereinbarung, wonach etwas mehr als 40 Prozent des Aktienkapitals an Hoechst übergehen sollten. Bayer stellte daraufhin seine Bemühungen ein. Jean-Claude Roussel erwartete bei dieser Konstruktion keine Einwände des französischen Staates, da die Mehrheit in Händen französischer Aktionäre blieb.242 Obschon Bayer / R hône-Poulenc und Hoechst beim Erwerb der Roussel Uclaf-Beteiligung miteinander konkurrierten, informierte Hoechst den ehemaligen Finanzminister und amtierenden Präsidenten von Rhône-Poulenc Wilfrid Baumgartner noch vor der öffentlichen Bekanntgabe der Kooperation. 240 Bäumler, Farben, S. 297–298; Chauveau, Invention, S. 575; Eck, Entreprises françaises, S. 477–478; Guinot, Stratégies, S. 179–180; Lanz, Weltreisender, S. 55–59. 241 AHGS , N° boîte 0000000082166, Vereinbarung zwischen Jean-Claude Roussel und Farbwerke Hoechst AG (30.09.1968), Accord de Coopération entre Farbwerke Hoechst AG et Roussel Uclaf (30.09.1968), Farbwerke Hoechst an Jean-Claude Roussel (21.04.1970). 242 BAL 387-1-9 Bayer-Vorstandssitzung (07.05.1968, 21.05.1968, 27.06.1968, 16.07.1968).

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Dies verweist darauf, dass neben den intensiven Kontakten zwischen den drei IG Farben-Nachfolgern auf der Ebene des Leitungspersonals auch persönliche Beziehungen zu anderen europäischen Chemieunternehmen bestanden. Baumgartner favorisierte einen Zusammenschluss mit Rhône-Poulenc und quittierte das Verhandlungsergebnis Lanz zufolge damit, dass Hoechst nur die erste Runde gewonnen hätte.243 Nachdem Hoechst und Jean-Claude Roussel im September 1968 den Kooperationsvertrag unterzeichnet hatten, informierte Letzterer zudem die französischen Großbanken über den Zusammenschluss, deren Zustimmung Grundlage für dauerhafte Finanzierungsmöglichkeiten auf dem französischen Kapitalmarkt war.244 Im Zusammenhang mit der Beteiligung an Roussel Uclaf wurden auch die übrigen Frankreich-Aktivitäten des Hoechst-Konzerns umstrukturiert. Im Jahr 1969 brachte der französische Mischkonzern Nobel-Bozel seine Chemieaktivitäten in das Joint Venture Polysynthèse S. A. ein, an dem neben Nobel-Bozel auch Hoechst France S. A. beteiligt war. Polysynthèse hatte in den vergangenen Jahren vor allem Polyvinylacetat-Dispersionen (Mowilith) hergestellt und änderte ihren Namen nun in Nobel Hoechst Chimie S. A.245 Ihr Produktprogramm wurde auf diese Weise enorm erweitert – u. a. auf Anstrichmittel und Spezialprodukte für die Textil- und Papierindustrie. Darüber hinaus sicherte sich Hoechst 1970 über einen Aktientausch die Kontrolle über die Holdinggesellschaft Société Centrale de Dynamite S. A., der neben Nobel-Bozel die Mehrheit an dem französischen Arzneimittelhersteller Société Industrielle pour la Fabrication des Antibiotiques (SIFA) gehörte, mit der Hoechst bereits seit den 1950er Jahren kooperierte.246 Hierzu brachte die Chimio S. A., an der die Familie Roussel mit etwa 54 Prozent und Hoechst mit ca. 44 Prozent beteiligt waren, ihre Mehrheitsbeteiligung an Roussel Uclaf S. A. in die Société Centrale de Dynamite ein und erhielt im Gegenzug zwei Drittel der Aktien der Société Centrale de Dynamite. 243 Lanz, Weltreisender, S. 59. 244 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-34, P.  Calvet (Banque Nationale de Paris) an JeanClaude Roussel (07.10.1968), François Bloch-Laine (Crédit Lyonnais) an Jean-Claude Roussel (09.10.1968), Jacques Chaine (Banque Française du Commerce Extérieur) an Jean-Claude Roussel (02.10.1968), Banque Industrielle et Mobilière Privée an JeanClaude Roussel (30.10.1968), Alain de Rothschild (Compagnie du Nord) an Jean-Claude Roussel (11.10.1968), Gérard de l’Epine (Société de Banque et de Participations) an JeanClaude Roussel (01.10.1968), Paul Lavalade (First National City Bank) an Roussel Uclaf (03.10.1968). 245 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98a, Nobel Hoechst Chimie (1975). 246 Eck, Entreprises françaises, S. 477. Am 30. Dezember 1952 gründeten Hoechst und SIFA die Union Chimique Continentale (UCC). Nach der Integration der SIFA in die Roussel Uclaf-Gruppe waren Hoechst und Roussel Uclaf je zu 50 % an UCC beteiligt. Ende der 1970er erhöhte Hoechst seinen Anteil auf 60 %; Roussel Uclaf behielt 40 % der UCC , die wiederum 99 % des Aktienkapitals der Laboratoires Hoechst kontrollierte. Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 2, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (24.08.1977); AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 6, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (18.11.1981).

229

Hoechst

Familie Roussel

51 %

Compagnie Financière Chimio S.A.

43 %

Hoechst AG

68 %

Société Centrale Roussel Nobel S.A. 50,02%

Roussel Uclaf

Hoechst France S.A. 48 %

Nobel-Bozel

50 % 50 %

Nobel Hoechst Chimie S.A.

Abbildung 4: Kapitalbeziehungen zwischen Hoechst und Roussel Uclaf (1974) Quelle: AHGS : Fonds Roussel Uclaf / RU-36, »Suspension des cotations des sociétés du Groupe Roussel-Nobel«, in: Agence économique et financière, 08.02.1974; »Famille Roussel et H ­ oechst: Accord conclu sur le capital de la Compagnie Financière Chimio«, in: Nouveau Journal, 12.02.1974. Anmerkunng: Im Jahr 1975 fusionierten Compagnie Financière Chimio und Société Centrale Roussel Nobel zur Chimio, die 1977 in Hoechst France integriert wurde. Daraufhin wurde Hoechst France in eine Société Anonyme mit Aufsichtsrat (conseil de surveillance) und Direktorium (directoire) umgewandelt und Monod (Roussel Uclaf) in den Aufsichtsrat von Hoechst France aufgenommen. Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-29, Roussel Uclaf. Augmentation de capital (1979), S. 7; AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 2, Procèsverbal de la Réunion du Directoire (25.01.1978, 31.01.1978). Das Kapital von Roussel Uclaf befand sich 1976 zu 50,02 % im Besitz der Chimio, 13,1 % wurden von den zehn wichtigsten Aktionären gehalten (darunter vier Versicherungen und eine Bank), 2,81 % von anderen dem Unternehmen bekannten Aktionären und 34,07 % waren im Streubesitz bei unbekannten Anteilseignern. Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice (1976), S. 28.

Anschließend änderte die Société Centrale de Dynamite S. A. ihren Namen in Société Centrale Roussel Nobel S. A. Das Vermögen der Chimio bestand somit im Wesentlichen aus einer Kontrollbeteiligung von ca. 68 Prozent an der Société Centrale Roussel Nobel, die wiederum zu 50,02 Prozent an Roussel Uclaf und zu 42,32 Prozent an Nobel-Bozel beteiligt war. Kernidee der Umgruppierung war die Fusion der Arzneimittelhersteller SIFA und Roussel Uclaf, deren Produktionsprogramme (Hormonpräparate bei Roussel Uclaf und Antibiotika bei SIFA) sich gut ergänzten. Letztlich wurde die SIFA mit ihren Untergesellschaften – Laboratoires Diamant, Laboratoires Houdé, Laboratoires Sopharga – über eine Aktienkapitalerhöhung bei Roussel Uclaf in die Unternehmensgruppe integriert.247 247 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice (1970), S. 7; AHGS , N° boîte 0000000082166, Accords Chimio-Roussel Uclaf / Centrale de Dynamite (1969/70); Geschäftsbericht Hoechst 1969, S. 36–37; Geschäftsbericht Hoechst 1970, S. 16; HoechstArchiv, Hoe. Ausl. 98 Historique du Groupe Roussel Uclaf (1990); Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98a, Société Centrale Roussel Nobel Exercice (1970); Hoechst-Archiv, H0073211,

230

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Einer geheimen Nebenvereinbarung zufolge war Hoechst im Fall eines Ablebens des Roussel Uclaf-Präsidenten das Recht eingeräumt worden, die Mehrheit des französischen Pharmaunternehmens zu erwerben. Dieses Vorkaufsrecht wurde dem französischen Staat zunächst nicht angezeigt, da beide Vertragsparteien vor dem Hintergrund der europäischen Integration in absehbarer Zeit einen freien Kapitalverkehr zwischen den EWG -Staaten erwarteten. Doch änderten sich die Beziehungen zwischen Hoechst und Roussel Uclaf schneller als der europäische Integrationsprozess voranschritt. Als Jean-Claude Roussel im April 1972 bei einem Hubschrauberunfall unerwartet tödlich verunglückte, machte Hoechst von seinem Vorkaufsrecht Gebrauch und verleibte sich bis 1974 die Aktienmehrheit der Compagnie Financière Chimio S. A. und damit mittelbar auch die Mehrheit an Roussel Uclaf S. A. ein. Mit dieser Akquisition – der bis dahin größten Einzelinvestition von Hoechst im Pharmabereich – stieg der westdeutsche Konzern zum weltweit größten Pharmahersteller auf.248 Grundsätzlich hatte sich die französische Regierung im September 1968 mit einer Beteiligung von Hoechst einverstanden erklärt, doch schaltete sie sich unter den veränderten Bedingungen nun erneut ein, da sie ausländischen Kapitalmehrheiten bei französischen Unternehmen eher abneigend gegenüberstand. Lanz zufolge hielt der damalige Finanz- und Wirtschaftsminister Valéry Giscard d’Estaing den Hoechst-Vertretern vor: »Vous voulez filialiser Roussel Uclaf.«249 Letztlich gelang es Hoechst, die französische Regierung mit dem Argument zu überzeugen, dass beide Seiten eine gleichberechtigte Kooperation vereinbart hätten, an der auch zukünftig festgehalten werden sollte und jedes Unternehmen damit seine (nationale)  Identität behalten würde. Allerdings wurde Hoechst zur Auflage gemacht, die Beteiligung an Nobel Bozel auf unter 20 Prozent zu senken.250 Obendrein meldete sich nun die 1967 geschaffene, französische Börsenaufsicht Commission des Opérations de Bourse (COB) und forderte von Hoechst, die Minderheitsaktionäre der Société Centrale Roussel Nobel wie die Familie Roussel zu behandeln, d. h. ihnen sollte die Übernahme der Aktien zum gleichen Kurs angeboten werden. Daraufhin machte Hoechst Hoechst France, Société Centrale Roussel Nobel Exercice (1970);  Guinot, Stratégies, S. 128–131; Reul, Pflicht, S. 85. Vgl. zur Entwicklung der SIFA in den 1960er Jahren bis zur Fusion: AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-110, S. I.F. A. Exercice 1967, Société des antibiotiques de France (Paris, Diamant 1955–1960). Die Anteile der Familie Roussel, der Hoechst AG und der Société Centrale Roussel Nobel S. A. variieren leicht in verschiedenen Darstellungen, was auf Kapitalverschiebungen im Zeitraum 1969 bis 1974 zurückzuführen sein dürfte. 248 Bäumler, Farben, S. 297–300; Chauveau, Invention, S. 576Geschäftsbericht Hoechst 1973, S. 22, 30; Geschäftsbericht Hoechst 1974, S. 28; Schreier / Wex, Hoechst, S. 372. Vgl. hierzu auch den umfangreichen Pressespiegel in: AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-36, Deuxièmes accords Roussel-Uclaf-Hoechst. Revue de presse (janvier-février 1974). 249 Lanz, Weltreisender, S. 66. 250 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 99 Frankreich, Hoechst-Pressemitteilung (13.02.1974), »Hoechst übernimmt restliche Chimio-Anteile«, in: VWD Firmen (13.02.1974); Lanz, Weltreisender, S. 65–67.

Hoechst

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ein öffentliches Übernahmeangebot für die Société Centrale Roussel Nobel; umgekehrt richtete die Familie Roussel erfolgreich ein Übernahmeangebot an die Aktionäre der Tochtergesellschaft Nobel-Bozel, da die französische Regierung die Hoechst-Transaktion nur genehmigen wollte, wenn Nobel-Bozel unter französischer Kontrolle blieb.251 Mit dem Tod von Jean-Claude Roussel wurde der ehemalige Gouverneur der französischen Zentralbank (Banque de France)  Jacques Brunet (1960–1969), der in dieser Funktion Wilfrid Baumgartner (1949–1960) nachgefolgt war, zum Président-directeur général (PDG) von Roussel Uclaf ernannt. Brunet hatte zuvor seit 1970 als Präsident der Holdinggesellschaft Compagnie Financière Chimio fungiert und übernahm damit die Unternehmensleitung des Pharmaunternehmens. Zugleich trat er im Juni 1972 die Nachfolge von Jean-Claude Roussel im Aufsichtsrat der Hoechst AG an, denn diese hatte dem französischen Partnerunternehmen im Rahmen der Kooperationsvereinbarung einen Sitz in ihrem Kontrollgremium zugesichert.252 Allerdings verblieb Brunet nur ein Jahr in dieser Position und gab seinen Aufsichtsratssitz bereits im Juni 1973 an Jacqueline Roussel, die neue Präsidentin der Compagnie Financière Chimio S. A., ab. Sie gehörte dem Hoechst-Kontrollgremium bis Juni 1978 an.253 Die Internationalisierung von Hoechst ging somit auch ein Stück weit mit dem Eintritt ausländischer Personen in den Aufsichtsrat der Muttergesellschaft einher, gleichwohl blieb ihre Zahl dort begrenzt. Dass Hoechst in den folgenden Jahren die Eigenständigkeit von Roussel Uclaf respektierte, zeigte sich im Besonderen darin, dass in den 1970er und 1980er Jahren kein deutscher Hoechst-Vertreter im Vorstand des französischen Unternehmens Platz nahm und auch die nächste Führungsebene fast ausschließlich mit Franzosen besetzt war. Neben konkreten Forschungskooperationen mit der Hoechst-Pharmasparte reduzierte sich der Einfluss von Hoechst in diesem Zeitraum im Wesentlichen auf den Aufsichtsrat von Roussel Uclaf, dem neben Kurt Lanz auch Hansgeorg Gareis, Wolfgang von Pölnitz, Martin Frühauf, Hans Reintges und Rolf Sammet angehörten. Lanz war in den 1970er Jahren lange Zeit Aufsichtsratsvorsitzender bei Roussel Uclaf.254 251 Commission des Opérations de Bourse, Cessions; Guinot, Stratégies, S. 180–182; Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98a, »La fin de l’empire Roussel«, in: L’Express, 18.–24.02.1974; Reul, Pflicht, S. 85–86. 252 Bäumler, Farben, S. 299; Geschäftsbericht Hoechst 1969, S. 8; Geschäftsbericht Hoechst 1972, S. 7. 253 Geschäftsbericht Hoechst 1969, S. 8; Geschäftsbericht Hoechst 1972, S. 7, 69; Geschäftsbericht Hoechst 1973, S. 69; Geschäftsbericht Hoechst 1978, S. 2, 57. 254 Hoechst-Archiv, Geschäftsberichte Roussel Uclaf 1977–1986; Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98, »Der Deutsche an der Spitze von RU in Paris will eigene Akzente setzen«, in: Welt am Sonntag, 27.03.1994; Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98b, Hoechst in Frankreich (1988); Nina Grunenberg: »Die Chemie stimmt. Ein ungewöhnlicher Fall deutsch-französischer Zusammenarbeit«, in: Die Zeit Nr. 20, 08.05.1988, S. 31–32. Hansgeorg Gareis übernahm 1964 die Leitung der Abteilung Pharma-Ausland und wurde 1984 zum stellvertretenden, 1986 zum ordentlichen Vorstandsmitglied der Hoechst AG ernannt; im Vorstand über-

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Im Jahr 1974 fungierte Jacques Brunet als Präsident und Hoechst France-Präsident François Donnay als Vizepräsident des Aufsichtsrats von Roussel Uclaf, ferner waren Hansgeorg Gareis, Kurt Lanz, Wolfgang von Pölnitz und Karl Winnacker als Hoechst-Repräsentanten dort vertreten, die damit die Hälfte des Aufsichtsrats stellten. Das Direktorium wurde hingegen mit Jacques Machizaud (Präsident), Henri Monod, Édouard Sakiz und Pierre Joly ausschließlich von Franzosen geführt.255 Hier zeigt sich – auch nach der Beteiligung von Hoechst – die hohe Kontinuität in den Leitungsorganen. Das französische Unternehmen wurde bis 1981 von diesen vier Personen geführt. Machizaud hatte zuvor als Generaldirektor den Bereich Exploitations Pharmaceutiques et Parapharmaceutiques bei Roussel Uclaf geleitet; Monod war davor als Assistent von JeanClaude Roussel tätig und wechselte 1983/84 vom Vorstand in den Aufsichtsrat von Roussel Uclaf; Sakiz folgte Machizaud 1981 im Amt des Präsidenten im Direktorium und beide, Sakiz und Joly, verblieben noch bis Anfang der 1990er Jahre im Vorstand. Erst in der ersten Hälfte der 1990er Jahre setzte hier ein generationeller Wandel ein. Demzufolge bestanden in den 1970er und 1980er Jahren langjährige Beziehungen zwischen dem Führungspersonal von Hoechst und Roussel Uclaf.256 Nach den zahlreichen Zukäufen wurden die Hoechst-Aktivitäten in Frankreich in den Jahren 1975 bis 1977 dann in drei Schritten neu geordnet. Im Jahr 1975 wurde zunächst die über die Compagnie Financière Chimio gehaltene 50-Prozent Beteiligung an Nobel Hoechst Chimie auf Hoechst France übertragen und deren Aktienkapital um 30 Mio. FF auf 73 Mio. FF erhöht.257 Anschließend wurden 1976 die französischen Hoechst-Beteiligungen Nobel Hoechst nahm er neben den Bereichen Landwirtschaft und Folien 1986 zusätzlich den Pharmabereich für den in Ruhestand getretenen Pölnitz. Wolfgang von Pölnitz war Leiter der Pharma-Sparte und wurde 1969 zum ordentlichen Vorstandsmitglied der Hoechst AG ernannt. Hans Reintges war seit 1966 Leiter des Ressorts Finanz- und Rechnungswesen und wurde 1967 zum ordentlichen Vorstandsmitglied der Hoechst AG ernannt. Martin Frühauf trat 1960 in die Rechtsabteilung ein, wurde 1975 zum Abteilungsdirektor, 1978 zum stellvertretenden und 1980 zum ordentlichen Vorstandsmitglied der Hoechst AG für das Ressort Recht, Patente, Steuer und Versicherung sowie für die Region Frankreich ernannt. Vgl. Schreier / Wex, Hoechst, S. 248, 265, 277, 286, 317, 322, 336, 345. 255 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice (1974), S. 3. 256 AHGS: Fonds Roussel Uclaf / RU-28, Roussel Uclaf Exercice (1965), S. 2; RU-29, Roussel Uclaf Exercice (1981); Roussel Uclaf Exercice (1983); Roussel Uclaf Exercice (1984); AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 5, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (15.04.1981). Nach der Übernahme der Aktienmehrheit bildeten Lanz, Donnay, von Pölnitz, Erich Theis und Frühauf sowie Brunet, Machizaud, Monod, Sakiz und Joly ein Comité de liaison Directions Générales RU / Hoechst, welches die Leitlinien der zukünftigen Zusammenarbeit festlegte. Jene zehn Personen bildeten auf der Führungsebene lange Zeit den Kern der deutsch-französischen Kooperation. Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 1, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (03.07.1974). 257 Geschäftsbericht Hoechst 1975, S. 55; Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98a, Nobel Hoechst Chimie (1975).

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Hoechst

Chimie, Syntova-Vianova France, Kalle France, Kalle Infotec, Riedel-de Haën France und Papeteries de Stains auf Hoechst France fusioniert und das Stammkapital auf 85 Mio. FF angehoben.258 Nachdem die Chimio S. A. die restlichen Anteile an dem französischen Hoechst-Joint Venture Société Normande de Matières Plastiques S. A. (SNMP) von CdF-Chimie (33,5 %) und Air Liquide (16,5 %) übernommen hatte, wurden 1977 schließlich auch die SNMP und die Beteiligung an der Chimio S. A. auf Hoechst France fusioniert, die damit sowohl als Vertriebsorganisation für sämtliche Hoechst-Produkte in Frankreich wie auch als Holdinggesellschaft für sämtliche Hoechst-Beteiligungen in Frankreich fungierte und ihr Gesellschaftskapital im Zuge dieser Zusammenführung auf 611,3 Mio. FF erhöhte. Diese dreijährigen Umstrukturierungen wurden durch die Umbenennung der Hoechst France in Société Française Hoechst S. A. (SFH) im Mai 1978 abgeschlossen.259 Nimmt man die Einigung zwischen Jean-Claude Roussel und Kurt Lanz 1968 als Ausgangspunkt, dann kam hier nach zehn Jahren ein gewaltiger Expansions- und Umstrukturierungsprozess der französischen Hoechst-Beteiligungen an sein Ende, an dem Hoechst mit Roussel Uclaf über das zweitgrößte französische Pharmaunternehmen und mit der Société Française Hoechst S. A., über eine landesweite Holding-Gesellschaft verfügte. Hoechst AG 33%

99,13%

Auslandsbeteiligungen der inländischen Untergesellschaften Messer Griesheim France, Peintures Berger S.A., Herberts France, Schwarzkopf S.A., Uhde S.A.

Société Française Hoechst S.A. (SFH) 57,94%

Roussel Uclaf

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Rochas

Ruhrchemie AG

10,91%

Nobel Bozel

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Oxochimie

25%

Abbildung 5: Hoechst in Frankreich (1979) Quelle: Hoechst-Archiv, Ordner »Frankreich / Société Française Hoe.«, Société Française Hoechst Rapport Social 1979, S. 37; Hoe. Ausl. 98a, Frankreich, Übersichten zu einzelnen französischen Auslandstöchtern (1975).

Dass Hoechst im Fall der Zusammenarbeit mit dem zweitgrößten französischen Pharmaunternehmen Roussel Uclaf trotz Aktienmehrheit nicht einfach durchregieren wollte – und aufgrund dessen Größe vermutlich auch schwerlich hätte 258 Geschäftsbericht Hoechst 1976, S. 47. 259 Geschäftsbericht Hoechst 1975, S. 55; Geschäftsbericht Hoechst 1976, S. 47; HoechstArchiv, Hoe. Ausl. 98a, Historique (05.09.1985), Société Française Hoechst – Historique (1986), Chronologies des modifications juridiques (o. D.); Lanz, Weltreisender, S. 69.

234

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

können –, zeigt sich auch in der Besetzung der Leitungsorgane der französischen Landesgesellschaft Société Française Hoechst S. A. Sie wurde in den 1970er Jahren durch zwei Persönlichkeiten geprägt, nämlich zum einen durch den seit 1969 amtierenden stellvertretenden Hoechst-Vorstandsvorsitzenden Kurt Lanz, der aufgrund seiner Zuständigkeit für den Auslandsbereich in zahlreichen ausländischen Landesgesellschaften Posten innehatte und nach der Gründung der Société Française Hoechst auch deren Aufsichtsratsvorsitz übernahm, und zum anderen durch den Vorsitzenden des Direktoriums der Hoechst France bzw. der Société Française Hoechst François Donnay. Ihr Wirken beschränkte sich nicht auf die Leitung einer Auslandstochter, vielmehr initiierten beide intensive Kontakte zwischen deutschen und französischen Unternehmern, so dass beide schließlich öffentlich als Offiziere der Ehrenlegion ausgezeichnet wurden. Donnay hatte bereits in den 1950er Jahren als (General-)Direktor bei den Vorgängergesellschaften Peralta bzw. Hoechst Peralta (ab 1969 Hoechst France) gearbeitet und stieg im Zuge der Übernahme der Aktienmehrheit von Roussel Uclaf zum Vizepräsidenten der Compagnie Financière Chimio (1975–78) sowie zum stellvertretenden Aufsichtsratsmitglied von Roussel Uclaf und Rochas (1971–83) auf. Bei der Organisation des Frankreich-Geschäfts und der Vernetzung mit der französischen Wirtschaftselite war Donnay, der zugleich als Conseiller du Commerce extérieur de la France (CCEF, 1962–91) und als Conseiller de la Banque de France (1976–91) tätig war, für Hoechst nahezu unverzichtbar. Dies spiegelte sich auch beim Führungswechsel der Société Française Hoechst Anfang der 1980er Jahre wider, als Lanz zum Ehrenpräsidenten der Gesellschaft ernannt wurde und Donnay 1983 vom Vorstand in den Aufsichtsrat (1983–89) wechselte. Damit blieb er der französischen Tochtergesellschaft für weitere sechs Jahre erhalten.260 Mit Blick auf die Kooperation zwischen Hoechst und Roussel Ucalf sind noch zwei andere Personalien hervorzuheben. Hoechst beschränkte sich nach der Beteiligung an dem französischen Pharmaunternehmen nicht nur auf wenige Sitze in dessen Aufsichtsrat, vielmehr erhielt das Leitungspersonal des französischen Unternehmens sogar in der französischen Landesgesellschaft von Hoechst (SFH) ein Mitspracherecht. Mit Jacques Machizaud als Mitglied des Aufsichtsrats und Henri Monod als Vizepräsident im Direktorium der Société Française Hoechst waren um 1980 zwei der vier Roussel Uclaf-Vorstände fest mit der französischen Hoechst-Tochter verbunden; schließlich folgte Monod Donnay nach dessen Wechsel in den Aufsichtsrat sogar auf den Chefsessel des Direktoriums der Société Française Hoechst. Zugleich wurde auch Édouard Sakiz in den SFHAufsichtsrat gewählt. Die Hoechst-Konzernführung sah in der Zusammenarbeit mit Roussel Uclaf somit keine kurzfristige Anlageinvestition, sondern zielte auf

260 »Biographie François Donnay«, in: Who’s who in France (https://www.whoswho.fr/ decede/biographie-francois-donnay_15219, letzter Zugriff: 16.09.2022); Hoechst-Archiv, H0002076, Lanz.

Hoechst

235

eine dauerhafte, vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den heimischen Managern. Trotz oder gerade wegen der überstandenen ökonomischen Krisen in den 1970er Jahren war hier nach zehnjähriger Kooperation eine tiefe Verbindung entstanden, die es den französischen Direktoren gestattete, die Führung einer der größten ­­Hoechst-Landesgesellschaften zu übernehmen.261 Im Grunde erfordert die Unternehmensentwicklung von Roussel Uclaf während der 1970er Jahre eine ebenso intensive Betrachtung wie diejenige von ­­Hoechst, handelte es sich hierbei doch selbst um ein multinationales Unternehmen mit zahlreichen Auslandsfilialen. Da Roussel Uclaf hier aber als Beispiel für die Internationalisierung des ­Hoechst-Konzerns dient, sollen im Folgenden einige grundlegende Trends genügen. Grundsätzlich war das Geschäft von R ­ oussel Uclaf vorwiegend auf den europäischen Kontinent ausgerichtet, infolgedessen verstärkte die Beteiligung vor allem das Europageschäft, darüber hinaus aber auch die Position in Lateinamerika und mehreren ehemaligen französischen Kolonialgebieten.262 Bereits 1962 entfielen 50 Prozent des Roussel Uclaf-Umsatzes auf das Auslandsgeschäft; bis zur Beteiligung von ­Hoechst 1968/69 stieg dieser Anteil nochmals um knapp zehn Prozent an, um infolge der Integration der SIFA 1970 leicht auf ca. 55 Prozent abzufallen. Ab 1974 wuchs der Auslandsumsatz sukzessive und erreichte Anfang der 1980er Jahre zwei Drittel des Gesamtumsatzes; der Inlandsanteil, den Roussel Uclaf noch in Frankreich erzielte, fiel entsprechend auf ein Drittel. Auch bei Roussel Uclaf war somit der Trend in Richtung Internationalisierung ablesbar. Der größte Auslandsposten entfiel 1962 auf Amerika (35 % des Auslandsumsatzes) – vor allem auf Lateinamerika; bis 1968 ging dieser Anteil jedoch zugunsten Westeuropas zurück, das dann knapp 40 Prozent des Auslandsumsatzes auf sich vereinigte. Innerhalb Westeuropas war es besonders die EWG, deren Anteil zwischen 1966 und 1977 von 10,7 auf 24,1 Prozent am Gesamtumsatz anstieg, d. h. ab Mitte der 1970er Jahre erwirtschaftete Roussel Uclaf ca. ein Viertel des Umsatzes innerhalb der EWG (ohne Frankreich) sowie nochmals ca. 40 Prozent in Frankreich. Damit überstieg der Umsatz in der EWG (ohne Frankreich) insbesondere den Amerika-Umsatz. Hierbei lag Lateinamerika zu Beginn der 1970er Jahre deutlich vor den USA, in denen Roussel Uclaf bis 1979 unter fünf Prozent des Umsatzes erwirtschaftete. Erst mit dem Erwerb des Sonnenbrillengeschäfts von Foster Grant stieg der US -Anteil spürbar auf knapp zehn Prozent an. Während der Frankreich-Anteil somit ab Mitte der 1970er Jahre erkennbar zurückging, Westeuropa seine führende Stellung unter den Auslandsregionen behauptete und die übrigen Regionen weitgehend stabil

261 ­­Hoechst-Archiv, Ordner »Frankreich / Société Francaise Hoe.«, Société Française ­­Hoechst. Assemblée Générale Ordinaire Annuelle (23.06.1981, 21.06.1985). Monod wurde nach dem Fall der Berliner Mauer 1991 Repräsentant der Treuhandanstalt in Frankreich. Vgl. Marxens, Erika: »Manager und Märkte«, in: Die Zeit, 25.10.1991. 262 Bartmann, Pharmabereiche; Chandler, Industrial Century, S. 122–123.

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Ausland

Abbildung 6: Inlands- und Auslandsumsatz bei Roussel Uclaf (1966–1985) Quelle: Siehe die nachfolgende Abbildung. Anmerkung: Durch den Verkauf des Parfumunternehmens Rochas 1987 und des Sonnenbrillenherstellers Foster Grant in den USA sowie SAMP-Solar S. A. in Frankreich 1987/88 verschoben sich die Inlands- und Auslandsanteile nach 1985 deutlich.

blieben, nahm das Gewicht des Raums Asien-Ozeanien ab Anfang der 1980er Jahre zu.263 Der Bedeutungsrückgang des französischen Marktes war dabei weniger das Ergebnis von Marktentwicklungen, vielmehr setzte sich das Roussel Uclaf-Management 1975 explizit das Ziel, den Umsatzanteil des Auslands innerhalb von fünf Jahren bis 1980 über den Ausbau ausländischer Produktionsbetriebe auf zwei Drittel zu steigern. Tatsächlich erreichte Roussel Uclaf diesen Wert 1982.264 Die Beschäftigtenstruktur vermittelt zu jener Zeit hingegen noch ein anderes Bild: Von den ca. 16.000 Roussel-Uclaf-Beschäftigten Mitte der 1970er Jahre waren etwa 10.000 in Frankreich tätig. Hier zeigte sich, dass die human- und kapitalintensive Forschung und Entwicklung neuer Arzneimittel und anderer 263 Der Roussel Uclaf-Vorstand zeigte schon Anfang der 1980er Jahre großes Interesse für den Fernen Osten und genehmigte 1981 eine sechsmonatige Erkundungsreise, auf der die Geschäftsmöglichkeiten in Japan, Südkorea, Taiwan, Hong-Kong, China, Indonesien, Vietnam, Thailand, Malaysia, Singapur und auf den Philippinen ausgelotet wurden. Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 5, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (21.07.1981). 264 AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 1, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (25.06.1975).

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Abbildung 7: Geografische Verteilung des Auslandsumsatzes bei Roussel Uclaf (1974–1985) Quelle: AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice (1970, 1975, 1976) ; AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-29, Roussel Uclaf Exercice (1981, 1982); AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-30, Roussel Uclaf Exercice (1985). Angaben in % des Gesamtumsatzes. Ab 1985 wurden die Umsatzanteile für die EWG nicht mehr explizit ausgewiesen, sondern lediglich »Europa ohne Frankreich«.

chemischer Produkte nach wie vor auf den Heimatstandort Frankreich konzentriert waren. Entsprechend entfielen einer Investitionsplanung für den Zeitraum 1976 bis 1980 zufolge ca. zwei Drittel (63,2 %) der Ausgaben auf Frankreich und ein Drittel (34,8 %) auf das Ausland.265 Im Vergleich zu ­Hoechst war das Produktspektrum des französischen Partnerunternehmens Roussel Uclaf wesentlich homogener. Etwa zwei Drittel des Umsatzes entfielen 1970 auf Arzneimittel, ca. ein Drittel auf Produkte für die Landwirtschaft, Veterinärmedizin und chemische Vor- und Zwischenprodukte. Dabei lag der Inlandsabsatz (473 Mio. FF) und die Auslandsproduktion (462 Mio. FF) der Pharmasparte bereits 1970 etwa gleich auf, während ihr Export (83 Mio. FF) im Vergleich zu westdeutschen Produzenten relativ niedrig aus-

265 AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 1, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (19.11.1975); AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 2, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (25.01.1978).

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

fiel.266 Auch über alle Sparten hinweg entfielen 1974 nur 19,7 Prozent des Umsatzes auf Exporte, aber 35,4 Prozent auf die Auslandsproduktion.267 Damit lag der Anteil der Auslandsproduktion bei Roussel Uclaf nicht viel höher als bei der ­Hoechst-Welt (1975: 32 %), der Exportanteil des Mutterkonzerns (51 % der Inlandsproduktion bzw. 35 % des Gesamtumsatzes) überstieg denjenigen des französischen Tochterunternehmens hingegen deutlich. Auch nach der vereinbarten Kooperation stieg Roussel Uclaf nicht auf das westdeutsche Exportmodell um. Wie andere Unternehmen wählte Roussel Uclaf in den 1970er Jahren auch den Weg in die Diversifikation und übernahm 1975 den Parfumhersteller Rochas, 1979 für 13,2  Mio. FF 80 Prozent des französischen Sonnen- und Skibrillenherstellers Société d’Applications des Matières Plastiques (SAMP) (lunettes de soleil Solar) und 1980 für 45,8 Mio. DM das Sonnenbrillengeschäft von Foster Grant.268 Infolgedessen verschoben sich die Gewichte zwischen den Sparten. Im Jahr 1976 entfielen 6,2 Prozent des Umsatzes auf die neu hinzugekommene Parfumerie Rochas, 49,8 Prozent auf die Division Santé (Pharmaspezialitäten), 16 Prozent auf die Division Uclaf (chemische Massengüter zur Herstellung therapeutischer Produkte), 19,3 Prozent auf die Division Agrovet (Veterinär- und Pflanzenschutzprodukte)  sowie 8,7 Prozent auf sonstige Aktivitäten.269 Fünf Jahre später – nach der Übernahme von SAMP-Solar und Foster Grant – lag der 266 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice (1970), S. 9–10. (Gesamtumsatzverteilung nach Sparten: Spécialités pharmaceutiques et parapharmaceutiques (65,1 %); Vrac à usage thérapeutique (15,5 %); Produits pour l’agriculture et l’élevage (13,5 %); Industrie mécanique et divers (5,9 %)). Vgl. auch Chauveau, Invention. 267 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice (1974), S. 7. 268 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice (1975), S. 7; AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-29, Roussel Uclaf Exercice (1979), S. 9; AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-29, Roussel Uclaf Exercice (1980), S. 7; AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 3, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (02.10.1979, 30.10.1979); AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 4, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (21.05.1980); AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 5, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (18.03.1981). Es bestanden bereits langjährige Geschäftsbeziehungen zur Firma Parfums Rochas, die nach der Zustimmung der französischen Regierung auf diese Weise intensiviert wurden. Neben Roussel Uclaf (51 %) war die Société Centrale Roussel Nobel (49 %) – später SFH – am Kapital der Parfumfirma beteiligt. 1979 übernahm Roussel Uclaf von SFH auch die restlichen 49 %. Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf / R HFC / FC 115/364 Mitteilung des RU-Direktoriums (02.04.1975); AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 3, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (11.04.1979); Geschäftsbericht ­Hoechst 1974, S. 29; Geschäftsbericht H ­ oechst 1975, S. 55. Die Expansions- und Diversifikationsstrategie 1979 bis 1981 erfolgte im Rahmen eines mehrjährigen Investitionsprogramms in Höhe von 700 Millionen FF, für das eine Erhöhung des Stammkapitals von 334 Mio. auf 445 Mio. FF erforderlich war. Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-29, Roussel Uclaf. Augmentation de capital (1979); AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 2, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (15.02.1978); AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 3, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (05.09.1979, 02.10.1979). 269 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice (1975), S.8.

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Hoechst

Umsatzanteil des Sonnenbrillengeschäfts bei 6,4 Prozent. Auffällig ist zudem der unterschiedlich hohe Auslandsanteil zwischen den Sparten. Während das pharmazeutische Kerngeschäft einen Auslandsanteil von ca. 60 Prozent hatte, war das Parfum- und Sonnenbrillengeschäft noch internationaler und auch chemische Vorprodukte zur Herstellung therapeutischer Mittel, die Roussel Uclaf an Dritte in Frankreich und im Ausland verkaufte, hatten einen höheren Auslandsanteil.270 Tabelle 12: Umsatzverteilung bei Roussel Uclaf nach Sparten (1981) in Mio. FF

in %

Anteil am GesamtAusland umsatz

Frankreich

Ausland

Total

Frankreich

1.344

2.603

3.947

34,1

65,9

60,2

1.172

1.831

3.003

39,0

61,0

45,8

59

661

720

8,2

91,8

11,0

113

111

224

50,4

49,6

3,4

705

752

1.457

48,4

51,6

22,2

Parfumerie – Rochas

80

274

354

22,6

77,4

5,4

Lunettes

32

385

417

7,7

92,3

6,4

120

264

384

31,3

68,8

5,9

2.281

4.278

6.559

34,8

65,2

Division Santé davon: Spécialités Pharmaceutiques davon: Vrac davon: Diversification Santé Division Agrovétérinaires

Beteiligungen Summe

100

Quelle: AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-29, Roussel Uclaf Exercice (1981), S. 8.

Grundsätzlich setzte sich die Roussel Uclaf-Gruppe nicht nur im Ausland, sondern auch im Inland aus zahlreichen Untergesellschaften zusammen. Innerhalb Frankreichs waren dies 1970 die Pharmauntergesellschaften Laboratoires Roussel, Laboratoires de l’I. S.H., Laboratoires Cassenne, Laboratoires Diamant, 270 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-29, Roussel Uclaf Exercice (1981), S. 8. Einer Studie zur Internationalität der Pharmasparten bei H ­ oechst und Roussel Uclaf zufolge, die 20 Länder umfasste, in denen jede Gesellschaft mindestens eine Tochtergesellschaft hatte, allerdings Frankreich, die USA und die Bundesrepublik ausklammerte, lag der Auslandsanteil bei Roussel Uclaf (87,8 %) 1980 wesentlich höher als bei ­Hoechst (54,8 %). Dabei entfielen jeweils 65 % auf die drei wichtigsten Länder: Japan, Argentinien, Großbritannien (­Hoechst), Niederlande, Italien, Großbritannien (Roussel Uclaf). Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 6, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (14.10.1981).

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Laboratoires Houdé, Distriphar und Laboratoires Lutsia sowie im nicht-pharmazeutischen Bereich die Gesellschaften Procida, Jouan-Quétin, Collectorgane und Sovétal. Neben dem Management der Einzelgesellschaften gab es auf Gruppenebene einen conseil d’administration, dem sowohl Teile des Managements als auch die Aufsichtsräte – ähnlich dem eingliedrigen angelsächsischen BoardSystem  – angehörten, ferner eine aus nur drei Personen bestehende Generaldirektion (direction génerale) sowie eine ca. zehnköpfige Unternehmensleitung (conseil de direction) – Jean-Claude Roussel gehörte seinem Selbstbild entsprechend als Unternehmensleiter selbstverständlich allen drei Gremien an.271 Nach seinem Tod wurde der Generaldirektion 1972 ein Bureau exécutif de la direction générale unterstellt und der conseil d’administration 1974 in einen conseil de surveillance umgewandelt, dem fortan kein Mitglied des Direktoriums mehr angehörte. Damit setzte sich bei Roussel Uclaf in der ersten Hälfte der 1970er Jahre eine Form der Corporate Governance durch, die eher dem zweigliedrigen deutschen System von Vorstand (directoire) und Aufsichtsrat (conseil de surveillance) entsprach und nicht zuletzt dem Einfluss des deutschen Hauptaktionärs geschuldet war. Auf der Generalversammlung 1978 hob Lanz rückblickend nochmals die Richtigkeit dieser Entscheidung hervor, da auf diese Weise die Zuständigkeiten der Unternehmensorgane klar definiert und voneinander getrennt seien  – ganz so wie Lanz und seine Kollegen es aus dem deutschen Unternehmensmodell her kannten.272 Nahezu zeitgleich wurden 1974/75 die unternehmensinternen Strukturen reorganisiert, indem die vertikale Ausrichtung gestärkt wurde und jede Sparte von der Fabrikation bis zur Vermarktung größere Eigenständigkeit erhielt. Dem Management zufolge erlaubte die neue Organisationsstruktur eine bessere Zuordnung von Verantwortlichkeiten und eine bessere Motivation aller Beteiligten.273 Dies entsprach ganz dem Credo der Unternehmensberatungen jener Zeit und kennzeichnete einen Trend in Richtung Divisionalisierung und Vermarktlichung, von dem viele westeuropäische Großunternehmen seit den 1960er Jahren ergriffen wurden.274 Ende der 1970er Jahre wurden die Rechte des Direktoriums dann neu festgelegt und erweitert. Fortan durfte der Vorstand über den Kauf oder Verkauf 271 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice (1970), S. 5, 20. Die Untergesellschaften waren in der Regel in Form einer Aktiengesellschaft (Société Anonyme, S. A.) organisiert. 272 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice (1972), S. 3, Roussel Uclaf Exercice (1973), S. 3, Roussel Uclaf Exercice (1974), S. 3; AHGS , Fonds Roussel Uclaf / R HFC / FC 115/364 Allocution du Président à l’Assemblée Générale (15.06.1978). Die erste Sitzung des Direktoriums innerhalb der neuen Unternehmensstruktur fand am 19. Juni 1974 statt. Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 1, Procès-verbal de la première Réunion du Directoire (19.06.1974), Machizaud an Lanz (25.06.1974). 273 AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 1, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (28.01.1975). 274 Marx, Manager.

Hoechst

241

von Liegenschaften und Beteiligungen sowie über die Aufnahme von Anleihen und Krediten bis zu einer Summe von jeweils fünf Millionen FF (statt bisher einer Mio. FF) ohne Zustimmung des Aufsichtsrats befinden. Bei Termingeld und Darlehen wurde die Zustimmungsgrenze von 30 auf 50 Mio. FF angehoben. Darüber hinaus wurde dem Direktorium zugestanden, künftig alleine über die Aufnahme neuer Tätigkeitsfelder sowie über die Gründung und Schließung von Filialen zu urteilen. Diese Änderungen waren zum einen der inflationären Preisentwicklung geschuldet; zum anderen waren sie aber auch Ausdruck vertrauensvoller Beziehungen zwischen den Führungsfiguren der beiden Leitungsorgane. Ein Stück weit wurden die offiziellen Entscheidungsstrukturen damit den bestehenden Entscheidungswegen angepasst, denn der Aufsichtsrat hatte in den vergangenen Jahren entsprechenden Anträgen des Direktoriums meist ohne größere Auflagen zugestimmt und die vom Aufsichtsrat getragene Expansionsstrategie erforderte den Aufbau neuer in- und ausländischer Filialen.275 Die zunehmende Bedeutung ausländischer Märkte fand ihren Niederschlag schließlich in einer stärker regionalen Gliederung der Roussel Uclaf-Gruppe ab 1979/80, bei der den Mitgliedern des Direktoriums neben der Zuständigkeit für einzelne Sparten die Verantwortung für bestimmte Regionen übertragen und ein Regionalausschuss (Comité des Régions) geschaffen wurde. Nach der Umstrukturierung 1980 wurde das Direktorium damit von drei beratenden Organen  – Comité des Régions (monatlich), Comité de Direction (monatlich) sowie Conseil de Direction (vierteljährlich) – unterstützt, wobei sich der Conseil de Direction aus nochmals verschiedenen Spezialkomitees zusammensetzte. Der Expansionskurs Richtung Ausland fand damit auch in der Unternehmensorganisation seinen Niederschlag, ohne dass die divisionale Gliederung damit vollständig aufgegeben worden wäre.276 Die Verbindung zwischen ­Hoechst und Roussel Uclaf erwies sich vor allem als »belle alliance«, da sich der H ­ oechster Pharmabereich mit harntreibenden Mittel (Diuretika), Präparaten gegen Zuckerkrankheiten (Antidiabetika) sowie Herz- und Kreislaufmitteln und die Stärken von Roussel Uclaf bei Vitaminen, Antibiotika, Hormonen, Psychopharmaka und Naturstoffen gut zusammenfügten. Während die Stärke von Roussel Uclaf auf dem Gebiet der vielstufigen

275 AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 3, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (19.06.1978); AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 5, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (25.06.1981). 276 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-29, Roussel Uclaf Exercice (1979), S. 2–3, Roussel Uclaf Exercice (1980), S. 2; AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 4, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (05.03.1980, 30.04.1980). Sakiz war für den englischsprachigen Raum und den Fernen Osten, Monod für Lateinamerika sowie für den Nahen und Mittleren Osten, Joly für Europa, Afrika und Südostasien zuständig. Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 4, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (05.03.1980), Annexe: Note de Service (06.03.1980), Principes de l’organisation internationale du Groupe.

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Naturstoff-Chemie lag, auf dem ­Hoechst kaum über Produkte verfügte, besaß ­Hoechst eine umfangreiche Produktpalette synthetischer Arzneimittel.277 Ein Rückblick auf die zwanzigjährige Kooperation zwischen Roussel Uclaf und ­Hoechst verweist neben Screening-Verträgen, in denen die aus der Forschung beider Gruppen zustande gekommenen Ergebnisse auf eine möglichst breite Anwendung getestet wurden, und Cross-Licensing, also Abkommen zur wechselseitigen Nutzung von Patenten (Parallel-Entwicklungen), vor allem auf die gemeinsamen Forschungsanstrengungen, die bei Roussel Uclaf 15 bis 20 Prozent des Forschungsbudgets ausmachten und sich besonders in Erfolgen von Antibiotika-Produkten niederschlugen. Das Gebiet der Anti-Infektiva war der erste Bereich, auf dem beide Firmen zusammenarbeiteten, 1969 folgte eine sogenannte Recherche Commune auf dem Psychopharmaka-Gebiet, 1974 unterzeichneten Roussel Uclaf und ­Hoechst zudem einen Vertrag zur Entwicklung veterinärmedizinischer Produkte, der zehn Jahre später erneuert wurde. In den Jahren 1976 bzw. 1986 schlossen beide Unternehmen zudem mehrere Parallelverträge ab. Danach hatten beide Seiten das Recht, aus dem Patentschatz des jeweils anderen Unternehmens Produkte auszuwählen, wenn diese in das eigene Sortiment passten. Auf diese Weise wurden die rechtlichen Verbindungen zwischen den beiden Unternehmen immer enger geknüpft. Nicht zu Unrecht betonte der für den Pharma-Geschäftsbereich zuständige ­Hoechst-Vorstand Hansgeorg Gareis in einem Pressegespräch 1988 daher, dass der Wissensaustausch des forschenden Personals über Fachgespräche, Expertentreffen, Kommissionen und Klausuren enorm intensiviert und damit letztlich auch persönliche Beziehungen gefördert worden seien. Ende der 1980er Jahre gehörte der regelmäßige Austausch von Chemikern, Pharmakologen und klinischen Forschern zwischen Roussel Uclaf und ­Hoechst zur unternehmerischen Routine.278 Seitens Roussel Uclaf hob man immer wieder die Unabhängigkeit und Komplementarität beider Unternehmensgruppen hervor. Nicht nur die Produkt277 Bäumler, Farben, S. 298; Chauveau, Invention, S. 637–640; ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98b, ­Hoechst-Roussel Uclaf Pressegespräch Dr. Gareis (27.09.1988). 278 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-26, Stratégie Internationale. ­Hoechst-Roussel Uclaf 1968–1988. 20 ans de coopération exemplaire. Un état d’esprit européen, in: Uclafilm – Revue du Groupe Roussel-Uclaf, Nr. 70, Novembre 1988, S. 3–5; AHGS , N° boîte 0317382B217, Memorandum  – Cooperation in the Veterinary Field between Farbwerke H ­ oechst and Roussel Uclaf (07.06.1974), Veterinary Development Agreement (07.06.1974), Agreement on a Cooperation in the Animal Health Area (1984); AHGS , N° boîte 0000000082166, Vertrag über die Fassonierung, Konfektionierung und den Vertrieb pharmazeutischer Spezialitäten (02.01.1970); AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 2, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (06.10.1976); AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 3, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (20.09.1978, 11.10.1978, 08.11.1978, 30.05.1979), Contrat de coopération Roussel Uclaf / ­Hoechst (11.10.1978); AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 4, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (12.03.1980, 29.10.1980); H ­ oechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98b, H ­ oechst-Roussel Uclaf Pressegespräch Dr. Gareis (27.09.1988), H ­ oechst in Frankreich (1988); Marx, Multinationale Unternehmen.

Hoechst

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gruppen ergänzten sich, vielmehr wurden auch Absprachen hinsichtlich der geografischen Aufteilung von Märkten getroffen. Während ­Hoechst in Südostasien, Ägypten und Nordeuropa für Roussel Uclaf produzierte, übernahm Roussel Uclaf die Pharma-Fabrikation in Großbritannien und Belgien. Gleichzeitig profitierte Roussel Uclaf von den weltweiten Distributionswegen des westdeutschen Konzerns im Bereich der Agrochemie.279 Für die Bundesrepublik gründeten ­Hoechst und Roussel Uclaf 1969 die Albert Roussel Pharma GmbH, die fortan die Arzneimittel der westdeutschen H ­ oechst-Tochtergesellschaft Chemische Werke Albert AG und die pharmazeutischen Präparate aus dem Sortiment von Roussel Uclaf vertrieb.280 Da sowohl Roussel Uclaf als auch ­Hoechst in Lateinamerika breit aufgestellt waren, entschieden sich die Unternehmensleitungen in diesem Fall hingegen für eine two flag policy, d. h. die Firmen gingen auch nach dem Kooperationsvertrag getrennt auf dem Markt vor, gaben sich bei der Organisation des jeweiligen Landesgeschäfts aber Hilfestellung.281 In den USA wurden die Pharmaaktivitäten beider Gesellschaften 1973/74 konsolidiert, indem die Tochtergesellschaften ­Hoechst Pharmaceuticals Inc. (HPhI) und Roussel Pharmaceuticals Inc. (RPhI), bei denen die pharmazeutischen Aktivitäten der American ­Hoechst Corporation (AHC) und von Roussel Uclaf zuvor konzentriert worden waren, zur ­Hoechst Roussel Pharmaceuticals Inc. (HRPI) fusioniert wurden.282 Darüber hinaus schlossen AHC und Roussel Vgl. zur Darstellung der 20-jährigen Kooperation in der französischen Presse:

AHGS , N° boîte BU627-C13155–71932, H ­ oechst – Roussel Uclaf. 20 ans de coopération

1968–1988. Échos de presse (1988). Im Jahr 1977 schlossen beide Seiten einen Screening-Vertrag über Fungizide sowie Verträge über den Wissensaustausch bei Antibiotika (Cephalosporine und Tetracycline) ab. Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 2, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (14.09.1977, 05.10.1977). 279 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-26, Stratégie Internationale. H ­ oechst-Roussel Uclaf 1968–1988. 20 ans de coopération exemplaire. Un état d’esprit européen, in: Uclafilm – Revue du Groupe Roussel-Uclaf, Nr. 70, Novembre 1988, S. 3–5; ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98b, ­Hoechst in Frankreich (1988); ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 138/Geschichte verschiedener H ­ oechst Gesellschaften Ausland, Roussel Uclaf Konzern. 20 Jahre Zusammenarbeit mit ­Hoechst (1988); ­Hoechst-Archiv, H0085494, Frankreich, Roussel Uclaf, Das Modell einer erfolgreichen Zusammenarbeit, in: Farbenpost 11/1988, S. 8–9. ­Hoechst schloss nicht nur mit Roussel Uclaf, sondern auch mit RU-Untergesellschaften Vereinbarungen über die Bearbeitung von Märkten ab, wie bspw. mit Roussel Afrique du Sud bzw. Laboratoires Lutsia im Fall Südafrikas zu Beginn der 1980er Jahre. Vgl. AHGS , N° boîte 0000000033753, Agreement between Laboratoires Lutsia and H ­ oechst South Africa (Proprietary) Ltd. (HOSAF) (12.07.1983). 280 Bäumler, Farben, S. 299–300; Geschäftsbericht ­Hoechst 1969, S. 57. 281 ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98b, ­Hoechst-Roussel Uclaf Pressegespräch Dr. Gareis (27.09.1988). 282 Geschäftsbericht ­Hoechst 1974, S. 61; AHGS , N° boîte 0000000033753, Memorandum concerning the cooperation between American ­Hoechst Corporation (AHC) and its affiliates, and Roussel Uclaf S. A. (RU) and its affiliates (29.05.1973), Pölnitz / Tiefenbacher (­Hoechst) an Roussel Uclaf (29.05.1973), Machizaud an H ­ oechst (12.07.1973),

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Uclaf 1977 ein Memorandum of Understanding ab, durch das sie ihre Zusammenarbeit auf den agroveterinären Bereich ausdehnten, um gemeinsam das Insektizid Decis für den US -Markt zu produzieren.283 Da H ­ oechst und Roussel Uclaf schon vor der Fusion beide multinationale Unternehmen waren, die auf zahlreichen Auslandsmärkten präsent waren und dort über Produktionsstrukturen verfügten, mussten mit dem Zusammenschluss viele Absprachen über die Zuständigkeiten in Drittmärkten getroffen werden. Dennoch bewahrten beide Unternehmen ihre Selbstständigkeit. Dies zeigte sich auch im Fortbestehen paralleler Strukturen in einigen Drittländern, wie in Japan, wo separate Vertriebsorganisationen fortbestanden.284 Trotz dieser teils intensiven Formen der Zusammenarbeit operierten ­Hoechst und Roussel Uclaf in den 1970er und 1980er Jahren somit weitgehend unabhängig voneinander, und es gab keinen Grund, das eingeführte, kooperative Modell aufzugeben.285 Obschon das pharmazeutische Produktportfolio der beiden Unternehmen harmonierte, war der neue multinationale Konzern nicht vor den Krisen der 1970er Jahre gefeit. Sowohl die zunehmenden Währungsschwankungen als auch der Anstieg der Rohstoffpreise Anfang der 1970er Jahre und die beiden Ölpreiskrisen erschwerten den geschäftlichen Erfolg. Im Vergleich mit anderen Sparten erwies sich die Pharmaproduktion zwar als krisenresistenter, dennoch ging auch der Nettogewinn von Roussel Uclaf 1975 um mehr als 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurück. Erst nach der Überwindung der Krise Mitte der 1970er Jahre stiegen die Gewinnzahlen bei Roussel Uclaf wieder an, doch wirkte sich die mit der zweiten Ölpreiskrise verbundene Wirtschaftskrise abermals negativ auf die Ertragslage aus.286 Schon 1979 ging das Management daher zu einer energischen Sparpolitik (politique d’austérité) über, die einen Einstellungsstopp für Führungskräfte und Rationalisierungen beinhaltete.287 Zwar erweiterte Roussel Uclaf sein Inlandsgeschäft in den 1970er Jahren, allerdings expandierten die übrigen Wettbewerber noch schneller, so dass Roussel Amendment to Memorandum concerning the cooperation between American H ­ oechst Corporation (AHC) and its affiliates, and Roussel Uclaf S. A. (RU) and its affiliates (20.06.1974/19.09.1974), Stockholders’ Agreement (06.06.1974). HPhI war zu 50 % an RPhI beteiligt und besaß 80 % der Stimmrechte. 283 AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 2, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (25.01.1978, 26.04.1978), Memorandum of understanding between AHC (Brookhuis) and Roussel Uclaf (Monod)  (22.12.1977); AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 3, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (07.06.1978, 19.06.1978). 284 Lanz, Weltreisender, S. 268–269. In Fabrikations-, Entwicklungs- und Zulassungsfragen tauschten sich die japanischen Tochtergesellschaften von H ­ oechst und Roussel Uclaf hingegen aus und nutzten damit die Vorteile der Kooperation. 285 Bäumler, Farben, S. 313–314; Wortmann, Komplex, S. 108–110. 286 Chauveau, Invention, S. 649–650, 686; Geschäftsbericht ­Hoechst 1975; AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice. Comptes et Résultats Financiers 1976, S. 21. 287 AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 3, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (30.05.1979).

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Uclaf auf dem Inlandsmarkt gegenüber der Konkurrenz Marktanteile einbüßte und in den 1980er Jahren aufgrund der noch stärkeren Akquisitionspolitik der französischen Pharmaunternehmen vom zweiten Platz um 1970 auf den vierten Platz hinter Rhône-Poulenc, Sanofi und Servier fiel. Erfolgreicher sah die Bilanz im Ausland aus. Zwischen 1968 und 1988 erhöhte sich die Zahl der ausländischen Niederlassungen von Roussel Uclaf von 40 auf 63, infolgedessen entfielen Mitte der 1980er Jahre etwa zwei Drittel des Umsatzes auf das Ausland; der Handelsbilanzüberschuss betrug etwa zwei Milliarden FF.288 Trotz der Konkurrenzsituation zwischen den französischen Chemieunternehmen und der fehlgeschlagenen Übernahme von Roussel Uclaf durch Bayer / R hône-Poulenc gingen diese im Ausland in Einzelfällen sogar gemeinsam vor, wie die Gründung einer gemeinsamen Pharmagesellschaft in der Elfenbeinküste 1976/77 zeigt.289 Für ­Hoechst und Roussel Uclaf bot sich außerdem die Chance, gemeinsam auf dritten Märkten zu expandieren. So beteiligten sich die britischen Tochtergesellschaften H ­ oechst U. K. Ltd. und Roussel Laboratories Ltd. Anfang 1975 beispielsweise zu gleichen Teilen an der britischen Firma Optrex, die Augentropfen und Medikamente gegen Erkältungskrankheiten herstellte.290 Insgesamt verfügte Roussel Uclaf in den 1980er Jahren über 25 inländische Niederlassungen, daneben produzierte die SFH-Gruppe an fünf Standorten in Frankreich (Lamotte, Lillebonne, Dijon, Stains, L’Aigle)  und war auf bestimmten Gebieten (Glyoxalchemie, Silikate, Gallussäure)  führend innerhalb des ­Hoechst-Konzerns. Dabei produzierte SFH nicht nur für den französischen 288 Bäumler, Farben, S. 300; ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98b, Pressegespräch Martin Frühauf (27.09.1988). 289 AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 2, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (08.12.1976); AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 4, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (26.03.1980). Neben Rhône-Poulenc (38 %) und Roussel Uclaf (22 %) waren Labaz (5 %), Ciba Geigy (2 %) und einheimische Investoren (33 %) an der neuen Gesellschaft Siprophar beteiligt. Während sich Rhône-Poulenc 1980 aus dem Projekt zurückzog, hielt das Roussel Uclaf-Management an Siprophar fest, um auf diese Weise auf den Markt der Elfenbeinküste vorzudringen. 290 AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 1, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (28.01.1975, 26.02.1975); Geschäftsbericht ­Hoechst 1974, S. 59; Lanz, Weltreisender, S. 91–92. Ein Teil der Optrex-Fabrikation wurde bereits 1977 in das Werk von Roussel Laboratories nach Swindon transferiert, das in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre enorm ausgebaut wurde. Ein zweistufiger Investitionsplan für das Werk in Swindon für die Jahre 1976 bis 1981 sah ein Investitionsvolumen von 7,1 Mio. £ vor, wobei 450.000 £ staatliche Subventionen zugesichert wurden. Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 2, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (12.07.1976, 05.01.1977). Im Februar 1981 übernahm H ­ oechst U. K. auf Wunsch von Roussel Uclaf die Firma Optrex vollständig, da diese sich nicht zufriedenstellend entwickelte. Schließlich veräußerte ­Hoechst U. K. Optrex im Februar 1983 für 9,25 Mio. £. Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 4, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (17.12.1980); H ­ oechst-Archiv, Ordner Großbritannien / Hoe. UK , Geschäftsbericht ­Hoechst U. K. 1981, S. 4, Geschäftsbericht H ­ oechst U. K. 1982, S. 4, Geschäftsbericht ­Hoechst U. K. 1983, S. 4.

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Markt. Von den 40 Prozent des Umsatzes, die auf die Eigenproduktion entfielen, ging Mitte der 1980er Jahre ein Drittel in den Export, für den das weltweite Vertriebsnetz des H ­ oechst-Konzerns genutzt wurde – mit Schwerpunkten in Europa und den USA . Damit war SFH inzwischen weit mehr als eine Auslandsgesellschaft eines multinationalen Konzerns und auch die Unterscheidung zwischen Heimat- und Auslandsmarkt verlor hier einen Teil ihrer ursprünglichen Bedeutung, denn SFH und Roussel Uclaf exportierten wiederum einen beträchtlichen Anteil ihrer Produktion (hierzu gehörten auch Exporte in die Bundesrepublik) und Roussel Uclaf verfügte über ein weitgespanntes ausländisches Vertriebsund Produktionsnetz mit etwa 50 Auslandstöchtern. In der Selbstdarstellung des Unternehmens verordnete man SFH unter Berücksichtigung von Roussel Uclaf 1987 auf Platz 6 innerhalb der französischen Chemieindustrie und sah sich damit im Grunde ein Stück weit als Teil der französischen Wirtschaft.291 Letztlich zeigte sich hier eine Form der Ausweitung und Verflüssigung von Unternehmensstrukturen, die sich in Richtung eines transnationalen Unternehmens bewegte, auch wenn ­Hoechst nicht überall auf der Welt gleichermaßen heimisch war und die deutsch-französische Kooperation einen – gewichtigen – Sonderfall unter den Auslandsbeteiligungen des Konzerns darstellte.292 Nationale Grenzen verloren angesichts fortbestehender nationaler Währungs- und Wirtschaftspolitiken, Importbeschränkungen und Zulassungsverfahren nicht ihre Bedeutung, gleichwohl wurde es im Beteiligungsgeflecht multinationaler Unternehmen mit international tätigen in- wie ausländischen Untergesellschaften schwieriger ein Zentrum auszumachen. »­Hoechst in Britain« Neben der Ausweitung der Auslandstätigkeit im Pharmageschäft erweiterte ­Hoechst Anfang der 1970er Jahre auch die ausländische Farbenproduktion – vor allem durch eine Übernahme in Großbritannien. Im Jahr 1970 erwarb ­Hoechst hier den Farbenproduzenten Berger, Jenson & Nicholson (BJN), der auf dem Gebiet der Haushalts- und Industrielacke im Commonwealth führend und mit seinen sechs Fabriken im Raum Bristol, London und Newcastle hinter ICI der zweitgrößte britische Farben- und Lackhersteller war. Ziel der Übernahme war es, die BJN-Aktivitäten eng an die Herberts-Gruppe zu binden und damit eine international wettbewerbsfähige Lackgruppe innerhalb des Konzerns aufzubauen.293 »Wie wir dem [BJN-]Board auch erklärt hatten, war einer unserer 291 ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 98b, Entwicklung Roussel Uclaf – Vergleich 1968–1987/88 (September 1988); ­Hoechst in Frankreich (1988). 292 Bartlett / Goshal, Managing. 293 BJN ging auf die Gründung des Deutschen Ludwig Steinberger zurück, der 1760 in England mit der Herstellung von Farben begonnen und seinen Namen in Lewis Berger geändert hatte. 1960 fusionierten Lewis Berger & Sons mit Jenson & Nicholson Ltd. zur BJN. Vgl. H ­ oechst-Archiv, H0073142, Großbritannien / BJN, BJN bei H ­ oechst (11.03.1970).

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Hauptgründe für die Übernahme der BJN der, daß wir eine weltweite Organisation auf dem Lacksektor vorfinden.«294 Während ­Hoechst – wie die BASF – bis Ende der 1960er Jahre der Richtlinie gefolgt war, den eigenen Kunden in der Verarbeitungsindustrie keine Konkurrenz zu machen, änderten die Manager ihre Meinung, als andere europäische Chemiefirmen ihrerseits Lackfabriken erwarben – wie die BASF im Fall der Glasurit-Werke AG 1965 – und sich hierdurch der Kundenkreis zu verengen drohte. Der Erwerb der Herberts-Gruppe war ein erster Schritt in Richtung Vorwärtsintegration auf dem Farben- und Lackgebiet; mit der Übernahme von BJN wurde diese neue Geschäftspolitik auf das Ausland ausgedehnt.295 Das Interesse von H ­ oechst korrespondierte mit Konzentrationstendenzen in der zersplitterten britischen Farben- und Lackindustrie, denn viele Hersteller hatten nur geringe Marktanteile, und in Anbetracht des anstehenden EWG -Beitritts Großbritanniens stand zu erwarten, dass viele Firmen den Wegfall hoher Schutzzölle nur über Fusionen und Rationalisierungen würden kompensieren können.296 Die BJN-Unternehmensleitung  – insbesondere die Anteilseigner Vera und Roger Hue-Williams  – hatte daher schon 1968 eine Fusion mit dem britischen Farbenhersteller International Paint und Courtaulds erwogen, sich letztlich aber dagegen ausgesprochen, da das Management eine übermächtige Dominanz durch Courtaulds befürchtete.297 Die Übernahme von BJN wurde möglich, da sowohl die Familie HueWilliams als auch die US -Chemiefirma Celanese bereit waren, ihre großen BJNBeteiligungen zu veräußern. ­Hoechst unterhielt bereits seit Anfang der 1960er Jahre enge Verbindungen zur Celanese Corporation und hatte mir ihr 1961 das Gemeinschaftsunternehmen Bobina-Faserwerke GmbH in Bobingen zur Fertigung von Chemiefasern (Dinitrilfasern) und 1964 das Joint Venture Ticona Polymerwerke GmbH in Kelsterbach zur Polymerisation von Formaldehyden und Herstellung von Hostaform gegründet (­Hoechst 59 %, Celanese 41 %).298 Bereits 1969 hatten Vertreter von ­Hoechst U. K. und ­Hoechst-Cassella Dyestuffs Ltd. Möglichkeiten eines britischen Produktionsstandorts austariert und mehrere Geländekomplexe besichtigt. Vgl. H ­ oechst-Archiv, H0073243, Großbritannien / ­Hoechst U. K., Bericht der TDA Ausland (02.04.1969), H ­ oechst-Cassella Dyestuffs Ltd. an ­Hoechst AG (30.06.1969), KDA Besprechungs-Notiz (14.07.1969). 294 ­Hoechst-Archiv, H0073142, Großbritannien / BJN, Rankl an Hartung (23.04.1971). 295 Bäumler, Farben, S. 305–308; Lanz, Weltreisender, S. 88–89; Teltschik, Großchemie, S. 223. 296 ­Hoechst-Archiv, H0073142, Großbritannien / BJN, BJN bei ­Hoechst (11.03.1970). 297 Hackney Archives (London), D / B/BER /2/2/2, Minutes of the Meeting BJN Group Board (26.06.1968, 05.08.1968). Courtaulds übernahm 1968 International Paint und bündelte dort seine Farbaktivitäten. Mit der Akquisition von Courtaulds durch AkzoNobel 1998 wurde International Paint zu einer führenden Marke von AkzoNobel. 298 Bäumler, Farben, S. 340–341; RWWA 195-D4-13-3-2 Travis – eine neue Synthesefaser von ­Hoechst, in: Glanzstoff-Markt-Informationsdienst Nr. 11 (April 1961). Im Frühjahr 1969 erwarb BJN durch Aktientausch die 1886 gegründete British Paints Ltd. vom US -Unternehmen Celanese, womit Celanese eine 30 %-Beteiligung an BJN erhielt. Celanese hatte British Paints Ltd. erst 1965 erworben und wollte auch die BJN-Beteiligung nicht dauer-

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Der Frankfurter Konzern gab daraufhin ein öffentliches Angebot für die BJNAktien ab und informierte zugleich das BJN-Management über den geplanten Eigentümerwechsel, da die ­Hoechst-Verantwortlichen, vor allem Kurt Lanz und der Chef von ­Hoechst U. K. Gustav Bunge, kein Interesse an einer feindlichen Übernahme hatten.299 Die durch ­Hoechst U. K. abgewickelte Akquisition erwies sich jedoch aufgrund eines weiteren Kaufinteressenten als wesentlich schwieriger als im französischen Fall und zeigte den zunehmenden Konkurrenzkampf auf dem Markt für Unternehmensbeteiligungen. Während der Mitbewerber Bayer bei Roussel Uclaf noch frühzeitig aus dem Rennen ausgeschieden war, musste sich ­Hoechst bereits bei der Übernahme der Reichhold Chemie AG gegen ein US -Konsortium durchsetzen. Im Fall von BJN zog sich der US -Mitbewerber Sherwin-Williams Company an den englischen Börsen erst zurück, als der ­Hoechst-Konzern sein Angebot deutlich aufstockte. Der Präsident und der Vizepräsident von SherwinWilliams E. Colin Baldwin und Walter O. Spencer waren im Dezember 1969 eigens zu Gesprächen mit BJN aus den USA nach London angereist. Dabei war das BJN-Management angesichts finanzieller Schwierigkeiten noch unentschlossen, wem man den Vorzug geben sollte. Während Sherwin-Williams mehr Geld als bisher im Unternehmen belassen wollte, bestand Unsicherheit gegenüber der Dividendenpolitik von ­Hoechst. Insofern zeigte sich das BJN-Management auch verstimmt, als es erfuhr, dass Vera Hue-Williams eine Vereinbarung mit ­Hoechst getroffen hatte, ihre BJN-Aktien an den westdeutschen Konzern zu veräußern, sofern kein höheres Angebot einging.300 Im Januar 1970 erreichte eine Pressemeldung die Öffentlichkeit, die den übrigen Aktionären empfahl, das Angebot des westdeutschen Konzerns anzunehmen, da ­Hoechst U. K. mittlerweile über 56 Prozent des BJN-Aktienkapitals verfügte. Zeitgleich hatte H ­ oechst im Dezember 1969 mit der britischen ReedGruppe (vormals Albert E.  Reed) eine enge Zusammenarbeit vereinbart, in deren Rahmen Reed zunächst ein bis zu 50-prozentiger Anteil der BJN-Aktien haft behalten. Lanz zufolge umfasste das Celanese-Aktienpaket eine 50 %-Beteiligung an BJN. Vgl. Hackney Archives (London), D / B/BER /2/2/2, Minutes of the Meeting BJN Group Board (19.02.1969, 22.04.1969); ­Hoechst-Archiv, H0073142, Großbritannien / BJN, BJN bei ­Hoechst (11.03.1970); Lanz, Weltreisender, S. 89. 299 Hackney Archives (London), D / B/BER /2/2/2, Minutes of the Meeting BJN Group Board (13.11.1969, 19.11.1969, 12.12.1969, 16.12.1969), ­Hoechst an Vera Hue-Williams (12.11.1969); Lanz, Weltreisender, S. 89–90. 300 Hackney Archives (London), D / B/BER /2/2/2, Minutes of the Meeting BJN Group Board (01.12.1969, 08.12.1969); »Farbwerke H ­ oechst: Interesse an britischer Gesellschaft«, in: Industriekurier Nr. 173, 15.11.1969, S. 18. Vera Kostovsky (1899–1992) heiratete in zweiter Ehe Walter Horace Cottingham (1866–1930), seit 1898 General Manager des Unternehmens Sherwin-Williams (1866 von Henry Sherwin und Edward Williams in Cleveland gegründet), der 1904 ein Drittel der Aktien von Lewis Berger & Sons Ltd. (LBS) in London übernahm und Mitglied im LBS -Board wurde. Im Jahr 1963 heiratete sie ihren vierten Ehemann Roger Hue-Williams.

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zugesagt wurde. Insbesondere der BJN-Board machte seine Zustimmung zur Übernahme jedoch davon abhängig, dass der Reed-Gruppe keine größere Beteiligung an BJN eingeräumt wurde  – auch weil eine Rationalisierung der BJN- und Reed-Farbaktivitäten befürchtet wurde. Tatsächlich stockte ­Hoechst seinen Anteil noch 1970 auf 100 Prozent auf und musste für den Erwerb des zweitgrößten britischen Farben- und Lackproduzenten insgesamt 243 Millionen DM aufwenden.301 Wie im Fall von Roussel Uclaf griff ­Hoechst anschließend kaum in die Besetzung der Leitungsorgane ein, da das ­Hoechst-Management den Standpunkt vertrat, dass die mit den Unternehmensstrukturen und den spezifischen Anforderungen des Marktes vertrauten, ausländischen Manager das Unternehmen auch zukünftig leiten sollten. »Wir sind der Meinung, daß in den Leitungen unserer ausländischen Tochtergesellschaften nicht nur einige, sondern möglichst viele Positionen mit Männern aus dem jeweiligen Land besetzt werden sollten. Im Gegensatz zu mancher etwas überheblichen Ansicht in Westeuropa arbeiten unsere britischen Freunde nicht minder hart als wir, wenn sie vielleicht auch darüber nicht so ausgiebig stöhnen.«302 Auch nach einem Besuch der BJN-Gruppe im August 1970, bei der sich ­Hoechst-Vertreter aus unterschied­ lichen Abteilungen erstmals vor Ort über den Zustand der Anlagen informier-

301 Geschäftsbericht ­Hoechst 1967, S.19; Geschäftsbericht H ­ oechst 1970, S. 16, 58; Hackney Archives (London), D / B/BER /2/2/2, Minutes of the Meeting BJN Group Board (18.12.1969, 07.01.1970, 08.01.1970, 13.01.1970); ­Hoechst-Archiv, H0073138, Großbritannien / BJN, Offer to acquire the issued ordinary share capital and warrants of BJN (o. D.); ­Hoechst-Archiv, H0073139, Großbritannien / BJN, Agreement between Farbwerke ­Hoechst AG and Reed Group Ltd. (31.12.1969); H ­ oechst-Archiv, H0073140, Großbritannien / BJN, BJN Board Meeting (18.12.1969), Auszug aus dem Protokoll der 355. Vorstandssitzung der ­Hoechst AG (06.01.1970); H ­ oechst-Archiv, H0073141, Großbritannien / BJN, Mitteilung der Rechtsabteilung (14.01.1970), Seligman an Asboth (26.01.1970); ­Hoechst-Archiv, H0073142, Großbritannien / BJN, BJN and the H ­ oechst-Reed Agreement (20.10.1970), Offer by S. G. Warburg & Co. Ltd. on behalf of ­Hoechst U. K. Ltd. for Issued Ordinary Share Capital and Warrants of Berger, Jenson & Nicholson Ltd. (12.01.1970); Schreier / Wex, ­Hoechst, S. 291; Watts, Distribution, hier S. 86–88. Bis zum 4. März 1970 hatte H ­ oechst 97 % des BJN-Aktienkapitals erworben. Vgl. H ­ oechst-Archiv, H0073141, Großbritannien / BJN, ­Hoechst-BJN (04.03.1970). Die Sherwin‐Williams Company verkaufte ihre nom. 13.775.500 BJN-Stammaktien und ihre 541.000 BJN-Optionsscheine an die britische Tochtergesellschaft ­Hoechst U. K., die einen Preis von $ 1,56 pro Aktie und 45 Cents pro Optionsschein bot. Das US -Unternehmen hatte zuvor $ 1,44 pro BJN-Stammaktie und 33 Cents pro BJN-Optionsschein geboten. Vgl. »Paint Concern Drops Plan«, in: The New York Times, 20.01.1970, S. 53. 302 Lanz, Weltreisender, S. 90. Bei der ­Hoechst Fibre Industries UK Ltd. waren 1970 noch vornehmlich Deutsche beschäftigt, weshalb H ­ oechst U. K.-Chef Gustav Bunge hier Nachholbedarf sah und den Briten Norman Mischler für den Board vorschlug: »Ausserdem benötigt das Direktorium der HFIUK [­Hoechst Fibre Industries UK] dringend einen Englaender.« H ­ oechst-Archiv, H0073246, Großbritannien / ­Hoechst U. K., Bunge an Lanz (15.07.1970).

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ten, hielt man daran fest. »Damit der gute menschliche Kontakt nicht gestört wird, kann keinesfalls eine starke Einflußnahme auf die BJN-Gruppe von seiten der ­Hoechster Stellen erfolgen. Die erwünschte Zusammenarbeit muß über die Bereichsleitung erfolgen, daß BJN nicht den Eindruck einer Bevormundung erhält.«303 Diese Position wurde vom BJN-Management sehr begrüßt und zugleich in den Richtlinien für die Zusammenarbeit zwischen ­Hoechst und BJN 1971 nochmals unterstrichen. »The management of Farbwerke H ­ oechst have emphasised from the commencement that Berger, as a Group of Companies, must continue to be separately managed and develop its own trading image in those parts of the paint world where it trades.«304 Ferner hielten die Richtlinien fest, dass weiterhin alle Werke ihre Anweisungen von der Londoner Zentrale bekamen. Das BJN-Management blieb folglich in seiner Stellung und behielt auch weit­gehend seine Gestaltungsspielräume, lediglich Gustav Bunge (Leiter von H ­ oechst U. K.), Harald List (Leiter des ­Hoechst-Geschäftsbereichs G, Kunstharze und Lacke) und Franz Josef Rankl (Abteilungsdirektor Lacke bei ­Hoechst) wurden in den Board of Directors aufgenommen; im Dezember 1972 übernahm Kurt Lanz die Position von Rankl.305 Umgekehrt akzeptierten die BJN-Manager den Wunsch von ­Hoechst, in den nächsten Jahren eine ordentliche Rendite zu erwirtschaften, die den Kaufpreis rechtfertigte. Dabei handelte es sich keineswegs um eine leere Floskel, denn BJN hatte zu Beginn der 1970er Jahre erhebliche Finanzprobleme und hier wurden die – auch von ­Hoechst neu gesetzten – Grenzen des Handlungsspielraums deutlich. Das für das Finanz- und Rechnungswesen zuständige ­Hoechst-Vorstandsmitglied Hans Reintges zeigte 1971 zwar Verständnis für die Situation von BJN, machte aber unmissverständlich klar, dass ­Hoechst nicht bereit war, permanent Kapital an BJN zu transferieren. Insbesondere sollte die durch den Kaufpreis entstandene Zinsbelastung bei ­Hoechst U. K. vollständig durch Gewinne von BJN abgedeckt werden. Immerhin gewährte ­Hoechst im Februar 1971 nochmals einen Kredit in Höhe von einer Million Pfund, damit BJN seinen Zahlungsverpflichtungen nachkommen konnte, und leitete einige kurzfristige Euro-Kredite direkt an die BJN-Überseetöchter weiter. Die angespannte Finanzsituation führte obendrein dazu, dass BJN 1971 das Angebot, den Großhandel der familiengeführten Farben- und Tapetenfirma E. C. Byle & Co. Ltd. in Hyde zu übernehmen, mangels finanzieller Mittel ablehnen musste, 303 ­Hoechst-Archiv, H0073142, Großbritannien / BJN, Besuch bei der BJN-Gruppe in England (07.09.1970). 304 ­Hoechst-Archiv, H0073138, Großbritannien / BJN, Guidelines for Cooperation of H ­ oechst and Berger Senior Executives in Trading Areas (03.02.1971). 305 Hackney Archives (London), D / B/BER /2/2/7, BJN Report & Accounts 1972, S. 2–3, 5; ­Hoechst-Archiv, H0073138, Großbritannien / BJN, Guidelines for Cooperation of ­Hoechst and Berger Senior Executives in Trading Areas (03.02.1971); ­Hoechst-Archiv, H0073141, Großbritannien / BJN, ­Hoechst-BJN (04.03.1970).

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obschon BJN jahrlange, gute Geschäftsbeziehungen zu Byle hatte. Die BJN-­ Manager bedauerten, dass sie vor der Übernahme durch ­Hoechst die Möglichkeit gehabt hätten, sich über die Ausgabe von Aktien Finanzmittel für eine solche Akquisition zu beschaffen.306 Zwar hatte sich ­Hoechst den Übernahme-Kandidaten zuvor recht genau angeschaut, dennoch standen schon bald nach der Akquisition umfangreiche Umstrukturierungen bei BJN in Großbritannien und Indien an. In Indien wollte die Tochtergesellschaft British Paints (India) Ltd., an der BJN zu 55 Prozent beteiligt war, Anfang der 1970er Jahre ihr Geschäft ausbauen und strebte hierfür unter anderem den Bau einer neuen Fabrik an. Während BJN zur Kontrolle der Auslandsgesellschaften bis dahin in der Regel auf eine Mehrheitsbeteiligung Wert gelegt hatte, wurde ihr seitens indischer Geschäftspartner dazu geraten, diesen Anteil im Zuge der Expansion auf unter 50 Prozent zu senken. Angesichts 7.000 freier Aktionäre könne BJN die indische Tochtergesellschaft auch mit einem Anteil von etwas weniger als 49 Prozent kontrollieren, zumal British Paints (India)  Ltd. dann nicht mehr als ausländische Gesellschaft betrachtet und somit nicht mehr den Restriktionen der ausländischen Investitionskontrolle unterliegen würde, die die indische Regierung im Rahmen ihrer Nationalisierungspolitik erlassen hatte. Die Beteiligungsreduzierung wurde hier demzufolge strategisch genutzt, um die staatlichen Restriktionen gegenüber ausländischen Unternehmen zu umgehen und das Engagement weiter auszubauen.307 Tatsächlich reduzierte BJN seinen Anteil an British Paints (India) Ltd. bis 1975 auf 40 Prozent. Auch in anderen Staaten wie Trinidad und Tobago oder Nigeria wurden in den 1970er Jahren Beteiligungen bei BJN-Tochtergesellschaften auf unter 50, teils unter 30 Prozent herabgesetzt, um die Forderungen lokaler Behörden zu erfüllen.308 Gleichzeitig wurden intensive Verhandlungen über eine mögliche Fusion der beiden indischen Tochtergesellschaften British Paints (India) Ltd. und Jenson & Nicholson (India) Ltd. (J&N India) geführt, da hierdurch ein Kapazitätsausgleich zwischen beiden Gesellschaften und eine Stabilisierung der seit Jahren finanziell angeschlagenen J&N India möglich geworden wäre. Doch hielt der BJN-Board Ende 1970 an seinem Entschluss fest, die marode J&N India zu verkaufen; auch ein zwischenzeitlich erwogener Erwerb durch 306 Hackney Archives (London), D / B/BER /2/2/2, Minutes of the Meeting BJN Group Board (18.02.1971); ­Hoechst-Archiv, H0073138, Großbritannien / BJN, BJN Board Meeting (27.01.1971, 18.02.1971, 15.04.1971); H ­ oechst-Archiv, H0073140, Großbritannien / BJN, Lowe an Reintges (22.12.1970), Reintges an Lowe (13.01.1971), Resolution of the BJN Board (18.02.1971); ­Hoechst-Archiv, H0073141, Großbritannien / BJN, Finanzwesen Notiz (04.05.1971); ­Hoechst-Archiv, H0073142, Großbritannien / BJN, Rankl an Hartung (23.04.1971); H ­ oechst-Archiv, H0073239, Großbritannien / ­Hoechst U. K., Minutes of a Meeting of Directors of ­Hoechst U. K. Ltd. (26.02.1971). 307 ­Hoechst-Archiv, H0073138, Großbritannien / BJN, BJN Board Meeting (15.10.1970). Vgl. hierzu Roy, Business History, S. 153–202. 308 Hackney Archives (London), D / B/BER /2/2/7, BJN Report & Accounts 1974, S. 18, BJN Report & Accounts 1975, S. 20, BJN Report & Accounts 1977, S. 4.

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

­ oechst kam letztlich nicht zustande. Daraufhin wurden J&N India 1973 H an den indischen Geschäftsmann Shailendra Prakash Sinha veräußert und agierte fortan als eigenständiges, einheimisches Unternehmen auf dem indischen Markt.309 Auf dem britischen Heimatmarkt stand BJN vor allem vor der Herausforderung, die Kosten zu senken; zumal die Integration der verschiedenen, teils erst in den letzten Jahren erworbenen Farb- und Chemiefirmen innerhalb der BJN-Gruppe bei der Übernahme im Grunde noch nicht abgeschlossen war. Neben dem Lackgeschäft war die Tochtergesellschaft Cuprinol Ltd. in der Holzschutzproduktion tätig, Selleys Chemical Co. stellte in Australien und Neuseeland chemische Produkte für die Haushalts-, Garten- und Autopflege her, und Berger Traffic Markings Ltd. fertigte Straßenmarkierungsfarben.310 Vor diesem Hintergrund wurden 1971 zunächst zwei getrennte Divisionen  – Berger-Hall Paints und BPL Chemicals – gebildet und die bisher eigenständig auf dem Markt agierenden Farbenfirmen (Berger J. & N. Paints Ltd., John Hall & Sons Ltd., British Paints Ltd.) in der Berger-Hall Paints Division zusammengefasst.311 Zudem erfolgten eine weltweite Bereinigung der Angebotspalette und eine Konzentration auf ertragsstarke Produkte.312 Darüber hinaus wurde der Standort Blaydon geschlossen, wodurch jährlich eine Million DM (125.000 £) eingespart werden sollten. Ursprünglich hatte ­Hoechst vorgesehen, das Werk in Blaydon für 250.000 £ von BJN zu erwerben, um dort ein Pigment-Projekt zu realisieren, doch wegen Änderungen in den britischen Rechtsvorschriften für Investitionszuschüsse zog sich ­Hoechst hiervon wieder zurück.313 Mit BJN war ­Hoechst nicht nur auf den britischen Farbenmarkt vorgestoßen, der westdeutsche Chemiekonzern hatte hier – ähnlich zu Roussel-Uclaf – ein international aufgestelltes Unternehmen erworben, das 1970 mit 42 Lack­ fabriken in 25 Ländern vertreten war, 1973 alleine 34 Prozent des Umsatzes

309 Aldous / Roy, FERA ; Damodaran, India’s New Capitalists, S. 84; Hackney Archives (London), D / B/BER /2/2/2, Minutes of the Meeting BJN Group Board (19.06.1972); Hackney Archives (London), D / B/BER /2/2/7, BJN Report & Accounts 1973, S. 4, BJN Report & Accounts 1975, S. 4; ­Hoechst-Archiv, H0073138, Großbritannien / BJN, BJN Board Meeting (16.12.1971); H ­ oechst-Archiv, H0073141, Großbritannien / BJN, ­Hoechst Geschäftsbereich G. Besprechungsnotiz (16.09.1970), KDA / Geschäftsbereich G. Notiz betr. Besprechung (03.12.1970), Finanzwesen Besprechungsnotiz (30.09.1971). 310 ­Hoechst-Archiv, H0073142, Großbritannien / BJN, Verkaufsleitung »Non-paint«-Aktivitäten der BJN (31.12.1971), Besuchsnotiz Großbritannien BJN (10.03.1970), BJN-U. K. Paint-Survey (Februar 1970), Situationsbericht von Rankl zu BJN (16.02.1970). 311 Hackney Archives (London), D / B/BER /2/2/2, Minutes of the Meeting BJN Group Board (17.09.1970, 15.10.1970, 17.12.1970); ­Hoechst-Archiv, H0073138 Großbritannien / BJN, BJN Board Meeting (17.09.1970, 17.12.1970); ­Hoechst-Archiv, H0073139, Großbritannien / BJN, BJN Report & Accounts 1970, S. 5. 312 ­Hoechst-Archiv, H0073140, Großbritannien / BJN, KDA: Großbritannien – BJN (17.08.1971). 313 ­Hoechst-Archiv, H0073138, Großbritannien / BJN, KDA-BJN (18.06.1970), BJN Board Meeting (19.06.1970, 27.01.1971).

253

Hoechst

in Australien und Neuseeland erwirtschaftete und dessen Auslandsumsatz in den 1970er Jahren stets über 50 Prozent lag. Hiervon entfiel ein Großteil auf Staaten des britischen Commonwealth.314 Eine der zentralen Aufgaben nach der Übernahme bestand daher darin, Kontakte zwischen den BJN-Auslandsgesellschaften und den Auslandsniederlassungen von ­Hoechst herzustellen. In einigen Ländern, in denen BJN über eine gut ausgebaute Landesorganisation verfügte, war ­Hoechst nur über Fremdvertretungen oder überhaupt nicht vertreten; umgekehrt war BJN in Westeuropa und Lateinamerika, wo ­Hoechst ein dichtes Vertretungsnetz unterhielt, nur schwach aufgestellt. Der westdeutsche Konzern nutzte gezielt die Auslandsorganisation von BJN, um sein eigenes Auslandsgeschäft auszudehnen, und intensivierte die Zusammenarbeit im Ausland, indem er Leiter ausländischer H ­ oechst-Niederlassungen in die Boards der BJN-Organisation aufnehmen ließ.315 Tabelle 13: Umsatzverteilung von BJN nach Regionen in Prozent (1971–1977) U. K.

Europe

Caribbean

Africa

Asia

Australasia

1971

48

9

4

4

4

31

1972

47

10

4

5

3

31

1973

44

10

4

3

5

34

1974

43

10

4

4

5

34

1975

49

8

4

4

2

33

1976

44

8

4

4

4

36

1977

44

9

3

4

4

36

Quelle: Hackney Archives (London), D / B/BER /2/2/7, BJN Report & Accounts (1972–1977).

Im Vergleich zu den westdeutschen Chemiekonzernen nahm sich der Export von BJN hingegen bescheiden aus und lag in den 1970er Jahren lediglich zwischen zwei und fünf Prozent. Das BJN-Management setzte bei den fern gelegenen Märkten in Australien und Neuseeland weit stärker auf ausländische Produktionsstandorte als ­Hoechst. Insgesamt stieg die Zahl der in Großbritannien tätigen BJN-Beschäftigten in der ersten Hälfte der 1970er Jahre um etwa 600 Personen auf ca. 5.100 an, um in der zweiten Hälfte der Dekade wieder auf

314 Geschäftsbericht ­Hoechst 1970, S. 26; Geschäftsbericht H ­ oechst 1973, S. 54; Geschäftsbericht H ­ oechst 1976, S. 48; H ­ oechst-Archiv, H0073140, Großbritannien / BJN, Zusammenfassung der wichtigsten Punkte des 5-Jahresplans von BJN (23.11.1971). 315 ­Hoechst-Archiv, H0073139, Großbritannien / BJN, Notiz BJN (05.06.1970); ­Hoechst-​ Archiv, H0073140, Großbritannien / BJN, Thies u. Rankl an Hughes (29.12.1971); ­Hoechst-Archiv, H0073142, Großbritannien / BJN, BJN bei ­Hoechst (11.03.1970).

254

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

etwa 4.200 abzusinken. Erst 1981/82 brach die Belegschaftsstärke drastisch auf ca. 3.200 Beschäftigte ein.316 Nachdem BJN die Anhebung der Rohstoffpreise und die wirtschaftlichen Stockungen im Anschluss an die erste Ölpreiskrise 1974/75 noch recht gut überstanden hatte, geriet das Unternehmen ab 1979 tief in die Krise. Hier zeigten sich die komplexen Folgen der internationalen Akquisitionspolitik. Der ­Hoechst-Konzern war infolge der Übernahme nicht nur vom extrem harten Winter 1978/79 und Arbeitsniederlegungen bei den Transportbetrieben in Großbritannien betroffen, auch ein großer Streik der australischen Farbenindustrie in der ersten Jahreshälfte 1979 wirkte sich unmittelbar auf die britische ­Hoechst-Tochtergesellschaft aus. Daneben erlitt BJN 1979 infolge der Aufwertung des britischen Pfunds Wechselkursverluste (vor allem wegen einer Wertreduzierung des ausländischen Gruppenvermögens), die sich auf 3,948 Mio. £ beliefen. Schon 1977 und 1978 waren auf diese Weise Verluste in Höhe von 6,307 Mio. £ entstanden; bis 1980 summierten sie sich auf 12,35  Mio. £. Der BJN-Farbenverkauf in Großbritannien gestaltete sich zu Beginn des Jahres 1980 zunächst zufriedenstellend, doch in der zweiten Jahreshälfte brach er parallel zur britischen Wirtschaft zusammen. Das BJN-Management beschloss daher den Tapetenbereich weitgehend stillzulegen, eine schottische Farbenfabrik zu schließen und die Farbenherstellung in Newcastle-upon-Tyne einzustellen. Erstmals seit der Übernahme durch ­Hoechst erwirtschaftete BJN 1980 einen Verlust (-8,188 Mio. £), so dass keine Dividende ausgezahlt wurde. Zwar stieß die britische Tochter 1981 wieder leicht in die Gewinnzone und zum ersten Mal seit fünf Jahren verzeichnete das Unternehmen 1981 dank des schwachen Pfunds einen Wechselkursgewinn in Höhe von 5,78 Mio. £, doch verzichtete das BJN-Management aufgrund der hohen erlittenen Verluste auch 1981 auf die Ausschüttung einer Dividende. Im Folgejahr 1982 verschlechterten sich die Absatzmöglichkeiten auf dem britischen Farbenmarkt nochmals erheblich, so dass BJN erneut rote Zahlen schrieb (-7,287 Mio. £) und H ­ oechst U. K. wiederum keine Dividende verbuchen konnte. Insgesamt hatte ­Hoechst mit der Übernahme von BJN das weltweite Farben- und Lackgeschäft zwar erheblich ausgedehnt, doch erwies sich der britische Farbenproduzent nicht als der erhoffte Gewinnbringer, vielmehr hatte ­Hoechst in den 1970er Jahren mehrmals Kapital nachschießen müssen, um die Liquidität und den Ausbau der Gesellschaft zu sichern.317

316 Insgesamt hatte BJN 1970 ca. 11.000, 1975 ca. 9.900 und 1980 ca. 9.000 Beschäftigte; 1982 betrug die Belegschaftsstärke der BJN-Welt noch 7.843. Vgl. Geschäftsbericht ­Hoechst 1970, S. 58; Geschäftsbericht ­Hoechst 1975, S. 56; Geschäftsbericht ­Hoechst 1980, S. 46; Geschäftsbericht H ­ oechst 1982, S. 46. 317 Hackney Archives (London), D / B/BER /2/2/7, BJN Report & Accounts 1972–1982. Die Integration von BJN in den H ­ oechst-Konzern verursachte auch steuerliche Probleme, denn Aufwendungen, die in Großbritannien anfielen, konnten nur mit in Großbritannien erzielten Gewinnen verrechnet werden. Die Kosten von H ­ oechst U. K. aus der Finanzierung des BJN-Erwerbs fielen in Großbritannien an, doch entstanden 70 % der

Hoechst

255

Der Farbenanteil am Umsatz von ­Hoechst U. K. stieg infolge der BJN-Übernahme erheblich an und lag in den 1970er Jahren zwischen 60 und 70 Prozent; ca. ein Drittel entfiel auf das ursprüngliche Geschäftsgebiet von H ­ oechst U. K. (chemische Produkte); der Anteil der Tochtergesellschaft Kalle Infotec Ltd. (Büroausrüstung), die seit Juni 1973 auf dem britischen Markt tätig war, kletterte langsam auf vier Prozent. Auch am Profit von ­Hoechst U. K. war BJN in den 1970er Jahren zunächst überproportional beteiligt, wohingegen der britische Bürotechnik-Ableger des ­Hoechst-Konzerns bis 1977 nur Verluste erwirtschaftete. Obschon sich die Situation für die britische Wirtschaft nach den beiden Krisenjahren 1980/81 wieder aufhellte, blieb die Lage auf dem britischen Farbenmarkt angespannt. Der Gewinn der H ­ oechst U. K. Farbensparte brach 1982 um mehr als 50 Prozent ein und war damit erstmals seit der BJN-Übernahme geringer als derjenige chemischer Produkte. Insgesamt war der zur Verteilung an die Aktionäre zur Verfügung stehende Gewinn von ­Hoechst U. K. in den 1970er Jahren überschaubar, weshalb das Management nur 1972 die Auszahlung einer Dividende empfohlen hatte. Bereits 1975 und 1980 hatte ­Hoechst U. K. nach Abzug sämtlicher Kosten einen deutlichen Verlust erwirtschaftet. Mit dem Gewinneinbruch in der Farbensparte 1982 fiel nun erstmals auch das Gruppenergebnis vor Steuern negativ aus; infolgedessen standen bei der BJN-Gruppe 1983 erhebliche Umstrukturierungen und Rationalisierungen an.318 Mit der Übernahme von BJN rückte ­Hoechst U. K. überdies stärker ins Licht der britischen Öffentlichkeit. Während die britische ­Hoechst-Tochter mit ihren knapp 600 Beschäftigten bis 1970 noch als einer von vielen Wettbewerbern galt, war H ­ oechst mit dem BJN-Erwerb in eine Liga aufgestiegen, die unter größerer öffentlicher Beobachtung stand. Nicht zuletzt die britische Regierung zeigte fortan Interesse an der Geschäftsentwicklung von ­Hoechst U. K. Umgekehrt registrierte das H ­ oechst-Management aufmerksam, dass die britische Regierung 1970 ein Gutachten über die Rolle multinationaler Unternehmen in Großbritannien erarbeiten ließ, und stellte daher Überlegungen an, in welchem Maß ­Hoechst U. K. Gewinne ausweisen müsse, »um politischen Komplikationen vorzubeugen«.319 Neben dem offiziellen Regelwerk gab es im Umgang mit multinationalen Unternehmen durchaus Spielräume der Behörden. Dass der Expansion Gewinne von BJN um 1970 im Ausland. Vgl. H ­ oechst-Archiv, H0073242, Großbritannien / ­Hoechst U. K., Storch an Reintges (28.09.1970). 318 British Library, H ­ oechst U. K. Ltd. (Hg.): ­Hoechst in the UK . London 1981; ­Hoechst-Archiv, Ordner Großbritannien / Hoe. UK / Gesch.-Berichte (1968–1993); Blüthmann, Heinz: »Der Riese zeigt sein Gesicht«, in: Die Zeit, 30.05.1980. Der Exportanteil von ­Hoechst U. K. lag 1972 bis 1980 bei 4–7 %; die Anzahl der Beschäftigten von H ­ oechst U. K. in Großbritannien schwankte in den 1970er Jahren zwischen 5.000 und 6.700. 319 ­Hoechst-Archiv, H0073246, Großbritannien / ­Hoechst U. K., KDA : Situation der ­Hoechst U. K. Ltd. (18.06.1970). Vgl. zum Versuch seitens der britischen Politik multinationale Unternehmen in den 1970er Jahren zu kontrollieren: The National Archives, Kew (TNA), T 366/165 Multinational Companies – General Policy (1976), FO 973/13 Multinational Companies (1978).

31,5

33,5

28,9

33,0

34,2

36,3

39,8

36,0

36,1

38,6

1973

1974

1975

1976

1977

1978

1979

1980

1981

1982

57,1

59,7

59,7

56,5

60,7

63,1

64,9

69,9

66,1

68,4

69,1

Farben

4,4

4,2

4,3

3,6

3,1

2,7

2,1

1,1

0,5

0,1

0,0

Büro­ ausrüstung

5.659

4.439

4.327

7.109

5.231

4.702

4.135

1.883

3.647

2.465

918

chemische Produkte

5.412

13.456

12.042

13.183

13.139

9.997

9.377

9.339

9.051

8.104

6.049

Farben

89

526

1.305

1.052

101

−185

−715

−2.759

−1.886

−506



Büro­ ausrüstung

11.160

18.421

17.674

21.344

18.471

14.514

12.797

8.463

10.812

10.063

6.967

Summe

Gewinn vor Steuern (ohne Beteiligungen)

−1.753

6.748

4.214

10.542

12.448

9.634

7.239

2.691

6.395

7.210

5.112

Gruppengewinn vor Steuern

−5.581

5.106

−8.476

2.718

4.733

958

3.235

−1.262

1.092

3.525

1.826

verteilbarer Gewinn an Aktionäre

Anmerkung: Bis 1974 wird in den Geschäftsberichten von H ­ oechst U. K. nicht nach Sparten unterschieden; ab 1983 fällt diese Aufteilung in den Geschäftsberichten wieder weg.

Quelle: ­Hoechst-Archiv, Ordner Großbritannien / Hoe. UK , Geschäftsberichte ­Hoechst U. K. (1974–1982)

30,9

chemische Produkte

1972

 

Umsatz (in %)

Tabelle 14: Umsatz (in Prozent) und Gewinn (in 1.000 £) von H ­ oechst U. K. nach Sparten (1972–1982)

256 Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Hoechst

257

auf den Auslandsmärkten gewisse Grenzen gesetzt waren, zeigte sich gleichfalls im Fall von ­Hoechst U. K. Infolge weltweiter Überkapazitäten bei texturierten und gefärbten Garnen erwirtschaftete die erst im Januar 1974 von ­Hoechst U. K. übernommene John Shaw & Sons Ltd. in den Folgejahren so hohe Verluste, dass die Produktion in Stainland 1977 eingestellt und für die rund 350 Beschäftigten ein Sozialplan erstellt wurde. Ebenso wurde das 1975 erworbene britische Pharmaunternehmen Optrex 1983 wieder veräußert. Schlussendlich stand der gesamten BJN-Gruppe in den 1980er Jahren eine ähnliche Entscheidung bevor.320 Westeuropa Neben dem Werk im niederländischen Vlissingen markierten die Übernahmen in Frankreich (Roussel Uclaf)  und Großbritannien (BJN) in den 1960er und 1970er Jahren eindeutig die Investitionsschwerpunkte des ­Hoechst-Konzerns in Westeuropa. Zugleich erweiterte er sein Beteiligungsgeflecht in den übrigen westeuropäischen Ländern und koordinierte jene Auslandsgesellschaften seit den 1970er Jahren über Europa-Konferenzen, die im Rhythmus von eineinhalb Jahren stattfanden und die Leiter aller Bereiche des Stammhauses mit den Leitern der großen Auslandsgesellschaften zusammenbrachten.321 Die Kaufmännische Direktionsabteilung (KDA) wies 1970 nochmals explizit auf die Bedeutung Westeuropas in der Auslandsstrategie des Konzerns hin. »Der europäische Raum im allgemeinen und das EWG -Gebiet im besonderen bilden den Schwerpunkt unserer Interessen. […] Die zunehmende Internationalisierung der Wirtschaft, die Forderungen nach einer wirtschaftlichen Großproduktion, die Notwendigkeit aufwendiger Forderungsvorhaben und die gewisse Unsicherheit im internationalen Währungssystem, bedingen mehr und mehr das verstärkte Engagement von Unternehmen im Ausland. Besonders notwendig wird dieses Postulat jedoch im Raum der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, wo es unseres Erachtens unbedingt notwendig wird, die nationalen Grenzen zu vergessen.«322 Dabei war der Ausbau des ­Hoechst-Europa-Geschäfts nicht zuletzt gegen die »amerikanische Herausforderung«323 und das Vordringen von US -Unternehmen nach Westeuropa gerichtet, wie Kurt Lanz schon 1965 in einem Referat vor dem ­Hoechst-Aufsichtsrat verdeutlichte: »Ist es sinnreich, in Westeuropa noch Auslandsfabrikationen zu errichten, wenn man davon ausgehen darf, dass dieses 320 Geschäftsbericht ­Hoechst 1976, S. 48; ­Hoechst-Archiv, Ordner Großbritannien / Hoe. UK , Geschäftsberichte H ­ oechst U. K. 1974, S. 6; ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 138/Geschichte verschiedener ­Hoechst Gesellschaften Ausland, ­Hoechst U. K. Ltd. (01.01.1989). 321 Lanz, Weltreisender, S. 147. 322 ­Hoechst-Archiv, H0073209, ­Hoechst France, KDA : Das Engagement von ­Hoechst in Frankreich (10.04.1970). 323 Servan-Schreiber, Défi Américain.

258

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Westeuropa – trotz de Gaulle – in absehbarer Zukunft ein einheitlicher Wirtschaftsraum ohne Binnenzölle sein wird? Wir glauben, dass man diese Frage bejahen sollte. […] Vor allem bieten […] industrielle Vorhaben im europäischen Ausland die Möglichkeit, dem immer stärker werdenden Vordringen der Amerikaner Unternehmen entgegenzustellen, die an Grösse und Wirtschaftlichkeit durch Verbindung mit anderen Chemie-Firmen günstige Voraussetzungen bieten und damit […] mit den oft recht hemdsärmeligen Praktiken unserer amerikanischen Freunde fertig werden können.«324 In Italien ging die Tochtergesellschaft ­Hoechst Italia S.p.A. Anfang der 1970er Jahre auf Einkaufstour und beteiligte sich 1971 mit 70 Prozent an der Novacrome S.p.A. in Lomagna zur Herstellung von Pigmentpräparaten für Kunststoffe, während ihre Tochtergesellschaft, die Albert Farma S.p.A., in Scoppito bei L’Aquila in den Abruzzen Produktionsanlagen für eine eigene Arzneimittelfertigung erwarb – nicht zuletzt staatliche Hilfen für das Mezzogiorno wirkten hier investitionsfördernd. Im Jahr 1973 folgten die Übernahme einer 67-Prozent-Beteiligung an der Lackgesellschaft Vernici Lalac S.p.A. sowie Mehrheitsbeteiligungen an der Approvvigionamenti Industriali Chimici S.p.A. (AIC) in Turin zur Herstellung von Textilhilfsmitteln und an dem Mehrmetall-Druckplatten-Hersteller Industria Materiali Grafici S.p.A. (IMG) in Verona, sowie 1975 schließlich der Erwerb der restlichen 40 Prozent an AIC .325 Besonders die großen Differenzen zwischen den italienischen und bundesdeutschen Inflationsraten während der 1970er Jahre ließen einen Ausbau der Landesproduktion sinnvoll erscheinen. Während 1974 trotz nachlassender Nachfrage, steigender Personalkosten und hoher Kreditzinsen noch eine Dividende ausgeschüttet werden konnte, geriet ­Hoechst Italia 1975 in die Verlustzone. Etwa drei Viertel des Umsatzes erwirtschaftete ­Hoechst Italia zu dieser Zeit im Industriebereich (Chemikalien, Farben, Fasern, Kunststoffe, Messer Griesheim), nur ein Viertel mit Pharma-, Kosmetik- und landwirtschaftlichen Produkten. Und das Industriegeschäft wurde von der Rezession mit voller Breitseite getroffen. Die Einbußen im Industriesektor betrafen sowohl das Importgeschäft wie auch die Eigenproduktion, bei der sich der Rückgang nur nicht in den Geschäftszahlen zeigte, weil die Tochter Albert Farma die Landesproduktion erheblich ausbaute. Der Pharmasektor blieb vom Konjunktureinbruch hingegen weitgehend verschont. Erstmals in der Geschichte der italienischen Tochtergesellschaft mussten ­Hoechst Italia

324 ­Hoechst-Archiv, Ordner »Jubiläumsbände und Festschriften«, Hoe 172, Referat Dir. Kurt Lanz, Stand und Entwicklung des H ­ oechster Auslands-Geschäfts (Aufsichtsratssitzung, 28.09.1965). 325 Geschäftsbericht ­Hoechst 1971, S. 60; Geschäftsbericht ­Hoechst 1972, S. 54–55; Geschäftsbericht H ­ oechst 1973, S. 55; Geschäftsbericht ­Hoechst 1975, S. 56; ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 138/Geschichte verschiedener ­Hoechst Gesellschaften Ausland, ­Hoechst Italia S.p.A. (01.01.1991); Lanz, Weltreisender, S. 144–148; Wortmann, Komplex, S. 107.

259

Hoechst

S.p.A. als auch die ­Hoechst Italia Gruppe einen Verlust ausweisen. Hier wurde deutlich, dass der Ausbau des Auslandsgeschäfts im Fall einer länderübergreifenden ökonomischen Krise wie Mitte der 1970er Jahre wenig vor konjunkturellen Schwankungen schützte, vielmehr wurde die Konzernleitung nun an allen Ecken und Enden des Konzerns mit Preis-, Absatz- und Finanzproblemen konfrontiert. Bemerkenswert ist vor allem, dass 1975 inzwischen 21 Prozent des Umsatzes der ­Hoechst Italia auf die Landesproduktion entfielen, wohingegen 1970 noch 99,2 Prozent des Italien-Geschäfts aus Importen bestanden. Die italienische Tochtergesellschaft war damit aus ihrer ehemaligen Funktion als Vertriebsgesellschaft herausgewachsen. Im Jahr 1978 lag der Anteil der Landesproduktion bei rund 25 Prozent, bis 1981 stieg er auf über 30 Prozent, wobei er im Pharmabereich aufgrund von Erweiterungen auf 70 Prozent kletterte. Dabei blieb der Anteil der in der Produktion Beschäftigten in der Summe seit 1974 mit etwa 26 Prozent recht stabil.326 Tabelle 15: Beschäftigte von ­Hoechst Italia nach Funktion (1974/79) Pharma*

Industrie**

Summe (absolut)

Summe in %

 

1974

1979

1974

1979

1974

1979

1974

1979

Verkauf

606

647

519

774

1.125

1.421

45

50

99

319

559

427

658

746

26

26

Zwischensumme

705

966

1.078

1.201

1.783

2.167

71

76

Verwaltung und Lager

 

 

 

 

713

690

29

24

gesamt

 

 

 

 

2.496

2.857

100

100

Produktion

­ oechst Quelle: ­Hoechst-Archiv, Ordner Italien / Hoe. Italia S.p.A. / Jahresbericht der Gruppe H Italia (1974/1979); (*) inklusive Landwirtschaft und Marbert, (**) Chemikalien, Farben, Fasern, Kunststoffe, Messer Griesheim.

326 Geschäftsbericht ­Hoechst 1974, S. 59; Geschäftsbericht H ­ oechst 1979, S. 46; Geschäftsbericht ­Hoechst 1981, S. 47; ­Hoechst-Archiv, Ordner Italien / Hoe. Italia S.p.A. / Jahresberichte der Gruppe H ­ oechst Italia (1974/75); ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 100/ Italien, »­Hoechster Erfahrungen in Italien«, in: Börsen-Zeitung, 13.10.1981. Ca. 15 % der ­Hoechst-Landesproduktion entfielen 1974 auf die Eigenproduktion von ­Hoechst Italia S.p.A.; die übrigen 85 % wurden durch Beteiligungsgesellschaft wie AIC , Albert-Farma oder Novacrome erwirtschaftet.

260

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Tabelle 16: Landesproduktion von ­Hoechst Italia in Mio. Lire (1973–1979) LandesExport Umsatz der Anteil Produktion Eigen­ Landesproproduktion der Beteili- produktion aus LandesH ­ oechst gesamt produktion duktion am der ­Hoechst gungsgesellItalia Umsatz in % schaften Gruppe Italia S.p.A. 1973

2.794

14.747

17.542

3.179

113.971

15,4

1974

3.928

21.490

25.418

4.177

132.610

19,2

1975

k. A. 

k. A.

24.044

3.105

112.929

21,3

1976

5.441

28.133

33.574

4.919

142.044

23,6

1977

4.891

29.346

34.237

4.774

136.507

25,1

1978

3.714

32.886

36.600

5.681

145.822

25,1

1979

3.475

37.122

40.597

5.990

171.183

23,7

Quelle: ­Hoechst-Archiv, Ordner Italien / Hoe. Italia S.p.A. / Jahresberichte der Gruppe ­Hoechst Italia (1974–1979). Anmerkung: Werte in der Tabelle deflationiert (Basisjahr 1973), da Italien in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre Inflationsraten zwischen 11 und 24 Prozent hatte und die absoluten Werte den Mengenzuwachs der italienischen Tochtergesellschaften in keiner Weise widerspiegeln. In absoluten Zahlen betrug der Umsatz der ­Hoechst Italia Gruppe 1979 432 Mrd. Lire; eigene Berechnungen.

Der Ausbau der Auslandsproduktion geschah nicht immer so spektakulär wie in Frankreich oder Großbritannien, dennoch kristallisierte sich auch in Italien zu Beginn der 1970er Jahre ein langjähriges Expansionsmuster heraus, das in vielen anderen Ländern zu finden war, auch wenn Importrestriktionen oder die Beteiligung lokaler Investoren im Detail für andere Entwicklungsverläufe sorgten. Obschon die italienische Wirtschaft 1976/77 einen leichten Aufschwung erfuhr, entstanden bei ­Hoechst Italia infolge inflationsbedingter Kostensteigerungen bei staatlich reglementierten Arzneimittelpreisen in beiden Jahren Verluste; nur aufgrund des Gewinns der Beteiligungsgesellschaften konnte die ­Hoechst Italia Gruppe mit einem leicht positiven Ergebnis abschließen. Gleichwohl erwarb ­Hoechst Italia 1977 die restlichen Anteile an Novacrome und Industria Materiali Grafici; überdies investierte die 1974 neu gegründete Untergesellschaft ­Hoechst Italia Sud S.p.A. auf dem Gelände der Albert-Farma in Scoppito 1977 über 30 Mio. DM in neue Fertigungs- und Verpackungsanlagen für Arzneimittel. Der am nördlichen Rand des Mezzogiorno gelegene Produktionsstandort zeichnete sich nicht nur durch seine zentrale Lage in Italien und ein hinreichendes Arbeitskräfteangebot, sondern vor allem durch staatliche Hilfen in Form von Zuschüssen, Steuervorteilen, Erleichterungen bei den Sozialbeiträgen und zinsverbilligten Krediten aus. Ein Drittel der Investitionssumme entfiel auf zinsverbilligte Kredite, ein Drittel auf »verlorene Zuschüsse« (d. h. nicht

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zurückzahlende Kredite) der Cassa per il Mezzogiorno und nur ein Drittel auf Eigenmittel von ­Hoechst. Unter Berücksichtigung der zahlreichen italienischen Untergesellschaften stieg die Zahl der Beschäftigten der ­Hoechst Italia daher 1977 auf etwa 2.700 – im Vergleich hierzu lag diese Zahl 1970 noch unter 1.200. Als im Februar 1978 durch eine Preisrevision wieder Preiserhöhungen bei Arzneimitteln möglich wurden, führte dies in Verbindung mit Einsparungen und dem Ausbau der Landesproduktion in Scoppito dazu, dass auch ­Hoechst Italia 1978 nach drei Jahren wieder die Verlustzone verließ.327 Auch in anderen südeuropäischen Regionen investierte ­Hoechst. Auf der iberischen Halbinsel expandierte der westdeutsche Konzern noch lange vor dem Beitritt der beiden Länder zur EWG und erwarb 1966 in Portugal u. a. eine 50-Prozent-Beteiligung an Resinas Químicas Lda. (Resiquímica), an der ferner die portugiesische Unternehmensgruppe Sociedade Central de Resinas (Socer) (25 %) und das US -Unternehmen Hercules (25 %) beteiligt waren und deren Kunstharzproduktion anschließend um Anlagen zur Herstellung von Polyvinylacetat-Dispersionen ergänzt wurde.328 Neben dem Vertrieb von ­Hoechst- und Resiquímica-Produkten fertigte die 1965 gegründete, portugiesische Tochtergesellschaft ­Hoechst Portuguesa S.a.r.l. Anfang der 1970er Jahre Arzneimittel, Perlondraht und verschiedene Textilhilfsmittel und hatte damit ebenfalls den Schritt von einer reinen Vertriebs- zur einer gemischten Vertriebs- und Produktionsgesellschaft vollzogen. Aufgrund weiterer Akquisitionen stieg ihre Beschäftigtenzahl zwischen 1970 und 1972 von 264 auf 622 (1980: 662; 1990: 887). Mit dem politischen Machtwechsel 1974 erhöhte sich für die H ­ oechst-Tochtergesellschaft kurzzeitig die Unsicherheit hinsichtlich der Marktentwicklung. Im Zusammenspiel mit weltweit rückläufigen Konjunkturdaten und einem Preisstopp in Portugal ging ihr Umsatz 1975 um 26 Prozent

327 Geschäftsbericht ­Hoechst 1970, S. 58; Geschäftsbericht ­Hoechst 1976, S. 48; Geschäftsbericht H ­ oechst 1976, S. 42; ­Hoechst-Archiv, Ordner Italien / Hoe. Italia S.p.A. / Jahresberichte der Gruppe H ­ oechst Italia (1977/1978); ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 138/ Geschichte verschiedener H ­ oechst Gesellschaften Ausland, H ­ oechst Italia S.p.A. (01.01.1991), H ­ oechst Italia Sud S.p.A. (01.01.1990), Novacrome S.p.A. (01.01.1990); ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 100/Italien, »­Hoechster Erfahrungen in Italien«, in: BörsenZeitung, 13.10.1981, »Neue H ­ oechst-Investitionen im Mezzogiorno«, in: VWD Chemie, 14.09.1977, »­HoechstItalia investiert 32 Mill. DM im Pharmabereich«, in: Börsen-Zeitung, 15.09.1977. Insgesamt stieg die Anzahl der Beschäftigten von ­Hoechst Italia in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre von ca. 2.500 auf 3.000 Personen, wobei etwa die Hälfte (ca. 1.200–1.500 Personen) bei H ­ oechst Italia selbst und die andere Hälfte bei anderen Untergesellschaften beschäftigt war. Vgl. ­Hoechst-Archiv, Ordner Italien / Hoe. Italia S.p.A. / Jahresbericht der Gruppe ­Hoechst Italia (1979). 328 Geschäftsbericht ­Hoechst 1966, S. 41; ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 139/Geschichte verschiedener H ­ oechst Gesellschaften Ausland / ­Hoechst Portuguesa S. A.R. L. (1991). Im Jahr 1970 gab Hercules seine Beteiligung anteilig an die beiden Partner ab, so dass sich der H ­ oechst-Anteil auf 66,6 % erhöhte; diese Beteiligung blieb bis in die 1990er Jahre bestehen.

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zurück, so dass das Tochterunternehmen in die Verlustzone rutschte.329 Bereits im Folgejahr erreichte sie jedoch wieder ein ausgeglichenes Ergebnis.330 Im Nachbarland Spanien wurden zwischen 1966 und 1968 bei der ­Hoechst Ibérica S. A. die Anlagen zur Fertigung von Arzneimitteln und Lichtpausenpapier erweitert; zudem gingen bei der Industrias Quimicas Asociadas S. A. (IQA), an der ­Hoechst mit 25 Prozent beteiligt war, zu dieser Zeit die ersten petro­ chemischen Werke in Tarragona in Betrieb. Den Kern des Tarragona-Projektes bildete eine Crackanlage zur Herstellung von Ethylen und Propylen. Neben ­Hoechst und zwei spanischen Firmen war auch ein niederländisches Unternehmen an IQA beteiligt, insofern handelte es sich bei den petrochemischen Anlagen in Tarragona um ein weiteres großes europäisches Joint Venture, das weitere Investitionen anderer Chemieunternehmen an den Standort Tarragona anlockte.331 Mit Ausnahme der Antibiotika-Herstellung waren die in Spanien tätigen Arzneimittelfirmen in den 1970er Jahren vornehmlich Formulier- und Verpackungsbetriebe, deren Produktion auf Lizenzen ausländischer Pharmaunternehmen beruhte – so auch im Fall von ­Hoechst. Umgekehrt machten die spanischen Behörden für die Zulassung von Medikamenten immer stärker inländische Forschungen und die inländische Herstellung von Grundstoffen zur Bedingung, infolgedessen transferierte auch das H ­ oechst-Management stückweise die Herstellung wichtiger Grundstoffe nach Spanien.332 Die anhaltend gute Konjunktur bescherte der ­Hoechst Ibérica S. A. Anfang der 1970er Jahre hohe Umsatzzuwächse. Selbst 1974 konnte trotz nachlassender Nachfrage in der zweiten Jahreshälfte noch eine Dividende ausgeschüttet werden. Doch 1975 kühlte sich auch die spanische Konjunktur sichtbar ab, so dass der Gewinn zusammenschrumpfte, und in den beiden darauffolgenden Jahren erwirtschaftete ­Hoechst Ibérica infolge veränderter Währungsparitäten, staatlicher Preiskontrollen und hoher Kostensteigerungen sogar Verluste. Dennoch expandierte H ­ oechst in Spanien weiter. Mitte der 1970er Jahre wurden auf dem Werksgelände in Tarragona die Anlagen zur Herstellung von Mowilith erweitert, es wurden neue Anlagen für Tenside und Hilfsmittel errichtet, und beim Gemeinschaftsunternehmen Tarragona Quimica S. A. (TAQSA) (­Hoechst Ibérica S. A. 45 %, Unión Explosivos 329 Geschäftsbericht ­Hoechst 1974, S. 60; Geschäftsbericht ­Hoechst 1975, S. 57; H ­ oechstArchiv, Hoe. Ausl. 139/Geschichte verschiedener ­Hoechst Gesellschaften Ausland / ​ ­Hoechst Portuguesa S. A.R. L. (1991); Lanz, Weltreisender, S. 169–170. 330 Geschäftsbericht ­Hoechst 1976, S. 49. 331 Geschäftsbericht ­Hoechst 1966, S. 41; Geschäftsbericht ­Hoechst 1968, S. 29; ­HoechstArchiv, Hoe. Ausl. 120, »Der Petrochemiekomplex in Tarragona, europäisches »joint venture« von Format«, in: Chemische Industrie XVII , 19.01.1965, S. 5–8. An der IQA waren die beiden spanischen Firmen Union Española de Explosivos S. A. (UEE) und Compania Española de Petroleos S. A. (CEPSA), die westdeutsche Farbwerke ­Hoechst AG sowie die zur niederländisch-britischen Shell-Gruppe zugehörige Bataafse Petroleum Maatschappij N. V. zu je 25 % beteiligt. 332 Lanz, Weltreisender, S. 159–160.

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Rio Tinto S. A. 55 %) wurden bis 1977 Fertigungsstätten für Polyolefine und Vinylacetat aufgebaut.333 Einen gewissen Abschluss fand jener Ausbau 1982, als ­Hoechst die übrigen TAQSA-Anteile übernahm und sich damit ein weiteres ausländisches Joint Venture vollständig einverleibte. Der TAQSA kam fortan eine strategische Rolle im internationalen Kunststoffgeschäft zu.334 Mit der portugiesischen Nelkenrevolution 1974 und dem Übergang Spaniens zu einer parlamentarischen Monarchie kam unmittelbar die Frage des EG -Beitritts der beiden Länder auf. Für Kurt Lanz war schon in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre klar, dass beide Länder langfristig Teil der EWG werden würden, und genau jene Erwartungshaltung bildete bei ­Hoechst ab Mitte der Dekade die Grundlage für den Ausbau des dortigen Auslandsgeschäfts.335 »Expansion on the US market« Das ­Hoechst-Management nutzte, wie schon im Fall der Joint Ventures Stauffer ­Hoechst Polymer Corporation in den USA (1964) oder der Polymeerfabrieken Breda N. V. in den Niederlanden (1966), Formen der Unternehmenskooperation, um weiter auf den US -Markt vorzustoßen.336 ­Hoechst wollte insbesondere auf den US -Chemiefasermarkt vordringen und hatte hierzu in der ersten Hälfte der 1960er Jahre kleinere Mengen Trevira in die USA exportiert, doch war die Unternehmensführung der Überzeugung, nur über eine eigene US -Produktion größere Marktanteile gewinnen zu können. Nachdem die Lizenzvereinbarung mit ICI, keine Polyesterfasern in den USA zu produzieren, 1966 abgelaufen war, gründeten ­Hoechst und das US -Unternehmen Hercules Inc. in Wilmington daher das 50:50 Joint Venture Hystron Fibers Inc., welches in Spartanburg (South Carolina) die Herstellung von Polyesterfasern aufnahm. Diese wurden fortan unter dem deutschen Markennamen Trevira vertrieben. Während H ­ oechst hier seine Kenntnisse in der Chemiefaserproduktion einbrachte, lieferte eine nahe gelegene Anlage der Hercules Inc. den Faserrohstoff Dimethylterephthalat (DMT). Die Anlage in Spartanburg umfasste 1968 nach einem Kapazitätsausbau 24.000 Jahrestonnen Trevira-Fasern; gleichzeitig wurde das Produktions333 Geschäftsbericht ­Hoechst 1973, S. 55; Geschäftsbericht ­Hoechst 1974, S. 60; Geschäftsbericht H ­ oechst 1976, S. 49; Geschäftsbericht H ­ oechst 1977, S. 43; Lanz, Weltreisender, S. 159. Die Beschäftigtenzahl der H ­ oechst Ibérica blieb mit ca. 1.200 Personen in den 1970er Jahren recht konstant. 334 Geschäftsbericht ­Hoechst 1981, S. 49; Geschäftsbericht ­Hoechst 1982, S. 48; ­HoechstArchiv, Hoe. Ausl. 115/Spanien, »­Hoechst festigt Spanien-Position«, in: Europa Chemie 14.03.1986. 335 Bernecker, Geschichte Spaniens, S. 292–296; Judt, Geschichte Europas, S. 580–609; Lanz, Weltreisender, S. 166–167. 336 ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 139/Geschichte verschiedener H ­ oechst Gesellschaften Ausland / L änderblätter USA (1975); Vlaanderen, ­Hoechst, S. 68–75.

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programm auf Trevira-Fäden mit einer Kapazität von 2.500 Jahrestonnen ausgedehnt. Insgesamt waren hierfür bis Ende 1968 Investitionen in Höhe von 50 Millionen US -Dollar notwendig.337 Dabei war der Ausbau des Fasergeschäfts in den USA keineswegs unumstritten. Während der Chef der Fasersparte Robert Zoller bei einem Gespräch mit dem H ­ oechst-Vorstand 1963 eine zurückhaltende Position einnahm, präsentierte der neue Leiter des Faserverkaufs Willi Hoerkens einen steilen Nachfrageanstieg und überzeugte damit sowohl den für das Auslandsgeschäft zuständigen Kurt Lanz als auch den Vorstandsvorsitzenden Karl Winnacker. Letzterer rechtfertigte die Großinvestition in den USA 1966 insbesondere mit dem verstärkten Engagement von US -Unternehmen in Westeuropa: »Es darf zum Schluß ja nicht so sein, daß die Amerikaner in Europa investieren und wir nur in Indien und Afrika.«338 Die Zusammenarbeit mit Hercules fußte auf einem früheren Erfahrungsaustausch beider Unternehmen auf dem Kunststoffgebiet, wodurch persönliche Beziehungen auf der Ebene des Leitungspersonals entstanden waren. Wie bei vielen anderen Joint Ventures übernahm der ­Hoechst-Konzern im Frühjahr 1970 von Hercules Inc. die restlichen 50 Prozent des Kapitals der Hystron Fibers Inc., um seine Position auf dem US -Chemiefasermarkt zu stärken, aber auch weil Hystron noch im dritten Jahr rote Zahlen schrieb und Hercules sich wieder auf die Herstellung von Vorprodukten zurückziehen wollte. Gleichzeitig verkaufte Hercules die nahe gelegene Produktionsanlage für Dimethylterephthalat (DMT) an Hystron, so dass die Rohstoffbasis der Auslandstochter gesichert war. Ein Jahr später änderte der neue Alleineigentümer den Namen in ­Hoechst Fibers Inc. und integrierte das Werk 1975 unter dem Namen H ­ oechst Fibers Industries als Division in die American ­Hoechst Corporation (AHC). Die Gründung eines Joint Ventures und spätere Übernahme der restlichen Aktienanteile wurden somit erneut als strategisches Mittel zur Marktexpansion genutzt.339 Die niedrige Kapazitätsauslastung, welche zum Rückzug von Hercules geführt hatte, fand in den folgenden Jahren durch die Ausweitung des Verwendungsbereichs der Polyesterfaser auf die Teppichbranche sein Ende. Während Trevira als Teppichfaser in Europa aufgrund anderer Konsumgewohnheiten wenig Nachfrage fand, ging die Konzeption in den USA auf und zeigte, dass Marktkenntnisse aus der Bundesrepublik nicht einfach in die USA transferiert werden konnten. Hier waren eigenständige Entwicklungen der Auslandsabtei-

337 Geschäftsbericht ­Hoechst 1966, S. 41; Vlaanderen, H ­ oechst, S. 76–83. Der Name Hystron war eine Synthese aus den Adjektiven »highest« und »strong«, die mit den Namen ­Hoechst bzw. höchst und Hercules verbunden wurden. Vgl. Klein, Operation, S. 74. 338 Klein, Operation, S. 54–72 [Zitat S. 71]. 339 Bäumler, Farben, S. 381–386; Geschäftsbericht ­Hoechst 1969, S. 25, 37–38; Geschäftsbericht H ­ oechst 1974, S. 61; »Hystron Changes Name«, in: Special to the New York Times, 30.10.1971; ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 139/Geschichte verschiedener ­Hoechst Gesellschaften Ausland / L änderblätter USA (1975); Klein, Operation, S. 74–86; Lanz, Weltreisender, S. 421–425; Schreier / Wex, ­Hoechst, S. 291; Vlaanderen, H ­ oechst, S. 84–85.

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lungen vonnöten.340 ­Hoechst Fibers avancierte in den 1970er Jahren zum viertgrößten Polyesterhersteller der USA und erwirtschaftete in der ersten Hälfte der Dekade schließlich auch Gewinne, doch ging die Nachfrage nach Chemiefasern 1975 auch in den USA erheblich zurück. In den folgenden Jahren entwickelte sich die Nachfrage je nach Faserart höchst unterschiedlich. Während die neuen Betriebsanlagen für Trevira-Stapelfasern 1976 bereits wieder gut ausgelastet waren, ging die Nachfrage nach textilen Trevira-Filamentgarnen weiter zurück, so dass ­Hoechst Fibers Industries das Gesamtergebnis der AHC durch einen Verlust von 34 Mio. US -Dollar beträchtlich schmälerte. Daraufhin entschloss sich das ­Hoechst-Management, auch in den USA die Trevira-Produktion umzustrukturieren und 1977 mit der Texturierung von Filamentgarnen den größten Verlustbringer aufzugeben.341 Noch vor der Integration von ­Hoechst Fibers in die ­Hoechst-Landesgesellschaft expandierte auch AHC weiter. Zur Finanzierung der zahlreichen Investitionen musste ihr Kapital 1968 auf 21,5 Millionen US -Dollar angehoben werden. AHC errichtete Ende der 1960er Jahre auf dem Farbensektor eine Anlage zur Herstellung von Azopigmenten, erwarb auf dem Pharmagebiet die Certified Blood Donor Service Inc. in Woodbury (Long Island) und errichtete in Bridgewater (New Jersey) für 20 Millionen US -Dollar eine neue Zentrale mit Laboratorien sowie Verwaltungs- und Vertriebsabteilungen, an die in den folgenden Jahren alle US -Pharmaaktivitäten verlegt wurden.342 Im Jahr 1970 bezog die unter Leitung von John G. Brookhuis (1970–1982) stehende AHC ihren neuen Firmensitz in Bridgewater und demonstrierte damit ihren Anspruch auf dem US -Markt. Bereits 1965 war die AHC unter Hans Bernhard Kramer (1963–1970) in eine Produktionsgesellschaft umgewandelt worden. Der AHC-Umsatz, der 1969 noch bei 90 Mio. US -Dollar lag, stieg zwischen 1974 und 1980 um mehr als das Dreifache an und durchbrach 1979 die Milliarden-Dollar-Grenze, wovon wiederum 6,4 Prozent exportiert wurden. Auch inflationsbereinigt zeigte sich hier in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ein deutlicher Umsatzzuwachs.343 Dies lag nicht zuletzt an weiteren Akquisitionen. Ende 1974 erwarb AHC 95 Prozent des Aktienkapitals des US -Unternehmens Foster Grant Co. Inc. in 340 Klein, Operation, S. 77–82. 341 Geschäftsbericht ­Hoechst 1976, S. 49; Geschäftsbericht H ­ oechst 1977, S. 43; ­HoechstArchiv, Ordner USA / A HC / Geschäftsbericht AHC 1977; Lanz, Weltreisender, S. 425–426; Vlaanderen, ­Hoechst, S. 78, 86–87. 342 Geschäftsbericht ­Hoechst 1968, S. 29–30; Lanz, Weltreisender, S. 434–435. 343 ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. / A merika / Ordner 1, Neues Hauptquartier der American ­Hoechst Corporation eingeweiht (13.10.1970); »John G.  Brookhuis. A Chemical Executive«, in: The New York Times, 09.01.1991; »Große Bringer«, in: Der Spiegel 23/1976, 31.05.1976, S. 67–68; Vlaanderen, ­Hoechst, S. 88–93. Brookhuis leitete zuvor das ­HoechstGeschäft in den Niederlanden und hatte sich vor der Errichtung des Werks in Vlissingen insbesondere für eine größere Auslandsproduktion von ­Hoechst in den Niederlanden ausgesprochen. Vgl. Hoe. Ausl. 57 I / ­Hoechst G-Beteiligungen im Ausland / L änder A–Z/2. Nordamerika, John G. K. Brookhuis (23.08.1982); Lanz, Weltreisender, S. 176.

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Abbildung 8: Umsatz der AHC (1974–1986) Quelle: Hoechst-Archiv, Ordner USA / A HC / Gesch.-Berichte (1971–1986); Werte inflationsbereinigt, Basisjahr 1974; eigene Berechnungen. Tatsächlich lag der AHC -Umsatz 1981 bei 1.609 und 1986 bei 1.710 Mio. US -Dollar.

Leominster (Massachusetts), mit dem ­Hoechst bereits im Fall der niederländischen Kunststofffabrik in Breda kooperiert hatte. Foster Grant galt in den USA als bedeutender Hersteller von Styrol und Polystyrol, über den ­Hoechst auf den US -Kunststoffmarkt vordringen wollte, und verfügte zugleich über ein umfangreiches Sonnenbrillensortiment. Vor allem Kurt Lanz, Dieter zur Loye und die Kaufmännische Direktionsabteilung (KDA) rieten in Verbindung mit dem Geschäftsbereich H (Kunststoffe und Wachse)  dazu, in den USA auf den für ­Hoechst bisher nicht bearbeiteten Polystyrol-Markt vorzudringen, wohingegen die Technische Direktionsabteilung (TDA) einem Erwerb skeptisch gegenüberstand und diesen 1972 erfolgreich verhinderte. Bereits 1969 war Firmenchef Joe Foster an ­Hoechst wegen einer Beteiligung herangetreten, doch hatte ­Hoechst angesichts der teuren Übernahme von Berger, Jenson und Nicholson zu diesem Zeitpunkt auf das Angebot verzichtet.344 Als Joe Foster 1971 verstarb, ging sein Aktienpaket an die Fruchthandelsgesellschaft United Brands Company; weitere 25 bis 30 Prozent befanden sich bei den Familien Abraham und Jacob Goodman. Wie schon im Fall Roussel Uclaf spielte der Tod des Firmenchefs und auch eine Portion Zufall für die Übernahme 344 Geschäftsbericht ­Hoechst 1974, S. 28, 61; Geschäftsbericht ­Hoechst 1975, S. 58; Klein, Operation, S. 87–100.

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eine entscheidende Rolle, denn United Brands benötigte 1974 aufgrund von Hurrikanschäden auf einer ihrer Bananenplantagen erhebliche Finanzmittel und war daher an einer Abgabe der Foster Grant-Beteiligung interessiert. Nachdem auch die Familie Goodman das Angebot akzeptiert hatte, war die unter dem Decknamen »Horst« laufende Akquisition im Umfang von ca. 100  Mio. US Dollar – der bis dahin größten ausländischen Einzelinvestition von ­Hoechst – perfekt. Auf die verbliebenen fünf Prozent des Kapitals gab H ­ oechst Anfang 1975 ein Übernahmeangebot ab, über welches bis Ende des Jahres sämtliche Anteile an Foster Grant erworben werden konnten.345 Grundsätzlich blieb die Unternehmensorganisation von Foster Grant auch nach der Übernahme unangetastet; ebenso konnte das bewährte US -Management weitgehend in seiner alten Besetzung weiterarbeiten. Damit unterschied sich Foster Grant deutlich von der Muttergesellschaft AHC , deren Leitungspersonal bis in die 1970er Jahre primär von Deutschen geprägt war, auch weil US -amerikanische Führungskräfte in der Auslandstochter eines westdeutschen Konzerns kaum Karrieremöglichkeiten sahen.346 Im Rahmen einer Reorganisation von Foster Grant 1978 wurden die Kunststoff- und Petrochemie-Bereiche als eigene Divisionen in die AHC integriert, so dass Foster Grant letztlich nur noch aus dem Sonnenbrillengeschäft bestand, das wegen des bekannten Markennamens erhalten werden sollte. Die Verantwortung für der beiden AHC-Divisionen übernahm der bisherige Managing Director von Foster Grant und AHC-Vizepräsident David Markowitz. Mit der Einbindung von US -amerikanischem Führungspersonal in die AHC deutete sich Ende der 1970er Jahre ein Unternehmenswandel an, in deren Folge sich AHC immer stärker den Anforderungen und Praktiken auf dem US -Markt anpasste.347 Noch bemerkenswerter ist der Erwerb von Foster Grant aber aus einem anderen Grund. Seit Beginn der Übernahme sah der westdeutsche H ­ oechst-Vorstand 345 Bucheli, Bananas, S. 71; Klein, Operation, S. 100–108; Vlaanderen, H ­ oechst, S. 138–139. Laut der AHC -Firmenchronik übernahm United Brands mit dem Tod von Joe Foster 1971 dessen 35 %-Aktienpaket an Foster Grant; ca. 30 % wurden von der Familie Goodman gehalten und 35 % befanden sich in Streubesitz. Klein zufolge befanden sich 1974 70 % der Foster Grant-Aktien bei United Brands, 25 % bei der Vermögensverwaltung der Familie Goodman und weitere 5 % in Streubesitz. Vgl. Klein, Operation, S. 101; Vlaanderen, ­Hoechst, S. 139. Aus Sicht des ­Hoechst-Vorstands sollte der Kauf nicht die Grenze von 100 Mio. US -$ durchbrechen, weshalb es vor Vertragsschluss zur Ausschüttung einer Dividende in Höhe von acht Mio. US -$ kam. Vgl. Klein, Operation, S. 104–106. Mit der Übernahme von Foster Grant trat ­Hoechst gleichzeitig in das brasilianische Projekt Estireno do Nordeste in Bahia ein, wo eine Styrol- und eine Polystyrol-Anlage errichtet wurde. Die Styrol-Fabrik wurde später von Dow Chemical übernommen. Vgl. Klein, Operation, S. 126; Lanz, Weltreisender, S. 474; Vlaanderen, H ­ oechst, S. 148. 346 Klein, Operation, S. 111–112. 347 Ebd., S. 101; Vlaanderen, ­Hoechst, S. 151, 167; »Obituary David Markowitz«, in: The New York Times, 13.11.2009. Ende 1979 wurde die Foster Grant Corporation von der AHC an die ­Hoechst AG übertragen, um sie anschließend an Roussel Uclaf weiterzuverkaufen. Vgl. ­Hoechst-Archiv, Ordner USA / A HC / Geschäftsbericht AHC 1980, S. 2.

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das lohnintensive Sonnenbrillengeschäft von Foster Grant als Fremdkörper an, das baldmöglichst wieder abgestoßen werden sollte, weshalb ­Hoechst dort keine größeren Investitionen tätigte. Foster Grant ist daher ein gutes Beispiel für die Zerschlagung eines Unternehmens und den anschließenden Weiterverkauf von Unternehmensteilen, wie sie in den 1980er und 1990er Jahren noch zunehmen sollten. Nicht zuletzt Auflagen der Kartellbehörden konnten dazu führen, dass schon mit der Übernahme der Verkauf von Unternehmensteilen zugesichert werden musste. Im Fall von Foster Grant blieb die Beteiligung vorerst noch im Kreis der »­Hoechst-Familie«, denn Roussel Uclaf, das 1979 über den Erwerb der französischen Firma Solar auf den Markt für Sonnenbrillen vorgedrungen war, übernahm 1980 den US -Sonnenbrillenhersteller und versuchte danach einen Schwerpunkt bei Verbraucherprodukten aufzubauen. Zudem wurden weitere Foster Grant Standorte und Arbeitsgebiete in Leominster, Sandusky, Manchester und Baton Rouge (1982) geschlossen oder verkauft.348 Im Jahr 1977 übernahm AHC ferner die US -Firma Calbiochem in La Jolla (Kalifornien) für 21,4 Mio. US -Dollar, die auf dem Gebiet der Immundiagnostika tätig war, die EOCOM Corporation in Irvine (Kalifornien) für 1,2  Mio. US -Dollar, die im Bereich der Reproduktionstechnik Druckverfahren entwickelte, und die Hart-PVC-Folienproduktion von Union Carbide Corporation in Ottawa (Illinois) für 12 Mio. US -Dollar. Neben jenen Beteiligungen investierte die AHC seit 1977 besonders in den Bau einer Großanlage zur Herstellung von Styrol und Niederdruckpolyethylen (Hostalen) in Bayport (Texas) im Gesamtwert von 180 Millionen US -Dollar, welche 1980 ihren Betrieb aufnahm. Der Bau eines neuen, eigenen Chemiewerks in der Nähe der petrochemischen Rohstofflieferanten an der US -Golfküste war schon seit 1973 geplant und Teil eines 300 Millionen-Dollar-Expansionsprogramms ab Mitte der 1970er Jahre. Die gewaltige Investition in Bayport zielte darauf, die Position von ­Hoechst auf dem trendgebenden US -amerikanischen Kunststoffmarkt auszubauen, und sie war zugleich eine Antwort auf die verschobenen Währungsparitäten. Mit Blick auf die USA reichten die Produktionsstandorte der AHC damit von Kalifornien an der Ostküste über Texas und South Carolina bis hinauf nach Illinois und New Hampshire. Gleichzeitig verbesserte die AHC ihre Kostenstruktur, indem sie langjährige Verlustbringer, wie das Sonnenbrillengeschäft der Renauld International, das nicht mit Foster kombinierbar war, 1978 veräußerte.349 348 ­Hoechst-Archiv, Ordner USA / A HC / Geschäftsbericht AHC 1982, S.2; Klein, Operation, S. 110–117, 126–127,  135; »Roussel-Uclaf rachète le plus gros fabricant américain de lunettes de soleil«, in: Le Monde, 13.06.1980. 349 Geschäftsbericht H ­ oechst 1977, S. 23–24, 43; Geschäftsbericht H ­ oechst 1978, S. 23; ­Hoechst-Archiv, Ordner USA / A HC , Geschäftsbericht AHC 1977 und 1978; H ­ oechstArchiv, Hoe. Ausl. / A merika / Ordner 1, »­Hoechst will neues Chemiewerk im US -Markt bauen«, in: VWD Chemie, 12.10.1973, »AHC -Struktur wird auf Wachstum und Sicherheit getrimmt«, in: Chemische Industrie XXXII , November 1980, S. 744–746; Vlaanderen, ­Hoechst, S. 21, 156–159, 169–171. Nach der Übernahme der Calbiochem wurden ihre Aktivitäten mit Behring Diagnostics fusioniert.

Hoechst

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Letztlich wurden in den 1980er Jahren sogar das EOCOM-Geschäft und die Anlagen in Bayport wieder abgestoßen. Damit zeigte sich ein deutlicher Wandel im unternehmerischen Handeln. Während problembelastete Arbeitsgebiete unter Winnacker nicht verkauft, sondern in Ordnung gebracht wurden, wurde bei der AHC Ende der 1970er Jahre die Devise maßgebend, »underperforming assets« möglichst schnell zu verkaufen. Dies hing mit der Zielsetzung der AHCLeitung zusammen, in den USA verstärkt über Akquisitionen zu wachsen. Hierbei wurden auch Arbeitsgebiete miterworben, an denen ­Hoechst im Grunde wenig Interesse hatte.350 Im Vergleich zu anderen Großinvestitionen im Ausland zielte der Ausbau der AHC primär auf den US -Markt, gleichwohl und damit ganz ähnlich zu Investitionsentscheidungen für Produktionsanlagen in Frankreich, Großbritannien oder Italien wurde hiervon ein nicht zu vernachlässigender Teil exportiert. Im Fall der AHC umfassten 1979 die Exportgeschäfte 75 Mio. US -Dollar und entsprachen damit 6,4 Prozent des Umsatzes. Auf diese Weise löste sich die klare Dichotomie zwischen Auslands- und Inlandsmarkt bisweilen auf. Aus der Perspektive der westdeutschen ­Hoechst AG waren die Auslandsmärkte ihrer US -Tochter in gewisser Weise Auslandsmärkte zweiten Grades.351 Zur Finanzierung der Projekte nahm AHC in den USA langfristige Kredite auf und musste hierzu das Eigenkapital schrittweise erhöhen. Der enorme Kapitalbedarf in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wurde insbesondere durch einen 120 Mio. US -Dollar-Kredit der Banken Chase Manhatten Bank, Manufacturers Hanover Trust Company und Bank of America sowie durch einen 100  Mio. US -Dollar-Kredit der beiden Versicherungsgesellschaften New York Life Insurance Company und Equitable Life Assurance gedeckt.352 Darüber hinaus wurden die gesellschaftsrechtlichen Beziehungen der US -Beteiligungen 1978/79 neu geordnet, indem die bisher von der westdeutschen ­Hoechst AG direkt gehaltenen AHC-Anteile nach und nach auf die 1978 neu gegründete, 100-prozentige US -­Hoechst-Tochtergesellschaft H ­ oechst Capital Corporation (HCC) übertragen wurden. Über die HCC konnte die AHC zusätzliche Anleihen ohne Kapitaltransfers der westdeutschen ­Hoechst AG aufnehmen. Diese Neugründung war notwendig, da der westdeutsche ­Hoechst-Vorstand der Expansion in den USA finanzielle Grenzen setzte und weiteren Kapitalerhöhungen der AHC skeptisch gegenüberstand. Der Finanzbedarf der AHC wurde anschließend gesichert, indem die HCC 1979 von ­Hoechst Finance Holland aus einer Euro-Optionsanleihe ein Darlehen von 120 Mio. US -Dollar erhielt sowie mit sechs Banken eine neue Kreditlinie von weiteren 120 Mio. US -Dollar aushandelte.353 350 Klein, Operation, S. 126–130. 351 ­Hoechst-Archiv, Ordner USA / A HC / Geschäftsbericht AHC 1979. 352 ­Hoechst-Archiv, Ordner USA / A HC / Geschäftsbericht AHC 1977. 353 Geschäftsbericht ­Hoechst 1978, S. 44; Klein, Operation, S. 121–124; Schreier / Wex, ­Hoechst, S. 319; ­Hoechst-Archiv, Ordner USA / A HC / Geschäftsbericht AHC 1977 bis 1979. Im Jahr 1977 verfügte die ­Hoechst AG über 74,99 % und HCC über 25,01 % der AHC -Anteile; zugleich war HCC zu 100 % an der Immobilienverwaltungsgesellschaft

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms Hoechst AG Hoechst Capital Corporation (HCC) (100%) American Hoechst Corporation (AHC) (100%)

AHC Export Corporation

CalbiochemBehring Corporation

Esmond Enterprises Inc.

Foster Grant Industria e Comercio

H-R Pharmaceuticals Inc.

Marbert Cosmetics Inc.

Abbildung 9: American Hoechst Corporation Beteiligungen (1981) Quelle: Hoechst-Archiv, Ordner USA / A HC / Geschäftsbericht AHC 1980, Anlage 13.

Obwohl das AHC -Management 1980 plante, den Nordamerika-Anteil am ­Hoechst-Weltumsatz innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre von zehn auf fünfzehn Prozent zu steigern  – 50 Prozent dieses Wachstums sollten durch weitere Akquisitionen erreicht werden  –, stagnierte der AHC-Umsatz in den darauffolgenden Jahren.354 »Wir glauben, daß Nordamerika mit einem Anteil von zehn Prozent am ­Hoechster Weltgeschäft nicht unseren Möglichkeiten entsprechend repräsentiert ist.«355 Nach Angaben des neuen AHC-Präsidenten, Dieter zur Loye, war es bis Mitte der 1970er Jahre wichtig, überhaupt auf dem US -Markt präsent zu sein, in einer darauffolgenden Phase bis Mitte der 1980er habe man versucht, die Produktion profitabel zu machen, und erst seitdem war es das Ziel, ähnlich hohe Profite wie die US -Chemieunternehmen zu erwirtschaften.356 Der Geschäftsbericht der AHC 1979 hielt explizit fest, dass es das Ziel sei, in den nächsten Jahren im Vergleich zur US -Chemieindustrie überdurchschnittlich zu wachsen.357

Bridgewater Realty Corporation beteiligt. Zum 1. Januar 1979 wurden HCC und Bridgewater Realty Corporation fusioniert. Vgl. H ­ oechst-Archiv, Ordner USA / A HC / Geschäftsbericht AHC 1977 und 1978. 354 ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl., Amerika, Ordner 1: »A Big Spender from Frankfurt Named ­Hoechst«, in: New York Times, 13.05.1979, »­Hoechst hegt viele Pläne für den US -Markt«, in: Chemische Industrie 32, November 1980, S. 725–726, »In den USA investieren und erwerben«, in: VDI Nachrichten, 21.11.1980. 355 Aussage von Dieter zur Loye nach: »Die Riesen fühlen sich zu klein«, in: Die Zeit Nr. 8, 13.02.1981, S. 19–20. 356 Wirtschaftswoche Nr. 20, 10.05.1985, S. 182. Zitiert nach Wengenroth, German Chemical Industry, hier S. 154. 357 ­Hoechst-Archiv, Ordner USA / A HC / Geschäftsbericht AHC 1979.

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Hoechst 60

50

40

in Mio. $

30

20

10

0

1974

1975

1976

1977

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1980

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1986

-10

-20

Abbildung 10: Ergebnis der AHC nach Steuern (1974–1986) Quelle: Hoechst-Archiv, Ordner USA / A HC / Geschäftsberichte AHC 1974–1986.

Letztlich stockte das US -Geschäft von ­Hoechst um 1980 aufgrund der schwachen US -Konjunktur, hoher Fremdkapitalzinsen sowie enormer Anlaufkosten in Bayport, die zusammengenommen nach einem Gewinn 1979 zu einem AHCVerlust in Höhe von ca. zehn Millionen US -Dollar 1980 führten. Unzutreffende Markterwartungen und die schwache Nachfrage nach Kunststoffen – Niederdruckpolyethylen, Polystyrol und Styrol –, für die man in Bayport mit einem Investitionsvolumen von 326 Mio. DM (180 Mio. $) die bis dahin größte Auslandsinvestition des Konzerns getätigt hatte, verursachten neben technischen Schwierigkeiten und personellem Kompetenzgerangel erhebliche Probleme. Der Kunststoffbereich wurde von der Rezession in der Automobil- und Bauindustrie besonders hart getroffen. Zudem konnten kaum Erfahrungen aus der Bundesrepublik in die USA transferiert werden, da hier eine von ­Hoechst noch nicht im Industrie-Maßstab erprobte Technologie Anwendung finden sollte. Zwar konnte AHC 1981/82 wieder Gewinne verzeichnen; der erstmalige Umsatzrückgang seit Bestehen der Gesellschaft verwies aber auf die schwierige Lage der US -Tochtergesellschaft.358 358 Bäumler, Farben, S. 345; Geschäftsbericht ­Hoechst 1980, S. 49; Geschäftsbericht ­Hoechst 1981, S. 49; Geschäftsbericht ­Hoechst 1982, S. 49; ­Hoechst-Archiv, Ordner USA / A HC  / ​ Geschäftsbericht AHC 1982, S. 3; »­Hoechst will den amerikanischen Kunststoffmarkt erobern«, in: FAZ , 16.10.1980, S. 15; Klein, Operation, S. 132–139. Bäumler gibt ein

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Neben den üblichen Kosteneinsparungen fasste der Aufsichtsrat der AHC daher im März 1982 den Beschluss, die AHC zu reorganisieren, zehn der elf Divisionen in vier Gruppen (Fibers & Film Group, Petrochemicals & Plastics Group, Health Care Group, Specialty Products Group) zusammenzufassen  – lediglich die Landwirtschaftsabteilung wurde als Division erhalten – und auf diese Weise etwa 500 Planstellen zu streichen. Unterhalb der Gruppen waren die Arbeitsgebiete in sogenannten Business Units (Geschäftsbereiche) organisiert. Hierbei waren die Produktgruppenleiter für das gesamte Geschäft – vom Einkauf über die Produktion und den Verkauf bis zum Ergebnis – verantwortlich. Damit wurde bei der AHC eine Organisationsstruktur vorweggenommen, die auf die Eigenverantwortung der einzelnen Unternehmensteile im Sinne einer stärkeren Marktorientierung setzte, wenige Jahre später auch im Mutterkonzern implementiert wurde und einige Grundsatzentscheidungen zur Neuausrichtung des Konzerns in den 1990er Jahren miterklärt.359 Gleichzeitig ging zwischen 1981 und 1984 auf der Leitungsebene der AHC eine Ära zu Ende, indem der langjährige AHC-Chef John G. Brookhuis als VizeVorsitzender in den Board of Directors wechselte und seine bisherigen Aufgaben als AHC-President und Chairman des Executive Committees an Dieter zur Loye übergingen. Auch im Aufsichtsrat kündigte sich ein Wechsel an. Als Kurt Lanz, der aufgrund seiner Zuständigkeit für das Auslandsgeschäft dem Board of Directors der AHC in den 1970er Jahren lange vorgestanden hatte, im Juni 1981 aus dem ­Hoechst-Vorstand ausschied, gab er zugleich seine Aufsichtsratsmandate bei den ausländischen Beteiligungsgesellschaften auf. Als Interimslösung übernahm daraufhin Rolf Sammet die Funktion des AHC-Chairman, doch kündigte sich dessen Rückzug vom Vorsitz des ­Hoechst-Vorstands bereits ebenfalls an. Tatsächlich trat im Juni 1985 Wolfgang Hilger die Nachfolge von Sammet im H ­ oechst-Vorstand an. Vor diesem Hintergrund übernahm der 44-jährige ­Hoechst-Vorstand Jürgen Dormann im Oktober 1984 die Führungsposition Sammets im AHC Board of Directors. Dormann machte sich hier nicht nur US -amerikanische Finanzierungs- und Managementpraktiken zu eigen, die er später auf den Mutterkonzern übertragen sollte, er baute in den folgenden Jahren vor allen Dingen das US -Geschäft von ­Hoechst enorm aus.360 Vor jener Investitionsvolumen von 380  Mio. DM an; die FAZ bezifferte die Investitionen ohne Grundstückskosten auf 326 Mio. DM . 359 ­Hoechst-Archiv, Ordner USA / A HC / Geschäftsbericht AHC 1982 und 1984; Hoe. Ausl. 57 I / ­Hoechst G-Beteiligungen im Ausland / L änder A–Z/2. Nordamerika, »Während der Rezession recht kräftig abgespeckt«, in: Handelsblatt 25.11.1983; Klein, Operation, S. 140. 360 Gilpin, Kenneth N.: »Business People. American ­Hoechst Names Chairman«, in: New York Times, 25.10.1984; »Ein Umsatzsprung bei American H ­ oechst«, in: FAZ , 24.03.1982; Geschäftsbericht H ­ oechst 1981, S. 5; Geschäftsbericht ­Hoechst 1984, S. 5; Geschäftsbericht ­Hoechst 1985, S. 5. Dieter zur Loye trat 1955 bei H ­ oechst ein, war jahrelang persönlicher Assistent von Kurt Lanz, übernahm 1967 die Leitung des Verkaufs ›Export Kunststoffe‹ und wurde 1970 Leiter der Konzernentwicklung, die für die weltweite Koordination der Auslands-

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Expansion, so verständigten sich Sammet, Dormann und zur Loye 1983, galt es jedoch zunächst die AHC – besonders die Kunststoffproduktion in Bayport – grundlegend zu sanieren und dies bedeutete letztendlich Unternehmensteile zu verkaufen. Während der AHC-Vizepräsident und frühere Foster Grant-Manager Markowitz den Verkauf tendenziell ablehnte, war es vor allem Dormann, der auf eine Veräußerung der Polystyrol-Produktion drängte. Letztlich ging die Styrol-Produktion in Bayport 1986 an den US -Industriellen Jon Huntsman und die dortige Niederdruckpolyethylen-Anlage 1992 an American Fina, eine Tochtergesellschaft der belgischen Fina S. A.361 Lateinamerika Die lateinamerikanischen Länder gehörten in den 1960er und 1970er Jahren trotz unsteter wirtschaftlicher Entwicklungen und teilweise hoher Inflationsraten (noch) zu den ausländischen Investitionsschwerpunkten von ­Hoechst. Ende 1969 verfügte ­Hoechst in Lateinamerika über 35 Produktionsbetriebe.362 In Brasilien wurde 1966 die Arzneimittelfertigung der ­Hoechst do Brasil erweitert – auch weil die Gesetzgebung eine Fertigung im Land verlangte –; in den beiden folgenden Jahren fand der Ausbau der Werksanlagen für Pigmentfarbstoffe, Frigen, Tenside und andere Hilfsmittel statt.363 Auch die Produktpalette wurde breiter. Im Jahr 1969 übernahm H ­ oechst die beiden Kosmetikfirmen Sandar S. A. und Casa Fachada S. A.364 Ende der 1970er Jahre deckte das Angebot der ­Hoechst do Brasil daher weite Teile des Produktspektrums des westdeutschen Mutterunternehmens ab  – mit Schwerpunkten bei Chemiefasern (Polyamid beteiligungen zuständig war, bevor er 1975 Leiter der Finanzabteilung und Vizepräsident der AHC wurde. Vgl. H ­ oechst-Archiv, Hoe. Ausl. 57 I / ­Hoechst G-Beteiligungen im Ausland / L änder A–Z/2. Nordamerika, Dieter zur Loye (23.08.1982). 361 Klein, Operation, S. 129–146. 362 Geschäftsbericht ­Hoechst 1969, S. 38. 363 Geschäftsbericht ­Hoechst 1966, S. 42; Lanz, Weltreisender, S. 473. Anfang der 1980er Jahre berichtete das ARD -Fernsehmagazin »Monitor« über multinationale Unternehmen in Lateinamerika, die aus Blutplasma Präparate wie Gerinnungsfaktoren, menschliches Eiweiß oder Antikörperkonzentrate gewannen. Die Kritik zielte darauf, dass hier vor allem ärmere, unterernährte Bevölkerungsteile auf das Geld aus Blutspenden angewiesen waren. Laut der Präsidentin des brasilianischen Blutspenderverbandes und Vizepräsidentin der Weltorganisation (International Federation of Blood Donor Organizations, IFBDO) Leonora Carlota Osório besaß ­Hoechst bei der Verwendung von Blut in Brasilien nahezu ein Monopol. H ­ oechst bestätigte, dass die brasilianische Tochtergesellschaft Menschenblut bei privaten Blutbanken kaufen würde, sah das Problem laut dem Leiter der H ­ oechst-Pharmasparte Gareis aber bei den privaten Blutbanken. Vgl. ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 57 I / ­Hoechst G-Beteiligungen im Ausland / L änder A–Z/3. Lateinamerika, Steinbicker, Otmar: »Brasilien. Blutgeschäft des ­Hoechst-Konzerns«, in: Unsere Zeit, 31.07.1981; »Menschenblut«, in: General-Anzeiger Bonn, 23.07.1981. 364 Geschäftsbericht ­Hoechst 1969, S. 38.

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und Trevira), Pflanzenschutzmitteln, Arzneimitteln sowie Farbstoffen, diversen Hilfsmitteln und Mowilith-Dispersionen. Seit dem Auslaufen der PolyesterPatente bemühte sich der westdeutsche Konzern mit seiner Chemiefaser Trevira auch auf den lateinamerikanischen Markt vorzudringen. Dabei setzte das ­Hoechst-Management seit Ende der 1960er Jahre nicht mehr nur auf den Export aus deutscher Produktion, vielmehr gründete H ­ oechst gemeinsam mit der Klabin-Gruppe (40 %) das Produktionsunternehmen Companhia Brasileira de Sintéticos S. A. in Osasco. Wiederum erfolgte der Marktzugang somit über ein Joint Venture mit einem lokalen Investor. Schon 1972 hatte das Gemeinschaftsunternehmen über 900 Beschäftigte, bis Ende der 1970er Jahre stieg die Belegschaft infolge zahlreicher Erweiterungen auf ca. 1.400 an.365 Neben Arzneimitteln gehörten Polyvinylacetat-Dispersionen und Chemiefasern in Südamerika zu den Produkten, mit denen man Marktanteile gewinnen wollte. In Chile und Peru lief 1966 bei der Quimica ­Hoechst Chile Ltda. sowie bei der neu gegründeten Quimica ­Hoechst del Peru S. A. die Produktion von Mowilith-Dispersionen an, während die Fibro Quimica Chilena Ltda. einen Betrieb zur Erzeugung von Trevira-Fasern aufbaute. Bei letzterem handelte es sich um die erste Trevira-Faseranlage in Lateinamerika mit einer Kapazität von 1.700 Jahrestonnen. Neben ­Hoechst war auch die Deutsche Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit mbH in Köln sowie die Adela Investment Company S. A. in Luxemburg, ein Finanzierungsinstitut zur Förderung neuer Industrien in Südamerika, an der Fibro Quimica Chilena Ltda. beteiligt. Während das Chile-Geschäft zunächst gut anlief, widersprach die von Salvador Allende ab 1970 betriebene Wirtschaftspolitik, die auf eine Verstaatlichung der Bodenschätze und eine Enteignung ausländischer Großunternehmen zielte, den Vorstellungen der H ­ oechst-Manager. Doch auch die Machtübernahme durch eine Militärjunta unter General Augusto Pinochet 1973 brachte für ausländische Konzerne kaum Besserung, wobei die Unternehmensleitungen hier weniger die Menschenrechtsverletzungen als ihre Eigentumsrechte im Auge hatten. Während der politischen Unruhen jener Jahre wurden die chilenischen ­Hoechst-Fabriken mehrmals besetzt, so dass das H ­ oechst-Management die Trevira-Produktion in Chile schließlich aufgab.366 Beispielhaft zeigt sich hier, dass nicht nur Lohnhöhe, Rohstoffzugang oder Marktgröße für Auslandsinvestitionen eine Rolle spielten, sondern auch politische Stabilität und politische 365 Evans, Dependent Development, S. 142; Geschäftsbericht ­Hoechst 1971, S. 56; Geschäftsbericht ­Hoechst 1979, S. 44. 366 Geschäftsbericht ­Hoechst 1965, S. 41; Geschäftsbericht ­Hoechst 1966, S. 42; Lanz, Weltreisender, S. 461, 483–486. Die Adela (Atlantic Development Group for Latin America) war ein 1964 von multinationalen Unternehmen gegründetes, privatwirtschaftliches Finanzierungsinstitut, das im Kontext des Ost-West-Konflikts entstand und vor dem Hintergrund der von John F. Kennedy ausgerufenen Allianz für den Fortschritt (Alliance for Progress) die ökonomische Entwicklung von Schwellen- und Entwicklungsländern in Lateinamerika fördern sollte. Vgl. Macaulay / Lungershausen / Sieveking, ADELA .

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Restriktionen gegenüber ausländischen Importeuren und Investoren entscheidend sein konnten. Der stellvertretende ­Hoechst-Vorstandsvorsitzende Kurt Lanz verdeutlichte dies nochmals in seiner Autobiographie: »Es wird immer deutlicher, daß ganz generell in den vergangenen Jahren Investitionen bevorzugt in Ländern vorgenommen wurden, die ein günstiges und stabiles Investitionsklima versprechen. Das gilt in erster Linie für die USA .«367 Und es galt nicht für Chile in den 1970er Jahren. In Mexiko startete ­Hoechst 1969 zwei neue Joint Ventures mit einem Investitionsvolumen von 100 Millionen DM . Zum einen schlossen sich ­Hoechst und der französische Industriekonzern Péchiney (bzw. Rhône-Poulenc)  mit zwei mexikanischen Banken zur Firma Polimeros de Mexico S. A. zusammen, die 20.000 Jahrestonnen Polyvinylchlorid (PVC) herstellte, wobei die Quimica ­Hoechst de Mexico S. A. den Vertrieb übernahm. Zum anderen plante ­Hoechst mit der Mondlak-Gruppe ein Werk mit einer Kapazität von 3.000 Jahrestonnen Trevira-Fäden. Joint Ventures hatten sich bei H ­ oechst inzwischen zu einer festen Form der Markterschließung entwickelt, die auch in Lateinamerika Anwendung fand und aufgrund der restriktiven Wirtschaftspolitik gegenüber ausländischen Firmen hier gewissermaßen auch notwendig war. Während die mexikanische Zollschutzgesetzgebung die heimische Industrie vor ausländischer Konkurrenz schützte und ein Import von ­Hoechst-Produkten daher kaum lukrativ war, wurde auf zahlreichen wirtschaftlichen Betätigungsfeldern zugleich eine mexikanische Kapitalmehrheit zur Bedingung gemacht.368 Neben Importrestriktionen und Beschränkungen gegenüber ausländischen Investoren erschwerte die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas den Aufbau des dortigen Auslandsgeschäfts.369 So ergab sich bei ­Hoechst in Argentinien 1975 infolge hoher Inflationsraten ein Umsatzanstieg von 161 Prozent, der in keiner Weise die Mengenentwicklung widerspiegelte, und auch 1978 erschwerten hohe Inflationsraten in Verbindung mit einer Rezession das Argentinien-Geschäft. Pflanzenschutzmittel und veterinärmedizinische Präparate stellten zentrale Geschäftsfelder der argentinischen Tochter dar; bei Kunstharzdispersionen war ­Hoechst der größte Produzent auf dem freien Markt. In Brasilien stieg der Umsatz der ­Hoechst do Brasil 1977 inflationsbedingt um 47 Prozent, wohingegen die abgesetzte Menge nur um 16 Prozent zugenommen hatte, zudem konnten die erhöhten Kosten infolge staatlicher Preiskontrollen  – insbesondere bei Arzneimitteln – nicht auf die Preise aufgeschlagen werden, so dass ­Hoechst do Brasil zwischen 1977 und 1979 ständig Verluste einfuhr. Während das argentinische Tochterunternehmen Quimica ­Hoechst S. A. 1979 367 Lanz, Weltreisender, S. 505–506. 368 Geschäftsbericht ­Hoechst 1969, S. 38; Lanz, Weltreisender, S. 453–455. Rhône-Poulenc übernahm 1969 die chemischen Divisionen von Péchiney, Saint-Gobain und Naphtachimie. 369 Vgl. zu den Vorbehalten gegenüber ausländischen Investitionen in Mexiko: Gertschen, Soziallehre.

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wieder in die Gewinnzone rückte und auch die mexikanische Quimica ­Hoechst de Mexico S. A. ihren Gewinn gegenüber dem Vorjahr steigerte, wuchs bei ­Hoechst do Brasil aufgrund hoher Inflationsraten lediglich der Umsatz um 60 Prozent. Der Verlust der ­Hoechst do Brasil 1979 war neben Preiskontrollen besonders auf beachtliche Kursverluste durch die Abwertung des brasilianischen Cruzeiros zurückzuführen.370 Erst 1980 erzielte H ­ oechst do Brasil (bei einem erneuten inflationsbedingten Umsatzwachstum von 125 %) wieder einen Jahresüberschuss von 622 Millionen brasilianischen Cruzeiros; gleichzeitig stieg der Jahresüberschuss der Companhia Brasileira de Sintéticos S. A. auf 303 Millionen brasilianische Cruzeiros.371 Kräftige Abwertungen, hohe Inflationsraten, geringes Wirtschaftswachstum und vor allem Unsicherheit gegenüber der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung markierten zu Beginn der 1980er Jahre den lateinamerikanischen Wirtschaftsraum. In Argentinien gingen 1981 Gewinn und realer Umsatz der Quimica ­Hoechst S. A. zurück, um im Jahr darauf trotz des Falklandkrieges wieder anzusteigen. Auch die brasilianischen Tochtergesellschaften hatten 1981 mit einer schweren Rezession zu kämpfen, doch hier war die Lage gespalten: Während ­Hoechst do Brasil 1981/82 weiterhin Gewinne erwirtschaftete, häufte die Companhia Brasileira de Sintéticos S. A. hohe Verluste an. Und in Mexiko führte die starke Abwertung des mexikanischen Pesos 1982 dazu, dass der Gewinn des Vorjahres in einen Verlust umschlug. Eine langfristige und für den lateinamerikanischen Raum einheitliche Unternehmensplanung war angesichts jener unsteten ökonomischen Verhältnisse kaum möglich.372 Damit werden die Sonnen- und Schattenseiten des Lateinamerika-Geschäfts sichtbar. Die lateinamerikanischen Märkte galten in den 1960er Jahren aufgrund anlaufender Industrialisierungsprozesse und wachsender Bevölkerungszahlen lange als Zukunftsmärkte, auf denen die westdeutschen Unternehmen präsent sein wollten, zumal man dort über weit zurückreichende Geschäftsverbindungen verfügte.373 Hierbei handelte es sich jedoch vielfach um Zukunftsversprechen, die sich nicht oder nur eingeschränkt erfüllten. In weiten Teilen mündeten sie in der lateinamerikanischen Schuldenkrise, in deren Rahmen die Währungen stark abwerteten und die Inflation enorm anstieg. Die hohen Wachstumsraten der 1960er und 1970er Jahre hatten viele lateinamerikanische Regierungen dazu 370 Geschäftsbericht ­Hoechst 1975, S. 58; Geschäftsbericht ­Hoechst 1977, S. 43; Geschäftsbericht H ­ oechst 1978, S. 41; Geschäftsbericht H ­ oechst 1979, S. 43–46; H ­ oechst-Archiv, Hoe. Ausl. 57 I / ­Hoechst G-Beteiligungen im Ausland / L änder A–Z/3. Lateinamerika, ­Hoechst Report Nr. 42/43: Neue Perspektiven in einem großen Land. ­Hoechst in Argentinien (Dezember 1984/Januar 1985). Infolge der Abwertung des Cruzeiros und des niedrigen Dollarkurses rechnete auch Roussel Uclaf für 1980 mit Kursverlusten in Höhe von 30 Mio. FF. Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 3, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (12.12.1979). 371 Geschäftsbericht ­Hoechst 1980, S. 45. 372 Geschäftsbericht ­Hoechst 1981, S. 45–47; Geschäftsbericht ­Hoechst 1982, S. 45–48. 373 Lanz, Weltreisender, S. 448–494.

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verleitet, die Industrialisierung ihrer Länder über Kredite internationaler Gläubiger voran zu bringen – auch weil die Geldgeber angesichts der ökonomischen Zukunftsaussichten hierzu bereit waren und Banken in den 1970er Jahren die Flut der Petro-Dollars recycelten, indem sie zinsgünstige Kredite mit langen Laufzeiten an kreditsuchende Staaten vergaben. Infolgedessen vervierfachten sich die lateinamerikanischen Auslandsschulden zwischen 1975 und 1983. Als die Zinsen auf dem Interbankenmarkt und für öffentliche Kredite wieder anstiegen und sich die auf US -Dollar ausgestellten Kreditsummen aufgrund der US -Hochzinspolitik verteuerten, verkündete Mexiko 1982 ein Zahlungsmoratorium. Damit kollabierte das bisherige internationale Finanzierungssystem.374 Dass sich ­Hoechst und andere westeuropäische Unternehmen dennoch nicht von den lateinamerikanischen Märkten zurückzogen, war zum einen eine Folge von Beharrungskräften, die Lateinamerika nach wie vor auf dem Weg in die Moderne sahen und damit zukünftige Profitmöglichkeiten verbanden; zum anderen ist diese Entscheidung mit unternehmerischen Pfadabhängigkeiten zu erklären, denn die Unternehmen hatten in den vergangenen 30 Jahren beträchtliche Summen dort investiert und sich zum Teil bedeutende – wenn auch nicht immer rentable – Marktanteile gesichert. Südafrika – Indien – Japan Neben den ausländischen Investitionsschwerpunkten in Westeuropa, Nord- und Lateinamerika verdienen noch drei Länder – Südafrika, Indien und Japan – eine nähere Betrachtung. Auf dem afrikanischen Kontinent verfügte ­Hoechst  – ähnlich zu Bayer  – über einige Vertriebsgesellschaften mit einer eher geringen Bedeutung für den Gesamtkonzern; entsprechend niedrig fielen die Auslandsinvestitionen in Afrika aus. Ausnahmen bildeten Ägypten und Südafrika.375 In Südafrika nahm ­Hoechst 1966 mit der ­Hoechst Pharmaceuticals (Pty) Ltd. in Johannesburg die Fertigung von Arzneimittelspezialitäten auf und errichtete bei der gemeinsam mit inländischen Partnern gegründeten ­Hoechst Fibres and Chemicals (Pty) Ltd. in der Nähe Kapstadts eine Produktionsanlage für Trevira-Fasern. Wie bei vielen anderen Joint Ventures übernahm ­Hoechst 1968 den 24-Prozent-Anteil der Industrial Development Corporation of South Africa Ltd. an der ­Hoechst Fibres and Chemicals (Pty) Ltd.376 Im Jahr 1969 folgte  – wiederum als Joint Venture – durch die South African Polyolefins (Pty.) Ltd., die zu gleichen Teilen der südafrikanischen Firma Sentrachem Ltd. und H ­ oechst gehörte, der Bau einer Anlage zur Herstellung von Niederdruckpolyethylen mit einer Anfangskapazität 374 Rischbieter, Einhegen, hier S. 14–15. 375 Vgl. zum Auslandsgeschäft von ­Hoechst in Ägypten bzw. Afrika: Lanz, Weltreisender, S. 343–348, 368–386. 376 Geschäftsbericht ­Hoechst 1966, S. 42; Geschäftsbericht ­Hoechst 1968, S. 31.

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von 50.000 Jahrestonnen. Hiermit sollte der schnell wachsende südafrikanische Kunststoffmarkt bedient werden. Damit war ­Hoechst bis 1970 in Südafrika mit Produktionsgesellschaften für Arzneimittel, Chemiefasern (Trevira), Dispersionen (Mowilith) und Kunststoffe vertreten. Zu den Aufgaben der Landesgesellschaft ­Hoechst South Africa (Pty.) Ltd. gehörten der Vertrieb westdeutscher ­Hoechst-Produkte sowie der Verkauf der in Südafrika hergestellten Waren. Die ­Hoechst-Gesellschaften profitierten hierbei vom wirtschaftlichen Aufschwung Südafrikas. Die Chemiefaser- und Kunststoffkapazitäten waren meist vollständig ausgelastet, doch 1975 wurde auch Südafrika von der Rezession erfasst. Nicht ausgelastete Kapazitäten und die Abwertung des südafrikanischen Rand schmälerten den Gewinn nachdrücklich; auch 1976/77 verzeichnete ­Hoechst große Währungsverluste. Gleichwohl wurden die Trevira-Kapazitäten in der zweiten Hälfte des Jahres 1977 fast wieder vollständig genutzt, so dass der Jahresüberschuss anstieg. Vor dem Hintergrund der ökonomischen Aufhellung ließ die Unternehmensleitung die Anlagen für Tenside und Hilfsmittel sowie für Chemiefasern und Kunststoffe in den folgenden Jahren sogar erweitern.377 Im Ergebnis führte dies dazu, dass die Anzahl der Beschäftigten der ­Hoechst South Africa (Pty.) Ltd. von 464 im Jahr 1970 über 741 (1975) auf über 1.200 (1982) anstieg.378 Dabei war das Wachstum der südafrikanischen ­Hoechst-Belegschaft unmittelbar mit der Rassenfrage verknüpft. Auch wenn in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik die kritischen Stimmen gegenüber dem Apartheidregime zunahmen, rückten die im Bundestag vertretenen Parteien vorerst nicht von ihrer grundsätzlichen Unterstützung der weißen Minderheitsregierung ab. Erst Anfang der 1980er Jahre übten neben den Grünen auch verstärkt SPD - und FDP-Politiker Kritik an der südafrikanischen Rassenpolitik.379 Die Haltung von ­Hoechst-Vorstand Kurt Lanz, der Ende der 1970er Jahre in dieser Frage eine durchaus ambivalente Position einnahm, fügte sich in dieses Bild ein. Zwar kritisierte er die Rassendiskriminierung im öffentlichen Leben, aber grundsätzlich stimmte er der Ansicht zu, dass die Politik der Rassentrennung und die Schaffung von Stammesgebieten für die »farbige« Bevölkerung die einzige Möglichkeit sei, das Land zu befrieden. Nicht zuletzt ökonomische Gründe – der Mangel an billigen weißen Arbeitskräften – bewogen die Unternehmen Lanz zufolge dazu, auf die Arbeitskraft der »farbigen« Bevölkerung zurückzugreifen, wenn auch hier oftmals eine neue Form der Diskriminierung über Löhne einsetzte. Es ist nicht erkennbar, dass sich ­Hoechst in den 1970er Jahren schon aktiv für die Abschaffung des Apartheidregimes in Südafrika einsetzte, auch wenn in 377 Geschäftsbericht ­Hoechst 1973, S. 58; Geschäftsbericht H ­ oechst 1975, S. 60; Geschäftsbericht ­Hoechst 1977, S. 44; Geschäftsbericht H ­ oechst 1980, S. 48. 378 Geschäftsbericht ­Hoechst 1970, S. 60; Geschäftsbericht ­Hoechst 1975, S. 60; Geschäftsbericht ­Hoechst 1982, S. 48. 379 Engel, Afrikapolitik; Feinstein, South Africa, S. 143–223; Marx, Südafrika, S. 222–278. Vgl. zur Internationalisierung der westdeutschen Automobilindustrie mit Blick auf Südafrika: Biss, Internationalisierung, S. 575–736; Biss, Südafrika; Nieke, Internationalisierung.

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jener Zeit bei H ­ oechst South Africa Ltd. die ersten Schilder mit der Aufschrift »Whites only« entfernt und schrittweise ein übergreifendes Betriebsratssystem (Labour Liaison Committee) aufgebaut wurde, welches die lokalen Arbeitsbeziehungen stabilisierte.380 Die west- wie die ostdeutsche Presse kritisierten die Arbeitsverhältnisse westdeutscher Unternehmen in Südafrika Ende der 1970er Jahre regelmäßig und beschrieben sie als permanenten Zustand vager Bedrohung gegenüber der schwarzen Belegschaft. Nicht zuletzt der wachsende Druck seitens der Öffentlichkeit und der Gewerkschaften in der Bundesrepublik führte dazu, dass die südafrikanische Tochtergesellschaft die Rassenschranken stückweise abbaute, indem sie bessere Ausbildungs- und Integrationsmöglichkeiten schuf und die Löhne der Schwarzen sukzessive anglich. Damit punktete ­Hoechst bei allen Beteiligten eines im Juni 1980 stattgefundenen Hearings im Deutschen Bundestag – einschließlich der Gewerkschaften – über das Verhalten westdeutscher Unternehmen in Südafrika und erfüllte zugleich den 1977 eingeführten EG -Verhaltenskodex für europäische Unternehmen in Südafrika. Der Vorsitzende des EG -Gewerkschaftsausschusses Werner Beck hob einen 1979 erstellten Sozialbericht von ­Hoechst South Africa explizit als lobenswertes Beispiel hervor, an dem sich andere Unternehmen orientieren könnten. Allerdings war auch bei der H ­ oechst-Tochter die Rassentrennung noch nicht überwunden. Während in Kantinen und Toiletten vollständige Integration erreicht war, wurde bei den Umkleideräumen auch 1980 noch nach Hautfarbe differenziert.381 Multinationale Unternehmen in Südafrika wie ­Hoechst boten somit eine Arena für soziale Auseinandersetzungen, in der die unterschiedlichen Rassenvorstellungen der westeuropäischen Gesellschaften und der südafrikanischen Regierung unmittelbar aufeinandertrafen. Sie schufen auf diese Weise wichtige Artikulationsräume, auch wenn ihre Unternehmensleitungen, die sich weder als Oppositionelle noch als Kollaborateure eines verbrecherischen Regimes verstanden, meist vor offener Kritik zurückschreckten und daher nur bedingt Einfluss auf den Regimewechsel hatten.382

380 Lanz, Weltreisender, S. 387–390. 381 ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 58 I / ­Hoechst G-Beteiligungen im Ausland / L änder A–Z/ 6. Afrika, »Menschenunwürdige Verhältnisse bei BRD -Unternehmen in Südafrika«, in: Neues Deutschland, Ost-Berlin, 30.05.1979, »­Hoechst will Südafrikas Rassenschranken überwinden«, in: FAZ , 11.07.1980, »­Hoechst South Africa«, in: H ­ oechst informiert, 15.10.1981; H ­ oechst-Archiv, Hoe. Ausl. 69/Südafrika, H ­ oechst South Africa Pty., »Blick in schwarze Karten«, in: PR-Magazin, August 1980; Wenzel, Südafrika-Politik. 382 Andresen, Moralische Ökonomie; Andresen, Goodwill; Cron, Unternehmen. Die Interpretation von Jan C. Cron, wonach nur wirtschaftlich erfolgreiche Unternehmen soziale Leistungen erbringen könnten und diese im Fall deutscher Unternehmen zur Überwindung der Apartheid beigetragen hätten, lässt außer Acht, dass erst Organisationen wie die Gewerkschaften und die Kirchen einen politischen Druck erzeugten, der bei vielen Unternehmensakteuren zu einem langsamen Bewusstseinswandel führte.

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Die Investitionen des ­Hoechst-Konzerns nach Asien lagen ebenfalls deutlich hinter denjenigen nach Westeuropa und Nordamerika. Dort trafen die Expansionsbestrebungen westlicher Unternehmen und die Industrialisierungsanstrengungen vieler neu entstandener Nationalstaaten aufeinander. Viele aufstrebende Entwicklungs- und Schwellenländer hatten ein Interesse am Transfer westlicher Technologien; umgekehrt nutzte die Bundesregierung in Kooperation mit westdeutschen Großunternehmen – beispielsweise in Indien – das Mittel der Entwicklungshilfe zur Durchsetzung außenwirtschaftlicher und außenpolitischer Ziele während des Kalten Krieges. Dabei konkurrierten Unternehmen aus Japan, Frankreich und Großbritannien mit westdeutschen Firmen um indische Großaufträge.383 Der ­Hoechst-Konzern baute über seine indische Tochtergesellschaft ­Hoechst Pharmaceuticals Ltd. in den 1960er Jahren seine Produktionsanlagen für Arznei- und Pflanzenschutzmittel in Indien aus; gleichzeitig errichteten die indischen Tochterunternehmen Polyolefins Industries Ltd. (PIL) Anlagen zur Erzeugung von Niederdruck-Polyethylen (Hostalen) und Colour Chem Ltd. eine Fabrikation für organische Zwischenprodukte. Die PIL war bei der Einweihung der neuen Niederdruck-Polyethylenfabrik 1968 mit einer Kapazität von 24.000 Jahrestonnen Hostalen und 650 Beschäftigten der größte Kunststofferzeuger in Indien. Schon 1970 kursierten Planungen zur Erweiterung auf 32.000 Jahrestonnen, die 1972 von der indischen Regierung genehmigt wurden.384 Den Vertrieb der Produkte der PIL und der Colour Chem übernahm die ­Hoechst Dyes & Chemicals Ltd., der mit Ausnahme von Pharmazeutika und Pflanzenschutzmitteln auch der Verkauf von ­Hoechst-Produkten aus westdeutschen Werken sowie die Produktion von Mowilith-Dispersionen oblag. Charakteristisch für das Indien-Geschäft des H ­ oechst-Konzerns in den 1970er Jahren blieb  – ähnlich zu ­Hoechst in Japan  – der Marktzugang über Joint Ventures mit einheimischen Unternehmen. Bei ­Hoechst Pharmaceuticals Ltd. hielten ­Hoechst 50  Prozent und die indische United Breweries Gruppe rund 43 Prozent; bei ­Hoechst Dyes & Chemicals Ltd. besaßen ­Hoechst und die indische Mafatlal-Gruppe jeweils 50 Prozent; und bei Polyolefins Industries Ltd. verfügten ­Hoechst und das indische Chemieunternehmen National Organic Chemical Industries Ltd. (Nocil), an dem die Mafatlal-Gruppe ebenfalls beteiligt war, jeweils über ein Drittel der Gesellschaftsanteile, während sich ein weiteres Drittel in Streubesitz befand.385 Insgesamt entwickelten sich die indischen ­Hoechst-Gesellschaften in der ersten Hälfte der 1970er Jahre aus Sicht der Kon383 Faust, Spannungsfelder; Kleinschmidt / Ziegler, Dekolonialisierungsgewinner; Tetzlaff, Außenwirtschaftspolitik; Unger, Export. 384 Geschäftsbericht ­Hoechst 1965, S. 41; Geschäftsbericht ­Hoechst 1966, S. 42; Geschäftsbericht H ­ oechst 1968, S. 30–31; Geschäftsbericht H ­ oechst 1969, S. 39; Geschäftsbericht ­Hoechst 1970, S. 27; Geschäftsbericht H ­ oechst 1972, S. 56. 385 Geschäftsbericht ­Hoechst 1970, S. 60; ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 120, »Aufbau einer petrochemischen Industrie in Indien«, in: VWD Chemie, 21.08.1964; Lanz, Weltreisender, S. 295–298; Piramal / Herdeck, India’s Industrialists, S. 177–206.

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zernleitung günstig: Umsatz und Ertrag stiegen, gleichzeitig erfuhr die ­Hoechst Pharmaceuticals Ltd. 1971 mit der Angliederung eines neuen Forschungslabors sowie einer biologischen Versuchsstation für die Herstellung von Tetanus-Serum und anderen biologischen Präparaten, welche ab 1973 auch exportiert wurden, eine deutliche Aufwertung. Auch Indien war damit inzwischen weit mehr als ein reiner Absatzmarkt für H ­ oechst-Produkte, vielmehr rückte das Land in eine Gruppe von Staaten vor, in denen ­Hoechst Produkte verkaufte, herstellte und weiterentwickelte.386 Gleichwohl zeigten sich hier ebenso die negativen Seiten eines noch nicht vollständig industrialisierten Landes, dessen Industriepolitik auf die Förderung staatlicher und einheimischer Unternehmen  – insbesondere zur Selbstversorgung mit Arzneimitteln – zielte. Zwar wählte ­Hoechst auch in westlichen Industriestaaten die Form des Joint Ventures, um auf ausländische Märkte vorzudringen, in Indien, Südafrika und Japan war dies aufgrund von Marktrestriktionen aber in gewisser Weise unumgänglich. Staatliche Preisvorschriften und Beschränkungen gegenüber ausländischen Firmen auf dem Pharmagebiet erschwerten den Absatz von Arzneimitteln; darüber hinaus gab es Schwierigkeiten bei der Erteilung von Arbeitsgenehmigungen für deutsches ManagementPersonal. Schließlich offenbarten sich in Indien Probleme einer mangelnden Infrastruktur. So konnten die Kapazitäten der Polyolefins Industries Ltd. 1975/76 nicht wegen fehlender Nachfrage, sondern aufgrund von Behinderungen in der Rohstoff- und Stromversorgung nicht vollständig ausgelastet werden. Den Wachstumschancen des indischen Marktes standen somit aus Sicht der Unternehmensleitung erhebliche Defizite in der Ausgestaltung der ökonomischen wie politischen Marktbedingungen gegenüber.387 Neben Indien nahm das ­Hoechst-Management zunehmend den japanischen Markt ins Blickfeld. Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre bauten die deutschjapanischen Gemeinschaftsunternehmen ihre geschäftlichen Aktivitäten merklich aus, doch blieb die Zahl der Beschäftigten überschaubar. Kasei ­Hoechst Co. Ltd. nahm die Herstellung von Remazol-Farbstoffen auf, ­Hoechst Gosei Co. Ltd. erweiterte die Kapazitäten für Polyvinylacetat-Dispersionen, und Nippon ­Hoechst Co. Ltd. eröffnete neue Arzneimittelfabrikationen.388 Mit Ausnahme der für den Vertrieb zuständigen ­Hoechst Japan Ltd., die zugleich den Mowilith-Export nach Hong-Kong, Malaysia, Singapur, Thailand, Indonesien sowie auf die Philippinen organisierte, blieb für die japanischen Produktionsgesell386 Geschäftsbericht ­Hoechst 1971, S. 62; Geschäftsbericht H ­ oechst 1973, S. 57. 387 Geschäftsbericht ­Hoechst 1975, S. 59; Geschäftsbericht H ­ oechst 1976, S. 51; ­HoechstArchiv, Hoe. Ausl. 58 I / ­Hoechst G-Beteiligungen im Ausland / L änder A–Z/4. Asien, »Die Industrie ist nicht länger nur Zaungast« in: Handelsblatt, 01.09.1981, H ­ oechst in Indien [1982]. 388 Geschäftsbericht ­Hoechst 1968, S. 30; ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 74/Japan, H ­ oechst Japan Limited (15.09.1967). Mit der Übernahme von BJN erwarb H ­ oechst auch eine 50 %-Beteiligung an Kobe Paints Ltd., die Schiffsfarben herstellte und anschließend Verbindungen zur ­Hoechst Gosei aufbaute. Vgl. Lanz, Weltreisender, S. 268.

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schaften auch in den 1970er Jahren ihre Unternehmensform als Joint Ventures kennzeichnend. Kasei ­Hoechst Co. Ltd., ­Hoechst Gosei Co. Ltd. und Nippon ­Hoechst Co. Ltd. waren jeweils 50:50 Joint Ventures von ­Hoechst mit japanischen Unternehmen; ihre Belegschaften blieben bis Mitte der 1970er Jahre unter der Grenze von 300 Personen. Im Gegensatz hierzu verfügte ­Hoechst Japan Ltd. schon 1970 über mehr als 850 Beschäftigte; bis 1980 stieg ihre Belegschaft auf über 1.400 Personen an. Auch die Ergebnisse der japanischen Tochtergesellschaften blieben zunächst bescheiden. So war im Fall der Kasei H ­ oechst nach einer längeren Anlaufphase 1972 erstmals die Zahlung einer Dividende möglich. Dennoch expandierten die japanischen ­Hoechst-Gesellschaften bis zur Wirtschaftskrise 1975 – nicht zuletzt aufgrund der starken Nachfrage nach Reaktivfarbstoffen und Dispersionen.389 Eine Neuordnung erfuhr das Japan-Geschäft 1979, als die H ­ oechst AG von der Eutraco ihren 50-Prozent-Anteil an der ­Hoechst Fernost AG erwarb, wodurch ­Hoechst die vollständige Kontrolle über die H ­ oechst Fernost AG und damit auch über die ­Hoechst Japan Ltd. gewann; ­Hoechst Japan Ltd. übernahm anschließend von der ­Hoechst AG die Beteiligungen an den drei japanischen Produktionsgesellschaften Kasei ­Hoechst Co. Ltd., ­Hoechst Gosei Co. Ltd. und Nippon ­Hoechst Co. Im Rahmen dieser Umstrukturierung wurde das Gesellschaftskapital der ­Hoechst Japan Ltd. um 389,5 Millionen Yen auf 1.089,5 Millionen Yen erhöht. Im Anschluss erwarb sie von Mitsubishi Kasei ein zusätzliches Prozent und damit die Mehrheit des Kapitals der Kasei ­Hoechst Co. Ltd.390 Auch wenn es ­Hoechst in Japan nicht immer gelang, die vollständige Kontrolle über die Gemeinschaftsunternehmen zu erlangen, kam mit der Konzentration der Gesellschaftsanteile bei H ­ oechst Japan Ltd. 1979 ein Prozess an sein Ende, der mit der Zentralisierung der Vertriebsgesellschaften bei ­Hoechst Japan Ltd. Ende der 1960er Jahre eingesetzt hatte und der dem übergeordneten Konzernziel folgte, für jeden Markt, eine einheitliche Landesgesellschaft zu etablieren. Gleichwohl blieb Japan für das H ­ oechst-Management aufgrund der sprachlichen Barrieren und der Mentalitätsunterschiede auch Ende der 1970er Jahre noch ein Markt mit »ganz besonderen Anforderungen«.391

389 Geschäftsbericht ­Hoechst 1970, S. 60; Geschäftsbericht H ­ oechst 1972, S. 57; Geschäftsbericht ­Hoechst 1975, S. 60; Geschäftsbericht H ­ oechst 1980, S. 47. 390 Geschäftsbericht ­Hoechst 1979, S. 46; ­Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 74/Japan, ­Hoechst in Japan (29.08.1990). 391 ­Hoechst-Archiv, Hauptversammlungen 1978–79: Geschäftsberichts-Pressekonferenz (26.04.1979) [Zitat].

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3.2.4 Sparten- und Produktentwicklung Betrachtet man den Internationalisierungsprozess des ­Hoechst-Konzerns aus der Perspektive der einzelnen Sparten, dann treten ab Mitte der 1960er Jahre neben Arzneimitteln vor allem Chemiefasern und Kunststoffdispersionen in den Vordergrund, für die im Ausland Produktionsstätten geschaffen wurden. ­Hoechst nahm zu jener Zeit Polyvinylacetatanlagen zur Herstellung von Mowilith-Dispersionen in Griechenland, im Iran, in Peru und in Guatemala in Betrieb und verfügte 1967 in 19 Ländern über entsprechende Fabriken. Mowilith wurde besonders in der Bauindustrie als Bindemittel für Außen- und Innenputze sowie für Anstrichfarben und als Spachtelmasse und Baukleber genutzt. Bis Mitte der 1970er Jahre erweiterte das ­Hoechst-Management die Auslandsproduktion auf diesem Gebiet erheblich, so dass der Konzern 1974 in 28 Ländern 35 Anlagen zur Herstellung von Kunststoffdispersionen in Betrieb hatte – u. a. in Spanien, Brasilien, Südafrika und Indien. Die Auslandsgesellschaften produzierten zwei Drittel aller ­Hoechst-Kunststoffdispersionen.392 Bis 1978 stieg jene Anzahl der Hersteller-Länder auf 35 an.393 Die an der Konzernzentrale in DM verbuchten Umsätze und Gewinne der ausländischen Produktionsstätten spiegelten hierbei nicht immer die Mengen-Entwicklungen wider. So verzeichneten die Kunststoff-Dispersionsanlagen in Lateinamerika 1977 einen deutlichen Zuwachs, gleichwohl wurde das Vorjahresniveau aufgrund hoher Inflationsraten und veränderter Wechselkursparitäten in DM umgerechnet nicht erreicht.394 Der Export des Geschäftsbereichs G (Lacke und Kunstharze) war in den 1970er Jahren relativ breit gestreut; dabei standen andere europäische Industrieländer – wie Frankreich, Italien, die Niederlande und Belgien – an der Spitze der wichtigsten Exportländer.395 Während der Ex392 Geschäftsbericht ­Hoechst 1967, S. 23; Geschäftsbericht ­Hoechst 1974, S. 41; ­HoechstArchiv, Ordner »Jubiläumsbände und Festschriften«, Hoe 172, Referat Dir. Kurt Lanz, Stand und Entwicklung des ­Hoechster Auslands-Geschäfts (Aufsichtsratssitzung, 28.09.1965). Bereits 1965 lag der Auslandsanteil der Mowilith-Produktion bei 63 %. 393 Geschäftsbericht ­Hoechst 1978, S. 30. Dem Geschäftsbereich Kunstharze und Lacke unterstanden 1976 39 Anlagen für Kunststoffdispersionen in 32 Ländern und 18 Anlagen für Kunstharze in 13 Ländern. Vgl. H ­ oechst-Archiv, H0159146, GG 1 Lacke und Kunstharze, Zentrale Direktionsabteilung an Vorstand (23.09.1976). 394 ­Hoechst-Archiv, H0159178, GG 7 Lacke und Kunstharze, Verkauf Kunstharze an Vorstandssekretariat. Jahresbericht 1977 (März 1978). 395 ­Hoechst-Archiv, H0159178, GG 7 Lacke und Kunstharze, Verkauf Lackrohstoffe und Kunstharze an Vorstandssekretariat. Jahresbericht 1972 (März 1973), Verkauf Kunstharze an Vorstandssekretariat. Jahresbericht 1977 (März 1978). Im Dezember 1976 wurde der Geschäftsbereich »Kunstharze und Lacke« in die beiden Geschäftsbereiche »Kunstharze« und »Lacke« aufgeteilt, um die in- wie ausländischen Lackaktivitäten zu sanieren. Eine Rentabilitätsstudie 1975 ergab, dass die von den Lackgesellschaften an ­Hoechst ausgeschütteten Dividenden seit dem Einstieg in das Lackgeschäft Ende der 1960er Jahre bei weitem nicht die erforderliche Mindestverzinsung erreichten. Allein

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port vor allem aus dem Werk Frankfurt-Höchst gesteuert wurde, erforderte der hohe Anteil der Auslandsproduktion den ständigen Informationsaustausch zwischen den Auslandsgesellschaften und dem Geschäftsbereich der ­Hoechst AG . Neben regelmäßigen kaufmännischen und technischen Arbeitstagungen im In- und Ausland und einem umfangreichen Berichtswesen fanden daher alle zwei (Europa) bzw. drei Jahre (Übersee) Tagungen der Produktionsleiter einer Region statt.396 Dabei war der Ausbau der Auslandsproduktion Mitte der 1970er Jahre keineswegs an sein Ende gekommen, vielmehr entwickelte man bei H ­ oechst 1977 ein umfangreiches Konzept zur Ausweitung von Vina-Ethylen-Dispersionen, denen jährliche Steigerungsraten von 20 Prozent vorausgesagt wurden. In Westeuropa stand ­Hoechst (15 %) hier 1976 auf Platz zwei hinter dem Marktführer Wacker Chemie (65 %), an dem ­Hoechst wiederum zu 50 Prozent beteiligt war, und vor dem US -Unternehmen Air Products (9 %). Neben einem Kapazitätsausbau in der Bundesrepublik für ca. zehn Mio. DM plante ­Hoechst für den Zeitraum 1979 bis 1984 den Bau von vier großen Anlagen in Westeuropa – Schweden, Großbritannien, Spanien und Frankreich – mit einem Gesamtinvestitionsvolumen von 40 bis 50  Mio. DM .397 Dabei ging es nicht unbedingt um die Errichtung neuer Standorte, sondern um den Aus- und Umbau vorhandener Anlagen. Hintergrund dieser Konzeption war die Beobachtung, dass konkurrierende Unternehmen den Vorsprung bei Standard-Kunststoff-Dispersionen inzwischen aufgeholt hatten und daher nur der Übergang zu Kunststoff-Dispersionen der zweiten Generation dauerhaft die Stellung von ­Hoechst auf dem Dispersionsmarkt sichern konnte.398 Mit seinem hohen ausländischen Produktionsanteil unterschied sich der Produktzweig Kunstharze und Lacke deutlich von der Farbstoff-Sparte. Zwar wurden hier bereits 1972 drei Viertel des Umsatzes im Ausland erzielt, doch lag der Schwerpunkt der Produktion nach wie vor im Inland. Dies hatte einen guten Grund, denn die Herstellung organischer Farbstoffe erforderte eine tiefgestaffelte Verbundproduktion, über die H ­ oechst zu dieser Zeit nur in der Bundesrepublik verfügte und die nicht einfach ins Ausland transferiert werden im Fall von BJN bzw. Herberts hatte H ­ oechst bis 1975 für Kauf und Kapitalerhöhungen 367 bzw. knapp 100 Mio. DM aufbringen müssen. In den Jahren 1977 bis 1979 wurden weite Teile der Lackaktivitäten bei Herberts zusammengeführt. Vgl. ­Hoechst-Archiv, H0159146, GG 1 Lacke und Kunstharze, Rundschreiben Nr. 1026 (30.09.1976), Rentabilität der H ­ oechster Lackbeteiligungen (21.05.1975), ZDA (Dormann) an Vorstand (Sammet) (23.05.1975). 396 ­Hoechst-Archiv, H0159146, GG 1 Lacke und Kunstharze, Notiz der Zentralen Direktionsabteilung (18.10.1979). 397 ­Hoechst-Archiv, H0159146, GG 1 Lacke und Kunstharze, Geschäftsbereich G. Konzept Vina-Äthylen-Dispersionen (12.05.1977, 17.05.1977). 398 ­Hoechst-Archiv, H0159146, GG 1 Lacke und Kunstharze, Zentrale Direktionsabteilung. Notiz Investitionspolitik des Geschäftsbereichs G im Ausland (24.01.1977), Entwicklung der ausländischen Kunstharzproduktionsstätten 1973–1980.

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konnte. Zugegebenermaßen ließ der ­Hoechst-Vorstand auch Farbstoff-Anlagen im Ausland errichten, allerdings blieben diese Werke bis auf weiteres weitgehend von westdeutschen Vorprodukten abhängig. Dabei entfiel die Hälfte des Auslandsumsatzes zu Beginn der 1970er Jahre auf die Produktion der Rhode Island Works der US -Tochtergesellschaft AHC .399 Die Produktvielfalt von ­Hoechst war vergleichbar mit derjenigen von Bayer und damit beispielsweise wesentlich größer als diejenige von Akzo zu jener Zeit. Folglich waren ­Hoechst und Bayer weniger gegenüber konjunkturellen Einbrüchen einzelner Produkte anfällig, gleichwohl hatte die europäische Chemie­faserkrise der 1970er Jahre auch für den ­Hoechst-Konzern und dessen Fasersparte dramatische Folgen. Mit dem Auslaufen des Patentschutzes für Polyesterfasern Ende 1966 betraten mit ICI, DuPont und Kodak neue ausländische Chemiekonzerne den westdeutschen Kunstfasermarkt, der in den vorangegangenen zwölf Jahren Trevira (­Hoechst) und Diolen (Glanzstoff) vorbehalten war.400 Dennoch baute der ­Hoechst-Vorstand in Erwartung eines anhaltenden Wachstums zu dieser Zeit noch die inländischen Faserkapazitäten aus und errichtete – mit staatlicher Unterstützung – im nordhessischen Bad Hersfeld im Zonenrandgebiet 1966 für 60 Millionen DM ein neues Trevira-Werk.401 Zugleich begegnete er der zunehmenden Konkurrenz auf dem Inlandsmarkt mit dem Aufbau ausländischer Produktionsstätten, denn mit dem Ablauf der Polyesterpatente fielen auch die Beschränkungen auf den ausländischen Märkten – wie in den USA . In Kooperation mit ausländischen Unternehmen baute ­Hoechst daher Trevira-Produktionsbetriebe in Österreich (Chemiefaser Lenzing AG), Spanien (Union Española de Explosivos (UEE)) und den USA (Hystron Fibers Inc. mit Hercules Inc.) auf. Ebenso wurden in Nordirland, Südafrika, Chile, Mexiko und Brasilien Trevira-Fabriken eröffnet. Insbesondere in den USA wurde Trevira erfolgreich als Faser mit europäischem Flair präsentiert, so dass die Produktionskapazität von Hystron Fibers bis in die 1970er Jahre hinein anwuchs.402 Obschon die Preise für Chemiefasern und Kunststoffe teilweise schon seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre nachgaben, bildeten der Kapazitätsausbau für Synthe-

399 Geschäftsbericht ­Hoechst 1972, S. 18. Bei H ­ oechst gehörten zu den Polykondensaten: Kolophonium-, Alkyd-, Phenol- und Lackaminharze; Mowiol und Mowital waren ­Hoechst-Polymerisate. 400 »Markt im Netz«, in: Der Spiegel 12/1967, 13.03.1967, S. 74–77. 401 »Mehr Trevira für den Export«, in: FAZ , 22.03.1966, S. 16. 402 Bäumler, Farben, S. 381–386; Klein, Operation, S. 58–59, 62–63; Schreier / Wex, ­Hoechst, S. 291; »Gemeinsame Tochter H ­ oechst-Hercules«, in: FAZ , 18.05.1966, S. 20; »Neue Auslandsengagements der Farbwerke H ­ oechst«, in: FAZ , 24.09.1965, S. 31; Geschäftsbericht ­Hoechst 1967, S. 29. Unter Beteiligung der Bataafse Petroleum Maatschappij N. V. und der Cia. Espanola de Petroleos S. A. hatten H ­ oechst und UEE bereits 1961/63 die Industrias Quimicas Asociadas S. A. zur Herstellung petrochemischer Erzeugnisse in Spanien gegründet. Vgl. H ­ oechst-Archiv, Hoe. Ausl. 115/Spanien: Auslandsorganisation der ­Hoechst-Gruppe.

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sefasern in den USA und Brasilien sowie für Kunststoffe in Frankreich, den Niederlanden und Südafrika 1973 die Investitionsschwerpunkte von ­Hoechst.403 Mit über 2,5 Milliarden DM Verlust wurde 1975 zum Katastrophenjahr für die westdeutsche Faserindustrie, und auch ­Hoechst musste auf den zunehmenden Import von Textilien und Halbfabrikaten aus Japan, Südkorea und Taiwan reagieren. Die westeuropäischen Produktionskapazitäten der ­Hoechst-Fasersparte waren 1975 nur noch zu zwei Dritteln ausgelastet; der Umsatzeinbruch war stärker als in allen anderen Geschäftsbereichen. Das daraufhin gestartete Aktionsprogramm des ­Hoechst-Konzerns umfasste die Schließung von vier der sechzehn westeuropäischen Faserstandorte sowie die Einstellung von Produktlinien an sechs weiteren Standorten, die Optimierung der Verfahrenstechnologie und die Straffung der Verkaufs- und Produktionsprogramme. Ferner wurde die Produktion von Erzeugnissen mit hoher Abhängigkeit von konjunkturellen Schwankungen der Bekleidungs- und Heimtextilindustrie reduziert und statt­dessen die Herstellung hochfester Garne sowie von Filamenten für Autobezugsstoffe verstärkt. Trotz der Bemühungen zur Ausweitung des Auslandsgeschäfts und der Umstellungen in Westeuropa wurde die ­Hoechst-Fasersparte von der Krise schwer getroffen: Innerhalb von sieben Jahren wurde die ­Hoechst-Belegschaft des Faserbereichs in Westeuropa von 16.000 auf 9.000 Beschäftigte reduziert.404 Nach der kurzzeitigen Erholung 1978/79 musste die westeuropäische Chemiefaserindustrie 1980 erneut einen Verlust von 2,6 Mrd. DM verkraften. Aus der Textilindustrie kamen kaum Impulse; die Fasernachfrage der Endverbraucher stagnierte bei steigenden Textil- und Bekleidungsimporten. Zugleich unterlag der Export von Chemiefasern in die USA aufgrund der schwankenden Wechselkurse großen Unsicherheiten.405 Erst nach dem Kapazitätsabbau im Rahmen des europäischen Strukturkrisenkartells und der konjunkturellen Erholung nach der Wirtschaftskrise zu Beginn der 1980er Jahre verbesserte sich die Lage. Im Fall von ­Hoechst hing dies aber nicht nur mit der veränderten Nachfragestruktur zusammen, vielmehr hatte der Frankfurter Chemiekonzern auch in der Krise Forschung und Entwicklung nicht eingestellt, sondern neue, schwer entflammbare Trevira-Fasern entwickelt, die in Flugzeugen, Zügen, Kranken-

403 Geschäftsbericht ­Hoechst 1973, S. 22. Sammet verwies 1970 explizit auf die wachsende internationale Konkurrenz und die fallenden Preise bei Chemiefasern und Kunststoffen, gleichwohl gab er in derselben Pressekonferenz bekannt, dass neben der Erweiterung der Pharma-, Kunstharz- und Lackanlagen die Investitionsschwerpunkte im Ausland bei Faser- und Kunststoffproduktionen liegen würden. Vgl. H ­ oechst-Archiv, Hoe 42 C/2/1/d Jahrgang 3, Rede von Rolf Sammet (23.09.1970). 404 Bäumler, Farben, S. 387–389; Geschäftsbericht ­Hoechst 1975, S. 23; ­Hoechst-Archiv, H0159120, GF 7 Fasern und Faservorprodukte, Zur gegenwärtigen Situation der Chemiefaserindustrie (25.04.1975). 405 ­Hoechst-Archiv, H0159120, GF 7 Fasern und Faservorprodukte, Das H ­ oechster Fasergeschäft 1981 (03.11.1981).

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häusern und Schulen eingesetzt wurden. Mit hochfesten Geweben für den Baubereich, Polyestervlies als Untergrundmaterial für den Straßenbau oder flexiblen Schuttgutbehältern aus Trevira bot ­Hoechst Anfang der 1980er Jahre eine Vielzahl unterschiedlicher Fasertypen im technischen Bereich an, die weniger von den Konsumschwankungen der Textilindustrie abhängig waren.406 Obschon der ­Hoechst-Geschäftsbereich Kunststoffe und Wachse in der Krise 1975 stabiler als der Faserbereich blieb, waren die Kapazitäten auch hier teilweise unter 50 Prozent ausgelastet. Die Unternehmensleitung meldete daraufhin Kurzarbeit für die westdeutschen Werke an; ausscheidende Beschäftigte wurden bis auf weiteres nicht ersetzt. Insgesamt erreichte die Kurzarbeit bei ­Hoechst in der Bundesrepublik im Dezember 1975 mit 21.800 betroffenen Personen ihren Höhepunkt.407 Dass H ­ oechst trotzdem die ausländischen Niederdruckpolyethylen-Kapazitäten (Hostalen) ausbaute, lag vorwiegend in der Annahme, dass nur eine landeseigene Produktion zu einer befriedigenden Marktposition führe, auch wenn Hostalen in Großanlagen billiger hergestellt werden konnte. »Auch unsere starke Position in Deutschland und jene der Franzosen in Frankreich und der Engländer in England beruht letztlich auf der Tatsache, dass man dem Landesproduzenten […] den Vorzug gibt.«408 Die Zukunftsprognosen gingen Mitte der 1970er Jahre von einem weiteren Anstieg des Kunststoff-Pro-KopfVerbrauchs in den Industrie- und Entwicklungsländern aus, dennoch musste das Management auf die geringe Auslastung der Anlagen und den Aufstieg neuer Konkurrenten reagieren. ­Hoechst zog sich – wie schon bei Fasern – nicht aus dem Geschäftsfeld zurück, sondern stellte auch hier das Programm auf höherwertige Produkte um. Der Bau der beachtlichen Kunststofffabrikation im texanischen Bayport 1980 – der bis dahin größten Auslandsinvestition von ­Hoechst – demonstrierte den Willen, die Position des Unternehmens auf diesem Geschäftsfeld zu behaupten.409 Doch dieser Versuch eines Befreiungsschlags war wenig erfolgreich. Zum einen existierten nach wie vor zu hohe Kapazitäten für Standard-Kunststoffe in Westeuropa, so dass einige Hersteller Produkte wie PVC unter ihren Produktionskosten verkauften und ­Hoechst in der Wirtschaftskrise zu Beginn der 1980er Jahre bei Kunststoffen einen Verlust von über 200 Mio. DM (1982) einfuhr; zum anderen litt die Anlage in Bayport unter erheblichen Kin-

406 Bäumler, Farben, S. 391–392; Geschäftsbericht ­Hoechst 1982, S. 36–37. 407 Geschäftsbericht ­Hoechst 1975, S. 8, 47. 408 ­Hoechst-Archiv, H0073210, H ­ oechst France, Notiz des Verkaufs Kunststoffe (30.06.1970). Der Marktanteil von ­Hoechst in Großbritannien sollte durch eine inländische 50.000 Jahrestonnen Niederdruckpolyethylen-Anlage innerhalb von sieben Jahren bei stark steigender Nachfrage von 11,5 auf 30 % steigen. Vgl. ­Hoechst-Archiv, H0073142, Großbritannien / ­Hoechst U. K., Verkauf Kunststoffe. Protokoll der England-Besprechung (23.10.1970). 409 Bäumler, Farben, S. 342–345; »­Hoechst will den amerikanischen Kunststoffmarkt erobern«, in: FAZ , 16.10.1980, S. 15; Geschäftsbericht H ­ oechst 1974, S. 12, Geschäftsbericht ­Hoechst 1975, S. 8.

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derkrankheiten, so dass die US -Konkurrenz jene Marktlücken besetzen konnte, die die H ­ oechst-Verkaufsabteilung zuvor anvisiert hatte. Als Konsequenz senkte ­Hoechst ab 1981 seine Produktion für Niederdruck-Polyethylen in der Bundesrepublik um 40 Prozent und seine niederländischen Polystyrol-Kapazitäten in Breda um 25 Prozent. Neue Schwerpunkte im Kunststoffbereich bildeten fortan qualitativ hochwertige, technische Werkstoffe, welche sich in den Krisen der 1970er Jahre in Bezug auf Absatz und Preis als widerstandsfähiger erwiesen hatten.410 Die Pharmasparte hatte die ökonomischen Turbulenzen der 1970er Jahre besser bewältigt und verzeichnete selbst 1975 eine gute Nachfrage. Dabei war ihr Auslandsgeschäft stark von einzelnen Produkten – wie Lasix, Trental oder Claforan  – abhängig. Das 1962 klinisch geprüfte und 1966 von der US -amerikanischen Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration (FDA) zugelassene Furosemid (Markenname: Lasix) stand lange Zeit weltweit an der Spitze der ­Hoechster Arzneimittel und gehörte zu den Exportschlagern. Bis 1970 war ­Hoechst auf dem britischen Markt beispielsweise nur mit 12 PharmaProdukten vertreten; hierbei entfielen 80 Prozent des Umsatzes auf Lasix.411 Mit Ausnahme der USA blieb die Auslandsproduktion des Geschäftsbereichs Pharma in anderen Industrieländern bis in die 1970er Jahre überschaubar. Nicht zuletzt der Contergan-Skandal zu Beginn der 1960er Jahre zog zahlreiche neue Arzneimittelkontrollen und Zulassungsverfahren – wie durch die FDA – nach sich. Landesspezifische Genehmigungs- und Zertifizierungsverfahren erhöhten den Anreiz, im Ausland eigenständige Fertigungen mit begrenzten Forschungskompetenzen aufzubauen. Sowohl der Ausbau des Pharmageschäfts der US Tochtergesellschaft AHC als auch die Übernahme von Roussel Uclaf und der Erwerb einer Arzneimittelfertigung in Italien sind in diesem Zusammenhang zu sehen.412 Ebenso übten die britischen Gesundheitsbehörden (Ministry of Health, National Health Service) um 1970 Druck auf die ­Hoechst Pharmaceuticals Ltd. aus, ihre Preise zu senken und eine landeseigene Fertigung aufzubauen. Diesem Ansinnen kam ­Hoechst in Zusammenarbeit mit Roussel Laboratories ein Stück weit entgegen.413 In Entwicklungs- und Schwellenländern hatte ­Hoechst aufgrund von Marktzugangsbeschränkungen wie Importzöllen und Zulassungsbeschränkungen, die beispielsweise den Import fertiger Arzneimittel untersagten, schon früher 410 Bäumler, Farben, S. 342–353; Geschäftsbericht ­Hoechst 1975, S. 23. 411 Bäumler, Farben, S. 403–409; ­Hoechst-Archiv, H0073239, Großbritannien / ­Hoechst U. K., Minutes of a Meeting of Directors of ­Hoechst U. K. Ltd. (22.11.1971). 412 Wortmann, Komplex, S. 106–109. Vgl. zum Contergan-Skandal: Lenhard-Schramm, Contergan. 413 ­Hoechst-Archiv, H0073245, Großbritannien / ­Hoechst U. K., Aktennotiz über Besprechungen mit Roussel Laboratories U. K. (05.06.1970), Notiz Pharma-Ausland (08.09.1970). Vgl. für eine detaillierte, nach Ländern geordnete Auflistung aller Auslandsprojekte des ­Hoechst-Geschäftsbereichs Pharma in den 1970er Jahren: H ­ oechst-Archiv, H0159258, GL 2.3.2 Pharma AK Auslandsproduktion (1972–1981).

Hoechst

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die Fertigung und / oder Konfektionierung von Medikamenten aufgenommen. Ab Ende der 1950er Jahre entstanden in Mexiko, Kolumbien, Argentinien, Venezuela, Peru und Ägypten entsprechende Produktionsstätten, so dass ­Hoechst Ende 1962 über Pharmafertigungen in 14 Ländern verfügte. Während der 1960er Jahre kamen weitere 12 Länder wie Südafrika, Thailand, Südvietnam, Taiwan, Indonesien, die Türkei oder der Iran hinzu. Im Vergleich zu anderen Sparten verfügte der Pharmabereich daher lange Zeit über die meisten ausländischen Produktionsstätten, allerdings handelte es sich hierbei oftmals nur um Kleinbetriebe mit weit unter 100 Beschäftigten, in denen die aus der Bundesrepublik gelieferten Wirkstoffe lediglich in Form und Verpackung gebracht wurden. Kleine, spezialisierte Forschungslaboratorien waren allenfalls in Brasilien, Indien und Ägypten entstanden. Dagegen nahmen die Investitionen in den USA oder Frankreich eine vollkommen andere Dimension an. Besonders im Fall von Roussel Uclaf hatte ­Hoechst keinen Produktionsbetrieb, sondern ein international aufgestelltes, forschendes Pharmaunternehmen übernommen, das 1970 über mehr als 17.000 Beschäftigte verfügte.414 Bis 1968 waren ausländische Pharma-Fertigungsbetriebe des H ­ oechstKonzerns vor allem in Asien sowie Nord- und Südamerika errichtet worden. Seitdem wurde die Auslandsproduktion weltweit umfangreich ausgebaut. Neben den USA, Australien und Indonesien entstanden besonders in Europa – Frankreich, Griechenland, Italien, Österreich und Portugal – neue Fertigungsbetriebe, um behördliche Auflagen zu erfüllen, Marktanteile zu sichern und landesspezifische Vorteile in Form von Investitionshilfen und niedrigeren Steuern wahrzunehmen. Die Gesamtinvestitionen in die Pharma-Auslandsproduktion für den Zeitraum 1969 bis 1982 beliefen sich auf etwa eine Milliarde DM und lagen damit etwa so hoch wie die Pharma-Inlandsinvestitionen, wobei besonders der Bau der Pharma-Anlagen in Bridgewater und der Kauf der Calbiochem in den USA sowie der Aufbau der Pharmafertigung im italienischen Scoppito herausstachen. Infolgedessen verdoppelte sich auch die Zahl der Beschäftigten in der Pharma-Auslandsproduktion von unter 3.500 (1969) über 6.000 (1976) auf 7.000 (1982).415

414 AHGS , Fonds Roussel Uclaf / RU-27, Roussel Uclaf Exercice (1970), S. 50; Wortmann, Komplex, S. 104–105. Die Zahl der Länder mit einer ­Hoechst-Pharma-Fertigung stieg zwischen 1960 und 1975 von 11 auf 33. Vgl. ­Hoechst-Archiv, H0159233, GL 2.3 Pharma, Protokoll der 63. Sitzung des AK Produktion Pharma am 24.09.1976 (12.10.1976). Der Arbeitskreis »Produktion Pharma« hielt 1979 in Bezug auf das von H ­ oechst und Roussel Uclaf entwickelte Antibiotikum HR 756 beispielsweise explizit fest, dass hierfür in Italien, Spanien, Portugal, Jugoslawien, Argentinien, Brasilien, Mexiko, Peru, Indien und Indonesien aufgrund lokaler Gesetze und bestehender Zollschutzbarrieren eine lokale Fertigung notwendig sei. Vgl. H ­ oechst-Archiv, H0159233, GL 2.3 Pharma, Protokoll der 74. Sitzung des AK Produktion Pharma am 28.03.1979 (28.05.1979). 415 ­Hoechst-Archiv, H0159232, GL 2.3 Pharma, Protokoll der 100. Sitzung des AK Produktion Pharma am 22.06.1983 (01.07.1983).

290

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Die ausländischen Umsatzschwerpunkte der westdeutschen Pharmaproduzenten des ­Hoechst-Konzerns – ­Hoechst-Pharma-Division, Behringwerke AG, Cassella AG – stellten auch die Investitionsschwerpunkte in ausländische Beteiligungsgesellschaften dar. Sie lagen zu Beginn der 1980er Jahre in den USA, Japan, Italien, Frankreich und Brasilien. Hierhin wurde auch weiterhin exportiert. Die mit Abstand größte Fertigungsleistung im Ausland – ohne Roussel Uclaf – befand sich 1983 in Indien. Die indische Tochtergesellschaft ­Hoechst Pharmaceuticals Ltd. machte zu Beginn der 1980er Jahre insbesondere von der Möglichkeit Gebrauch, eine Fertigung in der Freihandelszone der indischen Hafenstadt Kandla aufzubauen, welche Ertragssteuerfreiheit für alle Exporte auf die Dauer von fünf Jahren, eine steuerfreie Einfuhr von Rohmaterialien, Subventionen in Höhe von 15 Prozent der Investitionssumme und eine freie Fremdkapitalbeteiligung bot. Derartige Exportproduktionszonen waren mit ihren günstigen Bedingungen darauf ausgerichtet, ausländische Unternehmen zur Verlagerung ihrer Produktion zu bewegen. Die Konditionen der Freihandelszone waren für ­Hoechst attraktiv, da bereits 1981 ein Großteil des indischen Pharmageschäfts auf Exporte an die UdSSR entfiel und auch die neue Anlage vorrangig die UdSSR beliefern sollte.416 Der Weltumsatz von ­Hoechst, Behringwerke und Cassella im Pharmabereich für den Zeitraum Januar bis August 1983 setzte sich aus 1.044 Mio. DM (32 %) Inlands- und 2.250 DM (68 %) Auslandsumsatz zusammen, wobei ca. 800 Mio. auf den Export entfielen. Allein die Behringwerke verkauften ihre Produkte zu dieser Zeit in 128 Ländern und produzierten neben Marburg in 18 ausländischen 416 ­Hoechst-Archiv, H0159233, GL 2.3 Pharma, Protokoll der 57. Sitzung des AK Produktion Pharma am 24.09.1975 (22.10.1975); ­Hoechst-Archiv, H0159232, GL 2.3 Pharma, Protokoll der 88. Sitzung des AK Produktion Pharma am 12.08.1981 (08.09.1981), Protokoll der 103. Sitzung des AK Produktion Pharma am 15.12.1983 (23.12.1983); H ­ oechst-Archiv, H0159258, GL 2.3.2 Pharma, Protokoll der 67. Besprechung des AK Auslandsproduktion Pharma am 03.02.1981 (10.02.1981); Wortmann, Komplex, S. 109. Vgl. grundsätzlich zur Bedeutung von Exportproduktionszonen: Neveling, Export processing zones; Neveling, Global spread. Im Jahr 1976 lag Brasilien mit 105 Mio. Einheiten noch vor Indien mit 99 Mio. Einheiten. Mit 400 Mio. Einheiten entfiel 1975 die Hälfte des Ausstoßes der ausländischen Fertigungsbetriebe auf sechs Länder: Brasilien, Indien, Japan, Mexiko, Spanien, Ägypten. Besonders in den drei erstgenannten Ländern war der Anteil der Fertigungskosten am Umsatz gemessen gering; gleichwohl war ein Vergleich verschiedener Kostenarten wegen unterschiedlicher Sortiments- und Betriebsstrukturen insgesamt wenig aussagekräftig. Vgl. ­Hoechst-Archiv, H0159233, GL 2.3 Pharma, Protokoll der 63. Sitzung des AK Produktion Pharma am 24.09.1976 (12.10.1976). Die Belieferung der UdSSR mit ­Hoechst-Präparaten erfolgte im Wesentlichen über H ­ oechst-Fertigungsstätten in Jugoslawien und Indien. Mit Verweis auf ­Hoechst prüfte auch Roussel Uclaf die Möglichkeit, die indische Produktion teilweise in die UdSSR zu exportieren. Vgl. AHGS , Fonds Roussel Uclaf, Cont.N° 786, P. V. Directoire 2, Procès-verbal de la Réunion du Directoire (10.11.1976). Vgl. grundlegend zu den sowjetisch-indischen Wirtschaftsbeziehungen in den 1950er und 1960er Jahren: Hilger, Revolutionsideologie; Hilger, Beziehungen, S. 232–260, 505–559.

Hoechst

291

Betrieben, wobei auch hier Japan, die USA und Brasilien zu den umsatzstärksten Auslandsproduktionen zählten.417 Der Pharmabereich des H ­ oechst-Konzerns war demzufolge auch ohne R ­ oussel Uclaf weitgehend von ausländischen Marktentwicklungen abhängig und verdiente um 1980 jeweils etwa ein Drittel über den Inlandsabsatz, den Export und die Auslandsproduktion. Die für die westdeutsche Wirtschaft typische Exportorientierung wurde auf dem Pharmagebiet in den 1970er Jahren somit nicht aufgegeben, sondern um den Aufbau ausländischer Produktionsbetriebe ergänzt. Natürlich ging die Erweiterung der Auslandsproduktion teilweise zu Lasten des Exports und damit der inländischen Produktion, teilweise war sie aber auch aufgrund nationaler Restriktionen notwendig und damit von der heimischen Produktion entkoppelt. Die Ausweitung multinationaler Unternehmensstrukturen folgte somit nicht immer einer Verlagerungslogik an Standorte mit niedrigeren Löhnen, vielmehr konnte sie auch Ergebnis eines Zusammenspiels von unternehmerischem Expansionsdrang und staatlicher Industriepolitik sein.

3.2.5 Gesamtstruktur des Auslandsgeschäfts Spätestens mit der ökonomischen Krise des Jahres 1975 waren die Nachkriegsgrundfesten hinsichtlich des zukünftigen Verhältnisses von Inlands- und Auslandsmarkt erschüttert. Dies war auf drei Gründe zurückzuführen: Erstens wurden im Geschäftsjahr 1975 zum ersten Mal für ein volles Jahr die erhöhten Energie- und Rohstoffpreise wirksam, die die bisherigen Kostenkalkulationen Makulatur werden ließen. Dabei war zum einen kaum abzusehen, in welche Richtung sich die Preise zukünftig entwickeln würden; zum anderen konnten aufgrund des zunehmenden internationalen Konkurrenzdrucks die Preiserhöhungen nicht vollständig auf die ­Hoechst-Produkte aufgeschlagen werden. Zweitens sank 1975 zum ersten Mal seit 1952 der Inlandsumsatz von ­Hoechst. Auch wenn in den Vorstandsetagen westdeutscher Unternehmen langsam ein Umdenkprozess einsetzte, der der Rentabilität gegenüber der Umsatzhöhe mehr Bedeutung beimaß, markierte dieser Rückgang für die erfolgsverwöhnte und nach wie vor umsatzfixierte Unternehmensleitung einen tiefen Einschnitt. Drittens verzeichnete die ­Hoechst AG 1975 einen Exportrückgang, den die Unternehmensführung auf die schwache Nachfrage im Ausland, den Abbau von Vorräten, die höhere Bewertung der DM und den Anstieg der Kosten zurückführte. Damit geriet aber auch zum ersten Mal das bisherige westdeutsche Exportmodell unter Druck, denn der Umsatz aus ausländischer Produktion stieg weiter an und nahm entsprechend am Gesamtumsatz immer größeren Raum ein (1973: 25 %; 1975: 32 %). Aus diesem Faktorenbündel zog der ­Hoechst-Vorstand den Schluss, 417 ­Hoechst-Archiv, H0159232, GL 2.3 Pharma, Protokoll der 101. Sitzung des AK Produktion Pharma am 17.08.1983 (26.08.1983), Protokoll der 102. Sitzung des AK Produktion Pharma am 12.10.1983 (19.10.1983).

292

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

in den folgenden Jahren verstärkt in den Aufbau ausländischer Produktionsstandorte zu investieren und unrentable – insbesondere inländische – Produktlinien zu schließen. Dabei verlagerte sich das Schwergewicht der Auslandsinvestitionen Ende der 1970er Jahre zunehmend in Richtung der USA – vier Fünftel des Nordamerika-Umsatzes stammten 1975 aus eigener Landesproduktion; die Umsatzverteilung der ­Hoechst-Welt zwischen den einzelnen Sparten blieb bis in die 1980er Jahre hingegen relativ stabil.418 Tabelle 17: ­Hoechst-Weltumsatz nach Geschäftsbereichen in Prozent ­ (1970–1985) 1970

1975

1980

1985

Anorganische Chemikalien

8

7

6

6

Organische Chemikalien

5

5

4

5

Landwirtschaft

5

6

5

7

Farbstoffe und -vorprodukte

8

5

5

5

Tenside und Hilfsmittel

3

3

4

4

Fasern und -vorprodukte

10

8

8

10

Kunstharze und Lacke

12

12

12

10

Kunststoffe und Wachse

9

9

10

10

Folien

5

4

4

4

Reproduktionstechnik /  Informationstechnik

3

3

4

4

14

16

16

16

Pharma Anlagenbau

 

5

2

2

Schweißtechnik und Industriegase

 

4

4

4

13

16

13

Sonstige Arbeitsgebiete

18

­ oechst 1970, S. 12; Geschäftsbericht H ­ oechst 1975, S. 23; GeschäftsQuelle: Geschäftsbericht H bericht ­Hoechst 1980, S. 20; Geschäftsbericht H ­ oechst 1985, S. 18.

Das ­Hoechst-Management sah schon Mitte der 1960er Jahre im Ausland deutlich bessere Wachstumsmöglichkeiten als in der Bundesrepublik. Nicht zuletzt das stärkere Wachstum des ­Hoechst-Auslandsumsatzes in der ersten Hälfte der 418 Geschäftsbericht ­Hoechst 1975, S. 8, 21–24. Vgl. zur Umsatz- und Investitionsstruktur nach Regionen und Produktgruppen sowie zur betriebswirtschaftlichen Entwicklung einiger Auslandsbeteiligungen auch das bei Kiehne zusammengetragene Zahlenmaterial für den Zeitraum 1975–1986: Kiehne, Geschäftsfeldplanung.

Hoechst

293

Dekade hatte die unternehmerischen Entscheidungsträger in ihrem Glauben bestärkt, das Auslandsgeschäft weiter ausbauen zu müssen. Ebenso gehörte die Überzeugung, der zusammenwachsende westeuropäische Binnenmarkt liefere neue Wachstumsimpulse, zum festen Vorstellungskanon des Managements, das den Konzern daher Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre tief in Westeuropa verankerte – deutlich wurde dies vor allem in der Kooperation mit Roussel Uclaf. Durch die Höherbewertung der DM wurde dieser Entschluss zum Ausbau des Auslandsgeschäfts nochmals verstärkt. Damit zeichnete sich in der Internationalisierungsstrategie während der zweiten Hälfte der 1960er Jahre eine Wende ab, in deren Folge großchemische Anlagen zunehmend im Ausland errichtet wurden und diese nicht mehr alleine auf lokale Märkte ausgerichtet waren. Zwar war weiterhin ein Großteil der Auslandsproduktion für die jeweiligen Auslandsmärkte bestimmt, doch die Übernahme international tätiger Unternehmen (wie Roussel Uclaf, BJN oder Foster Grant) und der Export ausländischer Tochtergesellschaften verweisen auf die zunehmenden Verflechtungen zwischen den Märkten und sind beide als Triebkräfte des einsetzenden Globalisierungsprozesses anzusehen. Bereits der ­Hoechst-Geschäftsbericht 1968 hielt fest, dass »nun in nahezu allen uns zugänglichen Ländern eigene Unternehmungen, die wir zunehmend mit anwendungstechnischen Einrichtungen ausgestattet haben, [bestehen]. […] Hand in Hand damit haben wir systematisch Produktionsanlagen im Ausland errichtet. Diese zunächst kleineren Anlagen dienten im wesentlichen der Sicherung unseres Marktanteils. Nunmehr begann eine Phase, in der auf Spezialgebieten Produktionen mit großen Kapazitäten errichtet werden. Damit entstehen einerseits stärkere Basen für die Belieferung ausländischer Märkte, andererseits schaffen wir uns aufgrund vorteilhafter Standortbedingungen mit verschiedenen Anlagen im Ausland kostengünstige Versorgungsmöglichkeiten für den inländischen Bedarf.«419 Jene Aussage war zu dieser Zeit vor allem auf den Aufbau des Werks in Vlissingen gerichtet, beschrieb aber zugleich die Entstehung eines zunächst europäischen, später darüber hinausreichenden Produktionsverbunds, der seine institutionelle Verankerung in der Gründung des Ressorts »Auslandsproduktion« 1969 fand.420 Die geografische Verteilung des ­Hoechst-Weltumsatzes nach Wirtschaftsgebieten in den 1970er Jahren zeigt vier Punkte: Erstens nahm die Bedeutung der Bundesrepublik, in der 1970 noch 46 Prozent des ­Hoechst-Weltumsatzes erwirtschaftet wurden, in Relation zum Ausland auf etwa ein Viertel ab. Zweitens erzeugte ­Hoechst nach wie vor in keinem anderen Land mehr Umsatz als in der Bundesrepublik, gleichwohl besaß der westeuropäische Wirtschaftsraum zusammengenommen ab Mitte der 1970er Jahre ein gleich großes Gewicht wie der Inlandsmarkt. Nachdem Großbritannien, Irland und Dänemark der EG 1973 beigetreten waren, stieg der Umsatzanteil der EWG auf etwa 22 Prozent. 419 Geschäftsbericht ­Hoechst 1968, S. 28. 420 Schreier / Wex, ­Hoechst, S. 285; Wortmann, Komplex, S. 105.

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

50 45 40 35

in Prozent

30 25 20 15 10 5 0

BRD

EWG

EFTA

übriges Osteuropa Nord Westeuropa amerika 1970

1975

1980

Lateinamerika

Afrika

Asien

Australien/ Ozeanien

1985

Abbildung 11: Geografische Verteilung des Hoechst-Weltumsatzes (1970–1985) Quelle: Geschäftsberichte Hoechst 1970–1985; eigene Berechnungen.

Drittens wird hier nochmals deutlich, dass sich die in die lateinamerikanischen Märkte gesetzten Hoffnungen nur ansatzweise erfüllten. Im Vergleich zu den übrigen Weltregionen verharrte der ­Hoechst-Umsatzanteil in Lateinamerika auf einem Niveau von sechs bis sieben Prozent. Ebenso nahmen der Handel mit Osteuropa und das Afrika-Geschäft eine untergeordnete Rolle ein. Eine gewisse Ausnahme bildete der Bau eines chemischen Anlagekomplexes durch die ­Hoechst-Tochtergesellschaft Uhde in der DDR Mitte der 1970er Jahre mit einem Auftragswert von über einer Milliarde DM .421 Viertens erzielte der nordamerikanische Wirtschaftsraum in jener Periode den größten Zuwachs. Zwar lag der summierte Umsatz in Westeuropa 1985 noch doppelt so hoch wie in Nordamerika, dennoch war der Nordamerika-Anteil zwischen 1970 und 1985 von sieben auf 15 Prozent geklettert. Hier spiegelten sich die Entscheidungen des Managements zum Ausbau des AHC-Geschäfts und die enormen Investitionen in Bayport wider, welche sich durch die Erwartungen hinsichtlich der Absatzmöglichkeiten und der trendgebenden Funktion des US Chemiemarkts erklären lassen. Der Bedeutungsgewinn des Auslandsgeschäfts und die Hinwendung zu ausländischen Produktionsanlagen werden ebenfalls bei einer Analyse der Vertei421 Karlsch, Milliardengeschäft.

295

Hoechst 80 70 60

in Prozent

50 40 30 20 10

19

5 19 2 5 19 3 5 19 4 5 19 5 5 19 6 5 19 7 5 19 8 5 19 9 6 19 0 6 19 1 6 19 2 6 19 3 6 19 4 6 19 5 6 19 6 6 19 7 6 19 8 6 19 9 7 19 0 7 19 1 7 19 2 7 19 3 7 19 4 7 19 5 7 19 6 7 19 7 7 19 8 7 19 9 8 19 0 8 19 1 8 19 2 8 19 3 8 19 4 85

0

Auslandsproduktion

Export

Inlandsumsatz

Auslandsumsatz

Abbildung 12: Auslandsgeschäft des Hoechst-Konzerns (1952–1985) Quelle: Geschäftsberichte Hoechst (1967–1985); Auslandsproduktion sowie Inlands- und Auslandsumsatz gemessen am Weltumsatz; Export als Anteil am Weltumsatz ohne Auslandsproduktion; eigene Berechnungen. Anmerkung: Das Weltgeschäft umfasste bis 1969 die Farbwerke Hoechst AG , die übrigen inländischen Mehrheitsbeteiligungen sowie ausländische Gesellschaften, auf die Hoechst einen maßgeblichen Einfluss hatte. Der Kreis der in den Hoechst-Konzern einbezogenen Gesellschaften war enger definiert. Im Jahr 1969 gehörten mit Ausnahme der Friedrich Uhde GmbH (77,5 %) und der Messer Griesheim GmbH (66,7 %) ausschließlich 100-prozentige Beteiligungen dem Hoechst-Konzern an. Der Weltumsatz und der Auslandsumsatz (jeweils Hoechst-Welt) enthalten ab 1969 auch die Umsätze der Unternehmen, an denen die Farbwerke Hoechst AG unmittelbar und mittelbar mit 50 % und mehr beteiligt war. Sie sind deshalb mit den Daten vor 1969 nur bedingt vergleichbar. Bis 1986 wurde am Begriff »Hoechst Welt« und an dieser Konsolidierungsmethode festgehalten. Ab 1987 wurde nur noch zwischen der Hoechst AG und dem Hoechst-Konzern unterschieden, wobei letzterer im Wesentlichen den Konsolidierungskreis der vorherigen Hoechst Welt umfasste. Vgl. Geschäftsbericht Hoechst 1969, S. 1, 48; Geschäftsbericht Hoechst 1970, S. 72; Geschäftsbericht Hoechst 1987, S. 55.

lung von Inlands- und Auslandsumsatz sowie von Export und Auslandsproduktion sichtbar. Dabei stiegen die Umsätze der Auslandsgesellschaften teilweise noch stärker, als dies in den in DM umgerechneten Werten zum Ausdruck kam. Grund hierfür waren die Höherbewertung der DM und unterschiedlich hohe Inflationsraten.422 Im Jahr 1967 überstieg der ausländische Umsatz der ­Hoechst  AG (3.332  Mio. DM) erstmals den Inlandsumsatz (3.328  Mio. DM), 422 Geschäftsbericht ­Hoechst 1977, S. 17.

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allerdings basierte dieses Ergebnis noch stark auf dem Export aus inländischer Produktion, wohingegen die Eigenleistungen der ausländischen Gesellschaften lediglich 27 Prozent (905 Mio. DM) umfassten. Im Jahr 1980 entfiel hingegen schon die Hälfte des ausländischen Umsatzes auf die ausländische Produktion.423 Zwischen Ende der 1960er und Anfang der 1980er Jahre war es damit zu einer doppelten Verschiebung gekommen. Zum einen nahm der Inlandsumsatz – wie schon in den vorangegangenen beiden Dekaden – weiter ab und trug Mitte der 1980er Jahre nur noch zu einem Viertel des ­Hoechst-Welt-Umsatzes bei; umgekehrt nahm der Auslandsumsatz entsprechend zu. Zum anderen wuchs die Auslandsproduktion als Teil des Auslandsumsatzes  – ähnlich zu Bayer – wesentlich schneller an als der Export aus westdeutschen Fabriken. Die ­Hoechst-Auslandsproduktion hatte erstmals 1959/60 stark zugenommen, dann erlebte sie vor allem ab Ende der 1970er Jahre einen deutlichen Schub und hatte letztlich Anfang der 1980er Jahre einen Anteil von 40 Prozent am Weltumsatz des ­Hoechst-Konzerns. Der Anteil der in der Bundesrepublik hergestellten und exportierten Waren stieg zwar ebenfalls an und überschritt schon Mitte der 1970er Jahre die 50-Prozent-Marke – insofern nahm die Bedeutung des Auslandsgeschäfts auch für die inländischen Belegschaften zu und in dieser Hinsicht hielt die Unternehmensleitung auch am Exportmodell fest. Gleichwohl umfasste der Export – gemessen am Weltumsatz – seit Mitte der 1960er Jahre recht konstant ein Drittel. Während für inländische Beschäftigte somit der Export immer wichtiger wurde, war aus der Perspektive der Konzernführung der Bedeutungsgewinn der Auslandsproduktion maßgeblicher. Hierbei wurde der Auf- und Ausbau ausländischer Fertigungsstätten über Joint Ventures, Beteiligungen oder Auslandsinvestitionen zum Markenkern der Internationalisierung in den 1970er Jahren. Für ein Unternehmen einer forschungsintensiven Branche wie der Chemieindustrie stellte sich mit Blick auf die Bedeutung des Auslandsgeschäfts und das Selbstverständnis des Unternehmens schließlich die Frage, wo Forschung und Entwicklung stattfinden sollten. Je stärker sich ­Hoechst internationalisierte und die Auslandsproduktion an Bedeutung gewann, umso wichtiger wurden in einigen Ländern eigene Forschungsaktivitäten. Auch wenn der Forschungsaufwand in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren noch eindeutig dominierte, sah das Management schon zu dieser Zeit die Notwendigkeit, im Ausland wissenschaftliche Forschung zu betreiben, um landesspezifischen Aufgaben und Zulassungsverfahren gerecht zu werden. Gleichzeitig sollten auf diese Weise wissenschaftliche Kontakte auf internationaler Ebene angebahnt und vertieft werden. Schon Anfang der 1970er Jahre konnten die Forschungslabore der AHC in Bridgewater oder der japanischen Tochtergesellschaften toxikologische und pharmakologische Prüfungen durchführen. Die Forschungen in Indien konzentrierten sich auf die Isolierung medizinischer Wirkstoffe; auf Versuchsstätten in Südafrika wurde 423 Geschäftsbericht ­Hoechst 1968, S. 12; Geschäftsbericht ­Hoechst 1980, S. 1; Richter, BASF, hier S. 458–464; Schröter, Außenwirtschaft, hier S. 92.

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die Wirkung von Pflanzenschutzmitteln und Veterinärpräparaten untersucht; und in Spartanburg bei Hystron Fibers forschte man nach marktspezifischen Anforderungen auf dem Fasergebiet.424 Nachdem der westdeutsche Konzern 1971 weitere Forschungseinrichtungen in Marokko, Westafrika und Indonesien eröffnet hatte, verfügte er insgesamt in 38 Ländern über Laboratorien.425 Im Unterschied zum Aufbau von Vertriebswegen ging die Errichtung von ausländischen Produktionsstätten somit stückweise mit der Weitergabe von Know-how an die Auslandsgesellschaften sowie der Aneignung eigener Wissensbestände im Ausland einher, allerdings verblieb das Forschungszentrum des ­Hoechst-Konzerns vorerst noch am Heimatstandort in Frankfurt am Main. Neue Auslandslaboratorien waren in den 1970er Jahren daher noch primär als Ergänzungen zum westdeutschen Forschungs- und Entwicklungszentrum anzusehen, die die Produkte an die landesspezifischen Bedingungen anpassten, gleichwohl wurde hier der Grundstein für die spätere Verlagerung von Forschungseinrichtungen gelegt.

3.2.6 Zwischenfazit Insgesamt hielt H ­ oechst auch in den 1970er Jahren am bewährten westdeutschen Exportmodell fest, doch erreichte der Aufbau ausländischer Produktionsbetriebe über den Erwerb von Auslandsbeteiligungen eine neue Dimension. Während in der zweiten Hälfte der 1960er und ersten Hälfte der 1970er Jahre in geografischer Perspektive noch die benachbarten westeuropäischen Länder im Fokus der Investitionspolitik standen, entwickelten sich ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre vor allem die USA zu einem Investitionsschwerpunkt. In einem Strategiepapier einer ­Hoechst-Europa-Konferenz 1979 hieß es entsprechend: »Ziel des Unternehmens ist es, möglichst alle sich für ­Hoechst bietenden Marktchancen in möglichst allen Ländern der Welt optimal auszunutzen.«426 In Westeuropa sind hier zum einen die Übernahmen von Roussel Uclaf in Frankreich und BJN in Großbritannien zu betonen; in den USA stachen zweifellos die Akquisitionen von Foster Grant Co. Inc. und Calbiochem sowie die Investitionen in Bayport heraus. Dabei war es geradezu kennzeichnend, dass es sich hierbei vielfach ebenfalls um breit aufgestellte, multinationale Unternehmen handelte, die mit der Organisationsstruktur des multinationalen ­Hoechst-Konzerns verwoben 424 Geschäftsbericht ­Hoechst 1970, S. 36; Klein, Operation, S. 82–83; Vlaanderen, H ­ oechst, S. 95–96. 425 Geschäftsbericht ­Hoechst 1971, S. 39. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wurden bereits 85–90 % aller Pharma-Qualitätskontrollen für im Ausland hergestellte Produkte von entsprechenden Auslandslaboratorien durchgeführt. Vgl. H ­ oechst-Archiv, H0159232, GL 2.3 Pharma, Protokoll der 88. Sitzung des AK Produktion Pharma am 12.08.1981 (08.09.1981). 426 Zitiert nach Klein, Operation, S. 120. Vgl. auch: »Chemie. Tief in den Knochen«, in: Der Spiegel 21/1985, 20.05.1985, S. 107–110.

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werden mussten. Besonders auf Drittmärkten, auf denen beide Unternehmen tätig waren, erforderte dies einen hohen Koordinationsaufwand. Personell trieb vor allem der stellvertretende Vorsitzende des ­Hoechst-Vorstands Kurt Lanz den Ausbau des Auslandsgeschäfts voran und entwickelte – und dies war neu – langfristige auslandsstrategische Unternehmensziele.427 Dabei ließ ­Hoechst das Management der übernommen Firmen oftmals in seiner Stellung, um von dessen Kenntnissen in Bezug auf Marktbeschaffenheit, Arbeitsbeziehungen und Managementkulturen zu profitieren. Trotz der Kapitalmehrheit von ­Hoechst konnte ein international breit aufgestelltes Traditionsunternehmen wie Roussel Uclaf daher in den 1970er Jahren recht eigenständig agieren. Letztlich decken die in den Einzelfällen voneinander abweichenden Gründe für Auslandsinvestitionen und -beteiligungen nahezu die gesamte Palette wirtschaftswissenschaftlicher und -historischer Erklärungsansätze ab. Sie reichen von Importrestriktionen und Steuerfaktoren bis zu den Fähigkeiten des Übernahmekandidaten und variieren in Bezug auf das jeweilige Land und die jeweilige Sparte. Als beispielsweise US -Beteiligungen in den Philippinen ab 1980 nicht mehr steuerlich bevorzugt wurden, gab die US -Tochter AHC ihre Beteiligung an ­Hoechst Philippines über ihre Finanzholding HCC wieder an die westdeutsche ­Hoechst AG zurück.428 Im Fall von Roussel Uclaf stimmte offensichtlich auch einfach die »Chemie« zwischen den beteiligten Führungskräften. Besonders in einigen Schwellenländern und in Japan machten erschwerte Zugangsbedingungen die Gründung von Joint Ventures mit heimischen Unternehmen und Investoren notwendig. Während die Erschließung ausländischer Märkte und der Zugewinn ausländischer Marktanteile bei ­Hoechst bis in die 1970er Jahre im Vordergrund stand, gewann die Rentabilität der Auslandsinvestments gegen Ende der Dekade an Gewicht. Dies zeigte sich besonders eindrucksvoll in den USA . Lange Zeit investierte ­Hoechst dort nur Kapital, um überhaupt auf dem US -Markt präsent zu sein, doch ab den 1980er Jahren sollten jene Investitionen auch Gewinne abwerfen. Diese neue Sichtweise hing zum einen mit den ökonomischen Turbulenzen und den Gewinneinbrüchen in den 1970er Jahren zusammen; zum anderen war sie in der Höhe der Investitionen begründet, und sie führte dazu, dass fortan Auslandsinvestments bei mangelnder Rentabilität auch wieder abgestoßen wurden. Dies war gleichfalls neu und erhöhte im Zusammenspiel mit dem intensivierten externen Wachstum über Unternehmenszukäufe das Volumen auf dem Markt für Unternehmensbeteiligungen. Neben dem Aufbau von ausländischen Produktionsstandorten waren die Bedeutungszunahme des internationalen Kapitalmarkts zur Finanzierung des Auslandsgeschäfts und die gesellschaftsrechtliche Optimierung der in- wie ausländischen Beteiligungen mit Blick auf nationale Steuerregelungen ab Mitte der 1960er Jahre wesent-

427 Klein, Operation, S. 119–121. 428 ­Hoechst-Archiv, Ordner USA / A HC / Geschäftsbericht AHC 1980, S. 6.

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liche Kennzeichen der Multinationalisierung von ­Hoechst und anderer westeuropäischer Chemiekonzerne. Damit waren grundlegende Bausteine für die anlaufende Globalisierung gelegt.

3.3 AKU / VGF / Akzo Die Lage der AKU / VGF-Gruppe war aus mehreren Gründen etwas anders gelagert als im Fall der drei großen westdeutschen Chemiekonzerne. Erstens handelte es sich bei AKU / VGF schon seit den 1920er Jahren um ein multinationales Unternehmensgebilde, das zwei recht gleich starke Firmengruppen in den Niederlanden und in Deutschland umfasste und mit der Fusion 1969 einen Unternehmenstypus markierte, der für eine neue unternehmenshistorische Ära grenzüberschreitender »Euro-Konzerne« stand. Hierzu zählten ebenso der Zusammenschluss der westdeutschen Agfa AG mit der belgischen Gevaert Photoproducten N. V. im Bereich der Fotochemie (1964), die Verbindung der westeuropäischen Reifenhersteller Dunlop und Pirelli (1970) oder die Fusion des niederländischen Stahlwerks Koninklijke Nederlandse Hoogovens mit der Dortmunder Hoesch AG zum Estel-Konzern (1972).429 AKU / VGF verfügte damit in gewisser Weise über zwei Heimatmärkte – in den Niederlanden und in der Bundesrepublik – und gilt deshalb als Paradebeispiel eines multinationalen Unternehmens. Jene Form der Multinationalität unterschied sich von klassischen Internationalisierungspfaden aus einem einzigen Heimatmarkt heraus, gleichwohl war AKU / VGF auch auf Märkten außerhalb des deutsch-niederländischen Raums präsent. Es gilt deshalb hier in besonderer Weise das deutschniederländische Verhältnis auszuleuchten. Zweitens war die Ausgangslage von AKU / VGF nach 1945 eine andere, weil die deutsch-niederländische Gruppe weniger vom Verlust des Auslandsvermögens infolge der Feindgesetzgebung betroffen war als die IG Farbenindustrie und ihre Nachfolger, auch wenn sie in den USA die Mehrheitsbeteiligungen an früheren VGF-Gründungen verlor. Gleichzeitig kehrten sich die Eigentumsverhältnisse infolge der Enteignung der deutschen AKU-Aktionäre um, die damit die Kontrolle über die Obergesellschaft einbüßten. Die AKU befand sich fortan in der Hand niederländischer Aktionäre und kontrollierte mit breiter Mehrheit die VGF. Obschon VGF während der Wirtschaftswunderjahre als deutsches Unternehmen wahrgenommen wurde, das vornehmlich in der Bundesrepublik für den westdeutschen Markt produzierte und dessen Management eng in das 429 Bergmann, Erfolgsfaktoren; Erker, Wettbewerb, S. 646; Fengler, Fotoindustrie, S. 134– 142; Olie, Mergers. Der Glanzstoff-Vorstand erkundigte sich denn auch bei Bayer über die Form des Zusammenschlusses mit Gevaert, um Erfahrungen für die AKU / GlanzstoffFusion zu nutzen. Vgl. RWWA 195-A2-43 Notiz betr. Zusammenschluss Agfa / Gevaert (18.09.1967, 28.09.1967), Notiz betr. Agfa-Gevaert (10.02.1969, 26.08.1969).

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deutsche Unternehmensnetzwerk eingebunden war, lagen die Eigentumsrechte mehrheitlich in den Niederlanden. Drittens unterschied sich AKU / VGF von den westdeutschen großen Drei in der Produktstruktur, denn sowohl der deutsche als auch der niederländische Unternehmensteil waren nahezu ausschließlich auf die Herstellung von Chemiefasern ausgerichtet. Damit war AKU / VGF wesentlich stärker von der Konjunktur eines einzelnen Produkts abhängig. Im Ergebnis führte dies dazu, dass die deutsch-niederländische Unternehmensgruppe in den 1950er und 1960er Jahren besonders von den hohen Wachstumsraten im Chemiefaserbereich profitierte, umgekehrt aber in den 1970er Jahren stärker von der europäischen Chemiefaserkrise erfasst wurde. Als in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre nicht mehr die gewünschten Preise auf dem Chemiefasermarkt erzielt werden konnten und die Probleme der Textilindustrie immer deutlicher wurden, setzte sich bei AKU / VGF der Gedanke einer Diversifizierung zur Risikostreuung durch, der letztlich die Entstehung und Umgestaltung des Akzo-Konzerns zu einem Anbieter zahlreicher chemischer Produkte nach sich zog. Damit entwickelte er sich – nicht nur im Bereich der Chemiefasern – zu einem direkten Konkurrenten der übrigen Fallbeispiele.430

3.3.1 Die Fusion von AKU und Glanzstoff (1969) Obschon sich das Management von AKU und VGF Anfang der 1960er Jahre dazu entschloss, den 1953 für zehn Jahre geschlossenen Vertrag zwischen den beiden Unternehmensteilen um weitere fünf Jahre fortzusetzen, zeigten sich – nicht zuletzt hinsichtlich ihrer Tätigkeit im Ausland – bald Differenzen zwischen Wuppertal und Arnheim. Besonders der seit 1960 für den Verkauf zuständige VGF-Vorstand Hans Joachim Schlange-Schöningen plädierte für eine Ausweitung der Vertriebspolitik. Im Jahr 1963 forderte er, dass der Vertrieb nicht mehr allein auf die Direktverarbeiter von Chemiefasern konzentriert werden sollte, sondern auch nachfolgende Stufen  – wie Konfektion, Handel und Endverbraucher – miteinbezogen werden müssten. Zugleich eröffnete VGF in Frankreich, Österreich und Skandinavien neue Absatzgesellschaften und trat damit in zunehmende Konkurrenz zur Muttergesellschaft AKU.431 Dabei führte die Abgabe von Verarbeitungs-Know-how ins Ausland zu zahlreichen Diskussionen zwischen der deutschen und der niederländischen Seite. Vor dem Hintergrund sich abschließender ausländischer Märkte (durch Einfuhrzölle und andere Importrestriktionen) sah der VGF-Vorstand im Aufbau eigener ausländischer Produktionsstützpunkte in vielen Fällen die einzige Möglichkeit, um auf jenen Märkten wettbewerbsfähig zu bleiben. Auf diese Weise verstärkte VGF jedoch die Konkurrenz zur AKU, die die Auslandsstrategie des Gesamt­konzerns 430 Olie, Mergers, S. 108–114. 431 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 123–124.

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für sich reklamierte. Dabei zeigte sich, dass die Auseinandersetzungen weniger durch Gegensätze zwischen bestimmten Abteilungen oder Produkt­linien innerhalb der jeweiligen Unternehmensteile bestimmt waren, sondern die Konfliktlinie vor allem entlang der Nationalität der Entscheidungsträger verlief. Im Besprechungsprotokoll der deutschen Gruppe im Juli 1965 wurde beispielsweise explizit festgehalten, dass man davon ausgehen müsse, dass »alle auf der AKUSeite maßgebenden Herren in erster Linie als Holländer denken und Stellung nehmen.«432 Dennoch sahen auch die deutschen Beteiligten die Lösung nicht in einer Abspaltung, sondern in einer Vertiefung der Beziehungen. Unter den Bedingungen einer prosperierenden Wirtschaft mochte die AKU-VGF-Konstruktion von 1953 getragen haben, doch in Zeiten einer abflauenden Konjunktur und wachsender internationaler Konkurrenz war eine Neujustierung unumgänglich. Das Auslaufen des Patentschutzes für Polyesterfasern Ende 1966 öffnete den westdeutschen Kunstfasermarkt, der in den vorangegangenen zwölf Jahren zwei Produkten, nämlich Trevira von ­Hoechst und Diolen von Glanzstoff, vorbehalten war, für andere Chemiefaserhersteller. Ein Memorandum des Glanzstoff-Vorstands hinsichtlich der zukünftigen Zusammenarbeit von AKU und Glanzstoff hielt daher 1966 fest: »Die Entwicklung der internationalen Konkurrenz auf dem Chemiefasergebiet, die immer stärker auf eine dominierende Position der großen Chemiegesellschaften, wie DuPont, ICI, Monsanto sowie auch Bayer und ­Hoechst, hinausläuft, gibt Veranlassung, die Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit von AKU und Glanzstoff erneut zu prüfen.«433 Die direkte Konkurrenz zu ­Hoechst auf dem Inlandsmarkt führte dazu, dass die VGF-Leitung deren internationale Ausbaupläne besonders intensiv studierte und sich hierbei zugleich in einem Wettlauf um offene ausländische Marktpositionen sah.434 »Blickt man etwa auf die massive Expansionspolitik von H ­ oechst […], so drängt sich der Eindruck auf, daß die Verteilung der Marktpositionen durch Errichtung von Produktionsstätten gerade auch in kleineren und weniger industrialisierten Ländern in vollem Gange ist und daß die Zahl der Länder, in denen überhaupt noch Projekte durchgeführt werden können, sich laufend vermindert. […] In Europa dürften interessante Möglichkeiten nur noch in der Türkei […] bestehen. Außerhalb Europas dürften längerfristig noch Chancen liegen im Iran, in Pakistan sowie in Brasilien und Argentinien.«435 Vor diesem Hintergrund forderte der Glanzstoff-Vorstand daher 1966 eine engere Verzahnung der beiden Betriebsgesellschaften in der Rohstoffversorgung, in der Produktion und im Verkauf. Insbesondere sollten für alle Er432 RWWA 195-A2-43 Notiz über die Besprechung der Deutschen Gruppe (07.07.1965). Vgl. auch Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 130–131. 433 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 132. Vgl. auch Olie, Mergers, S. 114–116. 434 RWWA 195-D4-13-3-3 Notiz der Abteilung Wirtschaftsforschung (31.01.1966), Notiz für Vits (01.02.1966). 435 RWWA 195-E0-12/13 Memorandum von Dr. Bayer »Internationale Expansion oder Konzentration der Kräfte« (25.08.1966).

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zeugnisse optimale Betriebsgrößen geschaffen werden.436 Dies bedeutete für Produkte außerhalb des Chemiefasersektors mit kleinerem Marktvolumen, dass möglichst nur eine Produktionsstätte für alle europäischen Gesellschaften der Gruppe errichtet werden sollte; weitere Anlagen sollten unter paritätischer Berücksichtigung von AKU und Glanzstoff aufgebaut werden. Im Vertrieb erachtete man eine vollständige Zusammenlegung der Aktivitäten hingegen als kontraproduktiv, da die Produkte beider Gesellschaften nicht beliebig austauschbar waren und sich die Produktionsverfahren – und damit letztlich auch die Produkteigenschaften – voneinander unterschieden. Zudem befürchtete man Marktverluste, falls AKU und Glanzstoff nicht mehr als getrennte Lieferanten auftreten würden, da sich viele Kunden nicht von einem Lieferanten abhängig machen wollten. In diesem Sinne hatte der Glanzstoff-Vorstand auch die Selbstständigkeit der Kuag im Rahmen der Glanzstoff-Gruppe erhalten. Eine einheitliche, internationale Markenpolitik sollte nach dieser Auffassung für die bestehenden Produkte von AKU / Glanzstoff nicht eingeführt werden. Nicht zuletzt die Dominanz der AKU auf Eigentumsebene löste beim Glanzstoff-Vorstand stets heftige Abwehrreaktionen gegen jegliche Art der Vereinnahmung aus. Wenn die deutsche Seite die Eigentumsverhältnisse schon nicht revidieren konnte, wollte sie zumindest größtmögliche Handlungsspielräume in der Unternehmenspolitik aufrechterhalten. Das Glanzstoff-Management stellte deshalb immer wieder die Selbstständigkeit und die Führungsrolle von Glanzstoff innerhalb der westdeutschen Chemiefaserindustrie heraus. Eine Zusammenlegung des Verkaufs würde Glanzstoff hingegen zu einem ausländischen Produktionsbetrieb der AKU degradieren, so dass jene Führungsrolle in der Bundesrepublik zwangsläufig an Bayer oder ­Hoechst übergehen würde. Ebenso habe sich das getrennte Vorgehen beider Unternehmensteile im internationalen Geschäft als vorteilhaft erwiesen. Der Glanzstoff-Vorstand versuchte der AKU-Leitung auf diese Weise zu verdeutlichen, dass der Verlust der Glanzstoff-Eigenständigkeit nicht im Sinne des Gesamtunternehmens sein konnte, obschon gewisse Kostengesichtspunkte durchaus hierfür sprachen. Weitere Integrationsschritte sollte es nur unter der Voraussetzung der Eigenständigkeit geben. Das Bild von Glanzstoff als »deutschem« Unternehmen war insbesondere bei vielen Beschäftigten vorherrschend, die nicht wussten oder nicht wahrhaben wollten, dass AKU seit dem Zweiten Weltkrieg über eine satte Kapitalmehrheit an Glanzstoff verfügte, und die die Verschmelzung beider Gesellschaften als Ausverkauf eines deutschen Unternehmens an einen niederländischen Konzern fehlinterpretierten.437 436 Die ordentliche Hauptversammlung der VGF am 5. Juli 1966 war dem Vorschlag von Vorstand und Aufsichtsrat gefolgt, den Namen des Unternehmens in »Glanzstoff AG« umzubenennen, da sich im Geschäftsverkehr ohnehin seit langem die Kurzbezeichnung »Glanzstoff« durchgesetzt hatte. Vgl. Geschäftsbericht Glanzstoff 1966 (Satzung der Glanzstoff Aktiengesellschaft und Erläuterungen zur vorgeschlagenen Neufassung der Satzung). 437 Olie, Mergers, S. 114–116; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 135–137.

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Im Bereich der Rohstofferzeugung wollte AKU / Glanzstoff an der bisherigen Linie festhalten und auch weiterhin auf eine Rückwärtsintegration verzichten. Die Aufnahme einer eigenen Caprolactam-Produktion – eines Grundstoffs zur Herstellung von Chemiefasern – erschien dem Glanzstoff-Vorstand auch Mitte der 1960er Jahre wenig reizvoll, da die neuen Großanlagen von BASF und Bayer in Antwerpen Überkapazitäten erwarten ließen und mit der Produktion von Chemiefasern in ihren Augen nach wie vor mehr Geld zu verdienen war. Aufgrund des großen Bedarfs der AKU / Glanzstoff-Gruppe rechnete sich der Glanzstoff-Vorstand zudem Preisvorteile gegenüber den Lieferanten aus und glaubte sich wegen langjähriger Geschäftsbeziehungen  – insbesondere zur BASF  – in einer günstigen Sonderstellung zu befinden.438 Neben der nachlassenden ökonomischen Dynamik und der steigenden internationalen Konkurrenz wirkte die europäische Integration als dritte entscheidende Komponente auf die Neugestaltung der AKU / Glanzstoff-Gruppe. Die Realisierung eines einheitlichen westeuropäischen Markts stellte die bisherige Abgrenzung der Interessengebiete entlang nationaler Grenzen in Frage.439 Die Unternehmensleitung wollte über eine Zusammenarbeit in der Forschung, ein integriertes Marketingkonzept sowie die gemeinsame Erschließung neuer Geschäftsfelder zukünftig Kosten sparen. Zwar waren AKU und Glanzstoff personell und kapitalmäßig bereits aneinander gebunden, doch die Schaffung eines einheitlichen westeuropäischen Marktes warf für die parallel agierenden Betriebsgesellschaften Probleme auf, wie in einer Stellungnahme der Unternehmensführung zur zukünftigen Zusammenarbeit festgehalten wurde: »Die früheren nationalen Grenzen, die in einem gewissen Umfang zwanglos eine Arbeitsteilung nahelegten, verlieren marktmäßig  – zumindest innerhalb der EWG – immer mehr an Gewicht. Durch den Wegfall der Zölle innerhalb der EWG, den Wegfall anderer Handelshemmnisse […], den Fortfall der Polyesterpatente und zunehmende Unternehmensverflechtungen unserer Abnehmer über nationale Grenzen hinweg tritt eine wachsende Verflechtung der europäischen Märkte ein. Zwischen AKU und Glanzstoff entsteht dadurch ein Konkurrenzverhältnis in früher ungekanntem Ausmass. […] Das Auftreten von DuPont, ICI und Monsanto in Kontinentaleuropa sowie das Vordringen der großen Chemiegesellschaften wie Bayer, ­Hoechst, Rhône-Poulenc und Montedison lässt Wettbewerbsformen entstehen, die ein Überdenken der optimalen Unternehmensgrösse für den zukünftigen Wettbewerb erforderlich machen.«440 438 Abelshauser, Neugründung, hier S. 497–503; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 132–133. 439 RWWA 195-A2-32/33 Regelung zwischen AKU N. V. und Glanzstoff AG (23.05.1969); RWWA 195-A2-39 Address by Vaubel to the Group Council Meeting (19./20.06.1969); RWWA 195-A2-43 Gedanken zur möglichen Zusammenarbeit zwischen AKU und Glanzstoff (16.06.1967); Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 117–119. 440 RWWA 195-A2-43 Gedanken zur möglichen Zusammenarbeit zwischen AKU und Glanzstoff (16.06.1967); RWWA 195-A2-53 Gedanken zur möglichen Zusammenarbeit zwischen AKU und Glanzstoff (16.06.1967). Auch abgedruckt unter: Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 141–142. Bereits seit 1959 beschäftigte sich die Unternehmensleitung mit der

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Die Generaldirektion für Wettbewerb der EWG -Kommission akzeptierte diese Argumentation der AKU / Glanzstoff-Gruppe und betrachtete den Zusammenschluss als unternehmensinterne Angelegenheit ohne wettbewerbsrechtliche Bedeutung. Auch das Bundeskartellamt stimmte der Fusion zu.441 Das Management von AKU und Glanzstoff musste zunächst klären, welche Form die zukünftige Zusammenarbeit – europäische Holdinggesellschaft, Vertiefung auf vertraglicher Basis oder Neugliederung innerhalb des bestehenden Rahmens  – haben sollte. Ferner stand die Idee einer Kooperation der AKUGlanzstoff-Gruppe mit einem dritten Unternehmen im Raum. Bereits der AKUVorstandsvorsitzende Johannes Meynen, der 1966 mit Erreichen der Altersgrenze in den AKU-Aufsichtsrat gewechselt war, hatte das Produktionsprogramm erweitert, um die Abhängigkeit von Schwankungen auf den Chemie­fasermärkten zu begrenzen. Die Produktpalette der AKU war seit Ende der 1940er Jahre sukzessive auf Schwämme, Kunststoffstäbe und Leinengarn erweitert worden. Im Jahr 1958 folgte mit dem US -Unternehmen Goodrich Corp. in Akron (Ohio) die Gründung der CIAGO (N. V. Chemische Industrie AKU-Good­rich), 1961 mit der Standard Oil Corporation-Tochtergesellschaft Amoco die N. V. Petrochemie AKU-Amoco, und 1961 mit dem US -Elektronikunternehmen General Electric die N. V. Polychemie-GE . Wie im Fall der westdeutschen Konzerne zeigt sich hier das Bemühen eines westeuropäischen Unternehmens mit namhaften, technologisch führenden US -Konzernen Joint Ventures zu bilden, um neue Produktmärkte zu erschließen. Auch wenn sich nicht alle finanziellen und technischen Erwartungen bei den Gemeinschaftsunternehmen erfüllten, stieg der Anteil der neuen Produkte auf diese Weise bis 1968 immerhin auf 15 Prozent des Gesamtumsatzes an.442 Gleichwohl erschwerte das Kompetenzgerangel zwischen Arnheim und Wuppertal die Erweiterung der Produktpalette. Bei Glanzstoff beschäftigte man sich seit 1960 intensiv mit den Möglichkeiten zur Herstellung von Stahlkord – Einlagen für Autoreifen aus gezwirntem Stahldraht. Bereits seit den 1930er Jahren wurden Autoreifen mittels Reifenkord aus synthetischen Fasern produziert. Der VGF-Vorstand hatte in den 1950er Jahren aufmerksam die Entwicklungen auf dem bedeutenden US -Automobilmarkt beobachtet und war deshalb zur Produktion von Reifenkord aus Nylon übergegangen. Diese strategische Entscheidung erwies sich als goldrichtig, so dass VGF Ende der 1950er Jahre 90 Prozent

Problematik des entstehenden »Euromarktes«. Vgl. RWWA 195-A2-39 AKU-Directie an VGF (05.01.1959), Notiz betr. Gemeinsame Vorstandssitzung AKU / VGF (16.01.1959). Auch in der Präambel des Vertrags zur AKU / VGF-Fusion wurden explizit die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Marktes und die wachsenden Kapazitäten in der Chemiefasererzeugung als Motive angeführt. Vgl. RWWA 195-A2-32/33 Regelung zwischen AKU N. V. und Glanzstoff AG (23.05.1969); RWWA 195-Z0-8093 Regelung zwischen AKU N. V. und Glanzstoff AG (23.05.1969). 441 RWWA 195-A2-29 Notiz für den Enka-Glanzstoff-Vorstand (19.01.1970). 442 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 137–138.

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der deutschen Reifenkordproduktion herstellte.443 Die Chemiefaserhersteller besaßen umfangreiche Kenntnisse hinsichtlich der Wünsche und der Anforderungen der Reifenhersteller und machten sich dieses Wissen in den 1960er Jahren zunutze, um von der Motorisierung westeuropäischer Gesellschaften zu profitieren und ihre eigene Abhängigkeit vom Absatz textiler Chemiefasern zu reduzieren. Neben Glanzstoff waren auch Rhône-Poulenc und Courtaulds auf dem Stahlkord-Gebiet tätig. Bei AKU / Glanzstoff stellte sich die Frage, welcher Unternehmensteil dieses zukunftsträchtige Arbeitsgebiet aufnehmen sollte. Bis Dezember 1961 einigte man sich schließlich darauf, dass Glanzstoff eine Pilotanlage im Werk Oberbruch errichten und AKU sich mit 50 Prozent an den Entwicklungskosten beteiligen sollte.444 Doch die Unstimmigkeiten dauerten an. Erst im Juli 1968 verständigen sich beide Seiten, die bestehende Stahlkord-Produktion in Oberbruch mit einer Leistung von 150 Monatstonnen endgültig der Zuständigkeit der Glanzstoff AG zu unterstellen. Daraufhin wuchs der Ausstoß mit dem Übergang zur Großproduktion 1969 auf fast 300 Monatstonnen an.445 Das Reifenkord-Beispiel verdeutlicht, welche Probleme aus der Zweiteilung des Unternehmens erwuchsen. Ein ähnliches Konkurrenzverhältnis entwickelte sich bzgl. der Aufnahme einer Plastik- und einer Kunstlederproduktion.446 Ende der 1960er Jahre mussten somit zwei Probleme gleichzeitig gelöst werden: Zum einen musste das Verhältnis zwischen AKU und Glanzstoff auf eine neue Basis gestellt werden; zum anderen stand das AKU / Glanzstoff-Management vor der Aufgabe, neue Arbeitsfelder zu definieren, die dem Ende des Chemiefaserbooms Rechnung trugen, und mit oder ohne eine dritte Firma entsprechende Marktanteile zu gewinnen. Meynen stimmte mit seinem Nachfolger im AKU-Vorstandsvorsitz Klaas Soesbeck grundsätzlich darin überein, dass eine Beschränkung auf das Feld der Chemiefasern langfristig nicht wünschenswert sei, auch weil die Anziehungskraft der AKU / Glanzstoff-Gruppe für Kapital deutlich nachließ und angesichts der geplanten Investitionen Kapitalerhöhungen bei beiden Gesellschaften erforderlich wurden. Vor diesem Hintergrund entwickelte Soesbeck die Idee, AKU / Glanzstoff mit einer anderen, größeren Gruppe zusammenzuschließen. Interessenten hierfür gab es indes genug, denn neben der BASF zeigten auch Bayer und Shell 443  Kleinschmidt, Company; Kleinschmidt, America. 444 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 139. Rhône-Poulenc und Courtaulds hatten 1962 für ihre in der Stahlkord-Herstellung tätigen Untergesellschaften einen technischen Erfahrungsaustausch vereinbart, der 1977 vertieft wurde. Rhône-Poulenc hielt in den 1970er Jahren an der Courtaulds-Tochtergesellschaft Steel Cords Ltd. eine Minderheitsbeteiligung von 20 %; umgekehrt war Courtaulds mit 4,25 % an der Rhône-Poulenc-Tochtergesellschaft Sodetal beteiligt. Vgl. AHGS , RP.SA 847568B19 Rhône-Poulenc. Comité Exécutif (12.05.1978), Contrat de coopération dans le domaine du fil métallique (Anlage 2). 445 RWWA 195-A2-38 Protokoll der gemeinsamen AKU / Glanzstoff-Vorstandsbesprechung (10.07.1968), Protokoll der gemeinsamen AKU / Glanzstoff-Vorstandsbesprechung (08.07.1969); RWWA B5-2-40 Referat von Vits (28.01.1969). 446 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 139–141.

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Interesse, doch scheiterten jene Vorstöße allesamt – nicht zuletzt wollte AKU ebenso wenig wie Glanzstoff ihre Eigenständigkeit aufgeben.447 Im Juli 1967 wies der neue AKU-Vorstandsvorsitzende Soesbeck auf die Möglichkeit hin, eine Verbindung mit dem teilweise in niederländischem Staatseigentum befindlichen Chemie- und Rohstoffunternehmen De Nederlandse Staatsmijnen (DSM) einzugehen.448 Aufgrund des hohen Chemiefaseranteils in der Produktstruktur der AKU-Glanzstoff-Gruppe lag ein solcher Schritt nahe, allerdings scheiterten die unter dem Codenamen »Brize« geheim geführten Verhandlungen Anfang 1969 an politischen Widerständen in den Niederlanden. Einige vom niederländischen Wirtschaftsministerium entsandte Aufsichtsratsmitglieder von DSM stimmten gegen eine Fusion, da sie eine höhere DSM-Beteiligung an dem geplanten Konzern, eine rechtliche Gleichstellung zur AKU-Glanzstoff-Fusion sowie ein Vetorecht für weitere Übernahmen und Kooperationen forderten. Als die Vorstände von AKU und Glanzstoff diese Punkte entschieden ablehnten, fand die Idee, die chemischen Betriebe von DSM auf AKU zu übertragen, nicht mehr die notwendige Unterstützung des niederländischen Wirtschaftsministeriums.449 Die gleichzeitig geführten Verhandlungen über eine Neuordnung der AKUGlanzstoff-Beziehungen wurden hingegen fortgeführt. Dabei spielten die Relationen zwischen beiden Unternehmensteilen aus der Zeit vor 1945 in doppelter Hinsicht eine Rolle. Der Verweis auf die Vorkriegszeit wurde von deutscher Seite gerne eingebracht, um auf die veränderten Eigentumsverhältnisse zu verweisen, schließlich besaßen deutsche Aktionäre in den 1930er Jahren einen nicht unerheblichen Teil der AKU-Anteile.450 Ältere AKU-Vorstände wie Klaas Soesbeek, der schon seit 1925 bei der niederländischen Enka tätig war, zeigten mit Blick auf die Zwischenkriegszeit durchaus Verständnis für die Leistungen von Glanzstoff in den beiden Nachkriegsjahrzehnten, deren Produktionskapazitäten bei klassischen Chemiefasern über denjenigen der AKU lagen, und respektierten daher auch die 1953 getroffene Regelung, wohingegen jüngere Vorstandsmitglieder weniger Interesse an den alten Unternehmensbeziehungen zeigten. Soesbeek wollte das Verhältnis zwischen AKU und VGF daher noch während seiner Amtszeit als AKU-Vorstandsvorsitzender (1966–1971) mit Ernst Hellmut Vits aushandeln. Vits war seit 1940 Vorstandsvorsitzender von Glanzstoff und sein Wechsel vom 447 Ebd., S. 138. 448 RWWA 195-A2-53 Notiz über Besprechung mit Soesbeck (19.07.1967). Vgl. zu DSM insbesondere: Nuhn, Entwicklungslinien, S. 230–348; RWWA 195-A2-43 Notiz betr. DSM (25.07.1967). 449 Olie, Mergers, S. 115; Jeannet / Schreuder, Coal, S. 11–12; RWWA 195-A2-29, Notiz betr. AKU / Glanzstoff (08.08.1968); RWWA 195-A2-38 Sonderprotokoll der gemeinsamen AKU / Glanzstoff-Vorstandsbesprechung (05.12.1968); RWWA 195-A2-40 Notiz betr. Staatsmijnen (14.10.1968), Zusammenarbeit AKU-Staatsmijnen Chemie (11.11.1968), Kruisinga an Vaubel (20.11.1968), Notiz von Vits (6.3., 26.3.1969); Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 139 (Fußnote 45), 149 (Fußnote 57), 152–153, 167. 450 Marx / Wubs, National conflicts.

AKU / VGF / Akzo

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Vorstands- auf den Aufsichtsratsvorsitz, wo er an die Stelle von Hermann Josef Abs trat, der den Glanzstoff-Aufsichtsrat seit 1939 anführte und sich nach seinem Rückzug aus dem Deutsche Bank-Vorstand von einigen fremden Aufsichtsräten verabschiedete, stand bereits fest. Neuer Glanzstoff-Vorstandsvorsitzender wurde im Juli 1969 Ludwig Vaubel, der 1934 seine Karriere in der VGF begonnen hatte, seit 1953 dem VGF-Vorstand angehörte und die Nachfolge von Vits unter der Bedingung antrat, dass die notwendigen Neuregelungen zwischen AKU und Glanzstoff noch unter der Schirmherrschaft von Vits und Abs zu Ende gebracht würden. Wenn man nicht die Chance verstreichen lassen wollte, die grundlegende Neuregelung durch langjährige, erfahrene Führungsfiguren der Gruppe aushandeln zu lassen, drängte daher die Zeit für ein Verhandlungsergebnis.451 Neben den bereits aufgeführten Problemen beim Vorstoß auf neue Arbeitsgebiete erwies sich vor allem die Tätigkeit auf ausländischen Drittmärkten als Konfliktfeld. Dies hing nicht zuletzt mit der verstärkten internationalen Konkurrenz auf dem weltweiten Chemiefasermarkt zusammen. Da der niederländische Markt eine überschaubare Größe hatte, war die AKU noch stärker als Glanzstoff auf den Export ihrer Produkte angewiesen.452 Gemäß der 1953 getroffenen Vereinbarung erhielt die Glanzstoff AG trotz der beherrschenden Kapitalverhältnisse seitens AKU einen großen Handlungsspielraum bei innerdeutschen Angelegenheiten und das Recht ihre Produkte weltweit zu vertreiben; umgekehrt durfte die AKU ihre Produkte ebenfalls frei vertreiben und bekam die Zuständigkeit für internationale Angelegenheiten zugesprochen. Viele AKUManager konnten nicht recht verstehen, warum sich AKU und Glanzstoff auf Drittmärkten Konkurrenz machten, obschon AKU zu 76 Prozent an Glanzstoff beteiligt – und in ihren Augen damit weisungsbefugt – war.453 Als Teile des AKU-Exportgeschäfts infolge der zunehmenden internationalen Konkurrenz, der Verbreitung ausländischer Produktionsbetriebe – insbesondere US -amerikanischer Chemiefirmen in Westeuropa –, des Ablaufens der Polyesterpatente und der günstigen Preispolitik italienischer Chemiefaserhersteller wegbrachen, sah sich AKU wie andere Chemiekonzerne zu weiteren Auslandsgründungen gezwungen. Glanzstoff stand dieser Weg hingegen nicht offen, obschon auch der westdeutsche Unternehmensteil von den veränderten 451 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 142–143, 147, 231, 239–240. Mit dem Rückzug von Abs (1969/72), dem Tod von Vits (1970) und dem Entschluss von J. M. Fentener van Vlissingen, nicht mehr in den Führungsorganen der neu gebildeten Akzo mitzuwirken, fand um 1970 auch auf personeller Ebene ein Bruch statt. Vgl. Geschäftsbericht Akzo 1969, S. 14. 452 »In Anbetracht der beschränkten Einwohnerzahl von Holland ist die hiesige Industrie im allgemeinen auf Export angewiesen. Das gilt auch für AKU. Je nachdem wie die Möglichkeiten dazu eingeschränkt wurden, hat AKU Produktionsgesellschaften im Ausland gegründet. […] Weil Export für AKU immer eine Lebensnotwendigkeit gewesen ist, war es auch klar, dass die AKU sich durch Auslandsgründungen gegen Wegfall von Exportgeschäften schützen musste.« Vgl. RWWA 195-B0-42 Soesbeek an Vits (16.10.1967). 453 RWWA 195-B0-42 Notiz betr. Besprechung mit Herrn Soesbeek (19.07.1967).

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Marktbedingungen betroffen war und gerne stärker im Ausland expandiert hätte. Soesbeek machte gegenüber Vits im Oktober 1967 deutlich, dass die 1962 realisierte Gemeinschaftsgründung in Indien eine Ausnahme darstelle, da das Exportgeschäft der AKU nicht betroffen gewesen sei. Weitere Auslandsbeteiligungen über 40 Prozent außerhalb der Bundesrepublik würden jedoch in das Zuständigkeitsgebiet der AKU fallen.454 In diesem Zusammenhang lehnte der AKU-Vorstand im August 1967 u. a. die Errichtung einer Kordgewebeanlage der Glanzstoff AG in der Türkei ab. Ebenso intervenierte die amerikanische AKU-Tochter Amerenka 1965 und 1967 zwei Mal erfolgreich gegen die Errichtung eines Texturierwerks in den USA durch die Glanzstoff-Tochtergesellschaft Kuag. Trotz dieser Differenzen, bestand letztlich Ende 1967 Einigkeit, dass jede Gesellschaft für sich genommen gegenüber der Weltkonkurrenz zu klein sei.455 Im Rahmen einer Besprechung bei der Deutschen Bank in Frankfurt / Main am 5. Januar 1968 zwischen Soesbeek, Vits, Abs und Jan van den Brink, dem Aufsichtsratsvorsitzenden der AKU, präsentierte Soesbeek daraufhin einen konkreten Organisationsplan der eine Abfindung der Glanzstoff-Minderheitsaktionäre (ca. 24 %), eine Berücksichtigung der Glanzstoff AG in den Leitungsgremien der AKU Holding und eine Zusammenlegung der gesamten EWG Aktivitäten beinhaltete. Während sich die niederländische Seite besonders mit der Aufnahme von Deutschen in die AKU-Leitungsgremien schwertat  – van den Brink betonte, dass dies zehn Jahre früher aufgrund der NS -Erfahrungen noch nicht möglich gewesen sei –, stellte die Aufgabe der unternehmerischen Selbstständigkeit für den Glanzstoff-Vorstand das Schlüsselproblem dar. Hier zeigten sich nicht nur die Kontroll- und Führungsprobleme eines multinationalen Konzerns, vielmehr machen die intensiven Verhandlungen deutlich, wie sehr nationale Vorbehalte, zurückliegende Beziehungsgeflechte und unternehmerische Pfadabhängigkeiten die Entwicklung bestimmten. Das AKU-Exposé

454 RWWA 195-A2-43 Notiz über die Besprechung der Deutschen Gruppe (07.07.1965); Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 142–146. AKU (bzw. ab 1969 Akzo) und Glanzstoff waren an der indischen Tochtergesellschaft Century Enka Ltd. jeweils mit 22,5 % beteiligt. Um 1980 wurde im Enka-Vorstand der Verkauf der Century Enka-Beteiligung diskutiert; letztlich wurde diese Absicht im September 1981 jedoch aufgegeben, da ein Desinvestment kaum Liquidität gebracht hätte, aber mit einem erheblichen Buchverlust zu rechnen war. Vgl. Gelders Archief (Arnheim), Blok 3169 (AKU-Archiv), Ordner 209, Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (25.08.1981, 08.09.1981, 29.09.1981); Geschäftsbericht Glanzstoff 1969, S. 12. 455 RWWA 195-B0-42 Notiz betr. Kordgrundgarn und Kordierfabrik in der Türkei (28.08.1967), Notiz betr. Projekte (29.08.1967), Vits an Soesbeek (31.08.1967), Notiz für Vits (19.09.1967), Notiz betr. Errichtung eines Kuag-Werkes in den USA (21.09.1967), Vaubel an Vits (30.09.1967), Notiz betr. Auslandsprojekte (02.10.1967), Notiz betr. Türkei-Projekt (19.10.1967); RWWA 195-E0-12/13 Notiz für Vaubel (07.11.1966), Notiz von Dr. Bayer zu Türkei-Projekt (27.02.1967). In Bezug auf die Projektleitung in Japan forderte Glanzstoff 1968 ebenfalls ein gleichberechtigtes Mitspracherecht. Vgl. RWWA 195-E0-12/13 Notiz für Vaubel (08.03.1968).

AKU / VGF / Akzo

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umriss erstmals eine mögliche, zukünftige Grundstruktur der AKU / GlanzstoffGruppe und beinhaltete die Umgestaltung der bisherigen Unternehmen in zwei Holdinggesellschaft (AKU und Glanzstoff), die jeweils zu 50 Prozent an zwei neu gegründeten Produktionsgesellschaften (AKU-EWG und Glanzstoff-EWG) beteiligt sein sollten, deren Vorstand und Aufsichtsrat über eine Personalunion miteinander verbunden werden sollten. Das internationale Geschäft außerhalb der EWG sollte in einer neu gegründeten AKU International zusammengefasst werden. Der Glanzstoff-Vorstand lehnte den Vorschlag nicht rundheraus ab, aber er mochte sich nicht mit einer niederländischen Mehrheit in den für die Besetzung der Vorstände von AKU-EWG und Glanzstoff-EWG zuständigen Gremien einverstanden erklären.456 Vits wies Soesbeek nochmals explizit auf die enormen, aus eigener Kraft getätigten Aufbauleistungen von Glanzstoff nach dem Zweiten Weltkrieg hin und drohte die ganze Angelegenheit an der paritätischen Besetzung der Leitungsgremien scheitern zu lassen. Abs stimmte dieser Haltung zu und sah in der personellen Zusammensetzung das Kardinalproblem der Verhandlungen.457 Dennoch fand am 10. Juli 1968 in Wuppertal – quasi als Vorgriff auf die zukünftige Unternehmensstruktur – die erste gemeinsame Sitzung der Vorstände von AKU und Glanzstoff statt.458 Bedenken gegen den vollständigen Zusammenschluss beider Unternehmen gab es auf beiden Seiten, vor allem weil Niederländer wie Deutsche befürchteten von der jeweils anderen Seite übervorteilt und aus der Geschäftsführung gedrängt zu werden. Soesbeek hielt es zu diesem Zeitpunkt jedoch für ausgeschlossen, dass »der Gedanke einer multinationalen Führung zu irgendeinem Zeitpunkt in Gefahr kommen kann, da auf die Dauer wesentlich mehr gute Kräfte gebraucht werden als wahrscheinlich vorhanden sind. Wenn von deutscher Seite der Sorge vor einem etwa zu großen holländischen Einfluß Ausdruck gegeben werde, dann könne er umgekehrt nur sagen, daß auf holländischer Seite ebenfalls die Befürchtung vor einem deutschen Übergewicht (Geschäftsumfang und Zahl der qualifizierten Kräfte) bestehe.«459 Unter Einbeziehung der Deutschen Bank verständigte sich die mit AKU- und Glanzstoff-Vertretern besetzte Kommission »Madrid« schließlich in der zweiten Jahreshälfte 1968 auf ein Umtauschangebot von Glanzstoff- in AKU-Aktien inklusive Barabfindung und Dividendengarantie. Damit hatten sich beide Unternehmensleitungen für eine prinzipielle Neuordnung ihrer Beziehungen entschieden, die im Mai 1969 der Presse vorgestellt und im Juli 1969 von der Glanzstoff-Hauptversammlung genehmigt wurde. Bis dahin hatte der Großteil der freien Aktionäre vom obigen Umtauschangebot bereits Gebrauch gemacht, 456 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 148–152. 457 RWWA 195-A2-30 Vermerk betr. Besprechung mit dem Vorstand von Glanzstoff in Bonn (25.01.1968); RWWA 195-A2-43 Glanzstoff-Überlegungen zu dem Memorandum von Soesbeek (01.02.1968). 458 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 153–154. 459 RWWA 195-A2-29 Notiz betr. AKU / Glanzstoff (08.08.1968).

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

so dass sich der AKU-Anteil am Grundkapital der Glanzstoff AG von 76,8 auf 97,5 Prozent erhöhte.460 Das Ergebnis sah folgende Lösung vor: Die neu gegründete Enka N. V. mit Sitz in Arnheim übernahm 1969 die Produktionsbetriebe und die EWG -Tochtergesellschaften der AKU, die zukünftig als Holdinggesellschaft fungierte und für die Gesamtplanung, die Investitionstätigkeit der Gruppe und die Erschließung neuer Arbeitsgebiete zuständig war. Hierfür wurde insbesondere eine neue Untergesellschaft namens AKU Research & Engineering N. V. ins Leben gerufen. Daneben wurde für die Auslandsbeteiligungen der AKU in Nord- und Südamerika sowie in Großbritannien und Spanien eine Gesellschaft namens Enka International N. V. gegründet, deren Vorstand ebenfalls ein Deutscher angehören sollte. Die Glanzstoff AG bestand in ihrer bisherigen Rechtsform weiter und wurde fortan mit der Enka N. V. unter dem Dach der neuen AKU als integriertes, einheitliches Unternehmen geführt, bei dem die Vorstände und Aufsichtsräte aus denselben Personen – und zwar paritätisch je zur Hälfte aus drei deutschen und drei niederländischen Staatsangehörigen – bestanden. Ausgenommen von dieser Regelung waren lediglich die gesetzlich festgeschriebenen Belegschaftsund Gewerkschaftsvertreter. Die Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzenden beider Produktionsgesellschaften wurden jeweils von den Mitgliedern mit westdeutscher (Glanzstoff)  bzw. niederländischer (Enka)  Staatsangehörigkeit gewählt. Die Vorstandsvorsitzenden der Glanzstoff AG und der Enka N. V. waren zudem automatisch Mitglieder des AKU-Vorstands. Aus deutscher Perspektive war damit zum einen sichergestellt, dass die Vorsitzenden der westdeutschen Leitungsorgane trotz niederländischer Kapitalmehrheit aus der Bundesrepublik stammten, zum anderen war auf diese Weise mindestens ein Deutscher im Vorstand der übergeordneten AKU-Holding vertreten. Darüber hinaus vereinbarten beide Seiten, dass mindestens zwei westdeutsche Staatsangehörige einen Sitz im AKU-Aufsichtsrat haben sollten; bis auf weiteres gehörten neben Abs, der bereits seit 1962 einen Sitz im AKU-Kontrollorgan hatte, sogar drei Deutsche – Hans L. Merkle, Otto Wolff von Amerongen und Vits – dem AKU-Aufsichtsrat an. Neben den in den Niederlanden und in der Bundesrepublik angesiedelten Betrieben unterstanden Enka / Glanzstoff auch die Mehrheitsbeteiligungen der Gruppe im Chemiefaserbereich in Belgien, Italien, der Schweiz und Österreich.461

460 Gelders Archief 3169/732 AKU-VGF Madrid (01/1968–12/1972); Gelders Archief 3169/ 1040 AKU-Glanzstoff inz. herstructurering (01/1969–12/1969); RWWA 195-A2-32/33 Protokoll Kommission Madrid (16.09.1968), Protokoll Kommission Madrid (26.11.1968), AKU an die Aktionäre der Glanzstoff AG (19.06.1969); RWWA 195-Z0-8093 Regelung zwischen AKU N. V. und Glanzstoff AG (23.05.1969), Vertrag zwischen AKU N. V., Glanzstoff AG und Enka N. V. (23.05.1969). 461 Bergmann, Erfolgsfaktoren, S. 200–219; Geschäftsbericht Glanzstoff 1969, S. 1; Klaverstijn, Samentwijnen; Olie, Mergers, S. 116–118; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 155–156. Vgl. zu den Aufgaben und zur Organisation von Enka International: RWWA 195-C1-25 Organisation Enka International (07.07.1970).

311

AKU / VGF / Akzo AKU Vorstand Aufsichtsrat

Vorsitzender (niederländisch)

niederländischer Vorsitzender

Enka Vorstand Aufsichtsrat

mindestens zwei Deutsche

Vorsitzender (deutsch)

Glanzstoff Vorstand Aufsichtsrat

deutscher Vorsitzender

Abbildung 13: Neuregelung der AKU-Glanzstoff-Beziehungen (Mai 1969)

Tabelle 18: Vorstand der Glanzstoff AG bzw. Enka N. V. (1969) Name

Vorname

Nationalität

Funktion

Vaubel

Ludwig

deutsch

Glanzstoff-Vorstandsvorsitzender

Ebert

Alfred

deutsch

Produktion und Ingenieurtechnik

Schlange-Schöningen

Hans Joachim

deutsch

Leiter der Division Textile Fäden und Fasern

Hessels

Johan H. E.

niederl.

Enka-Vorstandsvorsitzender

Wesenhagen

Henri François

niederl.

stellv. Leiter der Division Textile Fäden und Fasern

Zevenbergen

Mr. Bendert

niederl.

Leiter der Division Technische Garne

Quelle: Geschäftsbericht Glanzstoff 1969; RWWA 195-L3-22 »Glanzstoff und AKU in neuer Formation«, in: Wir vom Glanzstoff (5/1969); Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 160–161.

Die kontinuierliche Mitwirkung der deutschen Seite im AKU-Aufsichtsrat wurde gewahrt, indem die AKU mit der AKU-Stichting – der auf Curaçao angesiedelten Eigentümerin der AKU-Prioritätsaktien  – einen nichtkündbaren Vertrag zur Einhaltung jener Abmachungen abschloss. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges mit der Besetzung der Niederlande sowie der steuerlichen Möglichkeiten der Karibikinsel, von der auch westdeutsche Konzerne Gebrauch machten, hatte die AKU dieser Stiftung sowohl die nom. hfl. 48.000 AKU-Prioritätsaktien, die über die Besetzung der AKU-Leitungsorgane entschieden, als auch die von der niederländischen Regierung nach 1945 aus deutschem Besitz enteigneten AKU-Stammaktien übergeben. Zur Ausnutzung der steuerlichen Vergünstigungen war die AKU-Stichting, deren Board sich aus dem AKU-Vorstandsvorsitzenden und den AKU-Aufsichtsratsmitgliedern zusammensetzte, 1953 insbesondere als Treuhänderin für die Beteiligungen in den USA eingesetzt worden, d. h. die AKU-Stichting hielt auch die Aktien der American Enka. Die rechtliche Konstruktion sah somit etwas anders aus als im Fall von Bayer, BASF oder ­Hoechst, denn keiner der westdeutschen Konzerne

312

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

hatte Eigentumsrechte der Muttergesellschaft nach Curaçao transferiert, gleichwohl zeigt sich in der Anziehungskraft der Karibikinsel für Finanzierungs- und Verwaltungsgesellschaften  – nicht zuletzt in Bezug auf die Verwaltung der US -Beteiligungen – eine klare Parallele.462 Zentrales Ziel der Stiftungsidee war es, die Kontinuität der AKU-Verwaltung sicherzustellen, denn die Inhaber der Prioritätsaktien besaßen nicht nur ein verbindliches Vorschlagsrecht zur Besetzung der AKU-Leitungsorgane, sie konnten auch nicht durch die Stammaktionäre überstimmt werden. Ebenso wenig konnte die Hauptversammlung die Prioritätsaktien beseitigen. Eine feindliche Übernahme war auf diese Weise im Grunde ausgeschlossen.463 Mit der Neuregelung der Kontrollrechte im Mai 1969 rückten die 50 Produktionsbetriebe der AKU-Gruppe, die in 13 Ländern tätig waren, näher zusammen, nicht zuletzt aufgrund einer grenzüberschreitenden Organisation, die stärker als bisher dem Divisionsprinzip folgte. Der Schwerpunkt der ca. 72.000 Beschäftigte umfassenden Gruppe lag weiterhin in der Bundesrepublik, den Niederlanden und den USA . Die deutsche Glanzstoff AG beschäftigte etwa 27.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die niederländische Enka N. V. ca. 15.000 und die American Enka (Amerenka)  etwa 11.000 Personen; entsprechend entfielen 1968 40 Prozent des Umsatzes auf Glanzstoff, 25 Prozent auf American Enka und 20 Prozent auf die niederländischen Betriebe. Obschon beide Unternehmensteile inzwischen 30 Jahre miteinander kooperierten und die Fusion 1969 intensiv vorbereitet worden war, mussten in der Folgezeit bei der Aufgaben- und Kompetenzverteilung zwischen Wuppertal (Glanzstoff) und Arnheim (Enka) zahlreiche Konflikte gelöst werden – bspw. ob zentrale Dienste wie Einkaufs- und Finanzabteilungen unter einer Leitung an einem Ort oder als Tandem an zwei Orten geführt werden sollten. Während unterschiedliche Formen des betrieblichen Zusammenlebens und voneinander abweichende Entscheidungsfindungsprozesse erst angepasst werden mussten, spielten Sprachbarrieren von Beginn an kaum eine Rolle. Dies lag zum einen daran, dass Englisch als übergeordnete Konzernsprache für AKU vereinbart worden war, zum ande462 Beurden, Curaçaose offshore, S. 72–130; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 156–157. In der Regelung 1969 wurde im Gegensatz zur Vereinbarung von 1953 explizit festgelegt, dass fortan auch die deutschen Mitglieder des AKU-Aufsichtsrats dem Vorstand der AKUStichting angehörten und diese somit ein Mitspracherecht bei der Besetzung der Leitungsorgane (Vorstand / Aufsichtsrat) der Muttergesellschaft AKU hatten. Die deutschen Mitglieder des AKU-Aufsichtsrats (Hermann J. Abs, Hans L. Merkle, Ernst Hellmut Vits und Otto Wolff von Amerongen) schlossen anschließend einen Gesellschaftsvertrag ab, dessen Ziel im Wesentlichen darin bestand, für eine einheitliche Stimmabgabe der deutschen Gruppe zu sorgen. Vgl. RWWA 195-A2-32/33 Regelung zwischen AKU N. V. und Glanzstoff AG (23.05.1969), Charter der AKU-Stichting (o. D.); RWWA 195-A2-43 Memorandum (29.06.1965); RWWA 195-Z0-8093 Charter der AKU-Stichting (23.05.1969), Gesellschaftsvertrag zwischen den deutschen Mitgliedern des Aufsichtsrates der AKU N. V. (23.05.1969). 463 RWWA 195-A2-29 Notiz betr. AKU / Glanzstoff (09.09.1968).

AKU / VGF / Akzo

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ren an den guten Deutschkenntnissen der Niederländer, die es möglich machten, weite Teile der Vorstandssitzungen von Enka / Glanzstoff in deutscher Sprache abzuhalten. Insgesamt bot die Zusammenführung vor allem die Chance, das Konkurrenzverhältnis auf dem europäischen Markt aufzulösen, doch blieb die hohe Abhängigkeit vom Chemiefasermarkt bestehen.464

3.3.2 Die Fusion von AKU und KZO zur Akzo (1969) Vor diesem Hintergrund suchte das Management intensiv nach einem geeigenten Kooperationspartner und fand diesen 1969 in dem niederländischen Chemieunternehmen Koninklijke Zout-Organon N. V. (KZO), das die einseitige Produktpalette der AKU / Glanzstoff-Gruppe um Salze, Coatings (Farben und Lacke)  sowie pharmazeutische und andere chemische Erzeugnisse ergänzte. Die KZO war erst 1967 durch die Fusion der Koninklijke Zout Ketjen und der Koninklijke Zwanenberg Organon entstanden, deren Zusammengehen ebenfalls mit einer größeren Wettbewerbsfähigkeit begründet wurde, wie der KZO -Vorstandsvorsitzende 1968 verdeutlichte: »We were too small compared with foreign competitors, and so we decided to merge with an equal partner.«465 Aus Sicht von AKU / Glanzstoff sollte die Verbindung mit der KZO die Zugangschancen zum Kapitalmarkt verbessern und das Risiko konjunktureller Schwankungen reduzieren. In einem letter of intent vereinbarten der KZO -Vorstandsvorsitzende Gualtherus Kraijenhoff und Leendert H. Meerburg als AKU-Vertreter im Juli 1969 die Fusion beider Gruppen, wobei die kurz zuvor erzielte Neuregelung der AKU / Glanzstoff-Beziehungen unberührt bleiben und der Chemiefaserbereich neben die bestehenden KZO -Divisionen treten sollte.466 Während beide Seiten aufgrund des höheren Kurses der KZO -Aktien zunächst die KZO als aufnehmende Gesellschaft in Aussicht genommen hatten, wurde schließlich – nachdem sich die Kurse einander angenähert hatten – AKU zur aufnehmenden Gesellschaft. Dies garantierte insbesondere die Fortgeltung der zwischen AKU und Glanzstoff ausgehandelten Vereinbarung. Für den Glanzstoff-Vorstand war vor allem entscheidend, auch nach einer Fusion mit KZO in den Leitungsgremien der Holding-Gesellschaft vertreten zu sein. Insgesamt stand das deutsche Management einem Zusammengehen mit KZO unter Kapitalmarktgesichtspunkten ebenso positiv gegenüber wie die AKU-Leitung. Auch hier sah man das Größenwachstum unter den Bedingungen des interna-

464 RWWA 195-L3-22 »Weitere Mitteilungen zur Neuordnung der AKU / GlanzstoffGruppe«, in: Sonderbeilage zu Heft 6 der Werkszeitschrift »Wir vom Glanzstoff« (Juni 1969); Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 161–166. Vgl. hierzu auch: Tietze, Management. 465 Zitiert nach: Loibl, US -Direktinvestitionen, S. 60. Vgl. auch Aftalion, Industry, S. 199; Steffen, Answers, S. 36, 63–106; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 173. 466 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 167–168.

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

tionalen Wettbewerbs und den höheren Risikoausgleich infolge einer breiteren Produktpalette als Zugewinn an, wie Vits gegenüber den Glanzstoff-Aktionären auf der Hauptversammlung im Juli 1969 verdeutlichte: »Die AKU-Gruppe würde damit in eine Größenordnung hineinwachsen, die in Größe und Breite mit anderen Welt-Chemiekonzernen vergleichbar ist.« Im September 1969 wurde das Aktienkapital der AKU daraufhin von 245 Mio. hfl. auf 512 Mio. hfl. erhöht, den KZO -Aktionären der Umtausch ihrer Aktien im Verhältnis 5:6 angeboten und der Name der AKU N. V. in Akzo N. V. geändert.467 Ab 1969 existierte damit der Akzo-Konzern, dessen Produktpalette sich gegenüber derjenigen der AKU deutlich verbreitert hatte. Der Chemiefaseranteil fiel infolge der Fusion von 85 auf 52 Prozent, gleichwohl kam dem Arbeitsgebiet der Chemiefasern bei Akzo – dem zu diesem Zeitpunkt größten Chemiefasererzeuger Westeuropas und dem zweitgrößten der Welt (nach DuPont) – damit immer noch ein erhebliches Gewicht zu. Innerhalb der EWG überstiegen 1969 nur die Kapazitäten von Rhône-Poulenc (411.000t) mit einem Anteil von 21,1 Prozent an der EWG -Produktion diejenigen von Akzo (407.000t) mit 20,9 Prozent. Weit dahinter folgten Snia Viscosa, ­Hoechst, Montedison und Bayer mit einem Anteil von etwa acht bis elf Prozent. Zugleich unterschied sich die regionale Ausrichtung der Vorgängergesellschaften gegenüber dem Akzo-Konzern, denn der Umsatz der KZO -Gruppe lag 1968 zu 38 Prozent in den Niederlanden, wohingegen dieser Anteil bei Akzo nur 16 Prozent betrug.468 Obschon alle Vertragsparteien vereinbart hatten, an der ausgehandelten Regelung zwischen AKU und Glanzstoff festzuhalten, bedrohte die Fusion mit KZO das fein austarierte Beziehungsgeflecht zwischen den Leitungsgremien von AKU, Enka und Glanzstoff, denn auf Drängen der KZO wurde ihr gesamter Vorstand in den AKU-Vorstand aufgenommen. Ebenso wurden die Aufsichtsräte zusammengelegt, so dass die mühsam ausgehandelte Position der westdeutschen Glanzstoff AG innerhalb der AKU-Konzernführung weitgehend marginalisiert wurde.469 Der neue Akzo-Vorstand setzte sich aus den bisherigen (im Mai 1969 467 Gelders Archief 3169/1040 Fusiebericht in verband met het voornemen tot samenwerking van AKU en KZO onder de naam Akzo (29.10.1969); RWWA 195-A6-23 Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board of Management of AKU N. V. (26.08.1969); RWWA 195-A9-13 Eröffnungsrede von G. Kraijenhoff auf der Hauptversammlung der Akzo N. V. (09.05.1974); RWWA 195-L3-22 Fusionsbericht hinsichtlich der Zusammenarbeit von AKU und KZO (1969); Olie, Mergers, S. 118–120; Steffen, Answers, S. 35–48; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 167–172 [Zitat S. 170]; Wicht, Glanzstoff, S. 93–94. Mit der Gründung der Akzo N. V. wurde die AKU-Stichting in Akzo-Stichting umbenannt, an der grundlegenden Idee einer Stiftung aber festgehalten, nicht zuletzt weil auch KZO vor der Fusion über eine ähnliche Stiftungskonstruktion verfügte. Vgl. RWWA 195-A6-23 Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board of Management of AKU N. V. (26.08.1969). 468 RWWA 195-A2-29 Wirtschaftsforschung, Anlage 2 (17.03.1969); Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 174. 469 RWWA 195-C1-25 Notiz betr. Akzo / Enka Glanzstoff (23.12.1969).

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AKU / VGF / Akzo

Tabelle 19: Die größten Chemiefaserhersteller der Welt (1969) Rang

 

Unternehmen Sitz des Mutter­ unternehmens

Kapazitäten (in jato) Inland

Ausland

gesamt

Anteil an der Welt­ kapazität

1

DuPont

USA

723.400

145.900

869.300

9,2 %

2

AKU

Niederlande

104.100

524.300

628.400

6,7 %

3

Rhône-­ Poulenc

Frankreich

329.400

206.000

535.400

5,7 %

4

Courtaulds

Großbritannien

340.800

177.400

518.200

5,5 %

5

Celanese

USA

403.400

65.200

468.600

5,0 %

6

FMC

USA

327.800

2.000

329.800

3,5 %

7

Monsanto

USA

249.500

63.800

313.300

3,3 %

8

ICI

Großbritannien

208.000

89.700

297.700

3,2 %

9

­Hoechst

Bundesrepublik

213.100

44.500

257.600

2,7 %

10

Snia Viscosa

Italien

215.000

5.500

220.500

2,3 %

11

Toyo Rayon

Japan

209.900

209.900

2,2 %

12

Montecatini /  Edison

Italien

165.100

173.400

1,8 %

Summe

 

 

 

4.822.100

51,1 %

Welt

 

 

 

9.435.000

– 8.300

 

Quelle: RWWA 195-A2-29 Wirtschaftsforschung, Anlage 1 (17.03.1969).

vereinbarten) sieben AKU-Mitgliedern und acht KZO -Vorständen zusammen; der neue Glanzstoff-Vorstandsvorsitzende Vaubel war damit der einzige deutsche Vertreter innerhalb des 15-köpfigen Leitungsgremiums. Der Vorstandsvorsitzende der Enka International erhielt ebenfalls einen Sitz im Akzo-Vorstand. Im Unterschied zu den älteren AKU-Führungsfiguren wie Soesbeek zeigte das KZO -Team unter seinem dynamischen Vorstandsvorsitzenden Gualtherus Kraijenhoff wenig Verständnis für die Befindlichkeiten der Glanzstoff-Führung und ihre Forderungen nach Mitarbeit in der Konzernzentrale. Historisch begründete Ansprüche und Verweise auf das bedeutsame Gewicht der Glanzstoff-Seite in Bezug auf Produktionskapazitäten vermochten das moderne KZO -Management nicht zu überzeugen. Unterschiede in der geschäftlichen und organisatorischen Grundauffassung sowie im Führungsverhalten zeigten sich dabei nicht nur entlang nationaler Grenzen, sondern auch zwischen der niederländischen AKU und der KZO. Während AKU und Glanzstoff trotz unterschiedlicher Managementstile einen zentralisierten Organisationsaufbau hatten, war die KZO auf-

316

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

grund ihrer diversifizierten Produktpalette stärker divisional strukturiert und übertrug dieses Prinzip – unter Zuhilfenahme externer Berater – letztlich auch auf Akzo. Infolgedessen entstanden beim neu gegründeten Akzo-Konzern weitgehend getrennte, gewinnverantwortliche Produktdivisionen, die verpflichtet waren, ihren Bedarf möglichst vollständig bei anderen Divisionen zu decken. Die Fasersparte war aufgrund ihrer Größe als einzige nicht streng zentralisiert organisiert, sondern verfügte mit Enka / Glanzstoff (für den EWG -Raum), Akzona (für die USA) und Akzo International (für Großbritannien, Spanien und das übrige Ausland) über drei Untergesellschaften. Immerhin wurde Vaubel neben Kraijenhoff, Meerburg und Bakkenist zum stellvertretenden Akzo-Vorstandsvorsitzenden berufen und gehörte auf diese Weise mit dem Akzo-Vorstandsvorsitzenden Soesbeek und Finanzvorstand Tabelle 20: Vorstand des Akzo-Konzerns (1969) Name

Vorname

Nationalität Funktion

Soesbeck

Klaas

niederl.

AKU- bzw. Akzo-Vorstandsvorsitzender

Kraijenhoff

Gualtherus

niederl.

Stellv. Akzo-Vorstandsvorsitzender

Meerburg

Leendert H.

niederl.

Stellv. AKU- bzw. Akzo-Vorstandsvorsitzender

Bakkenist

Siebrand C.

niederl.

Stellv. Akzo-Vorstandsvorsitzender

Vaubel

Ludwig

deutsch

Glanzstoff-Vorstandsvorsitzender

Hessels

Johan H. E.

niederl.

Enka-Vorstandsvorsitzender

Krevelen

Dirk W. van

niederl.

Vorstandsvorsitzender von AKU bzw. Akzo Research and Engineering N. V.

Prakke

Frits

niederl.

Vorstandsvorsitzender von Enka International N. V.

Kruisinga

Heine Johan

niederl.

Finanzen und Rechtswesen

Driel

Aert van

niederl.

 

Helden

Paulus J. van

niederl.

 

Stikker

Allerd

niederl.

 

Bent

Jan P. van den

niederl.

 

Kramers

Hendrik

niederl.

 

Waveren

Klaas van

niederl.

 

Quelle: Geschäftsbericht Akzo 1969, S. 7; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 176, 245. Nach der Neuregelung im Mai 1969 bestand der AKU-Vorstand aus sieben Mitgliedern; nach der Fusion mit KZO kamen deren Vorstände (grau markiert) hinzu. Bent, Kramers und Waveren schieden allerdings 1970 bereits wieder aus.

AKU / VGF / Akzo

317

Kruisinga dem wöchentlich tagenden AZ -Gremium (Algemene Zaaken) an, welches die Leitung des Gesamtkonzerns übernahm, wohingegen der AkzoGesamtvorstand nur in ein- bis zweimonatlichen Abständen tagte und im Wesentlichen die vorbereiteten Beschlüsse formal verabschiedete. Obschon sowohl die Bedeutung der Chemiefaserproduktion als auch diejenige des westdeutschen Konzernteils abgenommen hatte, verteidigte das Glanzstoff-Management damit seinen Platz im zentralen Entscheidungsorgan des Konzerns. Der anstehende Aufbau eines einheitlichen Führungsapparats war vor allem Aufgabe der zentralen Verwaltungen in Arnheim, deren Beschäftigte von der Fusion mit der KZO am stärksten betroffen waren, während sich Wuppertal in den folgenden Jahren mehr und mehr zum Zentrum für den Chemiefaserbereich entwickelte.470 Das AKU / Glanzstoff-Management hatte mit der Neuregelung ihrer Beziehungen im Mai 1969 und dem Zusammenschluss mit der KZO zur Akzo im September 1969 eine umfassende Antwort auf die anstehenden Herausforderungen Ende der 1960er Jahre – nämlich den entstehenden westeuropäischen Markt und die Abhängigkeit von Chemiefasern – gegeben. Gleichwohl war der Reorganisationsprozess damit nicht beendet. Er stand eher an seinem Anfang, denn zum einen folgten 1969/70 zahlreiche weitere (ausländische) Unternehmenszukäufe; zum anderen erforderte die einsetzende europäische Chemiefaserkrise in den folgenden zehn bis fünfzehn Jahren tiefgreifende Umstrukturierungen des Akzo-Konzerns.

3.3.3 Die Umstrukturierung von Enka / Glanzstoff innerhalb des Akzo-Konzerns Obschon es in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre erste Anzeichen für ein Nachlassen des Chemiefaserbooms gab und die Schwächen der Textil- als zentraler Abnehmerindustrie zu erkennen waren, stand die Glanzstoff-Leitung zu jener Zeit noch unter dem Eindruck der Hochkonjunktur. Nach der wirtschaftlichen Flaute 1966/67 gewann das Chemiefasergeschäft von Glanzstoff wieder an Fahrt, nicht zuletzt weil die inländische Textil- und Reifenindustrie ihre Produktion trotz zunehmender Importe steigern konnte. Der Umsatz der Glanzstoff-Gruppe stieg von 1,3 Mrd. DM 1967 auf 1,6 Mrd. 1968, die Anzahl der Beschäftigten wurde von 24.062 (1967) wieder auf 29.188 (1969) ausgeweitet, und auch der Jahresüberschuss kletterte von 18,6 Mio. DM 1967 auf 57,1 Mio. DM 1968 (bzw. 57,2 Mio. DM 1969). Die Jahre 1968/69 waren damit Rekordjahre für Glanzstoff, in denen auch der Dividendensatz der Aktionäre auf 20 Prozent

470 Geschäftsbericht Akzo 1969, S. 14; RWWA 195-A9-12 Akzo Raad van Bestuur to the presidents of the divisions (07.04.1972); RWWA 195-C1-25 Enka Glanzstoff-Organisation (1969–1970); RWWA 195-C1-26 Enka Glanzstoff-Organisation (1970–1973); Olie, Mergers, S. 120–122; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 176–181.

318

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

angehoben wurde.471 Nur vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum der Chemiefaserbereich der AKU / Glanzstoff-Gruppe 1969 kurz vor Einsetzen der Chemiefaserkrise noch erweitert wurde, indem die SASTIG AG in der Schweiz mit ihrem traditionsreichen, aber veralteten Feldmühle-Werk in Rorschach und die Fabelta S. A. in Belgien mit ihrem weitgehend auf Acrylfasern beschränkten Produktionsprogramm überhaupt übernommen wurden.472 Als die Abnehmerindustrien 1970 ihre Lagerbestände abbauten, schwächte sich die weltweite Wachstumsrate bei Chemiefasern deutlich ab und die Preise gaben nach. Zugleich wichen die Entwicklungen der einzelnen Faserarten nun immer stärker voneinander ab. Während die Nachfrage nach Zellulosefäden und -fasern nachließ, erzielten Polyester- und Polyacrylfasern hohe Zuwachsraten, und dieser Trend setzte sich in den folgenden Jahren fort. Der Verkauf von Reifengarn und anderen technischen Garnen nahm 1970 beträchtlich zu, wohingegen die Absatzmengen der übrigen Chemiefasern teilweise sogar rückläufig waren und insbesondere die Zellwollsparte mit Verlust arbeitete. Die neuen Währungsrelationen, der verschärfte internationale Wettbewerb, die restriktive US -Handelspolitik sowie steigende Lohn- und Zinskosten erschwerten 1970/71 den Export der westdeutschen und niederländischen Hersteller zusätzlich. Entsprechend fiel der Jahresüberschuss der Glanzstoff-Gruppe 1970 wieder auf das Niveau von 1966.473 Der Glanzstoff-Vorstand musste hierauf kurzfristig Antworten finden und beschloss daher zunächst die Weberei in Augsburg im Laufe des Jahres 1970 zu schließen und ihre Betriebsanlagen zu veräußern. Außerdem wurde das Personal in Arnheim (Kleefse Ward) schrittweise um 400 Personen gedrosselt und die Zellwollproduktion in Kassel (Spinnfaser AG) und Zwijnaarde (Fabelta) stillgelegt. Auf Massenentlassungen wollten die Vorstände von Enka und Glanzstoff hingegen verzichten, da sie kaum zu einem Dividendensatz von 20 Prozent passen mochten. Ferner wurden mit der J. P. Bemberg AG in Wuppertal-Barmen und der Spinnfaser AG in Kassel 1970 Betriebspachtverträge abgeschlossen, so dass deren Produktionsstätten fortan als Glanzstoff-Werke geführt wurden.474 Im Folgejahr wurde diese Straffung der Organisationsstruktur weiter vorangetrieben, indem – mit Ausnahme der Kuag Textil AG – zum 1. Januar 1971 alle bisherigen Organgesellschaften (J. P.  Bemberg AG, Spinnfaser AG, Glanzstoff Köln GmbH) mit der Glanzstoff AG verschmolzen wurden. Im Fall der Glanz471 Geschäftsbericht Glanzstoff 1969, S. 2. 472 Geschäftsbericht Akzo 1969, S. 18; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 179–180. Die Schweizerisch-Amerikanische Stickerei-Industrie-Gesellschaft (SASTIG) war die Industrieholding des Stickereiunternehmens Feldmühle AG in Rorschach. Im Jahr 1968 hatte die Feldmühle bereits den Vertrieb für textile Chemiefasern der AKU übernommen. Vgl. Lüpold, Festung Schweiz, S. 100, 746. 473 Geschäftsbericht Glanzstoff 1970, S. 1–4. 474 Geschäftsbericht Glanzstoff 1970, S. 9–10; RWWA 195-B6-1-24 Sonderprotokoll der Enka Glanzstoff-Vorstandssitzung (16.11.1970, 28.12.1970), Ergänzungen zum Protokoll der Enka Glanzstoff-Vorstandssitzung (05.07.1971, 04.10.1971).

AKU / VGF / Akzo

319

stoff Köln GmbH wurden die chemischen Aktivitäten und Vermögenswerte fortan der chemischen Division der Akzo N. V. unterstellt.475 Darüber hinaus sollten die beiden Betriebsgesellschaften Enka N. V. und Glanzstoff AG auch in der Außendarstellung näher zusammenrücken. Daher beschlossen die Leitungsgremien im November 1971 die Umbenennung der beiden Gesellschaften in Enka Glanzstoff N. V. und in Enka Glanzstoff AG; im Mai bzw. Juni 1972 stimmten die beiden Hauptversammlungen jener Änderung zu. Neben den beiden Stammunternehmen mit Sitz in Wuppertal und Arnheim gehörten der Enka Glanzstoff-Gruppe ab 1971 die Fabelta in Belgien, die Barmer Maschinenfabrik AG (Barmag) in der Bundesrepublik, die Erste Österreichische Glanzstoff-Fabrik AG in Österreich (St. Pölten), die Feldmühle AG in der Schweiz, die Ferenka Ltd. in Irland sowie die Kuag Textil AG in der Bundesrepublik und die Kuag Textiel N. V. in den Niederlanden an. Die Enka Glanzstoff-Gruppe war damit ein multinationales Unternehmen innerhalb des multinationalen AkzoKonzerns und bezeichnete sich im Geschäftsbericht 1971 auch selbst als solches. Damit war sie mit der Roussel Uclaf-Gruppe innerhalb des ­Hoechst-Konzerns vergleichbar, auch wenn die Beziehungen zwischen Tochter- und Muttergesellschaft im deutsch-niederländischen Fall viel tiefer reichten.476 Ferner wurde bei Akzo 1971 eine Fiber Group eingerichtet, der neben Enka Glanzstoff auch die übrigen Chemiefaser herstellenden Tochtergesellschaften in Europa, Lateinamerika und Indien sowie die Amerenka in den USA angehörten. Schlange-Schöningen schied aus dem Enka Glanzstoff-Vorstand aus und übernahm ab Mai 1971 die Leitung jener Fiber Group innerhalb des Akzo-Vorstands. Damit lagen die Chemiefaseraktivitäten im Akzo-Vorstand in einer Hand, gleichwohl existierten im Bereich der Chemiefasern für die verschiedenen Weltregionen nach wie vor unterschiedliche Organisationseinheiten.477 Neben diesen organisatorischen Änderungen stand 1971 eine Reihe von Personalentscheidungen an, bei denen die 1969 zwischen AKU und Glanzstoff ausgehandelte Regelung noch einmal aufgerollt wurde. Die früheren KZO -Manager hätten vor allem eine Aufteilung von Enka Glanzstoff in kleinere Divisionen gerne gesehen, die innerhalb des Akzo-Konzerns einen ähnlichen Status wie die KZO -Divisionen eingenommen hätten, doch hielten die deutschen Glanzstoff-Manager wie auch Soesbeek und van den Brink an der Einheit von Enka Glanzstoff fest. Unter dem neuen Akzo-Vorstandsvorsitzenden Kraijenhoff, der diese Position nach dem altersbedingten Ausscheiden von Soesbeek im Mai 475 Geschäftsbericht Glanzstoff 1971, S. 15–16; RWWA 195-L7-4-5 Verschmelzungsvertrag zwischen der Glanzstoff AG und der J. P. Bemberg AG (12.05.1971); Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 182. 476 Geschäftsbericht Glanzstoff 1971, S. 10; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 184, 187. Vgl. zur Ersten Österreichischen Glanzstoff-Fabrik AG : Gelders Archief 3169/671, »75 Jahre Erste Österreichische Glanzstoff-Fabrik AG 1904–1979«, in: Sondernummer der Werkszeitung Reyon Post (1979). 477 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 182. Vgl. zur Vorgeschichte der Amerenka: Gelders Archief 3169/671 Amerenka Corp. (1969).

320

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Tabelle 21: Produktionsstätten von Enka Glanzstoff (1971) Divisionen

Polyamid- und Rayonfäden

Polyesterfäden

Fasern und Teppichgarn

Industriegarne und Nicht-Faserprodukte

Produktions­ stätten

Bundesrepublik

Bundesrepublik

Bundesrepublik

Bundesrepublik

 

Niederlande

Niederlande

Niederlande

Niederlande

 

Belgien

 

Belgien

Belgien

 

Österreich

 

 

Österreich

 

Schweiz

 

 

Schweiz

 

 

 

 

Irland

Quelle: Geschäftsbericht Glanzstoff 1971, S. 9.

1971 übernommen hatte, wurde angesichts der miserablen Ergebnisse von Enka Glanzstoff allerdings erneut über die Leitungsstruktur diskutiert. Die Ankündigung der beiden Enka Glanzstoff-Vorstandsvorsitzenden, Vaubel und Hessels, im Mai 1972 aus ihren Positionen auszuscheiden, machte diese Diskussion in gewisser Weise auch notwendig. Ganz im Sinne eines divisionalen Organisationsprinzips mit klaren Verantwortlichkeiten – wie dies bei KZO zuvor existiert hatte – plädierte der Akzo-Vorstand im Juni 1971 mehrheitlich dafür, die Funktion der beiden Vorsitzenden von Enka N. V. und Glanzstoff AG aufzugeben und die Führung von Enka Glanzstoff in die Hand eines »President« zu legen. Der Akzo-Vorstand wollte interimsweise Meerburg mit dieser Aufgabe betrauen und schlug als dessen Nachfolger Dieter Wendelstadt vor, der erst 1967 aus der Geschäftsführung von Vorwerk & Co. in Wuppertal zu Glanzstoff gewechselt war; dort hatte er 1969 den Vorstandsvorsitz der Kuag übernommen. Der 41-jährige Wendelstadt ohne Hauskarriere bei AKU / VGF schien den ehemaligen KZO Managern bestens geeignet, um mit eingefahrenen Entscheidungsstrukturen und historisch gewachsenen Befindlichkeiten zu brechen. Entsprechend groß war der Widerstand der Enka Glanzstoff-Vorstände, die weder das »President«System noch die Berufung Wendelstadts akzeptieren wollten. Letztlich einigten sich beide Seiten im Juli 1971 darauf, Meerburg als »Informal President« zu bestellen und Wendelstadt im Oktober 1971 in den Enka Glanzstoff-Vorstand aufzunehmen. Damit war der konkrete Konflikt zwar entschärft, aber eine langfristige Lösung für die personelle Führung von Enka Glanzstoff war damit noch nicht gefunden.478 478 RWWA 195-A9-12 Rundschreiben des Enka Glanzstoff-Vorstands (19.07.1971), Akzo Raad van Bestuur to the members of the Supervisory Council of Akzo (14.07.1971); Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 182–184. Wendelstadt schied angesichts der begrenzten Karriereaussichten im März 1973 bereits wieder aus dem Enka Glanzstoff-Vorstand aus, um den Vorstandsvorsitz der Colonia Versicherung AG und der Colonia Lebens-

AKU / VGF / Akzo

321

Der Strukturplan 1972 Vor dem Hintergrund des Preisverfalls bei Chemiefasern und struktureller Überkapazitäten in der westeuropäischen Chemiefaserindustrie rückten die westdeutschen Hersteller Anfang der 1970er Jahre näher zusammen und verständigten sich auf bestimmte Preis- und Produktionshöhen, woraufhin das Bundeskartellamt Untersuchungen einleitete und 1972 den bis dahin höchsten Bußgeldbescheid gegen neun Chemiefaserhersteller in Höhe von 48,44 Mio. DM verhängte. Die höchste Strafe richtete sich gegen Glanzstoff (21 Mio. DM), gefolgt von der deutschen Tochtergesellschaft des französischen Chemiekonzerns Rhône-Poulenc (Deutsche Rhodiaceta)  (11  Mio. DM) sowie von Bayer (7,6 Mio. DM) und ­Hoechst (5 Mio. DM). Letztlich hatte das Bundeskartellamt jedoch Schwierigkeiten, die Verbindungen und Absprachen zwischen den Chemiefaserherstellern nachzuweisen und verständigte sich mit ihnen 1974 auf die Zahlung von zwölf Mio. DM .479 Parallel zu dieser branchenweiten Reaktion auf die nachlassende Nachfrage nach Chemiefasern entwickelte der Glanzstoff-Vorstand weitreichende unternehmensspezifische Umstrukturierungspläne.480 Ein vierköpfiges Team unter Leitung von Bendert Zevenbergen, dem Leiter der Textilgarnsparte, erarbeitete unter strengster Geheimhaltung ein Sanierungskonzept (Strukturplan 1972), welches die schrittweise Stilllegung von Produktionsbetrieben in Breda (Niederlande), Wuppertal-Barmen (Bundesrepublik), Zwijnaarde (Belgien) und Rorschach (Schweiz) sowie die Entlassung von 5.700 Beschäftigten vorsah – davon 4.700 in der Bundesrepublik und in den Niederlanden. Das Management machte vor allem die Aufwertung der DM und des Gulden sowie die staatliche Subventionierung der italienischen Chemiefaserproduzenten für die eigenen Probleme verantwortlich. Den Kern des Strukturprogramms bildete die Konzentration auf die Erzeugung von Synthesefäden an weniger Standorten. Damit wollte das Management zum einen auf die veränderte Nachfragestruktur reagieren; zum anderen wollte es damit der zersplitterten Werksstruktur entgegenwirken. Durch die punktuelle Bereinigung der Betriebsstruktur sollten 35 Prozent der Gesamtkapazität zur Nylon-, Perlon- und Polyesterfadenherstellung entfallen und die Verluste bei textilem Polyamid-Filamentgarn gestoppt werden. Als Begründung wurde die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit eines technologisch ausgereiften versicherung AG zu übernehmen, den er bis 1991 innehatte. Dort stand er – ähnlich zur Fusion von AKU, VGF und KZO – vor der Aufgabe, mehrere von Colonia 1969/70 erworbene Gesellschaften zusammenzuführen. Vgl. Becker, Annette: Dieter Wendelstadt 80, in: Börsen-Zeitung Nr. 239, 11.12.2009, S. 13; »Versicherungen. Hang zur Gruppe«, in: Der Spiegel 31/1975, 28.07.1975, S. 31–32; »AXA Colonia Konzern AG «, in: http://www. company-histories.com/AXA-Colonia-Konzern-AG -Company-History.html, letzter Zugriff: 27.09.2022. 479 Vgl. hierzu im Detail: Marx, Cartel. 480 Olie, Mergers, S. 122–124; RWWA 195-C1-26 Notiz von Vaubel (07.05.1971).

322

Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

und somit auch in anderen Weltregionen herstellbaren Produkts in Verbindung mit gestiegenen Lohnkosten und Überkapazitäten in Westeuropa angegeben.481 Während die Schließung der kleineren Betriebe in Zwijnaarde und Rorschach mit ihren älteren Anlagen nachvollziehbar war, stieß die Entscheidung im Fall von Breda und Wuppertal mit ihren modernen, leistungsfähigen Maschinen auf Unverständnis. Die Wahl fiel auf diese beiden Standorte, da auf diese Weise ganze Werke geschlossen werden konnten und die sozialen Lasten zwischen der Bundesrepublik, den Niederlanden, Belgien und der Schweiz nach Ansicht des Managements ausgewogen verteilt waren. In Breda sollten die Texturieraktivitäten einschließlich der Färberei vollkommen auslaufen, die Folienherstellung eingestellt und die Synthesegarnproduktion stufenweise abgebaut werden. Im Fall Breda rechtfertigte das Management seine Entscheidung damit, dass bei der schlechten Ertragslage von Enka Glanzstoff nicht die Fixkosten von zwei Polyesterwerken  – in Breda und Oberbruch  – aufgefangen werden könnten. Umgekehrt sollten die großen Produktionsbetriebe des Konzerns in Emmen, Oberbruch und Obernburg auf diese Weise gestärkt werden. Als der Enka Glanzstoff-Vorstand am 6. April 1972 den Strukturplan verkündete, formierte sich ein länderübergreifender Proteststurm der Arbeitnehmer.482 Eine von Gewerkschaften und Unternehmensleitung gemeinsam eingesetzte und mit Wirtschaftsexperten besetzte Kommission prüfte die Grundlagen des Strukturplans. Auf deutscher Seite wurden Horst Thoennes und Wilhelm Elmendorff von der renommierten Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Dr. ­Wollert – Dr. Elmendorff KG ausgewählt; von niederländischer Seite fungierten Prof. Dr. Pieter G. M. Hesseling und Prof. Dr. Hendrik Willem Lambers als Gutachter, d. h. selbst bei der Besetzung einer solchen Kommission spielten nationale Zugehörigkeiten eine enorme Bedeutung. Die Kommission kam im August 1972 zu dem Ergebnis, dass die zugrundeliegenden Markt- und Produktionsdaten zwar richtig, die Vorbereitung und Abstimmung des Plans hinsichtlich der sozialen Folgen jedoch unzureichend gewesen seien.483 In den Augen des 481 Asperger, Glanzstoff, S. 47–49; Gelders Archief 3169/905 Herstructurering Enka Glanzstoff. Ordner Nr. I: Voorbereiding van het structuurplan (1972); Gelders Archief 3169/906 Herstructurering Enka Glanzstoff. Ordner Nr. II: Voorbereiding van het bekendmaken van het strutuurplan, (1972); RWWA 195-A2-44 Interne Mitteilung: Konzentrationsmaßnahmen innerhalb Enka Glanzstoff (05.04.1972); RWWA 195-A6-23 Persoonlijke aantekeningen van de secretaris van de vergadering van gemachtigte commissarissen (29.02.1972); RWWA 195-B6-1-25 Fortsetzung der Ergänzungen (17.01.1972), Geheimprotokoll (21.02.1972, 13.03.1972); Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 184–185. 482 RWWA 195-B0-61 Bericht für die Führungskräfte Nr. 2/1972 (06.04.1972), Referat von Vaubel (06.04.1972), Mitteilung des Betriebsrates (15.05.1972); Piehl, Gewerkschaftssolidarität. 483 Gelders Archief 3169/908 Herstructurering Enka Glanzstoff 1972, Nr. IV: Stellungnahme von Lambers, Hesseling und Wollert / Elmendorff zu dem vom Vorstand der Enka Glanzstoff am 6. April 1972 vorgelegten Strukturplan (August 1972); RWWA 195-B0-61 Notiz von Zempelin (29.05.1972); RWWA 195-B0-62 Stellungnahme Enka Glanzstoff-Vorstand zum Gutachten der Sachverständigenkommission (16.08.1972).

AKU / VGF / Akzo

323

Betriebsrats des Werkes Wuppertal-Barmen bot das Gutachten in seiner Form keine hinreichende Entscheidungsgrundlage, insbesondere folgte die Arbeitnehmervertretung nicht der Schlussfolgerung, dass dem Vorstand hinsichtlich der Investitionspolitik keine Vorwürfe gemacht werden könnten.484 Mit der Besetzung der von der Schließung bedrohten Fabrik im niederländischen Breda am 18. September 1972  – eine in der Geschichte der niederländischen industriellen Beziehungen einzigartige Form des Arbeitskampfes  – erreichte der Konflikt einen Höhepunkt. Zuvor hatten sich nicht nur Gewerkschafts- und Betriebsratsvertreter gegen eine Schließung ausgesprochen, auch die Gemeinde Breda hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt und sich u. a. an den niederländischen Sozialminister gewandt, um den Beschluss des multinationalen Konzerns zu kippen. Zudem organisierten die Gewerkschaftsvertreter der betroffenen Länder erstmals gemeinsame Aktionen und der Internationale Chemie- und Fabrikarbeiterverband (ICF) forderte weltweite Boykottmaßnahmen. Die Akzo-Manager waren sowohl von der Besetzung als auch von der Gewaltbereitschaft schockiert und wussten nicht mit der Situation umzugehen.485 Dabei war eigentlich offensichtlich, dass weder eine offizielle Verlautbarung, die die Besetzung als illegal bezeichnete, noch eine anberaumte Pressekonferenz mit Journalisten den Konflikt lösen würde. Der Akzo-Vorstand wurde zu dieser Zeit von den Ereignissen vollkommen überrollt und verlor nicht nur die Kontrolle über das Werk in Breda, sondern auch über die Wahrnehmung der Ereignisse in der Öffentlichkeit. Sympathiebekundungen für die Besetzer in Breda zeigten, wie sehr sich die öffentliche Meinung inzwischen gegen die Akzo-Führung gedreht hatte. Da der Akzo-Vorstand unter Kraijenhoff eine weitere Eskalation des Konflikts vermeiden wollte, zog er den angedachten Strukturplan daraufhin am 21. September ohne Rücksprache mit dem Enka Glanzstoff-Vorstand zurück.486 484 RWWA 195-Y3-59 Presse-Erklärung des Betriebsrates (24.08.1972). 485 Vaubel machte gegenüber den niederländischen Managern insbesondere deutlich, dass der Vorschlag zur Schließung von Breda nicht von deutscher Seite gekommen sei, und wollte damit einer Meinungsbildung gegen den anderen »nationalen« Teil des Konzerns entgegenwirken. Vgl. Gelders Archief 3169/911 Vaubel an Kraijenhoff (08.09.1972). Im Englischen firmierte die ICF als International Federation of Chemical and General Workers’ Unions. 486 Asperger, Glanzstoff, S. 51–53; Gelders Archief 3169/907 Gemeente Breda aan de Raad van Bestuur van Akzo (18.04.1972), Gemeente Breda aan Minister van Sociale Zaken (17.04.1972); Gelders Archief 3169/911 Mitteilung des Vorstands an alle Führungskräfte (20.09.1972); RWWA 195-A6-23 Geheim. Persoonlijke aantekeningen van de extra vergadering van Gemachtigte Commissarissen (19.09.1972); RWWA 195-A9-6 Memorandum on the Enka Glanzstoff Restructuring Plan (27.09.1972); RWWA 195-A9-10 Verslag Raad van Bestuur Akzo (22.09.1972); RWWA 195-B0-62 Dokumentation der Ereignisse am 21.09.1972; RWWA 195-B5-2-37 Niederschrift über die 267. Sitzung des Aufsichtsrates der Enka Glanzstoff AG (20.10.1972); RWWA 195-Y3-59 Presseveröffentlichungen zum Strukturplan Enka Glanzstoff (1972); RWWA 195-Y8-24 Toetssteen voor een Ondernemingsraad (1972/75); RWWA 195-Z0-40 Gang der Ereignisse in Wuppertal-Barmen und Breda (20.09.1972), Fernschreiben an Leiter der Service-Büros (22.09.1972); Steffen,

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Während die Breda-Beschäftigten auf diese Weise vorübergehend als Gewinner aus diesem Konflikt hervorgingen, verhinderte das Verhalten des AkzoManagements umgekehrt erforderliche Rationalisierungen. Lediglich das Feldmühle-Werk in Rorschach wurde geschlossen.487 Zeit-Autor Kurt Wendt warnte denn auch mit Blick auf Breda davor, verhinderte Betriebsschließungen als Siege über den Kapitalismus zu feiern, vielmehr handele es sich hierbei um Pyrrhus­ siege, die dem notwendigen Strukturwandel im Wege stünden.488 In eine ähnliche Richtung gingen bei der wenig später stattfindenden Modewoche in München die Reaktionen der Textilindustrie, welche von Unverständnis und Hohn geprägt waren. Sowohl der bayerische Wirtschaftsminister Anton Jaumann als auch der wirtschafts- und finanzpolitische Sprecher der CDU / C SU-Bundestagsfraktion Franz-Josef Strauß beurteilten den Rückzug der Akzo-Leitung als eine unverständliche Entscheidung, die die mangelnde politische Kompetenz vieler Unternehmer widerspiegele und den Gewerkschaften zu einem unverhofften Erfolg verholfen hätte.489 Zugleich machten die Ereignisse im September 1972 eine elementare Führungskrise innerhalb des Akzo-Konzerns sichtbar, denn der Enka Glanzstoff-Vorstand hatte sich entschlossen für die Reformvorschläge eingesetzt und auf die Rückendeckung der Konzernmutter gesetzt. Die Vorstandsmitglieder von Enka Glanzstoff boten daher – mit Ausnahme von Wesenhagen – ihren Rücktritt an, blieben aber letztlich im Amt.490 In jener Vertrauenskrise machte sich auch eine gewisse Enttäuschung auf persönlicher Ebene bemerkbar. Den wenig erfolgreichen Versuch, die Differenzen zwischen dem Akzo- und dem Enka Glanzstoff-Vorstand nach den September Ereignissen auszuräumen, kommentierte Hans Günther Zempelin gegenüber Kraijenhoff wie folgt: »Was mich bewegt ist nicht die Tatsache, daß zwischen dem Akzo-Vorstand und dem EG -Vorstand unterschiedliche Meinungen bestehen  – damit und mit der offenen Auseinandersetzung müssen wir leben. Womit wir aber nicht leben können ist die Tatsache, daß […] ein etwa 6-stündiges Gespräch zwischen uns dort endete, wo wir zwei Tage früher aufgehört hatten  – nur mit dem Unterschied, daß sich inzwischen Enttäuschung, Mißverständnisse, Zweifel, ja leider wohl auch ein wenig Mißtrauen eingeschlichen Answers, S. 45; Wicht, Glanzstoff, S. 96–97. Insgesamt sind die Vorgänge über den Strukturplan 1972, die Besetzung des Werks in Breda und den Rückzug des Akzo-Managements sehr detailreich überliefert in: Gelders Archief 3018/36–74 Saneringsmaatregelen en herstructurering (1972–1982); Gelders Archief 3169/905–911 Herstructurering Enka Glanzstoff. Ordner Nr. I–VII (1972). Vgl. zur Berichterstattung über die Ereignisse in Presse und Rundfunk: Gelders Archief 3169/905–912 Herstructurering Enka Glanzstoff. Radio – TV (1972). 487 RWWA 195-Y8-22 »Missmanagement Enka Glanzstoff. Hoher Preis der Parität«, in: Manager (12/1975). 488 RWWA 195-B0-56/57 Kurt Wendt: »Pyrrhussiege über Manager«, in: Die Zeit 10.11.1972, Mitteilung des Enka Glanzstoff Vorstands an alle Führungskräfte (20.09.1972). 489 Gelders Archief 3169/909 Wendelstadt: Reaktionen der Textilindustrie bei der Modewoche München (03.10.1972). 490 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 184–188.

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hatten.«491 Auch Karl-Heinz Asperger verweist in seiner Enka-Darstellung auf den nationalen Argwohn auf beiden Seiten, da sowohl die Deutschen als auch die Niederländer die Urheberschaft des Strukturplans und die daraus entstandenen Probleme im jeweils anderen Unternehmensteil suchten.492 Innerhalb des Akzo-Aufsichtsrats wurde die Entscheidung zur Rücknahme des Strukturplans kontrovers diskutiert. Während der ehemalige niederländische Justizminister Ynso Scholten die Entscheidung des Akzo-Managements unterstützte, sah Franz Heinrich Ulrich (Deutsche Bank) darin im Nachhinein keine sinnvolle Lösung. Dabei betonte Abs, dass dem Management seitens des Aufsichtsrats letztlich keine Genehmigung zur Rücknahme des Strukturplans erteilt worden sei und die gesamte Angelegenheit nochmals im Aufsichtsrat hätte besprochen werden sollen. Hierbei ging es somit auch um einen Kontrollverlust des Aufsichtsorgans gegenüber dem Management, gleichwohl hielt der AkzoAufsichtsrat – insbesondere die deutschen Mitglieder Abs, Vaubel und Ulrich – mehrheitlich an der Person Kraijenhoff als Akzo-Vorstandsvorsitzendem fest.493 Inzwischen hatte im Enka Glanzstoff-Vorstand der Führungswechsel stattgefunden. Wie angekündigt zogen sich die beiden Vorsitzenden Vaubel und Hessels im Mai 1972 aus dem deutschen und dem niederländischen Enka Glanzstoff-Vorstand zurück; zugleich wurde die niederländische Enka N. V. im Zuge ihrer Umbenennung in Enka Glanzstoff von einer Naamloze Vennootschap (N. V.) in eine Besloten Vennootschap (bv) – vergleichbar zu deutschen GmbH – umgewandelt, da nach dem neuen niederländischen Unternehmensrecht sonst eine Zwischenholding für die niederländischen Akzo-Tochtergesellschaften notwendig geworden wäre. Vaubel trat anschließend in die Aufsichtsräte der Akzo N. V. und der Enka Glanzstoff AG ein. Darüber hinaus wurde auch Franz Heinrich Ulrich, der Sprecher des Deutsche Bank-Vorstands und seit 1971 Aufsichtsratsvorsitzender der Glanzstoff AG, in den Akzo-Aufsichtsrat gewählt. Gleichwohl verfügte die deutsche Enka Glanzstoff AG seit diesem Wechsel nicht mehr über einen unmittelbaren Repräsentanten im niederländischen Akzo-Vorstand, wie dies 1969 ausgehandelt worden war. Schlange-Schöningen fungierte dort nicht als Enka Glanzstoff-Vertreter, sondern als Koordinator der AkzoFaserinteressen, auch wenn der Enka Glanzstoff-Gruppe hierbei erhebliches Gewicht zufiel und er im Juni 1973 in der Nachfolge von Soesbeek zusätzlich in den Aufsichtsrat der Enka Glanzstoff AG gewählt wurde. Mit dem Ausscheiden von Soesbeek verlor die Enka Glanzstoff AG einen weiteren langjährigen Vertrauten der niederländischen Seite.494 491 RWWA 195-B0-62 Zempelin an Kraijenhoff (28.09.1972). 492 Asperger, Glanzstoff, S. 56. 493 RWWA 195-A6-21 Personal notes of the secretary of the meeting of the supervisory council of Akzo (04.10.1972), Personal notes of the meeting of the supervisory council and the board of management (04.10.1972). 494 Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1972, S. 26; Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1973, S. 36; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 187.

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Die Außerkraftsetzung der zwischen AKU und VGF 1969 geschlossenen Vereinbarung zeigte sich vor allem darin, dass auf die Ernennung neuer Vorstandsvorsitzender verzichtet wurde und stattdessen Hans Günther Zempelin als Vorstandssprecher der Enka Glanzstoff AG und Henri François Wesenhagen als Vorstandssprecher der Enka Glanzstoff bv ernannt wurden, während Meerburg seine Funktion als »Informal President« behielt und fortan in den gemeinsamen Vorstandssitzungen die Leitung übernahm.495 Schließlich schwenkte auch der Enka Glanzstoff-Vorstand auf die Position der Akzo-Leitung ein und erklärte sich bereit, auf eine deutsch-niederländische Doppelspitze zu verzichten. Daraufhin wurde Bendert Zevenbergen, seit 1950 bei der AKU und seit 1969 im Enka Glanzstoff-Vorstand, zum neuen Vorstandsvorsitzenden und Zempelin zu seinem Stellvertreter gewählt. Gleichzeitig behielten Zempelin und Wesenhagen ihre Sprecherfunktion gegenüber den nationalen Sozialpartnern und der deutschen bzw. niederländischen Öffentlichkeit. Damit wich man zwar von der 1969er-Regelung ab, setzte jedoch weiterhin auf internes Personal, das um die Vorgeschichte der AKU / VGF-Beziehungen wusste. Wenn die verschiedenen Teile der Enka Glanzstoff-Gruppe stärker zusammenwachsen sollten, mussten die Manager letztlich die Frage beantworten, inwieweit nationale Staatsangehörigkeiten des Leitungspersonals dauerhaft als Kriterium zu dessen Besetzung herangezogen werden sollte. Mit Zevenbergen als Vorsitzendem und Zempelin als dessen Stellvertreter war im Grunde eine Lösung gefunden, die der paritätischen Machtverteilung im Vorstand recht nahe kam, zumal die übrigen Vorstandsposten noch gleichmäßig zwischen Deutschen und Niederländern verteilt waren.496 Zwar hatte die deutsche Seite immer wieder rechtlich bindende Vereinbarungen eingefordert, letztlich zeigte sich aber hier, dass der 1969 ausgehandelte Kompromiss zu einem nicht unerheblichen Teil an einzelne Personen gebunden blieb, die bereit waren, ihn einzuhalten. Mit der Erweiterung des AKU / VGF-Verbunds um die KZO -Gruppe und ihre Manager ging dieses Verständnis ein Stück weit verloren. Trotz der schwierigen Absatzlage stieg die Chemiefaserproduktion bei Enka Glanzstoff 1971 auf 410.000 Tonnen an, womit die Gruppe 23 Prozent der gesamten EWG -Produktion auf sich vereinigte. Zugleich verschärfte jene Steigerung das Überangebot und trug damit zu den Preiseinbrüchen auf dem Chemiefasermarkt bei. Seit Herbst 1971 erschwerten vor allem die neuen Währungsverhältnisse und der Ausbau von Kapazitäten für Polyesterfäden in den USA den Export dorthin.497 Nachdem der Strukturplan 1972 gescheitert war, versuchte die Enka-Glanzstoff-Leitung ihre Produktion über eine Typenkon495 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 187. 496 Ebd., S. 188; Wicht, Glanzstoff, S. 97. Wesenhagen verließ im Oktober 1974 vorzeitig den Enka Glanzstoff-Vorstand, da er Schwierigkeiten im Umgang mit den niederländischen Gewerkschaften hatte und ihm die unbefriedigenden Ergebnisse der irischen Stahlkordfabrik (Ferenka Ltd.) angelastet wurden. Vgl. Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1974, S. 5, 40. 497 Geschäftsbericht Glanzstoff 1971, S. 10–12; Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1972, S. 10.

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zentration und eine Programmbereinigung zumindest teilweise an die neue Absatzlage anzupassen. Während die Produktpalette der AKU durch die Fusion mit KZO im Sinne einer Risikostreuung verbreitet wurde, galt dies nicht in gleicher Weise für die Enka Glanzstoff-Gruppe, die sich fortan auf die Herstellung von Chemiefasern und angrenzenden Produkten konzentrieren sollte. In diesem Zusammenhang wurde 1972 die Glanzstoff Köln GmbH von der Enka Glanzstoff AG an die Akzo Chemie GmbH, die deutsche Tochtergesellschaft der niederländischen Akzo Chemie B. V., übertragen sowie ferner ein Großteil der Folienaktivitäten der Enka Glanzstoff-Gruppe (Bemberg Folien GmbH) an den belgischen Chemiekonzern Union Chimique Belge S. A. (UCB) abgegeben. Der Rückzug aus dem Geschäft mit Standardfolien ist damit zu erklären, dass es Enka Glanzstoff trotz beträchtlicher Investitionen nicht gelungen war, eine rentable Foliensparte zu entwickeln. Das Produktionsprogramm wurde daher auf die Folienverarbeitung sowie auf die Herstellung der für künstliche Nieren verwendeten Dialysefolie und einiger weiterer Spezialerzeugnisse begrenzt. Während man die Folienproduktion in Wuppertal-Barmen nach dem Verkauf zumindest eingeschränkt fortsetzte, wurde sie in Breda vollständig aufgegeben. Jene Veräußerungen waren für sich genommen nicht sonderlich spektakulär, aber sie zeigen, zu welcher Selbstverständlichkeit sich grenzübergreifende Beteiligungsverschiebungen zwischen und innerhalb multinationaler Unternehmen entwickelten.498 Bei nahezu gleich hohem Produktionsniveau (420.000 t) ging der Umsatz der Enka Glanzstoff-Gruppe 1972 aufgrund fallender Preise  – vor allem bei Textilfäden – um sieben Prozent zurück. Die starken Umwälzungen auf dem Chemiefasermarkt zeigten sich besonders bei Diolen-Fäden, die 1971 noch das erfolgreichste Enka Glanzstoff-Produkt darstellten und deren Erlöse 1972 um ca. 40 Prozent einbrachen. Erfreulicher entwickelten sich hingegen Acrylfasern (Acribel) und Chemiefasern für technische Einsatzgebiete, wie Viskose-Reifengarn (Cordenka)  oder Stahlkord, und vor allem das Gebiet der Nicht-Faser-Produkte. Hier hielt die Nachfrage nach Xylee (einem Schaftmaterial für die Schuhindustrie), Colback (einem Grundmaterial für Teppichrücken) und Colbond (einem Polyester-Faservlies) ungehindert an.499 Als die Konjunktur 498 Geschäftsbericht Glanzstoff 1970, S. 16; Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1972, S. 15–16; RWWA 195-B0-61 Bericht für die Führungskräfte von Enka Glanzstoff (Nr. 2/1972), Referat Vaubel für die Führungskräfte (28.03.1972), Dr. Bayer an Vaubel (12.04.1972), Dr. Bayer an EG -Vorstand (03.05.1972). Ein Teilbetrieb des Werkes Wuppertal-Barmen der Enka Glanzstoff AG wurde am 1. Juli 1972 in die Bemberg Folien GmbH, die ab 1971 den Vertrieb der Folienprodukte übernommen hatte, eingebracht, die ihr Stammkapital daraufhin um 9,9 Mio. DM auf 10,0 Mio. DM erhöhte. Anschließend wurde die Bemberg Folien GmbH am 31. Dezember 1972 an die UCB veräußert. 499 Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1972, S. 10–11. Xylee galt zwar als technisch ausgereift, aufgrund der begrenzten Aufnahmefähigkeit des westeuropäischen Schuhmarktes konnte sich die Unternehmensleitung jedoch nicht für die Aufnahme einer Großproduktion entschließen und stellte vielmehr im Sommer 1975 die Produktion ein.

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auf dem Chemiefasermarkt Ende 1972 wieder anzog, sahen sich viele Kritiker des Strukturplans bestätigt. Das Problem der Überkapazitäten schien sich aufgelöst zu haben. Allerdings wurden die strukturellen Schwierigkeiten einer zersplitterten Standortstruktur und einer zu geringen Kapazitätsauslastung nur kurzzeitig überdeckt, und auch die Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Führungsgremien blieben zunächst bestehen. Erst mit dem gemeinsamen Eintritt von Zevenbergen und Zempelin in den Akzo-Vorstand 1973 erfüllten sich auf personeller Ebene die Forderungen nach einer angemessenen Vertretung der Enka Glanzstoff-Interessen bei der Konzernmutter.500 Enka Glanzstoff in der Wirtschaftskrise Mitte der 1970er Jahre Zwar hellte sich die Nachfrage nach Chemiefasern 1973 deutlich auf, allerdings entwickelte sich die Versorgung mit Syntheserohstoffen ab Mitte des Jahres zu einem fundamentalen Problem. Umweltschutzauflagen beim Raffineriebau, fehlende Kapazitäten in der Petrochemie sowie der Zusatz von Aromaten zum Benzin als Ersatz der umweltschädigenden Bleibestandteile erschwerten den Rohstoffbezug der Chemiefaserhersteller. Mit der Anhebung der Ölpreise im Herbst 1973 entlud sich die spannungsgeladene Situation auf dem internationalen Rohstoffmarkt endgültig. Bei Enka Glanzstoff kam diese Krise mit leichter Verzögerung an. Während das Enka Glanzstoff-Management in den beiden Vorjahren nicht alle produzierten Chemiefasern verkauft bekam, bewertete die Unternehmensleitung den Geschäftsverlauf bis November 1973 aufgrund des Preisanstiegs bei Wolle und Baumwolle sowie einer Lageraufstockung der Textilindustrie trotz der Rohstoffproblematik insgesamt positiv und sah sich schließlich sogar gezwungen, Lieferkürzungen bei den Kunden vorzunehmen.501 Diese Knappheitssituation auf dem Chemiefasermarkt hielt in der ersten Hälfte des Jahres 1974 noch an, um dann innerhalb weniger Wochen in ein völliges Überangebot umzuschlagen. Grund hierfür waren der plötzliche Nachfrageausfall infolge der vorangegangenen spekulativen Lagerkäufe sowie sinkende Baumwollpreise. Die Textilindustrie hatte mit einer konjunkturellen Belebung gerechnet. Als diese sich nicht einstellte, kürzte sie ihre Bestellungen Vgl. Asperger, Glanzstoff, S. 93–95; Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1975, S. 17; Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1976, S. 18; RWWA 195-B0-58 Referat von Hans Günther Zempelin anlässlich der Hauptversammlung (24.06.1976). 500 Asperger, Glanzstoff, S. 55–56; Geschäftsbericht Akzo 1973, S. 2; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 188. Bei einer Reihe von Chemiefaserprodukten waren durch eine Vergrößerung der Produktion keine Größenvorteile (economies of scale) mehr zu erzielen. Viele Chemiefaserbetriebe in der EWG erreichten ab 1970 die Gewinnschwelle erst ab einer Auslastung von 90 %; wenige Jahre zuvor hatte diese Grenze noch bei 75 % gelegen. Vgl. Geschäftsbericht Akzo 1971, S. 6. 501 Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1973, S. 11–12; RWWA 195-B0-58 Neujahrsansprache von Hans Günther Zempelin (14.01.1974).

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radikal und brachte die Chemiefaserindustrie auf diese Weise in die Bredouille. Zempelin fasste diese Entwicklung im Juni 1975 wie folgt zusammen: »Das erste Halbjahr [1974] bescherte uns das beste Ergebnis seit 1969 und die zweite Jahreshälfte die schlechtesten sechs Monate seit der Währungsreform [1948].« Dabei handelte es sich keineswegs um ein westdeutsches Phänomen. Die Textilproduktion innerhalb der EG war 1974 um zwei Prozent rückläufig. Erstmals seit 15 Jahren ging 1974 die weltweite Chemiefaserproduktion im Vergleich zum Vorjahr zurück – besonders in Japan und Westeuropa, etwas abgeschwächt auch in den USA, wohingegen die Produktion in der übrigen Welt weiter zunahm. Im Jahr 1975 verringerte sich die weltweit produzierte Menge an Chemiefasern um weitere acht Prozent, wobei der Großteil des Rückgangs erneut auf die westeuropäische Chemiefaserindustrie entfiel. Wie unter einem Brennglas verdichtete sich in den Jahren 1974/75 somit eine globale, langfristige Verschiebung der Chemie­faserproduktion zugunsten südostasiatischer Hersteller. Bei textilen Chemiefasern sank die Auslastung der Enka Glanzstoff-Anlagen infolgedessen auf unter 50 Prozent; zugleich führte das Management nahezu in allen Werken Kurzarbeit ein. Im Dezember stand mit 7.000 Menschen ein Drittel der Belegschaft der Enka Glanzstoff AG in Kurzarbeit; im April 1975 erreichte die Anzahl der Beschäftigten der Enka Glanzstoff-Gruppe in Kurzarbeit mit über 20.000 einen Höhepunkt.502 Jener Erfahrungshintergrund erklärt, warum sich die Enka Glanzstoff-Manager gezwungen sahen, über neue Rationalisierungs- und Einsparpotenziale nachzudenken. Dabei kam die Marktabschwächung nicht völlig unvorhersehbar, allerdings übertraf ihre Tiefe und ihre räumliche Ausdehnung die Erwartung der Unternehmensleitung bei weitem. Während Enka Glanzstoff somit die unmittelbaren Auswirkungen des ersten Ölpreisschocks relativ unbeschadet überwunden hatte, brachte die sich anschließende Wirtschaftskrise 1974/75 das Unternehmen an den Rand des Abgrunds. Nach den Erfahrungen von 1972 mochten sich die Manager nicht noch einmal nur auf ihre eigenen Ideen stützen und bedienten sich abermals der Hilfe externer Berater.503 Im März 1975 erhielt McKinsey den Auftrag, die Stellung von Enka Glanzstoff auf dem westeuropäischen Chemiefasermarkt zu untersuchen und Vorschläge zu entwickeln, die die »neutrale« Basis für Sanierungsmaßnahmen bilden sollten. Zevenbergen kritisierte bei der Vorstellung der Ergebnisse im Juli 1975, dass McKinsey im Grunde nichts Neues vorgestellt habe, denn die Ergebnisse der Studie deckten sich größtenteils mit der Auffassung des Managements. McKinsey differenzierte zwischen vier Fasertypen mit unterschiedlichen Markterwartungen: Faser502 Asperger, Glanzstoff, S. 74–79; Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1974, S. 2–13; Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1975, S. 8, 17; RWWA 195-B0-58 Referat von Hans Günther Zempelin anlässlich der Hauptversammlung der Enka Glanzstoff AG (26.06.1975) [Zitat]. 503 Asperger, Glanzstoff, S. 79–81; Marx, Manager; RWWA 195-B6-1-28 Ergänzungen zum Protokoll der Enka Glanzstoff Vorstandssitzung (24.02.1975).

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produkte mit glänzenden Geschäftsaussichten wie industrielle Polyester und Polyamide (1), profitable Produkte auf einem schrumpfenden Markt wie industrielles Rayon (2), Produkte in einer strukturellen Verlustposition wie Textilund Rayon-Stapelfasern (3) sowie Produkte mit günstigen Marktaussichten wie Acryl- und Polyester-Stapelfasern und industrieller Stahlkord, bei denen Enka Glanzstoff jedoch eine schwache Stellung hatte (4).504 Im Ergebnis erstreckten sich die Anpassungsmaßnahmen auf drei Gebiete: (1)  Kapazitätskürzungen bei textilem Polyamid-Filamentgarn in Wuppertal, Obernburg, Kelsterbach und Emmen sowie bei textilem Viskose-Filamentgarn in Arnheim und Aufgabe der Zellwollproduktion in Kassel, (2) Änderung der Betriebsstruktur durch Kapazitätsbereinigungen und die Verlagerung von Texturierkapazitäten sowie (3) eine Straffung der Verwaltung.505 Nicht technologische Innovationen, Abwandlungen der Arbeitsprozesse oder neue Produkte bestimmten den Beratungsvorschlag, vielmehr sollten Produkt- und Organisationsstruktur konsequent an die Entwicklung der Produktmärkte angepasst und weniger rentable Bereiche konsequent abgestoßen werden. Beschäftigte wurden dabei vor allem als Kostenreduktionspotenzial angesehen.506 In den Verhandlungen des deutsch-niederländischen Enka Glanzstoff-Vorstands mit anderen Anspruchsberechtigten zeigen sich die zahlreichen Konfliktlinien innerhalb eines multinationalen Konzerns wie unter einem Vergrößerungsglas. Die Personalunion zwischen der Enka Glanzstoff bv und der Enka Glanzstoff AG bestand fort, gleichwohl kamen in den Verhandlungen um Einsparungen und Schließungen immer wieder nationale Ressentiments hervor. So wurde beständig auf die gleiche Lastenverteilung zwischen den Niederlanden und der Bundesrepublik hingewiesen, um nationalen Vorbehalten entgegenzuwirken. Daneben existierte eine Konfliktlinie zwischen der Enka Glanzstoff-Leitung und der Konzernführung, denn die Enka Glanzstoff-Gruppe verschlechterte mit ihren hohen Verlusten nicht nur das Ergebnis des Akzo-Konzerns, sie bedrohte letztlich auch dessen gesamten Bestand. Schließlich verschwamm die traditionelle Bruchlinie zwischen Managern und Beschäftigten ein wenig. Dies lag zum einen daran, dass die Arbeitnehmervertreter im Betrieb zu deutlich größeren Zugeständnissen bereit waren als internationale Gewerkschaftsdele504 RWWA 195-A6-22 Personal Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board of Management of Akzo N. V. (17.07.1975); RWWA 195-A6-23 Personal Notes of the Meeting of the Gemachtigde Commissarissen (24.06.1975); RWWA 195-B0-59 Erklärung des Enka Glanzstoff-Vorstands zu der Marktstudie von McKinsey (28.08.1975); RWWA 195-Y8-22 Die Ergebnisse der McKinsey-Untersuchung liegen vor, in: Informiert (7–8/1975); Wicht, Glanzstoff, S. 98. 505 Gelders Archief 3169/201 Sanierungsmaßnahmen. Beschluss des Vorstands (23.02.1976); Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1975, S. 14. 506 Den Ruf als Vernichter von Arbeitsplätzen handelte sich McKinsey vor allem über die seit Mitte der 1970er Jahre angebotene Gemeinkosten-Wertanalyse ein, die Verwaltungen auf ihre Effizienz prüfte und zur Streichung vieler Planstellen führte. Vgl. »Spur der Verwüstung«, in: Wirtschaftswoche, 30.10.1992, S. 82–91.

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gationen; zum anderen war dies in der Verankerung der Enka Glanzstoff-Werke in voneinander abweichenden arbeitsrechtlichen Settings und divergierenden Formen der Mitbestimmung begründet. »Mr. Kraijenhoff observed that the international nature of the Enka Glanzstoff organisation, having its plants and offices in Germany, the Netherlands, Belgium and Austria, hampers the proper handling of such grave situations as we are in now, because the policy followed in one country may not be the right one for another.«507 Als der Enka Glanzstoff-Vorstand den Betriebsräten und Gewerkschaften in der Bundesrepublik, den Niederlanden und in Belgien im Sommer 1975 die Ergebnisse der Beratertätigkeit präsentierte, stießen die geplanten Sanierungsmaßnahmen erneut auf harsche Kritik. Die niederländischen Gewerkschaften warfen dem Akzo-Vorstand eine verfehlte Investitionspolitik in Nord- und Lateinamerika vor, in deren Folge Enka Glanzstoff Exportmärkte verloren und zunehmende Importe nach Europa zu verkraften habe, und forderten eine unmittelbare Beteiligung der internationalen Arbeitnehmerorganisation. Der ICF unter Leitung ihres Generalsekretärs Charles Levinson hatte bereits 1972 einen Akzo-Weltrat gegründet, der nun unter Vorsitz des niederländischen Gewerkschaftsführers und Sozialisten Jan de Jong (Nederlands Verbond van Vakverenigingen (NVV)) in Erscheinung trat und den Vorstand an den internationalen Verhandlungstisch zwingen wollte.508 Die drohende Illiquidität rief auch die Deutsche Bank auf den Plan, deren Vorstandssprecher Franz Heinrich Ulrich, gleichzeitig Aufsichtsratsmitglied bei Enka Glanzstoff und Akzo, eine klare Meinung gegenüber dem ICF vertrat: »Nach meiner Überzeugung können wir es nicht verantworten, die Entscheidungen der Unternehmensleitung im Enka-Glanzstoff-Bereich noch weiter anstehen zu lassen, auch wenn sich dabei die Möglichkeit von Konflikten mit der Gewerkschaftsseite ergibt. Die Existenz des Unternehmens und die Aufrechterhaltung der Arbeitsplätze für die Mehrzahl der Mitarbeiter muß Vorrang haben und verlangt dringend, daß nun endlich etwas geschieht. Dabei können wir es m. E. auch nicht hinnehmen, daß die Entscheidungen aus dem Verantwortungsbereich von Vorstand und Aufsichtsrat herausgenommen und in internationale Gewerk507 RWWA 195-A6-22 Minutes of the special meeting of the Supervisory Council and the Board of Management of Akzo N. V. (24.09.1975). 508 Asperger, Glanzstoff, S. 79–82; Müller / Platzer / Rüb, Arbeitsbeziehungen, S. 79–86; Olie, Mergers, S. 124–126; RWWA 195-B0-59 Enka Glanzstoff Vorstand (29.08.1975); Schröter, German Model, hier S. 86–88; Spies, Felix: »Auf einem Pferd, Strick um den Hals«, in: Die Zeit, 24.10.1975. Die Auseinandersetzungen zwischen der Akzo-Unternehmensführung und den Gewerkschaften bzgl. der McKinsey-Studie und der erneuten Kürzungspläne sind detailreich dokumentiert in: Gelders Archief 3169/901 913–917, Herstructurering Enka Glanzstoff. Correspondentie e.d., Ordner Nr. I–VI (1975). Der Leitung des AkzoWeltrats gehörten neben Jan de Jong auch Werner Beck (IG Chemie-Papier-Keramik) und ICF -Generalsekretär Charles Levinson an. Vgl. RWWA 195-Z0-3548 IG ChemiePapier-Keramik: Akzo-Enka-Glanzstoff: ICF -Weltrat fordert multinationale Gespräche mit Konzernspitze (06.08.1975). Vgl. zur Haltung von Levinson exemplarisch: Levinson, Valium.

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schaftsgremien verlagert bzw. von deren Mitwirkung und Zustimmung abhängig gemacht werden.«509 Die Internationalisierung des Wettbewerbs brachte zwar auch eine stärkere Kooperation der Gewerkschaften und Betriebsräte mit sich, doch letztlich liefen die Arbeitnehmervertretungen den Entwicklungen multinationaler Konzerne hier oftmals hinterher. Während sich die leitenden Angestellten des Akzo-Konzerns in den Niederlanden und der Bundesrepublik aufgrund schnell steigender Verluste hinter den Vorstand stellten, erklärten deutsche, niederländische und belgische Arbeitnehmervertreter die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der McKinsey-Studie für unzureichend.510 Daraufhin präsentierte der Enka Glanzstoff-Vorstand am 26. September 1975 einen Lösungsvorschlag, der Kapazitätsanpassungen, eine Verbesserung der Standortstruktur und das Ziel jährlicher Einsparungen von 300 Mio. DM umfasste. Eine vom Akzo-Weltrat einberufene Konferenz am 7. Oktober 1975 in Düsseldorf, bei der Gewerkschaftsvertreter aus der Bundesrepublik, den Niederlanden, Belgien und Österreich teilnahmen, erklärte den Vorschlag für inakzeptabel und wollte nur unter der Bedingung weiterverhandeln, dass Akzo die Arbeitsplatzverluste von Enka Glanzstoff kompensieren und Gespräche über zukünftige Investitionen aufnehmen würde, da sie die Investitionspolitik seitens Akzo für die Probleme der Enka Glanzstoff-Gruppe verantwortlich machte. Darauf mochte sich der Enka Glanzstoff-Vorstand nicht einlassen. Er brach daher die Gespräche mit der internationalen Gewerkschaftsdelegation und dem Akzo-Weltrat ab und zog sich auf die gesetzliche Position in den jeweiligen Ländern zurück, die lediglich Konsultationen mit den nationalen Arbeitnehmervertretungen vorsah.511 Hier zeigten sich ganz unterschiedliche Wahrnehmungen 509 RWWA 195-B0-59 Ulrich an Zempelin (19.09.1975). 510 Marx, Vermarktlichung; Müller / Platzer / Rüb, Arbeitsbeziehungen, S.  87–98; RWWA 195-B0-59 Zempelin an Esser (15.09.1975), Stellungnahme des Unternehmens-Sprecherausschusses der leitenden Angestellten (13.10.1975), Stellungnahme des Zentralen Unternehmensrates (24.10.1975). 511 Asperger, Glanzstoff, S. 83–85; Archiv für soziale Bewegungen (AfsB), IG CPK-­A rchiv, Enka Glanzstoff ’75, Presseinformation Enka Glanzstoff (29.07.1975), Mitteilung der IG CPK mit Stellungnahme zum McKinsey-Report (27.08.1975), Pressedienst IG CPK (27.08.1975, 01.09.1975, 08.10.1975), Lösungsmöglichkeiten für die strukturellen Probleme bei Enka-Glanzstoff (07.10.1975); RWWA 195-A6-22 Personal Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board of Management of Akzo N. V. (25.02.1976); RWWA 195-B0-59 Presse-Information (26.09.1975, 14.10.1975), Brief der IG CPK (08.10.1975), Stellungnahme zu den von den Gewerkschaften am 7.10.1975 veröffentlichten Einwendungen (14.10.1975), Gefährdet Gewerkschafts-Strategie Arbeitsplätze? Enka Glanzstoff tief in roten Zahlen (25.10.1975), Presseerklärung des EG -Vorstands (23.10.1975), Akzo-Aktionärsbrief (19.11.1975); RWWA 195-Y8-22 »Verhandlungen ab sofort nur noch mit Betriebsräten. Weitere Gespräche mit internationalen Gewerkschaften sinnlos«, in: Presse-Information (14.10.1975), IG Chemie Information: Internationale Lösungen geplatzt – Nationale Verhandlungen begonnen (01.12.1975); RWWA 195-Z0-3548 IG Chemie Papier Keramik: Gewerkschafter appellieren an betroffene Regierungen (08.10.1975); Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 189; Wicht, Glanzstoff, S. 99.

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der Krisensituation. Während der Enka Glanzstoff-Vorstand die Einheit der Chemiefasergruppe bewahren wollte und der Vorstand der Muttergesellschaft Akzo die Enka Glanzstoff-Gruppe wieder rentabel machen wollte, um mögliche Risiken für den Gesamtkonzern zu reduzieren – hierbei wurde mehrfach der Begriff der »Überlebensstrategie« verwendet –512, hatte die Akzo-Konzernleitung den Eindruck, dass viele Gewerkschaftsvertreter Akzo zum Testfall für internationale Gewerkschaftsverhandlungen und grundsätzliche Mitspracherechte in multinationalen Konzernen machen wollten. Die strikte Ablehnung der Gewerkschaften gegenüber den Managementvorschlägen resultierte nicht zuletzt daraus, dass die Enka Glanzstoff-Leitung neben der Einführung von Kurzarbeit schon 1974 dazu übergangen war Stellen abzubauen. Zwischen Oktober und Dezember 1974 sank die Zahl der Beschäftigten um 800, im Folgejahr reduzierte die Unternehmensführung diese Zahl um weitere 4.300 Personen.513 In dieser Situation zeigte sich, dass das von den Gewerkschaften propagierte Prinzip der Klassensolidarität, welches 1972 noch mit einer gemeinsamen Aktion in mehreren Ländern erfolgreich war, an seine Grenzen geriet. In der einheitlichen Front der Arbeitnehmer traten nun Risse entlang der nationalen Ränder auf. In einer Aufsichtsratssitzung von Enka Glanzstoff im September 1975 wies der Arbeitnehmervertreter und Oberbrucher Betriebsratsvorsitzende Leo Capell auf das Missverhältnis der seit 1974 stattgefundenen Personalverminderung zwischen der Bundesrepublik (7,7 Prozent) und den Niederlanden (4,3 Prozent) hin und warnte vor Unruhe in der Belegschaft, sollten diese Zahlen publik werden. Falls ein Arbeitsplatzabbau erforderlich sei, sollte er auf beide Länder gleichmäßig verteilt werden. Enka Glanzstoff-Vorstand Zempelin griff dieses Argument bereitwillig auf, wonach unter Berücksichtigung des Belegschaftsverhältnisses und der Vorleistungen auf deutscher Seite etwa 600 bis 800 Arbeitsplätze weniger abgebaut werden müssten.514 Damit schloss sich Zempelin zwar der Argumentation der Arbeitnehmerseite an, die Frage aber, ob der Verlust von Arbeitsplätzen grundsätzlich zu vermeiden oder auf unternehmerische Entscheidungen der vorangegangenen Jahre zurückzuführen sei, trat hierbei vollkommen in den Hintergrund; stattdessen erstreckte sich die Auseinandersetzung nur noch auf eine angemessene Lastenverteilung zwischen den Beschäftigten in den Niederlanden und der Bundesrepublik.515 512 In internen Unterlagen der Leitungsgremien wurde mehrfach der Begriff der »survival strategy« gebraucht. 513 Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1975, S. 12; RWWA 195-Y8-22 Übersetzung einer Stellungnahme des Akzo-Vorstandes (24.10.1975); Wicht, Glanzstoff, S. 295–297; RWWA 195-B0-58 Aktionärsbrief der Akzo (24.11.1975). 514 RWWA 195-B5-2-39 Niederschrift über die 277. Außerordentliche Sitzung des Aufsichtsrates der Enka Glanzstoff AG (24.09.1975). 515 Der Sprecherausschuss der leitenden Angestellten der Enka Glanzstoff AG hielt die angedachten Kürzungen noch nicht für ausreichend, forderte zusätzliche Maßnahmen und stärkte dem Vorstand damit den Rücken gegenüber den Gewerkschaften. Vgl. RWWA 195-Y8-22 Stellungnahme des Unternehmens-Sprecherausschusses der leitenden Angestellten der Enka Glanzstoff AG (13.10.1975).

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Neben den unterschiedlichen Zielsetzungen von Akzo und Enka Glanzstoff sowie von Managern und Gewerkschaftern bestand somit noch eine dritte nationale Konfliktlinie. Zwar betonte die strategische Planung von Enka Glanzstoff für den Zeitraum 1974 bis 1979, dass Unterschiede zwischen den Nationalitäten möglichst überbrückt werden sollten und keine Nationalität ein Gefühl der Benachteiligung haben sollte, doch war sich die deutsche Seite des Enka Glanzstoff-Vorstands weitgehend darin einig, dass die Vorgehensweise seit April 1975 im Wesentlichen den Bedürfnissen der niederländischen Seite geschuldet war. Statt mit einem »Paukenschlag« einen länderübergreifenden Abbauplan vorzulegen, hätten es die deutschen Manager vorgezogen, den Abbau in den einzelnen Werken geräuschlos abzuwickeln; zumal in den Niederlanden andere Regelungen für Versetzungen, vorzeitige Pensionierungen und Abfindungen bestanden, die das wahrgenommene Missverhältnis zwischen dem westdeutschen und dem niederländischen Beschäftigungsabbau noch verschärften. Obschon die Akzo-Gruppe in ihrer Struktur schon mehr als fünf Jahre Bestand hatte, spielten nationale Zugehörigkeiten und Sichtweisen somit immer noch eine maßgebliche Rolle und die seit 1972 anhaltenden Kürzungen und Abbaupläne wirkten konfliktverschärfend.516 Nachdem die niederländische Mitarbeitervertretung (Centrale Ondernemingsraad, COR) Ende Oktober 1975 der Schließung eines Werkes für textile Filamentgarne in Arnheim sowie der Halbierung der Produktionskapazität für textiles Polyamid-Filamentgarn in Emmen zugestimmt hatte und damit aus der internationalen Solidarität des ICF-Weltrats ausgeschert war, erklärte sich auch der deutsche Gesamtbetriebsrat zu Verhandlungen über einen Interessenausgleich und einen Sozialplan bereit.517 Die Betriebsräte zeigten aufgrund eines Verlusts der Enka Glanzstoff-Gruppe von 488 Mio. DM im Jahr 1975 größere Kompromissbereitschaft als mancher Gewerkschaftsfunktionär und schlossen Anfang Februar 1976 mit der Unternehmensleitung eine entsprechende Vereinbarung ab. Auf deutscher Seite wurde daraufhin der Perlonbetrieb im Werk Wuppertal teilweise stillgelegt, die Produktion von Normalzellwolle und Viskosefasern (unter den Markennamen Duraflox und Colvera bekannt) in Kassel eingestellt sowie das Werk der Enka Glanzstoff-Tochtergesellschaft Kunstseiden Textil AG (Kuag) in Waldniel bei Mönchengladbach Ende 1977 geschlossen. Darüber hinaus wurde die Mitarbeiterzahl in den nicht produktionsbezogenen Bereichen von Enka Glanzstoff reduziert.518 Dabei machte Zempelin deutlich, 516 RWWA 195-A9-6 Hinweise für die Aufsichtsratssitzung der Akzo am 24. September 1975 [Zitat]; RWWA 195-B0-58 Strategische Planung 1974–1979 (September 1974). 517 Asperger, Glanzstoff, S. 86; RWWA 195-Z0-3546 Stellungnahme des COR zu den Lösungsvorschlägen (20.10.1975), COR Enka Glanzstoff bv (24.10.1975). 518 Asperger, Glanzstoff, S. 86–91, 105; Northrup / Rowan, Akzo; RWWA 195-B0-59 Interessenausgleich und Sozialplan (06.02.1976); RWWA 195-L7-4-10 Kuag Textil AG . Historischer Überblick (1929–1984); RWWA 195-Y8-22 »Der Sozialplan steht«, in: Informiert. Zeitung für die Mitarbeiter der Enka Glanzstoff AG (1976/2), »Missmanagement Enka Glanzstoff. Hoher Preis der Parität«, in: Manager (12/1975), Akzo N. V. Board of

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dass die stillgelegten Kapazitäten auch im Fall einer anziehenden Konjunktur nicht wiederbelebt würden und sich künftige Investitionen nicht mehr am Spitzenbedarf des Marktes, sondern am mittleren gehobenen Bedarf orientieren würden.519 Der Akzo-Weltrat war von diesen Vereinbarungen weitgehend ausgeschlossen und auch die ICF-Welträte für BASF, Bayer und ­Hoechst entfalteten in den kommenden Jahren kaum Wirkung.520 Die Gesamtkapazität von Enka Glanzstoff fiel 1976 infolge der Kürzungen um zehn Prozent; insbesondere der Umsatzanteil textiler Produkte war von 62 Prozent 1970 auf 46 Prozent 1976 gerutscht. Obschon der Einschnitt somit unübersehbar war, setzte die Enka Glanzstoff-Leitung alles daran, in der Öffentlichkeit nicht das Bild einer in Konkurs befindlichen Unternehmensgruppe entstehen zu lassen, und ging daher auch gegen eine Darstellung des Nachrichtenmagazins Der Spiegel vor, die Ende September 1975 über die anstehenden Entlassungen in den Niederlanden, der Bundesrepublik und Belgien berichtet hatte.521 Die Übernahme und der Wiederverkauf der belgischen Tochter Fabelta Die Umstrukturierungen bei Enka Glanzstoff waren nicht auf die Bundesrepublik und die Niederlande begrenzt, sondern betrafen auch die Werke der Fabelta S. A. in Belgien. Der Ursprung des belgischen Unternehmens (Union des Fabriques Belges de Textiles Artificiels) ging auf die Fusion mehrerer belgischer Chemiefaserhersteller 1932 zurück. Im Jahr 1961 hatte sich die Fabelta (mit ihren Fabriken in Tubize, Zwijnaarde, Ninove, Anderlecht, Obourg und Aalst) mit dem belgischen Chemiekonzern Union Chimique Belge (UCB) und der Société Industrielle de la Cellulose (SIDAC) zusammengeschlossen und war als Division innerhalb der UCB aufgegangen. Die UCB verfügte über insgesamt sieben DiManagement an unsere Aktionäre (19.11.1975), »Die Einheit herstellen und zusammenschließen« (Flugblatt des Kommunistischen Bunds Westdeutschlands, 30.10.1975); Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 189–192; Wicht, Glanzstoff, S. 99–100, 295–296, 324–325. In den 488 Mio. DM waren 240 Mio. DM für Belastungen aus Sanierungsmaßnahmen enthalten. Die Enka Glanzstoff AG erwirtschaftete erstmals in der Nachkriegsgeschichte einen Verlust in Höhe von 139,1 Mio. DM . Vgl. Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1975, S. 12, 22–23; RWWA 195-B0-58 Referat von Hans Günther Zempelin anlässlich der Hauptversammlung (24.06.1976). Ein Teil der Maschinen wurde von Waldniel nach Breda verlagert, ein Teil der Belegschaft des Werks Waldniel wurde in das 25 Kilometer entfernte Spinnwerk in Oberbruch integriert, um die sozialen Folgen abzumildern. Vgl. Gelders Archief 3169/201 Protokoll der Vorstandssitzung Enka Glanzstoff (12.07.1976); RWWA 195-D3-2-1-0-17 Protokoll über die gemeinsame Sitzung von Wirtschaftsausschuss und Gesamtbetriebsrat der Kuag Textil AG (25.09.1975); RWWA 195-D3-2-1-1-43 Niederschrift über die Sitzung des Aufsichtsrats der Kuag Textil AG (23.10.1975). 519 RWWA 195-Y8-22 »Missmanagement Enka Glanzstoff. Hoher Preis der Parität«, in: Manager Magazin (12/1975). 520 RWWA 195-B12-11 Ergebnisniederschrift der Werksleitersitzung (04.02.1977). 521 »6000 Kündigungen bei Enka Glanzstoff?«, in: Der Spiegel 40/1975, 29.09.1975, S. 122; RWWA 195-Y8-22 »An den Tatsachen vorbei: Der Spiegel«, in: Informiert (10/1975).

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visionen, von denen jedoch weder die Fabelta noch das Film- und Foliengebiet eine optimale Größe hatten. Da sie finanziell nicht in der Lage war, beide Divisionen hinreichend auszubauen, nahm sie Ende der 1960er Jahre Gespräche mit der niederländischen AKU hinsichtlich eines Verkaufs auf. Während der unter dem Decknamen »Mirabelle« geführten Verhandlungen betonte Meerburg die günstige Stellung der Fabelta im Benelux-Raum und deren Attraktivität für die Herstellung von Nylon 66 und Acrylfasern. Daraufhin einigten sich beide Seiten 1969 auf einen Tausch von Beteiligungen, in dessen Rahmen die UCB die Folienaktivitäten der Enka Glanzstoff-Gruppe und diese umgekehrt den Faserbereich der UCB übernahm.522 Obschon bereits im Zusammenhang mit dieser Umstrukturierung ein Teil der Produktion in Tubize nicht fortgeführt und die veraltete Fabrik in Aalst aufgegeben worden war, entwickelte sich die Fabelta nicht wie erwartet. Neben den Absatzmöglichkeiten lag dies nicht zuletzt an der Zusammenarbeit mit der Konzernmutter. Noch vor der Integration der Fabelta in den Akzo-Konzern hatte Meerburg darauf hingewiesen, dass »bei der Fabelta auch in Zukunft mit einer größeren Selbständigkeit gerechnet wird.«523 Im Sommer 1970 kamen sowohl die Enka Glanzstoff-Leitung als auch die Akzo-Konzernführung zu dem Ergebnis, dass Fabelta in dieser Form nicht weitergeführt werden könnte. Angesichts struktureller Verluste in drei der vier verbliebenen Werke beschloss der Enka Glanzstoff-Vorstand die Produktion in zwei Werken zusammenzufassen. Langfristig sollte in jedem Fall die Fabrik in Obourg geschlossen werden. Während Hessels angesichts der zu erwartenden Streikbewegungen für eine schrittweise Schließung in Obourg plädierte und auf die sozialen, politischen und finanziellen Kosten eines Streiks aufmerksam machte, forderte SchlangeSchöningen die sofortige Aufgabe des Werks, um weitere Verluste zu vermeiden. Auch der westdeutsche Kuag-Vorstand wehrte sich gegen den Vorschlag, die älteren Texturiermaschinen in Obourg zu ersetzen und den belgischen Standort damit noch eine Weile fortzuführen – nicht zuletzt weil die Kuag jene Kapazitäten für sich selbst beanspruchte.524 522 RWWA 195-A2-38 Sonderprotokoll der gemeinsamen AKU / Glanzstoff-Vorstandsbesprechung (07.11.1968, 05.12.1968). Vgl. für den Archivbestand im belgischen Staatsarchiv und grundlegende Informationen zu Fabelta: https://search.arch.be/eac/ eac-BE -A0500_012025_FRE , letzter Zugriff: 27.09.2022. Aus Sicht der Rhône-PoulencGruppe, die zu 24 % an UCB beteiligt war, war dieser Tausch ungünstig, da RhônePoulenc vor allem Interesse an den Chemiefaseraktivitäten von UCB hatte. Vgl. Cayez, Rhône-Poulenc, S. 260. Ab 1974 kooperierten UCB und Rhône-Poulenc auf dem Gebiet der Düngemittel und gründeten für den belgischen, den niederländischen und den westdeutschen Markt ein Joint Venture. Vgl. AHGS , RP.SA BH0083 B.B2 Nr. 4, Groupe Rhône-Poulenc Comité Exécutif (08.11.1974). 523 RWWA 195-A2-38 Sonderprotokoll der gemeinsamen AKU / Glanzstoff-Vorstands­ besprechung (04.02.1969). 524 RWWA 195-A2-40/41 Minutes of a special AZaku meeting (16.07.1970); RWWA 195-B61-24 Geheim. Notiz betr. Vorbesprechung (03.11.1970), Sonderprotokoll der Enka Glanzstoff-Vorstandssitzung (30.11.1970). »Bekanntlich hat die Öffentlichkeit die Schliessung

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Inzwischen war die Fabelta-Angelegenheit längst zu einem Politikum geworden, denn die Akzo-Führung beabsichtigte nicht nur Subventionen beim belgischen Staat zu beantragen, für die die Beibehaltung des bisherigen Geschäftsniveaus Voraussetzung war, vielmehr war die Schließung von FabeltaWerken mittlerweile auch Gegenstand der belgischen Presseberichterstattung und des belgischen Parlaments geworden. Während die Schlüsselfrage für die Manager darin bestand, ob über die Fabelta langfristig das lukrative Gebiet der Acrylfasern ausgebaut werden könnte, geriet Akzo angesichts der Schließungspläne in die anschwellende öffentliche Kritik gegenüber der Unternehmenspolitik multinationaler Konzerne. Vor dem Hintergrund der strukturellen Verschiebungen auf dem Chemiefasermarkt hätte die Fabelta in ihrer bisherigen Ausrichtung auch außerhalb des Akzo-Konzerns kaum dauerhaft fortbestehen können – hierfür sprach nicht zuletzt das Verkaufsinteresse der UCB –, insofern beschleunigte die Übernahme einen notwendigen Umstrukturierungsprozess, dessen soziale Härten bei den betroffenen Beschäftigten aber verständlicherweise auf Empörung stießen. Die Akzo-Leitung versicherte dem belgischen Wirtschaftsminister zwar, die Nylonproduktion des Konzerns zukünftig bei der Fabelta auszubauen, letztlich war die Halbwertszeit derartiger Zusagen unter den stark wandelnden Marktbedingungen jedoch mehr als unsicher. Im Endeffekt gab es für den Akzo-Vorstand im Juli 1970 drei Möglichkeiten: Erstens weitere Investitionen bei Fabelta mit dem Risiko auf diese Weise neue Überkapazitäten zu schaffen; zweitens die Schließung mehrerer Fabelta-Fabriken mit dem Risiko politischer Gegenreaktionen und streikbedingter finanzieller Ausfälle; und drittens den kompletten Verkauf der Fabelta.525 In den folgenden Monaten führten die Vertreter von Akzo bzw. Enka Glanzstoff zahlreiche Gespräche mit verschiedenen belgischen Ministern, die die Manager zum Erhalt der Arbeitsplätze bewegen wollten, doch konnten sie in den meisten Fällen lediglich einen zeitlichen Aufschub erreichen. Im Laufe des Jahres 1971 wurde die Acetatgarn-Produktion in Tubize eingestellt, bis Jahresende war auch die Schließung der Zellwollproduktion in Zwijnaarde vorgesehen.526 Die Zukunft des belgischen Tochterunternehmens konnte nur im Rahmen des des UCB -Werkes in Aalst als eine Folge der Übernahme von Fabelta durch AKU betrachtet; eine baldige Schliessung von Obourg wäre gerade unter diesem Gesichtspunkt psychologisch unrichtig, zumal wenn es sich hierbei um eine Verlegung von Produktionskapazität von Belgien nach Holland oder Deutschland handeln würde.« Vgl. RWWA 195-B6-1-26 Sonderprotokoll der EG -Vorstandssitzung (13.07.1970). 525 RWWA 195-A2-40/41 Minutes of a special AZaku meeting (16.07.1970). Im April 1970 genehmigte die belgische Regierung einen Kredit in Höhe von 2 Mrd. belgischen Francs (BEF), wobei die Hälfte dieser Summe mit nur 4 % verzinst wurde. Die Beibehaltung des Akzo-Geschäftsniveaus in Belgien war Voraussetzung für die Vergabe des Kredits. Vgl. RWWA 195-B6-1-24 Sonderprotokoll der EG -Vorstandssitzung (28.12.1970); RWWA 195-B6-1-26 Sonderprotokoll der EG -Vorstandssitzung (09.02.1970, 20.04.1970). 526 RWWA 195-B6-1-24 Sonderprotokoll der EG -Vorstandssitzung (30.11.1970, 28.12.1970, 25.01.1971); RWWA 195-B6-1-26 Sonderprotokoll der EG -Vorstandssitzung (13.07.1970, 27.07.1970), Kurzprotokoll der EG -Vorstandssitzung (05.11.1970).

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Gesamtkonzerns, d. h. dem Strukturplan 1972, bewertet werden. Dabei ging es nicht nur darum, welchen Weg man einschlagen sollte, sondern auch um die Form der Kommunikation. »Wir haben verstanden, dass es […] als besser erachtet wird, das Wort ›Schliessung‹ nicht zu benutzen, sondern von ›Rationalisierung‹ zu sprechen.«527 Ähnlich ging der Enka Glanzstoff-Vorstand in Kassel vor, wo dem Betriebsrat im Januar 1971 mitgeteilt wurde, dass die dortige Zellwollherstellung ebenfalls reduziert wird. »Dabei wird nicht bekanntgegeben, daß es sich hierbei um die erste Stufe der Stillegung handelt.«528 Das Ergebnis sollte in beiden Fällen dasselbe sein. Allerdings warf ein solcher Begriffswechsel neue Probleme auf, denn die Werksleiter in Breda und in Wuppertal sahen die Schließung von Zwijnaarde – und eben nicht nur Rationalisierungen – als Voraussetzung für eigene Schließungen an und auch Zevenbergen plädierte dafür, Fabelta genauso wie die anderen Werke in den Niederlanden und in der Bundesrepublik zu behandeln. Dass sich der Enka Glanzstoff-Vorstand im Fall der Fabelta besonders schwer tat, hing vor allem mit einem drohenden Glaubwürdigkeitsverlust und Zusagen gegenüber der belgischen Regierung zusammen, die wenig erfreut darüber war, dass der deutsch-niederländische AkzoKonzern ein belgisches Unternehmen übernommen hatte, um es wenig später schrittweise zu schließen und damit die Konkurrenz für die eigene Produktion abzumildern. Auch wenn die Lage der Fabelta nicht allein der Akzo-Konzernführung angelastet werden konnte, war die Reaktion der belgischen Regierung durchaus nachvollziehbar.529 Angesichts fortlaufender Kürzungen geriet die belgische Regierung zunehmend unter Handlungsdruck. Zwischen 1969 und 1975 ging die Belegschaftsstärke der Fabelta von 3.400 auf 2.300 Personen zurück. Als Akzo 1975 weitere Umstrukturierungen und Stellenkürzungen verkündete, intervenierte die belgische Regierung und übernahm über eine staatliche Finanzierungsgesellschaft zum 1. Januar 1976 die Aktienmehrheit der Fabelta (50,4 %). Daraufhin schlossen Akzo und der belgische Staat am 27. Januar 1976 eine Vereinbarung über die technische Kooperation, die gemeinsame Forschung sowie den Vertrieb von Akzo und Fabelta ab.530 Gleichwohl waren die strukturellen Probleme der Fabelta damit nicht behoben. Aus Sicht des Akzo-Managements blieb die belgische Tochter ein Sorgenkind, weshalb sich der Akzo-Konzern 1977 auch von den verblieben Unternehmensanteilen trennte. Die Fabelta entwickelte sich auf diese Weise zu einem reinen Staatsbetrieb, der 1978 in drei Produktionsgesellschaften (Fabelta-Tubize, Fabelta-Ninove, Fabelta-Zwijnaarde) aufgespalten wurde. Angesichts der europäischen Überkapazitäten bei Chemiefasern stand die Fabelta als kleiner eigenständiger Chemiefaserhersteller vor einer nahezu unlösbaren 527 RWWA 195-B0-61 Zevenbergen an Kraijenhoff (24.03.1972). 528 RWWA 195-B6-1-26 Sonderprotokoll der EG -Vorstandssitzung (28.12.1970). 529 RWWA 195-B0-61 Zevenbergen an Kraijenhoff (24.03.1972). 530 Annual Report Akzo 1975, S. 7, 52; Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1975, S. 14; Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1976, S. 14; N. N., Fabelta.

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Aufgabe, so dass der belgische Staat zum Erhalt der Fabriken bis Anfang der 1980er Jahre erhebliche Mittel aufwenden musste.531 Die Fabelta-Episode zeigt vor allem drei Aspekte: Erstens wird deutlich, dass einige zeitgenössische Kritikpunkte an multinationalen Konzernen am Kern des Problems vorbeigingen. Bei den Fabelta-Beschäftigten musste fast zwangsläufig der Eindruck entstehen, die Verantwortlichen bei Akzo und Enka Glanzstoff hätten das belgische Unternehmen übernommen, um es wenig später zu schließen. Tatsächlich verbanden die Manager mit der Übernahme die Hoffnung, ihre Position auf dem Benelux-Markt zu festigen und ihre Stellung bei Acrylfasern zu verbessern. Dass multinationale Unternehmen mit Blick auf den grenzübergreifenden Kapitaltransfer, mögliche Standortverlagerungen oder die Interessenvertretung der Beschäftigten durchaus Probleme hervorriefen, steht außer Zweifel; die Motive der Akteure in den Führungsetagen waren aber nicht a priori auf Stellenkürzungen und Werksschließungen ausgerichtet. Zweitens zeigen die Interventionen der belgischen Regierung – ähnlich zu anderen Initiativen zur Regulierung multinationaler Unternehmen  –, dass angesichts steigender Arbeitslosenzahlen in Westeuropa der Handlungsdruck auf die politischen Akteure massiv anstieg.532 Die Schließung ganzer Werke rief Politiker aller Couleur auf den Plan und hatte teils folgenlose, teils folgenschwere Gegenmaßnahmen zur Konsequenz. Auf der Bandbreite möglicher Reaktionen stellte der Einstieg des Staates als Kapitaleigner dabei eine Extremposition dar. Drittens ließ die Bindekraft zwischen den Produktionsmitteln und ihren Eigentümern deutlich nach. Nur ein Jahr nachdem die Fabelta übernommen worden war, wollten die Akzo-Beteiligten das Unternehmen schon wieder loswerden. Langfristige Sanierungspläne spielten oft nur eine untergeordnete Rolle. Ab den 1970er Jahren gewann das Verbinden und Wiederauflösen von Unternehmenseinheiten im Rahmen von Mergers & Acquisitions (M&A) somit deutlich an Bedeutung.533 Die sozialen Kosten jener Anpassungen in der Bundesrepublik, den Niederlanden und Belgien Mitte der 1970er Jahre, die wie eine nachträgliche Durchsetzung des Strukturplans 1972 unter Zuhilfenahme einer vermeintlich objektiven Marktstudie McKinseys wirkten, hatten vor allem die Beschäftigten zu tragen. Das Management sah sich angesichts der finanziellen Situation des Unternehmens zunehmend in einer Zwangslage und stützte sich in seiner Argumentation besonders auf die Entwicklungen der Produktmärkte. Indem zentrale Entscheidungen hieran gekoppelt wurden und sich die interne Unternehmenssteuerung verstärkt an Marktlogiken orientierte, gewann »der« Markt als gedankliches Konstrukt und Argument immer stärker an Gewicht.534 In einer Akzo-Vorstandssitzung im Februar 1976 wies Zempelin zudem darauf 531 Joris, Nationale steunmaatregelen, S. 750–751; Voorde, Eyskens, S. 194–197. Im Juni 1983 wurde die Fabelta von der N. V. Beaulieu Kunststoffen übernommen. 532 Pitteloud, Unwanted Attention. 533 Berghoff, Unternehmensgeschichte, S. 110–112. 534 Ahrens, Vermarktlichung; Marx, Vermarktlichung.

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hin, dass nicht nur die konkreten finanziellen Verluste bei den anstehenden Entscheidungen zu berücksichtigen seien, vielmehr habe das Ansehen der Enka Glanzstoff-Gruppe im Zuge der Umstrukturierungen und Schließungspläne sehr stark gelitten. Einige Kunden bezweifelten bereits, ob Enka Glanzstoff zukünftig noch ein verlässlicher Anbieter sei oder man besser zu einem anderen Unternehmen wechseln sollte. Zempelin zufolge musste Enka Glanzstoff daher nicht nur in die Gewinnzone zurückgeführt werden, vielmehr musste auch die Öffentlichkeitsarbeit wieder unter Kontrolle gebracht werden.535 Die wirtschaftliche Lage der Enka Glanzstoff-Gruppe verbesserte sich aber nicht nur aufgrund der eingeleiteten Maßnahmen auf Unternehmensebene, vielmehr zog die Konjunktur 1976 wieder an. Die weltweite Produktion von Chemiefasern nahm 1976 um 15 Prozent zu und übertraf damit sogar das Spitzenjahr 1973. Zwar profitierte Westeuropa besonders von diesem Nachfrageumschwung, aber dies war vor allem auf den stärkeren Einbruch 1975 zurückzuführen und darf nicht über die Verschiebung der Weltproduktion in Richtung der asiatischen und staatssozialistischen Länder hinwegtäuschen.536 Auch bei Enka Glanzstoff stieg die Produktion 1976 um 15 Prozent. Damit verbesserte sich die Kapazitätsauslastung auf durchschnittlich 77 Prozent, allerdings betrug der Vorsteuerverlust der Enka Glanzstoff-Gruppe 1976 immer noch 203 Mio. DM . Folglich zahlte die Enka Glanzstoff AG – und ebenso der Akzo-Konzern – wie schon im Vorjahr keine Dividende aus.537 Kraijenhoff und Zevenbergen entwickelten daher 1976 sogar Vorschläge die beiden siamesischen Zwillinge Enka Glanzstoff AG und Enka Glanzstoff bv wieder zu trennen, doch letztlich verhinderte der erbitterte Widerstand van den Brinks eine Aufteilung der europäischen Chemiefaserinteressen.538 Zempelin brachte die schwierige Situation der Enka Glanzstoff-Gruppe auf der Hauptversammlung im August 1977 auf den Punkt: »Auch der heißeste konjunkturelle Aufschwung wird uns im Bereich der textilen Chemiefasern nicht annähernd eine volle Auslastung der Kapazitäten und damit eine Wiedergewinnung der Rentabilität bringen.«539 Entscheidender als der Wiederanstieg der Produktionszahlen waren deshalb der Abbau textiler Chemiefaserkapazitäten und ihrer Beschäftigten, ein Kostensenkungsprogramm sowie die Verschiebung der Angebotspalette in Richtung rentabler Produkte.540 Die Sanierungsmaßnahmen waren in Teilen sicherlich 535 RWWA 195-A6-22 Personal Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board of Management of Akzo N. V. (25.02.1976). Vgl. hierzu: Hagemann-Wilholt, Unternehmenskommunikation. 536 Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1976, S. 7–9. 537 Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1976, S. 14–16; RWWA 195-B0-58 Referat von Hans Günther Zempelin anlässlich der Hauptversammlung (24.06.1976). 538 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 190. 539 RWWA 195-B4-1119 Referat von Zempelin anlässlich der Hauptversammlung der Enka Glanzstoff AG (24.08.1977). 540 RWWA 195-B0-58 Referat von Hans Günther Zempelin anlässlich der Pressekonferenz (19.01.1977).

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unvermeidbar, gleichwohl war die Frage berechtigt, ob das Management die Probleme im Textilbereich und den Niedergang von Zellulosefäden und -fasern nicht früher hätte erkennen müssen und durch in- wie ausländische Erweiterungen selbst zu den Überkapazitäten der 1970er Jahre beigetragen hatte.541 Standortkonkurrenz in multinationalen Unternehmen: Das Beispiel der Ferenka Ltd. Der Enka Glanzstoff-Vorstand wollte Mitte der 1970er Jahre die in einer Marktforschungsstudie festgehaltene Charakterisierung des Unternehmens als »undurch­sichtige Organisation, verbeamtet, konservativ, entschlußträge, […] unbeweglich«542 abstreifen und den Faserproduzenten als kreative Kraft der westeuropäischen Wirtschaft präsentieren. Die Aufwertung von Markt, Image und Rentabilität offenbarte sich in zahlreichen Umstrukturierungen und zog tiefgreifende Veränderungen für die Beschäftigten nach sich, deren Arbeitsplatzsicherheit rapide abnahm. Ein Arbeiter von Enka Glanzstoff drückte dies in Anbetracht des Strukturplans 1972 folgendermaßen aus: »Ich habe 4 Zechenschließungen miterlebt. Als ich anfing war ich 48 Jahre. Man hat mir gesagt, daß hier eine Zukunft ist. Jetzt glaube ich nicht mehr, daß wir noch Arbeit kriegen.«543 Einerseits waren die Manager gezwungen, ihre Unternehmen an die neuen Bedingungen des Weltmarkts anzupassen; andererseits stand ihnen aufgrund der Multinationalität ihrer Konzerne vermehrt die Option zur grenzüberschreitenden Verlagerung von Produktionsstätten zur Verfügung. Das Drohpotenzial gegenüber den Beschäftigten nahm infolgedessen deutlich zu. Die beschleunigte Multinationalisierung blieb deshalb nicht ohne Folgen für die Einstellung der Beschäftigten zu ihrer Arbeit und für die Arbeitsbeziehungen in der westeuropäischen Chemieindustrie. Bereits das Memorandum des VGF-Vorstands 1966 beinhaltete einen Hinweis, möglichst optimale Betriebsgrößen anzustreben.544 In den 1970er Jahren gewann die Diskussion um die richtige Betriebsgröße und den richtigen Produktionsstandort nochmals an Fahrt. Dies lässt sich konkret am Aufbau eines Werkes für Stahlkord im irischen Limerick veranschaulichen. Stahlkord fand zu jener Zeit Anwendung in der Herstellung von Autoreifen, Transportbändern oder Keilriemen und versprach die Abhängigkeit des Chemiefaserherstellers von der Textilindustrie zu reduzieren. Besonders der westdeutsche Unterneh541 Die Frage der Mitverantwortung an ihrer eigenen Misere wurde auch schon von den Zeitgenossen aufgeworfen, bspw. von Hans Hinrich Asmus, dem Direktor der Deutschen Bank in Wuppertal. Vgl. RWWA 195-B4-1-119 Stenografische Niederschrift über die Hauptversammlung der Enka Glanzstoff AG (24.08.1977). 542 RWWA B6-1-29 Marktforschung und Volkswirtschaft, TVE -Wuppertal: Das Image von Enka Glanzstoff bei Textilfirmen in BRD und Benelux (Juli 1975). 543 Hoffmann / L angwieler, Arbeiter, S.  29. 544 Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 132.

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mensteil wurde durch den Niedergang der inländischen Textilindustrie belastet. Im Unterschied zu anderen Branchen war die Globalisierung der Textilindustrie aufgrund geringerer Fertigungskosten in Schwellen- und Entwicklungsländern, gesunkener Transportkosten und neuer Kommunikationsmöglichkeiten kaum aufzuhalten. Angestammte Textilunternehmen wie Ludwig Povel & Co. in Nordhorn schlossen Ende der 1970er Jahre endgültig ihre Werkstore; die Textil­ gruppe van Delden, die Povel 1969 übernommen hatte, meldete wenig später Konkurs an.545 Dem Enka Glanzstoff-Vorstand blieben die Probleme der Abnehmerbranche nicht verborgen und so bemühte er sich neben der Diversifikation der Produktpalette über den Zusammenschluss mit der KZO -Gruppe um eine Ausweitung des eigenen Produktprogramms. Im Mittelpunkt stand hierbei unter anderem die Aufnahme einer Stahlkord-Produktion zur Herstellung von Pkw- und LkwRadialreifen, denen eine hohe Nachfrage vorausgesagt wurde. Zwar befanden sich auch einige Automobilfirmen Anfang der 1970er Jahre in einer wenig komfortablen Lage, allerdings gehörte die Automobilindustrie langfristig weiter zu den Wachstumsbranchen. Der Marktanteil von Radialreifen hatte sich in Europa zwischen 1965 (28 %) und 1970 (56 %) verdoppelt.546 Gleichzeitig stellte AKU / VGF Ende der 1960er Jahre Mittel für die Schließung kleinerer Reifengarnfabriken im EWG -Bereich bereit, um den Markt zu stabilisieren und eine möglichst hohe Auslastung der eigenen Kapazitäten zu garantieren. So vereinbarten AKU und Continental Tire the Americas mit Courtaulds 1968, sich mit 1,3 Millionen FF an den Stilllegungskosten eines französischen Werks in Calais zu beteiligen.547 Nachdem sich AKU und VGF im Juli 1968 darauf verständigt hatten, die bestehende Stahlkord-Produktion in Oberbruch mit einer Leistung von 150 Monatstonnen der Zuständigkeit der VGF zu unterstellen, wuchs der Ausstoß mit dem Übergang zur Großproduktion im darauffolgenden Jahr auf fast 300 Monatstonnen an.548 Parallel fiel der Entschluss für den Aufbau weiterer StahlkordKapazitäten. Statt den vorhandenen Standort in Westdeutschland zu erweitern, nahm die VGF-Leitung Anfang 1970 jedoch Gespräche mit der irischen Regierung sowie mit den Reifenherstellern Goodyear und Firestone auf und kam zu dem Schluss: »Owing to special facilities given by the government of the Irish Republic an economic exploitation in Ireland is reality.«549

545 Lindner, Faden; »Folgen einer Pleite«, in: Die Zeit Nr. 38, 13.09.1985, S. 39. 546 Erker, Wettbewerb, S. 556; König, Massenproduktion, hier S. 56–58. 547 RWWA 195-A2-38 Notiz von Schlange-Schöningen an Karus (31.10.1968), Protokoll der gemeinsamen AKU / Glanzstoff-Vorstandsbesprechung (07.11.1968). 548 RWWA 195-A2-38 Protokoll der gemeinsamen AKU / Glanzstoff-Vorstandsbesprechung (10.07.1968), Protokoll der gemeinsamen AKU / Glanzstoff-Vorstandsbesprechung (08.07.1969); RWWA B5-2-40 Referat von Vits (28.01.1969). 549 RWWA 195-A6-21 Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board Management of Akzo N. V. (06.05.1970).

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Während ein profitabler Ausbau der Stahlkord-Produktion in der Bundesrepublik oder den Niederlanden unmöglich sei, waren die Zugeständnisse der irischen Regierung nach Meinung des Akzo-Vorstands erfolgsversprechender. Allerdings regte sich auch Widerstand gegen diese Sichtweise. Henri Michiel van Mourik Broekman, Aufsichtsratsmitglied von Akzo, wies auf einer Sitzung im Mai 1970 auf die niedrige Kapitalrendite des Projekts hin und stellte klar, dass selbst dieser geringe Ertrag nur aufgrund der Zugeständnisse der irischen Regierung – wie eine garantierte Steuerfreiheit über 15 Jahre – zu erreichen sei. Doch die übrigen Mitglieder des Akzo-Vorstands und des Akzo-Aufsichtsrats, dem auch Hermann Josef Abs, Hans L. Merkle und Otto Wolff von Amerongen angehörten, unterstützten den Plan. Besonders der stellvertretende Akzo-Vorstandsvorsitzende Gualtherus Kraijenhoff setzte sich für das Werk in Limerick mit einer Produktionskapazität von 17.500 Jahrestonnen ein, dessen Gesamtinvestitionen sich auf 182 Millionen Gulden beliefen, da die irische Regierung 64 Millionen Gulden über Subventionen und andere Hilfen zur Verfügung stellte und Goodyear ein Darlehen in Höhe von weiteren 24 Millionen Gulden bereithielt. Zwar versprach die Produktion kaum Gewinne, allerdings war das unternehmerische Risiko gleichfalls sehr gering.550 Der Aufbau einer Fabrikation in Irland bot angesichts der staatlichen Hilfen und mit Blick auf die Belieferung des britischen Marktes bessere Konditionen als die Erweiterung des deutschen Standorts. Die Kapitalseite – konkret Wesenhagen und Wolff von Amerongen – wischten daher in einer Aufsichtsratssitzung der Enka Glanzstoff AG im Oktober 1972 Einwände des Oberbrucher Betriebsratsvorsitzenden Leo Capell, den mittelfristigen steuerpolitischen Standortvorteilen in Limerick stünden Nachteile im Hinblick auf einen reibungslosen Produktionsablauf gegenüber, mit Verweis auf die guten Erfahrungen anderer Unternehmen beiseite.551 Im zweiten Halbjahr 1972 nahm die irische Tochtergesellschaft Ferenka Ltd. in Limerick daher ihren Betrieb auf, allerdings kam die Produktion aufgrund von Anlaufschwierigkeiten nicht recht in Gang.552 Zeitgleich drängte Zempelin 1973 auf eine vergleichende Untersuchung von Arbeitsleistung und Effizienz, die die strukturelle Bedeutung von Großwerken wie Oberbruch und die sozialen Probleme im Inland bei der künftigen Firmen550 Asperger, Glanzstoff, S. 33–34; RWWA 195-A6-21 Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board Management of Akzo N. V. (06.05.1970), Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board Management of Akzo N. V. (23.06.1970); RWWA 195-A2-40/41 Minutes of the Azaku Meeting (14.04.1970). 551 RWWA 195-Z0-8008 Niederschrift über die 267. Aufsichtsratssitzung der Enka Glanzstoff AG (20.10.1972); RWWA 195-Z0-8008 Niederschrift über die 285. Aufsichtsratssitzung der Enka AG (03.11.1977). 552 Gelders Archief 3169/671 Ferenka Ltd. (1970); Geschäftsbericht Akzo 1970, S. 22; Geschäftsbericht Akzo 1972, S. 29; Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1972, S. 11; RWWA 195-B6-1-27 Protokoll einer Besprechung des Enka Glanzstoff-Vorstandes mit F. H. Ulrich (02.04.1973).

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strategie berücksichtigen sollte. Hiermit wandte er sich in den internen Verhandlungen um eine Erweiterung der Stahlkord-Produktion in Limerick oder Oberbruch gegen die Hinweise des Controllers, der aufgrund der steuerlichen Begünstigung in Irland einer Investition dort stets den Vorzug gab. Insbesondere belasteten Forschungskosten das Oberbrucher Werk stärker, da die Fabrik in Limerick noch nicht den vollen Anteil trug.553 Zempelin verkörperte damit einerseits noch den Managertypus der alten »Deutschland AG«, der neben Renditezielen auch ein nationales Interesse im Blickfeld hatte, andererseits war er am Ausbau des Auslandsgeschäfts und somit auch an den (nicht intendierten) Folgen dieser Entwicklung – d. h. einer Abwägung nach Rentabilitätskriterien im Rahmen einer internationalen Standortwahl – beteiligt. Infolge der nachlassenden Nachfrage musste die Stahlkord-Produktion in Oberbruch und Limerick ab Herbst 1974 deutlich gedrosselt werden. Obschon dem Stahlkord-Betrieb in Oberbruch ein Jahr zuvor der Durchbruch zu einer positiven Ergebnisentwicklung gelungen war, wurde sein Fortbestand in der Krise in Frage gestellt.554 In dieser Situation unterzogen die Gewerkschaften die gesamte Akzo-Standortpolitik einer massiven Kritik, da der Konzern in Brasilien und Ecuador, aber auch in anderen Staaten – wie Irland – neue Chemiefaserwerke errichtet hatte, jeweils mit dem Hinweis auf ungünstige Währungsparitäten und gestiegene Lohnkosten in der Bundesrepublik und den Niederlanden, und infolgedessen zu wenig an den heimischen Standorten investiert habe. Standortverlagerungen wurden in diesem Zusammenhang eher als Form der Gewinnsteigerung angesehen und weniger als Mittel, um neue Märkte zu erobern. Dabei gab Zempelin auf die Frage eines Arbeiters, warum in Irland ein Werk errichtet werde, während in Westdeutschland Arbeitsplätze gestrichen würden, unumwunden zu: »Weil uns der irische Staat 10 Jahre lang Steuerfreiheit gewährt hat.«555 Damit verwies er nicht nur auf die neue, vom nationalen Kontext weitgehend losgelöste Standortpolitik multinationaler Konzerne, die den Druck auf die Beschäftigten erheblich erhöhte, vielmehr wird hier ebenso deutlich, dass sich staatliche Akteure zunehmend um die Attraktivität ihres Industriestandorts bemühten und Zugeständnisse an die Kapitalseite machten. Letztlich blieb die Stahlkord-Produktion in Oberbruch in den folgenden Jahren noch erhalten, während sich die Anpassungsmaßnahmen 1975/76 auf einen Kapazitätsabbau bei textilem Polyamid- und Viskose-Filamentgarn sowie auf die Aufgabe der Zellwolle-Produktion in Kassel konzentrierten.556 553 RWWA 195-D2-1-3-27 Nau an Zempelin (23.08.1973, 16.10.1973), Notiz von Zempelin für Meyer (27.08.1973). 554 RWWA 195-D2-1-3-27 Notiz von Meyer für Zempelin (18.10.1974), Nau an Zempelin (16.10.1973, 28.10.1974), Werk Oberbruch Direktion an Vorstand (25.11.1975). 555 RWWA 195-Z0-3548 »Auch 1972 scheiterte der Akzo-Konzern in Breda und auch in Wuppertal«, in: Unsere Zeit, 28.11.1975, S. 5. 556 Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1975, S. 12–14; RWWA 195-B0-59 Interessenausgleich und Sozialplan (06.02.1976); RWWA 195-Z0-3548 Geschätzte Kosten des Sozialplans (18.02.1976). Die Unternehmensführung des irischen Werks erlitt 1975 zudem einen

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Die Kinderkrankheiten des neuen Werks in Limerick (Ferenka Ltd.) ließen in den folgenden Jahren nicht nach. Ferenka hatte vor allem Probleme, Stahlkord in einer für die Reifenindustrie akzeptablen Qualität zu liefern, weshalb die Werksleitung in der Kritik stand und 1976 bereits der Verkauf der Fabrik an Michelin erwogen wurde.557 Der ehemalige Leiter der Enka-Werkszeitschrift Karl-Heinz Asperger gibt in seiner Darstellung zudem an, dass die Bevölkerung nicht an Fabrikarbeit gewöhnt und daher oft unpünktlich oder abwesend gewesen sei.558 Obschon die Subventionen bis 1977 rund 25 Prozent der Gesamtinvestitionen ausmachten, lag die effektive Leistung mit 10.000 Jahrestonnen tatsächlich deutlich unter den Produktionskapazitäten, so dass die Investitionen nicht wieder eingespielt wurden. Ob dies auf Managementfehler, mangelnde Leistungsbereitschaft der Belegschaft oder technische Ursachen zurückzuführen ist, muss an dieser Stelle offen bleiben. Das Enka Glanzstoff-Management machte für diese Situation die durch zahlreiche Streiks verursachten Arbeitsunterbrechungen verantwortlich und nahm schließlich einen mehrwöchigen Streik im Herbst 1977 zum Anlass, das Werk trotz guter Marktaussichten komplett zu schließen. Neben Rentabilitätsaspekten gab somit ein Mangel an intakten industriellen Beziehungen – insbesondere die Rivalität zweier Gewerkschaften (Irish Transport and General Workers Union und Marine Port and General Workers Union) – den entscheidenden Ausschlag.559 Dass der Enka-Vorstand die Nachfrage nach Stahlkord weiterhin als günstig ansah, zeigte sich darin, dass er nach der Ferenka-Schließung eine weitere Stahlkord-Produktion an einem anderen Standort als notwendig ansah. Auf der Suche nach einem geeigneten Standort stellte sich heraus, dass die angelegten Kriterien mit Blick auf die Absatzmöglichkeiten, die Herstellungskosten und Rückschlag, da der Leiter des Werks Tiede Herrema (1921–2020) am 3. Oktober 1975 von zwei Mitgliedern der IRA entführt wurde und erst nach mehreren Wochen frei kam. Herrema kehrte anschließend in die Niederlande an die Konzernzentrale zurück. Im Jahr 1980 errichtete Akzo ein Krisenzentrum, welches im Entführungsfall fortan aktiv werden sollte und die Zuständigkeiten einzelner Leitungsmitglieder regelte. Vgl. Bestand der University of Limerick, Special Collections, The Dr. Tiede Herrema Papers, Reference Code: IE 2135 P22 (1970–2005); RWWA 195-B0-58 Aktionärsbrief der Akzo (24.11.1975); Gelders Archief 3169/208 Notiz betr. Krisenzentrum. Unterlage zur Vorstandssitzung am 12.08.1980 (04.08.1980); Gelders Archief 3169/671 Ferenka Ltd. De ontvoering van Dr. T. Herrema (1975); Gelders Archief 3169/1222 Ferenka Ltd. Ontvoering Dr. T. Herrema (1975–1980). 557 Gelders Archief 3169/201 Protokoll zur Vorstandssitzung Enka Glanzstoff (15.03.1976), Ergänzungsprotokoll zur Vorstandssitzung Enka Glanzstoff (26.04.1976, 10.05.1976). 558 Asperger, Glanzstoff, S. 34. 559 Gelders Archief 3018/96 Ferenka Ltd. (1970–1989); Gelders Archief 3169/686 Ferenka Ltd. herstructurering (1974–1978); Jacobsen, Chasing, S. 120–127; RWWA 195-A6-22 Personal Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board of Management of Akzo (23.12.1977); RWWA 195-A6-23 Persoonlijke aantekeningen van de secretaris van de vergadering van Gemachtigte Commissarissen met het Presidium van de Raad van Bestuur van Akzo (28.11.1977); RWWA 195-B0-58 Information für die Führungskräfte (7/1977).

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die Verringerung des Währungsrisikos in Nordamerika wesentlich besser als in Westeuropa erfüllt waren. Zempelin gab in einer Aufsichtsratssitzung 1978 an, dass die Lohnkosten in den USA nur 75 Prozent der europäischen Lohnkosten umfassen und die Bau- und Energiekosten nur 50 bis 80 Prozent betragen würden.560 Doch letztlich scheiterte dieses Vorhaben an der vergeblichen Suche nach einem Partnerunternehmen und wurde Ende 1979 aufgrund zu hoher Investitionskosten endgültig fallen gelassen. Auch wenn diese Erweiterung nicht realisiert wurde, so verdeutlichen diese Überlegungen doch, wie flexibel das Management inzwischen dem internationalen Auf- und Abbau von Produktionskapazitäten gegenüberstand. Zudem war ein multinationaler Konzern wie Akzo in der Lage, zumindest einen Teil des irischen Produktionsausfalls durch Kapazitäten in Oberbruch zu kompensieren. Für die weitgehend an den Standort gebundenen 1.400 betroffenen Beschäftigten und die wirtschaftliche Entwicklung der Region Limerick bedeutete die überraschende Aufgabe der Produktion hingegen einen herben Rückschlag.561 Die Neuordnung der Enka-Gruppe In den Jahren 1976/77 fand die wichtigste organisatorische Änderung der Enka Glanzstoff-Gruppe seit der Fusion 1969 statt. Die fehlende einheitliche Unternehmensspitze der Enka Glanzstoff-Gruppe, die bereits 1971 Gegenstand intensiver Diskussionen gewesen war, erwies sich insbesondere in den Krisenjahren 1974 bis 1976 als Problem der internen und externen Kommunikation. Zum einen gab es immer wieder Animositäten zwischen den Verwaltungen in Arnheim und Wuppertal; zum anderen war in der Öffentlichkeit nicht immer 560 RWWA 195-Z0-8009 Niederschrift über die 286. Aufsichtsratssitzung der Enka AG (18.04.1978). 561 Asperger, Glanzstoff, S. 131. Während Enka die Rückzahlung der irischen Kredite im Einvernehmen mit den Banken und Akzo regelte, sah man sich im Fall der Zuschüsse (grants) des irischen Staates hierzu außerstande. Angesichts finanzieller Probleme lehnte der Enka-Vorstand ein Stahlkord-Joint Venture mit Rhône-Poulenc 1979 ab, obschon die Stahlkord-Produktion in Oberbruch alleine kaum konkurrenzfähig war; 1980 wurde daher der Verkauf oder die Verpachtung des verbliebenen Stahlkordbetriebs an Continental erwogen und ein kontrollierter Rückzug anvisiert. In Gesprächen mit der Werksleitung in Oberbruch wurde zunächst nicht über konkrete Schließungsabsichten gesprochen, obwohl sich der Enka-Vorstand im Juni 1980 darin einig war, »daß eine Schließung der Oberbrucher Stahlkord-Produktion nur hinausgezögert werden kann.« Letztlich wurde Stahlkord aber nicht aus dem Produktsortiment herausgenommen. Vgl. Gelders Archief 3169/202 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (22.08.1977, 30.10.1977, 21.–25.11.1977, 28.11.1977, 05.12.1977, 14.12.1977); Gelders Archief 3169/206 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (22.05.1979, 12.06.1979); Gelders Archief 3169/208 Ergänzungen zum Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (27.05.1980, 10.06.1980 [Zitat]), Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (02.12.1980); Gelders Archief 3169/208 Ergänzungen zum Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (02.11.1982).

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klar, wer die Leitlinien der Gruppe vorgab. Nachdem Zempelin im Februar 1976 einen Reorganisationsplan vorgelegt hatte, der darauf zielte, die AkzoFaseraktivitäten weltweit einheitlich zu koordinieren, kam ein deutsch-niederländischer Ausschuss – bestehend aus Abs, van den Brink, Kraijenhoff, Merkle, Soesbeek und Ulrich – im April 1976 zu dem Ergebnis, grundsätzlich an der Einheit der deutsch-niederländischen Fasergruppe in Form von Enka Glanzstoff festzuhalten.562 Vor diesem Hintergrund legten Zevenbergen, Zempelin und Jan van den Driest dem Akzo-Aufsichtsrat im Mai 1976 ein Memorandum vor, in dem sie eine grundsätzliche Reorganisation von Enka Glanzstoff unter Beibehaltung der deutsch-niederländischen Kooperation vorschlugen. Der Enka Glanzstoff-Vorstand sollte verkleinert, die Verantwortlichkeiten seiner Mitglieder klar definiert und die Position eines Vorstandsvorsitzenden geschaffen werden. Zempelin machte seine weitere Mitarbeit bei Enka Glanzstoff gegenüber Kraijenhoff nicht zuletzt von der Verwirklichung dieser angedachten Umstrukturierungen abhängig. Obschon der Akzo-Aufsichtsrat Bedenken gegenüber den Zukunftsplänen der Enka Glanzstoff-Gruppe hatte, stimmte er dem Konzept zu. Franciscus van Berkel, Jan van den Driest, Siegfried Lochner und Ernst Meyer schieden daher im Sommer 1976 aus dem Enka Glanzstoff-Vorstand aus; lediglich Albrecht Bendziula und Helmut Stöhr traten neu hinzu. Neuer Vorstandsvorsitzender der gesamten Enka Glanzstoff-Gruppe, d. h. sowohl der Enka Glanzstoff AG als auch der Enka Glanzstoff bv, wurde im September 1976 Hans Günther ­Zempelin (1976–1985), Josef Hutter wurde zu seinem Stellvertreter ernannt.563 Auf diese Weise verfügte die Enka Glanzstoff-Gruppe erstmals seit der Fusion von AKU und Glanzstoff 1969 über eine zentrale Spitze. Nationale Zugehörigkeiten verloren hierbei ein Stück weit an Bedeutung, auch wenn mit dem Österreicher Hutter, der seit 1955 bei AKU tätig war, ein gewisses Gegengewicht zu Zempelin installiert worden war.564 Damit war die Reorganisation der Enka Glanzstoff-Gruppe jedoch noch nicht abgeschlossen, denn neben der undurchsichtigen Managementstruktur wurde 562 Gelders Archief 3169/904 Reorganisation von Enka Glanzstoff. Geheim! (17.02.1976), Zempelin an Kraijenhoff (18.02.1976), Zempelin an Ulrich (Deutsche Bank) (12.03.1976), Stichworte über das in Wuppertal am 8. April 1976 geführte Gespräch; Olie, Mergers, S. 136–146. 563 Hutter wurde 1985 Nachfolger von Zempelin und hatte den Vorstandsvorsitz der EnkaGruppe bis 1989 inne. Vgl. Geschäftsbericht Enka 1989, S. 3; Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 235. Mit diesem personellen Wechsel war auch eine Lösung für die Rivalität zwischen van den Driest und Zempelin gefunden. Vgl. Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 189. 564 Asperger, Glanzstoff, S. 95–99; Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1976, S. 5, 36; Gelders Archief 3169/904 Zempelin an Kraijenhoff (22.04.1976), Grundsätze für die Reorganisation von Enka Glanzstoff (20.04.1976); RWWA 195-A6-22 Minutes of the special meeting of the Supervisory Council and the Board of Management of Akzo N. V. (19.05.1976); Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 191–192, 235, 242. Dass Zempelin und nicht van den Driest Vorstandsvorsitzender wurde, lag Vaubel zufolge daran, dass Soesbeek und van den Brink Letzterem die entsprechende Eignung absprachen.

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auch die Parallelität einer deutsch-niederländischen Chemiefaser-Gruppe (mit weiteren Werken in Belgien und der Schweiz) und einer Chemiefaser-Holding für weitere Auslandsbeteiligungen (Akzo International) innerhalb des AkzoKonzerns als hinderlich angesehen. Zwar hatten sich Enka Glanzstoff und Akzo International 1974 auf Spielregeln für die Standortwahl neuer Auslandsgesellschaften und den Export in Drittstaaten geeinigt – demnach erhielt Enka Glanzstoff insbesondere einen Sitz im Aufsichtsrat ausländischer Chemiefasertöchter  –, gleichwohl ersetzten die jährlichen Strategiebesprechungen keine einheitliche Unternehmensleitung.565 Mit Ausnahme der American Enka Corporation, die auch künftig Teil der US -Akzo-Tochter Akzona blieb, wurden die Chemiefaseraktivitäten des gesamten Akzo-Konzerns, d. h. die Enka Glanzstoff-Gruppe und Akzo International, daher 1977 zur neuen Enka-Gruppe mit Sitz in Wuppertal zusammengeführt. Indem der Unternehmenssitz nach Wuppertal gelegt wurde und Zempelin zum Vorstandsvorsitzenden der Gesamtgruppe aufstieg, wurde der langjährige Zwist um den Führungsanspruch in der Enka Glanzstoff-Gruppe weitgehend zugunsten der deutschen Seite entschieden. Für viele Beschäftigte und Manager in den niederländischen Werken entsprach diese Lösung nicht unbedingt ihren Wunschvorstellungen. Nicht zuletzt war dies das Ergebnis der vorangegangenen Krisenjahre, in denen die westdeutsche Enka Glanzstoff AG aufgrund ihrer günstigeren Produktstruktur besser als ihr niederländisches Pendant abgeschnitten hatte. Die Enka Glanzstoff AG bzw. Enka Glanzstoff bv änderten ihre Namen in Enka AG bzw. Enka bv; die niederländische Holdinggesellschaft Akzo International mit Sitz in Arnheim, die vor allem die ausländischen Chemiefaser-Tochtergesellschaften in Großbritannien (British Enkalon  Ltd.), Spanien (La Seda de Barcelona S. A.), Indien (Century Enka Ltd.) und Lateinamerika verwaltete, wurde in Enka International Holding bv umbenannt. Ziel der Namensänderung war es, mit einen kurzen und international verständlichen Firmennamen auf dem Weltmarkt aufzutreten. Die Leitung der neuen EnkaGruppe wurde dem bisherigen Enka Glanzstoff-Vorstand übertragen, zu dessen weiterem Mitglied der Vorstandsvorsitzende der Enka International Holding bv (ab September 1977 Horst Karus) bestellt wurde. Letzterer blieb zwar für die Chemiefaserunternehmen der Gruppe außerhalb Europas zuständig, war aber fortan dem Vorstand der Enka-Gruppe unterstellt. Eigentumsrechtlich wurde die bisherige Enka Glanzstoff-Gruppe mit der Auslandsholding verbunden, indem der Enka AG 52 Prozent der Anteile an der Enka International Holding bv übertragen wurden; die übrigen 48 Prozent kontrollierte weiterhin die niederländische Konzernmutter Akzo.566 565 RWWA 195-B6-2-16 Entwurf betr. Spielregeln zwischen Enka Glanzstoff und Akzo International (04.09.1974). 566 Asperger, Glanzstoff, S. 107–111; Geschäftsbericht Akzo 1977, S. 6–7; Geschäftsbericht Enka 1977, S. 7; Olie, Mergers, S. 136–146; RWWA 195-B0-58 Akzo faßt ChemiefaserUnternehmen zusammen, in: Information für die Führungskräfte von Enka Glanzstoff (4/1977). Obschon das niederländische und das westdeutsche Unternehmen unter einer

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Die Neuordnung der Akzo-Chemiefaser-Interessen machte zugleich eine Anpassung des 1969 abgeschlossenen Unternehmensvertrags zwischen der Konzernmutter und den beiden Betriebsgesellschaften (Enka AG und Enka bv) sowie zwischen der Akzo N. V. und der Akzo-Stichting notwendig.567 Bei der Neufassung der vertraglichen Bestimmungen beschränkte sich die Unternehmensleitung aber nicht auf Anpassungen hinsichtlich der Dividendengarantie, der Namensgebung und der Vorstandsstruktur, vielmehr wurde hier auch das Prinzip nationaler Ausgewogenheit für den Aufsichtsrat aufgeweicht. Dem Enka-Aufsichtsrat gehörten fortan der Akzo-Vorstandsvorsitzende, ein weiteres Akzo-Vorstandsmitglied sowie zwei von der Akzo zu benennende Repräsentanten der deutschen Wirtschaft an. Die übrigen Vertreter der Anteilseigner im Aufsichtsrat wurden von Akzo ohne Bindung an eine deutsch-niederländische Parität nach Beratung zwischen den genannten Akzo-Vorstandsmitgliedern und den beiden deutschen Repräsentanten ausgewählt. Als Aufsichtsratsvorsitzender der Enka AG sollte weiterhin ein Deutscher fungieren. Nicht zuletzt entfielen im Rahmen der stärkeren internationalen Ausrichtung der Enka-Gruppe die bisherigen Bestimmungen über Kapazitätsrelationen zwischen der Bundesrepublik und den Niederlanden, welche zu einem ausgeprägten Proporzdenken geführt und im Rahmen des Kapazitäts- und Stellenabbaus in den 1970er Jahren zu heftigen Diskussionen über eine ausgewogene und gleichzeitig betriebswirtschaftlich sinnvolle Verteilung der Lasten geführt hatten.568 einheitlichen Leitung standen und bereits Anfang der 1970er Jahre intensiv über die Zusammenführung der Verwaltungen diskutiert worden war, hatten die beiden, nur ca. 130 Kilometer auseinanderliegenden Verwaltungen in Arnheim und Wuppertal in den 1970er Jahren dauerhaft Bestand. Vaubel sah in einer Konzentration an einem Standort den ersten Schritt zur Desintegration und sprach sich deshalb dagegen aus. Der Enka-Vorstand bemühte sich um Kosteneinsparungen in den zentralen Abteilungen  – 1979 lag die personelle Besetzung 30 % unter dem Stand von 1975 –, gleichwohl war die eigentlich notwendige Zusammenlegung beider Verwaltungen aufgrund innerer Widerstände noch Ende der 1970er Jahre nicht realisiert. Vgl. Asperger, Glanzstoff, S. 69–72; Gelders Archief 3169/670 »Brauchen wir zwei Hauptverwaltungen? Der Bericht der Untersuchungskommission über die Standortfragen der Hauptverwaltung liegt vor«, in: Informiert. Zeitschrift für die Mitarbeiter der Enka Glanzstoff AG Heft 8/9 (1973), S. 8–9; RWWA 195-B0-58 Neujahrsansprache Hans Günther Zempelin (14.01.1974); RWWA 195-B6-1-24 Ergänzungen zum Protokoll der EG -Vorstandssitzung (18.10.1971); RWWA 195-C4-32 Bekanntmachung des Enka-Vorstands betr. Enka-Hauptverwaltung 10/1979 (14.11.1979); RWWA 195-Z0-6914 Weber an Wistuba (06.08.1981). 567 Gelders Archief 3169/919 Herstructurering Enka Groep (1977); RWWA 195-A6-21 Minutes of the meeting of the board of management of Akzo-Stichting (13.10.1977); RWWA 195-Z0-8093 Vertrag zwischen Akzo-Stichting und Akzo N. V. (27.07.1977). 568 Gelders Archief 3169/1040 Vertrag zwischen Akzo N. V. und Enka AG / Enka bv (24.08.1977), Erklärung der Akzo N. V. gegenüber den deutschen Mitgliedern des Aufsichtsrats der Akzo N. V. (24.08.1977); RWWA 195-A6-21 Erklärung der Akzo N. V. gegenüber den deutschen Mitgliedern des Aufsichtsrats der Akzo N. V. (24.08.1977); RWWA 195-B4-1-119 Vorstand der Enka Glanzstoff AG (Zempelin und Hutter) an die Aktionäre (Juli 1977); RWWA 195-Z0-8093 Vertrag zwischen Akzo N. V. und Enka

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Damit lag das US -Fasergeschäft zwar nach wie vor außerhalb der Zuständigkeit der Enka-Gruppe, gleichwohl hatten die Manager auf diese Weise eine einheitliche Struktur für die beiden Enka-Stammhäuser geschaffen. Indem das paritätische Machtgleichgewicht zwischen Deutschen und Niederländern bei Enka Glanzstoff zumindest teilweise aufgegeben und dem deutsch-niederländischen Doppelgespann das internationale Fasergeschäft angegliedert wurde, rückte die Nationalität einzelner Führungspersonen ein wenig in den Hintergrund und internationale Marktentwicklungen stellten stärker als bisher die Grundlage für unternehmerische Entscheidungen dar. Die Enka-Gruppe in der zweiten Ölpreiskrise Das Geschäftsjahr 1978 bot zunächst Hoffnungen, die langjährige Krise langsam überwunden zu haben. Erstmals seit 1974 schloss die westdeutsche Enka AG wieder mit einem positiven Gewinn ab und auch die Verluste bei textilen Chemiefasern ließen etwas nach. Insgesamt stieg die westeuropäische Chemiefaserproduktion 1978 gegenüber dem Vorjahr um sechs Prozent an. Das im Juni 1978 abgeschlossene Abkommen der europäischen Chemiefaserhersteller zur Reduzierung der Kapazitäten wirkte zusätzlich stabilisierend. Dennoch blieb die Situation für die Enka Glanzstoff-Gruppe 1978 noch unbefriedigend, denn dem Gewinn der Enka Glanzstoff AG mit ihrer günstigeren Produktpalette standen weiterhin Verluste der anderen Untergesellschaften gegenüber.569 Gleichwohl schien der positive Trend anzuhalten und im Geschäftsjahr 1979 verbuchte nicht nur der westdeutsche Unternehmensteil, sondern die gesamte Enka-Gruppe einen Gewinn. Das sich aufhellende ökonomische Klima in Westeuropa ermöglichte seit langem wieder Preiserhöhungen und auch die außereuropäischen Tochtergesellschaften in Lateinamerika und Indien konnten ihren Gewinn steigern.570 Dabei war der Umstrukturierungsprozess in der westAG / Enka bv (24.08.1977), Erklärung der Akzo N. V. gegenüber den deutschen Mitglie-

dern des Aufsichtsrats der Akzo N. V. (24.08.1977). Abschnitt V der Regelung von 1969 bestimmte: »Es besteht Einvernehmen, daß auf dem Chemiefasergebiet die bisherigen Kapazitätsrelationen für die Bundesrepublik und die Niederlande möglichst erhalten bleiben und der künftige Ausbau unter Berücksichtigung dieser Relation betrieben werden soll.« Auf einer gemeinsamen Vorstandssitzung von AKU und Glanzstoff hatten sich beide Seiten auf eine AKU-Glanzstoff-Relation von 1:1,5 geeinigt. Bei der Anzahl der Beschäftigten überragte Glanzstoff (24.500) AKU (15.300) sogar im Verhältnis 1,6:1. Vgl. RWWA 195-A2-32/33 Regelung zwischen AKU N. V. und Glanzstoff AG (23.05.1969); RWWA 195-A2-38 Protokoll der gemeinsamen AKU / Glanzstoff-Vorstandsbesprechung (10.01.1969); RWWA 195-A2-52 Notiz für Vits betr. Kapazitätsrelationen (09.01.1969), Vergleichswerte AKU / Glanzstoff (04.12.1968). 569 Asperger, Glanzstoff, S. 125–126; Geschäftsbericht Enka 1978; Marx, Cartel; RWWA 195-B0-64 Information für die Führungskräfte (5/1978, 3/1979). 570 Geschäftsbericht Enka 1979; RWWA 195-B0-64 Neujahrsansprache von Hans Günther Zempelin (08.01.1980).

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europäischen Chemiefaserindustrie keineswegs abgeschlossen. Nach wie vor waren die Wachstumsaussichten im Textil- und Teppichbereich gering, und bei Zellulose-Filamentgarnen ging die Nachfrage sogar weiter zurück, insofern war die Lage der Enka-Glanzstoff-Gruppe weiterhin labil. Als Anfang 1979 die Ereignisse im Iran den Auftakt zur zweiten Ölpreiskrise lieferten und die Rohölpreise im Laufe des Jahres immer weiter anstiegen, schwächte sich die westeuropäische Konjunktur erneut ab und riss die EnkaGlanzstoff-Gruppe abermals in eine tiefe Krise.571 Die steigenden Rohstoff- und Energiepreise ließen sich nicht auf die Verkaufspreise aufschlagen, zugleich verschärften sich die Absatzprobleme durch die hohen US -Chemiefaserimporte. Die westeuropäische Chemiefaserproduktion fiel daher 1980 gegenüber dem Vorjahr um zehn Prozent. Bei den europäischen Gesellschaften der Enka-Gruppe führte dies zusammengenommen 1980 zu einem Verlust von 405 Mio.  DM . Die katastrophalen Absatz- und Preiseinbußen – vor allem bei textilen Chemiefasern – machten eine erneute Überprüfung der Produkt-, Kosten- und Standortstruktur unumgänglich und führten schon bald zu neuen Umstrukturierungsplänen.572 Im Januar 1981 entwarf der Enka-Vorstand ein neues Anpassungskonzept, das unter anderem die Schließung der Werke in Kassel (Bundesrepublik), Breda (Niederlande)  und Antrim (Nordirland)  vorsah. Die Texturierung in Breda sollte von einem anderen westdeutschen Standort (Kuag Konz) übernommen, die Produktion innerhalb Europas somit stärker konzentriert und das Werk in Breda am 31. Dezember 1982 geschlossen werden. Daraufhin keimten in Breda erneut heftige Proteste auf, doch letztlich konnten sie die Entscheidung der Konzernspitze nicht revidieren. Auch wenn die von der Unternehmensleitung seit Anfang der 1970er Jahre verfolgte Strategie, keine linearen Kürzungen an allen Standorten, sondern punktuelle Schließungen durchzuführen, betriebswirtschaftlich sinnvoll war, so waren es gerade solche grenzübergreifenden Standortvergleiche zwischen Breda (Niederlande) und Konz (Bundesrepublik) im Fall der Texturierung oder zwischen Zwijnaarde (Belgien) und Kassel (Bundesrepublik) im Fall der Zellwollproduktion, die das Unbehagen weiter Belegschaftsteile gegenüber multinationalen Unternehmensformen erklären. Die Bemühungen des Managements, die Arbeitsplätze in Breda durch Ansiedlung eines anderen Unternehmens zu erhalten, waren vor allem darauf zurückzuführen, dass die Unternehmenskammer des Gerichtshofs in Amsterdam (Ondernemingskamer) einer Schließung zunächst widersprochen hatte.573 571 Göbel, Ölpreiskrisen, S. 39–51. 572 Asperger, Glanzstoff, S. 107–110, 125–126; Geschäftsbericht Enka 1980. Bei der Enka AG betrug der Jahresfehlbetrag 1980 47,7 Mio. DM; zusätzlich wurde das Ergebnis der Enka AG durch Sonderabschreibungen und die Bildung von Rückstellungen für Sozialpläne belastet. 573 Asperger, Glanzstoff, S. 137–140; Gelders Archief 3169/206 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (10.04.1979, 24.04.1979); Gelders Archief 3169/209 Protokoll der EnkaVorstandssitzung (28.04.1981); Olie, Mergers, S. 126–128; RWWA 195-A1-20 »Enka Breda mag dicht«, in: De Stem, 03.12.1981; RWWA 195-B0-64 Anpassungsmaßnahmen

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Wie tief die Verunsicherung im Faserbereich des Akzo-Konzerns angesichts der nachlassenden Konjunkturlage war, zeigte sich nicht zuletzt darin, dass Vertreter der beiden Konkurrenten Enka und ICI 1981 unter dem treffenden Decknamen »Salt II« – in Anlehnung an die 1979 von den USA und der UdSSR unterzeichneten Abrüstungsverträge – Gespräche über die Fusion ihrer Faseraktivitäten aufnahmen und somit bereit waren, die eigenständige Fortführung dieser für ihr jeweiliges Unternehmen zentralen Produktgruppe aufzugeben. Letztlich war es für die Akteure auf beiden Seiten für diesen Schritt 1981 jedoch noch zu früh, so dass die Verhandlungen ergebnislos blieben. Weder Akzo noch ICI konnte sich Anfang der 1980er Jahre trotz hoher Verluste dazu entschließen, sich vollständig von den Faseraktivitäten zu trennen.574 Während die niederländische Arbeitnehmervertretung (COR) der Werksschließung in Breda aufgrund von Ersatzarbeitsplätzen bei einer Nachfolgefirma zustimmen konnte, entwickelte sich in Kassel ein heftiger Arbeitskampf. Die Belegschaft berief sich auf eine 1975 seitens des Vorstands bekräftigte Zusage, wonach Kassel im Fall einer Aufgabe der dortigen Zellwollproduktion als zentrales Spinnfaserwerk der Enka-Gruppe fungieren sollte. Bereits im Dezember 1980 führte die Unternehmensleitung bzgl. des vorgesehenen umfangreichen Stellenabbaus Gespräche mit dem Kasseler Oberbürgermeister Hans Eichel und dem Ministerpräsidenten des Landes Hessen Holger Börner.575 Im Laufe des Jahres 1981 eskalierte der Konflikt. Der Kasseler Betriebsrat erarbeitete alternative Vorschläge und kritisierte insbesondere, dass das Werk Kassel zwischen 1969 und 1971 Investitionszulagen in Höhe von 9,6 Mio. DM erhalten und trotzdem wenig später die Zellwollproduktion geschlossen hatte. Auf diese Weise versuchte er die landespolitischen Akteure auf seine Seite zu ziehen. Die Auseinandersetzungen gipfelten in einem mehrtägigen Hungerstreik des Betriebsratsvorsitzenden Helmut Haase und drei weiterer Mitarbeiter im September 1981, der erst nach der Bestellung weiterer unabhängiger Gutachbei Enka (16.01.1981); RWWA 195-C4-34 Enka Board of Management Announcement (05.05.1981), Bekanntmachung des Vorstands (11.09.1981, 02.11.1981), Enka Europa konzentriert Produktion (19.01.1981); RWWA 195-C4-34 Bekanntmachung des Vorstands (12.07.1982). Die Unternehmenskammer begründete ihr Urteil damit, dass sich die Verhältnisse nicht innerhalb kürzester Zeit derart grundlegend geändert haben könnten, dass die Aussage der Unternehmensleitung aus dem März 1980 über den Fortbestand der Spinnerei in Breda keinen Bestand mehr hätte. Die Entscheidung der Unternehmenskammer wurde jedoch durch den Obersten Gerichtshof (Hoge Raad) 1982 aufgehoben. Vgl. Gelders Archief 3169/209 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (27.10.1981); RWWA 195-C4-35 Bekanntmachung des Vorstands (12.07.1982). 574 Gelders Archief 3169/209 Persönlich! Streng-vertraulich! Ergänzungen zum Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (23.02.1981); Gelders Archief 3169/210 Protokoll der EnkaVorstandssitzung (16.11.1982). 575 Asperger, Glanzstoff, S. 143; Gelders Archief 3169/208 Protokoll der Sondersitzung des Enka-Vorstandes (12.12.1980), Kapazitätsanpassung bei Enka in Prüfung 19/1980 W (12.12.1980), Erklärung des Enka-Vorstands 20/1980 (12.12.1980), Protokoll der EnkaVorstandssitzung (15.12.1980).

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ter (neben der Deutschen Treuhand-Gesellschaft) beendet wurde. Doch auch dieses letzte Mittel der Beschäftigten änderte nichts an der Entscheidung des Managements. Vermittlungsvorschläge des Präsidenten des Landesarbeitsamtes Hessen (Kurt Fuhrmann) sowie des Präsidenten der hessischen Landeszentralbank (Alfred Härtl) im Rahmen der durch das Betriebsverfassungsgesetz vorgesehenen Konfliktregulierung lehnte der Enka-Vorstand unter Zempelin ebenso ab. Am 18. November 1982 stimmte der Aufsichtsrat der Enka AG unter ihrem Vorsitzenden Alfred Herrhausen gleichfalls der Schließung zu. Das Management bemühte sich zwar auch im Fall von Kassel um die Ansiedlung eines Nachfolgeunternehmens und die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen in anderen Konzernwerken – von letzterer Möglichkeit machten gerade einmal 38 von 840 Beschäftigten Gebrauch –, aber diese Maßnahmen konnten den Arbeitsplatzabbau quantitativ kaum auffangen.576 Dies galt auch für die betriebsverfassungsund arbeitsrechtlichen Schritte, die die Entscheidung 1982/83 zwar verzögerten, aber nicht revidierten.577 Der multinationale Akzo-Konzern trennte sich mit der zeitgleichen Schließungen in Breda, Kassel und Antrim bis 1984 nicht nur von weniger rentablen Betrieben; er erfüllte damit zugleich alle Verpflichtungen, die aus dem europäischen Faserabkommen zur Reduzierung der Faserkapazitäten erwuchsen und die Rentabilität der europäischen Chemiefaserindustrie stärken sollten.578 Während die Beschäftigten um den Erhalt ihres Werkes kämpften, sah sich das Management in einer Position eingeschränkter Denk- und Handlungsmöglichkeiten. Die in den langen 1970er Jahren begonnenen Umstrukturierungen 576 Asperger, Glanzstoff, S. 143–148; Gelders Archief 3169/209 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (24.03.1981, 23.06.1981, 25.08.1981, 29.09.1981), Ergänzungen zum Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (03.02.1981); Gelders Archief 3169/210 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (31.03.1982, 10.05.1982, 15.06.1982, 21.12.1982); IG CPK / Enka Betriebsrat, 4. Dokumentation. Abschluß über den gemeinsamen Kampf des Betriebsrats, der gewerkschaftlichen Vertrauensleute und der Belegschaft der Enka AG – Werk Kassel gegen die Vernichtung ihrer Arbeitsplätze und Unternehmerwillkür; Vitt / Haase, Glanzstoff; RWWA 195-C4-33 Bekanntmachung des Enka-Vorstands betr. Kapazitätsanpassung bei Enka 2/1980 W, 3/1980 (18.12.1980, 23.12.1980); RWWA 195-C4-34 Bekanntmachung des Enka-Vorstands 2/1981 W, 4/1981 W, 6/1981 W, 7/1981 W (29.01.1981, 11.09.1981, 16.09.1981, 23.09.1981); RWWA 195-C4-35 Bekanntmachung des Enka-Vorstands 3/1982, 3/1982 W, 9/1982 W, 10/1982 W (22.03.1982, 10.05.1982, 17.09.1982, 18.11.1982), Zempelin und Bendziula an Fuhrmann (13.05.1982); RWWA 195-Z0-7989 Protokoll der EnkaVorstandssitzung (31.03.1982, 17.05.1982, 01.06.1982, 15.06.1977, 21.09.1982). 577 Gelders Archief 3169/210 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (21.09.1982, 16.11.1982); RWWA 195-Z0-7989 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (14.10.1982, 02.11.1982, 16.11.1982, 07.12.1982, 01.03.1983, 15.03.1983, 12.04.1983); Wicht, Glanzstoff, S. 101, 330–340. 578 Gelders Archief 3169/210 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (21.09.1982); Geschäftsbericht Akzo 1982, S. 5; RWWA 195-C4-35 Bekanntmachung des Vorstands (27.08.1981); RWWA 195-B0-64 Referat von Hans Günther Zempelin anlässlich des Pressegesprächs (15.10.1981, 27.01.1982); RWWA 195-C4-35 Enka Breda (17.09.1982); Marx, Cartel; Schröter, Kriseninstrumente.

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umfassten im Wesentlichen Werksschließungen und Produktionskürzungen, welche mit neuen Bedingungen am Produktmarkt begründet wurden. Eine gestalterische Unternehmensstrategie trat hingegen in den Hintergrund. Die Steuerung des Unternehmens wurde damit in weiten Teilen bewusst den Absatzmärkten überantwortet.579 Als das Kasseler Werk im Juni 1984 endgültig geschlossen wurde, schienen sich die Vorhersagen vieler Reformbefürworter schnell zu bestätigen. Der Geschäftsbericht der Enka-Gruppe hielt fest, dass das Unternehmen mit einem Gewinn von 201 Mio. DM 1984 ein besonders erfolgreiches Jahr hinter sich habe. Es war das beste Ergebnis seit Bestehen der EnkaGruppe.580 Neben den unternehmerischen Anpassungsmaßnahmen wirkten sich die konjunkturelle Erholung, der unternehmensübergreifende Abbau von Überkapazitäten im Rahmen des europäischen Strukturkrisenkartells und der hohe Dollar-Kurs positiv auf die Erlössituation aus. Welchen konkreten Anteil die unternehmensspezifischen Maßnahmen gegenüber anderen Entwicklungen hatten, ist dabei letztlich schwerlich auszumachen. Die Reduzierung der textilen Chemiefaserkapazitäten trug aber in jedem Fall zu einer höheren Profitabilität der Gruppe bei.581 Die Produkt- und Umsatzstruktur von Enka Glanzstoff bzw. Enka Seit Mitte der 1970er Jahre hatte Enka die Produktion synthetischer Garne und Fasern für den Textil- und Teppichbereich immer weiter abgebaut und stattdessen in technische Garne investiert – wie Aramidgarne, die als Trägermaterial für Metalle und Kunststoffe dienten (Arenka-Projekt). So fiel im Juli 1982 beispielweise die Entscheidung, das Arenka-Projekt zu verwirklichen und hierfür mit der staatlichen Entwicklungsgesellschaft Noordelijke OntwikkelingsMaatschappij (NOM) das Joint Venture Aramide Maatschappij ins Leben zu rufen.582 Infolgedessen stieg der Anteil der Chemiefasern für industrielle An579 Marx, Vermarktlichung. 580 Geschäftsbericht Enka 1984, S. 7. Vgl. für eine Liste der Enka-Standorte im Zeitraum 1969 bis 1985 mit Schließungsdatum: Asperger, Glanzstoff, S. 178–179. 581 Asperger, Glanzstoff, S. 111–114; Marx, Cartel; Schröter, Kriseninstrumente . 582 Asperger, Glanzstoff, S. 155–157; RWWA 195-C4-35 Bekanntmachung des Enka-Vorstands 8/1982 W (20.07.1982), Bekanntmachung des Enka-Vorstands betr. Aramid-Projekt 13/1982 (19.11.1982); RWWA 195-Z0-8110 Bekanntmachung des Enka-Vorstands betr. Aramid-Projekt 13/1982 (19.11.1982). Enka verhandelte schon seit 1972 mit dem US -Chemiekonzern DuPont über die Patentrechte für Aramidfasern, die fester als Stahl und leichter als Aluminium waren, und hatte Mitte der 1970er Jahre – letztlich ergebnislos – Gespräche mit Rhône-Poulenc, ICI und Bayer bzgl. eines Joint Ventures aufgenommen. Die niederländische Regierung gewährte Akzo Anfang der 1980er Jahre für den Bau zweier Aramid-Werke in den Niederlanden eine Investitionsprämie von 135 Mio. Gulden, wobei eine Fabrik bei Akzo Zout Chemie in Delfzijl zur Rohstoffversorgung diente und die Herstellung der Aramidfasern im Werk Emmen erfolgte. Gegenüber dem westdeutschen Betriebsrat stellte

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wendungen und die Reifenproduktion an, wohingegen die Bedeutung des Bekleidungsbereichs zwischen 1973 und 1980 um mehr als zehn Prozentpunkte nachgab. Obschon die Enka-Gruppe – spätestens ab 1977 mit der Integration der Akzo International – als zentrale Chemiefaser-Division des Akzo-Konzerns fungierte und Anfang der 1970er Jahre einige periphere Arbeitsgebiete abgegeben hatte, weitete sie in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ihre Produktpalette erneut aus – beispielweise auf Membranen und Vliesprodukte. Der Enka-Umsatzanteil an Chemiefasern ging infolgedessen zwischen 1971 und 1986 von 85 auf 60 Prozent zurück. Das Management trieb eine solche Verschiebung der Produktstruktur voran, um das unternehmerische Risiko gegenüber konjunkturellen Ausschlägen zu reduzieren und höhere Gewinnmargen in benachbarten Produktbereichen mitzunehmen, denn die Nicht-Faser-Produkte – wie Colbond, Colback oder die Dialyseprodukte für die Blutreinigung in künstlichen Nieren – hatten in den 1970er Jahren eine wesentlich günstigere Entwicklung erfahren. Mit Dialyse-Membranen und Colbond hatte die Unternehmensleitung bis 1977 zwei Produkte zur Produktionsreife gebracht, die sich bei der Fusion 1969 noch im Entwicklungsstadium befunden hatten – und 1977 immerhin Gewinne abwarfen. Gleichwohl bildeten Chemiefasern für den textilen und industriellen Einsatz Anfang der 1980er Jahre noch den Produktionsschwerpunkt.583 die Unternehmensleitung klar, dass nur die Niederlande – und nicht Wuppertal – für eine Aramid-Produktion in Frage kämen, da der niederländische Staat als industrieller Partner einsteige. Die gleiche Antwort erhielt der hessische Wirtschaftsminister, der mit einer Aramid-Produktion gerne die Schließung des Kasseler Werks Anfang der 1980er Jahre kompensiert hätte. Die Abhängigkeit vom US -Dollar war bei Arenka größer als bei anderen Produkten. Das Arenka-Projekt profitierte daher vom steigenden Dollar-Kurs in den 1980er Jahren. Vgl. Gelders Archief 3169/201 Ergänzungen zum Protokoll der Vorstandssitzung Enka Glanzstoff (25.10.1976); Gelders Archief 3169/202 Protokoll der Vorstandssitzung Enka Glanzstoff (06.06.1977, 08.08.1977); Gelders Archief 3169/208 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (12.08.1980); Gelders Archief 3169/209 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (18.08.1981, 08.09.1981), Anlage zum Protokoll (18.08.1981); Gelders Archief 3169/210 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (15.06.1982, 27.07.1982, 21.09.1982, 16.11.1982); RWWA 195-A1-20 »Enkas Streit mit DuPont noch nicht am Ende«, in: FAZ , 02.09.1983; RWWA 195-C4-32 Bekanntmachung des Enka-Vorstands betr. Arenka-Projekt 14/1979 (29.11.1979); RWWA 195-C4-33 Bekanntmachung des Enka-Vorstands betr. Projektgruppe Arenka 4/1980 (04.06.1980); RWWA 195-Z0-6914 Protokoll der Betriebsratssitzung (02.06.1981); RWWA 195-Z0-7989 Protokoll der EnkaVorstandssitzung (17.05.1982, 29.06.1982, 21.09.1982), Ergänzungen zum Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (17.02.1983), Anlage: Aramide Projekt (o. D.); RWWA 195-Z08109 Information for managerial staff of Enka betr. Arenka (4/1979), Enka Information: Verwirrung hinsichtlich Arenka und Arnitel (1981); Steffen, Answers, S. 46; Wicht, Glanzstoff, S. 103. 583 Asperger, Glanzstoff, S. 102–106, 117–118; Geschäftsbericht Enka 1986, S. 10; RWWA 195-B0-58 Das Zukunftsbild von Enka Glanzstoff, in: Information für die Führungskräfte von Enka (6/1977). Im Rahmen eines Accolade-Projekts prüfte Enka Glanzstoff 1973/74 zudem, inwieweit Kooperationen mit nachgelagerten Produktionsstufen möglich seien, um Einfluss

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Tabelle 22: Aufteilung des Umsatzes der Enka Glanzstoff-Gruppe nach Einsatzgebieten (1973–1980)  

1973

1975

1980

Bekleidung

43

38

32

Heimtextilien / Teppich

14

12

13

Reifengarne / industrielle Anwendungen

23

26

30

übrige Produkte

20

24

25

Quelle: Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1973, S. 17; Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1975, S. 19; Geschäftsbericht Enka 1980, S. 17.

Ebenso änderte sich die regionale Gliederung des Enka-Glanzstoff-Umsatzes nicht abrupt. Während der gesamten 1970er Jahre entfielen etwa zwei Drittel des Umsatzes auf die EWG und weitere zehn Prozent auf das restliche Westeuropa, wobei besonders der westdeutsche Markt eine zentrale Rolle einnahm. Die westdeutschen Manager betonten daher nicht zu Unrecht, dass die Umstrukturierungen auch das Verhältnis zu den westdeutschen Abnehmern berücksichtigen müssten. Auf die übrigen Weltregionen – (1) staatssozialistische Länder, (2) Nord-, Mittel- und Südamerika und (3) die übrige Welt – entfielen lediglich jeweils acht bis neun Prozent. Diese starke Fokussierung auf Westeuropa lag nicht zuletzt darin begründet, dass das Fasergeschäft des Akzo-Konzerns in den USA auch nach der Bildung der Enka-Gruppe 1977 nicht Teil derselben wurde, sondern unter dem Dach der US -Tochtergesellschaft Akzona angesiedelt blieb. Vor dem Hintergrund der Bestrebungen anderer Chemiekonzerne wie BASF, Bayer oder ­Hoechst, mit einer schlagkräftigen und einheitlichen Gesellschaft auf dem jeweiligen Auslandsmarkt präsent zu sein, war dieses Vorgehen in den USA seitens Akzo verständlich, es hemmte aber die dortigen Entwicklungsmöglichkeiten der Enka Glanzstoff-Gruppe. Die westdeutschen Chemiefaserhersteller  – allen voran der Marktführer Enka  – beklagten in den 1970er Jahren nicht nur die Subventionierung der auf die kommerziellen Planungen der Textilindustrie zu bekommen und den eigenen Absatz zu stabilisieren. Vgl. RWWA 195-B0-60 Accolade (04.02.1973–30.10.1974). Ende der 1970er Jahre verfolgte Enka zudem das Ziel, auf das Produktgebiet von Polyesterflaschen für den europäischen Markt vorzustoßen (Strongpac-Projekt). Allerdings gestaltete sich der Markteintritt bei Plastikflaschen alles andere als einfach, weshalb das niederländisch-schwedische Joint Venture Strongpac Enka-PLM 1981 aufgelöst und die Strongpac-Fabrik in der englischen Industriestadt Corby an Fibrenyle verkauft wurde. Vgl. Gelders Archief 3169/206 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (13.02.1979, 27.03.1979, 25.09.1979); Gelders Archief 3169/208 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (09.09.1980, 04.11.1980); Gelders Archief 3169/209 Ergänzungen zum Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (07.07.1981), Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (14.04.1981, 11.05.1981, 18.08.1981, 13.10.1981).

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italienischen Wettbewerber, besonders die wachsende Konkurrenz aus Asien stellte den Industriezweig vor erhebliche Herausforderungen. Von den 1981 weltweit hergestellten 14,7 Millionen Tonnen Chemiefasern stammten nur noch 21 Prozent aus Westeuropa, 27 Prozent aus den USA und 12 Prozent aus Japan. 40 Prozent der globalen Produktion entfielen hingegen schon auf die übrigen Länder, deren Anteil 1971 bei lediglich 24 Prozent gelegen hatte. Noch 1973 lag der Ausstoß Westeuropas und der USA mit jeweils ca. 3,5  Mio. Tonnen etwa gleich auf, doch während die US -Hersteller ihre Produktion in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre steigern konnten, stagnierten die westeuropäischen Produktionszahlen nach der Krise 1974/75. Die europäischen Produzenten machten die günstigere Kostensituation der US -Firmen sowie wachsende Billigimporte von Textilien und Bekleidung bei gleichbleibendem Endverbrauch in Westeuropa hierfür verantwortlich. Dabei hatte die weltweite Produktion von Chemiefasern zwischen 1971 und 1981 um mehr als 58 Prozent zugenommen. Doch die westeuropäischen Chemiefaserhersteller profitierten nicht von diesem Wachstum.584 In demselben Maße wie die Schließung von Werften, Textilbetrieben und Stahlwerken in Westeuropa nach dem Boom auf globaler Ebene keine postindustrielle Welt hervorzauberte, gingen die tiefgreifenden Strukturprobleme der westeuropäischen Chemiefaserhersteller nicht mit dem weltweiten Ende der Chemiefaserproduktion einher, vielmehr verschob sich hier das industrielle Gewicht in Länder außerhalb der Triade. Die Unternehmensleitungen multinationaler Konzerne strebten eine solche Verlagerung von Industrien in andere Teile der Welt nicht unbedingt an, aber sie trugen mit ihren Forderungen nach einer Liberalisierung des Handels und mit dem Aufbau ausländischer Produktionsstandorte ein Stück weit zu dieser Situation bei – ebenso wie die politischen Akteure, die den Verlust heimischer Arbeitsplätze beklagten und zuvor die internationalen Waren- und Finanzmärkte geöffnet hatten. Auslandsbeteiligungen der Enka Glanzstoff- bzw. Enka-Gruppe An ausländischen Unternehmen hielt Enka Glanzstoff mit Ausnahme der Minderheitsbeteiligungen in Indien (Century Enka Ltd.) und Brasilien (Polyenka S. A. Industria Quimica e Textil), an denen auch die Konzernmutter Akzo beteiligt war, bis zur Umstrukturierung 1977 keine direkten Kontrollrechte. Lediglich der Hausmaschinenbauer Barmer Maschinenfabrik AG (Barmag), der bis 1976 zu 76,25 Prozent im Besitz der Enka Glanzstoff AG und zu 23,75 Prozent im Besitz der Akzo war, verfügte mit der American Barmag Corporation in Charlotte (North Carolina) über eine Auslandsdependance und verstärkte sein Auslandsengagement 1973 mit der Übernahme der schweizerischen Firma Beringer Hydraulik GmbH, durch die Gründung einer Vertriebsgesellschaft in 584 RWWA 195-B0-65 Das Chemiefaserjahr 1981 (Januar 1982).

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Hong-Kong (Barmag Far East Ltd.) sowie mit dem Aufbau einer Produktionsund Vertriebsgesellschaft in Brasilien (Barmag S. A. Maquinas Industriais).585 Im Fall des Chemiefaser-Engagements in Brasilien hatten Glanzstoff und AKU 1968 zunächst bei anderen westdeutschen Firmen Informationen über ihre Erfahrungen im Brasiliengeschäft eingeholt und mögliche Übernahmekandidaten sondiert. Dabei vertraten die Führungsfiguren von AKU und Glanzstoff durchaus unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich des Brasilienengagements: Während die Glanzstoff-Manager keine Notwendigkeit für die Beteiligung eines brasilianischen Partners sahen, betonte der AKU-Vorstand Frits Prakke, dass die AKU-Politik eine solche Integration im betreffenden Land unbedingt vorsehe, um mögliche Ressentiments im Gastland abzubauen. Daraufhin beteiligten sich Glanzstoff und Akzo 1969 mit je 25,5 Prozent am Stammkapital der Polyquimica S. A. Industria Textil in São Bernardo do Campo (São Paulo).586 Das Brasilien- und das Indien-Geschäft stellten in ihrer Form als Gemeinschaftsunternehmen von AKU bzw. Akzo und VGF bzw. Glanzstoff jedoch Ausnahmen innerhalb des Konzerns dar, denn nach wie vor galt grundsätzlich die Regel, dass größere Auslandsbeteiligungen in den Zuständigkeitsbereich der Konzernmutter AKU bzw. Akzo fallen würden. Auf ausländische Märkte konnten die beiden Stammhäuser der Enka Glanzstoff-Gruppe daher – wie schon VGF vor 1969  – primär über Exporte vorstoßen. Beim westdeutschen Unternehmensteil VGF bzw. Glanzstoff betrug der Exportanteil in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre etwa ein Drittel und stieg bis 1970 auf 44 Prozent an.587 Bei textilen Chemiefasern war die Chemiefasersparte des Akzo-Konzerns stärker auf die heimischen Märkte angewiesen. Hier betrug der Exportanteil der EnkaGruppe trotz zunehmender Ventilexportgeschäfte, die für die nachlassende 585 Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1973, S. 23–24; RWWA 195-L7-4-4 »Unsere Tochter in Amerika«, in: Barmag Report (4/1965). Gemäß des im Unternehmensvertrag von 1969 festgelegten Verlustausgleichs zwischen der Akzo N. V. und der Enka Glanzstoff AG wurden der Enka Glanzstoff AG Ende 1976 von der Akzo N. V. nom. 5,25 Mio. Aktien der Barmag mit einem Wert von 26,5 Mio. DM übertragen, wodurch sich der durch die Akzo zu leistende Verlustausgleich deutlich reduzierte und die Beteiligung der Enka Glanzstoff AG an der Barmag um 21 % auf 97,25 % stieg. Vgl. Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1976, S. 26. 586 RWWA 195-A2-38 Protokoll der gemeinsamen AKU / Glanzstoff-Vorstandbesprechung (18.03.1969); RWWA 195-B5-8-2 Memorandum Brasilien – Interessen auf dem Synthesefaser-Gebiet (o. D.); RWWA 195-E0-12/13 Notiz betr. Polyesterfaserprojekt Brasilien (31.01.1968). Im Rahmen einer Kapitalerhöhung der brasilianischen Tochtergesellschaft 1971 von 10 auf 26,65 Mio. Neue Cruzeiros fiel der Glanzstoff-Anteil auf 11,96 %, während der Akzo-Anteil auf 38,04 % anstieg. Im Jahr 1972 wurde ein neues Werk in Americana in Betrieb genommen und der Firmenname in Polyenka S. A. geändert. Vgl. Geschäftsbericht Glanzstoff 1970, S. 12; Geschäftsbericht Glanzstoff 1971, S. 16; Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1972, S. 17. 587 Geschäftsbericht Glanzstoff 1970, S. 4–5. Im Jahr 1980 entfielen rund 70 Prozent des Gesamtumsatzes der niederländischen Akzo-Betriebe auf den Export. Vgl. Geschäftsbericht Akzo 1980, S. 9.

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Nachfrage auf dem europäischen Markt einen Ausgleich schaffen sollten, 1977 nur rund 25 Prozent.588 Mit der Umstrukturierung 1977 und der Eingliederung der Akzo International in die Enka-Gruppe wurde das Auslandsgeschäft des deutsch-niederländischen Tandems mit einem Schlag erheblich ausgeweitet. Neben den Beteiligungen in Brasilien und Indien fielen nun auch die Tochtergesellschaften in Nigeria (Nichemtex Industries), Ecuador (Enkador S. A.), Kolumbien (Enka de Colombia S. A.) und insbesondere die europäischen Auslandsgesellschaften in Italien (Italenka S.p.A.), Großbritannien (British Enkalon Ltd.) und Spanien (La Seda de Barcelona S. A.) in die Verantwortung der Enka-Gruppe.589 La Seda gehörte im Bereich der chemisch-pharmazeutischen Fertigung neben den Beteiligungen von Bayer und Schering zu den größten ausländischen Investitionsprojekten in Spanien und hatte eine entsprechend hohe Bedeutung für die Entwicklung der spanischen Chemieindustrie.590 Tabelle 23: Marktanteile von La Seda de Barcelona in Spanien (1980) Fasertyp

Marktanteil in %

Polyester-Spinnfasern

43

Textile Polyester-Filamentgarne

21

Textile Polyamid-Filamentgarne

25

Textile Viskose-Filamentgarne

82

Technische Polyester-Filamentgarne

47

Technische Polyamid-Filamentgarne

57

Technische Viskose-Filamentgarne

98

Quelle: RWWA 195-Z0-3212 ILO -Untersuchung über das Sozial- und Personal-Wesen multinationaler Unternehmen der Textilindustrie am Beispiel La Seda de Barcelona (25.05.1981).

Um 1980 verfügte La Seda mit der Fabrik für Polyamidfasern in Alcalá de Henares bei Madrid und dem Werk für Rayon- und Polyesterfasern in El Prat bei Barcelona über zwei große Produktionsstandorte in Spanien. Zwar betrieb Enka in Spanien keine Grundlagenforschung, doch zumindest verfügte der Standort in El Prat über ein Textillabor, ein chemisches Labor sowie ein Ausrüstungs- und 588 Geschäftsbericht Enka 1977, S. 11. 589 Geschäftsbericht Enka 1977. 590 Puig, Bayer, besonders S. 132–157. La Seda war 1981 Gegenstand einer zeitgenössischen Untersuchung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Sozial- und Personalwesen multinationaler Unternehmen, die einen Einblick in die Personal- und Beschäftigtenpolitik zulässt. Vgl. RWWA 195-Z0-3212 ILO -Untersuchung über das Sozial- und Personal-Wesen multinationaler Unternehmen der Textilindustrie am Beispiel La Seda de Barcelona (25.05.1981). Vgl. hierzu auch: Marx, Reorganization.

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Färbereilabor. Ferner hatte man hier eine Kontrollspinnerei für die Herstellung von Spinnfaser-Garnen errichtet. Der Aufbau einer lokalen Forschungskompetenz diente keineswegs dem Ziel, Forschungsaktivitäten aus den Zentrallaboratorien in Wuppertal und Arnheim nach Spanien zu transferieren, vielmehr unterstützten sie primär die lokale Produktion und den Verkauf vor Ort. Insgesamt nahm La Seda 1980 mit 39 Prozent Marktanteil eine führende Stellung auf dem spanischen Chemiefasermarkt ein – bei Viskose-Filamentgarnen hatte sie nahezu eine Monopolstellung. Trotz dieser starken Marktstellung entwickelte sich La Seda um 1980 zu einem weiteren Problemfall innerhalb der Enka-Gruppe, zumal sich die Muttergesellschaft zu diesem Zeitpunkt außerstande sah, die spanische Tochter mit einer finanziellen Injektion zu stützen. Dabei machten sich der konjunkturelle Abschwung und die Schwierigkeiten der spanischen Textilindustrie nicht nur bei La Seda bemerkbar, vielmehr gerieten auch die Konkurrenzunternehmen in eine missliche Lage. Nur vor diesem Hintergrund ist zu erklären, warum die Konzernleitung von Rhône-Poulenc Anfang 1981 einen – letztlich folgenlosen – Vorstoß unternahm, die Probleme ihrer spanischen Tochtergesellschaft SAFA gemeinsam mit der Enka-Tochter La Seda zu lösen.591 Solche Kooperationsformen europäischer Chemiefaserhersteller waren typisch für die kriselnde Branche und fanden ihre stärkste Ausdrucksform im europäischen Strukturkrisenkartell.592 Für die 1960 gegründete britische Tochtergesellschaft British Enkalon Ltd. (BEL), die 1963 ein neues Chemiefaserwerk im nordirischen Antrim eröffnet hatte, verschärfte sich gleichfalls die Lage in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre infolge der westeuropäischen Chemiefaserkrise und billiger Chemie­ faserimporte aus den USA . Auch die Eingliederung der BEL in die Enka-Gruppe änderte daran wenig. Der Enka-Vorstand entwickelte daher in Zusammenarbeit mit dem BEL- und dem Akzo-Vorstand bis 1980 einen Sanierungsplan, der die Modernisierung der Produktionsanlagen für textile Polyesterfasern und Teppichgarn sowie eine engere Zusammenarbeit zwischen BEL und Enka vorsah. Die Enka-Leitung wollte die BEL vor allem retten, weil diese auf dem britischen Markt einen guten Ruf genoss und sich ausgezeichnet in die europäische Standortstrategie einfügte. Zudem waren die Produktionsbedingungen in Antrim im Grunde hervorragend.593

591 Im Fall einer Produktbereinigung hätte sich La Seda auf Polyester- und SAFA auf Polyamid-Produkte konzentrieren sollen. Vgl. Gelders Archief 3169/209 Ergänzungen zum Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (23.06.1981). 592 Marx, Cartel. 593 Geschäftsbericht Enka 1979, S. 10, 24; Gelders Archief 3169/202 Summary of a meeting between Board of Enka Glanzstoff Group, Karus, de Zeew (BEL) and Kujlaars (LSB) (16.05.1977); RWWA 195-C4-33 Mitteilung von Tückmantel und Schierbeek betr. Entwicklungsplan für British Enkalon 4/1980 (25.04.1980). Vgl. zur Entwicklung von BEL in den 1960er Jahren: Gelders Archief 3169/671 British Enkalon Ltd. (1972).

AKU / VGF / Akzo

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Doch schon ein Jahr später änderte der BEL-Verwaltungsrat angesichts fortlaufender Verluste, die bereits 1980 eine Kapitalzufuhr der Muttergesellschaft von sieben Mio. £ erforderlich gemacht hatten, seine Meinung und beschloss, Anfang 1981 die Produktion textiler und technischer Synthesegarne in Antrim einzustellen. Zugleich nahm die Unternehmensleitung Gespräche mit der nordirischen Regierung auf, mit deren Hilfe sie die Teppichgarn-Produktion und die ca. 1.100 Arbeitsplätze in Antrim erhalten wollte. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht machte die Fortführung der Teppichgarn-Produktion in Antrim wenig Sinn, doch nachdem bereits Courtaulds, DuPont und ICI Chemiefaserwerke in der Region geschlossen hatten, war die Schließung von Antrim – selbst aus Sicht des Enka-Managements – für den regionalen Arbeitsmarkt kaum zu verkraften. Umgekehrt sollte BEL keine Belastung mehr für Enka darstellen. Die Manager stellten daher die kaum zu erfüllende Forderung, die nordirische Regierung müsse nicht nur auf eine Rückzahlung der gewährten Subventionen und Darlehen verzichten, sondern auch für zukünftige Verluste einstehen. Angesichts dieser Verhandlungsposition konnten sich beide Seiten nicht auf einen Kompromiss verständigen. Daraufhin kam der BEL-Verwaltungsrat im Juli 1981 zu dem Ergebnis, die Fertigung im Werk Antrim Ende August 1981 vollständig auslaufen zu lassen. Zwar unterbreitete das Department of Commerce der irischen Regierung dem Enka-Vorstand im August nochmals ein Angebot (Mitarbeiterzuschüsse (employment grants) in Höhe von 1,3 Mio. £ für 750 Arbeitnehmer sowie einen Kapitalzuschuss (capital grants) in Höhe von 200.000 £), womit die Produktion ein halbes Jahr bis März 1982 fortgeführt werden konnte, gleichwohl hielt die Unternehmensleitung einen darüber hinausgehenden Erhalt des Standorts nicht für möglich und beschloss am 25. Februar 1982, das Werk Antrim Ende März 1982 endgültig zu schließen. Fortan vertrieb die Enka-Gruppe ihre Waren in Großbritannien über ein Verkaufsbüro in Leicester.594 594 Asperger, Glanzstoff, S. 140–142; Gelders Archief 3169/208 Kurzprotokoll der Sondersitzung des Enka-Vorstands (23.10.1980); Gelders Archief 3169/209 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (03.02.1981, 18.08.1981, 08.12.1981); Gelders Archief 3169/210 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (23.03.1982); Gelders Archief 3169/212 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (28.08.1984); RWWA 195-C4-34 Bekanntmachung des Enka-Vorstands betr. Produktionseinstellung bei British Enkalon 5/1981 (15.07.1981), Bekanntmachung des Enka-Vorstands betr. Enka U. K. Ltd. 16/1981 (31.12.1981); RWWA 195-C4-35 Bekanntmachung von Zempelin und Hutter 5/1981 (15.07.1981); RWWA 195-Z0-7989 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (01.03.1982); RWWA 195-Z0-8009 Niederschrift über die 297. (außerordentliche) Aufsichtsratssitzung der Enka AG (21.01.1981); RWWA 195Z0-8109 Enka Press Release: Produktionseinstellung bei British Enkalon (15.07.1981). Die nordirische Regierung hatte British Enkalon sowohl Darlehen (loans) als auch Zuschüsse (grants) gewährt. Während Enka die Darlehen inkl. Zinsen (4,4 Mio. £) zurückzahlte – auch um das Ansehen von Akzo / Enka in der Finanzwelt nicht zu beschädigen –, teilte sie der nordirischen Regierung mit, dass eine Rückerstattung der Zuschüsse (3,4  Mio. £) angesichts der finanziellen Lage der BEL nicht möglich sei. Vgl. Gelders Archief 3169/209 Ergänzungen zum Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (23.06.1981); RWWA 195-Z0-7989 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (01.06.1982, 18.01.1983).

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Obschon die Auslandsproduktion multinationaler Unternehmen in den 1970er Jahren enorm zunahm, zeigen sich hier zeitgleich stattfindende, gegenläufige Entwicklungen. Für die tief in der europäischen Chemiefaserkrise steckende Enka-Gruppe konnte es nicht um die Errichtung immer weiterer, neuer Produktionsstandorte gehen, vielmehr musste sie primär ihre Produktstruktur umstellen und die Zusammenarbeit mit den bestehenden Auslandsgesellschaften des Akzo-Konzerns verbessern. Die Aufgabe von Werken und die Veräußerung von Beteiligungen – kurzum Desinvestitionen – entwickelten sich in jener Zeit somit ebenfalls zu unternehmerischen Routineprozessen. Die Integration von La Seda und British Enkalon in die Enka-Gruppe verdienen vor allem mit Blick auf die Intention der Fusion von AKU und VGF 1969 Beachtung, denn ein wesentliches Motiv des damaligen Zusammenschlusses lag darin, das Konkurrenzverhältnis zwischen beiden Unternehmensteilen auf dem zusammenwachsenden europäischen Markt zu minimieren. Inzwischen war Großbritannien 1973 der EWG beigetreten und mit der »Nelkenrevolution« in Portugal und dem Tod Francos 1975 rückten auch die iberischen Länder näher an die Europäischen Gemeinschaften heran. Im März 1977 stellte Portugal einen Antrag zur Aufnahme in die EG, im Juli desselben Jahres folgte Spanien. Auch wenn sich ihr Beitritt noch bis 1986 hinziehen sollte, bestand damit schon 1977 eine realistische Perspektive für einen EWG -Beitritt, der von ökonomischen Akteuren antizipiert wurde.595 Für den Akzo-Konzern bzw. die Enka-Gruppe ging es zum einen darum, auch in den neuen EWG -Mitgliedsstaaten kein Konkurrenzverhältnis zwischen den Einzelgesellschaften aufkommen zu lassen; zum anderen musste für die spanische Tochtergesellschaft Vorsorge getroffen werden, da sie in absehbarer Zeit dem verschärften Wettbewerb des europäischen Marktes ausgesetzt war. Vor diesem Hintergrund beteiligte sich La Seda Anfang der 1980er Jahre insbesondere an einem von der spanischen Regierung initiierten Förder- und Modernisierungsprogramm (Plan de Reconversión Textil).596 Die Frage der Wettbewerbsfähigkeit von La Seda war ebenso ein Thema auf der Aktionärsversammlung der Enka AG im Juni 1986. Mit Verweis auf die Modernisierung der Anlagen versicherte Enka-Vorstandsmitglied Udo Stark den Anteilseignern nicht nur, dass sich die spanische Tochtergesell-

595 Herz / Jetzlsperger, Europäische Union, S. 46–47. 596 »La Seda de Barcelona deja de producir rayón a partir del 25 de diciembre«, in: El País, 24.12.1983; Puig, La Seda, hier S. 151–152; RWWA 195-B0-64 Referat von Hans Günther Zempelin anlässlich des Pressegesprächs (25.01.1983). Der Plan de Reconversión umfasste u. a. eine Reduzierung der Einfuhrzölle für Investitionsgüter, Investitionszuschüsse in Höhe von 15 % sowie Darlehen in Höhe von 30 % der Investitionssumme. La Seda wurde im Rahmen jenes Plan de Reconversión ferner zugestanden Personal abzubauen. Im Jahr 1981 wurde die Belegschaft um 500 Personen reduziert, in den folgenden zehn Monaten um weitere 150 Personen. Vgl. Gelders Archief 3169/210 Protokoll der EnkaVorstandssitzung (02.11.1982); RWWA 195-Z0-7989 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (02.11.1982).

AKU / VGF / Akzo

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schaft in einer guten Verfassung befinde, vielmehr kündigte er auch an, dass fortan »auch die spanischen Produktionsstandorte als europäische Standorte betrieben werden.«597 Mit der Eingliederung der westeuropäischen Standorte in die Enka-Gruppe 1977 vollzogen die Akzo- und Enka Glanzstoff-Führungen somit einen Schritt, der auf politischer Ebene schon stattgefunden hatte (Großbritannien) oder alsbald zu erwarten war (Spanien). Erneut ging die Änderung der polit-ökonomischen Rahmenbedingungen also mit einem Wandel der Unternehmensstruktur einher; umgekehrt trugen multinationale Unternehmen über den Ausbau ihrer europäischen Auslandsbeziehungen gerade zur ökonomischen Integration des europäischen Raums bei  – im Fall La Seda griffen sie dieser Entwicklung in gewisser Weise voraus. Es scheint daher sinnvoll, von sich überlappenden zeitlichen Entwicklungen auszugehen und die Wechselwirkungen zwischen europäischer Integration und Multinationalisierung in Westeuropa zu betonen. Dass dieser Schritt im Fall der britischen Tochtergesellschaft nicht dauerhaft Bestand hatte, lag vor allem an den europäischen Überkapazitäten in der Chemiefaserproduktion, die durch eine veränderte Nachfragestruktur und das Auftreten außereuropäischer Anbieter, aber auch durch eigene Erweiterungen und den Kapazitätsausbau der italienischen Hersteller begründet waren.598 Italien war zu Beginn der 1970er Jahre weniger von steigenden Dollarimporten als seine kontinentaleuropäischen Nachbarn betroffen, da die italienische Wirtschaft nicht unbedingt als sicherer Investitionshafen galt. Die Lira geriet um 1970 unter erheblichen Abwertungsdruck, gleichzeitig nahm der Kapitalexport enorm zu. Nachdem die Regierung bereits 1970 erste Maßnahmen zur Reduzierung des Kapitalabflusses erlassen hatte, führte sie von Januar 1973 bis März 1974 Kapitalkontrollen (dual exchange market) ein. Die italienische Ökonomie geriet immer stärker in einen Strudel von Inflation und Abwertung, so dass sich die Regierung 1975 veranlasst sah, Notmaßnahmen in Form einer Bardepotregelung zu erlassen, welche die Importe nach Italien beschränken sollten

597 RWWA 195-B4-1-139 Niederschrift über die ordentliche Hauptversammlung der Enka AG (27.06.1986). 598 In Frankreich errichtete Enka Glanzstoff angesichts der niederländischen und der westdeutschen Produktionsstandorte, der wegfallenden europäischen Binnenzölle und der Konkurrenz durch Rhône-Poulenc keine eigene Produktion und beschränkte sich auf den Aufbau einer Verkaufsorganisation. Im Jahr 1963 wurde Glanzstoff France S. A.R. L. mit Sitz in Paris als Verkaufsgesellschaft durch die VGF (90 %) und die Detex (Deutsche Textil Export GmbH) (10 %) gegründet. Die Detex war eine eigens für das Exportgeschäft der VGF 1963 gegründete Exportgesellschaft. Mit der Fusion von AKU / VGF wurden die Glanzstoff France und die bestehende Enka France zu einer Gesellschaft namens Enka Glanzstoff France S. A.R. L. zusammengeführt. Vgl. RWWA 195-E5-8-1 Denis de Ricci an Glanzstoff AG (25.06.1970); RWWA 195-E5-8-2 Notiz für Vaubel (o. D.), Ministère des Finances et des Affaires Économiques an Denis de Ricci (10.07.1963), Bestätigung der handelsregisterlichen Eintragung für die Detex (14.06.1963).

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und bis Frühling 1977 aufrechterhalten wurden.599 Glanzstoff hatte den Verkauf seiner Waren in Italien 1968 von einem externen Agentenbüro auf eine eigene Vertriebsgesellschaft (Glanzstoff Italiana S.r.l.) umgestellt. Mit der Fusion von AKU und Glanzstoff wurde auch das italienische Verkaufsbüro von Enka, das bis dahin als Abteilung der italienischen AKU-Tochter Italenka organisiert war, mit der Glanzstoff Italiana zur Enka Glanzstoff Italiana (EGI) verschmolzen. Ab 1973 brachten die neue Nachfrage- und Kostenstruktur infolge der ersten Ölpreiskrise, ein steigendes Zinsniveau sowie die aufflammende Inflation die geschäftlichen Planungen der italienischen Verkaufsorganisation vollkommen durcheinander.600 Die italienische Verkaufsgesellschaft schloss in den ersten Jahren ihres Bestehens stets mit Verlust ab. Insbesondere die Krise 1974/75 führte dazu, dass die Eigenmittel vollständig aufgebraucht waren und das Stammkapital in Höhe von 30 Mio. Lire 1975 komplett abgeschrieben werden musste. Daraufhin wurde der Gesellschaft neues Kapital zugeführt, indem die Anteilseigner das Stammkapital wieder auf 90 Mio. Lire erhöhten, wobei allein ca. 40 Mio. Lire für verbleibende Verluste genutzt werden mussten.601 Obschon sich die europäischen Über­ kapazitäten im Fall Italiens besonders deutlich zeigten, weil abbruchreife Werke hier mit staatlicher Hilfe am Leben gehalten wurden, mochte sich die Enka Glanzstoff-Gruppe nicht vom italienischen Markt zurückziehen. Dabei nahmen die Absatzmöglichkeiten einzelner Fasertypen auch in Italien unterschiedliche Verläufe. Während technische Industriegarne nur geringen konjunkturellen Schwankungen unterlagen, gestaltete sich der Absatz textiler Chemiefasern auch hier schwierig. Zudem wirkte sich ab 1977 die Abspaltung der belgischen Tochtergesellschaft Fabelta negativ auf das Italiengeschäft aus, da deren Acryl- und Zellulosefasern fortan nicht mehr über die Enka Italiana, wie die italienische Verkaufsgesellschaft ab Oktober 1977 hieß, vertrieben wurden.602

599 Bakker, Liberalization, S. 128–130; Marion, Exchange Rates; »Welthandel. Grenzen dicht«, in: Der Spiegel 12/1975, 17.03.1975, S. 67–68. Die italienische Regierung belastete fast alle Devisenzahlungen mit einem 50 % des Lira-Gegenwerts betragenden Bardepot, das für mehrere Monate nach Zahlung bei der Banca d’Italia zu halten war, um die Flucht aus der Lira einzudämmen. Das Unternehmen reagierte hierauf, indem es den Verkaufsapparat von einem Vertreter- auf ein Händlersystem umstellte und mit dem Ende der Einfuhrdepots wieder zum Vertretersystem zurückkehrte. 600 RWWA 195-E7-7-1 VB Mailand 1968–1978 (27.01.1978), Bilanzbericht der Glanzstoff Italiana (1968–1973). 601 RWWA 195-E7-7-1 Bilanzbericht der Enka Glanzstoff Italiana (1974), Protokoll der außerordentlichen Hauptversammlung der Glanzstoff Italiana s.r.l. (30.04.197). Allein 1974 betrug der Jahresverlust 61 Mio. Lire. 602 RWWA 195-E7-7-1 Bilanzbericht der Enka Glanzstoff Italiana (1975–1978). Insgesamt handelte es sich bei Enka Italiana auch Mitte der 1970er Jahre noch um eine recht überschaubare Auslandstochter. Ende 1976 bestand das Personal aus einem Direktor, sechs leitenden Angestellten und sieben Angestellten.

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Erst mit der Eingliederung der bisherigen Akzo-Tochter Italenka S.p.A. mit ihren ca. 350 Beschäftigten im Rahmen der Umstrukturierung 1977 wurde das Italiengeschäft der Enka-Gruppe deutlich ausgeweitet. Die Italenka stellte in einem Werk in Palestro Cellophan-Folien für Verpackungen her und war im Rahmen der Wirtschaftskrise ebenfalls in die Verlustzone gerutscht. Bereits 1976 sahen Teile des Akzo-Managements daher einen Verkauf der Italenka als sinnvoll an. Obwohl sich die Lage für die italienische Tochtergesellschaft 1978 aufhellte, blieb die Zukunft des Werks ungewiss – auch weil staatliche Umweltschutzauflagen die Produktion verteuerten.603 Ende 1980 schwächte sich der Folienmarkt erneut ab, so dass Italenka erneut Verluste anhäufte und das Grundkapital im Rahmen eines Verlustausgleichs im Oktober 1981 um 739,2  Mio. Lire herabgesetzt und anschließend durch Ausgabe neuer Aktien in Höhe von 785,4 Mio. Lire seitens der Muttergesellschaft Enka AG auf 2.356,2 Mio. Lire erhöht wurde.604 Ziel der Sanierung war es, die italienische Tochtergesellschaft »verkaufsfähig« zu machen bzw. weiterzuführen, bis sich eine »Verkaufschance« ergab.605 Die Enka-Unternehmensleitung war weder in der Lage noch Willens derartige Verluste dauerhaft zu tragen und sah die Schließung oder die Abgabe der Cellophan-Produktion daher als unumgänglich an. Ein Verkauf der Cellophan-Fertigung an Rhône-Poulenc scheiterte zunächst.606 Im Mai 1982 gab es aus Sicht des Enka-Vorstands daher nur noch zwei Möglichkeiten für Italenka: Entweder sollte die Cellophan-Produktion beendet, das Werk auf das Bedrucken von Folien (Converting) umgestellt und die Belegschaft von 275 auf 105 reduziert oder die Tochtergesellschaft vollständig geschlossen werden. Da sich bis dahin kein größeres westdeutsches Unternehmen durch Konkurs aus Italien zurückgezogen hatte und die italienischen Gewerkschaften im Fall einer Liquidation die Möglichkeit hatten, den Beschluss bei fortlaufenden Lohn- und Gehaltszahlungen für ein bis eineinhalb Jahre zu sistieren, votierte der Enka-Vorstand für die erste Variante. Mit der Beendigung der Cellophan-Produktion waren Schließungskosten von etwa 12 Mio. DM verbunden, zudem mussten für eine notwendige Druckmaschine weitere 3,5 Mio. DM aufgebracht werden. Sowohl die unter Druck geratenen Sozialpartner als auch die öffentliche Hand stimmten jenem Sanierungsplan zu, der insbesondere auf einem Vertrag mit dem belgischen Chemiekonzern Union Chimique Belge (UCB) beruhte, der 20 Prozent der Italenka-Anteile gegen die Lieferung von Converting-Know-how übernehmen und Italenka fortan mit Cellophan beliefern sollte. Damit die Italenka überhaupt 603 Gelders Archief 3169/201 Protokoll der Vorstandssitzung Enka Glanzstoff (15.11.1976); Geschäftsbericht Enka 1978, S. 22; Geschäftsbericht Enka 1979, S. 23. 604 Geschäftsbericht Enka 1981, S. 21. 605 Gelders Archief 3169/208 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (27.05.1980); Gelders Archief 3169/209 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (11.08.1981). 606 Gelders Archief 3169/209 Ergänzungen zum Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (11.05.1981).

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wieder handlungsfähig wurde, mussten aber zunächst die Schulden beseitigt werden. Im Zuge eines weiteren Verlustausgleichs im Dezember 1982 wurde das Kapital daher nochmals um 2.148,3 Mio. Lire herabgesetzt und durch Ausgabe neuer Aktien auf 1.039,5 Mio. Lire aufgestockt.607 Im Jahr 1983 lief daraufhin die Cellophan-Produktion in Palestro aus, und die verbliebenen Aktivitäten wurden in der Italenka Film S.p.A. mit Sitz in Mailand zusammengefasst. Ein Jahr später ging die neue Druckmaschine in Betrieb und die UCB (18,9 %) wurde im Zuge einer Kapitalerhöhung neben der Enka AG (81,1 %) an der neuen Italientochter beteiligt.608 Damit schien der angedachte Sanierungsplan Wirklichkeit zu werden, doch lange hielt diese Konstruktion nicht. Da die Enka AG kein eigenes Know-how auf dem Gebiet des Foliendrucks hatte und nicht dauerhaft von UCB abhängig sein wollte, trennte sie sich 1986 von ihrer Italenka-Beteiligung.609 Weder die Firma Wolff (Walsrode) noch British Cellophane (Courtaulds) oder UCB zeigten Interesse an einer Übernahme, so dass Enka schließlich Gespräche mit der Sassoli-Gruppe aufnahm. Obschon für den Verkauf der Italenka in den Verhandlungen mit Sassoli anfänglich nur eine Zuzahlung von 3,5 Mio. DM vorgesehen war, erklärte sich der Enka-Vorstand schließlich mit einem zu zahlenden Betrag von 6,5  Mio. DM einverstanden, da die Gesellschaft im Grunde »unverkäuflich« war und eine Liquidation aufgrund teurer Sozialplanzahlungen zu einem Fehlbetrag von 7 bis 13 Mio. DM geführt hätte.610 Die Enka Glanzstoff- bzw. Enka-Gruppe war in gewisser Weise ein multinationales Chemiefaserunternehmen mit Schwerpunkt in Westeuropa innerhalb eines breiter aufgestellten, multinationalen Chemiekonzerns. Sie war daher stärker von der westeuropäischen Chemiefaserkrise als der gesamte AkzoKonzern oder Großkonzerne wie Bayer oder ­Hoechst betroffen. Auch wenn das 1969 vereinbarte Unternehmensmodell schon vorher Risse bekam, blieb die Ausgewogenheit zwischen dem westdeutschen und dem niederländischen Unternehmensteil bis 1977 ein wesentliches Merkmal der Gruppe. Dies galt sowohl hinsichtlich der Machtverteilung in den Führungsorganen als auch in Bezug auf den Kapazitätsabbau. Für Enka Glanzstoff bzw. Enka nahmen welt-

607 Geschäftsbericht Enka 1982, S. 24; Gelders Archief 3169/210 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (04.05.1982, 17.05.1982); RWWA 195-Z0-7989 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (10.05.1982, 17.05.1982). Auch die italienische Verkaufsgesellschaft Enka Italiana S.r.l. musste angesichts neuer Verluste 1983 nochmals saniert werden. Vgl. RWWA 195-Z0-7989 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (29.03.1983). 608 Gelders Archief 3169/211 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (12.07.1983, 15.11.1983); Geschäftsbericht Enka 1984, S. 30–31. Die Enka AG war zunächst mit 71 % und die Italenka S.p.A. mit 29 % an der neu gegründeten Italenka Film S.p.A. beteiligt. Vgl. Geschäftsbericht Enka 1983, S. 28. 609 Geschäftsbericht Enka 1985, S. 32–33; Gelders Archief 3018/99 Italenka S.p.A. (1981–1988). 610 Gelders Archief 3169/213 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (21.05.1985, 25.06.1985, 23.07.1985, 26.11.1985, 10.12.1985).

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wirtschaftliche Verflechtungen im Ein- wie im Verkauf in den 1970er Jahren gleichfalls zu, doch lässt sich hier aufgrund der strukturellen Krise der westeuropäischen Chemiefaserindustrie kein gleichwertiges Expansionsmodell zur Internationalisierung der großen westdeutschen Konzerne erkennen. Die Abgabe der Fabelta-Beteiligung 1976/77, die Übertragung des Werks in St. Pölten auf eine Auffanggesellschaft des österreichischen Staates 1983 und der Verkauf der Italenka 1986 weisen vielmehr darauf hin, dass Desinvestitionen neben Werksschließungen – wie bei British Enkalon 1981 – für die im Umbau befindliche Chemiefasergruppe großes Gewicht hatten.611 Gleichzeitig nahm die geografische Reichweite der Gruppe über die Angliederung der westeuropäischen, indischen und lateinamerikanischen Beteiligungen der Enka International zu. Die Aneignung neuer Räume und der Rückzug aus Märkten fanden somit parallel statt. Zwar handelte es sich bei der Produktion zahlreicher Chemiefasersorten um ausgereifte technologische Verfahren, die auch in anderen Weltregionen als in Westeuropa zum Einsatz kamen, doch die Enka Glanzstoff-Führung ließ sich hier nicht auf einen ruinösen Preiskampf

611 RWWA 195-B0-64 Referat von Hans Günther Zempelin anlässlich des Pressegesprächs (25.01.1983), Referat von Hans Günther Zempelin anlässlich der Hauptversammlung der Enka AG (27.06.1983). Das Werk in St. Pölten (Österreich) war seit 1977 mehrfach Gegenstand von Schließungsplänen. Zwar wurden mehrere Stilllegungsbeschlüsse aufgehoben – weil der Konkurrent Viscosuisse in Emmenbrücke (Schweiz) seine Produktion für textile Viskose-Filamentgarne Mitte 1980 stilllegte und Courtaulds ein Werk schloss –, doch wollte die Unternehmensleitung den Betrieb mittelfristig nicht weiterführen. Sie nahm daher Gespräche mit der österreichischen Bundesregierung hinsichtlich möglicher Beihilfen oder einer Übernahme durch den österreichischen Staat auf. Die 1979 angebotene staatliche Unterstützung in Höhe von 10–17 Mio. österreichischen Schilling lehnte der Enka-Vorstand als völlig unakzeptabel ab, da sie sich nur »im Rahmen der üblichen staatlichen Förderungsmaßnahmen« bewege und nicht der von Bundeskanzler Bruno Kreisky zugesagten, großzügigen Hilfe entspreche. Im Jahr 1981 wurde die Erste Österreichische Glanzstoff-Fabrik AG in Enka Austria AG umbenannt. Nachdem sich die finanziellen Probleme 1981 erneut zugespitzt hatten und ein Verkauf an die österreichische Lenzing-Gruppe gescheitert war, vereinbarte Akzo mit den österreichischen Behörden eine Übertragung an die staatliche Gesellschaft für Bundesbeteiligungen an Industrieunternehmen mbH (GBI) – einer Art staatlicher Insolvenzholding zur Sanierung von Großunternehmen. Erst 1988 erfolgte der Verkauf an die Lenzing  AG . Vgl. Gelders Archief 3169/206 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (13.02.1979, 08.05.1979, 12.06.1979, 19.06.1979, 17.07.1979) [Zitat]; Gelders Archief 3169/210 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (15.06.1982, 13.07.1982, 19.10.1982, 21.12.1982); Gelders Archief 3169/211 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (04.01.1983, 29.03.1983); Gelders Archief 3169/671 »75 Jahre Erste Österreichische Glanzstoff-Fabrik AG 1904–1979«, in: Sondernummer der Werkszeitung Reyon Post (1979), S. 33–34; Geschäftsbericht Enka 1983, S. 8; RWWA 195-B4-1-136 Niederschrift über die ordentliche Hauptversammlung der Enka AG (27.06.1983); RWWA 195-Z0-7987 Ergänzungen zum Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (08.05.1979, 03.07.1979); RWWA 195-Z0-8109 Informatie voor de leidinggevende funktionarissen van Enka Nr. 78/4 (13.07.1978); RWWA 195-10-1-76 Kurzberichte (1978–1982).

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mit anderen Wettbewerbern ein, sondern setzte auf die Entwicklung neuartiger, anspruchsvoller, insbesondere technischer Chemiefasern, deren Verwendungsmöglichkeiten nicht auf die niedergehende westeuropäische Textilindustrie begrenzt waren. Die Produktionsanlagen in Brasilien und anderen lateinamerikanischen Staaten waren somit weniger Ausdruck einer Verlagerungsstrategie oder als Gegenoffensive zur Konkurrenz aus Asien zu verstehen, vielmehr waren sie auf die Nachfrage in den entsprechenden Ländern gerichtet. Auf der Ebene des Akzo-Konzerns hatte das Auslandsgeschäft – vor allem mit Blick auf die USA – nochmals einen anderen Stellenwert.612

3.3.4 Die Internationalisierung des Akzo-Konzerns Auf Konzernebene zeigte sich der Drang zur Diversifizierung der Produktstruktur noch deutlicher: Mit dem Zusammenschluss von AKU / Glanzstoff und KZO war der Chemiefaseranteil am Umsatz auf etwa die Hälfte gefallen. Die andere Hälfte erwirtschaftete Akzo mit Salz, chemischen wie pharmazeutischen Erzeugnissen und Konsumartikeln. Der Bereich der Konsumartikel umfasste Nahrungsmittel (Fleischwaren), Haushaltswaren (Wasch- und Reinigungs­mittel), Körperpflegemittel sowie andere Verbraucherprodukte.613 Bis 1980 sank der Umsatzanteil von Chemiefasern bei Akzo auf 30 Prozent. Andere Divisionen und Erzeugnisse gewannen in dieser Phase entsprechend an Gewicht und jenes Wachstum fand vornehmlich außerhalb der Niederlande statt.614 Expansion nach der Konzerngründung Bereits im Fusionsjahr 1969 erweiterte der Salz-Chemie-Sektor, auf dem KZO traditionell stark war, sein Auslandsgeschäft über den Erwerb einer 51-ProzentBeteiligung an der International Salt Company in den USA, einer der beiden 612 Seit Mitte der 1970er Jahre zeigten mehrere osteuropäische Staaten (bspw. die DDR , die UdSSR , die ČSSR und Jugoslawien) sowie China Interesse an westlichen Verfahren und Maschinen zur Herstellung von Chemiefasern und richteten entsprechende Anfragen an Akzo International bzw. Enka Glanzstoff. Der Enka Glanzstoff-Vorstand musste daher die grundsatzpolitische Entscheidung treffen, ob der Verkauf der neuesten Technologie in diese Regionen im Interesse des Unternehmens sei. Grundsätzlich war der Vorstand hierzu zwar bereit, doch wurden Exportgeschäfte in jene Regionen als Hauptinteresse definiert. Vgl. Gelders Archief 3169/201 Protokoll der Vorstandssitzung Enka Glanzstoff (17.05.1976); Gelders Archief 3169/202 Protokoll der Vorstandssitzung Enka Glanzstoff (08.08.1977); Gelders Archief 3169/206 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (13.02.1979, 11.09.1979); Gelders Archief 3169/209 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (24.03.1981, 11.05.1981, 23.06.1981, 24.11.1981, 08.12.1981); Gelders Archief 3169/210 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (19.10.1982). 613 Geschäftsbericht Akzo 1969, S. 9, 16–17. 614 Geschäftsbericht Akzo 1980, S. 10.

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Tabelle 24: Akzo-Konzernstruktur (1969) Schwerpunktgruppen

Divisionen

Niederlassungen

Chemiefasern und verwandte Erzeugnisse

Enka Glanzstoff

Niederlande, Bundesrepublik, Belgien, Italien, Österreich, Schweiz

Enka International

USA , Großbritannien, Spanien, Argen-

Salz-Chemie-Division

Niederlande, USA , Bundesrepublik, Dänemark, Niederländische Antillen, Südafrika

Chemische Division

Niederlande, Bundesrepublik, Frankreich, Italien, Großbritannien, USA , Brasilien, Mexiko

Coatings-Division

Niederlande, Bundesrepublik, Frankreich, Belgien, Italien, Österreich, Afrika

Pharmazeutische Division

Niederlande, Belgien, Bundesrepublik, Frankreich, Spanien, Großbritannien, USA , Argentinien, Brasilien, Mexiko, Indien, Iran, Japan

Lebensmittel-Division

Niederlande, Belgien, Frankreich, Mexiko

HaushaltswarenDivision

Niederlande, Belgien, Dänemark, Schweden, Spanien

Kosmetische Division

Niederlande, Großbritannien, USA

chemische und pharmazeutische Erzeugnisse

Konsumartikel

tinien, Kolumbien, Brasilien, Mexiko, Indien

Quelle: Geschäftsbericht Akzo 1969, S. 16–17.

größten Salzproduzenten in den USA . Neben dem US -Geschäft umfasste der Salzchemiebereich der Akzo die niederländischen Betriebe in Hengelo und Delfzijl sowie die westdeutschen Salzanlagen der Norddeutschen Salinen GmbH. Mit zehn Millionen Tonnen Salz hatte der Akzo-Konzern 1970 einen Weltmarktanteil von sieben Prozent. Anfang 1971 erwarb er außerdem eine Mehrheitsbeteiligung an einem der größten brasilianischen Salzproduzenten (Companhia Industrial do Rio Grande do Norte (CIRNE)), der etwa 15 Prozent des brasilianischen Bedarfs an Industrie- und Speisesalz abdeckte.615

615 Geschäftsbericht Akzo 1969, S. 11, 18, 32; Geschäftsbericht Akzo 1970, S. 8, 23; Geschäftsbericht Akzo 1971, S. 15. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der International Salt Company Edward Laton Fuller wurde nach der Übernahme in den Akzo-Aufsichtsrat gewählt. Vgl. Geschäftsbericht Akzo 1970, S. 4.

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

Darüber hinaus übernahm der Akzo-Konzern, der in den Niederlanden bereits die Sikkens-Farbengruppe (Sikkens Lakfabrieken N. V.) kontrollierte, im März 1969 die Lesonal-Werke Chr. Lechler & Sohn (Stuttgart) mit Produktionsstätten für industrielle Farben und Lacke in der Bundesrepublik und Österreich sowie Anfang 1970 das französische Farbunternehmen Astral S. A. und stieg damit neben der BASF zu einem der größten Farben- und Lackhersteller in Westeuropa auf. Durch die Kombination von Sikkens-Lesonal-Astral mit ihren zahlreichen Tochtergesellschaften in Westeuropa und Afrika ergaben sich zum einen Synergieeffekte in der Forschung; zum anderen konnte Akzo auf diese Weise ein breites Sortiment von industriellen Lacken  – insbesondere für die Auto- und Flugzeugindustrie – bis hin zu Anstreichprodukten für den Privatverbrauch anbieten.616 Im Jahr 1971 baute Akzo seine Position auf dem Weltfarbenmarkt durch die Übernahme des argentinischen Farbproduzenten Miluz und des italienischen Farbenbetriebs Colorificio Linvea S.p.A. weiter aus; 1974 kam der brasilianische Farbhersteller Companhia de Tintas e Vernizes R. Monte­sano (Wanda) und eine Beteiligung an der thailändischen Firma Metropolitan Paint of Bangkok hinzu.617 Tabelle 25: Übersicht über die Forschungs- und Entwicklungszentren von Akzo (1975)  

Niederlande

Bundesrepublik

Frankreich

Groß­ britannien

Chemiefasern



 





 

 

 

 



 



 

Salz- und Grundchemikalien



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Spezialchemikalien







 

 

 



 

 

 



 

Coatings







 



 

 

 

 

 

 

 

Pharmazeutika







 

 

 



 

 

 



 

Konsumprodukte





 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Corporate Research



 



 

 

 

Spanien

 

USA

 

Quelle: Annual Report Akzo 1975, S. 32. (● über 150 Beschäftigte, ○ unter 150 Beschäftigte)

616 Geschäftsbericht Akzo 1969, S. 11, 18, 35–36. Vgl. zur Vorgeschichte von Sikkens: Steffen, Answers, S. 49–56. In der Bundesrepublik gründete Akzo mit der Robert Bosch GmbH das Joint Venture Resicoat GmbH, um gemeinsam auf das Gebiet des »powder coating« (Einbrennlackpulver) vorzudringen. Vgl. Geschäftsbericht Akzo 1971, S. 19. Vgl. zur Stellung und Struktur von Akzo Coatings: Geschäftsbericht Akzo 1977, S. 34–40. 617 Geschäftsbericht Akzo 1971, S. 18, Annual Report Akzo 1974, S. 32–33.

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Jene internationale Struktur der einzelnen Divisionen – wie bei Chemiefasern, Salz oder Coatings  – war typisch für den multinationalen Akzo-Konzern. Während der Unternehmensschwerpunkt der westdeutschen Konzerne in den 1960er und 1970er Jahren in der Regel am Hauptsitz des Mutterunternehmens lag, galt dies für Akzo nur eingeschränkt, auch wenn Akzo auf allen Gebieten in den Niederlanden über Niederlassungen verfügte. Die Akzo-Hauptverwaltung in Arnheim fungierte stärker als Leverkusen oder Ludwigshafen als Holding für die zahlreichen Untergesellschaften und weniger als Produktionszentrum eines multinationalen Konzerns. Ganz deutlich zeigte sich dies bei der Bildung der internationalen Enka-Gruppe 1977, die fortan aus Wuppertal gesteuert wurde.618 In ähnlicher Weise war die N. V. Organon mit ihren zahlreichen Arzneimittelpräparaten, die weltweit in 30 Ländern Niederlassungen besaß, bei der Konzerngründung die wichtigste Gesellschaft der pharmazeutischen Division. Empfängnisverhütungsmittel, Anabolika, Diagnostika und Alkaloide stellten das Herzstück der Pharmaproduktion dar  – Akzo stellte bei Anabolika 1970 etwa 40 Prozent der Weltproduktion her. Auch der Pharmabereich wurde nach der Gründung von Akzo noch weiter dezentralisiert. Ähnlich zu westdeutschen Pharmaherstellern wurden vor allem die Abfüll- und Verpackungsbetriebe noch internationaler gestreut, weshalb Akzo 1969 u. a. einen mexikanischen Produktionsbetrieb übernahm und in Spanien, Belgien, Indien und Indonesien pharmazeutische Fertigungsanlagen aufbaute, wohingegen die Forschung an der niederländischen Zentrale angesiedelt blieb.619 Ferner erwarb Akzo im April 1969 das niederländische Lebensmittelunternehmen Koninklijke Fabrieken T. Duyvis Jz. N. V. mit seinen Markenartikeln bei Ölen, Soßen und Nüssen sowie im Oktober desselben Jahres den schwedischen Hersteller von Zellstoffpapiertüchern Lilla Edets Pappersbruks AB und verstärkte damit seinen Konsumartikelschwerpunkt.620 Die Fusionen 1969 und jene rasante Expansion außerhalb des Chemie­ faserbereichs 1969/70 hatten zur Folge, dass der Gemischtwarenladen Akzo im Jahr 1971 nur noch eingeschränkt mit der AKU / Glanzstoff-Gruppe von 1968 vergleichbar war. Hier war innerhalb von zwei Jahren ein vollkommen neuer westeuropäischer Chemiekonzern entstanden. Es blieb aber nicht bei der Angliederung neuer Bereiche, vielmehr ging die Konzernleitung gleichzeitig dazu über, Produktbereiche, die sich nicht in die langfristige Unternehmensstrategie einfügten, abzustoßen, auch wenn eine derartige übergeordnete Zielsetzung bis618 Der Großteil der Forschungs- und Entwicklungstätigkeit fand innerhalb der Divisionen statt. Im Rahmen eines zentralen, von Akzo Research & Engineering N. V. geleiteten Corporate Research-Programms wurden die Tätigkeiten der einzelnen Forschungsabteilungen koordiniert. Vgl. Asperger, Glanzstoff, S. 29–30; Geschäftsbericht Akzo 1971, S. 7, 39. 619 Geschäftsbericht Akzo 1969, S. 37; Geschäftsbericht Akzo 1970, S. 32–33. Vgl. zur Entwicklung der Organon seit 1947 und dem Problem steigender Gesundheitskosten in den 1970er Jahren aus Sicht des Akzo-Konzerns: Annual Report Akzo 1976, S. 32–35. 620 Geschäftsbericht Akzo 1969, S. 11, 18, 43–44.

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weilen schwer zu erkennen war und der Akzo-Konzern in seinen Anfangsjahren stärker einer Beteiligungsholding mit zahlreichen Partikularinteressen auf Divisionsebene glich. In diesem Kontext wurden 1969 die Gebiete der Industriegase, Kartoffel-Chips und Fischkonserven veräußert; im Jahr 1970 folgte die Abgabe der Zinkinteressen und 1971 der Verkauf der Fleischwarenbetriebe an Unilever N. V. sowie die Verschmelzung der Düngemittelbetriebe mit DSM .621 Der Verkauf jener Beteiligungen war einerseits Folge der Fusion zweier recht gleich starker Unternehmensgruppen (AKU / Glanzstoff und KZO), die eine Bereinigung der Produktstruktur im Sinne einer neuen Gesamtstrategie erforderlich machte; andererseits war sie Ausdruck eines übergeordneten Trends zunehmender Desinvestments. In diesem Sinne gewannen der Zukauf und die Abgabe von Unternehmensbeteiligungen – insbesondere im Ausland – seit den 1970er Jahren auch bei den übrigen westeuropäischen Fallbeispielen an Bedeutung. Im Fall des Akzo-Konzerns wurde dieser Bedeutungsgewinn von Desinvestments vor allem um 1980 deutlich, als mit Cyanenka (Spanien), Italenka (Italien), Barmag (Bundesrepublik), Brand-Rex (Großbritannien) und mehreren Untergesellschaften von Enka International (Petroquímica Sudamericana S. A., PSSA (Argentinien), Enkador (Ecuador), Cobafi (Brasilien) und Century Enka (Indien)) eine ganze Reihe größerer in- wie ausländischer Tochtergesellschaften auf einer Akzo-Liste möglicher Verkäufe standen und sich für die Enka AG der mit einem negativen Image behaftete Spottname »Ausverkauf AG« verbreitete.622 Aus einer globalen Perspektive stellte sich die Entwicklung der Nachfrage nach Chemiefasern in den 1970er Jahren weit weniger dramatisch dar als für die auf den EWG -Raum ausgerichtete Enka Glanzstoff-Gruppe. Dies galt auch für den Akzo-Konzern, der über die American Enka Corporation und die von der Enka International (ab 1972 Akzo International B. V.) gehaltenen Chemiefaserbeteiligungen zu Beginn der Dekade noch umfangreiche Kapazitäten in den USA, Großbritannien und Spanien aufbaute.623 »The structural problems in 621 Geschäftsbericht Akzo 1969, S. 11; Geschäftsbericht Akzo 1970, S. 8–9. Akzo hielt 40 % an der Verenigde Kunstmestfabrieken Mekog-Albatros N. V., die mit dem Düngemittelbereich von DSM vereinigt wurde. Am neuen Unternehmen Unie van Kunstmest Fabrieken B. V. war Akzo zunächst noch mit 16 % beteiligt, gab diese Beteiligung 1973 aber schließlich vollständig an DSM ab. Das Akzo-Management begründete den schrittweisen Rückzug mit weltweiten Überkapazitäten. Vgl. Geschäftsbericht Akzo 1971, S. 16; Geschäftsbericht Akzo 1973, S. 8. 622 Gelders Archief 3169/209 Ergänzungen zum Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (07.07.1981), Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (24.03.1981, 18.08.1981). Im Fall der Cobafi, einem Hersteller technischer Garne, erfolgte kein Verkauf, vielmehr erhöhte Enka ihren Anteil 1989 von 36 auf 82 %. Vgl. Enka Geschäftsbericht 1989, S. 6. 623 Ab 1972 übernahm die neue Akzo International B. V. neben der Koordination der Chemiefaseraktivitäten außerhalb der EWG auch die Projektbetreuung anderer Produktbereiche. So baute die Akzo International mit den Divisionen und inländischen Kapitalgebern bspw. 1973 in Brasilien das Geschäft der drei Hauptproduktgruppen kräftig aus und gründete hierfür die brasilianische Landesgesellschaft Akzo Ltda in São Paulo. Vgl. Geschäftsbericht Akzo 1972, S. 7; Geschäftsbericht Akzo 1973, S. 4.

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the Western European industry are certainly not indicative of the global growth potential of textile products. Consumption of textile products will continue to increase as a result of the growth in world population.«624 Während Akzo im EWG -Raum daher kaum mehr in neue Chemiefaserkapazitäten investierte, errichtete die American Enka Co. in Clemson (South Carolina) 1971/72 zwei neue Werke für Teppich- und Textilgarne. Hier zeigt sich, dass Entscheidungen über Investitionen im Chemiefaserbereich nur teilweise entlang der Grenze von Industrie- und Schwellenländern verliefen. Im Vergleich zu weiten Teilen Westeuropas stufte das Akzo-Management die USA unter Kostengesichtspunkten und hinsichtlich der Absatzmöglichkeiten zu Beginn der 1970er Jahre wesentlich attraktiver ein. In diesem Zusammenhang besuchte Akzo-Vorstandsmitglied Zempelin im Herbst 1973 im Rahmen einer vom Arbeitsring der Arbeitgeberverbände der Deutschen Chemischen Industrie organisierten Studienreise, an der auch German Broja (Bayer) und Erhard Bouillon (­Hoechst) teilnahmen, die Vereinigten Staaten, um sich über sich über die Haltung der Gewerkschaften in der Tarifpolitik und die Entwicklung der Löhne und Gehälter in den USA zu informieren.625 Gleichwohl erwartete die Konzernleitung besonders in den Schwellenländern Indien, Mexiko, Kolumbien, Argentinien und Brasilien einen Anstieg des Chemiefaserverbrauchs. Deshalb baute sie vor allem dort neue Fertigungsanlagen auf – mit dem Effekt eines verstärkten Wettbewerbs für ihre exportorientierten westeuropäischen Werke, die lediglich spezielle Fasertypen, die nicht vor Ort produziert wurden, dorthin ausführen konnten.626 Die Erschließung neuer Märkte war ein wesentliches Motiv für den Aufbau neuer Fertigungsanlagen außerhalb des deutsch-niederländischen Raums. In Brasilien (Companhia Bahiana de Fibras (Cobafi)) und Indonesien (Indonesia Enka Fibre Industry) gründete Akzo 1974 Joint Ventures mit einheimischen Kapitalgebern. In Nigeria beteiligte sich der Konzern an einem bestehenden Unternehmen (Nichemtex Industries). Die Einbeziehung lokaler Kapitaleigner war dabei weniger dem Bedürfnis geschuldet, diese an der Entwicklung der ausländischen Tochtergesellschaft teilhaben zu lassen oder grundsätzlich die Entwicklung einer eigenständigen industriellen Basis im Ausland voranzutreiben, vielmehr resultierte sie aus nationalen Regelungen in Bezug auf ausländische 624 Annual Report Akzo 1975, S. 15. 625 Arbeitsring der Arbeitgeberverbände der Deutschen Chemischen Industrie, Entwicklungen. 626 Geschäftsbericht Akzo 1970, S. 19–21; Geschäftsbericht Akzo 1971, S. 12–14, Geschäftsbericht Akzo 1972, S. 6–7. »Der Vorstand ist der Auffassung, daß die Erhaltung eines Kerns in Argentinien wünschenswert ist. Dies liegt ebenfalls voll auf der Linie unserer Strategie, die internationalen Aktivitäten vor allem auf Lateinamerika zu konzentrieren.« Gleichwohl sah der Enka-Vorstand nach dem Rückzug seines Partners aus dem argentinischen Joint Venture PSSA 1981 keine Möglichkeit, den Betrieb alleine fortzuführen, und verkaufte ihn 1983. Vgl. Gelders Archief 3169/208 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (10.06.1980) [Zitat]; Gelders Archief 3169/209 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (07.07.1981); Gelders Archief 3169/211 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (28.06.1983).

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Investitionen und der Erwartung, mit einheimischen Geldgebern und Managern leichter auf den lokalen Markt vordringen zu können. Das Engagement in Nigeria war nicht zuletzt auf einen Schwenk in der Investitionspolitik der Akzo International vom Iran nach Nigeria zurückzuführen, da man nicht länger mit der Vielzahl US -amerikanischer und westdeutscher Unternehmen im Iran konkurrieren wollte.627 Lohnkosten, steuerliche Erwägungen, Transportkosten, die Rohstoffversorgung, die Zoll- und Handelspolitik des betreffenden Landes sowie der Standort der Abnehmerindustrie waren für Zempelin entscheidende Gesichtspunkte in der Investitionspolitik multinationaler Unternehmen. Mit einem Werk in Indonesien folgte Akzo in gewisser Weise dem Weg der Textilindustrie. Im Hinblick auf jene Investition in Indonesien verwies Zempelin 1975 auf die Restriktionen, denen sich multinationale Unternehmen hierbei gegenübersahen, denn bereits bei Gründung der Gesellschaft musste ein Plan vorgelegt werden, nach welchem ein indonesisches Management nach Ablauf einiger Jahre die Leitung der Firma übernehmen sollte. Die Steuerung ausländischer Regierungen und Staaten durch multinationale Unternehmen hielt Zempelin daher für eine geradezu absurde Idee.628 Darüber hinaus machte der Akzo-Vorstand seit Anfang der 1970er Jahre deutlich, dass die geografische Streuung der Investitionen zunehmend von der Kostenentwicklung in einzelnen Ländern abhängen würde. »Bei der Wahl des Standortes für neue Aktivitäten haben die Kostenerwägungen häufig sogar ausschlaggebende Bedeutung.«629 Dabei konnte ein Standort (mit ähnlich hohen Lohn- und Energiekosten) für verschiedene Produkte und Verfahren unterschiedlich attraktiv sein. So beklagte der Akzo-Vorstand 1972 die günstigen Polyestergarneinfuhren aus Niedrigpreisländern nach Großbritannien und machte sie für die schlechte Ergebnissituation seiner britischen Tochtergesellschaft British Enkalon verantwortlich. Insbesondere Japan wurde jener Ländergruppe zugeordnet.630 Aufgrund des hohen japanischen Zolls und der starken japanischen Konkurrenz sahen die Akzo-Manager denn auch keine großen Chancen für den Export von Chemie­ fasern nach Japan oder den Aufbau einer eigenen Fertigung vor Ort; entspre627 RWWA 195-A6-22 Personal Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board of Management of Akzo (27.02.1974, 29.03.1974, 29.08.1974); RWWA 195-A9-10 Verslag Raad van Bestuur Akzo (25.10.1974); Annual Report Akzo 1974, S. 8. »Unsere geschäftliche Tätigkeit im Ausland setzt voraus, daß wir die dortigen nationalen Interessen und gesellschaftlichen Verhältnisse anerkennen. Akzo bevorzugt vor allem Beteiligungen und Kooperationen, d. h. eine Zusammenarbeit mit einheimischen Partnern, denen ein wichtiger Platz im Management eingeräumt wird und Beteiligungen am Kapital angeboten werden.« Vgl. RWWA 195-A9-13 Eröffnungsrede von G. Kraijenhoff vor der Hauptversammlung der Akzo N. V. (09.05.1974). 628 RWWA 195-Y8-22 Hans Günther Zempelin: »Stellung und Aufgabe multinationaler Unternehmen in der Wirtschaft«, in: Kautschuk + Gummi. Kunststoffe 28 (12), 1975, S. 709–713. 629 Geschäftsbericht Akzo 1971, S. 6. 630 Geschäftsbericht Akzo 1972, S. 23.

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chend besaßen weder Enka Glanzstoff noch Akzo International Produktionsstätten in Japan.631 Bei chemischen Produkten sah die Situation hingegen anders aus, denn hier entwickelte sich Japan neben der EWG zu einem bedeutenden Produktionsstützpunkt für den Akzo-Konzern. Aufgrund der restriktiven Marktzugangschancen wählte Akzo – wie andere Konzerne – hier ebenfalls den Weg des Joint Ventures und gründete um 1970 mit japanischen Unternehmen die Kayaku Noury K. K. zur Produktion organischer Peroxide für die Kunststoffindustrie sowie die Nippon Ketjen K. K. zur Herstellung von Entschwefelungskatalysatoren für die Erdölindustrie; über die US -Tochter Armak Co. war Akzo zudem zu 50 Prozent an der japanischen Lion Armour Company K. K. (später Lion Akzo) beteiligt.632 Die japanischen Produktionsbedingungen und Absatzmöglichkeiten für Chemiefasern und chemische Spezialprodukte unterschieden sich somit fundamental voneinander. Das Beispiel von Akzo in Japan lässt daher erkennen, wie im Auswahlprozess für neue Produktionsstätten ein ganzes Potpourri von Standortkriterien zum Tragen kam. Akzo in den USA: Die Gründung von Akzona Wie bei Bayer, BASF und ­Hoechst kam dem US -Markt neben Westeuropa auch im Falle des Akzo-Konzerns ein besonderes Gewicht zu. Kurz nach Gründung des Akzo-Konzerns wurden die bestehenden US -Tochtergesellschaften American Enka Co., International Salt Company, Organon Inc. und Brand-Rex Co. (die vormalige Draht- und Kabel-Division der American Enka) 1970 zur neuen Landesgesellschaft namens Akzona Incorporated zusammengeschlossen. Noch im selben Jahr erwarb Akzo von der US -Firma Armour and Company drei Gesellschaften (Armour Industrial Chemical Co., Armour Industrial Products Co., Armour Leather Co.), die in zwölf Werken in den USA und anderen Ländern chemische Spezialprodukte, Grundstoffe für Pharmazeutika, Kunststoffe sowie Klebebänder, Leime und Leder herstellten. Zur Finanzierung der Übernahme musste Akzona einen neuen Kredit in Höhe von 75 Mio. US -Dollar aufnehmen. Damit hatte Akzo sein US -Geschäft innerhalb kürzester Zeit enorm erweitert. 631 Glanzstoff verhandelte 1968 mit dem japanischen Unternehmen Mitsubishi Rayon Company Ltd. über ein Lizenzabkommen und die Lieferung von Maschinen. Mitsubishi Rayon wollte auf diese Weise auf den japanischen Chemiefasermarkt vordringen, der zu dieser Zeit von Teijin und Toyo Rayon beherrscht wurde. Die Dresdner Bank finanzierte das Geschäft über die erste japanische DM-Industrieanleihe in der Bundesrepublik. Vgl. RWWA 195-E0-12/13 Notiz betr. Mitsubishi (12.12.1967), Kisaburo Shimizu (Mitsubishi Rayon) an Prakke und Vaubel (12.01.1968), Notiz betr. Mitsubishi Rayon (16.01.1968), Vaubel an Ulrich (Deutsche Bank) (27.05.1968). 632 Geschäftsbericht Akzo 1972, S. 32; Geschäftsbericht Akzo 1980, S. 24. Akzo Chemie übernahm 1973 den Anteil von Armak an Lion Akzo. Vgl. RWWA 195-A9-13 Kramers an Akzo Board of management (14.06.1973), Master Cooperation Agreement between Lion Fat & Oil (LFO) and Akzo (31.05 .1973).

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Der Umsatz der Akzona lag 1971 mehr als doppelt so hoch wie derjenige der American Enka 1968.633 Ende 1971 wurden die Armour Industrial Chemical Co. und die Armour Industrial Products Co. zur Armak Co. vereinigt; die Armour Leather Co. wurde in Armira Corporation umbenannt.634 Damit verfügte die Landesholding Akzona, an der Akzo N. V. zu 66 Prozent beteiligt war, über insgesamt sechs Produktionsgesellschaften, die im Grunde das gesamte Produktspektrum und die divisionale Gliederung der Muttergesellschaft widerspiegelten: American Enka Company (Chemiefasern), Armak Company (Industrie­chemikalien und Klebebänder), Amira Corporation (Leder), BrandRex Company (elektronische Teile, Drähte und Kabel), International Salt Company (Salz) und Organon Inc. (Arzneimittel).635 Der rasche Ausbau des US -Geschäfts erforderte nicht nur erhebliche Finanzmittel, er brachte auch Fragen hinsichtlich der Organisation, der Rolle der Beschäftigten und der Stellung auf dem US -Markt mit sich. Vor diesem Hintergrund traf sich Zempelin im Oktober 1973 mit Vertretern der großen westdeutschen Chemiekonzerne. Sowohl der Repräsentant von BASF Wyandotte (Dieter H. Ambros) als auch von ­Hoechst (Karl A. Hochschwender) betonten, dass ihnen die deutsche Nationalität inzwischen keine Schwierigkeiten mehr bereite. Ambros verwies darauf, dass sich die BASF verpflichten musste, den Anteil der Schwarzen unter den Beschäftigten in Wyandotte innerhalb von fünf Jahren von zwei auf 23 Prozent und in Louisiana von vier auf 40 Prozent zu erhöhen. Für westdeutsche Manager war der Umgang mit Minderheiten in den USA eine recht neue Erfahrung. Zugleich waren sich die Vertreter von BASF, Bayer und ­Hoechst darin einig, dass die westdeutschen Firmen in der Anwendungstechnik einen Vorteil gegenüber ihren US -Konkurrenten hätten, weshalb sie durchaus noch Wachstumsmöglichkeiten für sich sahen. Diese Einschätzung galt letztlich nicht nur für den Aufbau lokaler Produktionsstrukturen, sondern ebenso für den Export. Obschon die Beteiligungen der westeuropäischen Chemiekonzerne in den USA zu dieser Zeit kräftig zunahmen, vertraten die Manager mehrheitlich die Meinung, auch zukünftig am deutschen Exportmodell festhalten und die Einfuhren in die USA sogar noch steigern zu können. Dabei wurden die westdeutschen Ableger in den USA eigenen Angaben zufolge als »foreign based multinationals« angesehen, die in den USA neue Arbeitsplätze geschaffen hatten und daher tendenziell weniger Kritik ausgesetzt seien. Hierbei betonte der H ­ oechst-Vertreter nochmals, dass ­Hoechst sicherlich nicht in den USA expandiert habe, weil es sich um ein Niedriglohnland handelt, sondern weil der große Absatzmarkt enorme Anziehungskraft besitze. Für Zempelin, seit Mai 1972 Sprecher der Enka Glanzstoff AG und seit Juli 1973 im Akzo-Vorstand, waren diese Auskünfte sehr wichtig, denn auf Basis jener Informationen konnte 633 Geschäftsbericht Akzo 1970, S. 8, 14. 634 Geschäftsbericht Akzo 1971, S. 6. 635 RWWA 195-A9-13 G. Kraijenhoff: »Führungsstrukturen multinationaler Unternehmen« anlässlich einer Kurztagung der C. Rudolf Poensgen Stiftung e. V. (27./28.11.1973).

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er den Ausbau des US -Geschäfts seitens Akzo über Akzona unterstützen und gleichzeitig auf Exporte von Enka Glanzstoff in die USA hoffen. Darüber hinaus zeigte die Zusammenkunft zwischen Akzo, BASF, Bayer und H ­ oechst, dass die westeuropäischen Wettbewerber bei ihrem Vorstoß auf den US -Markt durchaus bereit waren, ihre Erfahrungen miteinander zu teilen und das Konkurrenzverhältnis temporär zu suspendieren.636 Infolge der Expansion auf andere Arbeitsgebiete fiel auch bei der US -Tochtergesellschaft der Anteil des Fasergeschäfts am Gesamtumsatz bis 1978 auf weniger als die Hälfte, d. h. in den USA folgte das Management ebenfalls der Devise einer stärkeren Diversifikation. Innerhalb der Akzo-Gruppe nahm Akzona eine Sonderstellung ein. Für keinen anderen geografischen Raum existierte eine vergleichbare, produktübergreifende Landesholding, denn ansonsten war Akzo nach einem grenzüberschreitenden divisionalen Prinzip strukturiert. Infolgedessen besaß Akzona in der Geschäftspolitik deutlich mehr Bewegungsfreiheit als andere Landesgesellschaften. Darüber hinaus verfügte Akzona Ende der 1970er Jahre über ein etwa 700 mitarbeiterstarkes Forschungsteam, das bei American Enka, Armak und Organon Inc. tätig war und sich auf vier Hauptgebiete (Chemiefasern und Hochpolymere, chemische Produkte, Pharmazeutika sowie elektronische Teile) spezialisiert hatte. Forschungsaktivitäten waren damit auch im Akzo-Fall nicht mehr alleine Aufgabe der europäischen Muttergesell­ schaft. Im Jahr 1978 entfielen ca. 16 Prozent des Forschungsetats von Akzona auf gemeinsame Forschungsprogramme mit der Muttergesellschaft Akzo. Neben einem Rahmenabkommen zwischen Akzo und Akzona zur gegenseitigen Nutzung von Produkt- und Verfahrenskenntnissen bestanden auch zwischen den jeweiligen Untergesellschaften (American Enka – Enka International, Armak – Akzo Chemie, International Salt – Akzo Zout Chemie) entsprechende Abmachungen.637 Obschon der Anteil des Chemiefasergeschäfts infolge der Armour-Übernahme deutlich gesunken war, gehörte American Enka mit seinen neun Werken an sechs Produktionsstandorten in North und South Carolina sowie in Tennessee und seinen 7.900 Beschäftigten Ende der 1970er Jahre immer noch zu den fünf größten US -Chemiefaserherstellern. Das Produktionsprogramm umfasste nahezu die gesamte Chemiefaserpalette  – von Polyamid- und Polyester-Filamentgarnen über Polyamid-, Polyester- und Viskose-Spinnfasern bis hin zu Polypropylen-Spaltfasern. Die Armak Company baute ihr Geschäft mit Spezialund Industriechemikalien in den 1970er Jahren weiter aus, übernahm u. a. die Noury Chemical Corporation (1973) sowie die Pioneer Chemical Works (1975) und war der größte Hersteller von Fettaminen in den USA . Wie ­Hoechst investierte auch die Akzo-Tochter Armak in den Chemiestandort Bayport (Texas) und errichtete dort eine Produktionsstätte für Entschwefelungskatalysatoren sowie 636 RWWA 195-B6-2-15 Notiz betr. Gespräch mit den leitenden Herren der deutschen ­ S -Firmen (11.10.1973). U 637 Geschäftsbericht Akzo 1978, S. 36–38.

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eine Peroxid-Anlage. Insgesamt waren die 1.200 Armak-Beschäftigten 1978 auf neun Werke in sechs US -Bundesstaaten und Kanada verteilt. Auch die BrandRex Company expandierte weiter, übernahm zwischen 1971 und 1974 mehrere Hersteller von Draht- und Kabelsystemen sowie von Schaltapparaturen, und verfügte Ende der 1970er Jahre schließlich über 14 Werke mit 2.800 Beschäftigten, die sich auf acht US -Bundesstaaten, Kanada und Großbritannien verteilten.638 Insgesamt führte die massive Expansion zu Beginn der 1970er Jahre sowohl zu einer Umsatzsteigerung als auch zu einer wesentlich höheren Mitarbeiterzahl der Akzona. In Verbindung mit der Sonderstellung der US -Landesgesellschaft zeigt dies, welche Bedeutung die Manager dem US -Markt beimaßen. Im Jahr 1979 erreichte der Umsatz der Akzona – genauso wie derjenige der American ­Hoechst Corporation (AHC)  – erstmals die Grenze von einer Milliarde US Dollar.639 Dabei entwickelte die American Enka bisweilen eine Dynamik, die der europäischen Muttergesellschaft zu weit ging, denn einige Exporte der American Enka gerieten in Konkurrenz zum Fasergeschäft der europäischen Enka-Gruppe. American Enka und die Enka-Gruppe schlossen daher 1979 einen Vertrag, wonach alle Verkäufe der American Enka außerhalb der USA und Kanadas in enger Abstimmung mit der Wuppertaler Zentrale zu erfolgen hatten.640 Damit fügt sich die Unternehmensstrategie der Akzo-Gruppe in einen breiteren Trend westeuropäischer Konzerne in Richtung USA während der 1970er Jahre ein. Einen gewissen Abschluss fand jene Entwicklung 1982, als Akzo die verbliebenden Minderheitsanteile an Akzona (34 %) zu einem Betrag von 188 Mio. hfl. (16,25 US -Dollar pro Aktie) erwarb. Der Grund hierfür lag darin, die Aktivitäten der Bereiche Spezialchemie und Pharmazeutika über eine weltweit einheitliche Produktpolitik stärker zu integrieren. Zugleich wurde die Produktpalette der US -Landesholding Anfang 1983 bereinigt, indem die auf elektronische Draht- und Kabelerzeugnisse spezialisierte Firma Brand-Rex verkauft und die US -Firma Wyandotte Paint Products Company übernommen wurde.641

638 Geschäftsbericht Akzo 1978, S. 38–40. Im Jahr 1978 hatten die Armira Corporation und die Organon Inc. jeweils etwa 600 Beschäftigte, die International Salt Company 2.000 Beschäftigte. 639 Geschäftsbericht Akzo 1979, S. 10. 640 Gelders Archief 3169/206 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (26.06.1979, 14.08.1979); RWWA 195-Z0-7987 Ergänzungen zum Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (03.07.1979). 641 Geschäftsbericht Akzo 1982, S. 4–6, 22, 29; »Akzona takeover final«, in: The New York Times, 09.09.1982, S. 40; RWWA 195-A1-20 »Amerikaanse dochter van Akzo verkoopt electronica-activiteit«, in: De Volkskrant, 15.02.1983; RWWA 195-C4-35 Bekanntmachung des Enka-Vorstands 6/1982 W (22.06.1982); Sluyterman / Wubs, Agents, hier S. 170.

AKU / VGF / Akzo

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Akzo in den Ölpreiskrisen der 1970er Jahre Als ab Herbst 1973 infolge des Jom-Kippur-Krieges die Ölpreise und damit auch die Teuerungsraten in vielen westlichen Industrieländern anstiegen und 1974/75 die Konjunkturdaten nach unten zeigten, geriet auch die Akzo-Gruppe in Schieflage. Besonders der Nachfrageeinbruch bei Chemiefasern bedrohte den Bestand des gesamten Konzerns und führte für die Beschäftigten in den Niederlanden, der Bundesrepublik und Belgien 1974 zur Einführung von Kurzarbeit und in den USA zu Entlassungen, da American Enka die Produktion von Zellulose-Chemiefasern (Rayon) einstellte. Während sich das Geschäft mit Salz und Grundchemikalien 1974 noch durchaus zufriedenstellend entwickelte, geriet die Farben- und Lack-Division ebenfalls in Schwierigkeiten – nicht zuletzt aufgrund der nachlassenden Nachfrage der kriselnden Bau- und Automobilindustrie.642 Dabei sah der Akzo-Vorstand primär die politischen Entscheidungsträger in der Pflicht, wieder verlässliche ökonomische Rahmenbedingungen zu schaffen, und forderte die westlichen Regierungen auf, die Inflation wieder unter Kontrolle zu bringen und von einseitigen, protektionistischen Maßnahmen abzusehen, die im Endeffekt nur negative Auswirkungen auf die gesamte Weltwirtschaft hätten. Aufgrund der Internationalität ihrer Unternehmen argumentierten die westeuropäischen Unternehmensleitungen hier grundsätzlich in eine ähnliche Richtung zur Liberalisierung des Waren- und Kapitalverkehrs.643 Die Akzo-Leitung interpretierte die schwierige Lage des Unternehmens in weiten Teilen als Folge politischer Entwicklungen und fühlte sich vollkommen zu Unrecht der Kritik an multinationalen Unternehmen ausgesetzt. There is hardly any country where this criticism is so harsh and biased as in the Netherlands, Akzo’s home base. Traditionally, the Netherlands was an attractive location for multinational corporations, not only because of its geographical position, and its system of State provisions – including educational facilities – but also on account of its labor climate and fiscal regime. Indeed, this country is the domicile of a relatively large number of multinationals, among them several big ones. […] It is therefore all the more strange that, in this very country, people should be so vocal in their criticism.644 642 Tilly / Triebel, Automobilwirtschaft. 643 Annual Report Akzo 1974, S. 4–5, 32; Annual Report Akzo 1976, S. 13. 644 Annual Report Akzo 1975, S. 10. Um der Kritik in der Öffentlichkeit zu begegnen, beschloss der Akzo-Vorstand 1974 in seiner strategischen Planung für die Jahre 1974 bis 1979 das Ziel, eine »society-oriented company« zu werden. Ein Policy Statement des AkzoVorstands verwies 1975 entsprechend auf die durch Akzo geschaffenen Arbeitsplätze und die damit verbundenen Aufstiegsmöglichkeiten sowie die Chancen für Entwicklungsländer durch die Ansiedlung multinationaler Unternehmen. Vgl. RWWA 195-A9-10 Minutes of the Board of Management Akzo (26./27.09.1974) [Zitat]; RWWA 195-A9-12 Akzo Board of Management to Participants of the Akzo Conference 1975 (24.01.1975); RWWA 195-A9-13 G. Kraijenhoff: »Führungsstrukturen multinationaler Unternehmen« anlässlich einer Kurztagung der C. Rudolf Poensgen Stiftung e. V. (27./28.11.1973). Vgl.

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Die seitens der OECD auf den Weg gebrachten Leitlinien für multinationale Unternehmen sah man daher auch nicht als Startpunkt einer grundsätzlichen Diskussion über deren Rolle in der Weltwirtschaft, sondern vielmehr als Endpunkt einer im Grunde als unangebracht angesehenen Debatte.645 Die Schärfe der ökonomischen Krise schlug sich bei Akzo 1975 in einem vor allem von der Chemiefasersparte verursachten Verlust von 440  Mio. hfl. nieder. Ein Jahr später betrug der Verlust immer noch 153 Mio. hfl. und auch 1977 brachte mit einem Nettoverlust von 166 Mio. hfl. keine Erholung. Eine Dividende wurde daher in allen drei Jahren nicht ausgezahlt. Infolgedessen geriet das Management auf den Hauptversammlungen in die Schusslinie kritischer Aktionärssprecher. Die Verluste bestärkten den Vorstand darin, den Anteil der Chemiefasern weiter abzusenken und die Expansion anderer Produktgruppen voranzutreiben, und wirkten daher wie ein Katalysator für die seit 1969 eingeschlagene Konzernstrategie. Zahlreiche Investitionen im Faserbereich wie das Faserprojekt in Indonesien, die Herstellung von synthetischem Leder bei Armira (Akzona) oder der Ausbau der Kapazitäten von Acrylstapelfasern bei Enka Glanzstoff wurden daher 1975 auf Eis gelegt.646 Entsprechend halbierte sich der Anteil des investierten Kapitals der Chemiefasergruppe zwischen 1970 und 1980. Tabelle 26: Investiertes Kapital nach Akzo-Hauptgruppen in Prozent (1970–1985) Chemie­ fasern

chemische Produkte

1970

67

26

1980

33

27

9

1985

24

34

13

Coatings

Pharmazeutika

Konsumartikel

sonstige Erzeugnisse

11

4

15

14

5

10

7

Quelle: Geschäftsbericht Akzo 1972, S. 5; Geschäftsbericht Akzo 1987, S. 65; eigene Berechnungen.

Dass die Ausrichtung der Akzo-Gruppe mit ihren zunächst drei Hauptproduktgruppen nicht als festes, unerschütterliches Korsett verstanden wurde, zeigte sich 1974, als Akzo mit dem in den Niederlanden ansässigen Philips-Konzern

zur Bedeutung multinationaler Unternehmen für die Niederlande: Sluyterman / Wubs, Over Grenzen. 645 Petrini, Capital; Pitteloud, Unwanted Attention; Warlouzet, Governing Europe, S. 57–77. 646 Annual Report Akzo 1975, S. 2, 4, 8; Annual Report Akzo 1976, S. 2, 4; RWWA 195-Y8-22 »Eine Demonstration der Ohnmacht eines multinationalen Konzerns«, in: Frankfurter Zeitung. Blick durch die Wirtschaft, 11.11.1976. Die Verlustzahlen beziehen sich auf den Nettoverlust einschließlich außerordentlicher Aufwendungen und Erträge. Der Verlust der Fasergruppe betrug 1976 mehr als 300 Mio. hfl., wovon ein Teil durch Gewinne der beiden anderen Produktgruppen kompensiert werden konnte.

AKU / VGF / Akzo

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Gespräche über eine Zusammenführung der pharmazeutischen Aktivitäten aufnahm. Ziel der Verhandlungen war eine Verschmelzung der beiden Untergesellschaften Akzo Pharma und Philips-Duphar. Letztlich lagen die Ansichten jedoch zu weit auseinander, so dass die Fusionsverhandlungen ergebnislos abgebrochen wurden.647 Bereits ein Jahr zuvor 1973 war der Versuch von Philips gescheitert, Philips-Duphar an den niederländischen Chemiekonzern DSM zu veräußern, da das DSM-Management die Profitabilität von Philips-Duphar als zu niedrig eingestuft hatte. Nachdem auch die Verbindung mit Akzo nicht zustande gekommen war, bemühte sich Philips um den Verkauf seines Vitamingeschäfts an DSM, doch schlussendlich kam auch dieser Deal nicht zustande.648 Erst 1980 gelang es Philips, sich von seinem Pharmageschäft zu trennen und Philips-Duphar an den belgischen Chemiekonzern Solvay zu verkaufen.649 Die Duphar-Episode zeigt, dass das Akzo-Management nur fünf Jahre nach der Konzerngründung bereits wieder zu tiefgreifenden Umstrukturierungen bereit war. Während AKU und VGF von den 1920er bis in die 1960er Jahre fast ausnahmslos Chemiefasern hergestellt hatten, lässt sich eine solche Kontinuität auf Konzernebene in den 1970er Jahren kaum beobachten. Dies war den Schwierigkeiten auf dem Chemiefasermarkt und dem ökonomischen Strukturwandel geschuldet und brachte neue Umgangsformen des Managements mit Industriebeteiligungen mit sich, die immer weniger als Ort der Produktion mit technischen Verfahren und einer lokal gebundenen Belegschaft angesehen wurden, sondern immer flexibler zwischen (multinationalen) Unternehmen verschoben wurden. Eine der Führungsfiguren, die diesen Kurs vorantrieb und sowohl für den Zusammenschluss von AKU / Glanzstoff mit KZO 1969 als auch die Umstrukturierungen von Akzo in den 1970er Jahren verantwortlich war, hieß Gualtherus Kraijenhoff (1922–2011). Kraijenhoff war 1947 in die Exportabteilung der Organon eingetreten, 1957 Mitglied und 1963 Vorsitzender des KZO -Vorstands geworden, und 1969 zum stellvertretenden Akzo-Vorstandsvorsitzenden aufgestiegen. Nachdem Soesbeek im Mai 1970 den Vorsitz im Akzo-Vorstand aufgegeben hatte, übernahm Kraijenhoff diese Position und bestimmte bis 1978 in weiten Teilen die Unternehmenspolitik der Akzo-Gruppe. Sein Name stand damit sowohl für die Rücknahme des Strukturplans 1972 als auch für die tiefgreifenden beschäftigungspolitischen Einschnitte Mitte der 1970er Jahre und die Bildung der Enka-Gruppe 1977. Im Mai 1978 fand ein Führungswechsel bei Akzo statt. Der Vorstandsvorsitzende Kraijenhoff und sein Stellvertreter Schlange-

647 Annual Report Akzo 1974, S. 5; RWWA 195-A6-22 Personal Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board of Management of Akzo (02.07.1974, 20.12.1974); RWWA 195-A9-10 Verslag Raad van Bestuur Akzo (13.06.1974, 25.10.1974); RWWA 195-Z0-8108 Akzo Nederland bv: Mededeling aan het Personneel (13.06.1974). 648 Rooij, DSM , S. 159–161. 649 Homburg, Diversification, hier S. 441–444.

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Schöningen wechselten in der Akzo-Aufsichtsrat, während Adolf ­Gustaaf van den Bos (1920–2008) zum neuen Vorstandsvorsitzenden und Aarnout A. Loudon (1936–2021) zu dessen Stellvertreter ernannt wurde – beide waren vor der Fusion 1969 bei der KZO tätig gewesen. Damit setzte sich auf personeller Ebene eine Entwicklung fort, die die unternehmerische Abkehr vom Chemiefasergeschäft widerspiegelte. Obschon die Chemiefasergruppe Mitte der 1970er Jahre noch zur Hälfte des Akzo-Umsatzes beitrug, war sie zum Sorgenkind des Konzerns geworden, dessen Gewicht die Konzernleitung reduzieren wollte.650 Unter dem neuen Vorsitzenden Bos gelang Akzo 1978 die Rückkehr in die Gewinnzone. Der Führungswechsel hatte hiermit weniger zu tun als die konjunkturelle Belebung und die zuvor erlassenen Rationalisierungs- und Sparmaßnahmen. Da der bescheidene Gewinn aufgrund außerordentlicher Aufwendungen dennoch unter dem Strich zu einem Nettoverlust führte, erhielten die Aktionäre auch 1978 – und damit im vierten Jahr in Folge – keine Dividende.651 Erst 1979, als die Verkaufspreise vieler Erzeugnisse erhöht werden konnten und der Mengenabsatz infolge erwarteter neuer Ölpreiserhöhungen und damit verbundener Lagerkäufe kurzfristig größer ausfiel, fand wieder eine Ausschüttung an die Aktionäre statt. Der gestiegene Absatz brachte eine bessere Auslastung der Produktionskapazitäten mit sich, gleichwohl konnten die gestiegenen Rohstoffund Energiekosten nicht vollständig auf die Preise aufgeschlagen werden und minderten das Betriebsergebnis. Insgesamt schien Akzo jedoch die schwerste Krise in der Unternehmensgeschichte überwunden zu haben.652 Insbesondere die Einigung der westeuropäischen Chemiefaserhersteller zur Reduzierung ihrer Produktionskapazitäten gab der Konzernführung wieder Hoffnung, auch bei Chemiefasern zukünftig wieder höhere Verkaufspreise durchsetzen und damit auch Gewinne erzielen zu können.653 Allein zwischen 1975 und 1979 hatte Enka im Chemiefaserbereich Verluste von 1,2  Mrd. hfl. angehäuft, die die Finanzkraft der Akzo-Gruppe erheblich geschwächt und die Entwicklungsmöglichkeiten anderer Divisionen – insbesondere im Ausland – begrenzt hatten. Der Akzo-Vorstand kam daher 1979 zu dem Ergebnis, dass die angestrebte Internationalisierung nur in Teilen erreicht worden sei. Im Management hatte sich inzwischen die Meinung durchgesetzt, dass es sinnvoller sei, die Auslandsexpansion auf eine begrenzte Zahl von Ländern zu konzentrieren. Die

650 Geschäftsbericht Akzo 1978, S. 2; Geschäftsbericht Akzo 1981, S. 2; RWWA 195-B0-58 Information für die Führungskräfte (2/1977); Vaubel, Glanzstoff, Bd. 1, S. 231–242. Bos begann seine Akzo-Karriere 1953 beim Nederlandsch Verkoopkantoor voor Chemische Produkten und trat 1961 in den Vorstand der Ketjen ein, die zur KZO fusionierte und später in die Akzo Chemie eingegliedert wurde. Loudon war nach der Tätigkeit bei verschiedenen Banken 1969 in die KZO -Finanzabteilung eingetreten und 1972 zum Leiter der Finanzabteilung bei Akzo bzw. Astral aufgestiegen. 651 Geschäftsbericht Akzo 1978, S. 4. 652 Geschäftsbericht Akzo 1979, S. 2, 4–5. 653 Marx, Cartel.

AKU / VGF / Akzo

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regionale Streuung des investierten Kapitals erfuhr daher zwischen 1970 und 1979 nur geringe Veränderungen.654 Nachdem der Anteil des investierten Kapitals in den Niederlanden zwischen 1967 und 1969 von 49 auf 39 Prozent gefallen war, ging dieser Anteil bis 1973 nochmals auf 32 Prozent zurück, blieb danach aber relativ stabil. Standortüberlegungen bei Glanzstoff verwiesen 1969 beispielsweise auf die besseren Absatzaussichten im Fall einer (Teil-)Belieferung der italienischen Textilindustrie durch eigene italienische Produktionsstätten und machten hierfür »psychologische Barrieren« verantwortlich. Doch obschon eine italienische Produktion auch einen gewissen Risikoausgleich gegenüber Währungsverschiebungen gebracht hätte, hielt Enka Glanzstoff sich angesichts der einsetzenden europäischen Chemiefaserkrise und dem hohen Staatseinfluss auf die italienische Chemieund Chemiefaserindustrie in den 1970er Jahren mit Investitionen in Richtung Italien zurück.655 Der Anstieg des niederländischen und des westeuropäischen Investitionsanteils ab 1985 war primär auf den Rückgang des US -Anteils infolge des Verkaufs der American Enka zurückzuführen und ging nur mit einer geringfügigen Erhöhung des absoluten Anteils einher. Vor diesem Verkauf, d. h. im Zeitraum 1969 bis 1984, war das Nordamerika-Geschäft erheblich ausgedehnt worden. Verlierer war in dieser Perspektive vor allem die Bundesrepublik, deren Anteil in den 1970er Jahren etwa ein Viertel betrug und zwischen 1983 (25 %) und 1990 (18 %) deutlich abnahm. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass der Akzo-Konzern in der Bundesrepublik vor allem mit seiner schwächelnden Chemiefasersparte vertreten war und in den Niederlanden auch Investitionen in andere Produktgruppen tätigte. Die wirtschaftliche Erholung Ende der 1970er Jahre dauerte allerdings nicht lange an. Bereits 1980 wurde die Akzo-Gruppe wieder von der Rezession erfasst, so dass sich nach Abzug der vorgesehenen Strukturmaßnahmen für den Chemiefaserbereich erneut ein Nettoverlust von 70  Mio. hfl. beim Gesamtkonzern einstellte und abermals keine Dividende ausgezahlt wurde. Wiederum waren vor allem synthetische Filamentgarne und Spinnfasern der westeuropäischen Konzerngesellschaften für die Textil- und Teppichproduktion die Haupt­ verlustbringer – 1980 betrug der Gesamtverlust der westeuropäischen Chemiefaserindustrie etwa 2,5 Mrd. hfl. Doch auch der Absatz chemischer Erzeugnisse kam bei Akzo ins Stocken. Gleichzeitig verbuchte die US -Tochtergesellschaft Akzona aufgrund des Konjunktureinbruchs in den USA hohe Verluste bei Chemiefasern. Mit der Textil-, Bau- und Automobilindustrie waren 1980 wichtige Abnehmerbrachen der Akzo-Gruppe in die Krise geraten, wohingegen Coatings, 654 Geschäftsbericht Akzo 1979, S. 5–6. Die größte Herausforderung für die Internationalisierung bestand in den Augen von Akzo-Vorstand Bakkenist in der Rekrutierung geeigneter Manager, weshalb er entsprechende Fördermaßnahmen vorschlug. Vgl. RWWA 195-A9-13 Memorandum Akzo: Internationalisation and management development and man-power-planning (28.01.1974). 655 RWWA 195-A2-53 Standortüberlegungen zur Bearbeitung des italienischen Marktes (31.01.1969) [Zitat].

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40

35

30

in Prozent

25

20

15

10

5

0

Niederlande

Bundesrepublik

Übriges Europa

Nordamerika

Übrige Welt

Abbildung 14: Regionale Verteilung des investierten Kapitals bei Akzo (1969–1992) Quelle: Geschäftsberichte Akzo (1969–1992); eigene Berechnungen. Dargestellte Jahre: 1969, 1971–1992.

Pharmazeutika, Konsumartikel und verschiedene Industrieerzeugnisse, die zusammengenommen immerhin 40 Prozent des Akzo-Gruppenumsatzes auf sich vereinigten, weniger von der Konjunkturschwäche erfasst wurden.656 Die tiefe Krise der westeuropäischen Chemiefaserindustrie 1980 war auf eine ganze Reihe struktureller Probleme zurückzuführen: Die westeuropäischen Chemiefaserhersteller hatten in Erwartung steigender Absatzzahlen große Überkapazitäten geschaffen; der westeuropäische Textilverbrauch war in den vergangenen Jahren nur gering gestiegen; die Textilimporte aus Schwellenländern nahmen trotz des Multifaserabkommens zu; die Preissteigerungen bei petrochemischen Rohstoffen und höhere Energiekosten konnten angesichts der angespannten Marktlage nur bedingt auf die Verkaufspreise aufgeschlagen werden, und zudem stiegen die Einfuhren von Chemiefasern und Textilerzeugnissen aus den USA, da viele US -Hersteller von den dortigen niedrigeren Erdöl- und Erdgaspreisen profitierten. Infolgedessen ließ die Enka-Unternehmensführung ab 1981 die Produktion von Polyester-Textilgarnen, Polyamid-Teppichgaren und -fasern sowie von Polyester-Spinnfasern in den Niederlanden, der Bundesrepublik und Nordirland auslaufen.657 Nachdem die Chemiefasersparte bereits in den 656 Geschäftsbericht Akzo 1980, S. 4–5. 657 Geschäftsbericht Akzo 1980, S. 4–5; RWWA 195-B0-64 Referat von Hans Günther Zempelin anlässlich des Pressegesprächs (15.10.1981, 25.01.1983).

AKU / VGF / Akzo

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1970er Jahren mehrfach in Schieflage geraten war und die Konzernleitung für den Ausbau anderer Produktgruppen plädiert hatte, gewannen die Akzo-Manager in der Krise Anfang der 1980er Jahre endgültig den Eindruck, sich rasch und konsequent von allen Chemiefasertypen mit schwachen Marktaussichten trennen zu müssen. Stattdessen erwarb Akzo 1980 u. a. einen Konsumartikelhersteller in Großbritannien, erweiterte seine Pharmafertigung in Frankreich, investierte in seine Coating-Produktion in Spanien und Argentinien, und baute sein Membranen-Geschäft aus, für das in der Bundesrepublik die Membrana GmbH und in den USA die Membrana Inc. neu gegründet wurden.658 Die gemäßigten Lohnsteigerungen und die geringe Inflation in der Bundesrepublik und in den Niederlanden verbesserten in Verbindung mit einer Stabilisierung des Preisniveaus bei petrochemischen Rohstoffen im zweiten Halbjahr 1981 die Geschäftsaussichten von Akzo, auch wenn jene Entwicklung äußert fragil blieb. Die Verteuerung des US -Dollars trieb zwar auch die Preise für petrochemische Rohstoffe nach oben, verbesserte aber zugleich die Absatzmöglichkeiten auf dem US -Markt und verminderte die US -Konkurrenz auf dem westeuropäischen Chemiefasermarkt. Darüber hinaus wirkte sich der Mengenzuwachs der American Enka aufgrund des Umrechnungseffekts in doppelter Weise günstig auf die Verlustsituation der Chemiefaser-Division in der Bilanz des niederländischen Konzerns aus. Auch die Umsatzsteigerung von 13 Prozent bei chemischen Produkten beruhte letztlich nahezu ausschließlich auf höheren Verkaufspreisen und dem höheren Dollarkurs – ähnlich sah die Situation bei Pharmazeutika aus. Im Grunde zeigte sich hier, wie stark Umsatz- und Gewinnentwicklungen bei multinationalen Unternehmen inzwischen an Verschiebungen der internationalen Währungsrelationen gekoppelt waren.659 Obschon sich das konjunkturelle Klima 1982 verschlechterte, blieb das Nettoergebnis auf dem Niveau des Vorjahres. Pharmazeutische Produkte, Coatings und Konsumartikel trugen erneut überdurchschnittlich zum Gruppenergebnis bei.660 Auch wenn Chemiefasern und chemische Produkte noch nicht wieder das gewünschte Rentabilitätsniveau erreicht hatten, kündigte sich damit doch das Ende der langanhaltenden Unternehmenskrise an. Die hohen Verluste im Chemiefaserbereich und die größere Stabilität anderer Produktgruppen bildeten den Erfahrungshintergrund für die Unternehmensentscheidungen in den folgenden Jahren.

658 Geschäftsbericht Akzo 1980, S. 11, 17–19; Geschäftsbericht Akzo 1981, S. 6; RWWA 195B0-64 Strategic Planning (28.02.1982); Wicht, Glanzstoff, S. 102. Die Forschungsaktivitäten der beiden Membran-Gesellschaften waren zunächst im Verhältnis USA-Europa 1:3 aufgeteilt worden, sollten langfristig aber auf gleicher Höhe liegen. Vgl. Gelders Archief 3169/209 Protokoll der Enka-Vorstandssitzung (08.12.1981). Ende 1985 wurde die Membrana GmbH wieder mit der Enka AG verschmolzen. Vgl. Geschäftsbericht Enka 1985, S. 32. 659 Geschäftsbericht Akzo 1981, S. 6–7, 18, 20, 25. 660 Geschäftsbericht Akzo 1982, S. 4.

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Noch in der Krise fand ein erneuter Wechsel an der Konzernspitze statt. Auf der Hauptversammlung im Mai 1980 tauschten der Aufsichtsratsvorsitzende van den Brink und sein Stellvertreter, der ehemalige Vorstandsvorsitzende Kraijenhoff, ihre Positionen, d. h. Kraijenhoff übernahm fortan – bis April 1993 – den Vorsitz. Jan van den Brink (1915–2006), von 1948 bis 1952 niederländischer Wirtschaftsminister und anschließend bei der Amsterdamsche Bank tätig, war 1953 in den Aufsichtsrat der AKU eingetreten und führte seit 1961 den Vorsitz im Kontrollorgan von AKU bzw. Akzo. Als er im April 1985 altersbedingt endgültig den Akzo-Aufsichtsrat verließ, schied eine der Leitfiguren der früheren AKU / VGF-Verbindung aus, die die paritätische Mitwirkung von deutscher und niederländischer Seite unterstützt hatte.661 Im Mai 1982 erreichten zudem der Vorstandsvorsitzende van den Bos und der langjährige Finanzvorstand Heine Johan Kruisinga (1969–1982) die Altersgrenze und verließen den Vorstand. Neuer Vorstandsvorsitzender wurde der bisherige Stellvertreter Loudon, der diese Position erst im April 1994 nach der Großfusion von Akzo und Nobel abgab. Das Duo Kraijenhoff und Loudon bestimmte somit im Jahrzehnt 1980/82 bis 1993/94 in weiten Teilen die Konzernpolitik der Akzo-Gruppe.662 Umsatzstruktur des Akzo-Konzerns Im Jahr 1970 verfügte die Akzo-Gruppe bereits in 40 Ländern über Produktions- und Vertriebsgesellschaften und sie vergrößerte ihren Aktionsradius immer weiter; 1974 war der Konzern mit seinen mehr als 105.000 Beschäftigten in 50 Ländern durch Niederlassungen vertreten.663 Dabei unterschied sich die Umsatzstruktur bei Akzo je nach Perspektive – Ort der Produktion oder Absatzregion  – deutlich voneinander. Da es im Fall des Akzo-Konzerns aufgrund der starken deutschen Gruppe bei Enka Glanzstoff ungleich schwieriger ist, zwischen In- und Ausland zu differenzieren als bei Bayer oder ­Hoechst, und eine Darstellung mit den Niederlanden als Heimatmarkt nur begrenzte Aussagekraft besäße, werden im Folgenden zwei unterschiedliche regionale Umsatzentwicklungen betrachtet, um Akzo räumlich zu verorten. Die erste Perspektive betrachtet Akzo aus dem Ort der Produktion heraus, die zweite aus der Perspektive der Absatzgebiete. Während sich vor 1969 mit AKU und VGF zwei recht gleich starke Produktionsschwerpunkte in den Niederlanden und der Bundesrepublik gegenüberstanden – auch wenn AKU mehrheitlich an VGF beteiligt war –, erfuhren die 661 Geschäftsbericht Akzo 1980, S. 2; Geschäftsbericht Akzo 1984, S. 5; Geschäftsbericht Akzo 1992, S. 6. 662 Geschäftsbericht Akzo 1981, S. 2; Geschäftsbericht Akzo 1993, S. 6; RWWA 195-C4-34 Bekanntmachung des Enka-Vorstands betr. Änderungen in der Führungsspitze der Akzo-Gruppe 7/1981 (03.09.1981). 663 Geschäftsbericht Akzo 1969, S. 11.

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AKU / VGF / Akzo 40 35 30 25 20 15 10 5 0

1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992

Niederlande

Deutschland

Übriges Europa

Nordamerika

Übrige Welt

Abbildung 15: Akzo-Nettoumsatz nach Produktionsgebieten in Prozent (1973–1992) Quelle: Geschäftsberichte Akzo 1973–1992; eigene Berechnungen.

Niederlande infolge der Fusion mit KZO zweifellos eine Aufwertung. Etwa ein Drittel des Umsatzes entfiel in dieser Lesart auf die Niederlande. Der Anteil der Bundesrepublik lag während der 1970er und 1980er Jahre bei etwa 25 Prozent, wobei sich hier die Kürzungen im Chemiefaserbereich bemerkbar machten. Letztlich fiel der deutsche Anteil erst 1990 deutlich ab. Der relative Bedeutungsgewinn der Niederlande und der Bundesrepublik 1986 waren nicht auf eine Ausweitung der Geschäftstätigkeit zurückzuführen – tatsächlich lag der in den Niederlanden und der Bundesrepublik erwirtschaftete Umsatz 1986 sogar unter dem Vorjahreswert –, allerdings brach das US -Geschäft aufgrund der Verkaufs der American Enka stark ein. Über den gesamten Zeitraum betrachtet lag der Nordamerika-Anteil bei etwa 20 Prozent. Da die Veräußerung der American Enka keineswegs mit einem Rückzug vom US -Markt gleichgesetzt werden kann, stieg der US -Anteil in den folgenden Jahren denn auch wieder stark an und überragte ab 1991 sogar denjenigen der Bundesrepublik. Neben den Niederlanden, der Bundesrepublik und den USA entfiel ein nicht zu vernachlässigender Teil von 15 bis 20 Prozent auf die übrigen europäischen Staaten, wobei der Großteil hiervon – zwischen 1973 und 1982 etwa neun bis zwölf Prozent – in anderen EG -Staaten erwirtschaftet wurde. Aus der Perspektive des Absatzes zeichnete sich hier ein vollkommen anderes Bild. Der niederländische Markt war für die Akzo-Produktion viel zu klein, so dass der niederländische Akzo-Nettoumsatz aus der Absatzperspektive nur etwa zwölf Prozent betrug und Ende der 1980er Jahre sogar auf unter zehn Prozent

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45 40 35 30 25 20 15 10 5 0

1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 19851986 1987 1988 1989 1990 1991 1992

Niederlande

Bundesrepublik

Übriges Europa

Nordamerika

Übrige Welt

Abbildung 16: Akzo-Nettoumsatz nach Absatzgebieten in Prozent (1973–1992) Quelle: Geschäftsberichte Akzo 1973–1992; eigene Berechnungen.

fiel.664 Auch im Fall der Bundesrepublik lag der Anteil des Absatzumsatzes mit 15 bis 20 Prozent und leicht fallender Tendenz unter dem Anteil des Produktionsumsatzes. Die Werke in beiden Ländern – vor allem aber in den Niederlanden – waren daher zu einem hohen Maße vom Export abhängig. Hauptabnehmer waren die übrigen europäischen Staaten, auf die 35 bis 42 Prozent der Umsätze nach Absatzgebieten entfielen. Auch hier war der Anstieg 1986 teilweise auf den Bedeutungsverlust des US -Geschäfts zurückzuführen, das aber bereits Ende der 1980er Jahre wieder das Niveau der 1970er Jahre erreichte. Bemerkenswert ist der relative Bedeutungsgewinn anderer Weltregionen, deren Anteil in den 1970er Jahren bei zehn bis zwölf Prozent lag und in den 1980er Jahren auf ca. 14 bis 17 Prozent kletterte. Hier zeigte sich die zunehmende internationale Ausrichtung des Akzo-Verkaufs über den Untersuchungszeitraum hinweg. Noch größer als die Verschiebungen zwischen unterschiedlichen Weltregionen war die Gewichtsveränderung zwischen den Produktgruppen. Die Chemie664 »Der niederländische Markt ist, wie übrigens auch die Märkte der anderen europäischen Länder für sich genommen, zu klein, um sich mit Produktion und Absatz allein darauf zu konzentrieren und wirtschaftlich zu sein. […] Akzo hat historisch zu erklärende Schwerpunkte in den Niederlanden und in Deutschland und muß deshalb in besonderem Maße an einer Verbreiterung seiner Aktivitäten in Europa und außerhalb Europas interessiert sein.« Vgl. RWWA 195-A9-13 Eröffnungsrede von G. Kraijenhoff vor der Hauptversammlung der Akzo N. V. (09.05.1974).

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AKU / VGF / Akzo 60

50

40

30

20

10

0

1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987

Chemiefasern

chemische Produkte

Coatings

Pharmazeutika

Konsumartikel

sonstige Erzeugnisse

Abbildung 17: Nettoumsatz der Akzo-Hauptgruppen in Prozent (1969–1987) Quelle: Geschäftsberichte Akzo 1969–1987; eigene Berechnungen.

faserkrise ging nicht nur mit einem veränderten Investitionsverhalten einher, sondern stellte auch die Umsatz- und Betriebsergebnisstruktur von Akzo auf den Kopf. Nachdem der Chemiefaseranteil am Umsatz von AKU / Glanzstoff infolge des Zusammenschlusses mit KZO bereits auf 52 Prozent gefallen war, sank er in den 1970er und 1980er Jahren kontinuierlich weiter ab und betrug 1987 schließlich nur noch 20 Prozent. Umgekehrt verdoppelte sich der Anteil chemischer Produkte im selben Zeitraum von ca. 15 auf 30 Prozent; Coatings und Pharmazeutika kletterten von jeweils etwa 5–6 auf 14–15 Prozent. Lediglich der Bereich der der Konsumartikel blieb einigermaßen konstant. Damit war aus dem Chemiefaserhersteller AKU / Glanzstoff der 1960er Jahre ein internationaler, breit aufgestellter Chemiekonzern geworden. Im Grunde setzten sich diese Beobachtungen auch auf der Ergebnisebene fort, auch wenn die Entwicklungen aufgrund konjunktureller Ausschläge hier ungleichmäßiger verliefen. In der Ergebnisstruktur des Akzo-Konzerns fallen vor allem die hohen Verluste der Chemiefaser-Gruppe Mitte der 1970er und Anfang der 1980er Jahre auf, die das Management in seiner strategischen Richtungsentscheidung zur Diversifikation und zur Verkleinerung des Chemiefaseranteils bestärkten. Besonders Pharmazeutika und Konsumartikel blieben in der Krise wesentlich stabiler. Seit 1975 trugen sowohl die Chemie- als auch die Pharma-Gruppe für sich genommen jeweils mehr zum Konzernergebnis

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

bei als die Chemiefaser-Gruppe. Zwar konnten Chemiefasern Mitte der 1980er Jahre noch einmal erhebliche Gewinne erwirtschaften, insgesamt basierte das Ergebnis der Akzo-Gruppe ab Ende der 1970er Jahre jedoch zunehmend auf chemischen Produkten und Pharmazeutika.

3.3.5 Zwischenfazit Der Versuch der Glanzstoff-Leitung, die durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Disparitäten zwischen niederländischer Unternehmenskontrolle und westdeutschem Produktionsschwerpunkt auszuräumen und das Bestreben beider Unternehmensteile, eine unternehmensinterne Konkurrenzsituation auf dem entstehenden westeuropäischen Markt zu verhindern, waren die maßgebenden Motive für die Fusionsentscheidung von AKU und Glanzstoff 1969. Die wachsende Kontingenz hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung und der zunehmende Wettbewerbsdruck untermauerten diesen Entschluss. Obschon AKU nach dem Zweiten Weltkrieg mehrheitlich im Besitz der VGF-Aktien war, wurden der westdeutschen Unternehmensleitung 1969 weitgehende Mitwirkungsrechte – auch auf Konzernebene – eingeräumt, die auf die Kooperation vor 1945 zurückzuführen waren. Den AKU / Glanzstoff-Beteiligten war bereits Ende der 1960er Jahre das Risiko ihrer einseitigen Produktpalette bewusst, weshalb sie nach einem geeigneten Kooperationspartner Ausschau hielten und diesen schließlich in der KZO fanden. Besonders im Chemiefaserbereich verloren Erweiterungsinvestitionen an westeuropäischen Standorten, wie man sie noch aus der Boomphase kannte, zugunsten von Rationalisierungs- und Modernisierungsmaßnahmen an Bedeutung.665 Mit dem Zusammenschluss zu Akzo wurde das unternehmerische Risiko gegenüber konjunkturellen Ausschlägen aufgrund des breiteren Produktangebots zwar verringert, doch brachte die Fusion mit KZO das fein austarierte Machtgleichgewicht zwischen AKU und Glanzstoff ins Wanken. Durch die Chemiefaserkrise wurde dieser Prozess noch einmal verstärkt. Spätestens mit der Bildung der Enka-Gruppe 1977 verloren nationale Zugehörigkeiten ein Stück weit an Bedeutung. Stattdessen kämpfte Enka Glanzstoff bzw. Enka immer stärker gegen ihren Bedeutungsverlust innerhalb der Akzo-Gruppe, da sich andere Produktgruppen in den 1970er Jahren als krisenresistenter herausgestellt hatten. Dabei erwiesen sich keineswegs alle eingeschlagenen Diversifizierungswege als erfolgreich, wie die Aufgabe der Stahlkord-, der Kunstleder- (Xylee)  und der Kunststoffflaschen-Produktion (Strongpac) eindrücklich demonstriert haben. Die Unternehmensorganisation orientierte sich immer stärker an Produkten und immer weniger an Ländergrenzen. In vielen Schritten und unter Beteiligung zahlreicher Unternehmensakteure musste hier ein neuer Governance-Kompromiss gefunden werden. Aus dem Chemiefaserhersteller AKU / Glanzstoff wurde 665 Asperger, Glanzstoff, S. 66.

AKU / VGF / Akzo

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auf diese Weise der breit diversifizierte Chemiekonzern Akzo, dessen Leitungspersonal sich auf Augenhöhe mit anderen Großkonzernen sah und daher betriebswirtschaftliche Vergleiche mit den weltweit größten Chemiekonzernen anstellen ließ. Jene Unternehmen fungierten in ihrer Organisationsstruktur, ihrer strategischen Ausrichtung, ihrer Finanzierung und ihrer Rentabilität fortan als Referenzpunkte für die Akzo-Leitung und ihre unternehmerischen Entscheidungen.666 In der als dezentraler Holding gegliederten Akzo-Gruppe gewannen die als rechtlich selbstständige Gesellschaften organisierten Hauptgruppen und die mit ihnen verbundenen Produktmärkte eine noch größere gestalterische Kraft als bei BASF oder Bayer.667 Nationale Bezugspunkte büßten hingegen an Relevanz ein, wie sich in der zunehmenden internationalen Standortkonkurrenz innerhalb der Akzo-Gruppe zeigte. Dabei nutzten die Akzo- und die Enka-Leitung, wie die Beispiele in Limerick / Irland (Ferenka), Kassel / Bundesrepublik (Spinnfaser) oder Arnheim / Niederlande (Aramide) belegen, die ihnen gebotenen staatlichen Subventions- und Fördermittel und trugen auf diese Weise zu einem internationalen Wettlauf staatlicher Akteure um günstige Standortbedingungen bei. Natürlich schufen multinationale Unternehmen auch Arbeitsplätze, besonders in den 1950er und 1960er Jahren ging der Aufbau ausländischer Vertriebsgesellschaften oftmals noch mit einem Anstieg der inländischen Belegschaft einher, doch ab den 1970er Jahren zeigte sich, dass ganze Produktlinien auch an ausländische Standorte verlagert werden konnten und Arbeitsplätze am Heimatstandort wegfielen. Nicht zuletzt hieraus resultierte die zeitgenössische Kritik an multinationalen Unternehmen, der sich die Akzo-Führung völlig zu Unrecht ausgesetzt sah. Obschon die Unternehmensleitung dahingehenden Regulierungen seitens staatlicher Behörden und internationaler Organisationen ablehnend gegenüberstand, wandte sie sich im Fall von Betriebsschließungen wie in St. Pölten (Österreich) oder Antrim (Nordirland) immer wieder an staatliche Entscheidungsträger, um die betreffenden Werke mit öffentlichen Geldern zu stützen oder gegebenenfalls vom Staat übernehmen zu lassen. Insbesondere sollte damit ein öffentlicher Konflikt und Imageschaden vermieden werden. Insgesamt folgte Akzo ebenso wenig wie BASF, Bayer oder H ­ oechst auf breiter Front dem Ruf von Billiglohnländern. In geografischer Perspektive sind in der festen Verankerung in Westeuropa bei gleichzeitigem Ausbau des US -Geschäfts 666 RWWA 195-A9-12 Memorandum Akzo: Comparison between Akzo and 11 chemical companies (08.09.1972); RWWA 195-Z0-8108 Memorandum Akzo: Comparison between Akzo and twelve chemical companies (29.08.1974). Zu den Vergleichsunternehmen zählten: DuPont, Union Carbide, Monsanto, Dow Chemical (jeweils USA), ­Hoechst, BASF, Bayer (jeweils Bundesrepublik), ICI , Courtaulds (beide Großbritannien), Montedison (Italien), Rhône-Poulenc (Frankreich) und Teijin (Japan). 667 »Wir sind ausgesprochene Verfechter einer maximalen Delegation mit Dezentralisation von Befugnissen und Verantwortung.« Vgl. RWWA 195-A9-13 G.  Kraijenhoff: »Führungsstrukturen multinationaler Unternehmen« anlässlich einer Kurztagung der C. Rudolf Poensgen Stiftung e. V. (27./28.11.1973).

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Multinationale Unternehmen am Ende des Booms

wesentliche Parallelen zur Entwicklung westdeutscher Chemiekonzerne zu erkennen. In den lateinamerikanischen Staaten baute die Akzo-Gruppe ihre Stützpunkte vor allem aus, weil sie dort einen schnellen Anstieg der Nachfrage erwartete. Als attraktiv erwiesen sich besonders Standorte innerhalb des transatlantischen Wirtschaftsraums, für die – meist mit staatlichen Stellen – Sonderkonditionen ausgehandelt werden konnten, und gerade zwischen ihnen verschärfte sich angesichts steigender Arbeitslosenzahlen die Standortkonkurrenz.

3.4 Rhône-Poulenc Die französische Rhône-Poulenc-Gruppe unterschied sich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten in dreifacher Weise von den europäischen Konkurrenten. Erstens war die französische Chemiegruppe weit weniger von den Folgen des Zweiten Weltkriegs – mit Blick auf den Verlust von Auslandsvermögen und Patenten – betroffen als die westdeutschen Konzerne. Zweitens war Rhône-­Poulenc trotz zahlreicher Auslandsbeteiligungen im Wesentlichen ein französisches Unternehmen, das durch den Zusammenschluss mit der Celtex-Gruppe vor allem im Inland gewachsen war.668 Drittens fand die Entwicklung des Mutterunternehmens in einem ökonomischen Umfeld statt, in welches der französische Staat über das Instrument der Verstaatlichung und andere ordnungspolitische Maßnahmen weit stärker intervenierte, als dies in der Bundesrepublik oder den Niederlanden üblich war. In diesem Zusammenhang ist sowohl die Übernahme der Konzernleitung durch den ehemaligen Gouverneur der Banque de France Wilfrid Baumgartner, der keinerlei Erfahrung als Industriemanager besaß, als auch die bereits oben geschilderte Fusion mit der Celtex-Gruppe (1961) und die Eingliederung von Progil und Pechiney-Saint-Gobain in Rhône-Poulenc (1969) zu sehen.669 Dabei fand der ökonomische Wachstumsschub der Trente Glorieuses in Frankreich mit der politischen Stabilisierung nach dem Ende der Kolonialkriege und dem Bedeutungsrückgang der Landwirtschaft vor allem in den 1960er Jahren statt, als sich das Wachstum in der Bundesrepublik oder Italien bereits wieder abschwächte.670 Jene Unterschiede verloren in den folgenden Jahren jedoch ein Stück weit an Bedeutung, da die westeuropäischen Ökonomien im Zuge des 668 Noch 1973 befand der Präsident der Rhône-Poulenc-Gruppe Renaud Gillet: »Nous sommes trop Français … la position internationale du groupe ne correspond pas à son importance réelle«. Zitiert nach: Guinot, Stratégies, S. 169–170. 669  Barral, Molécules, S. 61–64; Eck, Économie française, S. 3–26; Gambrelle / Torres, RhônePoulenc, S. 102–103; Requate, Frankreich, S. 101–106. Vgl. zum Rollenwechsel von Baumgartner: Feiertag, Baumgartner; Joly, Dirigeants, hier S. 27–28; Joly, Lenker. Vgl. zu den Karrierewegen des Führungspersonals von Rhône-Poulenc: Joly, Position, besonders S. 68–70, 77–78. 670 Eck, Économie française, S. 5.

Rhône-Poulenc

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Integrationsprozesses enger aneinander rückten und viele Herausforderungen eine internationale Dimension annahmen. Während die zweite Flurbereinigung zwischen den drei IG Farben-Nachfolgern Bayer, BASF und ­Hoechst (1969/70) und die Gründung von Akzo (1969) im Zusammenspiel mit dem Ausbau des Auslandsgeschäfts eine neue Phase der Unternehmensentwicklung einläuteten, war es bei Rhône-Poulenc 1969 die Großfusion mit Pechiney-Saint-Gobain und Progil.671

3.4.1 Die Umstrukturierung der französischen Chemieindustrie (1966–1971) In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zeigte der gemeinsame europäische Markt immer klarere Konturen. Für die französischen Unternehmen stellte dies eine enorme Herausforderung dar, denn viele waren zu klein, um den heimischen Markt gegen ausländische Konkurrenz zu verteidigen oder erfolgreich im Ausland zu expandieren. Gleichzeitig erschwerte das zunehmende Ungleichgewicht der Währungsparitäten die unternehmerische Planbarkeit.672 Die deutsche Wochenzeitschrift Die Zeit beschrieb die Abwertung des Francs im August 1969 als »Coup à la de Gaulle«673, die mit der bisherigen geldpolitischen Tradition Frankreichs breche. Vor der Freigabe der Wechselkurse waren die Deutsche Mark unter enormen Aufwertungs- und der französische Franc umgekehrt unter Abwertungsdruck geraten.674 Der bisher von der politischen und ökonomischen Elite eingeschlagene Weg, die französische Chemieindustrie über die Bildung von Gemeinschaftsunternehmen mittelgroßer französischer Firmen zu stärken, kam in dieser Zeit an seine Grenzen. François Guinot zufolge, der von 1974 bis 1976 Directeur des accords industriels bei Rhône-Poulenc war, mehrten sich daher Ende der 1960er Jahre die Stimmen, die eine Umstrukturierung der Chemieindustrie nach dem Vorbild der französischen Ölindustrie forderten. Neben Rhône-Poulenc sollten ein bis zwei weitere größere, international wettbewerbsfähige Chemiegruppen 671 Vgl. zur Multinationalisierung französischer Unternehmen: Fridenson, Multinationalisiation. Rhône-Poulenc war Mitte der 1960er Jahre der mit Abstand größte französische Chemiekonzern. Umsatzzahlen 1966: Rhône-Poulenc 5,466 Mrd. FF; Ugine Kuhlmann 3,139 Mrd. FF; Pechiney-Saint-Gobain 1,666 Mrd. FF; Pechiney 1,485 Mrd. FF, SaintGobain 1,329 Mrd. FF; Roussel Uclaf 734 Mio. FF. Vgl. Guinot, Stratégies, S. 68–69. 672 Eck, La France, S. 24–32, 285–289; Schild / Uterwedde, Frankreich, S. 144–146, 162, 181. 673 »Zur Abwertung des französischen Franc: Ein Coup à la de Gaulle. Aber Pompidous Entscheidung ist eine Abkehr vom General«, in: Die Zeit, 15.08.1969. 674 Comité pour l’Histoire Economique et Financière, Bretton Woods. Auf Anfrage des französischen Industrieministeriums (Direction des Industries Textiles et Diverses du Ministère de l’Industrie) bestätigte Rhône-Poulenc, dass man die Abwertung für einen verstärkten Export nutze, dies aber nicht zu Lasten der französischen Kunden gehe. Vgl. AHGS , RP. SA BH101 C.C14 Nr. 5 Rhône-Poulenc S. A. Comité de Direction (10.09.1969).

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entstehen.675 Die Errichtung eines Büros zur Behandlung von Unternehmensfusionen und -umgruppierungen beim französischen Industrieministerium (Bureau des fusions et regroupements d’entreprises) im Oktober 1967 war genau hierauf ausgerichtet.676 Mit der Rückkehr von Michel Debré in die Regierung  – zwischen 1966 und 1968 französischer Wirtschafts- und Finanzminister – brach eine neue Phase in der französischen Wirtschaftspolitik an. Debré war sich mit Premierminister Georges Pompidou darin einig, dass die französische Industrie gegenüber ausländischer Konkurrenz gestärkt werden müsse und größere Konzerne wettbewerbsfähiger seien. Der fünfte, vom Staatlichen Planungskommissariat (Commissariat Général du Plan) ausgearbeitete Plan (1966–1970) hielt daher nochmals explizit fest, dass nur wenige französische Industriegruppen von internationaler Dimension existieren würden und ihre Zahl je nach Sektor auf ein bis zwei begrenzt werden sollte.677 Dabei war die Fragmentierung der französischen Chemieindustrie im Vergleich zu Großbritannien oder der Bundesrepublik unübersehbar. Um Mitte der 1960er Jahre 75 Prozent des Branchenumsatzes abzubilden, benötigte es nicht weniger als 70 Unternehmen. Zwar dominierten hierbei die fünf großen Konzerne – Pechiney, Rhône-Poulenc, Saint-Gobain, Kuhlmann und Ugine –, allerdings lagen die für französische Verhältnisse großen Unternehmen im internationalen Maßstab deutlich hinter ihren amerikanischen oder westdeutschen Konkurrenten.678 Der erste Konsolidierungsschritt wurde mit dem Zusammenschluss von Kuhlmann und Ugine (Société d’électrochimie, d’électrométallurgie et des aciéries électriques d’Ugine) 1966 vollzogen. In einem Brief an die Aktionäre wies der Ugine-Vorstandsvorsitzende Henri Jolivet im Juni 1966 insbesondere darauf hin, dass die Fusion die Unterstützung der französischen Regierung finde.679 Fünf Jahre später (1971) fusionierte Ugine Kuhlmann mit der Compagnie Pechiney S. A. zur Pechiney Ugine Kuhlmann (PUK), welche in Frankreich eine führende Stellung auf dem Gebiet der Elektrochemie, der Elektrometallurgie und der organischen Chemie einnahm.680 Die politischen Forderungen und der Zusammenschluss von Kuhlmann und Ugine zeigten auch bei Rhône-Poulenc Wirkung. Angesichts der politischen Bestrebungen, eine weitere, international konkurrenzfähige Chemiegruppe zu etablieren, sah der Rhône-Poulenc-Vorstand seine Position auf dem französischen 675 Guinot, Stratégies, besonders S. 42–51, 103–111. 676 Ministère de l’Industrie: Création d’un bureau des fusions et regroupements d’entreprises, in: Journal Officiel de la République Française, 10.10.1967, S. 9984. 677 Eck, La France, S. 70–73; Péréon, Moralizing, S. 27. 678  Guinot, Stratégies, S. 68; Péréon, Moralizing, S. 27. 679  Beaud / Danjou / David, Multinationale, S. 56–66; Léger, Kuhlmann, S. 197–221; Péréon, Moralizing, S. 27–41; Thaure, Pechiney, S. 44–49. Ugine und Kuhlmann fusionierten unter Einschluss der deutlich kleineren Firma Société des Produits Azotés, einer Tochtergesellschaft von Ugine. 680 Beaud / Danjou / David, Multinationale, S.  67–101; Cailluet, Stratégies; Guinot, Stratégies, S. 121–125; Léger, Kuhlmann, S. 225–228; Thaure, Pechiney, S. 50–55.

Rhône-Poulenc

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Markt gefährdet, zugleich schätzte man die Lage gegenüber der ausländischen Konkurrenz ähnlich ein. Die Generaldirektion von Rhône-Poulenc (Direction générale) diskutierte daher am 22. August 1968 über die zukünftige strategische Ausrichtung und kam zu dem Schluss, dass eine Vor- oder Rückwärtsintegration notwendig sei und die bisherige passive Haltung bei der Produktion petrochemischer Grundstoffe langfristig ein Risiko darstelle. Neben der Idee zur Stärkung der Grundchemie (chimie lourde et minérale) wurden auch Möglichkeiten zur Diversifikation debattiert, womit die Rhône-Poulenc-Führung einem internationalen Trend in der Chemieindustrie folgte. Damit war zwar noch keine Entscheidung über den zukünftigen Weg gefallen, für den Vorstand stand jedoch fest, dass das Unternehmen grundlegend umgestaltet werden musste.681 Während der Umstrukturierung der französischen Chemieindustrie zu Beginn der 1960er Jahre, in dessen Verlauf die Celtex-Aktivitäten in Rhône-Poulenc integriert worden waren, hatten die beiden französischen Unternehmen Pechiney und Saint-Gobain ihre Zusammenarbeit verstärkt. Sowohl der traditionelle Glashersteller Saint-Gobain als auch das auf die Aluminiumproduktion spezialisierte Unternehmen Pechiney verfügten über einen eigenen Chemiebereich. Bereits in den 1950er Jahren war allerdings offensichtlich geworden, dass beide Unternehmen auf diesem Gebiet nicht die kritische Größe erreichen würden, um mit ihren Wettbewerbern mithalten zu können. Auf Initiative des Président Directeur Général (PDG) von Pechiney, Raoul de Vitry, wurde daher 1961 das 50:50 Joint Venture Pechiney-Saint-Gobain gegründet, in dem beide Unternehmen ihre Chemieaktivitäten bündelten.682 Im März 1967 beschlossen Pechiney und Saint Gobain, ihre Aktivitäten in der Herstellung von Acetatvinyl in einer gemeinsamen Tochtergesellschaft zusammenzuführen, die jeweils 42 Prozent an den Unternehmen Aquitaine Chimie und Acétalacq hielt, wobei Aquitaine Chimie wiederum zu 60 Prozent an einem Acetylen-Werk (Atelier d’acétylene) beteiligt war. Aquitaine Chimie war 1959 angesichts der enormen Erdgasfunde bei Lacq im französischen Département Pyrénées-Atlantiques seitens der abnehmenden chemischen Großunternehmen gegründet worden und versorgte die Muttergesellschaften fortan mit chemischen Produkten auf der Basis von Methan.683 Hier zeigten sich die engen Verbindungen innerhalb der französischen Chemieindustrie. Bei der Société Acétalacq handelte es sich ebenfalls um ein Gemeinschaftsunternehmen, das in den 1950er Jahren durch Pierrefitte (6 %), Rhône-Poulenc (21 %), Pechiney 681 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 270–271. 682 Gambrelle / Torres, Rhône-Poulenc, S. 126–127; Léger, Kuhlmann, S. 185–186; Wei, Péchiney. 683 Zu den Gründungsunternehmen von Aquitaine Chimie gehörten Pechiney, Saint-Gobain, Office National Industriel de l’Azote (ONIA), Pierrefitte, Banque de Paris et des Pays-Bas (Paribas), Usines de Melle, Rhône-Poulenc, Kuhlmann. Die Société Générale d’Engrais et de Produits Chimiques Pierrefitte fusionierte 1969 mit dem Unternehmen Produits Chimiques d’Auby zu Pierrefitte-Auby und war eine Tochtergesellschaft von Paribas. Vgl. Aftalion, Industry, S. 291; Taillefer, Usine.

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(21 %), Saint-Gobain (21 %), Usines de Melle (21 %) und die Paribas-Bank (10 %) errichtet worden war.684 Rhône-Poulenc war somit an Acétalacq wie auch am Atelier d’acétylene (40 %) beteiligt und einigte sich mit Pechiney-Saint-Gobain auf eine Umgruppierung ihrer Aktivitäten auf dem Acetylen-, Acetaldehyd-, Vinylacetat- und Essigsäure-Gebiet, in dessen Folge Rhône-Poulenc fortan mit 65 Prozent und Pechiney-Saint-Gobain mit 35 Prozent an Acétalacq beteiligt waren.685 Diese Übereinkunft bildete einen Vorgeschmack auf die anstehende Konzentration in der französischen Chemieindustrie.686 Da das Gemeinschaftsunternehmen Pechiney-Saint-Gobain in den 1960er Jahren nicht die angestrebten Gewinne erwirtschaftete, entstand bei den beiden Muttergesellschaften das Bedürfnis, sich aus der Chemieproduktion zurückzuziehen. Parallel förderte die französische Industriepolitik weiterhin die Etablierung nationaler Champions.687 Vor diesem Hintergrund sollte besonders die Stellung von Rhône-Poulenc innerhalb der französischen Chemieindustrie gestärkt werden. Daher schlossen Rhône-Poulenc, Pechiney und Saint-Gobain 1969 einen Vertrag ab, der eine Mehrheitsbeteiligung von Rhône-Poulenc an Pechiney-Saint-Gobain vorsah. Bis 1970 übernahm Rhône-Poulenc 50,89 % des Aktienkapitals von Pechiney-Saint-Gobain, während die übrigen Anteile zunächst noch bei Saint-Gobain (39,11 %) und Pechiney (10 %) verblieben. In den folgenden Monaten gaben beide Unternehmen weitere Aktienpakete an die Rhône-Poulenc-Gruppe ab, die ihren Anteil auf diese Weise bis 1971 auf über 90 Prozent steigern konnte.688 Die Produktion von Pechiney-Saint-Gobain verteilte sich 1968 auf 17 französische Fabriken, in denen nicht-organische Chemieprodukte (chimie minérale) (44 %), Kunststoffe (chimie de plastique) (33 %) und Pflanzenschutzprodukte (chimie de produits phytosanitaires) (23 %) hergestellt 684 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 183; Di Méo, Consommation. Vgl. für eine Aufstellung aller Beteiligungen von Pechiney-Saint-Gobain 1967: Cayez, Rhône-Poulenc, S. 272. 685 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 247. 686 Laut Guinot galt für die französische Chemieindustrie: »Tout le monde est plus ou moins lié à tout le monde.« Guinot, Stratégies, S. 42. 687 Guinot, Stratégies, S. 112; Schmidt, State, S. 73–86. 688 Aftalion, Industry, S. 287; Barral, Molécules, S. 77–81; Cayez, Rhône-Poulenc, S. 277–278; Guinot, Stratégies, S. 116–121; Wei, Péchiney. Im Dezember 1969 verfügte RhônePoulenc über einen Aktienanteil von 44,19 % an Pechiney-Saint-Gobain; im Rahmen einer Kapitalerhöhung bei Pechiney-Saint-Gobain konnte Rhône-Poulenc den Anteil 1970 auf über 50 % anheben. Vgl. AHGS , RP.SA BH2253 G13-1 Exercice Rhône-Poulenc S. A. 1969, S. 8. Neben dem direkten Kauf erhöhte Rhône-Poulenc den Aktienanteil über einen Aktientausch, bei dem Rhône-Poulenc und die Saint-Gobain / Pont-à-Mousson-Gruppe Aktienpakete von Pechiney-Saint-Gobain und Verre Textile tauschten; anschließend fand eine weitere Kapitalerhöhung statt, bei der nur Rhône-Poulenc Aktien zeichnete. Vgl. AHGS , RP.SA BH101 C.C14 Nr. 7 Rhône-Poulenc S. A. Comité de Direction (29.09.1971). Ab Januar 1970 nahmen der Präsident und der Vize-Präsident von Pechiney-Saint-Gobain, Paul Jean und Paul Viollet, an den Vorstandssitzungen von Rhône-Poulenc teil. Vgl. AHGS , RP.SA BH101 C.C14 Nr. 6 Rhône-Poulenc S. A. Comité de Direction (21.01.1970).

Rhône-Poulenc

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wurden. Die Beteiligung stärkte bei Rhône-Poulenc somit vor allem die klassischen Arbeitsgebiete fernab des Endkundengeschäfts.689 Während die Stellung von Rhône-Poulenc auf diese Weise gefestigt wurde, entwickelte sich der SaintGobain-Konzern nach der Abspaltung seines Chemiegeschäfts und der Fusion mit dem französischen Eisen- und Stahlunternehmen Pont-à-Mousson zu einem internationalen Mischkonzern im Bereich von Baustoffen, Glas, Industrie­ keramik und Hochleistungskunststoffen.690 Damit war die Umstrukturierung der französischen Chemieindustrie noch nicht abgeschlossen, denn im April 1969 fand die Fusion zwischen Rhône-­ Poulenc und dem französischen Unternehmen Progil statt. Die in Lyon ansässige Firma Progil (Produits chimiques Gillet) war 1918 gegründet worden, um die Chemieaktivitäten der Gillet-Gruppe, einer einflussreichen französischen Industriellenfamilie, zusammenzufassen. Sie war sowohl in der Färbung von Seidenerzeugnissen und Fasern als auch in der Produktion von Chlor und Phosphaten tätig. Noch in der Zwischenkriegszeit gründete Progil Auslands­ gesellschaften und erweiterte das Aufgabengebiet auf die Herstellung von Kunststoffen. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte das Unternehmen seinen expansiven Kurs fort und erwarb zwischen 1948 und 1968 insgesamt 22 neue Beteiligungen, mit denen es auf die Gebiete der Elektro- und Petrochemie, des Pflanzenschutzes sowie der nicht-organischen Chemieproduktion vorstieß. Obschon es sich bei Progil im internationalen Vergleich nach wie vor um ein mittelgroßes Chemieunternehmen handelte, hatte sich das Produktspektrum damit weit ausdifferenziert. Am Vorabend der Fusion mit Rhône-Poulenc entfielen etwa 20 Prozent des Progil-Umsatzes auf nicht-organische Chemieprodukte (chimie minérale), 12 Prozent auf Kunststoffe (plastiques), 53 Prozent auf petrochemische Produkte (pétrochimie)  und 15 Prozent auf organische Chemieprodukte (produits organiques).691 Mitglieder der Gillet-Gruppe waren schon seit 1895 mit kleineren Aktienanteilen an Rhône-Poulenc (bzw. dem Vorgängerunternehmen Société chimique des usines du Rhône (SCUR)) beteiligt und in Leitungsfunktionen der Gesellschaft gerückt, doch erst im Rahmen der Umstrukturierung der französischen Chemieindustrie in den 1960er Jahren waren sie in Besitz eines größeren Aktienpakets in Höhe von etwa vier bis fünf Prozent des Gesellschaftskapitals gekommen. Mit der Veräußerung der Progil-Beteiligung 1969 gaben die Gillet-Gruppe und befreundete Familien einerseits die Kontrolle über ein eigenes, mittelgroßes Unternehmen ab; umgekehrt gewannen sie auf diese Weise Einfluss auf die führende französische Chemiegruppe. Dies schlug sich nicht zuletzt in der Wahl von

689 Cayez, Rhône-Poulenc, S. 272–273; BNF: »Pechiney-Saint-Gobain. Un groupe dans le Groupe Rhône-Poulenc«, in: Rhône-Poulenc vous présente…, Nr. 4, 1971, S. 3–7. 690 Daviet, Multinationale, S. 248–314. 691 Cayez, Progil; Cayez, Rhône-Poulenc, S. 273–274;  Gambrelle / Torres, Rhône-Poulenc, S. 104–105; Laferrère, Industries.

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Renaud Gillet zum Vorstandsvorsitzenden (Président du comité exécutif ) von Rhône-Poulenc zwischen 1973 und 1979 nieder.692 Neben politischen Forderungen zur Schaffung international wettbewerbsfähiger, französischer Industriegruppen sowie der Verstärkung und Erweiterung bisheriger Produktfelder boten sich die beiden Fusionen aus Sicht von RhônePoulenc aufgrund bestehender Gemeinschaftsunternehmen von Rhône-Poulenc, Pechiney-Saint-Gobain und Progil wie der Société Dauphinoise de Fabrications Chimiques (Daufac) oder der Société Toulousiane de Produits Chimiques (Tolochimie) an.693 Sowohl am Umsatz als auch an der Mitarbeiterzahl gemessen war die Rhône-Poulenc-Gruppe mit 5.928 Mio. FF und 92.830 Beschäftigten 1968 ihren beiden Fusionspartnern Pechiney-Saint-Gobain (1.618  Mio. FF, 12.527 Beschäftigte) und Progil (458 Mio. FF, 3.607 Beschäftigte) weit überlegen, gleichwohl belegen jene Zahlen die Größenordnung der Umstrukturierung. Finanziert wurden die Übernahmen durch eine Kapitalerhöhung der Rhône-Poulenc S. A. und einen anschließenden Aktientausch.694 Die offizielle Verlautbarung begründete den Zusammenschluss mit Progil vor allem mit der zunehmenden internationalen Konkurrenz und bezeugt damit eine ähnliche Wahrnehmung wie bei den europäischen Wettbewerbern. Zugleich wurde in der Bekanntmachung auf das nationale Interesse der Fusion verwiesen. »Face à la compétition internationale, l’industrie chimique française […] ne peut opposer que des structures trop dispersées aux grandes concentrations mises en place à l’étranger. Estimant devoir contribuer activement à la solution de ce problème d’intérêt national, la société Rhône-Poulenc S. A. et la société Progil […] ont reconnu les avantages que présenterait, sur les plans indus692   AHGS , RP.SA BH0091 1 Allocution du Président Renaud Gillet. Assemblée générale ordinaire (07.06.1979); Cayez, Rhône-Poulenc, S. 226, 275; Barral, Molécules, S. 83; Joly, Diriger, S. 102–103; Joly, Gillet, S. 181–183; Jacqueline Grapin: »M. Renaud Gillet, nouveau Vice-Président de Rhône-Poulenc. Un grand seigneur de l’industrie«, in: Le Monde, 24.08.1972; »Le nouveau Président de Rhône-Poulenc M. Renaud Gillet. Refaire d’une institution une entreprise«, in: Le Monde, 02.10.1973. Vgl. hierzu auch Chadeau, Family Firm. Das Buch des Journalisten Marcel Peyrenet hat teilweise zur Legendenbildung um die Familie Gillet beigetragen. Vgl. hierin zu Renaud Gillet: Peyrenet, Gillet, S. 185–198. 693 Aftalion, Industry, S. 283–284; Cayez, Rhône-Poulenc, S. 274–275; AHGS , RP.SA BH101 C.C14 Nr. 4 Rhône-Poulenc S. A. Comité de Direction (26.02.1969). 694 AHGS , RP.SA BH2253 G13-1 Exercice Rhône-Poulenc S. A. 1969, S. 8–9, 27–38, 76–77; AHGS , RP.SA BH101 C.C14 Nr. 4 Rhône-Poulenc S. A. Comité de Direction (23.04.1969); Cayez, Rhône-Poulenc, S. 276–277. Für die Fusion mit Progil wurde das Aktienkapital von Rhône-Poulenc S. A. um nom. 85.317.000 FF und für den Zusammenschluss mit Pechiney-Saint-Gobain um nom. 73.011.000 FF erhöht. Insgesamt stieg das Aktienkapital von Rhône-Poulenc infolgedessen um 158.328.000 FF von 911.250.000 auf 1.069.578.000 FF. Zugleich genehmigte eine außerordentliche Generalversammlung am 25.06.1970 weitere Kapitalerhöhungen in Höhe von insgesamt 2,5 Mrd. FF innerhalb der nächsten fünf Jahre und verschaffte dem Vorstand damit Spielraum für weitere Zukäufe. Vgl. zur Reaktion der Gewerkschaften auf die Umstrukturierung der französischen Chemieindustrie Ende der 1960er Jahre: Archives CFDT (Paris), 1 F 686, Conférence nationale CFDT Rhône-Poulenc (1970–1974).

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triels et financiers, le rapprochement de leurs entreprises.«695 Organisatorisch wurde die Fusion mit der Umbenennung der Untergesellschaft Pechiney-SaintGobain in Rhône-Progil 1971 vorerst abgeschlossen, auf welche Rhône-Poulenc ihre Beteiligungen an Pechiney-Saint-Gobain und Progil übertrug und die fortan mit ca. 25.000 Beschäftigten den Kern der Grundchemikalienproduktion darstellte.696 Anschließend wurden die Chemieaktivitäten von Rhône-Progil und Rhône-Poulenc (Société des Usines Chimiques Rhône-Poulenc, SUCRP) in mehreren Etappen bis 1975 in einer neuen Gesellschaft namens Rhône-PoulencIndustries (RPI) zusammengefasst.697 Tabelle 27: Vergleich der Umsatzzahlen von Rhône-Poulenc vor und nach der Fusion (1969) Rhône-Poulenc   Chemieund PharmaProdukte Chemiefasern

Filme und Folien

Summe

 

in 1.000 FF

in %

in 1.000 FF

in %

in 1.000 FF

in %

Frankreich

1.905.958

28,7

3.318.889

93,6

5.224.847

51,3

Ausland

745.432

11,2

226.588

6,4

972.020

9,5

Summe

2.651.390

39,9

3.545.477

100

6.196.867

60,8

Frankreich

2.058.603

31,0

 

 

2.058.603

20,2

Ausland

1.467.701

22,1

 

 

1.467.701

14,4

Summe

3.526.304

53,0

 

 

3.526.304

34,6

470.056

7,1

 

 

470.056

4,6

740