Vorgeschichte der Gegenwart: Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom [1 ed.] 9783666300783, 9783525300787


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Vorgeschichte der Gegenwart: Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom [1 ed.]
 9783666300783, 9783525300787

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Nach dem Boom Herausgegeben von Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael

Vorgeschichte der Gegenwart Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom

Herausgegeben von Anselm Doering-Manteuffel, Lutz Raphael und Thomas Schlemmer

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 2 Schaubildern und 3 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN ISBN 978-3-666-30078-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de. Umschlagabbildung: Reichstagskuppel, Foto: © Sabine Back, Ulm © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

Inhalt Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael Nach dem Boom Neue Einsichten und Erklärungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Formwandel und Strukturbrüche der Arbeit Dieter Sauer Permanente Reorganisation Unsicherheit und Überforderung in der Arbeitswelt . . . . . . . . . . . . . 37 Andreas Boes, Tobias Kämpf und Thomas Lühr Von der »großen Industrie« zum »Informationsraum« Informatisierung und der Umbruch in den Unternehmen in historischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Thomas Schlemmer Befreiung oder Kolonialisierung? Frauenarbeit und Frauenerwerbstätigkeit am Ende der Industriemoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 Dietmar Süß Der Sieg der grauen Herren? Flexibilisierung und der Kampf um Zeit in den 1970er und 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Wiebke Wiede Zumutbarkeit von Arbeit Zur Subjektivierung von Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland und in Großbritannien . . . . . . . . . . . . 129 Tobias Gerstung Vom Industriemoloch zur Creative City? Arbeit am Fluss in Glasgow während und nach dem Boom . . . . . . . . . 149

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Inhalt

II . Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik

zwischen Kontinuität und Bruch

Stefan Eich and Adam Tooze The Great Inflation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Christian Marx Der Aufstieg multinationaler Konzerne Umstrukturierungen und Standortkonkurrenz in der westeuropäischen ­ Chemieindustrie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Lutz Leisering Nach der Expansion Die Evolution des bundesrepublikanischen Sozialstaats seit den 1970er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Wolfgang Schroeder und Samuel Greef Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen nach dem Boom . . . . . . . . . 245 Maria Dörnemann Modernisierung als Praxis? Bevölkerungspolitik in Kenia nach der Dekolonisation . . . . . . . . . . . 271 III . Von der Konsum- zur Konsumentengesellschaft

Frank Trentmann Unstoppable: The Resilience and Renewal of Consumption after the Boom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Maren Möhring Ethnic food, fast food, health food Veränderungen der Ernährung und Esskultur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Hannah Jonas Fußballkonsum zwischen Kommerz und Kritik England und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich . . . . . . . . 333 Tobias Dietrich Laufen nach dem Boom Eine dreifache Konsumgeschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

Inhalt

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IV. Zeithorizonte und Zeitdiagnosen

Martin Kindtner Strategien der Verflüssigung Poststrukturalistischer Theoriediskurs und politische Praktiken der 1968er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 Fernando Esposito Von no future bis Posthistoire Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom . . . . . . . 393 Elke Seefried Bruch im Fortschrittsverständnis? Zukunftsforschung zwischen Steuerungseuphorie und Wachstumskritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425 Dennis Eversberg Destabilisierte Zukunft Veränderungen im sozialen Feld des Arbeitsmarkts seit 1970 und ihre Auswirkungen auf die Erwartungshorizonte der jungen Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 Morten Reitmayer Britische Elitesemantiken vor und nach dem Strukturbruch . . . . . . . . 475 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501

Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael

Nach dem Boom Neue Einsichten und Erklärungsversuche

1. Zeithorizonte Erstaunliches ist geschehen. Die Zeithistorie hat die gewohnten Pfade des beharrlichen Voranschreitens durch die Dekaden verlassen. Selbst die Sperrfrist der Archive, die berühmte Dreißig-Jahres-Frist, kann nicht mehr als Argument herhalten, um Forschungsfragen zu unterbinden und gegenwartsnahe Unter­ suchungen zu tabuisieren. Die Zeitgeschichte hat sich darauf eingelassen, eine Problemgeschichte der Gegenwart zu werden. Ein solcher Aufbruch aus liebgewonnenen, aber erkenntnisarmen Routinen war eines der Ziele, die wir 2007/08 mit dem Forschungsprogramm in unserem knappen Aufriss »Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970« verbanden1. Seither ist eine ganze Reihe von Beiträgen erschienen, die die empirischen Grundlagen der – wie wir sie nennen – gegenwartsnahen Zeit­ geschichte erheblich erweitert haben. Diese Studien tragen dazu bei, die Eigenart der jüngsten Vergangenheit präzise und nuanciert erkennen zu können. Der Zeithorizont in den aktuellen Debatten ist zum Teil deutlich ausgeweitet worden und umfasst inzwischen gut und gerne ein halbes Jahrhundert, wenn es um Kontroversen über Theorien wie »Wertewandel«, Finanzmarktkapitalismus, zweite respektive Post- oder Spätmoderne geht oder um die Frage, welche sozialwissenschaftlichen Diagnosen und Daten für die historische Urteilsbildung verwendet werden können. Vor allem kulturhistorische beziehungsweise mentalitäts- und konsum­historische Befunde datieren die Anfänge des Auf- und Umbruchs zu unserer Gegenwart auf die Mitte der 1960er Jahre, doch abgesehen davon wird inzwischen mehrheitlich die Zeit »um 1970/75« mit der summarischen Bezeichnung »nach dem Boom« zur Markierung dieser Anfänge gewählt. In den einschlägigen Debatten beziehen sich viele Argumente auf heutige Befunde, nehmen also den Präsentismus der Zeitgeschichte als Möglichkeit heuristischen Fortschritts ganz ernst, wenn sie die Anfänge von aktuellen Gegebenheiten im Guten wie im Schlechten in den zurückliegenden fünf Jahrzehnten aufsuchen. Für die gegenwartsnahe Zeitgeschichte ist das ein ungewohnt langer Zeitraum,

1 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008; die 3., ergänzte Auflage, nach der hier zitiert wird, datiert von 2012.

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und er sollte auch nicht anders verstanden werden denn als Bestandteil der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts und nicht zuletzt auch als Bestandteil der Moderne seit 1800. Die Zeitgeschichte umfasst das gesamte 20. Jahrhundert, wie die heftigen internationalen Debatten über die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für das Selbstverständnis der Zeitgenossen von 2013/14 zeigen, und sie ist nur aus den Entwicklungslinien seit der Aufklärung, der Französischen Revolution und der Neuordnung Europas nach dem Wiener Kongress zu verstehen2. Ohne Reflexion über diese weiteren Bezüge kommt auch die Debatte über die gegenwartsnahe Zeitgeschichte nicht aus. Die Beiträge dieses Bandes dokumentieren die Bedeutung unterschiedlicher Zeitperspektiven für die gegenwartsnahe Zeitgeschichte. Während die Mehrzahl den Blick auf die engere Zeitspanne der 1970er und 1980er Jahre richtet, greifen einige Beiträge auch auf die 1960er Jahre zurück, um die Problem­ konstellation ihres Themas in den angemessenen Horizont zu rücken. Dies gilt für die Fallstudien von Christian Marx über die Anfänge der Internationalisierung europäischer Großunternehmen der Chemiebranche, von Maria­ Dörnemann über die modernisierungstheoretisch fundierte Bevölkerungs­ politik internationaler Organisationen der Entwicklungshilfe in Kenia und von Morten Reitmayer über den Wandel der Elitensemantiken in Großbritannien. Den Zeithorizont seit den 1970er Jahren, vom Niedergang des Nachkriegsbooms und dem Beginn der Epoche nach dem Boom repräsentieren die sozialwissenschaftlichen Beiträge von Lutz Leisering, Andreas Boes und seinen Co-Autoren sowie von Dieter Sauer und Dennis Eversberg. Als Fallstudien zur Geschichte der Moderne im 20. Jahrhundert und zu den Transformationsdynamiken im Übergang von der Nachkriegsordnung zu den Anfängen der Gegenwart operieren die ideengeschichtlichen Aufsätze von Fernando Esposito, Martin Kindtner und Elke Seefried, weil sie weiter ausgreifen müssen, um die gedankliche Anbahnung der neuen Zeitdiagnose nachvollziehen zu können. Auch die konsumhistorischen Zeithorizonte sind weit gespannt, denn die Reformbewegungen der Jahrhundertwende um 1900 und die Entfaltung der Wohlstandsgesellschaft seit dem Ende der 1950er Jahre bildeten, wie Maren Möhring, Frank Trentmann und Hannah Jonas aus je unterschiedlicher Perspektive zeigen, Grund­lagen oder prägten Erfahrungen und Erwartungen im Übergang zur Epoche nach dem Boom. Diese Flexibilität der Zeithorizonte deckt unterschiedliche Sachverhalte auf. Sie verdeutlicht, dass es Problembezüge sind, welche die Zeithorizonte bestimmen und nicht umgekehrt. Die Pluralität von Zeitbegrenzungen, die in den Un-

2 Als prominentes neues Beispiel für die Bedeutung von »Ordnung« für Staaten und Ge­ sellschaften vgl. Henry Kissinger, World Order, London 2014, und die nachdenkliche Würdigung des Buchs durch Niall Ferguson, K of the Castle. Henry Kissinger’s guide to the confusions of foreign policy in a world without the old order, in: The Times Literary Supple­ ment vom 28.11.2014, S. 3 ff.

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tersuchungen sichtbar wird, aber auch von Basisprozessen, Trends oder Ereigniskomplexen stiftet keine Verwirrung, sondern vertieft die Erkenntnis, auch wenn die Zeitgeschichte darüber in ein Nebeneinander, ein scheinbares Durcheinander, von Zeitbezügen hineingerät, das angesichts der Routine in dekadologischer Chronologie verwirrend sein mag. Die Debatte über die Frage, ob jenseits dieser Pluralität der Problem- oder Partialzeiten noch andere Epochengrenzen zu definieren sind, ist nach wie vor im Gang. Themen, Fragestellungen und Untersuchungsgegenstände definieren den spezifischen Horizont des Erkenntnisinteresses und können es nahelegen, andere historische Grenzlinien als die allseits gewohnten zu postulieren. Niemand wird widersprechen, wenn darauf hingewiesen wird, dass der eine oder andere Trend viel früher eingesetzt hat oder dass für eine bestimmte Fragestellung andere Zäsuren maßgeblich sind als jene, die wir seinerzeit aus unserem damaligen Erkenntnisinteresse postuliert haben. Die Periodisierungsdiskussion weiterzuführen, lohnt sich allemal. Dies bleibt aber an das gegenseitige Einverständnis gebunden, dass es nur darum gehen kann, jenseits der Kontinuitäten in den Basisprozessen und jenseits der spezifischen Veränderungsrhythmen in einzelnen Handlungsfeldern oder Institutionen über die übergeordneten Trends und Wechselwirkungen in ihrer zeitlichen Dimension zu diskutieren. Nur so lässt sich die Debatte auf den entscheidenden Punkt konzentrieren, denn es geht um die Frage, welche Zäsuren gleichermaßen bedeutungsvoll waren und erklärungsstark sind, wenn wir Historiker nach einem Epochenzusammenhang suchen. Das macht es auch erforderlich, weitaus of­ fener als in der Vergangenheit über den Nutzen einer solchen narrativen Bündelung – die ja keineswegs eine autoritative Homogenisierung sein soll – zu reden, weil von kulturhistorischer Seite nach wie vor grundsätzliche Vorbehalte gegen eine solche »Meistererzählung« bestehen. Will die Zeitgeschichte sich nicht in ihre Teildisziplinen auflösen, bleibt ihr nicht viel anderes übrig, als diese Spannung zwischen der Eigenzeitlichkeit autonomer Handlungsfelder mit je spezifischen Pfadabhängigkeiten und Pfadwechseln einerseits und der Durchschlagskraft synchroner Trends und Umbrüche andererseits zur Kenntnis zu nehmen und produktiv auszugestalten. Ungeachtet einiger Polemiken und manchen Dissenses lässt sich aber ein stilles Einverständnis darüber feststellen, dass der Periodisierungsvorschlag »nach dem Boom« mit dem Postulat des Beginns »um 1970/75« manch hilfreichen Anhaltspunkt für den Beginn einer neuen Ära liefert. Nur wenige Stimmen plädieren noch dafür, mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland die 1970er Jahre von den 1980er Jahren zu trennen und als Jahrzehnte mit je eigener historischer Signatur auszumalen. Darin unterscheidet sich die deutsche Zeitgeschichte ganz markant von ihren Schwestern in einigen europäischen Nachbarländern. Auch ist der Kreis derjenigen kleiner geworden, die 1989/90 zur zentralen Zäsur erklären und das Geschehen in die nationalhistorische Kontinuitätslinie der Schulund Handbücher mit den üblichen Daten 1914/18, 1933, 1945/49 und 1989/90 einordnen. Wenn man allerdings die Ebene wechselt und die Entwicklungen in

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Europa insgesamt oder vorrangig in Osteuropa in den Blick nimmt, spricht nach wie vor vieles für die Zäsur 1989/903. Ganz anders sieht es aus, wenn man von der Gegenwart her fragt, welche Binnenzäsuren zu benennen wären, um die Epoche nach dem Boom genauer zu strukturieren. Ob die Finanzkrise von 2008 und die anschließende Eurokrise eine Schwelle zwischen der Vorgeschichte und unserer Gegenwart bilden, ist noch offen. Stefan Eich und Adam Tooze weisen in ihrem Beitrag darauf hin, dass der Anti-Inflationskonsens, der seit den 1980er Jahren die internationale Währungspolitik bestimmt, inzwischen brüchig geworden ist. Der Vorschlag indes, die Jahre zwischen 1995 und 2000 als Binnenzäsur zumindest für die Geschichte der Bundesrepublik, aber möglicherweise auch für die westeuropäischen Länder ins­gesamt zu markieren, ist plausibel und hat weitere Unterstützung gewinnen können. Dafür spricht, dass auf der Ebene der internationalen Entwicklung die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation nach der Einführung des world wide web 1995 mit den neuen Regeln des Finanzmarktkapitalismus zusammenwuchsen und die daraus entstehenden globalen Märkte für Kapital, Dienstleistungen und Waren beflügelt haben. Auf der Ebene der Unternehmen konvergieren nach einer Phase vielfältiger Experimente seither neue Tendenzen in der Organisation von Arbeit und Produktion in Richtung einer Vermarktlichung und Beschleunigung. Politisch etablierte sich in diesen Jahren der neue neoliberale Konsens aller großen Parteien in der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialpolitik, und lebensweltlich fand die neue Welt digitaler Kommunikation über das Internet Eingang in den Alltag der meisten Westeuropäer. Eine Schwelle war überschritten, die Weichen für den Weg in eine neoliberale Zukunft waren gestellt.

2. Interdiszplinäre Verbindungen und Theoriebezüge Ein wichtiges intellektuelles Ergebnis dieser doppelten Öffnung  – hin zu den Kontinuitätslinien aus der Nachkriegszeit und hin zu den Problemlagen unserer Gegenwart – ist die Nähe der Zeithistorie zu den Sozialwissenschaften. In den letzten Jahren sind dort die Stimmen derer lauter geworden, die für die Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsperspektiven eine größere historische Tiefe fordern. Dies gilt sowohl für die Ebene der Theorie- beziehungsweise Modell­ bildung als auch für das empirische Fundament. Damit formiert sich ein deutliches Gegengewicht gegen den Trend in den Sozialwissenschaften, Distanz zu halten zu historischen Erklärungsansätzen und Detailkritik. Die unvergleichlich leichtere Zugänglichkeit digital verfügbarer Datenreihen zur Gegenwart und bestenfalls zur allerjüngsten Vergangenheit4 setzt in der empirischen Forschung 3 Vgl. Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012; Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 22014. 4 Das sind in der Regel höchstens die letzten zehn Jahre.

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der Kooperation zwischen Sozial- und Geschichtswissenschaften enge Grenzen, aber nicht zuletzt dieser Band dokumentiert die Fortschritte im gemeinsamen Gespräch über die Vorgeschichte unserer Gegenwart. Das erfordert es, voneinander zu lernen, um die unterschiedlichen Methoden der beiden Disziplinen verstehen und in die Argumentation des eigenen Fachs integrieren zu können. Als wichtige Berührungspunkte oder Kontakt- und Austauschzonen haben sich die Themen Arbeitswelt, Biopolitik und Subjektivierungsformen sowie die Entwicklung der Sozialstaatlichkeit und des internationalen Finanzmarkts in seinem Verhältnis zur nationalen Demokratie herausgebildet. Ein gemeinsames Thema für Sozialwissenschaftler und Zeithistoriker ist die Gegenwartsgeschichte des Kapitalismus. Die neu belebte Kapitalismus-Diskussion in der Zeitgeschichte mag man als Überraschung betrachten. Dies gilt umso mehr, als sie keineswegs mit einem marxist turn verbunden ist. Beim Nach­ denken über die Dynamiken des gegenwärtigen Kapitalismus haben auch Zeithistoriker Ansätze aufgenommen, die aus dem Umfeld einer kapitalismuskritischen Tradition stammen, wie die Regulations- oder Postfordismusschule oder die wirtschaftssoziologische Analyse des Finanzmarktkapitalismus. Die Wiederentdeckung wirtschaftsgeschichtlicher Themen nach der Krise 2008/09 ist sicherlich eine wichtige Erklärung für diese Entwicklung, aber die Öffnung der Zeitgeschichte für globalgeschichtliche Perspektiven dürfte der intellektuell entscheidende, eigentliche Grund sein. Die Debatte über den Finanzmarktkapitalismus verbindet beide Stränge miteinander5. Die in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften beheimatete Regulationsschule6 ist mit ihren großflächigen Modellen zur Beschreibung einer fordistischen Phase des Industriekapitalismus zumal bei westdeutschen Wirtschafts­ histo­rikern auf wenig Gegenliebe gestoßen. Vertreter der Regulationsschule haben sich aber frühzeitig mit der Erosion fordistischer Produktionsregime in Kernbereichen des Industriekapitalismus, allen voran der Automobilindustrie, seit den 1970er Jahren beschäftigt. Das hat seinen Niederschlag in der bereits in den 1980er Jahren formulierten These gefunden, es zeichne sich ein Übergang in eine postfordistische Phase ab. Diese Überlegungen zu einem epochalen Formwandel kapitalistischer Produktionsregime sowie wirtschafts- und sozialpolitischer Regulierungsmechanismen werden in diesem Band von Andreas Boes, Tobias Kämpf und Thomas Lühr sowie von Dieter Sauer prominent präsentiert. Sie entwerfen vor dem Hintergrund arbeitssoziologischer Studien aus den vergangenen vier Jahrzehnten zwei komplementäre Erklärungsmodelle für die viel5 Vgl. Paul Windolf, Was ist Finanzmarkt-Kapitalismus?, und Christoph Deutschmann,­ Finanzmarkt-Kapitalismus und Wachstumskrise, beide Beiträge in: Paul Windolf (Hrsg.), Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Wiesbaden 2005, S. 20–57 und S. 58–84. 6 Vgl. Robert Boyer/Yves Saillard (Hrsg.), Regulation Theory. State of the Art, London 2002; Joachim Becker, Akkumulation, Regulation, Territorium. Zur kritischen Rekonstruktion der französischen Regulationstheorie, Marburg 2002; Bob Jesson/Ngai-Ling Sum, Beyond the Regulation Approach. Putting Capitalist Economies in their Place, Cheltenham 2006.

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fältigen Umbrüche in der Welt der Arbeit und der Unternehmen seit 1970. Zum einen eröffnete, wie Boes und seine Co-Autoren zeigen, die schrittweise Ausweitung der Computertechnologien eine neue Runde in der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit, konkret in der kapitalkonformen Nutzung von Kopf­ arbeit via Datenspeicherung und digitaler Kommunikation. Zum anderen ebneten Finanzmarktkapitalismus und Digitalisierung zugleich auch den Weg zu einer Vermarktlichung des Unternehmens. Dieter Sauer spricht hier programmatisch von einem neuen Idealtyp des kapitalistischen Unternehmens, dessen­ Genese in die Umbruchphase nach dem Boom fällt und dessen vielfältige und widersprüchliche Erscheinungsformen sich noch heute der Benennungsmacht der zeitgenössischen Industriesoziologie entziehen. Mit Wolfgang Streecks Buch »Gekaufte Zeit« liegt ein Essay vor, der aus polit­ ökonomischer Makroperspektive die Epoche nach dem Boom deutet und dezidiert für die historische Fundierung einer Theorie des gegenwärtigen Kapitalismus und seiner globalen Trends eintritt7. Die Debatte um Streecks Thesen ist in vollem Gang, und die Detailkritik hat bereits fruchtbare Korrekturen formuliert8. Für die bundesdeutsche Zeitgeschichte sind Streecks Thesen von besonderem Interesse. Sie versuchen, jene Besonderheiten der Jahrzehnte zwischen 1973 und der Jahrtausendwende aus den wirtschafts- und sozialpolitischen Gestaltungsspielräumen zu erklären, die es den demokratischen Parteien und den Sozialpartnern in der Bundesrepublik mittels wachsender Staatsverschuldung erlaubten, Zeit für notwendige Anpassungsprozesse zu gewinnen – Anpassungsprozesse, die ausgehend von den angelsächsischen Ländern vom internationalen Finanzmarktkapitalismus erzwungen wurden. Streeck hat ganz bewusst ein vereinfachendes Erklärungs- und Ablaufschema vorgelegt, das die Epoche nach dem Boom zur letzten Etappe in der Geschichte des Rheinischen Kapitalismus und des westdeutschen Korporatismus erklärt. Aus der Perspek7 Vgl. Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 42014; vgl. auch Wolfgang Streeck, Re-forming Capitalism. Institutional Change in the German Political Economy, Oxford 2010. 8 Vgl. die kritischen Stellungnahmen von Christoph Deutschmann, Warum tranken die Pferde nicht? Nach der Wahl ist vor der Wahl: Gibt es eine Alternative für Deutschland und lässt sie sich von links formulieren? Wolfgang Streecks »Gekaufte Zeit« über die Krise des demokratischen Kapitalismus ist das Buch zum politischen Streit um den Euro – eine Kritik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.9.2013, S. N 4, und von Hans Kundnani, Debt States, in: The Times Literary Supplement vom 28.11.2014, S. 31; vgl. Forum on the Crisis of Democratic Capitalism, in: JMEH 12 (2014), S. 29–79 (mit Beiträgen von Kim Ch. Priemel, Laura Rischbieter, Werner Plumpe, Adam Tooze, Lutz Wingert und Jakob Tanner); die Replik von Wolfgang Streeck, Aus der Krise nach »Europa«? Vergangenheit und Zukunft in Geschichte und politischer Ökonomie erschien im selben Jahrgang (S. 299–315) dieser Zeitschrift; vgl. auch Forum: Wolfgang Streeck: Gekaufte Zeit, in: Zeitschrift für Theoretische Soziologie 3 (2014), S. 43–146 (mit Beiträgen von Maurizio Bach, Sebastian M. Büttner, Christoph Deutschmann, Klaus Dörre, Klaus Kraemer, Andrea Maurer, Uwe Vormbusch, Christoph Weischer, Stefan Lessenich und Heiner Ganßmann); die Erwiderung von Wolfgang Streeck, Politische Ökonomie als Soziologie: Kann das gutgehen?, findet sich ebenda, S. 147–166.

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tive einer Zeitgeschichte des Kapitalismus spannt er einen »Zeitbogen« von den 1970er Jahren bis zur Gegenwart, der politische Zäsuren überwölbt und die tiefgreifenden Veränderungen im europäischen Liberalismus vom Sozial- zum Neoliberalismus herausstellt9. Dem Neoliberalismus wird mit guten, wenn auch nicht völlig überzeugenden Gründen die Qualität bestritten, wie der Soziale Liberalismus ein demokratischer Liberalismus zu sein. Ideengeschichtliche Studien über diese Epoche dürften daraus fruchtbare Anregungen erhalten. Allerdings sticht hier die Zurückhaltung ins Auge, mit der die deutsche Geschichtswissenschaft sich diesem Thema einer internationalen Intellectual History nähert. Während in Frankreich zahlreiche Studien unterschiedlicher theoretischer Provenienz die verschiedenen Spielarten des Neoliberalismus behandeln und insbesondere Michel Foucault und Pierre Bourdieu als Stichwortgeber und Ideenspender ihre Spuren hinterlassen haben10, während auch in den angelsächsischen Ländern die zeitgenössische Kritik am politisch so einflussreichen Neoliberalismus beziehungsweise Neokonservatismus eine breite Aufarbeitung dieser Zusammenhänge angestoßen hat11, fällt die Zurückhaltung deutscher Zeithistoriker markant ins Auge. Mit den Büchern von Bernhard Walpen, Jürgen Nordmann und Philip Plickert liegen aber inzwischen auf Deutsch drei ideengeschichtliche Studien über die vielen internationalen Spielarten und Kontroversen innerhalb des neoliberalen Meinungsfelds seit dem Zweiten Weltkrieg vor, die erheblich dazu beitragen könnten, auch hierzulande dem »Gespenst des Neo-Liberalismus« schärfere Konturen zu geben12. Eine ideengeschichtliche Perspektive auf die Umbrüche nach dem Boom kann dann aufschlussreiche Verbindungen zur politökonomischen Debatte herstellen, wenn sie die Verschiebungen in den zeitgenössischen Diskurs­feldern in deren wechselseitigen Bezügen aufspürt und für die politischen und sozialen Anschlüsse der neuen neoliberalen Sprache sensibel ist. Der Aufstieg des human resource management zu einem Gemeinplatz betriebswirtschaftlicher Rhetorik, die praktischen Anwendungen des Humankapitalgedankens oder die politische Sprache der europäischen Union im sogenannten Lissabon-Prozess13 sind Beispiele für derartige Verbindungen.

9 Vgl. dazu auch Anselm Doering-Manteuffel, Die deutsche Geschichte in den Zeitbögen des 20. Jahrhunderts, in: VfZ 62 (2014), S. 321–348. 10 Für die französische Debatte vgl. die fundierte ideengeschichtliche Studie von Serge­ Audier, Néo-libéralisme(s). Une archéologie intellectuelle, Paris 2012. 11 Vgl. jüngst Daniel Stedman Jones, Masters of the Universe. Hayek, Friedmann and the Birth of Neo-liberal Politics, Princeton/NJ 2012. 12 Vgl. Jürgen Nordmann, Der lange Marsch zum Neoliberalismus, Hamburg 2005; Bernhard Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische­ Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg 2004; Philip Plickert, Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung »Mont Pèlerin Society«, Stuttgart 2008. 13 Vgl. Wirsching, Preis, S. 236 ff.

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Eine solche Brücke von der politökonomischen Analyse des Kapitalismus nach der Krise der 1970er Jahre zu den kulturellen Veränderungen in der Gesellschaft hat das kanadische Forschungsprojekt Social Resilience in the Neoliberal Era gebaut14. Hier wird die Epoche nach dem Boom ebenfalls als neoliberale Ära verstanden, aber das verbindende Element Neoliberalismus wird differenziert als Ensemble einer spezifischen ökonomischen Theorie (Friedrich August von Hayek und Milton Friedman mit ihren Schulen unter Einschluss der Mont ­Pelerin Society), einer neo-konservativen politischen Ideologie (­Margaret Thatcher und Ronald Reagan als Vorbilder), eines Regulierungsmodells auf nationaler und internationaler Ebene sowie schließlich eines bestimmten Menschen- und Gesellschaftsbilds. Nur in den angelsächsischen Ländern gelangten alle vier Elemente dieses neoliberalen Syndroms zu hegemonialer Geltung, aber selbst dort lösten sie starke, auch wirkungsvolle Gegenbewegungen aus. Der wesentliche Faktor für die breite internationale Wirkung bestand darin, dass neoliberale Politikmodelle wie die Deregulierung von Märkten, Privatisierungen oder der Freihandel vor allem über die internationalen beziehungsweise supranationalen Organisationen – in Westeuropa war das die EU-Kommission – durchgesetzt wurden und seit den 1990er Jahren einen parteiübergreifenden Konsens der politischen Klassen in den westlichen Demokratien und dann auch in Osteuropa formten15. In globaler Perspektive beruhte der Erfolg zum Beispiel in Lateinamerika, Afrika oder Asien mehr auf Machtasymmetrie und Durchsetzungsvermögen der internationalen Geldgeber und Anleger und nicht auf der ideologischen oder sozialen Überzeugungskraft des neoliberalen Programms, sofern man dieses als politische Ideologie oder Weltsicht versteht16. Über den gängigen Interpretations­ rahmen liberaler Globalisierung geht dieser interdisziplinäre Ansatz insofern weit hinaus, als er systematisch nach der globalen Verbreitung und dem jeweils national beziehungsweise regional spezifischen Echo des neoliberalen Welt- und Menschenbilds (social imaginary) fragt. Damit gibt es einen Analyserahmen, der es erlaubt, die dieengeschichtlichen und gesellschaftsgeschichtlichen Dimensionen der Veränderungen seit Mitte der 1970er Jahre in ein politökonomisches Modell des internationalen Kapitalismus zu integrieren. Die Nähe zu dem von uns vorgeschlagenen Erklärungsansatz ist offensichtlich, denn »Gesellschaftsmodell und Menschenbild« stellen auch für uns die dritte Komponente dar, die mit­bedacht werden muss, wenn man die Erfolgsgeschichte der neoliberalen Weltordnung verstehen will17. Die kanadischen Forschungen betonen insbesondere die auf den ersten Blick verwirrenden Erfolge neoliberal imprägnierter Menschenrechtspolitik 14 Vgl. Peter A. Hall/Michèle Lamont (Hrsg.), Social Resilience in the Neoliberal Era, Cambridge (Mass.)/New York 2013. 15 Vgl. Ther, Neue Ordnung. 16 Vgl. Peter B. Evans/William H. Sewell Jr., Neoliberalism: Policy Regimes, International Regimes, and Social Effects, in: Hall/Lamont (Hrsg.), Social Resilience, S. 35–68. 17 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 10 f. (Vorwort zur 2. Auflage).

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und eines neoliberalen Multikulturalismus18. ­Damit steckt dieser Ansatz einen Rahmen ab, auf den sich weitere Studien beziehen können, wenn sie nach den Verknüpfungen zwischen internationalen und nationalen Entwicklungen fragen. Das Problem veränderter Wertvorstellungen und sozialer Ordnungsmuster wird auch in den aktuellen zeitgeschichtlichen Kontroversen um den sogenannten Wertewandel greifbar – ein Thema, das in deutschsprachigen Studien zu den Jahren nach dem Boom einen prominenten Platz einnimmt19. Inzwischen liegen erste empirische Ergebnisse aus zeitgeschichtlichen Untersuchungen vor, und auch die Theoriediskussion hat festere Grundlagen gewonnen20. Im Zentrum der historischen Forschung stehen zum einen Arbeiten zu Konflikten über die Benennung und Auslegung normativer Orientierungen, zum zweiten Studien über die Wirksamkeit und den Wandel von Wertorientierungen in der sozialen Praxis und zum dritten Arbeiten über die sozialwissenschaftliche Forschung zum »Wertewandel« und deren zeitgeschichtliche Spuren. Während Untersuchungen, die man dem Pol der sozialen Praxis zuordnen könnte, vor allem die Janusköpfigkeit der 1960er und 1970er Jahre sowie die Ambivalenzen normativer Orientierungen betonen, zeichnen jene Arbeiten, die sich mit politischen beziehungsweise medialen Kontroversen im Umfeld des »Wertewandels« beschäftigen, ein schärferes Bild der Epoche. Sie entdecken das Thema »Wertewandel« als Produkt bereits laufender Konfrontationen um das gesellschaftlich Sag- und medial Zeigbare in den westlichen Demokratien. Aus den vorliegenden Untersu18 Vgl. Jane Jenson/Ron Levi, Narratives and Regimes of Social and Human Rights. The Jack Pines of the Neoliberal Era, und Will Kymlicka, Neoliberal Multiculturalism?, beide Beiträge in: Hall/Lamont (Hrsg.), Social Resilience, S. 69–98 und S. 99–125. Zur Konjunktur der Menschenrechtspolitik in den 1970er und 1980er Jahren grundlegend: Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten. Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940er Jahren, Göttingen 2014, S. 343–802. 19 Vgl. Rüdiger Graf/Kim Ch. Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: VfZ 59 (2011), S. 479–508, insbesondere S. 486 ff.; Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte und empirische Sozialforschung, in: Pascal Maeder/Barbara Lüthi/Thomas Mergel (Hrsg.), Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch, Göttingen 2012, S.  131–149, hier S.  138; Bernhard Dietz/Christopher Neumaier, Vom Nutzen der Sozial­w issenschaften für die Zeitgeschichte. Werte und Wertewandel als Gegenstand historischer Forschung, in: VfZ 60 (2012), S. 293–304; Jenny Pleinen/Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotenziale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: VfZ 62 (2014), S. 173–196, insbesondere Abschnitt 2 (S. 176–184): Von der Historisierung eines sozialwissenschaftlichen Konstrukts zur Rekonstruktion eines zeitgeschichtlichen Forschungsproblems: der »Wertewandel«. 20 Vgl. Bernhard Dietz/Christopher Neumaier/Andreas Rödder (Hrsg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014; zum Folgenden vgl. insbesondere die in diesem Band enthaltenen Beiträge von Jörg Neuheiser, Der »Wertewandel« zwischen Diskurs und Praxis. Die Unter suchung von Wertvorstellungen zur Arbeit mit Hilfe von betrieblichen Fallstudien (S. 141–168), und Bernhard Dietz, Wertewandel in der Wirtschaft? Die leitenden Angestellten und die Konflikte um Mitbestimmung und Führungsstil in den siebziger Jahren (S. 169–197).

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chungen wird erkennbar, dass »Wertewandel« als soziale Praxis nach wie vor ein keineswegs eindeutiges Phänomen vor allem der 1970er und 1980er Jahre war. Es bedarf dringend weiterer historischer Detailforschung über die Konturen des »Wertewandels«, der über Meinungsforschung, Politikberatung und Medien zu einem festen Bestandteil der bundesdeutschen Politik und Öffentlichkeit dieser Jahrzehnte geworden ist und als historische Tatsache gilt. Doch ist er es auch? Das Gespräch über den »Wertewandel« wurde so zu einer der bevorzugten Möglichkeiten, die irritierenden und unkontrollierbaren Folgen jenes »sozialen Wandels revolutionärer Qualität« einzuhegen, welche in anderen Regionen der Welt, etwa den USA, zu regelrechten culture wars eskalierten. Interdisziplinären Charakter haben auch die Debatten über die Veränderung von Zeitstrukturen und Zeitwahrnehmung während der letzten 50 Jahre. In Deutschland hat nicht zuletzt die einflussreiche Studie von Hartmut Rosa zu den jüngsten Folgen der epochalen Beschleunigung anregend gewirkt21. Sie profitiert jedoch von den Debatten um Posthistoire und Postmoderne, die in den Kulturwissenschaften schon seit geraumer Zeit geführt werden, aber zunächst kaum Berührungspunkte mit der zeitgeschichtlichen Forschung aufwiesen. Im vorliegenden Band hat dieses Gespräch zwischen den Disziplinen vielfältige Spuren hinterlassen; ein Abschnitt ist nicht umsonst dem Wandel von Zeitstrukturen und Zeitwahrnehmungen gewidmet. Welche Impulse enthalten diese neuen Debatten und Ansätze für den ursprünglich 2007 entworfenen Erklärungsansatz einer Epoche nach dem Boom? Drei Bemerkungen scheinen uns wichtig: Erstens bestätigen die aktuellen Debatten um einen geeigneten politökonomischen Erklärungsansatz die Ausgangs­ hypothese, dass den Umbauten im internationalen ökonomischen Bezugsrahmen besondere Wirkungskraft zugeschrieben werden muss und den neuen Formen des Finanzmarktkapitalismus darin eine Schlüsselrolle zukommt. Offen und umstritten ist nach wie vor, wie groß die Spielräume für nationale Varianten in den Arrangements zwischen den organisierten Interessenvertretungen von Kapital, Arbeit und Staat in den westlichen Demokratien waren. Gab es eine Konvergenz der Entwicklungen unter dem Primat des anglo-amerikanischen neoliberalen Modells, oder handelte es sich um die Transformation der nationalen Varianten des Kapitalismus? Diese Frage bleibt aus unserer Sicht offen und steckt ein Feld gemeinsamer Forschungsinteressen von Historikern, Ökonomen und Sozialwissenschaftlern ab. Vor allem vergleichende Untersuchungen dürften hier in den nächsten Jahren nützlich sein. Dass noch vieles der Klärung bedarf, zeigt unter anderem die Debatte um Streecks Thesen. Mit Blick auf die Arbeitswelt korrigieren die meisten Kritiker die primär fiskalpolitischen und machtstrategischen Argumente. »Gekaufte Zeit« und »Vertragskündigung durch die Kapitalseite« werden hier ergänzt durch ein weiteres Argument, das den Charakter des Umbruchs deutlich macht und die experimentelle Seite dieser »Vertragskün21 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 102014.

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digung« auf betrieblicher Ebene betont. Kapitalistische Unternehmen wurden neu erfunden, oder, wie es Andreas Boes und seine Co-Autoren in ihrem Beitrag formulieren, das »Unternehmen 2.0« wurde entwickelt. Die gekaufte Zeit erweist sich in dieser Perspektive als eine »Zeit der Experimente«, welche keineswegs zu so eindeutigen Ergebnissen führte, wie die währungs- und fiskalpolitischen Makrotrends der westlichen Länder zu suggerieren scheinen. Gerade die Veränderungen in den exportorientierten westdeutschen Unternehmen seit den 1980er Jahren verweisen darauf, dass es sich für die kapitalistischen Produk­ tionsregime um eine Phase vielfältiger Versuche und Umbauten handelte. Zweitens bedarf die politökonomische Analyse der engeren Verknüpfung mit den zeitgenössischen Debatten um Gesellschaftsmodelle, denn sie stellen eine zentrale Komponente der politischen Sprache in den westeuropäischen Demokratien dar. Hier liegt unseres Erachtens auch der Schlüssel zum Erfolg neoliberaler Argumente und Sichtweisen. Die politökonomische Rahmenanalyse entwirft auf der Makroebene ein Konfliktmodell zwischen Kapital und Arbeit, zwischen unterschiedlichen Kapitaleignern und nationalstaatlich organisierten Kapitalinteressen, das der Konkretisierung und Ergänzung durch ideengeschichtliche beziehungsweise diskursanalytische Studien bedarf. Wie verbreiteten sich die neuen internationalen politischen Sprachen wirtschaftlicher und wirtschaftspolitischer Expertise in den internationalen Organisationen, in den Firmen des Consulting und in Fachmedien, und welche Formen nationalsprachlicher Vulgarisierungen entwickelten sich daraus? Welche Gegenpositionen schwächten Durchsetzungskraft und Realisierungschancen der neuen neoliberalen Zukunftsentwürfe für die westeuropäischen Gesellschaften seit den 1980er Jahren? Drittens bestätigen die neuen Ansätze unsere Hypothese, dass den Veränderungen der Menschenbilder besondere und eigenständige Bedeutung zuzumessen sei. Hier ist die Grenze rein politökonomischer Erklärungsansätze erkennbar, denn die Geschichte der neueren Subjektivierungsformen in ihrem zeittypischen Dilemma zwischen Freiheitspotenzierung und Anpassungszumutung für den Einzelnen und in ihrem gesellschaftlichen Trend zur Steigerung sozialer Ungleichheit trotz egalitärer Versprechungen umfasst nicht bloß einen Komplex neoliberaler Ideologiefolgen. Vielmehr beschreibt sie einen Basisprozess der westeuropäischen Gesellschaften seit 1980. Freiheitsversprechen, Zuschreibungszwänge sozialer Folgen und Liberalisierungseffekte sind stärker als bisher in die Forschungsagenden einer Zeitgeschichte nach dem Boom aufzunehmen. Bei der Weiterentwicklung ihres Erklärungspotentials ist sie darauf angewiesen, die Wege zwischen der aktuellen Kulturgeschichte und der Wirtschafts- und Poli­ tikgeschichte knapp und klar auszumessen. Daran erinnert die zeitgenössische Debatte um Wertewandel beziehungsweise culture wars, ohne die die überraschenden Verbindungen und Mischungen libertärer, neo-konservativer und wirtschaftsliberaler Strömungen seit den 1980er Jahren kaum vorstellbar wären.

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3. Forschungsthemen Der vielleicht überraschendste Trend der letzten Jahre besteht darin, dass die Geschichte der Arbeit von den Zeithistorikern neu entdeckt wird, nachdem zweieinhalb Jahrzehnte Desinteresse und kühle Distanz dominierten. Natürlich sorgten organisatorische und institutionelle Kontinuitätslinien dafür, dass Forschungen auf diesem Feld niemals vollständig abrissen, aber die intellektuelle Ausstrahlung der in den 1970er Jahren etablierten traditionellen Geschichte der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften war doch auf ein Mindestmaß geschrumpft. Für die Neukonzipierung der Zeitgeschichte nach dem Boom gingen von hier keine Impulse aus. Sie kamen vielmehr eindeutig aus der industrie- und wirtschaftssoziologischen Debatte um neuere Tendenzen in den Arbeitswelten, worin sich unzweifelhaft das ideologische Selbstverständnis des neoliberalen Regimes der Markt- und Leistungsorientierung spiegelte. Aber gerade daraus resul­ tierte der alarmistische Ton, der die Zeithistoriker wachrüttelte und sie veranlasste, die Probleme der sich wandelnden Arbeitswelten wahrzunehmen. Wer sich mit den Erscheinungsformen des industriellen »Wandels von revolutionärer Qualität«22 seit den 1980er Jahren beschäftigte, konnte an sozialem Aufruhr wie dem Miners’ Strike in Großbritannien 1984 oder dem Kampf der Rheinhausener Stahlwerker gegen die Schließung des dortigen Hüttenwerks 1988 nicht vorbeigehen23. Auch die Globalisierung blieb nicht folgenlos. Die außereuro­päische Geschichte der Arbeit unter dem Titel Global labour blühte nicht zuletzt dank der Initiativen des International Institute of Social History in Amsterdam auf und erhielt 2009 mit der Einrichtung des entsprechenden Forschungskollegs in Berlin einen deutschen Schwerpunkt, von dem vielfältige Anregungen ausgingen. Die Flexibilisierung von Arbeit, die Deregulierung standardisierter Arbeitszeitordnungen, die Veränderung industrieller Arbeitsprozesse und schließlich die Arbeitslosigkeit und der gesellschaftliche und politische Umgang damit sind Gegenstand aktueller Studien. Ein wichtiger Strang ist bereits jetzt in diesen Forschungen erkennbar: der veränderte Stellenwert von Subjektivierung in den verschiedensten Arbeitswelten, der in der soziologischen Forschung bereits seit den 1980er Jahren diskutiert und in der deutschen Übersetzung von Richard Sennetts Buch »The Corrosion of Character« griffig auf die Formel »Der flexible Mensch« gebracht worden 22 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 29. 23 Vgl. Francis Beckett/David Hencke, Marching to the Fault Line. The Miners’ Strike and the Battle for Industrial Britain, London 2009; Arne Hordt, Von Scargill zu Blair? Der britische Bergarbeiterstreik 1984/85 als Problem einer europäischen Zeitgeschichtsschreibung, Frankfurt a. M. u. a. 2013; zum Umbruch im Ruhrgebiet und den Traditionsindustrien vgl. Waltraud Bierwirth/Otto König (Hrsg.), Schmelzpunkte. Stahl: Krise und Widerstand im Revier, Essen 1988; Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: VfZ 55 (2007), S. 559–581.

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ist24. Die Subjektivierung reicht von der industriellen Fertigung über industrienahe Dienstleistungen, öffentliche Dienstleistungen und Verwaltungen bis zu den neuen »kreativen« Berufswelten zwischen Kultur und Kommerz und gehört zu jenen Trends, die quer durch die verschiedenen Arbeitswelten verlaufen und als verbindendes Charakteristikum begriffen werden müssen. Auf diesem Feld sind die Berührungspunkte mit den Sozialwissenschaften besonders eng. Die Debatte um soziologische Zeitdiagnostik, aber auch die gemeinsame Arbeit in den sozialwissenschaftlichen Archiven und die Lektüre von verschriftlichten Interviews und Gesprächen mit Beschäftigten und Arbeitslosen hat dieser Zeitgeschichte der Arbeit eine dezidiert andere Richtung gegeben als noch vor gut zehn Jahren25. Im vorliegenden Band ist die erste Sektion diesem Forschungsfeld, dem Formwandel und den Strukturbrüchen der Arbeit, gewidmet. Neben den bereits genannten soziologischen Beiträgen von Andreas Boes und Co. sowie dem Aufsatz von Dieter Sauer widmen sich die Texte von Thomas Schlemmer, Dietmar Süß, Wiebke Wiede und Tobias Gerstung diesem Thema. Schlemmer beschreibt nicht nur die Frauenerwerbsarbeit, sondern zeigt an diesem Beispiel auch, wie sich in den 1970er und 1980er Jahren der Arbeits-Begriff in Richtung größerer Entfaltungsspielräume, neuer Emanzipationsmöglichkeiten und alternativer Lebensentwürfe erweitert hat, um dann in den 1990er Jahren wieder auf die Lohnarbeit zurückzufallen. Dietmar Süß veranschaulicht, was Flexibilisierung, was flexible Arbeitszeiten sein sollten, was sie de facto waren, wo Gewinner und Verlierer aufzuspüren sind. Auch hier, wie in den meisten anderen Fällen, entsteht ein Bild, welches die Ambivalenz der Neuordnungsdynamiken zeigt und die pessimistische Sicht, die Richard Sennet aufgrund seiner frühen Beobachtungen Ende der 1990er Jahre einnahm, im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts vorsichtig korrigiert. Das betrifft auch die Arbeitslosigkeit als einen neuen, weit verbreiteten Erfahrungstatbestand in den westeuropäischen Ländern nach anderthalb Jahrzehnten der Vollbeschäftigung. Wiebke Wiede analysiert regierungsamtliche Maßnahmen zur sozialen Regulierung und Subjektivierung von Arbeitslosigkeit, die an Überlegungen über Formen und Grenzen der Zumut24 Richard Sennett, Der flexible Mensch, Berlin 2006 (englische Fassung: New York 1998), und Richard Sennett Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 2007; vgl. auch Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2007. 25 Vgl. Knud Andresen/Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel der Arbeitswelten, Bonn 2011; Morten Reitmayer (Hrsg.), Unternehmen am Ende des »goldenen Zeitalters«. Die 1970er Jahre in unternehmens- und wirtschaftshistorischer Perspektive, Essen 2008; Lutz Raphael, Flexible Anpassungen und prekäre Sicherheiten. Industriearbeit(er) nach dem Boom, und Christian Marx, Die Manager und McKinsey. Der Aufstieg externer Beratung und die Vermarktlichung des Unternehmens am Beispiel Glanzstoff, beide Beiträge in: Morten Reitmayer/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 51–64 und S. 65–77.

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barkeit von Arbeit geknüpft waren. Erneut taucht das Problem der Flexibilität in räumlicher, zeitlicher und beruflicher Hinsicht auf, denn Wochenendpendeln, Ortswechsel und Umziehen oder zusätzliche Bildungsanstrengungen wurden für zumutbar erklärt und sozialrechtlich geregelt. Tobias Gerstung beschreibt den Strukturwandel nach dem Boom am Beispiel der schottischen Hafen- und Industriestadt Glasgow, die zunächst dem Niedergang geweiht zu sein schien, dann eine schwere Anpassungskrise durchmachte und schließlich als Zentrum eines kreativen Kulturbetriebs unter kluger Nutzung der digitalen ­Revolution neu erstand. Ein Platz für ungelernte Arbeitskräfte konnte eine solche Creative City nicht mehr sein. Eng verbunden mit der Geschichte der Arbeit seit den 1970er Jahren ist die Geschichte der Sozial- und Wirtschaftspolitik. Beide Felder sind in der gegenwartsnahen Zeitgeschichte breit vertreten, aber auch hier handelt es sich im Kern um ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, das Soziologen, Politikwissenschaftler und Zeithistoriker gemeinsam bearbeiten. Die Wiederentdeckung der Armut, die sozialpolitische Verwaltung von Arbeitslosigkeit und die neuen Problemfelder einer Sozialpolitik, die seit der Mitte der 1970er Jahre an die Grenzen ihrer finanziellen Möglichkeiten stieß, gehören zu den aktuellen Untersuchungsthemen26. Im zweiten Teil  wandert der Blick mit den Beiträgen von Stefan Eich und Adam Tooze, von Christian Marx, Lutz Leisering, Wolfgang Schroeder und Samuel Greef sowie Maria Dörnemann hinüber auf die andere Seite der Arbeitswelt, die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, die zwischen klaren Kontinuitäten und tiefgreifenden Brüchen gestaltet werden musste. Eich und Tooze betonen, dass die Geschichte der Jahrzehnte nach dem Boom auch als Geschichte der »Großen Inflation« der 1970er Jahre und deren Überwindung bis 1986 geschrieben werden müsse, einer Inflation, die in Großbritannien zeitweilig 24 Prozent, in den USA bis zu 12 Prozent und in der Bundesrepublik immerhin noch acht Prozent betrug. Ihre Thesen werden die Forschung in unserem Feld deutlich ­vorantreiben. Die Hinwendung zu einer nicht länger fiskalpolitisch, sondern monetaristisch inspirierten Wirtschaftspolitik wurde 1974 von der Deutschen Bundesbank und nicht von britischen oder amerikanischen Institutionen begonnen. Eich und Tooze arbeiten die komplexen Tendenzen der internationalen Geldpolitik seit dem Ende von Bretton Woods heraus und zeigen, dass die monetaristische Wende vor allem auf eine Entpolitisierung der Wirtschaft und deren Loslösung von den Gestaltungsansprüchen demokratischer Politik hinauslief. Getragen wurde dieser Umbruch von einer breiten anti-inflationären Grundstimmung bei den Wählern in den westlichen Demokratien. Sie verschaffte konservativen Wortführern wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan erst den Spielraum für ihre radikal antigewerkschaftliche Politik. Der Wandel der Staatsfunktion, über den wir noch sprechen werden, kam in den späten 1970er und 26 Vgl. Winfried Süß, Vom Rand in die Mitte der Gesellschaft? Armut als Problem der deutschen Sozialgeschichte 1961–1999, in: Ulrich Becker (Hrsg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 123–140.

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frühen 1980er Jahren in Gang, als Deindustrialisierung, hohe Arbeitslosigkeit und hohe Inflation eine ineinander verwobene Herausforderung für die Regierungen und Zentralbanken der wichtigsten Industrieländer darstellten. Die »Große Inflation« war ein genuiner Bestandteil des »Wandels von revolutionärer Qualität« und muss daher in weit stärkerem Maß als bisher in die zeithistorische Urteilsbildung einbezogen werden. Christian Marx demonstriert am Beispiel deutscher und niederländischer Chemiefaserkonzerne (seit 1969 im Akzo-Konzern zusammengeschlossen), dass die Relativierung dieses Rahmens durch Internationalisierung und – wie er es nennt – einen unternehmensübergreifenden Multinationalisierungsprozess bereits in den 1960er Jahren in Gang kam. Sie konnte an die Vorbilder der Montanintegration seit dem Schuman-Plan von 1950 und dessen Vorläufer im Zweiten Weltkrieg, wenn nicht in den 1920er Jahren, anknüpfen, aber diese Inter- oder Multinationalität blieb an die wirtschaftlich und politisch bestimmende Vorrangstellung des Staates als nationaler Staat oder als Staatengemeinschaft wie im Falle der EWG und der EG gebunden. Daher waren die späteren Veränderungen von der Internationalität zur Transnationalität und dann zur Globalität, in deren Verlauf die Bedeutung des Staates deutlich zurückging, zunächst ganz unspektakulär. Sie traten erst ins öffentliche Bewusstsein, seit »Multis« wie der SiemensKonzern und einige andere in den 1980er Jahren als Teil eines internationalen Netzwerks und damit auch als Rad im Getriebe des Finanzmarktkapitalismus jenseits von nationalen Wirtschaftsinteressen sichtbar wurden. In dialektischer Verschränkung damit verstärkte sich die Sozialstaatlichkeit in den europäischen Ländern. Lutz Leisering erklärt am Beispiel des deutschen »Konsenssozialstaats«, den die Zeit des Booms hervorbrachte, die Verschränkung von Wohlfahrtsstaatlichkeit mit der fortschreitenden Individualisierung breiter Bevölkerungskreise. Sein Beitrag illustriert anschaulich, dass sich der »Wandel von revolutionärer Qualität«, der sich in den Industriewirtschaften und -gesellschaften seit den 1970er Jahren vollzog, mit Kontinuitätslinien verbunden war, die allem Wandel hohnzusprechen scheinen. Doch mitnichten. Die Ausweitung des Sozialstaats stand einerseits in der Kontinuität der Sozialstaatlichkeit und entsprach den Eigeninteressen der mit ihnen entstandenen Institutionen und Berufsgruppen. Sie war andererseits eine Funktion des dynamischen Wandels, weil sie den Tendenzen zur Pluralisierung und Individualisierung Rechnung trug. Diese Tendenzen aber wurden im Übergang von der Zeit des Booms in die Epoche nach dem Boom immer stärker, weil die sozialen Interessen einer wachsenden Zahl von gesellschaftlichen Gruppen berücksichtigt werden mussten, mehr soziale Probleme zu bewältigen und neue Randgruppen zu integrieren waren. Das hatte nicht zuletzt darin seinen Grund, dass der Politikmodus der Integration jetzt auch moralisch bestimmt wurde. Die Konjunktur des moralischen Arguments in der Öffentlichkeit und der Politik seit den 1990er Jahren ist als Kompensation der wachsenden Immoralität in der Praxis des Finanzmarktkapitalismus zu verstehen. Die Sozialpolitik in der Zeit nach dem Boom setzte allerdings die Politik des »Konsenssozialstaats« keineswegs fort, sondern

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organisierte die Wohlfahrtsleistungen mit Hilfe der Bedürftigkeitsprüfung im neoliberalen Sinne um, minderte den Finanzierungsdruck durch Leistungsabstriche und komplementären Ausbau privater Sicherungen. Langfristig passte der Staat seine Sozialpolitik dem Erwartungsdruck des Finanzmarkts an und organisierte die Ausweitung der Sozialpolitik als eine Funktion der neuen Machthierarchie von Markt und Staat. Diese generellen Trends kamen in den europäischen Ländern ganz unterschiedlich stark zum Tragen. Auch die institutionellen Lösungen differierten deutlich. Trotz länderübergreifender neoliberaler Sozialstaatskritik blieben die Welten europäischer Wohlfahrtstaatlichkeit unterschiedlich, auch wenn die alten Pfadabhängigkeiten aus den Jahrzehnten des Booms immer mehr an Bedeutung verloren. Wolfgang Schroeder und Samuel Greef arbeiten heraus, dass es durchaus berechtigt erscheint, von einem sozioökonomischen Strukturbruch im Verlauf der 1970er Jahre zu sprechen, dieser aber im Gewerkschaftsmodell und den Arbeitsbeziehungen erst zeitverzögert zum Ausdruck kam. Seither befinden sich die Gewerkschaften in einem Anpassungsprozess, der einerseits auf den Wandel in den politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen nach dem Boom reagieren und andererseits den Ort der Gewerkschaften im veränderten, transnatio­ nal geöffneten Industriesystem neu bestimmen muss. Gewerkschaften können ihren Einfluss nur konturieren, wenn sie Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen akzeptieren, und sie müssen dies so tun, dass sie ihrer Klientel, den Arbeitnehmern, auch nützen. Die Anpassungsleistung der deutschen Gewerkschaften an diese Herausforderungen und ihre maßvolle, ökonomisch klug kalkulierende Politik hat zur Stabilisierung der industriellen Produktion und damit zur Sicherung von Arbeitsplätzen beigetragen. Wie die SPD und die westeuropäischen sozialdemokratischen Parteien insgesamt, haben die Gewerkschaften das neue marktliberale Produktionsregime akzeptiert, um sich die Handlungsspielräume für die eigene Mitgestaltung zu sichern. Wie die Entwicklung bei den politischen Parteien zeigt sich auch bei den Gewerkschaften, dass zeitgenössisch gar keine Alternative zum Mitgestalten unter veränderten Bedingungen gesehen wurde. Alle politischen und gesellschaftlichen Akteure haben zur Aufrichtung neuer ökonomischer Rahmenbedingungen beigetragen und damit die politökonomischen, ideologischen und kulturellen Rahmen­ bedingungen aus der Zeit des Booms überwunden. Kritik und Bitterkeit hielten sich mit Optimismus und dem Willen zu Neugestaltung die Waage. In wie hohem Maß Modernisierung und sozialpolitische Homogenisierung mit dem hegemonialen Anspruch des atlantischen Kulturraums verknüpft war und ungeachtet abweichender kultureller Traditionen in Ländern der sogenannten Dritten Welt zur Geltung gebracht wurde, erhellt Maria Dörnemanns Beitrag. Die Entwicklungshilfe stand seit den 1960er Jahren in einem funktionalen Bezug zur Dekolonisierung, insbesondere in Afrika. Je mehr sich die Europäer aus den Kolonialgebieten zurückzogen, desto mehr stellte sich die Frage, was aus den Kulturen der indigenen Bevölkerung werden sollte, die nach Jahrzehnten des Kolonialismus auch von innen her aufgebrochen waren. Die Fallstudie zur

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Familien- und Bevölkerungspolitik in Kenia liefert ein eindringliches Beispiel für den Anspruch und die Wirkmacht supranationaler, mithin scheinbar von nationalstaatlichen Interessen eines oder mehrerer Länder unabhängiger Organisationen, die in den USA lediglich koordiniert und finanziert wurden. Die Bevölkerungspolitik in Kenia, die darauf zielte, dem Bevölkerungswachstum entgegenzuarbeiten und darüber hinaus das Land ökonomisch dem Modell der entwickelten westlichen Gesellschaften anzunähern, zeigt Formen informeller Hegemonie. Sie beruhte auf der Akzeptanz sozialwissenschaftlicher Ideologeme wie der (zuerst in den USA formulierten) Modernisierungstheorie und diente dem weiterreichenden Zweck, diese Gesellschaft entsprechend den eigenen Entwicklungszielen umzubauen. Objektive materielle Grundprobleme im betreffenden Land – in Kenia das starke Bevölkerungswachstum – wurden dazu genutzt, um die sozioökonomische Ordnung insgesamt so zu verändern, dass ein höheres Maß an Kompatibilität zum Nutzen der »entwickelten« Partner erreicht wurde. Dörnemanns Fallstudie, die in der Zeit des Booms angesiedelt ist, lässt deutlich die Funktionsweise und Transformationskraft theoriebasierter Strukturkonzepte erkennen, die in einer bestimmten Zeit einem bestimmten Interesse und bestimmten Notwendigkeiten dienen, wie wir sie in der Entstehung und Ausbreitung der neoliberaler Transformation gleichfalls beobachten können. Der dritte Teil  unserer »Vorgeschichte der Gegenwart« gilt dem Übergang von der Massenkonsumgesellschaft der Nachkriegszeit zur pluralisierten, individualisierten Konsumentengesellschaft seit den 1970er Jahren. Naturgemäß nimmt die Geschichte des Konsums in den Forschungsdebatten über die Epoche nach dem Boom einen zentralen Platz ein. Während die Welt der Arbeit fraglos von Umbrüchen und Zäsuren geprägt war, liefern die Zahlen und Narrative der Konsumgeschichte Belege für ungebrochenes Wachstum über die vermeintliche Zäsur der Ölkrise von 1973 hinweg, aber auch für die Pluralisierung von Angebot und Nachfrage. Eine dezidiert konsumhistorische Epochendeutung ist angesichts der gemischten Befunde zu Kontinuitäten und Innovationen bisher ausgeblieben. Allein für die britische Sozialgeschichte hat Avner Offer eine solche Deutung vorgelegt. Er verknüpft das Ende der britischen Industriearbeiterschaft als einer Größe von politischem und gesellschaftlichem Einfluss ganz eng mit der Durchsetzung privater, individualisierter Konsumorientierung gegen die klassenpolitisch fundierte Verteidigung kollektiver Güter in den 1970er und dann vor allem den 1980er Jahren27. Ein solches an Streecks Thesen oder den Ansatz der Social Resilience erinnerndes politökonomisches Interpretationsmodell findet sich weniger deutlich formuliert auch als Erklärungsschablone für die Geschichte Italiens. Hier ist von der Zäsur des sogenannten hedonistischen Jahrzehnts der 1980er Jahre die Rede. Dieses Modell wird jedoch für die übrigen westeuropäischen Länder kaum benutzt. Für die bundesdeutsche Debatte besitzt

27 Avner Offer, British Manual Workers: From Producers to Consumers, c. 1950–2000, in: Contemporary British History 22 (2008), S. 537–571.

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die Frage nach dem Realitätsgehalt der These von der sich individualisierenden Konsumentengesellschaft viel größere Bedeutung. Frank Trentmann ordnet die Trends des Konsumismus, den Zusammenhang von einer relativ homogenen Konsumgesellschaft und der sich pluralisierenden Konsumentengesellschaft in die Übergangsphase zwischen der Zeit des Booms und der Epoche nach dem Boom ein. Die Veränderung der Arbeitswelt, der Verlust von Arbeitsplätzen in der Industrie und der Anstieg von Arbeitslosigkeit verminderten zunächst die Spielräume für viele Menschen, in der seit den späten 1950er Jahren gewohnten Form am standardisierten Massenkonsum zu partizipieren. Dann aber, teils parallel dazu, teils zeitlich etwas verschoben, entfalteten sich die neuen Formen einer stärker pluralisierten Konsumentengesellschaft, in der sich alle die einzurichten begannen, die wirtschaftlich etabliert (geblieben) waren oder durch Arbeitsplätze in den neuen Industrien des beginnenden digitalen Zeitalters zu Wohlstand kamen. Darüber gewann die Konsumgesellschaft eine neue, weitaus differenziertere Kontur und expandierte stark. Arbeitslosigkeit und Anstieg des Konsums schlossen sich nicht aus, sondern verkörperten gemeinsam den Wandel. Maren Möhring zeigt das am Wandel der Esskultur, den Veränderungen in der Einstellung zur Ernährung und der ethnischen Pluralisierung der Restaurants und Fast Food-Läden in Deutschland. Seit den 1970er Jahren etablierten sich die ausländischen Restaurants als eigenständiges Segment der Gastronomie, gleichzeitig begann die Ausbreitung der Fast Food-Ketten und der Bioläden. Während McDonald’s und andere Ketten sich weltweit ausbreiteten und damit erheblich dazu beitrugen, die Produktion und den Konsum von Nahrungsmitteln zu standardisieren, blieb die Moralisierung und Politisierung des Essens über Bio-Läden und Fair Trade-Label ein westeuropäisches beziehungsweise atlantisches Phänomen. Hannah Jonas analysiert den Fußballkonsum in der Phase des tiefgreifenden Wandels vom Sport als genuinem Bestandteil der traditionellen Industriekultur zum medialen und kommerziellen Produkt. Dessen Integrationskraft über tradierte soziale Schranken und Geschlechtergrenzen hinaus wurde zum sozialkulturellen Merkmal in der Zeit nach dem Boom, als sich Subjektivierung und Gemeinschaftsbildung gegen­ seitig ergänzten und der Konsum von Fußball ältere Formen kultureller Integration ersetzte. Tobias Dietrich unterstreicht diese Diagnose durch die Geschichte des Laufens, des Joggens, nach dem Boom. In seiner Darstellung wird sichtbar, wie Konsum und Konsument miteinander verknüpft sind. Die Pluralisierung des Konsumenten erfolgt durch die Pluralisierung im Sport selbst und dadurch, dass der Konsum immer weiter ausdifferenziert wird. Diese Pluralisierung der Vielen (zumeist Angehörige der Mittelschichten), die sich als Individuen begreifen möchten und sich durch ihre Kleidung und ihre Leistungsformen auch so inszenieren, erweist sich am Ende als neue Form von Homogenisierung. Wo das Postulat der Subjektivierung zum konsumgesellschaftlichen Projekt wird, erfasst es tendenziell alle und löst damit jede Form der erstrebten Singularität in der Identität, die die große Mehrheit der Konsumenten umfasst, wieder auf. Entscheidend ist, dass das Gefühl, über das eigene Ich und den eigenen Körper selbst

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zu verfügen, von der Wahrnehmung dieser Gruppenidentität nicht beeinträchtigt wird. Die Subjektivierung von Individuen und Gruppen wurde zu einem Zeittrend, der im nächsten Abschnitt dieses Buchs deutlich zum Vorschein kommt. In diesem vierten Teil geht es um das Problem sich verschiebender Zeithorizonte und dessen gesellschaftlicher Bedeutung. Je schneller die Transformation der Industriegesellschaft vonstatten ging und die technische Innovation der Informatik zum Durchbruch kam, desto weniger war vom Fortschritt die Rede. Das Tempo des Wandels begrub gewissermaßen das gewohnte Fortschrittsempfinden unter sich. Daher sind die Zeitdiagnosen in den ersten Jahren nach dem Boom von einer doppelten Herausforderung geprägt. Die Verflüssigung und Destabilisierung bestehender Strukturen lösten die Wahrnehmung von Zeit aus dem Empfinden eines stetigen Verlaufs der Geschichte heraus, und damit schwand auch das Empfinden, dass es einen stetigen Fortschritt gebe. Wer sich im Posthistoire wähnte, vermochte keine Zukunft mehr zu sehen: no future. Martin Kindtner greift in die 1960er Jahre zurück, um im Kontext von »1968« die Bedingungen herauszuschälen, die den Theoriedebatten des Poststrukturalismus zugrunde lagen. Radikal und bisweilen auch rabiat in der Form setzten sie die kulturelle Bedeutung des Subjekts an die Stelle kultureller Normativierung durch Struktur. In den politischen Praktiken der Vordenker und Vorkämpfer einer Überwindung von Strukturen ist der Zeittrend der Subjektivierung von Individuen und Gruppen zu erkennen, der für den studentischen Aufbruch in den Jahren um 1970 charakteristisch war. Vor dem Hintergrund der konsumhistorischen Diagnose im dritten Teil dieses Buchs sehen wir zugleich, wie die Gesellschaftstheorie poststrukturalistischer Verflüssigung dann allmählich mit den Erscheinungsformen von Pluralisierung in der Konsumentengesellschaft verschmelzen konnte. Das sozialkulturelle Profil westeuropäischer Gesellschaften war seit den 1980er Jahren eben nicht nur von den ökonomischen Postulaten der Deregulierung und des Leistungswettbewerbs geprägt, sondern gleichermaßen auch vom poststrukturalistischen Theoriediskurs. Fernando Esposito nimmt die Thesen von Hartmut Rosa und anderen sozialwissenschaftlichen Zeitanalytikern zum Syndrom der Beschleunigung auf und beschreibt die noch unscharfen Konturen eines Zeitregimes nach dem Boom. Er spürt der Genese und dem Wandel der posthistorischen Zeitdiagnose nach, deren Präsenz bis zur Gegenwart er untersucht. Veränderungen der zugrunde liegenden Zukunfts-, Gegenwarts- und Vergangenheitsverständnisse werden sichtbar. Der schwindende Glaube an die Realisierbarkeit von Fortschrittserwartungen – an die Realisierbarkeit der Projekte der Moderne und die Agency des modernen historischen Subjekts  – ist nicht zuletzt in einer Historisierung des historischen Bewusstseins selbst zu verorten. Elke Seefried fragt nach den Agenten des Fortschritts, die sich in einer Zeit, als die »Grenzen des Wachstums« 1972 bereits beschworen wurden, der Zukunftsforschung verschrieben. Sie mussten sich von der Auffassung lösen, dass sozioökonomische Prozesse stets steuerbar waren und Strukturen dauerhaft stabil blie-

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ben. Sie diagnostizierten daher eine weit um sich greifende Krise und entwarfen ein neues Verständnis von Wachstum. Darin wurde die bisherige Fixierung auf Technik, die Orientierung auf Strukturen, durch eine veränderte Orientierung am Menschen ersetzt. Das, was Jahre später als »reflexive Moderne« bezeichnet wurde und die nicht mehr steuerbaren Folgen der Fortschrittsdynamik der Moderne beschrieb28, fand unter dem Begriff der Technikfolgenabschätzung Eingang in die Zukunftsforschung. Dennis E ­ versberg zeigt die Auswirkungen von Destabilisierung im Arbeitsmarkt auf die Zukunftserwartungen der jungen Generation seit den 1970er Jahren und thematisiert damit ein besonders wichtiges Folgeproblem von Beschleunigung und Strukturwandel. Die junge Generation hatte mit dem, wie er es nennt, »Wegbrechen der Zukunft« den Verlust einer linear planbaren Arbeits- und Lebensperspektive zu bewältigen. Darüber wurde der Arbeitsmarkt zu einem »Kampffeld« der jugendlichen Arbeitnehmer, auf dem sich auch im Zuge des technischen Strukturwandels der Digitalisierung alsbald Gewinner und Verlierer fremd gegenüberstanden. Morten Reitmayer diskutiert das Problem von Eliten und deren Differenzierung in der Epoche nach dem Boom in einer Fallstudie zu britischen Elite­ semantiken. Er analysiert aus dieser Perspektive den für die englische Gesellschaft tiefgreifenden Wandel in der Elitenkonfiguration, weil das traditionelle Establishment von einer ganz neuen Eliteformation, dem »Disestablishment«, in den Hintergrund gedrängt wurde. »Wertewandel« in seiner Verzahnung mit technisch-industriellem Niedergang und finanzmarktlichem Wandel brachten diesen neuen Menschentyp hervor, der dem Zeittrend der Beschleunigung entsprechend schnell handelte, flüchtig agierte und das Geschäftsfeld der »sehr volatilen Märkte für Dienstleistungen und Konsumgüter« geradezu idealtypisch verkörperte. Sie waren flexibel in ihren geschäftlichen Strategien, stets auf den eigenen wirtschaftlichen Vorteil – auf den Nutzen des Geschäfts für sich selbst, weniger für das Unternehmen und die Gesellschaft – bedacht und »ohne snobistische Scheu, Massenmärkte zu bedienen«. In diesen neuen Eliten manifestierten sich die gewandelte Arbeitswelt und deren wirtschaftsideologische Fundierung im Neoliberalismus, die pluralisierte Konsumgesellschaft und die veränderte Wahrnehmung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft.

4. Neue Problemfelder Es mangelt also nicht an Ideen, Kontroversen und neuen Forschungen in der gegenwartsnahen Zeitgeschichte nach dem Boom. Wo aber sind Lücken und blinde Flecken zu erkennen? Das Forschungsterrain ist offensichtlich noch so neu und die verschiedenen Ansätze befinden sich erst in der Erprobung, dass nach wie vor nur weniges vorliegt, womit man die verschiedenen Untersuchungs­ebenen und 28 Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986.

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Konzepte miteinander kombinieren oder deren Beziehung zueinander klären könnte. Eine Zeitgeschichte nach dem Boom bedarf allerdings dringend verschiedener Erweiterungen, um die missing links ausfindig zu machen. Das ist zunächst die Unterstützung durch eine sowohl technikgeschichtlich als auch wissenschaftsgeschichtlich orientierte Erforschung der Digitalisierung. An der Schlüsselrolle des Computers für die wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung Westeuropas spätestens seit den 1980er Jahren zweifelt niemand mehr, aber die Forschung steckt noch in den Anfängen. Während zur Geschichte der technischen Entwicklungen erste Studien vorliegen, sind die Verbindungen zur Gegenkultur, zur Technikkritik und zur Entstehung neuer Kommunikations­ formen bislang kaum behandelt worden29. Aussichtsreich erscheint die Verbindung zur Wissensgeschichte. Dieses neuartige Forschungsfeld liegt im Grenzland zwischen der Wissenschaftsgeschichte der Naturwissenschaften, einer interdisziplinären Kulturwissenschaft und der Geschichtswissenschaft30. In die Forschungsdebatten über die Epoche nach dem Boom greift die Wissensgeschichte vor allem mit Beiträgen zur Geschichte der Datenspeicherung ein, denn seit den 1970er Jahren veränderten die digitale Datenspeicherung und Kommunikation die Grundlagen von Wissen und Information in den westlichen Gesellschaften fundamental31. Ein zweiter Forschungsstrang beschäftigt sich mit dem Siegeszug des human capital-Konzepts und der dadurch beflügelten unternehmerischen Nutzung menschlichen Wissens und Erkenntnisvermögens. Ein dritter Forschungsbereich gilt der Etablierung und Ausbreitung von Kennziffern und Indikatoren im Zeichen einer mathematisierten Naturwissenschaft des Sozialen mittels Ökonomie und Psychologie. Sie sind zur dominanten Form geworden, in der sich die »Verwissenschaftlichung des Sozialen« seit den 1970er Jahren artikuliert32. Die bisherigen Ergebnisse zeigen deutlich, dass für die Epoche nach dem Boom die Forschungsansätze des historischen Vergleichs und der Transfer­geschichte genutzt werden müssen, um über die nationalzentrierte Problemgeschichte der Gegenwart hinauszugelangen. Streecks These, die Grundzüge der westdeutschen Wirtschafts- und Sozialpolitik ließen sich nur vor dem Hintergrund der Umbrüche im angelsächsischen Kapitalismus erklären, deutet mit Recht in diese Richtung. Seine Aussagen beruhen auf vergleichenden Untersuchungen und erlauben es, die unterschiedlichen Entwicklungsrichtungen der westlichen Industrie­natio­ nen nach dem Boom präziser zu beschreiben. Sie müssen jedoch weitergedacht 29 Vgl. Mercedes Bunz, Vom Speicher zum Verteiler. Geschichte des Internet, Berlin 2008; Claus Pias, Die Zukünfte des Computers, Zürich 2005; Paul Ferdinand Siegert, Die Geschichte der E-Mail. Erfolg und Krise eines Massenmediums, Bielefeld 2008. 30 Vgl. Daniel Speich Chassé/David Gugerli, Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung, in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte 18 (2012), S. 85–100. 31 Vgl. etwa David Gugerli, Suchmaschinen. Die Welt als Datenbank, Frankfurt a. M. 2009. 32 Vgl. Daniel Speich Chassé, Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie, Göttingen 2013, S. 210–278.

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werden: In Frankreich, Großbritannien, den USA und (West-)Deutschland wurde nicht nur unterschiedlich viel sozialpolitische Zeit »gekauft«, sondern diese Zeit sozialpolitischer Kompromisse wurde auch zu ganz unterschiedlichen Umbauten des eigenen Produktionsregimes genutzt. Der digitale Finanzmarktkapitalismus etablierte sich als globaler und internationaler Verwertungszusammenhang nur schrittweise und kam als internationales System erst im Sog der New Economy zum Durchbruch. Die alten Produktionsmodelle mit ihren Kapitalstrukturen und Arbeitswelten wurden in unterschiedlicher Geschwindigkeit durch neue Modelle abgelöst, zugleich aber entstanden unterschiedliche regionale beziehungsweise nationale Lösungen für die neuen Formen kapitalistischer Unternehmungen. Will die Zeitgeschichte diese doppelte Veränderungslogik verstehen, die verschiedene Tempi und qualitativ verschiedene Lösungen in den Blick nimmt, aber nicht bloß die frühere oder spätere Einführung eines bestimmten Modells, dann ist sie auf transferhistorische und komparative Untersuchungen angewiesen. Gerade für eine solche vergleichende Perspektive wird die Debatte über die womöglich wichtigste Zäsur nach dem Boom – die Zeit um 1995 – von besonderer Bedeutung sein. Des Weiteren gerät die Frage nach der Geschichte der westlichen Demokratien seit den 1970er Jahren in den Vordergrund. Gerade für die Bundesrepublik Deutschland ist das Faktum institutioneller Stabilität der überragende Befund sowohl zeitgeschichtlicher als auch politikwissenschaftlicher Analysen. Diese Stabilität des institutionellen Fundaments teilt sie aber mit der Mehrzahl der westeuropäischen Demokratien. Doch verdichten sich seit einiger Zeit die kritischen Analysen, die eine »Krise« der westlichen Demokratie beschreiben und die Symptome von Politikverdrossenheit, Populismus, aber auch Institutionenversagen zu einer Problemgeschichte in der Phase des größten Triumphs der Demokratie seit 1918 bündeln33. Das steht im Zusammenhang mit dem bereits erwähnten Wandel der Staatsfunktion. Der Staat wurde zum Protagonisten einer Anpassung der politökonomischen Ordnung an die Bedingungen der Märkte. Nur so glaubten die Regierungen, das Heft politischen Handelns in der Hand halten zu können, nachdem sie ihre Währungspolitik und im zweiten Schritt ihre Finanzpolitik im Kampf gegen die »Große Inflation« aus der Obhut des Staates herausgelöst und im Zusammenwirken mit den Notenbanken in die Freiheit des Finanzmarkts hineingestellt hatten. Daraus entwickelte sich zunächst ein autonomer Machtfaktor internationalen und seit 1995/2000 globalen Zuschnitts, in dessen Einflussbereich Bankenkonsortien, Consultingunternehmen, Investmentfonds florierten. Daraus entwickelte sich sodann die sogenannte Finanzindustrie, die in der medialen Rhetorik kurz mit dem Begriff »die Märkte« bezeichnet wird und zu einem global agierenden Machtfaktor im technisch-ökonomischen System des digitalen Finanzmarktkapi-

33 Vgl. die beiden Bücher von Pierre Rosanvallon: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit, Reflexivität, Nähe, Hamburg 2010, und Die Gesellschaft der Gleichen, Hamburg 2013.

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talismus aufstieg – zu einem Machtfaktor, der infolge seines Entstehungsprozesses weder staats- noch völkerrechtlich gebunden ist. Ganz gleich, ob es sich um konservative oder sozialdemokratische Regierungen handelt34, richten diese ihre Politik seit den 1990er Jahren immer deutlicher an den Erwartungen aus, welche »die Märkte« mittels Lobbygruppen, vermeintlich neutraler Expertengremien wie der OECD oder national agierender Stiftungen wie der Bertelsmann-Stiftung an die Politik richten. Der Staat – sei es im nationalen Gewand, sei es in der Gestalt etwa der EU-Kommission, die – wie Streeck mit Recht betont – von demokratischer Kontrolle weitestgehend ungebunden agieren kann35, setzt solche Erwartungen aus der Sphäre des Finanzmarkt-Lobbyismus dann passgenau um. Dieser Wandel der Staatsfunktion, der als Preisgabe staatlicher Souveränität im nationalen oder im EU-europäischen Rahmen bezeichnet werden muss, ist in seiner Bedeutung und den bisherigen Wirkungen historisch noch überhaupt nicht erforscht. Daher sind es erst vorläufige Hypothesen, wenn die Legitimationskrise der Demokratie und das nachlassende Interesse der Öffentlichkeit am Parlamentarismus und an staatlicher Politik mit der unsichtbaren Steuerung durch »die Märkte« in Verbindung gebracht werden. Doch diesen Hypothesen nachzugehen, dürfte eine der wichtigsten Aufgaben für die gegenwartsnahe Zeitgeschichte sein, eben weil es sich nicht nur um die Geschichte, sondern auch um die Zukunft von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im Übergang zum 21. Jahrhundert handelt. Einzig die Politik der Deregulierung, die einen wichtigen frühen Teilaspekt dieses Prozesses darstellt, ist bisher thematisiert worden36. Eine Zeitgeschichte »nach dem Boom« ist gut beraten, an diesen Problembefunden der Gegenwart anzuknüpfen, um die Wirkungen medialer Veränderungen, aber auch die Genese und Folgen der informationstechnologischen Verschiebungen und neuen medien- und finanzpolitischen Abhängigkeiten adäquat zu verstehen. Diese demokratie- und politikgeschichtliche Seite gilt es in Zukunft konsequent auszubauen. Forschungen zu Veränderungen der politischen Partizipation – von den sozialen Bewegungen über neue Protestformen und Parteistrukturen – werden gewiss davon profitieren, wenn sie die europäische, atlantische oder globale Perspektive ernst nehmen. Nur so sind die voraussehbaren Folgen nationszentrierter Selbstgenügsamkeit zu vermeiden. Nationale Entwicklungslogiken lassen sich angemessen am besten dann erfassen, wenn sie in die

34 Die in Westeuropa einflussreichste zwischenstaatliche Koalition war in der Regierungszeit des britischen Premierministers Tony Blair und des deutschen Bundeskanzlers Gerhard Schröder in den Jahren um 2000 herum zu beobachten, zwei Sozialdemokraten, denen auf der Ebene der deutschen Länderpolitik mit Verve der streng konservative bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber sekundierte. 35 Streeck, Gekaufte Zeit, S. 141–223. 36 Vgl. etwa Massimo Florio, The Great Divestiture. Evaluating the Welfare Impact of the British Privatizations, 1979–1997, Cambridge (Mass.)/London 2004; Eduardo Canedo, The Rise of the Deregulation Movement in Modern America, 1957–1980, New York 2008; James Meek, Private Island. Why Britain now belongs to someone else, London 2014.

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transnationalen Trends eingeordnet und ihre historischen Verlaufslinien un­ abhängig von der Standardisierung durch etablierte Chronologien der Politikund Gesellschaftsgeschichte herauspräpariert werden. Erste Entwürfe und kritische Stellungnahmen hierzu liegen bereits vor37. Zuletzt sind die Ambivalenzen der Umbrüche nach dem Boom stärker als bisher zu betonen. Dazu gehört es, dass die Aufbrüche in dieser Phase nicht vernachlässigt werden. Kritiker unseres Forschungsprogramms von 2008 haben mit Recht darauf hingewiesen, dass die Gewinner und die Liste der Gewinne nicht vernachlässigt werden dürften. Konservative Zeitgeistkritik und sozialromantische Erinnerung an die Verlierer würde dem Charakter der Epoche als einer Umbruchphase überhaupt nicht gerecht. Dieser Einwand ist völlig berechtigt, denn wer denkt schon daran, eine Whig history der neoliberal eingefärbten schönen neuen Konsum- und Lebenswelten im digitalen Finanzmarktkapitalismus zu schreiben, anstatt mit melancholischem Timbre die Untergänge der traditionellen Industriekultur zu beklagen. Diese Variante der Zeitgeschichte wird sicherlich bald ihre Praktiker finden. Ratschläge werden sie nicht benötigen. Stattdessen ist es wichtig, die Anregungen nochmals in Erinnerung zu rufen, welche die Jahrzehnte zwischen 1970 und 2000 als Periode (un)erfüllter Hoffnungen, Experimente und Projekte, aber auch der Befreiungen und des weiter wachsenden Reichtums  – und nicht bloß wachsender Ungleichheit  – konzipieren. M ­ orten Reitmayer hat an die historischen Erfahrungen der belle époque um 1900 erinnert, ein Schweizer Tagungsprojekt nimmt das Stichwort in der englischen Variante als »the good years« auf38. Diese Vergleiche sprengen den viel zu engen Vergleichshorizont auf, den die Metapher nach dem Boom unfreiwillig gesetzt hat. Die historische Reflexion ist gut beraten, die Zeithorizonte weiter zu setzen, als es die Erwartungshorizonte der Zeitgenossen waren. Sie gerieten in die Krisen- und Umbruchphase der 1970er und 1980er Jahre mit Erwartungen hinein, die aus der Erfahrung von Stabilität und Wachstum in den Jahren des Booms stammten. Die Ambivalenzen der Epoche könnten mit dem Denkmodell sich öffnender und schließender Möglichkeitshorizonte systematisch erschlossen werden. Gerade die 1970er  Jahre, aber auch die beiden folgenden Jahrzehnte waren geprägt von kollektiven Unternehmungen und individuellen Lebensverläufen, welche die Trägheitsgesetze etablierter Verhaltensroutinen und Organisationen durchbrachen. Materialien zu einer solchen Zeitgeschichte konkreter Möglichkeitsräume liegen ansatzweise bereits vor. Sven Reichardt bietet etwa eine Detailstudie über die Geschichte des Alternativmilieus, für das die Generierung solcher Möglichkeitsräume Daseinsgrund und Mittel der Selbstrechtfertigung

37 Vgl. dazu Wirsching, Preis; Doering-Manteuffel, Zeitbögen. 38 Vgl. Morten Reitmayer, Nach dem Boom – eine neue belle époque?, in: Reitmayer/Schlemmer (Hrsg.), Anfänge, S. 13–22; The good years! An International Conference on Recent­ History (1980–2010); www.tg.ethz.ch/de/projekte/details/the-good-years.

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wurde39. Die Welt der Hacker und Computerfreaks in den 1980er und 1990er Jahren stellt ein zweites Milieu dar, das sich vor allem über den dort kollektiv greifbaren Möglichkeitssinn definierte. Doch auch die Unternehmenswelten in diesen Jahrzehnten mit ihren zahlreichen Umbauten und Neuerfindungen privater Unternehmungen als »bürgerschaftlichen Produktionsgenossenschaften« gehören in diesen Zusammenhang40. Die vielfältigen Aufbrüche nach dem Kollaps der sozialistischen Diktaturen bilden einen ganz eigenen Untersuchungsbereich. Der Erweiterung der Möglichkeitsräume entsprach – zwangsläufig angesichts der begrenzten Chancen dauerhafter Etablierung – auch ein Anwachsen sozialer beziehungsweise individueller Illusionen oder Sozialträume. Auch diese Dimension gehört mit zur Geschichte der Jahrzehnte nach dem Boom und ist keineswegs auf die kurze Zeit der 1968er Jahre beschränkt. Das seit dem Ende der 1970er Jahre so lauthals verkündete und alsbald zur politischen Maxime gewordene Prinzip mit dem schönen Namen »Tina« (There is no alternative)  brauchte jedenfalls Zeit, um seine disziplinierende Wirkung zu entfalten. Die westlichen Gesellschaften nach dem Boom lassen sich mit großem Gewinn auch daraufhin untersuchen, welche soziale Gruppen und Alterskohorten sich besonders schnell und besonders schmerzhaft von ihren kollektiven wie individuellen Aufbrüchen verabschieden mussten. Die britische Gesellschaft der Ära Thatcher ist ein besonders krasser, aber wohl auch bis zur Jahrtausendwende in Westeuropa einmaliger Fall des schnellen Niedergangs und rasanten Aufstiegs kollektiver Möglichkeitsräume. Der industriellen Arbeiterschaft wurden in kürzester Zeit nicht nur die Grenzen ihrer materiellen Begehrlichkeiten aufgezeigt, sondern man nötigte ihr auch den Abschied von kollektiven Emanzipationserwartungen auf, während für Teile der Mittelklasse der Weg zur Bereicherung und Befreiung aus konventionellen Grenzziehungen durch das Establishment freigemacht wurde. Solche Veränderungsdramatik gab es in der alten Bundesrepublik nicht, aber sie kam nach 1990 in den neuen Bundesländern auf41. Es lohnt sich, die Veränderungsdynamik im Guten wie im Schlechten sorgfältig zu erkunden, und es wird eine Aufgabe der zeithistorischen Forschung in den kommenden Jahren sein, in die ausdifferenzierte Analyse des gesellschaftlichen Wandels beim Übergang ins Zeitalter des digitalen Finanzmarktkapitalismus auch die Rechtsgeschichte und die Internationale Geschichte mit einzubeziehen. Die Binnenzäsur in der Epoche nach dem Boom in den Jahren um 1995/2000 schloss nicht nur den Durchbruch »der Märkte« als Machtfaktor in einem neu entstandenen rechtlosen Raum in sich, sondern mit dem Krieg in Jugoslawien auch ein Menetekel für den Umgang der Staatengemeinschaft mit dem 39 Vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 22014. 40 Vgl. Hermann Kotthoff, Betriebsräte und Bürgerstatus. Wandel und Kontinuität betrieblicher Mitbestimmung, München 1994. 41 Vgl. Owen Jones, The Establishment. And how they get away with it, London 2014.

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internationalen Recht. Völkermord und kriegsbedingte Migrationsströme gehören ins Bild der Epoche nach dem Boom, bevor sich mit 9/11 die Feindschaft gegen die westliche Welt auf die Macht »der Märkte« konzentrierte; das World Trade ­Center war nicht zufällig das Ziel eines Terrorangriffs. Damit aber stehen wir am Beginn der Jetztzeit in der gegenwartsnahen Zeitgeschichte.

I. Formwandel und Strukturbrüche der Arbeit

Dieter Sauer

Permanente Reorganisation Unsicherheit und Überforderung in der Arbeitswelt

1. Der Strukturbruch… ein Gemeinplatz? »Dass die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts das Ende einer Ära und den Anfang einer anderen markierten, ist mittlerweile ein Gemeinplatz, den ich keine Veranlassung habe zu bezweifeln«, bemerkte Wolfgang Streeck vor zwei Jahren in seinem viel beachteten Buch »Gekaufte Zeit«1. Es ist noch nicht so lange her, da war dieser Gemeinplatz, die Frage von Strukturbrüchen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, in sozialwissenschaftlichen Debatten noch heftig umstritten. Auch in der Arbeitsforschung wurde die Frage, inwieweit die beobachteten Veränderungen in der Entwicklung von Unternehmen und Arbeit auf einen tiefer gehenden Umbruch verweisen oder ob sie sich noch im Rahmen von Kontinuitäten interpretieren lassen, äußerst kontrovers diskutiert. Der empirische Tatbestand radikaler Veränderungen in der Entwicklung von Arbeit – sei es in den Beschäftigungsverhältnissen, der Arbeitsorganisation, der Arbeitszeit, der Qualifikationsanforderungen, der Lohn- und Leistungsbedingungen et cetera – wird zwar heute nicht mehr bestritten. Aber die Debatte über die Frage, wie weit die beobachteten Veränderungen reichen, ob sie nur auf die Krise eines alten »(Re-)Produktionsmodells« verweisen oder ob sie bereits ein neues indizieren, hält bis heute an. Wenn ich es richtig sehe, ist die Bestimmung von Strukturbrüchen oder Wendepunkten auch für Historiker nichts Selbstverständliches, »nichts, wofür Historiker ins Gefecht ziehen würden«, wie es Eric Hobsbawm einmal formuliert hat2. Umso mehr Verdienst kommt denen zu, die es tun. Offensichtlich ist es die ökonomische Krise von 2008/09, die uns den Blick auf politisch-ökonomische Verursachungszusammenhänge und damit verstärkt auf ihre Vorgeschichte richten lässt. Das gilt auch für Streecks Analysen der »vertagten Krise des demokratischen Kapitalismus«. Allerdings greift er in unzulässiger Engführung nur die Umwälzung in den Verteilungsverhältnissen in Form der Entwicklung der Finanzmärkte auf. Streeck schreibt die gesamte Entwicklung seit den 1970er Jahren gleichsam als »Kapitalgeschichte«. Die weitere Entwicklung von Arbeit und ihre Organisation in den Unternehmen klammert er aus

1 Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus,­ Berlin 2013, S. 10. 2 Eric Hobsbawm, Wieviel Geschichte braucht die Zukunft, München 2001, S. 202.

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und vollzieht damit eine ideologische Kehrtwende nach, in der Arbeit als zentrale Kategorie gleichsam ohne Begründung aus dem zeitgenössischen Diskurs verschwindet – dasselbe gilt für ihre Akteure. Aus unserer Sicht werden gesellschaftliche Umbrüche gerade nicht durch das »Ende der Arbeitsgesellschaft« markiert – wie früher einige meinten3 –, sondern es ist gerade die Entwicklung von Arbeit selbst, in der sich die Umbrüche manifestieren.

2. Die Krise als »Brennglas« Die Krise 2008/09 erinnert an schon in Vergessenheit geratene krisentheoretische Ansätze, ohne die die historische Dynamik der Vorgeschichte der Gegenwart nicht zu begreifen ist. Sie erweist sich offensichtlich gleichsam als Brennglas, in der gesellschaftliche Zusammenhänge deutlicher werden. Folgt man einigen der vorliegenden ökonomischen Analysen4, so reichen die tieferen ökonomischen Ursachen der Krise bis in die 1970er Jahre zurück, beginnend mit dem weltweiten Wachstumseinbruch Mitte der 1970er Jahre. Seit diesem Zeitpunkt lässt sich – trotz aller konjunkturellen Höhen und Tiefen und trotz aller Unterschiede – ein Ansteigen der Arbeitslosenquoten in den wichtigen westlichen Nationen – insbesondere in Europa – beobachten. Demnach war die Krise der 1970er Jahre mehr als eine konjunkturelle Rezession. Sie war das Ende des Vollbeschäftigungswachstums und stand am Beginn einer neo­ liberalen Wirtschaftspolitik. Die Mitte der 1970er Jahre markiert auch den Wendepunkt, an dem in sozialwissenschaftlichen Analysen von einem Umbruch in der sozioökonomischen Entwicklung die Rede ist. Die Vorstellung von »immerwährender Prosperität« – 3 Die These vom »Ende der Arbeitsgesellschaft« formulierte erstmals Hannah Arendt in den 1950er Jahren. In den 1990er Jahren waren es etwa Andre Gorz, Jeremy Rifkin und ­U lrich Beck, die sie erneuerten. Die Gegenthese »Fortbestand der Arbeitsgesellschaft« hat die besseren Argumente und die empirische Evidenz auf ihrer Seite. So heißt es in Holger Alda u. a., Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland. Arbeit und Lebensweisen. Erster Bericht, Wiesbaden 2005, S. 13 f.: »Deutschland bleibt eine Arbeitsgesellschaft. Erwerbsbeteiligung ist für die große Mehrheit der Bevölkerung die Aktivität, die ihre Lebensweise bestimmt und über ihre soziale Sicherung entscheidet. Daran haben bislang weder demografische Trends, noch veränderte Lebensweisen, noch gesamtwirtschaftliche Unterbeschäftigung etwas Grundlegendes geändert. […] Die Zahl der Erwerbspersonen hat in Westdeutschland langfristig absolut wie relativ (als Erwerbsquote gemessen) zugenommen, während die der Nichterwerbspersonen leicht abnahm.« Die Zahl der Arbeitsplätze ist also nicht kleiner geworden, auch wenn das Arbeitsvolumen, also die geleisteten Arbeitsstunden, aufgrund von Arbeitszeitverkürzungen deutlich gesunken ist. Vgl. Dieter Sauer, Die Zukunft der Arbeitsgesellschaft. Soziologische Deutungen in zeit­ historischer Perspektive, in: VfZ 55 (2007), S. 309–328. 4 Vgl. z. B. Robert Brenner, The Economics of Global Turbulence, London/New York 2006; Elmar Altvater u. a., Krisen Analysen, Hamburg 2009; Wolfgang Streeck, The Crisis of­ Democratic Capitalism, in: New Left Review 71 (2011), S. 5–29.

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so Burkart Lutz – hat sich als »kurzer Traum« erwiesen5. Mit dem Ende des »goldenen Zeitalters« in vielen entwickelten kapitalistischen Staaten geriet auch in (West-)Deutschland das Modell der fordistischen Arbeitsgesellschaft6 in die Krise. Das tiefe Vertrauen in Wachstum und sozialen Fortschritt, das sich in der Bundesrepublik des »Wirtschaftswunders« herausgebildet hatte, verlor seine stabile Grundlage. Es wurde die Krise der fordistischen Regulation eingeläutet, mit der eine tiefer gehende gesellschaftliche Restrukturierung begann. In den Unternehmen waren die traditionellen Rationalisierungsformen an Grenzen gestoßen. Produktivitätssteigerungen ließen sich nur mit einer weitreichenden Reorganisation der betrieblichen Strukturen und mit neuen Steuerungsformen von Arbeit erreichen. Diese Veränderungen wurden von uns und anderen als Übergang von einer produktionszentrierten zu einer »marktzentrierten Produktionsweise« bezeichnet, die den Zugriff auf die lebendige Arbeit substanziell verändert hat. Nimmt man beides zusammen, so vollzog sich die Erosion der fordistischen Arbeitsgesellschaft vor dem Hintergrund einer strukturellen Überakkumulation von Kapital mit sich verschlechternden profitabeln Anlagemöglichkeiten. Die Transformation einer mixed economy in eine finanzmarktgesteuerte Kapitalakkumulation mit dem Shareholder beziehungsweise dem Finanzinvestor als ökonomische Zentralfigur kann in dieser Interpretation als dem Kapitalismus immanente Lösungsform der fordistischen Krise begriffen werden.

3. Die langsame Auflösung der fordistischen Arbeitsgesellschaft Historischer Bezugspunkt arbeits- und industriesoziologischer Zeitdiagnosen ist die Auseinandersetzung mit der tayloristisch-fordistischen Organisation von Arbeit. In den 1970er Jahren – die als eine erste Phase des Umbruchs betrachtet werden werden kann – wurde die Krise des Fordismus entdeckt: Hoch arbeitsteilige Produktionsabläufe, rigide und starre technisch-organisatorische Strukturen (Fließband), restriktive Arbeitssituationen mit geringen Qualifika­tions­ anforderungen, hoher Arbeitsintensität und monotonen, belastenden Tätigkeiten führten vor allem in der Massengüterindustrie zu industriellen Konflikten. Auch neue Anforderungen an die Flexibilität und Qualität der Produktion als Folge ver5 So der Titel von Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neu­ interpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung in Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./New York, 1984. 6 Dabei handelte es sich um einen robusten Zusammenhang von industrieller Massenproduktion und Massenkonsum, sozial geschützten Normalarbeitsverhältnissen für Männer, geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung in der Normalfamilie, niedrigen Frauenerwerbsquoten, kompromissorientierten Arbeitsbeziehungen sowie unterschiedlich ausgebauten Wohlfahrtsstaaten. Vgl. dazu Dieter Sauer, Arbeit im Übergang. Zeitdiagnosen. Hamburg 2005, und – zum regulationstheoretischem Hintergrund – Robert Boyer/Jean-Paul Durand, After Fordism, Basington/Hampshire 1997, sowie Michel Aglietta, Ein neues Akkumula­ tionsregime. Die Regulationstheorie auf dem Prüfstand, Hamburg 2000.

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änderter Konkurrenzsituationen auf den Weltmärkten stellten die Effizienz dieser Produktionsformen in Frage. Durch neue Formen der Arbeitsorganisation, durch Qualifizierung und bessere Arbeitsbedingungen sollte die sogenannte Krise des Taylorismus7 bewältigt werden. Mit dem Aktions- und Forschungsprogramm zur Humanisierung des Arbeitslebens, das Mitte der 1970er Jahre aufgelegt wurde, versuchte auch der Staat dazu einen Beitrag zu leisten8. Trotz einiger Erfolge bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen gingen die organisatorischen Verände­ rungen nicht sehr weit. Dennoch brachten diese Initiativen eine gewisse Dynamik in die damals noch relativ stabilen betrieblichen Strukturen und Verhältnisse. Die 1980er Jahre bezeichnen wir als Inkubationszeit, die von Suchprozessen und der partiellen Umsetzung neuer Rationalisierungsleitbilder und -konzepte gekennzeichnet war. Beispiele dafür sind systemische beziehungsweise prozessund netzwerkorientierte Rationalisierungsansätze9 oder die neuen Produktionskonzepte mit dem Leitbild vom »Ende der Arbeitsteilung« und einer Aufwertung von Produktionsarbeit10. Erst Anfang der 1990er Jahre, die wir deswegen als Umschlagsphase bezeichnen, setzten sich nach einem tiefen Kriseneinschnitt sowohl Konzepte einer neuen Arbeitsteilung – Stichworte: flache Hierarchien, partizipatives Management – als auch Vernetzungskonzepte (meist auf der Basis weiterentwickelter Informationstechnologien) in breitem Umfang durch11. Ähnliches gilt für die Tendenz einer Flexibilisierung von Arbeit: Sowohl die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses als auch die Flexibilisierung der Arbeitszeiten wurden Mitte der 1980er Jahre entdeckt und breit debattiert12, aber erst in den 1990er Jahren forciert vorangetrieben. Die zunehmende Flexibilisierung und Subjektivierung von Arbeit stellten grundlegende Strukturprinzipien der fordistisch-tayloristischen Regulation von Arbeit zur Disposition. Deren Erosion berührte jedoch nicht nur die Welt der Arbeit, sondern wirkte und wirkt weit darüber hinaus auf die Arrangements des Bildungssystems, der Familienstrukturen, Lebensweisen, Konsumstile et cetera. 7 Taylorismus gilt als Synonym für hoch arbeitsteilige Arbeitsverrichtungen. Der Begriff geht auf den amerikanischen Ingenieur Frederick W. Taylor zurück, dessen arbeitsorganisatorisches Konzept mit dem Prinzip der Fließfertigung zur Grundlage der industriellen Massenfertigung und zu einem wesentlichen Element des Fordismus wurde. 8 Zur Entwicklung dieses Programms vgl. etwa Werner Fricke, Drei Jahrzehnte Forschung und Praxis zur Humanisierung der Arbeit in Deutschland – eine Bilanz, in: Wolfgang G. Weber/Pier-Paolo Pasqualoni/Christian Burtscher (Hrsg.), Wirtschaft, Demokratie und Verantwortung. Kontinuitäten und Brüche, Göttingen 2004, S. 144–168, und Paul Oehlke, Arbeitspolitik zwischen Tradition und Innovation. Studien in humanisierungspolitischer Perspektive, Hamburg 2004. 9 Vgl. Norbert Altmann u. a., Ein »Neuer Rationalisierungstyp« – neue Anforderungen an die Industriesoziologie, in: Soziale Welt 37 (1986), S. 191–206. 10 Vgl. Horst Kern/Michael Schumann, Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion, München 1984. 11 Vgl. Sauer, Arbeit im Übergang. 12 Vgl. Ulrich Mückenberger, Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses. Hat das Arbeitsrecht noch Zukunft?, in: ZSR 31 (1985), S. 415–434 und S. 457–475.

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Auch sogenannte Megatrends wie Globalisierung, Informatisierung und Tertiarisierung, die säkularen Charakter haben, verbanden sich in den 1990er Jahren mit dem institutionellen Umbruch eines Produktions- und Sozialmodells und erfuhren dadurch einen qualitativen Schub. Schließlich lässt sich auf der Ebene der gesellschaftlichen Legitimationsmuster ein Umschlag feststellen: Mit der Durchsetzung eines kulturellen Neoliberalismus erhielten Maßnahmen einer politischen Deregulierung ebenso wie die Restrukturierung von Unternehmen und Arbeitsformen ein legitimatorisches Fundament.

4. Vermarktlichung – das Prinzip der permanenten Reorganisation Die Erosion der fordistischen Arbeitsgesellschaft vollzog sich in Form einer tiefgehenden gesellschaftlichen Restrukturierung, die nicht zuletzt zu einer weit reichenden Reorganisation in den Unternehmen und in den Steuerungsformen von Arbeit führte. Die Marktseite war es nun, die die entscheidenden Vorgaben setzte, nicht mehr die Produktion. Waren es in den 1980er Jahren zunächst die Sättigungstendenzen auf den Absatzmärkten und die verschärfte Konkurrenz auf zunehmend globalen Märkten, so kam in den 1990er Jahren der dominante Einfluss der Kapital- und Finanzmärkte dazu. Das Verhältnis von sogenannter Realökonomie und Finanz- und Kapitalmärkten drehte sich um, und es kam zu einer relativen Verselbständigung der Geldkapitalakkumulation13. Die Herstellungsprozesse in den Betrieben wurden zu abhängigen Variablen, zu Objekten der Spekulation. Dasselbe galt für die menschliche Arbeitskraft. Als der Gewinnanspruch der Investoren von vornherein »gesetzt« war, degenerierte alles andere zu einer Kostenfrage. Arbeitsbedingungen und Arbeitslohn wurden zu Restgrößen, zu abhängigen Variablen der Marktpreise und Gewinnerwartungen. Damit zusammenhängend kam es gleichsam zu einer »Entsicherung« von Arbeit und Beschäftigung. Die historisch erreichte soziale Absicherung von Arbeitskraft wurde weitgehend rückgängig gemacht. Die Arbeitsverhältnisse wurden flexibilisiert, so dass Mechanismen wieder griffen, die zur Herausbildung von Reservearmeen auf den Arbeitsmärkten führten. Auch wenn es zur Charakterisierung des skizzierten Umbruchprozesses unterschiedliche Bewertungen gibt, so ist die Übereinstimmung doch relativ groß, wenn es um ein übergreifendes Merkmal geht: Eine weitergehende Vermarkt­ lichung scheint die Entwicklung moderner kapitalistischer Gesellschaften zu 13 Darunter wird hier keine Entkoppelung des Finanzbereichs verstanden, dem Finanz­ bereich wird keine Selbstreferentialität zugemessen; vgl. dazu etwa Paul Windolf, Was ist Finanzmarkt-Kapitalismus?, in: ders. (Hrsg.), Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionssystemen, Wiesbaden 2005, S.  20–57 (KZf SS , Sonderheft 45). Wir gehen vielmehr von einen realen Verzahnung von Real- und Finanzökonomie aus, in der die Finanzsphäre eine gewisse Dominanz erlangt hat.

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bestimmen. Der Markt als generelles Steuerungs-, Organisations- und Allokationsprinzip gehörte natürlich schon immer zu den zentralen Konstituanten kapitalistischer Gesellschaften. Was neu war und auch die gegenwärtige Entwicklung charakterisiert, ist eine neue Stufe, eine neue Qualität der Vermarktlichung. Zunächst wurde Markt oft nur als allgemeine Metapher verwendet, die eine umfassende Durchsetzung des Warencharakters der Arbeitsprodukte (Kommodifizierung) und des Konkurrenzprinzips meinte oder auf eine weitergehende Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Bereiche abzielte. Als hoch generalisierte Kategorie steht Vermarktlichung aber auch für die gesellschaftliche Verallgemeinerung des ökonomischen Prinzips des marktförmigen Tausches ohne soziale Begrenzung – meist im Rückgriff auf die These des disembeddedness des Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi14. Vor allem kultursoziologische Studien formulieren auf dieser Basis ihre Kritik am Neoliberalismus15. Etwas präziser – und bezogen auf betriebliche Reorganisationsprozesse – lässt sich Vermarktlichung als ein neues Verhältnis von Markt und Betrieb sowie von Markt und Organisation fassen. Während es früher darum ging, die konkreten Produktionsabläufe gegenüber den Unwägbarkeiten des Marktes abzuschotten, avanciert der Markt zum Motor einer permanenten Reorganisation in den Unternehmen. Der Markt wird in seiner Zufälligkeit, Unberechenbarkeit und Dynamik zur treibenden Kraft der Strukturierung betrieblicher Organisation. Marktprozesse werden zugleich instrumentalisiert und inszeniert und auf diese Weise auch strategisch genutzt. Vermarktlichung beschreibt eine doppelte Bewegung der Reorganisation: einerseits die Öffnung des Unternehmens in den Markt (von der möglichst unmittelbaren Marktanbindung dezentralisierter Organisationseinheiten bis hin zur vollständigen Ausgliederung), andererseits die Hereinnahme von Markt- und Konkurrenzmechanismen in das Unternehmen entweder über erlös- und renditegesteuerte Profit-Center oder über die »Simulation« von Marktbeziehungen. Dieser Prozess wird getrieben durch die neuen Qualitäten in der Reorganisationsentwicklung: Neben der Kapitalmarktorientierung sind dies vor allem weitere Informatisierung, Standardisierung und die Herausbildung transnationaler Unternehmen. Vermarktlichung und die historische Tendenz der unternehmensübergreifenden Vernetzung wurden lange Zeit als unabhängige oder auch alternative Entwicklungsszenarien betrachtet. Inzwischen wird deutlich, dass sich forcierte Vermarktlichung und der Ausbau globaler Unternehmensnetzwerke zu einer Reorganisationsperspektive verbinden: Mechanismen der Marktsteuerung und der organisatorischen Netzwerksteuerung (früher auch als »Entmarktlichung« interpretiert) überlagern sich. Die Funktionsmechanismen der Marktsteuerung

14 Karl Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von­ Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Wien 1977. 15 Vgl. Sighard Neckel, Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft, Frankfurt a. M./New York 2008.

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bleiben auch innerhalb der Netzwerke bestehen, erhalten jedoch zunehmend fiktiven, weitgehend instrumentellen Charakter16. Vermarktlichung und auch Vernetzung haben bislang nicht dazu geführt, Unternehmen und Betriebe als Organisationseinheiten aufzulösen. Aber die Grenzen zwischen Betrieb und Markt, zwischen Markt- und Produktionsökonomie werden durchlässiger. Die wachsende Dynamik in der Veränderung der Außenbedingungen wird für die Unternehmen damit unmittelbarer wirksam und bestimmt in zunehmendem Maße die Art und Weise, wie sie strategisch darauf mit der Gestaltung ihrer Organisation reagieren. Die Marktbedingungen erscheinen jetzt als Sachzwänge, denen sich niemand widersetzen kann. Die Marktlogik wird zum internen Steuerungsprinzip, unbewusste Prozesse werden für den Zweck betrieblicher Steuerung bewusst genutzt. Wir nennen das indirekte Steuerung17, die sich zunächst auch ohne den dominanten Einfluss der Kapital- und Finanzmärkte entwickelte. Sie erfährt jedoch mit der zunehmenden Orientierung an den Finanzmärkten eine neue Dynamik, die auch die Steuerung von Arbeit und Leistung erfasst. Reorganisation stellt nun nicht mehr – wie in der fordistischen Phase – die Ausnahme von der Regel dar, sondern sie wird zu einer permanenten Anforderung.

5. Finanzialisierung der Unternehmenssteuerung und Finalisierung der Leistungspolitik Mit der Dominanz der Finanzmärkte wurden finanzmarkt-orientierte Steuerungsgrößen für die innere Organisation und die Arbeitsabläufe in den Unternehmen entscheidend. Diese neue Herrschaft der Zahlen ist Folge und Voraussetzung für die orientierende Kraft der Finanzmärkte. Dasselbe gilt für die Finalisierung der Leistungssteuerung, also ihre Ergebnis- und Erfolgsorientierung. Sie sind Bausteine neuer indirekter Steuerungsformen von Unternehmen und Arbeit, die einer finanzmarkt-orientierten Logik folgen. Wir haben die Wirkungsweise dieser neuen Steuerungsformen in den letzten Jahren in verschiedenen Branchen untersucht, und ich will versuchen, diesen Mechanismus kurz dazustellen18. Unerreichbare Ziele: Den Ausgangspunkt von Unternehmenszielen bilden zum einen abstrakte Renditeerwartungen und Marktstrategien sowie Wett­bewerbs­ 16 Vgl. Dieter Sauer, Vermarktlichung und Vernetzung der Unternehmens- und Betriebs­ organisation, in: Fritz Böhle/G. Günter Voß/Günther Wachtler (Hrsg.), Handbuch Arbeits­ soziologie, Wiesbaden 2010, S. 545–568. 17 Vgl. Klaus Peters/Dieter Sauer, Indirekte Steuerung – eine neue Herrschaftsform. Zur revolutionären Qualität des gegenwärtigen Umbruchprozesses, in: Hilde Wagner (Hrsg.), »Rentier’ ich mich noch?« Neue Steuerungskonzepte im Betrieb, Hamburg 2005, S. 23–58. 18 Vgl. Nick Kratzer/Sarah Nies, Neue Leistungspolitik bei Angestellten. ERA , Leistungssteuerung, Leistungsentgelt, Berlin 2009, und Nick Kratzer u. a. (Hrsg.), Arbeit und Gesundheit im Konflikt. Analysen und Ansätze für ein partizipatives Gesundheitsmanagement, Berlin 2011.

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kennzahlen. Zum anderen sind es dynamische Ziel- und Ergebnisvorgaben, die den »Fortschritt« definieren, den die Organisation erst noch machen muss und an dem sie gemessen wird. Dadurch soll Druck und Motivation erzeugt werden. Diese Ausrichtung findet sich zunehmend auch in Unternehmen, die keine Aktiengesellschaften sind, also auch in Familienbetrieben oder öffentlichen Unternehmen und sogar in sozialen oder kirchlichen Einrichtungen. Marktorientierte Steuerung findet ihren Ausdruck in der Überlastung der betrieblichen Organisation durch unerreichbare Ziele. Dabei besteht eine systematische Kluft zwischen den theoretisch vorgegebenen Zielen und ihrer Machbarkeit. Systema­tische Überlastung ist aber kein Fehler im System, sondern hat selbst System. Die Organisation muss jedes Jahr besser, schneller, billiger werden. Hierzu ein paar Zitate aus unseren Studien: »Ich […] höre jedes Jahr von den Führungskräften den Satz: Wir legen noch eine Schippe drauf. […] Und das Merkwürdige ist: Wir schaffen das jeweils, und die Konsequenz ist davon dann, dass sich die Spirale wieder weiterdreht, wir am Ende des Jahres wieder hören, dass wir noch eine Schippe drauflegen sollen, obwohl wir eigentlich ständig schon am Limit arbeiten.« (Finanzdienstleister) »Wir wollen in fünf Jahren verdoppeln […] Und das wird jetzt einfach fortgeschrieben, was natürlich nicht funktioniert zurzeit. Und eine Diskussion über das, was realistisch ist oder nicht realistisch ist, ist für mich nicht sichtbar.« (Entwicklung Funktechnik) »Wir haben jedes Jahr die freundliche Aufforderung, 10 % Produktivität zu machen.« (Auftragsbearbeitung Messgerätebau)

Die Herrschaft der Zahlen: Und die Messgrößen finden sich in den abstrakten Kennziffern, Benchmarks und anderen Indices, die ihre effektive Wirkung vor allem dann erzielen, wenn die Existenz von Organisationseinheiten an das Erreichen von Kennziffern gebunden wird. Mit einem immer aufwändigeren Controlling, wird der erreichte Stand der Bearbeitung von unten nach oben ständig zurückgekoppelt. Damit wird eine ständige Bedrohung, eine Situation der »permanenten Bewährung« erzeugt19. Die Rede ist von einer neuen Ökonomie der Unsicherheit. Hierzu wieder ein Zitat aus unseren Interviews: »Also erwartet werden auf jeden Fall Zahlen, […] dass wir aus den roten Zahlen rauskommen. Und wenn ich ganz ehrlich bin, im Moment weiß ich nicht, wie das Unternehmen das bezwecken will. Die machen nur Druck, die schreiben dann E-Mails: ›wir brauchen Zahlen, wir brauchen Zahlen, wir brauchen Zahlen‹. Bei der gleichen E-Mail kam dann aber auch: ›wir können auch nicht alle Mitarbeiter mitnehmen‹. Wie wollen sie dann ein Ziel erreichen, wenn sie in der gleichen Mail direkt noch mal sagen es kann sein, ›dass ihr den nächsten Monat den Job verliert‹. Das finde ich ein bisschen 19 Andreas Boes/Anja Bultemeier, Anerkennung im System permanenter Bewährung, in: Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformation. Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena 2008, Wiesbaden 2010 (CD -ROM).

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demoralisierend. Und von daher weiß ich gar nicht, wie das Unternehmen das im Moment durchbringen will, ehrlich gesagt. Wie gesagt, also ich denk im Moment wirklich, das Schiff fährt voll an die Wand, ehrlich gesagt.« (IT-Industrie)

Vom Organisationsproblem zum individuellen Problem: Das Problem unerreichbarer Ziele lösen die Unternehmen dadurch, dass sie das Problem an die Beschäftigten weitergeben. Aus dem Problem der Organisation wird ein Problem der Beschäftigten und seine Lösung wird zum eigentlichen Maßstab von Leistung oder Erfolg. Unrealistische Vorgaben sind das Kernelement einer gezielten Dynamisierung der Leistungsanforderungen, bei der die Beschäftigten Aufgaben der­ Organisation wie Abstimmung von Anforderungen und Ressourcen oder Rationalisierung selbst übernehmen. Die Beschäftigten müssen neben ihrer Kernarbeit so auch mehr und mehr Organisationsarbeit leisten. Organisationsarbeit ist überwiegend ungeplante und oft nicht-bewusste Arbeit. Die effiziente Koordination von Kern- und Organisationsarbeit erfordert eine Leistung der Selbststeuerung, die oft unsichtbar bleibt, weil sie selbst kein Ergebnis hat. Sie wird nur negativ sichtbar – wenn Termine platzen, die Qualität nicht stimmt, der Kunde unzufrieden ist et cetera. Nur die Kernarbeit zählt, auch für die Beschäftigten selbst! Das ist der Grund, warum Beschäftigte sagen: »So viel gemacht und nichts geschafft.« Die Zunahme der Organisationsarbeit ist die Folge der Transformation des organisationellen in ein individuelles Problem. Dies sorgt zum einen dafür, dass die Beschäftigten vor lauter (Organisations-)Arbeit oft gar nicht mehr zur eigentlichen Arbeit kommen. Zum anderen führt das dazu, dass Selbststeuerung nun nicht mehr nur auf die Arbeitsausführung, sondern eben auch auf die Bewältigung organisationeller Probleme ausgerichtet ist. Wie die Beschäftigten diese Selbststeuerung wahrnehmen, zeigt wieder ein Zitat aus einem Interview im Rahmen unserer Untersuchungen: »Und da habe ich das gemacht, was früher die Vorgesetzten gemacht haben: Ich habe mich dazu gebracht, immer effektiver zu arbeiten. Ich habe mich selber unter Druck gesetzt. Das ist natürlich die optimale Form, ist doch klar. Kein Vorgesetzter kann mich so unter Druck setzen wie ich mich selber, das ist doch klar. Weiß ich doch auch. Aber Sie kommen ja nicht raus aus diesem Prozess. Das ist eben so. Sie sind gezwungen, effektiver zu arbeiten, oder Sie schaffen es nicht, Sie schaffen das Volumen an Arbeit früher nicht als andere. Und keiner will doch der erste sein, der sagt: Ich schaffe es nicht.« (Sachbearbeitung)

Die Finalisierung der Leistungspolitik: Damit wird deutlich, Leistungssteuerung ist das strategische Feld, auf dem über mehrere Vermittlungsschritte marktorientierte Unternehmensziele in konkrete Anforderungen an die einzelnen Beschäftigten transformiert werden. Über Chancen und Risiken, die sich daraus für die Beschäftigten ergeben, wird wesentlich auf diesem Feld entschieden. Zu erkennen ist eine grundlegende Redefinition des Leistungsbegriffs. Bislang zwischen allen Konfliktparteien weitgehend geteilte Basisprinzipien des Leis-

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tungsverständnisses stehen mittlerweile zur Disposition: der Aufwands- beziehungsweise Arbeitskraftbezug, die Orientierung an einem Maß des Menschenmöglichen, ein gerechtigkeitsbasiertes Wechselverhältnis von Leistung und Gegenleistung zwischen Beschäftigten und Unternehmen. Als Maßstab des traditionellen Leistungsbegriffs – in der Definition der Normalleistung im Leistungslohn wie als Basis des Zeitlohns – diente eine Naturgröße von Leistung, die auf einem körperlich oder »natürlich« bestimmten Ideal basiert (etwa die REFANormalleistung) und die Zeit als marktunabhängiger Referenzpunkt. Dementsprechend wurde Leistung in den klassischen leistungspolitischen Instrumenten definiert als Anstrengung, Mühe, Beanspruchung, Einsatz von Qualifikationen und ähnliches. Die Veränderung besteht nun in einer Umkehr des Leistungsprinzips: Der aufwandsorientierte Leistungsbegriff wird durch einen ergebnis- beziehungsweise erfolgsorientierten abgelöst. Für die Bestimmung der Leistung ist nicht mehr die Aufwandsseite, sondern das Resultat der Leistungsverausgabung ausschlaggebend. Diese Umkehrung des Prozesses wird auch als Finalisierung des Leistungsbegriffs bezeichnet. Leistung wird nicht mehr definiert in Relation zu einem anthropozentrischen Standard, sondern heißt – vereinfacht gesprochen – zu erfüllen, was der Markt erfordert, was der Kunde wünscht, was ökonomisch unausweichlich ist. Ob und mit welchem Arbeitsaufwand, mit welcher Anstrengung dies erreicht wird, ist für die Definition der Ansprüche an die Beschäftigten gleichgültig (natürlich gelingt die Zielerfüllung in der Praxis kaum ohne Arbeitsanstrengung, aber diese ist hier nicht definitorisches Merkmal von Leistung). Nicht der Aufwand in Relation zum menschlich Möglichen, sondern das Arbeitsergebnis in Relation zum extern Erforderlichen zählt. Die Bezugsgröße von Leistung wird damit variabilisiert. Während die Normalleistung als konstantes Maß konzeptualisiert ist, ist das, was Markt und Kunden verlangen, grundsätzlich nach oben offen, prinzipiell maßlos. Gleichzeitig wird Zeit zur abhängigen Variablen, sie dient nicht mehr als Maßstab der Bemessung und Bewertung und damit auch nicht der legitimen Begrenzung der Arbeits- und Leistungsbedingungen. Diese Entwicklung zeigt sich in der Zunahme marktorientierter Kennziffern in der Leistungsbewertung, in leistungsvariablen Entgeltelementen, in der Leistungsentlohnung, in der Gestaltung von Leistungsbeurteilungen, Zielvereinbarungen und in vielem anderen mehr20. Mit ihrer Finalisierung verliert die Leistungspolitik jegliche natürliche Maß­ stäbe und stößt damit immer wieder an die Grenzen menschlicher Leistungs­ fähigkeit. Es entsteht – so Josef Reindl u. a. in einer aktuellen Studie – »ein anderes Arbeitserleben: ein Gefühl der immerwährenden Anspannung, das den Rhythmus von viel und weniger Arbeit, von hektischen und ruhigen Phasen, 20 Vgl. Wolfgang Menz/Wolfgang Dunkel/Nick Kratzer, Leistung und Leiden. Neue Steuerungsformen von Leistung und ihre Belastungswirkungen, in: Kratzer u. a. (Hrsg.), Arbeit und Gesundheit, S. 143–199.

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von Auftragsspitzen und Normallast kaum mehr kennt. Ob im Konjunkturhoch oder Konjunkturtal, im Wachstum oder in der Krise, es kehrt keine ›Normalität‹ mehr ins Arbeitserleben ein.«21

6. »Krise ist immer« – Arbeitsbedingungen in Zeiten permanenter Reorganisation Und genau diese Einschätzung ist uns begegnet, als wir in den letzten Jahren (2010 und 2012) zwei kleinere Befragungen zur Krisenwahrnehmung von Beschäftigten in den Betrieben durchgeführt haben22. Für die Mehrzahl der Beschäftigten in den Betrieben wirkte die Finanz- und Wirtschaftskrise nicht als singuläres Ereignis, sondern traf auf frühere, schon länger bekannte, gleichsam alltägliche betriebliche Krisenerfahrungen. Anders als im strikt ökonomischen Sinn wird Krise oftmals als permanenter Prozess wahrgenommen, der sich seit über einem Jahrzehnt durch beständige Reorganisation der Abläufe im Betrieb, Verlagerungen, Outsourcing, Kostensenkungsprogramme, fortwährende Intensivierung der Arbeit und so weiter auszeichnet. Als krisenhaft werden der fortwährende Druck und die permanente Unsicherheit von Beschäftigung, Einkommen und Arbeitsbedingungen verstanden. In der Auseinandersetzung mit dieser Reorganisation in Permanenz werden Krisenreaktionen dann selbst zu einer g­ ewissen Routine. Das bedeutet nicht, dass von der Krise keine eigenständige Bedrohung und Wirkung ausgegangen wäre. Aber für Beschäftigte in Betrieben, die sich seit über einem Jahrzehnt in permanenter Standortkonkurrenz befinden und ständig mit den Geschäftsleitungen darüber feilschen müssen, wie viel sie von ihrem Einkommen oder ihrer Arbeitszeit hergeben, damit der Standort gesichert bleibt, für die ist »immer Krise«, auch wenn die Wirtschaft sich konjunkturell wieder aufwärts bewegt. Boom oder Krise, der Druck auf die Arbeitsbedingungen in Zeiten permanenter Reorganisation hört nicht auf. Solche Einschätzungen haben wir auch in Forschungsprojekten in den letzten 15 Jahren immer wieder vorgefunden. Sie waren unter anderem ein Beleg für unsere These einer permanten Reorganisation in den Unternehmen, die teilweise unabhängig von jeweiligen Konjunkturverläufen bei den Beschäftigten ständig für Unruhe und Druck sorgt. Allerdings war damals die Bezeichnung Krise für diesen ständig steigenden Druck weniger geläufig. Insofern hat die Finanz- und Wirtschaftskrise den Blick auf die zurückliegenden Erfahrungen durchaus geschärft. 21 Vgl. Josef Reindl/Annegret Köchling/Heiko Breit, Seelennot. Prävention in der dunklen Zone der modernen Arbeitswelt. Wissenschaftlicher Abschlussbericht des Projektes: Lebenslang gesund arbeiten  – demographieorientierte innovative Präventionskonzepte (LEGESA), Saarbrücken 2011. 22 Vgl. Richard Detje u. a., Krise ohne Konflikt? Interessen- und Handlungsorientierungen im Betrieb – die Sicht von Betroffenen, Hamburg 2011, und Richard Detje u. a., Krisen­ erfah­rungen und Politik. Der Blick von unten auf Betrieb, Gewerkschaft und Staat, Hamburg 2013.

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In der Wahrnehmung von Krise als permanentem Prozess stecken Defensiverfahrungen bis hin zu sozialen und politischen Niederlagen. Weder hat man wachsenden Leistungsdruck, die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitverlängerungen im Kontext einer fortschreitenden Vermarktlichung der Verhältnisse im Unternehmen verhindern können, noch die höchst einseitige Verteilung des neu produzierten Reichtums zu Gunsten der Kapital- und Vermögenseinkommen. »Immer Krise« heißt also auch immer Anspannung und immer Überforderung – das ist das Resultat der finanzmarktorientierten Unternehmenssteuerung, wenn maßlose Renditen ihren Ausdruck in maßlosen Leistungsanforderungen finden. Und dass daraus inzwischen eine neue Krisendimension entstanden ist, zeigen viele aktuelle Untersuchungen: psychische Belastungen und Erkrankungen nehmen dramatisch zu. Sie indizieren nicht nur steigende Gefahren für individuelle Gesundheit und soziale Beziehungen, sie verweisen auf nicht mehr zu leugnende Grenzen einer Ökonomie der Maßlosigkeit.

7. Zwiespältige Auswirkungen für die Beschäftigten Sicher treffen diese Verschlechterungen nicht alle Arbeitnehmer in gleicher Weise. Die Unterschiede und Spaltungen nehmen zu, aber immer mehr bekommen die Folgen dieser Entwicklung zu spüren. Auf der anderen Seite sind ebenso eindeutige Verbesserungen in der Entwicklung der Arbeitsbedingungen festzustellen. Mehr Druck durch mehr Freiheit: Die Beschäftigten haben in den letzten 20 Jahren weitgehende Spielräume in der Gestaltung ihrer eigenen Arbeit, ihrer Arbeitszeit oder auch der Kooperationsbezüge in der Arbeit erhalten. Die Freiheitsgrade im Beruf sind angesichts flacherer Hierarchien und höherer Eigenverantwortung gestiegen. Die Beschäftigten sind nicht nur aufgefordert, sondern auch eingeladen, unternehmerisch zu denken und zu handeln. Sie sollen sich beruflich weiterentwickeln und entfalten. Die Rede ist von einer gewachsenen Wertschätzung, die der lebendigen Arbeit entgegengebracht wird. Unter­ suchungen und Befragungen zeigen eine Arbeitswelt, in der eine Mehrheit der Beschäftigten über Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume verfügt23. In einer Untersuchung zur Auswirkung des Führungsverhaltens auf die Gesundheit geben nur knapp 17 Prozent der rund 28.000 Befragten an, dass sie »sich von ihrem Vorgesetzten stark kontrolliert fühlen«, entsprechend sagen 83 Prozent, dies sei selten oder nie der Fall24. Auch in unseren eigenen Untersuchungen beschreiben viele Beschäftigte ihren Vorgesetzten oder ihre Vorgesetzte nur selten als­ 23 Vgl. Uwe Lenhardt/Michael Ertel/Martina Morschhäuser, Psychische Arbeitsbelastungen in Deutschland: Schwerpunkte, Trends, betriebliche Umgangsweisen, in: WSI-Mitteilungen 63 (2010), S. 335–342. 24 Vgl. Klaus Zok, Führungsverhalten und Auswirkungen auf die Gesundheit der Mitarbeiter. Analyse von WIdO-Befragungen, in: Bernhard Badura u. a. (Hrsg.), Fehlzeiten-Report 2011. Führung und Gesundheit, Berlin/Heidelberg 2011, S. 27–36.

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jemanden, der ihnen unmittelbare Anweisungen erteilt oder ihre Arbeit ständig kontrolliert. Und nahezu alle schätzen ihre unmittelbaren Tätigkeits- und Gestaltungsspielräume als groß bis sehr groß ein25. Nun sind es offensichtlich gerade diese neuen Freiheiten, mit denen sich neue Gesundheitsgefahren verbinden. Heute befinden sich die Menschen im Betrieb in einer Lage, in der in Gestalt von Flexibilität und Selbstorganisation Gefährdungen und Verschlechterungen gerade von den Faktoren ausgehen, die damals gefordert wurden. Die Unternehmen konfrontieren die Mitarbeiter geradezu mit einem Übermaß an Abwechslung (Flexibilität) und Eigenverantwortung, damit sie bis in die Besonderheiten ihrer Individualität hinein für das Unternehmen produktiv sind. In jeder noch so trivialen Arbeitssituation und auf allen Qualifikationsstufen wird von ihnen Kreativität verlangt. So sind es oft und gerade die Leistungsträger, die Engagierten und Motivierten, die irgendwann nicht mehr können. Und es sind mehr und mehr hochqualifizierte Beschäftigte, die mit hohen Anforderungen zu kämpfen haben: Das zeigen Studien zu verschiedenen Gruppen von Hochqualifizierten, so etwa zu IT-Fachkräften26, Ärzten27 oder Unternehmensberatern28. Das ist deswegen so bemerkenswert, weil man gerade bei Hochqualifizierten annehmen kann, dass deren Arbeitsbedingungen so schlecht nicht sind29. Rapide Zunahme psychischer Belastungen: Die wissenschaftlichen Berichte über die alarmierende Zunahme psychischer Belastungen zeigen jedoch, dass steigender Zeit- und Leistungsdruck, dass die Überforderung in der Arbeit nicht nur auf einzelne Berufsgrupen zutrifft. Fast jeder zweite Arbeitnehmer leidet stark unter Hektik, Zeit- und Termindruck am Arbeitsplatz. Knapp 18 Millionen Erwerbstätige sind in der Arbeit einem »starken Termin- und Leistungsdruck« ausgesetzt, 60 Prozent empfinden das als belastend30. 5,6 Millionen Erwerbs­ tätige »arbeiten an der Grenze der Leistungsfähigkeit«, 70 Prozent fühlen sich dadurch belastet. Nur 50 Prozent aller Erwerbstätigen gehen davon aus, dass sie ihre Tätigkeit bis zum Beginn des Rentenalters werden ausüben können31. 25 So etwa in Kratzer/Nies, Leistungspolitik. 26 Vgl. Anja Gerlmaier/Erich Latniak, Burnout in der IT-Branche. Ursachen und betriebliche Prävention, Kröning 2011. 27 Vgl. Olaf von dem Knesebeck u. a., Psychosoziale Belastungen bei chirurgisch tätigen Krankenhausärzten. Ergebnisse einer bundesweiten Befragung, in: Deutsches Ärzteblatt 107 (2010), S. 248–253. 28 Vgl. Frank Striewe/Markus Schwering, Partizipation und Belastung von Unternehmensberatern. Empirische Befunde zu den Risiken und Nebenwirkungen »wissensintensiver« Arbeit, in: Arbeit 20 (2012) H. 2, S. 75–93. 29 Vgl. Nick Kratzer, Burn-out: Fehldiagnose oder Epidemie? Große Freiheit, wenig Spielraum. Warum an sich gute Arbeitsbedingungen nicht mehr vor Überlastung schützen, in: Deutsches Ärzteblatt 109 (2012), S. A 2246 ff. 30 Vgl. hierzu und zum Folgenden Arbeitswelt im Wandel. Zahlen, Daten, Fakten, hrsg. von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund 2008. 31 Vgl. DGB -Index Gute Arbeit, Berlin 2009; www.dgb-index gute-arbeit.de/downloads/ publikationen/data/diga_report_09.pdf.

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Fast die Hälfte aller Arbeitnehmer klagt über massive Erschöpfungszustände. Die psychischen Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen sind zwischen 1997 und 2004 um 70 Prozent gestiegen32. Sie sind inzwischen der viert­ häufigste Grund für die Krankschreibungen – bei generell rückläufiger Zahl der Krankheitstage. Verabschiedeten sich 1993 noch 18 Prozent aller Frührentner wegen psychischer Probleme in den Ruhestand, sind es nach den vor kurzem veröffentlichten Zahlen der Deutschen Rentenversicherung heute schon 40 Prozent. Bei den Frauen ist es fast jede zweite, bei den Männern jeder Dritte; die Betroffenen sind heute durchschnittlich 48 Jahre alt, 1980 waren sie noch 56. Aber auch die Jungen sind keineswegs soviel gesünder und leistungsstärker als die Älteren: Die Ausfälle wegen psychischer Erkrankungen haben sich unter den Berufstätigen zwischen 15 und 35 – Frauen wie Männer – seit 1997 verdoppelt. Die Technikerkrankenkasse berichtete in ihrem Gesundheitsreport für 2010, dass gerade unter jungen Arbeitnehmern die psychischen Erkrankungen zugenommen haben33. Die Kosten, die entstehen, um Angststörungen, Depressionen, Herzinfarkte oder Hörstürze zu kurieren, haben sich binnen eines Jahrzehnts nahezu verdoppelt. Mit der Zunahme psychischer Erkrankungen tickt eine Zeitbombe für Arbeitgeber, Wirtschaft und Gesellschaft. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts verursachen psychische Erkrankungen Behandlungskosten von rund 27 Milliarden Euro jährlich. Arbeitsbedingten psychischen Belastungen können direkte Krankheitskosten von 9,9 Milliarden Euro und indirekte Kosten von bis zu 19,3 Milliarden Euro zugerechnet werden34. Der Bundesverband der Betriebskrankenkassen beziffert die Kosten für den dadurch verursachten Produktionsausfall auf 26 Milliarden Euro. Experten sprechen von einem fundamentalen Wandel bei den Ursachen der Erwerbsminderung oder Berufsunfähigkeit in den letzten 20 Jahren. Inzwischen belege der Risikofaktor Psyche eindeutig den Spitzenplatz bei den neuen Krankheitsfällen – vor Herzkrankheiten, Krebs und anderen sogenannten Zivilisationsleiden. Experten nennen die Angst um den Arbeitsplatz, die massiv zunehmende Arbeitsbelastung, den Verlust der Mitarbeitersolidarität sowie die Angst, unter steigendem Leistungsdruck zu versagen, als wichtigste arbeitsbedingte Faktoren. »Entsicherung« und Prekarisierung von Arbeit: Ein zweites wesentliches Merkmal der aktuellen Arbeitswelt, das seit vielen Jahren die Beschäftigung in fast allen Branchen charakterisiert, will ich hier nur kurz benennen: die Zersetzung 32 Vgl. DAK Gesundheitsreport 2007, im Auftrag der DAK erstellt durch das Institut für Gesundheits- und Sozialforschung, Hamburg/Berlin 2007; www.sozialpolitik-aktuell. de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsbedingungen/Dokumente/DAKGesundheitsreport_2007.pdf. 33 Vgl. Gesundheitsreport 2010. Gesundheitliche Veränderungen bei Berufstätigen und Arbeitslosen von 2000 bis 2009, hrsg. von der Techniker Krankenkasse, Hamburg 2010; www. tk.de/centaurus/servlet/contentblob/222138/Datei/2060/Gesundheitsreport-2010.pdf. 34 Vgl. Wolfgang Bödeker/Michael Friedrichs, Kosten der psychischen Erkrankungen in Deutschland, in: Lothar Kamp/Klaus Pickshaus (Hrsg.), Regelungslücke psychische Belastungen schließen, Düsseldorf 2011, S. 10–67.

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des Normalarbeitsverhältnisses durch Teilzeit-, befristete und geringfügige Beschäftigung  – man zählt gegenwärtig allein 7,3 Millionen Minijobber  –, Leih­ arbeit und andere Formen der Flexibilisierung. Heute beobachten wir etwa in vielen Betrieben eine zunehmende Flexibilisierung durch Werkverträge. Prekär wird diese Entwicklung vor allem dann, wenn sie sich mit Niedriglöhnen verbindet, die nicht mehr zu einem normalen Leben reichen. Laut Berichten der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf sind die Löhne in Deutschland nach der Jahrtausendwende preisbereinigt um 4,5 Prozent gefallen35; in anderen Ländern wie etwa in Norwegen sind sie im selben Zeitraum um 25,1 Prozent gestiegen. Im unteren Lohndrittel sind die Reallöhne im vergangenen Jahrzehnt um über 20 Prozent gesunken36. Die Niedriglohnbeschäftigung ist in Deutschland weitaus stärker expandiert als in jedem anderen europäischen Land. 2009 waren rund 20,7 Prozent der Erwerbstätigen im Niedriglohnsektor beschäftigt, das heißt sie verdienten weniger als zwei Drittel des Durchschnittslohns37. Ein erheblicher Teil der Niedriglohnbezieher arbeitet in einem normalen Arbeitsverhältnis, darunter überdurchschnittlich viele Frauen und gering Qualifizierte. Doch rund drei Viertel aller Niedriglohnbezieher verfügen über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder gar über einen akademischen Abschluss. Diese sogenannte Prekarisierung betrifft damit heute nicht mehr nur die Peripherie der Arbeitswelt – das hat es auch früher gegeben –, sie hat längst auch in vielen Branchen den Kern von Normalarbeit erfasst. Eine gute Auftragslage, eine positive Umsatzentwicklung oder stabile Gewinne sind längst kein Garant mehr für den Erhalt des Betriebs oder die Sicherheit des Arbeitsplatzes – sei es, weil die Kapitalrendite hinter internationalen Benchmarks zurückbleibt oder weil Geschäftsfelder umstrukturiert und dabei ganze Betriebseinheiten outgesourct werden. So bedeutet zum Beispiel die permanente Prüfung von Standortentscheidungen, dass die Verstetigung der Unsicherheit der Beschäftigten hinsichtlich Beschäftigungsdauer, Lohnhöhe und Arbeitsplatz dauerhaft ist. Überdies schafft die Prekarisierung ein Bedrohungsszenario, das – in einem negativen Sinne – als Motivationsfaktor wirkt und auch gezielt so eingesetzt wird. Die Leistungsbereitschaft von prekär Beschäftigten, die einen festen Arbeitsplatz erreichen wollen, wird häufig als (neuer) Maßstab für die »richtige« Leistungsorientierung eingesetzt – etwa, wenn es um die Bereitschaft zur Schicht- oder Wochenendarbeit geht.

35 Vgl. Global Wage Report 2010/11. Wage policies in times of crisis, hrsg. vom International Labour Office, Genf 2010; www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/--publ/documents/publication/wcms_145265.pdf. 36 Vgl. DIW-Wochenbericht 45/2011: Reallöhne 2000–2010: Ein Jahrzehnt ohne Zuwachs; www.diw.de/documents/publikationen/73/diw_01.c.388565.de/11–45.pdf. 37 Vgl. Global Wage Report 2010/11.

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8. »Finanzmarktkapitalismus« – das Ende der Übergangsphase? Permanene Reorganisation, permanenter Arbeitsdruck, fortwährende Bedrohung, permanente Bewährung – das sind die Merkmale, die den hier skizzierten Wandel von Unternehmensorganisation und Arbeitswelt charakterisieren. In den Worten der von uns in den Betrieben befragten Beschäftigten heißt das: »Krise ist immer«! Das Leben in den Betrieben heute kennt keine Ruhephasen mehr. Zwar sind Klagen über steigenden Arbeitsdruck nicht neu, denn die Rationalisierung, die Steigerung betrieblicher Effizienz gehörte von Beginn an zum betrieblichen Alltag. Aber es ist eine radikal neue Qualität sichtbar geworden, und wenn wir die Beschäftigten fragten, seit wann das denn so sei, nannten sie stets die 1990er Jahre, in denen das alles angefangen habe. Die 1990er Jahre – ein historischer Einschnitt: Nun reicht meine eigene – aus der Perspektive eines Arbeits- und Industriesoziologen gewonnene – Anschauung betrieblicher Veränderungsprozesse ziemlich weit zurück, nämlich genau bis zu dem Wendepunkt, von dem an die Zeit nach dem Boom datiert wird oder an dem – wie wir es formulieren – die Krise des Fordismus beginnt. Nach unseren Einschätzungen wurde diese Krise des Fordismus in den 1990er Jahren manifest. Erst ab dieser Zeit verdichteten sich ökonomische Restrukturierungsansätze, betriebliche Rationalisierungsleitbilder, Ab- und Umbau sozialer Sicherungssysteme und kulturelle Legitimationsmuster zu einem ineinandergreifenden Muster. Wie lässt sich dieser historische Einschnitt in den 1990er Jahren nun interpretieren? Ist damit das Ende einer Übergangsphase erreicht? Sind wir in eine neue historische Phase eingetreten, die das Signum eines Finanzmarktkapitalismus trägt? Nach Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael gilt es »festzuhalten, dass einiges dafür spricht, die mittleren 1990er Jahre als mögliches Ende einer ›Übergangsphase‹ zu betrachten. Zwischen 1994 und 1998 wuchsen alle Indikatoren für die Durchsetzung des digitalen Finanzmarktkapitalismus geradezu sprunghaft.«38 Heißt das, dass sich nach dem Boom und einer Phase des Übergangs jetzt wieder eine stabile neue historische Periode eingestellt hat? Und lässt sich diese Periode mit dem Begriff Finanzmarktkapitalismus zureichend kennzeichen? Ich weiß, dass Historiker normalerweise mit solchen Etikettierungen relativ vorsichtig umgehen. Sozialwissenschaftler haben da in der Regel weniger Skrupel. Nicht erst nach der Krise 2008/09 ist der Finanzmarktkapitalismus zu einer gängigen Kriseninterpretation und Zeitdiagnose geworden. In Begründungen und Reichweite sehr unterschiedlich findet sich eine Vielzahl von kapitalismuskritischen Konzepten, die davon ausgehen, mit diesem Begriff eine schlüssige

38 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeit­ geschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, S. 14.

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Charakterisierung für die Entwicklung in den letzten 15 bis 20 Jahre gefunden zu haben39. Wenn man jedoch – wie wir – den Fordismus und seine Krise beziehungsweise seine Auflösung als Referenzfolie gewählt hat, ist es schwieriger: Fordismus bezeichnet regulationstheoretisch eine Formation, also eine bestimmte historische Phase im Verlauf kapitalistischer Entwicklung, in denen jeweils stabile Entsprechungen zwischen ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, zwischen der Makroebene der gesellschaftlichen Regulierung und der Mikroebene der Arbeitsorganisation bestehen. Die Auflösung dieser institutionellen Strukturen kann man beobachten, schwieriger ist es Konturen einer neuen Formation, die Herausbildung eines neuen Produktions- und Sozialmodells zu bestimmen, das zwar andere, aber ähnlich stabile Strukturen und Entsprechungen aufweist. Wir haben es deshalb auch vorgezogen, von einer Phase des Übergangs zu sprechen. Dieser Begriff bringt zum Ausdruck, dass wir es mit einem Prozess gesellschaftlicher Entwicklung zu tun haben, der durch erhöhte Instabilität und neuartige Spannungsverhältnisse gekennzeichnet ist, deren Folge die reflexive, auf Dauer gestellte Restrukturierung ist. Übergang meint damit auch das Vorhandensein von mehr oder weniger ausgeprägten Krisenelementen, deren Bearbeitung und Bewältigung auf Elemente einer neuen Formation verweisen. Betrachtet man die Veränderungen von Unternehmensorganisation und Arbeit, so geht es offensichtlich um die Überwindung der in der fordistischen Produktionsökonomie gesetzten Grenzen der Verwertung: Vermarkt­lichung sprengt verkrustete institutionelle Herrschaftsstrukturen in den Unternehmen auf, Arbeitskraft wird aus ihren institutionellen und motivationalen Grenzen gelöst. Die technischen und organisatorischen Grundlagen werden revolutioniert (Stichwort Informatisierung), neue Steuerungsformen von Arbeit nutzen die Selbständigkeit und die subjektiven Potentiale der individuellen Beschäftigten (Stichwort Subjektivierung). Triebkraft dieser Freisetzung und Entfaltung von produktiven Potentialen ist eine radikalisierte Marktökonomie, die im gleichen Prozess diese neu geschaffenen Verwertungsbedingungen immer wieder in Frage stellt. Die Veränderungen haben offensichtlich positive und negative Effekte für die betroffenen Menschen, die sich allerdings nicht so einfach auseinandersortieren lassen. Wir stehen vor dem Problem, dass in der gegenwärtigen Übergangsphase Momente des Progressiven und Momente des Destruktiven so zusammen kommen, dass sie sich wechselseitig auszuschließen scheinen. Dialektisch gefasst folgt daraus die Unhaltbarkeit, also die Unmöglichkeit, dass es sich dabei um bleibende, stabile Zustände handeln könnte. Die Widersprüchlichkeit ist

39 Vgl. dazu zustimmend die Diskussion bei Thomas Haipeter/Erich Latniak/Steffen Lehndorff (Hrsg.), Arbeit und Arbeitsregulierung im Finanzmarktkapitalismus, Wiesbaden 2015. Vgl. auch Wolfgang Krumbein u. a., Finanzmarktkapitalismus? Zur Kritik einer gängigen Kriseninterpretation und Zeitdiagnose, Marburg 2014.

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Dieter Sauer

dann nur ein anderer Ausdruck für die in der Situation liegende Dynamik, die über den gegenwärtigen Zustand hinaustreibt. Instabile Verhältnisse – kein Ende in Sicht: Mit unseren Diagnosen zu einer nachfordistischen Übergangsphase lagen wir – zumindest was die generellen Aussagen zu ihrem Übergangscharakter, ihrer Instabilität, ihrer permanenten Veränderungsdynamik und die mögliche Zuspitzung in Krisen (auch Finanzkrisen) angehen – nicht so falsch. »Zu beobachten ist ein Nebeneinander von verschärfter fordistischer Akkumulationskrise, ökonomischer Stagnation, finanzkapitalistischer Risikomaximierung, sozialer Destabilisierung in Form wachsender sozialer Ungleichheiten zwischen Nationen, zwischen den verschiedenen Segmenten auf den Arbeitsmärkten, in der Lebensqualität u.v.a.m. […] Das mehr oder weniger permanente Risiko eines weltweiten Crash der Finanz- und Kapitalmärkte verweist auf die immanente Grenze dieser Form der finanzgetriebenen Kapitalakkumulation.«40 In solchen und ähnlichen Passagen haben wir in früheren Texten immer wieder auf den krisenhaften Charakter der beobachteten Entwicklungen hingewiesen, insbesondere auch darauf, dass die Ablösung der finanzmarkt­ orientierten Steuerung in Unternehmen von den so genannten realwirtschaftlichen Möglichkeiten nicht gut gehen könne, nicht endlos fortsetzbar sei. Mit solchen Einschätzungen waren wir nicht allein, und dennoch waren wir genauso wie alle anderen von Zeitpunkt und Ausmaß der Krise überrascht. Mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich die Volatilität und Unsicherheit deutlich verstärkt. Zum einen wird immer häufiger der systemische Charakter der Krise hervorgehoben, das heißt ihr Gefährdungspotential hat sich vergrößert, zum andern ihre Mehrdimensionalität, das heißt ökonomische, ökologische, gesellschaftliche und individuelle Krisen verschränken sich. Die Rede ist von einer multiplen Krise, einer Vielfachkrise41. Finanzmarktkapitalismus verweist vor diesem Hintergrund auf eine neue Dimension der Instabilität und Krisenhaftigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung, ist also durchaus ein wesentliches Charakteristikum der gegenwärtigen historischen Phase. Aber er kann gerade deswegen in unserer Perspektive nicht als Signum einer neuen Formation verstanden werden, denn dazu fehlen ihm jegliche Anzeichen von Stabilität. Für den Formationsbegriff entscheidende Kriterien (etwa Resonanzen zwischen der Makro- und Mikroebene, stabile institutionelle Arrangements) sind damit nicht erfüllt, so dass sich keine ausreichende Begründung für eine Überwindung der großen Krise findet, in der die über ein Jahrhundert gereifte »fordistisch-organische Syndromatik«42 aufgebrochen und gesprengt wurde. Die 40 Günter Bechtle/Dieter Sauer, Postfordismus als Inkubationszeit einer neuen Herrschaftsform, in: Klaus Dörre/Bernd Röttger (Hrsg.), Das neue Marktregime. Konturen eines nachfordistischen Produktionsmodells, Hamburg 2003, S. 35–54, hier S. 37. 41 Vgl. dazu Alex Demirović u. a. (Hrsg.), VielfachKrise. Im finanzdominierten Kapitalismus, Hamburg 2011. 42 Günter Bechtle/Burkart Lutz, Die Unbestimmtheit post-tayloristischer Rationalisierungsstrategie und die ungewisse Zukunft industrieller Arbeit. Überlegungen zur Begründung eines Forschungsprogramms, in: Klaus Düll/Burkart Lutz (Hrsg.), Technikentwicklung

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Krise des Finanzmarktkapitalismus verweist eher auf ein Scheitern von Bewältigungsformen der fordistischen Krise. Es stellt sich jedoch die sehr viel prinzipiellere Frage, ob es überhaupt noch Sinn macht, die gegenwärtige Entwicklung in einem solchen Kategorienschema erfassen zu wollen. Vielleicht waren ja auch die abstrakten Konstruktionsprinzipien des Fordismus und vor allem deren Stabilität selbst historisch so spezifisch, dass sie nicht als Kriterien zur Bestimmung einer neuen historischen Phase­ herangezogen werden können. Es könnte auch sein, dass der fordistische Blick bei der Suche nach dem Neuen eher in die Irre führt und die Interpretationsfolie des Fordismus als historischer Referenzpunkt ausgedient hat. So sinnvoll eine Periodisierung kapitalistischer Entwicklungsphasen und so hilfreich auch die Folie des Fordismus für die historische Einschätzung gesellschaftlicher Veränderungen sein mag, sie lenkt den Blick vorrangig auf Transformationen im System. In unserer Perspektive verweist die krisenhafte Zuspitzung einer postfordistischen Übergangsphase auch auf eine mögliche Transformation der kapitalistischen Produktionsweise sui generis hin. Es muss zumindest offen gehalten werden, ob in den zugespitzten krisenhaften Entwicklungen nicht auch die Sprengkraft für weitergehende Veränderungen liegt, die den Systemcharakter des Kapitalismus nicht unberührt lassen. Und es ist deswegen eine ebenso offene Frage, ob der Kapitalismus als historisches System nach dem langen 20. Jahrhundert auch das 21. bestimmen wird. Es ist schwer vorstellbar, dass dies ohne eine grundlegende Transformation möglich sein wird, in der nicht nur Lösungen für seine krisenhafte Instabilität, sondern auch ein anderer Umgang mit den menschlichen und ökologischen Ressourcen gefunden und die extremen Ungleichheiten abgebaut werden. Festzustehen scheint: Die Form der Kapitalakkumulation, die »die materielle Expansion des vergangenen Jahrhunderts angetrieben hat, kann keine Basis für eine neue materielle Expansion im 21. Jahrhundert sein«43. Die Unsicherheit und Überforderung, mit der die Menschen in der gegenwärtigen Arbeitswelt konfrontiert werden, ist nur eines der Indizien für die Maßlosgkeit der gegenwärtigen Ökonomie, in der zugleich ihre Grenzen sichtbar werden.

und Arbeitsteilung im internationalen Vergleich. Fünf Aufsätze zur Zukunft industrieller Arbeit, Frankfurt a. M./New York 1989, S. 9–91, hier S. 9. 43 Beverly J. Silver/Govianni Arrighi, Das Ende des langen 20. Jahrhunderts, in: Demirović u. a. (Hrsg.), VielfachKrise, S. 211–228, hier S. 228.

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Von der »großen Industrie« zum »Informationsraum« Informatisierung und der Umbruch in den Unternehmen in historischer Perspektive

1. Arbeitswelt im Wandel – Umbruch in den Unternehmen Wer sich heute über die Veränderung moderner Arbeit Gedanken macht, kommt an neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (I&K-Technologien) nicht vorbei. Ohne entsprechende Lösungen der Informationtechnologie (IT) sind aktuelle – und prominent diskutierte – Entwicklungen wie Cloud Working und Crowd Sourcing, permanente Erreichbarkeit und die damit verbundene Un-Kultur permanenter Verfügbarkeit in vielen Unternehmen ebenso wenig denkbar wie die Öffnung von Organisationsstrukturen durch den Einsatz von Social Media. Auch die häufig thematisierte Ökonomisierung der Binnenstrukturen und die verstärkte Shareholder Value-Orientierung in der Unternehmenssteuerung basieren wesentlich auf dem Einsatz von computergestützten Systemen des Enterprise-ResourcePlanning. Nicht zuletzt spielen I&K-Technologien bei der Etablierung neuer Produktions- und Geschäftsmodelle sowie neuer Formen der Arbeitsorganisation eine wichtige Rolle und werden damit zum Ausgangspunkt von Veränderungen in der Arbeitswelt. Beispielsweise wird die klassische Fertigung auf der Basis eines »Internets der Dinge« im Zuge der Entwicklung hin zu einer »Industrie 4.0« grundlegend restrukturiert1. Diese Entwicklungen lassen sich als Momente eines grundlegenden Umbruchs in der Arbeitswelt interpretieren, der sich am deutlichsten in den Bereichen der Kopfarbeit2 manifestiert. Sowohl die quantitative und qualitative Bedeutungszunahme als auch einschneidende Veränderungen in der Arbeit insbesondere von hochqualifizierten Beschäftigten – etwa im Rahmen einer neuen Phase der Globalisierung3 oder einer »Industrialisierung neuen Typs«4 – lassen sich wesentlich auf den Einsatz von neuen I&K-Technologien zurückführen. 1 Vgl. z. B. Dieter Spath (Hrsg.), Produktionsarbeit der Zukunft – Industrie 4.0, Stuttgart 2013. 2 Dazu gehören etwa die Verwaltungsarbeit, die technische Organisation, die Überwachung und Planung der Produktion, Forschung und Entwicklung sowie die nicht-stoffliche materielle Produktion (etwa IT-Dienstleistungen und Software-Entwicklung), aber auch leitende Tätigkeiten im Sinne von Führung und Aufsicht, also das Management. 3 Vgl. Andreas Boes/Tobias Kämpf, Global verteilte Kopfarbeit. Offshoring und der Wandel der Arbeitsbeziehungen, Berlin 2011. 4 Andreas Boes u. a., Kopfarbeit in der modernen Arbeitswelt: Auf dem Weg zu einer »Industrialisierung neuen Typs«, in: Managementforschung 24 (2014), S. 33–62.

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Das historische Ausmaß des gegenwärtigen Umbruchs und seine Bedeutung für die Veränderung von Arbeit erschließen sich besonders deutlich in einer theoretisch-konzeptionellen Perspektive, die den technologischen Wandel als Moment der Steigerung geistiger Produktivkraft reflektiert. Einen solchen Zugang bietet die Theorie der Informatisierung5, in der die Entwicklung der I&K-Techno­ logien historisch und logisch eingebettet ist. In ihrem Fokus stehen der soziale Gebrauch von Informationen und die historische Entwicklung komplexer Informationssysteme, die bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Unternehmen aufgebaut wurden und schon lange vor dem Einsatz der ersten Computer die Basis für eine Produktivkraftsteigerung bildeten. Die informatisierungstheoretische Perspektive reflektiert Formen der Produktivkraftsteigerung, die an den geistigen Prozessen der menschlichen Arbeit ansetzen  – und von hier aus den gesamten gesellschaftlichen Produktionsprozess umwälzen. Historisch thematisiert die Informatisierung damit – bereits seit der Frühphase des Industriekapitalismus  – so etwas wie die weitgehend unbeachtete, komplementäre »Unterseite« der Industrialisierung. Mit der Herausbildung eines weltweit verfüg­ baren »Informationsraums«6 auf der Basis des Internets kann diese »Unterseite« heute als die entscheidende Dimension der Produktivkraftentwicklung betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund vertreten wir hier die These, dass sich mit einer neuen Qualität der Informatisierung ein Produktivkraftsprung vollzogen hat, der – als Basis eines neuen, informatisierten Produktionsmodus7 – die moderne Arbeitswelt grundlegend verändert. Dies wollen wir am Beispiel des gegenwärtigen Umbruchs in den Unternehmen veranschaulichen. In einer vergleichsweise kurzen historischen Entwicklungsperiode zwischen Mitte der 1970er und Mitte der 1990er Jahre ist es den Unternehmen gelungen, sich gewissermaßen neu zu 5 Vgl. Andrea Baukrowitz/Andreas Boes, Arbeit in der »Informationsgesellschaft«. Einige grundsätzliche Überlegungen aus einer (fast schon) ungewohnten Perspektive, in: Rudi Schmiede (Hrsg.), Virtuelle Arbeitswelten. Arbeit, Produktion und Subjekt in der »Informationsgesellschaft«, Berlin 1996, S. 129–158; Rudi Schmiede, Information und kapitalistische Produktionsweise. Entstehung der Informationstechnik und Wandel der gesellschaftlichen Arbeit, in: Thomas Malsch/Ulrich Mill (Hrsg.), ArBYTE – Modernisierung der Industriesoziologie?, Berlin 1992; Rudi Schmiede, Informatisierung und gesellschaftliche Arbeit, in: Schmiede (Hrsg.), Virtuelle Arbeitswelten, S. 107–128; Andrea Baukrowitz/Andreas Boes/ Rudi Schmiede, Die Entwicklung der Arbeit aus der Perspektive ihrer Informatisierung, in: Ingo Matuschek/Annette Henninger/Frank Kleemann (Hrsg.), Neue Medien im Arbeitsalltag. Empirische Befunde, Gestaltungskonzepte, theoretische Perspektiven, Wiesbaden 2001, S. 217–235; Andreas Boes, Informatisierung, in: Holger Alda u. a., Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland. Arbeit und Lebensweisen. Erster Bericht, Wiesbaden 2005, S. 211–244. 6 Baukrowitz/Boes, Arbeit in der »Informationsgesellschaft«. 7 Vgl. Andreas Boes/Tobias Kämpf, Informatisierung als Produktivkraft: Der informatisierte Produktionsmodus als Basis einer neuen Phase des Kapitalismus, in: Klaus Dörre/Dieter Sauer/Volker Wittke (Hrsg.), Kapitalismustheorie und Arbeit. Neue Ansätze soziologischer Kritik, Frankfurt a. M. 2012, S. 316–335.

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erfinden und die konzeptionellen Eckpunkte eines neuen Unternehmenstyps auf der neuen Produktivkraftgrundlage zu etablieren. Seitdem entwickeln sich die Unternehmen nach einem neuen Konzept8 – aus einer inkrementellen Veränderung ist ein grundlegender Umbruch geworden, der sich als Moment eines historischen Strukturbruchs verstehen lässt9. Im Folgenden geben wir zunächst eine kurze Einführung in unseren informatisierungstheoretischen Ansatz und entwickeln die These vom Informationsraum als Basis eines Produktivkraftsprungs. Anschließend beleuchten wir den Umbruch in den Unternehmen aus historischer und informatisierungstheoretischer Perspektive sowie anhand eines konkreten Fallbeispiels und skizzieren die daraus resultierenden Konturen des informatisierten Produktionsmodus als einer neuen Phase kapitalistischer Entwicklung.

2. Produktivkraftsprung auf der Basis des Informationsraums Die Analyse der Informatisierung wurde in der kritischen Sozialwissenschaft lange vernachlässigt10. Hintergrund hierfür ist nicht nur ein einseitiger Blickwinkel, der lediglich die maschinell-mechanische Seite des Produktionsprozesses in den Blick nimmt, sondern oft auch eine vereinfachende Gleichsetzung von Informatisierung mit Informations- und Kommunikationstechnologien. Demgegenüber wollen wir aus einer grundlegenden gesellschaftstheoretischen Perspektive die Informatisierung als zentrales Moment der gesellschaftlichen Produktivkraftentwicklung reflektieren. Wir verstehen Informatisierung als einen historisch lang andauernden sozialen Prozess des Sammelns von Informationen und ihrer Verwaltung in Informationssystemen. Im Zuge dieses Prozesses werden geistige Tätigkeiten von ihren Urhebern geschieden, um sie anderen zugänglich zu machen. Dazu musste der Informationsgebrauch gleichsam materialisiert beziehungsweise individuell gebundenes Wissen in eine gegenständliche Form gebracht und in überindividuell nutzbare Informationen und Informations­ systeme überführt werden. Die fortwährende Erzeugung, Reproduktion und

8 Vgl. dazu auch Anja Bultemeier/Andreas Boes, Neue Spielregeln in modernen Unternehmen  – Chancen und Risiken für Frauen, in:  Andreas Boes/Anja Bultemeier/Rainer Trinczek (Hrsg.), Karrierechancen von Frauen erfolgreich gestalten. Analysen, Strategien und Good Practices aus modernen Unternehmen, Wiesbaden 2013, S. 95–165. 9 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, S. 12–16. 10 Ausnahmen sind – über bereits zitierte Studien hinaus – etwa Harry Braverman, Die Arbeit im modernen Produktionsprozeß, Frankfurt a. M./New York 1977; Lothar Hack/Irmgard Hack, Die Wirklichkeit, die Wissen schafft. Zum wechselseitigen Begründungsverhältnis von »Verwissenschaftlichung der Industrie« und »Industrialisierung der Wissenschaft«, Frankfurt a. M./New York 1985; Wolfgang Fritz Haug, High-Tech-Kapitalismus. Analysen zur Produktionsweise, Arbeit, Sexualität, Krieg und Hegemonie, Hamburg 2003.

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Weiterentwicklung dieser Informationen und vor allem der Informationssysteme lässt sich kurz als ein Prozess der Informatisierung bezeichnen11. Mit der Informatisierung entstand so eine eigenständige Informationsebene als Vermittlungsinstanz, über die menschliches Handeln Wirkung in der Welt entfaltet, und – auf der Basis entsprechender Medien – eine Struktur von Arbeitsgegenständen und -mitteln, die es ermöglicht, aus geistigen Tätigkeiten, die stets einem bestimmten Individuum zuzurechnen sind, arbeitsteilige überindividuelle Prozesse zu machen. Auf diese Weise können die Erfahrungen der Menschen – zunehmend vermittelt über immer komplexere Systeme von Informationen – in die Konstruktion von Maschinen und die Organisation von Arbeitsprozessen einfließen. Historisch ist die Informatisierung damit die Voraussetzung dafür, dass Kopfarbeit als eine eigenständige Form menschlicher Arbeit weitgehend unabhängig von der Handarbeit existieren und rational betrieben werden kann. Denn erst auf der Grundlage der Materialisierung des Informationsgebrauchs wurde es möglich, die – überwiegend aus geistigen Tätigkeiten auf der Informationsebene bestehende – Kopfarbeit von der – vorwiegend mit der materiell-stofflichen Seite des Arbeitsprozesses befassten – Handarbeit zu trennen. Dieser Prozess der Scheidung geistiger von materiell-stofflichen Formen menschlicher Arbeit gewann im Zuge der Industrialisierung eine enorme Dynamik. Der Produktionsprozess bildete zwei unterschiedliche Handlungs­ebenen mit je eigenen Beschäftigtengruppen aus – die Scheidelinie zwischen Arbeitern und Angestellten entstand. Die Maschinensysteme der »großen Industrie« brachten eine Standardisierung der Produktion mit sich und schufen so die Voraussetzung und die Notwendigkeit für einen Rationalisierungsschub auf der Basis »objektiver« Informationen12. In der Folge kam es zu einem enormen Wachstum jener Beschäftigtengruppen, die als Kopfarbeiter vorwiegend mit der Beschaffung, der Verarbeitung sowie der Anwendung von Informationen befasst sind und so die Rationalisierung der Handarbeit mittelbar oder unmittelbar zu ihrem Gegenstand haben. Ingenieure, kaufmännische Angestellte und Bürofachkräfte wur11 Vgl. dazu ausführlich Baukrowitz/Boes/Schmiede, Entwicklung der Arbeit, sowie Boes, Informatisierung. 12 Ist die Einheit von Hand- und Kopfarbeit im Werkzeug und dessen Gebrauch noch in der individuellen Tätigkeit unmittelbar nachvollziehbar, so erfährt das Verhältnis von Hand- und Kopfarbeit in der Maschine eine systematische Trennung. Die Maschine, das ist eine der zentralen Überlegungen der Maschinentheorie von Marx, beinhaltet immer eine »Theorie« und einen vorweggenommenen Plan des konkreten Produktionsprozesses. Vgl. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, in: Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, Berlin 1962, hier S. 391 ff. Was von der Seite der ausführenden Arbeit als ein festgefügter, in Metall gegossener Algorithmus erscheint, ist nach der Seite der Kopfarbeit hin das Ergebnis eines komplexen Arbeitsprozesses mit vorwiegend geistigen Tätigkeiten. Die Hervorbringung des Algorithmus, welcher der Maschine zugrunde liegt, wird so ihrerseits in dem Maße zu einer selbstständigen Arbeitsform, wie sie über Mittel verfügt, arbeitsteilig zu agieren und der Flüchtigkeit geistiger Prozesse materielle Form zu verleihen. Genau diese Funktion der Materialisierung geistiger Tätig­ keiten wird über Informationen und komplexe Informationssysteme erbracht.

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den zu zahlenmäßig bedeutsamen Beschäftigtengruppen13 – ihre Arbeit machte die Rationalisierungsschübe im Bereich der Handarbeit überhaupt erst möglich14. Insofern kann der Prozess der Informatisierung als die »Unterseite« der Steigerung der Produktivkräfte und als verdecktes Fundament der Industrialisierung begriffen werden15. Die Entwicklung von Arbeit und Gesellschaft ist ohne Informatisierung kaum denkbar. Sie ist ein fundamentales Moment der Produktivkraftentwicklung16. Während eine Analyse des Maschinensystems die materiell-stoffliche Seite des »Stoffwechsels mit der Natur« adressiert, stellt der Begriff der Informatisierung die komplementäre Seite menschlicher Arbeit, nämlich die geistige Tätigkeit ins Zentrum. Aus dieser Perspektive erscheint die »große Industrie« bei Marx gewissermaßen nur als Ergebnis einer »halbierten« Industrialisierung, einer Industrialisierung der Handarbeit. Sie brachte als Komplementärbewegung jedoch eine Ausweitung der Kopfarbeit mit sich, die auf dem gegebenen Produktivkraftniveau für eine lange historische Phase selbst nicht Gegenstand von Industrialisierungsprozessen war. Auf Basis einer neuen Qualität der Informatisierung hat sich jedoch ein fundamentaler Wandel der Kopfarbeit und ihrer Einbindung beziehungsweise Stellung im Produktionsprozess vollzogen. Vor allem der Aufstieg des Internet seit den 1990er Jahren zu einem weltweit zugänglichen, offenen Netzwerk markiert hier einen entscheidenden Schritt im Prozess der Informatisierung17. So zeichnet sich gegenwärtig ein Produktivkraftsprung ab, der wesentlich durch das Entstehen eines globalen »Informationsraums«18 gekennzeichnet ist und die Entwicklung von Arbeit auf eine neue 13 Vgl. Hans Paul Bahrdt, Industriebürokratie. Versuch einer Soziologie des industrialisierten Bürobetriebs und seiner  Angestellten, Stuttgart 1958; Jürgen Kocka (Hrsg.), Angestellte im europäischen Vergleich, Göttingen 1981. 14 Vgl. Braverman, Arbeit im modernen Produktionsprozeß. 15 Vgl. Boes/Kämpf, Informatisierung als Produktivkraft. Die Geschichte der Industrialisierung brachte eine Reihe von Versuchen hervor, diese »Unterseite« konzeptionell fassbar zu machen: Vgl. z. B. Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, München 1928, oder Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1976, hier S. 122–176. Die Konzepte »Vergeistung« und »Bürokratisierung« sind Ausdruck eines theoriegeleiteten Bestrebens, diese Entwicklung zu erfassen und damit die zunehmende Verbreitung von Kopfarbeit zu verstehen. Gemein ist allen diesen Ansätzen, dass sie dem jeweiligen Stand der Produktivkraftentwicklung folgend die besondere Bedeutung der geistigen Momente des Arbeitsprozess als Kom­ plement der Industrialisierung thematisieren. 16 Im Anschluss an Marx, der mit Blick auf die Besonderheiten der menschlichen Arbeit argumentiert, dass den »Baumeister« von der »Biene« der Plan im Kopf unterscheidet, wird die Informatisierung geradezu zu einer anthropologischen Grundkonstante. Vgl. Marx, Kapital, Bd. 1, S. 193; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 192. 17 Vgl. Boes, Informatisierung, und Rainer Rilling, Eine Bemerkung zur Rolle des Internets im Kapitalismus, in: Hans-Jürgen Bieling u. a. (Hrsg.), Flexibler Kapitalismus. Festschrift für Frank Deppe, Hamburg 2001, S. 84–92. 18 Baukrowitz/Boes, Arbeit in der »Informationsgesellschaft«.

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Grundlage stellt. Zugespitzt formuliert gilt: Was die Maschinensysteme in der Fabrik für die Entwicklung des Kapitalismus im 20. Jahrhundert waren, ist der »Informationsraum« für die Zukunft von Arbeit im 21. Jahrhundert. Aus der Perspektive der Informatisierung ist dabei entscheidend, dass mit dem Aufstieg des Internet nicht einfach eine gigantische digitale Bibliothek oder ein bloßer »Daten-Highway« entstanden ist, sondern ein neuer »sozialer Handlungsraum«19. Menschen können hier nicht nur Informationen bearbeiten und austauschen, sondern miteinander interagieren. Noch Anfang der 1990er Jahre ging es bei der Arbeit mit dem Computer (etwa Textverarbeitung) vor allem um eine Interaktion zwischen Mensch und Maschine, heute dagegen öffnet sich der Raum für eine neue Form der Interaktion zwischen Menschen. Anders als in vorherigen Entwicklungsphasen, bei denen sich menschliche Arbeit stets in monologisch programmierten Strukturen bewegte, ist die Wirklichkeit dieses sozialen Raums nicht vorprogrammiert, sondern er verändert seine Struktur und die in ihr bestehenden Handlungsmöglichkeiten durch das praktische Tun der Nutzer. Er ist also nicht einfach nur »Technik« oder ein Medium zum Transport digitaler Informationen, sondern eine lebendige globale Informations- und Kommunikationsumgebung, deren Zwecke und Verwendungsmöglichkeiten sich durch aktive Nutzung beständig verändern und erweitern. Weil so geistige Tätigkeiten in neuer Qualität aneinander anschlussfähig werden, entsteht hier ein ganz neues Potenzial der Nutzung geistiger Produktivkraft. Dieses neue Potenzial wird deutlich, wenn man die Veränderungen in der Arbeitswelt betrachtet. Der »Informationsraum« wird hier zur zentralen Basisinfrastruktur und zur dominanten Bezugsebene von Arbeit. Für einen immer größer werdenden Anteil von Beschäftigten werden digitalisierte Informationen und Informationssysteme zum zentralen Arbeitsgegenstand und Arbeitsmittel. Die Arbeit findet dann sozusagen »im Netz« statt. Informationssysteme sind nicht mehr nur zentrale Basis der Steuerung und Planung von Produktionsprozessen, der »Informationsraum« wird immer mehr auch zur zentralen Handlungs- und Eingriffsebene von Arbeit selbst – er wird zu einem neuen »Raum der Produktion«20. Damit entsteht eine neue Grundlage, geistige Tätigkeiten arbeitsteilig zu organisieren und neue Formen der Kommunikation und des Austauschs von Wissen in den Arbeitsprozess zu integrieren. Gerade weil der »Informationsraum« ein »sozialer Handlungsraum« ist, können insbesondere die notwendige Kooperation und der Fluss von Know-how selbst über den »Informationsraum« erfolgen. Aus der Perspektive der Informatisierung – Materialisierung des Informationsgebrauchs, um geistige Tätigkeiten anderen zugänglich zu machen – bedeu19 Andreas Boes, Formierung und Emanzipation. Zur Dialektik der Arbeit in der »Informationsgesellschaft«, in: Schmiede (Hrsg.), Virtuelle Arbeitswelten, S. 159–178. 20 Andreas Boes, Offshoring in der IT-Industrie. Strategien der Internationalisierung und Auslagerung im Bereich Software und IT-Dienstleistungen, in: ders./Michael Schwemmle (Hrsg.), Herausforderung Offshoring. Internationalisierung und Auslagerung von ITDienstleistungen, Düsseldorf 2004, S. 9–140, sowie Boes, Informatisierung.

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tet dies, dass im »Informationsraum« geistige Tätigkeiten von Beschäftigten aneinander anschlussfähig gemacht und zu einem gemeinsamen Arbeitsprozess zusammengeführt werden können. Grundlegende Umbrüche in Unternehmen und Arbeitswelt sind die Folge.

3. Informatisierung und der Umbruch in den Unternehmen in historischer Perspektive Die neue Qualität der Informatisierung hat in den Unternehmen zu tiefgreifenden Veränderungen geführt. Das neue Paradigma des »Informationsraums« setzt die historisch gewachsenen Strukturen und Organisationsmuster unter­ hohen Veränderungsdruck. Dieser Prozess vollzieht sich in den Unternehmen aktuell nicht mehr in kleinen Schritten und schleichend, sondern als grund­ legender Umbruch und als Veränderung der Grundfesten moderner Unternehmen. Um diesen in seiner historischen Tragweite verstehen zu können, muss er im Kontext der Entwicklungsgeschichte der Informatisierung in den Unternehmen rekonstruiert werden. Mit der Industrialisierung im 19.  Jahrhundert begann sich  – in Deutschland etwa zwischen 1830 und 187021 – ein neuartiger Unternehmenstyp heraus­ zubilden, der in seinen Grundlagen auf dem Paradigma der großen Industrie aufbaute. Wir nennen diesen Unternehmenstyp Unternehmen 1.n. Er durchlief in gut 150 Jahren mehrere Entwicklungsphasen und brachte mehrere Varianten mit je spezifischem Gepräge hervor. In der ersten Entwicklungsphase, die in unserer Nomenklatur als Unternehmen 1.1 zu bezeichnen wäre, entwickelten sich die Grundlagen des neuen Unternehmenstyps, der sich durch die industrielle Produktionsweise auszeichnete. Diese basierte wesentlich auf komplexen Maschinensystemen und unterminierte die aus der Manufakturphase übernommenen Produktionsstrukturen und deren Organisationsformen22. Diese Variante des neuen Unternehmenstypus stützte sich nur am Rande auf die Informatisierung, schuf aber entscheidende Voraussetzungen für deren weitere Verbreitung. So spielte das basale Informationssystem des kapitalistischen Unternehmens, die doppelte Buchführung, die sich bereits zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert in den oberitalienischen Stadtstaaten herausgebildet hatte, in dieser ersten Phase der Herausbildung des Industrieunternehmens keine tragende Rolle23. Zugleich legte aber die Maschinisierung und die mit ihr verbundene Standardisierung 21 Vgl. z. B. Jürgen Kocka, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1874–1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung, Stuttgart 1969; zum im Folgenden beschriebenen Übergang von der Manufakturphase zu den industriellen Produktionsstrukturen vgl. sehr anschaulich ebenda, passim. 22 Vgl. Marx, Kapital, Bd. 1, S. 391 ff.; vgl. auch Boes/Kämpf, Informatisierung als Produktivkraft. 23 Vgl. Sombart, Der moderne Kapitalismus.

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der Arbeitsprozesse in einem doppelten Sinne das Fundament für die durchgreifende Informatisierung der Arbeitsprozesse in der Werkstatt, die später im Übergang zum »organisierten Kapitalismus« konkrete Formen annahm. Einerseits verwandelte der Einsatz der Maschinerie, indem er die in ihrem Kern nicht formalisierbare handwerkliche Arbeit aufhob, die Arbeitsprozesse in formal rechenbare Einheiten und machte sie so einer Verwissenschaftlichung erst zugänglich. Andererseits entstand durch den Prozess der Standardisierung der Arbeitsprozesse mit Hilfe der Maschinensysteme die Voraussetzung für das Auftreten einer neuen Form von Arbeitskraft. Gemeint sind die technisch qualifizierten Arbeitskräfte (Techniker und Ingenieure), deren Aufgabe darin besteht, die Komplexität der Arbeit wissenschaftlich zu durchdringen und in Form formaler Informationen abzubilden24. Basierend auf dem Bauplan der großen Industrie, entwickelte sich nach der Gründerkrise im Ausgang des 19. Jahrhunderts und im Kontext der Durchsetzung des organisierten Kapitalismus mit dem rational-bürokratischen Groß­ unter­nehmen eine neue Variante des Unternehmens 1.n (im Folgenden als Unternehmen 1.2 bezeichnet). Hier erhielt die Informatisierung erstmals unmittelbare Bedeutung für die Produktionsweise und das Funktionieren des industriellen Unternehmens. Einerseits wurde mittels bürokratischer Methoden auf die »Verschriftlichung« der Kommunikation gedrungen, was einen Bedeutungsgewinn eigenständiger Schreibarbeit mit entsprechenden Abteilungen und eine »Bürokratisierung« der betrieblichen Kommunikationsprozesse implizierte25. Andererseits führte der organisierte Umgang mit Informationen in den Unternehmen zu zunehmend komplexeren Informationssystemen26. Diese basierten auf hoch formalisierten Informationen, die in Formularen erfasst und weiterverarbeitet wurden. So entstand aufbauend auf der doppelten Buchführung ein »papierner Apparat«27, über den sich zunehmend komplexere Informationen zur Steuerung und Kontrolle der Unternehmen sammeln ließen. Zentral für das Unternehmen 1.2 war es, seine informatorische Grundlage – die Buchhaltung und ausdifferenzierte kaufmännische Verwaltung – durch unmittelbaren Zugriff auf den Produktionsprozess in der Werkstatt weiterzuentwickeln. Ansatzpunkte dafür bildeten das Material- und Bestellwesen sowie die Lohnbuchhaltung28. Hier konnten Informationssysteme entwickelt werden, die 24 Vgl. Marx, Kapital, Bd. 1, S. 391 ff. 25 Vgl. Kocka, Unternehmensverwaltung; Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 122 ff. 26 Vgl. Braverman, Arbeit im modernen Produktionsprozeß; James Beninger, The Control Revolution: Technological and Economic Origins of the Information Society, Cambridge/ Mass. 1986. 27 Otto Jeidels, Die Methoden der Arbeiterentlohnung in der rheinisch-westfälischen Eisenindustrie, Berlin 1907. 28 Vgl. Kocka, Unternehmensverwaltung, sowie Rudi Schmiede/Edwin Schudlich, Die Entwicklung der Leistungsentlohnung in Deutschland. Eine historisch-theoretische Unter­ suchung zum Verhältnis von Lohn und Leistung unter kapitalistischen Produktions­ bedingungen, Frankfurt a. M./New York 1978.

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eine differenzierte Kostenfeststellung überhaupt erst ermöglichten und über die Differenzierung der Betriebsvorgänge bis hin zu einzelnen Teilaufgaben prinzipiell eine ausdifferenzierte Sicht auf die Vorgänge in der Produktion erlaubten. Damit war nach der Standardisierung der Arbeitsprozesse in der vorherigen Phase der Entwicklung eine weitere Voraussetzung für eine rechnerische Durchdringung der Werkstatt geschaffen, und es entstand so etwas wie eine Nach­ bildung der Produktionsprozesse auf dem Papier, die der Industrialisierung im Verbund mit Taylors Methoden der »wissenschaftlichen Betriebsführung« einen enormen Schub verlieh29. Es wurden Berechnungen angestellt, die einen systematischen Einblick in die Effizienz der Arbeitsprozesse erlaubten, und durch die Verschriftlichung erfuhren die einzelnen Tatbestände der realen Produktionsprozesse erstmals eine selbstständige informatorische Widerspiegelung außerhalb konkret-menschlicher Denkvorgänge. Gleichzeitig entstand so ein weiterer neuer Typus von Arbeitskraft, der vornehmlich mit der Beschaffung und Verarbeitung dieser Informationen zum Zweck der Dokumentation, Verwaltung, Leitung oder Organisation der Produktionsprozesse beschäftigt war und nicht mehr mit der unmittelbaren Herstellung von Produkten30. Der neue Informatisierungsmodus31 war von dem Bestreben geprägt, die betrieblichen Prozesse möglichst genau in Form von objektiven Informationen abzubilden, diese dann durch wissenschaftliche Verfahren zu veredeln und für eine rationale Kontrolle der Produktion zu verwenden32. Auf dieser Grundlage schufen die Unternehmen seit Beginn des 20.  Jahrhunderts eine »strukturelle Verdoppelung«33 der materiellen Wirklichkeit der Produktionsprozesse, wobei die Welt der Informationen neben der materiell-stofflichen Welt eine eigenständige Form angenommen hatte. Ein Meilenstein der Informatisierung war erreicht, als Alfred Sloan Anfang der 1920er Jahre von sich behaupten konnte, er leite General Motors ohne unmittelbare Kenntnis der konkreten Produktionsvorgänge und rein »nach den Zahlen«34. Das Informationssystem war zum bestimmenden Instrument der Realitätskonstruktion für das Management und zum dominanten Bezugssystem der Steuerung und Kontrolle der immer komplexeren Maschinensysteme und Produktionsprozesse geworden. 29 Vgl. Braverman, Arbeit im modernen Produktionsprozeß. 30 Vgl. hierzu und zum Folgenden Baukrowitz/Boes, Arbeit in der »Informationsgesellschaft«. 31 Der Informatisierungsmodus bezeichnet eine konkrete historische Form jenes sozialen Prozesses, der darauf zielt, Informationen vom konkreten Subjekt unabhängig nutzen zu können; vgl. Boes, Informatisierung, S. 214 f. 32 Vgl. Andreas Boes/Anja Bultemeier, Informatisierung, Unsicherheit, Kontrolle, in:  Kai Dröge/Kira Marrs/Wolfgang Menz (Hrsg.), Die Rückkehr der Leistungsfrage. Leistung in Arbeit, Unternehmen und Gesellschaft, Berlin 2008, S. 59–91. 33 Schmiede, Informatisierung und gesellschaftliche Arbeit. 34 Vgl. James P. Womack/Daniel T. Jones/Daniel Roos, Die zweite Revolution in der Autoindustrie. Konsequenzen aus der weltweiten Studie aus dem Massachusetts Institute of Technology, Frankfurt a. M./New York 1991, S. 44 ff.

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Als schließlich der Schwarze Freitag 1929 eine lang andauernde Krisenperiode einleitete, entwickelte sich das auf Massenproduktion und Massenkonsum beruhende fordistisch-tayloristische Großuntenehmen als neues Leitkonzept und dritte Variante des Unternehmens 1.n (im Folgenden: Unternehmen 1.3). Diese war als industrielles Großunternehmen auf Massenproduktion ausgerichtet und wies eine entsprechende funktionale Organisationsgliederung auf. Die großen funktionalen Säulen Entwicklung, Produktion und Vertrieb zeichneten sich durch eine hohe Eigenständigkeit aus und standen weitgehend unverbunden nebeneinander. Aus der strikten Trennung von Planung und Ausführung35 resultierte ein enormes zahlenmäßiges Wachstum von planenden und leitenden Tätigkeiten im Allgemeinen und von Managementfunktionen im Besonderen. Die intendierten Produktivitätsfortschritte auf Seiten der Handarbeit in der Massenfertigung bewirkten also als unintendierte Nebenfolge ein schnelles Wachstum von Kopfarbeit. Dieses Unternehmen 1.3 übernahm zunächst den oben skizzierten Informatisierungsmodus, vollendete ihn mit der Übertragung des wachsenden »papiernen Apparats« auf die Computertechnologie in den 1950er Jahren in gewisser Weise sogar, schuf jedoch zugleich die Grundlage für seine Überwindung. In der Anfangsphase der neuen Leittechnologie stand der Computereinsatz ganz in der Kontinuität der hoch formalisierten Informationssysteme des Fordismus und diente vor allem zur schnelleren Bearbeitung standardisierter Massendaten. Für den Charakter der Informationssysteme selbst und für deren Stellenwert im Unternehmen bedeutete diese Übertragung auf den Computer zunächst keine prägende Veränderung. Erst im Verlauf der 1970er Jahre  – mit dem allmählichen Siegeszug des Personal Computer (PC)  – erhielt die Nutzung der Computertechnologie eine spürbar andere Bedeutung in den Unternehmen. Nicht mehr nur ausgewählte Teilaspekte der Informationsverarbeitung konnten seitdem mit Computersystemen bearbeitet werden, sondern ganze Informations­ systeme wurden nun auf Computer übertragen und durchgängig über dieses Medium bewältigt36. Damit trat der Computer erstmals ins Zentrum der Unternehmen. Statt Arbeitsmittel einer weitgehend organisatorisch getrennten Gruppe von Spezialisten im Rechenzentrum zu sein, wurde er nun insbesondere in den informationsintensiven Branchen (Banken, Versicherungen et cetera) zum wesentlichen »Werkzeug« im normalen Arbeitsprozess37; fachliche Aufgaben im Büro wurden zunehmend über den PC bewältigt, und auch die Fertigungsarbeit erhielt mit der numerischen Programmsteuerung eine neue Bezugsebene38. Dazu trug bei, dass die computergestützte Informationsverarbeitung in Bereiche eindrang, die zunächst als nicht35 Vgl. Braverman, Arbeit im modernen Produktionsprozeß. 36 Vgl. Baukrowitz/Boes, Arbeit in der »Informationsgesellschaft«. 37 Vgl. Martin Baethge/Herbert Oberbeck, Zukunft der Angestellten. Neue Technologien und berufliche Perspektiven in Büro und Verwaltung, Frankfurt a. M./New York 1986. 38 Vgl. z. B. Hartmut Hirsch-Kreinsen, NC -Entwicklung als gesellschaftlicher Prozeß. Ameri­ kanische und deutsche Innovationsmuster der Fertigungstechnik, Frankfurt a. M./New York 1993.

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computerisierbar gegolten hatten – etwa in das weite Feld der Textverarbeitung sowie in bestimmte Bereiche hochqualifizierter Angestellten­tätigkeit, wie die von Ingenieuren in der Konstruktion und der Fertigungsplanung. Mit der zunehmenden Diffusion des PC und seiner Einbindung in ein neuartiges Netzkonzept (Client-Server-Computing) deutete sich bereits an, dass der bisherige Modus der Informatisierung unter Druck geraten war. Auf der Basis der Informationssysteme entwickelte sich mit der »systemischen Rationalisierung«39 ein neues Konzept der Rationalisierung der Unternehmen insgesamt. Zum einen standen nun, anders als im Taylorismus, nicht mehr einzelne Segmente des Produktionsprozesses im Fokus der Rationalisierungskonzepte, sondern der Prozess als solcher wurde zum Gegenstand von permanenter Veränderung, Restrukturierung und Neuzusammensetzung von Teilprozessen. Zum anderen versuchte man nun nicht mehr wie im Fordismus, die konkreten Produktionsabläufe gegenüber den Unwägbarkeiten des Markts abzuschotten – im Gegenteil wurde dieser nun zum Motor der permanenten Reorganisation der Binnenstrukturen des Unternehmens. Diesem neuen Reorganisationsmodus40 der Unternehmen liegt wesentlich ein im Entstehen begriffener neuer Informatisierungsmodus zugrunde. Denn das Rückgrat der ausdifferenzierten und veränderungsflexiblen Organisationsstrukturen bilden integrierte Informationssysteme, die den gesamten Leistungserstellungsprozess strukturell widerspiegeln. Damit gerieten die bisherigen Informationssysteme des Fordismus unter Druck, weil sie nicht mehr zum neuen Informatisierungsmodus passten41. Dieser gewann in dem Maße an Bedeutung, wie die Flexibilität systemischer Produktionsstrukturen über die Veränderbarkeit der Informationssysteme realisiert werden sollte. Damit entwickelte sich eine Nachfrage nach Informationstechnologien, die gleichermaßen für die Bearbeitung hochformalisierter (Buch­haltungsprogramme) wie für den Umgang mit schwach formalisierten Informationen (Textverarbeitung, Entscheidungsunterstützung, Wissensmanagement) brauchbar waren. Diese Entwicklung bildete schließlich die produktivkrafttheoretische Basis für den Niedergang des Unternehmens 1.n in seiner fordistisch-tayloristischen Entwicklungsvariante und begründete die Suche nach einem neuen Leitkonzept. Der Kriseneinbruch 1973/74 markierte den Anfang vom Ende der fordistischen Phase und des bis dahin bestimmenden Unternehmenstyps, der vor über hundert Jahren entstanden war. Die großen Trusts fordistisch-tayloristischer Prägung erschienen zunehmend als überlebensunfähige Dinosaurier. Die Krise des Unternehmens 1.n mündete in den folgenden 20 Jahren in diverse Suchpro39 Norbert Altmann u. a., Ein »Neuer Rationalisierungstyp«. Neue Anforderungen an die Industriesoziologie, in: Soziale Welt 37 (1986), S. 191–206, hier S. 191. 40 Vgl. Dieter Sauer/Andreas Boes/Nick Kratzer, Reorganisation des Unternehmens, in: Berichterstattung zur sozioökonomischen Entwicklung in Deutschland, erster Bericht, S. 323–350. 41 Vgl. Andrea Baukrowitz, Neue Produktionsmethoden mit alten EDV-Konzepten? Zu den Eigenschaften moderner Informations- und Kommunikationssysteme jenseits des Automatisierungsparadigmas, in: Schmiede (Hrsg.), Virtuelle Arbeitswelten, S. 49–77.

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zesse nach neuen Konzepten. Diese gewannen zunehmende Kohärenz und stabilisierten sich in einem neuen Grundtyp des Unternehmens, der sich seit der Mitte der 1990er Jahre in seinen konzeptionellen Prinzipien erkennen lässt. Diesen neuen Unternehmenstyp nennen wir das Unternehmen 2.n42. Mit den »neuen Managementkonzepten«43 wurden in den 1990er Jahren zunächst die Eckpunkte des neuen Unternehmenstyps realisiert. Diese Entwicklung basiert bereits wesentlich auf der Durchsetzung der Informations- und Kommunikationstechnologien als neuer Leittechnologie, die ihrerseits mit dem Internet eine neue Bedeutung für die gesamte Gesellschaft und speziell für die Ökonomie gewonnen hatten. Für die folgende Entwicklungsphase übernahmen nun IT-Unternehmen anstelle der traditionellen Industrieunternehmen die Innovationsführerschaft. Sie fungierten gleichermaßen als enabler und forerunner der neuen Unternehmenskonzepte: Indem sie den grundlegenden Umbau der Unternehmen vorexerzierten, lieferten sie ihren Kunden den praktischen Beweis für das Potenzial der neuen Unternehmenskonzepte. Der Börsencrash des Jahres 2000 und der Niedergang der New Economy trennten dann gewissermaßen die Spreu vom Weizen. War in den 1990er Jahren noch eine große Vielfalt zu beobachten, so trat nun ein deutlicher Vereinheitlichungsprozess zutage. Die konzeptionellen Eckpunkte des neuen Unternehmenstyps wurden erkennbar und für viele Unternehmen strategieprägend. Anders als das Unternehmen 1.n, das in seinen Rationalisierungsbestrebungen an der Handarbeit ansetzte, orientiert sich das Unternehmen 2.n primär auf die Steigerung der geistigen Produktivkräfte, also an der Kopfarbeit. Die Geschäftsmodelle und die Prinzipien der Produktivitätssteigerung dieses neuen Unternehmenstyps basieren dabei auf einem neuen Informatisierungsmodus. Der bisherige war bereits durch das Konzept der »systemischen Rationalisierung« unter Druck geraten und wandelte sich auf der Basis des Internet weitreichend. Mit dem Internet entstand ein weltumspannendes Bezugssystem, das die Kommunikationsmöglichkeiten und den Austausch von Informationen grundlegend verändert hat. Bis dahin bestanden Informationssysteme aus unzäh­ligen kleinen »Inseln«, welche in den abgegrenzten Sphären von Unternehmen oder 42 Vgl. Bultemeier/Boes, Neue Spielregeln. Wir gehen davon aus, dass auch dieser neue Grundtyp eines Unternehmens über einen längeren historischen Zeitraum trendbestimmend sein wird und im Laufe seiner Entwicklung, ebenso wie das Unternehmen 1.n, das zumindest drei große Entwicklungsstadien durchlaufen hat, mehrere Varianten hervorbringen wird. Insofern deutet die aus der Software-Entwicklung entlehnte Bezeichnungsweise an, dass weitere Entwicklungen zu erwarten sind, die aber Varianten des gleichen Grundtyps darstellen werden. Das .n steht, wie in der Mathematik üblich, für eine beliebige natürliche Zahl, weil wir die Anzahl der Varianten jetzt noch nicht absehen können. Obwohl die Termini auf den ersten Blick ähnlich klingen, folgt unsere Begriffsstrategie damit einer anderen Logik, als sie den gebräuchlicheren Bezeichnungen Unternehmen 2.0 oder Enterprise 2.0 zugrunde liegt. Diese gehen auf ein anderes theoretisches Konzept zurück und bedienen sich einer anderen Nomenklatur. 43 Vgl. etwa Ulf Kadritzke (Hrsg.), »Unternehmenskulturen« unter Druck. Neue Management­ konzepte zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Berlin 1997.

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Behörden entstanden waren. Diese waren jedoch nur unzureichend miteinander verknüpft oder ganz voneinander abgeschottet. Diese organisationsspezifischen Informationssysteme erhielten erst mit dem Aufstieg des Internets eine gemeinsame Bezugsebene mit internationalen Dimensionen. Gleichzeitig wurden Informationsverarbeitungsprozesse in Echtzeit anschlussfähig. Im Unterschied zu den großrechnerbasierten Informationssystemen der 1980er Jahre blieb das Internet nicht auf den Umgang mit hochformalisierten oder codifizierten Informationen beschränkt, sondern lässt sich auch für die Kommunikation »nicht-codifizierter« Informationsarten44, wie Texte, Bilder und Töne, nutzen45. Und anders als die Informationssysteme des Fordismus-Taylorismus, die von den Nutzern nur innerhalb eng umgrenzter und vom System vorgegebener Regeln verwendet werden konnten, ermöglichen die modernen Informationssysteme einen dialogischen und reflexiven Umgang46. Im neuen Informatisierungsmodus können die Systeme zwar auch weiterhin monologisch programmiert funktionieren – in diesem Sinne hat der neue den alten Modus in sich aufgenommen –, der dialogische und reflexive Charakter des »Informationsraums« markiert jedoch im Sinne eines »sozialen Handlungsraums« einen qualitativen Sprung. Über den »Informationsraum« gelingt es den Unternehmen, neuartige Prinzipien der Organisation und der Steuerung zu etablieren – Prinzipien, die in eine neue Leitvorstellung von Organisation münden: das systemisch integrierte Unternehmen. Diese tritt an die Stelle der divisional gegliederten Organisation des alten Unternehmenstyps. Strukturiert und zusammengehalten wird das systemisch integrierte Unternehmen 2.n durch IT-Prozesse und moderne Informationssysteme. Dabei stützt sich das Unternehmen auf das »informatorische Abbild«47, das bereits seit Ende der 1980er Jahre auf der Grundlage von ersten Unternehmensdatenmodellen entwickelt wurde und eine abteilungsübergreifende Gesamtsicht auf das Unternehmen und seine internen Interdependenzbeziehungen ermöglichte. Auf dieser Grundlage können die Arbeitsprozesse sowohl innerhalb der Abteilungen als auch cross-funktional in der Beziehung zwischen den Abteilungen als durchgängige Prozesse beschrieben werden. Diese können dann in organisatorische Festlegungen überführt und in IT-Systemen über Arbeitsmittel, Arbeitsgegenstände oder die Zusammenarbeit steuernde Instrumentarien materialisiert werden. Zusammengenommen entsteht so ein Gerüst an IT-gestützten Prozessen, das die Grundlage für die Steuerung der Organisation über Zielvorgaben und Kennziffern bildet. Der neue Informatisierungsmodus eröffnet so auf der einen Seite neue Möglichkeiten, über komplexe Kennzahlensysteme das Management der Gesamtorganisation nach dem Prinzip »Steuern nach Zahlen« neu aufzustellen. Diese Steue44 Vgl. Theo Pirker, Büro und Maschine. Zur Geschichte und Soziologie der Mechanisierung der Büroarbeit, der Maschinisierung des Büros und der Büroautomation, Basel 1962. 45 Vgl. Baukrowitz/Boes/Schmiede, Entwicklung der Arbeit. 46 Vgl. Boes, Formierung und Emanzipation. 47 Baukrowitz/Boes, Arbeit in der »Informationsgesellschaft«; zum Folgenden vgl. ebenda.

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rungslogik wird über entsprechende Zielvorgaben und Controlling-Instrumente bis auf die individuelle Arbeitsplatzebene wirksam. Auf der anderen Seite werden die (Geschäfts-)Prozessmodelle nun in entsprechende IT-Systeme überführt, die die Arbeitsabläufe und ihr systemisches Zusammenwirken im Sinne einer durchgängigen Wertschöpfungskette strukturieren. Wo in der »großen Industrie« die Maschinensysteme aus den individuellen Arbeitstätigkeiten einen kollektiven Prozess gemacht hatten, sind es im Unternehmen 2.n IT-Prozesse, die die Arbeit strukturieren und die Zusammenarbeit oder die Arbeitsteilung organisieren. Diese neue Prozessorientierung erstreckt sich nicht nur auf das Binnenleben der Unternehmen, sondern auf Basis einer durchgängigen Informationsebene können nun auch komplexe Wertschöpfungsketten und Unternehmensnetzwerke zusammengehalten werden. Die permanente Restrukturierung der komplexen Wertschöpfungsketten basiert wesentlich auf der Veränderbarkeit und zunehmenden wechselseitigen Anschlussfähigkeit der den gesamten Leistungserstellungsprozess widerspiegelnden integrierten Informationssysteme. Dass die IT-Prozesse das Ganze zusammenhalten, ist aber nur eine Seite der Medaille. Komplementär dazu entwickelt sich im Unternehmen 2.n ein Koordinationsmodus, der jenseits bürokratischer Regeln und hierarchischer Entscheidungen nach dem Prinzip der »Öffentlichkeit«48 funktioniert. Dieser Koordinationsmechanismus entspringt der Anforderung, komplexe Interdependenzbeziehungen zu repräsentieren, die in systemischen Organisationen, eben aufgrund ihrer Komplexität, nicht vollständig durch formale Regeln und organisatorische Festlegungen zu beschreiben sind. Damit Prozesse wirklich funktionieren, braucht es deshalb Menschen, die intelligent und flexibel mit ihnen umgehen, die sich mit Kolleginnen und Kollegen abstimmen und zum Beispiel Schnittstellen situativ bearbeiten können. Eine konsequente Prozessorientierung und die Steuerung über Kennzahlen erfordern also einen komplementären Koordinationsmechanismus, der auf dem lebendigen Wissen und der Entfaltung der subjektiven Potenziale der Beschäftigten aufbaut. Im Unternehmen 2.n werden deshalb auf unterschiedlichen Ebenen Plattformen für kommunikative Abstimmungsprozesse, den lebendigen Fluss von Information und den Austausch von Wissen geschaffen. Diese funktionieren nach dem Prinzip der öffentlichen Aushandlung und dialogischen Kommunikation. Neben präsenzgebundenen Kommunikationsplattformen wie Meetings, Daily Scrums oder auch informellem Austausch in Kaffee-Ecken wird hier der »Informationsraum« in den Unternehmen selbst zu einer immer wichtigeren Plattform. Wissensbestände im Unternehmen werden für alle in »Wikis« zugänglich gemacht, während Social Media als Kommunikationsmittel dienen. Ganz im Sinne des »sozialen Handlungsraums« werden vielfältige Räume für die unternehmensöffentliche Kommunikation, den Wissensaustausch und die Interaktion 48 Dazu ausführlich Anja Bultemeier, Öffentlichkeit, systemische Entscheidungen (»Kalibrierung«) und individuelle Positionierung als zentrale Bausteine eines neuen Karrieremechanismus. Unveröffentlichtes Manuskript, Freising 2013.

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von Mitarbeitern geschaffen. Diese Entwicklung beinhaltet eine weitreichende Veränderung der Unternehmenskommunikation und der Erschließung von Öffentlichkeiten. In engem Austausch mit den neuartigen Formen öffentlicher Aushandlung, wie sie in den Communities des Internet vorherrschen, entwickeln sich in den Unternehmen Formen der Öffentlichkeit, die sich an den Kulturmustern und den Normensystemen der Communities im Internet orientieren und die Bedeutung des dialogischen, diskursorientierten Austauschs stärken. Erst im Zusammenspiel der Mechanismen »Prozess« und »Öffentlichkeit« wird demnach im Unternehmen 2.n eine neue Qualität systemischer Integration möglich. Die Ebene der Prozesse, die das Rückgrat der Organisation bildet, bekommt – idealtypisch betrachtet – mit der Öffentlichkeit ein Korrektiv, das verhindert, dass die Prozessorientierung zu verkrusteten Strukturen führt. Der »Informationsraum« ist dabei nicht nur die Basis der Prozesslandschaften, sondern wird als »sozialer Handlungsraum« auch immer mehr zur Plattform der Öffentlichkeit. Die Entwicklung vom Unternehmen 1.n zum Unternehmen 2.n lässt sich idealtypisch am Beispiel von IBM nachvollziehen. Das Unternehmen stammt als Pionier der IT-Industrie ursprünglich aus dem Bereich des Büromaschinenbaus. Von der Lochkartentechnik entwickelte sich das Unternehmen historisch zum weltweit aktiven Marktführer im Bereich der Großcomputertechnologie. Zunächst war das Geschäftsmodell auf Hardware und den Großrechner fokussiert, während auf organisatorischer Ebene fordistische Unternehmensstrukturen49 dominierten. Charakteristisch waren zum einen die typischen monolithischen Strukturen, die funktionale Ausdifferenzierung von Unternehmensbereichen und die relativ starr verlaufenden Abteilungsgrenzen. Zum anderen war das Unternehmen aus der globalen Perspektive durch ein Konglomerat vergleichsweise eigenständiger und unabhängig voneinander agierender Landesgesellschaften gekennzeichnet. Mit dem Niedergang des technologischen Konzepts des Großrechners Ende der 1980er Jahre geriet die IBM schließlich in eine ernsthafte Krise und stand vor der Herausforderung, sich mit Blick auf das Produktund Leistungsspektrum, das Geschäftsmodell und vor allem das Unternehmenskonzept und die darauf aufbauenden Organisationsstrukturen neu zu erfinden. Mit Blick auf das Produkt- und Leistungsspektrum leitete das Unternehmen eine grundlegende Wende ein. Nicht mehr die Hardware bildete fortan den Fokus des Geschäftsmodells, sondern die darauf aufbauenden Dienstleistungen und die Entwicklung von Software-Lösungen. Insbesondere der Fokus auf neue, mit dem Internet verbundene Geschäftsfelder und Technologien – damals unter anderem unter dem Label E-Business diskutiert50 – erwies sich als ein wich49 Zur Unternehmenstypologie in der IT-Branche sowie zum Typus des »ehemals fordis­ tischen Unternehmens« vgl. Andreas Boes/Andrea Baukrowitz, Arbeitsbeziehungen in der IT-Industrie. Erosion oder Innovation der Mitbestimmung? Berlin 2002, hier S. 69 ff. 50 Vgl. Erwin Staudt, Die mobile Gesellschaft, in: Hans Ulrich Buhl/Andreas Huther/Bernd Reitwiesner (Hrsg.), Information Age Economy. 5.  Internationale Tagung Wirtschafts­ informatik 2001, Heidelberg 2001, S. 15–28.

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tiger Erfolgsfaktor. Durch den neuen Fokus wurden die Defizite der produktorientierten Organisationsstruktur in der Praxis offensichtlich. Es entstanden zum Beispiel neue Anforderungen an eine kundenorientierte Reorganisation der Unternehmensstrukturen. Gefordert war eine ganzheitliche Betrachtung der Kundenanforderung und die Entwicklung einer alle Einzelkomponenten wie Hardware, Software, Service und Beratung umfassenden Lösung. In den diesbezüglichen Entwicklungs- und Produktionsprozess ist eine Vielzahl unterschiedlicher Experten und Arbeitsbereiche einzubeziehen, die in den traditionellen Strukturen hermetisch gegeneinander abgeschottet waren: Vertriebsleute, Unternehmensberater und Software-Entwickler in verschiedenen Bereichen sowie Hardwarespezialisten der unterschiedlichsten Produktgruppen müssen mit Blick auf eine gemeinsame Aufgabe zeitlich begrenzt kooperieren. Dazu sind Unternehmensstrukturen erforderlich, die diese Integration unterstützen und komplementär dem tiefgreifenden Wandel des Geschäftsmodells mit neuen Organisationsprozessen eine tragfähige Basis geben können. In der Überwindung der mit dem Niedergang des Großrechners verbundenen Krise entwickelte IBM geradezu in idealtypischer Weise die Grundlagen für das Unternehmen 2.n. Mit dem Prinzip der Lines of Business, dem Management by Objectives, flachen Hierarchien und der Zentralisierung von Entscheidungen bei gleichzeitiger Dezentralisierung der operativen Bereiche wurden grundlegende Weichenstellungen in Richtung eines neuen Unternehmenstyps vollzogen. Dabei ging es nicht alleine um eine stärkere Kunden- oder Marktorientierung, sondern vor allem um eine systemische Integration des historisch gewachsenen Konzerns. So wurden die verschiedenen Unternehmenseinheiten und Konzerntöchter in internationale Lines of Business integriert. Damit konnten an den globalen Geschäftsprozessen orientierte Leitungsstrukturen neu etabliert werden, die die nationalen Linienstrukturen überlagerten und diese in ihrer Entscheidungskompetenz erheblich einschränkten. Die Grundlage hierfür bildeten weltweit vereinheitlichte computergestützte Controlling- und Berichtssysteme, mit deren Hilfe sich wirtschaftliche Daten über die Tochterunternehmen und nationalen Gesellschaften hinweg für einzelne Geschäftsbereiche aggregieren und vergleichen ließen. Der Grundgedanke der systemischen Integration konnte in der Praxis erst durch diese neuen Steuerungs- und Kontrollinstrumente und die ihnen zugrunde liegenden Informationssysteme und IT-Lösungen verwirklicht werden. Diese neue Organisationslogik wurde schließlich mit dem Konzept des Globally Integrated Enterprise51 nach der Krise der New Economy weiter voran­ getrieben und vor allem auf weltweiter Ebene zu Ende gedacht. Das Unternehmen wird als ein globales System betrachtet, das überall auf der Welt Ressourcen nutzt und Erträge maximiert. Anders als früher soll es nicht mehr als bloßes Konglomerat verschiedener Landesgesellschaften funktionieren, sondern einheitlich auf der ganzen Welt aktiv sein. Zentrale Voraussetzung hierfür ist die 51 Sam Palmisano, The Globally Integrated Enterprise, in: Foreign Affairs 85 (2006), S. 127–136.

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konsequente Nutzung des globalen »Informationsraums« als Basisinfrastruktur des Unternehmens. Die entsprechenden Informationssysteme bilden auf der einen Seite die Grundlage für das globale Controlling. Auf der anderen Seite finden nun auch Geschäftsprozesse und Standards eine Entsprechung in vereinheitlichten IT-Systemen. Homogene Arbeitsabläufe und standardisierte Prozesse gewinnen so in der Praxis neue Wirkmächtigkeit. Vor allem aber wird der »Informationsraum« als ein globaler »Raum der Produktion« und als Basis einer internationalen Arbeitsteilung genutzt, die nun auch die Bereiche hochqualifizierter Arbeitsfelder wie die Software-Entwicklung erreicht. Während zum Beispiel die klassischen Hochlohnstandorte immer mehr als bloßes face to the customer genutzt werden, wachsen neue Off- und Nearshore-Standorte wie Indien rasant und werden als factory in globale Produktionsprozesse zur Erbringung von IT-Dienstleistungen integriert52. Dabei erweist sich die Etablierung eines global verteilten Produktionssystems als ein zentraler Treiber der zunehmenden Standardisierung und Prozessorientierung in der Kopfarbeit, die wiederum Moment einer »Industrialisierung neuen Typs« ist53. Die Weiterentwicklung des global integrierten Unternehmens im Rahmen des Konzepts der Generation Open54 ist ein idealtypisches Beispiel für die strategische Nutzung des »Informationsraums« zur Organisation der Arbeit im Unternehmen 2.n. Es kann als eine spezifische Realisierung des neuen Unternehmenstyps interpretiert werden. In konsequenter Ausnutzung des »Informationsraums« als sozialem Handlungs- und globalem Produktionsraum erfolgt hier die Integration über Prozess- und Öffentlichkeitsmechanismen im Rahmen eines cloud-basierten Produktionsmodells. Dieses bettet die Arbeitsprozesse ganzheitlich in spezifische, IT-basierte Kollaborations- und Kommunikationsumgebungen ein, um die globale Zusammenarbeit von Teams durch ein geeignetes Umfeld zu ermöglichen sowie die Leistungserbringung zu messen und zu synchronisieren. Dabei knüpft IBM an eigene langjährige Erfahrungen in OpenSource-Projekten an, indem die von der Community entwickelten Prinzipien und Methoden global-kooperativer Software-Entwicklung sowie die entsprechenden Kulturmuster in das Unternehmen inkorporiert werden. In Verbindung mit der informatorischen Durchdringung des Arbeitsprozesses kann so ein Leistungssystem etabliert werden, in dessen Zentrum die »digitale Reputation« der einzelnen Arbeitskraft steht, die die je individuellen Leistungsbeiträge transparent und vergleichbar macht. Gleichzeitig werden die Beziehungen zu den externen Ak52 Vgl. dazu auch Andreas Boes/Michael Schwemmle (Hrsg.), Bangalore statt Böblingen? Offshoring und Internationalisierung im IT-Sektor, Hamburg 2005, sowie Boes/Kämpf, Kopfarbeit. Im Kontext von Shared-Service-Initiativen werden dabei auch Verwaltungsfunktionen weltweit standardisiert, an ausgewählten Standorten konzentriert und in­ kostengünstige Lokationen verlagert. 53 Vgl. Boes, Offshoring in der IT-Industrie. 54 Vgl. Patrick Howard/Ed Lovely/Susan Watson, Working in the open. Accelerating time to value in application development and management, New York 2010, sowie Patrick Howard/­ Dorit Nevo/Pat Tool, Small worlds: The social approach to software delivery, New York 2012.

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teuren im Informationsraum reorganisiert, indem systematisch Freelancer – über entsprechende online-Plattformen des Unternehmens – in den Produktionsprozess einbezogen werden. Die Produktivkraft der eigenen Belegschaft und der externen Akteure außerhalb des Unternehmens werden so in ein systemisches Verhältnis gebracht, das »fluide« und beständig veränderbar ist. Die Grenzziehung des Unternehmens zu seiner Umwelt kann so zum Gegenstand eines permanenten und ergebnisoffenen Entscheidungsprozesses gemacht werden.

4. Neue Phase kapitalistischer Entwicklung: der informatisierte Produktionsmodus Mit der Reorganisation seiner Unternehmensstrukturen und Organisationsprozesse hat sich IBM als Vorreiter des gegenwärtigen Umbruchs in den Unternehmen erwiesen. Auf Basis einer neuen Produktivkraftstruktur werden hier die Konturen des Unternehmens 2.n deutlich erkennbar. Der »Informationsraum« erweist sich dabei immer mehr als neuer Raum der Produktion. Informationen und Informationssysteme werden zum dominanten Bezugssystem von Arbeit und zur Grundlage eines systemisch integrierten Unternehmens. Wir sehen in der Herausbildung des neuen Unternehmenstyps den Ausdruck eines neuen, »informatisierten Produktionsmodus«, der den Beginn einer neuen Phase des Kapitalismus markiert. Bisher lassen sich drei zentrale Momente dieses neuen Produktionsmodus erkennen55: erstens eine neue Qualität global integrierter Produktion, von der nach der Hand- nun auch die Kopfarbeit betroffen ist; zweitens eine »Industrialisierung neuen Typs«, die jenseits tayloristischer Konzepte insbesondere die Kopfarbeit zum Gegenstand hat; drittens die Etablierung neuer Formen marktzentrierter Kontrolle im Bereich der Kopfarbeit. Neben leistungsstarken Logistik- und Transportsystemen bildet der »Informationsraum« zunächst die Basis für die umfangreichen Globalisierungsprozesse von Unternehmen und Wirtschaft, die seit den 1990er Jahren intensiv diskutiert werden und die Arbeitswelt sehr grundlegend verändern56. IT-gestützte Prozesse werden dabei zum Rückgrat weltweit verteilter Wertschöpfungsketten und zum zentralen Medium für Steuerung und Kontrolle. Erst entsprechende Informationssysteme erlauben es globalen Konzernen heute, »aus einem Guss« weltweit zu agieren. Vor allem aber gilt, dass »im Netz« Kopfarbeit selbst zum Gegenstand von Internationalisierungsprozessen wird. Nicht mehr nur die Handarbeit, sondern auch hochqualifizierte Tätigkeiten, wie etwa Software-­ Entwicklung oder selbst Forschung und Entwicklung, werden einer internationalen Arbeitsteilung zugänglich, indem ihre Arbeitsgegenstände und -mittel­ 55 Vgl. dazu auch Boes/Kämpf, Informatisierung als Produktivkraft. 56 Vgl. dazu bereits früh Folker Fröbel/Jürgen Heinrichs/Otto Kreye, Die neue internationale Arbeitsteilung. Strukturelle Arbeitslosigkeit in den Industrieländern und die Industrialisierung der Entwicklungsländer, Reinbek 1977.

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digitalisiert beziehungsweise digitalisierbar werden. Der Aufstieg Indiens in der IT-Industrie oder auch das rasante Wachstum von Engineering-Standorten in China zeigen das Ausmaß dieser Entwicklung57. Für globale Konzerne werden diese Standorte nicht nur mit Blick auf die Erschließung neuer Märkte, sondern vor dem Hintergrund eines immer wieder kolportierten Fachkräftemangels auch als neues Reservoir hochqualifizierter Arbeitskraft zunehmend attraktiv. Für die betroffenen hochqualifizierten Beschäftigtengruppen ändern sich damit grundlegende Koordinaten ihrer Arbeit. Für sie wird nicht nur die Arbeit in globalen Zusammenhängen mehr und mehr zu einer Selbstverständlichkeit58, sondern sie werden auch mehr denn je mit einem weltweiten Arbeitsmarkt konfrontiert. Mit Schlagworten wie Offshoring werden auch in hochqualifizierten Arbeitsbereichen drohende Arbeitsplatzverlagerungen zum allgegenwärtigen Damoklesschwert – in der vormals recht gesichert erscheinenden Arbeitswelt der Büros werden damit neue Unsicherheiten und die Schattenseiten der Globalisierung spürbar59. Im Rahmen des informatisierten Produktionsmodus wird Kopfarbeit nicht nur Globalisierungsprozessen zugänglich, sondern insbesondere auch zum Gegenstand neuer Formen der Industrialisierung. IT-gestützte Prozesssysteme und der Informationsraum bieten dafür die Grundlage. Hier erweist sich die IT-­ Industrie als Vorreiter: Den Ausgangspunkt bilden umfangreiche Standardisierungsbemühungen. Diese betreffen sowohl die Produkte selbst als auch die eingesetzten Prozesse, Methoden und Tools. IT-gestützte Dokumentationssysteme, die sich mehr und mehr der Ideen des Web 2.0 und des Gedankens der Community bedienen, begleiten diese Homogenisierung der Verfahrens- und Prozesslandschaften. Dabei wird auch immer wieder auf Konzepte der traditionellen Fertigungsindustrien zurückgegriffen60. Mit Blick auf die unterschiedlichen Arbeitsbereiche und arbeitsinhaltlichen Anforderungen sowie die damit verbundenen Widersprüche hat sich in der Praxis kein einheitlicher one best way herausgebildet. Auf der einen Seite setzt sich im Bereich der IT-Dienstleistungen mit dem »ITIL-Modell« eine Form der Prozessorientierung durch, die auf durchgängigen und differenzierten Ticketsystemen sowie definierten Ablauf- und Rol57 Vgl. ausführlich Boes/Kämpf, Global verteilte Kopfarbeit; vgl. auch Nicole Mayer-Ahuja, Grenzen der Homogenisierung. IT-Arbeit zwischen ortsgebundener Regulierung und transnationaler Unternehmensstrategie, Frankfurt a. M./New York 2011; Stefanie H ­ ürtgen u. a., Von Silicon Valley nach Shenzhen. Globale Produktion und Arbeit in der IT-­Industrie, Hamburg 2009. 58 Vgl. dazu Andreas Boes u. a., Auf dem Weg in eine global vernetzte Ökonomie. Strategische Herausforderungen für Arbeit und Qualifikation, in: dies. (Hrsg.), Qualifizieren für eine global vernetzte Ökonomie. Vorreiter IT-Branche: Analysen, Erfolgsfaktoren, Best Practices, Wiesbaden 2012, S. 25–64. 59 Vgl. dazu ausführlich Tobias Kämpf, Die neue Unsicherheit. Folgen der Globalisierung für hochqualifizierte Arbeitnehmer, Frankfurt a. M. 2008. 60 So werden etwa spezifische Formen der Modularisierung auf Basis einer Klassifizierung und Definition sich wiederholender oder typischer Problemstellungen (»Baugruppen«) eingesetzt. Vgl. dazu ausführlicher Boes, Offshoring in der IT-Industrie.

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lenkonzepten basiert. Auf der anderen Seite haben in der Software-Entwicklung selbst die Methoden der Lean Production61 erheblich an Bedeutung gewonnen und werden in Verbindung mit »agilen Methoden« als Moment der Industrialisierung genutzt62. Auch hier bleibt die Anwendung von Industrialisierungskonzepten jedoch keineswegs auf die Software-Entwicklung begrenzt  – vielmehr kommt es, etwa im Rahmen von Lean Office oder Lean Engineering, aber auch im Zuge von factory-Ansätzen in der Finanzindustrie, zu grundlegenden Re­ organisationen von Kopfarbeit in breiten Kernbereichen der Wirtschaft. Was die verschiedenen Ansätze zur Industrialisierung von Kopfarbeit eint, ist das Ziel der Unternehmen, die Abhängigkeit vom einzelnen Beschäftigten und dessen konkreter Individualität zu reduzieren, ohne jedoch auf die Subjektivität im Arbeitsprozess zu verzichten. Im Kontrast zum Taylorismus geht es also nicht darum, die subjektiven Potenziale der Beschäftigten »auszuschalten« – vielmehr geht es um eine systematische, planbare und wiederholbare Nutzung ihrer Subjektleistung auf der Grundlage konsequenter Prozessorientierung und einer Kollektivierung von Wissen63. In dem Maße, wie Kopfarbeit demnach nicht mehr primär ausgehend vom individuellen Geschick organisiert, sondern in einen »objektiven Prozess« integriert wird, sinkt auch die Reichweite der von den Beschäftigten kontrollierten »Ungewissheitszonen«64 – und damit werden sie als Individuen beziehungsweise wird ihre konkrete Arbeitskraft austauschbarer als zuvor. Hintergrund dieser Entwicklung ist ein neuer Typ der Industrialisierung, der sich jedoch nicht lediglich auf die Kopfarbeit bezieht. Im informatisierten Produktionsmodus werden Informationen und Informationssysteme zum dominanten Bezugssystem von Arbeit und Organisation. Dies ermöglicht einerseits die arbeitsteilige Organisation geistiger Tätigkeiten unter Einbeziehung neuer Formen der Kommunikation und des Austausches von Wissen auf der Basis des »Informationsraums«. Andererseits ermöglicht die Dominanz der Informations­ ebene aber auch die Neuindustrialisierung der klassischen Fertigungsarbeit in der Fabrik, wie das Beispiel Industrie 4.0 zeigt. Die »Industrialisierung neuen Typs« zielt somit insgesamt auf die Rationalisierung von Subjektleistungen (jeglicher Art) durch die informatorische Durchdringung der Produktivkräfte im Rahmen des neuen Informatisierungsmodus. Dieser bildet schließlich auch den Hintergrund für die Durchsetzung neuer Formen »marktzentrierter Kontrolle«65 in weiten Bereichen der Kopfarbeit. Auf 61 Vgl. Womack/Jones/Roos, Zweite Revolution. 62 Dazu ausführlich Boes u. a., Kopfarbeit in der modernen Arbeitswelt. 63 Vgl. Boes/Kämpf, Informatisierung als Produktivkraft; Boes u.a, Kopfarbeit in der modernen Arbeitswelt. 64 Michel Crozier/Erhard Friedberg, Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns, Königstein 1979. 65 Vgl. Andreas Boes, »Neue Arbeitskrafttypen« und verfasste Mitbestimmung. Auseinandersetzungen in der IT-Industrie, in: Das Argument 44 (2002), S. 724–738; Klaus Dörre/ Bernd Röttger (Hrsg.), Das neue Marktregime. Konturen eines nachfordistischen Produktionsmodells, Hamburg 2003.

Von der »großen Industrie« zum »Informationsraum« 

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Basis einer privilegierten Stellung auf dem Arbeitsmarkt hatte sich hier traditionell ein auf dem Modus der »verantwortlichen Autonomie«66 beruhendes Kontrollregime etabliert, das den Hochqualifizierten große Freiräume gewährte. Dieses wird jedoch heute zunehmend von einem neuen »System permanenter Bewährung«67 ersetzt. Kern dieses neuen Kontrollmodus ist die informatorische Durchdringung des Arbeitsprozesses, die in Form von komplexen Kennzahlensystemen zur Basis einer ergebnisorientierten Leistungssteuerung der Beschäftigten wird. Die Anforderungen des Markts werden dabei bis auf den einzelnen Arbeitsplatz heruntergebrochen und in entsprechende Zielwerte übersetzt. Im Kontrast zur verantwortlichen Autonomie erscheint die individuelle Zugehörigkeit zum Unternehmen nun nicht mehr als Selbstverständlichkeit, sondern wird optional und an die Zielerreichung gebunden. Damit wird die Arbeit in der Praxis für die Beschäftigten zur permanenten Bewährungsprobe: Täglich gilt es neu zu zeigen, dass man es weiterhin »verdient« hat, dazuzugehören. Sicherheiten und privilegierte Arbeitsbedingungen, wie sie zuvor in weiten Bereichen der Kopfarbeit gegeben erschienen, sind nun aus der Perspektive der Unternehmen nicht länger funktional und notwendig. Umgekehrt wird vielmehr die Austauschbarkeit der Beschäftigten und die damit verbundene Unsicherheit zur Grundlage neuer Kontrollformen und veränderter Arbeitsbeziehungen. Zugespitzt formuliert ist aus einem »Anerkennungsverhältnis«, wie es dem fordistischen Produktionsmodus zugrunde lag68, ein »Schuldverhältnis«69 geworden. Im Zentrum dieser Momente des informatisierten Produktionsmodus steht immer die Kopfarbeit: Anders als in der vorgängigen Phase des Kapitalismus wird sie, auf der Basis der neuen Produktivkraftstruktur, mehr und mehr zum Gegenstand einer kapitalistischen »inneren Landnahme«70. Anders als im Zusammenhang der »Subjektivierung von Arbeit«71 häufig diskutiert, zeichnet sich unseres Erachtens die neue Phase des Kapitalismus nicht durch ein bloßes Mehr an Subjektivität in der Arbeit aus, sondern vielmehr durch eine effizientere, mithin industrialisierte Nutzung jener Subjektleistungen, die sich bisher traditionellen Kontroll- und Rationalisierungsformen entzogen haben – kurz: der Kopf­ arbeit, die damit nun überhaupt erst zu einer »echten« Lohnarbeit wird. 66 Andrew Friedman, Responsible Autonomy versus Direct Control over the Labour Process, in: Capital and Class 1 (1977), S. 43–57. 67 Andreas Boes/Anja Bultemeier, Anerkennung im System permanenter Bewährung, in: HansGeorg Soeffner (Hrsg.), Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen. Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Wiesbaden 2010, CD -ROM . 68 Vgl. z. B. Stephan Voswinkel, Anerkennung und Reputation. Die Dramaturgie industrieller Beziehungen. Mit einer Fallstudie zum »Bündnis für Arbeit«, Konstanz 2001. 69 Christoph Deutschmann, Postindustrielle Industriesoziologie, München 2002, hier S. 96. 70 Zum Landnahme-Theorem vgl. Klaus Dörre/Tine Haubner, Landnahme durch Bewährungsproben. Ein Konzept für die Arbeitssoziologie, in: Klaus Dörre/Dieter Sauer/Volker Wittke (Hrsg.), Kapitalismustheorie und Arbeit, Frankfurt a. M./New York 2012. 71 Vgl. z. B. Karin Lohr/Hildegard Maria Nickel (Hrsg.), Subjektivierung von Arbeit. Riskante Chancen, Bonn 2005.

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Damit wird auch das Potenzial der Informatisierung für eine kritische Theorie des modernen Kapitalismus deutlich: Aus einer produktivkrafttheoretischen Perspektive öffnet sie den Blick auf sehr grundlegende Veränderungen in den Unternehmen, die auch Verschiebungen der im Fordismus gewachsenen gesellschaftlichen Klassen- und Konfliktstrukturen andeuten. Mit der Herausbildung des Unternehmens 2.n und der Durchsetzung des »informatisierten Produk­tions­modus« sind gerade in der einst so stabilen Mittelschicht, die sich zu wesentlichen Teilen aus Kopfarbeitern rekrutiert, neue Ausdifferenzierungsprozesse zu erwarten. Während die Teile dieser Schicht, die ihre »Ungewissheitszonen« im Arbeitsprozess erhalten können, weiter privilegierte beziehungsweise sich sogar verbessernde Arbeits- und Lebensbedingungen erwarten können, gilt dies kaum für diejenigen Beschäftigtengruppen, die sich in neuer Qualität mit Globalisierung, einem neuen Typ der Industrialisierung und dem System permanenter Bewährung konfrontiert sehen. Die Abstiegsängste breiter Teile der Mittelschicht bekommen damit eine neue Substanz: Sie basieren nicht mehr alleine auf Ausstrahlungseffekten oder modernisierten sozialpolitischen Rahmenbedingungen, sondern auf tiefgreifenden Veränderungen in der Sphäre der Arbeit selbst.

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Befreiung oder Kolonialisierung? Frauenarbeit und Frauenerwerbstätigkeit am Ende der Industriemoderne

1. Der Rufer in der Wüste Norbert Blüm, von Oktober 1982 bis Oktober 1998 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung in den christlich-liberalen Kabinetten von Helmut Kohl, zog vor einigen Jahren eine bittere Bilanz der Familien- und Gesellschaftspolitik seit dem Ende des 20. Jahrhunderts. Seine Partei, die CDU, habe sich vom »neo­ liberalen Tsunami« überrollen lassen1. Es gehe auch in der Familienpolitik im Zeichen der Götzen »Kostensenkung, Privatisierung, Deregulierung« nur noch »um ›Bimbes‹, also ums Geld«. Die Familie sei »längst in den Sog der Verwirtschaftung« geraten, zumal der »Eigensinn familiärer Nahbeziehungen […] den de­regulierten Zugriff der Geldwirtschaft auf sämtliche Lebensbereiche« störe. Sie degeneriere mit Billigung der Politik »zu einer wirtschaftlichen Einheit auf Zeit«, ja sie werde »auf dem Arbeitsmarkt« geradezu »untergepflügt«. Die CDU gebe ebenso wie die »vereinigte Linke« keine Ruhe, bis nicht »die letzte Mutter in den Arbeitsmarkt ein[ge]pfercht ist – ob sie will oder nicht«. Und an anderer Stelle fügte Blüm scharfzüngig hinzu: Die »Totalisierung der Erwerbswirtschaft« führe zu einer Diskriminierung der Frauen, »die zugunsten der Familienarbeit auf Erwerbsbeteiligung verzichtet oder sie reduziert« hätten. »Arbeit ist nur Arbeit, wenn sie Erwerbsarbeit ist – so borniert ist man nie zuvor gewesen.«2 Nun könnte man annehmen, Norbert Blüm sei nichts anderes als ein deprimierter Rufer in der Wüste, der es nicht verwunden habe, dass die Zeit über ihn und seine christlich-konservativen Überzeugungen hinweg gegangen ist. Doch es wäre zu einfach, seine Einwürfe einfach als aus der Zeit gefallen abzutun und den Strich des emanzipatorischen Fortschritts darunter zu ziehen. Wirft man nämlich einen Blick zurück, so zeigt sich, dass Blüm mit seinen Zeitdiagnosen nicht allein stand und dass sie schon früh von Beobachtern geteilt wurden, die über den Verdacht erhaben waren, einer rückständigen Sozialmoral das Wort zu reden: 1 Norbert Blüm, Meine liebe CDU, jetzt brauchtest du Mut! Das Gebot der Stunde: nicht die Gesellschaft verändern, sondern den Menschen bewahren – ein Bekenntnis zu meiner Partei und eine Warnung vor ihren neuen Idealen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.9.2011, S. 32. 2 Norbert Blüm, Falsches Glück. Die Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf ist das Ende der Freiheit, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 28.7.2013, S. 3.

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»Es gibt eine Vorstellung (u. a.) von Jusos und vielen Frauen in der Bewegung, die für mich eher den Weltuntergang als die Befreiung verkörpert: Frau und Mann arbeiten (bitte schön: er als Angestellter, sie als Tippse). Kinder von sechs Uhr morgens bis abends im Kindergetto, unterdrückt, gegängelt, angepaßt. (›Öffentlich‹: wer sagt eigentlich, daß ›öffentlich = staatlich oder kirchlich‹ heute Fortschritt bedeutet?) Die Oma im Altersheim = Altengetto. Die Kranken im Krankenhaus = Krankengetto. Wer ›arbeitet‹ zählt, alle anderen werden weggepackt. Sind wir borniert genug, solche Zerstörung von Zusammenhängen als Fortschritt, als Emanzipation zu begreifen? Sehen wir nicht, daß das die Endunterwerfung unter die Gesetze der Produktivität des Kapitals ist?«3

Gisela Erler, die diese Zeilen 1974 einem Buch mit dem programmatischen Titel »Frauen in der Offensive« voranstellte, hatte als Tochter des sozialdemokratischen Spitzenpolitikers Fritz Erler das Licht der Welt erblickt und gehörte sowohl als Mitbegründerin des linksalternativen Münchner Verlags »Trikont« als auch als Sozialwissenschaftlerin zu den Vorreiterinnen einer kritischen Debatte über die Rolle der Frau in Familie, Wirtschaft und Gesellschaft. Dass sie dennoch Mitte der 1970er Jahre Positionen vertrat, die Norbert Blüm fast vierzig Jahre später mit teilweise identischen Worten wieder aufgreifen sollte, irritiert und wirft Fragen auf – Fragen nach der Rolle der Frau zwischen Familie und Erwerbsarbeit in den Jahren nach dem Boom, der in der Bundesrepublik die Zeit zwischen Währungsreform und Ölpreiskrise geprägt hatte4, und nach den Diskursen über Geschlechterrollen, Leitbilder und weibliche Lebensentwürfe im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich freilich, dass dieser irritierende Gleichklang, der sich nicht im üblichen Rechts-Links Schema des politischen Koordinatensystems verorten lässt, auf das wachsende Unbehagen an einer Arbeitswelt zurückgeht, die sich seit den 1970er Jahren gleichsam »radikalisiert« hat, »von allem Besitz« ergriff und »bisweilen stärker als Elternschaft, Partnerschaft oder Freundschaft zum sinnstiftenden Element der Gegenwart« avancierte5. Neben einer beginnenden Radikalisierung der Arbeitswelt ließ sich in den 1970er Jahren aber noch ein anderer, gegenläufiger Trend beobachten, der in teils kontrovers geführten Debatten über die »Humanisierung der Arbeitswelt« oder über eine alternative Ökonomie seinen Ausdruck fand6. In diesen Debatten kam nicht

3 Gisela Erler, Vorbemerkung zu: Frauen in der Offensive. Lohn für die Hausarbeit oder: Auch Berufstätigkeit macht nicht frei, München 1974, S. 5–8, hier S. 8. 4 Vgl. Gerold Ambrosius, Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen des Booms der 1950er und 1960er Jahre, in: Hartmut Kaelble (Hrsg.), Der Boom 1948–1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992, S. 7–32. 5 Knud Andresen/Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag, Arbeitsbeziehungen und Arbeitswelt(en) im Wandel: Problemfelder und Fragestellungen, in: dies. (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel der Arbeitswelten, Bonn 2011, S. 7–23, hier S. 14. 6 Die Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte hat dem Thema »Humanisierung der Arbeit« vor einigen Jahren ein eigenes Heft (15/2011) gewidmet; vgl. hier insbesondere den Aufsatz

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zuletzt eine diskursive Öffnung und Erweiterung des Arbeits-Begriffs zum Ausdruck. Was war überhaupt Arbeit? Wie ließ sich ihr Wert messen? Welche Gegenleistungen waren gerecht und angemessen? Und: Welche der vielen Tätigkeiten, die Frauen in- und außerhalb ihres Haushalts oder ihrer Familie ausführten, waren Arbeit, welche nicht? In diesem Rahmen wurde es möglich, die Dimensionen von Frauenarbeit auch jenseits der abhängigen Erwerbsarbeit zu diskutieren und über den Wert von Haus- oder Familien- und Erziehungsarbeit zu streiten. In der Auseinandersetzung über den Königsweg der Frau zu politisch-gesellschaftlicher Gleichstellung und persönlich erfüllender Selbstverwirklichung ergaben sich jedoch nicht selten unerwartete Frontstellungen und überraschende diskursive Allianzen jenseits der gewohnten Konstellationen. Während sich verschiedene Strömungen der Neuen Frauenbewegung und anderer eher linker Frauenorganisationen erbittert bekämpften und sich über die Frage stritten, ob nur der Schritt in die Erwerbsarbeit zu Emanzipation, Gleichberechtigung und einem Ende der althergebrachten Geschlechterrollen führe oder ob dies nicht gerade die biographische Asymmetrie zwischen Frauen und Männern zementiere, ergaben sich Schnittmengen zwischen alternativen Frauenrechtlerinnen, die den patriarchalischen Kapitalismus und den damit verbundenen Zug zur immer größeren Erwerbsbeteiligung von Frauen ablehnten, und konservativen Befürwortern des traditionellen Modells der Familie mit der Frau und Mutter als ihr »Herz«7. Als sich mit dem gebrochenen Wachstum nach dem Boom und dem Siegeszug neoliberaler Politikkonzepte der diskursive Rahmen wieder verengte, begann sich der Wind zu drehen. Verfechterinnen der weiblichen Lohnarbeit, die sich als links verstanden und der Marktwirtschaft westdeutscher Prägung kritisch gegenüberstanden, sahen sich in einer Linie mit Arbeitgebern und Unternehmern, die auf die Mobilisierung möglichst vieler  – junger und leistungsfähiger  – Frauen für den Arbeitsmarkt drängten, um das Wirtschaftswachstum zu steigern. In dieser schiefen Schlachtordnung wuchs zwar der Druck auf die Parteien wie auf die Regierungen im Bund und in den Ländern, neue frauen-, familien- und sozialpolitische Akzente zu setzen, die Resultate entsprachen aber häufig weder den ursprünglichen Intentionen noch den eigentlichen politischen Überzeugungen der Akteure. Die Debatten um Frauenarbeit und Frauenerwerbstätigkeit nach dem Boom waren nicht zuletzt der grundsätzlichen Ambivalenz marktvermittelter Lohn­ arbeit geschuldet, die gleichzeitig »Zwang und Befreiung« ist und die »Entfremdung ebenso« bedeutet »wie Sinngebung«8. Je mehr sich freilich die Waagschale zugunsten der Überzeugung neigte, das früher einmal Außergewöhnliche – also von Dieter Sauer, Von der »Humanisierung der Arbeit« zur »Guten Arbeit« (S. 18–24) mit weiterführenden Literaturhinweisen. Vgl. auch Rolf Schwendter, Alternative Ökonomie. Geschichte, Struktur, Probleme, in: APuZ 26/1989, S. 41–53. 7 Pieke Biermann, Das Herz der Familie. Lohn für Hausarbeit, Berlin 1977. 8 Winfried Süß/Dietmar Süß, Zeitgeschichte der Arbeit: Beobachtungen und Perspektiven, in: Andersen/Bitzegeio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch, S. 345–365, hier S. 345.

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die Berufstätigkeit von verheirateten Frauen ob mit oder ohne Kinder – müsse zum Normalfall werden, desto stärker kamen traditionelle Rollenbilder unter Druck und desto mehr mussten sich Frauen rechtfertigen, die sich dazu entschlossen, keiner Erwerbstätigkeit nachzugehen, und sich stattdessen ihren Kindern und ihrem Haushalt widmeten9. Die (Berufs-)Bezeichnung Hausfrau war in den Dekaden nach dem Boom also zunehmend negativ konnotiert, ja man könnte überspitzt sagen, dass die fordistische Hausfrau, die ihrem Ehemann, dem klassischen Industriearbeiter, den Rücken freihielt, im Sinne der Arbeitsfähigkeit seine Bedürfnisse befriedigte und seine Kinder erzog, nach 1975 einen langsamen Tod starb. Der damit verbundene »Wandel von revolutionärer Qualität«, der neue Lebenschancen freisetzte, aber auch neue Zumutungen mit sich brachte und bestimmte weibliche Lebensentwürfe unterminierte10, lässt sich auch als Prozess der Kolonialisierung einer überkommenen Lebenswelt verstehen. Jürgen Habermas hat Mitte der 1980er Jahre eine »Neue Unübersichtlichkeit« konstatiert, die er unter anderem dadurch gekennzeichnet sah, dass »Imperative, sowohl vom ökonomischen wie vom administrativen System her« in soziale Binnenräume eindrangen, die ursprünglich eigenen Gesetzmäßigkeiten folgten11. Habermas weiter: »Bisher sind die Zerstörungsprozesse, die den Weg der kapitalistischen Modernisierung gesäumt haben, meistens so ausgegangen, daß neue Institutionen entstanden, die soziale Materien aus dem Hoheitsgebiet der Lebenswelt in die mediengesteuerten und formal-rechtlich organisierten Problembereiche überführt haben. […] Dabei handelt es sich um Aufgaben der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation. Die Frontlinie zwischen Lebenswelt und System bekommt damit eine ganz neue Aktualität.«

Der Begriff der Frontlinie mag martialisch klingen, doch er beschreibt treffend die Konflikte zwischen »den Kernbereichen der Lebenswelt« und den »Funktionsnotwendigkeiten kapitalistischer Modernisierung« am Ende der industriellen Moderne – und er beschreibt den Zug zur Vergesellschaftung des Privaten, mit allen Auseinandersetzungen zwischen Verfechtern des Fortschritts und den Verteidigern der Tradition, zwischen Gewinnern und Verlierern sowie zwischen denen, die in neuen Gegebenheiten eine Chance zur Selbstbestimmung sahen, und denen, die sich fremdbestimmt fühlten. Dass das soziopolitische und soziokulturelle Feld »Frau und Familie« besonders umkämpft war, dass hier der 9 Vgl. Hella Schickling, Ist die Hausfrau noch zu retten?, München 1972, und Uta Enders/ Irene Block/Susanne Müller, Das unsichtbare Tagwerk. Mütter erforschen ihren Alltag, Reinbek 1981. 10 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Der Epochenbruch in den 1970er-Jahren. Thesen zur Phänomenologie und den Wirkungen des Strukturwandels »nach dem Boom«, in: Andersen/Bitzegeio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch, S. 25–40, hier S. 31. 11 Hierzu und zum Folgenden: Jürgen Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a. M. 1985, S. 189; vgl. auch Axel Honneth, Jürgen Habermas, in: Dirk Kaesler/Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie, Stuttgart 2., durch­ gesehene Aufl. 2007, S. 186–192, hier insbesondere S. 187 f.

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Eigen-Sinn von Traditionen und Lebenswelten besonders deutlich zu Tage trat, dass es hier um kulturelle Hegemonie und Alltagsleben gleichermaßen ging, braucht kaum eigens betont zu werden. Der vorliegende Beitrag greift Anselm Doering-Manteuffels und Lutz Raphaels Forschungsagenda für eine »Zeitgeschichte nach dem Boom« auf und berührt insbesondere Themenfelder wie »Industrieunternehmen und industrielle Produktion« sowie »Geschlechterordnungen und Körperbilder« und »Sinnsuche in neuen Erwartungshorizonten« oder den »Wandel von Leitbegriffen«12. In diesem Sinne nähere ich mich dem Thema Frauenarbeit und Frauenerwerbstätigkeit in zwei Schritten: Im ersten Abschnitt geht es um die widersprüchliche Entwicklung am Arbeitsmarkt für Frauen von den 1960er bis in die frühen 1990er Jahre und im zweiten Abschnitt um die Debatte um Frauenarbeit jenseits marktvermittelter Erwerbstätigkeit, wobei der Schwerpunkt auf den Jahren zwischen 1974 und 1989 liegt. Ein thesengestützter Ausblick schließt den Aufsatz ab, wobei insbesondere die Frage nach der Binnenperiodisierung der Epoche nach dem Boom und nach den Anfängen der Gegenwart von Interesse ist.

2. Glanz und Elend der Frauenerwerbstätigkeit nach dem Boom Arbeitsmarktforschung und Arbeitsmarktbeobachtung haben eine wahre Flut von Daten und Statistiken hervorgebracht, so dass man leicht der Versuchung erliegen könnte, ausschließlich aus diesem Fundus zu schöpfen, um die Geschichte der Frauenerwerbstätigkeit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Facetten zu beschreiben13. Für diesen Beitrag muss es jedoch genügen, einige zentrale Indikatoren herauszugreifen, die die Entwicklung seit den 1970er Jahren charakterisierten; die Zahlen sind dabei teils dem Datenreport des Statistischen Bundesamts, teils – vor allem aus Gründen der Vergleichbarkeit – den­ »Employment Outlooks« der Organisation for Economic Co-Operation and Development (OECD) entnommen. Beginnen wir mit dem Anteil der erwerbstätigen Frauen an allen Frauen zwischen 15 und 65 Jahren. Die Frauenerwerbsquote war bereits während des »Wirtschaftswunders« – und insbesondere in den 1960er Jahren – kontinuierlich angestiegen, bis sie 1973, am Vorabend der Öl(preis)krise 50,3 Prozent betrug. Das Ende des Booms hinterließ auch bei der Integration der weiblichen Bevölkerung in den Arbeitsmarkt deutliche Spuren, wobei die Frauenerwerbsquote jedoch nicht einbrach, sondern zunächst noch leicht wuchs, um dann bis 1983/84 zu stagnieren. Im Einzelnen errechneten die Statistiker für 1980 eine Frauenerwerbs12 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte nach 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, S. 118–137. 13 Vgl. etwa den materialreichen Überblick von Friederike Maier, Zwischen Arbeitsmarkt und Familie  – Frauenarbeit in den alten Bundesländern, in: Gisela Helwig/Hildegard Maria Nickel (Hrsg.), Frauen in Deutschland 1945–1992, Bonn 1993, S. 257–279.

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quote von 51,9 Prozent, für 1981 von 52,3 Prozent und für 1982 von 52,1 Prozent. Dann begannen die Auswirkungen der zweiten Ölkrise von 1979/80 voll auf den westdeutschen Arbeitsmarkt durchzuschlagen, wobei die Frauenerwerbsquote auf 50,6 Prozent 1984 zurückging, um zunächst langsam, dann seit 1986 rascher von 52,2 Prozent auf 57,4 Prozent 1990 zu steigen14. Die Bundesrepublik (1992: 61,3 Prozent) lag damit im europäischen Mittelfeld15, hinter Staaten wie Dänemark oder Schweden (1992: 79,0 Prozent beziehungsweise 77,7 Prozent), aber knapp vor Staaten wie Frankreich (1992: 58,8 Prozent) und weit vor Staaten wie Italien oder Spanien (1992: 46,5 beziehungsweise 42,0 Prozent). Diese Zahlen verweisen auf vier große Räume auf dem euro­ päischen Kontinent, die sich durch familiäre Leitbilder, soziale Sicherung sowie die Bildungs- und Beschäftigungspolitik voneinander unterschieden16. Die erste Zone bestand bis 1990 aus den kommunistischen Ländern mit ihrer hohen Frauenerwerbsquote, die auf den Mangel an Arbeitskräften ebenso zurückzuführen war wie auf ideologische Vorstellungen von einer sozialistischen Arbeitsgesellschaft. Die zweite Zone bestand aus den Ländern Nordeuropas, die sich durch eine nicht zuletzt sozial- und gleichstellungspolitisch induzierte hohe Frauen­ erwerbsquote auszeichneten. Die dritte Zone umfasste vor allem südeuropäische Länder; hier blieb die Frauenerwerbsquote signifikant niedriger als in anderen Teilen Europas, was vor allem daran lag, dass verheiratete Frauen und Mütter häufiger zu Hause blieben als anderswo. Die (alte)  Bundesrepublik gehörte zu einer vierten Gruppe reicherer westeuropäischer Länder, in denen »die Frauenarbeit vor der Heirat durch die Expansion der Ausbildung nur zögernd« zunahm. »Nach der Heirat stieg die Frauenarbeit aber anders als in Südeuropa an, allerdings langsamer als im Norden. Im höheren Alter schieden die Frauen wegen des Aufbaus des Wohlfahrtsstaates auch wieder früher aus.« Diese Feststellung verweist auf zwei zentrale Entwicklungen, die in die Zeit vor 1970 zurückreichen und die Dekaden nach dem Boom mit den goldenen Jahren des »Wirtschaftswunders« verbinden: die wachsende Integration verheirateter Frauen in den Arbeitsmarkt und die Bildungsreform mit ihren Auswirkungen auf die Lebensentwürfe und Lebenschancen junger Frauen. Tatsächlich liegt die »eigentlich spektakuläre Veränderung im Erwerbsverhalten der Frauen […] in dem seit Ende der fünfziger Jahre kontinuierlichen Anstieg der Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen«17. 1950 betrug die Erwerbsquote verheirateter Frauen – gemessen am Anteil der Erwerbspersonen an 100 Männern beziehungsweise Frauen  – 25,0 Prozent, also ein glattes Viertel. Bereits in den 1950er Jahren kam es zu einem bemerkenswerten Anwachsen auf 32,5 Prozent, 14 Zahlen nach Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982–1990, München 2006, S. 319, auf der Basis der Labour Force Stastistics der OECD. 15 Alle Zahlen nach: Employment Outlook. July 1995, hrsg. von der Organisation for Economic Co-Operation and Development, Paris 1995, S. 215. 16 Vgl. Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2007, S. 75 f.; die folgenden Zitate finden sich auf S. 76. 17 Maier, Arbeitsmarkt und Familie, S. 258.

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wie von den Statistikern für 1960 ermittelt wurde. Danach verlangsamte sich der Anstieg auf 35,6 Prozent bis 1970 und 40,6 Prozent bis 1980; 1985 errechnete man eine Erwerbsquote verheirateter Frauen von 42,5 Prozent und 1988 von 43,3 Prozent18. Gegen Ende des Jahrzehnts beschleunigte sich der Anstieg der Erwerbsquote verheirateter Frauen wieder, die 1990 in den westdeutschen Ländern auf 47,4 Prozent stieg19. Und auch der Anteil erwerbstätiger Mütter mit Kindern unter 15 Jahren erhöhte sich stark – bis 1971 auf 44 Prozent, Tendenz steigend20. 1990 gingen von den 25- bis unter 30jährigen Frauen, die Kinder im Alter von sechs bis unter 15 Jahren zu versorgen hatten, immerhin 65,3 Prozent einer Erwerbstätigkeit nach. Dabei folgte die Eingliederung verheirateter Frauen  – ob mit oder ohne Kinder – in den Arbeitsmarkt der Ratio von Arbeitskräftebedarf und Konjunktur. In Zeiten der Vollbeschäftigung war die Mobilisierung von verheirateten Frauen und Müttern mit minderjährigen Kindern Programm; als das kontinuierliche Wachstum 1966/67 und nach 1973 krisenhaften Zyklen von Wachstum und Rezession wich, galten insbesondere verheirate Frauen als Manövriermasse zur Entlastung des Arbeitsmarkts21. Doch die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit – ob die Frauen nun verheiratet waren oder nicht, ob sie Kinder hatten oder nicht – war nur zum Teil mit der Vorstellung kompatibel, die Frauen seien so etwas wie die Reservearmee des Kapitalismus, würden sich also in Zeiten der Krise auf ihre Alternativrolle als Hausfrau und Mutter zurückziehen. Das ge­ brochene Wirtschaftswachstum nach dem Boom, so könnte man auch sagen, korrespondierte mit einem gebrochenen Anstieg der Erwerbsbeteiligung verheirateter Frauen. Nicht wenige folgten dem überkommenen Muster, in Krisen­ zeiten Kinder, Haus und Herd zu hüten, andere ließen sich jedoch nicht beirren und drängten, allen Problemen zum Trotz, auf einen angespannten Arbeitsmarkt. Dies zeigte sich insbesondere Ende der 1980er Jahre, als sich unter den Vorzeichen erfreulicher Wachstumsraten trotz anhaltend hoher Arbeitslosigkeit hauptsächlich junge Mütter für den Weg in die Erwerbstätigkeit entschieden und so sowohl die Frauenerwerbsquote insgesamt als auch die Quote verheirateter erwerbstätiger Frauen signifikant in die Höhe trieben22. 18 Vgl. Datenreport 1989. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Statistischen Bundesamt, Bonn 1989, S. 82. 19 Vgl. Datenreport 1992. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Statistischen Bundesamt, Bonn 1992, S. 93. 20 Vgl. Monika Mattes, Ambivalente Aufbrüche. Frauen, Familie und Arbeitsmarkt zwischen Konjunktur und Krise, in: Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 215–228, hier S. 223; die folgende Angabe nach Datenreport 1992, S. 95. 21 Vgl. den Überblick bei Ute Frevert, Frauen-Geschichte. Zwischen Bürgerlicher Verbesserung und Neuer Weiblichkeit, Frankfurt a. M. 1986, S. 257 ff. 22 Vgl. Datenreport 1992, S. 463. Das Bruttoinlandsprodukt der Bundesrepublik wuchs 1988 um 3,7 und 1989 um 3,6 Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen lag jedoch 1989 trotz der hohen Wachstumsraten noch immer bei mehr als zwei Millionen; vgl. dazu die Angaben bei Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 226 und S. 237.

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Ökonomische Faktoren bestimmten Takt und Tempo der Frauenerwerbstätig­ keit also nicht allein. Dazu kam auch ein Bündel politisch-kultureller Faktoren wie die Bildungsexpansion, die schon in den 1960er Jahren einsetzte, deren Auswirkungen aber erst in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren in vollem Umfang sichtbar wurden und die die Ambitionen junger Frauen ebenso stärkten wie ihre Konkurrenzfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Da erheblich mehr Mädchen ein Gymnasium besuchten – 1980 waren sie in der Oberstufe ebenso stark vertreten wie die Jungen23  – und da sich wesentlich mehr junge Frauen nach dem Abitur für ein Studium entschieden, verlängerten sich die Ausbildungszeiten entsprechend. Diese Entwicklung schlug sich direkt in der Frauenerwerbsquote oder besser: in der altersspezifischen Frauenerwerbsquote nieder. So halbierte sich die Erwerbsquote der 15- bis unter 20jährigen Frauen zwischen 1962 und 1990 nahezu von 71,9 auf 37,3 Prozent. Dafür stieg der Anteil der 25- bis unter 45jährigen Frauen – das heißt, bei den Altersgruppen, bei denen zu betreuende Kinder zu erwarten waren – unter den Erwerbstätigen stark an. Zwar lässt sich auch hier noch eine familienspezifische Delle der Frauenerwerbsquote feststellen, aber während 1962 etwa nur 44,8 Prozent der 30- bis unter 35jährigen Frauen einem Beruf nachgingen, waren es 1990 schon 66,9 Prozent24. Festzuhalten ist daher, dass sich das Erwerbsverhalten und die Lebensplanung zahlreicher Frauen zwischen 1960 und 1990 grundlegend veränderten. Sie traten zwar aufgrund verlängerter Ausbildungszeiten später ins Berufsleben ein, doch sie setzten ihre Erwerbstätigkeit immer öfter auch nach Heirat und Mutterschaft fort oder unterbrachen sie für einen kürzeren Zeitraum als früher, um dann wieder einer bezahlten Arbeit nachzugehen. Zudem veränderte sich die Struktur der Frauenerwerbstätigkeit zwischen 1970 und 1990 erheblich, wobei diese Veränderung die Transformation der westdeutschen Wirtschaft im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts reflektierte25. Die Landwirtschaft als Arbeitgeber spielte 1989 kaum mehr eine Rolle; hier waren nur noch 4,2 Prozent aller erwerbstätigen Frauen beschäftigt, während es 1966 noch 15,1 Prozent gewesen waren. Im verarbeitenden und im Baugewerbe sank der Anteil ebenfalls beträchtlich von 33,0 Prozent auf 24,5 Prozent. Dagegen waren immer mehr Frauen im expandierenden tertiären Sektor der Wirtschaft beschäftigt – im Handel, in Verkehr und Kommunikation, bei Banken und Ver23 Vgl. Ute Frevert, Frauen auf dem Weg zur Gleichberechtigung – Hindernisse, Umleitungen, Einbahnstraßen, in: Martin Broszat (Hrsg.), Zäsuren nach 1945. Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, München 1990, S. 113–130, hier S. 125. 24 Vgl. Datenreport 1992, S. 95. Zu den langen Linien der Veränderung von weiblichem Erwerbsverhalten und weiblicher Lebensplanung vgl. Walter Müller, Frauenerwerbstätigkeit im Lebenslauf, in: ders./Angelika Willms/Johann Handl, Strukturwandel der Frauenarbeit 1880–1980, Frankfurt a. M./New York 1983, S. 55–106. 25 Vgl. Angelika Willms-Herget, Frauenarbeit. Zur Integration der Frauen in den Arbeitsmarkt, Frankfurt a. M./New York 1985, S. 31–42 und S. 205–263, sowie Petra Friedmann/ Birgit Pfau, Frauenarbeit in der Krise  – Frauenarbeit trotz Krise? Korrekturversuch an einem arbeitsmarkttheoretischen Allgemeinplatz, in: Leviathan 13 (1985), S. 155–185.

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sicherungen sowie bei den sonstigen Dienstleistungen, wo 1989 36,7 Prozent aller erwerbstätigen Frauen tätig waren, gegenüber 23,6 Prozent 1966. Überdies profitierten die Frauen vom Ausbau des öffentlichen Sektors; 1966 waren noch 5,1 Prozent der erwerbstätigen Frauen bei Gebietskörperschaften und Sozialversicherungen beschäftigt, 1989 schon 8,4 Prozent. Dabei fällt die starke Konzentration von Frauen in bestimmten Berufsgruppen und mithin die geschlechtsspezifische Segregation des Arbeitsmarkts auf26. Im Einzelnen konzentrierten sich die weiblichen Erwerbstätigen im Bürofach (1989: 68 Prozent Frauen an allen Beschäftigten), im Handel (62 Prozent), in Gesundheitsberufen (85 Prozent) und in Reinigungsberufen (84 Prozent); von den Textilverarbeitern waren 89 Prozent Frauen, von den Körperpflegern 86 Prozent und von den Hilfsarbeitern ohne Abschluss 36 Prozent. Unter den Berufen, die eine gute Ausbildung voraussetzten, die soziale Sicherheit und Prestige boten, reüssierten Frauen insbesondere im Bildungswesen; 1989 waren bereits 48 Prozent aller Lehrer Frauen. »Die Expansion bestimmter Bereiche des Dienstleistungssektors«, so könnte man auch sagen, »war mit einer wachsenden Polarisierung unter erwerbstätigen Frauen verbunden. Eine kleine, wenn auch allmählich wachsende Gruppe von Frauen drang in qualifizierte Angestelltentätigkeiten beziehungsweise prestige­ reiche Berufe […] vor.« Die Mehrzahl der Frauen im wachsenden tertiären Sektor sah sich dagegen auf wenig qualifizierte und wenig abgesicherte Arbeitsplätze verwiesen – »schlecht bezahlt und ohne Aufstiegsmöglichkeiten«27. Angesichts dieser Entwicklung warnten kritische Zeitgenossinnen schon Mitte der 1970er Jahre davor, die »befreienden Wirkungen« der Erwerbstätigkeit für die Frauen zu überschätzen. Arbeitsplätze außer Haus und eigener Verdienst machten »allein noch nicht frei«. Und weiter: »Die meisten der den Frauen gegenwärtig zugänglichen Erwerbspositionen […] tragen nicht zur Bildung eines ›emanzipatorischen Bewußtseins‹ bei. Deshalb ist es falsch, Berufstätigkeit umstandslos mit ›Emanzipation‹ und Familientätigkeit einfach mit Rückständigkeit gleichzusetzen.«28

Die Entwicklung der Frauenerwerbstätigkeit in den 1970er und den 1980er Jahren war also sichtlich ambivalent, und so verbietet es sich auch, Frauen pauschal als Gewinnerinnen oder Verliererinnen des von Chancen und Krisen gleichermaßen begleiteten Strukturwandels nach dem Boom zu bezeichnen. Welche Optionen sich Frauen boten und welchen Risiken sie ausgesetzt waren, hing insbe26 Vgl. Maier, Arbeitsmarkt und Familie, S. 263 und S. 267. 27 Monika Mattes, Krisenverliererinnen? Frauen, Arbeit und das Ende des Booms, in:­ Andersen/Bitzegeio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch, S. 127–140, hier S. 134. 28 Helge Pross, Die Wirklichkeit der Hausfrau. Die erste repräsentative Untersuchung über nichterwerbstätige Ehefrauen: Wie leben sie? Wie denken sie? Wie sehen sie sich selbst?, Reinbek 1981, S.  18 f.; vgl. auch Irmgard Weyrather, Die Frau am Fließband. Das Bild der Fabrikarbeiterin in der Sozialforschung 1870–1985, Frankfurt a. M./New York 2003, S. 363–371.

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sondere von drei Faktoren ab: von ihrer Qualifikation, von ihrer individuellen Lebenssituation und von der Branche, in der sie beschäftigt waren oder Arbeit suchten. Allerdings hatten Frauen stärker als Männer mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen – ein Gespenst, das in den Jahren des »Wirtschaftswunders« gebannt zu sein schien, nun aber wieder zu den wichtigsten Determinanten in Politik und Gesellschaft zu werden drohte. Bereits 1972 lag die Quote weiblicher Arbeits­loser mit 1,4 Prozent über derjenigen der Männer (1,0 Prozent); nach schmerzhaften Einschnitten, die der Öl(preis)schock mit sich gebracht hatte, stieg die Quote der arbeitslosen Frauen auf 5,8 Prozent im Jahr 1976, während die Quote arbeits­ loser Männer bei 3,9 Prozent verharrte. Im Allgemeinen lag der Anteil arbeits­ loser Frauen, der Mitte der 1980er Jahre auf mehr als zehn Prozent geklettert war und diese Marke erst wieder 1989 unterschritt, um rund zwei Prozent höher als die Quote arbeitsloser Männer29. Allerdings ging von den arbeitslosen oder von Arbeitslosigkeit bedrohten Frauen kein politisch-gesellschaftlicher Druck aus30, gehörten sie doch nicht zur gewerkschaftlichen Kernklientel der männlichen Facharbeiterschaft. Zudem schienen viele Frauen aufgrund der Möglichkeit, sich auf sozial akzeptierte Rollen jenseits des Arbeitsmarkts zurückzuziehen, nicht so stark unter dem Verlust des Arbeitsplatzes zu leiden wie Männer in ähnlichen Lebenslagen. Entsprechend zögerlich und wenig erfolgreich waren die Versuche, Frauenarbeitslosigkeit gezielt zu bekämpfen. Arbeitslose Frauen gehörten zum »Strandgut der Krise«, wie Helge Pross und Joachim Klewes 1980 ernüchtert feststellten31. Es war nicht zuletzt die früh festzustellende Persistenz der Frauenarbeitslosigkeit, die sich auch in der vergleichsweise hohe Quote arbeitsloser Frauen widerspiegelte, die bei der Arbeitsverwaltung dazu führte, »Frauen in verdächtig umstandsloser Weise« den »unqualifizierten Arbeitskräften, den ›Problemgruppen‹« zuzuschlagen: »Frauen und andere Behinderte«32. Als dieses bittere, weil die Einseitigkeit der Perzeption weiblicher Erwerbstätigkeit anprangernde Fazit Mitte der 1980er Jahre niedergeschrieben wurde, war bereits seit längerer Zeit eine Debatte über den Konnex von Erwerbslosigkeit, Geschlecht und Armut im Gange. Schon 1977 hatte Heiner Geißler, seines Zeichens Generalsekretär der oppositionellen CDU, mit seiner Streitschrift über die Neue Soziale Frage nicht nur die sozialliberale Koalition in Bedrängnis gebracht33, sondern auch den Finger in die Wunde des Zusammenhangs zwischen Armut, Geschlecht und Arbeit gelegt. Selbst im Bundeskanzleramt, wo man eif29 Zahlen (Anteil der Arbeitslosen an den abhängigen Erwerbspersonen) nach Maier, Arbeitsmarkt und Familie, S. 259. 30 Vgl. hierzu die engagierte zeitgenössische Analyse von Herta Däubler-Gmelin, Frauen­ arbeitslosigkeit. Oder Reserve zurück an den Herd!, Reinbek 1977, hier S. 95 ff. 31 Vgl. Helge Pross (unter Mitarbeit von Joachim Klewes), Strandgut der Krise. Arbeitslosig­ keit von Frauen in der Bundesrepublik, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und­ Gesellschaftspolitik 25 (1980), S. 123–136. 32 Friedmann/Pfau, Frauenarbeit in der Krise, S. 155. 33 Vgl. Heiner Geißler, Die Neue Soziale Frage. Analysen und Dokumente, Freiburg 1976, S. 28 f.

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rig darum bemüht war, Geißlers Argumente zu zerpflücken und den Vorwurf zurückzuweisen, Armut sei in der Bundesrepublik ein schwerwiegendes Problem gegen das die Regierung zu wenig unternehme, musste man zugeben, arm oder von Armut bedroht seien nicht zuletzt Frauen – Ältere mit unzureichender Alterssicherung, Geschiedene, Mütter mit unehelichen Kindern; besonders »anfällig« seien »alleinstehende Frauen«34. Damit waren vor allem Gruppen benannt, die nur teilweise in den Arbeitsmarkt integriert waren, über kein eigenes Einkommen verfügten und von den Arbeitsämtern nur schwer vermittelt werden konnten. Diese Vermittlungshemmnisse lagen nicht zuletzt in der persönlichen Situation der Frauen begründet, die es ihnen nur schwer möglich machte, eine Stelle anzunehmen oder ganztags zu arbeiten. Noch 1990 gaben 23,3 Prozent aller arbeitslosen Frauen in den westdeutschen Ländern an, »ausschließlich Teilzeit« arbeiten zu wollen35. Teilzeitarbeit war seit den 1960er Jahren die Antwort auf den grundlegenden »Widerspruch« zwischen der modernen »Erwerbsgesellschaft«, die »den vollen Einsatz und die volle Mobilität des Individuums fordert« und der Erziehung von Kindern oder der Pflege von Angehörigen, die sich »dieser Anforderung verweigert«. Dies schien nicht nur der Königsweg zu sein, um Arbeitskräfte zu mobilisieren und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu gewährleisten, sondern die Teilzeitarbeit verheirateter Frauen und Mütter war auch mit dem lange Zeit vorherrschenden Leitbild kompatibel, das in den Männern die Ernährer ihrer Familien sah, die Frauen aber in die häusliche Sphäre und die Rolle der Zuverdienerin verwies. So kam bereits seit den 1960er Jahren ein erheblicher Teil der berufstätigen Frauen »halbtags durch das Wirtschaftswunder«36 – mit steigender Tendenz: 1973 arbeiteten in der Bundesrepublik fast 25 Prozent aller weiblichen Erwerbstätigen nur Teilzeit, 1979 waren es 27,6 Prozent und 1983 30 Prozent; danach sank die Teilzeitquote aufgrund der schwierigen Arbeitsmarktlage bis 1986 auf 28,4 Prozent, um dann bis zum Ende des Jahrzehnts wieder auf 30,6 Prozent anzuwachsen37. Die Bundesrepublik konnte damit zwar nicht mit nordeuro­ päischen Staaten wie Dänemark, Schweden oder Norwegen (1973: 47,8 Prozent, 1990: 48,2 Prozent) mithalten, lag aber vor großen mitteleuro­päischen Nachbarn wie Frankreich (1973: 12,9 Prozent, 1990: 23,8 Prozent) und vor südeuropäischen

34 BAK , B 149/51848, Ausarbeitung »Armut in der Bundesrepublik«, undatiert (1978). 35 Datenreport 1992, S. 108; das folgende Zitat findet sich bei Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 319. 36 Christel Eckert, Halbtags durch das Wirtschaftswunder. Die Entwicklung der Teilzeitarbeit in den sechziger Jahren, in: Helgard Kramer u. a., Grenzen der Frauenlohnarbeit. Frauenstrategien in Lohn- und Hausarbeit seit der Jahrhundertwende, Frankfurt a. M./New York 1986, S. 183–249; die beste historische Darstellung für die 1950er und 1960er Jahre stammt von Christine von Oertzen, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechter­politik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948–1969, Göttingen 1999. 37 Zahlen nach Employment Outlook. July 1991, hrsg. von der Organisation for Economic CoOperation and Development, Paris 1991, S. 46, und Employment Outlook, July 1995, S. 210.

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EG -Partnern wie Italien (1973: 14,0 Prozent, 1989: 10,9 Prozent), die traditionell

eine niedrige Frauenerwerbsquote aufwiesen. Die Teilzeitarbeit weiblicher Erwerbstätiger war stets eine abhängige Variable dreier Faktoren: der ökonomischen Lage, der politischen Konstellation und der herrschenden gesellschaftlichen Leitbilder. Was die ökonomische Lage angeht, so lassen sich in der Bundesrepublik drei Phasen ausmachen: die goldenen Jahre von Wachstum und Vollbeschäftigung bis Mitte der 1970er Jahre, die krisenhaften Konjunkturzyklen der 1980er und 1990er Jahre mit der Rückkehr der Massenarbeitslosigkeit und die Phase einer robusten Konjunktur trotz schwieriger weltwirtschaftlicher Bedingungen nach 2005. Für die Jahre nach dem Boom war zunächst entscheidend, dass nicht nur der »kurze Traum immerwährender Prosperität« zerplatzte38, sondern auch das optimistische Paradigma von Fortschritt und Emanzipation zerbrach. War weibliche Erwerbsarbeit vor den beiden Öl(preis)schocks der 1970er Jahre ein gefragtes Gut, das es mit geschlechterspezifischen Rollenmustern in Einklang zu bringen galt, so setzte die Massenarbeitslosigkeit eine sich verstärkende Spirale in Gang, die von unterschiedlichen Ausgangspunkten zu einer Verfestigung weiblicher Erwerbsarbeit in Teilzeit führte. Zum einen zielte die Familien- und Sozialpolitik der christlich-liberalen Koalition seit Oktober 1982 nicht zuletzt darauf, die traditionelle weibliche Biographie in Haushalt und Familie jenseits der Lohnarbeit wieder attraktiver erscheinen zu lassen, um den Arbeitsmarkt zu entlasten39. Zum anderen erschien die Vorstellung reizvoll – und hier trafen sich Regierung, sozialdemokratische Opposition und Gewerkschaften, auch wenn sie im Einzelnen stark unterschiedliche Akzente setzten –, die »Krise der Arbeitsgesellschaft«40 durch eine Umverteilung von Arbeitszeit zu beseitigen – etwa durch eine Verkürzung der Lebens- oder Wochenarbeitszeit, durch neue Arbeitszeitmodelle im Zeichen der Flexibilisierung oder durch die Teilung von Arbeitsplätzen41. Unter dem Einfluss des Neoliberalismus ging dieses Kalkül freilich nur teilweise auf oder es hatte nichtintendierte Folgen. Zwar schuf die Politik beispielsweise mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985, das »als Kernelement ›neo-liberaler‹ Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik galt«42, 38 Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./ New York 1984. 39 Vgl. den Überblick bei Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 334–349. 40 Dieses geflügelte Wort geht zurück auf: Joachim Mattes (Hrsg.), Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21.  Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, Frankfurt a. M./New York 1983. 41 Vgl. Markus Promberger, Das Beschäftigungsmotiv in der Arbeitszeitpolitik, in: Thomas Raithel/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundes­ republik Deutschland im europäischen Kontext 1973 bis 1989, München 2009, S. 161–173. 42 Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 260. Zum Beschäftigungsförderungsgesetz vgl. Reinhard Richardi, Arbeitsverfassung und Arbeitsrecht, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd.  7: Bundesrepublik Deutschland 1982–1989, hrsg. von­ Manfred G. Schmidt, Baden-Baden 2005, S. 160–195, hier S. 168 ff.

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neue Rahmenbedingungen für befristete Beschäftigungsverhältnisse oder Teilzeitarbeit, doch anstatt der simplen Arithmetik »aus eins mach zwei« kam es vielfach zu einer Reorganisation von Arbeit im Zeichen der Leistungsverdichtung, die insbesondere Frauen traf. Tatsächlich blieb Teilzeitarbeit in der Bundesrepublik eine dominant weibliche Form abhängiger Erwerbsarbeit. 1973 waren 89,0 Prozent aller Erwerbstätigen in Teilzeit Frauen, 1979 91,6 Prozent, 1983 91,9 Prozent und gegen Ende des Jahrzehnts noch immer 90,5 Prozent43. Hinter diesen Zahlen verbirgt sich die Persistenz des Ernährer-Hausfrau-Zuverdienerin-Modells als Organisations­form von Familie und weiblicher Erwerbsarbeit, wie es sich – politisch unterstützt – Ende der 1950er Jahre herausgebildet und gesellschaftliche Akzeptanz gefunden hatte. Damit ließen sich gleichsam zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Zum einen wurde mit dem Segment der verheirateten Mütter ein Teil der Erwerbsbevölkerung für den Arbeitsmarkt erschlossen, der bisher nur in engen Grenzen in die Arbeitsgesellschaft integriert war, zum anderen ließen sich geschlechterspezifische Rollenmuster aufrechterhalten, die den Männern die Funktion des Haupternährers und Haushaltsvorstands, den Frauen aber ihren herausgehobenen Platz in Haushalt und Kindererziehung zuwiesen44. Erste Risse zeigte dieses Modell, das im Übrigen auch vor dem Hintergrund der deutschen Teilung und der Systemkonkurrenz zu sozialistisch organisierten Gesellschaften gesehen werden muss45, in den 1970er Jahren – Risse, die sich in der Folgezeit rasch verbreiterten. Teilzeitarbeit war für viele Frauen das wichtigste Bindeglied zwischen der traditionellen Kernfamilie und der modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft, wie sie sich in der Bundesrepublik flächendeckend bis Mitte der 1970er Jahre durchgesetzt hatte. Ein substantieller Teil der verheirateten Frauen blieb allerdings zu Hause, zumal dann, wenn kleine Kinder zu versorgen waren. Dass diese Frauen ihre Erwerbstätigkeit unterbrachen oder ganz aus dem Erwerbsleben ausschieden, lag ebenso an Tradition und Comment wie an der Struktur der Betreuungseinrichtungen, die für Kleinkinder bis weit in die 1990er Jahre nur sehr eingeschränkt zur Verfügung standen und auch ältere Kinder in Kindergarten und Schule nur halbtags aufnahmen46. Es liegt auf der Hand, dass Frauen, die Teilzeit arbeiteten, rasch in die Teilzeitfalle gerieten. Dabei kam es weniger auf den Verdienst an, der in der Regel unter 43 Zahlen nach Employment Outlook, July 1991, S. 46, und Employment Outlook, July 1995, S. 210. 44 Vgl. Klaus-Jörg Ruhl, Die verordnete Unterordnung. Berufstätige Frauen zwischen Wirtschaftswachstum und konservativer Ideologie in der Nachkriegszeit (1945–1963), München 1994. 45 Vgl. Michael Schwartz, Frauenpolitik im doppelten Deutschland. Die Bundesrepublik und die DDR in den 1970er Jahren, in: Christine Hikel/Nicole Kramer/Elisabeth Zellmer (Hrsg.), Lieschen Müller wird politisch. Geschlecht, Staat und Partizipation im 20. Jahrhundert, München 2009, S. 27–40. 46 Vgl. Christiane Kuller, Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949–1975, München 2004, S. 285–325.

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dem der Männer mit ihren Ernährerlöhnen lag, sondern vielmehr auf die Tücken des (west)deutschen Sozialversicherungsstaats. In einem System, in dem vor allem Beitragsdauer und Beitragshöhe zählten – Kennziffern, die sich in der Höhe von Anwartschaften und Sozialleistungen niederschlugen –, hatten Frauen mit ihren vielfach gebrochenen, aus familiären Gründen perforierten Berufsbiographien von vorneherein die schlechteren Karten47. Die geschlechterpolitischen Blindstellen des bundesdeutschen Sozialstaats wurden erst nach und nach erkannt – und nur unvollkommen ausgeglichen, da die vollständige Integration in das System der sozialen Sicherung bis heute mit der möglichst weitgehenden – und erfolgreichen! – Integration in den Arbeitsmarkt einhergeht. Dass Frauen das »Fußvolk der Wirtschaft« seien, wie es schon 1960 die Frauenreferentin in der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung formulierte48, galt mit Abstrichen auch noch bis weit in die 1990er Jahre. Teilzeitarbeit war daher ein ausgesprochen zweischneidiges Schwert, das zwar die Arbeitsmarktintegration von Frauen förderte, aber überkommene Rollenmuster privilegierte, soziale Ungleichheiten festschrieb und Armutsprobleme auf dem Rangierbahnhof des Sozialstaats verschob, ohne sie zu lösen. Zudem war Teilzeitarbeit ein Element der Deregulierung von Arbeitszeit und der Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, das männliche wie weibliche Standardlebensläufe erodieren ließ, die sich zeitgleich mit der industriellen Moderne durchgesetzt hatten.

3. Falsche Freunde, falsche Feinde. Frauenarbeit zwischen feministischer Emanzipation, konservativer Resistenz und neoliberaler Marktwirtschaft »Ist die Wirtschaft in der Krise«, resümierten Petra Friedmann und Birgit Pfau in der Zeitschrift »Leviathan« 1985, »hat das Thema Frauenerwerbstätigkeit Hochkonjunktur.«49 Tatsächlich wuchs seit Mitte der 1970er Jahre, als das Ende des »Wirtschaftswunders« offensichtlich wurde und sich die Massenarbeits­ losigkeit zu verfestigen begann, die ja auch Frauenarbeitslosigkeit war, das Interesse an Frauenarbeit in ihren verschiedenen Facetten. Dies zeigen öffentliche Debatten und engagierte Streitschriften ebenso wie Publikation mit wissenschaftlichem Anspruch50. Doch es ging dabei nicht nur um Frauenarbeit als Er47 Vgl. Christiane Kuller, Soziale Sicherung von Frauen. Ein ungelöstes Strukturproblem im männlichen Wohlfahrtsstaat. Die Bundesrepublik im internationalen Vergleich, in: AfS 47 (2007), S. 199–236. 48 Zit. nach: Mattes, Ambivalente Aufbrüche, S. 217. 49 Friedmann/Pfau, Frauenarbeit in der Krise, S.  155; das folgende Zitat findet sich bei­ Wirsching, Abschied vom Provisorium, S. 241. 50 Vgl. etwa Frauen als bezahlte und unbezahlte Arbeitskräfte. Beiträge zur 2.  Berliner Sommer­universität für Frauen. Oktober 1977, hrsg. von der Dokumentationsgruppe der

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werbsarbeit, im Gegenteil. Zugleich wurde »die Frage nach nichtmateriellen Prozessen« thematisiert, »die den ökonomischen und sozialmoralischen Wert der beruflichen Erwerbsarbeit grundsätzlich relativierten oder gar in Frage stellten«. Damit standen aber auch neue Themen auf der Agenda – Themen wie die geschlechterspezifische Arbeitsteilung, der richtige Weg zu Gleichberechtigung, Selbstverwirklichung und Emanzipation oder Hausarbeit als zentraler, aber weithin unsichtbarer Faktor sozialer Reproduktion in der modernen Industriegesellschaft kapitalistischer Provenienz. Frauenarbeit und Frauenerwerbstätigkeit waren in der westdeutschen Politik und Öffentlichkeit keine neuen Themen; schon seit den späten 1950er Jahren hatte man über die wachsende Frauenerwerbstätigkeit und über deren Auswirkungen auf Kinder, Familie und Gesellschaft diskutiert. Doch in den 1970er Jahren änderten sich die Vorzeichen – und das lag nicht nur an den ökonomischen Problemen, die der Strukturwandel nach dem Boom mit sich brachte; neue Akteure setzten neue Akzente, neue Multiplikatoren eröffneten neue Arenen des Diskurses, und neue Rezeptoren im politischen System ließen neue Lösungsvorschläge für bekannte Probleme zu. Der wichtigste neue Akteur, ebenso bunt wie vielgestaltig, war die Neue Frauenbewegung, die sich im Zuge des studentischen Protests und der Außerparlamentarischen Opposition nach 1968 formiert hatte. Die Neue Frauenbewegung war nicht leicht auf einen Nenner zu bringen; libertäre sozialistische Frauengruppen und radikale antipatriarchalische Feministinnen trafen sich mit Vertreterinnen eines geschlechterdifferenziellen Ansatzes, mit feministischen Müttern und mit konservativen Vertreterinnen von Frauenrechten51. Mit Zeitschriften wie »Emma« und »Courage« oder Verlagen wie ­»Tricont« und »Frauenoffensive« sowie einem Netz von Frauenbuchläden schuf sich die Neue Frauenbewegung ihre Öffentlichkeit zumindest teilweise selbst, während sich sowohl in der SPD – zumeist repräsentiert durch die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF) – als auch in den alternativen politischen Gruppierungen, die sich schließlich in den grün-alternativen Listen zusammenfinden sollten, institutionelle Schnittstellen fanden, über die sich Forderungen der Neuen Frauenbewegung in die Zentren politischer Entscheidungen transportieren ließen. Insbesondere die neue Partei der Grünen erwies sich für

Sommeruniversität, Berlin 1978; Ilona Ostner, Beruf und Hausarbeit. Die Arbeit der Frau in unserer Gesellschaft, Frankfurt a. M./New York 1978; Silvia Kontos/Karin Walser, … weil nur zählt, was Geld einbringt. Probleme der Hausfrauenarbeit, Gelnhausen u.a. 1979; Gertraude Kittler, Hausarbeit. Zur Geschichte einer »Natur-Ressource«, München 1980; Anke Wolf-Graal, Frauenarbeit im Abseits. Frauenbewegung und weibliches Arbeits­vermögen, München 1981. 51 Vgl. Ilse Lenz, Die unendliche Geschichte? Zur Entwicklung und den Transformationen der Neuen Frauenbewegung in Deutschland, in: dies. (Hrsg.), Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, Wiesbaden 2008, S. 21–44; das folgende Zitat findet sich in der Einleitung zu Kapitel II /4: Die neue Frauenbewegung macht sich an die Arbeit, S. 147.

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die Neue Frauenbewegung als Glücksfall, denn sie war nicht nur fast ebenso heterogen52, sondern sie teilte auch die Kritik an den zerstörerischen Auswüchsen der modernen Industriegesellschaft und begab sich auf die Suche nach Lebensqualität und individueller Selbstverwirklichung jenseits vorgefertigter biographischer Schablonen. »Arbeit, Sexualität und Beziehungen lauteten die drei Schlüsselthemen der Neuen Frauenbewegung nach 1970.«53 Diese drei Themen flossen zusammen in der internationalen Kampagne »Lohn für Hausarbeit«, die Anfang der 1970er Jahre in Großbritannien und Italien entstanden war und sich von dort aus in andere europäische Länder und nach Übersee ausbreitete54. Dass die Idee, vom Staat Lohn für Hausarbeit zu fordern, in Großbritannien und Italien auf besonders fruchtbaren Boden fiel, war kein Zufall, spitzten sich doch in beiden Ländern soziale Konflikte so sehr zu, dass sie durchaus Züge von Klassenkämpfen trugen, in denen politisch engagierte, marxistisch inspirierte Frauen ihren Platz suchten. Die Geschichte dieser Kampagne – insbesondere die Geschichte ihrer Rezeption und ihrer Auswirkungen jenseits der Neuen Frauenbewegung – muss erst noch geschrieben werden. In unserem Zusammenhang genügt der Hinweis, dass sich westdeutsche Frauengruppen diese Forderung Mitte der 1970er Jahre über die Rezeption der Schriften von aktivistischen Sozialwissenschaftlerinnen wie Mariarosa della Costa, Silvia Federici und Selma James zu eigen machten55. Ein Aufruf des Londoner »Komitees Lohn für Hausarbeit« vom Mai 1974, der als Initialzündung der Kampagne gelten muss, wurde 1977 erstmals von der Berliner Frauenzeitung »Courage« in deutscher Übersetzung abgedruckt. In diesem Manifest mit der Überschrift »An alle Regierungen« hieß es: »Die Frauen in der Welt geben bekannt: Wir putzen eure Häuser und Fabriken. Wir ziehen die nächste Generation Arbeiter für euch auf. Wir versorgen unsere Männer, damit sie imstande sind, für euch zu arbeiten. Was immer wir sonst noch tun mögen  – wir sind die Hausfrauen der Welt. Als Dank für unsere Arbeit habt ihr bisher immer nur von uns verlangt, noch mehr zu arbeiten. Wir geben hiermit bekannt, 52 Vgl. Silke Mende, Eine Partei nach dem Boom. Die Grünen als Spiegel und Motor ideengeschichtlicher Wandlungsprozesse seit den 1970er Jahren, in: Morten Reitmayer/­Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 23–36. 53 Vgl. Lenz (Hrsg.), Neue Frauenbewegung in Deutschland, S. 147 (Einleitung zum Kapitel: Die neue Frauenbewegung macht sich an die Arbeit). 54 Zur Geschichte der Kampagne vgl. Wolf-Graaf, Frauenarbeit im Abseits, S. 176–246, und Lenz (Hrsg.), Neue Frauenbewegung in Deutschland, S. 147–152. 55 Schlüsseltexte in deutscher Übersetzung fanden sich Mitte der 1970er Jahre in: Frauen in der Offensive, und Biermann, Herz der Familie; speziell zur Rezeption der Entwicklung in Italien vgl. Eleonore Eckermann, Die Forderung Lohn für Hausarbeit im Kontext der italienischen Frauenbewegung, in: Beiträge zur 2. Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977, S. 232–240; nicht ohne Einfluss blieb auch das auf Initiative des Berliner Frauenprojekts Hausarbeit übersetzte Buch von Ann Oakley, Soziologie der Hausarbeit, Frankfurt a. M. 1978.

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daß wir gedenken, für unsere Arbeit bezahlt zu werden. Wir wollen Lohn für jede schmutzige Toilette, für jede schmerzhafte Geburt, für jede freche Anmacherei und Vergewaltigung, für jede Tasse Kaffee und für jedes Lächeln. Und wenn wir nicht bekommen, was wir wollen, dann werden wir einfach aufhören zu arbeiten. […] Wir haben in der Isolation des Hauses gearbeitet, wenn ihr uns da brauchtet, und wir haben einen zweiten Job angenommen, wenn ihr uns da brauchtet. Jetzt wollen wir es sein, die entscheiden, wann wir arbeiten, wie wir arbeiten und für wen wir arbeiten. Wir wollen sogar entscheiden, daß wir überhaupt nicht arbeiten – wie ihr. […] Jetzt wollen wir den Reichtum zurück, den wir geschaffen haben. Wir wollen ihn in bar, rückwirkend und sofort und zwar vollständig. Wir fordern vom Staat Lohn für Hausarbeit für alle Frauen.«56

Hinter der Forderung nach Lohn für Hausarbeit stand nicht zuletzt das Ziel, der heterogenen Frauenbewegung eine integrative Idee und ein gemeinsames Ziel zu geben. Lastete nicht der Zwang zur Hausarbeit in der einen oder anderen Form auf allen Frauen? Und wurden sie nicht schon seit ihrer Kindheit darauf vor­ bereitet, einmal in die Rolle der Hausfrau und Mutter zu schlüpfen? Da die Versorgung von Heim und Herd, Mann und Kindern aber unentgeltlich geschah, davon waren die Initiatorinnen der Kampagne überzeugt, bliebe die Hausarbeit in einem weiten Sinne unsichtbar und ohne gesellschaftliche Anerkennung, ja sie gelte noch nicht einmal als (produktive) Arbeit. In einer Gesellschaft, in der Geld gleichbedeutend mit Macht sei, entrechte die unbezahlte Hausarbeit aber die Frauen, denn wer ohne Lohn sei, habe auch keine Möglichkeit, die eigenen Interessen durchzusetzen. Zudem schließe die unbezahlte Hausarbeit zahllose Frauen von Lohn- und Arbeitskämpfen und damit vom aktiven Kampf gegen die kapitalistische Ordnung aus. »Lohn für Hausarbeit« hatte somit eine doppelt systemsprengende Stoßrichtung: gegen den Kapitalismus und gegen das vielfach mit ihm verwobene Patriarchat57. Zugleich übten die Vorkämpferinnen der Kampagne heftige Kritik an zwei zentralen Positionen, die sowohl von sozialistischen Frauenrechtlerinnen als auch von existenzialistischen Feministinnen vertreten wurden: die Forderung nach der Erwerbstätigkeit möglichst vieler Frauen als Königsweg zu Gleich­ berechtigung und Emanzipation sowie – damit verbunden – die Vergesellschaftung von Haus-, Familien- und Erziehungsarbeit. Gisela Bock, eine der reflektiertesten Stimmen in der Kontroverse um die Bedeutung von Frauen- und Hausarbeit, bestritt den notwendigen Zusammenhang von Erwerbsarbeit und Freiheit:

56 Die Übersetzung des Manifests ist Teil des Artikels von Pieke Biermann/Gisela Bock, Auch in Deutschland gibt es jetzt eine Kampagne um Lohn für Hausarbeit vom Staat für alle Frauen, in: Courage 2 (1977) H. 3, S. 16–19, hier S. 17; Hervorhebungen im Original. 57 Vgl. Wolf-Graaf, Frauenarbeit im Abseits, S. 179 ff., und Lenz (Hrsg.), Neue Frauenbewegung in Deutschland, S. 148.

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»Die traditionelle Linke und die ›fortschrittlichen Kräfte‹ sehen die Befreiungschance der Frauen in ihrer Eingliederung in die männliche Welt der Lohnarbeit und in der Errichtung von Kindergärten (als ob das Hauptanliegen der Frauen sei, die Kinder tagsüber abstellen zu können, um arbeiten zu gehen, womöglich als Erzieherin in eben diesen Kindergärten). […] Solange ›gleicher Lohn für gleiche Arbeit‹ nicht auch ›Lohn für Hausarbeit‹ heißt, bleiben Frauen machtlos […].«58

Die Berliner Gruppe »Lohn für Hausarbeit« argumentierte ähnlich und lehnte es ab, der zermürbenden Doppelbelastung in Familie und Beruf durch »Einrichtungen wie Krippen, Ganztagsschulen, Großküchen usw.« zu begegnen. »Was sollen uns solche Einrichtungen schon bringen, solange wir Frauen nicht mächtig genug sind, zu verhindern, daß wir die seelischen Krüppel und die kaputten Mägen, die aus solchen Einrichtungen bisher hervorgegangen sind, wieder unbezahlt aufpäppeln müssen?«59 Die Unterstützerinnen der Kampagne machten unmissverständlich klar, dass Lohn für Hausarbeit nicht als »Hausfrauenlohn« zur Zementierung bestehender Verhältnisse gedacht war, sondern im Gegenteil deutlich machen sollte, »daß Hausarbeit und Frausein nicht länger dasselbe sein darf«. In diesem Sinne hieß es in einer Resolution, die im Oktober 1977 in Berlin beschlossen wurde, »der Mangel an Geld« mache »die Frauen von Männern abhängig«. Da alle Frauen­ arbeiteten, ob im Haus oder außer Haus, hätten auch alle »das Recht auf Lohn für all diese Arbeit«. Weiter hieß es: »Wir fordern von den Regierungen das Geld, das uns zusteht und das wir brauchen, um unabhängig zu sein, um unsere Arbeit zu verringern und selbst zu organisieren, ohne Armut oder gesellschaftliche Isolierung in Kauf nehmen zu müssen. Die Kam­ pagne für Lohn für Hausarbeit will alle isolierten Kämpfe von Frauen in Verbindung setzen: z. B. Kämpfe um Sozialhilfe, um Altersversicherung der Frauen, von Lesben, den Kampf um Kindergeld, den der Prostituierten, Kämpfe am außerhäuslichen Arbeitsplatz. Diese Kampagne kann nur international geführt werden […].«60

Die bewusst umfassend gewählte Perspektive reichte freilich nicht aus, um die Kritikerinnen in den eigenen Reihen zu überzeugen. Keine geringere als Alice Schwarzer warnte beispielsweise in ihrer Zeitschrift »Emma« mit scharfen Worten davor, Lohn für Hausarbeit sei nichts anderes als ein trojanisches Pferd »frauenfeindlich[r] Politiker« und »würde Frauen nicht befreien, sondern sie zusätzlich versklaven«61. Noch härter urteilte der Sozialistische Frauenbund West-Berlin: 58 Gisela Bock, Lohn für Hausarbeit. Frauenkämpfe und feministische Strategie, in: Beiträge zur 2. Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977, S. 206–214, hier S. 212. 59 Lohn für Hausarbeit. Offener Brief an Alice, von der Gruppe »Lohn für Hausarbeit«,­ Berlin, in: Courage 2 (1977) H. 8, S. 38 f., hier S. 39; das folgende Zitat findet sich ebenda. 60 Lohn für Hausarbeit, in: Beiträge zur 2.  Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977, S. 168 f., hier S. 168. 61 Alice Schwarzer, Hausfrauenlohn?, in: Emma 1 (1977) H. 5, S. 3.

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»Statt Hausarbeit so weit wie möglich abzuschaffen« werde sie »als Frauenarbeit manifestiert. Der Fortschritt wird zur Reaktion!« Bezahlte Hausfrauen würden »isoliert von der übrigen Gesellschaft, ausschließlich damit beschäftigt, die Ihren gut zu versorgen und das Heim zu verschönern, […] jede Veränderung ablehnen, die ihre Existenz in Frage stellt oder in irgendeiner Weise bedroht. Haushalt als Lebensaufgabe ist wörtlich zu verstehen, denn ausgeschlossen von der gesellschaftlichen Produktion, werden die Frauen in ihrem Menschsein reduziert: Sie sind nicht beteiligt an der Erschließung des gesellschaftlichen Fortschrittes und an der Mehrung des gesellschaftlichen Reichtums.«62

Die Forderung nach Lohn für Hausarbeit erwies sich damit weniger als integratives Element, sondern als Spaltpilz, der die alten Gräben zwischen den verschiedenen Fraktionen der Frauenbewegung vertiefte und neue schuf63. Immerhin gelang es, Frauen anzusprechen, die bisher kaum zu erreichen waren und die mit den klassischen Themen der Frauenbewegung eher wenig anfangen konnten, darunter auch Hausfrauen und Mütter aus traditionellen Familien der bürgerlichen Mittelschichten, für die sich nun die Möglichkeit ergab, ihre Perspektive in die Diskussion einzubringen, ihre Probleme anzusprechen und ihre Anliegen zu Gehör zu bringen. Bisher waren bürgerliche, nichterwerbstätige Nur-Hausfrauen insbesondere bei linken Frauenrechtlerinnen ein rotes Tuch; nicht wenige hatten die »Abschaffung der Nur-Hausfrau« auf ihre Fahnen geschrieben64. Nun ergaben sich ungeahnte Berührungspunkte zwischen den Strömungen der Neuen Frauenbewegung, die sich der Kampagne »Lohn für Hausarbeit« angeschlossen hatten, und Organisationen wie der im März 1979 gegründeten Deutschen Hausfrauen-Gewerkschaft oder dem im selben Jahr in München entstanden Verein »Mutter als Beruf«65. Diese Berührungspunkte ergaben sich insbesondere aus der Schnittmenge von alternativem und wertkonservativem Gedankengut, wobei die gemeinsame Kritik am Lebensstil der industriellen Moderne und an den negativen Folgen von Fortschritt und Wachstum eine wichtige Rolle spielte. In diesem Zusammenhang zeigten sich Teile der Neuen Frauenbewegung offen für weibliche Lebensentwürfe jenseits der Erwerbsarbeit, sie legten eine bislang nicht gekannte Wertschätzung der Arbeit für Ihre Familien an den Tag, und 62 Sozialistischer Frauenbund West-Berlin, Wir wollen keinen Lohn für Hausarbeit, in: Beiträge zur 2. Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977, S. 129–140, hier S. 134 f. 63 So verwahrten sich Gunhild Feigenwinter und Ursula Schuhbauer in einem offenen Brief an Alice Schwarzer vom 8.5.1977 (IfZ-Archiv, ED 899/9) gegen die Überzeugung, »andere und nicht die eigene Mutter seien befähigter und kompetenter, ihre Kinder zu erziehen«. Es sei »eine Schande, daß Frauen mit Kindern gezwungen sind, einer außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nachzugehen, um sich und ihre Kinder zu ernähren«, und es sei »blanker Zynismus«, das »als Fortschritt deklarieren zu wollen«. 64 IfZ-Archiv, ED 899/11, Materialsammlung »Folgen der Hausfrauenehe«, München, April 1983. 65 Material dazu findet sich im Nachlass von Hannelore Mabry, einer der umtriebigsten Vertreterinnen der Neuen Frauenbewegung in München; IfZ-Archiv, ED 900/200.

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sie entdeckten die positiven Aspekte von Weiblichkeit und Mutterschaft. Dass »die Leistung der Mutterschaft […] gesellschaftlich anerkannt werden« müsse66, war nun öfter auch aus feministischen Kreisen zu hören, ebenso die Kritik an der Vergesellschaftung von Erziehungsarbeit: »Das Interesse der Frauen an Kindergärten bzw. gar Betriebskindergärten« sei »vermittelt über den Zwang, eine meist ungewollte außerhäusliche Arbeit zu verrichten«67, wie etwa Gisela Erler schon 1974 schrieb. Solche Stimmen mehrten sich Ende der 1970er Jahre. Anke WolfGraaf konnte in ihrer Dissertation feststellen, dass in der Frauenbewegung »im Zusammenhang mit der Plünderung des natürlichen Reichtums des Planeten, der Zerstörung ökologischer Gleichgewichte nicht mehr ausschließlich die Hoffnung auf eine Abschaffung der Arbeit durch Technik gesetzt wird. Immer mehr Frauen aus der Frauenbewegung gehen davon aus, daß die Bedingungen der Produktion und Reproduktion unmittelbaren Lebens, d. h. letztlich die Schaffung des individuellen Menschen nicht durch Technologien und abstrakte Vergesellschaftungsmodelle ersetzt werden können und sollen.«68

Solche Überlegungen, verbunden mit der Abkehr von alten Visionen ließen Positionen diskussionswürdig erscheinen, wie sie konservative Aktivistinnen vertraten: Anerkennung der Hausfrauentätigkeit als Beruf, eigene Krankenversicherung und angemessene Altersvorsorge für Hausfrauen, materielle Entschädigung für Kindererziehung bei Verzicht auf Erwerbsarbeit oder Verbesserung der sozialen Infrastruktur für Kinder und Familien. Die Gründung von Organisationen wie der Deutschen Hausfrauengewerkschaft um Gerhild Heuer69 oder des Münchner Vereins »Mutter als Beruf« um Helga Imm70 sollte diesen Forderungen Nachdruck verleihen, die zwar über eine gewisse soziale Basis verfügten, aber zu wenig Durchschlagskraft im politischen Tagesgeschäft entwickeln konnten. Die damit verbundenen Erwartungen, mehr Einfluss auf die Familien- und Sozialpolitik im Bund und in den Ländern zu gewinnen, erfüllten sich zwar nicht wirklich, dafür wurden diese Initiativen aber von bestimmten Gruppierungen der Neuen Frauenbewegung aufmerksam verfolgt, die ansonsten einer anderen Agenda verpflichtet und eher dem alternativen Milieu zuzurechnen waren71.

66 Zur Veranstaltung 23 – Beruf: Frau, in: Beiträge zur 2. Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977, S. 141–150, hier S. 147. 67 Erler, Vorbemerkung zu: Frauen in der Offensive, S. 10 f. 68 Wolf-Graaf, Frauenarbeit im Abseits, S. 259 f. 69 IfZ-Archiv, ED 900/200, Faltblatt: »Betr.: Gründung der 1.  Deutschen Hausfrauen-Gewerkschaft e. V. auf Bundesebene«, undatiert (1979). 70 IfZ-Archiv, ED 900/200, Rückblick auf die bisherige Tätigkeit und die Ziele des Vereins »Mutter als Beruf«, März 1980. 71 IfZ-Archiv, ED 900/200, Gerhild Heuer an Hannelore Mabry vom 15.1.1979; die »Kurz­ information über den Verein ›Mutter als Beruf‹« vom August 1979 ist abgedruckt in: Weder Brot noch Rosen. Hausarbeit, Arbeitsmarkt, Familienpolitik, hrsg. von der Gruppe Frauenarbeit im FFBIZ , Berlin 1979, S. 107 f.

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Die Arbeit an pragmatischen Lösungen für konkrete Probleme bildete eine Brücke, über die neue Feministinnen und wertkonservative Reformerinnen gleichermaßen gehen konnten. Das Frauenforum München72 etwa hatte sich die »Propagierung der gesellschaftlichen Bedeutung und Aufgabe der Mutterrolle« auf die Fahnen geschrieben und erhob die Forderung nach der »gesetzlichen Absicherung der Mutterfunktion in wirtschaftlicher [und] steuerlicher Hinsicht«. Insbesondere die »Arbeit an Kindern« sei »gesellschaftlich notwendige Arbeit«, die bezahlt werden und Ansprüche aus der Sozialversicherung generieren müsse73. Unmittelbar davon inspiriert war der Beitrag »Lohn für die Arbeit an den Kindern« im Rahmen der »3. Sommeruniversität für Frauen«74. Man müsse das Bewusstsein dafür schärfen, dass »die Arbeit als Mutter für die Gesellschaft einen zentralen Stellenwert« habe und dass »die Arbeit, die mit Kindern verbunden ist, so wie jede Arbeit bewertet, entlohnt und mit Sozialleistungen und Rentenansprüchen versehen werden soll«. Giftige Angriffe, solche Initiativen liefen auf nichts anderes hinaus, als auf eine »Bestechung« durch den Staat75, konterte etwa die Berliner Gruppe »Lohn für Hausarbeit«, selbst geringe Beträge, mit denen der Staat die Arbeit von Müttern und Hausfrauen honorieren würde, könnten möglicherweise den Unterschied ausmachen zwischen Abhängigkeit und Autonomie76. Die Redakteurinnen von »Courage« argumentierten anders. Zwar sahen sie in guter linker Tradition den Staat und insbesondere seine Frauen- und Familienpolitik skeptisch, doch sie konnten sich zumindest damit anfreunden, »Staatsgelder für Frauenprojekte« anzunehmen. Bei Licht besehen, seien diese Fördermittel für Frauenhäuser, Frauengesundheitszentren oder autonome Kinderbetreuungs­ einrichtungen nichts anderes als Lohn für Hausarbeit im Kleinen – damit also mehr als gerechtfertigt – und ermöglichten es der Frauenbewegung, neue institutionelle Freiräume in eigener Regie zu schaffen77. Diese Stimmen verweisen ebenso wie die immer wieder geäußerte Kritik an einer zu weitgehenden Vergesellschaftung der Kinderbetreuung auf einen gewissen Klimawechsel in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, der sich nicht nur in den Debatten um Frauenarbeit zeigte, wie sie zwischen den verschiedenen Fraktionen der Frauenbewegung geführt wurde, sondern auch in der Frauen- und Fa-

72 Vgl. dazu Elisabeth Zellmer, Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München, München 2011, S. 132–140. 73 IfZ-Archiv, ED 899/9, Informationsmaterial des Frauenforums e. V., undatiert (1978). 74 Dorothee Lieres, Warum wir Lohn für die Arbeit an den Kindern fordern, in: Frauen und Mütter. Beiträge zur 3. Sommeruniversität von und für Frauen 1978, Berlin 1979, S. 75–95, hier S. 92. 75 Roswitha Burgard, Lohn für Hausarbeit, in: Beiträge zur 2. Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977, S. 218–224, hier S. 219. 76 Vgl. Lohn für Hausarbeit. Offener Brief an Alice, S. 39. 77 Vgl. Sibylle Plogstedt, Staatsgelder für Frauenprojekte. Die kleine Lohn-für HausarbeitLösung, in: Courage 6 (1981) H. 2, S. 20–23.

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milienpolitik von Bund und Ländern78. Der zweite Familienbericht, den die sozialliberale Bundesregierung im April 1975 vorgelegte, hatte noch »die Defizite der ›Kleinfamilie‹ bei der Erfüllung ihrer Sozialistationsaufgaben« betont79 und Kindererziehung als eine »gesamtgesellschaftliche Aufgabe besonderer Art und Bedeutung« bezeichnet, die »unsere Gesellschaft Familien und außerfamilialen pädagogischen Einrichtungen« übertragen habe. Dass damit Erziehung und Familie primär von der Gesellschaft her gedacht wurde, sorgte ebenso für Diskussionsbedarf wie die Gleichsetzung von Familie und Bildungs- beziehungsweise Betreuungseinrichtungen. Der dritte Familienbericht setzte vier Jahre später ganz andere Akzente, die auf eine Stärkung der traditionellen Familie zielten und folgerichtig die Gleichwertigkeit von Familien- und Erwerbsarbeit unterstrichen: »Die Frau hat das Recht sowohl auf eine gleichberechtigte Integration in Beruf und öffentlichem Leben als auch auf die Erfüllung der Aufgaben einer Familienhausfrau bei der Versorgung von Haushalt und Kindern. Die Familienpolitik hat sich im Interesse der Familie als Anwalt der Anliegen der Frauen zu verstehen, so daß diese, ohne diskriminiert und/oder überfordert zu sein, die von ihnen gewählten Schwerpunkte der Aufgaben in Familie, Beruf und öffentlichem Leben erfüllen können. […] Das Ziel, die Frauen als Erwerbstätige mit und ohne Kinder oder als Familienhausfrauen so zu stellen, daß ihre Rechte und ihre Chancen nicht durch die Mutterschaft beeinträchtigt werden, scheint […] eine der gesellschaftspolitisch vordringlichsten Aufgaben zu sein, die von der Familienpolitik initiiert und vorangetrieben werden müßte.«80

An konkreten Maßnahmen schlug die von der sozialliberalen Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission, der auch die spätere Familienministerin Rita Süssmuth angehörte, unter anderem »die Anerkennung von Versorgungs- und Erziehungsleistungen für Kinder im Rahmen einer eigenständigen sozialen Sicherung der Frau« sowie ein Erziehungsgeld vor, mit dem »die Erziehungsleistung der Familie gesellschaftlich anerkannt« werden sollte. Die Regierung Schmidt/Genscher wollte davon allerdings nichts wissen, und das lag nicht nur an der prekären Lage des Bundeshaushalts an der Wende von den 1970er zu den 1980er Jahren, sondern auch an grundsätzlichen Vorbehalten, die vor allem bei den Sozial­ demokraten bestanden. Sozialdemokratische Sozial- und Familienpolitik war primär lohnarbeitszentriert, das heißt, sie setzte auf »die ›vorleistungsbezogenen‹ 78 Zum Gesamtzusammenhang vgl. Ursula Münch, Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland: Maßnahmen, Defizite, Organisation familienpolitischer Staatstätigkeit, Freiburg 1990, S. 226–240. 79 Ursula Münch/Walter Hornstein, Familien-, Jugend- und Altenpolitik, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd.  6: Bundesrepublik Deutschland 1974–1982, hrsg. von Martin H.  Geyer, Baden-Baden 2008, S.  640–692, hier S.  641; die folgenden­ Zitate aus dem zweiten Familienbericht finden sich ebenda. 80 Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Drucksache 8/3120: Die Lage der Familien in der Bundesrepublik Deutschland. Dritter Familienbericht. Bericht der Sachverständigenkommission der Bundesregierung (zusammenfassender Bericht), S.  59; die folgenden­ Zitate finden sich ebenda, S. 62.

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Sicherungen, die auf der Beteiligung am Erwerbsleben basieren«; Ansprüche, die sich aus der Familienarbeit ableiten ließen, passten dagegen aus systemlogischen und programmatischen Gründen nicht ins Konzept81. Dies zeigte sich deutlich beim 1979 eingeführten Mutterschaftsurlaub für erwerbstätige Mütter, die vier Monate lang 750 DM aus Bundesmitteln erhalten konnten und in dieser Zeit vor Kündigungen sicher waren. Von Befürwortern des Gesetzes wie dem Münchner SPD -Bundestagsabgeordneten Rudolf Schöfberger als »sozialpolitische Großtat« gefeiert82, reagierten insbesondere Vertreterinnen der Arbeitsgemeinschaft So­ zial­demokratischer Frauen empört, die sich nicht nur gegen die Festschreibung traditioneller Rollenmuster wehrten, sondern auch gravierende Nachteile für Frauen auf dem Arbeitsmarkt prophezeiten83. Dass Mütter, die nicht erwerbstätig waren, keine Ansprüche geltend machen konnten, wurde dagegen nicht als Problem wahrgenommen. Diese politisch-prgrammatische Engführung brachte die SPD insbesondere im Vorfeld der Bundestagswahl von 1980 in Zugzwang, zumal die Konkurrenz von CDU und CSU ganz andere Akzente setzte und die Bedeutung von Frauenarbeit jenseits der Lohnarbeit hervorhob. Norbert Blüm, der Vorsitzende der ChristlichDemokratischen Arbeitnehmerschaft, plädierte öffentlichkeitswirksam dafür, Hausfrauen und nicht berufstätige Mütter mit erwerbstätigen Frauen gleichzustellen84. Die CSU hatte schon 1976 sogar die Forderung in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen: »Die Tätigkeit als Hausfrau muß als Beruf gesehen und bewertet werden. […] Die Fürsorge […] in der Familie ist als Leistung im Dienst der Gemeinschaft der beruflichen Tätigkeit voll gleichzusetzen.« Daher sei »eine eigenständige soziale Sicherung der Frau« nötig85. Das Herzstück einer Politik, die auf eine Stärkung der Familie setzte, war ein von der Erwerbsarbeit unabhängiges Erziehungsgeld als materieller Ausgleich und als greifbare Anerkennung für bislang selbstverständliche, zumeist von Frauen geleistete Familienarbeit, wie es auch die Experten forderten, die für den dritten Familienbericht verantwortlich zeichneten. Und auch wenn entsprechende Initiativen der Union im Bundestag an der Mehrheit von SPD und FDP scheiterten, so gelang es ihr doch, die sozialliberale Koalition durch Modellversuche auf Länderebene unter Druck zu setzen86. 81 Ursula Münch/Walter Hornstein, Familien-, Jugend- und Altenpolitik, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 7, S. 520–562, hier S. 522; zum Mutterschaftsurlaub vgl. Münch/Hornstein, Familien-, Jugend- und Altenpolitik, in: Geschichte der­ Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 6, S. 654–658. 82 IfZ-Archiv, ED 894/5, Rudolf Schöfberger an Hannelore Hornburger (ASF) vom 1.12.1978. 83 IfZ-Archiv, ED 894/5, ASF München: »Mutterschaftsurlaub  – ein Schritt in die falsche Richtung?« 84 Vgl. Münch/Hornstein, Familien-, Jugend- und Altenpolitik, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 6, S. 645. 85 Grundsatzprogramm der Christlich-Sozialen Union, hrsg. von der CSU-Landesleitung, München 1979, S. 54. 86 Vgl. Wiebke Kolbe, Elternschaft im Wohlfahrtsstaat. Schweden und die Bundesrepublik im Vergleich 1945–2000, Frankfurt a. M./New York 2002, S. 326–332.

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Mit dem Erziehungsgeld war ein ganzes Bündel von teils widersprüchlichen Motiven verbunden  – sozial- und gesellschaftspolitische ebenso wie arbeitsmarkt- und bevölkerungspolitische. Als wichtiges Teilprojekt einer Politik für Frauen und Familien jenseits der Lohnarbeit zielte das Erziehungsgeld zwar primär auf die Klientel der Unionsparteien. Diese machten sich damit aber eine Idee zu eigen, die im Prinzip an bestimmte kapitalismuskritische Strömungen anschlussfähig waren, wie man sie im sich entfaltenden alternativen Milieu finden konnte87. Selbstverwirklichung ohne Lohnarbeit und Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf waren Themen, die hier wie dort auf der Tagesordnung standen. Dazu kam eine gehörige Portion Skepsis gegen den Staat und seine Institutionen als Akteure in Sachen Mutterschaft, Geschlechterbeziehungen und Kindererziehung – eine Skepsis, die selbstredend unterschiedlich motiviert war, aus der sich aber wiederum Berührungspunkte ergeben konnten. Fürchteten Familienpolitiker aus den Reihen der Union um das naturgegebene Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, und malten das Schreckbild verstaatlichter Kinder­ aufzucht à la DDR an die Wand88, so kamen auf der anderen Seite wahlweise Kritik am Staat als Garant des Patriarchats oder (neo-)marxistische Ideen zum Tragen. Der soziale Rechtsstaat findet »für Frauen nicht statt«, er sei »offenbar nur für Männer da – für Mütter jedenfalls nicht«, hieß es 1977 in einem Flugblatt des Münchner Frauenforums89. Und in einem anderen Manifest stand zu lesen: »Unsere Männer, die Väter unserer Kinder, werden aus der gnadenlosen Mühle unserer Leistungs- und Industriegesellschaft […] nach getaner Arbeit – wie ausgepreßte Zitronen – entlassen. […]Auch Institutionen wie Schule, Kindergarten und Hort sind nicht viel mehr als ein Trimm-dich-Pfad in die Erwerbsgesellschaft, die sogenannte Arbeitswelt.«90

Die Konsequenzen dieses unterschiedlich begründeten Strebens nach Autonomie waren nicht unvereinbar  – die Prinzipien von Solidarität und Subsidiarität hier, »das betonte Bemühen um Selbständigkeit, um die eigene Identität« und um »Selbsthilfe« dort91. Und auch wenn viele Aktivistinnen der Neuen Frauen­ bewegung, die sich Lohn für Haus- oder Familienarbeit auf ihre Fahnen ge87 Vgl. Ilse Lenz, Das Private ist politisch!? Zum Verhältnis von Frauenbewegung und alternativem Milieu, in: Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010, S. 375–404, hier insbesondere S. 385–392. 88 Vgl. z. B. Der Spiegel vom 27.7.1981: »CDU – Sanfte Macht«. 89 IfZ-Archiv, ED 899/11, Flugblatt des Frauenforums München »Mütter – ins Lumpenprole­ tariat!« 90 Manifest, in: Monika Jaeckel/Hildegard Schooß/Hannelore Weskamp (Hrsg.), Mütter im Zentrum – Mütterzentrum. Bilanz einer Selbsthilfebewegung, Weinheim/München aktualisierte und erweiterte Neuaufl. 1997, S. 16 ff., hier S. 16. 91 Ilona Kickbusch, Weibliche Dienstleistungen. Was hat Hausarbeit mit Sozialarbeit zu tun?, in: Beiträge zur 2. Berliner Sommeruniversität für Frauen 1977, S. 254–267, hier S. 266.

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schrieben hatten, in Initiativen wie dem Erziehungsgeld nur ein Almosen sahen, das den Frauen die Rückkehr »zum Herd« und das »Gebären wieder schmackhaft« machen sollte92, so konnten manche doch nicht umhin, »Ähnlichkeiten« zwischen der »neue[n] Weiblichkeit der CDU« und »manchen feministischen Überlegungen« zu konstatieren93. Es sei »schon merkwürdig«, hieß es in der Vorbemerkung zu »Frauen in der Offensive«, denn bei Themen wie Lohn für Hausarbeit oder Erziehungsgeld scheine »in der Bundesrepublik alles auf den Kopf­ gestellt«; es »ergeben sich die falschen Freunde und die falschen Feinde«94. In den 1980er Jahren wurde die Situation zunächst noch unübersichtlicher, was aber weniger an einem »neue[n] Konservatismus« als an gegenläufigen soziopolitischen Differenzierungsprozessen lag95, die einst fest gefügte Front­linien durchlässiger werden ließen. Insbesondere in der CDU wurden von Politikerin­ nen wie Rita Süssmuth neue Akzente gesetzt, die etwa auf den Feldern Frau und Erwerbstätigkeit oder Vereinbarkeit von Familie und Beruf überkommene Leitbilder modifizierten oder gar in Frage stellten. Teile der Neuen Frauenbewegung entdeckten dagegen – getragen vom Differenzfeminismus, der von der Verschiedenheit der Geschlechter ausging und in seiner Wirkung »weit über die Grenzen des alternativen Milieus hinausreichte«96 – die Themen Familie und Mutterschaft neu. Die größere Offenheit von Teilen der Union für frauenpolitische Belange einerseits und die Neue Mütterlichkeit in der Frauenbewegung andererseits ließen Schnittmengen von Interessen entstehen, über die pragmatischer verhandelt werden konnte als früher. Dafür wuchsen die Spannungen in der Neuen Frauenbewegung entlang der Bruchlinie »Berufsmütter« gegen »Karriere­ frauen«, wie die erbitterte Debatte über das »Müttermanifest« zeigte, das Anfang 1987 unter anderem von Politikerinnen aus den Reihen der Grünen initiiert worden war. Wo die einen für eine Politik warben, »die die Wirklichkeit, die Wünsche und Hoffnungen von Müttern mit Kindern ebenso konsequent und nachdrücklich vertritt wie die Interessen kinderloser Frauen«97, so bedauerten andere 92 Lieres, Lohn für die Arbeit an den Kindern, S. 93. 93 Barbara Bonath, Blümlein, Blümlein … Die neue Weiblichkeit der CDU, in: Courage 7 (1982) H. 11, S. 26 f. 94 Erler, Vorbemerkung zu: Frauen in der Offensive, S. 5. 95 Kolbe, Elternschaft, S. 325; zum Folgenden vgl. ebenda, S. 325 f., sowie Lenz (Hrsg.), Neue Frauenbewegung in Deutschland, S. 621 f. (Einleitung zum Kapitel: Mütter werden lauter – die Mütterbewegung in der Frauenbewegung). 96 Lenz, Frauenbewegung und alternatives Milieu, S. 391. 97 Müttermanifest. Leben mit Kindern – Mütter werden laut, abgedruckt in: Lenz (Hrsg.), Neue Frauenbewegung in Deutschland, S. 623–629, hier S. 623; das folgende Zitat ist der ebenda (S. 630–637, hier S. 636) abgedruckten Stellungnahme grüner Frauen zum Müttermanifest entnommen. Wie schwer sich die Frauenbewegung mit der »Gretchenfrage« tat, die da hieß: »Wie stehst Du zur Mütterfrage?«, zeigen zahlreiche Beiträge in der Dokumentation zur 3.  Sommeruniversität für Frauen 1978 (die Zitate finden sich auf S.  254), die dem Thema »Frauen und Mütter« gewidmet war. Vgl. auch Marion Meier/ Monika Oubaid, Mütter – die besseren Frauen. Über den Zusammenhang von § 218 und Hausarbeit, Braunschweig 1987.

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»daß die berechtigten Anliegen von Müttern in dem Müttermanifest mit einem Frauenbild verknüpft werden, das wir seit Jahren bekämpfen«. In unserem Zusammenhang ist vor allem wichtig, dass sich in der Überlappungszone von konservativer und alternativer Frauen- und Familienpolitik Räume und Rezeptoren für Themen und soziale Gruppen ergaben, die sich sonst nur schwer Gehör verschaffen konnten. Ihre Anliegen und Probleme wurden nun verstärkt diskutiert und gerieten auch in den Fokus der Forschung. Dazu gehörten etwa verheiratete Arbeiterinnen in der Industrie98, von denen man vielfach unreflektiert annahm, dass sie mit ihrem Beruf mehr anfangen konnten als mit ihrer dienenden Rolle in Haushalt und Familie. Junge Sozialwissenschaft­ lerinnen wie Helgard Kramer bürsteten diese Vorannahmen gleichsam gegen den Strich und kamen bei der Auswertung von Interviews mit Arbeiterinnen in der Textil- und Bekleidungs- sowie in der Elektroindustrie zu Ergebnissen, die der einfachen Gleichung Lohnarbeit ist gleich Emanzipation widersprachen99. Die Arbeitsbedingungen insbesondere im Akkord mit ihren starren Hierarchien und ihrem rigiden Zeitmanagement lösten nicht selten Effekte der Entfremdung aus; entsprechend empfanden die befragten Arbeiterinnen Haus- und Familienarbeit als selbstbestimmter und sinnstiftender als ihre Tätigkeit in der Fabrik, die mehr als notwendiges Übel denn als selbst gewählter Schritt aus der Isolation von Heim und Ehe erschien. Diese Perspektive konnte auch ein anderes Schlaglicht auf Haus- und Familienarbeit im Allgemeinen und auf die Frauen im Besonderen werfen, die nicht berufstätig waren. Was Sozialprestige und öffentliche Meinung angeht, so gehörten Hausfrauen in den 1970er Jahren mit Sicherheit zu den Verliererinnen des soziokulturellen Wandels. »Wo berufstätige und nicht berufstätige Frauen zusammen sind«, bemerkte die Soziologin Helge Pross 1981 in einer viel beachteten Publikation, »geraten die letzteren unter Verteidigungszwang, und die ersteren machen mehr oder minder höflich klar, daß sie die Banner des Fortschritts tragen. Haushalt und Familie sind in manchen Gruppen Synonyme für Rückständigkeit, und Erwerbstätigkeit und eigenes Geld Synonyme für Emanzipation geworden. Manchmal hat man fast den Eindruck, als nähmen die berufstätigen Frauen nun Rache an den berufslosen Frauen und zahlten ihnen heim, was sie vorher an Mißachtung erdulden mußten.«100

In den 1980er Jahren kehrte sich dieser Prozess zwar nicht um, aber er verlangsamte sich zeitweise. Zudem wurde die Diskussion durch die Initiativen für die – 98 Vgl. etwa Regina Becker-Schmidt/Gudrun-Axeli Knapp/Beate Schmidt, Eines ist zuwenig – beides zuviel. Arbeiterfrauen zwischen Familie und Fabrik, Bonn 21985; einen Überblick über die Forschung bietet Weyrather, Frau am Fließband, S. 319–381. 99 Vgl. Helgard Kramer, Hausarbeit als Rückzugsmöglichkeit und Gegen-Erfahrung für Frauen unter den Bedingungen taylorisierter Industriearbeit, in: Mattes (Hrsg.), Krise der Arbeitsgesellschaft, S. 427–433, hier insbesondere S. 430 f. 100 Pross, Wirklichkeit der Hausfrau, S. 13.

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materielle und immaterielle – Anerkennung von Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit facettenreicher und vielstimmiger. Umfragen ergaben jedenfalls, dass die westdeutschen Hausfrauen mit ihrer Rolle gut zurecht kamen. Die durchschnittliche Zufriedenheit der Befragten mit ihrer Rolle als Hausfrau war »überwiegend hoch«101. Auf einer Skala von null bis zehn blieben die Werte zwischen 1978 und 1988 nahezu unverändert: ermittelt wurde 1978 ein Wert von 7,9, 1984 ein Wert von 7,8 und 1988 wieder ein Wert von 7,9. 1984 gaben 52 Prozent der Befragten im Alter zwischen 18 und 45 Jahren an, lieber Hausfrau zu sein als einer Erwerbsarbeit nachzugehen; bei den älteren waren es sogar 83 Prozent. Vier Jahre später stimmten sogar 54 Prozent der befragten jüngeren Hausfrauen der Aussage zu »Ich bin lieber Hausfrau als berufstätig«. Hinter diesen Zahlen verbarg sich nicht nur die widerborstige Persistenz traditioneller Rollenmuster, sondern auch die fortbestehende Attraktivität einer scheinbar unmodernen Lebensform, die aber nichtsdestotrotz ein wichtiger Referenzpunkt der Frauen- und Fami­ lienpolitik in der Ära Kohl gewesen ist. Dass der Familienpolitik insbesondere zwischen 1982 und 1989 ein ungewöhnlich hoher Stellenwert zukam, hatte vor allem mit drei Faktoren zu tun: Die Union wollte damit, erstens, unterstreichen, dass sie es ernst meinte mit der nicht zuletzt vom Kanzler selbst propagierten »Erneuerung der geistig-moralischen Grundlagen der Politik«102. Mit der Stärkung der Institution Familie, dem »Fundament unserer Gesellschaft«103, konnte dazu ein substantieller Beitrag geleistet werden. Zweitens standen zwischen 1982 und 1988 Politiker an der Spitze des zuständigen Bundesministeriums, die in der CDU bestens vernetzt und entsprechend durchsetzungsfähig waren; das galt für Heiner Geißler ebenso wie für Rita Süßmuth. Drittens trafen die politischen Initiativen auf eine Öffentlichkeit, die nicht zuletzt durch die Neue Frauenbewegung für Themen wie Gleichberechtigung und Frauenarbeit in ihren verschiedenen Schattierungen sensibilisiert war. Die konkreten Maßnahmen gingen sowohl »von der normativen Alternativ­ losigkeit einer Förderung des (vorübergehenden) Erwerbsausstiegs mit dem Zweck der Kindererziehung«104 als auch vom Prinzip aus, das lohnarbeitszentrierte System der Sozialversicherung durch neue, von Erwerbsarbeit unabhängige Elemente zu ergänzen. Die Einführung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub bei vollem Kündigungsschutz und Arbeitsplatzgarantie, die Förderung von Teilzeitarbeit und die Anrechnung von Kindererziehungszeiten bei der Rentenversicherung beruh101 Vgl. Datenreport 1999. Zahlen und Fakten über die Bundesrepublik Deutschland, hrsg. vom Statistischen Bundesamt, Bonn 1999, S. 516 f. 102 Peter Hoeres, Von der »Tendenzwende« zur »geistig-moralischen Wende«. Konstruktion und Kritik konservativer Signaturen in den 1970er und 1980er Jahren, in: VfZ 61 (2013), S. 93–119, hier S. 109. 103 IfZ-Archiv, Dn 042, Beschlussvorlage »Familie  – Lebensform mit Zukunft« des Fami­ lienpolitischen Kongresses der CSU für den Parteitag am 19./20.10.1984. 104 Münch/Hornstein, Familien-, Jugend- und Altenpolitik, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 7, S. 522.

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ten im Wesentlich auf diesen Grundsätzen105. Von der Gleichstellung erwerbstätiger und nicht erwerbstätiger Frauen sowie von Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf konnte freilich keine Rede sein. Entsprechend zwiespältig fiel die frauen- und familienpolitische Bilanz der christlich-liberalen Koalition Ende der 1980er Jahre aus. Andreas Wirsching hat sogar die Frage aufgeworfen, ob die »durchaus kostspieligen familienpolitischen Leistungen […] nicht letztlich doch dem ›Zeitgeist‹ widersprachen und daher in ihrer Wirkung verpufften«106. Hierzu ließe sich anmerken, dass diese Form der Familien- und Frauenpolitik nicht zuletzt ein Ausdruck des »Zeitgeists« war, wie er sich Ende der 1970er herauszubilden begann. Als die diesbezüglichen Gesetze verabschiedet und i­mplementiert worden waren, begannen sich jedoch die politisch-gesellschaftlichen Rahmen­ bedingungen nachhaltig zu verändern – und damit auch die Rahmenbedingungen für die Diskussion über Frauenarbeit und Frauenerwerbstätigkeit.

4. Die Anfänge der Gegenwart Das Fenster, das sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre geöffnet und eine neue Debatte über Frauenarbeit in ihren verschiedenen Facetten begünstigt hatte, schloss sich im letzten Drittel der 1980er Jahre wieder – und damit veränderte sich auch die Perzeption von Frauenarbeit. Für diese Entwicklung waren vor allem drei Faktoren verantwortlich: Zu nennen ist, erstens, die Attraktivität der (Lohn-)Arbeitsgesellschaft westdeutscher Prägung in Zeiten anhaltend hoher Arbeitslosigkeit. Während die Initiativen, einen materiellen Ausgleich für Erwerbsverzicht im Zeichen von Familie und Kindererziehung zu schaffen, letztlich unzureichend blieben, behielt die Erwerbstätigkeit ihren Status als »zentrale Agentur sozialer Sicherheit«, die »Verteilungsegeln und Einkommenschancen, sozialen Status, Wertorientierung und Prestigezuschreibung« bestimmte. Damit eng verbunden war, zweitens, die zunehmende Perforation der Grenze zwischen Erwerbsarbeit und Freizeit, zwischen Beruf und Familie durch neoliberale Konzepte von Arbeitsorganisation und Arbeitszeitgestaltung. Drittens erodierte das alternative Milieu, das auch die Neue Frauenbewegung getragen hatte, so dass auch manche Themen wie alternative Ökonomie oder Arbeit jenseits der Lohnarbeit erheblich an diskursiver Relevanz verloren. Dazu kam 1990 die Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Von den Institutionen der DDR blieb nicht viel übrig, aber bestimmte biographische Muster und kollektive Erfahrungen im Osten Deutschlands wirkten mit der Zeit auf den Westen zurück. Dazu gehörte, dass Frauenerwerbstätigkeit und institutio105 Vgl. dazu allgemein Ursula Münch, Gebremste Innovationen und demographische Zwänge – Familien und Frauenpolitik auf der Suche nach der Balance von Familienund Erwerbsarbeit, in: HPM 11 (2004) 277–308. 106 Wirsching, Abschied vom Provisorium, S.  345; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 312.

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nelle Kinderbetreuung im real existierenden Sozialismus die Regel, Erwerbsverzicht und Kinderbetreuung in der Familie aber die Ausnahme gewesen waren. Unter neuen politisch-gesellschaftlichen Vorzeichen bildete sich eine breite Interessenkoalition heraus, in der Repräsentanten der wichtigsten Parteien, der Arbeit­geber, der Gewerkschaften und einflussreicher Wohlfahrtsverbände vertreten sind und die – medial vermittelt – die möglichst ununterbrochene (Vollzeit-)Erwerbstätigkeit von Müttern ebenso offensiv propagiert wie die frühe Betreuung von Kleinkindern in Krippen und Kindertagesstätten107. Dieser Leitbildwandel deutete sich schon in den letzten Jahren der Ära Kohl an und gewann nach dem Wahlsieg der rot-grünen Koalition im Herbst 1998 erheblich an Schwung. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre baute sich ein politisch-gesellschaftliches Veränderungspotential auf, das eine Neufestlegung des Koordinatensystems für Frauen- und Familienpolitik in der Bundesrepublik ermöglichte. Die Anfänge einer gesellschaftsverändernden Politik, die bis heute wirkt, sind hier zu suchen. War es seit 1982 primär darum gegangen, Ehe und Familie als Institution zu schützen, die konsekutive Vereinbarkeit von (Frauen-)Erwerbstätigkeit und Kinderbetreuung zu verbessern, Familienarbeit bei Erwerbsverzicht zu honorieren sowie die Zentralität der Familie als Erziehungsinstanz zu betonen, so setzte die neue Familienpolitik auf die »Autonomie der Familienmitglieder«, die »simultane Vereinbarkeit« von Familie und Beruf, die soziale Sicherung durch Erwerbstätigkeit sowie die »Institutionenkindheit«. In diesem Zusammenhang lohnt ein Blick auf die Karriere von Begriffen wie Kita, frühkindliche Bildung oder Betreuungsquote, die zunehmend positiv besetzt oder erst geprägt wurden, um Fortschritt und Modernität zu betonen. Einrichtungen wie 24-Stunden-Kitas – noch vor 20 Jahren kaum denkbar – erscheinen heute als Errungenschaft oder wenigstens als notwendiges Übel der schönen neuen Arbeitswelt, an die sich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wohl oder übel anzupassen haben108. Unter »entgrenzten Arbeitsbedingungen« ergeben sich Chancen vor allem für »Frauen ohne Kinder oder hoch qualifizierte Mütter, die sich aufgrund ihres Einkommens privat finanzierte Dienstleistungen leisten können«109. Die Kehrseite dieser »exklusiven Emanzipation« ist der wachsende Druck insbesondere auf alleinerziehende Frauen und berufstätige Mütter mit mehreren Kindern, die sich an den Parametern »allzeit verfügbar, flexibel und mobil« messen lassen müssen. Man hat die Bonner Republik bis 1990 mit Blick auf die Frauen­ erwerbstätigkeit als »eingeschränkte Arbeitsgesellschaft« mit spezifischen Defiziten beschrieben110. Wohin der Weg in die uneingeschränkte Arbeitsgesell107 Vgl. Stefan Fuchs, Gesellschaft ohne Kinder. Woran die neue Familienpolitik scheitert, Wiesbaden 2014, hier S. 74 und S. 378 f.; zum Folgenden vgl. ebenda, S. 112 und S. 368. 108 Vgl. Spiegel Online vom 7.6.2012: »24-Stunden-Kita: Wenn Mama zur Nachtschicht muss«. 109 Annette Henninger/Christine Wimbauer, »Arbeit« und »Liebe«  – Ein Widerspruch?, S. 100–118, hier S. 113. 110 Süß/Süß, Zeitgeschichte der Arbeit, S. 365.

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schaft führen wird, auf den sich die Berliner Republik seit den 1990er Jahren gemacht hat, ist schwer zu sagen. Aber man dürfte mit der Vermutung nicht fehl gehen, dass die Bedeutung der Erwerbstätigkeit für gesellschaftliche Teilhabe und soziale Sicherung noch zunehmen wird. Die Notwendigkeit weiterer Anpassungsleistungen kann kaum ausbleiben – für Männer wie Frauen und nicht zuletzt für ihre Kinder.

Dietmar Süß

Der Sieg der grauen Herren? Flexibilisierung und der Kampf um Zeit in den 1970er und 1980er Jahren

1. Zeit, Markt und Arbeit Während die erste Ölkrise 1973 das Ende des »goldenen Zeitalters« einläutete, erschien auf dem deutschen Büchermarkt ein Jugendroman, der schon bald zum Klassiker werden sollte: »Momo. Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte«. Michael Ende erzählte darin die Geschichte des kleinen Mädchens Momo, das eines Tages aus dem Nichts auftaucht und zusammen mit der Schildkröte Kassiopeia den Kampf gegen die grauen Herren aufnimmt; düstere Gestalten, die den Menschen unbemerkt die Zeit stehlen und sie damit um ihr Leben betrügen. Der Roman erhielt 1974 den deutschen Jugendbuchpreis, und die Kritik feierte »Momo« als »Zivilisationskritik«, als Absage an den Zeitwahn und künstlich erzeugten Konsum- und Warenterror der Gegenwart, als Utopie einer »entschleunigten«, nicht-entfremdeten Gesellschaft. Das Buch entwickelte sich zu einer Projek­ tionsfläche politisch sehr unterschiedlich gelagerter Zeitkritik  – angeblich bis hin zu so manchem Friedensaktivisten und Hausbesetzer, der »Momo« unter seinem Kopfkissen hatte1. Man könnte diese Erfolgsgeschichte (inklusive der Verfilmung 1986) als einen ersten Hinweis darauf lesen, wie sich die Themen Zeit und Zeitordnung seit Mitte der 1970er Jahre zu einem zentralen gesellschaftlichen Konfliktgegenstand entwickelten  – und das insbesondere mit Blick auf das sich wandelnde Verhältnis von Arbeit und Freizeit. Wenn über neue Zeitvorstellungen, über die These des Strukturbruchs in den 1970er Jahren diskutiert wird, dann kommt ein ganzes Bündel unterschiedlicher Prozesse in den Blick: die Entstandardisierung von Erwerbsbiographien2, die Entstehung ungesicherter Beschäftigungsformen, die Deregulierung von Arbeitsverhältnissen und sich wandelnde Semantiken mit der zeittypischen Emphase für Flexibilisierung und individuelle Chancengestaltung. 1 Vgl. kritisch Hermann Bausinger, Momo. Ein Versuch über politliterarische Placeboeffekte, in: Wilfried Barner u. a. (Hrsg.), Literatur in der Demokratie. Für Walter Jens zum 60. Geburtstag, München 1983, S. 137–145, hier S. 139 f. 2 Vgl. Andreas Wirsching, Erwerbsbiographien und Privatheitsformen: Die Entstandardisierung von Lebensläufen, in: Thomas Raithel/Andreas Rödder/Andreas Wirsching (Hrsg.), Auf dem Weg in eine neue Moderne? Die Bundesrepublik Deutschland in den siebziger und achtziger Jahren, München 2009, S. 83–97.

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Zeitbegriffe, so die Ausgangsüberlegung, dienen der Koordination und Standardisierung sozialer Beziehungen3; sie sind Ausdruck von Macht- und Herrschaftsbeziehungen, und sie reduzieren gesellschaftliche Komplexität. Ein wesentliches Kennzeichen moderner Gesellschaften ist in diesem Sinne die Herrschaft über die Zeit und die Fähigkeit, dominierende Zeitstrukturen durchzusetzen, die die Alltags- und Lebenszeit der zeitgenössischen Akteure bestimmt. Die Ambivalenz aus wachsender sozialer Normierung einerseits und einem steigendem Maß an individueller Autonomie andererseits war prägend. Das ist auch das Spannungsverhältnis, das den Begriff und die Praxis der Flexibilisierung beschreibt, um die es in diesem Beitrag gehen soll. Die Verwandlung des Begriffs Flexibilisierung zu einem der zeitgenössischen Zauberworte industrieller Krisenbewältigung unter dem Anpassungsdruck des Weltmarkts erfolgte zu einer Zeit, als in der alten Bundesrepublik auch »Momo« seine Käufer fand. Richard Sennett war nicht der erste, wohl aber einer der einflussreichsten Kritiker, der Ende der 1990er Jahre in seinem Buch über den »flexiblen Menschen« den Begriff Flexibilisierung als »Epochencharakterisierung« für den grundsätzlichen Wandel der Arbeitswelt nutzte – und ihn nicht mehr nur auf Fragen der flexiblen Arbeitszeit beschränkt wissen wollte. Sennett verwies dabei auf das dreifache Machtsystem, das sich im System der Flexibilisierung verbarg: der Abbau institutioneller Ordnung, die flexible Spezialisierung der Produktion und die »Konzentration der Macht ohne Zentralisierung«4. Sennetts Diagnose lautete: Flexible Arbeitszeiten seien eingewoben in ein neues Machtsystem und zugleich nicht etwa ein Recht der Beschäftigten, sondern gekoppelt an ein spezifisches Belohnungssystem. Was sich hinter dem Begriff Flexibilität verbarg, war damit mehr als nur der Formenwandel kapitalistischer Produktion. Sennett  – und nicht nur er – zielte auf die neuen Formen individueller Inanspruchnahme, auf die Neuverteilung von Arbeits- und Investitionsleistungen. Flexibilisierung ist damit aber nicht nur Ausdruck des veränderten Machtgefüges nach dem Ende des Fordismus, sondern in seiner Uneindeutigkeit und Attraktivität auch eine Form der semantischen Neucodierung des Kapitalismus. Zugleich weist der Begriff aber über den unmittelbaren Produktions­ bereich hinaus. Denn mit dem Siegeszug der Flexibilisierung gerieten nicht nur traditionelle Arbeitsroutinen unter Druck, sondern auch auf Dauer angelegte Sozialbeziehungen. In der gegenwärtigen Diskussion um den Begriff Flexibilisierung kann man mehrere Dimensionen unterscheiden5: Er wird verwendet, um erstens die Fähigkeit von Unternehmen zu beschreiben, auf die Wünsche der Konsumenten und 3 Die folgenden Überlegungen erstmals in: Dietmar Süß, Stempeln, Stechen, Zeit erfassen. Überlegungen zu einer Ideen- und Sozialgeschichte der »Flexibilisierung« 1970–1990, in: AfS 52 (2012), S. 139–162. 4 Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998, S. 59. 5 Vgl. hierzu und zum Folgenden Jörg Flecker, »Sachzwang Flexibilisierung«? Unterneh­ mensreorganisation und flexible Beschäftigungsformen, Wien 1999, S. 1 (FORBA-Schriften­ reihe 2/99).

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Kunden zu reagieren und Produktionsabläufe den veränderten Marktbedingungen anzupassen. Zweitens beschreibt der Begriff neue Formen der Personal- und Arbeitszeitpolitik, die darauf abzielen, den Arbeitskräfteeinsatz noch stärker der jeweiligen Auftragslage anzupassen; das betrifft insbesondere Fragen der Arbeitszeitgestaltung. Dazu zählen nicht nur neue Arbeitszeitmodelle wie Arbeitszeitkonten oder Teilzeitarbeitsmodelle, sondern dazu zählt auch die Möglichkeit, rasch Arbeitskräfte versetzen, einstellen, leihen oder entlassen zu können. Schließlich wird der Begriff Flexibilisierung noch in einem anderen Sinne verwendet. Er umschreibt neue postfordistische Schlüsselkompetenzen, die der Einzelne benötigt, um schnell auf neue Produktionsformen und Arbeitsbedingungen zu reagieren – und damit beruflich und zeitlich mobil und verfügbar zu sein. Wie andere Begriffe auch ist er sowohl Diagnose als auch zeitgenössisches Konstrukt. Er lenkt den Blick auf die zeitökonomischen Imperative des letzten Drittels des 20.  Jahrhunderts und bietet damit die Möglichkeit, den Epochen­ charakter der Post-Boom-Zeit zu vermessen.

2. Semantiken der Flexibilisierung Seit Anfang der 1970er Jahre lässt sich beobachten, wie der Begriff Flexibilisierung immer häufiger Eingang in die arbeitsmarktpolitischen und organisationskulturellen Debatten fand6. Zunächst waren es vor allem frühe Studien über Erfolg und Grenzen von flexible working hours in Großbetrieben und Verwaltungen, die den Ausbruch aus dem engen Zeitkorsett regulärer Beschäftigungsverhältnisse als Beginn einer neuen Freiheit der Beschäftigten feierten7. Als flexibel galten Arbeitszeiten, die nicht mehr einem klaren Pünktlichkeitsdiktat folgten; »flexible« Arbeitnehmer arbeiteten demnach vielfach in »modernen« Branchen und unterschieden sich in Arbeitsweise und Lebensstil vom Arbeiter der Vergangenheit. Flexible Arbeitszeiten passten demnach deutlich besser zu den neuen Arbeitnehmern der Dienstleistungsgesellschaft als zu den schwitzenden Malochern 6 Vgl. dazu sehr überzeugend Georg Vobruba, Grundlagen der Soziologie der Arbeitsflexibilität, in: Berliner Journal für Soziologie 16 (2006) H. 1, S. 25–35; mit Blick auf ganz Europa vgl. Robert Boyer, Defensive or offensive Flexibility?, in: ders. (Hrsg.), The Search for ­Labour Market Flexibility. The European Economies in Transition, Oxford 1988, S. 222–251. 7 Wegweisend dafür Bernhard Teriet, Neue Strukturen der Arbeitszeitverteilung. Möglichkeiten, Voraussetzungen und Konsequenzen, Göttingen 1976; Teriet arbeitete am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und legte seit Beginn der 1970er Jahre zahlreiche Arbeiten zur Praxis variabler Arbeitszeiten vor, die in der Öffentlichkeit breit rezipiert wurden. Aus der Vielzahl der ähnlich argumentierenden Beiträge in verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen vgl. Bernhard Teriet, Die Wiedergewinnung der Zeitsouveränität, in: Freimut Duve (Hrsg.), Technologie und Politik. Das Magazin zur Wachstumskrise, Bd. 8: Die Zukunft der Arbeit 1, Reinbek 1977, S. 75–111; Bernhard Teriet, Möglichkeiten der Arbeitszeitverteilung und der Arbeitszeitflexibilität, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 25 (1974), S. 412–423; Bernhard Teriet, Weg von den alten Trampelpfaden. Eine flexiblere Gestaltung der Arbeitszeit kann viele Probleme lösen, in: Die Zeit vom 7.1.1983, S. 21.

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der Vergangenheit. Die Einführung der gleitenden Arbeitszeit markierte gleichsam, wie es die Studie des Internationalen Arbeitsamts 1975 euphorisch formulierte, »eine grundsätzliche Neuorientierung«8. Der Verfasser, ein schweizer Arbeitgeberfunktionär, prognostizierte, dass die Einführung neuer Arbeitszeiten Teil einer »Umgestaltung der Werteordnung« sei, in deren Mittelpunkt die Anpassung der Arbeit an den »individuellen Lebensrhythmus« stehe. »Die gleitende Arbeitszeit bedeutet […] wegen der dem Arbeitnehmer ermöglichten größeren Freiheit bei der Einteilung seines Arbeitslebens eine Ausweitung des persönlichen Entscheidungsspielraums; sie steht damit gegenläufig zu den zunehmenden Sachzwängen der organisierten, technisierten Gesellschaft. Sie weist deshalb in ihren Grundgedanken tendenziell weit über das Arbeitsleben hinaus.«

Die meisten Arbeitnehmer, so hieß es in dem Bericht, wollten nicht wieder zu den früheren Arbeitszeitformen zurückkehren, sobald sie die neue Arbeitszeitgestaltung ausprobiert hätten. Deutschland und die Schweiz galten in der Debatte um die Gleitzeit eher als Vorreiter denn als Nachzügler. Als erstes Großunternehmen mit 3000 Mitarbeitern führte die Bölkow GmbH in Ottobrunn bereits 1967 ein Arbeitszeiterfassungssystem ein, das Teil der neuen »Gleitenden Arbeitszeit« war – ein Modell, das es in dieser Form bis dahin weder in der Bundesrepublik noch in anderen europäischen Ländern gab. Die Arbeitnehmer konnten innerhalb einer Gleitzeitspanne Beginn und Ende der Arbeitszeit selbst bestimmen, wobei die Gleitzeitspanne auf die Morgenstunden (7 Uhr bis 8 Uhr) und den Feierabend (16 Uhr bis 18 Uhr) beschränkt blieb. In Absprache mit ihren Vorgesetzten durften die Arbeitnehmer Zeitguthaben anhäufen und bis zu zehn vorgearbeitete Stunden im nächsten Monat mit Freizeit ausgleichen. Die Arbeitszeitkontrolle galt für alle Beschäftigten des Betriebs – inklusive der Angestellten, bei denen es zunächst die größten Widerstände gegen die »Pünktlichkeitskontrolle« gab. Ursprünglich eher aus der Not geboren und mit dem Ziel eingeführt, den Verkehrsfluss auf den verstopften Zufahrtsstraßen zu regulieren, galt das »Ottobrunner Modell« binnen weniger Jahre als das Vorzeigeprojekt »Gleitender Arbeitszeit« und einer neuen Industriekultur9. Flexible Arbeitszeiten galten damit als Beleg für eine neue Unternehmens­ kultur und als Wettbewerbsvorteil, der die Mitarbeiter aktivieren und zugleich ihren veränderten Lebensstilen Rechnung tragen sollte – ohne zusätzliche Kosten zu verursachen. Ähnliche Erfahrungen gab es auch aus einzelnen amerikanischen und britischen Unternehmen, die Gleit- und Kernzeitmodelle in Verwaltungen und in solchen Produktionsbereichen erprobten, in denen eine größere Zahl an besonders gut qualifizierten Beschäftigten tätig waren.

8 Heinz Allenspach, Die gleitende Arbeitszeit, Genf 1975, S. 1; die folgenden Zitate finden sich ebenda. 9 Süß, Stempeln, Stechen, Zeit erfassen, S. 156 ff.

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Zur Diskussion über flexible Arbeitszeiten gehörte von Beginn an die Frage, welche Beschäftigten an den neuen, privilegierten Arbeitszeitmodellen teilhaben könnten. Damit hatten nicht alle gleichermaßen Anspruch auf Flexibilität. Die Studie im Auftrag des Internationalen Arbeitsamts kam deshalb zu dem Schluss, es gebe »aus technischen oder organisatorischen Gründen« bestimmte Arbeitsbereiche, für die die neuen Arbeitszeitformen »objektiv gesehen« nicht geeignet seien10, für bestimmte Tätigkeiten der Schicht- und Nachtarbeit beispielsweise. Insofern schuf die Möglichkeit, flexibel zu arbeiten, neue Hierarchien – und es gab neben Gewinnern auch Verlierer, zu denen Beschäftigte in Arbeitsgruppen gehören konnten, die sich in den Teams mit ihren individuellen Vorstellungen gegenüber machtpolitisch stärkeren Kollegen nicht durchsetzen konnten. Auf der Verliererseite sahen sich aber nicht nur diejenigen, für die neue Arbeitszeitmodelle aus betriebsorganisatorischen Gründen noch nicht denkbar waren, sondern auch diejenigen, die sich bis dahin erfolgreich gegen die alten Arbeitszeitkontrollen und die Stechuhren gewehrt hatten und nun beobachten mussten, dass sie neuen Arbeitszeitkontrollen im Gewand der Flexibilisierung unterworfen wurden. Den Kampf gegen die Stechuhr hatten die Gewerkschaften mit großer Leidenschaft geführt11, und tatsächlich waren die verhassten Stempel- und Lochkarten aus zahlreichen Verwaltungen und Betrieben verschwunden und durch Zeit­ karten ersetzt worden, die die Arbeitnehmer selbst ausfüllen konnten. Paradox war diese Entwicklung, weil mit der Debatte um »Zeitsouveränität« und individuelle Arbeitszeitgestaltung, um Jobsharing, Gleitzeit und Arbeitszeitkonten die in vielen Unternehmen verpönten Arbeitszeiterfassungssysteme wiederkehrten. Einst als »Knechtschaftsinstrument« verschrien, galten Arbeitszeiterfassungssysteme nun bei einem Teil der Angestellten als Beleg für eine neue Arbeitskultur – und ihre Rückkehr als Autonomiegewinn12. Die Gewerkschaften verfolgten die Debatte um Gleitzeit und Arbeitszeiterfassung mit einer Mischung aus Sorge und Skepsis13. Anfangs sei es bei den neuen betrieblichen Arbeitszeitmodellen um die »Korrektur der außerbetrieblichen Stressbelastung« gegangen, hieß es 1970 in einem internen Papier der IG Metall14. Allerdings sei die Diskussion dann weit über das ursprüngliche Ziel hinausge10 Allenspach, Gleitende Arbeitszeit, S. 1. 11 Vgl. Nick Kratzer, Von der Stechuhr zur Vertrauensarbeitszeit? Betriebliche Arbeitszeitpolitik als Beispiel für den Wandel von Herrschaft, in: Wolfgang Bonß/Christoph Lau (Hrsg.), Macht und Herrschaft in der reflexiven Moderne, Weilerswist 2011, S. 219–243; Süß, Stempeln, Stechen, Zeit erfassen, S. 158–161. 12 Hans-Dieter Kulhay, Das Comeback der Stechuhren. Gleitende Arbeitszeit auf dem Vormarsch, in: Die Zeit vom 8.10.1971, S. 42. 13 Vgl. dazu etwa Georg Vobruba, Interessendifferenzierung und Organisationseinheit. Arbeitszeitflexibilisierung als gewerkschaftliches Organisationsproblem, in: Claus Offe/ Karl Hinrichs/Helmut Wiesenthal (Hrsg.), Arbeitszeitpolitik. Formen und Folgen einer Neuverteilung der Arbeitszeit, Frankfurt a. M./New York 1982, S. 219–232. 14 AdSD, IGMA , 5–23074, Zur gleitenden Arbeitszeit (Entwurf), 4.9.1970.

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gangen, und die Beschäftigten hätten nicht gewusst, welche weitreichenden Folgen mit der Einführung der Gleitzeit verbunden seien. Ein striktes Nein hielten die Tarifexperten der IG Metall für falsch, und tatsächlich gab es aus ihrer Sicht einige Vorzüge: die – zumindest theoretisch – größere persönliche Freiheit der Beschäftigten, die Möglichkeit, den Tagesablauf individuell der Arbeitszeit anzupassen, und die Chance für Familien, ihre Arbeitszeiten auf die öffentlichen Verkehrsmittel abzustimmen. Gleitende Arbeitszeit sei besonders für Frauen attraktiv, weil sie damit über »mehr Zeit für die Versorgung ihrer Kinder, für Schule und Kindergarten« verfügten und es ihnen leichter gemacht werde, ihre Haushaltseinkäufe zu erledigen – ein Argument, das zeigt, wie sehr sich die Diskussion auch in den Gewerkschaften an einem traditionellen Familienmodell orientierte. Während der Begriff Flexibilisierung zu Beginn der 1970er Jahre noch ganz im Zeichen des individuellen Autonomiegewinns stand, ließ sich seit den Krisenjahren 1973/74 und dem Einbruch der Weltwirtschaft ein veränderter Gebrauch und eine zunehmende Erweiterung des Begriffsfelds beobachten. Flexi­ bilisierung bezog sich zwar immer noch auf die neuen »Zeitsouveränitäten«, von denen die Arbeitsmarktforscher sprachen. Es ging nun aber immer häufiger auch um institutionelle Anpassungsprozesse an die veränderten ökonomischen Bedingungen, stotternde Konjunkturmotoren und neue arbeitsmarktpolitische Instrumentarien im Zeichen der Rezession. Nun sprachen beispielsweise die Ökonomen der OECD von Flexibilisierung als Teil einer notwendigen Kostenminimierung und Effizienzsteigerung und analysierten mit diesen Kategorien die vermeintlichen Defizite des europäischen Arbeitsmarkts15. Während in den 1960er Jahren eine aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik im Zentrum der OECD -­Analysen stand, hatte sich die Problemwahrnehmung am Beginn der 1980er Jahre deutlich verändert. In einem Strategiepapier formulierte der Rat der OECD im Mai 1982 Überlegungen über die »Positive Adjustment Policies«: Die westliche Welt müsse wählen zwischen einem »virtuous circle of macro-­economic stability and economic flexibility or vicious circle of instability and rigidity«. Flexibilität galt als Antwort auf die Verkrustungen keynesianischer Steuerungspolitik und als Instrument, um den nötigen »macro-economic equilibrium path« einzuschlagen16. Die aus dem Gleichgewicht geratene Weltwirtschaft könne nur mit Hilfe der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und neuer unternehmerischer Handlungsspielräume wieder stärker zur Entfaltung kommen. Die Botschaft lautete also: »a competitive market is normally the best mechanism to marshall responses to social, economic and technical changes,­ flexibility, constructively and without excessive cost.« 15 Vgl. Solomon Barkin, The Flexibility Debate in Western Europe: The Current Drive to Restore Management’s Rights over Personnel and Wages, in: Relations Industrielles 42 (1987), S. 12–45; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 22. 16 Vgl. auch Joachim Möller, The German labor market response in the world recession – de-mystifying a miracle, in: Zeitschrift für Arbeitsmarktforschung 42 (2010), S. 325–336.

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Aber auch ein freier Markt garantierte keineswegs automatisch eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung oder eine angemessene regionale Förderpolitik. In der OECD fand der Begriff Flexibilisierung seit Anfang/Mitte der 1980er zunehmend Eingang in die offiziellen Dokumente und ökonomischen Analysen. Der von der OECD herausgegebene »Employment Outlook« aus dem Jahr 1985 wies darauf hin, dass »flexibility can be achieved by changes in organization, work force mobility and human capital formations as well as by wage adjustments«17. Flexibilisierung galt als umfassendes Programm, das die Reglementierungen des Arbeitsmarkts ebenso lockern und »anpassungsfähig« machen sollte wie Produk­tionsstrukturen und die Systeme sozialer Sicherung. Und noch etwas kam hinzu: Flexibilisierung bedeutete auch eine veränderte Erwartungshaltung an den Einzelnen, sich den neuen Arbeitsmarktbedingungen zu stellen, sich weiterzubilden und gegebenenfalls auch umzulernen. Flexibilisierung als Verhaltensanpassung an die neuen Spielregeln der markwirtschaftlichen Gesellschaften – dies war in der Tat ein Umdeutungsprozess, der sich seit Ende der 1970er Jahre insbesondere in der neoliberalen Wirtschaftstheorie und in den umfangreichen Privatisierungsprogrammen der Ära Thatcher niedergeschlagen18 hatte und der nun auch die Deutungskategorien internationaler Organisationen wie der OECD prägte.

3. Die »Wende« und der Streit um die 35-Stunden-Woche Auf den ersten Blick schien die Antwort der Gewerkschaften klar – in der Bundesrepublik zumal, wo sie sich seit Oktober 1982 mit der schwarz-gelben Regierung unter Helmut Kohl mit einem neuen Gegner konfrontiert sahen. Die »individuelle flexible Arbeitszeit« könne nur angemessen verstanden werden, wenn sie als Teil des unternehmerischen »Kosten- und Ertragskalküls und der Profitmaximierung« verstanden werde, hieß es in einem Positionspapier für den Vorstand der IG Metall19. Neue Formen der Arbeitsorganisation galten primär als Teil der kapitalistischen Verwertungslogik und wurden nicht etwa, wie es hieß, aus »philanthropischen Motiven angeboten«. Der IG Metall ging es deshalb auch nicht etwa um das »Recht auf Teilzeitarbeit«, sondern um das »Recht auf Arbeit«. In der Praxis bedeuteten flexiblere Arbeitszeiten immer »eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich«, sie führten zu Arbeitsintensivierung und vermehrter Kontrolle. Die Konsequenz sei eine Ausdehnung individueller statt kollek­tiver Arbeitszeitregelungen und damit die Erosion des Flächentarifvertrags. 17 Barkin, Flexibility Debate, S. 26. 18 Vgl. dazu u. a. Dominik Geppert, »Englische Krankheit«? Margaret Thatchers Therapie für Großbritannien, in: Norbert Frei/Dietmar Süß (Hrsg.), Privatisierung. Idee und ­Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012, S. 51–68. 19 AdSD, IGMA , 5–151836, Positionspapier der IG Metall zur sogenannten individuellen flexiblen Arbeitszeit vom 10.2.1982; das Folgende nach Süß, Stempeln, Stechen, Zeit erfassen, S. 150–155.

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Zwar war die Debatte um die Flexibilisierung der Arbeitszeiten bereits in Gang gekommen, bevor das Thema Massenarbeitslosigkeit die sozial- und arbeitsmarktpolitische Agenda der 1980er Jahre bestimmte20. Doch mit dem Amtsantritt der Regierung Kohl verschärfte sich auch die Kritik am Begriff Flexibilisierung, der zahlreichen Gewerkschaftern als »Bestandteil einer rechtskonservativen Gesamtoffensive« galt21. »Flexibilisierung« stand nun synonym für den »Kahlschlag des Sozialstaats« und damit für jedes neue arbeitsmarktpolitische Projekt der Regierung Kohl und ihres Arbeitsministers Norbert Blüm: Das Bundesbildungsförderungsgesetz ebenso wie das Arbeitsförderungsgesetz, das Jugendarbeitsschutzgesetz und insbesondere das Beschäftigungsförderungsgesetz. Die neue Regierung versuchte demnach aus der Perspektive der Gewerkschaften systematisch, den Arbeitsschutz auszuhöhlen und die Tarifbindung zu lockern; sie ziele mit ihrem »arbeitspolitischen Roll Back« auf eine Politik der »Profitmaximierung durch Lohnkostenreduktion«. Die Arbeitnehmer, so lautete die Bilanz gewerkschaftsnaher Intellektueller, hätten von der Politik der Flexibilisierung und der »arbeitsmarktpolitischen Wende« kaum Vorteile zu erwarten, im Gegenteil: »Denn die möglicherweise erleichterte Abstimmung von Berufstätigkeit auf der einen sowie häuslicher Arbeit und Kindererziehung auf der anderen Seite oder die zusätzlich entstehenden Arbeitsplätze werden mehr als teuer erkauft, weil sie von einer Verschärfung der Arbeitsbedingungen, einer Verschlechterung der Einkommenssituation und einer Vertiefung ihrer Abhängigkeit von den Unternehmern vielfach begleitet sind.«22

Während männliche Gewerkschafter ihren teilzeitbeschäftigten Kolleginnen gegenüber gerade noch den »emanzipationsfördernden Charakter der Frauen­ erwerbs­tätigkeit« anerkannten, bestritten sie doch – selbst in überwiegend weiblich geprägten Branchen –, dass eine Arbeit jenseits des Normalarbeitsverhältnisses23 von acht Stunden im Sinne der Frauen, ja gar im Sinne der Beschäftigten insgesamt sein könne. Denn wer sich einmal auf solche neuen Arbeitszeit­modelle einlasse, der spiele nur den Arbeitgebern und ihrer Politik der Rationalisierung 20 Vgl. dazu vor allem Winfried Süß, Massenarbeitslosigkeit, Armut und die Krise der sozialen Sicherung seit den 1970er Jahren. Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, in: Thomas Raithel/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext 1973 bis 1989, München 2009, S. 55–66. 21 Vgl. Alfred Oppolzer/Hartmut Wegener/Ulrich Zachert, Flexibilisierung und Beschäf­ tigungsförderungsgesetz – eine Zwischenbilanz, in: dies. (Hrsg.), Flexibilisierung, Deregulierung. Arbeitspolitik in der Wende, Hamburg 1986, S. 7–17, hier S. 7. 22 Ebenda, S. 9. 23 Zum Begriff vgl. Ulrich Mückenberger, Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses. Hat das Arbeitsrecht noch Zukunft?, in: ZSR 31 (1985), S. 415–434 und S. 457–475; zur Kritik vgl. etwa Alexandra Wagner, Krise des »Normalarbeitsverhältnisses«? Über eine konfuse Debatte und ihre politische Instrumentalisierung, in: Claus Schäfer (Hrsg.), Geringere Löhne – mehr Beschäftigung? Niedriglohn-Politik, Hamburg 2000, S. 200–246.

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und erhöhten Arbeitsanforderungen in die Hände24 – eine Argumentation, die von weiblichen Beschäftigten und Wissenschaftlerinnen heftig kritisiert und als chauvinistisch gebrandmarkt wurde25. Die »neue Arbeitszeitpolitik«, die noch wenige Jahre zuvor gleichsam als »Befreiung« von kapitalistischen Zwängen begrüßt und als Element einer neuen Balance zwischen Arbeit und Lebenswelt verstanden wurde, stand nun für all das Übel, das die »Wende« von 1982/83 aus Sicht der Gewerkschaften mit sich gebracht hatte. Diese wiesen mit einigem Recht darauf hin, dass die von den Arbeitgebern geforderte Arbeitszeitflexibilisierung für viele Beschäftigte schon seit längerem Realität war. Das galt für immer mehr jüngere Beschäftigte unter 25 Jahren, die seit Mitte der 1970er Jahre in befristeten Beschäftigungsverhältnissen angestellt waren, das galt aber beispielsweise auch für Beschäftigte, die nicht unter neue Arbeitszeitregelungen fielen, deren Arbeitszeitrhythmus aber immer weniger einem normalen Acht-Stunden-Tag entsprach: Schicht- und Nachtarbeiter, deren Arbeitsrhythmus sich den ausgedehnten Produktionszeiten zahlreicher Unternehmen und dem damit verbundenen Ziel höherer Aus­ lastungsquoten anzupassen hatte. Die Debatte um ein neues Zeitverständnis in der Bundesrepublik erreichte 1984 mit dem Streik um die Einführung der 35-Stunden-Woche eine neue Qualität26. Denn mit der ökonomischen Krise und der wachsenden Arbeitslosigkeit27 gewann das Thema Arbeitszeitverkürzung immer mehr an gesellschaftspolitischem Gewicht28. Wie konnte der Kampf um die »Humanisierung der Arbeitswelt« verbunden werden mit der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit? Im Januar 1984 erreichte die Arbeitslosenquote mit 10,2 Prozent (rund 2,5 Millionen Frauen und Männer) den höchsten Stand seit 30 Jahren. Die Forderung nach 24 Als ein Beispiel von vielen vgl. Peter Malcherek/Horst Reinert, Flexibilisierung – Zuckerbrot oder Peitsche?, in: Horst Reinert (Hrsg.), Weniger arbeiten – besser leben! Beiträge zur Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche, Göttingen 1984, S. 95–106, hier S. 97. 25 Vgl. dazu auch Annemarie Gerzer/Monika Jaeckel/Jürgen Sass, Flexible Arbeitszeit – vor allem ein Frauenthema. Die Beispiele Ikea und Kaufhaus Beck, in: Thomas Schmid (Hrsg.), Das Ende der starren Zeit. Vorschläge zur flexiblen Arbeitszeit, Berlin 1985, S. 97–127, hier S. 107; Christel Eckart, Die Teilzeitarbeit von Frauen. Eine prekäre Strategie gegen Einseitigkeit und Doppelbelastung, in: Emmerich Tálos/Georg Vobruba (Hrsg.), Perspektiven der Arbeitszeitpolitik, Wien 1983, S. 83–101. 26 Vgl. hierzu Michael Schneider, Streit um Arbeitszeit. Geschichte des Kampfes um Arbeitszeitverkürzung in Deutschland, Köln 1984; Reinhard Richardi, Arbeitsverfassung und Arbeitsrecht, in: Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, Bd. 7: Bundesrepublik Deutschland 1982–1989, hrsg. von Manfred G. Schmidt, Baden-Baden 2005, S. 157–195. 27 Vgl. dazu ausführlich: Raithel/Schlemmer (Hrsg.), Rückkehr, und Thomas Raithel, Jugend­ arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik. Entwicklung und Auseinandersetzung während der 1970er und 1980er Jahre, München 2012. 28 Vgl. Helga Grebing, Gewerkschaften: Bewegung oder Dienstleistungsorganisation – 1955 bis 1965, in: Hans-Otto Hemmer/Kurt Thomas Schmitz (Hrsg.), Geschichte der Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis heute, Köln 1990, S. 149–182.

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der Einführung der 35-Stunden-Woche galt den Gewerkschaften als eine Antwort auf die vielfach beschworene »Krise der Arbeitsgesellschaft« und die Individualisierung der Lebensführung gleichermaßen. Arbeitszeitverkürzung sollte die vorhandene Arbeitsmenge gerechter verteilen, die Massenarbeitslosigkeit bekämpfen und die Arbeits- und Lebensbedingungen der abhängig Beschäftigten verbessern. Bis weit in die 1990er Jahre war dieses gewerkschaftseigene Fortschrittsnarrativ gleichsam die Zauberformel industrieller Krisenbewältigung. Was den in den Tarifbezirken Nordwürttemberg/Nordbaden und Hessen zwischen Mai und Juli 1984 mit großer Härte geführten Streik von anderen industriellen Konflikten der Bundesrepublik seit Mitte der 1950er Jahre unterschied, war sein politischer Charakter. So glaubten die daran beteiligten Gewerkschafter von IG Metall und IG Druck und Papier jedenfalls, dass es keineswegs nur um Fragen der Arbeitszeitverkürzung, sondern um die grundsätzliche Handlungsmacht der Gewerkschaften im neuen CDU/FDP-Staat ginge, den man gerne als bloße Fratze der Kapitalinteressen geißelte29. Wie ernst der Arbeitgeberverband Gesamtmetall die Auseinandersetzung nahm, konnte man schon daran erkennen, dass er noch vor Beginn der Verhandlungen ein eigenes Angebot auf den Tisch legte – ein Novum in der Tarifpolitik. Es sah Lohnerhöhungen und eine verbesserte Vorruhestandsregelung für die Metallindustrie vor, gleichzeitig aber auch die Ablehnung einer Arbeitszeitverkürzung30. Stattdessen forderten die Arbeitgeber eine flexiblere Arbeitsstruktur und die Möglichkeit, den Arbeitsbedarf konjunkturellen Schwankungen anzupassen. Der Konflikt war für den Charakter der späten Bundesrepublik deshalb so zentral, weil er auch ein Grundsatzkonflikt um die Logik des westdeutschen Arbeitszeitregimes war: Denn bis dahin richtete sich die Politik der Arbeitszeitverkürzung auf die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Der Kampf um die 35-Stunden-Woche bedeutete mehr als nur die schrittweise Reduzierung der Wochenarbeitszeit, er war auch Teil eines soziokulturell geprägten Lebensmodells der Industriegesellschaft, zu dem wesentlich die Trennung von Arbeit und Freizeit gehörte. Die Forderung nach der Einführung der 35-Stunden-­ Woche bewegte sich zwar auf den ersten Blick in die gleiche Richtung, doch hatten sich die ökonomischen Bedingungen und damit auch die innere Logik der Arbeitszeitpolitik radikal verändert. Denn nun sollte mit der 35-Stunden-­Woche ein drei­faches Ziel erreicht werden: eine Humanisierung der Arbeit, die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeitnehmer und  – was als Ziel immer mehr dominieren sollte – die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit. Aber gerade diese Mischung war keineswegs widerspruchsfrei – und vor allem konnte die Arbeitgeberseite neue Akzente setzen, in deren Zentrum der Begriff Flexibilisierung stand. 29 Vgl. Der Spiegel vom 18.6.1984: »Magen umgedreht«. 30 Für die Argumente der Arbeitgeberseite vgl. Walter H. Schusser. Flexibilisierung der Arbeitszeit. Plädoyer für das Machbare, Köln 1983, S. 177 f.

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Am Ende der Tarifauseinandersetzung stand – auf Vermittlung des Schlichters Georg Leber – die 38,5-Stunden-Woche als Kompromiss in der westdeutschen Metallindustrie, ein Ergebnis, das zahlreiche Branchen übernahmen. Allerdings mussten die Gewerkschaften eine für sie besonders bittere Pille schlucken31: die tarifvertragliche Regelung der Arbeitszeitflexibilisierung, die insbesondere Spielraum für betriebliche Lösungen und Anpassungen an die ökonomische Lage ließ. Arbeitszeitregelungen waren damit nicht mehr ausschließlich als Flächentarif geregelt, sondern verlagerten sich stärker als je zuvor auf die betriebliche Ebene – eine Tendenz, die gewerkschaftlichen Funktionsträgern nicht gefallen konnte, selbst wenn äußerlich die Rhetorik des Tarifvertrags und seiner Autonomie (auch von den Arbeitgebern) gewahrt blieb. Die 38,5-Stunden-Woche galt überdies nicht für jeden, sondern musste im betrieblichen Durchschnitt erreicht werden, so dass die individuelle Arbeitszeit einzelner Lohngruppen zwischen 37 und 40 Stunden schwanken konnte. Aus Sicht der Gewerkschaften war das Ergebnis deshalb ambivalent32: Arbeitszeitverkürzung und mehr Freizeit waren verbunden mit einer Extensivierung der Produktions- und maschinellen Nutzungszeiten, und das bedeutete, dass standardisierte Wochenarbeitsrhythmen in weiten Teilen des primären und sekundären Sektors durchlässiger und der Arbeitsdruck für die Beschäftigten höher wurden. In die Praxis der Tarifpolitik übersetzt bedeutete Flexibilisierung zunächst den Versuch der Individualisierung bisher kollektiv geregelter Tages- und Wochenarbeitszeiten. Aus Sicht der Arbeitgeber verband sich mit dem Begriff Flexibilisierung, so argumentierten sie, kein eigenständiges Konzept. Vielmehr sei eine größere Anpassungsfähigkeit nötig, um auf veränderte Marktbedingungen reagieren zu können. Arbeitszeitpolitik sollte Teil einer »betriebsnahen Tarif­politik«33 sein, und das bedeutete: ein Instrument, mit dem einzelne Betriebe und Branchen auf konjunkturelle Schwankungen reagieren konnten. Flexibilisierung war in dieser Hinsicht der Oberbegriff für die unterschiedlichen Arbeitszeitmodelle, die seit Ende der 1970er und vor allem seit den 1980er Jahren in deutschen Betrieben erprobt wurden. Das konnten Jahresarbeitszeitmodelle genauso sein wie die Umwandlung von Vollzeit- in Teilzeitstellen. Zusätzlich verstanden die Arbeitgeber unter Flexibilisierung auch die Möglichkeit, künftig stärker auf befristete Beschäftigungsverhältnisse für neu eingestellte Beschäftigte zu setzen. Besonders vehement beklagten die Vertreter der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände eine aus ihrer Sicht allzu arbeitnehmerfreundliche Spruchpraxis der Arbeitsgerichte, deren Rechtsaus­legung einseitig zugunsten des Arbeitnehmerschutzes erfolge und damit das Sozial31 Richardi, Arbeitsverfassung, S. 164. 32 Vgl. beispielsweise etwa die Bilanz von Walter Riester, Der Kampf um die 35-Stunden-­ Woche in Nordwürttemberg/Nordbaden – Bedingungen, Erfahrungen, Schlussfolgerungen, in: WSI-Mitteilungen 37 (1984), S. 526–533. 33 Johannes Göbel, Flexibilisierung aus Arbeitgebersicht, in: Oppolzer/Wegener/Zachert (Hrsg.), Flexibilisierung, S. 48–67, hier S. 58; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 53.

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staatsgebot des Grundgesetzes zur »Einbahnstraße« mache. Deshalb lautete die Forderung an die Arbeitsgerichte und den Gesetzgeber: mehr Zuspruch für die marktwirtschaftliche Ordnung und unternehmerische Belange nach jahrzehntelanger Expansion im Sinne der Gewerkschaften. Tatsächlich bedeutete die Forderung nach Flexibilisierung deshalb eine gesellschaftliche »Neuorientierung«: Mit Hilfe der Mitbestimmungsrechte und der Schutzfunktion des Arbeitsrechts sei der Arbeitnehmer zum »gleichberechtigten Vertragspartner« geworden. Er solle daher nicht etwa als »Mitgesellschafter« des Unternehmers, sondern als Vertragspartner im Sinne eines »liberale[n] individualrechtliche[n] Ordnungsmodell[s]«34 agieren. Übersetzt hieß das: weniger Mitbestimmung, weniger staatlicher Schutz, mehr individuelles Risiko. Die Diktion der Arbeitgebersprache hatte sich seit den späten 1960er und frühen 1970er Jahren tatsächlich gewandelt und atmete nun ganz den Geist der neoliberalen Deutungskultur, die sich seit den 1980er Jahren zunehmend aus­ gebreitet hatte35. Gleichzeitig deutete die Praxis des Leber-Kompromisses ­darauf hin, dass die vielbeschworene »Zeitenwende« die meisten Beschäftigten zunächst noch nicht erreichte. So waren bis 1994 wohl nicht mehr als zwischen zwei bis vier Prozent der Arbeitnehmer von der neuen Flexibilisierungsstrategie der Arbeitgeber in der Metallindustrie betroffen36. Was sich indes – mehr leise als laut – in den Betrieben veränderte, war das arbeitszeitpolitische Klima: Die 1980er Jahre waren in dieser Hinsicht eine Phase der großen Suchbewegung und der Testläufe. Flexibilisierungsmodelle wurden im Kleinen erprobt, Schmerzgrenzen ausgelotet, Drohpotentiale aufgebaut und wieder verworfen und damit der Boden für deutlich weiter gehende Schritte vorbereitet. Während die Arbeitgeber lauthals Klage über die Blockadehaltung bei der Durchsetzung neuer Arbeitszeitmodelle und der versuchten Ausweitung der 38,5-Stunden-Woche auf alle Beschäftigten führten, wiesen Betriebsräte und Gewerkschaften auf die gefährliche Politik der kleinen Schritte hin: So kritisierte beispielsweise ein Betriebsrat, der Verwaltungsangestellte eines Industrie­ betriebs vertrat, die neuen Arbeitsverträge, die Beschäftigte seit 1985 unterschrei-

34 Ebenda, S. 65. 35 Vgl. dazu Dietmar Süß, Idee und Praxis der Privatisierung in Europa, in: Frei/Süß (Hrsg.), Privatisierung, S. 11–31. 36 Das Folgende nach Rainer Trinczek, Arbeitszeitflexibilisierung in der bundesdeutschen Metallindustrie, in: Hans G. Zilian/Jörg Flecker (Hrsg.), Flexibilisierung – Problem oder Lösung, Berlin 1998, S. 67–87; Rene Schmidt/Rainer Trinczek, Does the 38.5-Hour Week Collective Agreement Change the West German System of Co-determination?, in: Cor­ nelis J. Lammers/Gyorgy Széll (Hrsg.), International Handbook of Participation in Organizations, Bd. 1: Organizational Democracy – Taking Stock, Oxford 1989, S. 285–300; Rudi Schmidt/Rainer Trinczek, Die betriebliche Gestaltung tariflicher Arbeitszeitnormen in der Metallindustrie, in: WSI-Mitteilungen 39 (1989), S.641–661; mit Blick auf die 1990er Jahre vgl. Christa Herrmann u. a., Forcierte Arbeitszeitflexibilisierung. Die 35-­ Stunden-Woche in der betrieblichen und gewerkschaftlichen Praxis, Berlin 1999.

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ben mussten37. Vor der Tarifvereinbarung hätten Arbeitsverträge in der Regel einen Passus gehabt, der lautete: »Es bleibt uns vorbehalten, Sie gegebenenfalls an eine andere Stelle innerhalb des Ortes, an dem sich Ihre Betriebsstätte befindet, zu versetzen.« Nun hieß es stattdessen: »Es bleibt uns vorbehalten, Sie gegebenenfalls an einen anderen Ort zu versetzen. Hierbei sind Ihre persönlichen Belange zu berücksichtigten«. Entscheidend waren die persönlichen Belange jedoch nicht – und möglich war damit auch die Versetzung an eine Arbeitsstätte, die sich in einer anderen Region befand. In der Druckindustrie hatten die Beschäftigten ebenfalls für die Einführung der 38,5-Stunden-Woche gestreikt, wenngleich die tarifpolitische Auseinandersetzung von Beginn an im Schatten der IG Metall gestanden hatte; die Arbeitszeitverkürzung und die neuen flexiblen Arbeitszeitmodelle traten am 1.  April 1985 in Kraft. In ihrer ersten umfassenden Bilanz stellten Experten, die für die IG Druck und Papier die betriebliche Umsetzung untersucht hatten, fest, es sei den Arbeitgebern »nicht gelungen, die Flexibilität der Arbeitszeitgestaltung über die tariflichen Arbeitszeitbestimmungen hinaus erheblich zu erweitern«38. Bislang hätten das Beschäftigte und Betriebsräte gemeinsam verhindert. Allerdings sei zu beobachten, wie massiv die Arbeitgeber in den Aufbau eines »Flexibilisierungs-Know How« investierten, neue Modelle entwickelten und dabei ihre Ini­ tiativen zunehmend zentral steuerten. Mehrere Ziele erkannten die Gewerkschaften als neue Arbeitgeberstrategie: Wöchentliche Betriebsnutzungszeiten sollten ausgedehnt und der Schritt von zur Sechs- oder gar Siebentagewoche sollte vollzogen werden; Arbeitszeiten sollten bei Bedarf ausgedehnt oder eingeschränkt werden können, um eine Anpassung an betriebliche, kapazitätsbedingte Schwankungen zu ermöglichen. Damit ging es sowohl um dauerhaft unterschiedliche tägliche Arbeitszeiten als auch um eine kurzfristige Orientierung am Arbeitsvolumen. Für die Gewerkschaften war es insgesamt schwierig geworden, so ihre eigene Analyse, »bereits in den Betrieben vorhandene Flexibilisierungsspielräume nachträglich einzuengen«.

4. Praxis der Flexibilisierung Zufrieden waren die Gewerkschaften indes über eine andere Entwicklung: Die nun begonnene Auseinandersetzung über die Umsetzung der Arbeitszeitverkürzung habe zu einem neuen »Bewußtsein« geführt, das dabei helfe, über die Machtkonstellationen im Betrieb und »die Interessenkonflikte zwischen privater 37 Vgl. Helmut Hoyer-Hoeft, Betriebliche Erfahrungen bei der Umsetzung von Flexibilisierung, in: Oppolzer/Wegener/Zachert (Hrsg.), Flexibilisierung, S. 144–148, hier S. 144; die folgenden Zitate finden sich ebenda. 38 Dieses und die folgenden Zitate in: Gerhard Bosch u. a., Arbeitszeitverkürzung im Betrieb. Die Umsetzung der 38,5-Stunden-Woche in der Metall-, Druck- und Holzindustrie sowie im Einzelhandel, Köln 1988, S. 141 f.

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Lebensführung und betrieblichen Ansprüchen der Zeitgestaltung« nachzudenken. Protest und Widerstand offenbarten also die – lange etwas verschütteten – Antagonismen. Auch wenn das Wort Klassenbewusstsein nicht fiel, schien es doch Hoffnung wie Projektion gleichermaßen zu sein. Denn der Tarifstreit habe am Ende bewiesen, wie notwendig eine »enge Verzahnung der gewerkschaftlichen Tarifpolitik [mit] einer aktiven Betriebspolitik« sei. Aus anderen Branchen waren solche, womöglich leicht übertriebenen Einschätzungen, nicht zu hören. Im Einzelhandel beispielsweise gab es von jeher die unterschiedlichsten variablen Arbeitszeitmodelle, zu denen in Extremfällen auch die »Arbeit auf Abruf« gehörte. Arbeitsverträge regelten in solchen Fällen lediglich eine bestimmte Mindeststundenzahl, allerdings blieb offen, wie viel und wie lange der (oder meistens die)  Einzelne tätig waren. Ein festes Grundeinkommen gab es hier nicht, und die Gesamtarbeitszeit war abhängig vom Bedarf und von den Vorgaben der Abteilungsleitung. Die Gesamtsituation im Einzelhandel unterschied sich freilich von derjenigen in der Industrie, da es hier nicht nur eine konkurrierende Gewerkschaft – die Deutsche Angestellten-Gewerkschaft – gab, sondern auch eine lange Praxis flexibler Arbeitszeitgestaltung. Zudem ging es vor allem um Frauenarbeit. Die einzelnen regionalen Manteltarifverträge sahen insgesamt eine Reduzierung der Arbeitszeit auf 38,5 Stunden vor, ließen aber zahlreiche betriebliche Sonder­ regelungen zu. Während die Gewerkschaften darum bemüht waren, Arbeitszeitverkürzungen als Freizeitblöcke zu bündeln, setzten die Arbeitgeber darauf, ihre betrieblichen Spielräume zu verteidigen und die Arbeitszeitverkürzungen mit bereits existierenden (oft aber informell geregelten) Arbeitszeitgutschriften zu verrechnen oder die reduzierte Arbeitszeit in solche Zeiten zu verlegen, in denen grundsätzlich weniger Personal gebraucht wurde. Umkämpft waren also auch hier Formen und Praxis der Arbeitszeitreduzierung, die im Einzelhandel stärker noch als im Druckgewerbe oder der Metallindustrie Gefahr lief, mit vorhandenen Arbeitszeitregelungen verrechnet zu werden, so dass am Ende von einer neuen »Zeitsouveränität« nicht mehr viel zu spüren war. Bei den Beschäftigten, so zeigten erste Sondierungen, gab es neben mancher Hoffnung auch Ängste. Denn gerade im Einzelhandel fürchteten viele, die Arbeitszeitverkürzungen könnten womöglich ihre so dringend benötigten Lohnzuwächse auffressen – und das in einer Branche, die berüchtigt für die schlechte Bezahlung ihrer zumeist weiblichen Beschäftigten war. Die Frage nach möglichen Gewinnern und Verlierern der Flexibilisierung von Arbeitszeiten konnte sich also je nach Branche und Gewerkschaft sehr unterschiedlich stellen. Die zumeist männlichen und dem Verlust des Normal­arbeits­ verhältnisses nachtrauernden Gewerkschaftsfunktionäre sahen in den Sorgen der weiblichen Beschäftigten – jedenfalls zu Beginn der 1980er Jahre – eher ein Problem zweiter Ordnung im deutlich grundsätzlicheren Konflikt mit den Arbeitgebern und ihrer Strategie der Flexibilisierung. Ob man zu den Gewinnern oder zu den Verlierern der Arbeitszeitflexibilisierung zählte, hing somit vom Ausgang des politischen Konflikts um das industrielle Ordnungsmodell ab,

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der in den 1980er Jahren zwischen Staat, Parteien, Gewerkschaften und Arbeit­ gebern ausgefochten wurde. Die Sozialforschungsinstitute produzierten eine bis dahin nie gekannte Datenmenge über Wirkung und Probleme der neuen Arbeitszeitverhältnisse39. Verlor Arbeit an lebensweltlicher Bedeutung? Wollten die Menschen mehr oder weniger arbeiten? Waren die Menschen zufrieden mit ihrem Arbeitsplatz? Was blieb übrig vom bürgerlichen Arbeitsethos? INFAS , das Institut für Demoskopie, Infratest, Emnid, verschiedene Forschergruppen finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der VolkswagenStiftung: Sie alle beteiligten sich an der Suche nach der Bedeutung des Faktors Arbeit in der westdeutschen Konsum­gesellschaft40. Indes waren die Umfrageergebnisse schon zeitgenössisch umstritten und keineswegs eindeutig. Wie sollten beispielsweise die standardisierten Fragebögen die vielschichtigen und sich situativ rasch wandelnden Arbeitsverhältnisse angemessen abbilden können? Und produzierten nicht gerade die kommerziellen Demoskopie-Institute genau die Ergebnisse, die ihre Auftraggeber wünschten? Einigkeit bestand in generellen Befunden: So sank zwischen 1960 und 1982 die Jahresarbeitszeit um 400 Stunden auf 1684 – und damit um rund 20 Prozent. Insgesamt konnte man – bei allen Unterschieden im Detail – aus den Studien herauslesen, dass es zwischen den 1960er Jahren und 1982 eine Zunahme derer gab, die kürzere Arbeitszeiten generell für eine gute Sache hielten. Es schien so zu sein, dass die Akzeptanz zur Arbeitszeitreduzierung mit der Höhe des Einkommens stieg und die weniger gut Verdiendenden den Einkommenszuwachs höher bewerteten als ein Mehr an Freizeit. Insgesamt ließen sich die unterschiedlichen Umfragen als ein Hinweis auf die »Heterogenität« der Bedürfnisse und Erwartungen lesen – und in ihrer Offenheit die Möglichkeit zum Deutungskampf über Gewinner und Verlierer der Flexibilisierung aufkommen. Waren, so fragte etwa Jürgen Schupp in der Zeitschrift »Sozialer Fortschritt«, die Teilzeitbeschäftigten »Gewinner« oder »Opfer« der Arbeitszeitflexibilisierung41? Teilzeitbeschäftigung hatte seit Mitte der 1970er Jahre zugenommen, 39 Zur Debatte darüber vgl. etwa Rüdiger Graf/Kim Ch. Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: VfZ 59 (2011), S.  479–508; Jenny Pleinen/Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften, in: VfZ 62 (2014), S. 173–195; zu Chancen und Grenzen des Begriffs Wertewandel vgl. Bernhard Dietz/Christoph Neumaier/Andreas Rödder (Hrsg.), Gab es den Werte­wandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlichen und kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014. 40 Vgl. u. a. Lage, Dauer, Tatsachen, Entwicklungen, Erwartungen und Verteilung der Arbeitszeit. Untersuchung im Auftrag des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung, Bonn 1981 (Emnid); vgl. dazu als Überblick und Gesamtauswertung mit Literaturangaben Margarete Landenberger, Arbeitszeiten. Das Mißverhältnis zwischen Wunsch und Wirklichkeit, in: Schmid (Hrsg.), Ende, S. 51–71, hier S. 70 f.; die folgenden Zahlen und Zitate finden sich ebenda, S. 53, S. 56 und S. 69. 41 Jürgen Schupp, Teilzeitbeschäftigte in der Bundesrepublik Deutschland. Opfer oder Gewinner der Arbeitszeitflexibilisierung?, in: Sozialer Fortschritt 38 (1989), S. 245–252.

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wobei es insbesondere (verheiratete) Frauen waren, die Teilzeit arbeiteten. Insgesamt arbeiteten in der Bundesrepublik im Jahr 1988 rund 3,3 Millionen Menschen Teilzeit. Das entsprach etwa 14 Prozent aller abhängig Beschäftigten. Der Anteil der ungelernten Arbeiterinnen und einfachen Angestellten war unter den teilzeitbeschäftigten Frauen überproportional groß42 – ein wesentlicher Grund, weshalb vollzeitbeschäftigte Frauen einen durchschnittlich 11 Prozent höheren Nettolohn als teilzeitbeschäftigte erhielten. Jede dritte Arbeitnehmerin arbeitete 1988 in einen Teilzeitarbeitsverhältnis, während nur zwei Prozent der Männer weniger als 35 Stunden arbeiteten. Teilzeit bedeutete also einerseits eine erhöhte Chance am Erwerbsleben teilzuhaben, gleichzeitig aber auch eine, wie Schupp feststellte, Reproduktion geschlechts­ spezifischer Ungleichheiten, weil Haushalt und Kinderbetreuung trotzdem überwiegend Frauensache blieben. Von den knapp acht Millionen nicht erwerbs­ tätigen Frauen des Jahres 1985 waren 1988 etwa 28 Prozent (rund 2,3 Millionen) erwerbstätig43. Im gleichen Zeitraum erhielten von den nicht erwerbstätigen Frauen, die das Ziel hatten, Vollzeit zu arbeiten, etwa zwei Drittel eine Stelle. Insgesamt, so bilanzierte Schupp, zeigten die Befunde, dass Teilzeitbeschäftigte von den Veränderungen des Arbeitsmarkts profitierten, weil die wachsende Zahl an Teilzeitstellen den individuellen Bedürfnissen der Beschäftigten und ihren neuen Ansprüchen entsprach. Allerdings machte er zugleich deutlich, dass sich die Folgen der Flexibilisierung je nach Branche erheblich unterscheiden konnten. Insbesondere in den gewerkschaftlich schwach organisierten Dienstleistungsindustrien sei ein erhöhter Druck auf die teilzeitbeschäftigten Frauen zu beobachten – ein Befund, der sich mit den gewerkschaftseigenen Studien deckte. Die eigentlichen »Opfer« der Flexibilisierungs-Debatte waren deshalb aus seiner Sicht nicht generell die Teilzeitbeschäftigten, sondern insbesondere die zahlreichen Erwerbslosen, für die es immer noch zu wenig Voll- und Teilzeitstellen gebe. »Arbeitszeitflexibilisierung«, so sein Urteil, »die durchaus den Arbeitnehmerinteressen dienen kann, wird also vornehmlich deswegen zum Problem, weil sie bei anhaltender Unterbeschäftigung und bei mangelndem wirtschaftspolitischen Wollen, das Vollbeschäftigungsziel zu erreichen, eingeführt wird.« Mit Blick auf die Teilzeitbeschäftigten sprach sich Schupp für eine stärkere kollektive Regelung dieses vielfach wildwüchsigen Arbeitsverhältnisses aus. Die Gewerkschaften hatten die Veränderungen jenseits des Normalarbeitsverhältnisses verschlafen oder ignoriert. So fehlten noch Ende der 1980er Jahre Versuche, beispielsweise auch Teilzeitarbeitsplätze systematisch in das System kollektiver betrieblicher Sicherungen zu integrieren. Der Zugang zur betrieblichen Altersversorgung zählte dazu genauso wie der Schutz vor Rationalisierungsprogrammen oder der Zugang zu anteiligen Leistungen betrieblicher Zulagen –­ Arbeitszeitflexibilisierung brauchte in jedem Fall ein erhöhtes Maß an »sozialer 42 Vgl. Landenberger, Arbeitszeiten, S. 62. 43 Vgl. Schupp, Teilzeitbeschäftigte, S. 248; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 250.

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Phantasie«, um die Erwerbsbiographien vor den Risiken der veränderten Lebensläufe zu schützen. Wer also tatsächlich Gewinner oder Verlierer war, ließ sich nicht leicht be­ antworten. Die Frage führte indes dazu, dass eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern um Karl H.  Hörning, Anette Gerhardt und Matthias Michailow einen bis dahin unbekannten Typus von Gewinnern entdeckte: die »Zeitpioniere«44. Diese Beschäftigten waren nicht etwa geknechtet durch den Flexibilisierungsdruck der Arbeitgeber, sondern hatten sich ganz bewusst für weniger Arbeit entschieden, um eigenen Lebensplänen zu folgen. Als »flexible Arbeits­ zeiten« galten deshalb in der Studie auch nicht die neuen Arbeitszeitmodelle der Tarifverträge, sondern die durch die Beschäftigten selbst erstrittenen, reduzierten Arbeitszeiten, die vielfach quer zu den Zeitwünschen der Arbeitgeber und den Leitvorstellungen des Normalarbeitstags verliefen. Die »Zeitpioniere« trugen mit ihrer Distanz gegenüber den etablierten Zeitmustern der Industriegesellschaft dazu bei, dominierende Leitbilder der Erwerbsarbeit in Frage zu stellen. Der Faktor Arbeit verlor für sie keineswegs völlig an Bedeutung, und »Zeitpioniere« waren aus ihrer Sicht keine »Aussteiger«. Aber was sie taten, war der Versuch, die subjektiven Vorstellungen eines guten Lebens mit den dominierenden Normen und Organisationsstrukturen der Unternehmen in Einklang zu bringen. Interviewt wurden 36 Beschäftigte, die zwischen 20 und 32 Stunden in der Woche arbeiteten und aus unterschiedlichen Berufsfeldern stammten: aus der Verwaltung ebenso wie aus dem Bildungs- und Sozialbereich; einige waren auch in technischen Berufen tätig. »Zeitpioniere« – sie schienen gleichsam die neuen Helden und die Vorboten einer Gesellschaft zu sein, in der sich der Lebensrhythmus nicht mehr nach den Wochenenden orientierte. Es waren Menschen, die sich beständig Gedanken über die Zeiteinteilung ihres Lebens machten, die sich die Reduzierung der Wochenarbeitszeit gegen ihre Arbeitgeber einerseits, aber auch gegen manche skeptische Betriebsräte und ihre Vorstellung vom Normalarbeitstag erkämpft hatten. »Zeitpioniere« setzten gegen die Beschleunigung der Gesellschaft eine neue Langsamkeit, sie organisierten ihren Alltag und Haushalt neu, sie akzeptierten finanzielle Einbußen für ein neues Maß an Freiheit – und sie empfanden ihre neu gewonnene Flexibilität als Autonomiegewinn. »Zeitpioniere« durchbrachen das herrschende Geld-Zeit-Diktat – und waren damit, so die Prognose, die Vorboten eines veränderten kulturellen Paradigmas, in dessen Mittelpunkt Begriffe wie Selbststeuerung, Vielfalt und eigenverfügbare Zeit standen. Aus den Gesprächen ging indes hervor, dass dieser Subjektivierungsprozess von einer Fülle neuer Probleme begleitet war. Die Beschäftigten erfuhren die Re44 Vgl. hierzu und zum Folgenden Karl H. Hörning/Anette Gerhardt/Matthias Michailow, Zeitpioniere. Flexible Arbeitszeiten – neuer Lebensstil, Frankfurt a. M. 1990; zusammenfassend auch: Karl H. Hörning/Anette Gerhardt/Matthias Michailow, Den Zeitpionieren auf der Spur: Flexibilisierung der Arbeitszeit und neue Formen der Lebensführung, in: Soziale Welt 41 (1990), S. 206–221.

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duzierung der Arbeitszeit als ambivalenten Prozess. Trotz weniger Stunden im Betrieb oder der Verwaltung erlebten sie skeptische und unzugängliche Vorgesetzte, die keineswegs neues Personal einstellten, sondern die Arbeitsmenge vielfach unverändert ließen, so dass fast dieselbe Arbeit in einer kürzeren Zeit erledigt werden musste. Für die »Zeitpioniere« bedeutete das, dass traditionelle Stränge informeller Kommunikation im Betrieb wie Kaffee- oder Zigarettenpausen wegfielen und sie sich damit von wichtigen Informationskanälen ab­ geschnitten fühlten. Und noch ein weiteres Problem kam hinzu: Weniger zu arbeiten bedeutete in der organisationskulturellen Hierarchie der Betriebe einen symbolischen Abstieg, denn die Anerkennung von Leistung orientierte sich überwiegend am männlichen Normalarbeitstag – und damit am Acht-StundenTag. Wer dieser Norm nicht entsprach, hatte es schwer, seinen bisher erreichten Platz zu verteidigen und von den anderen Kollegen für das, was er tat, anerkannt zu werden. Insofern bedeuteten die flexiblen Arbeitszeiten nicht nur eine Heraus­forderung für die traditionellen und sehr zähen organisationkulturellen Arbeitsarrangements, sondern sie machten den »Zeitpionieren« auch die Grenzen der eigenen Handlungsmacht deutlich. Die Folgen der Selbstermächtigung im Kampf um Zeit waren in mehrfacher Weise paradox: Denn die erhöhte Arbeitsbelastung ging einher mit einer Steigerung der Eigenverantwortung und Aufwertung der Kontrollmöglichkeiten über den Arbeitsprozess; Arbeitsintensivierung, größere Selbstständigkeit und höher qualifizierte Tätigkeit bedingten sich gegenseitig. Einerseits erlebten die »Zeitpioniere« täglich die erhöhten Ansprüche, die Nachteile der geringeren Präsenz, die organisatorischen Mängel der betrieblichen Arbeitsorganisation und die befremdeten Blicke der Kollegen und Vorgesetzten. Andererseits empfanden sie die flexiblen Arbeitszeiten trotzdem als individuellen Gewinn und Möglichkeit, ein zufriedeneres, weniger gehetztes Leben zu führen – trotz aller materieller Einbußen. Der Anspruch, die eigene Lebensführung neu zu gestalten, hatte aber nicht nur ein Mehr an Freiheit zur Folge; denn mit der gewonnen Zeit entstanden, so berichteten es die Befragten, zugleich neue Anforderungen und neuer Druck, die eigenen Ansprüche einer Balance zwischen Arbeit und Lebensführung in Einklang zu bringen. Kontrolle über die eigene Zeit hieß deshalb auch: neuer Zwang zur Entscheidung über zeitliche Prioritäten, die bis dahin durch den Normal­ arbeitstag und den betrieblichen Rhythmus geregelt waren.

5. Bilanz Die »Zeitpioniere« blieben in den 1980er und 1990er Jahren eine kleine Minderheit unter den Beschäftigten. Und ob sie zu den »Gewinnern der Flexibilisierung« zu zählen sind, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Ihre Erfahrungen verweisen jedenfalls auf die Kontinuität und Zähigkeit arbeitskultureller Organisationsstrukturen und Deutungsmuster in der Epoche nach dem Boom – und sie geben Hinweise auf veränderte Logiken und Bedürfnisse einer (überschau­

Der Sieg der grauen Herren?

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baren) Zahl an Beschäftigten, die sich aktiv gegen das fordistische Zeitregime zur Wehr setzten. Eine Geschichte der Flexibilisierung, ihrer semantischen Codierung und ihrer »eigensinnigen« Aneignung verweist auf die Prozesse der Differenzierung und Pluralisierung gesellschaftlich normierter Zeitordnungen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Deutlich wird, dass das Feld der Zeitpolitik seit den 1970er Jahren in Bewegung geriet und seitdem vor allem durch einen Prozess zunehmender Vermarktlichung gekennzeichnet ist – ein Prozess, der gleichsam in das traditionelle Gewand des Flächentarifvertrags und der Tarifautonomie gehüllt war und sich eher schleichend, wenig revolutionär und wohl auch ohne »graue Herren« vollzog. Für die Frage nach den veränderten Zeit­horizonten und Zeiterfahrungen dürften gerade die sich veränderten Grenzen zwischen Arbeit und Lebenswelt von Bedeutung sein, in denen es, einmal mehr, um die Herrschaftsbeziehungen in kapitalistischen Gesellschaftsordnungen geht. Es wäre sicher kein Nachteil für die Zeitgeschichte, wenn diese Dimension der Vorgeschichte der Gegenwart künftig stärker in den Blick geriete.

Wiebke Wiede

Zumutbarkeit von Arbeit Zur Subjektivierung von Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik Deutschland und in Großbritannien

1. Zumutbare Arbeit: Programme und Praktiken von Subjektivierung Arbeitslosigkeit wurde in Westeuropa seit Anfang der 1970er Jahre im Zuge des wirtschaftlichen Strukturbruchs von einem vorläufigen Phänomen zu einem permanenten Problem1. Staatliche Arbeitsmarktpolitiken standen vor längst überwunden geglaubten fiskal- und beschäftigungspolitischen Herausforderungen. Der Einbruch der Arbeitsmärkte bedeutete für die Betroffenen einen Bruch der Erwerbsbiographie, verbunden mit der Erfahrung, die grundlegenden Normen der Arbeitsgesellschaft nicht zu erfüllen2. Arbeitslose wurden seit den 1970er Jahren zu gleichermaßen alltäglichen wie marginalisierten Figuren in den Gesellschaften Westeuropas. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht die Frage nach der sozialen Regulierung der Zumutbarkeit von Arbeit in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland, einsetzend mit der Implementierung aktiver Arbeitsmarktpolitiken in den späten 1960er Jahren. Zumutbarkeit wird trotz der semantischen und rechtshistorischen Differenzen in Großbritannien und der Bundesrepublik in beiden Ländern als Begriff verstanden, der sozialrechtlich wirksame Regelungen definiert – Regelungen, die Arbeitnehmer berechtigen, eine Arbeit aufzu­geben, oder die es Arbeitslosen erlauben, eine Tätigkeit abzulehnen, ohne hierfür durch Minderung oder Entzug öffentlicher Leistungen sanktioniert zu werden. Der Begriff steht im Zusammenhang mit Debatten über Rechte und Pflichten von Arbeits­ losen gegenüber der Gesellschaft und umgekehrt über die Verpflichtungen der 1 Vgl. Duncan Gallie/Serge Paugam (Hrsg.), Welfare Regimes and the Experience of Un­ employment in Europe, Oxford 2000; Thomas Raithel/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext 1973 bis 1989, München 2009; Thomas Raithel, Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik. Entwicklung und Auseinandersetzung während der 1970er und 1980er Jahre, München 2012, insbesondere S. 135 f. 2 Zur Häufigkeit von Arbeitslosigkeit als biographische Erfahrung in der Bundesrepublik zwischen 1975 und 1984 vgl. Lutz Raphael, Flexible Anpassungen und prekäre Sicherheiten. Industriearbeit(er) nach dem Boom, in: Thomas Schlemmer/Morten Reitmayer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 51–64, hier S. 62; vgl. auch Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, S. 54 f.

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Gesellschaft gegenüber den Arbeitslosen. Für Arbeitslose werden neben den Bedingungen von Lohnarbeit in diesen Regeln auch veränderte Anforderungskataloge von Flexibilität erfahrbar. Zumutbarkeitsregeln zwingen zu räumlicher, zeitlicher und beruflicher Flexibilität; sie formulieren die Zumutungen von »Diskontinuitäten und sozialen Kontingenzen« angesichts variierender Ansprüche an die Flexibilität des Arbeitnehmers im Zeichen struktureller Massenarbeitslosigkeit3. Internationale und supranationale Gremien haben den Begriff der zumut­ baren Arbeit, die als »suitable employment« bezeichnet wird, seit den 1950er Jahren in Direktiven niedergelegt4. Die International ­Labour Organisation (ILO) verwendete den Terminus in der Empfehlung Social ­Security ­(Minimum Standards) von 1952, um Arbeitslosigkeit als »inability to find a suitable employment« zu definieren. Im European Code of Social Security des Europarats von 1964 wird Arbeitslosenunterstützung als sozialer Standard der Mitgliedsländer eingefordert, die arbeitsfähigen Personen »due to inability to obtain suitable e­ mployment« gewährt werden solle. Die juristischen und administrativen Regelungen von Zumutbarkeit werden im Folgenden als soziale Regierungstechniken der Subjektivierung von Arbeitslosigkeit begriffen, und zwar im Foucaultschen Sinn von Subjektivierung, das heißt der sozialen Konfiguration von Arbeitslosen im Zusammenspiel ihrer Fremd- und Selbstführung5. Eine solche Perspektive auf die Gouvernementalität von Arbeitslosigkeit, die Mikrostrukturen ihrer selbst- und gesellschaftsbezogenen Machttechniken und Machtpraktiken in den Blick nimmt, ist nicht unproblematisch6. Foucault selbst beschrieb keine Genealogie des Juridischen im Sinne eines normativen Phänomens mit eigener Wirklichkeit und Technizität. Seine Ausführungen zur »juridischen Macht« bleiben fragmentarisch und gewichten diffusere Machtformen stärker als die juristische Staatsmacht. Als analytisch problematisch kann sowohl das historische wie auch das epistemische Verhältnis von repressivem Gesetz und produktiver Macht angesehen werden. Insbesondere Forschungen der Critical Legal Studies unterstellten Foucaults Konzepten einen inhärenten Gegensatz von Gesetzes- und Disziplinierungsdis3 Katharina Pühl, Der Bericht der Hartz-Kommission und die »Unternehmerin ihrer selbst«. Geschlechterverhältnisse, Gouvernementalität und Neoliberalismus, in: Marianne Pieper/ Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Hrsg.), Gouvernementalität. Ein sozialwissenschaftliches Konzept im Anschluss an Foucault, Frankfurt a. M./New York 2003, S. 111–135, hier S. 115. 4 Elise Dermine, Suitable Employment and Job of Quality, in: Pascale Vielle/Silvia Borelli (Hrsg.), Quality of Employment in Europe. Legal and Normative Perspectives, Brüssel 2012, S. 157–180. 5 Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1983, S. 78; grundlegend: Michel Foucault, Subjekt und Macht (1982), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, Bd. 4: 1980– 1988, Frankfurt a. M. 2005, S. 269–280. 6 Vgl. Regina Brunnett/Stefanie Gräfe, Gouvernementalität und Anti-Terror-Gesetz. Kritische Fragen an ein analytisches Konzept, in: Pieper/Gutiérrez R ­ odríguez (Hrsg.), Gouvernementalität, S. 50–67; Petra Gehring, Epistemologie? Archäologie? Genealogie? Foucault und das Recht, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 50 (2000), S. 18–33.

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positiven7. Diese Machtdispositive koexistieren historisch jedoch und erweitern die Spektren von Macht und Herrschaft8. Es wird noch darauf zurückzukommen sein, inwiefern sich staatliches Rechtshandeln an sozialen Normen orientiert und demgemäß die sozialen Normen das Rechtshandeln nicht ablösen, sondern auch als Verrechtlichungstendenz auf die fixierte, repressive Gesetzesmacht zurückwirken und in diesem Sinn Machtdispositionen erweitern9. Epistemisch evoziert die unterstellte Binarität von repressiver Herrschaft und produktiver Macht eine auf die Subjektprogrammatiken reduzierte Gouvernementalitätsanalyse und die Vernachlässigung sozialer Heterogenität in den historischen Subjektpraktiken. Die bloße Existenz von Subjektprogrammen als festgelegte Normen und Standards sagt allerdings noch nichts darüber aus, wie sie in die Praxis umgesetzt werden und dort wirken. Jenseits einer Annahme von Subjektivierungsprogrammen als Problematisierungs- und Anrufungsinstanzen einerseits und sich dazu zwangsläufig verhaltenden – affirmativen, widerständigen, eigensinnigen – Individuen andererseits, möchte ich mit Marion Ott und Daniel Wrana Machtverhältnisse als soziale Praktiken in ihrem Vollzug analytisch einbeziehen10. Demgemäß sind auch Widerstände, unerwartete Gebrauchsweisen oder Gegenprogramme als Praktiken der Machtverhältnisse zu begreifen und nicht dem Individuellen zuzuschreiben. Es geht weniger um eine Analyse von Machtausübung als von Machtverhältnissen sowie von heterogenen und differenten Problematisierungen und Bedeutungsverschiebungen, die sich in sozialen Feldern abspielen. In Bezug auf die Regierungstechnik der »zumutbaren Arbeit« möchte ich deshalb zum einen die juridischen und administrativen Regelungen »zumutbarer Arbeit« als Subjektprogramme in den Blick nehmen, zum anderen aber gericht7 Vgl. Alan Hunt/Gary Wickham, Foucault and Law. Towards a Sociology of Law as Governance, London 1994; Alan Hunt, Foucault’s Expulsion of Law. Toward a Retrieval, in: Ben Golder/Peter Fitzpatrick (Hrsg.), Foucault and Law, Farnham 2010, S. 87–124. 8 Vgl. Martin Saar, Macht, Staat, Subjektivität. Foucaults Geschichte der Gouvernementalität im Werkkontext, in: Susanne Krasmann/Michael Volkmer (Hrsg.), Michel Foucaults »Geschichte der Gouvernementalität« in den Sozialwissenschaften. Internationale Beiträge, Bielefeld 2007, S. 23–45, hier S. 28; François Ewald, Norms, Discipline, and the Law, und Victor Tadros, Between Governance and Discipline. The Law and Michel Foucault, beide Beiträge in: Golder/Fitzpatrick (Hrsg.), Foucault and Law, S. 125–148 und S. 149–177. 9 Vgl. die Genealogie der Versicherung bei François Ewald, Der Vorsorgestaat, Frankfurt a. M. 1993, insbesondere S. 452 ff. 10 Vgl. Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2007, S. 35–38; abgeschwächt ist die Position in: Ulrich B ­ röckling, Regime des Selbst – ein Forschungsprogramm, in: Thorsten Bonacker/Andreas ­Reckwitz (Hrsg.), Kulturen der Moderne. Soziologische Perspektiven der Gegenwart, Frankfurt a. M./New York 2007, S. 119–139; demgegenüber Marion Ott/Daniel Wrana, Gouvernementalität diskursiver Praktiken. Zur Methodologie der Analyse von Machtverhältnisse am Beispiel einer Maßnahme zur Aktivierung von Erwerbslosen, in: Johannes Anger­müller/Silke van Dyk (Hrsg.), Diskursanalyse meets Gouvernementalitätsforschung. Perspektiven auf das Verhältnis von Subjekt, Sprache, Macht und Wissen, Frankfurt a. M./New York 2010, S. 155–181, hier S. 156–160.

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liche Auseinandersetzungen über »zumutbare Arbeit« als Artikulationsraum für Subjektpraktiken in Betracht ziehen. Im Machtfeld der sozialen Gerichtsbarkeit, so meine Annahme, werden Interessen, Ansinnen von Autonomie und Ansprüche an Zumutbarkeit abgebildet. Hier zeigt sich, was die »arbeitslosen Subjekte« bereit waren, für eine Arbeitsstelle in Kauf zu nehmen – und was nicht.

2. Zumutbare Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland: Regulierung von Dequalifizierung Der Begriff »zumutbare Arbeit« wurde in der Bundesrepublik als legislativer Begriff zur »Regierung« von Arbeitslosigkeit 1969 im Arbeitsförderungsgesetz (AFG) verwendet und seither in den Regelungen und Neufassungen des Gesetzes weiter ausdifferenziert11. Mit unterschiedlichem Verständnis von Anforderungen an die Zumutbarkeit von Arbeit kommt der Begriff des Weiteren in sozialrechtlichen Zusammenhängen von Rentenversicherung und Sozialhilfe sowie im bürgerlichen Haftpflicht- und Ehescheidungsrecht zum Tragen12. Die Rechtsprechung über »zumutbare Arbeit« wurde an der volkswirtschaftlichen Peripherie in der sozialen Sicherung von Alten, Kranken und Behinderten, Armen und Frauen eingeübt. In der rechtshistorischen Genealogie vollzieht der Begriff die Herkunft des Sozialrechts aus dem Haftpflichtrecht nach13. Seit 1899 durften nach dem Invalidenversicherungsgesetz Berufsunfähige nur zur Aufnahme einer Arbeit genötigt werden, »die ihnen unter billiger Berücksichtigung ihrer Vorbildung und ihres bisherigen Berufs zugemutet werden kann«14. Die hier vorgenommene rechtliche Objektivierung des Schadensfalls, des Berufsunfalls, entwickelte sich mit der fortschreitenden Verrechtlichung zu einem sozialrechtlichen Klassifizierungsinstrument. Im näheren zeitlichen Umfeld des AFG wurde in den frühen 1970ern im Zuge der Debatten um die Reform 11 Vgl. Stefan Sell, Entwicklung und Reform des Arbeitsförderungsgesetzes als Anpassung des Sozialrechts an flexible Erwerbsformen? Zur Zumutbarkeit von Arbeit und Eigenverantwortung von Arbeitnehmern, in: Mitt AB 31 (1998), S. 532–549; Stefan Sell, Zur normativen Funktionalität der »Zumutbarkeit« von Arbeit in der Arbeitslosenversicherung, in: Sozialer Fortschritt 45 (1996), S. 84–88; Norbert Möller-Lücking Unzumutbare Zumutbarkeitsanordnung, in: Soziale Sicherheit 31 (1982), S. 129–132; Hermann Hummel-­Liljegren, Zumutbare Arbeit. Das Grundrecht des Arbeitslosen, Berlin 1981; Jürgen ­Karasch, Der Begriff der »Zumutbarkeit« im Wandel der Rechtsauffassungen vom AVAVG 1927 bis zum AFKG 1982, in: Zentralblatt für Sozialversicherung, Sozialhilfe und Versorgung 37 (1983), S. 65–72; den Zusammenhang von Zumutbarkeitsregeln und öffentlicher Debatte betonte: Frank Oschmiansky, Faule Arbeitslose? Zur Debatte über Arbeitsunwilligkeit und Leistungsmissbrauch, in: APuZ 6–7/2003, S. 10–16. 12 Vgl. Susanne Peters-Lange, Zumutbarkeit von Arbeit. Ein Plädoyer zur Rechtsfortentwicklung, Köln 1992, S. 42–89; Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 77–96. 13 Methodisch exemplarisch: Ewald, Vorsorgestaat, S. 277–443. 14 § 4 II 2 Invalidenversicherungsgesetz von 1899, zit. nach: Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 85 f.

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des Ehescheidungsrechts die Frage nach der Zumutbarkeit beruflicher Tätigkeit des vor der Scheidung nicht erwerbstätigen Ehepartners, in der gesellschaftlichen Realität der 1970er Jahre also in der Regel die Ehefrau, unter dem legalen Begriff der Angemessenheit von Arbeit diskutiert. Wurde bereits im Ehegesetz von 1938 die Pflicht der geschiedenen Ehefrau formuliert, eine »Erwerbstätigkeit, die von ihr den Umständen nach erwartet werden konnte« auszuüben, so wurde im Gesetz zur Reform des Ehe- und Familienrechts von 1976 dem geschiedenen Ehepartner »nur eine ihm angemessene Erwerbstätigkeit« abverlangt15. Das Verständnis und die Reichweite von »zumutbarer Arbeit« variierten in den unterschiedlichen Rechtszusammenhängen. Gemeinsam ist allen sozialrechtlichen und bürgerlichen Rechtskontexten, dass die Rechtsprechung in den 1970er und frühen 1980er Jahren keinen sozialen Abstieg bewirkte, sondern dass »Statusidentität«, »Berufsstand« oder »Milieukonstanz« gewährleistet waren, mithin auch soziale Ungleichheiten legal abgesichert wurden16. Beispielsweise musste die Ehefrau eines Fabrikanten nach der Ehescheidung nicht als­ Sekretärin arbeiten, da dies ihren »sozialen Rang« unzumutbar gefährdet hätte. Einer kinderlosen Witwe war es nach dem Unfalltod ihres Mannes nicht zuzumuten, eine Tätigkeit aufzunehmen, die unter der sozialen Stellung lag, die sie bei Lebzeiten ihres Ehemanns eingenommen hatte. Das AFG von 1969 verpflichtete den Arbeitslosen, jede ihm zumutbare Beschäftigung anzunehmen, und ersetzte die Formulierungen des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) von 1927 und seiner Neufassung von 1957, wonach Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung hatte, wer »ernstlich bereit« war, eine Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts auszuführen17. Seit dem AVAVG war die Ablehnung oder Verweigerung einer zumutbaren Beschäftigung sanktioniert. Laut AFG trat dann eine Sperrung der finanziellen Unterstützung von vier Wochen ein. Im Wiederholungsfall erlosch der Anspruch auf Arbeitslosengeld. In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren geriet der Begriff »zumutbare Arbeit« im AFG unter den Bedingungen steigender Arbeitslosigkeit in die juristischen und politischen Debatten und wurde präzisiert. Das Haushaltsstrukturgesetz von 1975 sah vor, dass bei der Beurteilung der Zumutbarkeit die Lage und Entwicklung des Arbeitsmarkts, die Interessen der Gesamtheit der Beitragszahler und die des Arbeitslosen zu berücksichtigen seien18. Der Begriff Zumutbarkeit wurde dahingehend konkretisiert, dass der Arbeitslose bereit sein musste, 15 § 66 Ehegesetz von 1938 beziehungsweise § 1574 Abs. 2 BGB , zit. nach: Peters-Lange, Zumutbarkeit, S. 46. 16 Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S.  80 und S.  95 f.; zum folgenden Abschnitt vgl. ebenda, S. 78 und S. 81. 17 § 103 AFG , in: BGBl. 51 (1969), S. 582–634, hier S. 599; zum Folgenden vgl. ebenda, S. 603 (§ 119,3). 18 Vgl. Werner Hoppe, Die »zumutbare Beschäftigung« (§ 103 Abs. 1 AFG). Zur Auslegung des Begriffs durch den Runderlass 230/78 der BA , in: Arbeit und Beruf 30 (1979), S. 3–8, hier S. 4.

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eine seiner bisherigen Tätigkeit nicht entsprechende Beschäftigung aufzunehmen, wenn ihm nach Lage des Arbeitsmarkts in absehbarer Zeit keine Beschäftigung in seinem früheren Beruf und keine gleichwertige Tätigkeit angeboten werden konnte. Dies galt jedoch unter anderem dann nicht, wenn etwa familiäre oder gesundheitliche Gründe entgegenstanden oder wenn der Arbeitslose durch die Ausübung der angebotenen Beschäftigung in seiner weiteren beruflichen Entwicklung schwer beeinträchtigt wurde. Das Gesetz erfüllte nicht die Erwartungen des Gesetzgebers. Vor allem die FDP drängte darauf, den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit zu konsolidieren19. Waren im Haushaltsausschuss des Bundestags die Regierungsfraktionen von SPD und FDP bereits 1975 der Meinung, dass gerade eine Umschreibung des Begriffs Zumutbarkeit in der Praxis hilfreich wäre, so erklärte im Juli 1978 Bundesminister Herbert Ehrenberg (SPD), durchaus in Widerspruch zu Sozialexperten seiner Partei, vor der Presse: »Der Begriff der ›Zumutbarkeit‹ soll enger gefaßt werden. Arbeitslosen soll es künftig schwerer gemacht werden, eine neue Stelle als ›unzumutbar‹ abzulehnen. Arbeitslose […] sollen mobiler werden […]. Das Arbeitsministerium will klarstellen lassen, daß übergangsweise auch eine Beschäftigung in Frage kommen kann, die zwar der bisherigen Tätigkeit oder der Ausbildung nicht ganz entspricht, aber persönlich doch zumutbar sein könne.«20

Im August 1978 gab die Bundesanstalt einen Runderlass heraus, der die Grundsätze zur zumutbaren Beschäftigung zusammenfasste, wie sie sich bis dahin aus der Verwaltungspraxis der Arbeitsämter und der Rechtsprechung der Sozialgerichte ergeben hatten21. Ziel war es, die Gleichbehandlung von Arbeits­ losen bei Vermittlungsangeboten bundeseinheitlich sicherzustellen sowie Auslegungskonflikte in den Ämtern zu reduzieren. Kernpunkt der Argumentation war es, die Arbeitslosen qualifikatorisch an den Arbeitsmarkt anzupassen sowie die Arbeitsbereitschaft von Arbeitslosen auf Felder jenseits ihrer beruflichen Qualifikation auszudehnen. Arbeitslose wurden nun in drei Qualifikationsstufen eingeteilt: A) Hochschulausbildung, B) Fachausbildung, C) alle restlichen Beschäftigungen. Ein Sprung von einer Stufe abwärts galt dem Runderlass gemäß für die Regelzeit von sechs Monaten als unzumutbar. Ein Sprung über zwei Stufen war nach einer Regelzeit von 12 Monaten angemessen.

19 Vgl. Douglas Webber, Zwischen pragmatischem Anspruch und politischer Praxis. Die Entwicklung der Arbeitsmarktpolitik in der Bundesrepublik Deutschland von 1974 bis 1982, in: Mitt AB 15 (1982), S. 261–275, hier S. 273; Hans-Walter Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002. Zwischen Fürsorge, Hoheit und Markt, Nürnberg 2003, S.  510, sowie allgemein Georg Altmann, Aktive Arbeitsmarktpolitik. Entstehung und Wirkung eines Reformkonzepts in der Bundesrepublik Deutschland, München 2004, insbesondere S. 193–246. 20 Zit. nach: Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 112 f. 21 Vgl. ebenda; Sell, Entwicklung, S. 536; Schmuhl, Arbeitsmarktpolitik, S. 513–516.

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Nicht nur berufliche Mobilität wurde geregelt, auch die Zumutbarkeit von räumlicher Mobilität und sonstigen Arbeitsbedingungen setzte der Runderlass in Abhängigkeit zur Dauer der Arbeitslosigkeit. Nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit wurde nun eine Beschäftigung im Wochenendpendelbereich zumutbar. Wochenendpendeln war allerdings nicht zumutbar, wenn dem Pendler für seinen Aufenthalt am Wohnort eine Aufenthaltszeit von weniger als 40 Stunden verblieb. Nach einem Jahr Arbeitslosigkeit galt ein Umzug als zumutbar. Die Versorgung von Angehörigen, nebenberufliche Bildungsmaßnahmen, öffentliche Ehrenämter oder eine Landwirtschaft im Nebenerwerb waren Einschränkungsgründe für räumliche Zumutungen. Private Bindungen, schulpflichtige Kinder, Hauseigentum und Berufstätigkeit des Ehegatten galten dagegen nur in Ausnahmefällen als wichtiger Grund zur Ablehnung einer Beschäftigung. Drei Jahre später sah sich der Gesetzgeber erneut gezwungen, legislativ einzugreifen22. Im Zuge der Beratungen zur Sanierung des Bundeshaushalts ver­ abschiedete die Bundesregierung im Dezember 1981 das Gesetz zur Konsolidierung der Arbeitsförderung. Im Mittelpunkt aller Änderungen des AFG stand die Bekämpfung des Missbrauchs von Sozialleistungen durch Arbeitslose, vor allem durch Neufassungen der gesetzlichen Bestimmungen über Zumutbarkeit, Verfügbarkeit, Meldeversäumnisse und Sperrzeiten. In das AFG wurden Passagen eingefügt, die besagten, dass der Arbeitsvermittlung nur zur Verfügung stehe, wer unter anderem bereit ist, jede zumutbare Beschäftigung anzunehmen. Die Bundesanstalt wurde dann aufgefordert, eine Anordnung zu erlassen, die den Zumutbarkeits-Begriff weiter konkretisierte. Im März 1982 genehmigte der Verwaltungsrat der Bundesanstalt gegen die Stimmen der Arbeitnehmervertreter eine neue Zumutbarkeitsanordnung, die nach Zustimmung der Bundesregierung im April 1982 in Kraft trat. Nun hieß es im allgemeinen Teil der Gesetzesbegründung: »Dem Missbrauch von Leistungen soll vor allem durch Änderung der gesetzlichen Bestimmungen über die Zumutbarkeit […] entgegengewirkt werden.«23 Die Qualifikationen von Beschäftigung und damit zeitlich gestaffelter Zumutungen beruflicher Mobilität bestanden nun aus fünf Stufen: 1. Hochschul- und Fachhochschulausbildung, 2. Aufstiegsfortbildung auf einer Fachschule oder in einer vergleichbaren Einrichtung, 3.  Ausbildung in einem Ausbildungsberuf, 4.  Anlernausbildungen, 5. alle übrigen Beschäftigungen. Ein Sprung von einer Stufe abwärts galt für die Regelzeit von vier Monaten als unzumutbar. Bei mindestens sechsjähriger Berufszugehörigkeit betrug die Regelzeit sechs Monate. Innerhalb einer Qualifikationsstufe waren Einkommenseinbußen von 20 Prozent des letzten Bruttoarbeitsentgelts zumutbar sowie ungünstigere Arbeitsbedingungen und längere Anfahrtswege zur neuen Arbeitsstelle. Bei mehr als sechsstündiger Tätigkeit 22 Vgl. Werner Hoppe, AFKG seit 1.1.1982 in Kraft, in: Arbeit und Beruf 33 (1982), S. 33–36; zum Folgenden vgl. Sell, Entwicklung, und Karasch, »Zumutbarkeit«. 23 Zit. nach: Fritz-Heinz Himmelreich, Ein Stückchen mehr Gerechtigkeit, in: Wirtschaftsdienst 62 (1982), S. 159 ff., hier S. 159.

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waren für Hin- und Rückfahrt zur Arbeitsstelle täglich bis zu zweieinhalb Stunden in Kauf zu nehmen. Wochenendpendeln oder Umziehen wurde zumutbar, wenn überregionale Mobilität in dem Beruf üblich war oder eine besonders ungünstige Wohnlage die Vermittlung für einen näher gelegenen Arbeitsplatz aussichtslos erscheinen ließ. Im Vergleich zur vorhergehenden, gerade einmal vier Jahre alten Regelung des AFG und den massiv gesenkten Fristen, in denen Quali­ fikationsverlust zumutbar war, war berufliche Qualifikation deutlich abgewertet worden. Die Etablierung von Zumutbarkeitsregeln spielte sich im bundesdeutschen Fallbeispiel innerhalb einer Arbeitsverwaltung ab, die – 1927 gegründet – längerfristig korporatistisch verfasst war und sich eine eigene Organisationsidentität und einen vergleichsweise hohen Einfluss auf die Arbeitsmarktpolitik bewahren konnte. Staatliche Politiken hatten demnach zum einen mit der Eigenlogik der föderal organisierten Arbeitsverwaltung zu rechnen24. Zum anderen setzte in der Bundesrepublik auch die aktive Arbeitsmarktpolitik auf »Qualifikationsschutz«, das heißt alle arbeitspolitischen Maßnahmen bauten auf beruflicher Qualifikation der teilnehmenden Arbeitslosen auf. Die berufliche Qualifikation, die den Eintritt in den Arbeitsmarkt regelte, war gleichfalls in Form eines abgestuften Qualifikationsschutzes Barriere für sozialrechtliche Anwendungen »zumutbarer Arbeit«. Die Ausdifferenzierung der Qualifikationsstufen kann dabei als Versuch betrachtet werden, Individualisierung, also die Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und die Abwägung der Interessen des Arbeits­ losen mit denen aller Versicherten, in die Gesetzgebung mitaufzunehmen25. Individualisierung ist hier jedoch noch als Auslegungsprinzip, und nicht als Rechtsprinzip zu lesen. Sozialpolitische Reformen waren in der Bundesrepublik zudem mit einem eigenständigen Rechtsbereich des Sozialen konfrontiert, der immer wieder Regelungsbedarf erzeugte und damit zeitlich verzögernd wirkte.

3. Zumutbare Arbeit in der bundesdeutschen Rechtspraxis: Verwaltung von Widerspruch In der Bundesrepublik fallen Widerspruchsverfahren von Arbeitslosen gegen Kürzungen ihrer finanziellen Bezüge in die Zuständigkeit der Landessozialgerichte und des Bundessozialgerichts. Deren Entscheidungen geben Einblick darin, was von den Arbeitslosen als unzumutbar eingestuft wurde und eingestuft werden konnte. Seit den Anfängen der Bundesrepublik wurde »zumut24 Vgl. Christine Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, Gewerkschaften, Arbeitgeber. Ein Vergleich der Entstehung und Transformation der öffentlichen Arbeitsmarktverwaltungen in Deutschland, Großbritannien und den Niederlanden zwischen 1909 und 1999, Diss., ­Göttingen 2000 (http://webdoc.sub.gwdg.de/diss/2000/trampusch/Dissertation.pdf), zum Folgenden insbesondere S. 324 ff . 25 Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 111.

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bare Arbeit« als Rechtsgegenstand verhandelt. Die Entscheidungen der Gerichte gingen mithin den Regelungen des AFG voran und bestimmten die schriftliche Fixierung der Gesetzestexte mit. Das Hauptproblem der Rechtsprechung der 1950er und 1960er Jahre bestand darin, auszutarieren, in welchem Maß sozialer Abstieg, vorwiegend im Sinne eines sozialen Ansehens in einem bisher ausgeübten Beruf verstanden, zugemutet werden könne26. So war 1953 bei günstiger Arbeitsmarktlage Tiefbauarbeit für einen Schriftsetzer nach vier Wochen Arbeitslosigkeit unzumutbar. 1960 war es einer erfahrenen Büroangestellten nicht zuzumuten, die einfache Arbeit auszuüben, Minen in Kugelschreiber einzulegen. Im gleichen Jahr entschied das Landessozialgericht Niedersachsen, dass eine Tätigkeit als Schießbahnarbeiter einem landwirtschaftlichen Verwalter, der seit drei Jahrzehnten als Angestellter tätig war, wegen drohenden sozialen Abstiegs nicht zuzumuten war. Eine unzumutbare Fehlvermittlung war es, dass eine Auslandskorrespondentin 1961 nach dreieinhalb Monaten Arbeitslosigkeit als Gummikleberin angelernt werden sollte. Dagegen war 1949 Steinbrucharbeit einem gelernten Elektromonteur zumutbar, der in den vorhergehenden Jahren als Hilfsarbeiter in einer Ziegelei gearbeitet hatte und Kraftfahrer war. 1950 war einem gelernten­ Fleischer die Arbeit als Pferdemetzger zuzumuten. 1958 war Bauhilfsarbeit für einen seit 12 Jahren mit groben Handarbeiten beschäftigten Musiker zumutbar. 1960 konnte einem Elektrikermeister eine Tätigkeit als Elektriker zum Gesellentarif zugemutet werden. Vorübergehend war 1961 einem arbeitslosen Metzgermeister die Arbeit als Bauhelfer zuzumuten sowie 1967 einer Jugendfürsorgerin nach dreieinhalb Monaten Arbeitslosigkeit die Arbeit als Teeverpackerin. Eine Tendenz, Abstiegszumutungen sozial zu staffeln und Arbeitern eher Abstieg zuzumuten als Angestellten, ist erkennbar. Daneben wurden Mobilitätszumutungen und Zumutungen von Arbeitszeit problematisiert. 1952 waren sechs Stunden Fahr- und Wegzeiten täglich unzumutbar. Zudem galt eine Nachtruhe von kaum acht Stunden und das Fehlen von Entspannungszeit als unzumutbar. 1958 erging das Urteil, dass auswärtige Arbeit trotz nebenberuflicher Versorgung von Bienenvölkern zumutbar sei. 1961 konnte ein Arbeitsloser auswärtige Tätigkeit nicht mit dem allgemeinen Hinweis ablehnen, dass hierdurch seine Ehe gefährdet sei. In den 1970er und 1980er Jahren verdeutlichen die Rechtsurteile die veränderten Zwangslagen des Arbeitsmarkts. Ein Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts von 1979 mahnte die Arbeitsämter bereits zur Vorsicht gegenüber vorschnellen beruflichen Abstiegszumutungen27. Der Fall betraf einen gelernten Bankkaufmann und geprüften Betriebswirt, der eine Stelle als Programmierer mit BWL-Studium anstrebte, und dem nach eineinhalb Jahren Arbeitslosigkeit eine schlechter bezahlte Stelle als Betriebswirt in einer Universitätsverwaltung 26 Vgl. Möller-Lücking, Zumutbarkeitsanordnung; zum folgenden vgl. Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 106 ff. 27 Vgl. ebenda, S. 122 f. und S. 128 f.

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nicht zumutbar war. Hier spielte aber neben der reinen Qualifikation vor allem die Zumutung des finanziellen Abstiegs eine Rolle. In den »unteren« Qualifikationsstufen waren die Abstiegszumutungen steiler. 1979 entschied das Bundes­ sozialgericht, eine Krankenpflegehelferin müsse notfalls auch als Verkäuferin arbeiten. Das allgemeine Widerspruchsverfahren innerhalb der Arbeitsverwaltung gegen verhängte Sperrfristen wurde im Zuge der AFG -Reformen 1979 gleichfalls neu geregelt. War die Widerspruchsstelle bis 1979 der Direktor des jeweiligen Arbeitsamts, so wurden im April 1980 aufgrund der Kritik der Gewerkschaften an diesem Verfahren probeweise bis 1982 paritätisch besetzte Widerspruchs­ ausschüsse mit Vertretern der Arbeitnehmer, Arbeitgeber und der öffentlichen Körperschaften in 146 Arbeitsämtern eingerichtet28. Tatsächlich gingen die Klagen vor den Sozialgerichten gegen Widerspruchsentscheidungen von 20.300 im Jahr 1979 auf 18.700 im Jahr 1980 zurück – trotz steigender Arbeitslosigkeit. Eine repräsentative Untersuchung von 100 nach Alter, Geschlecht, Qualifikation und Ursache der Kündigung ausgewählten Widerspruchsbescheiden in Nordrhein-Westfalen ergab, dass die Hälfte der verhandelten Arbeitsverhältnisse vom Arbeitnehmer gekündigt worden war, begründet mit unzumut­baren Arbeitsbedingungen. Beklagt wurden arbeitsbedingte Kreislaufbeschwerden, Bandscheibenschäden, Haltungsschäden, Nacken- und Kopfschmerzen, unerträgliche Belastungen durch Gase, Stäube, Dämpfe, schlechte Lichtverhältnisse und Lärm in Zusammenhang mit schlechtem Betriebsklima oder Anweisung unzumutbarer, unterqualifizierter Arbeit. Eine Warenauszeichnerin in einem Warenhaus kündigte wegen starker Kopf-, Rücken- und Bandscheibenschmerzen. Die ärztliche Untersuchung kam zu dem Ergebnis, der Frau seien »leichte bis mittelschwere Tätigkeiten« zuzumuten, und das Arbeitsamt vermittelte wiederum eine Tätigkeit als Warenauszeichnerin. Als die Arbeitnehmerin diese »zumutbare Arbeit« ablehnte, verhängte das Arbeitsamt eine Sperrfrist ihres Arbeitslosengelds. Gleichfalls gesperrt wurde ein Arbeitnehmer, der wegen außervertraglicher Arbeitszeiten von bis zu 14 Stunden täglich kündigte. Einer Krankenschwester wurde der Leistungsbezug verweigert, nachdem sie eine angebotene Stelle als Putzfrau im Krankenhaus abgelehnt hatte. Einem Installateur wurde eine Verminderung des Lohns von rund einem Drittel seines Stundenlohns zugemutet. In Berlin entschied der Widerspruchsausschuss der Arbeitsamtes I 1980, dass es einem gelernten Eisenflechter nach zweieinhalb Monaten Arbeitslosigkeit zuzumuten sei, eine Stelle als Gartenbauarbeiter anzunehmen, da Eisenflechter ein Anlernberuf sei, der nicht auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt sei29. Einer seit siebeneinhalb Monaten arbeitslosen Serviererin, die im zweiten Monat schwanger war und die zwei minderjährige Kinder zu betreuen hatte, war es im gleichen 28 Vgl. Rainer Brötz, Zur sozialen Ausgestaltung der »Zumutbarkeit« im AFG. Erfahrungen mit den paritätisch besetzten Widerspruchsausschüssen in den Arbeitsämtern, in: WSIMitteilungen 35 (1982), S. 105–113. 29 Vgl. Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 128 f.

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Jahr zumutbar, eine ABM-Stelle als Gartenarbeiterin in Teilzeit anzunehmen. Auch war es einem 63jährigen arbeitslosen Gartenpfleger zumutbar, wieder in seinem Beruf an wechselnden Einsatzstellen und, dies wird explizit erwähnt, zusammen mit ausländischen Kollegen zu arbeiten. Derartig »eigensinnige« Anspruchshaltungen bezüglich zumutbaren Arbeitsbedingungen waren kein Ausnahmefall. Eine 47jährige Montiererin monierte, nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit sei ihr eine Tätigkeit in ihrem erlernten Beruf nicht zuzumuten, da dies einen Anfahrtsweg von einer halben Stunde und einen Arbeitsbeginn um viertel vor sieben bedeuten würde; damit würde aber der morgendliche Ablauf in der Familie, die Klägerin war verheiratet und hatte eine erwachsene Tochter »in Unordnung gebracht«. Dieser Widerspruch blieb ebenso erfolglos wie die Klage eines arbeitslosen Kaufmanns, der eine Tätigkeit als Großhandelskaufmann ablehnte, da der zehnminütige Fußweg von der Bushaltestelle zur Firma aufgrund von Sand und Staub, von Sattelschleppern auf­ gewirbelt, unzumutbar sei. Ihm war es auch zuzumuten in der Einarbeitungszeit einem starken Raucher gegenüberzusitzen, obgleich dies, nach eigener Aussage, seine Arbeitsleistung hemmte und bei ihm eine negative Stimmungslage erzeugte. Der Verwaltungsrat der Bundesanstalt beendete 1983 gegen die Stimmen der Arbeitnehmer die Erprobungsphase der Widerspruchsausschüsse und sprach sich gegen eine endgültige Einrichtung von Widerspruchsausschüssen aus30. Eine Korrelation von Widerspruchsquote und Tätigkeit der Ausschüsse konnte nicht festgestellt werden. Zudem wurde mit zu hohem Zeit-, Kosten- und Personalaufwand argumentiert. Gewerkschaftsvertreter vermuteten jedoch bereits vor Beendigung der Erprobung, dieses Argument verschleiere lediglich ein bürokratisches Verharren auf hierarchischen Verwaltungsentscheidungen31.

4. Zumutbare Arbeit in Großbritannien: aktive Verfügbarkeit In Großbritannien wurde ein dem deutschen Rechtsbegriff Zumutbarkeit vergleichbarer Begriff in sozialrechtlichen Zusammenhängen zur Regierung von Arbeitslosigkeit seit dem Social Security Act (SSA) von 1975 verwendet32. Das Prinzip der »geeigneten Erwerbsarbeit« (»suitable employment«) regelte dort die Verpflichtungen Arbeitsloser zur Aufnahme einer Beschäftigung. Für den Rechtskontext dieser sozialen Regulierungstechnik »geeignete Arbeit« sind zwei Kennzeichen des britischen sozial- und rechtspolitischen Systems entscheidend: 30 Vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 10/442: Bericht des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit gemäß der Entschließung des Deutschen Bundestages vom 1. Juni 1979 über die Erprobung paritätisch besetzter Widerspruchsausschüsse in den Arbeitsämtern in der Zeit vom 1. April 1980 bis 31. Dezember 1982. 15. März 1983; http://dipbt.bundestag. de/doc/btd/10/004/1000442.pdf. 31 Vgl. Brötz, Ausgestaltung, S. 112. 32 SSA 1975 § 20; vgl. Harry Calvert, Social Security Law, London 21978, S.  1; Anthony I. Ogus/Eric M. Barendt, The Law of Social Security, London 21982, S. 102.

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zum einen die historisch späte Etablierung eines Wohlfahrtsstaats, zum anderen die utilitaristische Rechtstradition des Common Law. Großbritanniens liberales Wohlfahrtsstaatsregime, das bekanntlich nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, entwickelte sich aus der Armutspolitik des 19. Jahrhunderts, die sich auf überwiegend bedürftigkeitsgeprüfte und insoweit auch individuell gewährte Leistungen in Notsituationen beschränkte33. An die Tradition der englischen Armutsbekämpfung durch Arbeitsverpflichtung in gewisser Weise anschließend, war bereits im Beveridge-Plan die Rede von der »Erzwingung der den Bürger treffenden Pflicht, jede vernünftige und angemessene Beschäftigungsmöglichkeit anzunehmen«. Damit war einerseits ein individualistischer Appell an den Staatsbürger formuliert, andererseits wurde das sozialpolitische Konzept des Wohlfahrtsstaats an den Arbeitsmarkt gekoppelt34. Die Verknüpfung von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bildet sich gleichfalls in der engen historischen Verbindung von Arbeits- und Sozialrecht in Großbritannien ab. Beide Rechtsgebiete wurden erst in den 1960er und 1970er Jahren zu seriösen juristischen Subdisziplinen, bewegten sich aber als Teilgebiete des Statutory Law weiterhin abseits des angesehenen, klassischen Common Law35. Das britische Sozialrecht beziehungsweise das Social Security Law war folglich ein marginalisiertes Rechtsgebiet, das auch in der praktischen Juristenausbildung eine untergeordnete Rolle spielte. Insoweit war der Bereich der sozialen Sicherheit in Groß­britannien in gewisser Weise lockerer in das Rechtssystem eingebunden als in der Bundesrepublik und in geringerem Ausmaß überhaupt kodifiziert, geschweige denn rechtswissenschaftlich diskutiert. Der Begriff »suitable employment« sollte in traditionellen arbeitsmarkt­politi­ schen Debatten im angelsächsischen Raum vor allem dazu dienen, vormals NichtErwerbstätigen die Möglichkeiten von Erwerbsarbeit zu eröffnen. Als Anrecht auf »geeignete Erwerbsarbeit« formuliert, beschreibt er Politiken, Arbeitsmärkte zu erweitern und vormalige Randgruppen des Arbeitsmarkts, Frauen und Behinderte, einzubinden. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in diesem Sinn in 33 Vgl. Irene Dingeldey, Der aktivierende Wohlfahrtsstaat. Governance der Arbeitsmarktpolitik in Dänemark, Großbritannien und Deutschland, Frankfurt a. M./New York 2011, S. 238. 34 Vgl. Eberhard Eichenhofer, Recht des aktivierenden Wohlfahrtsstaates, Baden-Baden 2013, S. 120; William Walters, Unemployment and Government. Genealogies of the Social, Cambridge/New York 2000, S. 4; Nick Wikely, The Welfare State, in: Peter Cave/Mark Tushnet (Hrsg.), The Oxford Handbook of Legal Studies, Oxford 2003, S. 397–412; Laura Lundy, From Welfare to Work? Social Security and the Unemployed, in: Neville Harris u. a. (Hrsg.), Social Security Law in Context, Oxford 2000, S. 291–325, hier S. 292 f.; Julian Fulbrook, Administrative Justice and the Unemployed, London 1978, S. 174–176. 35 Vgl. Willibald Steinmetz, Begegnungen vor Gericht. Eine Sozial- und Kulturgeschichte des englischen Arbeitsrechts (1850–1925), München 2002, S. 635; Johanna Wenckebach, Antidiskriminierungsrechtliche Aspekte des Kündigungsschutzes in Deutschland und England, Baden-Baden 2012, S. 99; Fulbrook, Justice, S. 196; Bernd Schulte, Einführung in das Recht der sozialen Sicherheit von Großbritannien, in: Gerhard Igl/Bernd Schulte/Thomas Simons, Einführung in das Recht der sozialen Sicherheit von Frankreich, Großbritannien und Italien, Berlin 1977, S. 149–337, hier S. 49–51; zum Folgenden vgl. ebenda, S. 49 f.

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England und den USA verwendet, schwingen in der Begriffsverwendung paternalistische Definitionsansprüche über die Eignung randständiger Gruppen für Erwerbsarbeit mit36. In engeren Rechtskontexten findet sich »suitable employment« in Bestimmungen des Arbeitsrechts niedergelegt. Zeitgleich zum Social Security Law wurde der Begriff 1975 im Employment Protection Act verwendet. Nachdem sich seit den 1960er Jahren die Praxis der Rechtsprechung demgemäß entwickelt hatte, wurde in der Niederlegung des Kündigungsrechts dem Arbeitgeber zugebilligt, eine Klage wegen rechtswidriger Kündigung (unfair dismissal) sei unzulässig, sofern dem Kläger, eine »geeignete, alternative Erwerbsarbeit« angeboten worden sei, die dem gegenwärtigen Arbeitsverhältnis hinsichtlich angebotener Bezahlung, den verlangten Kenntnissen und Fertigkeiten sowie Arbeitszeiten und Arbeitswegen vergleichbar sei37. Lehnte der Arbeitnehmer ein solches Angebot un­begründet oder nicht ausreichend begründet ab, verlor er den Anspruch auf Abfindung. Im Employment Rights Act von 1996 wurde diese Regelung fortgeschrieben. Als Teil des arbeitsrechtlichen Reformprogramms der Labour Party der 1970er Jahre wurde also für das Definitionsfeld der »geeigneten Arbeit« ein relativ später Rechtszusammenhang gebildet, der aber trotz der semantischen Herkunft aus der Definition von Erwerbstätigkeit an der Peripherie erneut den engen Zusammenhang von Arbeitsrecht und Sozialpolitik des britischen Rechtssystems bestätigt. Nach dem Social Security Act von 1975 waren Abzüge in der finanziellen Unterstützung Arbeitsloser rechtens, sofern der Arbeitslose »passende« oder »geeig­ nete Beschäftigung« ohne guten Grund ablehnte, Gelegenheiten, eine »geeignete Beschäftigung« zu finden, vernachlässigte oder empfohlene »geeignete« Fortbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen nicht wahrnahm38. Die Kriterien für »geeignete Beschäftigung« bezogen sich vor allem auf die Bezahlung der Arbeit, die Art der Arbeit sowie die Entfernung vom eigentlichen Wohnort des Arbeitslosen39. Die vom Arbeitslosen zu akzeptierende Bezahlung hing von der Arbeitsbiographie des Betroffenen ab, dessen finanzieller Abstieg verhindert werden sollte. Die durchschnittliche Bezahlung in der jeweiligen Branche, in der der Arbeitslose gearbeitet hatte, war der Maßstab für die Angemessenheit der »geeigneten Beschäftigung«. Standards anderer Branchen waren irrelevant. Insoweit wurde eine notorische Unterbezahlung innerhalb einer Branche in Kauf genommen. Das Kriterium der Art der Arbeit, definiert als die Art von Beschäftigung, die der Arbeitslose vor der Arbeitslosigkeit ausgeübt hatte, konnte für die erste Zeit der Arbeitslosigkeit geltend gemacht werden. Welchen Zeitraum diese »Schon36 Vgl. Ellen Jordan, Suitable and Remunerative Employment. The Feminization of Hospital Dispensing in Late Nineteenth-Century England, in: Social History of Medicine 15 (2002), S. 429–456; Helping disabled People to obtain and keep suitable Jobs, in: Department of Employment Gazette 80 (1972), S. 703 f. 37 Vgl. Bob Hepple/Paul O’Higgins, Employment Law, London 31979, S. 649 f. 38 SSA 1975, 20 (1) (b), zit. nach: Calvert, Social Security Law, S. 193; Ogus/Barendt, Law of Social Security, S. 105. 39 Vgl. Calvert, Social Security Law, S. 194 f.; das Folgende nach ebenda, S. 197.

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frist« umfasste, hing von der Einschätzung durch die zuständige Behörde, dem Unemployment Benefit Office, ab, das seit 1973 allein für die Auszahlung der Arbeitslosenunterstützung, getrennt von der Beratung Arbeitsloser, zuständig war40. Gleichfalls fristgebunden war die Zumutung eines Umzugs zur Aufnahme eines geeigneten Arbeitsangebots, sofern wenig oder keine Aussicht bestand, dass der Arbeitslose in seinem bisherigen Beruf an seinem Wohnort Arbeit finden würde, und Gründe wie Alter oder Verpflichtungen von Kinderbetreuung dem nicht entgegenstanden. Daneben wurde eingeräumt, eine Arbeit sei nicht zumutbar, sofern die Vakanz durch Streik entstanden sei. Bei Ablehnung eines für »geeignet« erachteten Arbeitsangebots hatte dies den Verlust der Arbeitslosenunterstützung von höchstens sechs Wochen zur Folge41. Evident ist im Social Security Act das Prinzip der großen Gestaltungsfreiräume des britischen Rechtssystems, die sich in den vergleichsweise undifferenzierten Empfehlungen über die Bemessung geeigneter Arbeit widerspiegeln. Dies bedeutete selbstverständlich keine liberalere Anwendung in der administrativen Praxis, eröffnete sie doch lediglich der ausführenden Behörde größere Spielräume, zumal die Beweislast, ob und inwiefern eine angebotene Arbeit ungeeignet sei, dem Arbeitslosen oblag42. Im Laufe der späten 1970er und frühen 1980er Jahre verkleinerten sich denn auch die administrativen Spielräume, und die Regelungen für »geeignete Arbeit« verschärften sich43. 1979 wurden das Job Search-­ Programm und das Job Transfer-Programm eingeführt, die Zuschüsse und Erstattungen von Reise- und Umzugskosten (Startgeld, Trennungsgeld, Umzugsgeld bis 900 Pfund) zur Verfügung stellten und damit zu räumlicher Mobilität im Sinne eines freiwilligen Umzugs motivieren sollten. Zur Frage der Entfernung zwischen Wohnort und potentiell geeignetem Arbeitsplatz existierten seit 1978 relativ exakte, regional anwendbare Zumutbarkeitsregeln. Die örtlichen Arbeitsverwaltungsbehörden bestimmten WegstreckenBereiche (travel-to-work areas), deren Größe auf den Erhebungen des britischen Zensus von 1971 zur durchschnittlichen Arbeitsmobilität beruhte und je nach Region und der dortigen Infrastruktur und so etwas Unbestimmtem wie den Lebensgewohnheiten der Einwohner variierte44. Seit Mitte der 1980er Jahre ist davon auszugehen, dass Arbeitslose gehalten wurden, jede Arbeit anzunehmen45. Im Social 40 Vgl. Desmond King, Actively Seeking Work? The Politics of Unemployment and Welfare Policy in the United States and Great Britain, Chicago/London 1995, S. 150. 41 Vgl. Calvert, Social Security Law, S. 194 und S. 201, sowie Ogus/Barendt, Law of Social­ Security, S. 106 und S. 114. 42 Vgl., Calvert, Social Security Law, S. 194. 43 Vgl. Hummel-Liljegren, Zumutbare Arbeit, S. 135; zum Folgenden vgl. ebenda, S. 136 f. 44 Vgl. R. M. Ball, The Use and Definition of Travel-to-Work Areas in Great Britain. Some Problems, in: Regional Studies 14 (1980), S. 125–139. 45 Vgl. Eberhard Eichenhofer, Der Thatcherismus und die Sozialpolitik. Wohlfahrtsstaatlichkeit zu marktwirtschaftlichen Bedingungen, Baden-Baden 1999, S.  50; Dingeldey, Wohlfahrtsstaat, S.  238 f.; Eichenhofer, Recht, S.  303 f.; Bernd Schulte, Großbritannien. Das Ende des Wohlfahrtsstaats?, in: Sozialer Fortschritt 45 (1997), S. 30–33, hier S. 32.

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Security Act von 1989 wurde schließlich der Passus über finanzielle Sanktionen bei Ablehnung zumutbarer Arbeit durch die Forderung nach Verfügbarkeit des Arbeitslosen ersetzt46. Der Arbeitslose hatte nun nach einer im Gesetzestext nicht näher definierten Frist, jegliche Arbeit zu akzeptieren, die den finanziellen Standard seiner »gewohnten Erwerbstätigkeit« (usual occupation) nicht unterschritt. Die Definitionen und Anwendungen »geeigneter Arbeit« spielten sich im Kontext der britischen Variante aktiver Arbeitsmarktpolitik ab, die seit 1973 von der neu geschaffenen korporatistisch verfassten Regierungsbehörde Manpower Services Commission verwaltet wurde. In hohem Maß vom Staat und seinen politischen Vorgaben abhängig und bei geringem Einfluss der Gewerkschaften kaum institutionell legitimiert, lässt sie sich, gerade betreffend der Umsetzung aktiver Arbeitsmarktpolitiken der 1970er, auf der »Schnellspur der Zentralisierung« verorten47. Die aktive Arbeitsmarktpolitik forderte von Arbeitslosen zahlreiche Rechenschafts- und Berichtspflichten über Bewerbungsaktivitäten und Arbeitssuche sowie Teilnahme an Fortbildungsmaßnahmen ein. Daneben änderten sich im Zeitraum zwischen 1979 und 1988 die Bezugsbedingungen für finanzielle Unterstützung bei Arbeitslosigkeit in Großbritannien grundlegend und fast ohne jede öffentliche Debatte über die sozialrechtlichen Konsequenzen48. Die in den 1970er Jahren vor allem für jugendliche Arbeitslose eingeführten Fortbildungs- und Weiterbildungsprogramme wurden in den 1980er Jahren auf erwachsene Langzeitarbeitslose ausgeweitet49. Im Restart Course-Programm, das 1986 eingeführt wurde, wurden alle Langzeitarbeitslosen über 18 Jahre zum Beratungsgespräch in die lokalen Jobcenter vorgeladen. Einem dreißigminütigem Beratungsgespräch mit einem Berufsberater sollte eine Anschlussaktivität wie eine Bewerbung oder ein Telefonanruf bei einem potentiellen Arbeitgeber folgen. Der Social Security Act von 1989 knüpfte an den Erfolg eines solchen Beratungsgesprächs den Nachweis, der Arbeitslose würde aktiv nach Beschäftigung suchen, was durch regelmäßig wiederholte Beratungen nach 13, 26, 52 und 68 Wochen anhaltender Arbeitslosigkeit kontrolliert wurde. Nach 104 Wochen Arbeitslosigkeit sollte der Arbeitslose an einem einwöchigen Bewerbungstraining teilnehmen. Fehlte der Arbeitslose bei diesem Training unentschuldigt, konnten ihm bis zu 40 Prozent der Arbeitslosenunterstützung gekürzt werden. Bereits seit 1987 drohte jugendlichen Arbeitslosen bei Ablehnung einer Trainingsmaßnahme der Verlust finanzieller Unterstützung50. 46 SSA 1989, 12 (1), (3); www.legislation.gov.uk/ukpga/1989/24/pdfs/ukpga_19890024_en.pdf; Nick Wikeley, Unemployment Benefit, the State and the Labour Market, in: Journal of Law and Society 16 (1989), S. 291–309, hier S. 303. 47 Trampusch, Arbeitsmarktpolitik, S. 194 ff. 48 Vgl. Tony Atkinson/John Micklewright, Turning the Screw. Benefits for the Unemployed, in: Andrew Dilnot/Ian Walker, The Economics of Social Security, Oxford 1989, S. 17–49, hier S. 17. 49 Vgl. King, Actively Seeking Work, S. 150; zum Restart-Programm vgl. ebenda, S. 172 f. 50 Vgl. Cornelia Sproß/Kristina Lang, Länderspezifische Ausgestaltung von Aktivierungspolitiken. Chronologie und gesetzliche Grundlagen, Nürnberg 2008, S. 18 f.

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Allgemein existierte keine Regelung, ob die Trainingsmaßnahme für den Arbeits­ losen geeignet oder zumutbar war51. Parallel zu diesen Aktivierungspolitiken war im Social Security Act von 1986 der finanzielle Druck auf die Arbeitslosen erhöht und die maximale Entzugsdauer von Arbeitslosenunterstützung bei Ablehnung »geeigneter Arbeit« von sechs auf 13 Wochen verlängert worden52. 1988 erfolgte eine erneute Verlängerung dieser Frist auf 26 Wochen. An diesem Punkt war die Politik aktiver Arbeitssuche und die Definition der Verfügbarkeit von Arbeitslosen in die Disziplinierungstechniken von Arbeitswilligkeit umgeschlagen, wie sie in den 1920er Jahren in der britischen Arbeitsverwaltung durchgeführt worden waren. Von geeigneter, zumutbarer oder unzumutbarer, Arbeit war in diesen Kontexten nicht mehr die Rede. Der Arbeitslose wurde für die Arbeit geeignet gemacht, die letztlich zu akzeptieren war. Von einem Rückzug des Staates als Regulierungsinstanz zumutbarer Arbeit kann aber im sozialpolitischen System Großbritanniens nicht die Rede sein. Die Formen der Gouvernementalität erweiterten sich vielmehr. Zum einen ist der Appell der aktiven Arbeitsmarktpolitik an die unternehmerische Eigeninitiative der Arbeitslosen in der Herstellung von eigener Eignung im Verhältnis zu den Ressourcen geeigneter Arbeit offensichtlich. Zum anderen wird aber auch rechtsförmig durch die Einführung vertragsrechtlicher Verpflichtungen in Form obligatorischer und sanktionierter Akzeptanz von Trainingsmaßnahmen deutlich, dass sich die sozialrechtliche Sicherung in Großbritannien per zentraler Legislative individualisiert hatte und die Zumutungen von Arbeit zu einem persönlichen Risiko geworden waren53.

5. Zumutbare Arbeit in der britischen Rechtspraxis: Regelung des Notfalls Dem Prinzip des britischen Common Law folgend, führte die richtige Auslegung von Präzedenzfällen bis 1975 zu den entsprechenden Bestimmungen des Social Security Act. Die Subjektpraktiken der gerichtlichen Anrufung trugen eher zur Genese eines Regelwerks bei, als dass sie sich auf einen vorhandenen Rechts­ kodex stützen konnten. Die marginale Position von sozialer Rechtsprechung im britischen Rechtssystem legt die Vermutung nahe, dass weniger die autonome Artikulation Arbeitsloser befördert wurde als vielmehr sozialrechtliche Begriffe abhängig vom sozialen Kontext in der Rechtspraxis eingeübt wurden. 51 Vgl. Wikeley, Unemployment Benefit, S. 302. 52 Vgl. Ogus/Barendt, Law of Social Security, S.  97 und S.  109; Wikeley, Unemployment Benefit, S. 301. 53 Vgl. Eichenhofer, Recht, S.  119–136, insbesondere S.  124; mit einem Ausblick auf die 1990er Jahre vgl. Laura Lundy, From Welfare to Work? Social Security and the Un­ employed, in: Neville Harris u. a. (Hrsg.), Social Security Law in Context, Oxford 2000, S. 291–325, hier S. 293.

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Die Reichweite des Begriffs der Verfügbarkeit eines Arbeitslosen, die Voraussetzung dafür war, »geeignete Arbeit« aufzunehmen, beziehungsweise die Rechtfertigung der Nicht-Verfügbarkeit kristallisierte sich in Rechtsentscheidungen der Social Security Tribunals der 1950er und 1960er Jahre erst nach und nach heraus als abhängig von der Art und Weise, in der jemand seine Berufs­tätigkeit definierte, den häuslichen Umständen und der Beschaffenheit des lokalen Arbeitsmarkts54. Gleichzeitig spiegeln die 1950er und 1960er Jahre auch in den britischen Urteilen einen saturierten Arbeitsmarkt wider. 1951, 1953 und 1969 wurde die Nicht-Verfügbarkeit eines Arbeitnehmers festgestellt, sofern er vertraglich an einen anderen Arbeitgeber gebunden war55. Die Teilnahme an einer Fortbildung war, so wurde 1950 entschieden, großzügig als Verfügbarkeit des Arbeitnehmers auszulegen. Die Anspruchshaltung, die Arbeitnehmer noch vertreten konnten, wurde mit dem Urteil von 1964 deutlich, eine fehlende Teepause mache ein Arbeitsangebot nicht unzumutbar. Seit den 1970er Jahren zeichneten sich hingegen die Friktionen der Arbeitsmärkte deutlich ab. 1972 wurde die Definition von Verfügbarkeit in Abhängigkeit von den lokalen Arbeitsmarktbedingungen erneut bestätigt. Die durch die Verlängerung von Sperrfristen hervorgerufenen finanziellen Belastungen wurden 1971 erstmals sozialrechtlich moniert und führten 1987 zu einem Grundsatzurteil die durch vorangegangene finanzielle Sanktionen womöglich entstandenen finanziellen Härtefälle bei der erneuten Festsetzung von Sperrfristen im Bezug von Arbeitslosenunterstützung zu berücksichtigen und von den nun möglichen maximalen Sperrzeiten von 26 Wochen abzusehen56. Die Zumutung der fehlenden Teepause hatte sich in gewisser Weise verschärft. Handreichungen zur Stellensuche in Europa, von der Employment Service Agency 1973 erstellt, verdeutlichen indirekt die Zumutungen räumlicher Flexibilität. Eine Druckschrift, die Beschäftigungsmöglichkeiten in der Bundesrepublik bewarb, wies neben der Notwendigkeit sprachlicher Grundkenntnisse und der in der Bundesrepublik üblichen, am beruflichen Ansehen orientierten Arbeitsteilung auch auf die fehlende Teepause als spezifische Arbeitsbedingung deutscher Arbeitgeber hin, auf die sich britischen Arbeitnehmer einstellen müssten: »Or again, in some factories there are no morning or afternoon tea breaks.«57 Gesonderten juridischen Regelungsbedarf verursachten 1982 die in den frühen 1980er Jahren eingeführten staatlichen Förderungsprogramme freiwilliger, unbezahlter Arbeitseinsätze von Arbeitslosen in kommunalen und sozialen Einrichtungen58. Die Verfügbarkeit eines Arbeitslosen musste nun für diese Ziel54 Zu den Social Security Tribunals vgl. Fulbrook, Justice, S. 195–312, insbesondere S. 201. 55 Vgl. hierzu und zum folgenden Calvert, Social Security Law, S. 193–198, und Ogus/Barendt, Law of Social Security, S. 90–110. 56 Vgl. ebenda, S. 110. 57 The National Archives LAB 52/29: Working in the Federal Republic of Germany. How to Get a Job and What You Should Know before You Accept it, hrsg. von der Employment Service Agency 1973, S. 7. 58 Vgl. Ogus/Barendt, Law of Social Security, S. 96.

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gruppen neu bestimmt werden. Vormalige Regelungen für Extremfälle, wie die Nicht-Verfügbarkeit von Arbeitslosen, die an einem Einsatz der freiwilligen Feuerwehr oder der Seenotrettung angehörten, weiteten sich nun auf Arbeitslose aus, die freiwillig in Wohlfahrts- und Gesundheitseinrichtungen tätig und dort im Notfalleinsatz waren. Betätigt sich hier die britische Rechtsprechung als Nachhut und Konfliktlöser politischer Subjektivierungsprogramme, so wirkt sie an anderer Stelle als deren Beschleuniger. Bereits 1980 und damit neun Jahre vor den einschlägigen Passagen des 1989 verabschiedeten Social Security Act entschied der Social Security Commissioner die Verfügbarkeit eines Arbeitslosen für »geeignete Arbeit« sei an seine Bereitschaft gebunden, aktiv nach Arbeit zu suchen59. Diese Verfahrensregel erinnert gerade in ihrer juridischen Unbestimmtheit an den Unemployed Insurance Act von 1924, der den Bezug von Arbeitslosenunterstützung an den Nachweis der tatsächlichen, ernsthaft betriebenen Stellensuche band.

6. Fazit Die Jahre zwischen 1975 und 1982 bezeichnen für die sozialrechtliche Ausdifferenzierung von »zumutbarer Arbeit« sowohl in der Bundesrepublik als auch in Großbritannien eine formative Phase, in der sich der Anspruch, den Arbeitsmarkt steuern und unterwertige Beschäftigung vermeiden zu können, wandelte zu einem appellativen Instrument an das Verhalten von Arbeitnehmern, sich den Anforderungen der Arbeitsmärkte anzupassen. Die Verrechtlichung der Zumutbarkeitsregeln spielte sich in beiden Ländern in Kontexten hoher struktureller Arbeitslosigkeit ab, die wiederum zurückwirkte auf die Regelungsvorschriften. Der Spielraum für »zumutbare Arbeit« wurde kleiner beziehungsweise die Subjektansprüche an räumliche, berufliche und zeitliche Flexibilität wurden größer. Die Unterschiede zwischen beiden Ländern liegen auf der Hand. Das deutsche Prinzip der Beruflichkeit, das vor dem AFG soziales Ansehen und Status sichern sollte und sich in den abgestuften Regelungen von Zumutbarkeit abbildete, konnte Anfang der 1980er Jahre immerhin noch einen temporären Qualifikationsschutz bieten60. Die britische Abstiegsleiter war indessen bedeutend steiler. Bereits Mitte der 1980er Jahre riskierten Arbeitslose massive finanzielle Einschränkungen bei Ablehnung »geeigneter Arbeit«. 1989 war in Großbritannien jegliche angebotene Arbeit prinzipiell zumutbar. In der Bundesrepublik wurde in den 1970er und 1980er Jahren das »arbeitslose Angestelltensubjekt« in der »Warteschleife« verwaltet, das mit planbarer Linearität im Lebenslauf rechnete und sich noch 1980 Arbeit relativ souverän aufgrund rauchender Arbeitskollegen, staubiger Anfahrt oder frühem Aufstehen als unzumutbar ausmalen

59 Vgl. ebenda, S. 93, sowie Wikeley, Unemployment Benefit, S. 298 f. 60 Vgl. Sell, Entwicklung, S. 536.

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konnte61. In Großbritannien wurde hingegen bereits das Subjektprogramm des »unternehmerischen Arbeitslosen« gezeichnet, der selbst in der Demonstration bloßer Verfügbarkeit für geeignete Arbeit, eigeninitiativ Aktivität zu signalisieren hatte62. Ihm blieb in den 1980er Jahren bezeichnenderweise die Subjektpraktik der Berufung auf Notfalleinsätze in freiwilliger unbezahlter Arbeit, um seine Nicht-Verfügbarkeit für »geeignete Arbeit« zu artikulieren. Schließlich deutet sich in der juridischen Sphäre Großbritanniens eine staatlich verordnete Individualisierung an. Mit der Einführung des Vertragsrechts in Form obligatorischer und sanktionierter Teilnahmeverpflichtungen zu Trainingsmaßnahmen kehrte das Rechtsprinzip der Individualisierung in das Sozialrecht zurück. Arbeitslosigkeit wurde zum persönlichen Versicherungsrisiko des Einzelnen. Diese Form von Gouvernementalität findet ihre Fortsetzung in der Ausweitung vertragsrechtlicher Regelungen der aktivierenden Arbeitspolitiken seit den 1990er Jahren. In der Bundesrepublik sind es seit den Hartz-­ Reformen Eingliederungsverträge, in Großbritannien die Jobseeker’s Agreements seit dem Job Seekers Act von 1995, die den Arbeitslosen zu einem Vertragspartner individualisierender Rechtsprinzipien machen.

61 In Anlehnung an Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006, S. 275–440. 62 Vgl. Bröckling, Unternehmerisches Selbst; zur Anrufungsrhetorik von Trainingskursen für Arbeitslose in den 1990er Jahren vgl. ebenda, S. 74 f.

Tobias Gerstung

Vom Industriemoloch zur Creative City? Arbeit am Fluss in Glasgow während und nach dem Boom

1. Einleitung Glasgow made the Clyde and the Clyde made Glasgow – dieses oft zitierte Sprichwort bringt die Bedeutung des Flusses Clyde für die Stadt Glasgow zum Ausdruck1. Glasgow made the Clyde, weil der bereits im späten 18. Jahrhundert beginnende Ausbau zur Wasserstraße den Flussverlauf grundlegend veränderte. Aus einem flachen, breit-mäandernden natürlichen Fließgewässer wurde allmählich ein tiefer, begradigter Kanal, der die Stadt mit dem über 30 Kilometer entfernten Firth of Clyde verband. The Clyde made Glasgow, weil eben diese Wasserstraße in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Quell der Prosperität und zur zentralen Verkehrsachse des westschottischen Industriereviers avancierte2. Schließlich war die Uferzone der Standort der Schiffbau- und Marineindustrie, welche die Stadtökonomie bis in die 1960er Jahre dominierte. Neben lokalen Kohleund Eisenerzvorkommen bildete der schiffbare Fluss also die dritte zentrale Vorrausetzung für die Entstehung eines exportorientierten schwerindustriellen Clusters im Westen des zentralen schottischen Tieflandgürtels. Endpunkt und wichtigster Umschlagplatz des gesamten Verkehrssystems war der Glasgower Hafen, über den dringend benötigte Rohstoffe wie Erze oder Getreide ins Revier kamen. Whiskey, Maschinen, Lokomotiven, Roh­eisen und Schiffe eroberten über den Fluss die Absatzmärkte des britischen Welt­ reichs. Die doppelte Funktion als Warenumschlagplatz und Industriestandort beherrschte die Arbeit in der Uferzone vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre. In den 1970er und 1980er Jahren erlebte Glasgow dann einen beschleunigten strukturellen Wandel der urbanen und regionalen Ökonomie. Schwerindustrie und Schiffbau verloren ihre zentrale Bedeutung für die Wertschöpfungskette und für den Arbeitsmarkt; steigende Arbeitslosenzahlen und Abwanderung waren die Folgen. Gleichzeitig verschwand auch der Hafen aus der Stadt. Ausgelöst wurde dies durch die rückläufige Industrieproduktion in der Region und durch technologische Veränderungen im Logistiksektor. Die Uferzone, zuvor zentraler Raum für Arbeit und Beschäftigung, wandelte sich zu einer innerstädtischen 1 Zur Geschichte Glasgows vgl. etwa Irene Maver, Glasgow, Edinburgh 2000; Andrew Gibb, Glasgow. The Making of a City, London 1983. 2 Vgl. John F. Riddell, The Clyde. The Making of a River, Edinburgh 2000.

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Brachlandschaft, die von stillgelegten Werften und Fabriken sowie aufgegebenen Hafen- und Verkehrsanlagen dominiert wurde. Verstärkt ab den 1990er Jahren entwickelte sich die Uferzone schließlich erneut zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Es waren verschiedene Bereiche des Dienstleistungssektors, die sich nun als neue Leitsektoren etablierten. Entlang des Clyde fanden die Unternehmen dieser Wachstumsbranchen billiges und attrak­ tives Bauland. So kehrten die Arbeitsplätze in die Uferzone zurück, wenngleich die neuen Jobs sich von den zuvor hier angesiedelten deutlich unterschieden. Wenn im Folgenden dem Strukturwandel der Arbeit nachgegangen wird, so geschieht dies in sozial wie räumlich klar umgrenzter Perspektive. Im Mittelpunkt steht die städtische Uferzone in Glasgow und die dort anzutreffenden Berufe. Dabei geht es vor allem um eine Frage: Wie gestaltete sich diese Arbeitswelt im »goldenen Zeitalter«, und was veränderte sich in Bezug auf die Formen der Arbeit in den Jahren nach dem Boom? In einem ersten Schritt wird die Arbeitswelt der 1950er und 1960er Jahre in den Blick genommen – unter besonderer Berücksichtigung der Beschäftigten im Hafen und auf den zahlreichen Werften. In einem zweiten Schritt wird jene Phase des Übergangs und der Neustrukturierung untersucht, die die 1970er und 1980er Jahre einschloss. In dieser Zeit war die innerstädtische Uferzone mit ihren Industrie- und Hafenbrachen das sichtbare Zeichen des Niedergangs einer schrumpfenden Stadt. In einem dritten Schritt wird schließlich die neue Arbeitswelt am Wasser beleuchtet, die sich in den 1990er und 2000er Jahren durchsetzte. Ihre architektonische Grundform, der Bürokomplex, bestimmt heute die Waterfront entlang des Clyde.

2. Arbeitswelten in der Uferzone der Industrie- und Hafenstadt 1850 bis 1965 In den 1950er und 1960er Jahren sahen die ökonomische Struktur der Stadt und das daraus erwachsene Stadtbild noch ganz anders aus. Schiff- und Loko­ motivbau sowie verschiedene Arten der Schwerindustrie bildeten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts die wirtschaftliche Basis Westschottlands. Die ­daraus resultierende sozialräumliche Ordnung3 Glasgows lässt sich anhand von Flächennutzungsplänen erschließen. So bildete etwa der Clyde ­Valley Regional Plan von 1946 die Nutzungsarten in der Uferzone in einer eigenen Karte ab4. Flussaufwärts, in den östlichen Stadtteilen, befanden sich Eisenhütten, Stahlwerke und Gießereien. Westlich des Stadtzentrums bestimmten hin­ gegen Hafenanlagen und Werften die Szenerie. Diese maritim-industriell ge-

3 Vgl. dazu Michael Pacione, Glasgow. The Socio-Spatial Development of the City, Chichester 1995. 4 In Buchform drei Jahre später erschienen; vgl. Patrick Abercrombie/Robert H.  Matthew, The Clyde Valley Regional Plan, London 1949, Karte 30.

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prägte Zone lässt sich nochmals grob unterteilen. Vom Kingston Dock, das dem Stadt­zentrum gegenüber am Südufer lag, bis zum Stadtteil Govan dominierten Hafenanlagen und Verkehrsflächen. Weiter flussabwärts konzentrierten sich Werften und Marineindustrie. Diese ökonomisch-stadträumliche Ordnung hatte sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet. Obgleich sich Werften, Hafen und Marineindustrie über die Jahre immer weiter in Richtung Westen ausdehnten, blieb diese Grundstruktur bis in die 1960er Jahre im Wesentlichen erhalten. Doch nicht nur das Verhältnis von Hafen, Marine- und Schwerindustrie blieb in der Uferzone über einen langen Zeitraum vergleichsweise stabil. Dasselbe galt auch für die sozialräumliche Beziehung von Wohnen und Arbeiten. Bis weit ins 20.  Jahrhundert waren Schiffszimmerleute, Kesselmacher und Hafenarbeiter vergleichsweise immobil und deshalb auf eine Unterkunft in unmittelbarer Nähe zum Arbeitsplatz angewiesen. Zur Unterbringung der Arbeiterschaft bauten bisweilen Unternehmer, häufiger jedoch Immobilienspekulanten die für Glasgow so typischen drei- bis vierstöckigen Mietskasernen, die Tenements. Es entstand ein äußerst enger sozialräumlicher Zusammenhang von Mietshäusern, Hafenanlagen und Werften, wie er in vielen vergleichbaren europäischen Industriehafenstädten anzutreffen war. Der Stadtteil Govan etwa war ganz auf den Hafen und die Werften ausgerichtet. Die Mietskasernen ragten hier bisweilen sogar in die Produktikons- und Verkehrsflächen hinein5. Der gegenseitigen räumlichen Durchdringung entsprach eine enge soziokulturelle Verzahnung. Der Gewerkschaftsführer, Journalist und Politiker Jimmy Reid stammte aus Govan, wo er auch auf den Werften arbeitete, ehe er 1971/72 durch den Work-In der Upper-Clyde-Shipbuilders bekannt wurde. Damals wehrten sich die Arbeiter erfolgreich gegen die Schließung der Werften, in dem sie die Produktion in eigener Regie weiterlaufen ließen und damit verhinderten, dass der bestellte Insolvenzverwalter Maschinen und Werkzeuge verkaufen konnte. Für Reid, der im Laufe seiner politischen Karriere von der Kommunistischen Partei zu Labour und schließlich zu den Nationalisten wechselte, schuf der enge Bezug von Wohnen und Arbeiten in den Gemeinschaften am Fluss eine starke kulturelle und soziale Bindungen sowie ein hohes Maß an Solidarität und Schlagkraft für die Arbeiterschaft: »You had this marvelous relationship between the community and the workplace. On occasions when a real problem arose, perhaps with landlords in the community, the workers in the yards would use their industrial power to supplement action, for example by the womenfolk over rent. What you had was a culture which sprang from the industry by which the men earned their living.«6

5 Vgl. Burrel Collection Photo Library, Glasgow Harbour 1932; www.theglasgowstory.com/ imageview.php?inum=TGSE00673. 6 Zit. nach: The Scots at Sea. Celebrating Scotland’s Maritime History. Compiled by Jim­ Hewitson, Edinburgh 2004, S. 67 f.

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Diese spezielle, vom Schiffbau geprägte Kultur hatte ihre festen Regeln, Rituale und Narrative7. Das feierliche Hochamt der Flussufergesellschaft war der Stapellauf eines neuen Schiffes. Archie Gilchrist, zwischen 1972 und 1974 im Vorstand der Govan Shipbuilders, berichtete 2003 in einem Interview von der großen Bedeutung eines solchen Ereignisses: »Shipbuilders would bring their families in to watch a launch because they had been working on a particular ship for perhaps two or three years. When they saw it floating away, they thought; ›well, that’s something: there’s a bit of me in that ship.‹«8

Der Fluss bildete in vielerlei Hinsicht das Rückgrat einer kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Gemeinschaft. Für die Anwohner war die räumliche Nähe von Wohnen und Arbeiten jedoch nicht unproblematisch; sie ging mit erheblichen Belastungen durch Emissionen einher. Im Falle des Schiffbaus waren es vor allem giftige Dämpfe und der Lärm, der durch Fenster und Wände drang. Bis in die 1950er Jahre wurden die Schiffe auf den Glasgower Werften auf dem Helgen im Freien zusammengenietet. Das Einschlagen der Stahlbolzen mischte sich mit dem Krach metallverarbeitender Maschinen. Dann setzte sich das Schweißen durch, und die gewohnte Geräuschkulisse verebbte. Dass dieser Wandel nicht unbemerkt blieb, zeigt etwa der von R. Y. Bell und Ian Gourley 1957 ver­ öffentlichte Schlager The Song of the Clyde, der diesem im Verschwinden begriffenen urbanen Klang mit dem Refrain »The Hammers’ ding-dong is the Song of the Clyde« ein Denkmal setzte9. Und noch zu Beginn der 1980er Jahre erinnerte sich der Folk Musiker Archie Fisher in dem mit Norman Buchan verfassten Lied The Shipyard Apprentice an die allgegenwärtigen Geräusche seiner Kindheit: »I was born in the shadow of a Fairfield crane, and the blast of a freighter’s horn was the very first sound that reached my ears on the morning I was born. I lay and I listened to the shipyard noise coming out of the great unknown and was sung to sleep by the mother tongue that was to be my own.«10

Die maritim-industrielle Waterfront und die angrenzenden Wohnbereiche standen also nicht nur in einer engen funktionalen und strukturellen Beziehung zueinander, sie hatten sogar einen gemeinsamen Sound, der in vielen Erinnerungen ehemaliger Bewohner auftaucht11. Jenseits seiner Bedeutung für die Erinnerungskultur, war der Lärm jedoch in erster Linie eines: gesundheitsschäd7 Vgl. Martin Bellamy, Shipbuilding and Cultural Identity on Clydeside, in: Journal for­ Maritime Research 8 (2006) H. 1, S. 1–33. 8 Scots at Sea, S. 68. 9 R. Y. Bell/Ian Gourley, The Song of the Clyde, Glasgow 1957. 10 Zit. nach: Ewan McVicar (Hrsg.), One Singer one Song. Old and New Stories and Songs of Glasgow Folk, Glasgow 1990, S. 25. 11 Einen Eindruck von der Geräuschkulisse sowie einen Einblick in den Produktionsablauf auf den Werften vermittelt der Dokumentarfilm Steel Goes to Sea, Großbritannien 1941, Regie: John E. Lewis, Buch: Terence Egan Bishop, 16 min.

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lich. Schwerhörigkeit und Taubheit waren unter Werftarbeitern weit verbreitet12. Wie infernalisch der Lärm werden konnte, schildert Jimmy Reid, der sich an seinen ersten Besuch auf einer der Glasgower Werften erinnerte: »The noise inside the yards was diabolical. First time I ever went into a yard as a boy, I thought I was in hell. It was deafening. You were holding your ears. That’s why a lot of the old guys were deaf.«13 Neben den Emissionen aus dem Schiffbau belastete auch der Hafen die flussnahen Quartiere. Hier waren es in erster Linie Ruß und Abgase der schweren Schiffsmotoren, die der Wind durch die Straßen wehte und in Häuser und Wohnungen trug. Bei entsprechender Wetterlage verbanden sie sich mit den Abgasen aus den kohlebefeuerten Fabriken, Stahlwerken und Wohnhäusern zu einem beißenden Smog, der sich als dicke, schwarze Schicht über die Fassaden und Dächer Glasgows legte und der Stadt bis in die frühen 1980er hinein ein recht trostloses Aussehen verlieh. Das »schwarze Glasgow« taucht in zahlreichen persönlichen Erinnerungstexten auf. So beschrieb der aus den USA stammende Schriftsteller Bill Bryson in seinem Bestseller »Notes from a Small Island« seinen ersten Glasgow-Besuch 1973 mit folgenden Worten: »I remember when I first came to Glasgow in 1973 […] being profoundly stunned at how suffocatingly dark and soot-blackened the city was. I had never seen a place so choked and grubby. Everything in it seemed black and cheerless.«14

Die räumliche Nähe der Arbeitsstätten an den Ufern des Clyde zu den Wohnungen war also einerseits eine Notwendigkeit, brachte andererseits aber auch viele Nachteile und Risiken für die Menschen. Umgekehrt begrenzte die Nähe zur Wohnbebauung die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der maritim-­ industriellen Uferzone. Deutlich wird dieses Problem am Beispiel des Scheiterns der fordistischen Reorganisation des Schiffbaus in Großbritannien im All­gemeinen und in Glasgow im Besonderen15. Die Frage, ob eine Werft ihre Produktionsabläufe im Sinne des Fließbands und des Taylorismus neu auszurichten vermochte, hing unmittelbar von der stadträumlichen Umgebung ab. Die britischen Werften waren im 19. und 20. Jahrhundert meist entlang von Flussläufen in die Breite gewachsen, eng umschlossen von den Behausungen für die Arbeiterschaft. Die baulichen Anlagen bildeten die Produktionsabläufe nur sehr unzu­ reichend ab. Solange der Schiffbau mehr einer individuellen, qualitativ hoch­ wertigen und handwerklichen Einzelanfertigung glich, war dies kein großes Problem, während des Zweiten Weltkriegs jedoch, als der Bedarf an Schiffen und 12 SOHC , Serie Voices from the Yard Exhibition, Interview mit dem Schiffbauer-Vorarbeiter Pat McChrystal. Die Interviews dieser Serie sowie der Serie über Hafenarbeiter stellte mir freundlicherweise Dr. David Walker, SOHC , zur Verfügung. 13 Scots at Sea, S. 67. 14 Bill Bryson, Notes from a Small Island, London 1993, S. 365. 15 Vgl. hierzu und zum Folgenden Anthony Burton, Rise and Fall of British Shipbuilding, London 1994, S. 199–245.

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Tonnage rasch anstieg, begann man sich Gedanken über die Beschleunigung der Produktion zu machen. Vorreiter bei der Rationalisierung des Schiffbaus waren die USA . Man setzte nun auf die Herstellung standardisierter Massenware wie die Frachter der Liberty-Klasse. Dauerte der Bau des ersten Schiffs dieser Klasse noch 244 Tage, so benötigte der Herstellungsprozess bei Kriegsende durchschnittlich nur noch etwa ein Fünftel der Zeit16. Möglich war diese Beschleunigung durch eine grundlegende Rationalisierung der Produktion. Ein entscheidendes Element hierbei war die räumliche Neuordnung der Fertigungsbereiche. Statt wie bisher Werften zu bauen, die sich am Ufer breit machten, wurden neue Produktionsstraßen nun quer zum Fluss errichtet; sie ragten also viel weiter ins Hinterland hinein. Diese Anordnung erlaubte es, die einzelnen Herstellungsschritte in der baulichen Form des Betriebs abzubilden, von der Anlieferung der Rohstoffe bis hin zum Helgen. Zahlreiche zeitraubende Bewegungen von Mensch, Technik und Material konnten so ein­gespart werden. In den USA, wo Grundstücke billig und einfach zu bekommen waren, etablierte sich die neue Bauweise rasch. In Glasgow und in vielen vergleichbaren europäischen Standorten war dafür jedoch meist kein Platz; die Flächen hinter den Werften waren bereits dicht bebaut. Dies ist einer der Gründe für den raschen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit vieler europäischer Werften ab den späten 1950er Jahren. Die Enge des historisch gewachsenen Siedlungsgeflechts behinderte in vielen europäischen Hafenstädten jedoch nicht nur die räumliche Reorganisation der Marineindustrie. Auch in Bezug auf ihre Funktion als Warenumschlagplatz machte sich der Mangel an frei verfügbaren Flächen bemerkbar. Ein häufig anzutreffendes Problem war etwa der Mangel an einer ausreichenden verkehrstechnischen Erschließung von der Landseite her. Dieses Problem wurde durch die Zunahme des Straßenverkehrs ab den 1950er Jahren immer drängender17. Auch Glasgow hatte mit solchen Schwierigkeiten zu kämpfen. Das Straßennetz der viktorianischen Stadt war den logistischen Anforderungen der Boom-Jahre nicht mehr gewachsen. Bereits während des Zweiten Weltkriegs, als Glasgow neben Liverpool als Haupthafen für den britischen Nachschub genutzt wurde, hatten sich große Logistikprobleme gezeigt18. Als 1962 der Abschlussbericht der Rochedale-Kommission erschien, die Vorgaben zur Modernisierung der britischen Häfen erarbeiten sollte, hatte sich die Situation noch einmal verschlechtert. Deshalb empfahl die Kommission, den Hafen vom Stadtzentrum in Richtung Flussmündung zu verlegen, wo das Wasser tiefer und die Anbindung an das Straßennetz viel leichter zu bewerkstelligen sei19. Damit wurde der maritim16 Vgl. Peter Elphick, Liberty. The Ship that Won the War, London 2001. 17 Vgl. Alan G. Jamieson, »Not More Ports, but Better Ports«. The Development of British Ports since 1945, in: The Northern Mariner 6 (1996), S. 29–34; Richard Goss, British Ports Policies since 1945, in: Journal of Transport Economics and Policy 32 (1998) H. 1, S. 51–71. 18 Vgl. Josef W. Konvitz, Missing the Boat. Port City Planning in Glasgow during World War II, in: Urban Studies 29 (1992) H. 8, S. 1293–1304. 19 Vgl. Report of the Committee of Inquiry into the Major Ports of Great Britain, hrsg. vom Her Majesty’s Stationery Office, London 1962, S. 192–196.

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industrielle Stadt-, Lebens,- und Wirtschaftsraum der Uferzone bereits in den »goldenen Jahren« zunehmend in Frage gestellt. Zunächst änderte sich jedoch nur wenig, und die Grundstrukturen blieben erhalten. In wirtschaftsgeographischer und sozialräumlicher Hinsicht bildeten die urbane Uferzone und die unmittelbar angrenzenden Quartiere nach wie vor eine Einheit. Die enge Durchdringung von Arbeit und Wohnen und der gemeinsame maritim-industrielle Bezugspunkt legen die Frage nahe, ob sich auch gemeinsame Formelemente in der Arbeitswelt am Fluss erkennen lassen. Einen ersten Hinweis auf Gemeinsamkeiten gibt ein Blick auf die Geschlechterordnung. Die maritim-industrielle Arbeitswelt wurde von Männern beherrscht. Mitte der 1950er Jahre etwa beschäftigten Werften, Reparaturbetriebe und Marineindustrie etwa 28.600 Menschen direkt. Der Anteil der weiblichen Beschäftigten lag gerade einmal bei ungefähr sieben Prozent20. Nur wenig anders sah es in der Hafenwirtschaft aus. 4596 Beschäftigte waren dort zur selben Zeit registriert, 13 Prozent davon Frauen. Es war jedoch nicht allein der Anteil der weiblichen Beschäftigten, der relativ gering war; Frauen fanden sich zudem vor allem in der Verwaltung, während Männer die Blue Collar Jobs in der Produktion beziehungsweise im Warenumschlag besetzten. Weibliche Arbeitskräfte stellten in der alten Arbeitswelt also in doppelter Hinsicht eine Randgruppe dar. Eng an die männlich dominierte Geschlechterordnung geknüpft war eine zweite kulturelle Gemeinsamkeit. In der Arbeitswelt der Uferzone waren Formen von harter, körperlich anstrengender Tätigkeit mit hohem sozialen Prestige und Ansehen verbunden. In den 1950er und 1960er Jahren war die Bedeutung der Maloche im Arbeitsprozess freilich bereits rückläufig. Zwar spielte sie nach wie vor im Alltag eine Rolle, der Grad an Mechanisierung nahm jedoch auch auf den Werften und im Hafen stetig zu. So waren beispielsweise auf den Docks neben Kränen bereits Gabelstapler und Hubwagen im Einsatz. Auch die ersten Paletten erleichterten die Arbeit deutlich21. Der Stauhaken blieb jedoch bis zur Einführung des Containers das wichtigste Werkzeug und zugleich ein Erkennungsmerkmal der Hafenarbeiter. Zudem überstieg der Wert, der den verschiedenen Spielarten der Maloche in kollektiven Identitäten und sozialen Ordnungen zukam, deren alltägliche Relevanz deutlich. Dieser kulturelle Bedeutungsüberschuss tritt in den Schilderungen des ehemaligen Hafenarbeiters Owen McIntyre (Jahrgang 1947) deutlich zutage. Er hatte seine Tätigkeit im Hafen nur wenige Jahre vor dem Siegeszug des Containers aufgenommen. Den Wandel der Arbeit beschreibt er so: 20 Vgl. Alex Cairncross, The Economy of Glasgow, in: Ronald Miloler/Joy Tivy (Hrsg.), The Glasgow Region. A General Survey, Glasgow 1957, S. 219–241, hier S. 226. 21 Vgl. Bernt Kamin-Seggewies, Von Handhaken und Sackkarre zu automatisierten Con­ tainer-­Stapelkränen. Die Hafenarbeit hat sich rasant verändert, in: ders./Udo Achten (Hrsg.), Kraftproben. Die Kämpfe der Beschäftigten gegen die Liberalisierung der Hafenarbeit, Hamburg 2008, S. 103–127, hier S. 103 f.; Birte Gräfing, Die Arbeit im Hafen nach 1945, in: dies./Dirk Heinrichs (Hrsg.), Vom Stauhaken zum Container. Hafenarbeit im Wandel, Bremen/Boston 22011, S. 71–90, hier S. 79.

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»Ye wernae daen any work ’cause the crane was daen it aw’ you were only unhooking them or putting them on, that’s the only thing we were daen. It was boring, really […] Pre containerisation, […] ye either used a crane or a winch tae put aw the heavy stuff in the hold and then the lighter stuff between decks, ye know, aw the lighter stuff up the top and that was aw manual whereas containers, aw the stuff was in the container and it was just the one lift […] obviously there was nae manual work on it, no manual work whatsoever.«22

Für McIntyre bedeutete der Container offensichtlich einen Verlust an manueller Arbeit, Abwechslung und Verantwortung. Dass dies keine Einzelmeinung war, zeigen ähnlich klingende Aussagen eines ehemaligen Stauers (Jahrgang 1926), der seine Stelle in den 1950er Jahren angetreten hatte. Über die Docker und ihre Arbeit sagte er in einem Interview: »As somebody who was attached to them you had to praise them and think ›Well, compared to some other people those guys are really working‹. Sweat running off them or the other way it was frozen down there, you know. Ach it was okay […].«23

Er, der selbst die Arbeit auf dem Schiff und an Land anleitete und somit nicht direkt zur Gruppe der Malocher zählte, empfand offenbar größten Respekt für deren Leistung. Für ihn und McIntyre war im Grunde genommen nur körperliche Arbeit wirkliche Arbeit. Physische Leistungsfähigkeit bildete einen wichtigen Grundstein für wirtschaftliches und noch mehr für soziales Kapital, Anerkennung und Respekt. Dies galt freilich nicht nur in der Uferzone, sondern für die gesamte schwerindustriell geprägte Stadtökonomie. Die Schilderung des Stauers verweist zugleich auf einen weiteren Umstand, der die maritime Arbeitswelt am Wasser prägte. Bis in die 1960er Jahre arbeiteten Werftarbeiter und Docker am und auf dem Clyde überwiegend im Freien. Dabei waren sie dem schot­tischen Wetter weitgehend schutzlos ausgesetzt. Der ehemalige Schiffsbauer Patrick­ Hagen berichtet über die Arbeitsbedingungen: »In the shipyards, the conditions were bad. No cover of any kind. If we were framing or beaming a boat, you were up there on the staging at quarter to eight in the morning and you were there to half-past five – hail, rain, sleet and snow. You simply had to cope with the cold.«24

Neben den Werkstätten und Lagerhallen waren das Ufer und der Fluss ein fester Bestandteil der Arbeitswelt. Sowohl Hafen- als auch Werftarbeiter gingen ihrer Tätigkeit häufig an Bord von Schiffen auf dem Wasser nach. Der Umstand, dass 22 SOHC , Sammlung Dockers, Interview mit Owen McIntyre vom 13.8.2009 (Transkription). Die Interviews mit ehemaligen Hafenarbeitern führte Dr. David Walker im Auftrag des Riverside Museums, Glasgow. 23 SOHC , Sammlung Dockers, Interview mit einem anonymen Superintendent Stevedorer vom 10.8.2009 (Transkription). 24 Zit. nach: Scots at Sea, S. 54; zum Folgenden vgl. ebenda, S. 57 f.

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ein Großteil der Arbeit am Fluss unter freiem Himmel stattfand, hatte lange Zeit verhindert, dass für die Beschäftigten notwendige Sozialräume geschaffen wurden. Noch während des Zweiten Weltkriegs etwa gab es auf vielen Werften weder Duschen noch Umkleideräume oder Kantinen. Toiletten hatten Seltenheitswert. Dies änderte sich erst ab den frühen 1950er Jahren. Um diese Zeit wurden auch erstmals die einfachen Werkzeuge von den Unternehmen gestellt und mussten nicht mehr von zu Hause mitgebracht werden. Die Arbeit in der Uferzone war nicht ungefährlich. Stürze aus großer Höhe, fallende Lasten, Verletzungen der Augen durch Funkenflug beim Schweißen waren gängige Unfälle. Owen McIntyre berichtet etwa von einem Unglück, bei dem ein Hafenarbeiter im Schiffsrumpf von einem umfallenden Stapel Whiskey-­ Paletten getötet wurde. Aber auch jenseits von spektakulären Unfällen, fährt McIntyre fort, sei der Alltag der Hafenarbeiter gefährlich gewesen: »Aye, people getting injured, no watching what they were doing, ye know, and… no… that was one wi’ a death but other ones they broke their fingers or they were lifting something and they done their back in or whatever, and once…working at this bit, they were lifting on a case or something and the wire snapped and the thing came doon, ye know, and smashed but it never hurt anybody, that was good.«25

Die Gesundheit der Docker und Werftarbeiter wurde nicht nur durch Arbeitsunfälle gefährdet. Der Umgang mit giftigen Substanzen schädigte ihre Gesundheit ebenfalls. Der ehemalige Schiffszimmermann Pat McCrystal, der bis 1964 auf einer Werft gearbeitet hatte, erzählte beispielsweise in einem Interview: »During my period ›at the tools‹, I was constantly in an asbestos environment. To be on a ship being outfitted, i. e. nearing completion meant that all outfit workers were exposed to asbestos fibres and filament for the whole of the working day, for the whole of the working week.«26

Die riesigen Mengen an Asbestfasern, die auf den Werften und nicht zuletzt beim Bau zahlreicher Hochhäuser verarbeitet wurden, kamen auf dem Seeweg nach Glasgow und mussten von den Hafenarbeitern gelöscht werden. Dabei verteilten sich die Fasern in der Luft und wurden von den Dockern eingeatmet. Diese wussten lange Zeit nicht um die Gefährlichkeit des Materials. Owen ­McIntyre erinnerte sich etwa daran, wie sich die Arbeiter zur Weihnachtszeit falsche Bärte aus Asbest anklebten27. Bei allen Gemeinsamkeiten der Arbeitswelt in der Uferzone gab es freilich auch zahlreiche Unterschiede. So divergierte mit Blick auf das vorherrschende Zeitregime der Alltag im Hafen deutlich vom Alltag im Schiffbau. Auf den Werften strukturierte die Werkssirene den Arbeitstag28. Wenn bei Schichtwechsel das 25 26 27 28

SOHC , Sammlung Dockers, Interview mit Owen McIntyre vom 13.8.2009. SOHC , Sammlung Voices from the Yard, Interview mit Pat McCrystal (Transkription). SOHC , Sammlung Dockers, Interview mit Owen McIntyre vom 13.8.2009. Vgl. Scots at Sea, S. 53.

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Heer der Beschäftigten das Werksgelände verließ, begannen sich Pubs und Geschäfte zu füllen. In Gemeinden wie Govan, die eng mit dem Schiffbau verbunden waren, wirkte die Taktung des Arbeitsprozesses so jenseits der Werkstore weiter. Der Alltag der Hafenarbeiter wurde hingegen vom jeweiligen Arbeits­ aufkommen bestimmt. Ob und wie lange ein Docker am Tag Arbeit fand, war direkt von der Anzahl der Schiffe, der Beschaffenheit der umzuschlagenden Güter und den zu verteilenden Aufgaben abhängig. Um möglichst flexibel auf den tatsächlichen Bedarf an Arbeit reagieren zu können, hatte sich in den meisten Häfen Westeuropas und der USA ein System der täglichen Vergabe und Einteilung durchgesetzt. Der Großteil der Hafenarbeiter musste sich jeden Morgen um die vorhandenen Aufgaben bewerben. Owen McIntyre erinnerte sich: »On my first day at King George V I saw for the very first time how dockers got employment. Foremen got up on stances and picked the number of men they needed for certain ships. If yer face did not fit or was of a different persuasion yer card or badge was not taken by the gaffer.«29

Die Docker befanden sich in diesem System in einer sehr schwachen Position. Häufig spielten neben dem Arbeitsaufkommen persönliche Sympathien oder auch die konfessionelle Zugehörigkeit eine wichtige Rolle bei der Vergabe von Jobs. Seit 1947 erhielten diejenigen, die dabei leer ausgingen, immerhin eine Ausfallentschädigung. Eine weitere Methode der Absicherung war die Begrenzung der absoluten Zahl der im Hafen Beschäftigten. In Glasgow konnte nur Docker werden, wer Hafenarbeiter in der nahen Verwandtschaft vorzuweisen hatte. »It was all handed down, dimmie, it’s the only way, you could become a docker if your father was a docker«30, erinnerte sich etwa der ehemalige Kranfahrer Alex McQuinn. Und Owen McIntyre berichtete über seine Anfänge im Hafen 1965: »So, I got interviewed by the trade union just tae make sure that I had got my father’s badge because of nepotism within dockland. Ye couldnae become  a docker unless yer father was  a docker.« Diese Regelung sicherte über Generationen hinweg ein gewisses Maß an sozialer Kontinuität. Auf den Werften war dies ähnlich, wenngleich dort eine vergleichbar restriktive Regelung fehlte. Das Arbeitszeitregime im Hafen war also deutlich flexibler als das auf den Werften. Um die Liegezeit der Schiffe im Hafen möglichst gering zu halten, arbeiteten die Docker oft bis spät in die Nacht oder übers Wochenende. Da es hierfür hohe Zuschläge gab, waren Jobs jenseits der normalen Arbeitszeit recht beliebt. Die Arbeitswelt der Uferzone während der Boom-Jahre war freilich vielgestaltiger als es hier in der gebotenen Kürze ausgeführt werden konnte. Fest­ zuhalten bleibt jedoch, dass es jenseits der naheliegenden Unterschiede eine Menge struktureller Gemeinsamkeiten im Alltag von Werft- und Hafenarbeitern gab, den beiden dominierenden Professionen entlang des Clyde. Sie prägten das Leben und die Gemeinschaft über den Arbeitsplatz hinaus. 29 SOHC , Sammlung Dockers, Interview mit Owen McIntyre vom 13.8.2009. 30 SOHC , Sammlung Dockers, Interview mit Alexander Stephen McQuinn, undatiert.

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3. Bauen gegen den Stillstand: Glasgow 1974 bis 1990 Die Arbeitswelt von Werft- und Hafenarbeitern, die Dominanz dieser Branchen in der urbanen Ökonomie und das sich daraus ergebende sozialräumliche Muster verloren binnen eines Jahrzehnts – zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Jahre – rapide an Bedeutung. Die Ursachen hierfür waren vielfältig. Zwei Entwicklungen waren jedoch besonders wirkmächtig: die Schiffbaukrise und die Rationalisierung des Seehandels, die mit der Einführung des Normcontainers verbunden war. Der Abstieg des britischen Schiffbaus, der mit der europäischen Werftenkrise Ende der 1950er Jahre begonnen hatte, setzte sich in der Folgezeit in zunehmender Geschwindigkeit fort31. Die verbliebenen Unternehmen gingen in immer neuen Konsortien auf und wurden 1977 schließlich verstaatlicht. Aber selbst diese Maßnahme konnte den Trend nur vorübergehend aufhalten. Viele Traditionsunternehmen mussten ihre Tore schließen. Die Zahl der Beschäftigten sank kontinuierlich, und auf den Werften entlang des Clyde wurde es still. Der Container und die mit ihm verknüpften Logistikkonzepte revolutionierten ab den späten 1960er Jahren die Hafenwirtschaft32. Dieser rasche Wandel im Transportwesen ermöglichte die Herausbildung einer neuen internationalen Arbeitsteilung und trug zur Verlagerung der Handelsströme vom Atlantik in Richtung Asien bei. Ein immer größerer Teil der industriellen Produktion wanderte in die aufstrebenden Staaten in Fernost ab, nachdem die Kosten für den Transport der Ware von dort zu den Konsumgesellschaften Westeuropas und der Nordamerikas faktisch zu einer vernachlässigbaren Größe geschrumpft waren. Der Container veränderte Aussehen und funktionale Struktur vieler Seeund Binnenhäfen grundlegend. Für die neuen Terminals wurden große ebene Flächen benötigt, auf denen die Behältnisse zwischengelagert und gestapelt werden konnten. Zumindest am Verlade-Kai war die Zeit der großen Lagerhallen und Hafenschuppen vorbei. Zu den Stellplätzen kamen großzügige Verkehrsflächen, um ein möglichst rasches Umschlagen der Container auf Schiene oder Straße zu ermöglichen. Der Raumbedarf dieser neuen Art der Hafenwirtschaft war enorm. In Glasgow, wie in vielen alten Hafenstädten, standen entsprechende flussnahe Flächen nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung. Die enge räum-

31 Vgl. Burton, Rise and Fall, S. 220–245; Alan G. Jamieson, Ebb Tide in the British Maritime Industries. Change and Adaption 1918–1990, Exeter 2003, S. 51–83. 32 Vgl. Marc Levinson, The Box. How the Shipping Container Made the World Smaller and the World Economy Bigger, Princeton (NJ)/Oxford 2006; Brian J. Cudahy, Box Boats. How Container Ships Changed the World, New York 2007; Frank Broeze, The Globalisation of the Oceans. Containerisation from the 1950s to the Present, Newfoundland 2002; ­Arthur Donovan/Joseph Bonney, The Box that Changed the World. Fifty Years of Container­ Shipping. An Illustrated History, East Windsor 2006; Hans Jürgen Witthöft, Container. Eine Kiste macht Revolution, Hamburg 2000.

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liche Verdichtung von Hafen, Industrie und Stadt verhinderte eine Neuanlage am alten Ort. Viele Städte entschieden sich deshalb für eine Verlagerung auf Neubauflächen am Rande oder außerhalb der Innenstadt. Flusshäfen wie Glasgow hatten aber noch ein weiteres Problem. Größe und Tiefgang der Schiffe stiegen stetig. Dazu trug zunächst der Tankerboom der 1960er Jahre bei, gegen Ende der Dekade folgten dann die ersten Containerschiffe. Die bestehenden Wasserstraßen und Hafenanlagen stießen an ihre Grenzen, und davon waren häufig auch die Produktionsmöglichkeiten der Werften betroffen. In Glasgow schien der weitere Ausbau des Clyde nicht rentabel, zumal an der Westküste zahlreiche Standorte mit Tiefwasserzugang zur Verfügung standen. Mit dem Bau des Containerterminals in Greenock und des Erzhafens in Hunterston verschwand ein Großteil der Anlagen aus der Stadt. 1966 wurde das Kingston Dock geschlossen und verfüllt. Wenige Jahre später folgten Queen’s und Prince’s Dock. Der Niedergang der Werften und der schottischen Schwerindustrie insgesamt sowie der Wandel der Hafenwirtschaft standen in einem engen Zusammenhang mit der sozialen und demografischen Entwicklung Glasgows. Nach einer langen Phase der Stagnation zwischen der Jahrhundertwende und den 1950er Jahren, begann die Stadt nun zu schrumpfen. In nur 20 Jahren, von 1961 bis 1981, sank die Einwohnerzahl von etwas über einer Million auf 766.00033; im gleichen Zeitraum gingen 174.000 Arbeitsplätze verloren34. In den frühen 1980er Jahren lag die Arbeitslosigkeit in manchen Stadtteilen deutlich über 30 Prozent35. Besonders die in den 1950er und 1960er Jahren am Stadtrand errichteten Peripheriesiedlungen entwickelten sich zunehmend zu sozialen Brennpunkten. Vor diesem Hintergrund waren die Industrie- und Hafenbrachen, die durch die Auflösung des sozialräumlichen Zusammenhangs der Uferzone entstanden, ein vergleichsweise geringes, allerdings sehr sichtbares Problem. Im einstigen Kernraum der urbanen Ökonomie reihten sich entlang des Clyde stillgelegte Produktions- und Lagerhallen, Fabriken, Gleis- und Kaianlagen aneinander. Verfallende Gebäude luden zu Vandalismus ein und beeinflussten die Wahrnehmung der Stadt durch Bürger und Gäste negativ. In dieser Phase des Übergangs fand Arbeit in der Uferzone kaum noch statt. In der Ruinenlandschaft spiegelte sich die allgemeine sozioökonomische und demografische Entwicklung wider. Das Überangebot an frei werdenden Flächen und die negative Entwicklung von Stadt und Region führten zum Zusammenbruch des Immobilienmarkts in den besonders betroffenen Bereichen Glasgows. Kaum jemand war bereit, Geld 33 Vgl. Brian R. Mitchell, British Historical Statistics, Cambridge (Mass.)/New York 1988, S. 28. 34 Vgl. John MacInnes, The Deindustrialisation of Glasgow, in: Scottish Affairs 11 (1995), S. 73–95, hier S. 75. 35 Vgl. Alan McGregor, Labour Market Problems and Manpower Policies in Glasgow. Remarks for the Colloquium/Workshop on Glasgow and Pittsburgh in the Project on Regional Structural Change in International Perspective, Pittsburgh 1984, S. 6.

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in Wohnungen oder die Ansiedlung von Unternehmen zu investieren. Die Steuereinnahmen der Kommune brachen weg. So geriet die Stadt in einen Teufelskreis, wie man ihn für viele schrumpfende Städte beschrieben hat36. Vor diesem Hintergrund dauerte es geraume Zeit, bis eine Neunutzung der Uferzone in Angriff genommen werden konnte. Erst allmählich begannen die Verantwortlichen in den kommunalen Behörden, die Brachlandschaft am Fluss als Problem wahrzunehmen. Mit dem Problembewusstsein setzte sich nach und nach die Auffassung durch, dass die Uferbereiche große Chancen für die Stadtentwicklung boten. Von innerstädtischen Nichtorten wurden sie so allmählich zu Experimentierfeldern für eine andere, eine bessere Zukunft. Ein erster Schritt in diese Richtung war ein städtebaulicher Wettbewerb, den die Stadt ausrichtete. Das zu gestaltende Areal reichte vom Prince’s und Queen’s Dock bis zum Glasgow Green und umfasste die Kaianlagen und Hafenflächen beiderseits des Clyde sowie das Areal der stillgelegten St. Enoch Station37. Das Royal Institute of British Architects, das Royal Town Planning Institute und das Institute for Landscape Architects wurden mit der Durchführung des Wettbewerbs beauftragt. 1974 kürte man gleich zwei Entwürfe zu Siegern38. Der Entwurf des aus Schottland stammenden Architekten Andrew Renton sah vor, das Queen’s Dock zu verfüllen und mit Wohnungen und Büros zu bebauen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Clyde, auf dem Gelände des ehemaligen Prince’s Dock, sollte hingegen ein großes Handels- und Einkaufszentrum entstehen. Der Landschaftsarchitekt Brian Clouston, der für den zweiten preisgekrönten Entwurf verantwortliche zeichnete, wollte anstelle der beiden Docks eine großzügige städtische Grünanlage schaffen. Die Flussufer von dort bis zur Central Station sollten mit Wohnungen bebaut werden, während die St. Enoch Station neuen Bürobauten weichen sollte. Für Aufmerksamkeit sorgte darüber hinaus ein weiterer Beitrag, der im Zusammenhang mit den Plänen zu einer Bewerbung Glasgows um die Olympischen Sommerspiele 1984 stand. Das Strathclyde Team schlug vor, die notwendigen Sportstätten zentral auf dem Gelände von Queen’s und Prince’s Dock anzusiedeln. Die Bewerbung scheiterte jedoch bereits im Ansatz an den geschätzten Kosten von 450 Millionen Pfund, die vor dem 36 Vgl. Angelika Lampen/Armin Owzar (Hrsg.), Schrumpfende Städte. Ein Phänomen zwischen Antike und Moderne, Köln u. a. 2008; Norbert Gestring u. a. (Hrsg.), Jahrbuch Stadt­Region 2004/05. Schwerpunkt: Schrumpfende Städte, Wiesbaden 2005. 37 Unterlagen zu diesem Wettbewerb waren weder im Stadtarchiv noch in der Verwaltung oder bei den am Wettbewerb beteiligten Institutionen aufzufinden. Lediglich die Beschlüsse zur Durchführung können den Protokollen des Gemeinderats entnommen werden. GCA , MCG , CI 3, Bd. 163, H. 8, S. 667, Planning, Sub-committee on the Development Plan vom 11.5.1971. Allerdings finden sich an anderer Stelle Hinweise: Vgl. A Remarkable Chance for Glasgow. River Clyde Study and Ideas Competition, in: The Architects Journal 157 (1973) H. 6, S. 308; Was the RIBA /RTPI /ILA Competition what Glasgow Needed?, in: The Architects Journal 160 (1974) H. 28, S. 77. 38 Vgl. Glasgow Herald vom 5.4.1974: »Clyde Development Contest Winners« (Claude Thomson).

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Hintergrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage der Stadt nicht zu rechtfertigen waren39. Die hohen Kosten verhinderten jedoch auch die Realisierung der Siegerentwürfe, und so blieb der Wettbewerb zunächst weitgehend folgenlos. In Angriff genommen wurde lediglich die Umgestaltung einiger Kaiabschnitte zu einem lose zusammenhängenden Uferpark40. Allerdings hatten die Pläne das Interesse einiger Investoren geweckt. So bewarben sich 1976 gleich zwei Immobilienentwickler um die Umgestaltung des Queen’s Dock, das inzwischen in städtisches Eigentum übergegangen war. Die Matthews and Corcoran Ltd. wollte an dieser exponierten Stelle einen »International commercial and leisure complex«41 errichten, während die Zisman Associates kurz darauf den Bau eines »trade, industry and export centres«42 vorschlug. Diese beiden Vorschläge riefen wiederum mehrere öffentliche Körperschaften auf den Plan. Bald entwickelten die Kommune, die Region, der Scottish Tourist Board und die Scottish Development Agency je eigene Konzepte für eine Umgestaltung des Areals. Erst die Einrichtung einer gemeinsamen Queen’s Dock Development Group brachte Bewegung in die verfahrene Situation. Zwischen 1977 und 1979 entwickelte sie unter Federführung der Scottish Development Agency das Konzept eines Scottish Exhibition Centre43. Alex Fletcher, Anfang der 1980er Jahre schottischer Industrieminister, sprach von einem »first-rate shop window for industry and commerce throughout Scotland«44. Als Messe-Komplex sollte es eine Plattform für die schottische Industrie bieten und ihr so neue Absatzmärkte erschließen. Davon erhoffte man sich eine Verbesserung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage und neue Arbeitsplätze. Vorbild war das 1976 eröffnete und ungleich größere National Exhibition Centre in Birmingham45. Mit seiner konventionellen Ausrichtung blieb das Glasgower Zentrum zunächst überwiegend der alten, im Verschwinden begriffenen Arbeitswelt verbunden. Erst im Zuge der konkreten Planungen erkannte man den eigenständigen ökonomischen Wert des Konferenz- und Tagungsgeschäfts als eines wachsenden Marktsegements46. Kurzerhand entschloss man sich, eine der Messehallen mit der 39 Vgl. The Times vom 26.3.1976: »Olympics in Glasgow Would Cost £450m«; Volker Kluge, Olympische Sommerspiele. Die Chronik, Bd. 3, Mexiko-Stadt 1968 – Los Angeles 1984, Berlin 2000, S. 882 f. 40 Vgl. Tobias Gerstung, Europa an der Waterfront. Die Umgestaltung alter Hafenareale am Beispiel des Glasgower Broomielaw Kais, in: Morten Reitmeyer/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 79–94. 41 GCA , GDC 1/1/6, H. 3, S. 172, Policy and Resources Committee, 1.6.1976. 42 GCA , GDC 1/1/6, H. 5, S. 313, Policy and Resources Committee, 14.7.1976. 43 GCA , GDC 1/1/11, 1978/79, H. 13, S. 1256, Co-ordinating Committee, 2.4.1979. 44 Zit. nach: The Scotsman vom 20.8.1980: »Glasgow Could Get £25m Show Centre« (Mitchel Ritchie). 45 NAS , SDA 1/4, Report 1979, S. 55. 46 Vgl. Tony Rogers, Conferences and Conventions. A Global Industry, Amsterdam u. a. 22007, S. 362–365.

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entsprechenden Innenarchitektur sowie der notwendigen technischen und akustischen Ausrüstung zu versehen und das Projekt vom Scottish Exhibition Centre zum Scottish Exhibition and Conference Centre (SECC) umzutaufen. Es folgten erste Konzepte zur Vermarktung des Standorts als Messe- und Konferenzstadt. Es zeigte sich jedoch bald, dass man mehr investieren musste, um auf diesem lukrativen Markt erfolgreich zu sein. Veranstalter und Besucher verlangten mehr Komfort und eine bessere technische Ausstattung. Bereits wenige Jahre nach der Eröffnung 1985 begannen deshalb die Planungen für eine konferenz- und tagungsspezifische Erweiterung. 1997 konnte schließlich das von Foster and Partners entworfene Clyde-Auditorium eröffnet werden. Zeitgenössische Kommentatoren sahen in diesem Bauwerk »the city’s latest weapon in the global conference wars«47. Architektonisch manifestierte sich hier die Abkehr von der schlichten funktionalen Bauweise des alten SECC zu einer auf Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit im globalen Wettbewerb hin orientierten Iconic Architecture48 als Teil  einer umfassenderen City-Marketingstrategie49. Die Konzerte und Veranstaltungen in diesem Komplex tragen seitdem zum wachsenden Geschäft mit Städtereisenden und Shopping-Touristen bei. Mit der Eröffnung der Hydro-Arena 2013 setzte sich diese Entwicklung bis in die jüngste Vergangenheit fort. Das SECC schuf Arbeitsplätze im Bereich von Service und Catering, im Hotelgewerbe und im Bereich des Event- und Kulturmanagements. Mit dieser Ausrichtung auf einen bestimmten Teil  des Dienstleistungsgewerbes deutete sich ein Wandel der Arbeit am Wasser an, der in der Uferzone neue ökonomische Hotspots entstehen ließ. Der Bau des SECC steht hier Pars pro Toto für eine ganze Reihe von Unternehmungen, die vermehrt ab den 1980er Jahren gerade auch entlang der Glasgower Waterfront durchgeführt wurden, um der schrumpfenden Stadt neues Leben einzuhauchen. Viele dieser Projekte haben Eingang in das große Narrativ von Glasgows urbaner Wiedergeburt gefunden, das selbst wiederum seinen festen Platz im City-Marketing einnimmt: das GEAR-Projekt zur Sanierung des altindustriell geprägten Eastend50, die Eröffnung des Kunstmuseums Burrel ­Collection 1983, die Imagekampagne Glasgow’s miles better51, das Glasgow G ­ arden Festival 198852, um nur einige wenige zu nennen. Man kann all diese Unternehmungen als Versuch verstehen, in einer Situation des Wandels und der Unsicherheit neue Impulse zu 47 Glasgow Herald vom 8.9.1997: »The Armadillo Goes to Work«. 48 Vgl. Charles Jencks, The Iconic Building. The Power of Enigma, London 2005, hier S. 21–63. 49 Vgl. Johnny Rodger, Contemporary Glasgow. The Architecture of the 1990s, Glasgow 1990, S. 34 f. 50 Vgl. David Donnison/Alan Middleton (Hrsg.), Regenerating the Inner City. Glasgow’s­ Experience, London 1987; Irene Maver, Glasgow, Edinburgh 2000, S. 281 f. 51 Vgl. ebenda, S. 283; Stephen Ward, Selling Places. The Marketing and Promotion of Towns and Cities 1850–2000, London/New York 1998, S. 192 f. 52 Vgl. Andrew C. Theokas, Grounds for Review. The Garden Festival in Urban Planning and Design, Liverpool 2004, S. 168–174; Perilla Kinchin/Juliet Kinchin, Glasgow’s Great Exhibitions: 1888, 1901, 1911, 1938, 1988, West Fossil 2001, S. 169–185.

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setzen und eine Richtung vorzugeben. Es handelte sich um materielle und immaterielle Bausteine zur Errichtung einer Infrastruktur der post-industriellen Stadt. Dennoch, ein Großteil des alten Innenstadthafens abseits von Queen’s und Prince’s Dock lag zwischen 1970 und den 1990er Jahren brach. Während dieser Übergangsphase dominierten vor allem vorübergehende Nutzungsformen. Abgeräumte Areale wurden zu Parkplätzen oder Grünflächen. In Lagerschuppen und Industriekomplexen zogen kleine Handwerker und Gewerbetreibende ein. Wenn etwas gebaut wurde, dann waren das überwiegend Wohnungen. Dies änderte sich erst in den frühen 1990er Jahren, als die Uferzone ihre alte Bedeutung als Zentralort von Arbeit und Ökonomie in der Stadt teilweise wiedererlangen konnte.

4. Creative City? Glasgow seit den 1990er Jahren Die materielle Grundlage dieser Entwicklung lieferte die allmähliche wirtschaftliche Erholung Großbritanniens, die in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre einsetzte. Damit begann eine neue Phase der Stadtentwicklung, in der sich die Anfänge unserer Gegenwart immer deutlicher und klarer erkennen lassen. In Glasgow erfolgte die Initialzündung zu dieser Entwicklung um 1990. Die Stadt trug in diesem Jahr den Titel »Kulturstadt Europas«53. Im Vorfeld dieses Ereignisses wurden die ökonomischen Potentiale der urbanen Kreativökonomie erstmals systematisch erfasst und analysiert54. Dieses Feld hielt man für einen besonders zukunftsweisenden Wachstumsmarkt, der neue Arbeitsplätze schaffen sollte. Auch wenn die konkreten Auswirkungen des Kulturhauptstadtjahrs heute umstritten sind55, mit der Umdeutung des Programms zu einer Infrastruktur53 So lautete der offizielle Titel; in Glasgow sprach man bereits von der Kulturhauptstadt. Vgl. Glasgow City Council, The 1990 Story. Glasgow Cultural Capital of Europe, G ­ lasgow 1992; Tobias Schiller, Glasgow 1990 – Ruhrgebiet 2010. Aus Industriestädten werden Kultur(haupt)städte. Kultur als Motor der Revitalisierung altindustrieller Städte und Regionen: Ein Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung? Diplomarbeit, Tübingen 2007; Lisa Hollmann, Kulturhauptstadt Europas  –  Ein Instrument zur Revitalisierung von Alt­ industrieregionen. Evaluierung der Kulturhauptstädte »Glasgow 1990, Cultural Capital of Europe« und »Ruhr 2010, Essen für das Ruhrgebiet«, Diplomarbeit, Karlsruhe 2011; Zur Geschichte des Programms vgl. Jürgen Mittag (Hrsg.), Die Idee der Kulturhauptstadt Europas. Vom Instrument Europäischer Identitätsstiftung zum tourismusträchtigen Publikumsmagneten, in: ders. (Hrsg.), Die Idee der Kulturhauptstadt Europas. Anfänge, Ausgestaltung und Auswirkungen Europäischer Kulturpolitik, Essen 2008, S.  55–96; Europäische Komission, Geschichte der Kulturhauptstädte, http://ec.europa.eu/culture/ our-programmes-and-actions/capitals/history-of-the-capitals_de.htm. 54 GCA , GDC 1/3/2, Monitoring Glasgow 1990. Prepared for Glasgow City Council, Strathclyce Regional Council and Scottish Enterprise, Glasgow 1991, und GDC 1/3/113, Comedia, Making the Most of Glasgow’s Cultural Assets. The Creative City and its Cultural Economy, Final Report, May 1991. 55 Vgl. Beatriz García, Deconstructing the City of Culture. The Long-Term Cultural Legacies of Glasgow 1990, in: Urban Studies 42 (2005), S. 841–868.

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maßnahme für die post-industrielle Stadt und dem erweiterten, auf breite Partizipation zielenden Kulturbegriff leisteten die Glasgower Pionierarbeit und wurden stilprägend für viele nachfolgende Titelträger, darunter nicht zuletzt Essen und das Ruhrgebiet 201056. Wichtiger als die Impulse, die vom Kulturhauptstadtjahr oder vom Garden Festival ausgingen, war jedoch die demografische und wirtschaftliche Erholung, die im Laufe der 1990er Jahre einsetzte. Die beschleunigte Kontraktion ging zunächst in Stagnation über, bevor wieder ein bescheidenes Wachstum zu verzeichnen war. 2001 hatte Glasgow gerade noch 577.869 Einwohner, 2008 waren es immerhin 584.24057. Ein Großteil dieses Bevölkerungswachstums speiste sich aus Wanderungsgewinnen und korrespondierte mit der Zunahme der Bevölkerung Großbritanniens insgesamt. Dieser demografischen Erholung ging ein ökonomischer Aufschwung voraus. 1996 betrug der Anteil Glasgows am schottischen Bruttoinlandsprodukt 14,5 Prozent, was einem Gegenwert von 7,9 Milliarden Pfund entsprach. 2001 waren es bereits 10,2 Milliarden Pfund oder 16,5 Prozent58. Motor dieser positiven Entwicklung war der Dienstleistungssektor. Allerdings kam es in diesem Segment der urbanen Ökonomie zu sehr unterschiedlichen Entwicklungen. Während einige traditionelle Bereiche an Bedeutung verloren, legten die Finanzdienstleistungen, der IT-Bereich und die Immobilienbranche kräftig zu. 2008 wurden etwa 370.000 Jobs in der urbanen Ökonomie dem Dienstleistungs­sektor zugezählt59, 113.900 davon bei Banken Finanzdienstleistern und Versicherungen. Der Anteil des tertiären Sektors an der gesamten nichtselbstständigen Beschäftigung lag bei 83,5 Prozent – ein Wert, der freilich auch auf den rasanten Rückgang der Beschäftigung im produzierenden Gewerbe verweist. Der mittelfristige Trend scheint derzeit dafür zu sprechen, dass es gelungen ist, Glasgow als Dienstleistungsstandort dauerhaft zu etablieren. Die Stadt zählt heute zu den 20 wichtigsten Standorten für Finanzdienstleistungen in Europa60. Glasgow profitierte, wenngleich später als andere Städte, zum einen von den steigenden Mieten in London, zum anderen von den technischen Möglichkeiten der Telekommunikation. Viele Unternehmen aus der Wachstumszone im teuren Süden begaben sich auf die Suche nach Alternativstandorten für Bereiche, die nicht unmittelbar dort angesiedelt sein mussten. Technisch möglich wurden solche Verlagerungen durch das Internet und neue Formen der Kommunikation 56 Vgl. Mittag, Idee der Kulturhauptstadt Europas, S. 81. 57 Vgl. Glasgow City Council, Glasgow Fact Sheets: Population; www.glasgow.gov.uk/index. aspx?articleid=3969. 58 Vgl. Glasgow. Lessons for Innovation and Implementation, hrsg. von der OECD, Paris 2002, S. 38–41. 59 Vgl. www.nomisweb.co.uk/reports/lmp/la/2038432136/report.aspx#tabempocc. Bei der Höhe der absoluten Zahl der Stellen ist zu beachten, dass etwa die Hälfte davon von Pendlern besetzt wird, die außerhalb des Stadtgebiets wohnen. 60 Vgl. The Global Financial Centres Index 14 (2013); www.longfinance.net/images/GFCI14_ 30Sept2013.pdf.

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und Informationsverarbeitung, für die sich um die Jahrtausendwende der Begriff digitale Revolution etablierte. Der technologische Wandel erleichterte jedoch nicht nur der Privatwirtschaft die Verlagerung von Arbeitsplätzen vom Zentrum an die kostengünstigere Peripherie. Er beschleunigte ebenso die fortschreitende Dezentralisierung der nationalen Verwaltung, die politisch mit dem Stich-wort Devolution verbunden war. In Schottland konnte in erster Linie Edinburgh von diesem Trend profitieren. Glasgow erhielt jedoch bereits seit den 1980er Jahren ebenfalls einige Stellen, etwa aus dem Verteidigungsministerium61. 1987, als die Dienstleistungsbranche in Glasgow noch unterdurchschnittlich wuchs, war der öffentliche Sektor der einzige Beschäftigungsbereich, in dem die Zuwächse denen im Rest Großbritanniens entsprachen. 20 Jahre später wies dieser Sektor der urbanen Ökonomie mit etwa 125.000 Jobs noch immer den höchsten Anteil an der Beschäftigung auf62. Nach einer Phase des Übergangs und der Unsicherheit gelang es also im Laufe der 1990er Jahre allmählich, die Stadt wirtschaftlich wieder auf solidere Füße zu stellen. Die Zahl der Arbeitsplätze in der Stadt begann langsam wieder anzusteigen63. Die zentrumsnahen Industrie- und Hafenbrachen spielten hierbei eine wichtige Rolle. Ausgehend vom Broomielaw Quay und dem dahinter liegenden Quartier wuchs entlang des Flusses allmählich die Infrastruktur des neuen Glasgow heran64. Zwischen alten Lagerhäusern und Fabrikhallen entstand nach und nach ein Büro- und Geschäftsviertel, das zunächst als Atlantic Quay und seit 2001 als International Finance and Service District (IFSD) vermarktet wurde. Den Anfang machten private Investoren, wie die Glasgow&Oriental Developments Ltd. Der Name dieses Immobilienentwicklers verweist auf die Herkunft des Kapitals: Das Geld für den ersten Bürokomplex kam aus Japan  – Zeichen eines sich globalisierenden Immobiliengeschäfts. Im Stadtgebiet wurde die Uferzone zu einem wichtigen Wachstumskorridor. Zuvor funktionslos gewordene Flächen verwandelten sich erneut in wichtige Knotenpunkte im urbanen Netzwerk. Sie galten jetzt als »ideal working environ­ ment down by the riverside«, wie es in einem Zeitungsartikel hieß65. Als zentrumsnahe Planungsräume boten sie Platz für die Visionen eines neuen Glasgow, das nun zunehmend mit dem positiv aufgeladenen Begriff der post-industriellen Stadt umschrieben wurde. Eine vergleichbare Entwicklung ließ sich in den 1990er und 2000er Jahren an vielen Orten in Europa beobachten66. Heute nimmt die Uferzone eine zentrale Stellung in der Stadtentwicklung Glasgows ein. Im aktuellen Glasgow City Plan 2 zählt die Clyde Waterfront neben der Merchant City 61 Vgl. MacInnes, Deindustrialisation, S. 15. 62 Vgl. Glasgow City Council, Industry and Business; www.glasgow.gov.uk/index.aspx? articleid=5639. 63 Vgl. Glasgow City Council, Glasgow City Plan, Part 1: Development Strategy, Glasgow 2003, S. 5. 64 Vgl. Gerstung, Europa an der Waterfront. 65 Glasgow Herald vom 17.4.1991: »Ideal Working Environment down by the Riverside«. 66 Vgl. Richard Marshall (Hrsg.), Waterfronts in Post-Industrial Cities, London/New York 2001.

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und dem Clyde Gateway zum »Metropolitan Growth Corridor«67, in dem die Verfasser die besten Entwicklungschancen vermuten. Nach Jahren des Stillstands und der Provisorien brachte der Wandel der urbanen Ökonomie dauerhaft Arbeitsplätze zurück an die Kais beiderseits des Clyde. Die Rahmenbedingungen hatten sich aber im Vergleich zur Industrieund Hafenwelt der 1950er und 1960er Jahre nun radikal verändert. Ein erster Unterschied zur früheren Relation von Raum und Arbeit fällt sogleich ins Auge: Der Fluss selbst blieb außen vor. Er hatte seine Bedeutung als Lebens- und Verkehrsachse eingebüßt68. Der Fluss ist nun Teil des Environment und somit eine Art willkommener Landschaftsarchitektur. Von einem zentralen Infrastrukturmerkmal wandelte er sich zu einer ästhetischen Entität, die der schönen neuen Bürowelt als Kulisse und Naherholungsraum dient. Als Freifläche sorgt der Fluss außerdem dafür, dass die Architektur der neuen Waterfront ein Höchstmaß an Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit erhält. Dies belegen etwa aktuelle Immobilienanzeigen, die man im Internet findet. Dort wird für erstklassige Büroflächen in einer »Stunning Riverside Location«69 geworben. Sie biete eine attraktive Arbeitsatmosphäre »where the City meets the water«. Die dazugehörige Abbildung zeigt den Blick von der neuen Fußgängerbrücke über den Clyde auf die Bürofront am Broomielaw. Der Fluss im Vordergrund ist dabei kaum zu sehen. Sportler auf der Brücke unterstreichen jedoch seine Funktion als Naherholungszone und Symbol für eine hohe Lebens­qualität. Er verbindet sich mit dem Bürogebäude im Hintergrund und schafft so ikonographisch die zu erstrebende Work-Life Balance. In diesem Bild liegt eine ungewollte Ironie: Wo früher die harte körperliche Arbeit ökonomisch und kulturell dominierte, deren Beleg der Schweiß war, sind es nun die Jogger, die in ihrer Freizeit körperlich aktiv sind und schwitzen, während an den Schreibtischen hinter den Glasfassaden nichtkörperliche Formen der Arbeit dominieren. Die Büros und Besprechungsräume sind das Glas- und Stahlbetongehäuse dieser neuen Form von Arbeit. Hinter den Fassaden des Broomielaw betreut heute beispielsweise die British Telecom ihre Kunden. J. P. Morgan lässt dort die hauseigene Finanzsoftware erstellen. Daneben findet sich eine Vielzahl von kleineren Dienstleistern und Callcentern. Die Bandbreite der Mieter verweist auf einen wesentlichen Unterschied dieser neuen, bürobasierten Infrastruktur im Vergleich zu derjenigen von Werften und Hafen. Die Industrie- und Hafenstadt Glasgow war, zumindest entlang des Clyde, von hochgradig spezialisierten Bauformen bestimmt gewesen. Das auffälligste Merkmal der neuen Infrastruktur scheint nun jedoch gerade ihre Flexibilität, die eine Vielzahl möglicher Nutzungsformen erlaubt. Diese Offenheit reicht bis in den Innenraum der Gebäude hinein. Große Etagenflächen lassen sich beliebig unterteilen und bilden so eine 67 Glasgow City Council, Glasgow City Plan 2, Glasgow 2009, S.  2; www.glasgow.gov.uk/ CHttpHandler.ashx?id=13437&p=0. 68 Vgl. Glasgow City Plan, Part 1, S. 51. 69 Immobilienbroschüre; www.no3atlanticquay.co.uk/images/3 %20Atlantic%20Quay.pdf.

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flexible und anpassungsfähige Grundstruktur der New Economy, die dadurch trotz ihrer baulichen Solidität etwas funktional Fluides erhält. Im Glasgow der 1950er und 1960er Jahre hatte noch ein enger räumlicher Zusammenhang von Wohnen und Arbeiten geherrscht. Dieser hat sich weitgehend aufgelöst, was sich allein daran zeigt, dass Berufspendler etwa die Hälfte der Arbeitsplätze in der Stadt innehaben. Ursache dieses Wandels sind einerseits die großen Umsiedlungsprogramme und Wanderungsbewegungen der Boom-Jahre, verbunden mit einer gesteigerten Mobilität der Arbeitnehmer. Andererseits sind die Immobilienpreise rund um den IFSD seit den frühen 1990ern deutlich gestiegen. Abgesehen von Luxusappartements ist Wohnraum hier inzwischen knapp geworden. Schließlich hängt die Entwicklung mit einer veränderten Sozialstruktur der Arbeitnehmerschaft in den Bürotürmen zusammen. Die Angestellten der Versicherungen, Banken und Unternehmensberatungen am Broomielaw lebten von Beginn an eher im schicken Westend oder in den Vorstädten70. Allein im Finanzdienstleistungssektor Glasgows arbeiten heute rund 30.000 Menschen. Das sind in etwa so viele, wie Schiffbau und Marineindustrie Mitte der 1950er Jahre direkt beschäftigten71. Während Schiffszimmerleute und D ­ ocker meist im Betrieb ausgebildet wurden und deshalb kaum formale Qualifikationen vorzuweisen hatten, sind die Arbeitnehmer in der Bürostadt vergleichsweise gut ausgebildet. Der IFSD wirbt in seinem Internetauftritt mit dem hohen Bildungsniveau in Glasgow: »A key attraction for relocating companies is the high level of education in the city. Glasgow’s four universities, three higher education colleges and twelve further education colleges offer the business community access to  a large pipeline of qualified graduates. Thousands of students graduate each year with qualifications directly relevant to the needs of the financial services industry. »72

Wie ehedem Kohle und Eisenerz, bilden demnach die gut ausgebildeten Absolventen heute das Rohmaterial, dessen Verfügbarkeit den Erfolg der lokalen Wirtschaft fußt. Die Geschlechterverhältnisse unter den Beschäftigten haben sich ebenfalls grundlegend verändert. Die Arbeitswelt der Waterfront ist zu einem viel höheren Anteil weiblich. Um das Jahr 2000 herum waren beispielsweise 75 Prozent der männlichen nichtselbstständigen Beschäftigten im tertiären Sektor tätig; bei den Frauen lag der Anteil mit 92 Prozent noch deutlich höher73. Waren Hafen- und Werftarbeiter während eines Großteils ihrer Arbeit Wind und Wetter schutzlos ausgesetzt, verrichten die Angestellten dieser Tage ihre Jobs überwiegend in vollklimatisierten Büros an Schreibtisch- und Computerarbeitsplätzen; abgesehen von Rückenschmerzen in Folge langen Sitzens ist das 70 Vgl. William F. Lever, Deindustrialisation and the Reality of the Post-Industrial City, in: Urban Studies 28 (1991) H. 6, S. 983–999, hier S. 997. 71 Vgl. www.ifsdglasgow.co.uk/why-ifsd/facts--figures. 72 Das Zitat findet sich in: www.ifsdglasgow.co.uk/about-glasgow/education. 73 Vgl. Glasgow City Plan, Part 1, S. 19.

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Gesundheitsrisiko hierbei gering. Teilzeit und flexible Arbeitszeitregime spielen heute eine wichtige Rolle. Vom starren Schichtbetrieb auf den Werften ist das neue Zeitregime damit weiter entfernt, als vom am Arbeitsaufkommen aus­ gerich­teten flexiblen System der Hafenarbeit. Um für Investoren und hochqualifizierte Hochschulabsolventen attraktiv zu sein, muss das Arbeitsumfeld aufgewertet werden. Der IFSD wirbt deshalb nicht nur mit der Qualität der Büros und der technischen Infrastruktur, sondern auch mit der hohen Lebensqualität Glasgows als einem »stylish, cosmo­politan centre with something for everyone«74. Unter dieser Kategorie erfolgt zunächst der Hinweis auf Glasgows Rang als »best shopping experience outside London«, dann werden die kulinarischen Vorzüge der Stadt gepriesen ehe – als letzter Punkt – das kulturelle Angebot folgt: »As home to the Royal Scottish National Orchestra, Scottish Ballet and Scottish Opera, Glasgow scores highly on the arts and culture front, not to mention its museums and art galleries, which rank on a worldwide scale.« Kultur wird hier als ein Element im Lifestyle-Paket präsentiert, das wie die Freizeit und Erholungseinrichtungen, die Einkaufszentren und Shopping Malls oder die malerische Kulisse des Flusses potentielle Investoren und Arbeitnehmer anlocken soll.

5. Zusammenfassung und Ergebnisse Die Arbeitswelt der Uferzone hat sich in den vergangenen 50 Jahren grundlegend verändert. Nachdem fast hundert Jahre lang Hafen- und Schiffbau, die daran geknüpften Formen der Arbeit sowie das damit einhergehende sozialräumliche Regime die Struktur der Industrie- und Hafenstadt geprägt hatten, lösten sich diese Zusammenhänge ab Mitte der 1960er Jahren zunehmend auf. Darauf folgte eine Phase der Orientierungslosigkeit und der Experimente ehe ab den 1990er Jahren das bürogestützte sozialräumliche Muster der Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft, das in anderen Teilen der Innenstadt bereits länger Fuß gefasst hatte, auch auf die Uferzone übergriff und sie in das urbane Netzwerk reintegrierte. Der Fluss war dabei nur noch eine Randerscheinung. Der Clyde, der das alte Glasgow schuf, spielt für das neue kaum mehr eine Rolle. Er hat ausgedient, wie viele der Menschen, die einst auf den Werften, in den Fabriken und im Hafen arbeiteten. Abseits der glänzenden Stahl- und Glasfassaden, etwa im Eastend, im Werftenstadtteil Govan oder in den großen Peripheriesiedlungen sind all jene gestrandet, die den Wandel nicht mitvollziehen konnten oder wollten. Die Spaltung zwischen dem alten und dem neuen Glasgow offenbart sich darin, dass die Stadt einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Menschen mit Universitätsabschluss vorweisen kann, gleichzeitig aber mehr als ein Fünftel überhaupt 74 Dieses und das folgende Zitat nach: www.ifsdglasgow.co.uk/why-ifsd/quality-of-life.

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keinen Schulabschluss besitzt75. Dass der Anteil der ökonomisch Aktiven an der Gesamtbevölkerung zehn Prozentpunkte unterhalb des schottischen und britischen Durchschnittswerts liegt, unterstreicht diesen Punkt76. Das gilt auch für den schlechten Gesundheitszustand der Bevölkerung und ihre relativ geringe Lebenserwartung, die zumindest teilweise mit Armut in Verbindung gebracht werden. Experten sprechen bereits vom Glasgow Effect77. Nicht erst seit der Finanz- und Bankenkrise stellt sich deshalb die Frage: Wie zukunftsfähig ist das neue Glasgow?

75 Vgl. Glasgow Economic Commission, Final Report (2011), S. 14; www.glasgoweconomic facts.com. 76 Vgl. Labour Market Profile Glasgow City 2011; www.nomisweb.co.uk/reports/lmp/la/ 2038432136/printable.aspx. 77 Vgl Michael Reid, Behind the »Glasgow Effect«, in: Bulletin of the World Health Organization 89 (2011) H.  10, S.  701–776; www.who.int/bulletin/volumes/89/10/11-021011/en/ index.html.

II. Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zwischen Kontinuität und Bruch

Stefan Eich and Adam Tooze

The Great Inflation 1. After the Great Moderation As the 20th century ended, a reappraisal began of the 1970s as a crucial turning point in modernity. For some historians the 1970s were marked as the moment »after the boom«1. For others the epoch was defined by the »Shock of the Global«2. For cultural historians it was an age of fragmentation3. The 1970s were clearly an age of economic crisis, but this too could be understood in different ways. Deindustrialization and the end of Fordism were two options4. Globalization another5. The discovery of the limits to growth provided a resonant phrase to announce the environmental age. But, for economists and policy-makers, the 1970s stood for another type of epochal break,  a revolution in monetary affairs. The end of Bretton Woods between 1971 and 1973 marked the universalization of fiat money. From the 1970s onwards, for the first time since the invention of money, nowhere, anywhere in the world was money directly anchored on gold. How would monetary systems be managed without this anchor? What would be tested in the 1970s and 1980s was a fundamental institutional question of the modern world: the relationship between capitalism, fiat money and democratic policy-­ making. This question acquired an additional edge and urgency because the move to floating fiat currencies coincided with something else unprecedented, a sharp acceleration of inflation in peacetime. The datasets routinely used in economic research at the time immediately conveyed  a sense of the historical sig­ 1 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012. 2 Niall Ferguson u. a. (Hrsg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge (Mass.)/London 2010. 3 Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge (Mass.)/London 2011. 4 Paul Hirst/Jonathan Zeitlin, Flexible specialization versus post-Fordism: theory, evidence and policy implications, in: Economy and Society 20 (1991) H. 1, 1–51, here 5–9; Jefferson Cowie, Stayin’ Alive. The 1970s and the Last Days of the Working Class, New York 2012; Judith Stein, Pivotal Decade. How the United States Traded Factories for Finance in the ­Seventies, New Haven/Conn. 2010. 5 Williamson and his NBER backed collaborators recast the economic history of the 19th and 20th centuries as a drama of globalization interrupted between 1914 and the 1970s. This narrative framed Kevin O’Rourke and Jeffrey Williamson’s Globalization and History. The Evolution of  a Nineteenth-Century Atlantic Economy, Cambridge (Mass.)/London 1999. Summarizing the conventional narrative amongst economists, see Michael D. Bordo, Globalization in Historical Perspective. Our Era is not as Unique as We Might Think, and Current Trends Are not Irreversible, in: Business Economics 37 (2002) H. 1, 20–29.

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nificance of the event6. In two centuries of modern economic history, the inflations that set in during the early 1970s were the worst ever experienced outside wartime or postwar conditions. The only comparison was the monetary instability that wracked Latin America from the 1950s. In some ways the crisis of capitalist governance in the West was a mirror image of that afflicting the ailing regimes of the Soviet bloc7. The reaction, however, was different. Whereas the Communist regimes continued to borrow abroad and repress dissent at home, Western Europe and the United States underwent regime change. By the mid 1980s the inflationary threat was conquered. If the end of the 20th century witnessed the defeat of Communism and the end of the Cold War, that victory would not have been so sweet if democratic capitalism had not made peace with itself. Nothing indicated that pacification more clearly than the triumphant narrative of the »conquest of inflation«. In the so-called Great ­Moderation proclaimed by none other than Ben Bernanke in 2004, it was claimed that policy-makers and their advisors had found a new and stable synthesis of markets and minimal, rule-bound government intervention8. It is the double ending both of the postwar boom and the Great Inflation of the 1970s and early 1980s that defines our present. Like it or not, we write the history of inflation after its end. The narrative of the Great Moderation was gratifying, no doubt. But through their entanglement with history such narratives also put themselves at risk. They open themselves to revision and argument. Since 2007 the Western economies have been quaking under the impact of the second great shock to the fiat money order since the end of Bretton Woods. To fight the risk not of inflation but of ­deflation the central banks of the world have undertaken unprecedented emergency actions. We have escaped the nightmare of  a return to the deflationary 1930s. But the complacency of the Great Moderation narrative has been broken beyond repair. The history of the 1970s inflation and disinflation was never as simple as it appeared in narratives designed to legitimate currency policy. In light of recent events we conclude that it is time to revisit the history of the Great Inflation – both the events of the epoch and the stories told about them – and to pose the question put to modernity by Alexander Kluge. Was the refoundation of democratic capitalism through the overcoming of inflation a learning process with a fatal outcome9?

6 For instance, Tony Killick, Inflation in Developing Countries: an Interpretative Survey, in: Development Policy Review 14 (1981), 1–17. 7 Charles S.  Maier, The Collapse of Communism: Approaches for  a Future History, in:­ History Workshop 31 (1991), 34–59. 8 Ben S.  Bernanke, The Great Moderation. Remarks by Governor Ben S.  Bernanke at the­ meetings of the Eastern Economic Association, Washington D. C., February 20, 2004; www. federalreserve.gov/BOARDDOCS/SPEECHES/2004/20040220/default.htm. 9 Alexander Kluge, Lernprozesse mit tödlichem Ausgang, Frankfurt a. M. 1973.

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2. Remapping Democratic Capitalism Already as it happened, as prices and wages surged from the late 1960s onwards, the inflation became the object for wide-ranging investigations by several cross-­ disciplinary collaborations between economists, political scientists, and historians. These ranged from the Trilateral Commission’s notorious investigations of the crisis of democratic governance to Jürgen Habermas’s mapping of a »legitimation crisis« at the Starnberg Institute10. One influential analysis came from a report on stagflation commissioned from the Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) in 1974 by Henry Kissinger. It was compiled under the leader­ship of Paul McCracken, chair of Nixon’s Council of Economic Advisors and co-founder of the American Enterprise Institute11. Adopting a determinedly middle of the road position, refusing either strong Keynesianism or the new ­learning of rational expectations economics, when the McCracken report was published in 1977 it diagnosed inflation as the contingent result of »an unusual bunching of unfortunate disturbances unlikely to be repeated on the same scale, the impact of which was compounded by some avoidable errors in economic ­policy«12. Instead of offering more elaborate explanations, the McCracken report modestly focused on identifying the types of policy errors that could be avoided. By 1977 those in search of anti-inflationary lessons could take inspiration from successful efforts at inflation-control in Germany, Switzerland and Japan. The Bundesbank in particular became exemplary. The mandate for price s­ tability and the independence of the Bundesbank were principles enshrined in its founding act of 1948 and formalized in the Bundesbank law of 1957. But despite occasional clashes with the Adenauer government the full implications of the German monetary constitution were masked in the 1950s by the Bretton Woods system into which it was inserted13. Once full convertibility came into effect in 1958 the freedom of national central banks to pursue independent national mon10 Michel J. Crozier/Samuel P. Huntington/Joji Watanuki, The Crisis of Democracy: Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission, New York 1975; ­Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973. 11 Toward Full Employment and Price Stability: A Report to OECD by a Group of Independent Experts, Paris 1977. With Paul McCracken leading the team the authors included a cross-section of contemporary economic experts: Guido Carli, Hebert Giersch, Attila­ Karaosmanoglu, Ryutaro Komiya, Assar Lindbeck, Robert Marjolin and Robin Matthews. For some background on the McCracken Report, see Vincent Gayon, The OECD experts and the »crisis« of Keynesianism: the McCracken report (1975–1977), European Social Science History Conference, April 2012, Glasgow; https://plone2.unige.ch/OECDhistory project/intranet/doc/Gayon_2012_ESSHCslides.pdf. 12 Towards Full Employment, 14. As quoted in Charles S. Maier, Inflation and Stagnation as Politics and History, in: Leon N. Lindberg/Charles S. Maier (Hrsg.), The Politics of Inflation and Economic Stagnation, Washington D. C. 1985, 3–24, here 5. 13 Helge Berger, The Bundesbank’s Path to Independence: Evidence from the 1950s, in: Public Choice 93 (1997), 427–453.

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etary policy was tightly constrained. Between 1949 and 1973, given its mounting balance of trade surpluses, the Federal Republic’s inflation rate was higher than the Bretton Woods norm. Germany was repeatedly faced with the invidious choice between allowing even more rapid inflation and revaluing its currency. Inflation was unpopular, but an upward revaluation of the DM would, it was feared, jeopardize export competitiveness and thus employment. In the summer of 1972 Helmut Schmidt was still free to say in public that inflation was not the only priority. »It appears to me that – to put it succinctly – the German people can more easily tolerate 5 percent inflation than 5 percent unemployment.«14 If one wished to avoid either revaluation or inflation the only alternative were capital controls, to prevent the influx of foreign funds. These were available as an option under the Bretton Woods system. But in Germany they had unpleasant associations with the age of Hjalmar Schacht and the Third Reich. During the final crisis of Bretton Woods in 1971–1973, the inflationary pressure that defending the currency parities put on Germany was immense. On a single day, 1 March 1973, to prevent the DM rising against the weak dollar, the Bundesbank was forced to inflate the German money supply by eight billion DM, 16 percent of the stock in circulation, the largest foreign exchange purchase ever made up to that point. A day later after a showdown with Willy Brandt’s social-liberal government, the Bundesbank received permission to stop intervention15. This finally allowed Germany’s central bankers to embark on their mon­ etary Sonderweg. In December 1974, the Bundesbank introduced its new policy of anti-inflation monetary targeting with words that still echo down to our ­present: »there is no alternative«16. With its emphasis on controlling the quantity of money, the Federal Republic, followed after 1975 by Japan, became the mecca for monetarists who preached Milton Friedman’s gospel that inflation »is always and everywhere a monetary phenomenon«17. If one screened out random shocks to prices, the central role for policy-­makers must simply be to control the money supply. None of the other factors commonly invoked to explain inflation, oil price shocks for instance or trade union wage pressure, could by themselves cause an overall increase in 14 Süddeutsche Zeitung, July 28, 1972, 8: »Mir scheint, daß das deutsche Volk – zugespitzt – 5 Prozent Preisanstieg eher vertragen kann als 5 Prozent Arbeitslosigkeit.« 15 Harold James, Making the European Monetary Union, with a foreword by Mario Draghi, Cambridge (Mass.)/London 2012, 108; Report of the Deutsche Bundesbank for the Year 1973, 6; www.bundesbank.de/Redaktion/EN/Downloads/Publications/Annual_Report/ 1973_annual_report.pdf. The foreign currency exchanges were also closed from March 2 to March 18, 1973. 16 Report of the Deutsche Bundesbank for the Year 1974, 16; www.bundesbank.de/Redaktion/ EN/Downloads/Publications/Annual_Report/1974_annual_report.pdf. 17 Milton Friedman, Inflation: Causes and Consequences, Bombay u. a. 1963, 17. For a critical evaluation of Japan see Takatoshi Ito, Great Inflation and Central Bank Independence in Japan, in: Michael D. Bordo/Athanasios Orphanides (Hrsg.), The Great Inflation. The Rebirth of Modern Central Banking, Chicago 2013, 357–393, here 372.

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prices. T ­ ellingly, however, until the late 1970s the Bundesbank’s turn to monetarism did not find general acceptance in either practical or theoretical terms. At home, the Bundesbanker had to undertake a campaign stretching from 1967 to 1981 to assert a new conservative, austere profile. It took at least a decade of ideological labor by the Bundesbank to make »DM Patriotismus« into a bipartisan property in the Federal Republic and to silence the sense of  a choice offered by Schmidt’s weighing up of five percent inflation against five percent unemployment. When they took their new doctrine abroad, the German inflation hawks faced even stiffer opposition. In the early 1970s even within the British Tory party, which was open to every neoconservative influence from across the Atlantic there was widespread skepticism about the narrow and highly technical, monetarist approach to inflation. As Norman Lamont, later to serve as John Major’s ill-fated Chancellor, put it to an interviewer: »The big issue [within the Tory party in the early 1970s] was the means to control inflation and I think that is often underestimated today. There was a real belief in this country and in America, […] that in order to control inflation you had to control the price of bread, you had to have price controls and wage controls and the idea that you could control inflation by interest rates and the money supply, to some people, just appeared unbelievable and I think that was the big early battle. […] There were fierce arguments in the Conservative Party and among Members of Parliament and the then Prime ­Minister, Edward Heath, who refused to acknowledge that this was remotely relevant, the money supply. We were just told […] you know, don’t be so simplistic.«18

As opposed to the one-dimensional formula of the monetarists, the 1970s produced an efflorescence of structuralist and historically-minded accounts of the political economy of inflation, along with policies to match. The young Charles Maier, fresh from his research into the political economy of the interwar period, was particularly active in giving historical depth to the inflation story. When, as the language of the McCracken report had it, »unfortunate disturbances« »bunched« to the degree that they had in the 1970s, Maier argued, broader »systemic« factors and »institutional structures« were at work19. After 1945, US ­hegemony, the structure of production, and abundant labor supplies had all contributed to enabling an exceptional period of rapid growth and monetary and financial stability. What the 1970s were witnessing was the exhaustion of those conditions and the breakdown of that order. Restoring stability, this implied, would require fundamental change both in the domestic and international p ­ olitical arena. For many analysts, both from the left and the right, there had long been something eerie about the harmonious coexistence of capitalism and democracy since 18 As quoted in Daniel Stedman Jones, Masters of the Universe: Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton/NJ 2012, 237. 19 Maier, Inflation and Stagnation, 5. Though published only in 1985, most of the volume’s chapters originate as contributions to a 1978 Brookings conference on inflation.

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1945 under the sign of the »postwar consensus«. No one in the 19th century had imagined that mass democracy and private property could be so easily reconciled. The interwar period had been wracked by class tension. The mounting distributional struggles from the late 1960s onwards were, therefore, a return to the norm. To many in the emergent school of public choice associated with James Buchanan, Richard Tullock, and Paul David, it seemed self-evident that inflation would arise in democracies caught up in a bidding war between egalitarian as­pirations and self-serving politicians eager to please and appease them20. But this understanding of the link between democracy and inflation was not restricted to the right. John Goldthorpe, in his classic sociological analysis from 1978, argued that inflation had to be understood »as the monetary expression of distributional conflict, […] ultimately grounded not in error, ignorance or unreason […] but rather in on-going changes in social structures and processes«21. It was the development of democratic market society that brought these social conflicts and changes to the fore. Increasingly open distributional struggle was a sign of social maturity. What was at stake in the debates between left and right structuralists were attitudes towards the »mixed economies« of the postwar period. For the right, the 1970s marked the point at which the slippery slope had taken on a dangerous incline. As Buchanan and Wagner put it, inflation was associated with a »ge­ neralized erosion in public and private manners, increasingly liberalized attitudes toward sexual activities, a declining vitality of the Puritan work ethic, deterioration in product quality, explosion of the welfare rolls, widespread corruption«22. In persistent inflation they saw the specter of »Latin Americanization«23. To stave off this disastrous fate what was required was deep structural reform. Quite how thoroughgoing this reform would have to be was dramatized by the so-called Rational Expectations school of economics and the time-inconsistency literature that issued from it. In a hugely influential 1976 essay Robert Lucas showed that standard models for developing optimal policy were undone by the re­f lexivity of 20 See for example, James M. Buchanan/Richard E. Wagner, Democracy in Deficit: The Political Legacy of Lord Keynes, New York 1977; William D. Nordhaus, The Political Business Cycle, in: Review of Economic Studies 42 (1975) H. 2, 169–190; C. Duncan MacRae, A Political Model of the Business Cycle, in: Journal of Political Economy 85 (1977) H. 2, 239–263; Assar Lindbeck, Stabilization Policy in Open Economies with Endogenous Politicians, in: American Economic Review 66 (1976) H. 2, 1–19; Brian Barry, Does Democracy Cause Inflation? Political Ideas of Some Economists, in: Maier/Lindberg (Hrsg.), Politics of Inflation, 280–317, provides an extensive survey. 21 John H.  Goldthorpe, The Current Inflation: Towards  a Sociological Account, in: Fred Hirsch/John H.  Goldthorpe (Hrsg.), The Political Economy of Inflation, Cambridge (Mass.)/London, 1978, 186–213, here 195. 22 Buchanan/Wagner, Democracy in Deficit, 64–65. As quoted in Barry, Does Democracy Cause Inflation, 284. 23 Peter A. Johnson, The Government of Money. Monetarism in Germany and the United States, Ithaca/New York 1998, 165.

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modern society24. Once it was assumed that policy was effective in manipulating the economy, rational economic actors would have to be modeled as anticipating and reacting to policy, a feedback loop that destabilized the structural models on which policy was supposed to be based. Unless a rigid policy rule was adopted, the outcome was unpredictable. A year later Kydland and Prescott went on to drive home the case for a rule-bound policy but also brought out the tragic paradox this involved25. Having adopted a specific rule and encouraged society to believe in it, policy-makers would face a gigantic temptation to exploit that fact and to engage in rule-breaking discretionary policy. The results, though the policy-maker might achieve short-term improvements, would be suboptimal in the long run. The only way to minimize this problem of time inconsistency and to avoid »excessive inflation« was for stringent monetary and fiscal rules to remove policy entirely from the political process, placing it in the hands of independent central bankers, who were committed as publicly as possible to the most stringent targets26. In 1977 that seemed like whistling in the dark.

3. Governing at a Distance With hindsight what is most striking about contemporary analyses of inflation dating to the 1970s, whether they be accidentalist à la OECD, left-structuralist or right-structuralist, is their failure to anticipate the scale of the transformation that lay ahead. We tend to forget how miraculous our current situation of de­ mocracies across the developed world, binding themselves to policies of low inflation and fiscal austerity would have appeared to most observers in the 1970s. Writing in the mid 1970s Goldthorpe was convinced that the right-wing anti-inflation hawks were doomed to disappointment. No »responsible« politician would risk anti-inflationary policies that put the »legitimacy of government« at stake in »head-on and powerful« confrontations with major interest groups, he opined27. But they did. And what is more the structuralists were not wrong. Inflation was driven by powerful social forces and the repression of inflation co­ incided with  a surge of unemployment to levels not seen since the 1930s and some of the most violent industrial struggles that democratic capitalism was to witness in the second half of the 20th century. 24 Robert E. Lucas, Econometric Policy Evaluation: A Critique, in: Carnegie-Rochester Conference Series on Public Policy 1 (1976) H. 1, 19–46. Robert E. Lucas/Thomas J. Sargent, After Keynesian Macroeconomics, in: Federal Reserve Bank of Minneapolis Quarterly­ Review 3 (1979) H. 2, 1–16. 25 Finn E. Kydland/Edward C. Prescott, Rules Rather than Discretion: The Inconsistency of Optimal Plans, in: The Journal of Political Economy 85 (1977) H. 3, 473–492. In 2004, the two received the Nobel Memorial Prize in Economics for their contributions to the time consistency of economic policy. 26 Ibidem, 487. 27 Goldthorpe, Current Inflation, 210.

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How then do we explain the turn against inflation? In the most popular narratives of the Great Inflation what fills this explanatory gap are various types of deus ex machina, most notably the idea of heroic anti-inflationary political leader­ship28. This is the final element of the conventional narrative of inflation and disinflation in the 1970s and 1980s. If inflation was a symptom of political weakness and disunity – a symptom of the inability of Western societies to face sudden shifts in the international terms of trade – then what was required to end it was unifying and authoritative leadership. Enter from stage right, R ­ onald Reagan and Margaret Thatcher, bringing with them the gospel of monetarism, embodied in the US case by Paul Volcker. Heroic leadership equipped with the right ideas would break the conventional boundaries of 1970s interest group politics. No one more dramatically and self-consciously personified the politics of anti-inflationary rigor than Thatcher. And once again there is a mirroring of this heroic conservative narrative from the left. For the left, Thatcher became a figure of horrified fascination29. The animosity she drew to herself could still be felt thirty years later in the unfeigned rejoicing that accompanied her funeral in April 201330. In his widely read »Buying Time« ­Wolfgang Streeck restates this familiar narrative common to both the left and the right. Following Goldthorpe, Streeck postulates that the 1970s inflation served as a means of deferring fundamental distributional conflicts within democratic capitalism, »buying time« by means of conjuring monetary illusions and then concludes that »the monetary stabilization of the world economy in the early 1980s was a tour de force that came with a high political risk; it could be undertaken only by governments, such as those of Reagan and Thatcher, that were willing to trade mass unemployment for the restoration of ›sound money‹ and to crush the expected social resistance at whatever cost.«31

Of course, there is no denying that the refounding of the constitution of capitalist democracy in Britain and America in the early 1980s, involved both s­ avage shocks to the labor market and strike-breaking action by the state. But was this in any sense necessary, as both Streeck and neoconservative heroic narratives would have us believe? Is the dramatic scenario of a high-risk stabilization effort led by the neoconservative will of Reagan and Thatcher really plausible as a historical interpretation? Much contemporary evidence, as well as thirty years of subsequent research suggests not. 28 Daniel Yergin/Joseph Stanislaw, The Commanding Heights: The Battle Between Government and the Marketplace that is Remaking the Modern World, New York 1998; William L. Silber, Volcker: The Triumph of Persistence, New York 2012. 29 Stuart Hall set the tone with: The Great Moving Right Show, in: Marxism Today 1978, reprinted in Stuart Hall, The Hard Road To Renewal: Thatcherism and the Crisis of the Left, London 1988, 39–56. 30 The Guardian, April 8, 2013: »Margaret Thatcher’s death greeted with street parties in Brixton and Glasgow«. 31 Wolfgang Streeck, Buying Time: The Delayed Crisis of Democratic Capitalism, London 2014, 34.

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The class-conflict model suggests that inflation was a populist path of least resistance. But opinion poll evidence from across the developed world in the 1970s challenges this familiar picture of escapist inflationary politics. Far from viewing inflation as a lesser evil, the popular imagination was ruled from the early 1970s by a concern for inflation bordering on fear. Germany was the most extreme case. Though monthly inflation peaked in West Germany in late 1973 at not even eight percent, a full 89 percent of Germans reported in 1974 to be »very worried or frequently worried« by inflation32. But this was not only a German obsession. In the US too, inflation ranked number one as the most important problem ­facing the country for eight consecutive years from 1973 to 198133. Writing in 1979, Daniel Yankelovich, the well-known analyst of American public opinion, could comment that »for the public today, inflation has the kind of dominance that no other issue has had since World War II«34. Ahead of the 1979 British General Election that would elevate Thatcher into office, 59 percent of voters thought inflation to be the single most important issue facing Britain. Strikes and unemployment came second and third with 32 and 28 percent respectively35. The inflation hawks of the 1970s may have styled themselves as countercultural but they were in fact moving with a broad current of opinion. National historical narratives may have played a role in some cases in s­ toking anti-inflation attitudes, notably in Germany where the Bundesbank deliberately revived popular memories of 192336. Concern for inflation may really have been a screen for deeper anxieties about the kind of social tensions that lay behind price increases. The fact that strikes ranked second in the British opinion poll data should be no surprise. There can be little question either that public anxiety was fed in a circular process by the rhetoric of political leaders. As exemplified by Reagan and Thatcher, political leadership came to be redefined and radicalized in terms of anti-inflation politics. But the invocation of the contingent factor of personality and leadership belie the fact that for most of modern history, advanced capitalist societies have found ways to resist inflation. As Brad Delong points out, in the United States for a politician to openly advocate inflation has for more than a century been the kiss of electoral death37. 32 Allensbach Institut, April 1974. As cited in: Der Spiegel, April 15, 1974: »Umfrage: Angst und Sorge wählen CDU/CSU«. 73 percent worried about the effects of inflation on their savings. 33 In 1982 and 1983, inflation was only beaten by high unemployment. See Robert J. Samuelson, The Great Inflation and its Aftermath, New York 2010, 23. 34 Daniel Yankelovich, The Noneconomic Side of Inflation, in: Clarence C. Walton (Hrsg.), Inflation and National Survival, New York 1979, 20. As quoted in Samuelson, Great In­ flation and its Aftermath, 20. 35 Ipsos Moris 1979 Pre-Election Poll from 29 March 1979; www.ipsos-mori.com/research publications/researcharchive/poll.aspx?oItemId =2583. 36 Johnson, Government of Money, 199. 37 James Bradford Delong, America’s Historical Experience with Low Inflation, in: Journal of Money, Credit and Banking 32 (2000), 979–993.

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What the class conflict approach to inflation à la Goldthorpe all too easily u ­ nderestimates is the material interest of powerful social groups in systemic stability38. Particularly in the mixed economy built up since the 1930s, institutions and regulatory systems accumulated that were profoundly challenged by  a substantial and unexpected increase in inflation. The interests involved were heterogeneous but they easily coalesced around the popular anti-inflation theme, cutting across class lines. In the German case the official trade union leadership was every bit as interested as employers in seeing an end to inflation. They were deeply disturbed by the undisciplined wave of wildcat strikes that erupted in 1969 as inflation accelerated during a period of corporatist wage restraint. For those committed to corporatist bargaining the fewer destabilizing shocks the better. Likewise, the complex of savings institutions, pension funds and mortgage finance created in many industrialized societies since the 1930s relied on assumptions about interest rates that could not be sustained as inflation accelerated. By the 1970s in the US nothing less than the functioning of the entire housing market was at stake. Likewise, inflation impacted the vast majority of the population through taxes. In the wake of World War II the tax state had become an intrusive presence in the budgets of all but the poorest households. The effect of inflation was to drive painful »bracket creep«39. Meanwhile, less well-off households on benefits had to fear that their payments would not be adjusted40. In theory one could imagine a perfectly indexed social and economic system that would be indifferent to inflation. In practice there was very good reason for tens of millions across the developed world to prefer a world in which prices were stable. The networks of dependence and obligation that underpinned the ­stability coalition were subtle and can appear slight in relation to the massive social forces – capital, labour, etc. – invoked by simpler class-based analysis. Money is a social medium. Like other media, such as language, law, perhaps even politics itself, it defies explanation in crude interest group terms. But this does not mean that it is inconsequential or that we have no interest in it. The disruptions to the monetary system unleashed by the Great Inflation of the 1970s had all pervasive effects and provided the raw material out of which a variety of election-winning anti-inflation coalitions could be and were built. Contrary to what would be predicted by both left- and right-structuralists, there is little evidence that policy-makers in the 1970s ever took the inflation problem anything other than extremely seriously. Evidence of inflationary escapism or »money illusion« is far less common than one would expect. Given the wall of public hostility to inflation, to prioritize stimulus over price stability as was 38 Kenneth Scheve, Public demand for low inflation, London 2002 (Bank of England Working Paper, no. 172), summarizing the literature on the demand for low inflation. 39 Martin S. Feldstein, The Costs and Benefits of Going from Low Inflation to Price Stability, in: Reducing Inflation: Motivation and Strategy, Chicago 1997, 123–166, on fiscal drag. 40 Robert J. Shiller, Why Do People Dislike Inflation?, in: Christina D. Romer/David H. Romer (Hrsg.), Reducing Inflation: Motivation and Strategy, Chicago 1997, 13–70.

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attempted by several countries in the early 1970s was itself a high-risk political strategy. It could be justified not in terms of a short-term boost to employment, but only as part of a »dash for growth«, a deliberately unbalanced strategy aiming to restore the vitality of national economic development41. As to the existence of a robust trade off between inflation and unemployment – the relationship known as the Phillips curve – there is precious little evidence that anyone believed in it by the 1970s42. If there ever was a moment of confident belief in the long-run Phillips curve trade-off it was the 1960s not the 1970s. The dominant inflation models of the 1970s were neither the Phillips curve nor monetarism, but complicated structuralist, cost-push theories, proffered in particular by the left-wing of Keynesianism. The end of Bretton Wood energized not just the monetarists, but the left wing of the economic policy debate as well. Keynesianism did not simply fade away in the face of the monetarist onslaught. Keynesianism internationalized, spawning efforts at global economic modeling such as Lawrence Klein’s LINK model and the »locomotive theory« of international stimulus championed by the Carter administration43. Meanwhile at the national level, left-Keynesianism sought to radicalize the rather anemic consensus Keynesianism of the 1950s and 1960s by calling for intrusive growth-oriented industrial policies, national protection and corporatist grand bargains with organized labor44. This did not mean dismissing inflation as a policy priority. Rather it raised the stakes in inflation control. If inflation was the monetary expression of distributional conflict, so the argument went, that conflict would have to be made explicit and bargained over at the conference table. What this implied was an open politicization of the economy. As Greta Krippner has pointed out in her path-breaking study of financialization in the US , the effect of the 1970s inflation was not to relieve politics of ­critical decisions, but to accelerate the pace and breadth of politicization of prices, wages, fees, taxes and interest rates, all of which had to be inflation-­adjusted45. If there was a legitimation crisis in the 1970s, then inflation, rather than serving as a safety valve, or a politically cheap means of »buying time«, almost immediately began to be viewed as both a symptom and an exacerbating cause of de­ 41 On British policy choices in this period see, Martin Daunton, Presidential Address:­ Britain and Globalisation since 1850, IV: the Creation of the Washington Consensus, in: Transactions of the Royal Historical Society VI-19 (2009), 1–35. 42 Christina D. Romer, Commentary, in: Review Federal Reserve Bank of St Louis 87 (2005), 177–185; Edward Nelson, The Great Inflation of the Seventies: What really happened?, in: Advances in Macroeconomics 5 (2005), 1–48. 43 Lawrence R. Klein, Project LINK : Linking national economic models, in: Challenge 19 (1976) H. 1, 25–29. 44 Anthony Seldon/Kevin Hickson (Hrsg.), New Labour, Old Labour: The Blair, Wilson and Callaghan Governments 1974–1979, London 2004; John Callagahan, Rise and Fall of the Alternative Economic Strategy: From Internationalisation of Capital to »Globalisation«, in: Contemporary British History 14 (2000) H. 3, 105–130. 45 Greta Krippner, Capitalizing on Crisis. The Political Origins of the Rise of Finance, Cambridge/Mass. 2011, 107.

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legitimization. As recent intellectual histories of the new right have shown, the main attraction of the monetarist agenda was not that it promised a more direct and aggressive assault on inflation46. Wage and price controls could hardly be bettered in terms of directness. By contrast, monetarism was widely regarded even by many conservatives as  a risky, hands off alternative. Because they attacked the problem only indirectly by way of the money supply, the monetarists were dubbed the »chiropractors of modern economics«47. The real charm of monetarist anti-inflation politics was precisely that by »governing at a distance« they promised a means of depoliticizing the economy and of restoring the economy as a »neutral« non-political realm, relieving the enormous burden of legitimization that the more interventionist policies of the 1970s had imposed on the political system48. With regard to the familiar heroic narrative of disinflation, the effect of this triple revision  – stressing the importance of anti-inflationary social interests, the bipartisan commitment to anti-inflation policies and the central imperative of depoliticization – is significant. The standard narrative figures counter-­ inflationary politics as heroic deeds driven by technocratic insight pitched against the structural forces of mass democracy and interest group politics. For a conservative central banker such as the German Otmar Issing, for instance, the challenge was one of eternal vigilance: »We ought to have learned from history that the value of money remains in peril everywhere and at all times.«49 But what this ignores is that in most places most of the time, there were also significant countervailing forces acting against inflation. The hawkish central bankers rarely if ever stood alone. Nor should it be taken for granted, to address the counterfactual normally implied, that without the election of Margaret Thatcher or ­Ronald Reagan, Britain and the US would have spent the 1980s galloping towards ac­celerating inflation. Given the very real force of counter-inflation interests in society, the fact that anti-inflation politics came to the fore is not by itself surprising. If it was undeniably true that Reagan and Thatcher accepted rising unemployment as the price of combating inflation, it is hardly the case that this involved them in hair-raising political risks. As mentioned above, the opinion poll evidence from the time suggests the opposite. Given the pronounced strength of the anti-inflation majority and the strength of the anti-union affect, to prioritize employment and to have remained in dialogue with important social interest groups over the collective management of the macroeconomy, would have been 46 Stedman Jones, Masters of the Universe. 47 William Greider, Secrets of the Temple: How the Federal Reserve Runs the Country, New York 1989, 93. 48 Summarizing the literature, Nikolas Rose/Peter Miller, Political Power beyond the State: Problematics of Government, in: The British Journal of Sociology 61 – Issue Supplement s1 (2010), 271–303. 49 Otmar Issing, Walter Eucken: Vom Primat der Währungspolitik, Vortrag am Walter-­ Eucken-Institut, Freiburg, March 17, 2000; www.ecb.europa.eu/press/key/date/2000/html/ sp000317_2.de.html.

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the far bolder political choice. Populism comes in many forms. That of Reagan and Thatcher was of the anti-inflation, anti-welfare, anti-union variety. The aim of our anti-heroic narrative of disinflation is not, however, simply to suggest a revision of the familiar view of the Thatcher and Reagan »revolutions«. The aim is to revise our understanding of the problem of democracy in relation to economic policy. Left- and right-structuralists postulate  a conflict between democracy and capitalism, which, on the left reading, must either lead to terminal crisis, or in the right-structuralist version must be overcome by depoliticization. That is the moral drawn from the history of inflation in the 1970s and the 1980s. Inflation was a political and economic time bomb that had to be defused as urgently as possible. A critique of both positions by way of a new history of the struggle over inflation in the 1970s, would, by contrast, seek to disarm this rhetoric of emergency and necessity. What we must insist upon is that under conditions of a fiat money regime, the choice of deflation or inflation is open. The problem is not that of a lethal and urgent menace to the common good. It is that of  a political choice with distributional consequences. The historical question is how that openness became foreclosed and how the history of that closure has been told. Depicting the history of the 1970s as a choice between a populist and delusionary »sell out« to inflation, and the virtue and realism of disinflation, is the beginning of that closure.

4. The Politics of Disinflation Once we remove the blinders of the conventional narrative of the »conquest of inflation«, what is remarkable is how complex, historically contingent and politically multivalent the emerging anti-inflation coalitions of the 1970s were. Even in Germany, so often cited as the prime example of steadfast anti-inflation politics, the course was far from predetermined. Between 1967, when serious in­ flationary pressure began to build up within the Bretton Woods systems, and 1974, the Bundesbank was rocked by what one participant referred to as a »war of religion«50. Karl Klasen, the social democratic President of the Bank, backed by Helmut Schmidt, the rising star in the SPD/FDP coalition, favored »Schachtian« exchange controls and regulation to contain the inflationary pressure whilst avoiding revaluation. They were opposed by a coalition of pragmatic Keynesians such as Karl Schiller and out-right monetarists who were united on the need to break up Bretton Woods and float the DM. It was the monetarists who prevailed by 1974 but they did so in the form of what Johnson calls a »monetarist cor­poratism«, in which monetary targets were used not to break the labor movement, but to signal the need for restraint in wage setting51. There was even talk

50 This episode is captured in Johnson, Government of Money, ch. 3, here 70. 51 Ibidem, 109.

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of appointing a trade unionist to the Bundesbank board, which was in any case full of Social Democrats. It was this German model of social market monetarism that attracted Valéry Giscard D’Estaing and his new centrist technocratic Prime Minister Raymond Barre, when they undertook the first serious disinflationary effort in France in August 1976. Combatting inflation was Barre’s top priority. Introducing his government’s program to the French National Assembly Barre referred to the inflation menace no less than 20 times52. Though the Barre Plan involved monetarist monetary targeting, it mobilized the entire apparatus of French planification. The exchange rate peg to the DM was reinforced so as to force French industry into streamlining and pressure the trade unions into wage restraint. Meanwhile, the government publicly announced a money supply target and sought to manipulate the allocation of credit within the framework known as the encadrement du crédit. The aim was disinflation, the analytic framework was monetarist, but the means employed were extensively interventionist, providing different credit targets and interest rates for the public sector, for domestic industrial investment and more speculative commercial and financial transactions53. The politics of disinflation were even more polyvalent in Italy in the 1970s54. In 1974 the Socialists reluctantly backed an austerity package negotiated by the Christian Democrats with the International Monetary Fund (IMF), which they then abandoned within a year in a blatant effort to manipulate the business ­cycle ahead of parliamentary elections. The result by January 1976 was a manifest currency crisis. Though both the United States and West Germany made clear that they would cut off all financial aid to Rome if the Communists entered govern­ ment, the Partito Comunista Italiano (PCI) in fact gave the Christian Democrats their full support in negotiating  a new IMF rescue package. Rather than pursuing an aggressive strategy of wage-bargaining the PCI sought a new profile as a responsible partner in power, appealing to the anti-inflation sentiment amongst centrist voters. Crucially, the PCI intervened with the major trade union, the Confederazione Generale Italiana del Lavoro, to persuade it to relax wage indexation rules clearing the path to an Italian agreement with the IMF in April 1977. By 1979 the Italian Communists were hoping that their willingness to back an austerity program against the short-term interests of the trade union constituency would be rewarded by their inclusion for the first time in a coalition government.

52 Emmanuel Mourlon-Druol, A Europe Made of Money: The Emergence of the European Monetary System, Ithaca 2012, 106. 53 Michael Maurice Loriaux, France after Hegemony. International Change and Financial Reform, Ithaca 1991, 38–43. 54 John B. Goodman, Monetary Sovereignty. The Politics of Central Banking in Western Europe, Ithaca 1992, 149–164.

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It was in the US and above all in Britain that the politics of money escalated in a truly confrontational manner. But even there, this was not a foregone conclusion. In the 1970s the politics of counter-inflation was still a bipartisan issue. Already in 1974, during the first bout of inflation, President Gerald Ford had compared inflation to a »well-armed wartime enemy,« famously dubbing inflation »our public enemy number one«55. In 1976 a Labour government in B ­ ritain steeled itself to accept an IMF program and publicly renounced any naïve faith in Keynesianism. At the same time it spent precious political capital in seeking a deal with its trade union allies to limit wage increases. On 24 October 1978, President Jimmy Carter in a nationally televised address reiterated both the stance of his predecessor and the resounding message from the public opinion polls: inflation was America’s number one domestic problem. Given the weakness of the dollar on the international exchanges, with the monetarist-­inspired Shadow Open Market Committee warning of »Latin Americanization«, President Carter invoked one of the most heroic moments of English-­speaking democracy56: »Nearly 40 years ago, when the world watched to see whether his nation would survive, Winston Churchill defied those who thought Britain would fall to the Nazi threat. Churchill replied by asking his countrymen, ›What kind of people do they think we are?‹ There are those today who say that a free economy cannot cope with inflation and that we’ve lost our ability to act as a nation rather than as a collection of special interests. And I reply, ›What kind of people do they think we are?‹ I believe that our p ­ eople, our economic system, and our government are equal to this task. I hope that you will prove me right.«57

This was not democracy speaking the language of appeasement, »buying time«, or indulging in inflationary escapism. This was the language of Dunkirk and of »blood, toil, tears and sweat«. For better or worse, it was Carter, not Reagan, who appointed the hawkish Paul Volcker to chair the Fed. It was a significant choice precisely because Volcker’s priorities were known to be the stabilization of the international monetary system anchored on the dollar, and not domestic un­ employment58. On the fiscal front in 1980 Carter ended any chances of reelection with an austere budget hailed by the »Financial Times« as an act of »sheer political courage«59.

55 Gerald R. Ford, Address to a Joint Session of the Congress on the Economy, October 8, 1974, in: Public Papers of the Presidents of the United States. Administration of Gerald R. Ford (GPO 1975), 228–238. 56 Johnson, Government of Money, 163. 57 Jimmy Carter, Anti-Inflation Program. Address to the Nation, October 24, 1978, in: Public Papers of the Presidents of the United States. Administration of Jimmy Carter (GPO 1979), 1844. 58 Stein, Pivotal Decade, 227. 59 As reported by the New York Times News Service, in the US press, see Wilmington StarNews, Sunday, March 16, 1980, 14-A.

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5. The Turn It was between 1979 and 1986 that the politics of inflation and anti-inflation took on the resolutely conservative, free-market, anti-labour character that would later be naturalized in the heroic narrative of Thatcher and Reagan. This cannot be understood except in an international context. In the great disinflation of the early 1980s international power and influence were crucial factors. The politics of money was directly linked to the rallying of »the West« in the final confrontation of the Cold War. The financial markets were the first medium through which international pressures became apparent. By 1976 Italy, France and Britain were all feeling the pressure. In 1978 the dollar itself came under sustained attack. In 1980–1981 it was the turn of the Deutschmark. The reaction both in the US and Britain was to initiate shock therapy that gave  a new and far more unambiguous political complexion to disinflation. The interest ratehike, both in Britain and the US , was savage and taken without regard for unemployment. Casting aside any pos­ sibility of corporatist coordination, which had been a key element in Germany’s successful efforts at inflation control in the early 1970s, Reagan and Thatcher adopted an aggressively anti-union stance. Thatcher’s anti-union campaign culminated in the epic struggle to defeat the mineworkers union in 1984–1985. Paul Volcker was only articulating what was an open secret when he commented that »the most important single action of the (Reagan) administration in helping the anti-inflation fight was defeating the air traffic controllers’ strike« in August 198160. And this domestic campaign was explicitly linked to an aggressive reassertion of the frontlines in the global Cold War. In Europe it was Helmut Schmidt who responded most vigorously to the perceived crises of American leadership. In strategic terms he took the initiative in launching the rearmament proposals that would convulse the NATO countries until the early 1980s. In economic terms he pushed  a new project of European monetary integration, the ­European Monetary System (EMS)61. There was of course an evident economic rationale for the EMS from the German point of view. The currency system would slow the depreciation of the ­European currencies against the DM. But there was far more at stake for Schmidt than a mercantilist exercise in export promotion. This became evident in 1978 when the EMS proposal was put to the Bundesbank. For the Bundesbankers, the EMS was  a mixed blessing. It implied  a considerable constraint on the auton60 Paul Volcker, in Martin Feldstein (Hrsg.), American Economic Policy in the 1980s,­ Chicago/London 1994, 162. 61 James, Making the European Monetary Union, 146–150. For a history of Schmidt’s related focus on the world economic summits, see Johannes von Karczewski, »Weltwirtschaft ist unser Schicksal«: Helmut Schmidt und die Schaffung der Weltwirtschaftsgipfel, Bonn 2008.

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omy they had struggled to establish since the end of Bretton Woods. Any fixed exchange rate regime would limit their ability to set national monetary policy. And a currency pact with the French and the Italians, in which Germany was not guaranteed the deciding voice, could easily become an inflationary club. It was against such doubts that Chancellor Schmidt used the crucial meeting of the governing board of the Bundesbank on 30 November 1978 to first formulate the bludgeoning combination of arguments that ever since have dominated German policy towards the European project. Self-consciously transgressing beyond the realm of economics, Schmidt insisted that there was no alternative to European monetary integration because it was the financial counterpart to Germany’s Western integration, its membership in NATO and the legacy of Auschwitz62. Germany must lead the way. One cannot oppose such arguments directly in the Federal Republic. But the Bundesbanker exacted a price. In a note to Otmar Emminger, then Vice-President of the Bundesbank, Schmidt promised that the EMS would not be coupled to the kind of inflationary support that had become a feature of Bretton Woods in its last days. The Bundesbank would not be required to print billions of DM to prop up the French Franc or the Lira, as it once had done for the dollar. With this confidential promise by the social-liberal government to the Bundes­ bank, the basic structure of the European monetary project was set. Germany was irreversibly bound in, but the burden of adjustment would be placed one-sidedly on the weaker currencies in the system. European monetary integration would be a disinflation project. Schmidt, however, was anything but a simple-minded advocate of austerity. Despite ballooning public deficits, when the second oil crisis struck and growth in Europe slumped, Schmidt’s reaction was to cobble together an international stimulus package. In conjunction with his ally the French President Giscard D’Estaing, Schmidt entered into conversations with Saudi Arabia with a view to recycling Arab oil money into investment in Europe. As in the US in the early 1980s, monetary tightening might have been softened by fiscal expansion. But three factors thwarted Schmidt’s plan to enact a Rhenish version of Reaganomics: the radicalism of the Fed’s shock therapy, the Bundesbank and French voters. All three strands – the American and British turn to disinflation, the power struggle between the Schmidt government and the Bundes­ bank, and the rise and fall of the Mitterrand experiment between 1980 and 1983 – are familiar episodes. But it was their intertwining that tied the Gordian knot of European deflation. When the dollar began its upward movement in October 1979, its pressure on the relative exchange rates among the European currencies could be felt immediately. Between October 1980 and March 1981 the DM lost 15 percent of its value despite Frankfurt drawing extensively on the resources of the common ­European monetary fund. With oil prices reaching new heights, the disinflationary block in Europe seemed to be losing its grip. Even Switzerland, Germa62 James, Making the European Monetary Union, 176.

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ny’s partner in disinflation in the 1970s, saw its inflation rate peak at eight percent in 1981. On 19 February 1981, the Bundesbank ran out of patience. To halt the slide, it jacked up interest rates from nine to 12 percent. Overnight borrowers at the Lombard window faced rates of 28 percent. In a less than subtle move, the Bundesbank intervened in wage negotiations, pressuring the influential IG Metall trade union to accept wage restraint. Chancellor Schmidt found himself in an embarrassing situation, made even worse by sniping from the left-wing of the SPD and increasing doubts within the FDP about its role in the co­a lition. By May 1981 Schmidt’s effort to stem the austerian tide had collapsed and a path of consolidation had won the day in Bonn. Against this disinflationary tide, French voters were called to the polls on 13 April. In the second round on 11 May 1981 they opted to embark on the most radical political experiment since 1936: an updated Front populaire of a socialist government with communist participation and an open agenda of economic nationalism. 12 major corporations and 39 banks and financial institutions would be nationalized. The minimum wage was raised by 10 percent, the minimum pension by 20 percent. 150,000 public servants were added to the pay-roll. On the day of Mitterrand’s election a run on the Franc began that would consume three billion dollars in reserves in a matter of days. On 22 May, France introduced capital controls. Suddenly, Germany found itself back in the driver’s seat of the EMS. Karl Otto Pöhl, president of the Bundesbank, did not conceal his opinion that a France under a Popular Front government was out of place in the European Monetary System63. On 5 October 1981, France underwent an embarrassing currency readjustment and the Banque de France reacted, just as the ­Bundesbank had done at the beginning of the year, by refusing short-term loans to the government. The World Economic Summit hosted by the Mitterrand government in June 1982 in Versailles descended into embarrassing disaster. With the Franc on the skids, French Prime Minister Mauroy was reduced to chasing Mitterrand down the corridors of the Versailles palace crying out: »I can’t hold it, I can’t hold it.«64 The next round of devaluation came on 12 June. As France’s position with the EMS became increasingly untenable, the famous reversal of French politics came in the third week of March 1983 as the more international, pro-­European, pro-American group around Jacques Delors emerged victorious and issued a commitment to the franc fort. For the hawks in Paris, allegiance to the hard EMS position established by the Bundesbank at the moment of Mitterrand’s election would henceforth serve as  a »break« on any French »divergence«. The period spanning the advent of the Volcker regime at the Fed, the capitulation of the Mitterrand government in the spring of 1983 and the Thatcher government’s deregulation of the City of London in October 1986, marked  a 63 David Marsh, Europe’s Deadlock. How the Euro Crisis Could Be Solved  – and Why It Won’t Happen, New Haven (Conn.)/London 2013, 76. 64 James, Making the European Monetary Union, 194.

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transition of world historical significance. Under Bretton Woods, limits on capital mobility had protected the fixed exchange rate system. Now, for the first time sovereign money, decoupled from gold, came to be combined with a radical opening of capital markets anchored on Wall Street, London, Frankfurt and Paris. Rawi A ­ bdelal has shown the significance of the reversal in the French position that facilitated this change65. Starting in late 1983 the French capital accounts were gradually opened in a radical deviation not just from Mitterrand’s previous position but that of all postwar governments before him. By June 1988 a European Council directive would oblige all member states to liberalize all capital movements66. The decontrol of the capital account went hand in hand with attempts to bring down inflation by tying France to the EMS and thereby indirectly to the monetary policy of the Bundesbank. For the likes of Delors the tournant of 1983 implied first and foremost that »our struggle against inflation was reinforced«67. But the turn to monetary conservatism led by the Bundesbank was Europe-wide. Between 1981 and 1983, not just the French but the Dutch, the Belgians, the Danes and the Austrians all abandoned any prospect of ambitious social democratic politics68.

6. The End of Moderation In 1985 the Bundesbank recorded the triumph of its anti-inflationary campaign. Inflation in the Federal Republic was at zero. Unfortunately, however, the loudly proclaimed logic of the Natural Rate of Unemployment cut both ways. If high inflation could not buy low unemployment, nor did low inflation yield n ­ oticeably better labor market outcomes. In Germany, widely seen as the strongest European economy, unemployment topped 9.3 percent, the highest since the dark days of postwar reconstruction. Undeterred by the signs of Eurosclerosis, in 1989 the Delors committee finalized plans for European Monetary Union. In a truly grand bargain, East and Western Europe were brought together around a unified Germany with the DNA of the Bundesbank injected into what would become the European Central Bank (ECB), a continent-wide monetary watchdog with a one-sided anti-inflation mandate and a mission to complete the harmonization of European capital markets in a world of capital mobility. Not surprisingly, conservative German central bankers like Otmar Issing never tire of hammering home the world historical lesson: the conquest of inflation was the concomitant of the conquest of totalitarianism. In a speech de­ 65 Rawi Abdelal, Capital Rules: The Construction of Global Finance, Cambridge/Mass. 2009, 54–85; see also Mark Mazower, Governing the World. The History of an Idea, 1815 to the Present, New York 2012, 409–410. 66 Directive 88/361/EEC ; Abdelal, Capital Rules, 57. 67 Ibidem, 65. 68 Ton Notermans, Money, Markets, and the State: Social Democratic Economic Policies since 1918, Cambridge/New York 2007.

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livered in Prague, 15 years after the end of the Cold War, he explained not only the need to protect money against politics, but also the crucial inverse link. »It is important to keep reminding ourselves of the fundamental link between inflation and the tendency towards collectivist solutions.«69 Rather tastelessly given that his hosts were Czech he went on to remind his audience that »nothing rendered the German people so embittered, so full of hatred, so ready for Hitler as inflation«70. In a new age of Holo­caust consciousness this was the ultimate argument. Inflation led to Auschwitz. And the only guarantee against inflation was an independent central bank. One could forgive the Bundesbank its triumphalism. But by the 2000s its anti-inflationary old religion had come to sound both anachronistic and parochial. The narrative of the Great Moderation crafted by the research divisions of central banks around the world and top economics departments in the US was no less a narrative of historic triumph. But it was presented in cooler more technical tones. As the »Age of Extremes« was consigned to the past, the independent central bank was touted as a new type of governance aptly referred to as incorporating the »logic of discipline«71. Kydland and Prescott’s constitutional recommendation of policy delegation had risen to the rank of evidence-based wisdom. The robustness of a central bank’s independence was subject to practical and academic testing. The kinds of clashes between elected governments and »autonomous« central bankers that had defined the course of the political history of Europe between 1972 and 1983, were now so ritualized and formalized that they could be incorporated into quantitative databases. From Sweden to Japan, from Australia to Finland, from Spain to Canada – between 1989 and the mid-1990s more than two dozen countries decided to strengthen the independence of their respective central banks. Correlations quickly captured the reassuring pairing of a credible, assertive central bank and low-inflation72. Touring the world, Ben Bernanke, the wonk made monetary superhero, could reiterate that »careful em-

69 Otmar Issing, On the primacy of price stability. Prager-Frühlings-Vortrag, Liberální Institut Prague, June 10, 2004. In another speech, from 1999, Issing recalls his experience of reading Hayek’s The Road to Serfdom. »Only eleven years after the Hitler regime and the war I suddenly started to understand the interdependence between totalitarianism and economic policy.« Otmar Issing, Hayek. Currency competition and European Monetary Union. Annual Hayek Memorial Lecture hosted by the Institute of Economics affairs, London, May 27, 1999. 70 This was a quote from Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Euro­päers, Frankfurt a. M. 1970, 359. 71 Alasdair Roberts, The Logic of Discipline: Global Capitalism and the Architecture of­ Government, Oxford 2010. 72 Two of the earliest and most influential such papers were Alex Cukierman/Steven B. Webb/ Bilin Neyapti, Measuring the Independence of Central Banks and its Effects on Policy Outcomes, in: World Bank Economic Review 6 (1992) H. 3, 353–398, and Alberto Alesina/ Lawrence H. Summers, Central Bank Independence and Macroeconomic Performance: Some Comparative Evidence, in: Journal of Money, Credit and Banking 25 (1993), 151–162.

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pirical studies support the view that more-independent central banks tend to ­deliver better inflation outcomes than less-independent central banks«73. The history of the 1970s was rewritten in light of the Great Moderation. The inflation had been unleashed by inattention to the monetary essentials and in­ appropriate interest rates that went back to the 1960s. Inflation had been conquered through intelligent institutional design and better policy74. In the age of the »cultural turn«, the history of the inflation that had once preoccupied both the public and policy-makers became  a specialist domain for economists and economic historians rarely frequented by general historians. In the early 2000s, with the encouragement of the NBER and the Fed, the noted monetarist and economic historian Michael D. Bordo and Athanasios Orphanides of the Massachusetts Institute of Technology and the Central Bank of Cyprus began planning a major academic conference to bring together new scholarship on the Great Inflation75. It was in every respect a characteristic product of the genre. It involved contributors from the US , Germany, New Zealand, Canada, Japan and Portugal, Sweden, Finland and the United Kingdom. A mixture of policy-makers, current and retired, economists, economic historians and one recognized historian76. But rather than putting an academic capstone on the narrative of the Great Moderation, the conference witnessed the throwing open of the entire history of the monetary and financial policies since 1973. The meeting convened with spectacular timing on 26–27 September 2008, only days after the Financial Crisis had reached its most critical point. Mervyn King, the Governor of the Bank of England had to cancel his attendance at short notice. A Vice President of the ECB who was scheduled to attend turned back at Frankfurt airport but emailed the response that he had prepared. Astonishingly, Don Kohn, then Vice Chairman of the Federal Reserve, made time to attend the final session. There are few historical conferences at which the participants are exposed to these pressures and would nevertheless consider the topic of such importance as to be worthy of a d ­ etour from Washington D. C. to Vermont. Since September 2008, to prevent an implosion of the Atlantic financial economy, monetary aggregates have been run up. Public debts have surged to accommodate  a rescue of the financial sector. By any historic standard the balance sheets of the Fed, the ECB, the Bank of Japan and the Bank of England should be setting course for a dramatic acceleration of inflation. And yet we face the pros73 Ben S. Bernanke, Central Bank Independence, Transparency, and Accountability, at the Institute for Monetary and Economic Studies International Conference, Bank of Japan, Tokyo, May 25, 2010. 74 Christina D. Romer/David H.  Romer, The Evolution of Economic Understanding and Postwar Stabilization Policy, in: Rethinking Stabilization Policy. A Symposium Sponsored by the Federal Reserve Bank of Kansas City, Kansas City 2002, 11–78. 75 Bordo/Orphanides (Hrsg.), The Great Inflation. The conference was held in Woodstock, Vermont. 76 See the exemplary statement in Marvin Goodfriend/Robert G. King, The Great Inflation Drift, in: ibidem, 187.

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pect not of inflation but of deflation. We are in a weird and inverted world. The result has been a collapse of the anti-inflationary consensus assembled in the late 1970s. A fundamental clash has opened between market monetarists, supply-­ siders and »Austrians«. The IMF, BIS , Fed, ECB, Bank of England and the Bundesbank are at odds to an extent not seen since the 1970s. The tone of the debate in the public sphere has been no less heated. In May 2011, in  a lurid article in »Newsweek«, Niall Ferguson warned his American readers of  a new Great Inflation. Ben Bernanke’s hugely expansive monetary policy, he argued, had been successful in staving off  a great depression style deflation, but this left Ferguson warning that »we’ve avoided rerunning the ­ erguson, 1930s only to end up with a repeat of the 1970s«77. Indeed, according to F the escape from the inflation of the 1970s may not have been real but a statistical artefact of 24 technical »improvements« to America’s official consumer price index since 1978. »If the old methods were still used,« Ferguson explained, »the CPI would actually be 10 percent. Yes, folks,« Ferguson announced in 2010, »double-digit inflation is back«. This prediction has not been confirmed by subsequent events. But the resistance to monetary experimentation is by no means confined to individual right-wing pundits. It is assiduously fostered by the Bundesbank. And in Germany at least it is shared also by parts of the left. By contrast in the US it is anti-inflation politics itself that is under scrutiny. Paul Krugman in therapeutic mode remarked that there was no hope for those suffering from the »inflation paranoia« so »deeply embedded in the modern conservative psyche«. For the apocalyptic anti-inflationists, Krugman commented, time stands still. »It’s always the 70s, if not Weimar, and if the numbers say otherwise, they must be cooked.«78 As if to confirm the suggestion, Ferguson added to his column a dose of autobiographical self-reflexivity: »I grew up in the 1970s. My first-ever publication, when I was 10, was a letter to the Glasgow Herald lamenting the soaring price of school shoes (I genuinely thought my feet were growing too fast). I wrote my Ph.D. dissertation about German hyperinflation. So perhaps I’m also hypersensitive.«79

77 Niall Ferguson, The Great Inflation of the 2010s, in: Newsweek, May 1, 2011; www.newsweek. com/great-inflation-2010s-67663. 78 Paul Krugman, Understanding the Crank Epidemic, in: New York Times, The Opinion Pages, July 17, 2014; http://krugman.blogs.nytimes.com/2014/07/17/understanding-thecrank-epidemic. 79 Ferguson, Great Inflation of the 2010s. Already the opening gambit of Ferguson’s career was a staunch revisionist posture that sought to link the rise of Nazism to the hyperinflation of 1923, against the historiographical consensus that tended to emphasize the pernicious effects of deflation. Niall Ferguson, Paper and Iron. Hamburg Business and German Politics in the Era of Inflation, 1897–1927, Cambridge/New York 2002.

The Great Inflation

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7. Captive Closure and Modernity It is of course important to acknowledge one’s location. We think, whether we admit it or not, from within traditions. But for those filiations not to become rigid ideological shackles it is important to reexamine the past that shapes us. Rather than expecting the present endlessly to repeat the »lessons learned« in the 1970s, we would surely be better occupied asking how the history of the Great Inflation, which as we have shown here was always already contentious, appears in new light given the upheaval of the Financial Crisis. If we view the relationship between present and past not as static repetition, but with a view to dynamic mutual reinterpretation, three fundamental revisions force themselves immediately on our attention. Rather than seeing the 1970s as the staging ground for the Great Moderation, it now seems that the transition from the inflationary 1970s to the 1980s set the stage for destabilizing financialization, a huge surge in in­equality, and a form of globalization that threatens not just disinflation, but a new era of long-run deflation. As 2014 began, Larry Summers, once one of the most triumphal spokesmen of the Washington consensus, performed  a truly spectacular historical rewriting. In  a series of speeches he declared that the decades since the 1980s that had once been heralded as the triumphant epoch of the »Great Moderation«, had in fact consisted of  a series of bubbles masking a steadily deteriorating long-run growth path80. Vast flows of capital were absorbed into the deflated western economies without generating better than trend growth. What we are left with after the crisis is huge leverage and flat investment. Given the vast debt levels that hang over both the private and public sectors the alternatives are stark. Austerity is the first response in Europe, which now risks provoking ever deeper deflation. But in international policy-making circles and in the US the slide into  a spiral of low investment, stagnation and deflation has triggered for the first time since the 1980s a serious reevaluation of the priority of low inflation. The IMF has suggested targetting inflation well above the two percent level that established itself as the norm during the Great Moderation81. Against the backdrop of the anti-inflationary struggles of the 1970s this is heresy and notably in Europe it has been met with howls of outrage from the Bundesbank. The conservative culture war against inflation goes on. And, as in the 1970s, there are no doubt powerful social interests who for reasons of their own are ­opposed to any more expansive policy stance. The question is whether under current conditions of unprecedentedly high private and 80 Lawrence H.  Summers, U. S. Economic Prospects: Secular Stagnation, Hysteresis, and the Zero Lower Bound, in: Business Economics 49 (2014), 65–73; Lawrence H. Summers, Reflections on the »New Secular Stagnation Hypothesis«, in: Coen Teulings/Richard­ Baldwin (Hrsg.), Secular Stagnation: Facts, Causes and Cures, London 2014, 27–38. 81 Laurence Ball, The Case for  a Long-Run Inflation Target of Four Percent, Washington D. C. 2014 (IMF Working Paper 14/92).

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public debt a strategy of redistributing the burden between debtors and creditors, investors and savers, young and old by means of inflation might not have a fighting chance. Faced with the wall of austerian common sense that has dominated global policy-making since 2010, Paul Krugman has been driven to imagine a variety of alarming scenarios as the trigger necessary to shake America’s capitalist democracy out of its deflationary slumber. In an inverted echo of Carter’s appeal to Churchill in the battle against inflation, Krugman imagines a patriotic rally against an invading Martian space-fleet (or alternatively the Chinese) as the trigger for a Keynesian breakthrough82. Historians and political scientists may hope to contribute to the debate not through science fiction but through critically evaluating the evidence and theoretical arguments that underpin our views of the recent past. What is undeniable is that after 1973, with the collapse of ­Bretton Woods the world irrevocably entered a new age of fiat money. The first response in the 1970s, both in practical politics and social theory, was a profound and enlightening realization of the self-reflexivity of social and political organization. But the argument over inflation turned that in an unpredictable direction. Rather than relishing and exploring the freedoms of a new reflexive modernity, the lesson pounded home relentlessly since the anti-inflationary turn of ­1979–1983 has been one of emphatic and persistence closure, a deeply institutionalized Unmündigkeit. It is a profound irony that 40 years on, the end of ­Bretton Woods and the advent of fiat money have given rise not to an expansion of our political alternatives but a remarkably pervasive conservatism and amnesia.

82 In August 2011, Krugman was touting the idea of a war against Martians; www.huffington post.com/2011/08/15/paul-krugman-fake-alien-invasion_n_926995.html. In February 2012, he gave a notorious interview to Playboy in which he stated that »Chinese policy right now is our enemy«; www.workinglife.org/jonathan-tasinis-columns/playboy-interview-withpaul-krugman.

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Der Aufstieg multinationaler Konzerne Umstrukturierungen und Standortkonkurrenz in der westeuropäischen Chemieindustrie

1. Einleitung Im Zuge der europäischen Integration und besonders seit dem Ende des Booms setzte in Westeuropa ein Prozess wirtschaftlicher Kooperation ein; viele Firmen gründeten mit ihren nationalen und europäischen Wettbewerbern Joint Ventures oder fusionierten in aufeinanderfolgenden Stufen. Gleichzeitig schnellte die Rate ausländischer Direktinvestitionen in die Höhe. Zwar stellten multinationale Unternehmen keine grundlegende Innovation des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts dar, allerdings erreichten ihre Zahl und ihre Größe in dieser Phase eine neue Dimension. Alfred Chandler, Bruce Mazlish und Geoffrey Jones sahen im beschleunigten Anstieg von Direktinvestitionen in den 1970er Jahren eine weltweite Zäsur in der Geschichte multinationaler Unternehmen1. In Anbetracht fallender Wachstumszahlen verbanden viele Unternehmer mit dem Schritt auf den Auslandsmarkt die Vorstellung, den proklamierten Wachstumsgrenzen entgehen zu können2. Sowohl politischen Akteuren als auch Beschäftigten und Öffentlichkeit blieb diese Entwicklung keineswegs verborgen. Vielfach reagierten sie mit Sorge auf das neue Machtpotenzial multinationaler Konzerne3. Der Zusammenschluss der beiden Chemiefaserproduzenten Vereinigte Glanzstoff-Fabriken AG in Wuppertal (VGF) und Algemene Kunstzijde Unie N. V. in Arnheim (AKU) mit der Koninklijke Zout-Organon N. V. (KZO) zum Akzo-­ Konzern 1969 und die Internationalisierung des westdeutschen Chemiekonzerns Farbwerke Hoechst bieten anschauliche Beispiele eines breiteren, unternehmensübergreifenden Multinationalisierungsprozesses. Zunächst steht die Frage nach den Motiven und der konkreten Ausgestaltung länderübergreifender Unternehmensfusionen im Vordergrund. Während wirtschaftswissenschaftliche Internationalisierungstheorien oftmals losgelöst vom historischen Kontext die Bedeutung lokaler oder unternehmensinterner Vorteile betonen, werden in diesem 1 Vgl. Alfred D. Chandler/Bruce Mazlish, Introduction, und Geoffrey Jones, Multinationals from the 1930s to the 1980s, beide Beiträge in: Alfred D. Chandler/Bruce Mazlish (Hrsg.), Leviathans. Multinational Corporations and the New Global History, Cambridge (Mass.)/ New York 2005, S. 1–15 und S. 81–104, hier insbesondere S. 88. 2 Wirtschaftsarchiv Universität zu Köln, Glanzstoff Arbeits- und Sozialbericht 1970, Ludwig Vaubel: »Grenzen der industriellen Expansion?«, S. 4 f. 3 Vgl. Der Spiegel vom: 29.4.1974: »Die Allmacht der Multis«.

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Beitrag besonders die zeitspezifischen Gründe für den Ausbau des Auslands­ geschäfts in der Phase nach dem Boom herausgearbeitet. Zwar konnten auch hier technologisches Wissen oder der Zugang zu Rohstoffen eine Rolle spielen, allerdings lässt sich der diagnostizierte Zäsurcharakter nur an konkreten historischen Begebenheiten festmachen. Der Auf- und der Abbau von Handelsbarrieren, Verschiebungen der Wechselkursparitäten oder die schwankende Disponibilität von Kapital zeigen den Bedeutungswandel solcher Kriterien. Auch wenn die deutsche Chemieindustrie schon vor dem Ersten Weltkrieg stark auf dem Weltmarkt präsent war, bedarf es einer Erklärung, warum die traditionell export­orientierten westdeutschen Chemieunternehmen ihre Auslandsproduktion seit dem Ende der 1960er Jahre merklich ausbauten. In einem zweiten Schritt ist nach den Umstrukturierungen zu fragen, die der Entscheidung zur Internationalisierung folgten. Dabei sind zum einen all­ gemeine Trends seit den 1970er Jahren – wie die Divisionalisierung der Unternehmensstruktur – herauszustellen, zum anderen gilt es, die Zielsetzungen und das Tempo interner Anpassungen an die veränderten Rahmenbedingungen zu untersuchen. Das als »Konsenskapitalismus«4 beschriebene politökonomische Modell der Nachkriegszeit kam an der Wende zu den 1970er Jahren allmählich an sein Ende, während die antikeynesianistische Wirtschaftstheorie mit ihrem Plädoyer für den Markt und gegen den Staat an Bedeutung gewann und sich auf Unternehmensebene eine zunehmende Orientierung am Markt durchsetzte. Drittens werden die Implikationen dieser Zielsetzung für die Beschäftigten am Beispiel Enka Glanzstoff exemplarisch herausgearbeitet. Indem der Basis­ konsens der beteiligten Akteursgruppen aufgebrochen und die Zahl anspruchsberechtigter Personenkreise infolge der Multinationalisierung  – über den nationalen Kontext hinaus – erweitert wurde, veränderten sich die ökonomischen Verteilungskonflikte und die Ausgangsbasis industrieller Beziehungen grundlegend. Die Verlagerung von Produktionsstätten erhöhte das Drohpotenzial der Unternehmensleitungen gegenüber ihren Belegschaften, die sich aufgrund des Niedergangs von Traditionsindustrien und steigender Arbeitslosigkeit ohnehin in einer defensiven Lage befanden. Der Eindruck, sich nach Jahrzehnten sicherer Arbeitsplätze und stabiler Tarifbeziehungen in einer Zeit wachsender Unsicherheit zu befinden, musste sich verfestigen. Regelmäßig wiederkehrende Phasen der Kurzarbeit oder der Arbeitslosigkeit engten die (materiellen) Handlungsmöglichkeiten der Beschäftigten ein, die die Folgen des Umbruchs in den Jahrzehnten nach dem Boom bewältigen mussten5.

4 Vgl. Julia Angster, Konsenskapitalismus und Sozialdemokratie. Die Westernisierung von SPD und DGB , München 2003. 5 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, S. 48 ff. und S. 118–121.

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2. Die Auslandsexpansion über Unternehmensakquisitionen und -fusionen Der Akzo-Konzern: Als sich der Glanzstoff-Vorstand im Februar 1966 für eine Neugestaltung der Zusammenarbeit mit seinem niederländischen Partnerunternehmen entschied, konnten beide Chemiefaserhersteller bereits auf eine langjährige Kooperation zurückblicken. Die niederländische N. V. Nederlandsche Kunstzijdefabriek (Enka)  und VGF hatten bereits 1921 eine Zusammenarbeit vereinbart, die während der Weltwirtschaftskrise 1929 zu einer Kapitalbeteiligung an der gemeinsamen Dachgesellschaft AKU ausgebaut worden war. Nachdem die deutschen Aktionäre infolge des Zweiten Weltkriegs enteignet worden waren, verständigten sich die deutsche und die niederländische Unternehmensleitung 1953 auf eine Neuregelung ihrer Beziehungen. Dabei wurde früheren deutschen AKU-Aktionären ein Minderheitenanteil an VGF-Aktien im Umfang von nominal 20 Millionen DM angeboten6. Der VGF-Leitung blieb eine paritätische Mitwirkung in den Führungsorganen der niederländischen Dachgesellschaft verwehrt, allerdings gelang es ihr, die unter dem Einfluss der nationalsozialistischen Autarkie- und Kriegspolitik entstandene, weitgehend eigenständige Führung des deutschen Unternehmensteils – der VGF – in der Bundesrepublik fortzusetzen7. Unter den Bedingungen einer prosperierenden Wirtschaft und des Siegeszugs der Chemiefaser mochte eine solche Lösung trotz ihrer organisatorischen Probleme tragen, in Zeiten abflauender Konjunktur und wachsender internationaler Konkurrenz war jedoch eine Neujustierung unumgänglich. Der zunehmende internationale Wettbewerb zeigte sich dem VGF-Vorstand vor allem in zwei Entwicklungen: Zum einen nahm die Zahl der außerhalb des transatlantischen Wirtschaftsraums angesiedelten Konkurrenten zu, zum anderen engagierten sich große Chemiekonzerne wie DuPont, Imperial Chemical Industries (ICI), Monsanto, Bayer oder Hoechst verstärkt in der Herstellung von Chemie­ fasern. Der VGF-Vorstand forderte deshalb 1966 eine engere Verzahnung der beiden Betriebsgesellschaften in der Rohstoffversorgung, in der Produktion und im Verkauf. Während die chemischen Großkonzerne auf den Chemiefasermarkt vordrangen, hatte VGF umgekehrt auf den Weg in die Rohstofferzeugung verzichtet. Die neuen Großanlagen von BASF und Bayer in Antwerpen ließen Überkapazitäten erwarten, und so war aus Sicht des VGF-Vorstands Mitte der 1960er mit der Produktion von Chemiefasern schlichtweg mehr Geld zu verdienen. Aufgrund des großen Rohstoffbedarfs der AKU/VGF-Gruppe rechnete sich 6 Vgl. Ludwig Vaubel, Glanzstoff, Enka, Aku, Akzo. Unternehmensleitung im nationalen und internationalen Spannungsfeld 1929 bis 1978, Bd. 1, Wuppertal 1986, S. 7–25 und S. 84–87; Ben Wubs, A Dutch Multinational’s Miracle in Post-War Germany, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2012/1, S. 15–41. 7 Vgl. Vaubel, Glanzstoff, S. 111–132.

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der Vorstand ohnehin Preisvorteile gegenüber den Lieferanten aus und glaubte sich wegen langjähriger Geschäftsbeziehungen gegenüber der BASF in einer Sonderstellung zu befinden8. Die Übernahme des Phrix-Konzerns, des viertgrößten westdeutschen Chemiefaserherstellers, durch die BASF im Jahr 1967 sollte VGF eines Besseren belehren und verdeutlichte die zunehmende Konkurrenz auf dem Inlandsmarkt9. Obschon die kurze Wirtschaftskrise von 1966/67 schnell überwunden war – für Glanzstoff war 1968 bereits wieder ein sehr erfolgreiches Jahr10 –, demonstrierte dieser Einbruch einer durch die Boomjahre geprägten Managergeneration die grundsätzliche Volatilität ökonomischer Entwicklungen11. Neben dieser Erfahrung und der steigenden internationalen Konkurrenz wirkte eine dritte Komponente entscheidend auf die Neugestaltung der AKU/VGF-Gruppe: die europäische Integration, die 1957 mit den Römischen Verträgen zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) begonnen und mit der schrittweise Realisierung des Gemeinsamen Markts bis zum Ende des Wirtschaftsbooms große Fortschritte gemacht hatte. Zwar waren AKU und VGF bereits lose aneinander gebunden, doch die Schaffung eines einheitlichen westeuropäischen Markts stellte die bisherige Abgrenzung der Interessengebiete der beiden Betriebsgesellschaften entlang nationaler Grenzen in Frage. Zudem sahen sich die Unternehmensleitungen gegenüber den expandierenden Großkonzernen der Chemieindustrie in der Defensive, wie in einer Stellungnahme der VGF-Unternehmensführung festgehalten wurde: »Durch den Wegfall der Zölle innerhalb der EWG, den Wegfall anderer Handelshemmnisse […], den Fortfall der Polyesterpatente und zunehmende Unternehmensverflechtungen unserer Abnehmer über nationale Grenzen hinweg tritt eine wachsende Verflechtung der europäischen Märkte ein. […] Das Auftreten von DuPont, ICI und Monsanto in Kontinentaleuropa sowie das Vordringen der großen Chemie­gesell­ schaften wie Bayer, Hoechst, Rhône-Poulenc und Montedison lässt Wettbewerbs­ formen entstehen, die ein Überdenken der optimalen Unternehmensgrösse für den zukünftigen Wettbewerb erforderlich machen.«12 8 Vgl. Werner Abelshauser, Die BASF seit der Neugründung 1952, in: ders. (Hrsg.), Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte, München 2002, S. 359–637, hier S. 497–503; Vaubel, Glanzstoff, S. 132 f. 9 Vgl. Abelshauser, Neugründung, hier S. 538 ff. und S. 607; Walter Teltschik, Geschichte der deutschen Großchemie. Entwicklung und Einfluss in Staat und Gesellschaft, Weinheim 1992, S. 221; vgl. auch die Artikel im Spiegel vom 10.8.1970: »Phrix-Werke AG: Nackt und bloß« und vom 17.8.1970: »Phrix-Werke AG: Unerschüttert bergab« sowie in der Zeit vom 26.5.1967: »Phrix-Werke AG: Unwissend«. 10 Vgl. Geschäftsbericht Glanzstoff 1968, S. 1. 11 Vgl. Werner Plumpe, Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart, München 2010, S. 93–96. 12 RWWA , 195-A2–32/33, Regelung zwischen AKU N. V. und Glanzstoff AG vom 23.5.1969; 195-A2–43, Gedanken zur möglichen Zusammenarbeit zwischen AKU und Glanzstoff (Hornef und Karus) vom 16.6.1967 (hier findet sich auch das Zitat).

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Die Generaldirektion für Wettbewerb der EWG -Kommission akzeptierte die Argumentation und betrachtete den Zusammenschluss von AKU und VGF letztlich als unternehmensinternes Problem ohne wettbewerbsrechtliche Bedeutung, ebenso stimmte das Bundeskartellamt der Fusion zu13. Die westdeutsche Presse hatte schon zuvor auf den wachsenden internationalen Wettbewerb aufmerksam gemacht. Unter dem Titel »Markt im Netz« wies »Der Spiegel« 1967 auf die neue Konkurrenz auf dem deutschen Kunst­ fasermarkt hin: »Deutschen Hosen, Teppichen und Gardinen droht Überfremdung.«14 Nach dem Auslaufen des Patentschutzes für Polyesterfasern Ende 1966 betraten mit ICI, DuPont und Kodak ausländische Chemiekonzerne den westdeutschen Kunstfasermarkt, der in den vorangegangenen zwölf Jahren zwei Produkten, Trevira von Hoechst und Diolen von Glanzstoff, vorbehalten war. Die Firmen mussten mit neuen Wettbewerbern auf den ausländischen Märkten konkurrieren und zugleich deren Eintritt in den heimischen Markt hinnehmen. In diesem Zusammenhang ließ sich in der Bundesrepublik die »amerikanische Herausforderung«15 konkret an der Höhe der US -Direktinvestitionen und der US -Exporte festmachen: Während 1964/65 noch Kanada und Lateinamerika vor der EWG an der Spitze der Investitionsziele bei US -Chemieunternehmen standen, übernahm ab 1966 die EWG diese Position; insbesondere die Bundesrepublik entwickelte sich zu einem beliebten Anlageland16. Zugleich überholten die USA die Bundesrepublik beim Export chemischer Erzeugnisse in den 1970er Jahren; so erhöhte sich auch der Einfuhranteil an der westdeutschen Inlandsmarktversorgung mit chemischen Erzeugnissen von 21 Prozent 1970 auf 35 Prozent 198217. Anders als einige wirtschaftswissenschaftliche Internationalisierungstheorien annehmen, gründete der Entschluss zur vollständigen Fusion von AKU/VGF weniger auf monopolistischen Eigentumsvorteilen – wegen der langen Zusammenarbeit hatte keine der beiden Betriebsgesellschaften entscheidende Vorsprünge auf den Feldern Technologie und Know How – oder auf Standortvorteilen, ebenso wenig auf Investitionsanreizen oder Skaleneffekten wie sie in John Dunnings bekanntem OLI-Paradigma angeführt sind18. Vielmehr schufen zeitspezifische 13 14 15 16

RWWA , 195-A2–29, Notiz für den Enka-Glanzstoff-Vorstand vom 19.1.1970. Der Spiegel vom 13.3.1967: »Markt im Netz«. Vgl. Jean-Jacques Servan-Schreiber, Die amerikanische Herausforderung, Hamburg 1968. Vgl. Klaus-Michael Loibl, US -Direktinvestitionen in der EWG . Das Beispiel der Chemieindustrie, Göttingen 1971, S.  21; Henry Krägenau, Internationale Direktinvestitionen 1950–1973. Vergleichende Untersuchung und statistische Materialien, Hamburg 1975, S. 140 f.; André Steiner, Die siebziger Jahre als Kristallisationspunkt des wirtschaftlichen Strukturwandels in West und Ost?, in: Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 29–48, hier S. 41. 17 Vgl. Wolf Rüdiger Streck, Chemische Industrie. Strukturwandlungen und Entwicklungsperspektiven, Berlin 1984, S. 303 und S. 312. 18 Vgl. John H.  Dunning/Sarianna M. Lundan, Multinational Enterprises and the Global Economy, Cheltenham 22008. Nach den drei Anfangsbuchstaben von Ownership, Local und Internalisation Advantages wird Dunnings Ansatz auch OLI- Paradigma genannt.

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polit­ökonomische Entwicklungen am Ende des Booms einen Kontext, der das bisherige Unternehmensmodell als fragwürdige Konstruktion erscheinen ließ. Der Versuch der VGF-Leitung, die durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Disparitäten zwischen niederländischer Unternehmenskontrolle und westdeutschem Produktionsschwerpunkt zu beseitigen, und das Bestreben beider Unternehmensteile, eine unternehmensinterne Konkurrenz auf dem entstehenden europäischen Markt zu verhindern, waren die maßgeblichen Motive für die Fusionsentscheidung. Die wachsende Unsicherheit hinsichtlich der ökonomischen Entwicklung und der zunehmende Wettbewerbsdruck untermauerten diesen Entschluss. Konkret bedeutete dies, dass die Unternehmensleitung über eine Zusammenarbeit in der Forschung, ein integriertes Marketingkonzept und die gemeinsame Erschließung neuer Geschäftsfelder künftig Kosten sparen wollte19. Im Rahmen der Unternehmensfusion wurde die niederländische AKU in eine reine Holding-Gesellschaft umgewandelt, die niederländischen Produktionsbetriebe wurden der neu gegründeten Enka N. V. unterstellt. Die Glanzstoff AG als deutscher Unternehmensteil blieb mit ihren Tochter- und Untergesellschaften in ihrer rechtlichen Form unverändert20. Obschon sich die VGF-Unternehmens­ leitung gegen eine Rückwärtsintegration in den Rohstoffbereich entschieden hatte, war sie sich der Problematik einer einseitig auf den Chemiefasermarkt ausgerichteten Produktionsstruktur bewusst und bemühte sich deshalb mit Abflauen der Konjunktur um eine Ausweitung ihrer Produktpalette. Der Plan, die AKU/VGF-Gruppe mit der Chemiesparte des teilweise in niederländischem Staatseigentum befindlichen Chemie- und Rohstoffunternehmens De Nederlandse Staatsmijnen zusammenzubringen, scheiterte Anfang 1969 an politischen Widerständen in den Niederlanden21. Ebenso hatte man die in den 1960er Jahren aufgekommene Idee, die BASF mit 25 Prozent am Aktienkapital von AKU/ VGF zu beteiligen, wieder verworfen. Nach Ansicht des VGF-Vorstandsvorsitzenden Ernst Hellmut Vits und des VGF-Vorstandsmitglieds Ludwig Vaubel konnten Glanzstoff und AKU aber nicht allein fortbestehen22. Die beiden gescheiterten Kooperationspläne zeigen das Bestreben der VGFLeitung, ihr Unternehmen mit aller Macht in einen größeren Firmenkomplex zu integrieren. Die ebenfalls 1969 in Gang gesetzten Fusionspläne mit dem niederländischen Chemiekonzern KZO führten denn auch bald zum Erfolg. Beide Seiten wollten ihre Wettbewerbsfähigkeit erhöhen und versprachen sich verbesserte Zugangschancen zum Kapitalmarkt sowie eine Streuung des unternehmerischen Risikos. Der Zusammenschluss von AKU und VGF hatte den größten Chemiefaserhersteller Westeuropa hervorgebracht, mit der Fusion zur Akzo 1969 fiel 19 RWWA , 195-A2–53, Gedanken zur möglichen Zusammenarbeit zwischen AKU und Glanzstoff vom 16.6.1967. 20 RWWA , 195-A2–29, Notiz über AKU/Glanzstoff-Besprechung vom 10.1.1969; vgl. auch Vaubel, Glanzstoff, S. 155 f. 21 RWWA , 195-A2–32/33, Protokolle Kommission Madrid vom 16.9. und 26.11.1968; 195A2-40, BRIZE (1968–1969); vgl. auch Vaubel, Glanzstoff, S. 167. 22 RWWA , 195-A2–43, Notiz von Vits vom 20.7.1967; vgl. auch Vaubel, Glanzstoff, S. 142.

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der Chemiefaseranteil von 85 auf 52 Prozent, gleichwohl sollten sich bald die Probleme dieser weiterhin stark auf Chemiefasern ausgerichteten Produktionsstruktur zeigen23. Die Hoechst AG: Für die Frankfurter Hoechst AG stellte die Rückeroberung der Auslandsmärkte neben dem Umstieg auf petrochemische Verfahren und Auseinandersetzungen um lukrative Unternehmensbeteiligungen zwischen den IG Farben-Nachfolgern ein zentrales Unternehmensziel dar24. Ähnlich wie die Leverkusener Bayer AG, die in der Nachkriegszeit über Vertretungen und Exporte den Weg in die Auslandsmärkte suchte, drang auch Hoechst über Handels- und Verkaufsvertretungen ins internationale Geschäft vor25. Mit dem Ende der al­ liierten Zwangsverwaltung 1952 erhöhte sich zum ersten Mal die Geschwindigkeit des Auslandsengagements. So schloss Hoechst in Brasilien 1949 einen Vertretervertrag mit der Pontosan S. A. ab, die 1957 in Hoechst do Brazil umbenannt wurde. Auch in Frankreich und Großbritannien begann die Rückerschließung der Märkte über Vertriebsvertretungen, wie die Société Peralta oder die Lawfer Chemical Company, die sich in den folgenden Jahren zu den typischen Landesgesellschaften (Société Française Hoechst und Hoechst U. K. Ltd.) entwickelten26. In den USA gründete Hoechst 1953 die Intercontinental Chemical Corporation (ICC). Auch hier erfolgte die Expansion zunächst über Beteiligungen an weiteren Vertriebsgesellschaften wie der Progressive Color & Chemicals Co. Inc. (1953), der Carbic Color & Chemical Company Inc. (1957) oder der Lloyd Brothers Inc. (1960), bevor ICC 1961 in American Hoechst Corporation umbenannt wurde27. Der Umsatzanteil ausländischer Produktionsstätten stieg seit Ende der 1950er Jahre kontinuierlich an und erreichte 1965 mit 582 Millionen DM immerhin 25 Prozent des Auslandsanteils28. Hier zeigte sich die allmähliche Umstellung der 23 RWWA , 195-A6–23, Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board of Management of AKU N. V. vom 26.8.1969; 195-A9–13, Eröffnungsrede von Jhr. G. Kraijenhoff HV der Akzo N. V. am 9.5.1974; vgl. auch Jonathan Steffen (Hrsg.), Tomorrow’s Answers Today. The History of AkzoNobel since 1646, Amsterdam 2008, S. 35–48; Vaubel, Glanzstoff, S. 167–175. 24 Vgl. Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2011, S. 429 f.; Ernst Bäumler, Farben, Formeln, Forscher. Hoechst und die Geschichte der industriellen Chemie in Deutschland, München 1989, S. 211–266; Paul Erker, Die Bayer AG . Entwicklungsphasen eines Chemiekonzerns im Überblick, in: Klaus Tenfelde u. a. (Hrsg.), Stimmt die Chemie? Mitbestimmung und Sozialpolitik in der Geschichte des BayerKonzerns, Essen 2007, S. 35–56, hier S. 45–49; Der Spiegel vom 12.1.1970: »Großchemie: Tausch um Mitternacht«. 25 Vgl. Erker, Bayer, S. 48; Patrick Kleedehn, Die Rückkehr auf den Weltmarkt. Die Internationalisierung der Bayer AG Leverkusen nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Jahre 1961, Stuttgart 2007, insbesondere S. 226–231, S. 267–299 und S. 349 ff. 26 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 138, Geschichte verschiedener Hoechst Gesellschaften Ausland, Länderblätter A-L: Brasilien, Frankreich, Großbritannien. 27 Hoechst-Archiv, Hoe. Ausl. 139, Geschichte verschiedener Hoechst Gesellschaften Ausland, Länderblätter M-Z: USA; vgl. auch Edward van Vlaanderen, Pronounced Success. America and Hoechst 1953–1978, o. O. 1979. 28 Vgl. Geschäftsbericht Hoechst 1965, S. 16.

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Auslandsaktivitäten von reinen Vertriebsgesellschaften zu Produktionsbetrie­ ben. Unter Rückgriff auf seine Auslandserfahrungen durchlief der westdeutsche Chemiekonzern die unterschiedlichen Phasen des Internationalisierungsprozesses – wie sie vereinfacht im Uppsala-Modell dargestellt sind29 – im Parforceritt. Marktspezifisches Wissen erklärt nur einen Teil  dieser Expansionsbewegung. Hier wirkten besonders die Erwartungen der Zeitgenossen gegenüber der zukünftigen Entwicklung der Auslandsmärkte und Erfahrungen aus der Zeit vor 1945 zusammen. Bis 1965 blieb der gesamte Auslandsumsatz der HoechstGruppe allerdings noch unter der 50-Prozent-Marke, erst 1967 lagen Inlandsumsatz und Auslandsumsatz der Farbwerke Hoechst AG gleich auf. Dieser Wert stieg bis 1975 auf zwei Drittel des Weltumsatzes an und demonstriert die rasch wachsende Bedeutung des Auslandsmarkts am Ende des Booms. In diesem Zeitraum erhöhte sich zum zweiten Mal das Tempo der Expansion auf auslän­ dische Märkte30.

3. Die Umstrukturierung der Unternehmensorganisation Mit dem Ausbau des Auslandsgeschäfts und der Akquisition inländischer Unter­ nehmen war die Frage nach einer angemessenen Organisationsstruktur verbunden. Die vor allem in den USA fortgeschrittene Divisionalisierung war zu dieser Zeit von einer geheimnisvollen Aura des Erfolgs umgeben, an dem die euro­ päischen Unternehmen ebenfalls partizipieren wollten. Eine divisionale Unternehmensstruktur implizierte eine entlang von Produktlinien oder geographischen Regionen gegliederte Organisation, in der alle operativen Tätigkeiten in der jeweiligen Division ausgeübt wurden, während die bis dahin typische funktionale Unternehmensstruktur nach entsprechenden Aufgaben geordnet war. Mit dem Auslaufen hoher ökonomischer Wachstumsraten und fallenden Gewinnmargen erschien eine effiziente Organisation unumgänglich, und die Manager maßen der divisionalen Unternehmensstruktur eine größere Nähe zum Markt und damit mehr Effizienz bei. In der westdeutschen Chemieindustrie fiel diese Entwicklung mit der Flur­ bereinigung der Kapitalbeteiligungen zwischen den Nachfolgeunternehmen der IG Farben zusammen, deren Abschluss Gelegenheit zur Neuregelung der internen Organisationsstruktur bot. So legten BASF, Bayer und Hoechst zu Beginn 29 Vgl. Jan Johanson/Jan-Erik Vahlne, Learning in the Internationalisation Process of Firms. A Model of Knowledge Development and Increasing Foreign Market Commitments, in: International Business Studies 8 (1977) H. 1, S. 23–32. Nach dem Uppsala-Modell lässt sich Internationalisierung als ein auf marktspezifischem Wissen basierender Lernprozess über eine Reihe sukzessiver Transaktionsformen auf Auslandsmärkten (Export, Auslands­ vertretungen et cetera) erklären. 30 Vgl. Geschäftsbericht Hoechst 1970, S. 72 f., Geschäftsbericht Hoechst 1975, S. 78; Handelsblatt vom 16.9.1970: »Deutsche Firmen bauen mehr im Ausland«.

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der 1970er Jahre ihre funktionale Gliederung ab31. Hoechst war seit 1952 in Sparten aufgeteilt, welche die Produktionsstruktur des Unternehmens widerspiegelten. Der Vorstand leitete aus dem verstärkten Auslandswachstum nun zwei Konsequenzen ab: Zum einen legte er 1970 zum ersten Mal einen Welt­ abschluss des Konzerns vor, zum anderen implementierte er im selben Jahr eine neue Organisationsstruktur, die sich stärker als bisher am Ordnungsmodell der divisionalen Unternehmensorganisation orientierte32. Die grundlegende Neuerung bestand darin, dass die neuen Geschäftsbereiche eigenständiger agieren konnten, um­gekehrt oblag den neuen Bereichsleitungen aber auch eine größere unternehmerische Verantwortung. Die neuen Produktbereiche sollten schneller auf Marktentwicklungen reagieren und flexible Lösungen kreieren. Neu geschaffen wurde das Ressort Auslandsproduktion, das die steigende Bedeutung des Auslandsmarkts ausdrückte33. Im Grunde handelte es sich bei der neuen Organisationsstruktur um eine Matrixorganisation. In ähnlicher Weise richtete auch der Leverkusener Bayer-Konzern 1971 seine Unternehmensstruktur divisional aus, ergänzte diese aber ebenso um Werksverwaltungen und Zentralbereiche. Mit der Neuorganisation schuf der Bayer-Vorstandsvorsitzende Kurt Hansen zudem eine Abteilung Organisation, die die ständige Verbesserung der Organisationsstruktur zur Aufgabe hatte und die permanente Neuorganisation der Unternehmensstruktur nach sich zog34. Nachdem sich die Aussichten mit der zweiten Ölpreiskrise erneut verdüstert hatten, nahm Hoechst 1981 eine weitere Umstrukturierung vor, wobei die Abteilung für Betriebsorganisation in die Zentrale Direktionsabteilung eingegliedert wurde. Mit dieser Aufwertung organisatorischer Belange machte die Unternehmensführung deutlich, dass sie dem Aufbau des Unternehmens einen hohen Stellenwert zur Gewinnmaximierung beimaß. Die Unternehmensstruktur selbst wurde zu einer ökonomischen Ressource. Die ständige Überprüfung und Änderung der Organisationsstruktur entwickelte sich zur betrieblichen Routine und so folgten in den 1980er Jahren weitere Neugliederungen35. Restrukturierung wurde in den 1970er und 1980er Jahren zu einem zentralen Bestandteil der Unternehmenspolitik von US -Konzernen, deren Strategie zunehmend auf dem Prinzip von merger & acquisition beruhte. »By the late 1960s growth through the acquisition of enterprises […] had become almost a mania.«36 Doch während 31 Vgl. Abelshauser, Neugründung, S. 469–478, und Bäumler, Farben, S. 311 ff. 32 Vgl. Geschäftsbericht Hoechst 1969, S. 14, und Geschäftsbericht Hoechst 1970, S. 9 33 Vgl. Geschäftsbericht Hoechst 1969, S. 14 f.; Anna Elisabeth Schreier/Manuela Wex, Chronik der Hoechst Aktiengesellschaft 1863–1988, Frankfurt a. M. 1990, S.  285; Hoechst-­ Archiv, Hoe 42 C/2/1/d Jahrgang 3/Firmengeschichte Hoechst AG 1952–1976: Auszüge aus den Erläuterungen von Karl Winnacker zum Geschäftsbericht 1968. Pressekonferenz vom 21.4.1969. 34 Vgl. Erker, Bayer, hier S. 48 f. 35 Vgl. Schreier/Wex, Hoechst, S. 325, S. 333 und S. 344. 36 Alfred D. Chandler, Strategy and Structure. Chapters in the History of the Industrial Enterprise, Cambridge (Mass.)/London 1990, Introduction.

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Alfred D. Chandler Umstrukturierungen im Wesentlichen noch als Reaktion auf zuvor eingeleitete Diversifizierungs- und Expansionsstrategien begriff, setzte nun langsam ein verselbstständigter Prozess permanenter Reorganisation ein, dessen Ziel größere Marktnähe war und dessen Durchschlagskraft sich erst in den Um- und Ausgliederungen der 1990er Jahre zeigen sollte37. Im Fall des Akzo-Konzerns bestanden bei der niederländischen AKU schon vor 1969 Produktgruppen, VGF war hingegen noch rein funktional organisiert. Obwohl die Betriebsgesellschaften in der Bundesrepublik und in den Niederlanden eigenständig operierten, verständigten sich die Manager auf ein grenzüberschreitendes, grundsätzlich divisionales Organisationsprinzip. Von diesem Zeitpunkt an oblag die Verantwortung für Entwicklung, Produktion, Verkauf und Rentabilitätskontrolle den einzelnen Produktbereichen, einige übergeordnete Verantwortlichkeiten blieben jedoch funktional getrennt. Damit wandten sich die Manager des Chemiefaserherstellers gegen Vorschläge der Beraterfirma McKinsey & Company, die sich für die konsequente Einführung einer divisionalen Organisationsstruktur ausgesprochen hatte38. Die Führungsorgane setzten einen Kompromiss zwischen funktionaler und divisionaler Führungsstruktur durch und befanden sich hiermit – wie Hoechst und Bayer – im Mainstream westdeutscher Unternehmensorganisation39. Nachdem ein länderübergreifender Protest der Beschäftigten von Enka Glanzstoff einen vom Management vorgelegten »Strukturplan 1972« abgewehrt hatte, der die schrittweise Schließung von Produktionsbetrieben in Breda, Wuppertal-­ Barmen, Zwijnaarde und Rorschach vorgesehen hatte, geriet die Fasersparte des Akzo-Konzerns Mitte der 1970er Jahre tief in die roten Zahlen40. Der VGFAufsichtsratsvorsitzende und Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Franz­ Heinrich Ulrich, konnte die rasant steigende Anhäufung von Verlusten nur mit Verwunderung registrieren. Er forderte in Einklang mit dem Vorstand von Enka 37 Vgl. ebenda, S. 380–395; Klaus Dörre/Bernd Röttger, Das neue Marktregime – Zwischenbilanz einer Debatte, in: dies. (Hrsg.), Das neue Marktregime. Konturen eines nach­ fordistischen Produktionsmodells, Hamburg 2003, S. 312–323; Dieter Sauer, Von der systemischen Rationalisierung zur permanenten Reorganisation. Lange und kurze Wellen der Unternehmensreorganisation, in: Andrea Baukrowitz u. a. (Hrsg.), Informatisierung der Arbeit – Gesellschaft im Umbruch, Berlin 2006, S. 84–97. 38 Vgl. Michael Faust, Consultancies as Actors in Knowledge Arenas. Evidence from Germany, in: Matthias Kipping/Lars Engwall (Hrsg.), Management Consulting. Emergence and Dynamics of  a Knowledge Industry, Oxford 2002, S.  146–163; Matthias Kipping, The U. S. Influence on the Evolution of Management Consultancies in Britain, France, and Germany Since 1945, in: Business and Economic History 25 (1996) H. 1, S. 112–123; Christopher D. McKenna, The World’s Newest Profession. Management Consulting in the Twentieth Century, Cambridge (Mass.)/New York 2006, S. 165–191. 39 RWWA , 195-A2–29, Notiz betr. Neuordnung der Beziehungen AKU/Glanzstoff vom 4.2.1969; 195-A2–38, Sonderprotokoll der gemeinsamen AKU/Glanzstoff-Vorstands­bespre­ chung am 5.12.1968. 40 Vgl. Vaubel, Glanzstoff, S. 184–188. Die deutsche und die niederländische Betriebsgesellschaft firmierten seit 1972 unter dem einheitlichen Namen Enka Glanzstoff.

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Glanzstoff einen radikalen Kurswechsel, da er den Bestand des gesamten Unternehmens gefährdet sah41. Insbesondere verabschiedete sich die Unternehmensführung von den strategischen Wachstumszielen für die kommenden Jahre und ging zur einer reinen »Survival Strategie« über42. Angesichts der aussichts­losen Lage nahmen die Vorstandsmitglieder von Enka Glanzstoff 1975 eine erneut von McKinsey-Beratern unterbreitete Marktstudie wesentlich ernster als deren frühere Vorschläge einer divisionalen Organisationsstruktur43. Die Vermarkt­ lichung des Unternehmens schritt somit auf unterschiedlichen Ebenen zeitgleich voran. Zum einen maß bereits das während der Fusion eingeführte divisionale Prinzip dem Markt größere Bedeutung bei; die konsequent an der Marktsituation einzelner Faserprodukte ausgerichtete Studie McKinseys verstärkte diesen Effekt nochmals. Zum anderen machten die Berater ihre eigene Position als externe Marktanalysten und Organisationsberater dauerhaft nahezu unverzichtbar, entriegelten damit den Zugang zu den Vorstandsetagen und lösten die starren Grenzen des Unternehmens auf44. Im Unterschied zu den Gewerkschaften zeigten die Betriebsräte aufgrund eines Verlusts der Enka Glanzstoff-Gruppe von 488 Millionen DM für 1975 größere Kompromissbereitschaft und ließen sich Anfang 1976 unter Abschluss eines Sozialplans und eines Interessenausgleichs auf die Schließung von Werken und den Abbau von Arbeitsplätzen ein45. Doch Enka Glanzstoff kam nicht aus den roten Zahlen, so dass weitere Faserfabriken geschlossen und neue Umstrukturierungen angestoßen wurden. Abermals war die gutachterliche Expertise von McKinsey gefragt, deren neue Portfolio-Studie 1976 auf eine Ren­dite­anglei­ chung aller Divisionen abzielte. »Product groups that have a […] insufficient ROI […], can no longer count on Akzo for additional financing and therefore may look for partnerships […] or a new home.«46 Dadurch wurde die Messlatte für die Fasersparte nochmals höher gelegt und der Druck auf die Beschäftigten verstärkt. Auf organisatorischer Ebene entschied sich das Management dafür, die verbliebenen rentablen Chemiefaserinteressen des Akzo-Konzerns 1977 unter dem Dach der neuen Enka-Gruppe zu bündeln und damit die nationale Trennung im Faserbereich endgültig aufzuheben. In Verbindung mit einem umfassenden Abbau von Faserkapazitäten im Rahmen des europäischen Struktur­ 41 RWWA , 195-B0–59, Ulrich an Zempelin vom 19.9.1975. 42 RWWA , 195-Z0–3546, Antwort des EG -Vorstands vom 20.10.1975. 43 RWWA , 195-A6–22, Personal Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board of Management of Akzo N. V. vom 17.7.1975; 195-A6–23, Personal Notes of the Meeting of the »Gemachtigde Commissarissen« vom 24.6.1975. 44 RWWA , 195-B0–58, Deutsche Übersetzung des Aktionärsbriefs vom 24.11.1975; 195-B0– 59, Gefährdet Gewerkschafts-Strategie Arbeitsplätze? Enka Glanzstoff tief in roten Zahlen vom 25.10.1975 und Presseerklärung des EG -Vorstands vom 23.10.1975. 45 RWWA , 195-B0–59, Interessenausgleich und Sozialplan vom 6.2.1976; vgl. auch Vaubel, Glanzstoff, S. 189 ff. 46 RWWA , 195-A6–22, Personal Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board Management of Akzo NV vom 25.2.1976.

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krisenkartells und der ökonomischen Erholung in den 1980er Jahren verbesserte sich auch das Enka-Betriebsergebnis wieder47. Doch auch in den folgenden Jahren war die Reorganisation des Unternehmens ein Dauerthema. Der steigende Bedeutungsgewinn von Rentabilitäts- und Marktaspekten zeigte sich schließlich 1988 in der Einführung ergebnisverantwortlicher Business Units, die das »unternehmerische Denken in allen Bereichen stärken und zu einem flexibleren und effizienterem Auftreten im Markt beitragen«48 sollten. Hierbei wurde die frühere Divisions-Ebene aufgelöst und in die neue Corporate-Management-Holding-Ebene integriert. Zeitgleich versuchte das Management, das Erscheinungsbild des Unternehmens am Markt durch die Implementierung einer einheitlichen Corporate Identity zu stärken. Das 1987 gestartete Corporate Identity-Programm stellte in Verbindung mit der Einführung von Business Units den tiefsten Einschnitt in die Organisationsstruktur seit der Fusion 1969 dar. Von nun an war der Akzo-Konzern in vier Gruppen­ (Chemie, Coatings, Fasern, Pharma) mit insgesamt 35 Business Units aufgeteilt, die jeweils vollständig eigenverantwortlich agierten. Die Konzernspitze war primär für die Entwicklung und Festlegung von Kernkompetenzen zuständig. Strukturell schwache Arbeitsgebiete sollten konsequent veräußert, das Portfolio entsprechend bereinigt werden49. Mit dieser zwischen 1987 und 1993 durchgesetzten Organisationsänderung verhalf das Management dem Markt als übergeordnetem Leitprinzip endgültig zum Durchbruch und machte in gewisser Weise den letzten Akt von Enka Glanzstoff  – die Veräußerung und anschließende Zerschlagung der 1999 in Acordis umbenannten Fasersparte – vorhersehbar, denn die Umstellung auf Business Units erleichterte die Abtrennung einzelner Produktionsgebiete. In ähnlicher Weise wandelte auch Hoechst 1991 seine Geschäftsbereiche in ergebnisverantwortliche Business Units um. Die Umgestaltung des Akzo-Konzerns war demzufolge kein Ausnahmefall, vielmehr steht sie exemplarisch für eine breitere, über das Einzelunternehmen hinausgehende Entwicklung50.

47 Vgl. Geschäftsberichte der Enka Glanzstoff AG 1976, S. 14 ff., und 1977, S. 7; Geschäfts­ bericht Akzo 1977, S.  6 f.; Harm G. Schröter, Kartelle als Kriseninstrumente in Europa nach 1970. Das Beispiel des europäischen Chemiefaserkartells, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (2012) H.  1, S.  87–102; RWWA , 195-B0–58, Information für die Führungskräfte 4/1977: »Akzo faßt Chemiefaser-Unternehmen zusammen« und Information für die Führungskräfte 6/1977: »Das Zukunftsbild von Enka Glanzstoff«; 195-B0–59, Zempelin an Vaubel vom 5.2.1976. 48 Geschäftsbericht Enka 1988, S. 5. 49 Vgl. Geschäftsberichte Akzo 1991, S. 4 f., und 1992, S. 4 f. 50 Vgl. Wolfgang Menz/Steffen Becker/Thomas Sablowski, Shareholder-Value gegen Beleg­ schaftsinteressen. Der Weg der Hoechst AG zum »Life-Sciences«-Konzern, Hamburg 1999, S. 91–94.

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4. Standortkonkurrenz Der Enka Glanzstoff-Vorstand wollte weg vom negativen Image, eine »undurchsichtige Organisation« zu sein, »verbeamtet, konservativ, entschlußträge […], unbeweglich«51, und das Unternehmen als kreative Kraft der westeuropäischen Wirtschaft präsentieren. Die Aufwertung von Markt, Image und Rentabilität zeigte sich in zahlreichen Umstrukturierungen und zog tiefgreifende Veränderungen für die Beschäftigten nach sich, deren Arbeitsplatzsicherheit rapide abnahm. Ein Arbeiter von Enka Glanzstoff kommentierte den »Strukturplan 1972« nicht umsonst mit den Worten: »Ich habe 4 Zechenschließungen miterlebt. Als ich anfing, war ich 48 Jahre. Man hat mir gesagt, daß hier eine Zukunft ist. Jetzt glaube ich nicht mehr, daß wir noch Arbeit kriegen.«52 Einerseits waren die Unternehmer gezwungen, ihre Profitstrategie an die veränderten Bedingungen des Weltmarkts anzupassen, andererseits war der Entschluss zur Expansion eine bewusste strategische Entscheidung53. Aufgrund der multinationalen Ausrichtung ihrer Konzerne stand den Managern vermehrt die Option zur Verlagerung von Produktionsstätten aus rein gewinnmaximierenden Gründen zur Verfügung. Das Drohpotenzial gegenüber den Beschäftigten nahm damit angesichts steigender inländischer Arbeitslosenzahlen deutlich zu. Die beschleunigte Multinationalisierung blieb deshalb nicht ohne Folgen für die Einstellung der Beschäftigten zu ihrer Arbeit, für die Belegschaftsstrukturen der Unternehmen und für die Arbeitsbeziehungen in der westeuropäischen Chemieindustrie54. Im Fall von Enka Glanzstoff lassen sich diese Auswirkungen exemplarisch am Aufbau einer Produktionsstätte für Stahlkord, das bei der Herstellung von Auto­ reifen, Transportbändern und Keilriemen Verwendung fand, im irischen Limerick und dem Arbeitsplatzabbau in der Krise 1975 zeigen. Bereits das Memorandum des VGF-Vorstands 1966 beinhaltete den Hinweis, möglichst optimale Betriebsgrößen im neuen multinationalen Konzern anzustreben55. In den 1970er Jahren gewann die Diskussion um die richtige Betriebs51 RWWA , B6–1-29, Marktforschung und Volkswirtschaft, TVE -Wuppertal: Das Image von Enka Glanzstoff bei Textilfirmen in BRD und Benelux, Juli 1975. 52 Zit. nach: Pierre Hoffmann/Albert Langwieler, Noch sind wir da! Arbeiter im multinationalen Konzern. Der Erfolg des ersten internationalen Solidaritätsstreiks in Westeuropa, Reinbek 1974, S. 29. 53 Vgl. Klaus Dörre, Globalisierung  – eine strategische Option. Internationalisierung von Unternehmen und industrielle Beziehungen in der Bundesrepublik, in: Industrielle Beziehungen 4 (1997) H. 4, S. 265–290. 54 Vgl. Harm G. Schröter, European Integration by the German Model? Unions, Multinational Enterprise and Labour Relations since the 1950s, in: Ulf Olsson (Hrsg.), Business and European integration since 1800: regional, national and international perspectives, Göte­ borg 1997, S.  85–99; Petra Struve, Multinationale Konzerne in der chemischen Industrie der Bundesrepublik Deutschland, in: Klaus Peter Kisker u. a. (Hrsg.), Multinationale­ Konzerne. Ihr Einfluss auf die Lage der Beschäftigten, Köln 1982, S. 281–313. 55 Vgl. Vaubel, Glanzstoff, S. 132.

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größe und den richtigen Produktionsstandort angesichts der Rezession nochmals an Fahrt. Während der kurzen konjunkturellen Abkühlung 1966/67 konnten die Produktionskapazitäten von Glanzstoff erstmals nur unbefriedigend genutzt werden, doch bereits 1968 sahen die Manager wieder einer erfreulicheren Zukunft entgegen56. Eine Rückkehr zur Wachstumssituation der Boomjahre schien in greifbarer Nähe, allerdings verstellten die positiven Zahlen den Blick auf strukturelle Probleme der Chemiefaserbranche und Schwierigkeiten im internationalen Finanzsystem. Für den westdeutschen Unternehmensteil sollte vor allem der Niedergang der inländischen Textilindustrie zu einer Belastung werden. Im Unterschied zu anderen Branchen war die Globalisierung der Textilindustrie aufgrund geringerer Fertigungskosten in Schwellen- und Entwicklungsländern, gesunkener Transportkosten und neuer Kommunikationsmöglichkeiten kaum aufzuhalten. Traditionsreiche Textilunternehmen wie Ludwig Povel & Co. in Nordhorn schlossen Ende der 1970er Jahre endgültig ihre Werkstore; die Textilgruppe van Delden, die Povel 1969 übernommen hatte, meldete wenig später Konkurs an57. Auch wenn die Unternehmensstrategie vornehmlich auf Wachstum in traditionellen Chemiefasersegmenten angelegt war, blieben dem Vorstand die Probleme der Abnehmerbranche keineswegs verborgen, und so bemühte er sich neben der Diversifikation der Produktpalette über den Zusammenschluss mit der KZO Gruppe um eine Ausweitung des eigenen Produktprogramms. Im Mittelpunkt stand hierbei unter anderem die Aufnahme der Produktion von Stahlkord zur Herstellung von Pkw- und Lkw-Reifen. Zwar befanden sich auch einige Automobilfirmen Anfang der 1970er Jahre in einer wenig komfortablen Lage, allerdings stufte der Vorstand die Automobilindustrie, die zu flexibleren Massen­ produktionsformen mit Baukastensystemen überging, als Branche mit günstigen Zukunftsaussichten ein58. Gleichzeitig beteiligte sich AKU/VGF Ende der 1960er Jahre an der Schließung kleinerer Reifengarnfabriken, um den Markt in der EWG zu stabilisieren und eine möglichst hohe Auslastung der eigenen Kapazitäten zu garantieren. So vereinbarten AKU und Continental Tire the ­Americas mit Courtaulds 1968, sich mit 1,3 Millionen französischen Francs an den Still­ legungskosten eines Werks in Calais zu beteiligen59. 56 Vgl. Geschäftsberichte Glanzstoff 1966, S. 1, 1967, S. 1, und 1969, S. 1 f.; Plumpe, Wirtschaftskrisen, S. 93 ff. 57 Vgl. Stephan H. Lindner, Die westdeutsche Textilindustrie zwischen »Wirtschaftswunder« und Erdölkrise, in: Jarausch (Hrsg.), Ende der Zuversicht, S. 49–67; Die Zeit vom 13.9.1985: »Folgen einer Pleite«. 58 Vgl. Wolfgang König, Massenproduktion und Konsumgesellschaft. Ein historischer und systematischer Abriss, in: Heinz-Gerhard Haupt/Claudius Torp (Hrsg.), Die Konsum­ gesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt a. M./New York 2009, S. 46–61, hier S. 56 ff.; Stephanie Tilly/Florian Triebel (Hrsg.), Automobilindustrie 1945– 2000. Eine Schlüsselindustrie zwischen Boom und Krise, München 2013. 59 RWWA , 195-A2–38, Notiz Schlange-Schöningens an Karus vom 31.10.1968 und Protokoll der gemeinsamen AKU/Glanzstoff-Vorstandsbesprechung am 7.11.1968.

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Nachdem sich AKU und VGF im Juli 1968 darauf verständigt hatten, die bestehende Stahlkord-Produktion in Oberbruch der Zuständigkeit der VGF zu unterstellen, wuchs der Ausstoß mit dem Übergang zur Großproduktion 1969 auf fast 300 Monatstonnen an60. Parallel dazu fiel die Entscheidung für den Aufbau weiterer Kapazitäten. Statt den vorhandenen Standort in Westdeutschland zu erweitern, nahm die VGF-Leitung Anfang 1970 Gespräche mit der irischen Regierung sowie mit den Reifenherstellern Goodyear und Firestone auf und kam zu dem Schluss: »Owing to special facilities given by the government of the Irish R ­ epublic an economic exploitation in Ireland is reality.«61 Während ein profitabler Ausbau der Stahlkord-Produktion in der Bundesrepublik oder den Niederlanden unmöglich sei, schätzte der Akzo-Vorstand die Aussichten durch Zugeständnisse der irischen Regierung günstiger ein. Allerdings regte sich auch Widerstand gegen diese Sicht. H. M. van Mourik Broekman, Aufsichtsratsmitglied der Akzo, wies auf einer Sitzung im Mai 1970 auf die niedrige Kapitalrendite des Projekts hin und stellte klar, dass selbst dieser geringe Ertrag nur aufgrund der Zugeständnisse der irischen Regierung, die eine Steuerfreiheit über 15 Jahre garantiert hatte, zu erreichen sei. Doch die übrigen Mitglieder des Akzo-Vorstands und des Akzo-Aufsichtsrats, dem auch Hermann Josef Abs, Hans L. Merkle und Otto Wolff von Amerongen angehörten, unterstützten den Plan. Besonders der stellvertretende Akzo-Vorstandsvorsitzende G ­ ualtherus Kraijenhoff setzte sich für das Werk in Limerick mit einer Produktionskapazität von 17.500 Jahrestonnen ein, für das Gesamtinvestitionen in der Höhe 182 Millionen Gulden anfielen; die irische Regierung stellte 64 Millionen Gulden über Subventionen und andere Hilfen zur Verfügung, Goodyear hielt ein Darlehen über 24 Millionen Gulden bereit. Zwar versprach die Produktion kaum Gewinne, allerdings gab es auch nur ein geringes unternehmerisches R ­ isiko62. Für einen multinationalen Konzern, dessen Standortpolitik nicht mehr an einen nationalen Heimatmarkt gebunden war, bot der Aufbau einer Fabrikation in Irland angesichts staatlicher Hilfen und mit Blick auf die Belieferung des britischen Markts wesentlich bessere Möglichkeiten als die Erweiterung der deutschen Produktion. Als sich die wirtschaftliche Lage von Enka Glanzstoff 1975 kritisch zuspitzte, griff das Management auf den »Strukturplan 1972« zurück und machte unter Hinweis auf eine unumgängliche »Bereinigung der Betriebsstruktur«63 den Vorschlag, 5700 Arbeitsplätze zu streichen, davon 4700 in der Bunderepublik und den Niederlanden. In dieser Situation zeigte sich, dass das von den Gewerkschaften 60 RWWA , 195-A2–38, Protokolle der gemeinsamen AKU/Glanzstoff-Vorstandsbesprechungen am 10.7.1968 und 8.7.1969; B5–2-40, Referat von Vits am 28.01.1969. 61 RWWA , 195-A6–21, Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board Management of Akzo N. V. vom 6.5.1970. 62 RWWA , 195-A6–21, Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board Management of Akzo N. V. vom 6.5.1970, Notes of the Secretary of the Meeting of the Supervisory Council and the Board Management of Akzo N. V. vom 23.6.1970; 195-A2–40/41, Minutes of the Azaku Meeting vom 14.04.1970. 63 Vaubel, Glanzstoff, S. 184.

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propagierte Prinzip der Belegschaftssolidarität, das 1972 noch mit einer gemeinsamen Aktion in unterschiedlichen Ländern erfolgreich war, an seine Grenzen stieß. In der einheitlichen Front der Arbeitnehmer traten nun Risse entlang der nationalen Grenzen auf. So wies der Arbeitnehmervertreter und Oberbrucher Betriebsratsvorsitzende Leo Capell im Aufsichtsrat von Enka Glanzstoff auf das Missverhältnis zwischen der Bundesrepublik (7,7 Prozent) und den Nieder­landen (4,3 Prozent) beim Personalabbau seit 1974 hin und warnte vor Unruhe in der Belegschaft, sollten diese Zahlen publik werden. Falls ein Arbeitsplatzabbau erforderlich sei, sollte er beide Länder gleichermaßen treffen. Hans Günther Zempelin, Vorstandsmitglied von Enka Glanzstoff, griff das Argument bereitwillig auf, wonach unter Berücksichtigung des Belegschaftsverhältnisses und der Vorleistungen auf deutscher Seite etwa 600 bis 800 Arbeitsplätze weniger abgebaut werden müssten64. Damit schloss sich Zempelin zwar der Argumentation der Arbeitnehmerseite an, die Frage aber, ob der Verlust von Arbeitsplätzen grundsätzlich zu vermeiden sei, trat in den Hintergrund und entwickelte sich zu einer Auseinandersetzung über eine angemessene Lastenverteilung zwischen den Beschäftigten. Zempelin hatte sich 1973 für den Standort Oberbruch stark gemacht und auf einen Effizienzvergleich gedrängt, der die strukturelle Bedeutung von Großwerken wie Oberbruch bei der künftigen Firmenstrategie und die sozialen Probleme im Inland berücksichtigen sollte. In diesem Sinne hatte er sich in den Verhandlungen der Führungsetage um eine Erweiterung der Stahlkord-Produktion in Limerick oder Oberbruch gegen die Hinweise des Controllers gewandt, der aufgrund der steuerlichen Begünstigung in Irland einer Investition dort stets den Vorzug gab. Insbesondere belasteten Forschungskosten das Oberbrucher Werk stärker, da die Fabrik in Limerick noch nicht den vollen Anteil trug65. Zem­pelin verkörperte einerseits noch den Managertypus der alten »Deutschland AG«, der neben Renditezielen und den Interessen seines Unternehmensteils auch den deutschen Produktionsstandort insgesamt im Blickfeld hatte; andererseits war er am Ausbau des Auslandsgeschäfts beteiligt und konnte sich den Folgen dieser Entwicklung – wie der Abwägung nach Rentabilitätskriterien im Rahmen einer internationalen Standortwahl – nicht entziehen. Infolge der nachlassenden Nachfrage musste die Stahlkord-Produktion ab Herbst 1974 in Oberbruch und Limerick gedrosselt werden. Obschon dem Stahlkord-Betrieb in Oberbruch ein Jahr zuvor der Durchbruch zu einer positiven Ergebnisentwicklung gelungen war, wurde sein Fortbestand in der Krise grundsätzlich in Frage gestellt66. In dieser Situation übten die Gewerkschaften massive Kritik an der gesamten Akzo-Standortpolitik, da der Konzern in Brasilien und Ecuador, aber auch in anderen Staaten wie Irland neue Chemiefaserwerke errich64 RWWA , 195-B5–2-39, Niederschrift über die 277. Außerordentliche Sitzung des Aufsichtsrats der Enka Glanzstoff AG am 24.9.1975. 65 RWWA , 195-D2–1-3–27, Nau an Zempelin vom 23.8.1973 und vom 16.10.1973, Notiz­ Zempelins für Meyer vom 27.8.1973. 66 RWWA , 195-D2–1-3–27, Notiz Meyers für Zempelin vom 18.10.1974, Nau an Zempelin vom 16.10.1973 und vom 28.10.1974, Werk Oberbruch Direktion an Vorstand vom 25.11.1975.

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tet hatte. Dies sei mit ungünstigen Währungsparitäten und gestiegenen Lohnkosten in der Bundesrepublik und den Niederlanden begründet worden, so dass man zu wenig in die heimischen Standorte investiert habe. Standortverlagerungen wurden in diesem Zusammenhang eher als Form der Gewinnsteigerung angesehen und weniger als Mittel, um neue Märkte zu erobern. Dabei gab ­Zempelin auf die Frage eines Arbeiters, warum in Irland ein Werk errichtet werde, während in Westdeutschland Arbeitsplätze gestrichen würden, unumwunden zu: »Weil uns der irische Staat 10 Jahre lang Steuerfreiheit gewährt hat.«67 Damit verwies er nicht nur auf die neue, vom nationalen Kontext weitgehend losgelöste Standortpolitik multinationaler Konzerne. Seine Antwort zeigte auch, dass sich staatliche Akteure zunehmend um die Attraktivität ihrer Industriestandorte bemühen und Zugeständnisse an die Kapitalseite machen mussten. Letztlich blieb die Stahlkord-Produktion in Oberbruch erhalten; die Anpassungsmaßnahmen 1975/76 konzentrierten sich dagegen auf einen Kapazitätsabbau bei textilem Polyamid-Filamentgarn an den Standorten Wuppertal, Obernburg, Kelsterbach und Emmen sowie bei textilem Viskose-Filamentgarn in Arnheim, die Aufgabe der Zellwolle-Produktion in Kassel sowie die Verlagerung von Texturier-Kapazitäten von Waldniel nach Oberbruch und Breda. Der Gesamtbetriebsrat des deutschen Unternehmensteils vereinbarte 1976 einen Interessenausgleich und einen Sozialplan, dessen Kosten sich auf über 35 Millionen DM beliefen und der neben einer altersspezifischen Abfindung einen Härtefonds vorsah. Nichtsdestotrotz standen besonders die etwa 500 über 59 Jahre alten Mitarbeiter bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz vor massiven Problemen68. Die Kinderkrankheiten des Werks in Limerick (Ferenka Ltd.) hielten in den folgenden Jahren an. Obschon die Subventionen bis 1977 rund 25 Prozent der Gesamtinvestitionen ausmachten, lag die effektive Leistung mit 10.000 Jahrestonnen deutlich unter den Produktionskapazitäten, so dass die Investitionen des Akzo-Konzerns nicht rückverdient wurden. Das Enka-Management machte dafür vor allem zahlreiche Arbeitsunterbrechungen durch Streiks verantwortlich und nahm schließlich einen mehrwöchigen Arbeitskampf in der zweiten Septemberhälfte 1977 zum Anlass, um das Werk trotz guter Marktaussichten komplett zu schließen. Dysfunktionale industrielle Beziehungen gaben somit neben Rentabilitätsaspekten den entscheidenden Ausschlag. Für die 1400 betroffenen Beschäftigten und die wirtschaftliche Entwicklung der Region Limerick war die überraschende Aufgabe der Produktion ein schwerer Schlag69. 13 Jahre später stand auch der Stahlkord-Betrieb in Oberbruch vor dem Aus. Im Oktober 1990 wurde die Fertigung auf Kurzarbeit umgestellt und der Betriebsrat über die Schließungsabsichten informiert; noch im Dezember kam es zu einem Interes67 RWWA , 195-Z0–3548, Unsere Zeit vom 28.11.1975: »Auch 1972 scheiterte der Akzo-­ Konzern in Breda und auch in Wuppertal«. 68 Vgl. Geschäftsbericht Enka Glanzstoff 1975, S.  12 ff.; RWWA , 195-B0–59, Interessen­ ausgleich und Sozialplan vom 6.2.1976; 195-Z0–3548, Geschätzte Kosten des Sozialplans vom 18.2.1976. 69 RWWA , 195-B0–58, Information für die Führungskräfte 7/1977.

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senausgleich über die Einstellung der Stahlkord-Fabrikation. Zwar produzierte das Unternehmen im Oberbruch weiterhin Chemiefasern, insgesamt nahm die Bedeutung des Standorts aber zusehends ab. Schließlich wurde das Werk 1998 in den Industriepark Oberbruch – einen diversifizierten Multi-User-Standort mit Firmen unterschiedlicher Branchen – umgewandelt70.

5. Fazit Die Multinationalisierung westdeutscher Chemiekonzerne vollzog sich im Einzelnen oftmals aus höchst unterschiedlichen Gründen, gleichwohl lassen sich einige übergreifende Entwicklungslinien herausfiltern. Erstens waren die Manager in ihrer Mehrheit der Überzeugung, im Ausland höhere Wachstums­raten erzielen zu können, und dieser betriebswirtschaftlichen Kennziffer maßen sie weitaus mehr Bedeutung bei als einem in der Literatur nur wenig spezifizierten nationalen Gesamtinteresse, auch wenn in den 1970er Jahren der deutsche Produktionsstandort als argumentative Figur noch eine Rolle spielte71. Zweitens besaß der zusammenwachsende europäische Markt aufgrund seines Absatz­ potenzials als Anlageregion neben den USA eine besondere Anziehungskraft. Dies bewiesen nicht nur ansteigende Direktinvestitionen US -amerikanischer Chemieunternehmen in Europa, sondern auch wachsende Investitionen westdeutscher Konzerne im europäischen Ausland. Insofern stellte sich die weltwirtschaftliche Verflechtung der Bundesrepublik zunächst stärker als Euro­päisierung dar. Ab Mitte der 1970er Jahre investierten westdeutsche Unternehmen allmählich auch kräftiger in den USA, die aufgrund ihrer Marktgröße und veränderter Währungsparitäten an Attraktivität gewannen und sich zu einer zweiten zentralen Investitionssäule entwickelten72. Dabei versuchten die Chemieunternehmen drittens ihre Produktpalette  – vielfach durch Firmenakquisitionen – zu verbreitern und über Diversifizierung das unternehmerische Risiko in Zeiten ökonomischer Krisen zu verringern. Der 70 RWWA , D2–1-13–32, Kurzbericht Werk Oberbruch, Oktober und Dezember 1990; vgl. auch Geschäftsbericht Enka AG 1990, S. 11 und S. 23; Jürgen Kädtler, Die Großen werfen ihre Netze aus. Zum Verhältnis von Zentralisierung und Netzwerkkonfiguration in der deutschen Chemieindustrie, in: Heiner Minssen (Hrsg.), Begrenzte Entgrenzungen. Wandlungen von Organisation und Arbeit, Berlin 2000, S. 47–70, hier S. 64 ff. 71 Vgl. Wolfgang Streeck/Martin Höpner, Einleitung. Alle Macht dem Markt?, in: dies. (Hrsg.), Alle Macht dem Markt? Fallstudien zur Abwicklung der Deutschland AG. Frankfurt a. M./New York 2003, S. 11–59, hier S. 11. 72 Vgl. Neil Fligstein/Frederic Merand, Globalization or Europeanization? Evidence on the European Economy since 1980, Berkeley 2001; Ulrich Wengenroth, The German ­Chemical Industry after World War II, in: Louis Galambos/Takahashi Hikino/Vera Z ­ amagni (Hrsg.), The Global Chemical Industry in the Age of the Petrochemical Revolution, New York 2007, S. 141–167, hier S. 152–155; Till Werneck, Deutsche Direktinvestitionen in den USA . Determinanten und Wirkungen am Beispiel der Bundesstaaten Georgia, North Carolina and South Carolina, München 1998, S. 137.

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Ausbau der Auslandsproduktion sollte hierbei Schutz vor Währungsschwankungen bieten, wie sie die Unternehmen ab Ende der 1960er Jahre vermehrt erlebten. Der VGF-Aufsichtsratsvorsitzende und Gegner der DM-Aufwertung ­Hermann Josef Abs stellte im April 1972 gegenüber Arbeitnehmervertretern von Enka Glanzstoff fest, angekündigte Betriebsschließungen seien eine direkte Folge veränderter Währungsparitäten. Man könne die Folgen dieser verfehlten Währungs- und Wirtschaftspolitik nicht klar genug herausstellen73. Damit machte er nicht nur seine Haltung gegenüber der sozialliberalen Wirtschafts­politik deutlich, sondern verwies auch auf die für die Unternehmen zentralen Probleme nach dem Zusammenbruch des Systems von Bretton Woods. Während der Exportboom und die damit erwirtschafteten Überschüsse den sozialen Konflikt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern überdeckt hatten, brach der tarifpartnerschaftliche Konsens mit der Rückkehr ökonomischer Krisen wieder auf. Solange die Expansion im Ausland mit einer Erweiterung der Unternehmens­ aktivitäten einherging, konnten alle Unternehmensakteure – einschließlich der Gewerkschaften – diesem Kurs zustimmen. Im Fall einer Neuorientierung und Verlagerung von Produktionskapazitäten auf Kosten von Arbeitsplätzen im Inland musste diese Strategie zunehmend Widerstände hervorrufen. Wachsende Währungsschwankungen und die Etablierung eines einheitlichen westeuropäischen Wirtschaftsraums bewirkten somit im Zusammenspiel mit einer nachlassenden Konjunktur seit der zweiten Hälfte der 1960er  Jahre einen klaren Schub in Richtung Multinationalisierung, die von den Managern vielfach als Ausweg aus der Rezession angesehen wurde. Der beschleunigten Expansion der Auslandsproduktion folgte alsbald die Schlussfolgerung der Unternehmensleitungen, die Organisationsstruktur dem neuen Konzerngebilde unter den Bedingungen größerer Marktnähe anpassen zu müssen. Westdeutsche Chemiekonzerne wie BASF, Bayer oder Hoechst wollten wie ihre US -Konkurrenten von den Vorteilen der divisionalen Unternehmensstruktur profitieren und griffen bei deren Implementierung häufig auf das Wissen externer Beratungsgesellschaften zurück. Indem die Vorstandsetagen für die Unternehmensberater geöffnet wurden, lösten sich die festen Außengrenzen des Unternehmens partiell auf. Die zunächst nur zögerliche Einführung von Divisionen, die mit der Neugestaltung zu ergebnisverantwortlichen Geschäftsbereichen Anfang der 1990er Jahre einen gewissen Abschluss fand, war allerdings nicht nur eine Anpassung der Organisationsstruktur an eine neue Unternehmensstrategie, vielmehr bedeutete sie auch eine unternehmensinterne Aufwertung des Markts, dessen Entwicklung fortan zur Richtschnur unternehmerischer Entscheidungen wurde. Die Unternehmensorganisation selbst galt zunehmend als Profitabilitätsfaktor, und einer divisionalen Unternehmensorganisation wurde größere Marktnähe und mehr Flexibilität zugeschrieben. Zugleich ermöglichte sie einen besseren Vergleich zwischen den einzelnen Geschäftsbereichen. Unrentable Divisionen oder Produktgruppen, deren Gewinnmargen unter den aus73 RWWA , 195-B5–2-42, Niederschrift über die 265. Aufsichtsratssitzung am 18.4.1972.

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gegebenen Zielmarken lagen, konnten leichter ausfindig gemacht und anschließend konsequent abgestoßen oder stillgelegt werden. Die Vermarktlichung des Unternehmens vollzog sich somit in mehreren Etappen, wobei sich die Ergebnisverantwortung immer weiter in die einzelnen Divisionen verlagerte. Die unternehmensübergreifende Einführung einer divisionalen Struktur um 1970 beziehungsweise von Business Units um 1990 markieren zentrale Schritte auf dem langen Weg zur Vermarktlichung. Nach der kleinen Weltwirtschaftskrise Mitte der 1970er und der zweiten Ölkrise nahm der Chemieboom ab 1982/83 ein wenig den Expansions- und Umstrukturierungsdruck von den westdeutschen Unternehmensleitungen. Gleichwohl gab es neben dem Konjunkturverlauf Entwicklungen wie den Anstieg des Dollarkurses in der ersten Hälfte der 1980er Jahre und sein rapider Verfall ab 1985, die ausländische Direktinvestitionen weiterhin attraktiv machten. Die Belegschaften gerieten nicht nur wegen der Konkurrenz zwischen den Divisionen unter Druck, aufgrund der Multinationalität ihrer Konzerne mussten sie zudem Produktionsverlagerungen an günstigere Standorte im Ausland fürchten. Das Beispiel der Stahlkord-Produktion in Limerick zeigt eindrucksvoll, dass Investitionsentscheidungen keineswegs nur von der Lohnhöhe abhingen, und zu welchen Zugeständnissen sich staatliche Akteure bereitfanden. Subventionen und Steuervergünstigungen führten dabei in Verbindung mit dem Ausbau des Sozialstaats und der Rückkehr der Arbeitslosigkeit zu den Problemen der Gegenwart. Bei Enka Glanzstoff wurde mit der Einführung von Business Units Anfang der 1990er Jahre eine zweite Phase beschleunigten Wandels eingeleitet, der mit einer abnehmenden Unternehmensverflechtung, einer Veränderung der Eigentümerstruktur sowie dem neuen Leitbild globaler Finanzmärkte einherging. Die Heraus­bildung des Finanzmarktkapitalismus, der weltweite Konjunkturrückgang zu Beginn der 1990er Jahre und die Liberalisierungspolitik der Europäischen Kommission im Anschluss an den Vertrag von Maastricht verschärften die Konkurrenz erneut und lösten eine neue Runde von Fusionen und marktorientierten Umstrukturierungen aus74. Die Durchsetzung des Shareholder Value-Prinzips bei Hoechst und der Zusammenschluss mit Rhône-Poulenc zu Aventis 1999 sowie die Herauslösung und anschließende Zerschlagung der eigenständigen Akzo-Fasersparte Acordis im selben Jahr waren im Grunde nur noch die letzten Mosaiksteine eines Bilds, das in den 1970er Jahren zu entstehen begann. 74 Vgl. Alfred D. Chandler, Shaping the Industrial Century. The Remarkable Story of the Evolution of the Modern Chemical and Pharmaceutical Industries, Cambridge/Mass. 2009, S. 30 f. und S. 36 f.; Martin Höpner/Armin Schäfer, Eine neue Phase der europäischen Integration: Legitimitätsdefizite europäischer Liberalisierungspolitik, in: dies. (Hrsg.), Die Politische Ökonomie der europäischen Integration, Frankfurt a. M. 2008, S.  129–156;­ Jürgen Kädtler, Sozialpartnerschaft im Umbruch. Industrielle Beziehungen unter den Bedingungen von Globalisierung und Finanzmarktkapitalismus, Hamburg 2006; Harm G. Schröter, Competitive Strategy of the World’s Largest Chemical Companies, 1970–2000, in: Galambos u. a. (Hrsg.), Global Chemical Industry, S. 53–81; Paul Windolf (Hrsg.), Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Wiesbaden 2005.

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Nach der Expansion Die Evolution des bundesrepublikanischen Sozialstaats seit den 1970er Jahren

1. Der Sozialstaat nach dem Boom Mit dem wirtschaftlichen Boom im Nachkriegsdeutschland entwickelte sich auch ein weitreichender Sozialstaat. In den frühen 1970ern endete der Boom, aber der Sozialstaat blieb  – trotz Wegfall der ihn begünstigenden wirtschaftlichen Konstellationen. In der Zeit des Booms hatten sich Verteilungsspielräume eröffnet, die einen forcierten Ausbau sozialer Leistungen ermöglicht hatten. Adressatenkreise sozialer Leistungen wurden ausgebaut, mehr soziale Problemlagen adressiert, soziale Leistungen erhöht. Was passierte nach diesem »goldenen Zeitalter« des Wohlfahrtsstaats? Weshalb überdauerte der Sozialstaat die Boomzeit? Gab und gibt es gar einen »Albtraum ›immerwährender Expansion‹«, wie konservative und liberale Sozialstaatskritiker befürchten1? Wie veränderte sich der Sozialstaat nach der intensiven Ausbauphase quantitativ wie qualitativ, und was waren die Triebkräfte? Wir betrachten zunächst den handgreiflichsten Indikator der Entwicklung des Sozialstaats, die Veränderung der Sozialausgaben vor und nach dem Boom (Abschnitt 2). Die Sozialausgaben allein lassen jedoch die dahinter stehenden Veränderungen der Sozialpolitik und deren Ursachen nicht erkennen. Daher diskutieren wir in Abschnitt 3 theoretische Angebote der Sozialwissenschaften, die den Wandel des Sozialstaats, insbesondere auch in seiner nachexpansiven Phase, zu erklären versuchen. Danach analysieren wir die Veränderungen des deutschen Sozialstaats seit Mitte der 1970er Jahre: zum einen Veränderungen der Policies, also programmatisch-gesetzgeberische Änderungen (Abschnitt 4), zum anderen strukturelle und institutionelle Triebkräfte (Abschnitt 5). Wir argumentieren, dass vom Sozialstaat selbst geschaffene Realitäten den Sozialstaat nach dem Boom weiter prägen: Gewachsene Aspirationen auf einen guten und steigenden Lebensstandard und Erwartungen an den Staat begünstigen unter den Bedingungen einer Massendemokratie weiteren sozialpolitischen Ausbau. Zudem kann die institutionelle Eigendynamik des in der Boomzeit enorm gewachsenen Sozialsektors, also des Konglomerats der Institutionen sozialstaat1 Nico Siegel, Jenseits der Expansion? Sozialpolitik in westlichen Demokratien 1975–1995, in: Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Wohlfahrtsstaatliche Politik. Institutionen, politischer Prozess und Leistungsprofil, Opladen 2001, S. 54–89, hier S. 63.

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licher Leistungserbringung, den Sozialstaat auch ohne sozialgesetzgeberischen Ausbau expandieren lassen. In diesem Sinne sprechen wir von einer Evolution des Sozialstaats statt intentionalem Aus- oder Rückbau. Die Entstehung und Persistenz eines komplexen Sozialsektors bringt einen neuen Typus sozialpolitischen Handelns mit sich, den wir mit Franz-Xaver Kaufmann als Sozialpolitik zweiter Ordnung bezeichnen (Abschnitt 6).

2. Die Entwicklung der Sozialausgaben Die Entwicklung der Sozialleistungsquote, also der Sozialausgaben in Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), spiegelt das Ende des Booms erstaunlich genau: von 1950 bis 1975 stieg die Sozialleistungsquote massiv von knapp 20 Prozent auf gut 30 Prozent. Dabei waren die letzten Jahre vor dem Ende des Booms, die Zeit zwischen 1969 und 1974, die »Phase der größten Beschleunigung wohlfahrtsstaatlicher Expansion«2. Die Sozialquote stieg allein in diesem Zeitraum um etwa fünf Prozentpunkte. Danach verblieb die Quote mit gewissen Schwankungen auf dem erreichten Niveau (Schaubild 1). So gesehen, hat die Sozialpolitik auf das Ende des Booms reagiert und die Sozialleistungsquote nicht weiter anwachsen lassen. In absoluten Zahlen, auch kaufkraftbereinigt, sind die Sozialausgaben aber weiter gestiegen, da die Wirtschaft in den meisten Jahren seit 1975 weiter gewachsen ist, wenn auch verlangsamt, und die Sozialausgaben mitgewachsen sind. Denn eine stagnierende Sozialleistungsquote zeigt an, dass die Sozialausgaben im Einklang mit dem Wirtschaftswachstum steigen. Generell korrelieren in der Nachkriegszeit die Zuwachsraten von Sozialausgaben und Wirtschaftsprodukt, besonders wenn man den Sozialausgabenanstieg auf das Wirtschaftswachstum zwei Jahre vorher bezieht (sehr hoher Korrelationskoeffizient von 0,73 für den Zeitraum zwischen 1951 und 1983)3. Bemerkenswert für die Boomzeit ist, dass die Sozialausgaben nicht einfach mit der Wirtschaft gewachsen sind – schon dies hätte eine erhebliche Steigerung bedeutet –, sondern dass sie stärker gewachsen sind als die Wirtschaft, vor allem in den Zeiträumen von 1951 bis 1958 und 1970 bis 1975: »Von 1970 bis 1975 löste sich die Sozialpolitik […] fast völlig aus ökonomischen Zwängen.« Diese Befunde deuten bereits an, dass die Entwicklung der Sozialausgaben wesentlich politisch bedingt ist. Das verdichtete Wachstum in den beiden genannten Zeiträumen deutet Alber als Folge der Legitimationsstrategie neuer Regierungen. Spätere begrenzte Rückgänge der Sozialleistungsquote in den 1980er und 2000er Jahren könnten analog erklärt werden, aber unter umgekehrtem politischen Vorzeichen: Es waren Bedingungen entstanden, unter denen eine Programmatik der Sozialstaatseinhegung legitimitätssteigernd wirken konnte. 2 Hans Günter Hockerts, Der deutsche Sozialstaat. Entfaltung und Gefährdung seit 1945, Göttingen 2011, S. 144. 3 Vgl. hierzu und zum Folgenden Jens Alber, Der Sozialstaat in der Bundesrepublik 1950–1983, Frankfurt a. M. 1989, S. 236–242; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 240.

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2010: 30,9%

1980: 29,8% 30

2000: 31,3%

% des BIP

25 20

1960: 21%

1970: 24,5%

1990: 26,8%

1933: 18.4% 1950: 19.2%

15 10 5 1871/74: 0,8% 0

Schaubild 1: Die Sozialleistungsquote in Deutschland (Deutsches Reich, Bundesrepublik Deutschland)  Erläuterung: bis 1969 unrevidierte Werte, nur eingeschränkt vergleichbar; ab 1991 einschließlich neue Länder; ab 2009 einschließlich privater Krankenversicherung Quellen: Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Sozialbudget 2011; Heinz Lampert/Jörg Althammer, Lehrbuch der Sozialpolitik, Berlin u. a. 2007, Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland, Wiesbaden 2005.

Die überproportionale Steigerung der Sozialausgaben bis 1975 und der Erhalt des erreichten Niveaus seitdem zeigen einen epochalen Bedeutungszuwachs der Sozialpolitik an. Erst in der Nachkriegszeit hat sich die Vielzahl sozialpolitischer Maßnahmen in (West-)Deutschland zu dem nicht nur fiskalischen, sondern auch soziokulturellen Gebilde »Sozialstaat« verdichtet, wurde zu einem gleichrangigen Strukturelement des »demokratischen Wohlfahrtskapitalismus«4. In diesem Sinne war der Sozialstaat Mitte der 1970er Jahre entfaltet und bedurfte zum Erhalt keiner überproportionalen Ausgabensteigerung. Dass die Sozialleistungsquote nach 1975 im Bereich um 30 Prozent des BIP blieb, ist deutungsbedürftig. Die Entwicklung von Sozialausgaben kann unterschiedliche Gründe haben. Wenn etwa die Arbeitslosigkeit zunimmt oder die Preise medizinischer Technik steigen, steigen ceteris paribus die Sozialausgaben, ohne dass ein sozialgesetzgeberischer, intendierter Ausbau des Sozialstaats statt4 Thomas H. Marshall, Value Problems of Welfare-Capitalism, in: ders., The Right to Welfare and Other Essays (with Afterthought), London 1981, S. 104–136.

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gefunden hätte, wie ihn liberale und konservative Kritiker monieren. So zeigt Siegel5, dass die Sozialleistungsquote in der Bundesrepublik Deutschland (bei Siegel operationalisiert gemäß OECD) von 1980 auf 1995 zwar um knapp vier Prozentpunkte gestiegen, nach Herausrechnung der Zunahme von Arbeitslosigkeit und des Anteils alter Menschen in der Bevölkerung jedoch um einen halben Prozentpunkt gesunken ist (ähnlich für die meisten anderen OECD -Staaten). Die ungefähre Konstanz der Sozialleistungsquote nach 1975 ist also zu hinterfragen: Inwieweit verweist sie auf einen anhaltenden gesetzgeberischen Ausbau des Sozialstaats, oder inwieweit ist sie auch Folge struktureller Wachstumsdeterminanten, die möglicherweise einen gesetzgeberischen Rückbau verdecken? Die Frage nach den Formen und Ursachen der Entwicklung des Sozialstaats nach 1975 ist also eine doppelte: nach der Entwicklung intentionaler Policies und nach dem Wirken struktureller Determinanten. Doch zunächst: Was haben sozialwissenschaftliche Theorien zu den Ursachen und Formen sozialstaatlichen Wandels, gerade auch in der postexpansiven Phase, zu sagen?

3. Der Sozialstaat nach dem Boom: theoretische Erklärungen seiner Kontinuität Im Licht der sozialwissenschaftlichen Theorien zur Erklärung der Entstehung und Entwicklung staatlicher Sozialpolitik seit dem 19.  Jahrhundert6 kann die Weiterentwicklung des Sozialstaats auch bei Schwächung seiner wirtschaftlichen Basis nicht überraschen. Die Forschung hat zunächst die »Logik der Industrialisierung«, also sozioökonomische Prozesse, als Determinanten wohlfahrtsstaatlicher Expansion namhaft gemacht. Die Industrialisierung und begleitende Prozesse wie die Urbanisierung schufen soziale Probleme und stellten zugleich die Mittel zu ihrer sozialpolitischen Bearbeitung bereit. Schon hieraus kann man die Hypothese ableiten, dass nachlassendes Wirtschaftswachstum nicht zwingend zu Stagnation oder Rückgang des Sozialstaats führt, denn soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit nehmen bei geringerem Wirtschaftswachstum eher zu. Die sozioökonomischen, funktionalistischen Erklärungen wurden bald um politische, konflikttheoretische Ansätze erweitert: Erst Prozesse politischer Mobilisierung und Staatsbildung sind ausschlaggebend dafür, ob, wann und wie sich staatliche Sozialpolitik entwickelt. Mit dem Ende eines wirtschaftlichen Booms muss also die Expansion des Sozialstaats nicht gleichfalls enden, ausschlaggebend sind in dieser Sicht vielmehr politische Faktoren.

5 Siegel, Jenseits der Expansion, S. 61. 6 Vgl. zusammenfassend Jens Alber, Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa, Frankfurt a. M./New York 1982, Kap. 2, und Manfred G. Schmidt u. a. (Hrsg.), Der Wohlfahrtsstaat. Eine Einführung in den historischen und internationalen Vergleich, Wiesbaden 2007, Teil I.

Nach der Expansion

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In den 1990er Jahren wurde dieses theoretische Instrumentarium der Erklärung sozialstaatlicher Entwicklung als historisch begrenzt erkennbar. Die ursprünglich wirksamen Triebkräfte staatlicher Sozialpolitik, die Industrialisierung und die Arbeiterbewegung, hatten in Zeiten einer postindustriellen Wirtschaft und Massendemokratie an Einfluss verloren. Zugleich war der Sozialstaat in eine postexpansive Phase eingetreten. Bis in die 1990er Jahre untersuchte die empirische Wohlfahrtsstaatsforschung die Entwicklung des Sozialstaats in westlichen Gesellschaften als Expansionsgeschichte. Jetzt war nicht mehr Expansion, jetzt waren Rückbau, Konsolidierung und Umbau zu erklären. Neue Theorien waren gefragt. Die erste theoretisch anspruchsvolle und empirisch fundierte Studie des postexpansiven Wohlfahrtsstaats legte Pierson 1996 unter dem Schlagwort »the new politics of the welfare state« vor7. Empirisch fand er in den von ihm verglichenen Ländern – Großbritannien und USA, später auch Deutschland und Frankreich –, dass der von vielen behauptete Sozialabbau nicht substanziell stattgefunden, dass sich aber der Charakter wohlfahrtsstaatlicher Politik grundlegend gewandelt habe. Pierson erklärte das Ausbleiben substanziellen Sozialabbaus durch die Interessen, die der Sozialstaat im Zuge seines Ausbaus selbst erzeugt hat, nämlich die Interessen der breiten Gruppe derer, die als Leistungsempfänger oder Anbieter und Beschäftigte direkt vom Sozialstaat profitieren und von den Politikern als Wähler adressiert werden. Zugleich postulierte Pierson eine »institutional ›stickiness‹ in politics«8 oder Pfadabhängigkeit politischer und institutioneller Prozesse. Pfadabhängigkeit meint, dass einmal getroffene Entscheidungen und eingerichtete Sozialsysteme nur unter hohen politischen und sozialen Kosten verändert werden können. Auch wenn es effektivere Systeme gibt oder veränderte Verhältnisse einen Pfadwechsel nahelegen, wird oft am Hergebrachten festgehalten. Pfadabhängigkeit kann unterschiedlichste Ursachen haben. Hierzu gehören Interessen, die sich an Institutionen heften oder gar durch diese geschaffen werden, und verfestigte Erwartungen der Bürger und Bürgerinnen als potentielle Leistungsempfänger oder als Wähler. Ein verwandter Begriff ist der des »Politikerbes«9: »Gesetz­geber [sind] hauptsächlich Politikerben und erst in zweiter Linie Politikgestalter«10. Piersons Argument der institutionellen Pfadabhängigkeit ist Teil einer institutionalistischen Perspektive in der Wohlfahrtsstaatsforschung, die die funktionalistischen und konflikttheoretischen Erklärungen ergänzt. 7 Paul Pierson, The New Politics of the Welfare State, in: World Politics 48 (1996), S. 143–179; Paul Pierson (Hrsg.), The New Politics of the Welfare State, Oxford 2001; kritisch dazu Siegel, Jenseits der Expansion. 8 Paul Pierson, The Limits of Design: Explaining Institutional Origins and Change, in: Governance 13 (2000), S. 475–499, hier S. 490. 9 Schmidt u. a. (Hrsg.), Wohlfahrtsstaat, Kap. 7. 10 Manfred G. Schmidt, Der deutsche Sozialstaat. Geschichte und Gegenwart, München 2012, S. 47.

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Doering-Manteuffel und Raphael präsentierten in Ihrem Buch »Nach dem Boom« zwei Überlegungen11, die sich in die Perspektive der Erklärung des postexpansiven Sozialstaats durch früheres sozialpolitisches Handeln einfügen und dabei durch den Sozialstaat selbst geschaffene oder korrelierende kulturelle Orientierungen betonen. Das primäre Argument von Doering-Manteuffel und Raphael ist, dass der Ausbau des Sozialstaats in der Boomzeit Erwartungen habe entstehen lassen, die man nicht ohne weiteres habe stillstellen oder gar zurückdrehen können. Die für ältere Generationen selbstverständlichen »alten Entbehrungen« waren für die jüngeren nicht mehr maßgeblich12. Im politischen Raum wurde dies in Zielformeln wie Lebensqualität in den 1970er Jahren explizit. Auch Kaufmann fokussierte kulturelle Elemente, jedoch stärker institutionell spezifiziert und historisch weiter zurückgehend13. Kaufmann entwickelte (ohne es so zu nennen) die Idee einer kulturellen Pfadabhängigkeit. Demgemäß eignet jedem Wohlfahrtsstaat ein soziokultureller »Eigensinn«, der zurückgeht auf die ursprüngliche Definition der für dieses Land zentralen sozialen Frage und die entsprechenden Institutionalisierungen. So prägte etwa in Deutschland die frühe Definition der sozialen Frage als Arbeiterfrage den ideellen und institutionellen Pfad eines Sozialversicherungsstaats. Ein zweiter Erklärungsansatz ergibt sich bei Doering-Manteuffel und Raphael aus ihrer Analyse des Konsumismus. Wie der Sozialstaat war auch die Konsum­ gesellschaft in Deutschland ein Kind des Booms. Sie war eng mit dem Sozialstaat verknüpft, insoweit die sozialstaatliche Umverteilung breiteren Schichten gesteigerte Konsummöglichkeiten eröffnete. So zielte die große Rentenreform von 1957 darauf, vom Aufschwung weitgehend abgekoppelten alten Menschen den Anschluss an den neuen Wohlstand zu ermöglichen. Das Bundessozialhilfe­gesetz von 1961 führte das Konzept eines soziokulturellen Existenzminimums als Zielgröße ein und verbreiterte das Spektrum der Hilfen um vielfältige »Hilfen in besonderen Lebenslagen«. Auch die Konsumgesellschaft blieb nach dem Ende des Booms, verfeinerte sich gar zu einer »Konsumentengesellschaft«14. Damit stand der Sozialstaat unter Druck, breiten Schichten den Anschluss an die nach dem Boom weiter expandierende Welt des Konsums zu ermöglichen. Neben Geldleistungen waren es vor allem die in und seit den 1970er Jahren expandierenden sozialen Dienstleistungen, die auf verfeinerte Konsum- und Teilhabemöglichkeiten zielten. 11 Vgl. Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, S. 60–63; das folgende ­Zitat findet sich ebenda, S. 61. 12 Für die DDR wies Manfred G. Schmidt (Sozialpolitik der DDR , Wiesbaden 2004, S. 141) darauf hin, dass die politische Instabilität der späten DDR auch daraus entstand, dass sich die Herrschaftselite in ihrer Wohlfahrtspolitik an den Sozialstandards der Vorkriegszeit orientierte und die erweiterten Aspirationen, die auch in der DDR aufkamen, nicht hinreichend wahrnahm. 13 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Varianten des Wohlfahrtsstaats. Der deutsche Sozialstaat im internationalen Vergleich, Frankfurt a. M. 2003. 14 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 124.

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Die kulturellen Erklärungen von Doering-Manteuffel und Raphael benennen Einstellungen und Werthaltungen der Bevölkerung, die die politischen Erklärungen von Pierson, die auf Strategien von Politikern abheben, gleichsam von unten flankieren. Dem kulturellen Argument liegt die Vorstellung eines generationalen Wandels zugrunde: Die Nachkriegsgeneration sei geprägt gewesen durch erweiterte Konsummöglichkeiten und höherwertige sozialstaatliche Sicherungen, und diese Prägung habe Erwartungen auch nach Ende des Booms beeinflusst. Entsprechend Karl Mannheims Generationenkonzept erscheinen hier Generationen (Geburtsjahrgänge)  als Träger sozialen Wandels. Zu fragen ist dann aber, ob Folgegenerationen das gleiche Verhältnis zum Sozialstaat haben. In der Wohlfahrtsstaatsforschung wird von »wohlfahrtsstaatlichen Generationen« gesprochen15: Unterschiedliche Geburtsjahrgänge erleben den Sozialstaat unterschiedlich, unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen und mit unterschiedlichen Policies und Folgen für ihr Leben. Nach Pierson verändert sich im Zuge der »new politics of the welfare state« auch die Typik wohlfahrtsstaatlicher Politik (Policies). Im Zeitalter einer »permanent austerity«16 ist eine ungebrochene Fortsetzung gesetzgeberischen Ausbaus sozialer Sicherungen fiskalisch nicht möglich, ein programmatischer Rückbau aus wahltaktischen Gründen aber auch nicht. In Massendemokratien navigieren die Politiker zwischen den Präferenzen des moderat sozialstaatsfreundlichen Medianwählers, der Vetospieler und breiterer Bevölkerungskreise. In Schaubild 2 liegt der erwartbare Reformraum zwischen C und V, also jenseits des Status Quo, aber weit entfernt von radikalem Sozialabbau. Zahlreiche Studien konstatierten vielfache sozialpolitische Veränderungen, die jedoch nur in wenigen Ländern einschneidend waren. Die Kumulation von Einschnitten und Neuorientierungen der Sozialpolitik führte aber zu dem Befund eines seit den 1990er und 2000er Jahren insgesamt doch grundlegenden Wandels graduellen und kumulativen Charakters. Mahoney und Thelen17 unterscheiden vier Formen: displace­ment als Einführung neuer Regeln (die die alten Regeln nicht unmittelbar ersetzen, aber diesen nach und nach den Rang ablaufen); layering als Ergänzung alter Regeln um neue, erweiternde; drift als Bedeutungsänderung formal identisch bleibender Regeln unter veränderten Rahmenbedingungen; und conversion als unterschiedliche Ausdeutung und Anwendung formal identischer Regeln. Manchmal wird drift auch als Kurzformel für alle Formen inkrementellen Wandels verwendet. 15 Lutz Leisering, Wohlfahrtsstaatliche Generationen, in: Martin Kohli/Marc Szydlik (Hrsg.), Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen 2000, S. 59–76. 16 Pierson, New Politics, S. 410. 17 Vgl. James Mahoney/Kathleen Thelen, A Theory of Gradual Institutional Change, in: dies. (Hrsg.), Explaining Institutional Change. Ambiguity, Agency, and Power, Cambridge 2010, S. 1–37, hier S. 15–18. Vgl. ähnlich die Identifikation von »Diskursstrategien« beim Umbau des deutschen Sozialstaats bei Lutz Leisering, Paradigmen sozialer Gerechtigkeit. Normative Diskurse im Umbau des Sozialstaats, in: Stefan Liebig/Holger Lengfeld/Steffen Mau (Hrsg.), Verteilungsprobleme und Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M./New York 2004, S. 29–68, hier S. 41–51.

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R

Schaubild 2: Politischer Handlungsspielraum in der Krise des Sozialstaats Legende: Q: Status Quo, C: Konsenspunkt, V: Vetospielerpunkt, M: Medianwähler, R: radikaler Sozialabbau Quelle: Paul Pierson (Hrsg.), The New Politics of the Welfare State, Oxford 2001, S. 419

Aufgrund ihres inkrementellen und weniger wahrnehm­baren Charakters können diese Formen von policy change dazu dienen, Veränderungen des überkommenden Sozialstaats »still« durchzusetzen. Zuletzt haben Erklärungsmodelle sozialstaatlichen Wandels auch globale Faktoren berücksichtigt, insbesondere den Einfluss internationaler Organisationen auf die nationale Sozialpolitik18. Dieser Einfluss macht sich vor allem auf »weiche« Art geltend, durch soft law, naming and shaming, durch Berichte und öffent­ liche Debatten. Im Fall der EU kommt ein Einfluss durch hard law hinzu, der sich gerade in Deutschland – besonders im Arbeitsrecht und in der Gleichstellungspolitik – auch im Sozialrecht niederschlägt. Der Einfluss globaler Faktoren, in Deutschland zuletzt etwa die Berufung auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2009 im Schulbereich, wäre ein weiteres Erklärungsmoment, warum der Sozialstaat nach dem Boom nicht nur in robuster Weise fortbestand, sondern sich teilweise gar ausdehnte; dieser globale Ansatz soll im vorliegenden Beitrag jedoch nicht näher verfolgt werden. Die von Pierson und die von Doering-Manteuffel/Raphael genannten Kontinuitätsfaktoren beziehen sich auf Policies, auf intentionale politische Erweiterungen und Stabilisierungen des Leistungsrechts und deren mentalen Voraussetzungen in der Bevölkerung. Den Policy-Faktoren möchte ich einen institutionellen Faktor hinzufügen. Meine These ist, dass neben und in Verbindung mit den politisch-mentalen Erklärungsansätzen  – gewachsene Erwartungen an den Sozialstaat, gesteigerte Konsumaspirationen, sozialstaatlich erzeugte Interessen – organisationale Dynamiken vielfach untergründig zu Persistenz oder Expansion des Sozialstaats nach dem Boom beigetragen haben: die institutionelle Eigen­dynamik des Sozialsektors oder Wohlfahrtssektors. Bis zum Ende des Booms in den frühen 1970er Jahren hatten sich nicht nur kognitive und normative »soziale« Erwartungen in Politik und Gesellschaft gebildet, sondern es war auch ein umfassender institutioneller Komplex sozialer Leistungssysteme entstanden, den Franz-Xaver Kaufmann als Sozialsektor oder Wohlfahrtssektor bezeichnet hat19. Einmal etabliert, entwickelt der Sozialsektor eine erhebliche institutionelle Eigenständigkeit – Trägheit wie Eigendynamik –, die als organisationaler Faktor sowohl von

18 Vgl. Bob Deacon, with Michelle Hulse/Paul Stubbs, Global Social Policy. International Organizations and the Future of Welfare, London u. a. 1997. 19 Franz-Xaver Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, Frankfurt a. M. 1997, Kap. 2.

Nach der Expansion

225

den social politics und social policies als auch von wirtschaftlichen Fluktuationen vergleichsweise unabhängig ist. Die Annahme eines relativ eigenständigen Wohlfahrtssektors spezifiziert eine institutionelle Pfadabhängigkeit, die hier jedoch stärker organisational gedacht ist als bei Pierson, der Pfadabhängigkeit als wesentlich durch politische Interessen (Politics) bestimmt sieht. Persistenz und Dynamik des Sozialsektors speisen sich aus strukturellen, subjektlosen Faktoren, aber auch aus Interessen und Mentalitäten. Im Unterschied zu unmittelbar Policy-bezogenen Interessen und Ideen sind es jedoch in Institutionen eingelassene und oft von diesen erst erzeugte Interessen von Leistungsanbietern, Lieferanten und Leistungsempfängern. Diese Interessen sind weniger volatil als allgemeine an die Politik heran­getragene Interessen. Die liberale und konservative Kritik am überbordenden Versorgungsstaat meint eine unlimitierte Expansion von Leistungsansprüchen, die von Gutmenschentum und Wiederwahlinteressen von Politikern getrieben ist. Damit wird die Dynamik des Sozialsektors, die auch ohne Änderungen des Leistungsrechts den Sozialstaat wachsen lassen kann20, nicht erfasst. Die Kritik von »Verteilereliten« als neue Herrschaftsform21 überschneidet sich mit unserem organisationalen Argument. Der Wohlfahrtssektor und seine institutionelle Dynamik (empirisch siehe unten, Abschnitt 5) ist in der Literatur zu Sozialpolitik und Sozialstaat wenig beachtet worden, es dominieren Analysen von Policies und Politics. Der Wohlfahrtssektor besteht aus den bürokratischen Apparaten sozialer Umverteilung, aus sozialen Dienstleistungseinrichtungen, den Sozialversicherungen, den Wohlfahrtsverbänden, aus kommunalen und föderalen Ämtern und Körperschaften sowie aus bereichsübergreifenden Institutionen wie Sozial- und Arbeitsgerichten, rechtlichen Kodifizierungen (Sozialgesetzbuch) und Planungssystemen. Statt eines einheitlichen Steuerungsmediums wirken im Wohlfahrtssektor vielfältige Steuerungsformen wie das Umlageverfahren (in der Rentenversicherung), Verhandlungs­ systeme (im Gesundheitswesen) und Korporatismus (am Arbeitsmarkt)22. Obwohl wir von Sozialstaat reden, umfasst der Wohlfahrtssektor nicht nur staatliche Institutionen. Gerade in Deutschland kommt intermediären Instanzen wie Sozialversicherungen und Wohlfahrtsverbänden eine große Bedeutung zu. Darüber hinaus können auch private Akteure Teile des Wohlfahrtssektors sein, sofern sie eingebunden sind in »soziale« Regulierung durch den Staat. Auch so20 Bereits David Ricardo hatte 1817 auf eine solche Dynamik hingewiesen: On the Principles of Political Economy and Taxation, in: Piero Sraffa (Hrsg.), The Works and Correspondence of David Ricardo, Bd. 1, Cambridge 1951, S. 106. 21 In der Bundesrepublik Deutschland früh bei Horst Baier, Herrschaft im Sozialstaat. Auf der Suche nach einem soziologischen Paradigma der Sozialpolitik, in: Christian von Ferber/ Franz-Xaver Kaufmann (Hrsg.), Soziologie und Sozialpolitik, Opladen 1977, S. 128–142 (KZf SS , Sonderheft 19). 22 Vgl. Lutz Leisering, Transformations of the State: Comparing the New Regulatory State to the Post-War Provider State, in: ders. (Hrsg.), The New Regulatory State. Regulating Pensions in Germany and the UK , Houndmills 2011, S. 254–274, hier S. 265–270; das Folgende nach ebenda.

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Lutz Leisering

ziale Regulierung ist sozialstaatliche Politik, abgeleitet aus dem soziologischen Sozialstaatsbegriff von Kaufmann, gemäß dem Sozialstaatlichkeit die explizite und formelle Übernahme einer staatlichen »sozialen« Verantwortung bedeutet, was nicht notwendig die Staatlichkeit von Leistungssystemen impliziert. Frei­ berufliche Ärzte, Teile der Pharmaindustrie und der medizintechnischen Industrie, neuerdings auch private Anbieter stark regulierter Altersvorsorgeprodukte wie der Riester-Rente sind Teile des Wohlfahrtssektors. Die Vielfalt von Einrichtungen, Akteuren und Steuerungsformen verstärkt die relative Eigenständigkeit und -dynamik des Wohlfahrtssektors gegenüber dem politischen System.

4. Der Sozialstaat nach dem Boom: Wandel der Politik (Policies) Wie hat sich die Sozialpolitik nach dem Boom bis heute entwickelt? Zwei Hypothesen stecken das Möglichkeitsspektrum ab, eine Kontinuitätshypothese und die Hypothese eines Bruchs. Die skizzierten Theorien und die Entwicklung der Sozialleistungsquote legen eine Kontinuität westlicher Sozialstaatlichkeit nahe. In einer kritischen Variante erscheint gerade der bundesrepublikanische Sozialstaat als strukturell reformschwach, da es viele »Vetospieler«, also konstitutionell einflussreiche politische Akteure, gebe, was Pfadänderungen erschwere. Gegenläufig wird in der politischen Publizistik und teilweise auch in der Wissenschaft ein »Sozialabbau« postuliert, also eine Bruchhypothese impliziert. Diese Kritik wird bis heute von sozialen Bewegungen vorgebracht und entstand in den frühen 1980er Jahren im Kampf gegen Kürzungen von Leistungen für Arbeitslose. 1984 wurde eine »neue Armut« ausgerufen, die wesentlich auf eine veränderte Sozialpolitik nach dem Boom zurückzuführen sei. In den 1990er Jahren löste sich die Kritik eines Sozialabbaus jedoch vom historischen Kontext und wurde zu einer Kritik des Neoliberalismus, der für einen offensiven oder auch schleichenden Abbau von Leistungsansprüchen verantwortlich gemacht wurde23. Wie hat sich die Sozialpolitik in Westdeutschland nach 1945 entwickelt24? Bis 1975 fand eine beispiellose, gesetzgeberisch getragene, programmatische Expansion statt: Das Spektrum der Leistungssysteme wurde verbreitert, wobei in den 1970er Jahren neben monetären Transfers verstärkt soziale Dienstleistungen aufgebaut wurden25. Der Deckungsgrad sozialer Leistungen wurde vergrößert, immer mehr Personen erhielten Leistungsansprüche (zu Alterssicherung und Gesundheit vgl. Tabelle 1). Zudem wurden Leistungen erhöht – so in der großen Renten23 Vgl. prominent Christoph Butterwegge, Krise und Zukunft des Sozialstaats, Wiesbaden 3 2006. 24 Zur Periodisierung vgl. Lutz Leisering, Der deutsche Nachkriegssozialstaat – Entfaltung und Krise eines zentristischen Sozialmodells, in: Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die Bundesrepublik Deutschland. Eine Bilanz nach 60 Jahren, Köln u. a. 2008, S. 423–443. 25 Zu diesem Paradigmenwechsel vgl. maßgeblich Bernhard Badura/Peter Gross, Sozialpolitische Perspektiven. Eine Einführung in Grundlagen und Probleme sozialer Dienst­ leistungen, München 1976.

Nach der Expansion

227

reform 1957 um 60 bis 90 Prozent je nach Rentenart –, und das Leistungsangebot von Sicherungssystemen wurde vielfältiger. Parallel expandierten die Leistungsorganisationen, also die Sozialbürokratien, und leistungssystem- beziehungsweise politikfeldübergreifende politisch-administrative Institutionen: Arbeits- und Sozialgerichte entstanden, Sozialplanung und Sozialberichterstattung wurde eingeführt, der rechtliche Rahmen der Sozialpolitik wurde im Sozial­gesetzbuch kodifiziert, und die sozialen Professionen und Hilfsberufe expandierten, verbunden etwa mit der Entstehung einer Fachhochschulausbildung für Sozialarbeiter in den 1960er Jahren. Die Sozialausgaben stiegen ebenfalls massiv an. Nach dem Boom, also von 1975 bis heute, war in allen genannten Dimensionen teilweise eine weitere Expansion beobachtbar, vielfach zumindest Bestands­ erhalt, aber teilweise auch Rückbau. Was die Beschäftigten angeht, so waren die größten Zuwächse im Sozialsektor sogar erst nach 1975 zu verzeichnen (Tabelle 1). Jedoch ließen sich zur selben Zeit mehrere sozialstaatseinhegende Bewegungen zu beobachten, die einer weiteren Expansion entgegenwirken oder gar eine Rückführung bewirken wollten. Diese Bewegungen gegen den Strom der Expansion waren zum Teil kulturell unterlegt und hatten gemischten Erfolg. Wir unterscheiden vier solcher Gegenbewegungen, von denen die ersten beiden zeigen, dass eine Programmatik der Sozialstaatsbegrenzung politisch hoffähig geworden war, wenn auch nicht unumstritten, und dass die entsprechenden neuen Politiken tatsächlich zu einer Senkung der Sozialleistungsquote führten (Schaubild 1), wobei Kausalitäten aber schwierig festzustellen sind. Erstens trat 1982/1983 Bundeskanzler Helmut Kohl programmatisch mit dem Ziel einer »geistigen Erneuerung« und »Wende« an26. Tatsächlich fiel die Sozialquote in den 1980er Jahren, was Schmidt als Erfolg Kohls wertet27. Die unerwartete andere »Wende« von 1989/90, die deutsche Vereinigung, machte diese Rückbaubestrebungen jedoch bald zunichte. Zweitens proklamierte Kanzler Schröder 1999 eine Politik des »Dritten Wegs« und entwarf in seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003 eine »Agenda 2010«, die explizit auf eine Beschränkung herkömmlicher Leistungsstaatlichkeit zugunsten aktivierender Politik zielte. Die Reformen der Alterssicherung in den Jahren 2001 und mehr noch 2004 beinhalteten eine langfristige massive Leistungsabsenkung der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), die deren primäre Legitimitätsgrundlage, die Sicherung des im Erwerbsleben erreichten Lebensstandards, beseitigte. Parallel wurden private und betriebliche Vorsorge durch Bezuschussung, Steuerbegünstigung und Regulierung gefördert. Die Hartz-Reformen zwischen 2003 und 2005, vor allem »Hartz IV«, signalisierten einen Verweis der Arbeitslosen auf den Arbeitsmarkt, indem die Arbeitslosenhilfe zu einer sozialhilfeartigen, armutspolitischen Leis26 So in Kohls Regierungserklärung vom 4.5.1983. Vgl. Peter Hoeres, Von der »Tendenzwende« zur »geistig-moralischen Wende«. Konstruktion und Kritik konservativer Signaturen in den 1970er und 1980er Jahren, in: VfZ 61 (2013), S. 93–119. 27 Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich, Wiesbaden 3., vollständig überarbeitete Aufl. 2005, S. 101.

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Lutz Leisering

tung, dem Arbeitslosengeld II, herabgestuft wurde. Schröders Aufbruch blieb nicht nur Rhetorik und war insofern erfolgreich, löste aber einen tiefgreifenden und anhaltenden Sozialprotest aus. Drittens erwog die CDU unter Angela Merkel im Vorfeld des Bundestagswahlkampfs 2005, den Arbeitnehmerbeitrag in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) durch eine einkommensunabhängige Prämie, die sogenannte Kopfpauschale, zu ersetzen, verbunden mit bedürftigkeitsgeprüften Zuschüssen für finanziell Schlechtergestellte. Damit wäre erstmals ein definierendes Ordnungsprinzip der deutschen Sozialversicherung, die Finanzierung durch lohnbezogene Beiträge, zumindest zur Hälfte explizit abgeschafft worden. Dieser Vorstoß wurde jedoch mangels Akzeptanz durch die Wählerschaft nicht verfolgt. Viertens sind Gegenbewegungen zu nennen, die über einzelne Initiativen hinausgingen und programmatisch diffuser waren, aber einer Einschränkung staatlicher Sozialleistungen Vorschub leisteten. Dazu zählt ein Trend zur Teilprivatisierung sozialer Leistungen, so in der Sozialen Pflegeversicherung 1994, in der Alterssicherung 2001 und in anderen Bereichen wie Arbeitsvermittlung und Krankenversorgung. Kulturell deuten Umfrageergebnisse darauf hin, dass die Vertreter jüngerer Generationen reduzierte Erwartungen an den Staat haben und offener sind für private Vorsorge. Das soziale Sicherungsziel wird in der Sicht von Experten teilweise individualisiert, was bedeutet, neben einer weiter erwarteten grundlegenden staatlichen Sorge durch private Vorsorge ein individuell definiertes Sicherungsziel zu verfolgen28. Gegenläufig zu den sozialstaatseinhegenden Bewegungen, zum Teil  explizit gegen sie gerichtet, entstand ein bis heute virulenter Sozialprotest, getragen von Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Sozialanwälten und linken Gruppierungen. Der Protest zielt darauf, sozialstaatliche Besitzstände gegen Sozial­ abbau zu verteidigen. Der Sozialprotest formierte sich erstmals in größerem Umfang um das Jahr 1984, als der Terminus »neue Armut« lanciert wurde, um auf die Probleme der andauernden Massenarbeitslosigkeit und der gleichzeitigen Leistungskürzungen für Arbeitslose aufmerksam zu machen. Die zweite Stufe es Sozialprotestes wurde 2005 durch die vierte Stufe der Hartz-Reformen ausgelöst. Mit Unterstützung des linken Gewerkschaftsspektrums führte dies sogar zu einer Strukturänderung des deutschen Parteiensystems. Es entstand eine neue Partei, die Linkspartei, die seither die SPD unter Druck setzt, »sozial gerechte« Politik zu betreiben. Schließlich sorgt seit Mitte der 2000er Jahre eine fast alle Parteien durchwirkende soziale Orientierung bis hin zu Sozialpopulismus dafür, dass Sozialstaatlichkeit selten abgebaut und oft ausgebaut wird. Die Zeit nach dem Boom lässt sich in zwei Phasen unterteilen, kurz beschrieben als »Sozialstaat in Bedrängnis« von 1975 bis Mitte der 1990er Jahre und als »Krise des Sozialstaats« seither29. Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen 28 Vgl. Frank Berner, Der hybride Sozialstaat. Die Neuordnung von öffentlich und privat in der sozialen Sicherung, Frankfurt a. M. 2009, S. 177 ff. 29 Leisering, Nachkriegssozialstaat, S. 427.

Nach der Expansion

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scheinen die Jahre zwischen 1975 und etwa 1995 eine Zeit des Übergangs nach dem Boom zu sein, bevor sich deutlichere Brüche und Diskontinuitäten bemerkbar machten30. Insoweit reagierte der Sozialstaat wie die ganze Gesellschaft verzögert auf die Veränderung der Rahmenbedingungen. Die Verzögerung war besonders ausgeprägt in Deutschland, wie ein Vergleich mit anderen Ländern zu erkennen gibt. So fanden die einschneidenden Rentenreformen in Schweden bereits 1994/98 statt, in der Bundesrepublik dagegen erst 2001 und 2004. Dem 2005 in Kraft getretenen Hartz-IV-Gesetz ging ein ähnliches Gesetz in Groß­ britannien 1997 voraus. Erst die Zeit seit Mitte der 1990er Jahre kann als genuine »Krise des Sozialstaats« bezeichnet werden. »Sozialstaat in Bedrängnis«: Von 1975 bis Mitte der 1990er Jahre fand tatsächlich ein gewisser Sozialabbau statt, eine Kürzung von Leistungen und Erschwerung von Zugangsbedingungen. Diese Einschränkungen begannen bereits unter der sozialliberalen Koalition vor dem Regierungsantritt Helmut Kohls im Oktober 1982. Im Gesundheitsbereich zielte eine Konzertierte Aktion schon 1977 auf »Kostendämpfung«. Primär ist diese Periode durch eine Konsolidierung des Erreichten charakterisiert. So war die 1989 verabschiedete »Rentenreform ’92« die letzte große Reform der Alterssicherung im Rahmen des überkommenen Sozialversicherungsparadigmas. Strukturell prägend war die seitdem nicht abbrechende, auch die Kommunen betreffende fiskalische Krise. Dies belegt Piersons generelle Analyse einer »permanent austerity« als Teil der »new politics of the welfare state«. Neben Abbau und Konsolidierung zeichnete sich jedoch bereits in den 1980er Jahren eine bis heute anhaltende neue Leistungsexpansion ab, die sich oft auf askriptive Kategorien bezog. Leistungen für Frauen wurden eingeführt und ausgebaut, so in der gesetzlichen Rentenversicherung seit 1986; zu nennen wären auch Leistungen für Familien wie Kindergeld und später Elterngeld, die erhöht oder neu geschaffen wurden. Bemerkenswert ist die Einrichtung eines neuen Zweigs der Sozialversicherung, der sozialen Pflegeversicherung, 1994/95, also 111 Jahre nach Einführung der ersten Sozialversicherung durch Otto von B ­ ismarck. Auch für Menschen mit Behinderung wurde viel getan. All dies fand unter erschwerten Bedingungen statt. Die hohe Arbeitslosigkeit ging nicht zurück, die Armut nahm zu. Dazu kamen neue soziale Probleme wie die Überschuldung von Privathaushalten und Drogensucht. Die deutsche Einigung 1990 führte zu einem massiven Anstieg der Sozialausgaben, weil der politische Druck zu einer schnellen Angleichung der Lebensverhältnisse in West und Ost stark war. Die Schwäche des wirtschaftlichen Wachstums hielt an, es gab kein Zurück zu den hohen Wachstumsraten der früheren Zeit. Zu den ökonomischen Problemen traten weitere strukturelle Veränderungen, die die Rahmenbedingungen für Sozialpolitik erschwerten: demografischer Wandel, Wandel von Arbeit und Arbeitsmarkt, wirtschaftliche Globalisierung, die Erosion der »stillen Reserve des Sozialstaats« (der Pflegeleistungen von Frauen31), und die Einwanderung. 30 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 14. 31 Kaufmann, Herausforderungen, Abschnitt 5.3.

230

Lutz Leisering

Dass sich der Sozialstaat trotz dieser Bedrängnisse im Wesentlichen auf dem erreichten Wohlfahrtsniveau konsolidierte, dokumentiert die Beharrungskraft aus­gebauter Sozialpolitik. Diese Beharrungskraft ist auf die Eigeninteressen von Anbietern wie Klienten zurückzuführen, die sich bei Wahlen, in der Politik von Verbänden und in der politischen Öffentlichkeit zeigen. »Krise des Sozialstaats«: Seit Mitte der 1990er Jahre veränderten sich erkennbar grundlegende Bezüge und Parameter. War die Sozialpolitik in der Bundesrepublik zuvor primär durch graduellen Wandel geprägt  – überspitzt sprach Czada von »reformlosem Wandel«32 –, so kam es nun zu einschneidenden Veränderungen politischer Ideen und Maßnahmen. Normative Leitvorstellungen wandelten sich. So wurden die überkommenen Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit ergänzt, vor allem durch die »neue Generationengerechtigkeit«, die das Verhältnis zu zukünftigen Generationen betrifft und Nachhaltigkeit als neuen Wertmaßstab in die Sozialpolitik einführt, sowie durch »Geschlechtergerechtigkeit«33. Auch konkrete Politiken (Policies) veränderten sich, sei es in Form eines inkrementellen Policy Drift oder durch einen grundlegenden Paradigmenwechsel. So verwandelten die Rentenreformen 2001 und 2004 das alte deutsche Sozialversicherungsmodell in ein Mehrsäulen-Modell34. Der politischen Schwierigkeit, die heilige Kuh des deutschen Sozialstaats, die gesetzliche Rentenversicherung, zu schlachten, wurde also durch eine Strategie des layering begegnet. Auf diese Weise entstanden Elemente eines regulativen Staates, der die neue private Vorsorge sozialstaatlich rahmte und sie mit der staatlichen und privaten Alterssicherung koordinierte35. Man sprach – wie Frank Berner – auch vom »hybriden Sozialstaat«. Schon die Soziale Pflegeversicherung von 1994 hatte systematisch private – kommerzielle und familiale – Leistungserbringer in die Sozialversicherung eingeführt; sie liegt insofern im Überlappungsbereich der Phasen »Sozial­staat in Bedrängnis« und »Krise des Sozialstaats«. Hybridität beinhaltete Abstriche bei staatlichen Leistungen, jedoch gleichzeitig die Ausdehnung sozialstaatlicher Verantwortung auf private Vorsorgemärkte, die dadurch zu »Wohlfahrtsmärkten«36 wurden. In der GKV gab es keine vergleichbare große Reform, jedoch eine Reihe von Reformen, die auch Paradigmenwechsel beinhalteten, vor allem 1993 mit dem Gesundheitsstrukturgesetz von ausgabenorientierter Einnahmepolitik zu ein32 Vgl. Roland Czada, Reformloser Wandel. Stabilität und Anpassung im politischen Akteur­ system der Bundesrepublik, in: Thomas Ellwein/Everhard Holtmann (Hrsg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen, Entwicklungen, Perspektiven, Opladen/ Wiesbaden 1999, S. 397–412. 33 Leisering, Paradigmen, S. 33 und S. 37–40. 34 Vgl. Frank Bönker, Der Siegeszug des Mehrsäulenparadigmas in der bundesdeutschen Rentenpolitik, in: ZSR 51 (2005), S. 337–362; Berner, Sozialstaat. 35 Vgl. Leisering, Transformations of the State. 36 Vgl. Frank Berner/Lutz Leisering/Petra Buhr, Innenansichten eines Wohlfahrtsmarkts. Strukturwandel der privaten Altersvorsorge und die Ordnungsvorstellungen der Anbieter, in: KZf SS 61 (2009), S. 56–89.

Nach der Expansion

231

nahmeorientierter Ausgabenpolitik. Im Bereich sozialer Probleme wuchsen Arbeitslosigkeit, Armut und Sozialhilfebezug weiter an. So gab es 2004 etwa dreibis viermal so viele Sozialhilfeempfänger wie 1970. Um 2010 hatte sich schließlich die Zahl der Empfänger sozialhilfeartiger Leistungen, einschließlich Arbeits­ losengeld II, seit 1970 etwa verachtfacht auf einen Wert, der seitdem um zehn Prozent der Bevölkerung schwankt. Der überkommene deutsche Sozialversicherungsstaat ist ein Stück weit Fürsorge- oder Sozialhilfestaat geworden.

5. Die institutionelle Dynamik des »Sozialsektors« Die im vorangehenden Abschnitt dargestellten Befunde zur Persistenz des Sozialstaats beziehen sich im Kern auf Veränderungen des Leistungsrechts und darauf bezogener Policies. Auch die Sozialabbauthese bezieht sich auf die Leistungsgesetzgebung. Damit wird die in diesem Abschnitt darzustellende organisationale Dynamik des Sozialsektors, die sich relativ unabhängig von Veränderungen des Leistungsrechts vollzieht, ausgeblendet. Am Ende des Booms war ein komplexer Wohlfahrts- oder Sozialsektor entstanden, der rund 30 Prozent des BIP auf sich zog. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt überwiegend von Leistungen aus diesem Sozialsektor, sei es als Leistungsempfänger oder als im Sozialsektor beschäftigte Person. Bald waren um die 50 Prozent der Wähler existentiell vom Sozialstaat abhängig37. Die Institutionen des Sozialstaats prägten und prägen Mentalitäten, weil sie den konkreten Lebensalltag der Menschen durchdringen38. Sozialrechtliche Kategorien wie Rentner, Sozialhilfeempfänger, Behinderung und Patient wurden zu lebensweltlichen Kategorien. Zugleich formen oder schaffen die Institutionen des Sozialstaats Interessen von Anbietern und Klienten. »Moralische Unternehmer«39, etwa Ärzte und Sozialarbeiter, sind Anbieter im Sozialbereich, die gleichzeitig in politischen Diskursen die Moral des Sozialen vorantreiben. Hinzu kommen vermittelnde »Sozialanwälte«, etwa Kirchenleute, Journalisten und Sozialwissenschaftler. Die Interessenbasis des Wohlfahrtssektors reicht weit, weil die Institutionen dieses Sektors nicht nur staatlicher Natur sind, sondern auch zivilgesellschaftliche und privatwirtschaftliche Träger gerade in Deutschland eine große Rolle spielen. Dazu zählen die freien Träger der Wohlfahrtspflege, die Wohlfahrtsverbände, die oft staatlich geförderten Organisationen und Initiativen von und/oder für Arbeitslose, Behinderte und andere Problemgruppen, die Pharmaindustrie und die Hersteller medizinischer Technik, Kur- und Rehabilitationsindustrien und, 37 Vgl. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland, S. 154. 38 Vgl. dazu schon früh Hans Achinger, Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik. Von der Arbeiter­f rage zum Wohlfahrtsstaat, Frankfurt 31979. 39 Vgl. Bernhard Giesen, Moralische Unternehmer und öffentliche Diskussion, in: KZf SS 35 (1983), S. 230–254.

232

Lutz Leisering

in Deutschland verstärkt erst seit den Rentenreformen der früher 2000er Jahre, die Versicherungs- und Finanzindustrie40. Neben den sich an den Sozialsektor heftenden Interessen leisten wirkmächtige soziale Ideen dem Erhalt und dem Ausbau des Sozialsektors Vorschub. Über allgemeine Ideen sozialer Gerechtigkeit hinaus wirken institutionenspezifische soziale Ideen, so das Prinzip der Lebensstandardsicherung im Alter, das mit der großen Rentenreform 1957 eingeführt wurde, das Äquivalenzprinzip (die sogenannte lohnbezogene Rente), die Idee eines nicht nur physischen, sondern auch soziokulturellen Existenzminimums für Arme (Bundessozialhilfegesetz 1961) und die starke Leistungsnorm der gesetzlichen Krankenversicherung, gemäß der alle Versicherten Anspruch auf Behandlung nach dem »allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse« haben, wie es im Sozialgesetzbuch V, Paragraph 70, heißt. Die Institutionalisierung des Sozialen im Sozialsektor bedingt zum einen eine Beharrungskraft des Sozialstaats und damit eine Entschleunigung, die die sozialen Systeme relativ entkoppelt von wechselnden Regierungen und politischen Ideen oder von wirtschaftlichen Schwankungen. Zum anderen können die Institutionen des Sozialsektors eine Eigendynamik entwickeln, die ebenfalls von politischen und wirtschaftlichen Dynamiken vergleichsweise stark entkoppelt ist und eine Beschleunigung bewirken kann. Der Sozialsektor hat eine eigene Zeitlichkeit. Nach dem Ende des Booms ist alles in allem eine deutliche Entschleunigung der expansiven Leistungsgesetzgebung festzustellen, aber die Dynamik der sozialen Institutionen wurde dadurch nicht notwendig gebremst. Während Doering-Manteuffel und Raphael makrosoziale Veränderungen wie den Aufstieg globaler Finanzmärkte, Digitalisierung, Individualisierung und Pluralisierung betonen41, wollen wir das Augenmerk auf die Meso- oder organisationale Ebene sozialen Wandels lenken, die Dynamik des Sozialsektors. Wir rekonstruieren drei Typen der Dynamik des Sozialsektors: verhaltensinduzierte Dynamiken, strukturelle (sozialstrukturell induzierte)  Dynamiken und im engeren Sinne institutionelle Dynamiken42. Alle drei Typen hängen zum Teil  mit makrosozialen Veränderungen zusammen, entfalten sich jedoch aufgrund organisationaler Eigenlogiken auch ohne Veränderungen von Policies. Die Bezeichnung induziert soll anzeigen, dass makrosoziale Veränderungen hierbei eine Rolle spielen, die aber unmittelbar auf sozialstaatliche Leistungsorganisationen einwirken, unterhalb der Ebene politischer Gestaltung. Verhaltensinduzierte Dynamiken ergeben sich aus einem veränderten Inanspruchnahmeverhalten der Adressaten sozialstaatlicher Leistungen wie aus 40 Zum daraus resultierenden Wandel des Sozialsektors siehe Leisering, Transformations of the State, S. 268 ff. 41 Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, passim. 42 Diese Unterscheidung basiert auf Lutz Leisering, Wohlfahrtsstaatliche Dynamik als Wertproblem, in: Karl Gabriel/Alois Herlth/Karl Peter Strohmeier (Hrsg.), Modernität und Solidarität. Festschrift für Franz-Xaver Kaufmann, Freiburg 1997, S.  251–273, hier S.  252 f.; mit Anregungen von Detlev Zöllner, Öffentliche Sozialleistungen und wirtschaftliche Entwicklung, Berlin 1963, S. 22–27, und Alber, Armenhaus, S. 203–207.

Nach der Expansion

233

einem veränderten Anbieterverhalten von Leistungserbringern. Beide Arten von Veränderungen können auch auftreten, wenn sich die betreffende soziale Leistung oder Institution rechtlich nicht verändert und auch die zugrunde liegenden sozialen Probleme gleich bleiben. So gehen gerade Deutsche heute sehr viel häufiger zum Arzt als früher. Hier schlagen Folgen des kulturellen Wandels wie Individualisierung und Konsumismus direkt auf die Organisationsebene durch. Zugleich gibt es Veränderungen auf der Anbieterseite. So hat sich die Zahl der Ärzte wie auch die Zahl der Beschäftigten in Wohlfahrtsverbänden in der Zeit nach dem Boom vervielfacht, wie Tabelle 1 zeigt. Deutschland hat international eine sehr hohe Ärztedichte. Ein hohes Angebot fördert eine hohe Nachfrage nach Leistungen. Anbieterklassen und Wohlfahrtsindustrien wirken offensiv auf mehr Nachfrage hin. Kollektives Handeln von Anbietern wie Status- und Lohnpolitik kann auch ohne gesetzgeberische Umgestaltung der Leistungsinstitutionen den Sozialsektor expandieren lassen. Zweitens sind strukturelle Expansionsdeterminanten zu nennen, bei denen sozialstruktureller Wandel sich unmittelbar in der Operation der sozialstaatlichen Leistungssysteme niederschlägt und gleichsam automatisch ausgabentreibend wirkt. Ein zentraler Faktor ist der demografische Wandel. Die Altersstruktur der Bevölkerung ist aufgrund des breiten Deckungsgrads der GRV und der starken rechtlichen Verankerung von Leistungsansprüchen in Form von Rentenanwartschaften zu einem zentralen Systemparameter und Quelle institutioneller Dynamik geworden. Einschneidende Folgen des demografischen Wandels werden für 2030 und danach erwartet, jedoch hat schon heute die seit dem Ende des Booms massiv gestiegene Lebenserwartung der Menschen die Rentenlaufzeiten erheblich verlängert. Schon während des Booms wirkte sich sozialstruktureller Wandel aus. So haben die Schrumpfung des Agrarsektors und der Rückgang selbständiger Erwerbstätigkeit den sozialen Sicherungssystemen für abhängig Beschäftigte, den Sozialversicherungen, neue Adressaten zugeführt. Generell ist das Anwachsen sozialer Probleme nicht nur ein potentieller Auslöser erweiterter Leistungsgesetzgebung, sondern auch eine strukturelle, sozusagen subjektlos wirkende Expansionsdeterminante im Sozialsektor. So schlägt eine Zunahme von Armut unmittelbar auf die Sozialhilfe durch; die Empfängerzahlen steigen, es fallen höhere Ausgaben an, und die zuständigen Ämter stocken unter Umständen ihr Personal und ihre Räumlichkeiten auf. Analoges gilt für eine Zunahme von Arbeitslosigkeit oder Drogensucht. Ein dritter Typus sind institutionelle Dynamiken im engeren Sinne. Eine starke Kraft ist der medizinisch-technische Fortschritt, der angesichts der starken Leistungsnorm in der GKV zu einer potentiell unlimitierten Wachstumsdynamik führt. Entwicklungen von Medizintechnik und Pharmazeutik werden aufgrund der Leistungsnorm und der Verbreitung der GKV in der Bevölkerung zu einem zentralen Systemparameter und damit ein Motor institutioneller Eigendynamik. Es wird wenig wahrgenommen, dass die »Produkte« der GKV sich ständig erweitern, diversifizieren und intensivieren – eine immer stärker sprudelnde Quelle sozialstaatlicher Expansion. Ein weiterer struktureller Expansionsfaktor

234

Lutz Leisering

26

656.484

2,5 %

1990

31

751.126

2,6 %

1995

35

1.121.043

3,1 %

Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesene

1985

Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesend

2,2 %

Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen

592.870

Soziale Berufea,IV

23

Gesundheits- und Krankenpflegera

Beschäftigte in der Freien Wohlfahrtspflegec, I 1,5 %

Berufstätige Ärzteb

381.888

Beschäftigte in den Sozialversicherungena

Beschäftigte in der Freien Wohlfahrtspflege

Tabelle 1: Expansion des Sozialsektors in der Bundesrepublik Deutschland

3.250.000

39,8

9,1 %

1950 1955

14

1960

14

1965

15

1970

16

1975

19

1980

2000

348,6

38

1.164.329

3,2 %

718

258

3.615.000

44,0

10,0 %

2005

367,4

38

1.414.937

4,0 %

763

332

4.058.000

49,2

11,2 %

2010

382,8

42

1.494.476

3,9 %

818

447

2012

370,8

Einheit: a) 1000; b) je 10.000 Einwohner; c) % der erwerbstätigen Bevölkerung; d) je 1000 Einwohner; e) % der zivilen Beschäftigung; f) Anteil an der Bevölkerung 60+ Anmerkungen: I) Daten zur Beschäftigung in der freien Wohlfahrtspflege aus anderen Jahren als angegeben: 1981->1980, 1984->1985, 1996->1995, 2004->2005, 2008->2010; II) Daten für 1990 beziehen sich für die GRV auf das frühere Bundesgebiet, für die Bevölkerung 60+ auf Gesamtdeutschland; III) Daten bis einschl. 1990 früheres Bundesgebiet, ab 1995 Gesamtdeutschland; IV) Altenpfleger, Heilerziehungspfleger, Heil­ pädagogen

235

Beitragssatz GRV

2.820.395

17.655

8,4 %

14 %

3.478.698

17.201

9,8 %

14 %

Bevölkerung 60+II

Beitragssatz GKV

GKV-Abgesicherte (Pflichtversicherte, Rentner, Familienangehörige)

Pflichtmitglieder der GKV (ohne Rentner und Familienangehörige)a, III

Altersrentner der GRVf, II

Altersrenten der GRVII

Nach der Expansion

13.245 15.448

4.389.926

37 %

17.839

8,2 %

17 %

11.803.832

5.516.267

45 %

19.137

10,5 %

18 %

12.370.167

6.062.564

51 %

20.638

11,4 %

18 %

11.965.999

6.952.570

56 %

21.106

11,8 %

18,7 %

12.482.413

8.522.528

52 %

22.494

12,78 %

18,7 %

16.262.951

13.286.795

77 %

30.147

61.260.226

13,15 %

18,6 %

17.209.362

15.337.980

79 %

29.205

59.593.861

13,57 %

19,3 %

19.412.179

16.930.718

82 %

28.689

61.709.321

13,73 %

19,5 %

20.540.098

17.618.788

82 %

30.065

62.010.513

14,9 %

19,9 %

21.493.730

17.716.624

82 %

61.011.631

15,5 %

19,6 %

21.660.949

Quellen: Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Bevölkerung und Wirtschaft 1872–1972, Stuttgart 1972, S. 124; Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Fachserie 12; Reihe 1, Ausgewählte Zahlen für das Gesundheitswesen, Jg. 1999, Stuttgart 2001, S.  51; Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.), Daten des Gesundheitswesens 2012. Bonn 2013 (www.bundesgesundheitsministerium.de); Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrtspflege  – Gesamtstatistik 2008; Gesundheitsberichterstattung des Bundes: Robert Koch-Institut 2014: www.gbe-bund.de; OECD, OECD.stat (database) 2014; Deutsche Rentenversicherung, Rentenversicherung in Zeitreihen, DRV-Schriften Band 22, 2013

236

Lutz Leisering

ist die relative Verteuerung von Dienstleistungen im Vergleich zur Warenproduktion, die zuerst in einem vielzitierten Aufsatz von Baumol identifiziert wurde43; danach sind soziale Dienstleistungen nicht in dem Maße rationalisierbar wie die industrielle Produktion von Gütern. Darüber hinaus ist das Altern sozialstaatlicher Institutionen eine Quelle von Dynamik im Sozialsektor, oft aber auch von institutioneller Erstarrung und Entschleunigung. Institutionen verändern sich im Zeitverlauf, auch wenn ihre Formalstruktur identisch bleibt. So sind in umlagefinanzierten Systemen wie der GRV die Anfangsjahre relativ leicht, weil es nur wenige Rentenansprüche zu befriedigen, aber bereits viele Beitragszahler gibt. Mit fortschreitendem Alter des Systems rücken jedoch immer mehr Beitragszahler in den Rentenstatus ein. Reife Umlagesysteme sind daher fiskalisch schwieriger. Politisch kann bei altern­den Institutionen mit Verlust von Innovationsfähigkeit und sozialen Schließungen gerechnet werden. Soziale Professionen können Institutionen »kapern«; darauf verweist der Ausdruck professional capture. In der GRV dominierte bis weit in die 1990er Jahre eine kleine Gruppe von etwa 30 »Rentenmännern«, die konsensuell ein eng verstandenes Sozialversicherungsparadigma der Alterssicherung vertraten44. Insoweit wirkte das Altern der Institution GRV politisch entschleunigend. Die Beharrungskraft der GRV erzeugte aber einen Problemdruck, der in den Reformen 2001 und 2004 zum Rückbau der GRV, aber auch zum Ausbau der betrieblichen und der staatlich regulierten individuell-privaten Alters­vorsorge führte. Institutionelles Altern kann aber auch in einem problemmindernden Sinne entschleunigend wirken. Die Zweige der Sozialversicherungen haben ihren Adressatenkreis auf eine kaum mehr zu steigernde Quote von über 90 Prozent erweitert, sie sind also »quasi-universalistisch« geworden45. Flora spricht von »Growth to Limits«46.

6. Die Mediatisierung der Sozialpolitik: Sozialpolitik zweiter Ordnung Mit der Evolution des Sozialstaats nach dem Boom geht auch eine Veränderung des Typus oder Stils sozialpolitischen Handelns einher. Einen innovativen Zugang zur Charakterisierung des neuen Policy-Typs hat Kaufmann entwickelt47, der postulierte, dass die herkömmliche Leistungspolitik – er nennt sie Sozialpolitik erster Ordnung – seit den 1970ern in den Hintergrund gerückt ist, während eine neue Politik – die Sozialpolitik zweiter Ordnung – an Bedeutung gewonnen 43 Vgl. William J. Baumol, Macro-Economics of Unbalanced Growth: The Anatomy of­ Urban Crisis, in: American Economic Review 57 (1967), S. 415–426. 44 Vgl. Frank Nullmeier/Friedbert W. Rüb, Die Transformation der Sozialpolitik. Vom Sozial­ staat zum Sicherungsstaat, Frankfurt a. M./New York 1993, S. 301. 45 Leisering, Nachkriegssozialstaat, S. 433. 46 Peter Flora (Hrsg.), Growth to Limits: The Western European Welfare States Since World War II, 3 Bde., Berlin/New York 1986/87. 47 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Sozialpolitik und Sozialstaat, Wiesbaden 22005, Kap. 5.

Nach der Expansion

237

hat. Gemeint ist, dass sich die Politik angesichts eines gewachsenen Sozialsektors weniger der unmittelbaren Bearbeitung sozialer Probleme zuwenden kann, sondern sich wachsenden Erfordernissen der »Reparatur«, organisationalen Reform und Koordinierung der etablierten Systeme der Problembearbeitung gegenüber sieht. Im Zuge seiner Expansion ist der Sozialstaat selbst zum Problem geworden, er bezieht sich nicht mehr nur auf externe soziale Probleme, sondern auch auf internen Anpassungsbedarf; insoweit ist er reflexiv geworden. Man könnte auch von Institutionenpolitik statt von Sozialpolitik im herkömmlichen Sinn reden. Sozialpolitik zweiter Ordnung lässt sich als Reaktion auf Steuerungsprobleme eines komplexen und alle Lebensbereiche berührenden institutionellen Sektors deuten. Der von Kaufmann identifizierte Policy-Wandel ist grundlegender als die von Thelen benannten neuen Typen von Policies, die sich nur auf veränderte Leistungspolitiken beziehen. Nach Kaufmann begann die Sozialpolitik zweiter Ordnung in den 1970er Jahren dominant zu werden, was zum Ende des Booms passt, jedoch auf grundlegendere, über verringerte Verteilungsspielräume hinausreichende Probleme verweist. Die während der Boomzeit gewachsenen Erwartungen in der politischen Öffentlichkeit richteten sich auf Sozialpolitik erster Ordnung, also auf Leistungspolitik. In dem Maße, wie Sozialpolitik zweiter Ordnung die Agenda der Sozialpolitik dominiert, mussten und müssen die Problembearbeitungserwartungen enttäuscht werden, und zwar nicht nur, weil die Verteilungsspielräume kleiner geworden sind, sondern weil der Sozialsektor – als institutionelles Erbe des Booms neben dem mentalen Erbe der Leistungserwartungen  – Leistungspolitik in den Hintergrund rücken lässt. Es entstand eine Kluft zwischen »kommunikativen Diskursen«, die zwischen Politikern und politischer Öffentlichkeit geführt werden, und »koordinativen Diskursen«, die von Experten im politischadministrativen System geführt werden48. In ersteren wurden Fragen einer Sozialpolitik erster Ordnung thematisiert, in letzteren aber Herausforderungen einer Sozialpolitik zweiter Ordnung. Die Enttäuschung von »Problembearbeitungserwartungen« in der Bevölkerung konstituierte ein Legitimationsproblem. Ein Beispiel ist das Arbeitslosengeld II, gemeinhin Hartz IV genannt. In der Öffentlichkeit wird der Leistungsabbau, die Herunterstufung der Arbeitslosenhilfe zu Sozialhilfe (also negative Sozialpolitik erster Ordnung), kritisiert, während es den Verfechtern der Reform wesentlich darum ging, die Organisation der Sozialhilfe zu verändern, also Sozialpolitik zweiter Ordnung zu betreiben. Organisationale Änderungen wie die Einführung des Case Managements, verbunden mit einer Erhöhung des Fallschlüssels, gesteigerte Beratungsangebote, betriebswirtschaftliche Formen des New Public Management und eine stärkere Vernetzung zwischen örtlichen Stellen wie Job-Center, Drogenberatung und Schuld48 Zur Unterscheidung dieser beiden Diskurstypen vgl. Vivien A. Schmidt, Values and Discourse in the Politics of Adjustment, in: Fritz W. Scharpf/Vivien A. Schmidt (Hrsg.), ­Welfare and Work in the Open Economy, Bd. 1, Oxford 2000, S. 229–309; zur Anwendung auf die deutsche Sozialpolitik vgl. Leisering, Paradigmen, S. 61 f.

238

Lutz Leisering

nerberatung wurden öffentlich wenig wahrgenommen, und wenn, dann nur ihre kritischen Korrelate wie die Verschärfung von Kontrollen und Sanktionen49. Mit Kaufmann kann die Sozialpolitik erster Ordnung in Primärintervention und Intensivierung unterschieden werden50, wobei letztere die »goldenen Jahre« des Nachkriegssozialstaats charakterisiert (Tabelle 2). Ein Indiz für die Bedeutungsminderung von Sozialpolitik erster Ordnung ist die  – im letzten Drittel der 1990er Jahre zu beobachtende  – Erosion der Gemeinschaft der »Sozialpolitiker« in Parlamenten und Regierungen51. Dieser Begriff meint eine vernetzte und wahrnehmbare Community sozialpolitisch engagierter Politiker, die grund­ legende Annahmen über soziale Probleme und deren Bearbeitung teilen und deren Aktivitäten sich auf Sozialpolitik erster Ordnung richten – oft in Frontstellung zu den »Finanzpolitikern«. Reflexive, auf seine eigenen Apparate bezogene Politiken im Sozialstaat gab es schon früh. Im Vorfeld der Rentenreform 1957 wurde in Fachdiskussionen der »Sozialrechtsdschungel«52 beklagt und eine bessere Abstimmung der gewachsenen Vielfalt von Sozialleistungen gefordert, die jedoch ausblieb. In der Regierungszeit der ersten großen Koalition zwischen 1966 und 1969, die als erste Stufe einer Modernisierung der Sozialpolitik gilt, trat bereits neben herkömmliche Leistungspolitik eine übergreifende Institutionenpolitik. Diese manifestierte sich vor allem in der Konstruktion eines »Sozialbudgets«, das seitdem von Ministerialbeamten aus einer Vielzahl getrennter Datenquellen zu sozialen Siche­ rungssystemen erzeugt wird, und im Beginn der Sozialberichterstattung. Seit den 1970er und endgültig seit den 1980er Jahren wurde Sozialpolitik zweiter Ordnung jedoch dominant. Die Idee von Kaufmann entwickelnd, können vier Typen von Sozialpolitik zweiter Ordnung unterschieden werden (Tabelle 2): Koordination und Integration institutioneller Bereiche der sozialen Sicherung; Leistungsstruktur- und Ausgabenpolitik; Finanzstrukturpolitik; Organisations- und Steuerungspolitik. Die Zunahme von Sozialpolitik zweiter Ordnung kann auch als Mediatisierung der Sozialpolitik bezeichnet werden. Die seit den 1990er Jahren zunehmende (Teil-)Privatisierung sozialstaatlicher Leistungserbringung durch Delegation an privatwirtschaftliche, betriebliche oder zivilgesellschaftliche Akteure hat die Mediatisierung verstärkt, wobei festzuhalten ist, dass Privatisierung nicht heißen muss, dass der Sozialstaat abgebaut 49 Zu den organisationalen Reformen der Sozialhilfe, die in den deutschen Kommunen bereits in den 1990er Jahren begannen, vgl. Frank Berner/Lutz Leisering, Sozialreform »von unten«. Neue Wissenssysteme in der kommunalen Sozialhilfeverwaltung. Ergebnisse einer bundesweiten Erhebung, in: Nachrichtendienst des Deutschen Vereins für private und öffentliche Fürsorge 83 (2003), S. 186–193. 50 Vgl. Kaufmann, Sozialpolitik und Sozialstaat, hier Kap. 5. 51 Vgl. etwa Berner, Sozialstaat, S. 220; Lutz Leisering/Ines Vitic, Die Evolution marktregulativer Politik. Normbildung in hybriden Bereichen sozialer Sicherung. Das Beispiel der Unisex-Tarife für die Riester-Rente, in: ZSR 55 (2009), S. 97–123, hier S. 117 f. 52 Zit. nach: Hans Günter Hockerts, Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Alliierte und deutsche Sozialversicherungspolitik 1945 bis 1957, Stuttgart 1980, S. 198.

soziale Problemlagen

erste Gesetzgebung

Wirkungsfeld von Sozialpolitik

Formen/ Beispiele

Intensivierung

–– Erhöhung der Regelungs- und Kontrolldichte –– Erweiterung der Zielgruppen (Bsp.: Angestelltenversicherung 1911; Ausdehnung des Arbeitsschutzes von Kindern auf alle Bürger) –– Differenzierung von Lösungs­ mustern (Bsp.: Einführung von Hinterbliebenenversorgung 1916 und von Erziehungsjahren in der GRV, 1985)

soziale Problemlagen

seit 20. Jahrhundert, dominant bis Mitte 1970er

–– Koordination und Integration institutioneller Bereiche sozialer Sicherung Bsp.: Sozialbericht und Sozialbudget (seit 1969); Sozialgesetzbuch (seit 1976), Sozial­ gesetzbuch IX (Zusammenführung von Maßnahmen für Behinderte, 2001), Besteuerungsangleichung öffentliche/private Altersvorsorge (2004), Fusion Arbeiter- und Angestelltenversicherung (2005) –– Leistungsstruktur- und Ausgabenpolitik Bsp.: »Kostendämpfung«, Budgetierung und Positivliste in GKV; »Paketgesetzgebung« der 1990er zur Haushaltskonsolidierung; von ausgabenorientierter Einnahmepolitik zu einnahmeorientierter Ausgabenpolitik in GKV (1993, Budgetierung) und GRV (2001) –– Finanzstrukturpolitik Bsp.: Begrenzung des Beitragssatzes der Sozialversicherungen zwecks Begrenzung der Lohnnebenkosten; Beitragssatzstabilität als gesetzliches Ziel in GKV, Konzept einer Kopfgeldpauschale in GKV (Mitte 2000er), Ökosteuer und Kapitaldeckung in Alters­ sicherung (2001), nachgelagerte Besteuerung in Alterssicherung (2004) –– Organisations- und Steuerungspolitik: Änderung administrativer Strukturen und Steuerungsarrangements Bsp.: Konstituierung von Verhandlungssystemen/Selbstregulierung/Korporatismus am Arbeitsmarkt (Bündnis für Arbeit) und in GKV (Konzertierte Aktion, 1977–2003; Verhandlungssysteme Kassenärzte-Krankenkassen); »New Public Management« (seit 1990er), Sozialtechnologien wie Case Management, Disease Management Programs und Fallpauschalen in Krankenhäusern; Regelbindung in GRV (Nachhaltigkeitsfaktor, 2004)

Sozialsektor

dominant seit Mitte 1970er

Sozialpolitik zweiter Ordnung

Quelle: Franz-Xaver Kaufmann, Sozialpolitik und Sozialstaat, 2. A., Wiesbaden 2005, Kap. 5; eigene Konzeptualisierung

Beispiele: Bismarcksche ­ Sozialversicherung (1883–1889), Kinder­geld (in BRD 1954), ­ Soziale Pflegever­ sicherung (1994)

seit 19. Jahrhundert, dominant bis zum 2. Weltkrieg

historischer Zeitraum

Primärintervention

Sozialpolitik erster Ordnung

Tabelle 2: Von Sozialpolitik erster Ordnung zu Sozialpolitik zweiter Ordnung Nach der Expansion

239

240

Lutz Leisering

wird. Unter wohlfahrtsstaatlichen Bedingungen ist die Politik darauf bedacht, die nicht-staatliche Wohlfahrtsproduktion in Bezug auf »soziale« Ziele zu regulieren. Auch das ist eine Form von Sozialpolitik, die sich in letzter Zeit ausgedehnt hat, etwa durch neue private Elemente in der Pflegeversicherung (1994) und der Alters­siche­rung (2001). Auch hier zielt Sozialpolitik nicht mehr unmittelbar auf die Bearbeitung sozialer Probleme, sondern auf – in diesem Fall nicht-staatliche – Insti­tutionen der Wohlfahrtsproduktion. Wir haben es also hier mit indirekter Sozialpolitik zu tun – einer Sozialpolitik zweiter Ordnung in erweitertem Sinn. Ein früher und einflussreicher Versuch, die neue Wohlfahrtsstaatlichkeit zu beschreiben, war das Konzept des enabling state53. Danach sei der Sozialstaat von einer direkten Leistungserbringung verstärkt zu indirekter Sozialpolitik übergegangen, die darauf ziele, Personen und nicht-staatliche Wohlfahrtssysteme zu befähigen, die Wohlfahrt der Bürger zu steigern. Unabhängig davon entwickelte Kaufmann54 den ähnlich gelagerten Begriff »Steuerungsstaat«. Er bezeichnete damit einen neuen Staat(sdiskurs), der von dem Sozialstaat des »goldenen Zeitalters« – zumindest von dessen Selbstbeschreibung als Leistungsstaat – abwich. Neben der sozialen Regulierung privater Wohlfahrtsproduktion fungieren seit den 1990er Jahren »sozialinvestive« Politik, vor allem in Bezug auf Bildung und Familie, und »aktivierende« Politik, vor allem in der Arbeitsmarkt- und Randgruppenpolitik, als weitere Leitbilder einer Reform der Sozialpolitik in der Krise. Enabling state und »Steuerungsstaat« decken alle drei neuen Leitbilder ab55. Alle drei sind nicht mehr unmittelbar auf die Bearbeitung sozialer Probleme gerichtet. Die Dynamik sozialstaatlicher Entwicklung wird hierdurch nicht notwendig entschärft. Enabling policies lösen häufig Sozialprotest aus, und unter Bedingungen sozialstaatlicher Mentalität kann sich eine Dynamik sozialer Regulierung entfalten56.

7. Die Evolution des Sozialstaats zwischen Sozialstaatskultur, Dynamik des Sozialsektors und gesellschaftlichem Wandel Wir sind ausgegangen von der Beobachtung, dass der bundesrepublikanische Sozialstaat mit dem Nachkriegsboom entstanden ist, nach dessen Ende jedoch blieb. Die Entwicklung der Sozialpolitik nach dem Boom galt es zu analysieren und zu erklären. Der Befund ist, dass sich der bundesrepublikanische Sozialstaat auch nach dem Boom, unter den Bedingungen von verringerten wirtschaftlichen Wachstumsraten und »permanent austerity«, in vielfältiger Weise weiter 53 Vgl. Neil Gilbert/Barbara Gilbert, The Enabling State. Modern Welfare Capitalism in America, New York/Oxford 1989; Neil Gilbert, Transformation of the Welfare State. The Silent Surrender of Public Responsibility, Oxford/New York 2002. 54 Vgl. Kaufmann, Sozialpolitik und Sozialstaat, hier Kap. 14. 55 Lutz Leisering, Nation State and Social Policy: An Ideational and Political History, in: ders. (Hrsg.), German Social Policy, Bd. 1, Berlin/Heidelberg 2013, S. 1–22, hier S. 17. 56 Leisering/Vitic, Die Evolution marktregulativer Politik.

Nach der Expansion

241

ausgedehnt und diversifiziert hat. Zugleich gab es bereits seit den späten 1970er Jahren begrenzte Leistungskürzungen und alles in allem eine Politik der Konsolidierung des Erreichten. Erst seit den 1990er Jahren wurden soziale Sicherungssysteme strukturell angepasst und »umgebaut«, was schrittweise zu einem anderen Sozialstaat geführt hat. Der (west-)deutsche Sozialstaat wurde nach dem Boom also nicht substanziell abgebaut, wohl aber (verzögert) verändert. Der Anteil der Sozialausgaben am BIP blieb seit 1975 in etwa gleich, was einen Ausbau im Gleichschritt mit der weiterhin wachsenden Wirtschaft bedeutete, aber nicht mehr wie noch in den 1960er und 1970er Jahren eine Expansion darüber hinaus. Die Wirtschaft blieb also auch nach dem Boom eine notwendige Grundlage, aber die weitere Ausdehnung des Sozialstaats beruhte auf kulturellen, politischen und institutionellen Faktoren. In der Boomzeit gewachsene Erwartungen der Menschen und ebenfalls sozialstaatlich erzeugte Interessen von Leistungsanbietern und -empfängern wirkten als »Politikerbe« fort – im Sinne einer »inertia of established commitments«57. Gegenüber dem in der Literatur wie in der politischen Öffentlichkeit vorherrschenden Fokus auf Veränderungen von P ­ olicies und Leistungsrecht haben wir in diesem Beitrag ein weiteres Erbe des Booms herausgestellt, die gewachsenen Institutionen des Sozialstaats, deren Ensemble Kaufmann als Sozialsektor bezeichnet hat. Dessen institutionelle Trägheit leistete und leistet Persistenz und Dynamik des Sozialstaats nach dem Boom gleichermaßen Vorschub. Der Befund gewachsener Erwartungen und Aspirationen bezieht sich auf legislative Expansion. Auch die liberale und konservative Polemik gegen den überbordenden Versorgungsstaat und willfährige Politiker nimmt wie die linke Kritik am Sozialabbau legislative, intentionale Prozesse aufs Korn. Aber das institutionelle Argument zielt auf weniger sichtbare organisationale und strukturelle Eigen­ dynamiken des Sozialsektors, die dazu führen, dass auch ohne Ausweitung des Leistungsrechts Kosten, Klienten und Personal weiter ansteigen können. Das Leistungsrecht ist teilweise ausgedünnt worden, aber zugleich sind die Institutionen des Sozialstaats – verwiesen sei nur auf die Ärztedichte, das Spektrum medizinischer Behandlungsmöglichkeiten, die Rentenlaufzeiten und das Heer der im Sozialsektor Beschäftigen – nach dem Boom enorm expandiert. Ausdehnung und Wandel des Sozialstaats kann also nicht oder nicht allein auf eine Expansionsprogrammatik zurückgeführt werden, sondern ist auch getrieben durch eine nicht voll steuerbare Dynamik heterogener institutioneller Kräfte. Der deutsche Konsenssozialstaat, in dem beide großen Parteien Sozialstaatsparteien sind58 und in dem der Wohlfahrtsstaat zu einem Stück nationaler Kultur wurde59, entstand in der Zeit des Booms. Aber auch danach wurde die sozial57 Richard Rose, Understanding Big Government. The Programme Approach, London/Beverly Hills 1984, S. 48. 58 Vgl. Schmidt u. a. (Hrsg.), Wohlfahrtsstaat, S. 212. 59 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Sozialstaat als Kultur – Soziologische Analysen II, Wiesbaden 2015.

242

Lutz Leisering

staatliche Kultur noch vertieft und entwickelt, so im Zuge der fortschreitenden Individualisierung breiter Bevölkerungskreise, die sich im Kontext der deutschen Sozialstaatskultur mit Absicherungs- und Ermöglichungsforderungen an den Staat verband60, und durch die Ausdehnung des universalistischen Impetus von Sozialstaatlichkeit auf bislang vernachlässigte Gruppen, insbesondere auf Randgruppen (seit den 1970er Jahren), auf Frauen, die nachwachsende Generation und Menschen mit Behinderungen. Neue Ideen in den 1990er Jahren, vor allem neue Gerechtigkeitskonzepte wie Generationen- und Geschlechter­gerechtigkeit, wirkten als Fanal. Esping-Andersen hat – auf der Basis von um 1980 erhobenen Daten – ein konservatives Wohlfahrtsregime (darunter Deutschland und Frankreich), ein sozialdemokratisches Regime (Skandinavien) und ein liberales Regime (USA) unterschieden61. In dieser Terminologie kann man sagen, dass sich das deutsche konservative Regime in vielem dem sozialdemokratischen Regime angenähert hat, auch die Parteien wurden sozialdemokratisiert. Zugleich nahm die Bundesrepublik Deutschland Elemente des liberalen Wohlfahrtsstaatsregimes auf, erkennbar an Leistungsabstrichen und dem komplementären Ausbau privater Sicherungen, verbunden mit enabling policies. Dieser Wandel wurde als Einfluss von Profitstreben privater Anbieter62 oder des »Neoliberalismus«63 gedeutet. Kaufmann führte den Übergang dagegen auf die strukturelle Limitierung leistungsstaatlicher Beeinflussung individueller Lebenslagen zurück: Angesichts der Verselbständigung lebenslagerelevanter Handlungszusammenhänge sei »die zielgruppenspezifische Individualisierung der staatlichen Eingriffe allein nicht in der Lage […], die Wohlfahrt der Bürger zu gewährleisten«64. Die staatliche Steuerung wohlfahrtsrelevanter nicht-staatlicher Systeme müsse hinzutreten. Trotz seiner starken politischen und kulturellen Basis bleibt der deutsche Sozialstaat abhängig von sozioökonomischen Rahmenbedingungen. In der Nachkriegsgeschichte hat die deutsche Sozialpolitik in sehr unterschiedlichem Ausmaß ein Bewusstsein des Wandels sozioökonomischer Rahmenbedingungen gezeigt. Oft wurde der Weg der Staatsverschuldung statt struktureller Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen gewählt. Die Abhängigkeit von wirtschaftlichen wie auch demographischen Faktoren ist oft verdrängt oder nur partiell wahrgenommen worden. Gesundheitssystem und Alterssicherung sind in vielfacher Hinsicht direkt an ökonomischen und demografischen Wandel angekoppelt. In Deutschland, besonders bei der SPD und den Gewerkschaften, klingt vielfach die Vorstellung des Sozialen als einer normativ eigenständigen, dem Markt gegenüberstehenden – und daher auch funktional abzuschottenden – so60 Vgl. Wolfgang Zapf u. a., Individualisierung und Sicherheit: Untersuchungen zur Lebensqualität in der Bundesrepublik Deutschland, München 1987, Kap. 12. 61 Vgl. Gøsta Esping-Andersen, The Three Worlds of Welfare Capitalism, Princeton/NJ 1990. 62 Vgl. Neil Gilbert, Capitalism and the Welfare State. Dilemmas of Social Benevolence, New Haven (Conn.)/London 1983, S. 6; zur Riester-Reform vgl. Hockerts, Sozialstaat, S. 305–310. 63 So Butterwegge, Krise und Zukunft. 64 Kaufmann, Sozialpolitik und Sozialstaat, S. 354.

Nach der Expansion

243

zialen Sphäre an. Diese Sicht wurde bereits von Hans Achinger kritisiert, der feststellte, »die autonome Wertordnung der Sozialpolitik« sei »eine Täuschung«65. In der Krise seit den 1990er Jahren vergewissert sich die deutsche Sozialpolitik verstärkt ihrer wirtschaftlichen Voraussetzungen und Folgen, auch wenn dies politisch umstritten bleibt. Die Regierung Schröder thematisierte erstmals nach Ende des Booms die Höhe der Lohnnebenkosten als ein zentrales Folgeproblem der Sozialpolitik. Arbeitslosigkeit wurde nicht nur als sozialpolitisch zu bearbeitendes Problem, sondern auch als sozialpolitisch miterzeugt gesehen. In den frühen Jahren war man sich der Rahmenbedingungen bewusster. So verknüpfte die große Rentenreform von 1957 Renten und Wirtschaftswachstum explizit durch die »dynamische« oder »Produktivitätsrente«, also durch eine Anbindung des Rentenniveaus an das Lohnniveau. Einer der geistigen Väter dieser Idee, Wilfrid Schreiber, sah zudem eine explizite Begrenzung der Rentenhöhe im Fall ausgeprägten demografischen Alterns der Bevölkerung vor66. Die starke Bedarfsnorm der GKV, für alle Patienten alles medizinisch Notwendige zu tun, war dagegen weder wirtschaftlich noch demografisch abgesichert. Unter der ersten Großen Koalition wurden Formen sozialer Planung eingeführt, darunter Sozialberichterstattung und Sozialbudgetierung, aber noch bei der Rentenreform 1972 dienten Zukunftsprojektionen dazu, die finanzielle Lage der GRV schönzurechnen und zum letzten Mal vor Ende des Booms ein sozialpolitisches Füllhorn auszuschütten. Erst in den 1990er Jahren wurden Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit zu Wertideen der Sozialpolitik. Der sogenannte demogra­ fische Faktor, als Teil der 1996 von der Regierung Kohl beschlossenen, aber aufgrund des Regierungswechsels von 1998 überwiegend nicht in Kraft getretenen »Rentenreform ’99«, und der ähnlich wirkende »Nachhaltigkeitsfaktor« der Rentenreform von 2004 setzten diese Wertideen operativ um. Damit wurde ein erhebliches Absinken des Rentenniveaus in der Zukunft vorgezeichnet. Die »Rente mit 63« von 2014 zeigte sich dagegen wieder demografisch zukunftsvergessen. Zudem ist das Soziale selbst wandelbar. Neue wohlfahrtsstaatliche Generationen verbinden mit diesem Begriff etwas anderes, wie sich in den erwähnten neuen Diskursen der 1990er Jahre zeigte. Auch soziokultureller Wandel gehört zu den sich verändernden, von der Sozialpolitik in Rechnung zu stellenden Rahmenbedingungen des Sozialstaats. In Abgrenzung zu ahistorisch-statischer Wohlfahrtsstaatsbefürwortung oder -ablehnung sprach Kaufmann in der Krise des Sozialstaats vom »Veralten« des wohlfahrtsstaatlichen Arrangements67, also einer Inadäquanz aufgrund veränderter Rahmenbedingungen. Nach dem Boom sind die Handlungsspielräume enger geworden. Eine hohe Rate wirtschaftlichen Wachstums erleichtert Umverteilung. Die Steigerung der Sozialleistungsquote und der Beitragssätze in den Sozialversicherungen während der Boomzeit (Tabelle 1) zeigt, dass das Soziale stärker wuchs als das Wirtschaft65 Achinger, Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik, S. 7. 66 Vgl. Wilfrid Schreiber, Existenzsicherheit in der industriellen Gesellschaft, Köln 1955. 67 Kaufmann, Herausforderungen des Sozialstaates, S. 52.

244

Lutz Leisering

liche. Angesichts schwächerer Lohnzuwächse nach 1975 waren die Beschäftigten jedoch weniger bereit, Zuwächse umzuwidmen. So scheiterte die von Walter Riester 1997/98 vertretene Idee einer Tarifrente – Einzahlung eines Teils der in Tarifverhandlungen ausgehandelten Lohnsteigerungen in einen von den Tarifparteien zu verwaltenden Fonds – am Widerstand der Gewerkschaften68. Erst danach legte Riester den Plan der sogenannten Riester-Rente als Ersatzlösung vor. Das Altern der Gesellschaft sowie die Trägheit des Sozialsektors schränken Handlungsspielräume ebenfalls ein. Trotz der Verengung der Handlungsspielräume und der »inertia of established commitments« ist der deutsche Sozialstaat in mehrfacher Hinsicht strukturell wandlungsfähig: Normativ-ideologisch ist er nicht einfach konservativ, wie von Esping-Andersen postuliert, sondern »zentristisch« mit konservativen, sozialdemokratischen und liberalen Elementen, wie Schmidt anhand der den Sozialstaat tragenden Parteienkonstellation nachwies69. Diese können unterschiedlich akzentuiert werden und ermöglichen so Wandel. Auf der Ebene konkreter Institutionen wirken Bezeichnungen wie Sozialversicherung und soziale Marktwirtschaft, aber auch Sozialstaat oft als »Kontinuitätssemantiken«70, die substantielle Veränderungen der damit bezeichneten Institutionen verdecken und dadurch Reformen politisch erleichtern. Auch der hohe Grad der Verrechtlichung der deutschen Sozialpolitik zementiert den Status quo nicht. Davy wiest nach71, dass potentiell veränderungshemmende Verfassungsgrundsätze  – Sozialstaatsprinzip, Vertrauensschutz, der Eigentums­status einiger sozialrechtlicher Ansprüche sowie die allgemeine Handlungsfreiheit nach der eine Zwangsversicherung nur zulässig ist, wenn angemessene Leistungen erbracht werden – Pfadabweichungen erlauben. Die verfassungsrechtlich nicht unterschreitbare Grenze eines Sozialstaatsumbaus ist im Kern der Erhalt von Grundsicherung. Selbst die Sozialversicherung könnte abgeschafft werden. Schließlich impliziert die starke deutsche Staatstradition eine weitreichende Verantwortlichkeit des Staates für die Wohlfahrt der Individuen, aber nicht, dass der Staat selbst die Leistungen erbringt72. Tatsächlich ist der größte Teil des deutschen Sozialstaats intermediärer, parastaatlicher und freigemeinnütziger Natur. An diese Tradition kann der neuere Diskurs des enabling state anknüpfen, der den sich seit den 1990er Jahren herausbildenden neuen, weniger etatistischen Sozialstaats­ typus umreißt. 68 Vgl. Walter Riester, Mut zur Wirklichkeit, Düsseldorf 2004, S. 128–135. 69 Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland, S. 220. 70 Vgl. Lutz Leisering, Kontinuitätssemantiken. Die evolutionäre Transformation des Sozialstaates im Nachkriegsdeutschland, in: Stephan Leibfried/Uwe Wagschal (Hrsg.), Der deutsche Sozialstaat: Bilanzen, Reformen, Perspektiven, Frankfurt a. M./New York 2000, S. 91–114. 71 Vgl. Ulrike Davy, Pfadabhängigkeit in der sozialen Sicherheit, in: Eberhard Eichenhofer (Hrsg.), Sozialrechtsgeltung in der Zeit, 10. Sozialrechtslehrertagung des Deutschen Sozialrechtsverbands e. V., Berlin 2007, S. 103–151. 72 Vgl. Franz-Xaver Kaufmann, Sozialpolitisches Denken. Die deutsche Tradition, Frankfurt a. M. 2003, S. 185. In Großbritannien verhält es sich umgekehrt: Der Verantwortungs­ bereich des Staates ist begrenzter, aber die Leistungserbringung ist primär staatlich.

Wolfgang Schroeder und Samuel Greef

Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen nach dem Boom

1. Zwischen Kontinuität und Wandel Anselm Doering-Manteuffel und Lutz Raphael konstatieren für die 1970er Jahre einen sozioökonomischen Strukturbruch in der Bundesrepublik Deutschland1. Der folgende Beitrag geht der Frage nach, inwieweit dieser Bruch auch für die Gewerkschaften und die Arbeitsbeziehungen relevant war. Im Rückblick erscheinen vor allem die politisch-ökonomischen Brüche dieses Jahrzehnts als strukturprägende Zäsuren für die Bonner Republik. Um den sozioökonomischen Systembruch der 1970er Jahre zu kennzeichnen, wird vor allem auf vier Punkte verwiesen: auf den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems (1971), auf die Ölpreiskrise (1973), auf den Übergang von einer eher nachfrage- zu einer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, der im Haushaltsstrukturgesetz von 1976 besonders deutlich wurde, und auf den erstmals evidenten Rückbau des Sozialstaats2. Auch wenn diese strukturellen Verschiebungen nicht mit der neoliberalen Wende im angelsächsischen Raum identisch waren, so stehen sie hinsichtlich der strukturbildenden Grundelemente doch in diesem Kontext. Die Folge dieser Politik war einerseits eine konsolidierende, inflationsbekämpfende Haushaltspolitik, die Regierung und Bundesbank unabhängig voneinander verantworteten. Andererseits setzten sich nicht nur die entstehenden globalisierungs- und wachstumskritischen sozialen Bewegungen gegen eben jene Politik zur Wehr. Auch die Gewerkschaften änderten ihre Position, nachdem sie in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zunächst eine stabilitätsfördernde, gemäßigte Lohnpolitik mitgetragen hatten. Am Ende dieser konfliktreichen Jahre, in denen es sogar zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften zu schweren Spannungen gekommen war, stand nicht nur der Bruch der sozialliberalen Koalition im Herbst 1982, sondern auch ein neues Paradigma in der politischen Ökonomie: Die Expansion des Sozialstaats wurde für beendet erklärt und stattdessen versucht, die Angebots­bedingungen für die Unternehmen zu verbessern3. 1 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, S. 12 ff. 2 Vgl. Alexander Nützenadel, Wachstum und kein Ende. Die Ära des Keynesianismus in der Bundesrepublik, in: Werner Plumpe/Joachim Scholtyseck (Hrsg.), Der Staat und die Ordnung der Wirtschaft. Vom Kaiserreich bis zur Berliner Republik, Stuttgart 2012, S. 119–137, hier S. 136. 3 Vgl. Wolfgang Schroeder, Soziale Demokratie und Gewerkschaften (2007), S. 11 f.; http:// library.fes.de/pdf-files/akademie/online/06099.pdf.

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Während die Strukturbruchthese bezogen auf den sozioökonomischen Wandel und die politisch-ökonomischen Veränderungen aufgrund des Zäsurcharakters der 1970er Jahre angebracht erscheint, stellt sich dies mit Blick auf die Arbeitsbeziehungen und die Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland anders dar. Wir gehen von der These aus, dass der sozioökonomische Bruch in der Konstellation der 1970er Jahre erst zeitverzögert seine Auswirkungen auf Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen zeigte. Bezogen auf diese etwa zwei Jahrzehnte dauernde Inkubationszeit beleuchtet dieser Beitrag die Verbindungs­linien zwischen Strukturbruch, Arbeitsbeziehungen sowie Gewerkschafts­modell und fragt danach, wie und wann die Gewerkschaften auf den massiven sozioökonomischen Wandel und die damit einhergehenden vielfältigen Herausforderungen reagierten.

2. Die Krise der industriellen Moderne und ihre Folgen Die Gewerkschaften stecken immer noch mitten in einem weitreichenden Umbauprozess, dessen Wurzeln bis in die 1970er Jahre zurückreichen. Damit versuchen sie, sich organisatorisch und konzeptionell auf die Herausforderungen des postindustriellen Korporatismus einzustellen. Die für Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen konstatierten Krisensymptome treten zwar insbesondere seit den 1990er Jahren deutlich hervor. Abgesehen von einem verstärkenden Effekt durch die deutsche Wiedervereinigung lassen sich die zugrundeliegenden Probleme und Schwierigkeiten letztlich jedoch auf die umfassenden Veränderungen in den 1970er Jahren zurückführen. Auf die Wachstumseuphorie der Nachkriegszeit, also den »kurzen Traum der immerwährenden Prosperität«4, folgte für die Gewerkschaften eine »Phase der Verunsicherung«5, wie Klaus Schönhoven die 1980er Jahre beschrieb. Diese Bezeichnung ist insofern zutreffend, als sich die Rahmenbedingungen gewerkschaftlichen Handelns infolge des Strukturbruchs zwar sukzessive wandelten, diese Entwicklungen wegen institutioneller Puffer aber erst zeitversetzt in die Arbeitsbeziehungen eingedrungen sind. Wir gehen davon aus, dass hierin eine grundlegende Erklärung dafür liegt, dass die Gewerkschaften verspätet auf den Strukturbruch reagierten, obwohl sich die strukturellen Basisbedingungen ihrer eigenen Organisationsfähigkeit längst sehr grundlegend verändert hatten. Bevor wir auf die institutionellen Puffer zu sprechen kommen, blicken wir auf die erodierenden ökonomischen und soziostrukturellen Grundlagen des (west-) 4 Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./ New York 1989. 5 Klaus Schönhoven, Geschichte der deutschen Gewerkschaften: Phasen und Probleme, in: Wolfgang Schroeder (Hrsg.), Handbuch Gewerkschaften in Deutschland, Wiesbaden 2., überarbeitete, erweiterte und aktualisierte Aufl. 2014, S. 59–83, hier S. 77.

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deutschen Gewerkschaftsmodells. Der eklatante Strukturwandel der deutschen Wirtschaft, den unter anderem Werner Plumpe überpointiert als »Abschied vom Industrieland« charakterisierte6, zeigte sich insbesondere in den Umbrüchen der Produktionsstrukturen. Geprägt wurde der Abschied von der alt­ indus­triellen Basis durch den Niedergang bedeutender Industriezweige wie der Textilindustrie, des Bergbaus oder der Werften. Diese strukturellen Verschiebungen waren nicht zuletzt mit dem Aussterben ganzer Berufsgruppen verbunden. Zeitgleich kam es zu einem weiteren Ausbau des öffentlichen Sektors, vor allem aber zum Aufstieg der Dienstleistungsökonomie7 und des (höher qualifizierten) Angestellten, der den Arbeiter aus seiner kulturell hegemonialen Position verdrängte. Die Geschichte der 1970er Jahre kann daher mit Fug und Recht als »Untergangs­geschichte alter Industrien sowie der mit ihr verbundenen Sozialmilieus und als Geschichte vom Verschwinden des Normalarbeitsverhältnisses« erzählt werden8. Der Anteil der Arbeiter an allen Arbeitnehmern sank von Anfang der 1960er Jahre bis Ende der 1970er Jahre von 65 Prozent auf 48 Prozent, während der Anteil der Angestellten im selben Zeitraum von 29 Prozent auf 42 Prozent zunahm9. Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Der zentrale Indikator für den in den 1970er Jahren stattfindenden Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft ist die Verschiebung des Beschäftigtenanteils zwischen der verarbeitenden Industrie und dem tertiären Sektor. Zwischen 1950 und 1969 schwankte der Anteil der Arbeitnehmer, die im Industriesektor beschäftigt waren, nur leicht zwischen 54,7 Prozent und 58,2 Prozent. 1974 überholte der Dienstleistungs­bereich vom Beschäftigungsumfang her erstmals den Industriesektor. Am Ende der 1970er Jahre lag das Verhältnis bereits bei 44 Prozent zu 54 Prozent, und es verschob sich bis zum Beginn der 1990er Jahre mit 39 Prozent zu 60 Prozent weiter in Richtung Dienstleistungssektor10. Gleichwohl sind die Expansion und die zunehmende Bedeutung von Dienstleistungen nicht auf den tertiären Sektor im engeren Sinne beschränkt. Sie haben beispielsweise in Form industrie­naher Dienstleistungen vielfach auch Eingang in den Industriesektor gefunden und die dortigen Arbeitsbedingungen nachhaltig verän6 Werner Plumpe, Industrieland Deutschland 1945 bis 2008, in: Einsichten und Perspek­ tiven 3/2008, S. 160–185, hier S. 160 f. 7 Der Anteil des produzierenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung sank von 1970 bis 1980 von 48,3 Prozent auf 41,3 Prozent, während der Anteil des Dienstleistungsbereichs von 48,3 Prozent auf 56,6 Prozent stieg. 8 Winfried Süß/Dietmar Süß, Zeitgeschichte der Arbeit: Beobachtungen und Perspektiven, in: Knud Andresen/Ursula Bitzegeio/Jürgen Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch? Kontinuität und Wandel von Arbeitswelten, Bonn 2011, S. 345–365, hier S. 346. 9 Vgl. Erwerbstätige: Deutschland, Jahre, Stellung im Beruf, Geschlecht (Statistisches Bundesamt); www-genesis.destatis.de/genesis/online/link/tabelleErgebnis/12211–0006. 10 In absoluten Zahlen sank in den 1970er Jahren die Zahl der Beschäftigten im produzierenden Gewerbe von 12,3 auf 11,1 Millionen, während sie im selben Zeitraum im Dienstleistungsbereich von 11,9 auf 14,4 Millionen zunahm. Vgl. Arbeitsmarkt. Arbeitnehmer im Inland nach Wirtschaftsbereichen (Statistisches Bundesamt); www.destatis.de/DE/ ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/Arbeitsmarkt/lrerw014.html .

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dert. Somit ist es zutreffend, wenn Anselm Doering-Manteuffel feststellt, dass sich eine »Arbeitnehmergesellschaft neuen Typs« herausgebildet hat11. Kennzeichnend für den Übergang hin zu diesem neuen Typus sind neben der Tertiarisierung die Veränderungen auf der soziokulturellen Ebene. Diese zeigen sich vor allem in Form von Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen sowie in der Bildungsexpansion, die mit veränderten Qualifikationsstrukturen in der Arbeitnehmerschaft einhergingen. Die Geschichte der 1970er Jahre lässt sich daher gleichermaßen als Erfolgsgeschichte erzählen: als »Geschichte des ›Abschieds vom Malocher‹«, als »Aufstiegsgeschichte des tertiären Sektors«, als »Geschichte verbesserter weiblicher Erwerbschancen« und nicht zuletzt als »Geschichte neuer Bildungs- und Aufstiegschancen«12. Der Anteil an Berufsanfängern ohne abgeschlossene Ausbildung verringerte sich zwischen denen, die in den 1930er Jahren geboren wurden, und denen, die Mitte der 1950er Jahre das Licht der Welt erblickt hatten, von 49 auf 12 Prozent. Zugleich nahm der Anteil an Einsteigern mit Berufsfachschul-, Fachhochschul- und Hochschulabschluss von zehn Prozent auf 31 Prozent zu13. Gleichzeitig wurden jedoch die vielen gut ausgebildeten Arbeitskräfte nicht mehr länger von einem expandierenden öffent­lichen Sektor aufgenommen; so sank etwa der Anteil der Beamten an allen Erwerbstätigen seit Mitte der 1980er Jahre kontinuierlich14. Der haushaltspolitische Konsolidierungskurs anstelle (sozial)staatlicher Expansion führte daher zu einem Überangebot qualifizierter Beschäftigter15. Die Arbeitnehmer neuen Typs zeichneten sich nicht nur durch eine höhere Qualifikation aus. Auch der Anteil weiblicher Erwerbstätiger nahm kontinuierlich zu, und die Beschäftigungsformen differenzierten sich aus. Dem sozialversicherungspflichtigen Vollzeit-Normalarbeitsverhältnis stehen seitdem vermehrt atypische Formen von prekären und/oder befristeten Teilzeit- und Leiharbeitsverhältnissen gegenüber. Diese Entwicklungen blieben für die Gewerkschaften nicht folgenlos. Milieu und Habitus des Industriearbeiters, die Eingang in die Alltagskultur gefunden hatten, spielten auch für die Gewerkschaftsmitgliedschaft eine zentrale Rolle. Die Arbeitnehmer neuen Typs entsprachen nicht mehr »dem klassischen gewerkschaftlichen Identitätsprofil«, das zusammen mit den »traditionelle[n] gewerkschaftliche[n] Hochburgen« an Bedeutung 11 Anselm Doering-Manteuffel, Nach dem Boom. Brüche und Kontinuitäten der Industriemoderne seit 1970, in: VfZ 55 (2007), S. 559–581, hier S. 570. 12 Süß/Süß, Zeitgeschichte der Arbeit, S. 346. 13 Vgl. Matthias Pollmann-Schult, Veränderung der Einkommensverteilung infolge von Höherqualifikation, in: Andreas Hadjar/Rolf Becker (Hrsg.), Die Bildungsexpansion. Erwartete und unerwartet Folgen, Wiesbaden 2006, S. 157–176, hier S. 166. 14 In den 1960er und 1970er Jahren war der Anteil der Beamten an allen Arbeitnehmern kontinuierlich von sechs auf zehn Prozent angewachsen. Zwischen 1985 und 2012 ging er wieder auf sechs Prozent zurück; vgl. Erwerbstätige: Deutschland, Jahre, Stellung im Beruf, Geschlecht. 15 Vgl. Frank Schubert/Sonja Engelage, Bildungsexpansion und berufsstruktureller Wandel, in: Hadjar/Becker (Hrsg.), Bildungsexpansion, S. 93–121, hier S. 97 und S. 100 f.

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verlor16. Gleichzeitig entstand eine strukturelle Massenarbeitslosigkeit, weil Millionen von einfachen Arbeitsplätzen im industriellen Sektor verloren gingen. Dadurch wurde eine große Zahl von Arbeitern freigesetzt, die mit ihrer (geringen) Qualifikation keine Chancen auf einen neuen Arbeitsplatz besaßen17. Die soziostrukturellen und ökonomischen Rahmenbedingungen, Konstellationen und Voraussetzungen, unter denen sich gewerkschaftliches Handeln in der Bundesrepublik vollzog, hatten sich damit erheblich gewandelt. Getrieben durch technologische und wettbewerbliche Prozesse entwickelte sich mit und durch Wirtschaftswachstum, Produktivitätssteigerungen und Zuwanderung eine modifizierte soziostrukturelle Basis18, die letztlich auch den flexiblen, globalisierungsorientierten Kapitalismus mit neoliberaler Ideenwelt flankierte. Die Gewerkschaften haben diese Veränderungen lange unterschätzt und teilweise auch falsch verstanden. Jedenfalls erfolgte die organisatorische und ideenpolitische Akzeptanz dieser Herausforderungen, um auch unter veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen attraktiv sowie handlungs- und durchsetzungsfähig zu sein, mit etwa 20jähriger Verspätung. So lange haben die Gewerkschaften gezögert und sich einer offensiveren Arbeit am Umbau der eigenen Organisation entzogen oder gar verweigert. Eine Zäsur, die eindimensional den Aufbruch in eine andere Ideen- und Organisationswelt markiert hätte, gab es damit für die Gewerkschaften in den 1970er und 1980er Jahren nicht. Am ehesten hätte der in diesem Zeitraum erfolgte Zusammenbruch der gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft das Potential entfalten können, eine forcierte Umbaupolitik der Gewerkschaften mit zu befördern19. Der beispiellose Sinkflug der gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft in den 1980er Jahren war unter anderem das Ergebnis eines längeren Prozesses nicht realisierter Anpassungen an die veränderten Umweltbedingungen. D ­ oering-­Manteuffel und Raphael sprechen von einer Transformation und Neukonfiguration von Industrie, Staat und Gesellschaft, für die das Jahrzehnt zwischen 1960 und 1970 den Ausgangspunkt bildete und die »ein bis anderthalb Jahrzehnte später in der Breite spürbar« wurde20. Aus dieser Perspektive betrachtet stellt der Strukturbruch21 oder Paradigmenwechsel daher keine »Zäsur« 16 Ingrid Artus, Mitbestimmung versus Rapport de force: Geschichte und Gegenwart betrieblicher Interessenvertretung im deutsch-französischen Vergleich, in: Andresen/­Bitzegeio/ Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch, S. 213–243, hier S. 230. 17 Vgl. Plumpe, Industrieland Deutschland, S. 161 und S. 180. 18 Vgl. Josef Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900–1970. Klassenlagen, Kultur und Politik, Frankfurt a. M. 1984. 19 Vgl. Peter Kramper, Das Ende der Gemeinwirtschaft. Krisen und Skandale gewerkschaftseigener Unternehmen in den 1980er Jahren, in: AfS 52 (2012), S. 111–138. 20 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 10. 21 Doering-Manteuffel und Raphael präzisierten daher in der Neuauflage ihres Buchs (Nach dem Boom, S. 13) den Begriff Strukturbruch dahingehend, dass dieser »die Beobachtung von zahlreichen Brüchen an unterschiedlichen Stellen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten« bündle.

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dar, sondern ist von »Umbruch und Kontinuität« beziehungsweise »Beharrung und Wandel« geprägt22. Auch Stephan Meise verweist auf »zahlreiche Ungleichzeitigkeiten und Gegentendenzen«, die es nicht zulassen, den »Epochenbruch« als »klar terminierte Zäsur« zu charakterisieren23. Brüche und Wandlungsprozesse stehen dabei keineswegs im Widerspruch zu Kontinuitäten, die ebenso zu konstatierenden sind. Stabilisierende Institutionen und Pfadabhängigkeiten finden sich dabei insbesondere mit Blick auf die Entwicklung von Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen in (West-)Deutschland. Der ökonomische Bruch in den 1970er Jahren trennte den Nachkriegsboom von den neuen Herausforderungen, die sich im Zuge der Ölpreiskrise, des zurückgehenden Wirtschaftswachstums, der steigenden Inflationsraten sowie der zunehmenden Massen- und Dauerarbeitslosigkeit24 ergaben. Für die Gewerkschaften wird gemeinhin konstatiert, dass sie in der Phase der fordistischen Massenproduktion von Mitte der 1950er Jahre bis zu den 1980er Jahren ihr »goldenes Zeitalter« erlebten25. Als öffentlich anerkannte und selbstbewusste Akteure konnten die klassenorientierten Einheits- und Industriegewerkschaften im (west-) deutschen Modell viele Erfolge verbuchen. Dies gilt für alle drei Ebenen gewerkschaftlicher Funktionen26. Als politische Akteure hatten sie an der sozialstaatlichen Absicherung, der gesetzlichen Sicherung der Arbeits­bedingungen und der Betriebsverfassung erheblichen Anteil. Tarifpolitisch trugen sie mit der Anerkennung des Prinzips der Sozialen Marktwirtschaft durch Tarifverträge zur Partizipation der Beschäftigten am Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit bei, während sie gleichzeitig mit ihrer Lohnzurückhaltung in den 1950er und 1960er Jahren den ökonomischen Aufschwung mitverantworteten. Als solidarische Akteure blicken sie nicht nur auf ein »Wunder der Organisation« mit einem erheblichen und kontinuierlichen Mitgliederwachstum zurück27. Vielmehr versuchten sie, durch gemeinwirtschaftliche Unternehmungen wie co op, die Neue Heimat oder die Bank für Gemeinwirtschaft, die zeitweise zu den 100 wirtschaftsstärksten Unternehmen Deutschlands zählten, auch die Verheißungen der gewerkschaftlichen Genossenschaftsbewegung aus dem 19. Jahrhundert zu realisieren. 22 Doering-Manteuffel, Brüche und Kontinuitäten, S. 572. 23 Stephan Meise, Regionale Welten der gewerkschaftlichen Interessenrepräsentation: Spezifische neue Herausforderungen im Strukturwandel, in: Andresen/Bitzegeio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch, S. 245–266, hier S. 246. 24 Die Zahl der Erwerbslosen verzwanzigfachte sich zwischen 1970 und 1985 annähernd von 103.000 auf 1.976.000; vgl. Arbeitsmarkt. Bevölkerung und Erwerbstätigkeit – Inländer – (Statistisches Bundesamt); www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/Indikatoren/LangeReihen/ Arbeitsmarkt/lrerw011.html. 25 Vgl. Wolfgang Schroeder, Das Modell Deutschland auf dem Prüfstand. Zur Entwicklung der Industriellen Beziehungen in Ostdeutschland, Wiesbaden 2000, S. 34 f. 26 Vgl. Franz L. Neumann, Die Gewerkschaften in der Demokratie und in der Diktatur, in: Alfons Söllner (Hrsg.), Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930–1954, Frankfurt a. M. 1978, S. 145–222. 27 Theo Pirker, Die blinde Macht. Die Gewerkschaftsbewegung in Westdeutschland 1945–1955, 2 Bde., München 1960.

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Doch mit dem Zusammenbruch dieses historischen Pfeilers der Arbeiterbewegung ist neben der Erosion konsistenter Arbeiter- und Gewerkschaftsmilieus das, was man über viele Jahrzehnte als Arbeiterbewegung verstanden hat, weggebrochen und hat damit stillschweigend aufgehört zu existieren.

3. Das (west-)deutsche Modell und die Gewerkschaften In der institutionell-politischen Rahmung sowie den internen Ressourcen des (west-)deutschen Gewerkschaftsmodells sehen wir eine wesentliche Ursache dafür, dass die Strukturen des neuen flexibilisierten Kapitalismus nicht eins zu eins auf die Gewerkschaften und die Arbeitsbeziehungen übertragen wurden. Deshalb soll im Folgenden als erstes auf dieses Modell eingegangen werden, das eng verbunden ist mit dem Modell der Sozialen Marktwirtschaft. Beides hat sich in den Nachkriegsjahren parallel entwickelt und gegenseitig stabilisiert. Die industriellen Beziehungen sind daher gewissermaßen kongruent zum kooperativen Kapitalismus (west-)deutscher Prägung ausgestaltet. Kennzeichnend für das Modell der koordinierten Marktwirtschaft sind eine ausgeprägte Selbstkoordination auf Wirtschaftsseite einerseits und vielfältige Koordinationsstrukturen zwischen Staat und Wirtschaft andererseits. Diese Produktions- und Wachstumskonstellation wird unter anderem institutionell flankiert durch die Tarifautonomie und die Betriebsverfassung. Indem die Gewerkschaften die Soziale Marktwirtschaft anerkannten, konnten sie eine zentrale Rolle für die Stabilität des Systems übernehmen. Als demokratische Massenorganisationen organisierten sich die DGB -Gewerkschaften als einheits- und industriegewerkschaftliche Akteure. Daraus folgte eine vergleichsweise geringe zwischengewerkschaftliche Konkurrenz nach dem Prinzip »ein Betrieb, eine Gewerkschaft«28. Diese Organisation auf Branchen- oder sektoraler Ebene findet sich spiegelbildlich bei den Arbeitgeberverbänden. Erst auf dieser Konstellation aufbauend konnte das Instrument der Flächentarife seine große Bedeutung erlangen, die nicht zuletzt durch ihre den Arbeitsfrieden sichernde Wirkung stabilisierend auf die Sozialpartnerschaft und das deutsche Modell wirken. Diese starke und umfassende Startprogrammierung, vor allem das Modell der Einheits- und Branchengewerkschaft, das nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen überzeugen konnte, trug maßgeblich dazu bei, dass die Sozialpartnerschaft und das (west-)deutsche Gewerkschaftsmodell trotz aller Krisen, Wandlungsprozesse, Herausforderungen und vielfacher Kritik nach wie vor keinen 28 Ausnahmen, die aber das System nicht grundsätzlich in Frage stellten, waren die Entstehung des Beamtenbunds, der christlichen Gewerkschaften und der Deutschen Angestelltengewerkschaft, die allerdings 2001 in der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di aufging. Vergleichsweise neu ist eine branchenspezifische Konkurrenz durch Berufsgewerkschaften; vgl. Wolfgang Schroeder/Viktoria Kalass/Samuel Greef, Berufsgewerkschaften in der Offensive. Vom Wandel des deutschen Gewerkschaftsmodells, Wiesbaden 2011.

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grundlegenden Umbruch erfahren hat. Gleichwohl lassen sich insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten deutliche Veränderungen, Ausdifferenzierungen und eine schwindende Prägekraft konstatieren, deren Ursprünge nicht zuletzt auch im Strukturbruch der 1970er Jahre zu finden sind. Diesem Wandel waren die Gewerkschaften jedoch nicht nur ausgesetzt. Sie haben ihn »teilweise auch aktiv mitgestaltet, teilweise zu verhindern gesucht und in anderen Teilen widerwillig nachvollzogen«29. Das gewerkschaftliche Handeln vollzog sich dabei im Kontext ihrer institutionalisierten Position im Modell Bundesrepublik. Unbestreitbar entfalteten die Wandlungsprozesse der letzten Jahrzehnte einen erheblichen Druck auf Arbeitsbeziehungen, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Die zurückgehende Organisations- und Durchsetzungsfähigkeit der Akteure zeigt sich deutlich anhand schwindender Mitgliederstärke, dem Rückgang der Flächentarifbindung und einer schwächeren korporatistischen Einbindung. Es stellt sich daher die Frage, warum diese Erosionstendenzen von den Gewerkschaften erst so spät bearbeitet werden konnten.

4. Strukturbruch in den Arbeitsbeziehungen? Mit Blick auf die Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen in (West-)Deutschland lässt sich für die ersten Jahrzehnte nach dem Strukturbruch keine scharfe Zäsur konstatieren. Vielmehr kann von einem inkrementellen Wandel und pfadabhängigen Entwicklungslinien gesprochen werden. Doering-Manteuffel erkennt ebenfalls eine »zeitverschobene Überlagerung« des Strukturwandels in Industrie und Weltwirtschaft einerseits und von »Handlungsmustern bei den Tarifpartnern, in der Politik und der Bevölkerung« andererseits30. Im Folgenden werden die strukturellen, funktionalen und organisationalen Veränderungen in unterschiedlichen Bereichen aufgezeigt. Sie verdeutlichen, dass es zahlreiche Risse und einen schleichenden Wandel gegeben hat, sich jedoch ein tatsächlicher Strukturbruch in den Arbeitsbeziehungen erst mit etwa 20 Jahren Verspätung erkennen lässt31. Die grundlegenden Herausforderungen, die sich für die Gewerkschaften in einer sich stark verändernden Umwelt ergaben, lassen sich in fünf Dimensionen fassen, die durch Gleichzeitigkeiten und Verzahnungen geprägt waren: die Mitgliederrekrutierung und -bindung, die organisatorischen 29 Helmut Wiesenthal, Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft: Niedergang und Wiederkehr des »Modells Deutschland«, in: Schroeder (Hrsg.), Handbuch Gewerkschaften, S. 395–421, hier S. 395. 30 Doering-Manteuffel, Brüche und Kontinuitäten, S. 563. 31 Auch Dietmar und Winfried Süß (Zeitgeschichte der Arbeit, S. 347) konstatierten, dass die Autorinnen und Autoren des Sammelbands »Nach dem Strukturbruch« in den Beiträgen zum rheinischen Kapitalismus, zum Wandel der industriellen Beziehungen, zur Mitbestimmung, zur Tarifautonomie und zur gewerkschaftlichen Rationalisierungspolitik »eine Zäsur in einigen Fällen oft eher in den frühen 1990er-Jahren« als in den 1970er Jahren identifizierten.

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Strukturen, das tarifpolitische Kerngeschäft, die betriebliche Interessenvertretung sowie das Zusammenspiel mit den Arbeitgeberverbänden. Bei Letzteren kommt deren Strategie der Mitgliedschaft ohne Tarifbindung als organisatorischer Innovation eine besondere Bedeutung zu, auf die die Gewerkschaften bis heute noch keine Antwort gefunden haben. a) Mitgliederentwicklung

Der Wandel von Gesellschaft und Wirtschaft stellt die Gewerkschaften bis heute vor große Herausforderungen. Gravierende Probleme zeigen sich nicht zuletzt mit Blick auf die Mitgliederschaft. Die Gewerkschaften haben seit längerer Zeit mit rückläufigen Mitgliederzahlen zu kämpfen und suchen nach wie vor nach angemessenen Strategien und Antworten auf diese Entwicklung. Während der Netto­organisationsgrad32 1950 bei über 35 Prozent lag, sank er insbesondere nach dem kurzen Mitgliederzuwachs durch die Wiedervereinigung bis 2011 rapide auf 16 Prozent33. Insgesamt verloren die DGB -Gewerkschaften zwischen 1991 und 2014 mehr als fünf Millionen Mitglieder. Den ersten deutlichen Mitgliederrückgang hatten sie jedoch bereits Anfang der 1980er Jahre zu verzeichnen, als drei Jahre in Folge die in den Jahrzehnten zuvor konstant steigende Mitgliederzahl um insgesamt vier Prozent zurückging34. Die gewerkschaftliche Mitgliederproblematik resultierte aus zwei Entwicklungsdimensionen des Strukturwandels der 1970er Jahre: dem Wandel von Arbeitsmarkt und Beschäftigung sowie dem soziokulturellen Wandel. Besonderen Schwierigkeiten sahen sich die Gewerkschaften im privaten Dienstleistungssektor beziehungsweise bei den Angestellten gegenüber. Die gewerkschaftlichen Stammkunden aus der verarbeitenden Industrie, ihre Kernmitgliedschaft, verloren seit dem Strukturbruch an Bedeutung, während sich die Angestelltenschaft mit der Tertiarisierung sowohl im Dienstleistungssektor als auch in industrienahen Bereichen vergrößerte. Zusätzlich vergrößerte sich die Gruppe der prekär Beschäftigten, die ebenfalls nicht der gewerkschaftlichen Kernklientel zuzurechnen ist. Es waren jedoch nicht nur die Niedrigqualifizierten, denen gegenüber die Gewerkschaften lange relativ erfolglos oder gar nicht agierten, sondern auch die Hochqualifizierten, die den DGB -Organisationen fern blieben oder sich gar in eigenen Berufsgewerkschaften abspalteten. Ein weiterer unaufhaltsamer Trend auf dem Arbeitsmarkt betraf die Frauen. Zwischen 1970 und 1990 stieg der Frauenanteil an der Gesamt­arbeitnehmerschaft von 34 32 Der Nettoorganisationsgrad weist den Anteil an abhängigen Erwerbspersonen aus, die in DGB -Gewerkschaften organisiert sind; berücksichtigt werden nur die im Erwerbsleben stehenden Gewerkschaftsmitglieder. 33 Vgl. Bernhard Ebbinghaus/Claudia Göbel, Mitgliederrückgang und Organisationsstrategien deutscher Gewerkschaften, in: Schroeder (Hrsg.), Handbuch Gewerkschaften, S. 207–239, hier S. 216. 34 Vgl. zu den Mitgliederzahlen des DGB: www.dgb.de/uber-uns/dgb-heute/mitgliederzahlen.

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auf 41 Prozent35. In den DGB -­Gewerkschaften betrug der Frauenanteil dagegen 1970 nur 15 Prozent. Auf die Frage, wie sich die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit, die insbesondere kennzeichnend für weite Teile des (personennahen) Dienstleistungsbereichs ist, in Mitgliederzuwächse ummünzen lässt, haben die Gewerkschaften bislang noch keine ausreichende Antwort gefunden. Der Organisationsgrad von Frauen in den DGB -Gewerkschaften lag 2011 mit knapp 11,6 Prozent noch unter dem Wert von 197036. Über den Beschäftigungswandel hinaus verschärfte der soziokulturelle Wandel die Mitgliederprobleme der Gewerkschaften. Mit der Individualisierung, der Bildungsrevolution der 1970er Jahre und dem Wertewandel erodierten traditio­ nelle Sozialmilieus. Ausdifferenzierte Lebensstile und Lebenslagen waren ebenso wie der Arbeitsmarktwandel für veränderte Erwerbsformen, Erwerbsverläufe und diskontinuierliche Erwerbsbiographien verantwortlich. Die Gewerkschaften taten sich schwer damit, auf diese Wandlungsprozesse und den Arbeitnehmer neuen Typs zu reagieren. Diese zeigte sich deutlich an den Schwierigkeiten, die Arbeitnehmergruppen außerhalb des industriellen Normalarbeitsverhältnisses  – junge Beschäftigte, Frauen und hochqualifizierte Arbeitnehmer genauso wie prekär Beschäftigte –, zu gewinnen. Insgesamt lässt sich bezogen auf die Mitglieder konstatieren, dass die Gewerkschaften nach dem Strukturbruch der 1970er Jahre auf der Stelle traten. Arbeitsmarkt- und Beschäftigtenstruktur auf der einen und die Mitgliederstruktur auf der anderen Seite entwickelten sich daher zunehmend auseinander37. Aus der Perspektive des sich rasant verändernden Arbeitsmarkts war die Mitgliederpolitik der Gewerkschaften über lange Zeit zu defensiv. Als Reaktion auf den Strukturwandel konzentrierten sie sich zunächst weiterhin auf den männlichen Industriearbeiter im Normalarbeitsverhältnis als Kernklientel. Damit konnten die Gewerkschaften sogar Erfolge in der Mitgliedergewinnung verbuchen, allerdings in einem Sektor, der bezogen auf die Beschäftigtenzahl weiter kontinuierlich an Bedeutung verlor. Zugleich verschärften die Gewerkschaften mit dieser Strategie die bereits vorhandene Schieflage in der Repräsentativität ihrer Mitgliedschaft bezogen auf die reale Beschäftigtenstruktur38.

35 Vgl. Erwerbstätige: Deutschland, Jahre, Stellung im Beruf, Geschlecht. 36 Vgl. hierzu und zum Folgenden Ebbinghaus/Göbel, Mitgliederrückgänge, S. 216. 37 Während der Anteil der Arbeiter an allen Arbeitnehmern zwischen 1970 und 1990 von 57,4 Prozent auf 41,9 Prozent zurückging, sank der Arbeiteranteil in den DGB -Gewerkschaften nur von 74,5 Prozent auf 67,1 Prozent; der Angestelltenanteil erhöhte sich daher nur leicht von 14,4 Prozent auf 22,8 Prozent (zum Vergleich: der Anteil der Angestellten an der Arbeitnehmerschaft stieg im selben Zeitraum von 36 Prozent auf 48,6 Prozent).­ Etwas stärker nachholend war die Entwicklung beim Frauenanteil, der von 15 Prozent auf 24,4 Prozent stieg. Vgl. Samuel Greef, Gewerkschaften im Spiegel von Zahlen, Daten und Fakten, in: Schroeder (Hrsg.), Handbuch Gewerkschaften, S. 659–755, hier S. 668. 38 Vgl. Anke Hassel, Gewerkschaften und sozialer Wandel. Mitgliederrekrutierung und­ Arbeitsbeziehungen in Deutschland und Großbritannien, Baden-Baden 1999.

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Erst seit wenigen Jahren praktizieren die Gewerkschaften in ihrer Funktion als Solidarorganisation und als Reaktion auf die schwindende Einbindung korporatistischer Art eine neue, mitgliederorientierte Politik. Die strategische Komponente dieser Revitalisierungsbemühungen läuft vor allem unter dem Begriff Organizing39. Während sich dessen Ursprungskonzeption insbesondere auf den Bereich prekärer Beschäftigung bezieht, laufen methodisch daran angelehnte Strategien der Mitgliedergewinnung heute unter dem Begriff Zielgruppenarbeit auch im Bereich hochqualifizierter Angestellter. Ebenso zielen tarifpolitische Erneuerungsstrategien wie der Ansatz der bedingungsgebundenen Tarifarbeit im Kern auf eine Stärkung der Organisationsmacht durch Mitgliedergewinnung40. Vor diesen späten Versuchen, dem Mitgliederrückgang durch neue Organisierungskonzepte zu begegnen, reagierten die Gewerkschaften zunächst mit Anpassungsprozessen auf organisationaler Ebene. Diese Veränderungen betrafen sowohl das Verhältnis zwischen den Einzelgewerkschaften und dem DGB als auch das Verhältnis einzelner Gewerkschaften untereinander. b) Organisation

Die Struktur der deutschen Gewerkschaften ist durch eine funktionale Aufgaben­ teilung gekennzeichnet, die sich im Verhältnis zwischen dem DGB als Dachverband und den Einzelgewerkschaften widerspiegelt. Neben seiner Rolle als Schiedsstelle bei zwischengewerkschaftlichen Konflikten tritt der DGB vor allem als politischer Akteur in Erscheinung, nicht zuletzt auf den Feldern Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Auf politischer Ebene vertritt er die gebündelten Interessen der Einzelgewerkschaften. Diese wiederum spielen die maßgebliche Rolle auf der tarifpolitischen Ebene, wo dem DGB ausschließlich im Bereich der Leiharbeit eine Führungsrolle zukommt41. Aus den Einzelgründungen und der Organisation der Gewerkschaften nach dem Industrieverbandsprinzip entwickelte sich eine große Autonomie der Mitgliedsgewerkschaften gegenüber dem Dachverband, die sich im Zuge der branchenspezifischen Segmentierung gegenwärtig noch ausweitet. Die abnehmenden Gemeinsamkeiten und unterschiedliche Schwierigkeiten, die sich auch in der Ausdifferenzierung in drei Welten der Gewerkschaften wider39 Vgl. Britta Rehder, Vom Korporatismus zur Kampagne? Organizing als Strategie der gewerkschaftlichen Erneuerung, in: Schroeder (Hrsg.), Handbuch Gewerkschaften, S. 241–264, hier S. 242; Samuel Greef, Organizing: Die Mobilisierung der Basis bei den Gewerkschaften, in: Rudolf Speth (Hrsg.), Grassroots-Campaigning, Wiesbaden 2013, S. 91–111, hier S. 93. 40 Vgl. Monika Neuner, Bedingungsgebundene Tarifarbeit: Ein erfolgreicher Weg zur Erneuerung?, in: Stefan Schmalz/Klaus Dörre (Hrsg.), Comeback der Gewerkschaften? Machtressourcen, innovative Praktiken, internationale Perspektive, Frankfurt a. M./New York 2013, S. 213–225, hier S. 214 ff. 41 Vgl. Wolfgang Schroeder/Samuel Greef, Struktur und Entwicklung des deutschen Gewerkschaftsmodells: Herausforderung durch Sparten- und Berufsgewerkschaften, in: Schroeder (Hrsg.), Handbuch Gewerkschaften, S. 123–145, hier S. 130 f.

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spiegeln, setzen den Dachverband unter Druck und erschweren insbesondere die Artikulation einheitlicher Standpunkte. Beispielsweise sind die Gewerkschaften sehr unterschiedlich von Veränderungen in den Bereichen Export-/Binnenmarkt, Ökologie oder prekäre Dienstleistungsarbeit betroffen. Die starke Stellung insbesondere der großen Einzelgewerkschaften dem DGB gegenüber liegt aber auch an den Finanzen, die nicht zuletzt aufgrund des Strukturwandels erheblich unter Druck stehen42. Die finanziellen Ressourcen ruhen auf drei Säulen: Die erste Säule bilden die Mitgliedsbeiträge, deren Umfang von der Mitgliederentwicklung (vor allem derjenigen der betrieblichen Mitglieder) abhängen43. Die Einzelgewerkschaften erheben ihre Mitgliedsbeiträge autonom, so dass der Dachverband nur auf die ihm zugewiesenen Anteile zurückgreifen kann. Daher führten die Probleme bei der Mitgliederentwicklung auch zu einer Einschränkung der finanziellen Spielräume des DGB. Im Zuge der »Springener Beschlüsse« von 1967 baute er Personal ab und zog sich aus der Fläche zurück, indem er die DGB -Kreise zu Regionen zusammenfasste44. Die Einzelgewerkschaften reagierten auf die Entwicklung ebenfalls mit einer Reform ihrer Organisationsstruktur. Insbesondere zentralisierten sie die Arbeit und die Aufgaben­ verteilung (weg von den Ortsverbänden) und professionalisierten sich durch eine stärker hauptamtlich geprägte Organisation weiter. Ausschlaggebend für die einbrechende Ressourcenausstattung war aber nicht nur das Beitragsaufkommen, das sich bereits in den 1970er Jahren wieder stabilisierte. Vielmehr spielte die Entwicklung der beiden anderen Finanzierungsarten eine zentrale Rolle. Dass die Vermögenswerte als zweite Säule erodierten, stand dabei in engem Zusammenhang mit dem Niedergang der dritten Säule, den wegbrechenden Erträgen aus den gemeinwirtschaftlichen Gewerkschaftsunternehmen. Der Niedergang der Gemeinwirtschaft: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand die Gemeinwirtschaft mit ihren Genossenschaften und Konsumvereinen45. Sie bildeten, neben den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie, die dritte Funktionsebene der Arbeiterbewegung. In ihrer Selbsthilfefunktion sollten die gemeinwirtschaftlichen Unternehmen die Konsummöglichkeiten von Arbeitern und Beziehern niedriger Einkommen vergrößern. Sie zielten aber genauso auf gesamtgesellschaftliche Probleme im privatkapitalistischen System und verstanden sich als deren Korrektiv. Darüber hinaus war die Erwartung, dass sich in gemeinwirtschaftlichen Unternehmen die Sozialbeziehung gänzlich anders – besser – gestalten müssten, würde doch die Konfliktlinie zwischen Kapital und Arbeit 42 Vgl. Schroeder/Greef, Struktur, S. 130 ff. 43 Vgl. Anke Hassel, Organisation: Struktur und Entwicklung, in: Wolfgang Schroeder/ Bernhard Weßels (Hrsg.), Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundes­ republik Deutschland. Ein Handbuch, Wiesbaden 2003, S. 102–121, hier S. 114. 44 Vgl. Hans-Peter Müller/Manfred Wilke, Gewerkschaftsfusionen: der Weg zu modernen Multibranchengewerkschaften, in: Schroeder (Hrsg.), Handbuch Gewerkschaften, S. 147–171, hier S. 152 f. 45 Die Gemeinwirtschaft umfasste Gewerkschaftsbanken, Konsumgenossenschaften, Wohnungsbaugenossenschaften, Versicherungsdienstleiter und Touristikunternehmen.

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aufgebrochen46. Sie sollten, 1972 erstmals explizit formuliert, »in ihrer Personalund Sozialpolitik Maßstäbe setzen und gewerkschaftliche Forderungen bezüglich Bezahlung, Sozialleistungen, Weiterbildung und Mitbestimmung in vorbildlicher Weise verwirklichen«47. Die Gemeinwirtschaft erlebte ihre Blütezeit in den 1970er Jahren. Die vier großen gemeinwirtschaftlichen Unternehmen – die Bank für Gemeinwirtschaft, co op, die Neue Heimat und die Volksfürsorge – gehörten zu den 100 größten Unternehmen in der Bundesrepublik und »rangierten jeweils unter den Top Ten ihrer Branche«. Neben den Mitgliedsbeiträgen und den gewerkschaftlichen Vermögenswerten bildeten die Erträge aus der Gemeinwirtschaft das dritte finanzielle Standbein der Gewerkschaften48. Co op, vor allem aber die Neue HeimatGruppe, standen für die »organisatorische und finanzielle Konsolidierung der Gewerkschaften« in den 1960er und 1970er Jahren«49. Dies änderte sich in den 1980er Jahren als Ergebnis von Problemen, die im Laufe der wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche der 1970er Jahre angehäuft worden waren50. Der Strukturbruch brachte unter anderem die Baukonjunktur zum Erliegen und damit die Neue Heimat in Bedrängnis. Hinzu kamen erhebliche Fehlinvestitionen. Die sich verringernde Rentabilität der Gemeinwirtschaft bedrohte kurz- und mittelfristig das Vermögen der Gewerkschaften. Daher versuchten sie, die nicht rentablen Unternehmen abzustoßen. Den »Wendepunkt in der gewerkschaftlichen Gemeinwirtschaft« markierte der gescheiterte Verkauf der Neuen Heimat 198651. Dabei wurde das Ende der Gemeinwirtschaft von »einer ganzen Reihe von Beispielen von Fehlverhalten im obersten Management der Neuen Heimat und der co op-Gruppe« überschattet. Darunter waren nicht nur Vorstandsmitglieder, sondern auch Gewerkschaftsführer. Bis in die 1990er Jahre hinein wurden die Skandale bearbeitet und die Gemeinwirtschaft abgewickelt beziehungsweise die wenigen verbliebenen gewerkschaftlichen Beteiligungen neu ausgerichtet und saniert. Auch wenn man die »These eines eigenständigen Zäsurcharakters der 1980er Jahre« verwirft52, stellte das Ende der Gemeinwirtschaft für die Gewerkschaften einen deutlichen Bruch dar. Ein sichtbares Zeichen dafür war 1990 der Beschluss des DGB -Bundeskongresses, »prinzipiell alle Beteiligungen zur veräußern«, die nicht »der unmittelbaren Unterstützung der gewerkschaftlichen Arbeit dienen«. 46 Vgl. Eberhard Schmidt, Arbeiterbewegung, in: Roland Roth/Dieter Rucht (Hrsg.), Handbuch der sozialen Bewegungen, Frankfurt a. M. 2007, S.  158–186, hier S.  171; Helga­ Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2007, S. 201. 47 Kramper, Gemeinwirtschaft, S. 115; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 113. 48 Vgl. Hassel, Organisation, S. 117, und Grebing, Arbeiterbewegung, S. 210. 49 Michael Schneider, Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute, Bonn 22000, S. 358. 50 Vgl. Kramper, Gemeinwirtschaft, S. 137 f. 51 Hassel, Organisation, S. 118; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 117. 52 Kramper, Gemeinwirtschaft, S. 138; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 133.

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Die Einzelgewerkschaften und der DGB erlitten dabei nicht nur einen Vertrauensund Imageverlust, sondern auch erhebliche finanzielle Einbußen53, die wiederum organisatorische Konsequenzen nach sich zogen. Die von Bereicherungsvorwürfen betroffenen Gewerkschaftsvorsitzenden traten zurück, und die Einzelgewerkschaften beschlossen ein Sparprogramm, das den DGB zum »Rückzug aus der Fläche« zwang. In der Folge kämpfte der Dachverband nicht nur mit einem Imageschaden, sondern auch mit einer »lang anhaltenden politischen Lähmung«54. Fusionen als Antwort auf die Finanz- und Mitgliederkrisen: Noch bis ans Ende der 1980er Jahre bestanden unter dem Dach des DGB 17 Einzelgewerkschaften. Zwischen 1985/89 und 2002 schrumpfte die Zahl der Mitgliedsgewerkschaften durch Fusionen auf acht zusammen. Die Bildung der IG Medien in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre aus der IG Druck und Papier sowie der Gewerkschaft Kunst war bereits seit 1972 im DGB diskutiert worden55. Die Fusionswelle, die letztlich die Epoche der Multibranchengewerkschaften einleitete, begann Mitte der 1990er Jahre. Diesen strukturellen Umbau der Organisationslandschaft in den letzten Jahrzehnten betrieben die Gewerkschaften vor dem Hintergrund des anhaltenden Mitgliederschwunds und des damit verbundenen Ressourcenrückgangs. Hinzu kamen die fehlenden Einnahmen nach dem Ende der Gemeinwirtschaft und die Kosten der Wiedervereinigung. Der Zuwachs in den neuen Bundesländern sorgte nur kurzfristig für steigende Beitragseinnahmen, da sich bereits Anfang der 1990er Jahre dramatische Mitgliederrückgänge und die Aufbaukosten der ostdeutschen Gewerkschaftsstrukturen in den Finanzen niederschlugen. Neben finanziellen und personellen Synergieeffekten finden sich weitere Ausgangspunkte für die organisationspolitische Konzentration im ökonomischen Strukturwandel nach dem Boom. Im Zuge der Fusionswellen integrierten die großen Industriegewerkschaften wie die IG Metall und IG Chemie, indem sie ihre Organisationsgrenzen verschoben, insbesondere erodierende Branchenzweige. Und die Neugründung von ver.di 2001 war auf die Schwierigkeiten der DGB -Gewerkschaften zurückzuführen, im sich ausweitenden Dienstleistungssektor Fuß zu fassen. Letztlich veränderten Fusionen und Neugründungen die gewerkschaftliche Organisationslandschaft erheblich. Während sich nach 1945 mit dem Industriebeziehungsweise Branchengewerkschaftsprinzip eine sektorale Differenzierung etablierte, haben wir es infolge der Fusionswelle nach der Wiedervereinigung heute mit Multibranchengewerkschaften zu tun. »The old industrial union model […] did not survive […]. Out of the struggle […] a new multisectoral model of unions emerged.«56 Damit wird es unter anderem schwieriger, Organisa­tionsund Tarifkonkurrenz zwischen den DGB -Gewerkschaften auszuschließen. Zu53 Durch den Zusammenbruch der Gemeinwirtschaft verloren der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften insgesamt fünf Milliarden DM; vgl. Müller/Wilke, Gewerkschaftsfusionen, S. 154. 54 Schmidt, Arbeiterbewegung, S. 171. 55 Vgl. Müller/Wilke, Gewerkschaftsfusionen, S. 155; zum Folgenden vgl. ebenda, S. 158. 56 Steven J. Silvia, Holding the shop together. German industrial relations in the postwar era, New York 2013, S. 124.

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dem haben sich einzelne Berufsgruppen in eigenen Gewerkschaften selbstständig gemacht. Der Konzentrationsprozess in Form von Fusionen war einer der Hintergründe, der dazu beigetragen hat, dass der Ärzteverband »Marburger Bund« und die Piloten-Vereinigung »Cockpit« heute eigenständige Tarifverträge abschließen57. Die Organisationslandschaft im neuen Jahrtausend stellt damit einen deutlichen Bruch gegenüber der gewerkschaftlichen Nachkriegsordnung dar. c) Arbeitgeberverbände und OT-Mitgliedschaften

Nicht nur die Gewerkschaften sahen sich angesichts des sozioökonomischen Strukturbruchs in den letzten Jahrzehnten zahlreichen Herausforderungen gegenüber. Mitglieder- und Ressourcenverluste betrafen auch die Arbeitgeberverbände58. Von betrieblichen Organisationsgraden, wie sie noch Ende der 1970er Jahre bestanden, sind sie heute weit entfernt59. Besonders eklatant traten die Organisationsschwierigkeiten der Verbände auf Arbeitgeberseite in Ostdeutschland hervor. Während sich in Westdeutschland der Bruch als beschleunigter Strukturwandel noch in einer Übergangsphase vollzog, geschah die nach­holende industrielle Anpassung in der ehemaligen DDR nach dem Fall der Mauer 1989 postwendend. Bezogen auf diese Zäsur Anfang der 1990er Jahre spricht Werner Plumpe von einer »radikalen industriellen Flurbereinigung« in den neuen Bundesländern60. Für die Arbeitgeberverbände zeigte sich diese – nicht nur, aber besonders ausgeprägt in Ostdeutschland – durch zwei Phänomene: Verbandsflucht und Verbandsabstinenz. Während Großunternehmen vielfach Mitglied im Verband bleiben, lehnen vor allem kleine und mittelständische Unternehmen, die flächentarifvertragliche Regelungen ab, verlassen den Verband oder werden gar nicht erst Mitglied61. Besonders schwer taten und tun sich die Arbeitgeberverbände bei den kleinen betrieblichen Einheiten in Ostdeutschland, die eine andere Form der Arbeits­ politik beanspruchen, im Handwerk und in kleinen Betrieben im sich ausweitenden Dienstleistungssektor. Die Arbeitgeberverbände haben auf diese Entwick57 Vgl. Schroeder/Kalass/Greef, Berufsgewerkschaften, S. 270. 58 Vgl. Steven J. Silvia, Mitgliederentwicklung und Organisationsstärke der Arbeitgeberver­ bände, Wirtschaftsverbände und Industrie- und Handelskammern, in: Wolfgang Schroe­der/ Bernhard Weßels (Hrsg.), Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Deutschland, Wiesbaden 2010, S. 169–182, hier S. 174 ff. 59 Vgl. Jürgen Kädtler, Tarifpolitik und tarifpolitisches System, in: Schroeder (Hrsg.), Handbuch Gewerkschaften, S. 425–464, hier S. 431. Die Schwierigkeiten der Arbeitgeberverbände bezüglich ihrer Verpflichtungsfähigkeit zeigen sich besonders am Instrument der Aussperrung, das seit Mitte der 1980er Jahre keine Rolle mehr spielt; vgl. Greef, Gewerkschaften, S. 747 f. 60 Plumpe, Industrieland Deutschland, S. 167. 61 Vgl. Wolfgang Schroeder, Geschichte und Funktion der deutschen Arbeitgeberverbände, in: Schroeder/Weßels (Hrsg.), Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände, S. ­26–42, hier S. 37.

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lung reagiert und seit den 1990er Jahren62 Mitgliedschaften ohne Tarifbindung eingeführt oder OT-Verbände gegründet63. Diese Entwicklung bezeichnete »eine bedeutende Zäsur in der Nachkriegsgeschichte deutscher Arbeitgeberverbände«, die damit einen »konstitutiven Kernbestandteil« ihrer Arbeit – die Tarifpolitik – in Frage stellt64. Die Mitgliedschaften ohne Tarifbindung als Antwort auf den Strukturwandel in der Unternehmenslandschaft zeigten deutlich, dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände asymmetrisch davon betroffen sind. Da wir es mit antagonistischen Akteuren zu tun haben, sind Wechselwirkungen in diesem System kommunizierender Röhren unabdingbar. Deutlich sichtbar werden diese in Deckungsgrad und Bindewirkung von Flächentarifverträgen, die insbesondere von der Organisations- und Verpflichtungsfähigkeit der Arbeitgeberverbände abhängen. Die sinkende Flächentarifbindung ist daher vor allem auf die Schwierigkeiten der Arbeitgeberverbände in der Mitgliedergewinnung zurückzuführen. Während diese durch die OT-Anpassung ihren Organisationsgrad und ihre Finanzen stabilisieren konnten, stehen die Gewerkschaften nach wie vor dem Problem sinkender Tarifbindung gegenüber. Die Möglichkeit einer OT-Verbandsmitgliedschaft unterhöhlt, unabhängig von ihrer Nutzung, das Vertrauen sowie die Berechenbarkeit des Tarifvertragssystems und trägt damit dazu bei, dass das System weiter erodiert. d) Tarifpolitisches Kerngeschäft

Tarifverträge lassen sich als eines der entscheidenden Ordnungselemente im deutschen System der Arbeitsbeziehungen identifizieren. Die Tarifpolitik entwickelte sich für die Gewerkschaften in der Wirtschaftswachstumskonstellation der Nachkriegsjahre zu deren Kerngeschäft. Ihre Priorität lag nicht mehr länger auf der Forderung nach der »Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien und der Überführung von Monopolunternehmen in Gemeineigentum«65. Die Gewerkschaften bekannten sich zur Sozialen Marktwirtschaft und konzentrierten sich stärker 62 Zwar lässt sich das OT-Konzept bereits vereinzelt früher nachweisen, etwa 1965 für einen norddeutschen Indusrieverband (vgl. Behrens, Arbeitgeberverbände, S.  138), relevante Verbreitung und Aufmerksamkeit haben OT-Mitgliedschaften und -Verbände aber erst in den 1990er Jahren und insbesondere seit der OT-Etablierung bei Gesamtmetall nach 2000 gefunden. 2012 standen 3600 tarifgebundenen Mitgliedsunternehmen von Gesamtmetall mit 1,8 Millionen Beschäftigten insgesamt 3200 Unternehmen in OT-Mitgliedschaft mit 405.000 Beschäftigten gegenüber. Vgl. Mitgliedsfirmen und Beschäftigte in den Verbänden von Gesamtmetall seit 1970. Betriebe und Beschäftigte in der Metall- und Elektro-Industrie nach Branchen; www.gesamtmetall.de/gesamtmetall/meonline.nsf/id/Page Jahreszahlen-in-langen-Zeitreihen_DE . 63 Vgl. Thomas Haipeter, OT-Mitgliedschaften und OT-Verbände, in: Schroeder/Weßels (Hrsg.), Handbuch Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände, S. 209–219, hier S. 211 f. 64 Martin Behrens, Das Paradox der Arbeitgeberverbände. Von der Schwierigkeit, durchsetzungsstarke Unternehmensinteressen kollektiv zu vertreten, Berlin 2011, S. 137. 65 Schönhoven, Geschichte der deutschen Gewerkschaften, S. 72.

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auf Tarif- und Sozialpolitik. Damit traten materielle Forderungen in den Vordergrund, die für eine angemessene Beteiligung der Arbeitnehmer an der prosperierenden Wirtschaft sorgen sollten. Darüber hinaus betrieben die Gewerkschaften, verstärkt seit den 1970er Jahren, eine inhaltlich erweiterte, qualitativ orientierte Tarifpolitik. Sie zielte verstärkt auf bessere Arbeitsbedingungen, mehr Mitbestim­ mung, Arbeitszeitflexibilisierung und Arbeitsplatz­sicherung ab. Der Bedeutungswandel qualitativer Tarifpolitik »reflektiert die veränderten makroökonomischen Rahmenbedingungen« nach dem Strukturbruch der 1970er Jahre66. Aus der Perspektive langer Entwicklungslinien heraus kennzeichnen Kontinuität und Wandel das tarifpolitische Geschäft der Gewerkschaften und die konkrete Ausgestaltung der Tarifpolitik. Auf der einen Seite gab und gibt es normative Stabilität mit dem durch die Tarifautonomie verbrieften Recht, Entgelte und Arbeitsbedingungen unabhängig und selbstständig auszuhandeln. Und bis in die 1980er Jahre hinein prägten Flächentarifverträge, Günstigkeitsprinzip, der Grundsatz »ein Betrieb – ein Tarifvertrag« sowie klare Verbindlichkeiten zwischen Tarifparteien, Unternehmen und Betriebsrat das Tarifvertragssystem. Auf der anderen Seite wandelte sich das Tarifsystem kontinuierlich und war vielfältigen Erosionstendenzen ausgesetzt. Diese ließen sich bereits in den 1980er Jahren erkennen und zeichneten sich seit der Wiedervereinigung immer deutlicher ab. »Der Trägheit eines großen Tankers gleich, kostete es den DGB und die Einzelgewerkschaften erhebliche Anstrengungen, überhaupt zu realisieren, dass man unruhigeren Zeiten entgegensteuerte und die Jahre automatischer, korporatistisch abgesicherter und relativ üppiger Reallohnerhöhungen vorbei waren.«67

Der hier einsetzende Wandel lässt sich unter drei Begriffe fassen: Dezentralisierung, Verbetrieblichung und Flexibilisierung. Besonderes deutlich werden die Entwicklungen anhand der Auseinandersetzung um die 35-Stunden-­Woche Mitte der 1980er Jahre. Auf der einen Seite stand die Durchsetzung der Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung für gewerkschaftliche Stärke. Auf der anderen Seite erkauften die Gewerkschaften diesen Erfolg jedoch mit einer Reaktion auf Arbeitgeberseite, die sich als Flexibilisierungsparadigma bis heute als driving force für Wandel entpuppte. Dieser Wandel erfolgte nicht abrupt, vielmehr bildeten »schleichende Veränderungen« den Ausgangspunkt, »deren Effekte über einen Zeitraum von Jahren kumulierten«68. Dabei gehört insbesondere der Begriff der Arbeitszeitflexibilisierung »zu den wesentlichen Signaturen der ­Epoche«69. Die Arbeitszeitverkürzung ging mit einer Arbeitszeitflexibilisierung einher und führte dazu, dass Regelungskompetenzen dezentralisiert wurden. Die Kompe66 Kädtler, Tarifpolitik, S. 440. 67 Rüdiger Hachtmann, Gewerkschaften und Rationalisierung: Die 1970er-Jahre – ein Wende­ punkt?, in: Andersen/Bitzegeio/Mittag (Hrsg), Nach dem Strukturbruch, S.  181–209, hier S. 181. 68 Britta Rehder, Betriebliche Bündnisse für Arbeit in Deutschland. Mitbestimmung und Flächentarif im Wandel, Frankfurt a. M./New York 2003, S. 229. 69 Süß/Süß, Zeitgeschichte der Arbeit, S. 351.

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tenz für die konkrete Ausgestaltung der Arbeitszeitregelung ging von der überbetrieblich-gewerkschaftlich verantworteten Ebene auf die betriebliche Ebene über. Dem Flexibilisierungsparadigma, das nicht nur die Arbeitszeitgestaltung, sondern auch die anderen tarifpolitischen Regelungsbereiche erfasste, standen die Gewerkschaften lange Zeit hilflos und insbesondere ablehnend gegenüber. Nur schrittweise ist diese negative Sicht einer gestalterischen Perspektive gewichen, mit neuen Konzepten für eine stärkere Einflussnahme. Damit reagierten die Gewerkschaften auch auf die wirtschaftliche Dynamik, die sich infolge der Sektorverschiebung, neuer – globaler – Konkurrenzverhältnisse, veränderter Organisationsstrukturen und technologischen sowie sozioökonomischen Wandels ergeben hatte. Diese Wandlungsprozesse stellten tradierte gewerkschaftliche Tarif- und Betriebspolitik grundlegend in Frage. Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre mit zahlreichen Standortvereinbarungen, noch verstärkt seit der Jahrtausendwende und der »historischen Zäsur« durch das Pforzheimer Abkommen 200470, erarbeiteten die Gewerkschaften Lösungskonzepte, um unter veränderten Rahmenbedingungen, handlungs- und organisationsfähig zu bleiben. Diese Feststellung gilt für alle drei Funktions­bereiche von Gewerkschaften. Als Arbeitsmarktakteure reagierten sie in tarifvertraglicher Form durch Öffnungsklauseln und Standortvereinbarungen. Seitdem legitimieren Härtefall- und Öffnungsklauseln betriebsbedingte Abweichungen vom Flächentarif. Die Gewerkschaften gingen dabei ein Tauschgeschäft ein – Unterschreitung der Tarifstandards gegen Beschäftigungssicherung71 – und versuchten zugleich, diese neuen Instrumente betriebsspezifischer Vereinbarungen zu nutzen, um die unkontrollierte Dezentralisierung durch eine kontrollierte zu ersetzen. Indem sie die Tarifpolitik flexibilisierten, reagierten die Gewerkschaften auf die Erosion flächentarifvertraglicher Absicherung und kamen dem von Arbeitgeberseite vorgetragenen Bedürfnis nach betrieblicher Flexibilität entgegen. Gleichwohl ist die Geltungskraft und Reichweite von Flächentarifverträgen weiter rückläufig72. Dabei nimmt die Anzahl tarifloser Unternehmen ebenso zu wie die Zahl der Haus- und Firmentarifverträge73. Dennoch stabilisierte die gewerkschaftliche Strategie der kontrollierten Dezentralisierung den tarifvertraglichen Deckungsgrad zumindest in Teilen. Gleichzeitig ermöglichte sie es den Gewerkschaften, die Verbetrieblichung der Ar70 Wolfgang Schroeder, Gewerkschaften im Transformationsprozess. Herausforderungen, Strategien und Machtressourcen, in: Schroeder (Hrsg.), Handbuch Gewerkschaften, S. 13–45, hier S. 33. 71 Vgl. Kädtler, Tarifpolitik, S. 443 f.; Hans Joachim Sperling, Gewerkschaftliche Betriebs­ politik, in: Schroeder (Hrsg.), Handbuch Gewerkschaften, S. 485–504, hier S. 497. 72 Lag die Flächentarifbindung Mitte der 1990er Jahre noch bei 72 Prozent (West), sank sie bis 2012 auf 53 Prozent (West) beziehungsweise 36 Prozent (Ost) ab. Die Gesamttarif­ bindung liegt (aufgrund von Orientierung am Flächentarifvertrag sowie Haus- und Firmentarifverträgen) etwas höher bei 60 Prozent beziehungsweise 48 Prozent. Vgl. Greef, Gewerkschaften, S. 736 f. 73 Die Zahl der Unternehmen mit Firmentarifverträgen hat sich zwischen 1990 und 2012 von 2100 auf 7626 erhöht. Gleichzeitig nahm auch die Zahl der Firmentarifverträge von 9000 auf über 38000 zu; vgl. ebenda, S. 740 ff.

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beitsbeziehungen gestaltend mit voranzutreiben, »deren Anfänge auf die frühen 1980er Jahre zurückweisen«74. In der Folge zeichnete sich ein Wandel dahingehend ab, dass Tarifverträge stärker als Rahmenverträge wirkten und damit die betriebliche Ebene, als zweite Ebene zur Aushandlung von Entgelt und Arbeitsbedingungen, stärker berücksichtigt und bedient werden musste. Die politische Ebene kommt dagegen erst in letzter Zeit wieder stärker zum Tragen. In den vergangenen Jahrzehnten wurde die Möglichkeit, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären, aufgrund der Verweigerungshaltung der Arbeitgeber und des Mindestquorums tarifgebun­ dener Beschäftigter kaum genutzt. Zwar erweiterte das Entsendegesetz 1996 die Möglichkeiten einer Allgemeinverbindlicherklärung, der Euro­päische Gerichtshof ordnete sie aber 2007 der Dienstleistungsfreiheit im euro­päischen Binnenmarkt unter75. Dass die Gewerkschaften auf diese Veränderungen reagieren und sie aktiv zu gestalten versuchen, zeigt sich etwa an ihren erfolgreichen Bemühungen um einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, den sie früher als Eingriff in die Tarifautonomie vehement abgelehnt hatten. Indem die Gewerkschaften ein staatlich gesetztes unterstes Lohnniveau akzeptieren, erkennen sie letztlich an, dass sie selbst nicht dazu in der Lage sind, in allen Branchen auskömmliche Löhne auszuhandeln. Dennoch haben wir es auch im Tarifvertragssystem nicht mit einem abrupten Bruch zu tun: »Diese Prozesse inkrementellen, schleichenden Wandels, diese Entwicklungen der Entstandardisierung, Dezentralisierung, Differenzierung und Entsolidarisierung im Tarifsystem vollzogen sich weitgehend innerhalb seiner institutionellen Rahmungen und durch weitreichende Anpassungsleistungen der diese Institutionen tragenden kollektiven Akteure.«76

Trotz der zu konstatierenden Wandlungsprozesse zeigen sich daher auch Kontinuität und Stabilität. Weiterhin stellt die Tarifautonomie als institutioneller Garant eine autonome Tarifvertragsgestaltung durch die Sozialpartner sicher. Gleichzeitig wird jedoch die betriebliche Ebene der Interessenvertretung auf­ gewertet und damit die Trennung der Ebenen im dualen System aufgeweicht. e) Betriebliche Interessenvertretung

Öffnungsklauseln sind Bestandteil des deutlichen Trends einer Verbetrieblichung der Arbeitnehmerinteressenvertretung. Infolge der Verschiebung zwischen betrieblicher und flächentarifvertraglicher Ebene ist der Betriebsrat wichtiger ge74 Schroeder, Transformationsprozess, S. 33. 75 Vgl. Kädtler, Tarifpolitik, S. 453 f. 76 Thilo Fehmel, Institutioneller Wandel durch semantische Kontinuität: Die bruchlose Transformation der Tarifautonomie, in: Andresen/Bitzegeio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch, S. 267–291, hier S. 288.

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worden. Davon zeugt etwa die Bedeutung von betrieblichen Bündnissen für Arbeit77, mit denen die Unternehmen seit den 1990er Jahren eine Verlagerung der Regulierung von Arbeitsbedingungen auf die betriebliche Ebene forcierten78. In diesem Zusammenhang musste zum einen das Verhältnis zwischen Gewerkschaften und Betriebsräten neu justiert werden, da die Grenzen zwischen überbetrieblicher Tarifpolitik und betrieblicher Mitbestimmungs­poli­tik verwischten79. Zum anderen wurde mit der Aufwertung der Betriebsräte deren Arbeit anspruchsvoller. Herausforderungen ergeben sich insbesondere daraus, dass sich ihr besonderer Charakter als »Grenzinstitution« im Spannungsfeld zwischen Belegschaft, Unternehmensmanagement und Gewerkschaft weiter ausprägt, je mehr sie sich von Mitbestimmungsakteuren zu Co-Managern entwickeln. Dieser Wandel rührt daher, dass auf Unternehmensseite der Strukturwandel in der Industrie vor allem über Rationalisierungsmaßnahmen angegangen wird. Betriebsräte werden verstärkt in diese Restrukturierung und Rationalisierungssowie Modernisierungsprozesse der Unternehmensorganisation eingebunden. In der Folge besteht die Gefahr von Legitimitätsverlusten, falls Beschäftigte sie als verlängerten Arm des Managements wahrnehmen80. Ihre erweiterten Beteiligungsmöglichkeiten in unternehmerischen und wirtschaftlichen Fragen gefährden damit »unter Umständen ihren Vertretungsauftrag durch die Beschäftigten«81. Neben diesem Wandel in Form von Verbetrieb­lichung und Co-Management prägt aber auch Kontinuität die Entwicklung der betrieblichen Interessenvertretung. Das duale System und die verrechtlichte Mitbestimmungsstruktur auf der Basis des Betriebsverfassungsgesetzes konnten die Gewerkschaften, wenn schon nicht ausbauen, so doch zumindest gegen die Aushöhlungsversuche von Arbeitgeberseite verteidigen. Diese ambivalente Einschätzung gilt gleichermaßen für die Entwicklung der korporatistischen Einbindung der Gewerkschaften. f) Korporatistisches Arrangement

Der sozialpartnerschaftliche Konsens und »die Widerstandskraft der korporatistischen Arrangements« im (west-)deutschen Modell waren zum einen »wichtige Faktoren der Verzögerung und der Abfederung« eines abrupten Wandels in den Arbeitsbeziehungen82. Zum anderen waren sie die zentralen Elemente, die 77 Vgl. Wolfgang Streeck/Britta Rehder, Der Flächentarifvertrag: Krise, Stabilität und Wandel, MPIfG working paper, 03/6, 2003. 78 Vgl. Sperling, Betriebspolitik, S. 497. 79 Vgl. Walther Müller-Jentsch, Mitbestimmungspolitik, in: Schroeder (Hrsg.), Handbuch Gewerkschaften, S. 505–534, hier S. 523 f. 80 Vgl. Sperling, Betriebspolitik, S. 497. 81 Müller-Jentsch, Mitbestimmungspolitik, S. 522. 82 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Der Epochenbruch in den 1970er-Jahren: Thesen zur Phänomenologie und den Wirkungen des Strukturwandels »nach dem Boom«, in: Andresen/Bitzegeio/Mittag (Hrsg.), Nach dem Strukturbruch, S. 25–40, hier S. 27.

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eine – wenn auch unstetig –, verhandelte Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen ermöglichten. Die Entwicklung der korporatistischen Arrangements war auf der einen Seite von großer Kontinuität geprägt. Sie wurden in der grundsätzlich nicht hinterfragten Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie ebenso deutlich wie in der relativ stabilen Einbindung der Sozialpartner in die korporatistische Selbstverwaltung von Sozialversicherungen und Arbeitsverwaltung. Auf der anderen Seite zeigte sich ein Wandel bezogen auf tripartistische Konstellationen. Diese Form dreiseitiger korporatistischer Kooperation zwischen Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden auf der ökonomischen Makroebene ergab sich jedoch nur selten. Auch auf dem Zenit keynesianischer Globalsteuerung der Wirtschaft waren die Arrangements in Dauer und Reichweite begrenzt. Der notwendige sozioökonomische Konsens zeigte sich insbesondere in der Anfangszeit der sozialliberalen Koalition. Dieser Konsens fand sich auch in Bezug auf die mit der Verabschiedung des Wachstums- und Stabilitätsgesetzes 1967 deutlich hervortretende Orientierung auf das »magische Viereck« aus Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, Preisstabilität und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht. Um dieses politische Vorgehen zu flankieren, gingen Ende der 1960er Jahre Gewerkschaften, Arbeitgeber und Regierung in der Konzertierten Aktion ein korporatistisches Arrangement auf der Makroebene zur gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung und zur Globalsteuerung der Wirtschaft ein83. Diese Form des politischen Tauschs  – etwa Lohnzurückhaltung gegen die Chance, als relevanter gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Akteur wahrgenommen zu werden – setzte die Gewerkschaften erheblichen inneren Spannungen aus. Auf der einen Seite standen zwar die Erfolge etwa in Form des reformierten Betriebsverfassungsgesetzes von 1972, das den gewerkschaftlichen Aktionsradius deutlich ausweitete84. Auf der anderen Seite zeigten die wilden Streiks Ende der 1960er Jahre, das dieser Einbindungskurs nicht bei a­ llen Beschäftigten auf Gegenliebe stieß. Die Unzufriedenheit zeigte sich an der Gewerkschaftsbasis beispielsweise durch anhaltende Mitgliederproteste. An dieser Legitimationskrise scheiterte letztlich auch die weitere Beteiligung der Gewerkschaften an der Konzertierten Aktion85. Obwohl auf Krisen- und Transformationsphasen begrenzt, zeigt sich, wie diese Form korporatistischer Arrangements die Legitimations- und Funktionsfähig83 Die keynesianische Konzertierungsstrategie basierte auf der makroökonomisch vermittelten Interdependenz von Löhnen, Preisen und Beschäftigungsniveau. Die unmittelbaren Ziele der Konzertierten Aktion lagen in der nachhaltigen Inflationsbekämpfung und im schnellen Abbau der Arbeitslosigkeit. 84 Die Novellierung bedeutete einen verbesserten betrieblichen Zugang für hauptamtliche Gewerkschaftsfunktionäre. Hinzu kam eine zusätzliche finanzielle Grundlage für gewerkschaftliche Bildungsarbeit, die zu einer enormen Expansion des gewerkschaftlichen Bildungswesens beitrug. 85 Vgl. Schroeder, Soziale Demokratie, S. 10; Plumpe, Industrieland Deutschland, S. 177 f.; Nützenadel, Wachstum, S. 135.

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Wolfgang Schroeder und Samuel Greef

keit der beteiligten Akteure auf die Probe stellte. Das Scheitern der Konzertierten Aktion 1977 verdeutlicht, dass diese Form makroökonomischer Steuerung in der Phase des Strukturbruchs nicht mehr wie noch Ende der 1960er Jahre funktionierte. Denn für eine erfolgreiche »Verhaltensabstimmung und Interessen­ koordination« als Ziel tripartistischer Kooperation sind beides »zugleich auch die wichtigsten Voraussetzungen« für eine Realisierung86. Der Nachkriegskonsens zwischen Gewerkschaften, Unternehmen und Staat war jedoch mit dem ökonomisch-politischen Paradigmenwechsel bereits deutlich geschwächt, in Teilen sogar aufgekündigt. Daran scheiterte am Ende die Konzertierte Aktion ebenso wie der spätere Versuch von Gerhard Schröder, die tripartistische Abstimmung zwischen 1998 und 2003 im Bündnis für Arbeit wieder aufleben zu lassen. »Zudem drückt sich im Scheitern auch der Wandel des Modell Deutschland aus«87; der gewerkschaftliche Einfluss auf das politische System erodierte sichtlich. Trotz ihrer geschwächten makro-korporatistischen Einbindung setzte in den Gewerkschaften erst verspätet ein Wandlungsprozess ein, mit dem sich das Verhältnis zwischen Einfluss- und Mitgliederlogik in Richtung Mitglieder verschob. Denn aufgrund ihrer weiterhin herausgehobenen Stellung im korporatistischen System des Rheinischen Kapitalismus schienen sie eine Zeit lang »gegen die politischen Folgen des Mitgliederschwundes immunisiert«, was ihnen eine »partielle Entkopplung von ihren Mitgliedern (Mitgliedschaftslogik) und eine Konzentration auf die Interessendurchsetzung (Einflusslogik)« ermöglichte88.

5. Resümee Der von Doering-Manteuffel und Raphael konstatierte Strukturbruch in den 1970er Jahren erfasste zeitverzögert auch die Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen. Die ökonomischen und wirtschaftlichen Bedingungen verschoben sich ebenso durch den beschleunigten Strukturwandel wie die betrieblichen Arbeitsrealitäten. Die Ausgangspunkte der unterschiedlichen Zäsuren und Brüche, die wir in unserem Beitrag in den sechs Dimensionen Mitgliedschaft, Organisation, Arbeitgeberverbände, Tarif- und Betriebspolitik sowie Korporatismus aufgezeigt haben, lassen sich auf die Epoche nach dem Boom zurückführen. Wirkmächtig und strukturverändernd entfalteten sich die Wandlungsprozesse jedoch erst in den 1990er und 2000er Jahren. Ein deutlich erkennbarer Bruch in den Arbeitsbeziehungen zeichnet sich folglich erst verspätet, etwa 20 Jahren 86 Andrea Besenthal, Tripartistische Bündnisse im Deutschen Modell, in: WSI-Mitteilungen 57 (2004), S. 555–560, hier S. 558. 87 Wolfgang Schroeder/Dorothea Keudel, Strategische Akteure in drei Welten. Die deutschen Gewerkschaften im Spiegel der Forschung, Düsseldorf 2008, S. 68. 88 Susanne Pernicka/Sandra Stern, Von der Sozialpartnerschaft zur Bewegungsorganisation? Mitgliedergewinnungsstrategien österreichischer Gewerkschaften, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 40 (2011), S. 335–355, hier S. 336.

Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen nach dem Boom 

267

nach dem sozioökonomischen Strukturbruch der 1970er Jahre, ab. Diese zwei Dekaden lassen sich als Latenzphase, Inkubationszeit oder auch »Scharnierjahrzehnt[e]« verstehen. Einerseits setzten sich die »Entwicklungslinien der Boomphase« in den Arbeitsbeziehungen fort andererseits zeichneten sich die Ver­änderungen bereits ab89. Die zentralen Entwicklungen mit Zäsurcharakter waren dabei: a) der Übergang von der einflusslogischen Perspektive hin zu einer neuen Mitgliederorientierung infolge der massiven Mitgliederverluste in den 1990er Jahren; b) der organisationsstrukturelle Wandel durch Fusionen hin zu Multibranchen­ gewerkschaften aufgrund des Niedergangs ganzer Industriezweige sowie der Finanzentwicklung durch die Mitgliederrückgänge und das Ende der Gemeinwirtschaft; c) die Etablierung von OT-Mitgliedschaften auf Arbeitgeberverbandsseite, d) die Flexibilisierung der Tarifpolitik in Form von Öffnungsklauseln und die damit einhergehende Verbetrieblichung; e) die Aufweichung des dualen Systems durch betriebliche Bündnisse für Arbeit und die neue Rolle von Betriebsräten als Co-Manager; f) die Erosion makro-korporatistischer Arrangements und die Rückbesinnung auf die Mitglieder als originäre Quelle gewerkschaftlicher Stärke. Von einem glatten Strukturbruch nach dem Boom in den 1970er Jahren zu sprechen, erweist sich mit Blick auf die Entwicklung des deutschen Gewerkschaftsmodells und die Ausgestaltung der Arbeitsbeziehungen daher als wenig zielführend. Vielmehr haben die Erosionen innerhalb des (west-)deutschen Gewerkschaftsmodells, die sich in einer Vielzahl von Rissen niederschlugen, inkrementelle Wandlungsprozesse und nachholende, zeitverzögerte Reaktionen hervorgebracht, die einerseits zu Struktur- und Handlungskontinuitäten, andererseits aber auch zu deutlichen Veränderungen führten. Auch Doering-Manteuffel und Raphael konstatierten keinen »glatten Bruch«, sondern vielmehr »Brüche und Verwerfungen«90. Manche Beobachter beschrieben die Zeit zwischen den ausgehenden 1970er Jahren und dem Ende der 1990er Jahre als »Übergangsphase«91. Im Rückblick befanden sich Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen seit dem Bruch der 1970er Jahre in einer Phase zwischen Kontinuität und Wandel, »Bewahrung und Erneuerung«.92 Aufgrund institutioneller Puffer kam der Strukturbruch für die Gewerkschaften erst zeitverzögert zum Tragen, so dass diese lange Zeit allenfalls zögerlich auf die Wandlungsprozesse reagierten. Bezogen auf Rationalisierung, Arbeitslosigkeit und die Arbeitsbedingungen der Ungelernten und Geringqualifizierten in der fordistischen Massenproduktion lag dies vor allem an der Kernmitgliedschaft der Gewerkschaften. Die  – gewerkschaftlich organisierten  – Facharbeiter erfuhren durch 89 90 91 92

Artus, Mitbestimmung, S. 213 f. Doering-Manteuffel/Raphael, Epochenbruch, S. 38. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 14. Doering-Manteuffel, Brüche und Kontinuitäten, S. 561.

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Wolfgang Schroeder und Samuel Greef

Korporatismus

Betrieb

Tarif­politik

Arbeitgeber­ verbände

Organi­sation

Mit­g lieder

Dimension

Tabelle 1: Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen nach dem Boom Gewerkschaften im ­ »goldenen Zeitalter«

Zäsur

Zeitraum

Gewerkschaften im flexiblen, dezentralen Kapitalismus

Fokus auf männliche Arbeiter im Normal­ arbeitsverhältnis

Massive Mit­ gliederverluste; sinkender Organisationsgrad

1991 ff.

Organizing, Zielgruppenarbeit

1991 ff.

Neue Mitglieder­orientierung

Einflusslogische Perspektive Branchengewerk­ schaften

Fusionen (wegbrechende Industriezweige, Dienstleistungssektor)

(1980) 1990 2001

Multibranchengewerkschaften; Konzentration

Gemeinwirtschaftliche Unternehmen als drittes finanzielles Standbein

Neue Heimat Skandal co op-Skandal

1982/86 1988

DGB: Rückzug aus der Fläche

Organisations- und verpflichtungsfähige Gegenspieler

OT-Mitgliedschaften; sinkende Verpflichtungsfähigkeit

1990 ff. 2002

Flexibilisierte Verbandsmitgliedschaft; Haustarifverträge, Tariflose Zustände

Flächentarifvertrag

Pforzheimer Abkommen

2004

Öffnungsklauseln: Flexibilisierung, Verbetrieblichung

Tarifpolitische Setzung von Mindeststandards

Entsendegesetz Viking/Laval

1996 2007

Gesetzlicher Mindestlohn

Duales System; klare Trennung betriebliche/ überbetriebliche Ebene

Betriebliche Bündnisse für Arbeit

1990 ff.

Stärkung der betrieblichen Ebene; steigende Anforderungen an Betriebsräte; Co-Management; Dezentralisierung/ Verbetrieblichung von Regelungskompetenzen

Makro-Korporatismus (Konzertierte Aktion)

Bündnis für Arbeit; Abwrackprämie

1995 2003 2009

Sektoraler-Meso-­ Korporatismus

Tarifautonomie Einbindung/Selbstverwaltung in Sozial­ versicherung und Arbeitsverwaltung

Kontinuität

Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen nach dem Boom 

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die Abwertung der Niedrigqualifzierten eine Statusaufwertung in Richtung der technischen Angestellten93. Daher wurde der ökonomische Strukturwandel für die Gewerkschaften erst dann relevant, als die Veränderungen auch ihre Kernklientel zu bedrohen begannen. Insbesondere der Niedergang einzelner Branchen und der Wegfall ganzer Berufszweige nötigte die Gewerkschaften zu einer Reaktion. Nachdem es noch in den 1980er Jahren gelungen war, das Arbeiter­ potential in den Betrieben effizienter zu rekrutieren, wurde damit gleichzeitig die schwierigere Aufgabe, die anderen Segmente des Arbeitsmarkts in den höher- und niedriger qualifizierten Bereichen zu erreichen, nicht mit der angemessenen Intensität verfolgt. Damit ging aber viel Zeit verloren. Lange Zeit haben die Gewerkschaften also keine adäquate Antwort auf den Arbeitsmarkt- und Beschäftigungswandel gefunden. Ihre verspäteten Reaktionen auf die vielfältigen Wandlungsprozesse infolge des sozioökonomischen Strukturbruchs blieben aufgrund ihrer weiterhin stabilen institutionellen Einbettung im Korporatismus deutscher Prägung zunächst folgenlos. Erst als ihre Durchsetzungsfähigkeit aus einflusslogischer Perspektive deutlich zurückging, begannen die Gewerkschaften, sich auf ihre veränderte Umwelt einzustellen. Für die Rückkehr zu organisatorischer Stärke setzten sie wieder auf eine stärker mitgliederlogische Perspektive. Diese neue Mitgliederorientierung zeigt sich anhand von Organizing-Strategien und Konzepten der Zielgruppenarbeit. Entscheidend ist dabei, dass nicht nur pfadabhängige und inkrementelle, sondern auch darüberhinausgehende Veränderungen implementiert wurden. Ob die zeitverzögerten Reaktionen der Gewerkschaften jedoch hinreichend sind, um die eigenen Organisationen anschlussfähig an die sich veränderten Umweltbedingungen zu machen, kann letztlich noch nicht abschließend beurteilt werden. Zusammengenommen kumulieren die dargestellten, inkrementell verlaufenden Zäsuren und Brüche in deutlich ausdifferenzierten Arbeitsbeziehungen innerhalb des deutschen Modells. Für das Gewerkschaftsmodell und die Arbeitsbeziehungen sind heute drei Welten charakteristisch94. Diese drei Gewerkschaftswelten finden sich nicht nur zwischen Branchen oder Wirtschaftssektoren, sondern auch auf regionaler Ebene wieder95. Die erste Welt gestaltet sich weiterhin kongruent zum deutschen Modell und steht für die Kontinuität der Arbeitsbeziehungen über die Phase des Strukturbruchs hinaus. Organisationsund verpflichtungsfähige Kollektivakteure auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite münden in sozialpartnerschaftlichen Arrangements. Flächentarifverträge und Mitbestimmung in Form von Betriebs- und Aufsichtsräten kennzeichnen die Arbeitsbeziehungen in dieser ersten Welt, die vor allem im produzierenden Gewerbe des exportorientierten Sektors anzutreffen ist. Die Prägekraft dieser ersten Welt auf die beiden folgenden nimmt kontinuierlich ab, so dass sich die drei Welten stärker entkoppeln. 93 Vgl. Hachtmann, Gewerkschaften, S. 190; das Folgende nach ebenda und S. 199 und S. 204. 94 Vgl. Schroeder/Keudel, Strategische Akteure, S. 8 f. 95 Vgl. Meise, Regionale Welten, S. 249 ff.

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Wolfgang Schroeder und Samuel Greef

In der zweiten Welt herrschen sehr viel ambivalentere Bedingungen vor. Gewerkschaftliche Stärke und Durchsetzungsfähigkeit sind nicht obligatorisch. Die Aushandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften sind stärker von Konflikten geprägt, und die Tariflandschaft ist durch Firmen- und Haustarifverträge dezentralisiert. Hauptsächlich in dieser Welt findet sich das Phänomen der Fragmentierung der Gewerkschaftslandschaft durch berufsgewerkschaftliche Konkurrenzorganisationen. Die dritte Welt hat sich insbesondere im Zuge des sozioökonomischen Strukturbruchs herausgebildet. In ihr sind die Gewerkschaften, aber auch die Arbeitgeberverbände kaum vertreten. Zur dritten Welt zählen große Teile des Dienstleistungssektors sowie klein- und mittelständische (Handwerks-)Betriebe insbesondere in Ostdeutschland. Tarifverträge sind hier selten anzutreffen oder werden durch Dumpingverträge mit christlichen Gewerkschaften ausgehebelt. Die ausdifferenzierten und segmentierten Arbeitsbeziehungen sowie das Gewerkschaftsmodell in drei Welten, die wir heute erkennen, stehen für einen deutlichen Bruch. Dieser Bruch trat, ausgehend vom sozioökonomischen Strukturbruch der 1970er Jahre, mit einer Verspätung von gut 20 Jahren auf. Daher erklären sich auch die zeitverschobenen gewerkschaftlichen Reaktionen und Antworten auf die Umbrüche. Vor »dem Hintergrund des tiefgreifenden Strukturwandels [wird] um neue Lösungen, um neue normative Leitbilder gerungen […]. Die Zukunft ist insofern offen, doch gibt es Pfadabhängigkeiten. Und die Sozialpartnerschaft dürfte zweifellos eine der wirksamsten deutschen Traditionen bleiben.«96 Darüber hinaus sind mit einer offensiven, mitgliederorientierten Gewerkschaftspolitik neue Modernisierungsimpulse vorhanden. Die Gewerkschaften versuchen systematisch, neue Machtressourcen zu erschließen, um den Herausforderungen aktiv entgegenzutreten, die sich aus dem Strukturbruch in den Arbeitsbeziehungen ergeben haben.

96 Plumpe, Industrieland Deutschland, S. 185.

Maria Dörnemann

Modernisierung als Praxis? Bevölkerungspolitik in Kenia nach der Dekolonisation

1. Demografie zwischen Wissenschaft und Politik 1963 wurde die britische Siedlerkolonie Kenia unabhängig. Die kenianische Regie­ rung veröffentlichte kurz darauf ein programmatisches Papier, in dem sie ihren zukünftigen Kurs ankündigte; wirtschaftliches Wachstum sollte oberste Priorität haben. Problemfelder wurden im Lichte dieses Zieles identifiziert, wie das folgende Zitat verdeutlicht: »The Government’s capacity to achieve its desired objectives is restricted […] by our high rate of population growth, which […] reduces the money available for development, lowers the rate of growth and makes exceedingly difficult the task of increasing social services.«1

Problematisch aus damaliger Sicht erschien also nicht die absolute Bevölkerungszahl, sondern die Wachstumsrate, die in Bezug zu verfügbaren Schulen, Arbeitsplätzen und medizinischen Versorgungsmöglichkeiten gesetzt wurde. Zugleich wiesen die Verfasser des Papiers – allesamt Mitarbeiter des kenianischen Wirtschaftsministeriums – darauf hin, dass die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen zu einem Bankrott der jungen Nation und zu untragbaren Staatsschulden führen könne. Als Lösung des Problems und als Weg zum wirtschaftlichen Wachstum empfahlen sie Maßnahmen zur Verlangsamung des Bevölkerungswachstums: »A programme of family planning education will be given high priority.« Diese Argumentation entsprach einem in dieser Zeit weit verbreiteten Denkzusammenhang und berief sich explizit auf eine US -amerikanische Studie von 1958, die den Nexus von Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum als Indikator für den Entwicklungsstand einer Gesellschaft etabliert hatte. Am Beispiel Indiens postulierten der Demograf Ansley Coale und der Ökonom Edgar Hoover, dass ein geringes Bevölkerungswachstum wirtschaftliches Wachstum ermögliche und langfristig den Lebensstandard einer Gesellschaft erhöhe2. Ihre Forschung beruhte auf dem Modell der demografischen Transition, das in den 1940er Jahren an einer der renommiertesten demografischen Institutionen die1 Republic of Kenya, African Socialism and Its Application to Planning in Kenya. Sessional Paper No. 10 of 1963/65, Nairobi 1965, S. 31; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 30. 2 Vgl. Ansley J. Coale/Edgar M. Hoover, Population Growth and Economic Development in Low-Income Countries: A Case Study of India’s Prospects, Princeton/NJ 1958.

272

Maria Dörnemann

ser Zeit, dem Office of Population Research (OPR) in Princeton, formuliert worden war3. Im Kern handelte es sich um ein allgemeines Modell, das in drei Entwicklungsstadien den historischen Wandel aller Gesellschaften von der »Tradition« zur »Moderne« erklären sollte4. Dadurch folgte es einem evolutionären und teleologischen Prinzip5, das auf der Prämisse beruhte, dass es einen Entwicklungspfad gebe und Gesellschaften, die sich augenblicklich noch in einem frühen Stadium befänden letztlich die demografische Entwicklung des Westens nachvollziehen würden6. Die Deutungsmacht, die das Modell langfristig entfalten konnte, hängt eng mit dem politischen Kontext zusammen. Ende der 1940er Jahre lösten die Dekolonisation und der Kalte Krieg eine Dynamik aus, vor deren Hintergrund eine mögliche »Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt« als Bedrohung für den Frieden und die Stabilität der Welt diskutiert wurde7. In diesem Zusammenhang machte das Transitionsmodell nicht allein ein Erklärungsangebot für das Phänomen Übervölkerung, sondern bot auch einen Ansatzpunkt für konkretes Handeln. Neuralgisch erschien in diesem Zusammenhang das Entwicklungsstadium. Frank W. Notestein, der 1945 als Direktor des OPR eine der bekanntesten Formulierungen des Modells vorlegte, beschrieb diese Phase wie folgt: »The stage of transitional growth is that in which […] the decline of mortality precedes that of fertility and produces rapid growth.«8 Diesem Stadium wurden im weitesten Sinne alle Gesellschaften zugeordnet, in denen Entwicklungsmaßnahmen wie verbesserte medizinische Infrastrukturen einen Rückgang der Sterblichkeit zur Folge hätten. Vor dem Hintergrund des entstehenden entwicklungspolitischen Regimes, das in erster Linie technische Hilfe im medizinischen Bereich anbot, kristallisierte sich der Befund einer drohenden Übervölkerung als Strukturmerkmal der sogenannten Entwicklungsländer heraus. In diesem Zusammenhang wurde das Transitionsmodell entwicklungspraktisch gewendet: Das Bevölkerungsproblem sollte durch die Verbreitung von Kontrazeptiva im Rahmen von Familienplanungsprogrammen aktiv beeinflusst wer3 Vgl. Susan Greenhalgh, The Social Construction of Population Science: An Intellectual, Institutional, and Political History of Twentieth-Century Demography, in: Comparative Studies in Society and History 38 (1996), S. 26–66; Dennis Hodgson, Demography as Social Science and Policy Science, in: PDR 9 (1983), S. 1–34; Simon Szreter, The Idea of Demographic Transition and the Study of Fertility Change: A Critical Intellectual History, in: PDR 19 (1993), S. 659–701. 4 Simon Szreter, Fertility, Class and Gender in Britain, 1860–1940, Cambridge (Mass.)/New York 1996, S. 9. 5 Vgl. Lynn Hunt, Measuring Time, Making History, Budapest/New York 2008, S. 109. 6 Vgl. Frank W. Notestein, Population – The Long View, in: Theodore W. Schultz (Hrsg.), Food for the World, Chicago 1945, S. 36–57, hier S. 41; Nils Gilman, Mandarins of the Future. Modernization Theory in Cold War America, Baltimore 2003, S. 104. 7 Vgl. Marc Frey, Experten, Stiftungen und Politik. Zur Genese des globalen Diskurses über Bevölkerung seit 1945, in: ZF 4 (2007), S. 137–159; Matthew Connelly, Fatal Misconception. The Struggle to Control World Population, Cambridge (Mass.)/London 2008, S. 115–154. 8 Notestein, Population, S. 46; zum Folgenden vgl. ebenda, S. 50.

Modernisierung als Praxis? 

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den9. Ein Rückgang der Geburtenrate bedeutete in diesem Szenario gleichsam eine Abkürzung auf dem Weg zur Modernisierung. Anders ausgedrückt: Familien­ planung ließ Modernisierung als aktiv steuerbare Praxis erscheinen. Hier zeigt sich, auf welcher Grundlage das eingangs zitierte kenianische Regierungspapier Familienplanungsprogramme als Weg zu wirtschaftlichem Wachstum propagierte. In diesem Beitrag gehe ich von der Annahme aus, dass die beteiligten Akteure die Problematisierung des Bevölkerungswachstums zum Ausgangspunkt nahmen, um die in makroökonomischen Abstraktionen ausgedrückte Differenz zwischen dem als Entwicklungsland klassifizierten Kenia und dem euro-atlan­tischen Raum zu erklären. In dem prognostizierten Ungleichgewicht zwischen dem Bevölkerungswachstum der »Dritten Welt« und der vermeintlich stagnierenden Bevölkerungsentwicklung der Industrienationen sahen private Stiftungen und internationale Organisationen sowie Politiker und Wissenschaftler eine Bedrohung für die globale Stabilität. Auf dieser Grundlage entstanden Strukturen technischer Entwicklungshilfe zur Förderung von Familienplanungsprogrammen. Politiker im kenianischen Wirtschaftsministerium leiteten aus dem konstatierten Ungleichgewicht einen Anspruch auf Entwicklung ab, der sich beispielsweise darin äußerte, im Zuge der Problematisierung des Bevölkerungswachstums Gelder und auswärtige Experten zu akquirieren. Das bevölkerungspolitische Projekt in Kenia eignet sich daher dafür, Erklärungs- und Deutungsangebote für dieses Ungleichgewicht ebenso zu untersuchen wie Bewältigungsstrategien. Modernisierung und Entwicklung erscheinen in diesem Szenario nicht als »US -­ amerikanische Exportartikel«, sondern als »globales Phänomen«10. So gilt es, das Zusammenspiel unterschiedlicher Interessen, Wissensbestände und daraus resultierender Praktiken zu beleuchten. Dies soll mit Blick auf die Frage geschehen, inwieweit vor dem Hintergrund der in den 1970er Jahren einsetzenden und um 1980 manifest werdenden Modernisierungsskepsis11 auch ein Wandel in den Erklärungsansätzen, Deutungsangeboten und Lösungsmodellen für das Bevölkerungsproblem zu erkennen ist. Schlaglichter sollen drei aufeinanderfolgende Phasen unterschiedlicher Erklärungs- und Handlungsmodelle beleuchten, die sich teilweise überlagerten. 9 Vgl. Randall Packard, Visions of Postwar Health and Development and Their Impact on Public Health Interventions in the Developing World, in: Frederick Cooper/Randall ­Packard (Hrsg.), International Development and the Social Sciences. Essays on the History and Politics of Knowledge, Berkeley 1997, S. 93–118; Paul Weindling, From Disease Prevention to Population Control. The Realignment of Rockefeller Foundation Policies in the 1920s and 1950s, in: John Krige/Helke Rausch (Hrsg.), American Foundations and the Co­production of World Order in the Twentieth Century, Göttingen 2012, S. 125–145. 10 David C. Engerman/Corinna R. Unger, Towards a Global History of Modernization, in: Diplomatic History 33 (2009), S. 375–385, hier 376 f.; vgl. auch Frederick Cooper, Afrika in der kapitalistischen Welt, in: Shalini Randeria/Andreas Eckert (Hrsg.), Vom Imperialismus zum Empire, Frankfurt a. M. 2009, S. 37–73, hier S. 61 ff. 11 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, S. 79–90.

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Maria Dörnemann

Für die erste Phase zwischen 1965 und 1969 soll nachgezeichnet werden, vor welchem sozialwissenschaftlichen und politischen Hintergrund das demogra­ fische Transitionsmodell und die Praxis der Familienplanung ihren normativen Ausdruck im Modell der Kleinfamilie fanden. Es gilt zu beobachten, wie dieses Modell in Kenia von Wissenschaftlern unterschiedlicher Herkunft diskutiert wurde. Die zweite Phase zwischen 1969 und 1978 zeichnete sich durch Zweifel am Erfolg der eingeleiteten bevölkerungspolitischen Maßnahmen aus. An die Stelle eines Denkens in zeitlich aufeinanderfolgenden Modernisierungsstadien rückte Kultur als Argument, um Unterschiede im Bevölkerungswachstum und das Scheitern der ergriffenen Maßnahmen zu erklären. Seit den 1980er Jahren, die die dritte Phase einleiteten, zeigte sich, dass das Transitionsmodell als zentrales Deutungsmuster für Bevölkerungsentwicklung nicht ausgedient hatte, dass es aber im Zuge anhaltender Schwierigkeiten, Modell und Praxis in Einklang zu bringen, gleichsam entkernt wurde und immer weniger als handlungsleitend galt.

2. Die Familie als Ort gesellschaftlichen Wandels Nach der Unabhängigkeit Kenias stand die Bevölkerungspolitik ganz im Zeichen der Modernisierung. Diese Annahme lässt sich an einem Ereignis konkretisieren. 1965 lud das kenianische Wirtschaftsministerium eine Expertendelegation des US -amerikanischen Population Council nach Kenia ein, die Empfehlungen aussprechen sollte, wie das Bevölkerungswachstum verringert werden könne12. Die Köpfe hinter dieser Einladung waren einerseits der kenianische Wirtschaftsminister Thomas J. Mboya und andererseits ein US -amerikanischer Ökonom und Berater des Wirtschaftsministeriums, Edgar O. Edwards. In den Quellen zeigt sich die Entscheidung, die zu dieser Einladung führte, als Ergebnis eines vielschichtigen, von unterschiedlichen Motiven und Interessen geleiteten Prozesses. Aus der Sicht Tom Mboyas waren indes zwei Aspekte zentral: Erstens schien eine Zusammenarbeit mit dem Population Council Wege zu eröffnen, auswärtige Experten und Kapitel für Kenia zu gewinnen; zweitens begründete der Population Council sein Engagement für Familienplanungsprogramme rein ökonomisch13. Für Mboya stellte wirtschaftliches Wachstum den Schlüssel zur Modernisierung des Landes dar14 – insofern entfaltete das Modernisierungskonzept hier sein spe12 RAC , RG  IV3B4.3a, T65.86, Box  65, Folder  1137, Titus  K. Mbathi an John  F. Kantner (Popu­lation Council) vom 8.4.1965. 13 FFA , Reel 1151, Grant 670–453, Section 4, Courtney A. Nelson an Donald J. Kingsley vom 7.6.1967; KNA , AMB/1/4 Ministry of Economic Planning and Development 1965/66, Thomas J. Mboya an das Cabinet Development Committee: Population Growth and Economic Development. Memorandum by the Minister for Economic Planning and Development vom 14.1.1965, S. 6. 14 Vgl. Daniel Speich, The Kenyan Style of »African Socialism«: Development Knowledge Claims and the Explanatory Limits of the Cold War, in: Diplomatic History 22 (2009), S. 449–466.

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zifisches Verheißungs- und Erwartungspotential15. Das Ergebnis, zu dem die vier US -Amerikaner – zwei Demografen und zwei Gynäkologen, die im Auftrag des Population Council im Sommer 1965 für drei Wochen das Land bereisten – in ihrem Abschlussbericht kamen, wird Mboya ebensowenig überrascht haben wie die Politiker und Beamten im Wirtschaftsministerium: Kenia habe ein Problem, weil die wirtschaftliche Entwicklung mit der rasch wachsenden Bevölkerung nicht Schritt halten könne. Eine reduzierte Wachstumsrate hingegen, »which permitted high levels of investments in education and in economic and social development, would result in a more vigorous, better educated and more highly modernized nation«16. Die Empfehlung lautete daher, ein nationales Familienplanungsprogramm einzuführen. Auf der Ereignisebene kann also zunächst festgehalten werden, dass die Akteure, die vereinfacht dem Population Council und dem kenianischen Wirtschaftsministerium zugeordnet werden können, einen Zusammenhang zwischen Modernisierung und Bevölkerungspolitik herstellten und überdies den Modernisierungsgrad einer Gesellschaft aus dem Verhältnis von Wirtschaftsund Bevölkerungswachstum ableiteten. Die Frage, warum die kausale Verknüpfung verschiedener Faktoren, die sich verkürzt auf die Formel Modernisierung durch Familienplanung bringen lässt, von den Experten des Population Council mit dieser Selbstverständlichkeit propagiert werden konnte, ist nur mit Blick auf ihre politischen und sozialwissenschaftlichen Entstehungsbedingungen zu beantworten. Dieser Ansatz führt zunächst zu den institutionellen Grundlagen der Demografie in den USA und der Entwicklung des Modells der demogra­f ischen Transition. Der Entstehungskontext und die verschiedenen Varianten des Modells der demografischen Transition waren bereits Gegenstand mehrerer Studien und Aufsätze, die – insbesondere auf den Arbeiten von Simon Szreter und Susan Greenhalgh aufbauend17 – hier nur kurz skizziert werden sollen. Die Demografie war in den Vereinigten Staaten im frühen 20. Jahrhundert eine junge Disziplin, die nicht zum Kanon der universitär etablierten Sozialwissenschaften, also der Ökonomie, Psychologie, Anthropologie, Soziologie und Politikwissenschaften, gehörte. Aufgrund der spärlichen Institutionalisierung an den Universitäten zeigte sich die Demografie besonders empfänglich für die Finanzierung durch Regierungen, Stiftungen und internationale Organisationen, die ihrerseits gewissermaßen den Markt für die Ergebnisse bevölkerungswissenschaftlicher Forschung bildeten. Das Office of Population Research, das seit den 1940er Jahren als eines der renommiertesten Zentren demografischer Forschung galt, war 1936 aus Mitteln des pri15 Vgl. Niels P. Petersson, »Großer Sprung nach vorn« oder »natürliche Entwicklung«? Zeitkonzepte der Entwicklungspolitik im 20. Jahrhundert, in: Hubertus Büschel/Daniel Speich (Hrsg.), Entwicklungswelten. Globalgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit, Frankfurt a. M. 2009, S. 89–111, hier S. 90. 16 RAC , Population Council Archives, Accession 1, Series 3a, Box 65, Folder 1137, Bericht: »Family Planning in Kenya« vom 13.8.1965, S. 2. 17 Vgl. Szreter, Demographic Transition; Greenhalgh, Social Construction.

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vaten Milbank Memorial Fund gegründet worden18 und nahm eine aktive Rolle ein, wenn es darum ging, Fragen und Ergebnisse an den Bedürfnissen eines politischen Publikums zu orientieren. Eines der prominentesten Beispiele für diesen Vorgang ist das demografische Transitionsmodell, für das Frank W. Notestein, Direktor am OPR , 1945 eine Ausarbeitung vorgelegt hatte, die er Ende der 1940er Jahre wesentlich veränderte. Als Katalysator dieser Anpassung hat Simon Szreter den entstehenden Systemkonflikt stark gemacht, der auch Demografen mit der Frage konfrontiert habe, wie der Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen in den Entwicklungsländern gewonnen werden könne19. In vielfacher Hinsicht lässt sich das so gewendete entwicklungspraktische Modell der demografischen Transition daher als Abbild der politischen Ambitionen und des sozialwissenschaftlichen Kontexts der 1950er Jahre, insbesondere in den USA, verstehen. Das Modell der demografischen Transition erfüllte im Rahmen der bevölkerungspolitischen Entwicklungshilfe eine bestimmte Funktion. Es diente als Grundlage für die Annahme, dass es dem Entwicklungsmuster aller Gesellschaften entspreche, den gleichen demografischen Wandel von einem hohen zu einem niedrigen beziehungsweise stagnierenden Bevölkerungswachstum zu vollziehen, wie er für den Westen postuliert wurde. Die Modifikation, die Notestein am demografischen Transitionsmodell vornahm, bezog sich wesentlich auf das Konzept des Wandels. So skizzierte er einen Rückgang der Geburtenrate in den Entwicklungsländern nicht mehr als Resultat, sondern als Voraussetzung für den Eintritt einer Gesellschaft in die Moderne. Orientiert an der modernisierungstheoretisch grundierten behavioralistischen Soziologe eines Talcott­ Parsons20 codierte Notestein Wandel von einem passiv erlittenen zu einem aktiv gesteuerten Prozess um21. Dies passte in eine Zeit, in der Experten die Ordnung der Welt als ein »komplexes soziales System« imaginierten, das »beherrschbar und steuerbar war, sofern und solange es als struktureller Zusammenhang, als ›Struktur‹ begriffen wurde und nicht als Konfiguration individueller Gruppen, Milieus und Interessen«22. Die zentrale Schwierigkeit dieser Anpassung bestand darin, dass das Transi­ tionsmodell wesentlich eine Typologie von Gesellschaften war, die nach hoch­ 18 Vgl. Phyllis Tilson Piotrow, World Population Crisis: The United States Response, New York 1973, S. 8 f. 19 Vgl. Szreter, Demographic Transition. 20 Zur Nähe zwischen dem OPR und der Schule von Talcott Parsons vgl. ebenda, S. 673. 21 Vgl. David C. Engerman, American Knowledge and Global Power, in: Diplomatic History 31 (2007), S. 599–622; Gilman, Mandarins of the Future; Szreter, Demographic Transition; Corinna R. Unger, Family Planning: A Rational Choice? The Influence of Systems Approaches, Behavioralism, and Rational Choice Thinking on Mid-Twentieth Century Family Planning Programs, in: Heinrich Hartmann/Corinna R. Unger (Hrsg.), A World of Populations. Transnational Perspectives on Demography in Twentieth Century, New York/Oxford 2014, S. 58–82. 22 Anselm Doering-Manteuffel, Konturen von »Ordnung« in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts, in: Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 41–66, hier S. 57.

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gradig abstrahierten Merkmalen auf einem imaginären Zeitstrahl angeordnet wurden. Es lieferte aber keine kausale oder empirisch untermauerte Erklärung für gesellschaftlichen Wandel23. Indes ging es Notestein in der Variation seines Modells ja gerade darum, das prognostizierte demografische Ungleichgewicht zwischen der Entwicklung des Westens und der aller anderen Gesellschaften nicht passiv abzuwarten, sondern aktiv zu gestalten. Notestein setzte daher nicht mehr auf einen Wandel des gesamten kulturellen Systems, sondern ging davon aus, dass die Veränderung von Reproduktionsmodellen durch Innovationen von außen angestoßen und beschleunigt werden könne. Die Aufmerksamkeit verlagerte sich so von spezifischen kulturellen Prägungen zu abstrakten gesellschaftlichen Strukturen im Sinne eines Systems, für das postuliert wurde, dass Individuen einheitlichen Verhaltensmustern folgen würden. Als Basiseinheit wurde die Familie in den Blick genommen, da Soziologen wie Talcott Parsons davon ausgingen, dass sich gesellschaftlicher Wandel in den Formen und Funktionen der Familie manifestiere24. Ziel seiner Gesellschaftstheorie war es, ein Muster sozialen Verhaltens herauszudestillieren und daraus allgemeine Gesetzmäßigkeiten abzuleiten25. Die Historikerin Corinna Unger argumentierte überzeugend, dass die Zusammenführung des demografischen Transitionsmodells mit Ansätzen des Behavioralismus und des rational choice-Modells den theoretischen und methodischen Hintergrund bildeten, vor dem private Organisationen wie Population Council und Ford Foundation sich auf Familienplanung als Ansatz zur Lösung des Bevölkerungsproblems konzentrierten26. Dieser Ansatz beruhte auf der Prämisse, dass Individuen ihr reproduktives Verhalten änderten, sobald sie Zugang zu Informationen und den notwendigen Technologien hätten. Von dieser Einstellung zeugt auch der Bericht, den die Experten des Population Council der kenianischen Regierung vorlegten. Dort hieß es: »We believe that the immediate object of  a national program should be […] to make every pregnancy the result of a voluntary choice.«27 Diese Überzeugung war das Ergebnis sogenannter Knowledge, Attitudes, and Practices-Studien (KAP-Studien), die seit den 1950er Jahren in einigen Ländern wie Pakistan, Indien oder der Türkei durchgeführt worden waren: »Studies in other developing countries have almost invariably shown that although family planning is very little practiced by most of the people, the majority would welcome information, would like to limit the size of their families and would favor a Government-sponsored program.« 23 Vgl. Szreter, Demographic Transition, S. 684; zum Folgenden vgl. ebenda, S. 668–674. 24 Vgl. Szreter, Fertility, Class and Gender, S. 23 f. 25 Vgl. Gilman, Mandarins of the Future, S. 77–88; zu Parsons und seinem Umfeld vgl. Joel Isaac, Working Knowledge: Making the Human Sciences from Parsons to Kuhn, Cambridge (Mass.)/London 2012. 26 Vgl. hierzu und zum Folgenden Unger, Rational Choice. 27 RAC , Population Council Archives, Accession 1, Series 3a, Box 65, Folder 1137, Bericht: »Family Planning in Kenya« vom 13.8.1965, S. 3; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 6.

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Dass die Ergebnisse dieser Studien auf Kenia übertragen wurden, illustriert die Annahme, es bei den Entwicklungsländern mit Gesellschaften strukturell gleichen Typs zu tun zu haben. Aus der Sicht des Population Council kam diesen Studien eine eminent politische und legitimatorische Funktion zu, wie das folgende Zitat aus einer Veröffentlichung der Organisation im Jahr 1978 illustriert: »During the early 1960s, the Council viewed KAP studies as important indicators for policymakers that the populations of poor areas were not hostile to the idea of birth control and would, in fact, welcome information and services concerned with limiting family size.«28

Auf diese Weise verband der Population Council den behavioralistischen Ansatz der KAP-Studien mit dem ökonomisch gedachten Bevölkerungsproblem zu einer Modernisierungsformel, die in den Entwicklungsländern durch Experten, Schulungen und Informationsmaterial verbreitet werden sollte. Eine spezifische Ikonographie sollte die Botschaft prägnant vermitteln: die Gegenüberstellung einer Klein- und einer Großfamilie. Das tertium comparationis war Lebensqualität. Eines der bekanntesten Beispiele ist der von dem Population Council 1967 bei Walt Disney in Auftrag gegebene Zeichentrickfilm Family Planning29. In diesem Film wird eine Familie mit drei Kindern einer mit acht Kindern gegenübergestellt. Während die erste Familie gesund ist, die Kinder in die Schule gehen können, der Vater über landwirtschaftliche Geräte verfügt und sich die Familie Konsumgüter wie ein Radio leisten kann, leidet die zweite Familie Hunger, muss das Land mit eigenen Händen bewirtschaften, und die Kinder erhalten keine Ausbildung. Die Botschaft des Films – weniger Kinder, mehr Lebensqualität – wurde in etlichen anderen Filmen, die zum Teil auch in afrikanischen Ländern produziert wurden, auf Postern, Informationsbroschüren, in Liedern oder in der Zeitung verbreitet30. Doch so einfach diese Bildsprache war, so wenig schien sie zu funktionieren. Im Dezember 1970 erreichte das kenianische Ministry of Economic Planning and Development folgende Beschwerde über einen ähnlichen Film aus Ghana: »The film as we understand it, is designed to educate people about birth control but seems to do the very opposite i. e. to instill a feeling of badness among the majority of our women who happened to have more than three children: the accepted western economic family unit.«31

Der Autor dieser Zeilen bemängelte die Diskrepanz zwischen der Entscheidungsfreiheit, die der Film suggerierte, und der Lebenssituation kenianischer Frauen. Diese Diskrepanz zu erklären war das Thema eines Workshops zum Thema 28 Elaine Moss, The Population Council – A Chronicle of the First Twenty-Five Years 1952–77, New York 1978, S. 4. 29 NARA , ARC 88555, local identifier: 286.55, Records of the AID, 1948–2003: »Family­ Planning« produced by Walt Disney Productions for the Population Council, 1967. 30 Vgl. Manon Parry, Broadcasting Birth Control. Mass Media and Family Planning, New Brunswick/NJ 2013. 31 KNA , AMB/6/99, Brief von G. Changai an das Wirtschaftsministerium vom 13.12.1970.

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»Family Planning. The Inter-Professional Approach«, den der Population Council in Kooperation mit der Ford Foundation und dem Ministry of Cooperation and Social Services im April 1969 in Mombasa veranstaltete. In der Dokumentation des Workshops finden sich durchaus unterschiedliche Ansätze. Im Schlusskommentar des Workshops interpretierte der US -amerikanische Anthropologe Edgar Winans die gegenwärtige Situation Kenias ganz im Sinne des Transitions­ denkens als Überlagerung eines traditionalen und eines modernen Stadiums und definierte Familienplanung als Antwort auf die Konflikte, die sich aus dieser Überlagerung ergäben: »In Kenya today, there are still many people who live by subsistence farming or herding […]. However, the economy of Kenya is no longer  a subsistence economy. […] Thus, the goal of many families to maintain or increase productivity by expanding the size of the family is in conflict with the new economic order. […] Family planning is a rational technical response to an economic and social change that has already ­occurred and is continuing.«32

Das Argument des Anthropologen lässt sich als Paradebeispiel für einen behavio­ ralistischen Ansatz lesen, der damit den Grundtenor des Workshops wiedergab. Denn es ging in erster Linie darum, kenianische Sozialarbeiter, die auf der lokalen Ebene tätig waren, zu erreichen, zu vernetzen und über Familienplanung zu informieren. Sie sollten in den lokalen Gemeinschaften als Vorbilder und Innovatoren der Maßnahmen wirken und auf diese Weise den Eindruck erwecken, dass ein Wandel, der von externen Beratern gesteuert werden wollte, letztlich in den Gemeinschaften selbst bereits angelegt und verankert sei33. Winans bekräftigte in diesem Sinne: »[The people] must be helped, and it is the team of workers represented in this seminar who can provide that help, not by telling people what they must do, [instead] we must help to create a new social situation more in consonance with the forces that the p ­ eople themselves have set in motion by their efforts to improve their standards of living.«

Auf mögliche Schwierigkeiten, die dieser Ansatz und die Vorstellung einer gleichsam technischen Einspeisung des Modells der Kleinfamilie in kenianische Gemeinschaften hervorbringen könnte, verwies Swailem Sidhom, Lektor am Saint Paul’s College United Theological College in Limuru, in seinem Vortrag. Er erläuterte, dass die Differenz zwischen unterschiedlichen Gesellschaften auch auf einem unterschiedlichen Verständnis von Konzepten wie dem der Familie beruhe. So gebe es in den Sprachen Kenias kein Wort, das dem englischen Begriff family genau entspreche. Insbesondere im ländlichen Raum seien große­ 32 FFA , Reel 1151, Edgar Winans, Schlusskommentar, in: E. Maxine Ankrah/David Radel (Hrsg.), Family Planning: The Inter-Professional Approach. Proceedings of the Seminar on Inter-Professional Teamwork for the Family, held at Dolphin Hotel, Shanza Bay Mombasa, 21.–25.4.1969, S. 103 ff.; das folgende Zitat findet sich ebenda. 33 Vgl. Unger, Rational Choice, S. 68.

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familienähnliche Verbände an ganz anderen Kategorien ausgerichtet als die Nuklearfamilie und orientierten sich an Polygamie, Mitgift, Mutterschaft oder Landbesitz34. In der anschließenden Diskussion wurde deutlich, dass viele Teilnehmer zwar von einer allmählichen Auflösung bisheriger Strukturen ausgingen, das Ergebnis dieses Prozesses aber als offen wahrnahmen: »It was noted that the stereotyped African extended family is not universal; neither does the Western nuclear family model quite describe what one observes emerging. There is a gradual increase in new clusters in rural and urban areas: couples without children, unmarried mothers, adults with dependents, unmarried fathers and mothers and children, etc. The objective would be to present to society an image of the ›future family‹.«35

Die Idee einer linearen Entwicklung von der afrikanischen extended family zur westlichen Kernfamilie als Vorbild und Modell wurde hier als Stereotyp abgelehnt. Hier zeigt sich, dass wahrgenommene Unterschiede zwischen einem westlichen und einem afrikanischen Familienmodell gerade nicht in eine Teleologie eingeordnet wurden, welche die vermeintlich traditionalen Gesellschaften auf dem afrikanischen Kontinent in eine westliche Moderne führte. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Familienplanung ein Modernisierungsdenken, das Unterschiede im Bevölkerungswachstum zwischen westlichen Gesellschaften und Entwicklungsländern zeitlich erklärte, mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen des Behavioralismus und des rational choice-Modells verband. Diese Formel verlieh der Modernisierung als Zukunftsvision eine praktische Dimension, die den politischen Institutionen auf der Makro- und Individuen auf der Mikroebene Handlungsfähigkeit im Sinne einer aktiven Steuerung des Wandels zutraute. Zugleich wurde das Ziel dieses Wandels mit der zeitgenössischen Verfasstheit des Westens in eins gesetzt. Die Grenzen dieses Ansatzes zeigten sich bereits bei den ersten Versuchen der konkreten Implementierung eines Familienplanungsprogramms in Kenia. Im zweiten Teil des Beitrags sollen daher die Erklärungsansätze für Differenz verstärkt in den Blick genommen werde.

3. Horizontverschiebungen: Das Bevölkerungsproblem zwischen Technisierung und Kulturalisierung Die Konzentration auf Familienplanung als Weg zu einem demografischen Wandel in Kenia beruhte wesentlich auf der Annahme, es bei dem als hoch eingestuften kenianischen Bevölkerungswachstum mit einem technischen Problem zu tun zu haben. Zur politischen Legitimation und empirischen Grundierung dieser Annahme hatten 1965 KAP-Studienergebnisse anderer Länder gedient36. Als seit 34 So Swailem Sidhom, in: Ankrah/Radel (Hrsg.), Family Planning, S. 8. 35 Discussion: The African Family. How To Preserve Its Essential Qualities, in: ebenda, S. 17. 36 Vgl. Donald P. Warwick, Bitter Pills. Population Policies and Their Implementation in Eight Developing Countries, Cambridge (Mass.)/New York 1982, S. 35.

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1967 auch in Kenia KAP-Studien durchgeführt wurden37, erwies sich diese Vorgehensweise als problematisch. Die bisher angenommene Diskrepanz zwischen der tatsächlichen und der gewünschten Familiengröße schien sich für Kenia gerade nicht zu bestätigen: Frauen bekämen durchschnittlich sieben bis acht Kinder und wünschten sich sechs, wie der durch den Population Council mit einer KAP-Studie beauftragte Demograf Donald F. Heisel 1968 feststellte38. Diese Ergebnisse wurden von den Entwicklungsorganisationen aufmerksam zur Kenntnis genommen, wie insbesondere ein Bericht der Weltbank von 1971 zeigt, der deren Einstieg in das kenianische Bevölkerungsprogramm vorbereiten sollte. Mit Bezug auf Heisel heißt es: »There are thus very high fertility aspirations and scant indications of a trend towards the smaller family or acceptance of the values of a smaller family.«39 Damit zeichnet sich zu Beginn der 1970er Jahre eine entscheidende Verschiebung in den Ansätzen ab, das Bevölkerungsproblem zu erklären. An die Stelle einer technischen Begründung des Problems trat die Erklärung der fehlenden Motivation, weniger Kinder zu bekommen, mit kulturellen Spezifika. Dieser Erklärung entsprach die allmähliche Entkopplung des Familienplanungsprogramms von der Zielsetzung der Bevölkerungsreduktion, die sich in Kenia Anfang der 1970er Jahre deutlich herauskristallisierte. Bereits mit der Einführung des nationalen Familienplanungsprogramms 1967 war die Gesamtverantwortung auf das Gesundheitsministerium übertragen worden. Familien­ planung sollte in die vorhandene Infrastruktur der Gesundheitsversorgung für Mütter und Kinder eingegliedert werden. Die Effizienz dieser Vorgehensweise wurde Anfang der 1970er Jahre allerdings von Mitarbeitern im kenianischen Wirtschaftsministerium in Frage gestellt, die das Bevölkerungsproblem im Sinne des demografischen Transitionsdenkens nach wie vor als ein ökonomisches definierten. Luigi Laurenti, ein von der Ford Foundation finanzierter Berater für Bevölkerung und Familienplanung im Wirtschaftsministerium, wandte sich 1971 an Staatssekretär Philip Ndegwa: »In my view, it is unlikely that the family planning program can have a significant impact in the absence of a Government declaration of policy stating that it is an accepted national objective to reduce the rate of population growth and indicating the order of magnitude and timing of the reductions which are deemed desirable if acceptable progress is to be made in economic and social development.«40 37 Vgl. Thomas E. Dow, Attitudes Toward Family Size and Family Planning in Nairobi, in: Demography 4 (1967), S. 780–797; Donald F. Heisel, Attitudes and practice of contraception in Kenya, in Demography 5 (1968), S.  632–641; Angela Molnos, Attitudes toward family planning in East Africa: An investigation in schools around Lake Victoria and in ­Nairobi, with introductory chapters on the position of women and the population problem in East Africa, München 1968. 38 Vgl. Heisel, Attitudes, S. 635. 39 KNA AMB/18/18, IBRD/IDA , Economic Development in Eastern Africa: Population and Health in Kenya vom 18.6.1971, S. 13. 40 KNA AMB/6/99, Luigi Laurenti an Philip Ndegwa vom 23.04.1971: Whither the Family Planning Programme?

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Diese Auseinandersetzungen um Nutzen und Nachteil des Familienplanungsansatzes müssen indes auch vor dem Hintergrund allgemeiner politischer Auseinandersetzungen und Verteilungskämpfe zwischen den Ministerien verstanden werden. Auf der internationalen Ebene wurde das Problem der vermeintlich mangelnden Effizienz von Familienplanungsprogrammen ebenfalls diskutiert. So wies der Direktor des Population Council, Bernard Berelson, bereits 1969 in einem programmatischen Artikel darauf hin, dass die nationalen Familienplanungsprogramme des fast vergangenen Jahrzehnts in über zwanzig Ländern nicht erkennbar dazu beigetragen hätten, die Geburtenraten in der Dritten Welt schnell und substantiell zu senken41. Wenn dieser Weg nicht zum Erfolg führe, müsse über Zwangsmaßnahmen und Anreizsysteme nachgedacht werden. Damit verabschiedete sich Berelson als ehemaliger Leiter des Behavioral Sciences-Programms der Ford Foundation42 von behavioralistisch inspirierten Familienplanungsmaßnahmen, die vom social engineering geprägt waren und darauf basierten, einen reproduktiven Wandel in Gesellschaften durch Informationskampagnen oder innovative Vorbildfiguren zu erreichen43. Zwar gab sich Berelson noch Anfang der 1970er Jahre überzeugt, dass Familienplanung als technologischer Zugang zur Lösung des Bevölkerungsproblems beitragen müsse. Allerdings gelte es, die Technologie von den Komplexitäten menschlichen Verhaltens unabhängig zu machen. In einem weiteren Aufsatz von 1970 plädierte er daher für die Suche nach einer »kulturell unabhängigen« Verhütungsmethode44. Die Unabhängigkeit von kulturellen Faktoren blieb also die Grundlage von Familienplanungsprogrammen mit dem Ziel, das Bevölkerungswachstum zu reduzieren. Von den Befürwortern familienplanerischer Maßnahmen wurde unter Kultur häufig all das subsumiert, was als Hindernis für die Akzeptanz von Kontrazeptiva verstanden wurde45. In den 1970er Jahren wuchs die Kritik an diesem Ansatz. In Kenia, wo der Einsatz von bevölkerungspolitischen Zwangsmaßnahmen oder Anreizsystemen politisch unterbunden wurde, entdeckten Politiker und Wissenschaftler Kultur zunehmend als Variable, um sowohl die Effizienz von Familienplanungsmaßnahmen als auch die ökonomische Definition des Bevölkerungsproblems in 41 Vgl. Bernard Berelson, Beyond Family Planning, in: Studies in Family Planning 38 (1969), S. 1–16. 42 Vgl. Emily Hauptmann, The Constitution of Behavioralism. The Influence of the Ford Foundation’s Behavioral Sciences Program on Political Science. Paper prepared for delivery at the 6th Annual Spring Workshop on the History of Economics as History of Science, École Normale Supérieure de Cachan, 19.6.2009 (http://economix.fr/pdf/workshops/2009_ H2S2/Hauptmann.pdf). 43 Vgl. hierzu und zum Folgenden Unger, Family Planning, S. 67 f. 44 Im Original: »A […] culture-free […] technique«. Bernard Berelson, The Present State of Family Planning Programs, in: Studies in Family Planning 57 (1970), S. 1–11, hier S. 8;­ Unger, Family Planning, S. 71 f. 45 Vgl. Warwick, Bitter Pills, S. 114.

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Frage zu stellen46. Die Berücksichtigung des kulturellen Kontexts sollte dazu beitragen, das Verhältnis von Bevölkerung und Entwicklung in einen größeren Rahmen einzuordnen und an die Stelle des einen Bevölkerungsproblems komplexere Erklärungsmodelle zu setzen. Ein prominentes Beispiel für diesen Weg ist die Studie »Cultural Values and Population Policy in Kenya«, die Kivuto Ndeti – an der US -amerikanischen University of Syracuse promovierter Anthropologe und Direktor des Department of Sociology an der Universität Nairobi – gemeinsam mit Cecilia Ndeti Mitte der 1970er Jahre in Kenia durchführte. Sie stellten sich die Frage, inwiefern kulturelle kenianische Werte eine Rolle bei der Formulierung und Implementierung des Familienplanungsprogramms gespielt hatten47. Der zentrale Stellenwert, welcher der Variable Kultur eingeräumt wurde, hatte einen doppelten Hintergrund. Zum einen führten die Autoren die Tatsache, dass das Programm in der kenianischen Öffentlichkeit und Politik eine so geringe Rolle spiele, auf die Formierung einer in erster Linie kulturell argumentierenden Opposition zurück. Die Schriftstellerin Grace Ogot habe bereits nach der Ankündigung des Programms darauf hingewiesen, dass Familienplanung in einer Kultur, in der Unfruchtbarkeit oder Kinderlosigkeit mit sozialer Ächtung einhergingen, keinen Sinn ergebe48. Die frühe Umwidmung des Familienplanungs­ programms in ein Gesundheitsprogramm sei eine Reaktion auf die große Zahl der Kritiker in Politik und Öffentlichkeit gewesen49. Zum anderen reflektierte die Studie einen Wandel auf der Ebene der internationalen Politik, der sich seit Anfang der 1970er Jahre beobachten lässt. So veränderte sich vor dem Hintergrund des zunehmenden Einflusses der »Gruppe 77« im Rahmen der United­ Nations Conference on Trade and Development (UNCTAD) insbesondere im Zusammenhang mit der Ölkrise in den Jahren zwischen 1974 und 1976 die Rolle der sogenannten Dritt-Welt-Länder auf dem internationalen Parkett50. Im Feld der Bevölkerungspolitik zeigte sich dies sehr deutlich während der Weltbevölkerungskonferenz 1974 in Bukarest. Repräsentanten der Entwicklungsländer nutzten die Konferenz als Forum, um das Bevölkerungsproblem nicht mehr als Effekt einer zu hohen Bevölkerungswachstumsrate, sondern als Symptom der ungleichen Verteilung von Reichtum und Ressourcen darzustellen51. 46 Frederick Cooper (Afrika in der kapitalistischen Welt, S. 44) wies darauf hin, dass einige afrikanische Intellektuelle in dieser Zeit die kulturalistische Argumentation ihrer Kritiker aufnahmen und sie positiv wendeten. 47 Vgl. Kivuto Ndeti/Cecilia Ndeti, Cultural Values and Population Policy in Kenya, Nairobi 1977, S. 1. 48 Vgl. ebenda, S. 132; Grace Ogot, Family Planning for African Women, in: East Africa Journal 4 (1967), S. 19–23, hier S. 19 f. 49 Vgl. Ndeti/Ndeti, Cultural Values, S. 133. 50 Vgl. Marc Williams, Third World Cooperation. The Group of 77 in UNCTAD, London 1991, S. 2. 51 Vgl. Jason L. Finkle/Barbara B. Crane, The Politics of Bucharest: Population, Development, and the New International Economic Order, in: Population and Development Review 1 (1995), S. 87–114, hier S. 100 ff. und S. 89; Connelly, Fatal Misconception, S. 314 ff.

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Die Studie bezog sich auf diese Konferenz, indem sie den nigerianischen Soziologen Francis O. Okediji zitierte, der in Bukarest angemahnt hatte, dass die Familienplanungsprogramme an lokale Werte und sozioökonomische Verhältnisse angepasst werden müssten. Auf dieser Grundlage kritisierten Kivuto und Cecilia Ndeti die drei Hauptbestandteile einer Bevölkerungspolitik, wie sie im Bericht des Population Council beschrieben und im Rahmen des nationalen Familienplanungsprogramms umgesetzt worden war. Erstens wandten sie sich gegen einen rein technischen Zugriff auf die Bevölkerungsentwicklung52. Zweitens problematisierten sie den Ansatz der KAP-Studien, weil diese darauf ausgerichtet seien, eine »nationale« Haltung gegenüber Familienplanungsmaßnahmen herauszuarbeiten. Dadurch würden sie der multiethnischen Komplexität der kenianischen Gesellschaft nicht gerecht. Drittens stellten sie das demografische Transitionsmodell in Frage. Es sei gänzlich »un-afrikanisch« der Verhinderung von Geburten einen ökonomischen Wert beizumessen. Das Zukunftsversprechen des Modells, das die Kleinfamilie als Modernisierungsschlüssel begreife, entbehre jeder Erfahrungsgrundlage: »As long as the basic social and economic structures of the nation permit widespread poverty, the benefits of having fewer children will never be seen, regardless of how well the idea is argued and by whom.« Auf dieser Grundlage definierten die Autoren der Studie das Bevölkerungsproblem nicht als Resultat raschen Bevölkerungswachstums, sondern der ungleichen Verteilung von Gütern und Ressourcen. Das Plädoyer für eine Umverteilung war keineswegs neu. Beispielsweise war es das zentrale Ergebnis einer Studie, welche die International Labor Organization 1972 in Kenia durchgeführt hatte. Im Abschlussbericht brachten die Experten ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass wirtschaftliches Wachstum nicht automatisch zu einer Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards führe53. In diesem Sinne musste auch das Transitionsmodell als Fiktion erscheinen. Die sich allmählich abzeichnende Auflösung des Zusammenhangs von Transition, Familienplanung und Modernisierung auf der Grundlage von Argumenten, die sich auf Kultur beriefen, fand Eingang in die Bevölkerungsprogramme von Organisationen wie der Weltbank. Damit einher ging auch der Abschied von einem universalistischen Zugriff. So findet sich in der Korrespondenz zweier Weltbankmitarbeiter aus dem Jahr 1979 die Bemerkung, dass die ursprüngliche Zielsetzung des Familienplanungsprogramms unrealistisch gewesen sei, weil man sie allein aus Erfahrungen und Daten asiatischer Bevölkerungsprogramme abgeleitet habe54. In der Gesamtschau der zitierten Studien und Berichte zeichnet sich in den 1970er Jahren eine Rückkehr zur anfänglichen Chronologie des demografischen Transitionsmodells ab. 52 Vgl. Ndeti/Ndeti, Cultural Values, S. 38 f.; das folgende – auch die Zitate – nach ebenda, S. 2, S. 44 und S. 105. 53 Vgl. Daniel Speich, Der Entwicklungsautomatismus. Ökonomisches Wissen als Heilsversprechen in der ostafrikanischen Dekolonisation, in: AfS 48 (2008), S. 183–212, hier S. 211. 54 WBGA , BC 805611, Ishrat Z. Husain an N. N’Diaye vom 27.11.1979: Kenya Integrated Rural Health and Family Planning Program.

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Denn Frank Notestein hatte in der ersten Formulierung des Modells das Reproduktionsverhalten als kulturell verankerte Praxis begriffen, deren Wandel ein Effekt konkret erfahrener Modernisierung sei55. Der Abschied von einer praktisch gewendeten Modernisierung, die verhütende Frauen als Akteure der Transition konzipierte, wurde hier eingeleitet.

4. Deutungsmuster des demografischen Wandels zwischen Modernisierung und Globalisierung »Kenya enters the fertility transition«, konstatierte 1992 der US -amerikanische Demograf und Gründungsdirektor des Population Research Center an der Universität von Pennsylvania, Warren C. Robinson56. Er gründete diese Überzeugung auf Daten des 1989 durchgeführten Kenya Demographic Health Surveys (KDHS), die einen Rückgang der Geburtenrate andeuteten. Diesen Rückgang wertete Robinson als Erfolg des unter der Ägide der Weltbank ausgebauten und erweiterten Familienplanungsprogramms57 und als Beleg, dass »kulturellen Barrieren« eines demografischen Wandels offenbar letztlich doch kein großer Wert beigemessen werden sollte, denn diese könnten in Afrika ebenso wie anderswo überwunden werden. Robinson zog daraus den Schluss: »The modernizing of Kenyan society and economy is in collision with traditional pro-natalist values, but modernization is winning.«58 Indem der Modernisierungsbegriff in erster Linie auf den Rückgang der Geburtenraten und den damit verbundenen, erwarteten demografischen Wandel bezogen wurde, erschien er allerdings entkernt und seines optimistischen Zukunftsversprechens im Sinne des Zugewinns an Lebensqualität beraubt, das den Begriff in den 1950er und 1960er Jahren geprägt hatte. Die Demografin Susan Cotts Watkins griff Robinsons Einschätzung auf und sprach auf der Datengrundlage des KDHS ebenfalls von einem Fertilitätsrückgang in Kenia59. Anders als Robinson deutete sie diesen jedoch nicht als Bestätigung eines demografischen Transitionsmodells oder als Effekt von Modernisierung, sondern nutzte vielmehr Globalisierung als analytische Kategorie, um den Wandel von Reproduktionsmodellen in einer Perspektive der longue durée zu beleuchten. Auf der Grundlage von qualitativen Interviews, die sie und ihr Team im ländlichen South Nyanza zwischen 1994 und 2000 führten, skizzierte Watkins eine Abfolge von drei Reproduktionsmodellen. Sie verkoppelte Familiennormen mit Vorstel55 Vgl. Szreter, Demographic Transition, S. 667. 56 Warren C. Robinson, Kenya Enters the Fertility Transition, in: Population Studies 46 (1992), S. 445–457. 57 Vgl. hierzu auch Warren C. Robinson, Family Planning. The Quiet Revolution, in: ders./ John A. Ross (Hrsg.), Global Family Planning Revolution. Three Decades of Population Policies and Programs, Washington D. C. 2007, S. 421–445. 58 Robinson, Kenya Enters the Fertility Transition, S. 457. 59 Vgl. hierzu und zum Folgenden Susan Cotts Watkins, Local and Foreign Models of Re­ production in Nyanza Province, Kenya, in: PDR 26 (2000), S. 725–759.

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lungen von Wohlfahrt und postulierte, dass sich in vorkolonialer Zeit zunächst ein Modell etabliert habe, in dem die Großfamilie mit Wohlfahrt assoziiert worden sei. Bereits in der Kolonialzeit habe sich ein zweites Modell herausgebildet, in dem die Kleinfamilie an die Vision eines guten Lebens gebunden worden sei. Dies deutete Watkins als Reaktion auf den Wandel der Lebenswelt im Zuge der Kolonialherrschaft. Durch neue Konsumgüter und Arbeitsplätze, die eine Ausbildung voraussetzten, sei die Kleinfamilie von den Bewohnern in N ­ yanza mit dem Attribut des Fortschritts versehen worden60. Das dritte Modell sei eine Ergänzung des zweiten gewesen, da man die Verwirklichung kleiner Familien mit den Möglichkeiten moderner Kontrazeptiva verbunden habe. Die mit der Kleinfamilie assoziierte Vision eines guten Lebens sei von nationalen und internationalen Entwicklungsexperten in den 1960er Jahren in die Sprache der Modernisierung gekleidet worden. Das wirtschaftliche Wachstum im Kenia der 1960er und 1970er Jahre habe dieses Bild plausibilisiert und greifbar erscheinen lassen. Für das Ende der 1970er Jahre indes postulierte Watkins, dass diese optimistische Perspektive aufgrund wachsender ökonomischer Probleme einer pessimistischen gewichen sei. Ähnlich wie Robinson deutete Watkins die Veränderung des reproduktiven Verhaltens als einen Effekt des Strukturanpassungsprogramms der Weltbank. Sie machte jedoch deutlich, dass dieser Wandel nicht mehr mit Modernisierung als einem Verheißungsbegriff assoziiert werde, sondern das Ergebnis eines wirtschaftlichen Niedergangs sei, der die Norm der Kleinfamilie als Notwendigkeit erscheinen lasse und als einzige Möglichkeit, eine weitergehende Verarmung zu verhindern. Ein wesentlicher Grund für diesen Effekt sei die Tatsache, dass die Weltbank im Rahmen des Strukturanpassungsprogramms Kostenbeteiligungen für Bildungs- und Gesundheitsmaßnahmen auf lokaler Ebene durchgesetzt habe. In der Tat hatten sich die Vorzeichen von Bevölkerungspolitik in Kenia seit der Ankunft des Population Council 1965 erheblich verändert. Als sich der kenianische Präsident Daniel arap Moi 1979 mit einer Wirtschaftskrise konfrontiert sah, die das Land in erhebliche Zahlungsschwierigkeiten brachte, sollte ein Strukturanpassungsprogramm der Weltbank Abhilfe schaffen61. Diese Programme standen im Zeichen staatlicher Deregulierung und hatten einen massiven Souveränitätsverlust afrikanischer Staaten zur Folge62. Denn die zu einem Topos gewordene Mutmaßung, dass die verpasste Entwicklung dieser Länder der Ineffizienz des politischen Apparats und exzessiver staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft geschuldet sei, sollte Veränderungen politischer Strukturen nach den Prinzipien des freien Markts legitimieren63. In Kenia wurden die bevölkerungspolitischen Maßnahmen in das Strukturanpassungsprogramm eingebettet. Die 60 Vgl. hierzu und zum Folgenden ebenda, S. 746 f. und S. 740. 61 Vgl. Joseph Hodge, Triumph of the Expert: Agrarian Doctrines of Development and the Legacies of British Colonialism, Athens 2007, S. 272 f. 62 Vgl. James Ferguson, Transnational Topographies of Power: »Beyond the State« and »Civil Society« in the Study of African Politics, in: ders. (Hrsg.), Global Shadows. Africa in the Neoliberal World Order, Durham/London 2006, S. 89–112, hier S. 100. 63 Vgl. Hodge, Triumph of the Expert, S. 273.

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Tatsache, dass die Weltbank die Auszahlung des Kredits an bestimmte Bedingungen knüpfte, hatte daher auch Folgen für diesen Bereich. So wurde deutlich formuliert, dass es ein Ziel des Projekts sei, die Geburtenrate in Kenia zu senken. Dies solle durch eine erhebliche Aufwertung und Akzentuierung der Maßnahmen erfolgen, auch auf institutioneller Ebene: Die Vergabe des Kredits wurde an die Einrichtung eines National Council on Population and Development, bevorzugt im Büro des Präsidenten, geknüpft und Familienplanung aus dem alleinigen Verantwortungsbereich des Gesundheitsministeriums herausgelöst64. Die Debatten der 1970er Jahre hatten den bevölkerungspolitischen Ansatz der Weltbank stark beeinflusst, wie eine Länderstudie zum Thema »Bevölkerung und Entwicklung« in Kenia von 1980 zeigt65. Zwar wurden darin die Gefahren raschen Bevölkerungswachstums nach wie vor hinsichtlich der vermeintlich negativen Wirkung auf die Wirtschaftsentwicklung thematisiert, aber man propagierte unter Berufung auf Bernard Berelsons Postulat »beyond family planning« einen integrierten bevölkerungspolitischen Ansatz. Der Bericht stellte klar, dass ein Rückgang des Bevölkerungswachstums nicht durch Familienplanung allein erreicht werden könne. So müsse einerseits das Familienplanungsprogramm in seinen Möglichkeiten, zum Beispiel durch Anreizsysteme, erheblich erweitert werden. Andererseits könne nur ein umfassender entwicklungspolitischer Ansatz, der Bildungsmaßnahmen für Frauen und den Ausbau von Sozialversicherungssystemen ebenso einschließe wie landwirtschaftliche Reformen, das Bevölkerungswachstum langfristig senken. Der Bericht griff damit die ursprüngliche Chronologie des Transitionsmodells auf, da er den Rückgang der Geburtenrate als Folge von Entwicklung und Modernisierung konzipierte. Hierzu passt auch die Feststellung, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Bevölkerungsentwicklung und dem Bruttoinlandsprodukt nicht nachgewiesen werden könne. Im Bericht trat Ökonomie weniger in ihrer quantifizierbaren, im Brutto­ inlandsprodukt verdichteten Form in Erscheinung. Vielmehr richtete sich das Augenmerk auf die Landwirtschaft: Im nach wie vor zu 80 Prozent agrarisch geprägten Kenia drohten durch das hohe Bevölkerungswachstum Landlosigkeit, Unfruchtbarkeit der Böden und zu geringe Erträge, um die Bevölkerung zu ernähren. Diese Aktualisierung eines malthusianischen Arguments erinnert an die 1930er und 1940er Jahre, als die Fruchtbarkeit der Menschen in einen Zusammenhang zu derjenigen der Böden gebracht wurde66. Auch in der Siedler­kolo­nie 64 WBGA , BC 805612, Bengt G. Sandberg, Kenya  – Proposed Second Population/Health Project vom 26.11.1980; vgl. auch Watkins, Local and Foreign Models, S. 741. 65 Vgl. The International Bank for Reconstruction and Development/The World Bank, Kenya. Population and Development. A World Bank Country Study, Washington D. C. 1980; zum Folgenden vgl. ebenda, S. 196, S. 202 f. und S. 43–55. 66 Zum Wiederaufleben malthusianischen Denkens vgl. Unger, Rational Choice, S. 72; zum Zusammenhang zwischen den Argumenten der Weltbank in den 1980er Jahren und der Kolonialregierungen in den 1930er und 1940er Jahren vgl. Hodge, Triumph of the Expert, S. 270 f.; zum Zusammenhang zwischen der Fruchtbarkeit von Böden und Menschen im Bevölkerungsdiskurs seit den 1920er Jahren vgl. Bashford, Global Population, S. 3.

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Kenia, die im Bevölkerungsdiskurs lange Zeit als »entvölkert« galt, wurde die Vermutung, dass Kenias Bevölkerung zu schnell wachse, erstmals in Verbindung mit der Landfrage geäußert67. Wenngleich der Modernisierungsbegriff in den 1980er Jahren mitnichten aus dem Vokabular der internationalen Organisationen und der Demografen verschwand, lässt sich an den drei skizzierten Beispielen ein Wandel in den Bedeutungen und im Gebrauch dieses Begriffs illustrieren. Zunächst zeigt sich erstens, dass der vorwiegend auf den ländlichen Raum ausgerichtete Ansatz der Weltbank dazu tendierte, die Modernisierungslogik der Familienplanungsprogramme durch das Postulat ländlicher Entwicklung zu ersetzen und im Zuge dessen Familienplanung weniger als eine moderne Idee, denn als traditionale afrikanische Praxis zu propagieren. Der demografische Wandel durch Familienplanung wurde auf diese Weise wieder wesentlich stärker als Effekt einer Entwicklung von der Tradition zur Moderne denn als eigentliche Modernisierungspraxis imaginiert. Zweitens spiegelte sich diese Entkernung des Modernisierungsbegriffs und der Abschied von der Vision eines gestalt- und steuerbaren Wandels auch in den Texten der Demografen. Allerdings müssen deren Positionen auch vor dem Hintergrund der Geschichte der Disziplin bewertet werden. Wie sich bei Robinson zeigt, diente die Sprache des Transitionsmodells auch in den 1990er Jahren noch als zentrales Instrumentarium, um demografische Entwicklungen zu beschreiben. Die Frage, warum sich dieses Interpretament über einen derart langen Zeitraum halten konnte, beantwortete Susan Greenhalgh mit dem Argument, dass die Demografie bis in die 1990er Jahre hinein aufs Engste mit dem Feld der Bevölkerungspolitik und der Familienplanung verbunden blieb und das Fach daher mit Trends in anderen Sozialwissenschaften kaum konfrontiert wurde68. Andererseits gab es auch im Fach Gegenbewegungen, die nach einer Alternative zum Transitionsmodell suchten und ihr theoretisches Interesse Kulturtheorien zuwandten. Watkins Text ist ein Beispiel hierfür, weil sie anders als im Modernisierungsmodell Kultur nicht als ein der Tradition zugeordnetes Hindernis definierte, das um der Zukunft willen überwunden werden müsse, sondern als einen anpassungsfähigen, wandelbaren und flexiblen Faktor. Für Watkins war also, um mit Aleida Assmann zu sprechen, »Kultur nicht mehr der allumfassenden Modernisierung untergeordnet, sondern Modernisierung erscheint selbst als eine spezifische Ausprägung westlicher Kultur«69. Die so vollzogene Umdeutung der Modernisierung im Sinne einer Verschränkung und wechselseitigen Beeinflussung kenianischer und westlicher Perspektiven stellte den Eindruck 67 Vgl. David Anderson, Depression, Dust Bowl, Demography and Drought: The Colonial State and Soil Conservation in East Africa During the 1930s, in: African Affairs 83 (1984), S. 321–341. 68 Vgl. Greenhalgh, Social Construction, S. 28; zum Folgenden vgl. ebenda, S. 53 ff. und S. 750. 69 Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, S. 289.

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von Gleichzeitigkeit her. Er verstärkte sich dadurch, dass der schwindende opti­ mistische Glaube an eine Zukunft im Zeichen von Modernisierung und Fortschritt als Effekt wirtschaftlicher Krisenwahrnehmungen Ende der 1970er Jahre verstanden wurde. Die Perspektive, die dieser Gleichzeitigkeit zugrunde liegt, ist die der Globalisierung. Denn Watkins kam zu dem Ergebnis, dass der sich mit dem Geburtenrückgang abzeichnende demografische Wandel in Kenia auch ohne die britische Kolonialisierung und die Präsenz der »Familienplanungsbewegung« seit den 1960er Jahren stattgefunden hätte. Ausschlaggebend für diesen Wandel sei letztlich Kenias Integration in das globale Wirtschaftssystem gewesen70. Indem Ökonomie als Grundlage der Globalisierung gedacht wurde, bleibt auch das Konzept der Bevölkerung Teil dieses globalen Prozesses; die Beschreibung ihrer Entwicklung unterliegt weiterhin Tendenzen der Homogenisierung und Universalisierung, die dem modernisierungstheoretischen Modell in vielerlei Hinsicht ähneln71. Ein wesentlicher Unterschied besteht freilich in den zugrunde liegenden Zeitdiagnosen: Die emphatische Zukunftsorientierung72 der Modernisierung, die mit einer Verzeitlichung von Ungleichheit einherging, wich einer Verräumlichung von Ungleichheiten im Globalisierungsdiskurs.

5. Fazit Dieser Beitrag hat den Zusammenhang zwischen dem Modernisierungsdenken und der Problematisierung des Bevölkerungswachstums in Kenia untersucht. Nach der Dekolonisation bot das sogenannte Bevölkerungsproblem einen Ansatzpunkt, die auf das Wirtschaftswachstum bezogene Ungleichheit zwischen dem als Entwicklungsland klassifizierten Kenia und dem euro-atlantischen Raum zu erklären. Zugleich ermöglichte die Verortung des Landes auf der Zeitachse der demografischen Transition, Lösungen des Bevölkerungsproblems an der fiktionalen Entwicklung des Westens zu orientieren73. Diese Konstellation bildete den Ausgangspunkt bevölkerungspolitischer Entwicklungszusammenarbeit in Kenia. Der Verlauf dieser Unternehmung wurde in drei Phasen abgebildet. Zunächst erschien rasches Bevölkerungswachstum als strukturelles Problem aller Entwicklungsländer, das durch die Implementierung von Familienplanungsprogrammen standardmäßig gelöst werden sollte. Familienplanung wurde zu einer Modernisierungsformel, mit der Individuen und Familien die Verbesserung ih70 Vgl. Watkins, Local and Foreign Models, S. 749. 71 Zur Verwandtschaft der Konzepte Modernisierung und Globalisierung vgl. Frederick Cooper, Colonialism in Question: Theory, Knowledge, History, Berkeley u. a. 2005, S. 118; Gilman, Mandarins of the Future, S. 74 f. 72 Assmann, Zeit, S. 92. 73 Vgl. Cooper, Afrika in der kapitalistischen Welt, S. 37–73.

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rer Lebensqualität aktiv herbeiführen könnten. Im Sinne des Postulats, dass gesellschaftliche Entwicklung einem Pfad von der Tradition in die Moderne folge, wurde diese Tradition gleichsam uniformiert: Die Vergangenheit der modernisierten Welt war im Kern die gleiche wie die der Entwicklungsländer. Kulturelle Aspekte wurden diesem Bereich der Tradition zugeordnet und damit einer Vergangenheit, die es nicht zu verstehen, sondern hinter sich zu lassen galt74. In der zweiten Phase wurde die Variable Kultur umfunktioniert von einem der Tradition zugeordneten Bestandteil einer universalen Menschheitsgeschichte zu einem Begriff, mit dem die Einzigartigkeit kenianischer Werte hervorgehoben werden sollte. Kultur wurde zu einem Ansatzpunkt, um das Scheitern des Familienplanungsprogramms zu erklären. Das Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung kultureller Aspekte in der Bevölkerungspolitik leitete den Abschied von einer Konzentration auf Familienplanung und Individuen ein. Der erhoffte demografische Wandel wurde jetzt wieder im Sinne der ursprünglichen Formulierung des Transitionsmodells als Ergebnis einer Veränderung und Modernisierung des gesamtgesellschaftlichen Rahmens verstanden. Dies fand Eingang in das zu Beginn der 1980er Jahre implementierte Strukturanpassungsprogramm der Weltbank. In der dritten Phase schließlich wurde Kenias Eintritt in die Transition verkündet. Dies sei einem Wandel des Reproduktionsverhaltens als Ergebnis von Modernisierungseffekten geschuldet. Einen entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung sprach man dem von der Weltbank geförderten Regierungsprogramm zu, das nicht allein auf Familienplanung, sondern auf Entwicklungsmaßnahmen gesetzt habe. Vor allem seien die Kosten für Kinder erhöht worden. Die Transition wurde auf einen Modernisierungsbegriff zurückgeführt, der sich nicht auf die Erhöhung individueller Lebensqualität, sondern auf einen gesamtgesellschaftlichen Prozess bezog. Man verstand den Modernisierungsbegriff, der mit einer emphatischen Zukunftsverheißung einherging, als Produkt der 1950er und 1960er Jahre, als Modernisierung als Synonym für »das gute Leben« auf die Kleinfamilie projiziert wurde. In Kenia habe die Wirtschaftskrise der späten 1970er Jahre diesen Zusammenhang aufgelöst. Modernisierung wurde auf diese Weise selbst Bestandteil von Kultur, wobei mit diesem Begriff jetzt weder die anthropologische Einzigartigkeit von Gesellschaften noch eine universale Tradition gemeint war, sondern das Produkt von Aneignungen und Hybridisierungen, die sich auf den Globalisierungsprozess zurückführen ließen. Vor diesem Hintergrund erscheint der diagnostizierte demografische Wandel nicht als nachgeholte Entwicklung im Sinne einer »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, sondern als Ergebnis einer gleichzeitig stattfindenden Globalisierung, die räumlich zugeordnete Ungleichheiten hervorbringt.

74 Vgl. Gilman, Mandarins of the Future, S. 34.

III. Von der Konsum- zur Konsumentengesellschaft

Frank Trentmann

Unstoppable: The Resilience and Renewal of Consumption after the Boom

1. Introduction For industrial societies the 1970s have been identified as a historical watershed, a »structural break« and a time of »revolutionary« social transformation1. In global politics, too, the structural realignment was pronounced. A world divided into opposite blocks at the start of the decade was being reintegrated by its end. In China, Mao gave way to markets. The 1970s saw the end of the post-war Keynesian order and the rise of the freer movement of capital. Economic globalization was matched by the proliferation of international non-governmental organisations and transnational policy issues2. In developed societies, the oil crisis, stagflation, unemployment, the decline of old industries and the rise of neo-liberalism transformed the nature of work. But rich societies were no longer just about work. More than ever before, they were consumer societies. Of course, shopping, domestic comforts and the pursuit of »modest luxuries«, to use David Hume’s eighteenth-century term, were not new. They had been on the rise since the Renaissance3. Still, the boom after the Second World War unleashed an exponential growth in consumption that was unprecedented in its material scale and social reach. What and how one consumed became a defining feature of one’s identity and social position. Many observers at the time diagnosed a new social system – from John K. Galbraith’s »The A ­ ffluent Society« in 1958 to Jean Baudrillard’s »La société de consommation« in 19704. Did the 1970s also amount to a structural or revolutionary break for consumption? A full answer would require an in-depth treatment of its own that 1 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeit­ geschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, 29. 2 Niall Ferguson u. a. (Hrsg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge (Mass.)/London 2010. 3 See Evelyn Welch, Shopping in the Renaissance: Consumer Cultures in Italy 1400–1600, New Haven/Conn. 2005; Frank Trentmann, Empire of Things. How We Became a World of Consumers, 15th Century to the 21st, London/New York 2016, and for critical historiographical overviews Frank Trentmann (Hrsg.), The Oxford Handbook of the History of Consumption, Oxford 2012. 4 John Kenneth Galbraith, The affluent society, Cambridge/Mass. 1958; Jean Baudril­lard, La société de consommation. Ses mythes, ses structures, Paris 1970 (English version: The consumer society. Myths and structures, Thousand Oaks 1998).

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lies beyond the confines of this volume. What this essay can do, is to make several exploratory drills into core layers of consumption to check for breaks or continuities in the acquisition and use of goods and services and the form of leisure more generally. Our focus is primarily on affluent societies in Europe and North America – Japan, of course, also enjoyed an economic and consumer boom in the 1950s and 1960s, but there the main break would be the crisis of 1989/90, the repercussions of which lie beyond the scope of our immediate concerns. Let us begin with how observers saw society at the time, in the 1970s. To what degree was their self-perception paralleled by material changes in lifestyle? We will look at several key trends of the 1970s: the amount of stuff, the evolution of leisure time, generational dynamics, and the respective role of state and market.

2. Material Reckoning In its self-understanding of the present and future role of consumers, the 1970s veered between doom and celebration. During the post-war boom, the dominant tone on both sides of the Atlantic had been set by progressive and Marxist critiques that warned of the manipulative and alienating nature of advertisers and the culture industry. Consumerism, according to the harshest critics, was  a form of terrorism. In 1970, Baudrillard signalled a major change in direction. In line with earlier critics, Baudrillard rejected »freedom of choice« as an illusion. Consumption was an all-encompassing system of needs. At the same time, he stressed, consumers were not passive victims but actors who helped reproduce the system of needs. Such  a way of thinking had profound consequences, because it opened the door for more relativist and post-modern points of view. For one, it challenged the objective hierarchy of needs that had underpinned earlier moral critiques. There was no intrinsic difference between »basic« and »arti­ ficial« needs. From the point of the consumer, watching television could appear as real a need as eating a bowl of barley soup. Secondly, it shifted attention to how people were fashioning their own bodies and identities through consumption. This made it more difficult to lambast the »culture industries«5 and »hidden persuaders«6 for manipulating and alienating individuals7. By the 1980s, Konsumterror had all but vanished from public discourse. Instead material culture studies and gender histories flourished that explored consumption as a source of meaning, communication and identity-formation. The publication of Mary Douglas and Baron Isherwood’s »The World of Goods« in 1979 5 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung: Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947. 6 Vance Packard, The Hidden Persuaders, New York 1957. 7 Daniel Horowitz, The Anxieties of Affluence: Critiques of American Consumer Culture, 1939–1979, Amherst 2004; note the telling endpoint.

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was a milestone on this new, friendlier pathway8. A year later, the futurologist Alvin Toffler did away with sharp distinctions between producer and consumer al­together. The two roles, he predicted, would blur into that of the »prosumer«9. The era of standardised mass production was giving way to mass customization, and this meant customers would increasingly contribute to the design of products. Students of sub-cultures discovered the transgressive powers of mopeds, brands and youth fashion. In historical writing, Simon Schama’s »Embarrassment of Riches« marked the coming of age of this new approach concerned with the meaning of goods for their owners and their identities10. Such appreciation of the creative, even emancipatory power of goods for the self and group identities, however, was accompanied by a profound pessimism about their environmental cost. Inevitably, consumption was implicated in general critiques of economic growth. A year before the first oil crisis, in 1972, the Club of Rome published »The Limits to Growth«. Using computers to create complex scenarios, the report predicted that the earth would reach the limits to growth within the next one hundred years if it stayed on its then current path of production, resource extraction, population growth and pollution. To reach a more sustainable equilibrium and reduce resource depletion, one of the major changes the report envisaged was a shift in »the economic preferences of society […] toward services such as education and health facilities and less toward factory-­produced material goods«11. As such, pessimistic scenarios were not  a novelty of the 1970s, nor  a simple reflection of economic gloom  – as early as the mid-1950s, when the boom was in full swing, the American conservationist Samuel Ordway had warned that material shortages might trigger the end of ­industrial civilization and cultural life12. What was new in the Club of Rome’s ­report was that it used computers to calculate and illustrate the competing scenarios. It sold twelve million copies in thirty-seven languages. The 1970s are today remembered for launching new environmental movements. The popular reception of »The Limits to Growth« signalled a new ecological sensibility. But how much did it actually make consumers reduce their ecological footprint? Did the 1970s see  a »structural break« with the levels of turbo consumption familiar from the boom years? This question poses all sorts of complex problems of measurement and analysis. National material accounts remain based on monetary values which limit their use. Higher levels of consumer spending do not necessarily translate into a bigger ecological footprint – 8 Mary Douglas/Baron Isherwood, The world of goods: towards an anthropology of consumption, London 1979. 9 Alvin Toffler, The third wave, London 1980. 10 Simon Schama, The Embarrassment of Riches. An Interpretation of Dutch Culture in the Golden Age, Berkeley/Los Angeles 1988. 11 Donella H. Meadows u. a., The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind, New York 1972, 163. 12 Samuel H. Ordway, Possible limits of raw-material consumption, in: William L. Thomas (Hrsg.), Man’s role in changing the face of the Earth, Chicago 1956, 987–1009.

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ten cheap T-shirts at $ 4.99 require more material extraction than one designer shirt bought for $ 100. The environmental damage connected to the creation of a precious diamond is vastly bigger than, say, that implicated in a wooden designer table of the same price. Material flow analysis has other limitations, but at least it does give us a rough sense of proportion of the overall change in the volumes of material needed to satisfy our appetite for goods. And it has the advantage that, in addition to the product we place in the shopping basket, it also counts all the materials that had to be extracted and used to make it in the first place. Thanks to Fridolin Krausmann and colleagues we can compare material use at a global scale across the twentieth century13. How do the 1970s stand in relation to growing material flows earlier in the century? The first half of the decade continued the growth of the boom years; by 1970, the domestic resource use (DMC) per person was 60 per cent higher than it had been in 1900, by 1975 it was 70 per cent bigger. After that it stabilised for the next two decades – although since the late 1990s it has once again been on the rise. The 1970s resemble the 1920s, when material use also stagnated, but are a far cry from the world recession of 1929–1932, one of the rare moments when it actually declined – the only other two instances were towards the end of the S­ econd World War and following the collapse of the Soviet Union. Once we bear in mind continuing efficiency gains – »lightweighting« and fewer materials needed to create the same product – this is hardly an encouraging picture. The 1970s did not slow down people’s material metabolism. Put differently, in the 1980s people carried an ecological rucksack that was 25 per cent bigger than what their parents had on their back in the 1950s. The growing appetite for materials may have been checked, but it was not reversed. Where the 1970s and 1980s made a difference was in how the material burden was shared across the world. In the 1950s, the United States and Western Europe still mainly lived off their own resources. This started to change fundamentally in the 1970s and after. Together, economic globalization and de-­industrialisation in parts of the West led to an off-shoring of many materially-intense forms of production14. National material accounts count the materials directly imported but hide all the other resources that had to be extracted and used to make these consumer goods in the first place. The former industrial West may thus look »lighter«, but this is an optical illusion: a lot of the materials needed are increasingly extracted in Australia, Latin America and other manufacturing and m ­ ining sites abroad; interestingly China and Pakistan have also been shifting more of their burden abroad. By accelerating the global flow of material ­resources as well 13 Fridolin Krausmann u. a., Growth in global materials use, GDP and population during the 20th century, in: Ecological Economics 68 (2009), 2696–2705. 14 Monika Dittrich/Stefan Bringezu, The physical dimension of international trade, part 1: Direct global flows between 1962 and 2005, in: Ecological Economics 69 (2010), 1838–1847; Monika Dittrich/Stefan Bringezu/Helmut Schütz, The physical dimension of international trade, part 2: Indirect global resource flows between 1962 and 2005, in: Ecological Economics 79 (2012), 32–43.

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as products, the 1970s and 1980s thus entailed a distancing between sites of consumption and extraction. Put differently, consumers in the affluent North began to shift a growing bulk of their ecological rucksack onto distant shoulders in the South. By the end of the 1980s, journalists and sociologists began to diagnose a new society fixated on stimulating sensations, an Erlebnisgesellschaft15. Societies (and intellectuals) had long been fascinated by spectacles, from eighteenth-century panoramas and pleasure gardens to inter-war velodromes and Guy Debord’s situationist »La société du spectacle«16. It was in the 1970s and 1980s that eating-out established itself as  a popular form of pleasure and sociability. »Wellness« and physical body cults took off. It is important to stress that the renewed pursuit of pleasurable sensations – renewed, because eighteenth-century culture was full of them – did not come at the expense of material possessions. Experiences did not replace ownership. They joined them. It is wrong to think that leisure services or informational technology have made us »lighter« consumers as the Club of Rome had hoped in 1972; some of the rare metals needed in mobile phones and iPads have a big ecological footprint. On the contrary, material flow analysis shows that the »society of sensations« has a faster material metabolism than the industrial society of the boom years. In general, experiments with »simple living« were marginal. They barely dented the overall rise in consumption that continued in the 1970s and 1980s. A major factor was the growing mobility and dependence on cars in affluent societies. Road planning and transport policies had already pushed the ­bicycle off the road to create room for the car before the boom made mass ownership a reality17. By 1970, private car use had established itself as the dominant mode of travel in Western Europe; in the United Kingdom, half the households had at least one car by that date. The oil crisis did bring carless Sundays to some countries, but these did nothing to halt the long-term rise of car travel. In Britain in 1973/74, for example, the decline in car use was marginal and short-lived, largely limited to Sundays (- five per cent) and without prompting a corresponding move to public transporation. Once the first oil crisis was over, and prices fell again in 1974/75, the growth in private car travel continued as before18. With the exception of the Netherlands, the bicycle continued its post-war decline. The story of air travel is similar. True, the number of civil aircrafts taking-off and landing in Britain did briefly decline during the first oil crisis (1973/74), but the pattern of expansion during the boom years quickly reestablished itself. The number of terminal 15 Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a. M./ New York 1992. 16 Guy Debord, La société du spectacle, Paris 1967. 17 Ruth Oldenziel/Mikael Hård, Consumers, tinkerers, rebels. The people who shaped ­Europe, Basingstoke 2013, ch. 4. 18 David Parish, The 1973–1975 Energy Crisis and its Impact on Transport, London 2009, 10–12 (Royal Automobile Club Foundation for Motoring Report 09/107).

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passengers at civil airports in Britain almost doubled in the course of the 1970s, reaching 58 million in 198019. Houses continued to increase in size, and with them, the number of possessions and appliances they accommodated; only in Britain did new houses shrink. Bigger homes and rising standards of in-door climate ate up the efficiency gains from better insulation and heating. Instead of reaching a saturation point – as many energy experts had presumed in the 1960s – domestic energy consumption continued to rise, as the Television set and fridge were followed by a new invasion of machines – from the Walkman and VCR to the mobile phone and game console. Products were more efficient, but there were also many more of them. In Britain, the energy used by home electronics more than doubled between 1972–200220. And it was not just the new communication technologies which grew by leaps and bounds. Kitchen drawers tell a story of dramatic proliferation. In the United States,  a typical kitchen in the 1950s contained around 200 items. By 2004, it would be over a thousand items; even a small kitchen had 655 items21. The sharp increase of single households has probably assisted this upward trend. But it would be a mistake to presume that collective and alternative living arrangements, such as the communes of the 1970s, were necessarily laboratories of dematerialisation. A researcher in 1974 Germany found to her surprise that »alternative« flats contained a greater number of TVs, stereos and washers and driers than in »conventional« households. Shared living rarely involved sacrificing personal stuff. Quite the opposite, the ethos of shared use encouraged the purchase of more domestic technologies, ready to be used when one wanted to. Some communal flats had three cars22.

3. Changing Times To consume one needs time as well as money. In 1970, the economist and Swedish trade minister Staffan Linder prophesied that affluence was creating a »­Harried Leisure Class«23. Affluence was made possible by greater productivity. But the rise in productivity also increased the value of work. It made it ­possible to earn more with every unit of time. Free time, consequently, became relatively more expensive. At the heart of affluence, Linder concluded, lay a paradox of an 19 House of Commons Library, SN/SG/3760, Air transport statistics, 4 July 2011. 20 The Rise of the Machines: A Review of Energy Using Products in the Home from the 1970s to Today, hrsg. vom Energy Saving Trust, London 2006. 21 Kathleen Parrott/JoAnn Emmel/Juila Beamish, A Nation of Packrats: Rethinking the Design Guidelines for Kitchen Storage in: Housing on the Urban Landscape. Refereed ­Abstracts of the Conference in Chicago, hrsg. von der Housing Education and Research Association, October 20–23, 2004, 73–75. 22 Gudrun Cyprian, Sozialisation in Wohngemeinschaften: Eine empirische Untersuchung ihrer strukturellen Bedingungen, Stuttgart 1978. 23 Staffan Burenstam Linder, The Harried Leisure Class, New York 1970.

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»increasing scarcity of time«. The spare hour at home looked increasingly unproductive compared to the well-renumerated hour at the office. On top, consumer goods were getting progressively cheaper. Linder predicted that people would abandon types of leisure that took a lot of time in favour of goods that offered quick, instant gratification. Consumption would accelerate and intensify. Instead of learning to play the piano or reading »War and Peace«, affluent con­ sumers would race to buy the newest gadget. Have the decades after the boom born out this prognosis? The material world has certainly thickened, as we have seen. People’s wardrobes, kitchens, living rooms and garages are fuller than ever. The increase in square footage of the average dwelling has not been able to keep pace with the proliferation of stuff. This is one reason for the self-storage boom, which took off in the United States in the 1970s and 1980s and has since also reached Western Europe. The price of clothing has dropped, while retailers and designers change their fashions more frequently than ever. Part of Linder’s thesis rings true. But what about the predicted, complementary decline of time-rich leisure activities? As a first step it is helpful to have a sense of the changing relationship between total leisure time compared to work time during and after the boom. This is a subject that has attracted a good deal of controversy, not least because growing concerns about »time poverty« have connected rising levels of consumption to long work hours. Juliet Schor has argued that since the 1960s Americans have been subject to longer work hours and greater stress24. Instead of enjoying more leisure, workers were bought off with higher pay. This, in turn, locked them in a »work-spend cycle«, working longer to buy more goods, like a hamster running in his wheel. Studies of large-scale time-use surveys, by contrast, reach the conclusion that in the course of 1965–85, American women and men gained an additional six to seven hours of free time a week. Furthermore, the »leisure gap« between men and women was shrinking25. These opposite readings illustrate the different dimensions of time as well as methods of inquiry. Quantitatvely, the evidence for the sustained increase in leisure time from the mid-1960s to the early 1980s is overwhelming; the decline in paid work hours in the 1970s continues the long fall since the early twentieth century; it has only been since the early 1980s that work hours have increased again26. The mid-1960s to 1980 also sees an unprecedented decline in home production (by five hours  a week), as women did less cooking and cleaning. But, qualitatively, Schor, too, has a point: employees have reported a growing sense of stress. And, as consumer behaviour in part responds to subjective feelings and sensations, this dimension should not be dismissed too easily. 24 Juliet B. Schor, The overworked American. The unexpected decline of leisure, New York 1991. 25 John P. Robinson/Geoffrey Godbey, Time for life. The surprising ways Americans use their time, University Park 1997. 26 Valerie A. Ramey, Time spent in home production in the twentieth-century United States. New estimates from old data, in: Journal of Economic History 69 (2009), 1–47.

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We cannot, however, only deal in total number of hours and minutes, but also need to consider the nature of time, that is, its flow, sequence and density. P ­ eople in the 1970s and 1980s had more leisure time than their grandparents, but it was also free time that was more fragmented, less firmly structured by routines, and subject to more competing leisure activities. Consumption, like work, was becoming more flexible. This trend was already under way in the 1960s – assisted by rising public as well as private investment in sport, museums and music – but it was in the decades after the boom that it became pronounced and ubiquitous; in 1959 at the time of the Rome Olympics, for example, only one in thirty Italians practised any sport – by 2005 it was one in three27. Contrary to Linder’s prognosis, the last four decades have seen a boom in time-hungry cultural activities and recreation. Particular types of entertainment have declined – such as cinema going – but overall more people visit museums, theatres and music concerts than ever before. In France, already 33 per cent visited museums and exhibitions at least once a year in 1973; by 1988 it had reached 38 per cent, were it has stayed since. French women today are three times as likely to play a musical instrument or sing in a choir as a generation earlier28. Only in Eastern Europe, has the collapse of socialism brought with it a sharp drop in cultural participation in the 1990s. Gardening, jogging, playing the violin, visiting country houses, running the marathon, taking photographs – all these time-intensive leisure activities have increased in leaps and bounds since the 1960s. So has, until the last few years, television watching. Socialising and visiting friends has been fairly resilient. The major characteristic of contemporary societies is not that leisure has been crowded out by novelties offering instant gratification, but that leisure time has been filled with a rising number of activities that need to be coordinated. Gone are the days when people had a single hobby that they pursued on the same evening, week after week, year after year. The scheduling of leisure has become a job in itself. There are intriguing parallels here between the cult of busyness, multi-tasking and the demands of flexibility at the workplace and those in free time, with significant implications for the changing class cultures of consumption. Once leisure and consumer goods became accessible to all in affluent societies, social ambitions and hierarchy shifted to activities that demanded greater skill and proficiency, including the talent of having many talents. Socially, the rise of holidays and shorter workdays for all devalued idle leisure for the social elite, the original leisure class. For professional elites, the new mark of distinction was busyness – 27 Enzo D’Arcangelo/Adolfo Morrone/Miria Savioli (Hrsg.), Lo sport che cambia. I comportamenti emergenti e le nuove tendenze della pratica sportiva in Italia, Rom 2005, 17–19 (Istituto nazionale di statistica, Argomenti 29). 28 See www.pratiquesculturelles.culture.gouv.fr/doc/evolution73-08/T17-FREQUENTATIONMUSEE -EXPOSITION.pdf; www.pratiquesculturelles.culture.gouv.fr/doc/evolution73-08/ T7-PRATIQUES-MUSICALES-EN-AMATEUR.pdf; www.pratiquesculturelles.culture.gouv. fr/doc/evolution73-08/T8-PRATIQUES -ARTISTIQUES .pdf; Willam B. Beyers, Cultural and recreational industries in the United States, in: The Service Industries Journal 28 (2008) H. 3, 375–391.

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a trend first observed by commentators in the United States in the 1950s and 1960s29. Jogging and the gym took that new productivist ethos into free time. The 1970s ushered in a new social polarisation of leisure which is further indicated by the changing hours spent in front of the television. French data about shifts in television viewing is telling. In its first two decades, television symbolised the unifying quality of »mass consumption«: rich and poor, professionals and workers alike spent a growing share of their free time in front of the box w ­ atching the same programmes. In 1974, early school leavers watched only twenty minutes a day more than viewers with a university degree. By 2000, this had w ­ idened to over one hour. Working-class cultures may have crumbled, but this does not mean consumer culture has become classless. »Affluent workers« have not copied the life-style of their superiors30. Free time, tastes and leisure activities continue to reflect and shape class, race and gender31.

4. A New Generation of Consumers The polarisation by class has been reinforced by new generational differences. In the United States, the major gains in leisure time from the mid-1960s to the late 1970s were spread remarkably evenly across all age groups. Women in their prime benefitted just as much as young women in their early 20s and those approaching retirement; the one exception were 14–17 year old girls whose leisure time stayed constant and whose main gains had come in the inter-war years. Not everyone, however, managed to hold onto to these gains equally. Winners in the 1970s, American women in the 25–54 age group were turning into losers in the course of the 1980s and 1990s; 25–54 year old men saw a more modest, slow decline. Of course, with work, children and caring for parents coming together in this part of the life-cycle, people in their 30s to 50s – and women, in particular – tended to have the least bit of leisure time compared to other age groups. But this has been true for any moment in the twentieth century. What has been new since 29 The differences between »time poor« Americans and »time rich« Europeans are often exaggerated. In the last generation, busyness, paid and unpaid work has also been on the rise in Europe. Germans in superior positions equally work longer hours than those in inferior jobs; Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. 7.  Familienbericht, hrsg. vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2006, 223 (Deutscher Bundestag, 16. Wahlperiode, Drucksache 16/1360). See further: Jonathan Gershuny, Busyness as the Badge of Honor for the New Superordinate Working Class, in: Social Research 72 (2005) H. 2, 287–314. 30 Fiona Devine, Affluent Workers Revisited: Privatism and the Working Class, Edinburgh 1992, for a critique of the original thesis by John H. Goldthorpe u. a., The Affluent Worker. Industrial Attitudes and Behaviour, Cambridge 1968 and its two subsequent volumes (1971). 31 The most rigorous attempt to test Pierre Bourdieu’s 1970s model of distinction for contemporary forms of cultural consumption is Tony Bennett u. a., Culture, Class, Distinction, London 2009.

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the late 1970s is the marked divergence between leisure-poor and leisure-rich age groups. Between 1975 and 1999, 25–54 year old American women lost six hours of leisure  a week while those 65 and older gained four hours; 18–24 year olds lost a mere two hours. Longer work hours as well as more time devoted to childcare ate into their free time. For this age-group, the 1980s and 1990s wiped out all the gains of the inter-war years and the mid-1960s to mid-1970s – a unique experience. When it come to leisure time, at the end of the twentieth century they were exactly back where they had been at its start. When we speak of generational identities shaped by consumer culture, we tend to think of the child consumer and the teenager who started to take shape in the inter-war years and the 1950s32. But equally dramatic was the rise of the elderly consumer. The first trailer parks with dedicated living and leisure arrangements for the elderly opened in the United States in the 1930s. The s­ pectre of German fascism, the Second World War and then the Korean War all gave rise to a concern to inspire the elderly to be active citizens. American champions of senior rights pointed to the rise of the Nazis after hyperinflation had wiped out pensioners’ savings as evidence how disaffected elderly could threaten democracy. Pensioners were a crucial resource for civic life and at the home front in wartime. Like everyone else, they had a right to fun. Far from just needing rest, they, too, could find new interests and vitality in old age. Gerontologists and psychologists introduced concepts of »successful ageing« and the »third age« that challenged traditional ideas of progressive disengagement from the world. In the 1950s, American firms began to prepare their employees for retirement and insurance companies marketed old age as golden years of fun and leisure33. Such prospects were still remote for most elderly Europeans during the boom years. Here, the rise of the elderly consumer came after the era of affluence. In 1970, to be old meant to be poor for the majority of European seniors, just as it had in 1900. Two decades later, the generational curse had been broken. Now the elderly were just as rich or poor as other age groups. Pensions and welfare reforms provided  a basic income. New social movements like the grey panthers successfully fought attempts by states in the 1980s to reduce pocket money and discretionary spending allowances. By the 1980s, French, Italians and Germans were moving faster into early retirement than their cousins across the Atlantic. And they were accumulating unprecedented wealth, in no small part thanks to expanding home ownership. By the 1990s, senior households in Germany, ­Japan and New Zealand had higher consumer spending than younger cohorts; in the rest of Europe, the gap was narrowing. Of course, not all seniors were com­ fortably off – but neither were their children and grandchildren. The crucial fact 32 Daniel T. Cook, The Commodification of Childhood. The Children’s Clothing Industry and the Rise of the Child Consumer, Durham/London 2004; Jon Savage, Teenage. The Creation Of Youth Culture, New York 2007. 33 Dora L. Costa, The Evolution of Retirement. An American Economic History, 1880–1990, Chicago 1998.

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was that the stigma of old age as a slow passage towards death was increasingly challenged by ideals of regeneration that relied on more intense consumption – in terms of time and mobility as well as money. Instead of declining, the number of hobbies and holidays shot up after retirement, studies by American corporations found. Across the rich West, tourism clubs discovered the elderly market; Neckermann introduced »+59« holiday packages and Austria and Switzerland »50 plus hotels«. Spain became the European Florida34. The rise of the »silver market« showed the enormous dynamism of consumption in a period marked by rising unemployment, inequality and economic restructuring. A whole new age group was recruited by consumer culture. The material improvement in their lifestyle had significant benefits for other generations, too. Part of seniors’ new wealth found its way into gifts and loans to their children and grandchildren who, in return, provided care and assistance35. Contrary to panics about the collapse of the family, consumption was the glue in a new gift-caring exchange between the generations. It is worth noting the gulf between the actual transformation of generational lifestyles and the imagined power of marketing that was taken for granted in intellectual circles during the boom years. European and American critics made much of the power of advertisers, firms and culture industries to manipulate consumers. In fact, marketers and business were slow to appreciate and exploit the new opportunities created by youth subcultures and active ageing. The craze for adidas shoes among rappers and their followers in American cities and among English football fans was at odds with the German firm’s self-image of producing shoes for high performing athletes. It was the Rock Steady Crew  – breakdancers from the Bronx – which initially popularised the adidas »Superstar« in 1983/84 in youth subculture, not some corporate marketing machine. A couple of years later, the adidas-loving rappers Run DMC sent the company a video pointing out their chart success and demanding $ 1 million for their promotion of the sport shoe. It was only well after these subcultural fashions had taken off that sport manufacturers began to promote them36. Similarly, when it comes to the »silver market« – with the partial exception of senior tourism and wellness initiatives  – business has been lagging behind new generational consumer trends and continues to struggle to shake off an antiquated image of the elderly as a homogenous market37. 34 Armin Ganser, Zur Geschichte touristischer Produkte in der Bundesrepublik, in: Hasso Spode (Hrsg.), Goldstrand und Teutonengrill. Kultur- und Sozialgeschichte des Tourismus in Deutschland 1945–1989, Berlin 1996, 185–200. 35 Claudine Attias-Donfut (Hrsg.), Les solidarités entre générations: viellesse, familles, état, Paris 1995; Martin Kohli, Private and public transfers between generations: Linking the family and the state, in: European societies 1 (1999) H. 1, 81–104. 36 Thomas Turner, The Sports Shoe: A Social and Cultural History, c. 1870–c. 1990, Diss., London 2013, 247–255. 37 George P. Moschis u. a. The maturing marketplace. Buying habits of baby boomers and their parents, Westport/Conn. 2000.

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5. State and Market How did consumption manage to come out of the 1970s so well? Why did it not go from boom to bust? There are two main reasons. The first has to do with the democratisation of credit since the 1970s. Credit had long been part of life, but it had been kept in check. Americans had store credit in the inter-war years and Britons could buy their furniture on »hire-purchase«. And there was mail order. Already in 1960, most consumer goods in Britain and Germany as well as the United States were bought on consumer credit. Only in France was it no more than a third. But the volume of credit as well as its purpose and ease of access were constrained by European governments determined to fend off inflation. The number of credit institutes was limited and fixed. In the 1960s, French shoppers had to put down a 25 per cent cash deposit, Germans ten per cent and Britons only five per cent. Some banks in Europe introduced personal loans to customers in 1959, but these reached only a tiny elite. It is worth recalling that in 1970 most Europeans were paid in cash and did not have a current account. The following decades saw a »bancarisation« of the people, the liberalisation of financial services and an expansion of private credit. In the United States, only one in six people had a credit card in 1970. In 2000, it was three out of four. Revolving credit – such as credit cards – stood at $ 2.1 billion at the end 1968 but had shot up to $ 57 billion by the end of the 1970s, to $ 222 billion by ­December 1989 before peaking at $ 1 trillion in December 200738. With regional exceptions, such as Germany and Belgium, savings rates started to decline and ­mortgage debt and consumer debt to rise; Japan and South Korea joined this pattern in the 1990s, after their boom ground to a halt39. Consumer credit and mortgages were one way to paper over wage stagnation and rising inequality. Their contribution to the economy, debt and wealth formation is well recognised. Consumption, however, was also bolstered by a second source: the state. The association of the 1970s with the birth of neo-­liberalism tends to presume that history now switched over entirely to individual choice and private markets. This is misleading, for several reasons. Many of the trends associated with the 1970s and 1980s – from fitness culture and new body image to the rising rate of cultural participation – depended in no small part on public initiatives. It would be difficult to make sense of the take-off of casual sportswear without the rise in grassroots sport sponsored by public investment in gyms, athletic grounds and fitness parcours; in 1978 France even set up a department 38 See www.federalreserve.gov/releases/g19/HIST/cc_hist_mt_levels.html. 39 Lendol Calder, Financing the American Dream. A Cultural History of Consumer Credit. Princeton/NJ 1999; Sheldon Garon, Beyond our means. Why America spends while the world saves. Princeton/NJ 2011; Isabelle Gaillard, Télévisions et crédit a la consommation. Une approche comparative France – Rfa 1950–1970, in: Entreprises et Histoire 59 (2010) H. 2, 102–111.

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devoted to »sport for all«40. Similarly in cultural participation, the rising numbers going to the theatre or playing a musical instrument were made possible by state subsidies to the arts and expanding education. More active leisure, then, was promoted by states as well as markets. States also continued to boost consumption with social transfers. As is well known, social spending was at higher levels in Western Europe than in the United States or, say, South Korea. What is significant for our purposes, however, is that the overall upward trajectory continued in the 1970s and 1980s. In general, states spend a greater share of Gross Domestic Product (GDP) on public consumption as they get richer. Western states in the 1980s devoted a higher proportion of GDP to social benefits and transfers than in the 1950s (and a lower proportion on war and weapons). In 1960, average social spending in the EU 21 was ten per cent of GDP. In 1982 it crossed 20 per cent (seven per cent and 13 per cent respectively in the United States)41. Of course, state spending on child allowances, housing benefits and pensions are not necessarily net additions to overall consumption. Scandi­navian welfare states take back in taxes  a good bit of the welfare benefits they hand out in the first place. Public spending can »crowd out« private spending, and although this was probably not hugely important in the booming 1960s, it came to play a larger role in a period of slower growth and higher unemployment thereafter. Notwithstanding these qualifications, social spending was of qualitative as well as quantitative significance because it created a floor for mass consumption, enabling disadvantaged citizens to enjoy at least a share of the comfort, appliances and lifestyles of the more fortunate. P ­ ublic spending, too, benefited health care and education which, indirectly, raised the ability to consume. As with wealth, our understanding of consumption has suffered from a distorted focus on GDP and private market transactions. In their recent work on alternative measurements of wealth and welfare, Amartya Sen, Jean-Paul Fitoussi and Joseph Stiglitz have noted how societies’ standard of living changes once social spending is taken into consideration. In France and Finland, they note, the household budget in 2000 rises by 20 per cent once income from social transfers is added to private income; in the United States it adds ten per cent42. A similar point can be made for affluent societies during and after the boom: private ­spending is 40 Lamartine P. da Costa/Ana Miragaya (Hrsg.), Worldwide Experiences and Trends in Sport For All, Oxford 2002. 41 Relative exceptions to this trend are the Netherland and Ireland since the mid-1980s. See OECD Social Expenditure database 2012 (www.oecd.org/els/social/expenditure) and further: Willem Adema/Pauline Fron/Maxime Ladaique, Is the European Welfare State­ Really More Expensive? Indicators on Social Spending, 1980–2012, and a Manual to the OECD Social Expenditure Database (SOCX), Paris 2011 (OECD Social, Employment and­ Migration Working Papers 124). 42 Joseph E. Stiglitz/Amartya Sen/Jean-Paul Fitoussi, Mismeasuring our lives. Why GDP doesn’t add up. The report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress, New York 2010.

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increasingly assisted by the public hand. Put differently, the state simultaneously deserves more credit for the material expansion of consumption and should take more responsibility for its social and environmental consequences.

6. Conclusion For consumption, unlike production, the 1970s did not amount to  a historic ­caesura, let alone usher in a revolutionary transformation. Levels of comfort, the number of possessions and material use continued to rise in the years after the boom, if at a slightly slower rate in some sectors. Consumer culture continued its advance into new terrains, such as that of the elderly population. The prices for food, clothing and many materials continued along their long descent – ­until the late 2000s. Together with the expansion of private credit, this ensured that fashion cycles and the uptake of new products and cuisines accelerated, not decelerated. People in rich countries were buying and changing their clothes more frequently in the years after the boom, not less. The long-term expansion of consumption is, perhaps, not so surprising once we appreciate that consumption does not only involve individual choices responsive to sudden changes in income and prices but that a good deal is about routines and habits that are not easy to change suddenly and have an in-built tendency to keep going – heating, cooling, personal hygiene, cooking and driving are examples of such resource-intensive routines. Environmental awareness was better at changing political discourse and social identity than practices. There was no dematerialisation. Waste illustrates the mixed record of these years. Governments introduced regulations about material recovery for manufacturers in Germany (1972), France (1975) and Sweden (1975). In 1975, the E ­ uropean community launched its waste directive which announced the hierarchy of the three Rs: reduce, reuse and recycle. Waste was redefined as valuable stuff, what the Germans call Wertstoff, with visions of a circular economy in the future. In reality, the performance of households and »citizen consumers« was p ­ itiful compared to the reduction of waste achieved in trade and industry. Yes, bottle banks popped up, but across the West people produced more waste in the 1970s and 1980s, not less. In the early 1970s, the average American generated 3.25 lbs of waste every day. By 1980, it was 3.66 lbs, ten years later had it jumped to 4.57 lbs43. All that recycling initiatives managed to do in the United States and Europe was to keep the lid on the bin – they did not facilitate an actual reduction in waste. In Britain, recycling even went into reverse in the 1970s and 1980s as kerbside and collection 43 Municipal Solid Waste in the United States: 2009 Facts and Figures, hrsg. von der U. S.­ Environmental Protection Agency, Washington D. C. 2010. For on-going diversity of waste, waste management and recycling in Europe, see Managing municipal solid waste. A review of achievements in 32 European countries, hrsg. von der European Environment Agency, Copenhagen 2013.

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centres were closed down. The one partial exception to this story is Japan, where local authorities together with neighbourhood associations, traders and schools fought a comprehensive grassroots war against waste. If there was one dimension where the 1960s and 1970s did see radical change it was in the more liberal attitude of governments towards the tastes and lifestyles of their citizens. One lesson governments took away from the boom years was that more consumption did not unravel the social fabric, as many commen­ tators – right and left – had feared. It was possible to live with a plurality of identities and lifestyles. This recognition was in no small part the result of Social Democrats and Conservatives warming to the material aspirations of their supporters in the 1960s. Gone were the days when governments were prepared to decide what were legitimate needs and what excessive wants that needed to be checked and discouraged. Paternalism was dead. The liberalisation of credit signalled the new spirit. As  a British parliamentary committee put it in 1971, eight years before Margaret Thatcher took power, »our general view is that the state should interfere as little as possible with the consumer’s freedom to use his knowledge of the consumer credit to the best of his ability and according to his judgement of what constitutes his best interest«44. A free society required free choice. This attitude made for a far more inviting environment for subcultures, diversity and self-fashioning. But it also left governments and political discourse powerless and with empty hands when having to confront the real environmental damage generated by how (and how much) their citizens were consuming. Governments started to live in denial about how in the past, they had steered, interfered and even tried to control consumption. This is, perhaps, the main legacy of the 1970s for our times.

44 (Crowther) Committee on Consumer credit, Report, Cmnd 4596, IX /1, 1971, 151.

Maren Möhring

Ethnic food, fast food, health food Veränderungen der Ernährung und Esskultur im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts

1. Homogenisierung und Pluralisierung Es sei fast ein Ding der Unmöglichkeit, so der Physiologe Max Rubner in einer Abhandlung aus dem Jahr 1908, einen Deutschen »auf italienische Kost einzugewöhnen«1. Rubner hat sich in diesem Punkt getäuscht. Pasta-Gerichte und Pizza gehören mittlerweile zu den Lieblingsspeisen der Deutschen, sowohl beim Restaurant- und Kantinenbesuch als auch beim häuslichen Kochen2. Im späten 20. Jahrhundert hat jedoch nicht nur eine Italianisierung der deutschen Ernährung stattgefunden; auch andere ausländische Küchen haben die Esskultur hierzulande verändert. Diese Internationalisierung der Ernährung stellt sicherlich eine der auffälligsten Transformationen des Ernährungsverhaltens in den letzten Jahrzehnten dar. Doch auch der Trend, deutlich häufiger auswärts essen zu gehen, zeigt eine Verschiebung in den Ernährungsgewohnheiten, die seit den 1970er Jahren in allen westlichen Konsumgesellschaften stattgefunden und zur Entstehung zahlreicher neuer Konsumorte geführt hat. Insbesondere die ausländische Gastronomie, aber auch US -amerikanische Fast Food-Ketten gehören zu den großen Gewinnern dieser Veränderung3. Während Fast Food vor allem für Massenproduktion und Standardisierung des Speiseangebots steht4, lässt sich die Erweiterung der gastronomischen Landschaft um zahlreiche »fremde« Küchen als esskulturelle Pluralisierung verstehen. Beide Trends sind im Kontext einer (verstärkten) Globalisierung der Ernährung zu dis1 Max Rubner, Volksernährungsfragen, Leipzig 1908, S. 132. 2 Vgl. Wolfgang Laufner, Die Gastronomie in Dortmund. Erste Ergebnisse einer empirischen Angebots- und Nachfrageanalyse, Dortmund, 21994, S.  13; Elisabeth Noelle-Neumann/­ Renate Köcher (Hrsg.), Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1998–2002, München 2002, S. 287. 3 Beide gastronomischen Trends werden seit den späten 1980er Jahren auch in den ehemals sozialistischen Ländern nachgeholt; vgl. Klaus Roth, Nahrung als Gegenstand der volkskundlichen Erforschung des östlichen Europa, in: Heinke M. Kalinke/Klaus Roth/Tobias Weger (Hrsg.), Esskultur und kulturelle Identität. Ethnologische Nahrungsforschung im östlichen Europa, München 2010, S. 27–38, hier S. 36. 4 Vgl. Derek J. Oddy, Eating Without Effort. The Rise of the Fast-food Industry in TwentiethCentury Britain, in: Marc Jacobs/Peter Scholliers (Hrsg.), Eating Out in Europe. Picnics, Gourmet Dining and Snacks since the Late Eighteenth Century, Oxford/New York 2003, S. 301–315, hier S. 301.

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kutieren und als parallele Entwicklungen gemeinsam zu behandeln. Das mag insofern verwundern, als global agierende Fast Food-Unternehmen wie McDonald’s als Inbegriff von Uniformität, Massenproduktion und Homogenisierung der Ernährung gelten, während der Erfolg der ausländischen Gaststätten unter anderem darauf basiert, dass sie eine individuelle Herstellung der Gerichte, Originalität und Authentizität für sich beanspruchen. Beide Gastronomietypen aber stellen letztlich unterschiedliche Formen der Spezialisierung – auf ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Landesküche – dar und trugen zur Ausdifferenzierung des Gastronomiesektors bei. Beide Trends, die sich keineswegs historisch ablösten, sondern zeitgleich in der Bundesrepublik ausbreiteten, als Antipoden zu deuten, greift meines Erachtens zu kurz. Standardisierung sowie Homogeni­sierungs- und Heterogenisierungstendenzen lassen sich nicht einfach auseinander dividieren, sondern griffen auf vielfältige Weise ineinander – vor und nach dem Boom. Zunächst stehen Ethnic food und fast food im Zentrum dieses Beitrags, der sich in seinem ersten Teil mit der signifikanten Zunahme des Außer-Haus-Verzehrs im letzten Drittel des 20.  Jahrhunderts in der Bundesrepublik (aber nicht nur dort) befasst. Das Dienstleistungsangebot auf dem Feld der Ernährung hat sich massiv erweitert und damit das gesamte Ernährungssystem transformiert5. Das gilt auch für den häuslichen Nahrungskonsum, der zunehmend von stark verarbeiteten Produkten bis hin zu Fertiggerichten geprägt ist. Zudem hat auch am eigenen Herd eine Internationalisierung der Ernährung stattgefunden. Auf diese Entwicklungen kann hier jedoch nur am Rande eingegangen werden6. Der zweite Teil des vorliegenden Aufsatzes widmet sich einem weiteren wichtigen Ernährungstrend, der sich seit den späten 1960er Jahren abzuzeichnen begann: der als gesund erachteten Ernährung. Lebensmittelskandale, die insbesondere industriell hergestellte Nahrungsmittel betrafen, und das aufgrund seines Kalorienreichtums zunehmend für verschiedene sogenannte Zivilisationskrankheiten verantwortlich gemachte Fast Food führten zur Forderung nach natürlich produzierten Lebensmitteln. Zunächst auf eine kleine alternative Szene beschränkt, entwickelten sich umweltverträglich hergestellte, möglichst wenig verarbeitete »Bio«-Nahrungsmittel seit den 1970er Jahren sukzessive zu einem auch für breitere Käuferschichten interessanten Konsumgut. Die Reduzierung von Umweltgiften in den Speisen und eine Vitamine erhaltende Zu­ bereitung sollten die Gesundheit befördern. Darüber hinaus sollten fair gehandelte Produkte aus der »Dritten Welt« für größere Verteilungsgerechtigkeit auf 5 Der Begriff des Ernährungssystems bezeichnet das komplexe Zusammenspiel von Produktion, Verarbeitung, Handel und Konsum und beinhaltet ökonomische, politische, ökologische, soziale und kulturelle Dimensionen. Vgl. Dagmar Vinz, Nachhaltiger Konsum und Ernährung. Private KonsumentInnen zwischen Abhängigkeit und Empowerment, in: PROKLA 35 (2005), S. 15–33, hier S. 16 Anm. 1. 6 Vgl. Maren Möhring, Transnational Food Migration and the Internationalization of Food Consumption. Ethnic Cuisine in West Germany, in: Alexander Nützenadel/Frank ­Trentmann (Hrsg.), Food and Globalization. Consumption, Markets and Politics in the Modern World, Oxford/New York 2008, S. 129–150.

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globaler Ebene sorgen. Diese Entwicklungen lassen sich als Moralisierung und Politisierung der Ernährung thematisieren, die zudem spezifische Zugriffsweisen auf das Subjekt etabliert haben. Um diese zu diskutieren, wird auf normalismusanalytische Ansätze zurückgegriffen, die besser dazu taugen, die für das Feld der Ernährung zentralen Regulierungsversuche und Selbstpraktiken in den Blick zu nehmen als das Individualisierungstheorem von Ulrich Beck7. Ein solcher Zugang impliziert denn auch, abschließend die These von der Ablösung der konformistischen Massenkonsumgesellschaft durch eine individualisierte Konsumentengesellschaft zu hinterfragen.

2. Ethnic food und fast food. Internationalisierung, Pluralisierung und Standardisierung der Ernährung Die für das späte 20.  Jahrhundert zu konstatierende Internationalisierung der Ernährung ist ein vielschichtiges Phänomen. In der Ernährungsforschung wird Internationalisierung als ein Prozess verstanden, der vor allem zweierlei meint: erstens die wachsende Bedeutung importierter ausländischer Lebensmittel und zweitens die Angleichung der Ernährungsgewohnheiten in verschiedenen Regionen8. Internationalisierung impliziert damit zugleich eine Vervielfältigung des Angebots durch zuvor unbekannte oder kaum erhältliche Produkte sowie eine transnationale Angleichung des Ernährungsverhaltens. Das betrifft sowohl die häusliche Ernährung als auch den Außer-Haus-Verzehr. So hat die Lebens­ mittelindustrie, die selbst zunehmend international agierte9, in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts verstärkt ausländische oder ausländisch anmutende Produkte in ihr Sortiment aufgenommen oder kreiert. Maggis Ravioli eroberten bereits in den späten 1950er Jahren die deutschen Supermarktregale; Krafts­ Spaghetti »Miracoli« kamen 1961 auf den Markt, und Dr. Oetker vertrieb ab 1969 seine Tiefkühlpizza10. Wie beim Restaurantbesuch fungierte auch bei den Fertiggerichten die italienische Küche in der Bundesrepublik als Türöffner für weitere ausländische Speisen. 7 Vgl. Ulrich Beck, Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten, in: Reinhard Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 35–74. 8 Vgl. Susanne Köhler, Internationalisierung der Verzehrsgewohnheiten in ausgewählten europäischen Ländern. Abschlußbericht zum Forschungsvorhaben der DFG – Post­dokto­ randenprogramm Ko 1296/1–1, Frankfurt a. M. 1993, S.  12; Roland Herrmann, Gleicht sich der Nahrungsmittelverbrauch international an? Ein Messkonzept und empirische Ergebnisse für ausgewählte OECD -Länder, in: Jahrbuch der Absatz- und Verbrauchsforschung 40 (1994), S. 371–390, hier S. 372. 9 Zur Internationalisierung der Tätigkeit von Lebensmittelunternehmen, insbesondere mit Blick auf den europäischen Binnenmarkt, vgl. Köhler, Internationalisierung, S. 6. 10 Vgl. Michael Wildt, Vom kleinen Wohlstand. Eine Konsumgeschichte der fünfziger Jahre, Frankfurt a. M. 1996, S. 144; An der Pizza knabbern in Deutschland alle mit, in: Neue gastronomische Zeitschrift 28 (1975) H. 10, S. 6.

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Doch auch selbst zuzubereitende italienische Lebensmittel wie Hartweizen­pasta erfreuten sich zunehmender Beliebtheit. Der Pro-Kopf-Verbrauch von Teigwaren ohne Ei verdoppelte sich zwischen 1980 und 1990, während sich der Konsum von Olivenöl fast verdreifachte11. Gern gegessen wurden aber auch – und das ebenfalls bereits in den späten 1950er und 1960er Jahren – sogenannte Balkanspezialitäten. Diese fanden Eingang nicht nur in die Kochbücher der Zeit, sondern auch in die Speisekarten deutscher Gaststätten und schließlich auch in das Angebot der Kanntinen12. Zudem gehörte der »Balkan-Grill« zu den erfolgreichsten Gaststättentypen der frühen Bundesrepublik13. Die eigentliche Expansion der ausländischen Gastronomie in der Bundes­ republik setzte jedoch erst in den 1970er Jahren ein: Existierten 1975 schätzungsweise etwa 20.000 ausländische Gaststätten, so erhöhte sich ihre Zahl bis 1985 auf rund 40.000, sie verdoppelte sich also in gerade einmal zehn Jahren14. Ab Mitte der 1980er Jahre erfasste die ausländische Gastronomie das Bundesgebiet tatsächlich flächendeckend. Allerdings verteilten sich die Betriebe regional noch immer sehr ungleichmäßig. Während in München Anfang der 1980er Jahre etwa 25 Prozent der Gaststätten von Ausländern betrieben wurden, was genau dem Bundesdurchschnitt entsprach, lag der Anteil der von Nicht-Deutschen geführten Lokale in Stuttgart bereits bei mehr als 40 Prozent15. Bis in die 1990er Jahre hinein dominierten bundesweit die sogenannten Gastarbeiterküchen; die italienische, jugoslawische, griechische und türkische Küche stellten fast 80 Prozent des gesamten ausländischen Gastronomieangebots16. In Großbritannien hatten sich ausländische Restaurants und Imbisse schon früher etabliert, wenn auch mit klarem Schwerpunkt in den Großstädten und insbesondere in der Region Lon11 Vgl. Susanne Köhler, Kulturelle Vielfalt in der Ernährung. Die zunehmende Bedeutung ausländischer Kost in der BR Deutschland, in: Agrarwirtschaft 42 (1994), S. 328–336, hier S. 333 Tabelle 5. 12 Vgl. Arne Krüger, Spezialitäten aus aller Welt. Das große Kochbuch der Nationalgerichte, Salzburg/München 1966; Jürgen Forster, Balkan-Grill am Gürzenich. Die Flamme als Symbol, in: Köln wie es schreibt & isst. 58 Betrachtungen Kölner Autoren über ihre Lieblingslokale, gesammelt und hrsg. von Peter Fuchs, München 1967, S. 193–197, hier S. 195; Die richtige Anwendung des ungarischen Paprika, in: Magazin der Großküchen und­ Kantinen 22 (1973), S. 488 f. 13 Vgl. dazu ausführlich Maren Möhring, Fremdes Essen. Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München 2012, Kap. 5. 14 Vgl. dpa Hintergrund Nr.  3245 vom 21.7.1987, S.  11: Horst Heinz Grimm  – Das Gast­ gewerbe in der Bundesrepublik. 15 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9.10.1980: »Immer mehr Ausländer werden in deutschen Großstädten Gastwirt« und vom 22.1.1983: »Immer mehr Ausländer streben nach Selbständigkeit«. 16 Vgl. Hans Dietrich Loeffelholz/Arne Gieseck/Holger Buch, Ausländische Selbständige in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Entwicklungsperspektiven in den neuen Bundesländern, Berlin 1994, S. 59. Zur ähnlichen Struktur der österreichischen beziehungsweise Wiener Gastronomielandschaft vgl. Bernhard­ Tschofen, Nahrungsforschung und Multikultur. Eine Wiener Skizze, in: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 47 (1996), S. 125–145, hier S. 135.

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don. Bereits 1983 war die Gastronomie im Vereinigten Königreich mehrheitlich von ausländischen Küchen geprägt, und zwar vor allem von der chinesischen und indischen Küche17. Im Hinblick auf die chinesische Gastronomie hatte der britische Markt bereits in den späten 1960er Jahren eine gewisse Sättigung erreicht, die dazu führte, dass viele Chinesen beziehungsweise Hongkong-Chinesen in den Folgejahren Restaurants auf dem Kontinent eröffneten18. Zwar gab es in der Bundesrepublik, vor allem in Hamburg, bereits in den 1950er und 1960er Jahren zahlreiche China-Restaurants, aber der Transfer aus Großbritannien spielte für die Ausbreitung chinesischer Gastronomie-Betriebe auf dem Kontinent eine große Rolle, ebenso wie etwas später für Restaurants mit indischer­ Küche. Auch hinsichtlich des häuslichen Konsums von ethnic food waren die britischen Konsumenten Trendsetter. 1997 entfielen zwei Drittel des Umsatzes auf dem europäischen ethnic food-Markt auf Großbritannien19. Damit lag das Land jedoch noch immer weit hinter den USA20. Die je nach Nation unterschiedliche Kolonialvergangenheit, aber auch aktuelle Migrationsregime beeinflussten die Bevölkerungsstruktur und damit auch das ausländische Gastronomieangebot in den einzelnen Ländern maßgeblich – mit der Folge erheblicher Differenzen innerhalb Europas. In den Niederlanden konnten sich, nicht zuletzt aufgrund der Präsenz indonesischer (post)kolonialer Migranten, chinesisch-indonesische Restaurants bereits in den 1950er Jahren fest etablieren; italienische und griechische Lokale hingegen wurden vor allem in den 1970er und 1980er Jahren eröffnet21. In der Bundesrepublik führten die ausländerrechtlichen Restriktionen und damit die Schwierigkeiten von NichtDeutschen, sich selbstständig zu machen, zu einer langsameren Entwicklung des ausländischen Gastronomiesektors, insbesondere im Vergleich mit Großbritannien. Dort lässt sich bereits für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg von einer proto-multiculturalization im Gastronomiesektor sprechen, wenn auch hier wie in den meisten nordwesteuropäischen Staaten die 1960er und 1970er Jahre die Jahrzehnte mit dem größten Zuwachs an ausländischen Küchen darstell17 Vgl. Yiannis Gabriel, Working Lives in Catering, London/New York 1988, S. 142. 18 Vgl. Sue Baxter/Geoff Raw, Fast Food, Fettered Work. Chinese Women in the Ethnic­ Catering Industry, in: Sallie Westwood/Parminder Bhachu (Hrsg.), Enterprising Women. Ethnicity, Economy, and Gender Relations, New York/London 1988, S. 58–75, hier S. 67. 19 Vgl. Anuradha Basu, Immigrant Entrepreneurs in the Food Sector: Breaking the Mould, in: Anne J. Kershen, (Hrsg.), Food in the Migrant Experience, Aldershot u. a. 2002, S. 149–171, hier S. 149 f. Waren es Mitte der 1980er Jahre noch zu 90 Prozent Angehörige ethnischer Minderheiten, die in Großbritannien ethnic food konsumierten, zeichneten sie 1993 nur noch für die Hälfte des Umsatzes verantwortlich; vgl. Panikos Panayi, The Impact of Immigrant Food Upon England, in: Jochen Oltmer (Hrsg.), Migrationsforschung und Interkulturelle Studien. Zehn Jahre IMIS , Osnabrück 2002, S. 179–202, hier S. 196. 20 In der bundesdeutschen Presse war bereits in den 1980er Jahren die große US -amerikanische Nachfrage nach ethnic food thematisiert worden, so etwa in einem Artikel über die Exportchancen deutscher Spezialitäten im Handelsblatt vom 15.10.1985. 21 Vgl. Adri Albert de la Bruhèze/Anneke H. van Otterloo, Snacks and Snack Culture in the Netherlands, in: Jacobs/Scholliers (Hrsg.), Eating Out, S. 317–334, hier S. 327.

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ten22.  In Ländern wie Spanien und Italien hingegen, die erst vor kurzem von Auswanderungs- zu Einwanderungsländern geworden sind, entwickelt sich eine ausländische Gastronomieszene erst zögerlich seit den 1980er Jahren23. Doch auch andere gastronomische Trends wie die Etablierung von Selbst­ bedienungsrestaurants und großer, meist US -amerikanischer Fast Food-Ketten haben in Europa zuerst in Großbritannien Fuß fassen können, wo der Konsum von Fast Food und Take-away-Gerichten auch heutzutage besonders hoch ist24. Deutsche Gastronomiezeitschriften führten diese Präferenz auf britische Traditionen und Eigenarten zurück: »Die Engländer verfügen über eine lange Erfahrung mit den Selbstbedienungsrestaurants. Es war für sie schon eine alte Sache, als es auf dem europäischen Kontinent zaghaft ausprobiert wurde. Es entspricht allerdings auch in einem höheren Maße der ­englischen Mentalität und der Selbstdisziplin dieses Volkes.«25

In jedem Falle war das Vereinigte Königreich in Europa das erste Land, das mit dem Hamburger-Verkauf experimentierte, und zwar mit Wimpy-Theken, die in den vom britischen Lyons-Konzern betriebenen tea-shops eröffnet und zu einem großen Erfolg wurden26. US -amerikanische Ketten wie Kentucky Fried Chicken gründeten Mitte der 1960er Jahre erste Filialen in Großbritannien und konnten sich dort fest etablieren27. In der Bundesrepublik waren diese Unternehmen zunächst weniger erfolgreich, obwohl die Systemgastronomie, insbesondere Wienerwald, eine hohe Präsenz im Land besaß. 1964 versuchte Wimpy, mit seinen Hamburger-Restaurants in den westdeutschen Markt einzusteigen, scheiterte aber an Management-Fehlern und der damals noch mangelnden Akzeptanz von US -amerikanischem Fast Food bei der deutschen Bevölkerung28. 22 Vgl. Panikos Panayi, Spicing Up Britain. The Multicultural History of British Food, London 2008, S. 154. 23 Vgl. Pierpaolo Mudu, The New Romans. Ethnic Economic Activities in Rome, in: David H.  Kaplan/Wei Li (Hrsg.), Landscapes of the Ethnic Economy, Lanham u. a. 2006, S. 165–176. 24 In einer Vergleichsstudie zu den Verzehrgewohnheiten in Großbritannien, Deutschland, Frankreich und Spanien wies das Vereinigte Königreich 1998 nicht nur den höchsten Grad an Internationalisierung, sondern auch den größten Verbrauch an Fast Food auf. Vgl. Martina Ziemann, Zur Internationalisierung der Verzehrgewohnheiten in euro­ päischen Ländern, in: Ernährungs-Umschau 45 (1998), S. 121–125, hier S. 123 und S. 125. 25 Restaurama  – neue Art der Selbstbedienung, in: Neue gastronomische Zeitschrift 28 (1975) H. 11, S. 26. 26 Vgl. Oddy, Eating, in: Jacobs/Scholliers (Hrsg.), Eating Out, S. 306 f. 27 Vgl. ebenda, S. 308. Pizza Hut und McDonald’s folgten erst 1973. 28 So jedenfalls Ulrich Schückhaus, Die systematisierte Gastronomie. Ein Vergleich der Entwicklung in den USA und in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1987, S. 73. Der niederländische Lebensmittelkonzern Albert Heijn startete 1963 eine Wimpy Bar (in Kooperation mit Lyons), aber auch in den Niederlanden verhielten sich die Konsumenten zunächst zurückhaltend. 1971 ging Heijn dann ein joint venture mit McDonald’s ein, bevor das US -amerikanische Unternehmen 1974 seine eigenen Schnellrestaurants eröffnete. Vgl. Bruhèze/Otterloo, Snacks, in: Jacobs/Scholliers (Hrsg.), Eating Out, S. 327.

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1968 errichtete Kentucky Fried Chicken in Frankfurt eine erste Filiale, konnte sich aber zunächst auch nicht durchsetzen29. 1971 eröffnete schließlich das erste McDonald’s-­Lokal in Deutschland, und zwar in München. Das Unternehmen expandierte in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren nach und nach auch in kleinere Groß- und Mittelstädte und stieg innerhalb weniger Jahre zum größten Gastronomieunternehmen der Bundesrepublik auf30. In den 1970er Jahren war den Westdeutschen noch nicht allgemein bekannt, worum es sich bei einem Hamburger handelte; noch 1976 musste ein Restaurantführer übersetzen: »schlichtes Klappbrötchen mit Bulette«31. In den 1980er Jahren aber verbreitete sich dieses kulinarische Wissen rasant, und McDonald’s reüssierte nicht zuletzt als Schnellrestaurant, das sich insbesondere auf Kinder (beziehungsweise Familien) und Jugendliche als Klientel konzentrierte. Auch in den Nieder­ landen, anderen west- und nordeuropäischen Ländern sowie in Japan entstanden die ersten McDonald’s-Filialen in den 1970er Jahren; bald expandierte das Unternehmen auch nach Lateinamerika, Asien und in den 1990er Jahren dann insbesondere in die Länder des ehemaligen Ostblocks32. Auch wenn sich McDonald’s-­Lokale sehr ähnlich präsentieren, werden die angebotenen Speisen an die jeweiligen lokalen Kontexte angepasst, sei es um Konsumvorlieben zu bedienen, sei es um (religiöse)  Speiseregeln nicht zu verletzen. In der Bundesrepublik erwies sich die Aufnahme von Bier ins Sortiment als lukrativ33. In­ Israel wird in diversen McDonald’s-Filialen der Big Mac ohne Käse serviert, um die Vermischung von Fleisch- und Milchprodukten zu vermeiden; für den indischen Markt entwickelte die Hamburger-Kette Gemüse-McNuggets sowie den aus Hammelfleisch her­gestellten Maharaja Mac, der sowohl hinduistische als auch muslimische Speisegebote achtet. Homogenisierung ist also nicht der einzige Trend, für den McDonald steht; vielmehr bilden lokale Differenzierungen einen inhärenten Bestandteil der Marketingstrategien des global agierenden

29 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.5.1968: »Kauf’ jetzt, iß später. Hähnchen à la Colonel Sanders jetzt auch bei uns«. 1983 unternahm der Konzern dann einen zweiten, diesmal erfolgreichen Versuch mit Filialbetrieben im Großraum Köln; vgl. Schückhaus, Systematisierte Gastronomie, S. 82. 30 So erhielten etwa Konstanz 1979 und Flensburg 1980 eine erste McDonald’s-Verkaufsstätte; vgl. die Adressbücher der Städte Konstanz und Flensburg für 1979 beziehungsweise 1980. Vgl. auch Deutschlands umsatzstärkste Gastronomie, in: NGZ service manager 4/1990, S. 5–8, hier S. 5. 31 Walter Stahl/Dieter Wien (Hrsg.), Sylt von 7 bis 7. Ein ungewöhnlicher Führer über ein ungewöhnliches Eiland, Hamburg 6., verbesserte Aufl. 1976, S. 70. 32 Vgl. Bruhèze/Otterloo, Snacks, in: Jacobs/Scholliers (Hrsg.), Eating Out, S.  327; Jeffrey M. Pilcher, Food in World History, New York/London 2006, S. 110. Zum 1990 eröffneten McDonald’s in Moskau vgl. Luise Althanns, Die Eröffnung des ersten McDonald’s in Moskau, in: Themenportal Europäische Geschichte (2007); www.europa.clio-online.de/2007/ Article=227. 33 Teure Innenstadtlagen finanzieren zu müssen, stellte eine weitere Anpassung an den­ deutschen Kontext dar; vgl. Schückhaus, Systematisierte Gastronomie, S. 76.

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Unter­nehmens34. Globalität und Lokalität sind demnach nicht als Gegensatz zu verstehen, sondern in ihrer komplexen Relationalität ernst zu nehmen35. Für die Veränderungen im Ernährungsverhalten sind beide Gaststättentypen – ausländische Restaurants wie Fast Food-Lokale – insofern bedeutsam, als diese neuen Konsumorte in der Bundesrepublik wie in anderen europäischen Ländern dazu beigetragen haben, dass breitere Schichten zunehmend auswärts essen gingen. Denn zum einen waren die Preise in diesen Gaststätten meist niedriger als in sogenannten gutbürgerlichen Restaurants. Fast Food-Lokale konnten durch Rationalisierung und Standardisierung günstige Preise bieten, in der ausländischen Individualgastronomie wurde dasselbe Ergebnis durch den Einsatz unbezahlter mithelfender Familienangehöriger erzielt. Zum anderen wurde in diesen Lokalen – tatsächlich oder vermeintlich – weniger Wert auf die Etikette gelegt, so dass ein ungezwungenerer und insbesondere in Fast Food-Lokalen von bürgerlichen Tischmanieren weitgehend losgelöster Konsumstil vorherrschte, der weit weniger Menschen sozial ausschloss und insbesondere junge Leute ansprach36. Informalisierung lässt sich dabei als ein Trend verstehen, der nicht nur den Ernährungssektor seit den 1960er Jahren zu prägen begann37. Hatte bis weit in die 1960er Jahre hinein der Restaurantbesuch noch eine Besonderheit dargestellt, sollte er in den 1970er Jahren für weite Teile der Bevölkerung zunehmend zu einer Normalität werden  – nicht zuletzt aufgrund der neuartigen Konsumorte. Der Anteil des für Nahrungsmittel aufgewendeten Einkommens in der Bundesrepublik verringerte sich wie auch in anderen Ländern Europas seit den 1950er Jahren zwar kontinuierlich, der Anteil der Ausgaben für gastronomische Leistungen aber stieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich38: von lediglich neun Promille des gesamten privaten Konsums in der Bundesrepublik in den späten 1950er Jahren auf fast zwei Prozent 1960 und – je nach Haushaltstyp – auf bis zu vier Prozent in den 1970er Jahren39. Ein Indiz für die zunehmende Bedeutung des auswärtigen Essens ist auch die ab 1976 gesonderte Erfassung des Außer-Haus-Verzehrs bei den Einkommens- und Ver34 Vgl. Claudio Vignali, McDonald’s: »think global, act local« – the marketing mix, in: British Food Journal 103 (2001), S. 97–111; die angeführten Beispiele sind diesem Aufsatz entnommen. 35 Vgl. Roland Robertson, Glocalization. Time-Space and Homogeneity-Heterogeneity, in: Mike Featherstone/Scott Lash/Roland Robertson (Hrsg.), Global Modernities, London u. a. 1995, S. 25–44. 36 Vgl. Gerald Reckert, Zur Adoption neuer Speisen und Verzehrsformen. Die Einführung von fast food in der Bundesrepublik Deutschland, Diss., München 1986, S.  183; Rick­ Fantasia, Fast food in France, in: Theory and Society 24 (1995), S. 201–243, hier S. 223. 37 Bruhèze/Otterloo, Snacks, in: Jacobs/Scholliers (Hrsg.), Eating Out, S. 329. 38 Vgl. Adel P. den Hartog, Technological Innovations and Eating Out as a Mass Phenomenon in Europe, in: Jacobs/Scholliers (Hrsg.), Eating Out, S. 263–280, hier S. 263. 39 Vgl. Kurt Gedrich/Monika Albrecht, Datenrecherche der Entwicklung der Haushaltsausgaben für Ernährung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Freising-Weihenstephan 2003, S. 47; Ernährungsbericht 1980, hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, Frankfurt a. M. 1980, S. 120 f.

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brauchsstichproben des Statistischen Bundesamts40. 1978 betrugen die Ausgaben für das an Imbissen, in Kantinen oder Gaststätten eingenommene Essen bereits 21 Prozent an allen Ausgaben für Nahrungs- und Genussmittel41. Die Zunahme des Außer-Haus-Verzehrs lässt sich nicht allein als Folge steigender Realeinkommen begreifen; auch sozialstrukturelle und kulturelle Faktoren wie die wachsende Mobilität, die zunehmende Frauenerwerbsarbeit und die höhere Zahl an Einpersonenhaushalten gilt es zu berücksichtigen. Berufstätige Singles, die wenig(er) Zeit für die Selbstverpflegung haben, aber über ein relativ hohes Einkommen verfügen, gehören zu den Hauptnutzern der AußerHaus-Verpflegung42 wie auch des Angebots an Fertiggerichten und teureren Lebensmitteln. Der Single war in den USA bereits Ende der 1970er Jahre zu einer etablierten sozioökonomischen Größe geworden, während man ihn in der Bundesrepublik »erst zögernd als spezifische Zielgruppe« anerkannte. Stattdessen fungierte der Single hierzulande immer wieder als negatives Beispiel in einer stark normativ aufgeladenen Debatte um Individualisierung, die es so in den USA , aber auch in Großbritannien nicht gab43. Die empirische Sozialforschung mit ihren Kategorien repräsentiert gesellschaftliche Entwicklungen also keineswegs nur (auf sehr spezifische Weise); vielmehr hat sie Teil an der Ausformulierung dessen, was als wichtige Bezugsgröße in öffentlichen Debatten und damit im sozialen Leben gilt. Die hier zitierten Umfragen zum Konsumverhalten können daher nicht als Fakten betrachtet, sondern müssen als Quellen behandelt werden, die überdies in das soziale Leben eingriffen, indem sie Normalitätsstandards im Hinblick darauf setzten, wie oft und wo die Menschen essen gingen. Jürgen Link hat herausgestellt, in welch hohem Maße massenmedial verbreitete Statistiken über die Normalverteilung bestimmter Konsumbedürfnisse und 40 Begründet wurde diese Erweiterung mit der wachsenden Bedeutung der Außer-HausVerpflegung sowie mit der Mitverantwortung, die dem auswärtigen Essen für den Anstieg ernährungsbedingter Krankheiten zugeschrieben wurde; vgl. Ernährungsbericht 1980, S. 293 und S. 11. 41 Vgl. Schückhaus, Systematisierte Gastronomie, S. 71. In Frankreich stieg der entsprechende Anteil von 11 Prozent 1969 auf 19 Prozent 1989; vgl. Hartog, Technological Innovations, S. 263. In den USA hatte man bereits in den späten 1940er Jahren schätzungsweise etwa ein Viertel dieser Ausgaben für die Außer-Haus-Verpflegung aufgewendet; vgl. William Foote Whyte, Human Relations in the Restaurant Industry, New York u. a. 1948, S. 5. 42 Während Einpersonenhaushalte 1978 5,9 Prozent der privaten Ausgaben für die AußerHaus-Verpflegung aufwendeten, betrug dieser Anteil bei der Gesamtbevölkerung nur 4,9 Prozent; vgl. Veränderte Verbrauchergewohnheiten beim Verzehr außer Haus (Teil 1), in: Ernährungswirtschaft 6/1984, S. 19–22, hier S. 19. 1979 nahmen fast 60 Prozent der Singles werktags ihr Mittagessen außer Haus ein, während dies nur für 27 Prozent der Gesamtheit galt; vgl. Die Singles – Marktmacht einer Minderheit, in: Absatzwirtschaft 22 (1979) H. 7, S. 42–50, hier S. 46 Tabelle 1 (das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 42). Männer taten dies weit häufiger als Frauen. 43 Für einen internationalen Vergleich der Verlagerung von der häuslichen Speisezubereitung zur Inanspruchnahme der marktförmigen Dienstleistungen des Gastgewerbes vgl. Joachim Singelmann, The Sectoral Transformation of the Labor Force in Seven Industrialized Countries, 1920–1970, in: American Journal of Sociology 83 (1978), S. 1224–1234.

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Lebens­stile als Orientierungspunkt fungieren, um die eigene Lebens-, in diesem Falle: Ernährungspraxis zu gestalten44. Derartige empirische Erhebungen und ihre Popularisierung etablierten neue Erwartungshorizonte, unterstützten die Entstehung neuer Bedürfnisse und hatten damit einen nicht zu vernachlässigenden Anteil an der Produktion neuer Konsumtrends45. Nichtsdestotrotz stellen statistische Erhebungen und Umfragen eine wichtige Quellengattung dar, wenn es um den Nachweis einer wachsenden Selbstverständlichkeit des Gaststättenbesuchs geht. Der entscheidende Durchbruch, der den Restaurantbesuch vom Ausnahme- zum Regelfall breiterer Schichten der Bevölkerung werden ließ, ist im Laufe der 1970er Jahre erfolgt46. Das gilt nicht nur für die Bundesrepublik; auch in den Niederlanden hat sich die Zahl derjenigen, die selten oder nie ein Restaurant aufsuchten, zwischen 1960 und 1980 von 84 Prozent auf 26 Prozent reduziert47. In den meisten europäischen Ländern hat im besagten Zeitraum die Zahl der Restaurantbesuche zugenommen. Dennoch blieben deutliche Differenzen bestehen: In Skandinavien etwa wird wesentlich seltener auswärts gegessen als in Westeuropa, wobei in Schweden deutlich häufiger Restaurants aufgesucht werden als in Norwegen48. Der Restaurantbesuch ist damit, zumindest in Westeuropa, kein Ausnahmeerlebnis mehr. Selbst die »mittägliche Begegnung mit fremdländischer Küche ist keine Exkursion ins Unvertraute« mehr; allerdings stellt sie eine Selbstverständlichkeit und einen »verinnerlichte[n] Lebensstil« allein im Milieu »mit überdurchschnittlicher Bildung und Mobilität« dar49. Bernhard Tschofen macht am Beispiel der Internationalisierung der Gastronomie in Wien deutlich, dass ausländische Gastronomieangebote in urbanen Kontexten gang und gäbe sind, aber doch immer noch vornehmlich von einer bestimmten Klientel genutzt werden50. Ausländische Speisen sind, wie Untersuchungen aus Großbritannien zeigen, besonders 44 Vgl. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen 1997. 45 Vgl. Kerstin Brückweh, Consumers in the Public Sphere. Conceptualising the Political Public in a Consumer Society, DHI London, 23.5.–24.5.2008 (http://hsozkult.geschichte. hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2226); Benjamin Ziemann, Sozialgeschichte und empirische Sozialforschung. Überlegungen zum Kontext und zum Ende einer Romanze, in: Pascal Maeder/Barbara Lüthi/Thomas Mergel (Hrsg.), Wozu noch Sozialgeschichte? Eine Disziplin im Umbruch. Festschrift für Josef Mooser zum 65. Geburtstag, Göttingen 2012, S. 131–149, hier S. 147. 46 Trotzdem gab noch 1980 etwa die Hälfte der Bevölkerung an, selten oder nie zum Essen in eine Gaststätte zu gehen; vgl. Material zum Ernährungsbericht 1980, hrsg. von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, Frankfurt a. M. 1980, S. 117. 1983 nahm jeder Haushalt durchschnittlich sieben, 1988 dann bereits acht Mahlzeiten im Monat außer Haus ein; vgl. Gedrich/Albrecht, Datenrecherche, S. 49. 47 Vgl. Bruhèze/Otterloo, Snacks, S. 318. 48 Vgl. Virginie Amilien, The Rise of Restaurants in Norway in the Twentieth Century, in: Jacobs/Scholliers (Hrsg.), Eating Out, S. 179–193, hier S. 185. 49 Tschofen, Nahrungsforschung, S. 136. 50 Aus diesem Grund warnte auch der Soziologe Alan Warde (Consumption, Food and Taste, London u. a. 1997, S. 179) davor, die Normalisierung fremder Kost überzubewerten.

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bei Studierenden sehr beliebt51. Doch nicht nur der Bildungsgrad, sondern auch das Alter spielt beim Ausprobieren »fremder« Speisen eine zentrale Rolle. Anfang der 1980er Jahre gaben bei einer Befragung des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands fast 80 Prozent der 18- bis 30-Jährigen an, ausländische Küchen zu bevorzugen, wenn sie auswärts essen gingen. An erster Stelle stand der Besuch einer Pizzeria52. Jüngere Leute wussten und wissen vor allem die relativ günstigen Preise in vielen ausländischen Restaurants und Imbiss-Lokalen zu schätzen – ein Umstand, der sie auch zur Hauptkundengruppe von Fast Food-Betrieben macht; zu deren Stammgästen zählen dabei insbesondere Männer mit niedrigem Einkommen53. Alle Umfragen zur Außer-Haus-Verpflegung bestätigen die in der Konsumforschung verbreitete These, dass es meist Jüngere sind, die neue Konsumstile ausbilden, während Ältere eher an Bekanntem festhalten54. Trotz der skizzierten Veränderungen der Geschmackspräferenzen, die nicht zuletzt auch mit der zunehmenden touristischen Erfahrung der Westdeutschen zusammenhingen, erfreuten sich, auf die Gesamtbevölkerung bezogen, weiterhin deutsche respektive (gut)bürgerliche Gaststätten großer Beliebtheit. So bevorzugte 1979 noch eine Mehrheit der Bundesbürger diese Gaststättenform55 – ein Beispiel für die in der Ernährungsforschung oft herausgestrichene Beharrungskraft der Ernährungsgewohnheiten, für deren Geschichte scharfe Brüche kaum charakteristisch sind. Die wachsende Begeisterung für die – in der Bundesrepublik vornehmlich mediterrane – ausländische Gastronomie (und die mit ihr assoziierte Genussfähigkeit und Lebenslust) sollte demnach nicht darüber hinwegtäuschen, dass südeuropäische Speisegewohnheiten lange Zeit noch auf massive Abwehr stießen. So gehörte der als lästig empfundene Knoblauchgeruch im Treppenhaus neben den »fremden Bräuchen auf dem Etagenklo« zu den immer wieder angeführten Gründen, warum Deutsche aus von Ausländern bewohnten Häusern auszogen56. Der Umgang mit Fremdem differierte je nach gesellschaftlichem Bereich deutlich. So sagt das Interesse für ausländische Spezialitätenrestaurants, die (frei51 Vgl. Alan Warde/Lydia Martens, Eating Out. Social Differentiation, Consumption and Pleasure, Cambridge 2000; eine vergleichbare Studie für die Bundesrepublik fehlt. 52 Vgl. Angebots- und Nachfrageveränderungen im Gastgewerbe. Veränderte und differenzierte Betriebsformen als Antwort auf Konsumgewohnheiten, hrsg. vom Deutschen Hotelund Gaststättenverband, Bonn 1984, S. 101 f.; Fast Food, System-Gastronomie/Snack und Imbiss, Hamburg 1987, S. 5 (G+J Branchenbild Nr. 38). 53 Vgl. Jörg Rosenbauer, Darstellung und Analyse des Außer-Haus-Verzehrs in der Bundesrepublik, in: Hauswirtschaft und Wissenschaft 37 (1989) H. 4, S. 164–169, hier S. 167; G+J Branchenbild Nr. 38, S. 6. 54 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, S. 125. 55 Die deutsche Küche erfreute sich vor allem bei Männern (44 Prozent) großer Popularität, während Frauen nur noch zu 37 Prozent am liebsten (gut)bürgerliche Gaststätten auf­ suchten. Vgl. Die Deutschen und ihre Gastronomie. Eine Meinungsbefragung in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich. Im Auftrag der Dortmunder Actien-Brauerei durchgeführt vom Sample-Institut Hamburg, Dortmund 1979, S. 19, S. 31 und S. 21. 56 Vgl. Der Spiegel vom 3.9.1973: »Die Türken kommen – rette sich, wer kann«.

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willige) Begegnung mit Unbekanntem in der Konsumsphäre, nur wenig über die Akzeptanz von Migranten und ihren Lebensstilen im Wohnumfeld oder am Arbeitsplatz aus: »Mägen sind oft kosmopolitischer als die dazugehörigen Köpfe.«57

3. Health food und nachhaltige Ernährung In den 1970er und 1980er Jahren erfuhr die südeuropäische Küche, die als migrantische Küche über keinen hohen Status verfügte, eine bemerkenswerte Aufwertung. Ernährungswissenschaftler erklärten die mediterrane Ernährung wegen ihrer Cholesterinarmut und dem hohen Verbrauch an frischem Obst und Gemüse zur gesundheitsfördernden Kost58. Olivenöl, das bis in die 1970er Jahre hinein als extrem unverträglich galt, wurde nun zum lebensverlängernden Elixier59. Insbesondere die italienische Küche profitierte von diesen Erkenntnissen60. Ähnlich aber wurde auch die Diffusion asiatischer Küchen, vor allem der japanischen und thailändischen Küche, im Laufe der 1990er Jahre dadurch begünstigt, dass sie als gesund und bekömmlich galten. Zudem boten die asiatischen Küchen eine breite Palette an Gerichten auch für Vegetarier – ein weiterer Ernährungstrend, der sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmend etablierte, aber bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien und kurz darauf in Deutschland Fuß gefasst hatte. In den 1970er Jahren begannen ernährungswissenschaftliche Leitlinien im Zuge des wachsenden Interesses an Ernährungsfragen – Zeitgenossen sprachen von der »Gesundheitswelle« – an Relevanz zu gewinnen61. Damit nahm auch die Sensibilität für Gesundheitsrisiken zu. Als gesundheitsgefährdend wurden insbesondere massenhaft hergestellte und konservierte Nahrungsmittel sowie Fertig­ gerichte wahrgenommen, die vor allem im links-alternativen Milieu auch als Ausdruck kapitalistischer Entfremdung betrachtet wurden. Diese Form der Konsumkritik war nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in Großbritannien, 57 Gert von Paczensky/Anna Dünnbier, Leere Töpfe, volle Töpfe. Die Kulturgeschichte des Essens und Trinkens, München 1994, S. 502. 58 Vgl. erstmals Ancel Keys/Margaret Keys, Der gesunde Feinschmecker, Stuttgart 1961. 59 Noch die italienischen Kochbücher, die in der frühen Bundesrepublik kursierten, rieten zu einer eher sparsamen Verwendung von Olivenöl; vgl. Marion Schickel, Rezeption der­ italienischen Küche in Deutschland, Magisterarbeit, Leipzig 2008, S. 48. 60 Vgl. Luca Vercelloni, La modernità alimentare, in: Alberto Capatti/Alberto De Bernardi/ Angelo Varni (Hrsg.), Storia d’Italia, Bd. 13: L’alimentazione, Turin 1998, S. 949–1005, hier S. 978. 61 Die Ernährungswissenschaften haben im Laufe des 20.  Jahrhunderts eine zunehmend alltagsrelevante Orientierungsfunktion erhalten und lassen sich damit als ein Beispiel für die Verwissenschaftlichung des Sozialen anführen. Vgl. Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: GuG 22 (1996), S. 165–193. Von einer »Gesundheitswelle« in den 1970er Jahren war etwa im Handelsblatt vom 30.12.1985 die Rede: »Stärkere Veredelung bringt eine höhere Wertschöpfung«.

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Frankreich und den USA verbreitet62. Traditionelle Formen der landwirtschaftlichen Produktion und der Speisezubereitung erfuhren in der Folge eine Aufwertung, während Fast Food aufgrund seiner Produktions- und Distributionsweise, aber auch wegen seines hohen Zucker- und Fettgehalts in Verruf geriet63. Von dieser Entwicklung profitierten im gastronomischen Sektor vor allem ausländische Restaurants, aber auch Lokale, die im Zuge der in den 1970er Jahren einsetzenden »Regionalwelle« entstanden waren und vermeintlich althergebrachte Speisen aus verschiedensten Landesteilen wiederbelebten64. Letztlich wurde suggeriert, in beiden Gaststättentypen werde noch selbst gekocht65. ReEthnisierung und Re-Historisierung sind dabei als gemeinsame Antwort auf die Industrialisierung der Ernährung und ihre im Fast Food symbolisierte Beschleunigung und Ent-Ortung zu lesen. In der Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit, nach einer vermeintlich traditionellen, fast immer ländlichen Hausmannskost, ob schwäbisch oder italienisch, artikuliert sich ein Wunsch nach Entschleunigung, der nicht zufällig zeitaufwändige Verarbeitungsweisen von Lebensmitteln wie das Räuchern, das Trocknen von Schinken an der Luft oder auch das mehrfache Einlegen und Einkochen von Rohprodukten favorisiert. Das historisierende »Zitieren alter oder fremder Kulturelemente« lässt sich dabei als Ausdruck einer Diskontinuitätserfahrung66 und als Bedürfnis nach Rückversicherung im Angesicht gesellschaftlicher Umbrüche verstehen. Auch die Rede von der »Natur­kost« ist einem solchen nostalgischen Impetus geschuldet, der in der britischen Forschung mit dem Terminus »food nostalgia« gefasst wird67. 62 Vgl. Stephen Mennell, All Manners of Food. Eating and Taste in England and France from the Middle Ages to the Present, Urbana 21996, S. 340; Warren J. Belasco, Appetite for Change. How the Counterculture Took on the Food Industry, 1966–1988, New York 1989. 63 Auch wenn seit den 1980er Jahren die Kritik an den sozialen und ökologischen Folgen des Fast-Food-Systems immer lauter wurde (vgl. exemplarisch Eric Schlosser, Fast Food Nation. The Dark Side of the all-American Meal, Boston 2001), expandierten die US -amerikanischen Burger-Ketten just in diesem Zeitraum. 64 Die Etablierung bestimmter Landes- wie Regionalküchen lässt sich als (fast) paralleler Prozess der Ausdifferenzierung der Gastronomie verstehen, bei dem im ersten Fall ferne Länder mit ihren Küchen und im zweiten Fall einzelne Regionen mit ihren traditionellen Gerichten re-inszeniert wurden; vgl. Konrad Köstlin, Die Revitalisierung regionaler Kost, in: Niilo Valonen (Hrsg.), Ethnologische Nahrungsforschung. Vorträge des zweiten Internationalen Symposiums für ethnologische Nahrungsforschung, Helsinki, August 1973, Helsinki 1975, S. 159–166. 65 »Ich kenne keinen Dosenöffner und keinen Kühlschrank«, wurde etwa ein italienischer Gastronom zitiert, der damit die stets frische Zubereitung seiner Speisen herausstrich; Frankfurter Neue Presse vom 5.11.1982: »Neues aus der Gastronomie«. 66 Ulrich Tolksdorf, Das Eigene und das Fremde. Küchen und Kulturen im Kontakt, in: Alois Wierlacher/Gerhard Neumann/Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Berlin 1993, S.  187–192, hier S.  190. Die Hinwendung zum Fremden interpretiert Tolksdorf (ebenda, S. 191) dabei als Zeichen dafür, dass die eigene Lebenswelt fremd geworden ist. 67 Allison James, How British Is British Food?, in: Pat Caplan (Hrsg.), Food, Health, and Identity, London/New York 1997, S. 71–86, hier S. 79.

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Der nostalgische Modus ist meines Erachtens gerade für das Feld der Ernährung so zentral, weil das Essen als sinnlich erfahrbares Medium, das den Geschmacks-, den Geruchs- und auch den Tastsinn anspricht, als ein besonders umfassender »agent of memory«68 fungiert. Essen scheint das Verlorene (wieder) präsent zu machen – die Heimat im Falle von Flüchtlingen und Migranten, die kollektive Vergangenheit im Falle kulinarischer Zeitreisen oder die individuelle Lebensgeschichte im Falle des geliebten Leibgerichts der Kindheit69. Gerade die Überlagerung dieser unterschiedlichen Vergangenheitsbezüge macht das Essen zu einem spannenden Untersuchungsfeld, wenn man sich mit personalen und kollektiven Identitätskonstruktionen und der Überbrückung von biographischen, aber auch zeithistorischen Brüchen befasst. »Food nostalgia« wäre demnach als zentrale Dimension einer umfassenden Konsum- und Kommerzialisierungskritik zu konzeptualisieren, die Erfahrungen des Bruchs letztlich konsumistisch zu überbrücken hilft70. Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang, dass die  – in der Ernährungsforschung vielfach bemühte  – These vom Geschmackskonservatismus nicht ausreicht, um diese Formen des Vergangenheitsbezugs und damit einer spezifischen Zeiterfahrung adäquat zu erfassen. Vielmehr sollte man auch hier von invented traditions sprechen71. Denn die vermeintlich althergebrachten, lokal verorteten Küchen stellen letztlich Neuformulierungen des Lokalen in Reaktion auf Globalisierungsprozesse dar. Ein (aktuelles) Beispiel ist die Slow Food-Bewegung, die 1986 aus Protest gegen die Eröffnung der ersten italienischen McDonald’s-Filiale in Rom entstanden ist und sich angesichts der Globalisierung der Ernährung der Revitalisierung lokaler kulinarischer Traditionen verschrieben hat72. Eine deutsche Sektion dieser Konsumentenvereinigung wurde 1992 gegründet. Die Sehnsucht nach regional verorteten und nicht massenhaft produzierten Lebensmitteln veränderte auch den häuslichen Konsum. Auf diese Nachfrage antworteten insbesondere die sogenannten Bioläden, die in der Bundesrepublik Anfang der 1970er Jahre entstanden und von denen in den 1980er Jahren bereits mehr als 1000 existierten73. Gesundheitsargumente verbanden sich mit Umweltschutzmotiven, wenn die Angst vor Pestiziden und anderen Umweltgiften be68 Hasia R. Diner, Hungering for America. Italian, Irish, and Jewish Foodways in the Age of Migration, Cambridge/Mass. 2001, S. 8. 69 Vgl. Harlan Walker (Hrsg.), Food and Memory. Proceedings of the Oxford Symposium on Food & Cookery 2000, Totnes 2001. 70 So Doering-Manteuffel und Raphael über »Manufactum« (Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 127). 71 Nicht zufällig wurde dieses Konzept zu Beginn der 1980er Jahre entwickelt; vgl. Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hrsg.), The Invention of Tradition, Cambridge u. a. 1984. 72 Die Slow Food-Bewegung nahm ihren Anfang im Umfeld der kommunistischen Zeitung Il Manifesto beziehungsweise ihrer gastronomischen Beilage Gambero Rosso. Vgl. Fabio Parasecoli, Postrevolutionary Chowhounds. Food, Globalization, and the Italian Left, in: Gastronomica 3 (2003) H. 3, S. 29–39. 73 Zur Geschichte der Bioläden vgl. Simone Weyer, Der Berliner Bio-Markt. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Eine empirische Untersuchung, Diplomarbeit, Berlin 2000.

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schworen wurde74. Diese neuen Risiken beziehungsweise die neuartige Wahrnehmung von Gesundheitsrisiken bildeten einen zentralen Bestandteil dessen, was als Ende des Fortschrittsoptimismus in der Zeit nach dem Boom bereits vielfach thematisiert worden ist75. Zwar zeigten sich auch schon die Lebensreformer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besorgt, dass ihre Körper durch Gifte kontaminiert würden, vor allem durch schlechte Luft und in der Form von selbst zugeführten »Rausch-, Rauch- und Fleisch-Giften«76. Im Zuge der Ökologiebewegung der 1970er und 1980er Jahre ergriffen Vergiftungsängste aber weit größere Teile der Bevölkerung, nicht zuletzt deshalb, weil die Massenmedien verstärkt über Umwelt- und Gesundheitsschäden berichteten und diese immer öfter skandalisierten. Das galt zunehmend auch für die Praxis der Massentierhaltung, deren inhärente Gefahren in der BSE-Krise 1990 zu kulminieren schienen. Vergiftungsängste, zu denen auch die Furcht vor radioaktiver Strahlung zu zählen ist, stellen einen bisher noch nicht ausreichend erforschten Teil der zeitgenössischen Weltuntergangsszenarien dar. Gerade sie können einen wichtigen Baustein für die Frage nach neuen Körperkonzepten und Subjektivierungsweisen liefern. Zeitgleich mit den Bioläden entstanden auch die ersten Dritte-Welt- beziehungsweise Eine-Welt-Läden und Fair Trade-Organisationen, die Waren aus sogenannten Entwicklungsländern direkt importierten. Kirchliche Jugendverbände spielten hier oftmals eine Vorreiterrolle77. Fair Trade soll eine Form der »Handelspartnerschaft« bezeichnen, die sich für mehr Gerechtigkeit im globalen Handel einsetzt und dabei insbesondere die »Rechte marginalisierter ProduzentInnen und ArbeiterInnen« absichert78. Dahinter steckte die Vorstellung einer direkte(re)n Beziehung zwischen Süd und Nord in der Absicht, angesichts globaler Machtasymmetrien mehr Verteilungsgerechtigkeit herzustellen. Für den deutschsprachigen Raum waren unter anderem die Niederlande ein Vorbild, deren Fair Trade-Organisation S. O. S. Anfang der 1970er Jahre Niederlassungen 74 »Ich bin interessiert an gutem, vollwertigen und giftfreien Essen«, so lautete die Antwort auf einen Fragebogen, den Gabriele Speckels im Rahmen ihrer Feldforschung 1985/86 in Regensburger Naturkostläden ausgeteilt hatte. Zit. nach: Gabriele Speckels, Naturkost: Geschmack am Fremden, in: Ina-Maria Greverus/Konrad Köstlin/Heinz Schilling (Hrsg.), Kulturkontakt, Kulturkonflikt. Zur Erfahrung des Fremden, Teil 2, Frankfurt a. M. 1988, S.  479–482, hier S.  481. Heute beziehen sich entsprechende Ängste vor allem auf gen­ technisch veränderte Lebensmittel und ihre Auswirkung auf Gesundheit und Umwelt. 75 Sie sind ein Beispiel für das wachsende Bewusstsein über die »Grenzen der Beherrschbarkeit des industriell-technischen Zeitalters«; Dietmar Süß/Meik Woyke, Schimanskis Jahrzehnt? Die 1980er Jahre in historischer Perspektive, in: AfS 52 (2012), S. 3–20, hier S. 11. 76 Richard Ungewitter, Der Sechzigjährige, in: Die Schönheit 25 (1929), S. 553. 77 Bereits 1970 tat sich die evangelische Jugend in der »Aktion Dritte-Welt-Handel« zusammen; vgl. Claudius Torp, Wachstum, Sicherheit, Moral. Politische Legitimationen des Konsums im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, S. 126. 78 So die Definition in: Fairer Handel. Ein Überblick, hrsg. vom Nord Süd Forum München e. V. in Kooperation mit A21-Koordination Eine Welt, München o. J., S. 8, zit. nach: Hanns Wienold, Fair Trade: Moralische Ökonomie oder Äquivalententausch?, in: Peripherie 32 (2012), S. 500–508, hier S. 501. Zum Folgenden vgl. ebenda, S. 502.

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in der Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz eröffnete. Nachdem man zuerst Handwerksprodukte aus der »Dritten Welt« vertrieben hatte, begann später auch der Verkauf fair gehandelten Kaffees. In den späten 1980er Jahren wurden zunehmend Zertifizierungen entwickelt, um den Weg der Fair Trade-Produkte in die Supermarktregale zu ebnen und damit mehr Konsumenten anzusprechen. Die Summen für den Kauf fair gehandelter Güter können sich mittlerweile sehen lassen, wobei die Unterschiede zwischen einzelnen europäischen Ländern erheblich sind: Wurden in Großbritannien 2005 rund 206 Millionen Euro für Produkte mit Fair Trade-Label ausgegeben, waren es in Deutschland nur 58 Millionen Euro79. Die zunehmende Institutionalisierung des fairen Handels durch Zertifizierungen und Gütesiegel bedeutet – ähnlich wie bei den Bio-Produkten – zwar eine dauerhafte Einflussnahme, lässt aber den »cash-nexus im Fairen Handel offener zu Tage« treten. Nachhaltigkeit spielt nicht nur in der ökologischen Landwirtschaft, sondern auch für den Fair Trade-Handel eine wichtige Rolle, will dieser doch zu einer »nachhaltigen Entwicklung« beitragen80. Der Begriff nachhaltige Ernährung umfasst also alle der bisher genannten Komponenten: Er beinhaltet eine Bevorzugung nur gering verarbeiteter Nahrungsmittel, die Reduktion des Fleischkonsums, die Verwendung von saisonalen und regionalen Produkten aus ökologischer Landwirtschaft und aus fairem Handel81. Gesundheitliche und moralische Motive gehen hier eine kaum noch zu trennende Verbindung ein; individuelle Vorsorge und kollektive Verantwortung für zukünftige Generationen verschränken sich in dieser Form politisch-ethischen Konsums. Gerade Nahrungsmittel scheinen  – nicht zuletzt, weil sie inkorporiert werden und damit Körpergrenzen überschreiten – für derartige Moralisierungen besonders anfällig zu sein82. Einen an ethischen Kriterien orientierten Konsum konnten und können sich nur bestimmte Käuferschichten leisten. So impliziert Nachhaltigkeit in der Ernährung die Erhöhung der Ausgaben für Lebensmittel und wird daher vornehmlich von kaufkräftigen Konsumentengruppen praktiziert83, die auch die Klientel von Slow Food mit seinen Versuchen zur Rückbesinnung auf alte, meist ländliche Regionalküchen bilden. Denn, wie Jeffrey M. Pilcher herausgestellt hat: »only the wealthy can afford to eat like peasants«84. Auch aus diesem Grund 79 Vgl. Matthias Zick Varul, Ethical consumption: the case of fair trade, in: Jens Beckert/ Christoph Deutschmann (Hrsg.), Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden 2009, S.  366–385, hier S. 367. 2004 machte Kaffee allein 60 Prozent des fairen Handels aus; vgl. Wienold, Fair Trade, S. 503 Anm. 6. Das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 502. 80 Fairer Handel, S. 8. 81 Vgl. Vinz, Nachhaltiger Konsum, S. 25 Anm. 9. 82 Wienold, Fair Trade, S. 504 Anm. 8, erklärt diesen Sachverhalt mit den »Qualitäten der Bekömmlichkeit und Reinheit«, die allerdings selbst als Zuschreibungen zu historisieren wären. 83 Vgl. Vinz, Nachhaltiger Konsum, S. 15 f. 84 Jeffrey M. Pilcher, Industrial Tortillas and Folkloric Pepsi. The Nutritional Consequences of Hybrid Cuisines in Mexico, in: Warren J. Belasco/Philip Scranton (Hrsg.), Food Nations. Selling Taste in Consumer Societies, New York/London 2002, S. 222–239, hier S. 237.

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ist der Markt für Bio-Produkte »sehr begrenzt«85. Doch spielt nicht nur das Einkommen bei diesem Ernährungstrend eine wichtige Rolle; ebenso entscheidend ist kulturelles Kapital. Zum ethischen Konsum gehört ein gewisses Maß an Wissen über ökologische Zusammenhänge und globale Warenketten; außerdem benötigt man kulinarisches Know How, um aus kaum verarbeiteten Rohprodukten schmackhafte Speisen herzustellen. Genau dieses kulinarische Wissen hat sich in alternativen und akademischen Kreisen im Laufe der letzten Jahrzehnte zu einem begehrten persönlichen Attribut und Statussymbol entwickelt. Längst setzen Fair Trade- und Naturkost-Bewegung nicht mehr auf Enthaltsamkeit, sondern entwickeln sich in Richtung Feinkost und adressieren zunehmend den Konsumenten, der sich als connaisseur versteht; Bio-Produkte sind Teil der »foody culture« geworden. Auch wenn weder Fair Trade-Produkte noch Slow Food wohl jemals mehrheitsfähig werden, so befindet sich diese Form des Nahrungskonsums immer noch im Aufwind, zumindest in der akademisch gebildeten Mittelschicht86. Die verzweigte Geschichte des Fair Trade-Labels, der Bio- und Dritte-WeltLäden und ihrer Konsumenten kann hier nicht rekonstruiert werden. Sie ist vor allem wichtig für die seit den 1970er Jahren zu beobachtende Politisierung und Moralisierung des Konsums – und damit für eine Genealogie des aktuell stark debattierten ethisch-politischen Konsums (und seiner Grenzen). Eine solche »auf ethischen und politischen Überlegungen basierende Wahl von Herstellern und Produkten durch den Verbraucher« ist zwar ein individueller Akt, impliziert aber ein »generalisiertes Vertrauen« in die (anderen) Konsumenten87. Durchaus kein neues Phänomen, wird der politisch-ethische Konsum insbesondere von Gruppen wahrgenommen, die lange Zeit von der politischen Arena ausgeschlossen waren. Frauen und junge Leute, die in der Parteipolitik und anderen Formen organisierter Pressure Groups unterrepräsentiert sind, engagieren sich insbesondere im Bereich von Fair Trade und anderen Formen nachhaltigen Konsums. Die Idee des politisch-ethischen Konsums beinhaltet ein empowerment der Konsumenten88, die ihre Marktmacht nutzen, um bestimmte Ziele zu erreichen, aber auch, um sich selbst als ethische Person zu konstruieren und darzustellen. Nicht nur Gutes tun, sondern gut sein – so bringt Matthias Zick Varul die Kon85 Handelsblatt vom 30.12.1985: »Stärkere Veredelung bringt eine höhere Wertschöpfung«. 86 Vgl. Zick Varul, Ethical Consumption, S. 366 und S. 374. Bei Fair Trade oder Feinkost spielen die Herkunft der Produkte und das Wissen darüber eine zentrale Rolle; dies impliziert den Konsumenten als connaisseur. Nicht zuletzt aufgrund der Aufwertung des Nahrungskonsums zählen nun auch viele Männer zu den begeisterten Hobbyköchen. 87 Dietlind Stolle/Marc Hooghe/Michele Micheletti, Zwischen Markt und Zivilgesellschaft: Politischer Konsum als bürgerliches Engagement, in: Dieter Gosewinkel u. a. (Hrsg.), Zivilgesellschaft – national und transnational, Berlin 2004, S. 151–171, hier S. 154 und S. 159; zum folgenden vgl. ebenda, S. 153. 88 Vgl. Matthew Anderson, NGOs and Fair Trade. The Social Movement Behind the Label, in: Nick Crowson/Matthew Hilton/James McKay (Hrsg.), NGOs in Contemporary Britain. Non-state Actors in Society and Politic Since 1945, Houndsmil 2009, S. 222–241, hier S. 237.

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sumentenmotivation auf den Punkt89. Beim Fair Trade geht es zudem nicht allein um das Erreichen moralischer Ziele, sondern um eine (Re-) Moralisierung der Marktmechanismen selbst. Unternehmen kommen diesem Bedürfnis nach Moral mittlerweile verstärkt entgegen; die gegenkulturelle Konsumkritik fungierte also als Kraft, die zu Innovationen und Differenzierungen bei der Produktion und Vermarktung führte90. Die Markt- und Konsumforschung – um nochmals an die anfänglichen Überlegungen zu Konsumentenumfragen als Quellenmaterial anzuknüpfen – wirkte an der Konzeptualisierung des souveränen Konsumenten mit, der sich zwischen einer Vielzahl von Angeboten bewusst entscheidet und sein Verhalten dabei zunehmend an postmaterialistischen Werten ausrichtet. Der postmoderne Konsument91, der Konsum als Identitätsprojekt betreibt und in der Soziologie wie den Geschichtswissenschaften als Produkt von Individualisierung und Wertewandel verstanden wird, ist nicht zuletzt auch ein Geschöpf der empirischen Erhebungen der Konsum- und Marktforschung, die Pluralisierungsprozesse nicht allein nachvollziehen, sondern vorantreiben. In diesem Sinne sind Verbraucherumfragen über Ernährung auch als Motor gesellschaftlicher Veränderungen zu begreifen. Moralisierung und Politisierung sind damit nicht nur zeitgenössische, von engagierten Konsumenten angewendete Strategien, sondern ebenso Prozessbegriffe, mit denen die zeitgenössische empirische Sozialforschung, und zwar Marktforschung wie Konsumsoziologie gleichermaßen, die beobachteten Transformationen des Konsumverhaltens seit den 1970er Jahren zu erfassen suchte. Sie heute unhinterfragt als Begriffe für die Erforschung der Geschichte des Konsums zu nutzen, ist nicht unproblematisch. Der historischen Analyse sollte es zunächst einmal darum gehen, Politisierung und Moralisierung als Zentralbegriffe zeitgenössischer Diskurse und Praktiken – des Konsumentenaktivismus wie der empirischen Sozialforschung – sichtbar zu machen. Wenn wir aber davon ausgehen, dass diese Strategien zumindest partiell erfolgreich waren, dann haben die Politisierung und Moralisierung des Konsums Effekte gezeitigt, welche die Konsumsphäre verändert und mit deren Folgen wir heute noch zu tun haben. So führte die Politisierung des Konsums unter anderem dazu, dass in der politischen Praxis, aber auch ihrer wissenschaftlichen Erforschung neue Formen des politischen Aktivismus ins Blickfeld gerieten. Die (auch) von den Akteuren selbst betriebene Moralisierung und ihr Beharren auf Wahlmöglichkeiten und der Verantwortlichkeit des Konsumenten zeitigen zuweilen Folgen, die der intendierten Politisierung teils zuwiderlaufen. So birgt die Betonung der Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Kon89 Zick Varul, Ethical Consumption, S. 370. 90 Vgl. Nico Stehr, Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie, Frankfurt a. M. 2007; Stephan Malinowski/Alexander Sedlmaier, »1968« als Katalysator der Konsum­ gesellschaft. Performative Regelverstöße, kommerzielle Adaptionen und ihre gegenseitige Durchdringung, in: GuG 32 (2006), S. 238–267. 91 Vgl. Nepomuk Gasteiger, Der Konsument. Verbraucherleitbilder in Werbung, Konsumkritik und Verbraucherschutz 1945–1989, Frankfurt a. M./New York 2010, Kap. 4.

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sumenten die Gefahr der »Privatisierung und Feminisierung von Ernährungsund Umweltverantwortung«92, tragen doch immer noch Frauen einen Großteil der Versorgungsarbeit. Mit der (neoliberalen) Privatisierung ist ein Effekt der Verlagerung der Verantwortung auf den Konsumenten gemeint, die insofern eine Entpolitisierung impliziert, als sie die strukturellen Rahmenbedingungen und Machtverhältnisse im Ernährungssystem aus dem Blick geraten lässt. Diese ambivalenten Folgen neuer Konsumentenstrategien sind nicht nur für die sozialwissenschaftliche Forschung relevant, sondern auch für die Historiographie, da sie zu Gegenmobilisierungen geführt haben und den Konsum als umkämpftes und stets in Veränderung begriffenes Terrain sichtbar machen. Wenn wir von einer Politisierung und Moralisierung des Konsums nach dem Boom sprechen, sollten die historischen Vorläufer nicht vergessen werden93. Denn gänzlich neu sind diese Phänomene nicht. Für das deutsche Beispiel ist die Lebensreformbewegung um 1900 von zentraler Bedeutung, wurden hier doch in ganz ähnlicher Weise eine Moralisierung des Alltags und der alltäglichen Konsumpraktiken betrieben und die Selbstverantwortung des Einzelnen betont. Ethische Motive waren schon für den frühen Vegetarismus von größter Bedeutung, wenn diese Ethik sich auch vom heutigen Tierrechtsaktivismus unterschied94. Auch zwischen Bioladen und Reformhaus – das erste wurde in Deutschland um 1900 eröffnet95  – lassen sich Verbindungslinien aufzeigen. Die Reformwarenwirtschaft und insbesondere die Reformkost waren die Elemente der Lebensreform, die sich am stärksten im Alltag durchsetzten96. Das alternative Milieu der 1970er Jahre konnte in mancherlei Hinsicht an die gerade in Deutschland starke Lebensreformbewegung anschließen. Die longue durée vieler Entwicklungen – der Moralisierung des Konsums, der zunehmenden Bedeutung der gesunden Ernährung und auch bestimmter Körperideale wie Fitness und Schlanksein – sollte bei den Diskussionen um zeithistorische Zäsuren nicht vernachlässigt werden. Die aktuell nicht nur in den USA kursierende Rede von einer »Übergewichts-­ 92 Vinz, Nachhaltiger Konsum, S.  28, bezog sich in ihrer Formulierung auf Ines Weller, Nachhaltigkeit und Gender. Neue Perspektiven für die Gestaltung und Nutzung von Produkten, München 2004. Auf die problematischen klassen- und geschlechtsspezifischen Implikationen (der Konsumpolitik) von Slow Food verwies Julie Guthman, Fast Food/­ Organic Food. Reflexive Tastes and the Making of »Yuppie Chow«, in: Social & Cultural Geography 4 (2003), S. 45–58. 93 Dass die Politisierung des Konsums den Normalfall im gesamten 20.  Jahrhundert darstellte, die allerdings sehr unterschiedliche Formen annehmen konnte, betonte zu Recht Torp, Wachstum, S. 129. 94 Vgl. Mieke Roscher, Tierschutz- und Tierrechtsbewegung  – ein historischer Abriss, in: APuZ 8–9/2012, S. 34–39. 95 Das »Reformhaus Jungbrunnen« wurde von Karl August Heynen in Barmen gegründet; vgl. Sabine Merta, Wege und Irrwege zum modernen Schlankheitskult. Diätkost und Körperkultur als Suche nach neuen Lebensstilformen 1880–1930, Stuttgart 2003, S. 179. 96 Vgl. Detlef Briesen, Das gesunde Leben. Ernährung und Gesundheit seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2010, S. 97. Zur Reformwarenwirtschaft vgl. Florentine Fritzen, Gesünder leben. Die Lebensreformbewegung im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006.

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Epidemie«, die eine krisenhafte Problematisierung von Fettleibigkeit darstellt, sich insbesondere gegen den Fast Food-Konsum richtet und dabei eine massive Moralisierung des Nahrungskonsums betreibt, erinnert durchaus an die bereits von den frühen Lebensreformern beschworene Selbstverantwortlichkeit für die Gesundheit und Schönheit des eigenen Körpers. Die Meinung, wer krank wird, sei selbst schuld, ist keine neoliberale Erfindung, sondern wurde schon von Ernährungsreformern und Naturheilkundlern um 1900 vertreten. Bereits in der Lebensreform gab es Strömungen, die sich weniger für den gesunden »Volkskörper« als für die individuelle Selbstsorge interessierten97. Die Analyse der heutigen Kultur der Selbstverantwortlichkeit und Selbstoptimierung würde davon profitieren, diese historischen Vorläufer nicht außer Acht zu lassen98. Gesundheitliche Vorsorge war bereits dem Lebensreformer ein zentrales Anliegen; er kann somit als historischer Akteur gelten, der bereits frühzeitig Praktiken des »präventiven Selbst« erprobte99. Statt nach einem klaren Bruch in den 1970er Jahren zu suchen, würde ich, gerade im Hinblick auf Körperpraktiken, eher von Konjunkturen sprechen und in diesem Zusammenhang auch die Vorbildfunktion »fremder« Kulturen betonen. Denn für die Suche nach neuen Ernährungsweisen und Umgangsformen mit dem eigenen Körper waren nicht-deutsche und oftmals nicht-europäische Vorbilder von größter Bedeutung. Von der sogenannten mediterranen Diät war bereits die Rede; zu nennen wären aber auch der fernöstliche Vegetarismus und ganzheitliche Körperkonzepte und -praktiken, die für den Yoga-Boom zu Beginn des 20. Jahrhunderts und, breitenwirksamer, seit den 1970er Jahren verantwortlich zeichneten. Auch makrobiotische Ernährungslehren oder Konzepte der traditionellen chinesischen Medizin und ihr Revival in den 1970er Jahren bedürfen einer genaueren Analyse. Denn die Kritik an Massenproduktion und -konsum verband sich – nicht nur auf dem Gebiet der Ernährung – oft mit der Suche nach neuen Deutungsmustern, die man an zeitlich oder geographisch entfernten Orten zu finden hoffte100. Gerade für die Geschichte alternativer Körper- und Selbstbilder wären insbesondere Prozesse der Orientalisierung in den Blick zu nehmen, die in den Forschungen zur Internationalisierung und Pluralisierung der Bundesrepublik, aber auch anderer westlicher Länder noch zu wenig Beach97 Auch die Widersprüchlichkeit der Körperbilder wie der experimentelle Umgang mit dem eigenen Körper sind keine Neuheiten, die sich erst in der Zeit nach dem Boom entwickelten, wie Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 128, meinen. 98 Ein Unterschied besteht allerdings in der seit den 1970er Jahren deutlich größeren Träger­ schaft der Gesundheitsbewegung; vgl. Eberhard Wolff, Moderne Diätetik als ­präventive Selbsttechnologie. Zum Verhältnis heteronomer und autonomer Selbstdis­ziplinierung zwischen Lebensreformbewegung und heutigem Gesundheitsboom, in: Martin Lengwiler/ Jeannette Madarász (Hrsg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010, S. 169–201, hier S. 196. 99 Vgl. Ulrich Bröckling, Vorbeugen ist besser… Zur Soziologie der Prävention, in: Behemoth 1 (2008) H. 1, S. 38–48. 100 Vgl. Speckels, Naturkost, S. 479.

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tung gefunden haben101. Das heißt auch, generell Transfers, und zwar nicht nur zwischen europäischen Ländern, gegenüber Fragen nach (vermeintlich) endogenen Entwicklungen zu stärken.

4. Von der konformen Konsumgesellschaft zur individualisierten Konsumentengesellschaft? Die aktuellen Debatten um Übergewicht und Adipositas legen es nahe, nach der Bedeutung gesunder Ernährung in der jüngsten Zeitgeschichte zu fragen. Nicht zufällig wird Dicksein in dem Moment zu einem vermeintlich die gesamte Gesellschaft gefährdenden Problem, in dem es vor allem ärmere Bevölkerungsschichten und oft Menschen mit Migrationshintergrund sind, die einen hohen Body Mass Index aufweisen. Diese Körper werden als Ausdruck fehlender Selbstdisziplin und mangelnder Leistungsbereitschaft gelesen, stehen also für weit mehr als nur einen ungesunden Lebensstil102. Hier geht es um die politische Regulation von Subjekten, die sich mit dem Individualisierungstheorem ­Ulrich Becks nicht ausreichend in den Blick nehmen lässt. Dass die Individualisierungsthese soziale Ungleichheit nur ungenügend berücksichtigt, ist oft kritisiert worden103. Gerade diese hat sich aber in den Jahrzehnten nach dem Boom verschärft und artikuliert sich in besonderer Weise auf dem Gebiet der Ernährung. Denn eine gesunde, nachhaltige Ernährung (oder was dafür jeweils historisch-spezifisch gehalten wird) leisten sich vor allem Konsumenten mit relativ hohem sozialen Status und Einkommen. Von ihren Konsummustern auf einen generellen Trend hin zur Individualisierung zu schließen, ist problematisch und unterschätzt die Beharrlichkeit schicht- und milieuspezifischer Konsumtraditionen; denn auch Lebensstile »gruppieren sich zu spezifischen sozialen Mustern«104. Statt den Wechsel von einer »konforme[n] Konsumgesellschaft« hin zu einer »individualisierte[n] Konsumentengesellschaft« zu konstatieren105 und damit der 101 Vgl. Pascal Eitler, Körper  – Kosmos  – Kybernetik. Transformationen der Religion im »New Age« (Westdeutschland 1970–1990), in: ZF 4 (2007), S. 116–136. 102 Vgl. Sander L. Gilman, Fat. A Cultural History of Obesity, Cambridge/Malden (Mass.) 2008. Mittlerweile reagieren auch die Fast Food-Unternehmen auf den Vorwurf, Adipositas zu begünstigen, indem sie fettärmere Gerichte anbieten. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.7.2011: »Fett- und kalorienreduzierte Speisen. Fast-Food-Ketten auf der Suche nach neuen Ideen«. 103 So etwa Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008, S. 215. 104 Christoph Deutschmann, Anglo-amerikanischer Consumerism und die Diskussion über Lebensstile in Deutschland, in: Volker R. Berghahn/Sigurt Vitols (Hrsg.), Gibt es einen deutschen Kapitalismus? Tradition und globale Perspektiven der sozialen Marktwirtschaft, Frankfurt a. M./New York 2006, S. 154–165, hier S. 159. 105 Anselm Doering-Manteuffel, Langfristige Ursprünge und dauerhafte Auswirkungen. Zur historischen Einordnung der siebziger Jahre, in: Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 313–329, hier S. 322.

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Theorie einer zunehmenden Individualisierung zu folgen, die zumindest implizit modernisierungstheoretische Annahmen fortschreibt, halte ich ein weniger lineares Modell für produktiver. Abgesehen davon, dass die Annahme eines bis in die 1970er Jahre dominanten Konformismus die agency der früheren Konsumenten zu unterschätzen und die Selbstbeschreibung etwa links-alternativer Milieus, die für sich den Bruch mit überkommenen Normen beanspruchten, zu überschätzen droht106, müssen wir zudem genauer nachzeichnen, woher das Konzept eines non- oder weniger konformistischen Konsumenten, der individuellen Bedürfnissen folgt, eigentlich kommt. Das impliziert, sich unter anderem mit der Konsum- und Marktforschung und ihren Theorien über Lebensstile, neue Milieus und die Ausdifferenzierung der Bedürfnisse noch viel eingehender auseinanderzusetzen, als das bisher geschehen ist. Wie gesagt, halte ich diese Studien und Umfragen für überaus relevant. Sie haben mit Sicherheit die Selbstwahrnehmung und wohl auch das Verhalten von Konsumenten mit geprägt; aber inwieweit sie unseren analytischen Zugang prägen sollten, ist eine ganz andere Frage. Für die Ernährungsgeschichte als Konsum- und als Körper- und Subjekt­ geschichte halte ich theoretische Ansätze für weiterführender, die erstens Subjektivierungsweisen über einen längeren Zeitraum in den Blick nehmen und zweitens die Gegenüberstellung von Konformismus und Individualisierung vermeiden. Der bereits eingangs erwähnte normalismusanalytische Ansatz Jürgen Links erlaubt es, Normalisierung und Individualisierung als einen Zusammenhang zu verstehen und zu fragen, wie sich die – immer stattfindende – Orientierung des Einzelnen an Normen historisch verändert hat107. Link unterscheidet zwischen Protonormalismus und flexiblem Normalismus, also zwischen einer an feststehenden, normativen Normen orientierten Form der Vergesellschaftung und einer beweglichen Verortung des Subjekts in einer Zone des Normalen, die nicht zuletzt durch Statistiken und Umfragen hergestellt wird108. Erste Ansätze des flexiblen Normalismus lassen sich bereits um 1900 ausmachen, als etwa mit den Theorien eines Magnus Hirschfeld’ über das dritte Geschlecht Bewegung in die scheinbar natürliche binäre Geschlechterordnung kam. 106 Schließlich handelt es sich bei der Ablehnung der »regelorientierten und als restriktiv gekennzeichneten Konformität« letztlich um eine Selbstbeschreibung der Akteure; Sven Reichardt/Detlef Siegfried, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010, S. 9–24, hier S. 23. Zur Problematik der »Metapher des Bruchs« im Zusammenhang mit der »sexuellen Revolution« vgl. Peter-Paul Bänziger, Kommentar: Geschlechtlichkeit und Sexualität aus körpergeschichtlicher Perspektive, in: Julia Paulus/Eva-Maria Silies/Kerstin Wolff (Hrsg.), Zeitgeschichte als Geschlechtergeschichte. Neue Perspektiven auf die Bundesrepublik, Frankfurt a. M./New York 2012, S. 246–254, hier S. 248. 107 Subjektivierung impliziert – anders als Individualisierung – bereits begrifflich die Doppelbedeutung von Subjekt als Unterworfenem und als sich gestaltendem Selbst. 108 Vgl. Link, Versuch, S. 27. Der Begriff der Flexibilisierung deutet auf die Zeitgebundenheit auch der Theorie Links hin.

Ethnic food, fast food, health food

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Eine Geschichte der Gegenwart müsste aus normalismusanalytischer Sicht demnach spätestens um 1900 einsetzen, also die klassische Moderne in die Analyse der Gegenwart einbeziehen109. Das bedeutet aber nicht, die Veränderungen seit den 1970er Jahren aus dem Blick zu verlieren. Denn dieser Zeitraum ist nach Link genau derjenige, in dem der flexible Normalismus sich endgültig durch­ gesetzt hat. Dabei meint flexible Normalisierung vor allem eines, nämlich Entnormativierung. Das scheint mir die entscheidende Veränderung in der Zeit nach dem Boom zu sein. Gleichwohl impliziert das keineswegs einen Abschied von konformem Verhalten als solchem. Ganz im Gegenteil kann man der Ansicht sein, dass die gegenwärtigen Techniken der Selbstdisziplinierung und Selbst­ optimierung eine tiefgreifendere und umfassendere Form der normalisierenden Regulation darstellen. Historische Konjunkturen bestimmter Subjektivierungsweisen herauszuarbeiten, die neuerliche Aneignung vergangener Selbstpraktiken zu analysieren und dabei das Subjekt radikal zu historisieren, ohne Kontinuitäten aus dem Blick zu verlieren, scheint mir ein gewinnbringender Zugang zur Konsum- aber auch zur allgemeinen Geschichte zu sein. Wichtig ist meines Erachtens, die »Gleichzeitigkeit von ›Freiheit und Beschränkung‹«110 bei der Konsumwahl zu betonen – vor und nach dem Boom.

109 Die Zeit um 1800 zu berücksichtigen, würde darüber hinaus helfen, epistemische Brüche neben polit-ökonomischen stärker zu fokussieren. 110 Bänziger, Kommentar, S. 253.

Hannah Jonas

Fußballkonsum zwischen Kommerz und Kritik England und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich

1. Erfolgsstory oder Verlustgeschichte? Im Jahr 2004 veröffentlichte das zehn Jahre zuvor gegründete Bündnis Aktiver Fußballfans (BAFF) eine Sammlung von Texten, die unter anderem die »Zubereitung« des Fußballs im TV kritisierte. Das Fernsehgerät sei kein Stadionfenster, beklagte sich ein Autor und fragte weiter, ob es nicht möglich sei »mehr Bilder von Spiel und Umgebung auf die Mattscheibe zu bringen, die sich konkreter mit dem beschäftigen, was tatsächlich im Stadion passiert«1. »Schluss mit lustig« sei für kritische Fans dort, »wo Rechte-Inhaber nach Quoten- und Gewinnerwägungen Spiele gegen die Interessen eines Stadionpublikums verlegen. Wo die Flimmerkiste Regieanweisungen gibt, Verbände und Vereine abnicken und Fans nie zu Wort kommen. […] Und vor allem da, wo das Fernsehen von sich behauptet realer zu sein als die Wirklichkeit.«

In dieser Polemik klingen verschiedene Argumente an, die es wert sind, genauer betrachtet zu werden: Erstens scheint es ein »echtes« Geschehen im Stadion zu geben, das vom Fernsehen nicht gezeigt wird. Stattdessen werde der Zuschauer vom Fernsehen mit einer eigenen, konstruierten Version des Spiels abgespeist. Zweitens erscheinen »Quoten- und Gewinnerwägungen« als die eigentlich bestimmenden Prinzipien im Fußball. Drittens geht der Autor von einem Konflikt zwischen Stadion- und Fernsehpublikum aus, bei dem ersteres benachteiligt sei. Angesichts der umfassenden Kommerzialisierung des Profi-Fußballs ist es nicht verwunderlich, dass die Kritik an dieser Entwicklung in bestimmten Kreisen mittlerweile breite Zustimmung findet, wobei diese Kritik vielfach als Verlustgeschichte daherkommt. Im vorliegenden Beitrag geht es darum, dieses moralisch aufgeladene Narrativ ebenso zu hinterfragen wie die ökonomische Erfolgsstory des Fußballs. Es gilt, die verschiedenen Motive historisieren und in den Kontext der Entwicklung von Konsum- und Konsumentengesellschaft einzuordnen. Dahinter steht die Absicht, an der Nahtstelle zwischen Sozial-, Wirtschafts-

1 Christian Meister, Der Fernseher ist kein Stadionfenster. Wie Fußball im TV zubereitet wird, in: Ballbesitz ist Diebstahl. Fans zwischen Kultur und Kommerz, hrsg. vom Bündnis Aktiver Fußballfans – BAFF, Göttingen 2004, S. 60–73, hier S. 60; das folgende Zitat findet sich ebenda.

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und Kulturgeschichte neue Antworten auf die Frage nach den Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom zu finden2. Die für die Zeit nach dem Boom konstitutiven 1970er und 1980er Jahre markierten im englischen und westdeutschen Vereinsfußball eine Phase des Übergangs. Auf der einen Seite fand ein erster Kommerzialisierungsschub statt, der in neuen Inszenierungsmöglichkeiten des Fernsehens, in der Vermarktung von Spielern als Stars sowie im Sponsoring auf Trikots und Werbeflächen sichtbar wurde. Auf der anderen Seite hatten die Profivereine in beiden Ländern mit nahezu identischen strukturellen Problemen zu kämpfen: Es kamen immer weniger Stadionbesucher, die Finanzlage der Klubs verschlechterte sich kontinuierlich, und Berichte über Gewalt auf den Rängen beeinflussten das öffentliche Bild des Spiels äußerst negativ. Im britischen und (west-)deutschen Fußball – so die These – versäumte man einerseits bis in die 1980er Jahre der Anschluss an veränderte Konsumgewohnheiten der Wohlstandsgesellschaft. Die daraus resultierende Krise bereitete andererseits den Boden für eine radikale Neuausrichtung des Fußballs nach Kriterien der Wirtschaftlichkeit und Vermarktung, die sie seit den 1990er Jahren die Erscheinung des Spiels dominieren. Die gegenwärtige Kritik an der Kommerzialisierung des Spiels hat ihre Wurzeln vor allem in dieser Zeit. Im ersten Teil  richtet sich der Blick zunächst auf die Orte des Fußballkonsums. Wo fand das Spiel hauptsächlich sein Publikum? Welchen Einfluss hatte der Ort auf die Art des Konsums und welche Veränderungen lassen sich seit den 1960er Jahren feststellen? Welcher Zusammenhang bestand hierbei zu allgemeineren gesellschaftlichen Wandlungsprozessen? Im Fokus steht dabei das Verhältnis zwischen Stadion und Fernsehen, in dem sich die zentralen Etappen des Fußballkonsums widerspiegeln. Der zweite Teil widmet sich der Zäsur um 1990. Welche Umdeutungen erfuhr der Fußball im Zuge seiner beschleunigten Kommerzialisierung? Inwiefern fand eine Politisierung oder Moralisierung statt? Welchen Hintergrund hatte die Entstehung von Protestbewegungen wie dem BAFF? Der dritte Teil fragt schließlich im Horizont allgemeinerer gesellschaftlicher Entwicklungen nach der spezifischen Chronologie der Fußballgeschichte, nach den Parallelen und Verwandtschaften zu anderen, für die Zeit nach 1970 prägenden Prozessen sowie nach den Funktionsmechanismen und Ambivalenzen der Konsumentengesellschaft.

2. Orte des Fußballkonsums »Kann die Bundesliga erst wieder gesunden, wenn es den Menschen schlechter geht?«, fragte 1973 ein Artikel des »Kicker-Sportmagazins«, der sich mit der Krise des deutschen Vereinsfußballs befasste. Illustriert wurde der Text mit einem Bild des »satten Bürgers« im Fernsehsessel, der den Fußball am liebsten »[b]equem 2 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012.

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im Sessel« konsumiere – »Zigarette und Glas in der Hand«3. Der Wohlstand habe sich in den letzten Jahren immer mehr als ein Feind des Sports im Allgemeinen und des Fußballs im Besonderen entpuppt, argumentierte der »Kicker«. Insbesondere das Fernsehen beeinflusse die Zuschauerzahlen negativ, da es das Publikum schnell und umfassend informiere, so dass viele das eigene Wohnzimmer einem teuren Steh- oder Sitzplatz im Stadion vorzögen. Der Verfasser des Artikels reagierte damit in eher polemischer Art und Weise auf das Zusammenfallen von Wohlstandszuwachs und Zuschauerschwund, das mit einer Verschiebung der Orte des Fußballkonsums – weg vom Stadion, hin zum Fernsehen – einherging. Sowohl in England als auch in der Bundesrepublik war diese Entwicklung in den 1960er und 1970er Jahren zu beobachten und wurde zum Untersuchungsgegenstand verschiedener Studien: In der Bundesrepublik untersuchte die Marktforschungsorganisation Infratest im Auftrag des Deutschen Fußball-Bunds (DFB) in der Saison 1970/71 die Situation der Bundesliga und kam hinsichtlich der »erhöhten Bequemlichkeitsschwelle«4 zum Ergebnis, »[d]er sich steigernde Hang zu Komfort« habe zur Folge, »daß bei allen Freizeitangeboten, die von zu Hause wegführen, der Anreiz erhöht werden muß, das Haus zu verlassen. Damit steht er in einem engen Zusammenhang mit einem Problem des Bundesliga-Fußballs, nämlich dem des mangelnden Komfort der Stadien.«

Das Fernsehen habe die zweitgrößte Zuwachsrate aller Freizeitaktivitäten und sei daher durchaus eine Konkurrenz für den Besuch von Bundesliga-Spielen. Da Sport im Fernsehen allerdings auf einer anderen Motivationsebene liege als der Sport in den Stadien, bestehe eine indirekte Konkurrenz, die erst zum Tragen komme, wenn mehrere ungünstige Bedingungen, wie technische Bedingungen der Stadien, Wetterverhältnisse und so weiter zusammenträfen. Ähnliche Erklärungen kursierten seit den 1950er Jahren auch in englischen Analysen über die missing millions, die ehemals die Fußballstadien bevölkert hatten. So stellte beispielsweise der Bericht des Department of Education and Science zur Krise des englischen Fußballs 1968 fest, dass tiefgreifende soziale Veränderungen stattgefunden hätten, die einen Wandel des Freizeitverhaltens bewirkt und dazu geführt hatten, dass immer mehr Menschen den Fußballsport im Fernsehen verfolgten5. Dies sei nur verständlich angesichts der Tatsache, dass die meisten Stadien unzureichend vor Wind und Wetter geschützt seien und kaum Komfort böten. Ein Großteil der befragten Zuschauer nannte »cold and wet weather and lack of seating, covered stands and good toilet facilities as their main reasons for not attending more often«. 3 Kicker-Sportmagazin vom 15.1.1973: »Ist die Bundesliga wirklich so schlecht?« 4 Infratest, Die Situation der deutschen Fußball-Bundesliga. 1970/1971, München 1971, S. 77, das Folgende nach ebenda, S. 57 (Zitat), S. 63 und S. 72. 5 Vgl. Department of Education and Science, Report of the Committee on Football, London 1968, S. 41; das folgende Zitat findet sich ebenda.

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Dieselben Stadien, die in den 1940er und 1950er Jahren noch überquollen vor Fußballbegeisterten, schienen den allgemeinen Ansprüchen immer weniger zu genügen. Die häufig wiederholte Kritik an fehlendem Komfort und ungenügendem Schutz vor schlechten Witterungsverhältnissen spiegelt jedoch nicht unbedingt eine objektive Verschlechterung der Stadien wider, sondern verweist vielmehr auf einen Wandel von Wahrnehmung und Geschmack im Zuge der Wohlstandsentwicklung. So war ein zentrales Merkmal der entstehenden Konsumgesellschaft in England und der Bundesrepublik deren ausgeprägte Häuslichkeit. Die typischen Konsumgüter der Boom-Ära wie Kühlschrank, Staubsauger, Fernseher und Telefon zeugen von der »Verhäuslichung«6 der Gesellschaft, indem sie dafür sorgten, dass das Zuhause ein komfortabler und einladender Ort der Alltags- und Freizeitgestaltung wurde. »Houses were warmer, cleaner, more comfortable and fresher smelling. And as people equipped their rooms with more lamps (and used stronger bulbs), they also became brighter and better lit. Brown paint, the pre-war favourite because it didn’t show the dirt, was replaced by white, the most popular colour for DIY decorating. Hard surfaces were replaced by soft, with linoleum, for example, giving way to carpets. […] Houses looked, felt, sounded and smelled different: They were transformed not just by new ­appliances but by a new aesthetic, a new sensory regime.«7

Angesichts der gesellschaftsprägenden Komforterfahrung im eigenen Wohnraum ist es nicht verwunderlich, dass auch das Fußballstadion nun mit anderen Augen gesehen wurde. Die englischen Anlagen, die zum Teil noch aus dem 19. Jahrhundert stammten sowie die deutschen »Kampfbahnen« der 1920er Jahre hatten vor allem den Zweck, möglichst viele Menschen auf einmal unterzubringen – der Qualität der Stadien und dem Wohlbefinden der Zuschauer war beim Bau nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt worden8. In der Bundes­republik brachte die Weltmeisterschaft von 1974 zwar einen Entwicklungsschub, da zahlreiche Stadien neuoder umgebaut wurden und eine größere Anzahl von Sitzplätzen, mehr Über­ dachungen und einen besseren Service boten9. Den Zuschauerschwund konnten die liebevoll »Betonschüsseln« genannten, modernisierten Stadien und der Erfolg der Nationalmannschaft im eigenen Land jedoch nur kurzfristig aufhalten. Als konkurrierender Schauplatz des Fußballkonsums hatte sich seit Mitte der 1950er Jahre das Fernsehen etabliert. Während noch 1949 zwei Drittel der 6 Den Gegenpol zur Häuslichkeit bildete die zugleich zunehmende Mobilität durch Verbreitung des Automobils, deren Effekte auf den Fußballkonsum – Erosion des Lokalen, Aus­ weitung der mental maps – an dieser Stelle nicht ausführlich dargestellt werden können. 7 James Obelkevich, Consumption, in: ders./Peter Caterall (Hrsg.), Understanding post-war British Society, London 1994, S. 141–154, hier S. 147. 8 Vgl. Rod Sheard, The Stadium. Architecture for the New Global Culture, Hongkong 2008, S. 103. 9 Vgl. Kay Schiller, Bundesliga-Krise und Fußball-Weltmeisterschaft 1974, in: Wolfram Pyta (Hrsg.), Geschichte des Fußballs in Deutschland und Europa seit 1954, Stuttgart 2013, S. 139–155.

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Briten keine Erfahrung mit dem neuen Medium hatten, fand eine Studie aus dem Jahr 1959 heraus, dass zu diesem Zeitpunkt bereits 60 Prozent der Erwachsenen durchschnittlich 3,5 bis 5 Stunden täglich fernsahen10. In der Bundesrepublik begann der Siegeszug des Fernsehens als Massenmedium im letzten Drittel der 1950er Jahre11. Das TV-Gerät war im Verbund mit anderen Haus­halts­geräten strukturgebend für die »langfristige Bewegung von ›Behausungen‹ hin zum ›Zuhause‹«12 und ermöglichte die Integration des Fußballs in die Kultur der Home Centred Society, indem es das Spiel direkt ins heimische Wohnzimmer ausstrahlte. Im Gegensatz zum schwindenden Stadionpublikum verzeichneten die in England und der Bundesrepublik beliebtesten Fußballsendungen, Match of the Day der BBC und die von der ARD ausgestrahlte Sportschau, ein konstant hohes Zuschauerniveau13. Das Publikum verlagerte jedoch nicht bloß seinen Ort vor das TV-Gerät, sondern die Möglichkeiten des Fernsehens veränderten auch die Wahrnehmung des Spiels. Schien die Fernsehübertragung eines Fußballspiels bis Mitte der 1950er Jahre eher ein schlechteres, weil unscharfes und statisches Abbild des Originals zu sein, ermöglichte die technische Entwicklung der 1960er und 1970er Jahre die Entstehung eines eigenen Regeln folgenden »Fernsehfußballs«14. Eine verbesserte Bild- und Tonqualität, der Einsatz mehrerer Kameras sowie die Entwicklung des Farbfernsehens und der Zoomtechnik ermöglichten nicht nur eine realistischere Darstellung des Spiels und der Atmosphäre im Stadion, sondern boten dem Zuschauer exklusive Perspektiven, die von einem einzelnen Tribünenplatz aus niemals erfahrbar gewesen wären. Durch weitere Techniken wurde die Intensität und Dramatik eines Spiels künstlich erhöht: Kamera- und Filmschnitte, Wiederholungen, Zeitlupen und Nahaufnahmen bewirkten eine Verdichtung der spannenden Handlung auf kleineren Raum und kürzere Zeit15. Um die Zuschauer auch emotional zu fesseln, wurden einzelne Charaktere herausgehoben und besonders versierte Spieler zu Stars stilisiert. Die Fernseh-Inszenierung von George Best, Franz Beckenbauer, Günter Netzer und anderen reichte bis in deren Privatleben, wodurch das Unterhaltungsbedürfnis der Zuschauer angesprochen werden sollte. 10 Vgl. Dominic Sandbrook, Never Had it so Good. A History of Britain from Suez to the Beatles, London 2005, S. 383 ff. 11 Vgl. Axel Schildt/Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik – 1945 bis zur Gegenwart, Bonn 2009, S. 197. 12 John Hartley, Die Behausung des Fernsehens. Ein Film, ein Kühlschrank und Sozialdemokratie, in: Ralf Adelmann u. a. (Hrsg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, S. 253–280, hier S. 271. 13 Vgl. Josef Hackforth, Sport im Fernsehen, Münster 1975, S. 90; Jack Williams, Entertaining the Nation. A Social History of British Television, Gloucestershire 2004, S. 206. 14 Vgl. Christiane Eisenberg, Medienfußball. Entstehung und Entwicklung einer transnationalen Kultur, in: GuG 31 (2005), S. 586–609, hier S. 594. 15 Vgl. Garry Whannel, Fields in Vision. Television Sport, and Cultural Transformation, London 1992, S. 95.

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Bei den Fußballverbänden und -vereinen stand man der neuen Ästhetik des Fernsehfußballs eher kritisch gegenüber, da die Zusammenfassung der Highlights eines Spiels das Publikum zu sehr zu verwöhnen schien. So beschwerte sich die Football Association in ihrem Jahresbericht 1973/74, »Edited television versions of top-class matches on both channels have made the public as selective as they are over cinema shows. They wish to see only the best. What incentive has the spectator to watch, say, Darlington or Hartepool, on a bitterly cold afternoon, when he can see a First Division game from the comfort of his own armchair in the evening?«16

Trotz dieser ersten Medialisierung des Fußballsports in den 1960er und 1970er Jahren, waren die Unterschiede zum heutigen Medienspektakel groß. Da sich die Fernsehpräsenz für den einzelnen Verein finanziell kaum auszahlte  – die Entschädigung durch die Fernsehanstalten deckte bei weitem nicht die Einnahmeausfälle an den Stadionkassen ab – standen die Fußballverantwortlichen den Fernsehmachern eher feindselig gegenüber. Live-Übertragungen wurden nur in Ausnahmefällen gewährt, meist musste sich das Publikum mit kurzen Zusammenfassungen ausgewählter Spiele begnügen. Das Fernsehen wiederum blockierte in Berufung auf seinen öffentlich-rechtlichen Auftrag die Versuche der Fußballoberen, durch fernsehgerecht postierte Werbemaßnahmen die Finanzlage der Vereine zu verbessern, und zeigte sich insgesamt wenig innovations­ freudig17. Die Konstellationen und Argumente unterschieden sich in England und Westdeutschland kaum voneinander. Die späten 1970er und die 1980er Jahre waren im Vereinsfußball von Stagnation und Niedergangsrhetorik gekennzeichnet, während sich in anderen Freizeit­ bereichen die Konsumdynamiken beschleunigten – man denke an den Tennisboom oder die Fitnesswelle der 1980er Jahre. Der Zuschauerschwund in den Stadien nahm in den 1980er Jahren noch einmal zu. Waren zuvor das Fernsehen und die Bequemlichkeit der »satten Bürger« verantwortlich gemacht worden, stellten seit Mitte der 1970er Jahre Rowdytum und Hooliganismus in der öffentlichen Wahrnehmung alle anderen Gründe für das Ausbleiben der Zuschauer in den Schatten. 1980 zeichnete der »Kicker« ein »Horrorbild«: »Ein Typ von Fußballfan beherrscht die ganze Bandbreite des Begriffs. Der typische Fußballfan, so das gängige Bild, ›säuft, grölt, putzt sich in Vereinsfarben, macht Putz und ist eine ziemlich arme Sau‹. Fan = Fusel, Fahne, Flachmann.«18

16 The Football Association, A Season of Declining Interest, in: Year Book 1973/74, S. 66–69, hier S. 67. 17 Vgl. Hannah Jonas, Vom »Erzfeind hinter der Linse« zur Vermarktungsplattform. Fußball und Fernsehen in der Bundesrepublik, in: Morten Reitmayer/Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014, S. 109–121. 18 Kicker-Sportmagazin vom 28.4.1980: »Fans« (Ulrich Pramann).

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Die ebenso unübersehbare wie unerwünschte Präsenz gewaltbereiter Fans in den Stadien wurde zwar häufig als »englische Krankheit« bezeichnet, da bereits in den 1960er Jahren eine Zunahme der Gewalt unter britischen Fußballanhängern beklagt wurde, jedoch handelte es sich spätestens in den 1980er Jahren um ein europäisches Problem. Das schlechte Image der Stadionbesucher wirkte sich jedoch kaum auf das allgemeine Interesse am Fernsehfußball aus. Auf dem Tiefpunkt der Krise des englischen und deutschen Vereinsfußballs, als 1989 die Stadionkatastrophe von Hillsbourough internationales Entsetzen hervorrief und weniger Zuschauer ihren Weg in die Stadien fanden als je zuvor, wurde Fußball gleichzeitig zu einer der begehrtesten Waren auf dem deregulierten euro­ päischen Fernsehmarkt. Technische Neuerungen wie Kabel- und privates Satellitenfernsehen, die eine Ausweitung der Sendekapazitäten ermöglichten, und ein politisches Klima, das Deregulierung und Privatisierung begünstigte, führten Ende der 1980er Jahre zur Öffnung von Funk und Fernsehen für private, kommerziell betriebene Anbieter – eine Entwicklung, die in den westeuropäischen Industrienationen nahezu zeitgleich stattfand19. Für die neu gegründeten privaten Sender eigneten sich Fußballübertragungen zur Erschließung des Zuschauermarkts in besonderem Maße: Erstens wurden die Übertragungsrechte von den Fußballverbänden nur an einen einzigen Sender verkauft und boten dadurch einen exklusiven Zugang zu begehrten Zielgruppen. Zweitens waren Fußballübertragungen bei einem sehr großen Teil  der Bevölkerung beliebt, weshalb üppige Einnahmen durch Werbekunden garantiert schienen. Drittens konnte ein Fußballspiel immer als einzigartiges Ereignis vermarktet werden, was bei teuer erworbenen Filmen, die bereits im Kino gezeigt worden waren, nicht der Fall war. Das alles führte dazu, dass private Rundfunkanstalten bereit waren, schwindelerregende Summen für Fußball-Übertragungsrechte zu bezahlen. Die seit Jahrzehnten bestehenden Konfliktlinien zwischen Fußballfunktionären und Fernsehverantwortlichen lösten sich dadurch mit einem Schlag auf. Ins­ besondere hatten die privaten Rundfunkanbieter keinerlei Berührungsängste mit Werbung oder Sponsoring im Fußball – im Gegenteil: Werbung war integraler Bestandteil der Inszenierung, denn wer viel Geld für das Sponsoring einer Fußballmannschaft ausgab, investierte womöglich auch bereitwillig in einen Werbespot. Für die Zuschauer änderte sich mit dem Siegeszug des Privatfernsehens zunächst vor allem die Darstellung des Fußballs. Das Prinzip der objektiven Berichterstattung wurde durch eine Strategie der positiven Vermarktung ersetzt, denn die privaten Anbieter hatten, wie es Werder Bremens Manager Willi Lemke Anfang der 1990er ausdrückte, »unheimlich viel Geld bezahlt und wäre[n] ja be19 Vgl. Andrew Crisell, An Introductory History of British Broadcasting, London/New York 1997, S. 210–245; Rüdiger Steinmetz, Initiativen und Durchsetzung privat-kommerziellen Rundfunks, in: Jürgen Wilke (Hrsg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Köln u. a. 1999, S. 167–191.

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scheuert, die eigene Ware schlechtzumachen«20. Der Anspruch des britischen Satellitensenders BSkyB umfasste nichts Geringeres als »creating a new audience and a new generation of fans«21. Die dazu eingesetzten Mittel der Dramatisierung und Emotionalisierung waren zwar nicht neu, jedoch ließen die offensive Anwendung dieser Prinzipien und die Geschwindigkeit der Bilder die bekannte Ästhetik verblassen. Umberto Eco prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des »Neofernsehens«, das sich  – in Abgrenzung vom vorhergehenden »Paläofernsehen« – durch einen neuen Wirklichkeitsbezug des Bildes auszeichne22. Der Blick gehe nun nicht mehr wie beim berühmten Fenster zur Welt durch das Fernsehbild hindurch, sondern jenes mache in einer völlig neuen Ästhetik – insbesondere durch die Intensivierung aller visuellen Strategien – auf sich selbst aufmerksam. Genau diese künstliche Intensität stieß bei Fußballfreunden jedoch auch auf Widerstand, wie die deutlichen Worte eines Journalisten vom Nachrichten­ magazin »Der Spiegel« offenbaren: »In den TV-Studios zerlegen Redakteure teure Fußballspiele wie der Schlachter das Rind. Die feine Ware wird verkauft, der Abfall zu Edelsalami zusammengerührt. Auf diese Weise komponieren sie das Spiel neu, peppen es modisch auf und flicken daraus […] ein glitzerndes Werk aus ›heiligen Nichtigkeiten‹. Daß sie es verändern, sogar permanent verfälschen, stört weder Zuschauer noch Athleten: Eine neue Wirklichkeit entsteht, und das Abbild ist schöner, schneller, schillernder als das Original.«23

Auch in der englischen Presse fragte man sich, »what should be made of the whole new ball game, with its desperate glitz and clatter, dancing girls and fireworks, and painted faces where crowds used to be? […] BSkyB’s presentation of football is a mixture of Steven Spielberg and Busby Berkeley […]. Almost everything is interviewed, including the pitch. Presumably someone will get around to asking the ball how it feels.«24

Über die neuen Formen der Darstellung des Spiels hinaus beeinflusste der NeoFernsehfußball der 1990er Jahre auch die Orte des Fußballkonsums. Auffälligstes Merkmal war hier die Expansion des Fernsehens in den Außenraum: Die Übertragung von Live-Begegnungen im Bezahlfernsehen (in der Bundesliga erstmals 1991 durch den Sender Premiere, in englischen Premier League ab 1992 durch BSkyB) führte dazu, dass vermehrt kollektives Fernsehen in Gaststätten oder auch bei Freunden stattfand, die eine entsprechende Lizenz erworben hatten25. 20 Der Spiegel vom 7.3.1994: »›Raus aus dem Dschungel‹. Werder Bremens Manager Willi Lemke über Vermarktung und Solidarität in der Bundesliga«. 21 The Guardian vom 12.8.1992: »BSkyB Dishes up a New Ball Game in Fight for Soccer Fans«. 22 Vgl. Umberto Eco, TV – La Transparence Perdue, in: ders., La Guerre du Faux, Paris 1985; zit. nach: Lorenz Engell, Fernsehtheorie zur Einführung, Hamburg 2012, S. 44 f. 23 Der Spiegel vom 2.1.1995: »Die erigierte Freude«. 24 The Guardian vom 22.8.1992: »Little Uplift in the New Ball Game«. 25 Vgl. Mike Weed, The Pub as a Virtual Football Fandom Venue: An Alternative to »Being There«?, in: Soccer & Society 8 (2007), S. 399–414.

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Das public viewing führte auf öffentlichen Plätzen zu einer neuen punktuellen Fernsehkultur, die auch dadurch konstituiert ist, dass die Emotionen der Anwesenden Zuschauer durch Live-Schaltungen jederzeit selbst zum Gegenstand der Fernsehübertragung werden können26. Während das Fernsehen lange Zeit eher Fluch als Segen für die Attraktivität von Fußballspielen im Stadion zu sein schien, änderten sich nun die Vorzeichen: Etwa seit 1990 verzeichneten die englische und deutsche Profiliga einen Zuschauerboom, der bis in die Gegenwart anhält. Aufgewertet wurde der Stadionbesuch zum einen durch die bereits genannte positive Vermarktungsstrategie der privaten Fernsehanbieter. Diese beschränkte sich nicht auf die Dramatisierung und Ästhetisierung des Spiels an sich, sondern nutzte auch die Emotionen der anwesenden Zuschauer als zentralen Bestandteil der Inszenierung. Durch das Einfangen möglichst vieler intensiver Momente des Mitfieberns und Jubelns wurden zahlreiche Menschen ins Stadion gelockt, die derartiges selbst und hautnah erleben wollten. Zum anderen eröffneten die nun reichlich fließenden Fernseh- und Sponsorengelder auch neue Möglichkeiten für Design und Ausstattung der Stadien. Akustische Überlegungen und die Erkenntnis, dass aktive Beteiligung der Zuschauer maßgeblich für die gute Stimmung im Stadion sei, die es unbedingt für die Fernseh-Darstellung einzufangen gelte, führten dazu, dass neue Stadien kleiner und geschlossener konstruiert wurden. Garry Whannel geht sogar so weit zu behaupten, Stadien übernähmen mit riesigen Bildschirmen, auf denen Nahaufnahmen, Zeitlupenwiederholungen und Werbung zu sehen seien, zunehmend die Funktion eines zusätzlichen Fernsehstudios27. »Könnte man die Geschichte des modernen Stadionbaus als Video im Schnelldurchlauf betrachten«, brachte der Kunsttheoretiker Camiel van Winkel die Stadionentwicklung des 20. Jahrhunderts auf eine knappe Formel, »würde eine langwierige und kontinuierliche Einschließung der Masse sichtbar. Diese Bewegung – wie eine Auster, die sich langsam schließt – wird symbolisch durch jene Schiebedächer wiederholt, mit denen die neuesten Stadien seit den 1990er Jahren ausgestattet sind.«28

Die 2005 eröffnete »Allianz Arena« des FC Bayern Münchens ist ein gutes Beispiel für dieses Prinzip der »verdichteten Atmosphäre«: Am augenfälligsten ist hier die geschlossene Optik durch Fassade und Dachkonstruktion. Erbaut als reines Fußballstadion, sitzen die Zuschauer dicht am Spielfeldrand und können 26 Vgl. Anna McCarthy, Ambient Television, Durham 2001; Knut Hickethier, Europa und die Wirklichkeiten der Fernsehgesellschaft, in: Ute Daniel/Axel Schildt (Hrsg.), Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, Köln u. a. 2010, S. 149–174, hier S. 149. 27 Vgl. Whannel, Fields, S. 98. 28 Camiel van Winkel, Tanz, Disziplin, Dichte und Tod. Die Masse im Stadion, in: Matthias Marschik u. a. (Hrsg.), Das Stadion. Geschichte, Architektur, Politik Ökonomie, Wien 2005, S. 229–257, hier S. 251.

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sich dank ausreichend bezahlbarer Stehplätze für »Stimmungsmacher« von der so intensivierten Atmosphäre mitreißen lassen. Die Zuschauerränge sind dennoch so weit segmentiert, dass – vom Business-Seat bis zum Familienblock – auf engstem Raum einigermaßen homogene Gruppen gebildet und »soziale Irritationen« möglichst verhindert werden. So wird in der FC-Bayern-Erlebnis­welt zugleich der kollektive Event gefeiert und den individuellen Vorlieben der Gäste Rechnung getragen. Einen neuen Ort im Spektrum des Fußballkonsums bildete in jüngerer Zeit auch das Internet29. Vom Live-Ticker, über Vereins-­Websites bis hin zu zahlreichen Austausch-Foren haben sich die Möglichkeiten, am Fußballsport teilzuhaben und ihn im Gespräch zu halten hier bis ins Kleinste ausdifferenziert. Kurz zusammengefasst lässt sich sagen, dass in den 1990er Jahren eine Verschmelzung von Fußball, Medien und Wirtschaft stattfand, die das Spiel auch in der Gegenwart kennzeichnet. Vom scheinbaren Verlierer der Wohlstandsgesellschaft in den 1960er bis 1980er Jahren wurde der Profifußball somit an die vorderste Front einer Ökonomisierungsbewegung katapultiert, die sich zu jener Zeit in auch in solchen Lebensbereichen zu entfalten begann, die zuvor nicht primär nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten organisiert waren30.

3. Fußball als Ware versus »wahrer« Fußball 1991 veröffentlichte die englische Football Association ein Strategiepapier mit dem Titel Blueprint for the Future of Football, das nicht nur Einschnitte für die Organisation des Spiels zur Folge hatte, sondern auch eine Zäsur im Sprachgebrauch der Fußballverantwortlichen darstellte31. Fußball trage, so die These des Papiers, ebenso wie Kneipenbesuche und Glücksspiel, als vermeintliches working class-Vergnügen soziales und psychologisches Gepäck aus der Vergangenheit mit sich. Angesichts veränderter Interessen in der Wohlstandsgesellschaft müssten nun harte Entscheidungen getroffen werden: »The response of most sectors has been to move upmarket so as to follow the affluent ›middle-class‹ consumer in his or her pursuit and aspirations. We strongly suggest that there is a message in this for football«. Vermeintlichen Ballast der Vergangenheit abzuwerfen, wurde seit den 1980er Jahren auch in der Bundesrepublik von einer jüngeren Generation der Fußballverantwortlichen gefordert, wie aus der folgenden Äußerung des Präsidenten von Schalke 04, Hans-Joachim Fenne, hervorgeht: 29 Vgl. Raymond Boyle/Richard Haynes, Football in the New Media Age, London/New York 2004, S. 138–158. 30 So etwa auch die Kommerzialisierung der Sphären von Rundfunk, Bildung und Kultur. 31 The Football Association, Blueprint for the Future of Football, London 1991; das folgende Zitat findet sich auf S. 8 f. dieses Papiers, das von der FA in Zusammenarbeit mit Unternehmensberatungen und Universitäten erstellt wurde.

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»Wir müssen weg von dem Image, dass sich mit Fußball entweder Proleten oder Doofe beschäftigen. […] Die Malocher nehmen ab, sie und die Arbeitslosen reichen als Kundschaft nicht mehr aus. Wir brauchen die neue Mittelklasse, die jetzt vielleicht in der Freizeit lieber Tennis spielt, um sich den eigenen sozialen Aufstieg zu beweisen.«32

Aussagen wie diese verweisen auf eine bemerkenswerte Umdefinition des Profifußballs in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren33. Die Sprache des Markts hatte für die Protagonisten jenes Umbruchs nichts Anrüchiges mehr – im Gegenteil: Fußball wurde offen als Ware charakterisiert, die es auf einem Markt entsprechend der Gesetze von Angebot und Nachfrage bestmöglich zu verkaufen gelte. So begrüßte der Präsident des DFB -Ligaausschusses, Gerhard Mayer-Vorfelder, 1988 das Angebot der privaten Rundfunkanstalten mit den Worten: »Die Ware Fußball, die von den Vereinen produziert wird, kommt auf einen größeren Markt. Und weil verstärkte Nachfrage die Preise nach oben drückt, ist das für den Anbieter der Ware Fußball natürlich umso interessanter.«34

Zielgruppe der Vermarktungsbemühungen sollte in beiden Ländern eine zahlungskräftige Mittelklasse sein; insbesondere Familien galt es für das FußballErlebnis zu gewinnen. In einer Situationsanalyse zum Lizenzfußball stellte der DFB -Ligaausschuss 1989 fest, »daß nach wie vor der Frauenanteil gering ist und Fußball nicht zu den Freizeitangeboten zählt, das [sic!] unter dem Stichwort Familienfreundlichkeit zusammengefasst werden kann«35. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch der FA-Blueprint – und hatte in diesem Zusammenhang folgenden Lösungsvorschlag: »One possibly way forward, and one which appears to relate to developing consumer motivations, is to formulate out-of-home attractions not as single activities (e.g. ›going to watch a football match‹) but as integrated leisure experiences, combining the central attraction with a far broader package of associated activities such as eating. This is a route which has long been followed in the U. S. A. where sports events are enveloped in a substantial array of activities contributing to a total spectacle.«36

Die unternehmerische Wortwahl ist hier kaum zu verleugnen, was umso erstaunlicher ist, da sich sowohl die FA als auch der DFB sich lange Zeit gegen die totale Kommerzialisierung des Fußballs gesträubt hatten. Dieser Durchbruch eines an ökonomischen Prinzipien orientierten Denkens in den Führungs­ etagen der Vereine und Verbände bedeutete jedoch nicht automatisch den Abschied von allen Traditionen, sondern eher deren Integration in professionelle 32 Der Spiegel vom 14.10.1985: »Dat schöne Schalke is nich mehr«. 33 Vgl. Anthony King, The End of the Terraces. The Transformation of English Football in the 1990s, London/New York 1998, S. 120–147. 34 Der Spiegel vom 23.5.1988: »Die müssen aus dem Schmollwinkel«. 35 DFB -Ligaausschuss, Situationsanalyse Lizenzfußball, Frankfurt 1989, S. 33. 36 Football Association, Blueprint, S. 11.

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Vermarktungsstrategien. Die größte Gefahr des neuen Geldflusses schien nämlich im Verlust der emotionalen Bindung der Zuschauer durch die Gleichförmigkeit des Produkts zu bestehen. Was macht einen Verein noch aus, wenn die Spieler und Trainer ebenso austauschbar sind wie Manager, wenn eine StadionErlebniswelt der anderen gleicht und wenn die Zuschauer überall vor a­ llem in ihrer Eigenschaft als Kunden angesprochen werden? Es galt, Identifikationspotenziale zu erhalten und zu schaffen, die auf einen Mehrwert oder eine höhere Bedeutung des jeweiligen Vereins verwiesen. Wollten sich die Verantwortlichen »auf Schalke« beispielsweise Mitte der 1980er Jahre noch von den »Proleten« und »Malochern« lösen, wurde wenig später das Vermarktungspotenzial der eigenen Tradition erkannt. Ob die »Knappenkarte« als Bezahlsystem im Stadion oder die symbo­lische Über­reichung eines Brockens Kohle durch Bergleute an neue Spieler – so oft wie m ­ öglich wurde nun auf den Mythos des Bergarbeiterclubs angespielt. In England war der Bruch mit der Vergangenheit und der Übergang zur vollständigen Kommerzialisierung deutlich radikaler als in der Bundesrepublik, was nicht zuletzt an der ausgeprägteren Krise des Fußballs in den 1980er Jahren lag. Darüber hinaus war der Fußballsport durch die Zuspitzung der Gewalt­problematik in den Fokus der law-and-order Politik der britischen Premierministerin Margaret Thatcher geraten, die für eine komplette Umstrukturierung und Professionalisierung eintrat37. Ausdruck für das neue Fußballzeitalter waren die Gründung einer neuen ersten Liga, der Premier League, mit einheitlichem Vermarktungskonzept sowie der Neubau vieler Stadien, die nun kraft eines entsprechenden Gesetzes als reine Sitzplatzstadien konzipiert werden mussten. Brian Harrison bemerkte in seiner Geschichte Großbritanniens zu dieser Strategie: »During the 1980s the remedy was found: purpose-built all-seater stadia, with closer closed-circuit television surveillance to identify troublemakers […]. The whole family could then return, and in the late 1980s both attendance and gate revenue began to rise: Here commercialism and good order went together.«38

Der Umstand, dass viele Vereine ihre Stadien kurzerhand an einem anderen Ort neu errichten ließen, legt den symbolischen Bruch mit der Vergangenheit offen39. Einige Klubdirektoren, wie John Hall in Newcastle oder Stephen Gibson in Middlesbrough, erkannten das Potential der neuen Stadien für ein modernes Konzept der Stadtentwicklung und -vermarktung40. Hall bemerkte 1989:

37 Vgl. Andy McSmith, No Such Thing as Society. A History of Britain in the 1980s, London 2011, S. 306–318. 38 Brian Harrison, Finding a Role? The United Kingdom, 1970–1990, Oxford, 2010, S. 423. 39 Vgl. Simon Inglis, Football Grounds of Britain, London 1996, S. 15. 40 Vgl. John Bale, The Changing Face of Football: Stadiums and Communities, in: Soccer & Society 1 (2000), S. 91–101, hier S. 97.

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»They say you can’t regenerate the UK by shopping centres alone. But you can break into the manufacturing decline of an area by making it an attractive area. Industries won’t come just because Geordies are nice people. You have to present them with ambience, lifestyle.«41

Newcastle United und das modernisierte Stadion St. James Park symbolisierten für Hall die Identität und den Kosmopolitismus Nordenglands. Auch das Riverside Stadium des FC Middlesbrough sollte ein Zeichen für den Übergang einer vom Strukturwandel gezeichneten Region in die Dienstleistungsgesellschaft setzen, weshalb es direkt in den ehemaligen Hafenanlagen der Stadt erbaut wurde. Zwar standen die alten, baufälligen englischen Stadien, in denen es regelmäßig zu Ausschreitungen kam, schon lange bei den Fans in der Kritik, jedoch sorgten die neu aus der Erde gestampften Unterhaltungstempel, in denen Fußball zu massiv erhöhten Preisen als Erlebnis für die ganze Familie angepriesen wurde, erst recht für Befremden bei einigen Teilen der Anhängerschaft. So ist es nicht verwunderlich, dass die Wurzeln einer ernstzunehmenden Protest­bewegung gegen die Kommerzialisierung des Fußballs in England zu finden sind. Bei den Hauptakteuren dieser kritischen Fankultur handelte es sich um eine Gruppe eher gebildeter Fußballanhänger im jüngeren bis mittleren Erwachsenenalter, die den Fußballverein zum Ort einer verloren gegangenen Authentizität deklarierten, den es zu verteidigen galt. Gegen den Fußball als Kommerz wurde ein Verständnis des »wahren Fußballs« in Stellung gebracht, dessen Traditionen nicht verloren gehen dürften, da sie ein wichtiger Identitätsfaktor seien. Das Bewahrungsbedürfnis dieser kritischen Fans scheint auf den ersten Blick ein Anachronismus zur beschleunigten Dynamik der Konsumentengesellschaft in den 1990er Jahren zu sein. Bei genauerem Hinsehen finden sich jedoch die Ideen der Aufwertung des Alten, bereits verloren Geglaubten sowie des Gegensatzes von Ökonomie und Identität auch bei anderen zeitgenössischen Alternativbewegungen. Kommuniziert wurde der neue Traditionalismus erstens über Bücher wie Nick Hornbys Roman »Fever Pitch«42. Dieser internationale Bestseller konterkarierte das Bild des typischen Fußballfans, der häufig als ungebildet und gewaltbereit beschrieben wurde, indem es auf humorvolle und nostalgisch verklärte Art und Weise die langjährige Leidenschaft eines jungen Mannes – der nebenbei auch Akademiker ist – zu seinem Verein FC Arsenal beschreibt. Damit traf Hornby wohl den Nerv einer Generation junger Menschen, die in einer Zeit der verstärkten Ökonomisierung des Lebens einen Anker in Sinngebungsformen der Vergangenheit suchten. Die hier glorifizierten 1960er bis 1980er Jahre gelten nicht gerade als Glanzzeit des englischen Fußballs, jedoch bildeten sie den vermeintlich stabilen Horizont der Kindheit und Jugend jener jungen Erwachsenen der 1990er Jahre. Obwohl – oder gerade weil – der Roman in der Vergangenheit 41 Zit. nach: King, Terraces, S. 136; das Folgende nach ebenda, S. 136 ff. und S. 176–190. 42 Vgl. Nick Hornby, Fever Pitch, London 1992.

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spielt, gilt sogenannte Hornby-Effekt als wichtiger Taktgeber der Neuerfindung und Gentrifizierung des Fußballs in den 1990er Jahren43. Ein zweites Sprachrohr waren die zahlreichen Fanzines, die sich als unabhängige Vereins- oder Fußballmagazine verstanden und seit Mitte der 1980er Jahre einen Boom in England erlebten44. In seiner ersten Ausgabe kritisierte beispielsweise das bald auflagenstärkste Fanzine »When Saturday Comes« (WSC): »The clubs and the kit manufacturers are making thousands of pounds out of the ­enthusiasm of little kids for their terms, and most of it (all of it?) benefits football not one bit. In fact it’s positively harmful, because it’s another small step towards the alienation of the true supporter.«45

Die wichtigste Themen der sogenannten kritischen Fans sind hier bereits genannt: der postulierte Gegensatz zwischen dem angeblich wahren Fußball und dem Kommerz sowie die Entfremdung der »echten« Fußballfans von ihrem Sport durch die zunehmende Kommerzialisierung. Unter diesen Gesichtspunkten wurden die aktuellen Veränderungen des Fußballs aufgegriffen und bewertet. Im Falle des FA-Blueprint stießen sich die Macher von WSC vor allem an den sozialen Implikationen des Papiers: »The Blueprint seems to be signalling a deliberate move towards not only attracting the middle classes, but towards abandoning the lower classes. Am I wrong to think that the Blueprint’s authors see such tactics as the way to bring in that extra cash in the long term?«46

Tatsächlich sorgten die enorm steigenden Eintrittspreise in den Stadien für die Exklusion gewisser Teile der Anhängerschaft, was von der kritischen Fanszene als »a new method of disziplining the crowd«47 verurteilt wurde. Kritik fand vor allem der Umstand, dass soziale Probleme dadurch nicht gelöst, sondern lediglich in ökonomische umgewandelt würden. Neben der Kritik an der Kommerzialisierung des Spiels und an der pauschalen Verurteilung von Fußballfans als Hooligans trugen die Fanzines auch zur Thematisierung von Rassismus, Faschismus, Frauenfeindlichkeit und Homophobie im Fußball bei. Binnen weniger Jahre schwappte Welle der alternativen Fanbewegung auch nach Deutschland über. Der von Fans des FC St. Pauli 1989 gegründete »Millerntor Roar« war das erste deutsche Fanzine, dem in den 1990er Jahren zahlreiche weitere folgen sollten48. Seit Mitte der 1980er Jahre hatte sich 43 Vgl. John Williams, »Protect Me From What I Want«: Football Fandom, Celebrity Cultures and »New« Football in England, in: Soccer & Society 7 (2006), S. 96–114, hier S. 96–99. 44 Vgl. Richard Haynes, The Football Imagination. The Rise of the Football Fanzine Culture, Aldershot 2005. 45 When Saturday Comes 1 (1986), S. 1. 46 Adam Smith, Present Tensions, in: When Saturday Comes 43 (1990), S. 7. 47 Anthony King, New Directors, Customers, and Fans: the Transformation of English Football in the 1990s, in: Sociology of Sport Journal 14 (1997), S. 224–240, hier S. 234. 48 Vgl. Haynes, Football, S. 144.

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der FC St. Pauli als Sammelpunkt einer alternativen Fangemeinde herauskristallisiert, die sich über eine linke Gesinnung, Toleranz und »Andersartigkeit« definierte49. Voraussetzung dafür war die räumliche Nähe des Vereins zum linken Milieu der Hausbesetzerszene im Hamburger Stadtteil St. Pauli, die den zuvor eher biederen Klub für sich entdeckte und zur Plattform einer antikommerziellen, antifaschistischen, antisexistischen Lebensform machte50. Sowohl in England als auch in der Bundesrepublik institutionalisierte sich die neue Fanszene durch die Gründung landesweiter Bündnisse wie etwa der Football Supporters Association oder von BAFF 51. Zudem erregte die kritische Fanszene auch mit politischen Aktionen Aufmerksamkeit, wie etwa in England mit diversen Kampagnen zur Verhinderung der Einführung von reinen Sitzplatzstadien oder der Einführung von ID -Cards für Stadionbesucher. In Deutschland machte vor einigen Jahren die Fan-­Gruppierung »Sozialromantiker St. Pauli« mit einer Protestaktion von sich reden. Unter dem Wahlspruch »Established St. Pauli?! Es reicht!« forderte sie »Keine weiteren zusätzlichen Werbemaßnahmen in den vom Fankongress verabschiedeten Zeitfenstern! Keine weiteren Werbeflächen auf den Tribünen! Kündigung von Susis Showbar Loge! Keine LED -Anzeigen mehr im Stadion und generell keine weiteren audio-visuellen Plätze für irgendeine Werbung während der 90 Minuten! Rückbau von Teilen der Business-Seats auf der neuen Haupttribüne und Umwandlung in bezahlbare Sitzplätze! Bereitstellung von Farbe, damit die Kinder der Stadionkita ihre grauen Wände in Eigenverantwortung anmalen können!«

Zum Ziel ihrer Petition erklärten die selbsternannten »Sozialromantiker« die Verteidigung der »Insel Sankt Pauli in einer Welt, die nur noch auf die monetäre Verwertbarkeit von allem und jedem schaut, [und die Verteidigung der] Andersartigkeit auf dem Marktplatz Profifußball«52. Gerade das Beispiel St. Pauli zeigt aber auch, wie schnell die Kritik selbst wieder zum kommerziellen Trend wurde. Der Verein erzielt enorme Umsätze mit dem Verkauf von Merchandising-­Artikeln, welche die Symbole der Kommerzialisierungsgegner verwerten und auf die Andersartigkeit des vermeintlich antikommerziellen Klubs anspielen. Der Gegensatz zwischen Fußball als Ware und »wahrem« Fußball spiegelt sich gegenwärtig sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch in der Forschungsliteratur wider. Letztere offenbart eine scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen wirtschaftswissenschaftlichen Texten, die sich mit Themen wie dem »Fußballunternehmen« oder dem »Fußballstar als Marke« beschäftigen, und so49 Vgl. Brigitta Schmidt-Lauber, Der FC St. Pauli als kulturelles Ereignis. Zur Ethnographie eines Vereins, in: dies. (Hrsg.), FC St. Pauli. Zur Ethnographie eines Vereins, Münster 2004, S. 9–33, hier S. 18 f. 50 Vgl. Tom Mathar, Mythos »politischer Fan«, in: Schmidt-Lauber (Hrsg.), FC St.  Pauli, S. 68–80, hier S. 68 f. 51 Vgl. Rex Nash, English Football Fan Groups in the 1990s: Class Representation and Fan Power, in: Soccer & Society 1 (2001), S. 39–58; Ballbesitz ist Diebstahl. 52 Sozialromantiker St. Pauli: Es reicht!; www.sozialromantiker-stpauli.de.

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zialwissenschaftlichen Arbeiten, welche den »Identitätsfaktor« Fußball durch die Kommerzialisierung des Spiels bedroht sehen53.

4. Fußball nach dem Boom: Vom Verlierer der Wohlstandsgesellschaft zum Sinnbild des Neoliberalismus? Die Entwicklung des englischen und (west-)deutschen Fußballs seit den 1960er Jahren fand nicht auf einem isolierten Feld statt, sondern war stark verflochten mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungsprozessen. Hinsichtlich seiner Chronologie weist der Wandel des Vereinsfußballs in England und der Bundesrepublik eine auffällige Konvergenz auf. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Geschichte des Fußballs eng mit den in beiden Ländern ebenfalls recht konvergenten Prozessen der Entwicklung von Wohlstands- und Konsumgesellschaft verknüpft ist. Zwei Phasen eines beschleunigter Veränderungen sind in diesem Zusammenhang erkennbar: Erstens die Zeit der 1960er und frühen 1970er Jahre, in denen sich die Wohlstandsgesellschaft herausbildete und der Fußball einen ersten Kommerzialisierungsschub erlebte, der sich in Fernsehfußball, Starkult und partiellen Modernisierungs- und Professionalisierungsmaßnahmen äußerte. Dabei war die Verlagerung des Fußballkonsums vom Stadion vor den Fernseher ein wichtiges Merkmal dieser Phase. Obwohl der professionelle Fußballsport als eines der populärsten Freizeitvergnügen der Nachkriegszeit die Voraussetzungen dafür mitbrachte, vom Erlebnishunger der Konsumgesellschaft zu profitieren, verlief der Anpassungsprozess an die gesteigerten Erwartungen nur schleppend, so dass die Krise des Fußballs bald mit dem Niedergang von Kino und Theater verglichen wurde54. Die Ursachen dafür lagen einerseits in der konservativen Haltung und oftmals wenig unternehmerischen Mentalität vieler Fußballfunktionäre in Vereinen und Verbänden, die sich gegen eine Professionalisierung der Führungsstrukturen und die marktwirtschaftliche, kundenorientierte Ausrichtung des Spiels sperrten. So hatten etwa in den Verbänden lange Zeit die Vertreter der Amateurvereine ein entscheidendes Stimmrecht, und auch die Wahl der Klubpräsidenten erfolgte oftmals eher nach populistischen Kriterien als nach Befähigung. Andererseits reduzierte das schwierige Verhältnis zum Fernsehen die Einnahmemöglichkeiten der Klubs im 53 Vgl. Frank Huber/Frederik Meyer, Der Fußballstar als Marke. Determinanten der Markenbildung am Beispiel von Lukas Podolski, Wiesbaden 2008; Christian Keller, Steuerung von Fußballunternehmen. Finanziellen und sportlichen Erfolg langfristig gestalten. Berlin 2008; Michael Schilhaneck, Zielorientiertes Management von Fußballunternehmen. Konzepte und Begründungen für ein erfolgreiches Marken- und Kundenbindungs­ management, Diss., Bayreuth 2008; Arndt Aschenbeck, Fußballfans im Abseits, Kassel 1998; Dieter Bott/Marvin Chlada/Gerd Dembowski, Ball und Birne. Zur Kritik der herrschenden Fußball- und Sportkultur, Hamburg 1998; Cornel Sandvoss, A Game of Two Halves. Football, Television and Globalization. London/New York 2003. 54 Vgl. Harrison, Finding a Role, S. 423; Sandbrook, Never Had it So Good, S. 384.

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Vergleich zu heute erheblich, was auch die Möglichkeit von Investitionen in Starspieler und Stadien einschränkte. Die Entwicklung des Profifußballs fiel aus diesen Gründen hinter die gesellschaftlichen Konsumdynamiken einer boomenden, sich immer weiter ausdifferenzierenden Freizeitsphäre zurück und kann bis Ende der 1980er Jahre nicht uneingeschränkt als typisches Beispiel für die »Eigendynamik des Wohlstands« dienen55. Zweitens markiert die Zeit um 1990 für den Fußball einen merklichen Bruch, dem eine zweite Welle der beschleunigter Kommerzialisierung folgte. Dadurch, dass die Deregulierung des Fernsehens mit dem mentalen Wandel bei einer Generation von Fußballfunktionären zusammenfiel, die nun keine Scheu mehr vor unternehmerischen Prinzipien zeigte, konnte ein völlig neues Verhältnis zwischen beiden Parteien entstehen: Die Symbiose zwischen Fußball und Medien formte im Verein mit der Wirtschaft Darstellung und Verkaufsstrategien des zuvor oftmals als rückständig gebrandmarkten Spiels so wirkmächtig um, dass es zum Sinnbild einer aggressiveren Kultur der Vermarktung in den 1990er Jahren avancierte, die häufig mit dem negativ konnotierten Begriff »neoliberal« charakterisiert wurde. Bedeutsam wird das Beispiel vor allem dadurch, dass beide Bereiche, Fußball und Fernsehen, zuvor nicht nach rein ökonomischen Kriterien organisiert waren, so dass die Kommerzialisierung hier mit besonderer Wucht auftrat56. Die beschriebene Intensivierung der visuellen Strategien im TV sowie die Umgestaltung der Stadien zu Unterhaltungstempeln und riesigen Fernsehkulissen zeigen, wie sich diese Entwicklung auch auf die Orte des Fußballkonsums niederschlug. Wenn man die Perspektive weitet und den Blick vom Fußball auf allgemeinere Entwicklungen lenkt, treten weitere Verwandtschaften hervor: Zum einen erscheint Fußball als Teil einer – in den Worten der Kultursoziologin Roberta Sassatelli – »postfordistischen Konsumkultur«, die seit den 1970er Jahren Gestalt annahm und sich in den 1990er Jahren voll entfaltete57. Ihre Charakteristika sind die Betonung des Individuums und der Individualität der Konsumstile, die Ästhetisierung von Produkten und Dienstleistungen sowie zugleich auch die Standardisierung der Erfahrung durch Themenparks oder die thematischen Organisation von Restaurants, Geschäften und anderen öffentlichen Orten58. Diese Merkmale 55 Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 60–63. Die Autoren sprechen davon, weil die Konsumgesellschaft sich trotz der Erosion des materiellen Fundaments in den 1970er Jahren weiter entfaltete. Der Fußball gehörte dagegen gewissermaßen bereits vorher zu den Verlierern des Nachkriegsbooms. 56 Die Kommerzialisierung des Fußballs war zwar kein ganz neues Phänomen, jedoch erreichte die Ökonomisierung des Spiels in den 1990er Jahren eine neue Qualität. 57 Vgl. Roberta Sassatelli, Consumer Culture, History, Theory and Politics, London 2007, S. 49 ff. Die postfordistische Konsum-Ära wird hier durch den Kontrast zum standardisierten Massenkonsum des Fordismus charakterisiert. Vgl. hierzu auch das Konzept des Übergangs »von der Konsum- zur »Konsumentengesellschaft« bei Doering-Manteuffel/ Raphael, Nach dem Boom, S. 123–127. 58 Vgl. Sassatelli, Consumer Culture, S. 48 f.

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finden sich im gegenwärtigen Fußball wieder, sei es in der Ausdifferenzierung des Angebots an Fanartikeln und Stadionsegmenten für die unterschiedlichsten Stile des individuellen Fantums, sei es in der Ästhetisierung des Fußballs als Fernsehspektakel oder sei es in der Stilisierung des Stadions zur Klub-Erlebniswelt. Zum anderen gehörte der Fußball im Besonderen ebenso wie der Profi-Sport im Allgemeinen ähnlich wie Bereiche der Kultur, der Wissenschaft oder der Bildung zu den Einfallstoren für marktorientierte Ordnungsvorstellungen außerhalb von Industrie, Handel, Gewerbe oder Finanzen59. Dass dieser Übergang nicht ohne Schwierigkeiten vonstatten ging, zeigt im Fußball die Entstehung einer kommerzialisierungskritischen Protestbewegung. Die Moralisierung des Fußballkonsums durch die Unterscheidung zwischen »authentischen«, also vermeintlich traditionellen Konsumpraktiken (etwa das Aufsuchen von nicht überdachten Stehplätzen an einem Regentag), und »entfremdeten« Formen (etwa das Ansehen des Spiels als werbegetränktes TV-Drama oder der Besuch von VIP-Logen) stand den Prinzipien der Konsumentengesellschaft jedoch in keiner Weise entgegen. Durch den Einsatz der kritischen Fans erhielt der Fußball stattdessen genau in dem Moment ein positives traditionelles Image, als dieser den radikalsten Veränderungen unterworfen war. Dies machte das Spiel trotz – oder gerade wegen – der umfassenden Ökonomisierung attraktiv und anknüpfungsfähig für jene Anhänger, die d ­ ieser Entwicklung skeptisch gegenüber standen. »The connection with the past facilitates the new consumption of football because it enables fans to imagine that, despite the novelty of football in the 1990s, it is actually founded in the traditions of the past. In this way, new football writing enables those individuals who have become interested in football in the 1990s to consume the game.«60

Die Kritik am Konsumismus führte kurzerhand zu einem alternativen Konsumstil. Damit befand sich der Fußball in bester Gesellschaft zu anderen Konsum­ gütern, die ebenfalls auf die Bewahrung des Alten, verloren Geglaubten und moralisch Wertvollen abzielten. Der häufig postulierte Gegensatz zwischen Identität und Konsum/Kommerz erscheint dadurch eher als notwendiges Konstrukt denn als handfester Tatbestand. Gerade durch das Zusammenfallen von ökonomischen Motiven mit Fragen der Identitätsbildung liefert die Geschichte des Fußballs ein vielschichtiges Bild der Veränderungen und Aushandlungsprozesse, die in England und (West-) Deutschland seit den 1960er Jahren stattfanden. Ob man die Beobachtung einer besonderen Bedeutung der 1990er Jahre verallgemeinern kann und diese womöglich eine weitere Zäsur in der Vorgeschichte der Gegenwart darstellen, wird sich vermutlich erst in Zukunft und mit Blick auf Forschungsergebnisse aus weiteren Bereichen beurteilen lassen.

59 Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 8. 60 King, Terraces, S. 187 f.

Tobias Dietrich

Laufen nach dem Boom Eine dreifache Konsumgeschichte?

1. Der Turnschuh als Erzählung Wiesbaden, 12.  Dezember 1985. Joschka Fischer wählte ausgerechnet den seit 1984 millionenfach verkauften Basketballstiefel des US -Herstellers Nike, um seinen unkonventionellen Amtsantritt als hessischer Umweltminister zu inszenieren1. Erinnert man sich an diese Episode und an den Schweiß in Fischers Angesicht, der sich rund fünfzehn Jahre später mehrfach der Qual eines Marathonlaufs unterzog, so lässt sich die modische, politische und sportliche Karriere dieses Politikers historisieren. Es wird die Bedeutung erkennbar, die dem Spiel mit dem Sport im Rahmen von Fremd- und Selbstinszenierungen in den 1980er und 1990er Jahren zukam. Das war dem Außenminister der ersten rot-grünen Bundesregierung bewusst, als er 1999 schrieb: »Wenn ein prominenter Politiker in Bonn anfängt zu laufen und gar seine Figur so grundsätzlich verändert, dass aus einem Mops ein hagerer Asket wird, ist es nur eine Frage allerkürzester Zeit, bis der erste Journalist darauf aufmerksam wird, dann folgt der erste Fotograf, dann erscheint mit Sicherheit die erste Meldung mit dem ersten Foto in einer Zeitung, und dann nimmt das Schicksal endgültig seinen Lauf, das heißt, die ganze Angelegenheit wird zu einem jener überaus bedeutsamen Medienereignisse, die sich heutzutage zunehmender Beliebtheit erfreuen.«2

Zwar gab es den Marathonlauf schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, doch erst mit der Erfindung des Jogging, synonym als Dauerlauf bezeichnet, wurde er Ende der 1960er Jahre populär. Seit den 1970er Jahren entwickelte sich diese Bewegungsform zu einem Gegenstand der Sportkonsumkultur, die vor allem Angehörige der sogenannten Mittelschicht anzog, mithin Personen, die eine ausgeprägte Kaufkraft besaßen und die sich – um mit dem Zeitgenossen Pierre Bourdieu zu sprechen – »bekanntermaßen um ihr Äußeres […] erhebliche Gedanken« machten3. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht die Geschichte des Ausdauersports, die als Sonde dient, um auszuloten, inwieweit eine neue körperliche Praxis unter 1 Vgl. Süddeutsche Zeitung (online-Ausgabe ) vom 17.5.2010: »Mit Verlaub, Sie haben lässige Schuhe!« 2 Joschka Fischer, Mein langer Lauf zu mir selbst, Köln 1999, S. 99. 3 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982, S. 340.

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den Bedingungen der Konsumgesellschaft diskursiv und praktisch vorgeformt wurde und welche Handlungsspielräume bestanden. Galten nach dem Boom für den Umgang mit dem Körper die Spielregeln der Konsumgesellschaft oder partizipierten die Akteure  – wie das Beispiel Joschka Fischer andeutet  – an einer kommodifizierenden Konsumentengesellschaft? Um Antworten zu geben, gilt es nachfolgend, drei Erzählstränge zu verfolgen: Die Geschichte des Markts spiegelt sich in der Unternehmensgeschichte der Sportartikelproduzenten seit den 1970er Jahren. Sie stellt den strukturellen Rahmen für eine Konsumgeschichte dar, die die Beziehung zwischen den Produzenten, den Produkten und den Konsumenten historisiert. Die Konsumentengeschichte zielt schließlich darauf, die Identitäten der Konsumenten typologisierend und exemplarisch zu beleuchten.

2. Der Sportartikelboom der 1970er und 1980er Jahre Am 31.  Juli 1976 passierte Waldemar Cierpinski aus Halle an der Saale eine knappe Minute vor dem US -Amerikaner Frank Shorter die Ziellinie des olympischen Marathonlaufs von Montreal und gewann damit die Goldmedaille in einer Zeit von knapp unter zwei Stunden und zehn Minuten. Geoff Hollister, erster Vertriebsleiter des Sportartikelproduzenten Nike, verbrachte daraufhin die nächsten acht Tage depressiv im Bett: Was war passiert? Cierpinski trug Laufschuhe von Adidas, doch das war nicht Hollisters Problem, denn er betrachtete das Herzogenauracher Familienunternehmen ohnehin als die Nummer eins unter den Sportartikelherstellern – eine Position, die der Konkurrent freilich weniger seinen Produkten als seiner Finanzkraft zu verdanken habe, wie Hollister später schrieb: »Sie trugen Aktentaschen und sie waren die Nummer eins, wenn es um die Einkleidung der Mannschaften ging. In der Welt des ›Scheinamateurismus‹ wussten wir, was sich in den Aktentaschen befand: Bargeld zum Bezahlen der Athleten. Da konnten wir nicht mithalten.«4

Was dem Nike-Vertriebsleiter so zu schaffen machte, war weniger der Erfolg von Adidas als die Tatsache, dass das eigene Marketingkonzept nicht aufgegangen war. Da Nike den Marktführer aus Mittelfranken nicht auf breiter Front attackie­ ren konnte, setzte das noch junge und kleine Unternehmen auf eine überzeugende Warenpolitik, um sich sowohl vom Branchenprimus als auch vom konkurrierenden Laufschuhspezialisten Tiger abzugrenzen. Dafür hatte Hollister 1975 Frank Shorter kontaktiert, den Olympiasieger von 1972, der das Gesicht einer neuen Werbekampagne werden sollte. Shorter trug eigentlich Schuhe der japanischen Konkurrenz, unterzeichnete aber einen Vertrag mit Nike, in dem er sich drei Jahre an das Unternehmen und dessen Schuhe band. An seinen Bedürf4 Geoff Hollister, Nikes Weg zum Erfolg. Die Inside-Story. Wie Nike die Kultur des Laufens schuf, Aachen 2008, S. 159; zum Folgenden vgl. ebenda, S. 162 f.

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nissen orientiert experimentierten die Nike-Techniker mit Obermaterialien und Sohlen, um den Anforderungen des Spitzenläufers gerecht zu werden. In den Tagen vor dem olympischen Wettbewerb  – Shorter hatte zuvor zahlreiche Wettkämpfe für sich entschieden – bat er ständig darum, Veränderungen an seinen Schuhen vorzunehmen. Kurz vor dem Marathonstart und gegen die vertragliche Vereinbarung wechselte Shorter dennoch sein Schuhwerk. Mit »Tigers« an den­ Füssen erlief er die olympische Silbermedaille im Marathonlauf, wobei sein Erfolg gleichzeitig eine Niederlage für Nike bedeutete. Diese Anekdote wirft Fragen auf. In welchem Verhältnis standen die großen Sportartikelhersteller zueinander? War Adidas in den 1970er und 1980er Jahren tatsächlich die Nummer eins oder fand ein »Zweikampf von adidas und Nike« statt5? Und boomten diese Produzenten etwa zu einer Zeit als das »Wirtschaftswunder« bereits zu Ende gegangen war? Orientiert an einer Marktgeschichte6 werden die ökonomischen Strukturen und die unternehmerischen Entscheidungen untersucht, die den lebensstilbildenden Konsum der Läufer prädis­ponier­ten. Ohne Wissen über das Verhalten von Unternehmen, ihre Zwangslagen und Spielräume7 lassen sich die Konjunkturen des Laufsports weder abbilden noch verstehen. War der Anteil dieser Sportart »only a tiny portion of a whole new industry that was being called the ›athletic market‹«8, so kam Jogging und Running doch eine Vorreiterfunktion hinsichtlich Produktentwicklung und Marketing zu. Blickt man auf den Sportartikelmarkt der 1970er Jahre, dann boten tatsächlich neben Adidas und Nike eine Vielzahl weiterer Unternehmen den Läufern ihre Produkte an. Vergleichbar mit dem deutschen Traditionsunternehmen blickten Brooks und Brütting, Converse und New Balance auf eine fast hundertjährige Geschichte zurück9. Als Hersteller von Lifestyleschuhen hatte sich vor allem Converse früh mit seinen »Chucks« einen Namen gemacht. Bis Mitte der 1970er Jahre nahm dieses Unternehmen andere Sportartikelhersteller kaum als Konkurrenten wahr. Allenfalls Keds würdigte man als Mitanbieter von »Sneakers«. Den günstigen Marktbedingungen seit 1975 folgend ging Converse 1983 an die Börse. Dass der Laufschuhmarkt boomte, belegen auch Unternehmens5 Christoph Bieber, Sneaker-Story. Der Zweikampf von adidas und Nike, Frankfurt a. M. 2000. 6 Zeitgenössische Marktvorstellungen problematisierte Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge (Mass.)/London 2011, S. 41–76. 7 Vgl. Hartmut Berghoff, Moderne Unternehmensgeschichte. Eine themen- und theorieorientierte Einführung, Paderborn u. a. 2004, S. 22. 8 Julie B. Strasser/Laurie Becklund, Swoosh, the Unauthorized Story of Nike and the Men Who Played There, San Diego 1993, S. 216. 9 Vgl. die Beiträge zur Geschichte der einzelnen Sportartikelproduzenten unter www.funding universe.com/company-histories mit weiterführender Literatur. Zu L. A. Gear vgl. ferner New York Times (online-Ausgabe) vom 22.3.1988: »Market Place. Behind the Rise in Shoe Stocks«; zu Converse vgl. Hal Peterson, Chucks! The Phenomenon of Converse  – Chuck­ Taylor All Stars, New York 2007; zu Brütting vgl. Carl-Jürgen Diem, Er erschloss die Welt zwischen Fuß und Asphalt. Der Brütting-Schuh, in: Condition 3/1994, S. 48–51.

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neugründungen. So bot L. A. Gear seit 1979 »Sneakers« für Konsumenten an, denen »Nike-Schuhe zu macho und Reebok’s zu yuppie«10 waren. Anders als L. A. Gear oder Converse wandten sich Brooks, Brütting und New Balance dezidiert an ein Publikum, das Laufsport betrieb. Für die seit den 1970er Jahren neu auftretende, große Zahl an Joggern brachten die Unternehmen Spezialschuhe auf den Markt, die in einschlägigen Vergleichstests Best­ noten erzielten, sich aber über die Gruppe der Läufer hinaus nicht weit verbreiteten. Dennoch konnte sich etwa »der kleine Laufschuhspezialist Brütting […] lange Zeit neben seinen großen Sportschuhnachbarn, Adidas und Puma, gut behaupten. Die Läufer akzeptierten den etwas höheren Preis seiner Schuhe. Schwierig wurde es für ihn, als die Amerikaner, vor allem Nike und New Balance, Anfang der achtziger Jahre massiv auf den deutschen Markt gezielt in sein Preissegment drängten.«11

Carl-Jürgen Diems positive Würdigung des Brüttingschen Schuhwerks zeigt auf, dass Laufschuhhersteller auf einen zumeist zahlungskräftigen Kundenstamm trafen, der Qualität schätzte. Ferner zeigt sich, dass erst in den 1980er Jahren ein transatlantischer Markt die vorhergehende Konzentration auf heimische Produkte ablöste. Zuvor hatten allenfalls Spitzensportler ihre Ausrüstung aus dem Ausland importiert. Ungeachtet dieser regional beschränkten Märkte erlebten die deutsche wie die US -amerikanische Volkswirtschaft seit den 1950er Jahren einen Boom12. Dieses Wachstum führte zu Unternehmensexpansionen, Wohlstand, vermehrtem Konsum und Freizeit. Neben den Schlüsselindustrien wie der Automobilbranche florierte bislang eher unbeachtet die Sportartikelbranche, der es seit den 1950er Jahren regelmäßig gelang, große Umsatzzuwächse zu erzielen und diese bis in die 1980er Jahre zu verstetigen. Auf die deutschen und amerikanischen Sportartikelproduzenten wirkte sich das Ende des Booms weniger bremsend aus als auf andere Industriezweige13. Die Branche legte, im Gegenteil, stark zu: Gelangten 1977 neun Millionen Paar Schuhe auf den US -Markt, so erhöhte sich diese Zahl innerhalb von vier Jahren um fast das Eineinhalbfache. Dies führte zu einer deutlichen Kapitalsteigerung. Für Adidas etwa gingen Experten 1977 von einem Umsatz aus, der auf rund eine Milliarde D-Mark taxiert wurde. Zehn 10 Wirtschaftswoche vom 29.1.1989, S. 50. 11 Diem, Brütting-Schuh, S. 50. 12 Vgl. Hartmut Kaelbe, Boom und gesellschaftlicher Wandel 1948–1973. Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, in: ders. (Hrsg.), Der Boom 1948–1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992, S. 219–247; Thomas Borstelmann, The 1970s. A New Global History from Civil Rights to Economic Inequality, Princeton/NJ 2012, S. 122 ff. 13 Vgl. die optimistischen Äußerungen Horst Dasslers im Vergleich zu den moderateren Bemerkungen des Ford-Managers Daniel Goeudevort: Quick vom 3.10.1985, S. 28 f. Zur weltweiten Industrieproduktion zwischen 1973 und 1997 vgl. Berghoff, Unternehmens­ geschichte, S. 141, nach Horst Siebert, The World Economy, London/New York 1999, S. 12.

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Jahre später schrieb man dem Unternehmen Dassler einen weltweiten Umsatz von drei bis vier Milliarden D-Mark zu. Vergleichbare Steigerungsraten können auch für Nike dargestellt werden. Die Unternehmenseinkünfte stiegen zwischen 1979 und 1991 um rund das zwanzigfache. 1976 verdiente Nike 35 Millionen, 1978 142 Millionen und 1980 271 Millionen DM; elf Jahre später waren es bereits circa fünf Milliarden D-Mark. Beide Unternehmen erwirtschafteten ihre größten Umsätze und Gewinne mit dem Schuhverkauf. Für die deutschen Unternehmen Puma und Adidas folgte auf die Jahre des Erfolgs seit Mitte der 1980er Jahre eine rezessive Phase, die mit erheblichen Unternehmensveränderungen, schließlich 1986 beziehungsweise 1995 mit Börsennotierungen einhergingen. Dagegen erlebten der US -Konzern Nike und zeitversetzt auch das englisch-amerikanische Unternehmen Reebok eine bis in die 1990er Jahre andauernde Hausse14. Insgesamt lässt sich die Sportartikelindustrie von den 1970er bis zu den 1990er Jahren als boomende Branche betrachten. Durch die Launenhaftigkeit dieses Markts blieb er für die einzelnen Anbieter zwar überaus dynamisch, aber teils unberechenbar, was zu Entlassungen, Umbildungen und Fusionen führte15. Differenziert man Märkte und Marktanteile, zeigt sich für Deutschland trotz deutlicher Veränderungen Kontinuität: Gefolgt von Puma konnte Adidas seine Marktführerschaft behaupten. Dies lässt sich auf die hohe Präsenz dieser Unternehmen im Fußballsport zurückführen. Dagegen konstatierte ein internes Papier des Adidas Marketing Deutschland hinsichtlich des Dauerlaufs 1993 nur noch eine geringe Wachstumstendenz im aktiven Sportbereich, »jedoch bei gleichzeitiger Verwendung von Laufschuhen im Freizeitbereich«16. Für ­Adidas erwies sich Deutschland trotz hoher Zuwachsraten für Nike und Reebok insgesamt als die »letzte Bastion«17, behielt man dort die Marktführerschaft. Weltweit geriet das Traditionsunternehmen hinsichtlich des Umsatzes an Laufschuhen gegenüber dem seit 1990 als Weltmarktführer geltenden Nike ins Hintertreffen18. Vor allem in den USA sank der Marktanteil von Adidas erheblich. Wie für Converse lag er 1985 nur bei acht Prozent, während Nike 28 Prozent und ­Reebok 13 Pro14 Zu den Wirtschaftsdaten vgl. The Runner vom August 1982, S. 62 ff., Wirtschaftswoche vom 27.2.1987, S. 106 f.; Der Spiegel vom 17.1.1972, S. 162, vom 5.8.1991, S. 218, vom 19.8.1991, S. 218, und vor allem vom 28.6.1993, S. 172 (eine Graphik zum weltweiten Umsatz von Sportartikelherstellern zwischen 1985 und 1992). Vgl. auch die jährlichen Geschäftsberichte von Nike Inc. seit 1981 (http://investors.nikeinc.com/Investors/Financial-Reports-andFilings/Annual-Reports) und adidas seit 1996 (www.adidas-group.com/de/investoren/ finanzberichte/). Die Umrechnung der Dollarbeträge in DM basiert auf den Jahresdurchschnittskursen. 15 Vgl. Wirtschaftswoche vom 8.5.1987, S. 200; Der Spiegel vom 18.6.1990, S. 108; Barbara Smit, Drei Streifen gegen Puma. Zwei verfeindete Brüder im Kampf um die Weltmarktführerschaft, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 251. 16 Adidas Firmenarchiv, ungeordnet: »Running/Leichtathletik FS 1993 adidas Marketing Deutschland«, o.P. 17 Der Spiegel vom 24.2.1992, S. 125. 18 Vgl. The Runner vom August 1982, S. 62, und Der Spiegel 28.6.1993, S. 172.

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zent des nationalen Umsatzes erzielten. Bis 1989 halbierte sich für das deutsche Sportunternehmen dieser Wert. Unisono stellten schreibende Zeitgenossen fest, dass Adidas die Laufbewegung und den damit einhergehenden Funktionswandel der Fußbekleidung vom Turnschlappen zum Modeschuh nur verspätet Beachtung geschenkt habe. Die für die Konsumentennachfrage aufmerksameren Unternehmen Reebok und Nike erreichten deutlich höhere Umsätze. Hatte Reebok 1986 mit 31 Prozent Marktanteil die Führungsposition erzielt – nicht zuletzt wegen des bequemen Aerobicschuhs »Freestyle« –, so sank sein Anteil bis 1988 um zwei auf 26 Prozent. Nike dagegen erhöhte durch die Einführung des sogenannten Air-Systems seinen Anteil auf 26 Prozent und übernahm dadurch erneut die Marktführerschaft19. Seit 1991 und bis nach 2003 führte Nike die nationale und weltweite Marktanteilsrangliste an. Adidas folgte 2003 auf dem zweiten Platz, dahinter rangierten Reebok, New Balance, Puma, Converse und schließlich Asics, weit abgeschlagen Brooks20. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass der »Zweikampf« zwischen Adidas und Nike für den US -Markt und für die Bundesrepublik Deutschland mindestens als Dreikampf zu betrachten ist.

3. Unternehmensgeschichte als Zweikampf? Adidas und Nike in den 1980er Jahren Die Geschichte von Adidas, Puma, Nike und Reebok hat hohe journalistische Aufmerksamkeit gefunden. Eine Fülle von Aufsätzen und Büchern wählten Konkurrenz- und Kampfmetaphern, um das Verhältnis der sogenannten großen Vier auf dem Sportartikelmarkt zu beschreiben. So schrieb Barbara Smit in ihrem Buch über die Dasslers auch umfassend über den Wettbewerb zwischen Adidas und Nike. Der Politikwissenschaftler Christoph Bieber destillierte aus der Berichterstattung großer amerikanischer und deutscher Zeitungen über die »SneakerStory« die Schlagzeile vom »Zweikampf von adidas und Nike«21. Die kämpferischen Topoi erlauben dynamische Erzählungen, doch in der Rückschau bestehen erhebliche Zweifel daran, dass sie der Marktgeschichte des Laufsports seit den 1970er Jahren angemessen sind. Vielmehr entsteht der Eindruck, dass eine Marketingkampagne der Firma Nike fortgeschrieben wurde, die auf einen aggressiven Wettbewerb gegenüber einem ausgewählten Konkurrenten – Adidas – setzte, 19 Vgl. Wirtschaftswoche vom 27.2.1987, S. 106; Der Spiegel vom 7.9.1987, S. 131–137; Strasser, Swoosh, S. 424, S. 482 und S. 509; Smit, Drei Streifen, S. 210. 20 Zu den Marktinformationen vgl. Strasser, Swoosh, S.  462 f.; Der Spiegel vom 2.6.1986, S. 92, vom 10.8.1987, S. 134, vom 24.2.1992, S. 124, und vom 28.6.1993, S. 172; Handelsblatt (online-Ausgabe ) vom 17.2.1989: »Reebok: Fast 300 % Umsatzwachstum in Deutschland«, und vom 2.9.1993: »Die ›Top Ten‹ der Sportartikelbranche«; Wirtschaftswoche vom 8.5.1987, S. 200; New York Times (online-Ausgabe) vom 22.3.1988: »Market Place. Behind the Rise in Shoe Stocks«; Dmitri Uvarovski, Die Übernahme von Reebok International Ltd. durch die adidas-Salomon AG , Hamburg 2009, S. 61. 21 Vgl. Smit, Drei Streifen, und Bieber, Sneaker-Story.

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um ausgehend von der Sportart Running größere Marktanteile auf dem gesamten Sportmarkt für sich zu gewinnen. Bei aller Skepsis gegenüber Konkurrenznarrativen lohnt es sich, einen Blick auf die Unternehmensgeschichte der umsatzstärksten Sportartikelproduzenten zu werfen und dabei auch die gelegentlich mit Bedenken gestellte Frage nach der Unternehmenskultur zu berücksichtigen22. Seit 1949 prägten eine »patriarchalische Stabilitätskultur« die unternehmerische Selbstwahrnehmung und das­ öffentliche Auftreten des Sportartikelherstellers Adidas. Das Familienunternehmen erlebte einen geschäftlichen Erfolg nach dem anderen, was vor allem an der persönlichen Nähe des öffentlichkeitscheuen Firmengründers Adolf Dassler zu zahlreichen Sportfunktionären, an der hohen Qualität der Produkte und an der Diversifizierung des Angebots lag. So handelte es sich im Falle des »Achill«, des ersten von Adidas hergestellten Laufschuhs, nur um ein weiteres Paar Schuhe aus einer umfassenden Angebotspalette, ohne dass die Entwicklungsabteilung zuvor Konkurrenzprodukte untersucht oder innovative Konstruktionen erprobt hatte23. Nach Dasslers Tod 1978 setzte sein Sohn Horst die eigensinnige Unternehmensführung fort. Mit seinem Tod 1987 gab das Unternehmen erstmals die Führung an familienfremde Manager ab. Die Erben verkauften den Sportartikelhersteller wenig später, der infolge seiner reduzierten Wettbewerbsfähigkeit nach Besitzerwechseln und einer fast erfolgten Zerschlagung 1995 an die Börse geführt wurde. Gleichzeitig begann Adidas, seinen Charakter als Familien­unter­ nehmen abzulegen24. Unter Herbert Hainer vollzog man endgültig den Übergang zu einer »kostenorientierten Leistungskultur«, was mit der Historisierung des eigenen Unternehmens 1999 einherging, als das fünfzigjährige Firmenjubiläum gefeiert wurde. Sieben Jahre später übernahm Adidas Reebok25; erst jetzt brach tatsächlich ein Zweikampf um Marktanteile aus. Nike trat von Anfang an weniger als Schuhhersteller und mehr als Markenvertreiber auf26. Das maßgeblich von Philip Knight geprägte US -Unternehmen setzte analog dazu seit seinen Anfängen 1962 auf eine »kostenorientierte Leistungskultur«. Zwar beschworen Sympathisanten Vorstellungen einer Firmenfamilie27, doch förderte die Angriffslust auf den deutschen Konkurrenten den Zusammen22 Zur unternehmensgeschichtlichen Debatte um Aspekte der Unternehmenskultur sowie zur hier etiketthaft verwendeten Typologie nach Herbert Matis vgl. Berghoff, Unternehmensgeschichte, S. 147–162. 23 Vgl. Der Spiegel vom 7.9.1987, S. 131, und vom 24.2.1992, S. 124. 24 Making a Difference, hrsg. von der Adidas-Salomon AG , Hamburg 1998; Smit, Drei Streifen; Adidas-Archiv: Karl-Heinz Lang/Renate Urban, Adi Dassler adidas-Salomon from the beginnings to the present. A history manual of the adidas-Salomon Group for internal use, Herzogenaurach 2003; Der Spiegel vom 2.6.1986, S. 84–103. 25 Vgl. Stefan Schmid/Thomas Kotulla, Grenzüberschreitende Akquisitionen und zentrale Konsequenzen für die internationale Marktbearbeitung. Der Fall Adidas/Reebok, Berlin 2007. 26 Vgl. Robert Goldman/Stephan Papson, Nike Culture. The Sign of the Swoosh, Thousend Oaks 1998, S. 6. 27 Vgl. Strasser, Swoosh, S. 53, S. 159 und S. 336.

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halt der Angestellten mehr als die Bewunderung für den eigenen Firmenvater. So erklärte Knight angeblich: »Adidas is Snow White. This year, we became the biggest dwarf. And next year, we’re going to get in her pants.«28 Noch sprechender war eine Illustration von Tinker Hatfield aus den 1970er Jahren, die Nike als David zeigte, der den Kampf mit dem Goliath Adidas suchte. Ende der 1980er Jahre konnten Kunden dann von Nike eine Tasche mit der Aufschrift erwerben: »One swoosh is better than three stripes.«29 Und 1991 teilte Knight schließlich mit: »Mitte der 90er Jahre wird NIKE außerhalb der USA größer sein als innerhalb des Landes. Angesichts der Schnelligkeit und Effizienz der globalen Kommunikation werden die einzelnen Weltregionen nicht mehr von verschiedenen Marktführern beherrscht werden. Es wird nur noch ein führendes Unternehmen auf dem weltweiten Sport- und Fitnessmarkt geben. Sie können sich leicht ausrechnen, auf welche Marke ich setze.«30

Hatte Knight schon in seiner Diplomarbeit die hohen inländischen Produk­ tionskosten von Adidas als problematisch erkannt, gründete er sein Unternehmen Blue Ribbon Sports zunächst auf die Vermarktung von japanischen Sportschuhen des Herstellers Tiger in den USA . Seit 1971 verantwortete das Unternehmen den Vertrieb von exklusiv in Japan, Taiwan und Mexiko produzierten Schuhen unter dem Markennamen Nike und dem Label »Swoosh«31. Bei der Herstellung auf Kosteneffizienz bedacht, machte ferner der im Vergleich zu Adidas oder Puma rasche Börsengang sowie die anders als bei Adidas von Anfang an selbstverständliche Entlassung von Mitarbeitern deutlich, dass Nike stark auf den Leistungsgedanken setzte. Zur Corporate Identity des US -amerikanischen Sportartikelherstellers gehörte der Wettkampf mit der Konkurrenz systematisch und explizit dazu. So sannen Philip Knight und Bill Bowerman 1968 über einen Namen für den ersten, selbstständig entwickelten Laufschuh nach, der im Rahmen der olympischen Spiele vermarktet werden sollte. Ausgehend von der Bezeichnung des Adidas-Konkurrenzprodukts »Aztek« setzten sie auf Angriff und nannten ihren Laufschuh »Cortez«, schließlich habe dieser spanische Konquistador die Azteken besiegt32. Umgekehrt ignorierten die Ingenieure von Adidas die Produkte anderer Hersteller. Eine Pressemitteilung von 1983 verkündete: »Adidas hat zwar nicht das Laufen erfunden, aber Schuhe entwickelt, die auch bei extremen Belastungen höchsten Ansprüchen genügen. Das ging natürlich nicht von heute auf morgen.«33 Schon Hollisters Resignation gegenüber den Aktenkoffern voller Bargeld zeigt, dass Adidas unter Missachtung der Konkurrenz auf Athleten und Sportfunk28 Hollister, Nikes Weg, S. 204; die Illutration, von der im Folgenden die Rede ist, findet sich ebenda, nach S. 192. 29 Strasser, Swoosh, S. 271, und Smit, Drei Streifen, S. 291 30 Nike Annual Report 1991, S. 5. 31 Vgl. Goldman/Papson, Nike Culture, S. 16 f.; Strasser, Swoosh, S. 114–117, Smit, Drei Streifen, S. 209 f. 32 Vgl. Strasser, Swoosh, S. 67. 33 Adidas Archiv, Adidas PR 3/1983, o.P.; vgl. auch Smit, Drei Streifen, S. 210.

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tionäre setzte. Zusammenfassend lässt sich die Geschichte von Adidas bis in die 1980er Jahre hinein mit einem »Ignoranznarrativ« fassen, weit davon entfernt, wie Nike den Wettlaufgedanken zu forcieren. Seitdem suchte auch das deutsche Unternehmen verstärkt die Auseinandersetzung mit der Konkurrenz. Zwar investierte Nike noch drei Prozent mehr seines Umsatzes in das Marketing, doch ähnelten sich zum Beispiel die Werbestrategien beider Marken 1986 stark. Setzte­ Adidas auf die Hip-Hopper von RunDMC , suchte Nike bei Elton John und Randy Newman Unterstützung. Förderte Adidas Edwin Moses, Grete Waitz und Steffi Graf, so betätigte sich Nike als Sponsor von Sebastian Coe, Alberto Salazar oder John McEnroe34. Die Tatsache analoger Marketingstrategien verweist darauf, dass es neben den Differenzen in der Unternehmenskultur beachtliche Gemeinsamkeiten gab, die die Entwicklung des Sportmarkts in den 1970er Jahren kennzeichneten: Die sportliche Deutungsmacht lag in der Hand weniger Experten, deren schuhmacherische Kompetenz ihren Managementleistungen vorgängig war. Mit der Konzentration auf das Produkt ging eine straffe und hierarchische Führung der Unternehmen einher: Adi und Rudolf Dassler, Eugen Brütting sowie Kihachiro Onitsuka, der Gründer von Tiger Sports, führten ein strenges Regiment35. Dabei waren die Märkte für kaufinteressierte Läufer anfangs national beschränkt. Doch durch die Präsentation der Fabrikate bei internationalen Wettkämpfen deutete sich Extensions- und Expansionsbereitschaft an. Zuerst okkupierten die Sportartikelhersteller die vorhandenen Räume und Formate – insbesondere im Kontext der olympischen Spiele –, dann schufen sie selbst Anlässe, um exklusiv für eigene Produkte zu werben und zu den Wurzeln der Laufbewegung zurückzukehren36. Die in den 1970er Jahren entstandenen Marktstrukturen erfuhren in den nächsten knapp drei Jahrzehnten deutliche Veränderungen: Die Managementleistung trat gegenüber der schuhmacherischen Kompetenz in den Vordergrund. Knight wurde mit dem Börsengang 1980 zum Millionär. Er konzentrierte sich seitdem darauf, die ökonomische Potenz seines Unternehmens zu steigern. Im Zuge dieser Entwicklung überholte die Sparte Basketball mit der Verpflichtung von Michael »Air« Jordan 1984 die Laufsportartikelproduktion. Schon 1981 hatte Knight den Fußball als »the sport of the 80s« ausfindig gemacht, der »the new frontier for Nike« sei37. Ähnlich Entwicklungen lassen sich für Asics, noch mehr für Adidas aufzeigen. Auf den Schuhmacher Adolf folgte der Manager Horst Dassler. Und Reebok wandelte sich von einer britischen Schuhfabrik zum amerikanischen Sportartikelhersteller unter der Ägide von Paul Fireman, 34 Vgl. Hollister, Nikes Weg, S. 228 und S. 253 ff.; Smit, Drei Streifen, S. 215; Making a Difference, S. 161 ff. 35 Vgl. ebenda, S. 151–155; Diem, Brütting, S. 51; Strasser, Swoosh, S. 336. 36 So organisierte Adidas einen Lauf am Biggesee; vgl. Spridon 7/1979, S. 18 f., und 4/1980, S.  26; Adidas-Archiv, Adidas News vom Oktober 1980. Auch Nike führte Straßenläufe durch; vgl. Hollister, Nikes Weg, S. 244. 37 Nike Jahresbericht 1981, S. 9.

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der 1979 die Vertriebsrechte von Reebokprodukten für den US -Markt erworben hatte38. Über ein ähnliches Managementtalent verfügte Jim Davis, der New­ Balance bereits 1972 übernahm und zu großen geschäftlichen Erfolgen führte39. Mit der Ankunft der Sportartikelhersteller in der Massenkonsumgesellschaft veränderten sich auch die Firmenidentitäten. Dassler oder Bowerman wurden zu Marken40. Ihre Überhöhung als Firmengründer glich der Vorgehensweise, mit der die Vermarkter in den 1970er Jahren Sportler als Identifikationsfiguren rekrutiert hatten. Schließlich entstand  – im Vergleich zum sogenannten zweiten Globalisierungsschub der Weltwirtschaft zwischen 1973 und 2000 verspätet41 – die Globalität des Sportartikelmarkts. Neben einem internationalen Personalkarussell der Sportmanager belegt vor allem die Verlagerung der Schuh- und Kleidungsproduktion in sogenannte Billiglohnländer diese Entwicklung. Nur New Balance betrachtete es als Qualitätsmerkmal, in den USA zu produzieren. Von Anfang an hatte Blue Ribbon Sports, später Nike, in Asien produziert. Nachdem Knight von Tiger Abstand genommen hatte, ließ er zunächst Schuhe von Nippon Rubber­ fertigen, hierauf verlegte er die Herstellungsorte über Taiwan und Korea nach Indonesien und Malaysia. Mit Anekdoten – angeblich stoppte eine vom Gummi­ geruch angelockte Kobra gelegentlich die Sohlenproduktion  –, versuchten die Autoren der Jahresberichte, kritische Stimmen zu überspielen. Besonders bekannt wurde ein 1996 von CBS gesendeter Bericht über die schlechten Zustände in einer für Nike arbeitenden Produktionsstätte in Vietnam, der erhebliche Proteste auslöste. Schon 1992 hatte das Harper’s Magazin die schlechte Entlohnung der Arbeiter in Indonesien beklagt. Ebenso geriet Adidas in die Kritik. Zwar besaß das Familienunternehmen Werke in der Bundesrepublik, doch die Produktion verlagerte vor allem Horst Dassler teilweise in die UdSSR , in die USA und nach Südafrika, später nach Asien42. Fest steht, dass die Sportartikel vom »quasi handwerklichen Niveau auf das standardisierter und serienmäßiger Herstellung angehoben« wurden43. Die Sportartikelindustrie setzte die Marktmechanismen der Konsumgesellschaft zu einer Zeit in Gang, als sie in anderen Produktions­ bereichen zu erlahmen begann.

38 Vgl. Wirtschaftswoche vom 27.2.1987, S. 107. 39 Zu New Balance vgl. www.fundinguniverse.com/company-histories. 40 Vgl. Bieber, Sneaker-Story, S. 63; Kenny Moore, Bowerman and the Men of Oregon. The Story of Oregon’s Legendary Coach and Nikes Cofounder, Rodale 2006, S. 399–418. 41 Vgl. Berghoff, Unternehmensgeschichte, S. 140–143. 42 Zum Firmengeflecht von Adidas vgl. die anschauliche Übersicht im Spiegel vom 2.6.1986, S.  92, sowie Smit, Drei Streifen, S.  225; zu Nikes Produktionsstandorten in Asien vgl. Goldman/Papson, Nike Culture, S. 6 f.; Strasser, Swoosh, S. 207–215, S. 303 und S. 538; www.saigon.com/nike/index.html. 43 Vgl. Bero Rigauer, Sportindustrie. Soziologische Betrachtungen über das Verschwinden des Sports in der Markt- und Warenwelt, in: Roman Horak/Otto Penz (Hrsg.), Sport: Kult & Kommerz, Wien 1992, S. 196.

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4. Sport in der Massenkonsumgesellschaft »The entrepreneurial intentiveness of the American businessman was never more ­arrestingly in evidence than at the vast exposition of runners’ equipment held in ­Boston during the weekend of the 1979 Patriots’ Day marathon. For several hours one afternoon I wandered through the exhibits, surveying with wonder and occasional dismay the fruits of the national genius for creating a need where none, or at least very little, exists. Here were runners’ trampolines, runners’ wrist radios, runners’ vitamins, liquids and dietary supplements. Here were beeping metronomes to tell us when to place our feet on the ground as we run.«44

Genauso wie das vielfältige Warenangebot für die Langlaufsportler Jim Fixx beeindruckte, imponiert dem Historiker die Produktivität, die die Konsumgeschichte in den letzten Jahren zu einer gefräßigen und theoriegesättigten Disziplin hat werden lassen. Darunter gibt es zahlreiche, vor allem englischsprachige Arbeiten, die sich mit der Konsumgeschichte des Körpers und der Fitness beschäftigt haben. Ausgehend von der Soziologie des Körpers beziehungsweise von Institutionen fällt es ihnen leicht, signifikante Entwicklungen seit 1945 darzustellen. So hat Jennifer Smith-Maguire deutlich gemacht: »We can locate the take-off of this most recent boom in the commercializiation of fitness in the late 1970s.«45 Die geschichtswissenschaftliche Untersuchung der Läufer als Konsumenten gelangt diesbezüglich schnell an die Grenze ihrer historischen Reichweite, greift sie doch auf eine »neue« Praxis zu, die kultur- und konsumsoziologische Makrovermutungen zur langen Dauer nicht zu leisten vermag. Ferner historisiert sie weniger Institutionen und mehr Objekte. Dieser unlimitierte Charakter des Sportartikelkonsums führt zu einer Ausgangsbeobachtung: Infolge fehlender Grenzen ist die Nachfrage nach Sport »tendenziell ›unersättlich‹«46. Oder schufen Konsumenten und Produzenten ihre eigenen Grenzen, um das Angebots- und Nachfragepotential zu kanalisieren? Die Suche nach einer Antwort muss den unbequemen, aber gewinnbringenden Weg einschlagen, aus den Quellen zu erzählen, deren begrenzte Aussagekraft allzu rasch ausgeblendet wird, folgt man den großen Erklärungen nach Bourdieu oder Foucault. Quellen zur Konsumgeschichte der Laufbewegung sind ein-

44 James F. Fixx, Jim Fixx’s, Second Book of Running. The all-new companion volume to The Complete Book of Running, New York 1980, S. 119 f. 45 Jennifer Smith-Maguire, Fit for Consumption. Sociology and the Business of Fitness,­ London 2007, S. 4; allgemein vgl. Frank Trentmann (Hrsg.), The Oxford Handbook of the History of Consumption, Oxford 2013. 46 Christiane Eisenberg, Möglichkeiten und Grenzen der Konsumgeschichte. Das Beispiel des Sportes, in: Michael Prinz (Hrsg.), Der lange Weg in den Überfluss. Anfänge und Entwicklungen der Konsumgeschichte seit der Vormoderne, Paderborn u. a. 2003, S. 515–531, hier S. 527.

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seitig. Die Käufer kommen nur indirekt zu Wort, indem sie Kaufentscheidungen treffen oder durch die Werbung konstruiert werden. Der Befund, dass keine der in den 1970er und 1980er Jahren unter Läufern durchgeführten Umfragen auf Konsumgewohnheiten zielte, zeigt, wie wenig zeitgenössische Beobachter dieselben in Frage stellten. Die Läufer begegneten der Produktvielfalt positiv und unkritisch. Spuren einer verbraucherbewegten Läuferschaft in Zeiten der dritten Consumerism-Welle lassen sich nur dann finden, wenn konkrete, einzelne Produkte technische Mängel besaßen. Die Sportler handelten als brave Bürger der Konsumentenrepublik47. Sogar die in den 1990er Jahren publizistisch angeprangerten widrigen Produktionsbedingungen der Sportgüter schlugen sich in der veröffentlichten Meinung der Läufer nicht nieder. Warum? Die naheliegende Antwort, dass die Zeitschriften Teil des Geschäfts waren, trägt nur teilweise zur Erklärung bei, äußerten sich doch die nichtkommerziellen Lauftreffrundbriefe genauso wenig wie die Hochglanzzeitschriften. Vielmehr rezensierten die Sportjournalisten zahlreiche Laufschuhe positiv. Es gelang namhaften Herstellern wie New Balance, Nike, Adidas und Brütting, die hohen technischen Ansprüche der Läufer an ihre Ausrüstung zu befriedigen48. Quasi vorbeugend entkräfteten die Hersteller potentielle Kritik an den Produktionsbedingungen durch eine hohe Qualität der Produkte. Nicht zufällig machte der Spiegel-Redakteur Hajo Schumacher 1993 eine »doppelte Moral« bei Nike aus49. Kundenproteste wurden an »Billiganbieter« delegiert. So äußerte Knight 1981: »Laufen sie mal einen Marathon – oder nur eine Meile – in einem Paar Wal Mart Specials für $ 19,95. Das nimmt einem jeden Zweifel.«50 Der Schuhtester Carl-Jürgen Diem pflichtete dem Unternehmenslenker aus Verbrauchersicht bei: »Schmeißen Sie  – sofern noch vorhanden  – die windigen Kaufhaus-Stoffturnschuh-Sonderangebote für 17,99 DM gleich in die Mülltonne!«51 Ferner generierten vor allem Adidas und Nike eine fühlbare Nähe der Hersteller zu ihren Kunden durch sogenannte Graswurzelstrategien, mit denen sie gegenüber dem kaufwilligen Läufer die Kehrseiten der globalen Produktionsbedingungen durch einen dezidierten Lokalbezug kaschierten. So führte Nike 1982 ein back-to-the-basics program ein, das etwa im Road Runners Club der mittelgroßen Stadt Framingham (Massachusetts) großen Anklang fand. Nicht nur, dass man das örtliche Sportartikelgeschäft zum Ausgangspunkt des eigenen Lauftreffs erklärte:

47 Vgl. Strasser, Swoosh, S. 116. Zu Konsumentenrepublik und dritter Consumerism-Welle vgl. Lizabeth Cohen, A Consumer’s Republic. The Politics of Mass Consumption in­ Postwar America, New York 2003, S. 347–357. 48 Vgl. Runner’s World vom Oktober 1977; Lichtwiese. Zeitschrift des Darmstädter Lauftreffs Nr. 5, S. 4 ff., und Nr. 15, S. 7 ff.; Test 5/1985, S. 38–46. 49 Der Spiegel vom 28.6.1993, S. 176. 50 Nike Jahresbericht 1993, S. 15 51 Lichtwiese Nr. 5, S. 5.

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»Upon returning to the store, we’ll probably have some kind of refreshments which will lead into a demonstration of new Nike shoes and apparel as well as a presentation offered by a prominent sports medicine physician. He’ll be there to answer any & all questions about the potential medical benefits and consequences of running.«52

Der Gedanke, nur ein laufender Läufer agiere als konsumierender Läufer, kennzeichnete die Marketing- und Produktionsstrategien der großen Sportartikelhersteller. Aus Läufersicht wiederum erschien es notwendig, technisch optimal für den Lauf gerüstet zu sein. Zahlreiche Nichtläufer erwarben darüber hinaus die angebotenen Ausrüstungsgegenstände aus Prestige- und Lifestylegründen. Das ließ aber keinen Spielraum für eine kritische Konsumentenhaltung, da »sich gerade der Freizeitsport ›zu einer narzißstischen Selbstbespiegelung im schönen Outfit‹ entwickelt« habe, wie der Tübinger Sport-Professor Ommo Gruppe« erklärte53. Weniger psychologisch als historisch denkend, bot Andreas Wirsching eine Begründung dafür an, warum Läufer als brave Bürger der Konsumentenrepubliken zu verstehen seien. Der Münchner Historiker beurteilte das optimistische Verhältnis zum Konsum in den 1980er Jahren kulturhistorisch als Durchsetzung des »amerikanischen Modells«54, wobei sich zwei Charakteristika bei den laufenden Verbrauchern finden lassen: Ihr unkritischer Konsum besaß die Funktion einer sozialen Abgrenzung von den Nichtläufern, und die laufenden Kunden bestimmten mit den Füßen über den geschäftlichen Erfolg der Sportartikelanbieter, was vor allem Adidas nach 1987 schmerzlich erfahren musste. Doch die unkritische Diagnose einer Individualisierung oder Amerikanisierung der läuferischen Praxis nach dem Boom würde den Eigensinn der sporttreibenden Konsumenten überschätzen und die Geschäftstüchtigkeit der Hersteller übersehen. Vielmehr konstruierten die Produzenten durch eine Diversifizierung der Angebotspalette den Eindruck, die sportliche Praxis individualisiert ausüben zu können, was tatsächlich jedoch nur für wenige Spitzenläufer galt, denen Brütting oder Onitsuka Schuhe auf den Fuß schneiderten. Und indem sie durch Überinformation potentielle Kunden desinformierten, verstärkten sie das Gefühl der Käufer, persönlich passende Produkte gefunden zu haben. Fassbar ist dies vor allem in der Werbung der 1980er Jahre; Anzeigen stellten Laufschuhe in den Mittelpunkt, deren Eigenschaftenpalette durch Beschriftungen oder Detailauszüge ausgewiesen wurde55. 52 Greater Framinham Running Club, Newsletter 12/1984, S.  2; Nike Jahresbericht 1982, S. 9. Eine vergleichbare Strategie verfolgte Adidas 1993 mit »adidas begegnen bei…«, vgl.­ Adidas-Archiv, »Running/Leichtathletik FS 1993«. 53 Zit. nach: Der Spiegel vom 28.6.1993, S. 173. Vgl. Der Spiegel vom 4.6.1979, S. 210–213; The Runner vom August 1982, S. 64; Hartmut Ley, Die Vermarktung der Laufbewegung, in: Spiridon 6/1981, S. 32 ff. 54 Vgl. Andreas Wirsching, Konsum statt Arbeit? Zum Wandel von Individualität in der modernen Massengesellschaft, in: VfZ 57 (2009), S. 170–199, hier S. 179–188. 55 Beispiele sind abgedruckt bei Melissa Cardona, The Sneaker Book. 50 Years of Sports Shoe Design, Atglen 2005, S. 187, S. 231 und S. 233.

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5. Pegasus oder Kayano? Zur Diversifizierung des Konsums Eine Übersicht über die Geschichte der Läuferausrüstung konkretisiert diese Beobachtungen. Der erste Blick gilt dem Schuh56. Die erste Publikation über das Jogging konstatierte lapidar, »your shoes are an important item«, doch noch verband sich damit eine gewisse Gelassenheit; man könne auch Sneakers oder Tennisschuhe tragen. Allerdings deutete Nike-Mitbegründer Bill Bowerman 1967 bereits an, dass ein Laufschuh technisch hochwertig und auf das Geschlecht sowie das Alter abgestimmt sein müsse, denn »the fashionable, ligth weight ­›tennies‹ that school girls and some housewives wear won’t hold up or provide the comfort you require for jogging«57. Was Ende der 1960er Jahre noch programmatisch klang, spiegelte sich Mitte der 1970er Jahre bereits in der Angebots­palette wider58. In technischer Hinsicht konkurrierten aus Nylon hergestellte Schuhe japa­ nischer Provenienz mit den Lederschuhen der deutschen Herkunft. Beide Wege schlugen auch amerikanische Produzenten ein. Ursprünglich nur mangels Leder aus Kunststoff gefertigte asiatische Laufschuhe überzeugten die Käufer, weil sie schneller trockneten und nicht eingelaufen werden mussten59. Erwies sich Adidas fortgesetzt als traditionsbewusster Hersteller von Laufschuhen aus Leder, so konnte der Herzogenauracher Konzern den Siegeszug des Nylon seit dem Ende der 1970er Jahre nicht aufhalten. In etwa zu dieser Zeit setzte sich die Sohlendämpfung als weiteres technisches Merkmal durch, das als Voraussetzung für einen guten Laufschuh galt. Im Hintergrund stand, dass europäische Läufer mehr auf weichen Böden, amerikanische Sportler mehr auf festen Belägen liefen. Erst durch die wachsende Verfügbarkeit von amerikanischen Modellen auf den europäischen Märkten60 und aufgrund von vermehrt auftretenden Fuß- und Beinbeschwerden erkannten die Hersteller, welch große Rolle die Dämpfungstechnologie bei der Kaufentscheidung spielte. Daher betrieben die Entwickler aus zwei Gründen einen sehr hohen Aufwand, um die Schritte der Läufer abzufedern. Erstens galt es tatsächlich, mit der Produkteigenschaft technisch zu überzeugen. Zweitens konnte man sich auf dem Markt nur profilieren, wenn die Entwicklung einer eigenen Technologie gelang, mit der man sich von der Konkurrenz abgrenzen konnte. Selbst kleine technische Veränderungen, denen Marketingexperten immer den Charakter einer bemerkenswerten Verbesserung 56 Ausgehend von einer repräsentativen »Hitliste«, die auf www.sneakerreport.com am 26.11.2012 erschien, basieren die nachfolgenden Beobachtungen auf einem Sample von einhundert Schuhen, die zwischen 1970 und 2005 Marktreife erlangten. 57 Bill Bowerman/Waldo Harris, Jogging, New York 1967, S. 27. 58 Cardona, Sneaker Book, S. 58–139. 59 Vgl. James F. Fixx, Das komplette Buch vom Laufen, Frankfurt a. M. 1983, S. 176 (Originalausgabe: 1977); Strasser, Swoosh, S. 67 f. 60 Vgl. Lichtwiese Nr. 5, S. 6.

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zuschrieben, animierten die Konsumenten, neue Schuhe zu kaufen. Die AsicsIngenieure setzten auf die aus Expertensicht besonders gute Geldämpfung, obwohl Nikes Air-Dämpfung durch erfolgreiche Marketingkampagnen weitaus größere Popularität erlangte, während Brooks Hydro-Flow und Adidas Adiprene nur einen mäßigen Bekanntheitsgrad erreichten. Entstand in den 1970er Jahren der »Joggingschuh«, so ging mit der Diversifizierung der Angebotspalette eine Vielfalt von Innovationen einher, die den Laufschuh zum High-Tech Objekt werden ließen, dessen Sinn darin bestand, körperliche Leistungen zu maximieren und Fuß- und Beinleiden zu minimieren. Der Machbarkeitsgedanke ging über die praktischen Ansprüche deutlich hinaus, wie Neuerfindungen wie das Disc- oder Pumpsystem belegen, mit denen Puma und Reebok die Schnürung der Sneakers ersetzen wollten61. Anfang der 1990er Jahre war das Innovationspotential ausgeschöpft. Exemplarisch dafür brachte Asics 1993 das Modell Kayano auf den Markt verbunden mit dem Anspruch, den perfekten Laufschuh entwickelt zu haben. In jährlichen Neuauflagen und in immer bunteren Farben, bei geringfügigen Änderungen der Materialkomposition, in den Produkttests mal besser, mal schlechter bewertet, in der Werbung gleichwohl fortwährend als innovativ dargestellt, repräsentiert dieses Modell eine seit dem Ende der 1980er Jahre üblich gewordene Vermarktung der einzelnen Modelle nach dem Annuitätsprinzip. Auf eine ähnliche Strategie griff Nike zurück, indem ähnliche Modelle durch geringfügige Variationen, aber völlig andere programmatische Bezeichnungen angeboten wurden, angefangen beim Nike Air Pegasus seit 1983 bis hin zum Modell Nike Air H ­ uarache seit 1991. Stand Pegasus für die sagenhafte Geschwindigkeit des geflügelten Pferds, so suggerierte der Verweis auf die Mayasandale Huarache Bequemlichkeit62. Notwendig wurden diesen Variationen, weil sich Laufschuhe als haltbar erwiesen und Läufer einmal eingelaufene Exemplare weiter trugen, bis sie deutliche Verschleißerscheinungen zeigten. War dann ein neues Paar fällig, fiel die Kaufentscheidung schwer. Spitzenläufer trafen aus den unterschiedlichsten Gründen eine individuelle Wahl, wenn sie nicht vertraglich an einen Hersteller gebunden waren63, und Amateursportler verhielten sich ähnlich. Kaufratgeber vertraten dabei die gemeinsame Position, jeder Läufer habe sich bei seiner Kaufentscheidung um sich selbst zu sorgen, denn »you’re the one who has to make the final decision; even the best sales-person can’t get inside the shoe with you and feel how it fits«64. 61 Vgl. Urs Weber, Vom Road Runner zum Nike Air. Der Laufschuh blickt auf eine über 50-jährige Vergangenheit mit vielen Innovationen und legendären Klassikern zurück; www.runnersworld.de vom 9.9.2008. 62 Vgl. Brendan Dunne, Nike Huarache History. The Evolution of Neoprene Sneaker; www. sneakernews.com vom 5.3.2014, und Keith Estiller, The Complete History of the Nike Air Pegasus; www.sneakerreport.com vom 5.9.2013. 63 Vgl. Fixx, Second Book, S. 124 f. 64 Jeff Galloway, Galloway’s Book on Running, Bolinas 1984, S. 257.

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Betrachteten Käufer und Verkäufer unisono den Laufschuh als notwendigen Ausrüstungsgegenstand, so herrschte hinsichtlich des Gebrauchswerts von Sportbekleidung und -ausrüstung weniger Einigkeit. Als die Duden-Redaktion 1991 erstmals den Begriff Outfit in ihr Vokabular aufnahm, fasste sie aus sporthistorischer Sicht eine Geschichte zusammen, die Ende der 1960er Jahre unter dem Stichwort »Laufbekleidung« begonnen hatte. Am Anfang stand wiederum Bowerman, der Laufanfängern von teurer Sportbekleidung abriet, denn »nearly any comfortable, informal outfit that you already own is appropriate«65. Mit Fixx und anderen Ratgebern stimmte er überein, dass die Kleidung der Jahreszeit angemessen sein müsse. Um nicht zu frieren, empfahlen die Ratgeber das Zwiebelprinzip: mehrere Schichten Kleidung sollten den Sportler besonders warm halten. Diese wenig kommerzielle Haltung änderte sich durch eine enorme Auswahl an Spezialkleidung, die in den 1970er Jahren angeboten wurde. Zeitversetzt und erst im Anschluss an die Entwicklung von Laufschuhen begannen Adidas und Nike, später auch andere Mitbewerber, Läuferkleidung zu offerieren. Bot man Anfang der 1970er Jahre noch T-Shirts aus Baumwolle an, so folgte ab 1975 die Dekade des Netzhemds, bis Laufbekleidung aus chemisch produzierten Mikrofasern ihren Siegeszug antrat, die in der Lage war, »Feuchtigkeit so aufzunehmen und nach außen abzugeben, dass die Haut trocken bleibt und bei Ruhephasen kein Frösteln auftritt. Synthetische Fasern sind der Baumwolle in diesem Spezialbereich überlegen«, teilte die Stiftung Warentest mit66. Bemerkenswert an dieser Entwicklung ist weniger der Grad an technischer Innovation als die Bereitschaft der Käufer, sich in ein einheitliches, sportives Gewand zu kleiden. Die Zeitschrift »Spiridon« bot ihren Lesern beispielsweise das heute weitgehend verschwundene Netzhemd an, um ihnen den Kauf dieses nur schwer erhältlichen Kleidungsstücks zu erleichtern. Dass viele Läufer in den 1980er Jahren ein solches Netzhemd trugen, hatte freilich nicht unbedingt mit dem demokratische Gedanken zu tun, alle Läufer seien gleich und daher auch gleich gekleidet. Vielmehr diente das Netzhemd als Anzug, mit dem sich Läufer von Nichtläufern abgrenzen konnten67. Berücksichtigt man die in der Werbung ausgewiesenen Vorteile, dann zeigt sich eine weitere Funktion der Lauf­ bekleidung: Sie diente dazu, sämtlichen Unbilden der sportlichen Tätigkeit trotzen zu können68. Grenzte man sich durch die Wahl der Bekleidung so lange

65 Bowerman, Jogging, S. 26, vgl. Fixx, Buch, S. 179. 66 Test 9/1985, S. 55; zit. nach: nach Michael Rieländer, Jogging-Ausrüstung. Komplett, modern, sportmedizinisch, Puchheim 1986, S. 45. 67 Spiridon 5/1976, S. 17: »Playboys war es als ersten zu lästig, gewöhnliche Unterhemden zu tragen. Sie zogen handgeknüpfte Netztrikots der herkömmlichen Wäsche vor. Manfred Steffny entdeckte 1965 ein solches Hemd, ließ sein Vereinswappen darauf nähen und startete bei den deutschen Meisterschaften in Hannover über 10.000 m bestaunt im Netztrikot […]. Die Masse der Läufer aber musste bisher immer noch in Wäscheabteilungen wühlen, um an das nützliche Utensil heranzukommen.« 68 Vgl. Fixx, Buch, S. 178; Fixx, Second Book, S. 125; Ley, Vermarktung, S. 32 f.

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von den Nichtläufern ab, bis diese Funktionsbekleidung aus modischen Gründen erwarben – erinnert sei nur an den sogenannten Jogginganzug69 –, so stellte sich bezüglich anderer Ausrüstungsgegenstände im Sinne Bourdieus unter den Läufern selbst die Geschmacksfrage70. Sie mussten individuell entscheiden, welche Produkte sie erwerben wollten. Zwar wiesen Einkaufsratgeber darauf hin, dass Schmuck, Schweißbänder und Schrittzähler weder »notwendig« noch »nützlich« seien71, doch es gab für die Läufer zwei Gründe, deren Erwerb dennoch in Betracht zu ziehen. Erstens konnten die Läufer über Accessoires und abwechslungsreiche Kleidung ihre monotone, als langweilig empfundene Bewegungsform beleben. Wortwörtlich galt Zygmunt Baumans eher allegorisches Wort, »das Leben eines Konsumenten, das Konsumleben, dreht sich nicht um Erwerben und Besitzen […]. Stattdessen dreht es sich in erster Linie darum, in Bewegung zu sein.«72 Zweitens inszenierte man die eigene Leistungsfähigkeit. Da Jogger ihr wöchentliches Pensum und fort­geschrittene Läufer ihre Spitzenzeiten nicht um den Hals tragen konnten, bediente man sich einer symbolischen Sprache, um die eigenen läuferischen Fähigkeiten für andere zu demonstrieren. Mit der wachsenden Läuferzahl in den 1980er Jahren und dem gesteigerten Angebot nahm der Wille zur Abgrenzung von anderen Sportlern immer mehr zu. Dies führte zu einer größeren Zahl an Sportartikelgeschäften. Der amerikanische Anbieter Foot Locker etwa eröffnete 1974 ein erstes Geschäft. Fünf Jahre später besaß der Anbieter 120 Filialen, 1982 mehr als 30073. In der Bundesrepublik galt das Münchner Unternehmen Sport Scheck als federführend74. In den 1980er Jahren traten als Konkurrenten des Fachhandels neue Erlebnismärkte auf. Ferner erweiterten Handelshäuser ihre Sportabteilungen oder richteten sie neu ein75, so dass eine übergroße Anzahl an Anbietern auf dem Markt agierte. Deshalb kam es um 1990 zu einer Konzentration auf dem Markt, wobei der führende Anbieter Sport Scheck von der Otto-Gruppe übernommen wurde76. Zusammenfassend erweist sich die Konsumgeschichte des Laufsports als Bestandteil der entstehenden Massenkonsumgesellschaft. Das folgenreiche Marketing der Anbieter und die unterschiedlichen Antworten auf die Geschmacksfrage lassen die Diagnose einer einseitigen Amerikanisierung nicht zu. Lässt sich in der historischen Rückschau eine Kommodifizierung der Akteure feststellen?

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Vgl. Der Spiegel vom 4.6.1979, S. 210–213. Vgl. Bourdieu, Unterschiede, S. 31 und S. 104 f. Vgl. Fixx, Second Book; Ley, Vermarktung, S. 33. Vgl. Zygmunt Bauman, Leben als Konsum, Hamburg 2009, S. 128, und Eisenberg, Möglichkeiten, S. 527. Vgl. The Runner vom August 1982, S. 64. Vgl. Der Spiegel vom 23.5.1977, S. 87 f. Vgl. Wirtschaftswoche vom 28.8.1987, S. 74. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Sportscheck.

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6. Jogging zwischen Konsumgeschichte und Konsumentengeschichte 1973 stieß die auflagenstärkste Läuferzeitschrift »Runner’s World« eine ­Debatte über die Frage an, ob es klare Unterschiede zwischen Joggern und Runnern gebe. Der Diskussion verlieh man einen zweifachen wissenschaftlichen Anschein: Am Anfang standen etymologische Studien. Demnach stamme das Wort run aus dem 16.  Jahrhundert und bezeichne eine schnelle Gehbewegung. Jog sei rund 200 Jahre älter und bedeute »sich mit hochschnellender Geschwindigkeit« fortzubewegen. Später befragte man Akteure nach ihrem Selbstverständnis. Diese Erhebung zeigte, dass niemand, der an Wettkämpfen teilnahm, Jogger genannt werden wollte. Objektiv ließ die Umfrage dagegen keine Rückschlüsse darauf zu, dass sich Jogger von Runnern bezüglich Leistungsfähigkeit, Motivation oder Alter unterschieden. Gleichwohl fiel das sprachliche Differenzierungsangebot in den USA auf fruchtbaren Boden. Augenscheinlich rezipierten die Akteure die vorhandenen Deutungsangebote, um sich entsprechend zu inszenieren. In der Bundesrepublik fand die Selbstbezeichnung als Läufer und Jogger verzögert statt, weil das Wort Jogger zunächst in den Sprachschatz aufzunehmen war. Dennoch rezipierte man die amerikanischen Überlegungen journalistisch und medizinisch, indem man etwa zwischen Joggern, Volksläufern, Wettkampf­ läufern und Extremläufern unterschied77. Die Vorstellung des Joggers war seit der Mitte der 1970er Jahre fest im kollektiven Konsumgedächtnis verankert. Er wurde als »overdressed, u ­ ncoordinated, overweight slob«78 verstanden, dem in sämtlichen Laufratgebern Vorschläge unterbreitet wurden, wie er sich individuell verbessern und dadurch gesunden könne. Dieses Angebot stieß keinesfalls auf gelassene Läufer. In Deutschland und den USA bekannten Jogger oft, dass sie trainierten, um fitter zu werden. Das überwiegend komparativisch und relativisch deklarierte Ziel verfolgten Jogger praktisch in individuellen Dauerläufen sowie durch die Teilnahme an Lauftreffs. Sie betrieben den Laufsport als Übung. Das Training war Selbstzweck. Die selbsternannten Jogger plagte und prägte das Gefühl einer permanenten Unfertigkeit. Dies bedingte ein keinesfalls »freies«, asketisches Streben der Akteure. Es führte zu einer äußerlich durch Experten und Produzenten unterstützten Internalisierung mit dem Ziel, gesundheitlich und psychologisch für sich selbst immer wieder sorgen zu müssen. Der Leistungssportler, in der US -Terminologie Runner, lief dagegen nicht gegen sein schlechtes Gewissen an, sondern er erstrebte und verkörperte den persönlichen sportlichen Erfolg. Das Training war Mittel zum Zweck, eine neue Bestzeit zu laufen. Zwar betonten frühe Berichterstatter noch, der Runner sei er77 Vgl. Ronald Lutz, Laufen und Läuferleben, Zum Verhältnis von Körper, Bewegung und Identität, Frankfurt a. M./New York 1989, S. 23 f. 78 Runner’s World vom Januar 1977, S. 21.

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lebnisorientiert. Doch richteten die Akteure selbst ihr Hauptaugenmerk auf die eigene Leistungsfähigkeit. Den wenigsten Sportlern ging es darum, einen Lauf zu gewinnen. Aber sie strebten bei Volks- und Marathonläufen eine absolute Leistungssteigerung vor den Augen der anderen Sportler an. Dieses Bedürfnis nach Anerkennung – erinnert sei noch einmal an Joschka Fischer –, weitete sich dadurch aus, dass Laufsportveranstaltungen zunehmend zu großen events wurden. Die Teilnehmer inszenierten sich als Anschauungsobjekte, die durch Kleidung und Ernährung, Atem- und Aufwärmungsübungen ihr Alter kaschierten, ihre Fitness und Geschlechtlichkeit inszenierten und sich über ihre schnellste Zeit definierten. Den wenigen Spitzenläufern, die mit Antrittsgeldern bedacht wurden oder als Gewinner Siegprämien einstrichen, kam besondere Bedeutung für die Mehrzahl der Teilnehmer zu, hatte man sich doch mit diesen Athleten vor den Augen der Öffentlichkeit erfolgreich gemessen. Aus sporthistorischer Perspektive besitzt die Unterscheidung zwischen Runnern und Joggern enorme typologische Bedeutung. Sozialgeschichtlich ist diese Differenzierung wenig überzeugend. Konsumhistorisch betrachtet wird deutlich, dass verschiedene Läuferidentitäten erwerbbar wurden, sei es, dass man einen Spitzenathleten als Starter einkaufte oder dass der geübte Freizeitathlet 30 DM für den Start bei einem Marathonlauf bezahlte. Vor allem die Runner unterwarfen sich einem diskursiven Diktat, das den sportlichen Erfolg nur vor den Augen der Zuschauer mit Bedeutung versah. Diese Beobachtung verdeutlicht der Blick auf zwei Gruppen, die – in Ermangelung zeitgenössischer Begrifflichkeiten – als »Sportler für andere« bezeichnet werden können. Gemeint sind solche Läufer, die den Dauerlauf ausübten, um ihr körperliches Kapital zu rekommodifizieren79. Sie sorgten sich in ihrer Praxis weniger um sich selbst als um sich selbst durch andere. Zu Recht gingen vor allem US -amerikanische Kommentatoren immer wieder davon aus, dass Politiker Sport trieben, um in Wahlkämpfen auf Stimmenfang zu gehen. War John F. Kennedy als Segler und Richard Nixon als Footballund Baseballfan ohne größere eigene Aktivität aufgetreten, so zeichnete sich seit dem Ende der 1970er Jahre eine vermehrte läuferische Aktivität amerikanischer Spitzenpolitiker ab. Da sich Glaubwürdigkeit nur durch Taten erzielen ließ, fielen Inszenierung und Bewegung zusammen. Dieses Amalgam ließ Akteuren und Be­obachtern gleichermaßen Raum für kulturelle, persönliche und politische Angebote, Botschaften oder Interpretationen. Jimmy Carter etwa nahm man als­ maladen Läufer wahr, der 1979 während eines Wettrennens einen Schwächeanfall erlitt80. Der US -Präsident und Begründer des »National Jogging Day« selbst verstand sich dagegen als Runner, der seine Fitness tatsächlich unter Beweis zu stellen versuchte. Im Wahlkampfjahr 1992 unternahm Bill Clinton, gelegentlich sogar in Begleitung von Al Gore, Dauerläufe. Physisch fassbar traten sie als Running Mates auf, gleichwohl mieden sie – anders als Carter – einen Leistungsnach79 Bauman, Leben, S. 77. 80 Vgl. Der Spiegel vom 24.9.1979, S. 132.

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weis. Stattdessen genehmigte sich das Kandidatenduo nach ihrem ersten gemeinsamen Jogging im Presselicht der Öffentlichkeit einen Softdrink, den sie bei einer großen Fast Food-Kette erwarben81. Auch wenn hier nicht die M ­ c-Donaldisierung der Gesellschaft thematisiert werden soll, so entsteht doch der Eindruck, dass der laufende Politiker in den 1970er Jahren eher Trendsetter, in den 1990er Jahren – im Kontext des sogenannten »zweiten Running-Booms«82 – eher der körperlich sichtbare Bestandteil einer höchst effizienten und rationalen Wahlkampagne war. Letzeres galt auch für Joschka Fischer, wenngleich der grüne Politiker auch an Laufwettkämpfen teilnahm. Neben den Läufern unter den Politikern stand die Mehrheit der medizinischen Fachvertreter dem Laufen positiv gegenüber. Aus dem unübersichtlichen Feld der Mediziner taten sich in der Bundesrepublik wie in den USA Gruppen hervor, die sich dezidiert zum Laufsport bekannten und damit assoziiert wurden. Dahinter stand der Gedanke, den therapeutischen Imperativ mit der eigenen Praxis zu verbinden. Damit unternahmen sie den Versuch, die Deutungshoheit über das Laufen zu erobern, und wenn sie sich als praxistauglich präsentierten, besaßen gegenüber der läuferischen Elite tatsächlich einen Vorsprung, konnten sie doch auf ihr medizinisches Expertenwissen zurückgreifen. Interessant ist, dass laufende deutsche und US -amerikanische Ärzte in den 1970er Jahren große Publikationserfolge erzielten, wenn sie ihre Ideen am e­ igenen Leib demonstrierten83: Ähnlich wie im Fall der Politiker fielen Inszenierung und Bewegung zusammen. Dies erwies sich als derart erfolgreich, dass auf dem inzwischen diversifizierten Sportmarkt seit den 1990er Jahren Spitzenläufer gute Umsätze erzielten, indem sie wie George Sheehan oder Thomas Wessinghage ihre läuferische Karriere mit einem Medizinstudium krönten.

81 Die dokumentierende Fotografie vom 10.7.1992, aufgenommen von Tim Clary, findet sich etwa unter www.gettyimages.de. 82 Runner’s World vom September 1997, S. 66–72. 83 Vgl. Runner’s World vom Juni 1975 und Spiridon 1/1980, S. 28.

IV. Zeithorizonte und Zeitdiagnosen

Martin Kindtner

Strategien der Verflüssigung Poststrukturalistischer Theoriediskurs und politische Praktiken der 1968er Jahre

1. Einleitung Unter den Hypothesen, die das Forschungsvorhaben »Nach dem Boom« als Ausgangspunkt formulierte, stand die Annahme, »daß […] die Sozialphilosophie des Poststrukturalismus seismographisch die Absage an soziale und kulturelle Gewißheiten artikuliert[e], die in der Epoche des Booms als verbindlich und dauerhaft betrachtet worden waren«1. Als »Theori[e] des Instabilen und ­Fluiden« positionierte sie sich als »Antithese zu den monolithischen, Dauerhaftigkeit beanspruchenden Denkmustern«, welche die marxistischen oder modernisierungstheoretischen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft in den Jahren des stabilen Wachstums charakterisiert hatten. Doch nicht nur als Antithese, sondern auch als Alternative: In Teilen des linksalternativen Milieus der Bundesrepublik war zu Beginn der 1980er Jahre zu beobachten, dass die Theoriesprache des Poststrukturalismus die marxisierende Semantik der 1960er/70er Jahre ersetzt hatte2. Welche intellektuellen und gesellschaftlichen Kontexte hatten bereits zuvor in Frankreich einen Möglichkeitsraum geschaffen, in dem der Poststrukturalismus als eines von mehreren Sinnangeboten in die Lücke treten konnte, die sich durch die Krise der marxistischen Gesellschaftskritik nach dem Boom auftat? Um diese Frage zu beantworten, müssen – hier exemplarisch anhand der Ideen und des politischen Engagements des Philosophen Michel Foucault – zunächst zwei Prozesse historisiert werden: zum einen die Genese der (post)strukturalistischen Kritik in den 1960er Jahren, zum anderen deren Verbindung mit Strömungen der radikalen Linken Frankreichs in den 1968er Jahren3. Ausgehend von einer Situierung im allgemeinhistorischen Rahmen gilt es, das »intellektuelle Feld« zu skizzieren, in dessen zeitgenössischen Konfigurationen sich das Den1 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeit­ geschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, S. 133; dort findet sich auch das folgende Zitat. 2 Zur politischen Rezeption des Poststrukturalismus in der linken Szene vgl. Gabriel Kuhn, Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden. Eine Einführung in die politische Philosophie des Poststrukturalismus, Münster 2005. 3 Zu diesem Periodisierungsansatz vgl. Robert Frank, Introduction, in: Geneviève DreyfusArmand u. a. (Hrsg.), Les Années 68. Le temps de contestation, Paris 2000, S. 13–21.

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ken Foucaults entwickelte4. Um seine Politisierung nachzuvollziehen wird dann in einem zweiten Schritt die wichtigste politische Initiative, die Groupe d’infor­ mation sur les prisons (G. I. P.), in den Blick genommen. Sie war ein markantes Übergangsphänomen, an dem sich sowohl die Suche nach neuen politischen Praktiken und einer dafür adäquaten Sprache als auch die Hartnäckigkeit von semantischen Überhängen aus der marxistischen Tradition aufweisen lassen. Abschließend frage ich dann, warum die poststrukturalistischen Theorieangebote über Frankreich hinaus als semantisches Angebot zur Erneuerung linker Gesellschaftskritik und politischer Praxis attraktiv waren.

2. Das Opium der Technokraten Zunächst zur Genese der poststrukturalistischen Wissenskritik im Spannungsfeld zwischen Strukturalismus und marxistischem Humanismus in den 1960er Jahren: Um diese Konfiguration zu verstehen, müssen zwei historische Rahmenbedingungen berücksichtigt werden: die gaullistische Wachstumsrepublik auf dem Höhepunkt der trente glorieuses und die Krise des organisierten Kommunismus nach 1956. Beide Kontexte stellen Voraussetzungen für den Aufstieg einer strukturalistischen Avantgarde dar, die in den Pariser Intellektuellen­ zirkeln jenen undogmatischen Marxisten um Sartre, die seit Kriegsende das intellektuelle Leben beherrschten, den Rang abzulaufen drohte. Die trente glorieuses, die drei Jahrzehnte des Nachkriegsbooms in Frankreich, waren eine Zeit emphatischer Modernität5 – einer Modernität, die zumeist einseitig mit Wirtschaftswachstum und technologischem Fortschritt gleichgesetzt wurde, garantiert durch wissenschaftliche Planung und staatliche Steuerung. Bedingt durch den wachsenden Bedarf an akademischem Nachwuchs und den Baby-Boom der Nachkriegszeit expandierte mit dem Beginn der V. Republik das höhere Bildungswesen6, und mit ihm expandierte auch der Markt für intellektuelle Produkte. Die Mitte der 1960er Jahre in die Universitäten einrückende Studentengeneration, aufgewachsen in den ersten Jahrzehnten der Prosperität, hatte auf dem Lycée noch mit glühender Begeisterung Sartre gelesen; nun verlangte sie 4 Die Verwendung des Feld-Konzepts folgt hier Pierre Bourdieu, Homo academicus, Frankfurt a. M. 1988, und stützt sich auf die von ihm inspirierte intellektuellensoziologische Forschung zu den Entstehungskontexten des Strukturalismus in der spezifischen Feldkonfiguration der 1960/70er Jahre. 5 Zum Begriff der trente glorieuses, einer retrospektiven Selbstdeutung der Zeit, vgl. Jean Fourastié, Les trente glorieuses ou la révolution invisible de 1946 à 1975, Paris 1979.  6 Vgl. Hartmut Kaelble, Boom und gesellschaftlicher Wandel 1948–1973. Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, in: ders. (Hrsg.), Der Boom 1948–1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992, S. 219–247, hier S. 237, sowie Antoine Prost, Histoire de l’enseignement et de l’éducation, Bd. 4: L’École et la Famille dans une société en mutation (depuis 1930), Paris 2004, insbesondere S. 289–309.

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nach neuen intellektuellen Vorbildern7. Besonderer Erfolg war den aufstrebenden Stars der Geistes- und Sozialwissenschaften beschieden, die in der Öffentlichkeit bald unter dem Label »Strukturalismus« gehandelt wurden. Ihre Leitfiguren waren der Ethnologe Claude Lévi-Strauss, der marxistische Philosoph Louis Alt­husser und der Psychoanalytiker Jacques Lacan. In deren Gefolge begann auch der Stern eines jüngeren Philosophen aufzugehen, der von der Presse schnell dem strukturalistischen Label zugeschlagen, ja als dessen paradigmatischer Vertreter verkauft wurde: Michel Foucault8. Im akademischen Feld waren die strukturalistischen Stichwortgeber der Stunde hingegen fast durchgängig Außenseiter. Sie waren an Institutionen beschäftigt, die zwar ein hohes Maß an wissenschaftlichem Prestige besaßen, jedoch abseits des traditionellen Zentrums der wissenschaftlichen Reproduktion und der akademischen Macht standen: der Sorbonne. Ihren Status sicherten sie sich stattdessen durch ihre Nähe zur künstlerischen Avantgarde wie den Vertretern des sachlich-kühlen Nouveau Roman und durch die Aufmerksamkeit einer gebildeten Öffentlichkeit, die sich in auflagenstarken Taschenbuchreihen bei »Seuil« und populären Nachrichtenmagazinen wie dem »Nouvel Observateur« oder »L’Express« über den Aufstieg des Strukturalismus informieren konnte. Die strukturalistischen Theoretiker produzierten intellektuelle Güter von hohem Neuigkeitswert durch den ostentativen Bruch mit den bestehenden Konventionen ihrer Fächer: Lévi-Strauss analysierte die grundlegenden strukturellen Invarianten der Mythen anhand eines an die Phonetik angelehnten Systems von Oppositionen, Althusser legte eine radikale Neulektüre des »Kapitals« unter Abkehr von Marx’ »humanistischen« Frühschriften vor, und Lacan fasste das Unterbewusstsein als sprachlich strukturiert. Ihre marginale, aber prestigereiche Feldposition und eine von ihr nahegelegte AvantgardeStrategie brachte die Strukturalisten, wie dies unter anderem der Soziologe Johannes Angermüller gezeigt hat, nicht nur in Opposition zu den Traditions­ hütern der Sorbonne, sondern auch in Konkurrenz zur vorhergehenden außerakademischen Avantgarde, den »marxistischen Humanisten«9. 7 Vgl. François Dosse, Geschichte des Strukturalismus, Bd. 1: Das Feld des Zeichens, 1945–1966, Hamburg 1996, S. 24 f. 8 Auch wenn sich Foucault später vehement gegen diese Einordnung wehren sollte, profitierte er in den 1960er Jahren von diesen Wahlverwandtschaften doch beträchtlich. Vgl. etwa Jean-François Kahn, La minutieuse conquête du structuralisme, in: L’Express, 21.–27.8.1967, S.  49 ff., sowie François Dosse, Geschichte des Strukturalismus, Bd.  2: Die Zeichen der Zeit, 1967–1991, Hamburg 1997, S. 128. 9 Zu dieser Einordnung der Strukturalisten im akademischen und intellektuellen Feld vor dem Hintergrund der Bildungsexpansion vgl. Johannes Angermüller, Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich, Bielefeld 2007, S. 55–64 und S. 70–80; Louis Pinto, Les Philosophes entre le lycée et l’avant-garde. Les métamorphoses de la philosophie dans la France d’aujourd’hui, Paris 1987, S. 67–109; Niilo Kauppi, French Intellectual Nobility. Institutional and Symbolic Transformations in the Post-Sartrian Era, Albany 1996, S.  83–96 und S.  127–138, sowie Dosse, Geschichte des Strukturalismus 1, S. 36–42, S. 470 ff. und S. 477 ff., und Dosse, Geschichte des Strukturalismus 2, S. 115–132.

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Unter diese Sammelbezeichnung werden hier, im Anschluss an die amerikanische Intellektuellengeschichte, Autoren wie Cornelius Castoriadis, Claude Lefort und vor allem Jean-Paul Sartre gefasst, die sich in den 1950er Jahren in verschiedenen Gruppen um Zeitschriften wie »Les temps modernes«, »Arguments« oder »Socialisme ou barbarie« sammelten. Ihnen gemein war die Enttäuschung über den real existierenden Kommunismus, der spätestens 1956 durch die Arbeiteraufstände in Ungarn und Polen und die Eingeständnisse des XX . Parteitags der KPdSU entzaubert worden war. Ebenso gingen sie auf Distanz zur Kommunistischen Partei Frankreichs, die sich im Algerien-Konflikt aus bündnistaktischen Gründen gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen und ihre Entstalinisierung versäumt hatte. Seitdem war es ihnen mühsam gelungen, ihren Marxismus aus dem Gravitationsfeld des organisierten Kommunismus zu lösen. Doch die Sozialentwicklung der Boom-Jahre stellte auch die undogmatischsten aller Marxisten vor eine große Herausforderung: Das Proletariat als distinkte Sozialformation begann vor ihren Augen zu verschwimmen, Binnendifferenzierung und Angleich seines Lebensstils an andere Sozialformationen führten zu einer Erosion jedes Klassenbewusstseins. In den 1960er Jahren war daher unter den marxistischen Humanisten eine unruhige Suche nach neuen revolutionären Subjekten zu beobachten, seien es die »Verdammten dieser Erde« in der sogenannten Dritten Welt oder eine »Neue Arbeiterklasse« in Europa. Die marxistische Gesellschafsdeutung befand sich mithin in einer tiefen Krise, als sie sich in der Mitte des Jahrzehnts der Konkurrenz der strukturalistischen Avantgarde ausgesetzt sah10. Denn während die sozioökonomische und politische Entwicklung den Marxismus zu überholen schien, verkörperte der Strukturalismus in den Augen der Öffentlichkeit die Modernität ihrer Zeit. Mit seiner Berufung auf das Paradigma der Linguistik versprach er nichts Geringeres als eine Verwissenschaftlichung und damit indirekt die Modernisierung der Geisteswissenschaften11. Eben dieser szientifische Anspruch trug ihm heftige Angriffe seiner marxistischen Konkurrenten ein. In der Rezension zu einer »Wider die Technokraten« untertitelten antistrukturalistischen Polemik des Soziologen Henri Lefebvre aus dem Jahr 1967 brachte der Journalist Jean-François Revel im Nachrichtenmagazin »­ L’Express« 10 Vgl. Mark Poster, Existential Marxism in Postwar France. From Sartre to Althusser, Princeton 1975, S. 306–360; Tony Judt, Marxism and the French Left. Studies in labour and politics in France, 1830–1981, Oxford 1986, S. 169–238; Dosse, Geschichte des Strukturalismus 1, S. 239–248. Eine breite Übersicht über die Krisenjahre des Marxismus vor der Studentenrevolte bietet Michael Scott Christofferson, French Intellectuals Against the Left. The Antitotalitarian Moment of the 1970s, New York/Oxford 2004, S.  27–51. Zum Gegensatz zwischen »Strukturalisten« und (marxistischen) »Humanisten« vgl. auch Pinto, Philosophes, S. 77 f., sowie Angermüller, Strukturalismus, S. 47, der die strukturalistische Humanismus-Kritik an mehreren Textbeispielen mit den Mitteln der Diskursanalyse untersucht (S. 157–232). 11 Vgl. ebenda, S. 46, sowie Maxime Parodi, La modernité manquée du structuralisme, Paris 2004, S. 2–5.

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diese Attacken auf den Punkt12. Der Strukturalismus war in den Augen seiner Gegner die Selbstbeschreibung der gaullistischen V. Republik: »Denn es ist genau dieser politische Szientismus, dem in der Philosophie, so Lefebvre, der Strukturalismus entspricht. Dieser ist sein angemessener ideologischer Überbau, und es ist kein Zufall, wenn der Strukturalismus, mit allen seinen mehr oder weniger ernsthaften Erscheinungsformen, seit zehn Jahren einen solchen Aufschwung erfuhr, das heißt, seitdem die französische Gesellschaft sich in ihrer neuen Rolle als pseudotechnischer Kleinkonsument eingerichtet hat. Könnte der Strukturalismus die Religion der Technokratie, das Opium der Führungskräfte sein?«13

Der hier angeschlagene bittere Ton ist nur dann nachvollziehbar, wenn man zugleich beachtet, welche fundamentale Anfechtung der Strukturalismus auch auf theoretischer Ebene für die humanistischen Marxisten darstellte. Die Strukturalisten betrachteten Sinn und Wissen als Effekte eines Systems von Differenzen, das sie unter Rekurs auf die Linguistik Saussures synchron, das heißt unter Ausklammerung der historischen Verlaufsdimension, untersuchten14. In der »Ordnung der Dinge«, seinem Bestseller von 1966, wandte Foucault diese Methode auf die Geschichte des humanwissenschaftlichen Wissens seit der Renaissance an. Als Produkte eines diskursiven Systems betrachtet verloren aber nun sowohl die Gegenstände des Wissens als auch dessen Subjekt ihre Festigkeit und Stabilität. Sie hatten keinen realen oder transzendentalen Kern mehr, sondern waren Strukturen einer historisch-kontingenten epistemischen Ordnung, nicht mehr als eine Konfiguration im Feld der Aussagen15. Zugleich entzog diese Geste der Verflüssigung der Geschichte der Humanwissenschaften jegliche Kontinuität. Als autonom beschriebene Ordnungen des Wissens lösten einander ohne den Eingriff eines denkenden und handelnden menschlichen Subjekts in diskontinuierlicher Folge ab. Ihre Historizität verschärfte sich dergestalt, dass eine Entwicklung im Sinne eines Fortschritts der Erkenntnis nicht länger zu erkennen war. Geschicht-

12 Bezogen auf Henri Lefebvre, Position: Contre les technocrates, Paris 1967. 13 Jean-François Revel, La religion des technocrates, in: L’Express, 10.–16.7.1967, S. 59; vgl. dazu auch Dosse, Geschichte des Strukturalismus 2, S.  130 f., dessen umfassende Geschichte des Strukturalismus einen hervorragenden Zugriff auf die publizistischen Quellen bietet. 14 Zum methodischen Antihistorismus und dem in seinen linguistischen Wurzeln angelegten Systemdenken des Strukturalismus vgl. Allan Megill, Foucault, Structuralism and the Ends of History, in: The Journal of Modern History 51 (1979), S. 451–503, hier insbesondere S. 456, sowie Frédéric Worms, Le moment philosophique des années 1960 en France. De la structure à la différence, in: Esprit 344 (2008), S. 115–130, insbesondere S. 116–119, und Gary Gutting, French Philosophy in the Twentieth Century, Cambridge 2001, S. 215–224 und S. 260–264. 15 Vgl. Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow, Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics, Chicago 1983, S. 16–43. Den Diskursbegriff sollte Foucault erst in seiner Methodenschrift von 1969 systematisch verwenden; vgl. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1981.

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lichkeit wurde mithin zwar absolut, doch zugleich richtungslos von jeder Form menschlicher Praxis entkoppelt, schlimmer noch: der »Mensch« selbst wurde der zersetzenden Kraft der Geschichte erbarmungslos ausgesetzt, auch er nur Figur einer historisch kontingenten und damit endlichen Episteme16. Dieser quasi-strukturalistische Übergriff auf die Geschichte des Wissens, von Foucault mit großer und provokanter Geste vorgetragen, traf den marxistischen Humanismus bis ins Mark, stellte er doch einen Angriff gegen seine zentralen Kategorien dar: das wirkmächtige Subjekt und die als dialektische Einheit verstandene Geschichte17. Simone de Beauvoir klagte Ende 1966 in der Tageszeitung »Le Monde« über eine von der strukturalistischen Mode inspirierte Literatur: »[…] diese Literatur und im Besonderen Foucault beschaffen dem bürgerlichen Gewissen seine besten Ausflüchte. Man schafft die Geschichte ab, die Praxis, das heißt, das Engagement, man schafft den Menschen ab, und dann gibt es kein Elend mehr und kein Unglück, sondern nur noch Systeme. Les Mots et les Choses [Die Ordnung der Dinge] ist für die technokratische Bourgeoisie eines der nützlichsten Instrumente. Daher der Erfolg dieses dennoch langweiligen und unleserlichen Buches. Auf dieses Denken hatte man gewartet.«18

Die Auseinandersetzung mit dem Marxismus, sowohl in den Konfigurationen des intellektuellen Felds als auch auf inhaltlicher Ebene, war dem Strukturalismus also von Beginn an eingeschrieben. Schon zeitgenössisch wurde er als Konkurrenz zu und als Angriff auf die marxistische Avantgarde der Nachkriegszeit gedeutet. Sartre selbst erschien er als »Ideologie«, als das »letzte Bollwerk, das die Bourgeoisie noch gegen Marx errichten kann«19. Sein kritisches Potential zeigte sich zunächst als Dekonstruktion entscheidender Kategorien des Marxismus, als 16 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 1993. Zur Kategorie der Geschichtlichkeit in Foucaults vielleicht dem Strukturalismus am stärksten verpflichteten Werk vgl. Ulrich Brieler, Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker, Köln u. a. 1998, S.  120–170, insbesondere S.  168 ff.; Dosse, Geschichte des Strukturalismus 1, S.  482–486, sowie Philipp Sarasin, Michel Foucault zur Einführung, Hamburg 2006, S. 70–91, insbesondere S. 73. Zum hier bereits unterschwellig wirksamen »zersetzenden« Einfluss von Nietzsches Genealogie vgl. Philipp Sarasin, Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie, Frankfurt a. M. 2009, S. 111–124. 17 Vgl. Poster, Existential Marxism, S. 331–334. 18 Jacqueline Piatier, Simone de Beauvoir présente »Les Belles Images«, in: Le Monde vom 23.12.1966, S. 17. Leicht veränderte und ergänzte Übersetzung nach Didier Eribon, Michel Foucault und seine Zeitgenossen, München 1998, S. 179; Hervorhebungen im Original. 19 Jean-Paul Sartre, Jean-Paul Sartre répond, in: L’Arc 30 (1966), S.  87–96, hier S.  88. Zu­ Sartres Gegenangriff vgl. Dosse, Geschichte des Strukturalismus 1, S. 470 ff. Eine frühe und scharfsinnige Deutung legte der Historiker François Furet vor, der im Strukturalismus eine Art Ersatzideologie für enttäuschte Marxisten erkennen wollte, ein umfassendes Modell zur Weltdeutung, jedoch frei von geschichtsphilosophisch-teleologischem Ballast und diskreditierenden Aspekten des real-existierenden Sozialismus; vgl. François Furet, Les Français et le structuralisme, in: Preuves 192 (1967), S. 3–12, sowie Dosse, Geschichte des Strukturalismus, S. 513 f.

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eine scharfe Kritik der Kritik. Zugleich jedoch musste diese radikale Wissenskritik zwangsläufig auch den Fortschrittsoptimismus der gaullistischen Moderne untergraben – und zwar indem der Strukturalismus mit den modernsten wissenschaftlichen Mitteln die Grundprämisse einer szientifischen Vorstellung von Modernität, das Fortschrittsideal, in Frage stellte20. Diese kritischen Potentiale blieben jedoch zunächst vollkommen im Hintergrund, akademisch und gänzlich von der gesellschaftlichen Dimension getrennt21. Das sollte sich erst nach 1968 ändern.

3. Von der Wissenskritik zur Gesellschaftskritik Die rauschhaften Ereignisse des Mai 1968 in Paris und die darauf folgende Streikbewegung bestimmten für ein halbes Jahrzehnt das intellektuelle Klima in Frankreich. Gesellschaftliche Aufbrüche und überhitzte revolutionäre Naherwartungen wechselten sich ab mit schrillen Warnungen, die in der straffen Sicherheitspolitik von Georges Pompidou den kommenden Faschismus erkennen wollten. Eine Vielzahl gauchistischer groupuscules konkurrierte ebenso um die Aufmerksamkeit der politisch bewegten Studentenschaft wie um die Deutungshoheit über die Revolte. Vor allem jedoch standen die Jahre nach 1968 im Zeichen der contestation, der umfassenden kritischen Infragestellung von Ordnungsmustern, Autoritäten und Hierarchien in allen Lebensbereichen22. Es schien, als ob das Politische und in seinem Gefolge auch die revolutionären Utopien zurückgekehrt seien23. Zugleich läutete der erste Ölpreisschock 1973 das Ende der trente glorieuses ein. Nicht nur das wissenschaftlich gesicherte Wachstum, auch die gaullistische Modernität mit ihrem technokratischen Optimismus gehörte bald einer sich schnell entfernenden Vergangenheit an24. Zu Beginn der 1970er Jahre verdichteten sich ökonomische und soziokulturelle Transfor20 Und dies nicht erst bei Foucault; vgl. dazu das Kapitel »Die Idee des Fortschritts« in: Claude Lévi-Strauss, Rasse und Geschichte, Frankfurt a. M. 1972, S. 31–36. Zur strukturalistischen Kritik der Idee von Fortschritt und Modernität vgl. insbesondere Dosse, Geschichte des Strukturalismus 1, S. 503–521. 21 Vgl. Bernard Brillant, Les clercs de 68, Paris 2003, S. 47 f. 22 Eine breite Übersicht über diese fieberhaften Jahre bieten die Sammelbände von Dreyfus-­ Armand u. a. (Hrsg.), Années 68, und Philippe Artières/Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), 68. Une histoire collective (1962–1981), Paris 2008. Zum Konzept der contestation vgl. Bernard Brillant, La contestation dans tous ses états, in: Dreyfus-Armand u. a. (Hrsg.), Années 68, S. 99–115. 23 Zur Einordnung dieser Entwicklung in die Fieberkurve revolutionären Denkens in der französischen Intellektuellengeschichte vgl. Sunil Khilani, Revolutionsdonner. Die französische Linke nach 1945, Hamburg 1995, insbesondere Kap.  5: »Der Exorzismus der­ Revolution« (S. 181–228). 24 Vgl. Michelle Zancarini-Fournel/Christian Delacroix, La France du temps présent. 1945– 2005, Paris 2010, S.  447 f., sowie Robert Frank u. a., Crises et conscience de crise. Les­ années grises de la fin de siècle, in: Vingtième Siècle 84 (2004), S. 75–82.

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mationen, begannen allmählich in die Wahrnehmung vorzudringen und verliehen der Zeit das unmittelbar spürbare Gepräge einer nervösen Übergangs­ epoche. Was bedeuteten diese gewandelten Kontexte für jene, die in den Augen ihrer Gegner eine »Religion der Technokratie«, die Selbstbeschreibung der Republik des Wachstums gestiftet hatten? Für die strukturalistische Avantgarde waren die Auswirkungen der Studentenbewegung zunächst mehr als zwiespältig. Einerseits öffnete der Reformdruck im akademischen Feld ein lange erwartetes Möglichkeitsfenster für die Institutionalisierung des Strukturalismus, der nun auch an die Universitäten vordringen konnte, besonders an die experimentelle Reformuniversität Paris 8 – V ­ incennes, an der Foucault mit dem Aufbau der philosophischen Abteilung betraut wurde. Der in seinen Anfangsjahren chaotische, von politischer Unruhe und Ausein­ andersetzungen zwischen zahlreichen linksextremen Gruppen geprägte Fach­ bereich stellte einen wichtigen Berührungspunkt zwischen der jüngeren Ge­ neration der Strukturalisten und den radikalen studentischen Aktivisten dar25. Hier machte Foucault nicht nur seine ersten Erfahrungen als Aktivist und Straßenkämpfer, sondern kam auch beständig in Kontakt mit den Maoisten der­ Gauche prolétarienne, welche die Arbeit seiner wichtigsten politischen Initiative, der Groupe d’information sur les prisons (G. I. P.), mitprägen sollten26. Neben der Möglichkeit zur Institutionalisierung stellte die Revolte jedoch auf der anderen Seite den Avantgarde-Status der strukturalistischen Generation in Frage. Die nüchterne Wissenschaftlichkeit des »kalten Systematikers«27, ihr Erfolgsgeheimnis Mitte der 1960er Jahre, entsprach nicht mehr dem Lebensgefühl und den Erwartungen ihres meist studentischen Publikums. Die marxistische Konkurrenz hatte als geistige Väter der Bewegung hingegen ein erstaunliches Comeback erlebt28. François Dosse, führender Historiker des Strukturalismus, spricht daher auch von »Sartres Revanche«, wenn er beschreibt, wie die zuletzt stark unter Druck geratenen Kategorien von Subjekt, Geschichte und Revolution im studentischen Milieu wieder fröhliche Urständ feierten29. Der Strukturalis25 Vgl. Dosse, Geschichte des Strukturalismus 2, S.  166–191; zur akademischen Karriere Foucaults vgl. Kauppi, French Intellectual Nobility, S. 163. Die Rolle der philosophischen Fakultät von Vincennes untersuchte Charles Soulié, Le destin d’une institution d’avantgarde. Histoire du département de philosophie de Paris VIII, in: Histoire de l’éducation 77 (1998), S. 47–69. Vgl. dazu auch Ingrid Gilcher-Holtey, Der »spezifische Intellektuelle«: Michel Foucault, in: dies., Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007, S. 359–391, hier insbesondere S. 360 ff. 26 Vgl. Didier Eribon, Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1999, S. 285–300. 27 Michel Foucault, Gespräch mit Madeleine Chapsal, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, Bd. 1: 1954–1969, Frankfurt a. M. 2001, S. 664–670, hier S. 667. 28 Zur Bedeutung der humanistischen Neuen Linken für die Studentenbewegung vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, »Die Phantasie an die Macht«. Mai 68 in Frankreich, Frankfurt a. M. 1995, S. 47–81. 29 Vgl. Dosse, Geschichte des Strukturalismus 2, S. 135–165.

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mus, so stellten interessierte zeitgenössische Kommentatoren nicht gänzlich frei von Schadenfreude fest, war binnen kürzester Zeit aus der Mode gekommen30. Politische Radikalität hingegen war nun wieder ein entscheidendes symbolisches Kapital geworden, um den Status als intellektuelle Avantgarde zu gewährleisten. Dies prädisponierte auch die jüngeren Strukturalisten, die dieses Label bald zurückweisen sollten, zu einer Politisierung ihrer Theorien. Der Soziologe Louis Pinto hat gezeigt, wie ihnen dies durch einen Kunstgriff gelang: Die Ausweitung des Politischen im Umfeld der Studentenbewegung kreativ umdeutend vollzogen sie eine Theoretisierung der Politik, indem sie durch Abstraktion das Politische auf die Ebene des philosophisch Grundsätzlichen hoben31. Doch es blieb nicht allein bei solchen semantischen Schachzügen. Im Folgenden ist zu zeigen, wie durch die Verbindung mit Elementen aus dem linksextremen Studentenmilieu des Gauchismus und den Kernanliegen der 1968er-Bewegung auch genuin gesellschaftskritische Potentiale des Post-Strukturalismus aktiviert wurden. Ein Beispiel dafür ist die Groupe d’information sur les prisons32. Gegründet wurde die Gruppe Gefängnisinformation im Januar 1971 im Umfeld eines Hungerstreiks inhaftierter Aktivisten der Gauche prolétarienne (G. P.). Diese linksradikale Gruppe war aus den Verfallsprodukten der »Bewegung vom 22. März«, einer der Keimzellen der Studentenbewegung in Nanterre, und aus einer maoistischen Gruppe von Studenten der elitären Ecole normale supérieure entstanden. Ihre Radikalität trug der Gauche prolétarienne zugleich den gesteigerten Verfolgungseifer der Behörden und die besondere Solidarität der Pariser Intellektuellen ein. Allen voran wurde sie durch Sartre unterstützt, der auch eine 30 Vgl. Épistémon [Didier Anzieu], Ces idées qui ont ébranlé la France (Nanterre, novembre 1967–juin 1968), Paris 1968, wo dem Strukturalismus umstandslos die »Sterbeurkunde« ausgestellt wurde, negiert von einer Geschichte, die er selbst habe negieren wollen (S. 29). Anzieu differenzierte allerdings wie die meisten Beobachter zwischen einer fruchtbaren Methode des Strukturalismus und der Modeerscheinung, die Mitte der 1960er Jahre die Feuilletons dominiert habe. Zu Épistémons kritischer Diagnose vgl. Dosse, Geschichte des Strukturalismus 2, S. 139 f. und S. 144 ff. 31 Vgl. Louis Pinto, Mai 68 et le rapport des philosophes aux sciences de l’homme, in: François Bédarida/Michel Pollak (Hrsg.), Mai 68 et les sciences sociales, Paris 1989, S. 39–59, sowie Louis Pinto, Politiques de philosophes (1960–1976), in: La Pensée 197 (1978), S. 53–72. Am augenscheinlichsten ist das Beispiel der Literaturzeitschrift Tel Quel, die sich sukzessive der Kommunistischen Partei Frankreichs und dem Maoismus zuwandte; vgl. Richard Wolin, The Wind from the East. French Intellectuals, the Cultural Revolution and the Legacy of the 1960s, Princeton (NJ)/Oxford 2010, S. 233–287. Derartige Politisierungsstrategien und abrupte Kurswechsel erfolgten jedoch immer zugleich »aus Opportunismus und aus Überzeugung«, wie der Literaturwissenschaftler Philippe Forest, ­Histoire de Tel Quel (1960–1982), Paris 1995, S. 297, betonte. 32 Neben den im Folgenden zitierten Spezialstudien wird diese Episode aus Foucaults intellektueller Biographie mehr oder minder ausführlich geschildert bei David Macey, The Lives of Michel Foucault. A Biography, New York 1995, S. 257–289, Michael Fisch, Werke und Freuden. Michel Foucault  – eine Biographie, Bielefeld 2011, S.  234–239, sowie von­ Didier Eribon, Michel Foucault. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 1999, S. 318–375.

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herausragende Rolle im Secours Rouge (der Roten Hilfe) spielte33. Dieser war im Umfeld der Gauche prolétarienne gegründet worden, um gauchistische Aktivisten gegen das teils harte Vorgehen von Justiz und Innenministerium zu schützen. Er wurde getragen von prominenten demokratischen Intellektuellen und einem spannungsreichen Bündnis verschiedener linksradikaler Organisationen34. Dem Hungerstreik der inhaftierten Maoisten lieferte er den ideologischen Überbau. Das Vorgehen der Behörden wurde als Element einer »Klassenjustiz« denunziert, die sich im Dienste der Bourgeoisie gegen die proletarischen »Massen« richtete. Ihr entgegen stellte die Rote Hilfe das Ideal einer »Volksjustiz«. Nicht allein sollte Gegeninformation die Öffentlichkeit über Willkür und Gewalt von Polizei und Justiz in Kenntnis setzen und die Prozesse der Aktivisten zu politischen Er­eignissen werden lassen. Die »Volksjustiz« sollte darüber hinaus in die Offensive gehen, als sie bei einem »Volkstribunal« nach einem Grubenunglück die »Massen« über die Verantwortlichen der Bergbaugesellschaft zu Gericht sitzen ließ. Diese Aneignung der Justiz deuteten Sartre und die Maoisten als einen revolutionären Akt, der die Macht zu richten zurück in die Hände des Volkes legen sollte. Die von der Roten Hilfe in Anschlag gebrachte Semantik zielte mithin darauf ab, die Vielfalt der punktuellen Aktionen gegen die »Repression« mit der Gesamtheit des »Klassenkampfs« zu verbinden. Die Einheit des Kampfs musste in letzter Instanz gewahrt bleiben, selbst wenn dieser gleichzeitig an vielen Fronten ausgefochten wurde35. Anfang 1971 nun suchten die Maoisten auch den Kontakt zu Foucault. Ange­ dacht war eine öffentlichkeitswirksame Untersuchungskommission zu den teilweise katastrophalen Zuständen in den französischen Gefängnissen, da die inhaftierten Aktivisten auf die »gewöhnlichen« Strafgefangenen als mobilisierungsfähige Gruppe aufmerksam geworden und zugleich selbst für die Erfahrung 33 Vgl. Wolin, Wind from the East, S.  197–219, sowie Julian Bourg, The Red Guards of­ Paris: The French Student Maoism of the 1960s, in: History of European Ideas 31 (2005), S. 472–490, und Julian Bourg, From Revolution to Ethics. Mai 1968 and Contemporary French Thought, Montreal u. a. 2007, S. 51–67. Zum französischen Maoismus vgl. ferner­ Christophe Bourseiller, Les maoïstes. La folle histoire des gardes rouges français, Paris 2008, sowie A. Belden Fields, Trotskyism and Maoism. Theory and Practice in France and the United States, New York u. a. 1988. 34 Vgl. Bernard Brillant, Intellectuels et extrême-gauche. Le cas du Secours rouge, in: CNRS IHTP. Lettre d’information 32 (1998), S. 1–24. 35 Dieses übergreifende Ziel durchzieht wie ein roter Faden die Dokumente von G. P. und Secours rouge (S. R.) BDIC , Fonds Gauche prolétarienne, Secteurs, F delta rés. 576/5/8, Secours Rouge, Rapport du Comité d’Initiative, September 1971; Secours Rouge, Commission orientation, 1971. Gleiches gilt für das Ideologem von »Klassenjustiz« und »Volks­justiz«;. IMEC , Fonds GIP, GIP2.Di-21, Secours Rouge, Ce texte doit ouvrir un mouvement de critique, 1972. Paradigmatisch für diese politisch-ideologische Strategie der Maoisten war das »Volkstribunal« im Dezember 1970 gegen die Verantwortlichen des Grubenunglücks von Fouquière-les-Lens, bei dem Sartre die Rolle des Anklägers übernahm. Vgl. dazu, auch bereits in Kontrast zur G. I. P.: Brillant, Intellectuels et extrême-gauche, S.  17 f.; Wolin, Wind from the East, S. 28 f., sowie Bourg, Revolution, S. 68–78, insbesondere S. 73 ff.

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der Haft sensibilisiert worden waren36. Die von dem Maoisten präferierten Formen des »Volkstribunals« oder der »Untersuchungskommission« lehnte Foucault jedoch vehement ab37. Was ihm vorschwebte, war eine Groupe ­d ’information, eine Gruppe, deren Ziel nicht im revolutionären Akt des »Urteils«, sondern im Prozess der Information liegen sollte38. Trotz dieser Abkehr von der ursprünglichen Konzeption der Gauche prolétarienne sollten sich in der Arbeit und Selbstdeutung der von 1971 bis 1973 aktiven G. I. P. dennoch marxistische Residuen und semantische Innovationen, Sehnsucht nach dem großen, vereinheitlichenden Klassenkampf und Strategien zu dessen Verflüssigung überlagern. Ein Beispiel für eine solche Überlagerung ist die wohl bekannteste Strategie der Gruppe, die sogenannte Enquête-intolérance. Dabei ging es darum, Informationen über die materiellen Haftbedingungen zu sammeln und sich bewusst von jeder »soziologischen Untersuchung« mit ihren Formen statistischer Vereinheitlichung abzuheben39. Dazu wurden Fragebögen, die Aktivisten in den samstäglichen Warte­schlangen unter den Angehörigen der Gefangenen verteilt hatten, heimlich über die Besuchsräume in die Haftanstalten geschmuggelt. In einem Begleitschreiben vom März 1971 wurden die Ziele der Aktion wie folgt charakterisiert: »Den Häftlingen aus verschiedenen Gefängnissen die Möglichkeit bieten, selbst zu ­sagen, wie die Haftbedingungen sind, was für sie besonders unerträglich ist und von welchen Aktionen sie gerne sähen, dass sie sich draußen entwickeln.«

36 Vgl. Daniel Defert, L’émergence d’un nouveau front: les prisons, in: Philippe Artières, Laurent Quéro, Michelle Zancarini-Fournel (Hrsg.), Le Groupe d’information sur les­ prisons. Archives d’une lutte, 1970–1972, Paris 2003, hier insbesondere S. 316 f. Die Edition von Dokumenten der G. I. P. aus den Archiven des IMEC wird im folgenden zitiert als Archives d’une lutte. 37 Vgl. hierzu und zum Folgenden Gilcher-Holtey, Michel Foucault, S. 368 ff., insbesondere S. 369, sowie Bourg, Revolution, S. 90 f. 38 Zu den Differenzen zwischen Foucault und den Maoisten bezüglich der »Volksjustiz« vgl. Michel Foucault, Über die Volksjustiz. Eine Auseinandersetzung mit den Maoisten, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hrsg. von Daniel Defert und François Ewald, Bd. 2: 1970–1975, Frankfurt a. M. 2002, S. 424–461, hier insbesondere S. 453, wo es heißt: »Ich denke wie du, dass der Justizakt, mit dem man auf den Klassenfeind antwortet, nicht einer Art unreflektierten und nicht in einen Gesamtkampf integrierten Sponta­neität des Augenblicks überantwortet werden kann. Man muss die Formen dafür finden, dass dieses Bedürfnis nach einem Gegenschlag, das es in der Tat bei den Massen gibt, durch Diskussion und Information verarbeitet wird.« (Hervorhebung von mir). Zu diesem Gespräch vgl. auch Bourg, Revolution, S. 90 f., sowie Wolin, Wind from the East, S. 28–38. Es zeigt nicht zuletzt, wie sehr sich Foucault der Diktion seines gauchistischen Umfelds angenähert hat. 39 GIP, Enquête-intolérance, in: Archives d’une lutte, S.  53 f. Dort auch das folgende Zitat. Zur Fragebogenaktion der G. I. P. vgl. im Folgenden durchgängig auch Benedikte Zitouni,­ Michel Foucault et le Groupe d’information sur les prisons. Comment faire exister et ­circuler le savoir des prisonniers, in: Les Temps Modernes 645/646 (2007), S. 268–307, insbesondere S. 283 f., sowie Gilcher-Holtey, Michel Foucault, S. 370 ff., und Bourg, Revolution, S. 81 f., der auch (S. 90–95) die Abgrenzung zu Sartres »Volkstribunal« aufzeigte.

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An dieser Quelle zeigen sich zwei Merkmale der Enquête-Praxis. Zunächst wurde betont, dass die Gefangenen selbst die Möglichkeit haben sollten zu sprechen. Tatsächlich bemühte sich die G. I. P. ausdrücklich darum, die Zeugnisse der Gefangenen ohne jeden Kommentar oder jede Synthese zu veröffentlichen und somit die Erfahrungen zu bewahren, die in jedem individuellem Zeugnis zum Ausdruck kamen. Dies unterschied sie von ähnlichen Fragebogenaktionen, welche die Maoisten in den Jahren zuvor an den Toren der großen Fabriken durchgeführt hatten. Selbst wenn die Gauche prolétarienne getreu den Worten des großen Vorsitzenden die »richtigen Ideen« bei den Massen gesucht hatte, so war es dort immer noch der Intellektuelle gewesen, der dieses Wissen synthetisierte und deutete40. Im Bruch mit diesem Muster sah ein maoistischer Basis­ aktivist aus Lyon rückblickend die wichtigste Neuerung der G. I. P.: »Diese beispielhafte Erfahrung war jene der Gruppe Gefängnisinformation, die im vorhergehenden Jahr in Hinblick auf die Strafinstitution eine ›Methode‹ der Recherche und eine neue Praxis entdeckt hat: Jenen, die innerhalb der Institution unterdrückt werden, das Recht und die Möglichkeit zu geben, sich nicht nur auszudrücken, sondern ihren Ausdruck zu beherrschen und zu lenken, in einem Wort, das Recht, der Forscher zu sein, und nicht allein der Erforschte. […] Dies ist der einzige Weg dafür zu sorgen, dass der Häftling nicht nur das Objekt ist, über das man spricht, um das man sich kümmert, dessen ›man sich annimmt‹, sondern das Subjekt einer Umkehr der Institution.«41

Die Enquête der G. I. P. begriff sich also als eine politische Wissenspraxis, welche die institutionellen Verhältnisse umdrehen wollte, indem sie das Objekt der Untersuchung zu dessen Subjekt machte42. Wenn hier noch von einem revolutionären Akt die Rede sein konnte, dann allein bezogen auf die Praxis der Hervorbringung von Wissen und Information. Ein weiteres Merkmal der Enquête-intolerance wird deutlich, wenn man die Fragebögen selbst in Augenschein nimmt43. Gefragt wurde hier vor allem nach Aspekten des Alltagslebens in Haft: den Besuchsrechten, dem Disziplinarreglement, dem Zustand der Zellen, der Nahrung, dem Angebot im Gefängniskiosk, dem Hofgang, der medizinischen Versorgung, den Arbeitsbedingungen und -löhnen in den Gefängniswerkstätten, den Ausbildungsmöglichkeiten und den Freizeitangeboten. Das Wissen, das hier erhoben wurde, war ein sehr konkretes, empirisches Wissen, das sich nur auf Bedingungen und Vorkommnisse in einzelnen Haftanstalten bezog44. So formulierte eine strategische Analyse 1974 in 40 Vgl. Bourg, Red Guards of Paris, S. 473 und S. 487–490. 41 BDIC , Fonds Gauche prolétarienne, Post-GP, F delta rés. 576/8, Daniel Prieto, Questions de Méthode. Vgl. dazu auch Bourg, Revolution, S. 85 f. 42 Vgl. Gilcher-Holtey, Michel Foucault, S. 369. 43 Reproduziert als GIP, Questionnaire aux détenus, in: Archives d’une lutte, S. 55–62. 44 Vgl. Philippe Artières, L’ombre des prisonniers sur le toit. Les héritages du GIP, in: Didier Eribon (Hrsg.), L’infréquentable Michel Foucault. Renouveaux de la pensée critique, Paris 2001, S. 101–111, hier insbesondere S. 109 f.

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der Rückschau: »Man soll auf jeden Fall immer vom Wirklichsten, vom Konkretesten ausgehen […]. Nicht die Justiz an sich, das Gefängnis an sich soll angegriffen werden… sondern dieses Gefängnis, jenes Kommissariat…«45 Durch das lokale, immer eingeschränkte Wissen der Enquête verlagerte sich auch der Aktivismus der G. I. P. auf eine Mikroebene: konkrete Missstände in einer einzelnen Anstalt, Übergriffe durch bestimmte Wärter wurden vorrangiges Ziel ihrer klar begrenzten Aktionen46. Gegenüber der Perspektive des Secours Rouge, der noch versucht hatte, jede Aktion an den Klassenkampf an sich rückzubinden, zeigte sich hier eine neue programmatische Emphase des Einzelfalls, des Lokalen und Singulären, die für die Analysen und die Aktionen der G. I. P. charakteristisch war47. Nichtsdestoweniger fand sich auch in ihren Texten bisweilen weiterhin eine Sehnsucht nach sinnstiftender Vereinheitlichung, nach der großen verbindenden Klammer des Klassenkampfs, und zwar wiederum in Form des Ideologems der Klassenjustiz. So bemerkte die bereits zitierte Handreichung zur Fragebogen­ aktion aus dem März 1971: »Es ist auch gut, Informationen zur Art der Delikte, zu den verhängten Strafen zu sammeln […]. Definieren: Wer geht ins Gefängnis und nach welchen Klassenmechanismen?«48 Bezogen auf die Praktiken der G. I. P. wirkte das Ideologem nun jedoch merkwürdig aufgesetzt. Hatte Sartres Volkstribunal nach dem Minenunglück sich noch eindeutig an »Klassengesichtspunkten« orientiert und zumindest theoretisch die Betriebsführung dem Urteil der Arbeiterschaft unterworfen, war eine solche klare Frontstellung nun nicht mehr auszumachen. Alle maoistischen Versuche, die Gefangenen dennoch symbolisch als ouvriers-détenus (Arbeiter-­ Gefangene) in das Proletariat einzugemeinden, wurden sowohl von den Gefangenen als auch den Arbeitern verworfen und erwiesen sich in der Praxis als leer 45 BDIC , Fonds Gauche prolétarienne, Post-GP, F delta rés. 576/8, Daniel Prieto, Pour les­ camarades, à default de ma présence, si ces réflexions peuvent vous être utiles. Beide Dokumente sind retrospektive Analysen eines Aktivisten nach dem Ende der G. I. P. 1973. 46 Vgl. beispielsweise das Flugblatt GIP, Violences à Fleury-Mérogis, in: Archives d’une lutte, S. 141 ff., in dem von einer Vergeltungsaktion der Wärter des Gefängnisses von FleuryMérogis nach einer Geiselnahme in einer anderen Haftanstalt berichtet wurde. 47 Vgl. Grégory Salle, Mettre la prison à l’épreuve. Le GIP en guerre contre « l’intolérable », in: Cultures & Conflits, hors-série 55 (2004) S. 71–96, hier S. 94. Für die Kontrastierung der G. I. P. gegenüber dem S. R. vgl. Bourg, Revolution, S. 43–102. Während hier eine veränderte Form des Politischen hervorgehoben wurde, betonte Bourg die Inhalte mit Blick auf eine Neuorientierung des intellektuellen Engagements vom Paradigma revolutionärer Umgestaltung zu einem demokratischen, humanitären Ethos. 48 GIP, Enquête-intolérance, in: Archives d’une lutte, S. 53 f. Neben der »Klassenjustiz« zeigen sich besonders in der Deutung der Häftlingsrevolten von 1972 durch die Maoisten und den ebenfalls an den Aktionen der G. I. P. beteiligten Sartre als Beginn einer verallgemeinerten Revolte semantische Überhänge; BDIC , Fonds Gauche prolétarienne, Secteurs, F delta rés 576/5/5/2, Agence de Presse Libération, L’enfer de Toul. Textes de la conférence de presse du groupe d’information prisons et du comité pour la vérité Toul 5. janvier.

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und bedeutungslos49. Zwei Foucault nahestehende Intellektuelle und Aktivisten urteilten aus der Rückschau von 1976: »Die Begriffe, die eine große Beweglichkeit erlauben und den politischen Charakter unser Interventionen garantieren sollten: daß es sich sowohl in den Fabriken wie in den Gefängnissen um den gleichen Kampf der Klasse gegen die Macht handelte, daß man den Widerstand der Delinquenten und den der kämpfenden Arbeiter gegen die kapitalistische Organisation der Arbeit zusammenschließen müsse – mit dieser ganzen Codierung konnte man in der Praxis wenig anfangen. Jene Theorie vom Kontinuum der Volksresistancen wurde von beiden Seiten verworfen, ohne daß man dieses Phänomen in die Termini marxistischer Ideologie übersetzen oder auf das gute alte Phantom des Lumpenproletariats zurückgreifen konnte.«50

Diese Unmöglichkeit der Aufhebung der partikularen Kämpfe im Begriffs­ gebäude einer theoretisch-ideologischen Gesamtheit betonte auch der Philosoph Gilles Deleuze, der mit Foucault befreundet und selbst an der Initiative beteiligt gewesen war. In den Auseinandersetzungen der frühen 1970er Jahre wurden Fragen aufgriffen, die sich nicht länger nahtlos in das interpretative Raster des Klassenkampfs einordnen ließen. In seiner Rezension zu Foucaults »Überwachen und Strafen« schrieb er 1975: »Was in diffuser oder gar konfuser Weise für den Linksradikalismus charakteristisch war, ist theoretisch gesehen das Wiederaufwerfen der Fragen der Macht, das sich sowohl gegen den Marxismus als auch gegen die bürgerlichen Konzeptionen richtete, und auf praktischem Gebiet eine bestimmte Form lokaler, spezifischer Kämpfe, deren Beziehung und notwendige Einheit nicht mehr einem Prozeß der Totalisierung und Zentralisierung entstammen konnte […]. Es hat den Anschein, als ob endlich etwas Neues seit Marx auftauchte.«51

Eine Synthese der partikularen Kämpfe war nur noch in Form von Vernetzungen und temporären Koppelungen denkbar, die monolithische Einheit des Klassen49 Vgl. dazu exemplarisch die handschriftlichen Aufzeichnungen Daniel Deferts; IMEC , Fonds GIP, GIP2.Dg-01, Qui va en prison?, sowie die Flugblätter IMEC , Fonds GIP, GIP2. Ad-09, GIP, Melun: 180 prisonniers font la grève, und IMEC , Fonds GIP, GIP2.Dd-16, GIP-Melun, A Melun les détenus prennent la parole! Hier heißt es bezüglich der Ent­ lohnung der Gefangenen in den Werkstätten der Haftanstalt: »auch wenn er ein Vergehen begangen hat, so fühlt sich der Gefangene als ein Arbeiter-Häftling, dessen guter Wille und die Tätigkeit, die er vollbringt, durch einen anständigen Lohn gewürdigt werden muss.« Der Arbeitskampf der Gefangenen von Melun war ein Thema, das von den Gauchisten der G. I. P. zur Integration der Häftlinge in die Kämpfe der Arbeiterschaft immer wieder aufgegriffen wurde. 50 Defert Daniel/Jacques Donzelot, Die Schlüsselposition der Gefängnisse, in: Michel Foucault, Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 7–15, hier S. 9 f. Vgl. dazu Christophe Soulié, Liberté sur paroles. Contribution à l’histoire du Comité d’Action des Prisonniers, Bordeaux 1995, S. 49. 51 Gilles Deleuze, Ein neuer Kartograph, in: ders., Foucault, Frankfurt a. M. 1987, S. 37–66, hier S. 38 f.

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kampfs wurde zurückgewiesen52. In der Reflexion der Kämpfe der G. I. P. zeigt sich damit eine ähnliche Strategie der Verstreuung, wie sie bereits die strukturalistische Wissenskritik der 1960er Jahre geprägt hatte. Nur ist diese Bewegung jetzt, nach den Verschiebungen des intellektuellen Feldes im Mai 1968, in den politischen Bereich vorgedrungen: Sowohl das revolutionäre Subjekt als auch die Revolution zerfallen in eine lose verknüpfte Vielheit, die nicht mehr dialektisch im großen »Hauptwiderspruch« zwischen Bourgeoise und Proletariat aufgehoben werden kann53. Doch nicht nur die Gesamtheit des Klassenkampfs war zerfallen. Mit der Dezentrierung des Subjekts in Foucaults Wissenskritik der 1960er Jahre im Hinter­ kopf ist es interessant, die Frage politischer Subjektivität auch auf der Mikro­ ebene, in der Praxis der G. I. P. näher zu betrachten. Hierzu bietet sich ein erneuter Vergleich zu den organisatorischen Strukturen des Secours Rouge an. Zwar fußten dessen Aktionen vor Ort auf der Arbeit von Basisgruppen, jedoch sollte auf ­höherer Ebene eine institutionelle Struktur mit einem Nationalkongress, einem Initiativ-Komitee und einem ausführenden Sekretariat, das über finanzielle und juristische Kompetenzen verfügte, deren Arbeit koordinieren54. Damit wies die Rote Hilfe Residuen eines »pyramidialen« und »zentralistischen« Organisationsschemas vom »bolschewistischen Typ« auf, wie es auch für die zahlreichen gauchistischen Splittergruppen der Zeit charakteristisch war55. Wie in ihrer Semantik strebte sie auch in ihrer organisatorischen Form nach einer Vereinheitlichung in letzter Instanz. In genau diesem Punkt sollte sich die G. I. P. maßgeblich von ihr unterscheiden. Auch sie gliederte sich in lokale Basisgruppen, die aber vollständig autonom agierten und sich jeweils auf die Arbeit in einer einzelnen Haftanstalt konzentrierten. Die G. I. P. in der Hauptstadt fungierte hier nur noch als Verteiler von Informationen und Kontakten, nicht länger als organisatorische Zentrale mit Steuerungsbefugnissen. Jean-Marie Domenach, Herausgeber der links­ katho­lischen Zeitschrift »Esprit« und Mitinitiator der G. I. P., legte Wert auf die Feststellung, dass es sich bei der Gruppe um »keine strukturierte Organisation mit einem Komitee und einem Sekretariat«56 handele, wie auch Foucault 52 Vgl. dazu vor dem Hintergrund des strategischen Repertoirs der Neuen Linken GilcherHoltey, Michel Foucault, S. 381 f. und S. 384. 53 Gegenläufige Tendenzen beobachtet Brieler, Die Unerbittlichkeit der Historizität, S. 337–343, im Theorem der Disziplinargesellschaft, das wieder eine monolithische Formation einführte und teilweise Klassenkampfkategorien reaktualisierte. 54 BDIC , Fonds Gauche prolétarienne, Secteurs, F delta rés. 576/5/8, Secours Rouge, Projet de Resolution: Sur l’orientation politique du Secours Rouge, 1971. 55 Jean-Paul Etienne, La Gauche Prolétarienne (1968–1973). Illégalisme révolutionnaire et justice populaire, Lille 2003, S. 97 Anm. 1. Zu einem anderen Eindruck gelangte Brillant, Intellectuels et extrême-gauche, S. 14, der die faktische Autonomie der lokalen Komitees betonte. 56 Jean-Marie Domenach, Rendre aux détenus et à leurs familles conscience de leur dignité, in: Archives d’une lutte, S. 220 ff., hier S. 221.

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das Fehlen hierarchischer Strukturen hervorhob: »keine Organisation, kein Chef, man macht wirklich alles, damit man eine anonyme Bewegung bleibt, die nur durch die drei Buchstaben ihres Namens existiert. Jeder kann sprechen«57. Die Mitgliedschaft blieb informell, auf eine gemeinsame Repräsentation wurde verzichtet: In ihrem Bestreben, den Gefangenen das Wort zu erteilen setzte die G. I. P. auf Vielstimmigkeit. Statt durch organisatorische Struktur verknüpfte man sich in einer anderen Form: als loses »Netzwerk«58, das gar nicht danach strebte zwischen den hochgradig heterogenen weltanschaulichen Prägungen der Aktivisten – Maoisten der Gauche prolétarienne, christliche Sozialarbeiter aus dem Umfeld von »Esprit«, ehemalige Gefangene und Familien von Häftlingen – Einheit und Verbindlichkeit herzustellen59. Diese organisatorische Elastizität ging bisweilen selbst zahlreichen Basisaktivisten, maoistischer wie christlicher Provenienz, zu weit. Die einen beklagten sich über »den Mangel an Koordination auf nationaler Ebene […], die quasi vollständige Abwesenheit jeglicher Organisation«60, die anderen sahen in den »›GIPs‹, die in autonomer Weise agieren« die Gefahr von unverantwortlichen »Kommandoaktionen« und erkundigten sich voller Zweifel und Sorge nach »dem Einverständnis der zentralen Gruppe«61, so dass die Initiatoren sich fragten, wie man den eigenen Aktivisten klarmachen könne »dass wir keine vereinheitlichte Organisation darstellen«62. Mit ihrem Bemühen um netzwerkförmige Organisation, dem Verzicht auf hierarchisch-zentralistische Elemente und dem damit aufgebebenen Anspruch auf eine einheitliche Stimme stellte die G. I. P. ein praktisches Experiment auf der Suche nach einer neuen Form von politischer Subjektivität dar. Sie versuchte Verknüpfungen, Handlungs- und Ausdrucksfähigkeit zu erzeugen, ohne der Tendenz zur Totalisierung nachzugeben, ohne ein autonomes, geschlossenes politisches Subjekt im Sinne der klassischen Parteien und sektiererischen Gruppierungen der extremen Linken zu erzeugen, wie es noch der Erwartungshaltung vieler ihrer eigenen Aktivisten entsprach. Betrachtet man sie vor der Hintergrundfolie poststrukturalistischer Wissenskritik, so zeigt sich damit vor allem eine Analogie der Form zum einen in der Zurückweisung einer einheitlichen Subjektkategorie in den Arbeiten Foucaults, zum anderen mehr noch ein Bezug zu den Versuchen des Psychoanalytikers und ehemaligem Trotzkisten Félix Guattari aus den 1960er Jahren, Subjektivität in anderer, offener, fluider Weise, in Form von beweglichen, »transversalen« Verknüpfungen zu 57 Michel Foucault, Die große Einsperrung, in: Foucault, Dits et Ecrits 2, S. 367–381, hier S. 379. Vgl. auch Gilcher-Holtey, Michel Foucault, S. 369. 58 Domenach, Rendre aux détenus, S. 221. 59 Vgl. Salle, Mettre la prison à l’épreuve, S. 85 f. 60 IMEC , Fonds GIP, GIP2.C01–06, Aktivist der G. I. P. Lyon an Daniel Defert vom 1.10.1972. 61 IMEC , Fonds Espirt, ESP2.E4–01.01, Aktivist der G. I. P. Toulouse an Jean-Marie D ­ omenach vom 15.1.1972. 62 IMEC , Fonds Esprit, ESP2.E4–01.01, Jean-Marie Domenach an Michel Foucault vom 25.1.1972.

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denken63.  In diesen Aspekten einer Verflüssigung der Form des Politischen, so soll abschließend argumentiert werden, lag das attraktive Angebot, das die poststrukturalistische Theoriebildung ab Mitte der 1970er Jahre in der Abenddämmerung des roten Jahrzehnts für das linksextreme politische Denken machen konnte64.

4. Strategien der Verflüssigung Rekapitulieren wir: Der Blick auf die Genese des (Post-)Strukturalismus in den 1960er Jahren hat zunächst gezeigt, wie dieser von Beginn an in intellektueller Konkurrenz zu und somit auch in inhaltlicher Auseinandersetzung mit der marxistischen Avantgarde der Nachkriegszeit entstand. Durch sein Denken in System und Differenz trug er zur Dekonstruktion von Kategorien wie Subjekt oder Fortschritt bei, ohne die das marxistische Denken nicht auskommen konnte. Gleichzeitig entwickelte er damit aber auch eine Wissenskritik, die auf epistemologischen Strategien der Verflüssigung beruhte, die gegen alle Formen von fester, totalisierender und organischer Einheit gerichtet waren. Das verallgemeinerbare politische Potential dieser Wissenskritik sollte jedoch erst aktiviert werden, nachdem der Mai 1968 die Rahmenbedingungen des intellektuellen Felds dahingehend verschoben hatte, dass die Vordenker des Poststrukturalismus zu einer Politisierung ihrer Theorien gedrängt wurden. In Verbindung zum zeitgenössischen Linksradikalismus zeigte sich, dass die kritischen Potentiale des Poststrukturalismus für die neuen partikularen und lokalen Kämpfe, etwa der Gefangenenbewegung, in hohem Maße anschlussfähig waren. Da sich diese Kämpfe der vielfältigen Minderheiten nicht mehr in das Deutungsmuster der marxistischen Analyse fügten, bedurften sie nach einer neuen Semantik. So jedenfalls argumentierte Foucault in einem Interview mit dem deutschen »Tages-Anzeiger-Magazin« von 1972: »Es gibt heute eine große Anzahl von Jugendlichen, die sich für die G. I. P. und die anderen Probleme der marginalen Bevölkerung engagieren wollen. Was ihnen jedoch fehlt, sind die Analysen. Denn der P. C. oder allgemein die Tradition des französischen Marxismus hat so gut wie keinen Beitrag dazu geleistet, dass man es schafft, sich den Marginalen zuzuwenden, dass man ihre Probleme versteht und ihre Forderungen vertritt. Selbst die Linksradikalen zeigen die größte Abneigung dagegen, diese Arbeit zu übernehmen. Wir brauchen Analysen, um diesem beginnenden politischen Kampf einen Sinn geben zu können.«65 63 Vgl., Félix Guattari, Transversalität, in: ders., Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse, Frankfurt a. M. 1976 S. 39–55. Auf die Verbindung zwischen den organisatorischen Strategien der G. I. P. und dem Konzept der Transversalität verwies auch Artières, L’ombre des prisonniers sur le toit, S. 101. 64 Zum »roten Jahrzehnt« der Bundesrepublik vgl. Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Köln 2001. 65 Foucault, Die große Einsperrung, S. 381.

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Dieses Desiderat versuchte Foucault in den 1970er Jahren selbst einzulösen. Seine Theorie der Mikromächte und der Disziplinargesellschaft, die er im Anschluss an sein Engagement in der G. I. P. entwickelte, stellte genau den Versuch einer solchen Analyse der kleinen und vielfältigen Kämpfe dar66 – einer Analyse, die wiederum auf die Strategien der Auflösung fester Kategorien zurückgriff, die der Strukturalismus in den 1960er Jahren entwickelt hatte und sie nun auf das Politische übertrug. Statt auf die Staatsmacht als Objekt der Revolution richtete sich die Aufmerksamkeit jetzt auf die als ubiquitär wahrgenommenen Techniken der Macht in den Institutionen, im Wissen und in der Herausbildung von Subjektivität. Damit trieb Foucault auch die Entwicklung seiner Theorie weiter: Die dem Kontext des Strukturalismus geschuldete Beschränkung auf die Autonomie des Diskurses wurde überwunden, die Geschichte des Wissens öffnete sich hin auf eine nietzscheanisch inspirierte Genealogie der Macht und des »­ modernen Individuums«67. Auf diese Weise stellte Foucault eine Theoriesprache zur Verfügung, die in der Lage war, Machtbeziehungen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zu beschreiben, ohne dazu auf ein vereinheitlichendes Interpretament wie den Gegensatz antagonistischer Klassen oder gar eine vollständige Geschichtsphilosophie zurückgreifen zu müssen. In Verbindung mit seiner konstruktivistischen Wissenskritik aus den 1960er Jahren konnte sie zugleich als ein zersetzendes Antidot gegen die Verkrustungen und vermeintlich wissenschaftlichen Absolutheitsansprüche dogmatischer marxistischer Gruppen in Anschlag gebracht werden68. Die kritischen Potentiale des (Post-)Strukturalismus waren nun entfaltet und nicht zuletzt die krisengeschüttelte extreme Linke in der Bundesrepublik begann sie begierig zu rezipieren. Eine entscheidende Rolle beim Import und der Popularisierung des Poststrukturalismus für eine linksalternative Leserschaft kam dabei dem Westberliner Merve-Verlag zu69. In einem Brief an den Philosophen 66 Foucaults Monographie, in der er die Erfahrung der G. I. P. reflektierte und in eine Geschichte der Strafinstitutionen umsetzte, erschien 1975: Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1977. Zu seiner Machttheorie vgl. vor allem Thomas Schäfer, Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults Projekt einer antitota­litären Macht- und Wahrheitskritik, Frankfurt a. M. 1995; Thomas Lemke, Geschichte und Erfahrung. Michel Foucault und die Spuren der Macht, in: Daniel Defert, François Ewald (Hrsg.), Michel Foucault: Analytik der Macht, Frankfurt a. M. 2005, S. 319–348; Sarasin, Foucault zur Einführung, S. 122–146, sowie Gilcher-Holtey, Michel Foucault, S. 363 f. 67 Vgl. Dreyfus, Rabinow, Beyond Structuralism, S. 16 f. und S. 104–125. 68 Vgl. ZKM, Merve-Archiv, 18: Korrespondenz, Merve-Kollektiv an Michel Foucault vom 8.10.1976. 69 In dessen Korrespondenz mit den Autoren wurde betont, mit welchem regen Interesse die Zielgruppe der linken Szene die französischen Theorieangebote aufsog. ZKM, Merve-­ Archiv, 18: Korrespondenz, Merve- Kollektiv an Michel Foucault vom 8.10.1976, MerveKollektiv an Jean-François Lyotard vom 8.10.1976 sowie Heidi Paris und Peter Gente an Jean Baudrillard vom 15.5.1978. Vgl. dazu auch Philipp Felsch, Merves Lachen, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2.4 (2008), S. 11–30.

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Jean-François Lyotard, einen weiteren Protagonisten der französischen Theorie, erklärten die Verleger des Merve-Kollektivs, zum Teil selbst Veteranen des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds, bereits 1976, warum gerade die Theorieimporte aus Paris auf ein wachsendes Interesse in der linken Szene stießen: »Unter denen, die ihre Politisierung über den SDS , il manifesto, Gorz und die Studenten­ bewegung erfahren haben, kommt inzwischen die neuere französische Diskussion, Texte von Ranciere, Foucault, Deleuze/Guattari oder Irigaray voll an. Weil sie Bruch­ erfahrungen ermöglichen zu denken und traditionelle Subjekt-, Sinn-, Wahrheitskatego­ rien verschieben.«70

Das Frappierende an dieser Begründung ist, dass sie genau auf jenes Erbe der strukturalistischen Wissenskritik zielt, das in den 1960er Jahren von den marxistischen Existentialisten und damit von wichtigen Stichwortgebern der internationalen Studentenrevolte als Angriff auf die Praxis zurückgewiesen worden war. Teile der extremen Linken der Bundesrepublik, ermüdet von einer über­ bordenden marxistischen Diskussion, begannen sich für eine Form der Kritik zu interessieren, die an den Kategorien ansetzte, die einst noch selbst die selbstverständliche Grundlage der Kritik dargestellt hatten. Aus einer Sehnsucht nach Einheitlichkeit, wie sie in der vier Jahre zurückliegenden G. I. P. noch die maoistischen Gesprächspartner Foucaults empfunden hatten, war nun die dezidierte Suche nach einem linken Theorieangebot geworden, das in Brüchen und Fragmenten ohne deren dialektische Aufhebung denken konnte. Die vom Poststrukturalismus formulierte Absage an stabile und geschlossene Ordnungsmuster und einen geschichtsphilosophischen Erwartungshorizont zugunsten fluider und provisorischer Konzepte wurde für eine Generation attraktiv, die schmerzhaft die Deutungsdefizite und Zwänge der tradierten und vielfach nun als anachronistisch empfundenen linken Ideologieangebote erlebte hatte71. Besonders in der Phase der Neuorientierung nach der katastrophischen Erfahrung des deutschen Herbst richtete sich der Blick nach Frankreich72. Der Poststruktu70 ZKM, Merve-Archiv, 18: Korrespondenz, Merve-Kollektiv an Jean-François Lyotard vom 8.10.1976; Hervorhebungen von mir. Zu diesem Rezeptionskontext in der Bundesrepublik vgl. Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, München 2015. 71 Vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 91. Zur Erfahrung mit der »marxistischen Diskussion«, die der Hinwendung zum Poststrukturalismus vorausging, vgl. etwa das politische Itinerar der Merve-Verleger, geschildert in Merve Lowien, Weibliche Produktivkraft – gibt es eine andere Ökonomie? Erfahrungen in einem linken Projekt, Berlin 1977. 72 So gelang es dem Merve-Kollektiv, Foucault als Stargast auf dem TUNIX-Kongress im Januar 1978 zu positionieren. Dort sollte auch ein Dokumentarfilm über die G. I. P. gezeigt werden. Vgl. ZKM, Merve-Archiv, 18: Korrespondenz, Peter Gente an Daniel Defert vom 10.1.1977, Peter Gente und Heidi Paris an Michel Foucault vom 19.12.1977, Michel­ Foucault an Peter Gente vom 11.1.1978, Peter Gente und Heidi Paris an Michel Foucault vom 23.3.1978; vgl. auch Felsch, Merves Lachen, S. 21 f.

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ralismus fand nun Eingang in den Theoriefundus der Linken, indem er die allgegenwärtige Bewegung der Verflüssigung und Individualisierung, des »Age of Fracture« aufgriff und der entstehenden bunt ausdifferenzierten Alternativszene eine politische Semantik anbot, die nicht längere auf eine Herstellung von Einheit und Totalität zielte. Damit kann sie wiederum als Selbstbeschreibung einer Zeit gelten, in der Freiheit und Flexibilität selbst zum Prinzip der gesellschaftlichen Ordnung aufgestiegen waren73.

73 Vgl. Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge (Mass.)/London 2011.

Fernando Esposito

Von no future bis Posthistoire Der Wandel des temporalen Imaginariums nach dem Boom »Die Flucht der Modernen nach vorne hat vielleicht vor 20 Jahren, vielleicht vor zehn Jahren, vielleicht vor einem Jahr aufgehört – mit der Vermehrung von Ausnahmen, für die niemand mehr einen Platz im regelmäßigen Fluss der Zeit sah.«1

1. Zum aktuellen Ende der Geschichte Es ist eher eine Seltenheit, dass eine soziologische Habilitationsschrift in der Öffentlichkeit auf große Resonanz stößt. Doch sei es dank etlicher FeuilletonDebatten, die um »Entschleunigung« kreisten oder die Ursachen der neuen »Volkskrankheit Burnout« zu ergründen suchten, sei es infolge diverser Fernsehsendungen und Kino-Filme, die sich mit der schnellen Taktung unseres Alltags oder dem Speed des »Turbo-Kapitalismus« befassten, wurden einige von Hartmut Rosas Thesen auch außerhalb des akademischen Felds breit rezipiert2. Sein 2005 erstmals bei Suhrkamp erschienenes Buch »Beschleunigung«. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne« liegt derzeit immerhin in zehnter Auflage vor und wurde ins Englische und Französische übertragen3. Mit seiner »Neubestimmung der Moderne« im Spannungsfeld von »Beschleunigung« und 1 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrische Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008, S. 99. 2 Zum Feuilleton vgl. etwa verschiedene Artikel und Interviews in der Wochenzeitung Die Zeit: So vom 31.12.2009: »Muße braucht Zeit. Ein Gespräch mit dem Soziologen und Beschleunigungsforscher Hartmut Rosa über das andauernde Gefühl, noch etwas erledigen zu müssen«; vom 29.6.2009: »Ohne Bremse an die Wand«; vom 19.12.2007: »›Wir wissen nicht mehr, was wir alles haben‹. Warum kluge Hedonisten den Verzicht üben – und warum nur Entschleunigung den Blick für das Wesentliche schärft. Ein Gespräch mit dem Soziologen Hartmut Rosa«; vom 16.12.2012: »Einladung zur Langsamkeit«; vom 4.11.2011: »›Jeden Tag schuldig ins Bett‹. Das Hamsterrad für Professoren dreht sich immer schneller, teils mit ruinösen Folgen für die Menschen und die Forschung. Ein Gespräch mit Hartmut Rosa über die Ursachen und mögliche Korrekturen«. Zu den Fernsehsendungen vgl. etwa Christian Bock, Beschleunigte Welt (Erstausstrahlung bei 3sat am 19.7.2012), www.3sat.de/page/ ?source=/wissenschaftsdoku/sendungen/163505/index.html. Zum Kinofilm vgl. Florian Opitz, Speed. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (Camino Filmverleih 2012), www.speed-derfilm.de. 3 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005; sowie die »Fortsetzungen« von Hartmut Rosa: Weltbeziehun-

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»Erstarrung« gelang dem Ordinarius aus Jena jedenfalls eine Diagnose der Gegenwart, die bei zahlreichen Zeitgenossen Anklang fand. Nebst »Beschleunigung« bestimmen zwei weitere, verwandte Chronotopoi, also temporale Gemeinplätze oder Ordnungsvorstellungen, Rosas Deutung unserer Gegenwart4. Der erste ist das Bild des »rasenden Stillstands«5, das auf Paul Virilios deutschen Übersetzer Bernd Wilczek zurückgeht. Aus dem dunklen Titel »L’inertie polaire« des französischen Philosophen und selbsternannten »Dromologen« wurde im Deutschen ein geflügeltes Wort. Während der Originaltitel des bereits 1990 erschienenen und vermutlich häufiger zitierten als gelesenen Buchs eher unverständlich war, schien der Begriff des rasenden Stillstands ein spezifisches Verständnis gegenwärtigen In-der-Zeit-Seins in ein anschauliches Bild zu bannen. In Erinnerung an Tancredis berühmten Ausspruch aus Giuseppe Tomasi di Lampedusas »Il Gattopardo« heißt es wiederum bei Rosa6: »Rasender Stillstand bedeutet […], dass nichts bleibt, wie es ist, ohne dass sich etwas Wesentliches verändert.«7 Das zweite, damit eng verflochtene Interpretament, das Rosa heranzieht, ist das vom »Ende der Geschichte«. Unter Bezug auf Kosellecks These von einer »Verzeitlichung der Geschichte« während der »Sattelzeit«8 erweise sich die Zeit nach dem Boom oder gen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik, Berlin 2012; ­Beschleunigung und Entfremdung. Auf dem Weg zu einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Berlin 2013. 4 Zum Chronotopos vgl. Michail M. Bachtin, Chronotopos, Frankfurt a. M. 2008. Eine hier dienlichere Definition bieten: John Bender/David Wellbery, Introduction, in: dies. (Hrsg.), Chronotypes. The Construction of Time, Stanford 1991, S. 1–15, hier S. 4: »Chronotypes are models or patterns through which time assumes practical or conceptual significance. Time is not given but […] fabricated in an ongoing process. Chronotypes are themselves temporal and plural, constantly being made and remade at multiple individual, social, and cultural levels. They interact with one another, sometimes cooperatively, sometimes conflictually. They change over time and therefore have a history or histories, the construal of which itself is an act of temporal construction. […] Chronotypes are not produced ex nihilo; they are improvised from an already existing repertoire of cultural forms and natural phenomena.« 5 Vgl. hierzu und zum Folgenden Rosa, Beschleunigung, S. 428–490. 6 Vgl. Giuseppe Tomasi di Lampedusa, Il Gattopardo, Mailand 1958, S. 41. Dort heißt es: »Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi.« In deutscher Übersetzung: »Wenn alles so bleiben soll, wie es ist, muss sich alles ändern.« 7 Rosa, Beschleunigung, S. 436 und S. 479. 8 Vgl. unter anderem folgende Beiträge von Reinhart Koselleck: Einleitung zu: Otto Brunner/ Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd.  1: A-D, Stuttgart 1972, S.  XIII–XXVII; »Neuzeit«. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ­Reinhart Koselleck (Hrsg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S.  264–299; Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: Reinhart Herzog/ Reinhart Koselleck (Hrsg.), Epochenschwelle und Epochenbewusstsein, München 1987, S.  269–282; Geschichte, Historie, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grund­begriffe, Bd. 2: E-G, Stuttgart 1979, S. 593–717 (zusammen mit Odilo Engels, Horst Günther und Christian Meier); Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989.

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»der Übergang zur Spätmoderne als umgekehrter Prozess der Entzeitlichung von Geschichte und Leben […]. Während die Geschichte in der klassischen Moderne den Charakter einer gerichteten und politisch zu gestaltenden Bewegung annahm, setzt sich in der Spätmoderne immer stärker die Wahrnehmung einer richtungslosen historischen Veränderung durch, die nicht länger politisch zu steuern oder zu kontrollieren ist. […] Die daraus resultierende Wahrnehmung eines ›Endes der Geschichte‹ reflektiert dabei nur das Ende der um die Fortschrittsidee zentrierten, gerichteten, verzeitlichten Geschichte der klassischen Moderne und den Übergang in einen Zustand, in dem die vormals als ungleichzeitig gedachten historischen Formen wieder zu zeitlosgleichzeitigen Alternativen werden […].«9

Rosas Diagnose betont also, erstens, das Fehlen eines Ziels oder Telos gegenwärtigen Wandels und hebt die scheinbar abhanden gekommene politische Steuerund Kontrollierbarkeit von Veränderung hervor. Dieser Verlust von Agency stellt sich ihm, zweitens, als ein Ende der Geschichte, sprich als Ende einer spezifisch modernen Form der Zeitlichkeit dar. Dieser Beitrag spürt der Vorgeschichte dieser Gegenwartsdiagnose nach. Ihm liegt die These zugrunde, dass sich in den 1970er und 1980er Jahren eine Transformation des temporalen Imaginariums ereignete, die in eben dieser Wahrnehmung eines »Endes der Geschichte« resultierte. Es ereignete sich also ein Wandel der Verständnisse von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit, der menschlichen Handlungsmacht in der Zeit sowie von diversen temporalen Kategorien – beispielsweise von Fortschritt, Utopie und Moderne –, der im Begriff Posthistoire aufgehoben ist. Daher wird der Chronotopos Posthistoire als Pars pro toto für das Zeitverständnis nach dem Boom herangezogen. Dieser These liegt die Annahme zugrunde, dass Gesellschaften zwar stets »pluritemporal« verfasst sind, also von einer Vielfalt von Zeitbewusstseinen und -verständnissen bestimmt werden und ein sehr heterogenes temporales Imaginarium aufweisen. Gleichwohl etablieren sich hegemoniale »Zeitregime«10. Letztere sind, so eine an dieser Stelle nicht weiter zu erörternde These, das Ergebnis einer dezidierten Chronopolitik, deren Ziel es ist, so Charles S. Maier, »characteristic images of history and temporal order« sowie »different uses of time considered as a scarce social resource« durchzusetzen11. Die prinzipiell vorhandene gesell9 Rosa, Beschleunigung, S. 477 f. 10 Zur Pluritemporalität vgl. Achim Landwehr, Alte Zeiten, Neue Zeiten. Aussichten auf die Zeit-Geschichte, in: ders. (Hrsg.), Frühe neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012, S. 9–40, und Achim Landwehr, Geburt der Gegenwart. Eine Geschichte der Zeit im 17. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2014; zum Zeit- oder Historizitätsregime vgl. Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013; François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003, sowie diverse Beiträge in: Chris Lorenz/Berber Bevernage (Hrsg.), Breaking up time. Negotiating the borders between present, past and future, Göttingen 2013. 11 Zur Chronopolitik vgl. Peter Osborne, The politics of time. Modernity and avant-garde, London u. a. 1995; sowie Charles S. Maier, The politics of time: changing paradigms of

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schaftliche Pluritemporalität wird auf diese Weise minimiert, Heterogenes wird homogenisiert, und es konsolidieren sich paradigmatische Modi des Zeitdenkens mit ihren jeweils spezifischen Grammatiken und zentralen Chrono­topoi. In den 1970er Jahren avancierte Posthistoire zu einem solchen paradigmatischen Chronotopos, während andere Topoi und Narrative in den Hintergrund rückten12. Das heißt, selbstverständlich gab es gesellschaftliche Bereiche – so in Teilen der technisch-wissenschaftlichen Intelligenz –, in denen der Glaube an den Fortschritt, an die Gestaltbarkeit von Zukunft und an das »Projekt der Moderne« ungebrochen anhielt13. Doch diese temporalen Ordnungsvorstellungen verloren ihre einstige Hegemonie, und es etablierte sich ein Zeitgefühl und -verständnis, das mit dem Begriff des Posthistoire am treffendsten charakterisiert ist. Diese Übernahme eines zeitgenössischen Begriffs geschieht also keineswegs unreflektiert. Vielmehr zielt der Beitrag darauf, die zeitgenössische und weiterhin anhaltende Konjunktur dieser posthistorischen Gegenwartsdiagnose verständlich zu machen. Der Beitrag fragt also, weshalb zahlreiche Intellektuelle zu diesem Chronotopos griffen, um ihre eigene Zeit auf den Begriff zu bringen. Worin gründete die zeitgenössische Vorstellung, sie befänden sich am Ende der Geschichte? Im Folgenden gilt es zunächst, ein posthistorisches Tableau zu zeichnen, das zum einen die unterschiedlichen Elemente und Motive veranschaulichen und zum anderen die kontext- und zeitschichtentranszendierende Präsenz des Deutungsmusters verdeutlichen soll. Dieses Tableau wird zwangsläufig unvollständig bleiben, denn, wie bereits aus Lutz Niethammers 1989 erschienener Studie hervorgeht, ist das Gemälde zu vielgestaltig und die Figuren sind zu zahlreich14. Der Posthistoire-Diskurs ist zu breit gefächert und weist zu viele interdiskursive Verbindungen aus, als dass er sich in diesem Rahmen erschöpfend behancollective time and private time in the modern era, in: ders. (Hrsg.), Changing boundaries of the political. Essays on the evolving balance between the state and society, public and private in Europe, Cambridge u.a 1987, S. 151–175, hier S. 152. 12 Vgl. hierzu Alexander Schmidt-Gernig, Das Jahrzehnt der Zukunft. Leitbilder und Visionen der Zukunftsforschung in den 60er Jahren in Westeuropa und den USA , in: Uta­ Gerhardt (Hrsg.), Zeitperspektiven. Studien zu Kultur und Gesellschaft. Beiträge aus der Geschichte, Soziologie, Philosophie und Literaturwissenschaft, Stuttgart 2003, S. 305–345, sowie Dirk van Laak, Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: GuG 34 (2008), S. 305–326. 13 Vgl. Rüdiger Graf, Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren, München 2014. 14 Vgl. Lutz Niethammer, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek 1989. Trotz der bedeutenden Fährten, die Niethammer aufgedeckt hat, ist sein Buch weniger als eine historisierende Studie, denn als ein Beitrag zu selbigem Diskurs zu verstehen. Eine genuin zeithistorische Historisierung des Begriffs liegt bislang noch nicht vor. Vgl. auch Perry Anderson, Zum Ende der Geschichte, Berlin 1993; Hans von Fabeck, Jenseits der­ Geschichte. Zur Dialektik des Posthistoire. München 2007; Martin Meyer, Ende der Geschichte? München u. a. 1993; Rainer Rotermundt, Jedes Ende ist ein Anfang. Auffassungen vom Ende der Geschichte, Darmstadt 1994.

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deln ließe. Folgende Frage wird daher die Untersuchung leiten: Wie konnte »das ›Ende der Zeiten‹ zu einem kollektiven Zukunftshorizont« werden, und wie kam es zur »Verbreitung, ja […] Universalisierung einer Bewusstseinslage […], die bis vor kurzem als ›typisch intellektuell‹ galt«15? Zudem gilt es aufzuzeigen, wie eng unsere Gegenwart mit ihrer Vorgeschichte noch verzahnt ist. Es wird am Stand der Forschung verdeutlicht, wie wenig vergangen diese Vergangenheit überhaupt ist: Die Transformation des temporalen Imaginariums, die in etwa in den 1970er Jahren im euro-atlantischen Raum einsetzte, dauert weiterhin an, und sie tangiert, naturgemäß, auch unseren historiographischen Blick auf diesen Wandel. Hier wird die These vertreten, dass mangels eines alternativen Zukunftshorizonts diese Vergangenheit noch gegenwärtig ist. Im Anschluss daran werden die mannigfaltigen Symptome der posthistorischen »Krankheit« zusammengetragen und nach ihrer Genese gefragt. Das Augenmerk richtet sich auf den Wandel der Zukunfts-, Gegenwarts- und Vergangenheitsverständnisse. Abschließend werden einige Analyseebenen angedeutet, die bei einer Einordnung des Posthistoire-Syndroms dienlich sein dürften und es wird ein Ausblick auf die weitere Geschichte dieses Chronotopos in den 1990er Jahren gegeben.

2. Posthistoire Now – and then. Zur fortdauernden Präsenz eines temporalen Deutungsmusters Keiner der von Hartmut Rosa zur Deutung unserer Gegenwart herangezogenen Chronotopoi ist neu. Reinhart Koselleck hat gezeigt, dass das Interpretament der Zeitverkürzung zum Wesen apokalyptischer Weltdeutung gehört, dass es sich aber seit dem 16. Jahrhundert zunehmend aus dem »eschatologischen Horizont des Jüngsten Gerichts« entfernte und statt dessen im Horizont eines Fortschreitens begriffen wurde, dessen Subjekt nun der Mensch war16. Auch der Topos der richtungslosen Bewegung und jener vom Ende der Geschichte wurde in divergierenden Varianten im Verlaufe der letzten beiden Jahrhunderte immer wieder zur Deutung der Gegenwart vorgetragen und, je nach Kontext, positiv oder negativ konnotiert17. Das Bild der ziellosen Bewegung findet sich 15 Hans Ulrich Gumbrecht, Posthistoire Now, in: ders.: Präsenz, Berlin 2012, S. 9–25, hier S. 17 und S. 19; die Originalausgabe erschien 1985. 16 Vgl. Reinhart Koselleck, Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2003, S. 177–202 und S. 188. 17 Vgl. hierzu Volker Steenblock, Das Ende der Geschichte. Zur Karriere von Begriff und Denkvorstellung im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37 (1994), S. 333–351. Steenblock führte unter anderen noch Schmitt, Spengler, Weber, Cournot, aber eben auch Adorno und Benjamin an. Der Topos vom Ende der Geschichte lässt sich auch noch wesentlich weiter zurückverfolgen. So zitierte Christian Meier Beispiele aus der Antike; vgl. Christian Meier, Vom »fin de siècle« zum »end of history«? Zur Lage der Geschichte, in: Merkur 44 (1990), S. 809–823.

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beispielsweise in Friedrich Nietzsches 1882 erstmals veröffentlichtem Gedicht »Sils-­Maria«18. Während die »Zeit ohne Ziel« vom Autoren der antihistoristischen Gründungsschrift »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« emphatisch begrüßt wurde, führte Becketts »En attendant Godot« (1948) die Absurdität richtungsloser Bewegung vor Augen. Günther Anders, einer der frühen Sprecher im deutschen Posthistoire-Diskurs, sah in Becketts Stück eine Parabel für das »Sein ohne Zeit«, das die 1950er Jahre bestimme: Becketts Stück trete mit Recht auf der Stelle, denn Zeit ginge »nur für dasjenige Leben vorwärts […], das selbst einem Ziel nach- und auf etwas losgeht. […] Die Zeit scheint zu stehen und wird […] zur ›schlechten Ewigkeit‹.«19 Der 1980 veröffentlichte zweite Band von Anders’ »Antiquiertheit des Menschen« enthielt einen Essay aus dem Jahre 1978 zur »Antiquiertheit der Geschichte«. Anders thematisierte hier das Geschichtlich-Sein des Proletariats, das er demselben einerseits insofern absprach, als es nie wirklich zum Subjekt der Geschichte geworden, sondern immer bloß »mit-geschichtlich« gewesen sei20. Andererseits sei das Proletariat »durch den Ausblick auf eine erhoffte Zukunft« durchaus geschichtlich gewesen. Doch »›bei uns‹: in Europa, Amerika und auch in der Sowjetunion (wenn man von den obligatorisch optimistisch-offiziellen Kaminfeuer-Ansprachen und Parteitagsreden absieht) [scheint] das Hinleben auf eine ideale Zukunft bereits der Vergangenheit anzugehören […]. ›Die Zukunft hat‹, wenn nicht alles trügt, ›schon geendet‹.« Für Anders war der Mensch entthront worden. An seine Stelle als Subjekt der Geschichte war die Technik getreten21. Aus Anders’ Generation stammt auch ein weiterer Autor, der ebenfalls schon in den 1950er Jahren begann, mit nachgeschichtlichen Motiven zu argumentieren, Arnold Gehlen. Er war es, der den französischen Begriff post­histoire in den deutschen Sprachraum einführte, und zwar in einem Text »Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung«, der zunächst 1952 erschien. Dort heißt es:

18 Vgl. Friedrich Nietzsche, Sils-Maria, in: ders.: Kritische Studienausgabe Bd. 3: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft, hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, München 1999, S. 649. Dort heißt es: »Hier sass ich, wartend, wartend, doch auf Nichts, –/Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts/Geniessend, bald des Schattens, ganz nur Spiel,/Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel.« 19 Günther Anders, Sein ohne Zeit. Zu Becketts Stück »En attendant Godot«, in: ders., Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 51980, S. 213–231, hier S. 223. 20 Günther Anders, Die Antiquiertheit der Geschichte I, in: ders., Die Antiquiertheit des Menschen, Bd.  2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München 1980, S. 270–298, hier S. 274 f.; die folgenden Zitate finden sich ebenda, S. 277 und S. 278. 21 Vgl. hierzu auch Günther Anders, Die Antiquiertheit der Geschichte, in: Merkur 34 (1980), S. 339–345.

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»Heute scheint dieses Bedürfnis [nach Sicherheit] fast eher in Mechanismen zu denken, es bemüht nicht mehr das alte Zauberwort der Freiheit, es denkt in Plänen. Vielleicht ist damit ein noch höherer Grad von Mißtrauen erreicht, nämlich nunmehr der Wunsch, die Welt zukunftslos zu machen und um diesen Preis die Sicherheit zu erkaufen. Sind wir schon aus der Geschichte heraus und im post-histoire?«22

In dem 1975 veröffentlichten Aufsatz »Ende der Geschichte?« führte der kulturpessimistische Rechtskonservative aus, dass dieses Ende eine »Beweglichkeit auf stationärer Basis« darstelle. Es handele sich um einen Zustand, in dem es »keine verrückte, herrliche Gläubigkeit mehr [gibt], keine offenen Horizonte, keine Fata Morgana, keine atemeinschnürenden Utopien, sondern die Abwicklung, das Pensum«23. In seinem 1961 in Bremen gehaltenen Vortrag »Über kulturelle Kristallisation« hieß es wiederum, »ideengeschichtlich [sei] nichts mehr zu erwarten«24. Die Menschheit habe sich »in dem jetzt vorhandenen Umkreis der großen Leitvorstellungen einzurichten […], natürlich mit der dann noch dazuzudenkenden Mannigfaltigkeit von allerlei Variationen«. Dieser posthistorische Zustand stellte sich für Gehlen als »kulturelle Kristallisation« dar25. Bevor diese heterogene Gruppe an Aussagen im Posthistoire-Diskurs sinnvoll gruppiert werden kann, gilt es, dem Tableau noch zwei weitere Figuren hinzuzufügen. 2012 erschien unter dem Titel »Präsenz« eine Sammlung von Aufsätzen Hans Ulrich Gumbrechts. Darin, so ist dem Nachwort des Herausgebers Jürgen Klein zu entnehmen, geht es, »ausgehend von der Jetztzeit […] um die Geschichte und die Geschichten am Ende jeder Teleologie«26. Den Aufsatz »Post­histoire Now« hatte Gumbrecht bereits 1985 bei Suhrkamp veröffentlicht, und zwar im Rahmen eines Sammelbands, der auf eines seiner Dubrovnik-Kolloquien zurückging. Dort wurden unter anderem »die Innovationschancen« diskutiert, 22 Arnold Gehlen, Über die Geburt der Freiheit aus der Entfremdung, in: ders., Gesamtausgabe Bd.  4: Philosophische Anthropologie und Handlungslehre, Frankfurt a. M. 1983, S. 366–379, hier S. 379. Vgl. zudem Arnold Gehlen, Die Rolle des Lebensstandards in der heutigen Gesellschaft (1952), in: ders., Einblicke. Gesamtausgabe Bd. 7, Frankfurt a. M. 1978, S. 15–19, hier S. 19; Niethammer, Posthistoire, S. 18. Niethammers Wiedergabe der Passage scheint verfremdend, bezieht er doch das Pronomen auf »die Massen« und nicht auf das Bedürfnis. 23 Arnold Gehlen, Ende der Geschichte?, in: ders., Gesamtausgabe Bd. 6: Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften, Frankfurt a. M. 2004, S. 336–351, hier S. 342 und S. 345. Zum Veröffentlichungszusammenhang vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Nachweise zur Textgeschichte, in: ebenda, S.  666–703, hier S.  689 f. Der Aufsatz beruhte auf zwei Rundfunkvorträgen von 1972 und 1973. 24 Der Vortrag erschien 1963 bei Luchterhand. Vgl. Arnold Gehlen, Über kulturelle Kristallisation (1961), in: Gehlen, Gesamtausgabe Bd. 6, S. 298–314, hier S. 308; dort auch das folgende Zitat. Zum Veröffentlichungszusammenhang vgl. Rehberg, Nachweise, S. 687 f. 25 Gehlen, Kristallisation, S. 307. 26 Jürgen Klein, Nachwort, in: Hans Ulrich Gumbrecht, Präsenz, Berlin 2012, S. 352–358, hier S. 352.

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»welche sich für die Geschichtswissenschaft aus ihrem Selbstreflexivwerden in einer ›Geschichte des historischen Bewusstseins‹ ergeben«27. In Anlehnung an Jacob Taubes plädierte Gumbrecht dafür, »Geschichte anders zu denken, ohne aufzuhören, überhaupt geschichtlich zu denken«28. Zu den Grundelementen einer anderen Geschichte zählte Gumbrecht »die Ersetzung des einen Telos durch viele Nahziele« sowie »die Substitution des Begriffes von der ›Perfektibilität‹ durch einen Begriff von der Erhaltung des Menschen«. Zudem versuchte Gumbrecht den seiner Meinung nach vorherrschenden Zeitgeist auf den Begriff zu bringen: »Wenn sich das ›Lebensgefühl der heutigen Intelligenz‹ charakterisieren lässt […] als ›ein eigentümliches Gefühl von Zeitlosigkeit, … in lauter Zwischendrin gefangen, der Geschichte entfremdet, der Zukunftsfreude entwöhnt‹, dann heißt das: aus Teleologie-Implikationen konstruierte Bilder von der Zukunft sind uns nicht mehr Orientierung oder gar Motivation, aber wir können doch auch nicht zurück in einen Zustand, wo Vergangenheit und Zukunft in einem Verhältnis der ›Symmetrie‹ standen. Gelungenes Handeln der Vergangenheit kann uns nicht problemlos wieder Richtschnur für zukunftsbezogenes Handeln in der Gegenwart werden.«

Das Zitat im Zitat stammt aus Peter Sloterdijks 1983 erschienener »Kritik der zynischen Vernunft«. Nebst zahlreichen weiteren Intellektuellen, darunter nicht zuletzt Jacob Taubes, aber auch Dietmar Kamper oder Hermann Lübbe, findet man auch ihn auf diesem Wimmelbild wieder. In der überarbeiteten Version eines Vortrags, »der anlässlich des Pan-Musikfestivals im Oktober 1985 in Seoul, Südkorea verfasst wurde« und der, wo sonst, 1987 in der »edition suhrkamp« erschien, thematisierte Sloterdijk die »Erschöpfung des ästhetischen Modernismus«29. Mit der Idee der Avantgarde, also mit der Vorstellung, es gebe eine Speerspitze der Geschichte und des Fortschritts, sei es vorbei, denn »Die moderne Ratlosigkeit vor der fliehenden Zeit ist durch welthistorisches Erzählen nicht mehr zu trösten. Die große GESCHICHTE von einst entpuppt sich als eine evolutionäre List, die sich nicht verraten durfte, wenn sie wirksam bleiben wollte: als ein aktiver autohypnotischer Mythos. Dieses Geheimnis ist heute ausgeplaudert und um seine Wirkung gebracht. Vielleicht war GESCHICHTE nur ein Märchen von gewaltiger Realitätsmächtigkeit, die sich so lange bewährte, wie die Adressaten des Märchens dazu gebracht werden konnten, selber zu Subjekten der Märchenhandlung zu werden und ihre persönlichen Geschichten in die GESCHICHTE einzuweben.«

Dieses bunte Tableau bedarf der Ordnung. Dabei erweist es sich als sinnvoll, von zunächst einmal drei relevanten Zeitschichten des Posthistoire-Chronotopos aus27 Vgl. den Klappentext von Hans Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer, Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt a. M. 1985. 28 Gumbrecht, Posthistoire Now, S. 24; dort (S. 24 und S. 16) auch die folgenden Zitate. 29 Peter Sloterdijk, Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung, Frankfurt a. M. 1987, S. 121; dort (S. 15 und S. 22) auch die folgenden Zitate. Vgl. dazu die Ar­ beiten von Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974, und Ende der Avantgarde?, in: Neue Rundschau 106 (1995), S. 20–27.

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zugehen30: Eine gegenwärtige Zeitschicht, die in etwa bis in die frühen 1990er Jahre zurückreicht; eine zweite Zeitschicht, die grob die 1970er und 1980er Jahre umfasst und im Zentrum dieses Beitrags steht, und eine erste, die in der mehr oder weniger unmittelbaren Nachkriegszeit zu verorten wäre. Bei diesen Zeitschichten handelt es sich um heuristische Krücken, denn an den personellen Kontinuitäten wird deutlich, dass sich die Zeitschichten ohne erkennbare Grenzen vermischen und überlagern. So konnte Hans Ulrich Gumbrecht sein Postulat »Posthistoire Now« gleichermaßen 1985 wie 2012 veröffentlichen. Zentrale Motive von Rosas Posthistoire-Diagnose sind bereits in Texten Arnold Gehlens oder Günther Anders’ sichtbar, die sich der ersten Zeitschicht zuordnen lassen; beide Autoren taten sich auch in der zweiten Zeitschicht als prominente Sprecher im Diskurs hervor. Nebst diesen diachronen Überschneidungen gibt es zudem eine synchrone Überschneidung zwischen wissenschaftlichen und gegenwartsdiagnostischen Diskursen, denen jeweils posthistorische Interpretamente zugrunde liegen. Die Genese des Topos ließe sich noch weiter zurückverfolgen: von Jacob Taubes 1988 erstmals veröffentlichten Ausführungen zu zwei Fußnoten ­Kojèves über das von Kojève selbst in den 1930er Jahren an der Pariser École Pratique des Hautes Études veranstaltete Hegel-Seminar und Nietzsches letzten Menschen bis zu Hegel selbst31. Hier wird indes die These vertreten, dass das »alte« Wort in den 1950er Jahren einen Sinngehalt gewann, der »mit Annäherung an unsere Gegenwart keiner Übersetzung mehr bedürftig« war32. Wenngleich der zentrale, uns geläufige Sinngehalt des Topos also bereits in den 1950er Jahren gegeben war, so bedurfte es doch des Wandels der politischen und sozioökonomischen Kontexte nach dem Boom, damit der Topos für eine wachsende Anzahl an Zeitgenossen an Plausibilität gewinnen konnte. Er wurde in den 1970er und 1980er Jahren also zunehmend »erfahrungsgesättigt« und transzendierte die politischen Trennlinien. Die politische Ambiguität des transnationalen Topos Posthistoire wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass er in der zweiten Zeitschicht in seiner aus Frankreich (re)importierten Variante insbesondere in linken Kreisen in Mode kommen sollte, obwohl er im deutschen Kontext zunächst vom »postfaschistischen Intellektuellen« Gehlen etabliert worden war33. Die grundsätzliche Polyvalenz des Topos wird indes bereits deutlich, wenn man Gehlen den Remigranten Anders zur Seite stellt. War es bei Gehlen der Triumph der Moderne und der »Massenherrschaft«, der zur kulturpessimistischen Resi30 Zum Konzept der Zeitschichten vgl. Koselleck, Zeitschichten, S. 19–26. Vgl. auch Anselm Doering-Manteuffel, Konturen von »Ordnung« in den Zeitschichten des 20.  Jahrhunderts, in: Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 41–64. 31 Vgl. Jacob Taubes, Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire, in: Alexandre Kojève, Überlebensformen, Berlin 2007, S. 39–57; Knut Ebeling, Alexandre Kojève. Ein Snobismus sans réserve, in: Ulrich Johannes Schneider (Hrsg.), Der französische Hegel, Berlin 2007, S. 49–64, und Niethammer, Posthistoire, S. 74–81. 32 Koselleck, Einleitung zu: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, S. XV. 33 Niethammer, Posthistoire, S. 22.

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gnation führte34, so ging das Posthistoire-Denken bei dem ehemaligen ­Cassirer-, aber eben auch Heidegger-Schüler Anders, der sich in der frühen Anti-Atombewegung engagierte, aus seinem Drang hervor, den Möglichkeitsbereich einer Philosophie nach Auschwitz und Hiroshima auszutarieren35. Die Skepsis gegenüber der modernen Technik war ihnen beiden gemeinsam. Im folgenden Abschnitt gilt es, die bisherige Forschung zum Wandel des modernen Zeit- und Historizitätsregimes kurz zu thematisieren, denn daraus werden die Schwierigkeiten deutlich, die sich aus den Überschneidungen sowohl der Zeitschichten als auch der wissenschaftlichen wie gegenwartsdiagnostischen Diskurse für eine Historisierung des Chronotopos ergeben.

3. Posthistoire und die Historisierung historischer Zeiten Wie die oben zitierten Ausführungen Gumbrechts und Sloterdijks nahelegen, gründete das Posthistoire-Syndrom unter anderem darin, dass sich seit den 1960er Jahren eine »Historisierung des historischen Bewusstseins« zu vollziehen begann36. Diese selbstreflexive Wendung, das heißt die eingeleitete Historisierung des Historismus37 ereignete sich, wie etwa an den Überlegungen Michel Foucaults und Reinhart Kosellecks deutlich wird38, auf dem wissenschaftlichen Feld. Sie be34 Vgl. Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998, S. 236 f.; Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massen­ medien und »Zeitgeist« in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, S. 330. 35 Vgl. Ludger Lütkehaus, Philosophieren nach Hiroshima. Über Günther Anders, Frankfurt a. M. 1992; Daniel Morat, Die Aktualität der Antiquiertheit. Günther Anders’ Anthropologie des industriellen Zeitalters, in: ZF 3 (2006), S.  322–327; Enzo Traverso, Auschwitz denken. Die Intellektuellen und die Shoah, Hamburg 2000, S.  150–180. Zu­ Anders vgl. zudem Konrad Paul Liessmann, Günther Anders. Philosophieren im Zeitalter der technologischen Revolutionen, München 2002. 36 Gumbrecht, Posthistoire Now, S. 10. 37 Unter Historismus wird hier in Anlehnung an Otto Gerhard Oexle (und Ernst Troeltsch) der »Vorgang der ›grundsätzlichen Historisierung unseres Wissens und Denkens‹ […], die Einsicht, dass alles und jedes geschichtlich geworden und geschichtlich vermittelt ist« verstanden. Vgl. Otto Gerhard Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: ders. (Hrsg.), Geschichts­ wissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen 1996, S. 17–40, hier S. 17. 38 Vgl. etwa die Diskussionsbeiträge Kosellecks beim Gießener Kolloquium der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik im Juni 1963: Hans Robert Jauß (Hrsg.), Nachahmung und Illusion, München ²1969, S. 190–195. Zur Historisierung des historischen Bewusstseins durch Koselleck vgl. Niklas Olsen, History in the plural. An introduction to the work of Reinhart Koselleck, New York 2012, S.  203–267, sowie das Tübinger Dissertationsprojekt von Peter Tietze: Begriffe der Moderne. Begriffsgeschichte als methodische Innovation und Selbst­reflexion 1920–1970. Zu Foucaults Historisierung des historischen Bewusstseins vgl. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M. 2003; vgl. dazu Ulrich Brieler, Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker, Köln 1998, S. 138–156, sowie den Beitrag von Martin Kindtner in diesem Band.

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stimmte aber gleichermaßen die Gegenwartsdiagnosen zahlreicher Autoren, die sich auch in breitenwirksameren Medien dezidiert zu ihrer eigenen Zeit äußerten39. Das Posthistoire-Syndrom wie auch die in der Forschung immer häufiger erörterte Frage nach dem »modernen Zeitregime« sind Pendants des sich selbst historisierenden Historismus40. Dies vermag kurz an der Wirkung Reinhart­ Kosellecks verdeutlicht zu werden, dessen Überlegungen beide Diskurse speisten41. Seine – zumindest implizit ebenfalls gegenwartsdiagnostischen – Beiträge zu einer Theorie historischer Zeiten blieben zwar zunächst im Windschatten des sozialgeschichtlichen historiographischen Mainstreams der 1970er und 1980er Jahre und erfuhren erst im Zuge des cultural turn größere Aufmerksamkeit. Doch seine Ansätze zur Historisierung des historischen Bewusstseins gelangten nicht zuletzt über die jüngeren Teilnehmer an den Kolloquien der Gruppe Poetik und Hermeneutik auch in den explizit gegenwartsdiagnostischen PosthistoireDiskurs42. Wenngleich dieser Ideentransfer und der Prozess ihrer Aneignung und Transformation erst noch empirisch nachzuweisen wäre, so lässt sich doch konstatieren, dass mit Hans Ulrich Gumbrecht und Aleida Assmann zwei prominente Sprecher im Posthistoire-Diskurs dort zugegen waren, die, gleich Hartmut Rosa, in ihren Schriften immer wieder auf Koselleck verweisen. Diese personellen wie inhaltlichen Überschneidungen zwischen dem gegenwartsdiagnostischen und dem wissenschaftlichen Diskurs machen die Unterscheidung zwischen Quelle und Sekundärliteratur problematisch, die daher allein pragmatisch und in Abhängigkeit von der Frageperspektive vorgenommen werden kann: Hartmut Rosa, mit dem diese Ausführungen einsetzten, steht als zeitgenössischer Gegenwartsdiagnostiker am vorläufigen chronologischen Ende der im Posthistoire-Diskurs vorgenommenen Einschreibungen. Insofern sind seine Schriften Quellen. Zugleich ist es unumgänglich, seine Theorie der sozialen Beschleunigung als Beitrag zur Forschung zur »Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne« zu berücksichtigen. Es ist zwar möglich, eine kritische Distanz zu seinen Interpretamenten herzustellen, es wäre aber unlauter, eine historische Distanz wie auch einen Standpunkt außerhalb ein und desselben Diskurs39 Hier wären beispielsweise das Kursbuch, Ästhetik und Kommunikation sowie insbesondere der Merkur zu nennen. Zu Letzterem vgl. Steffen Henne, Posthistoire. Zeitdiagnostik in der Bundesrepublik um 1980, Magisterarbeit, Marburg 2012. 40 Vgl. auch Lynn Hunt, Measuring time, making history, Budapest u. a. 2008. 41 Vgl. etwa Engels u. a., Geschichte, Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd.  2, S. 593–717; Koselleck, Vergangene Zukunft; Koselleck, Zeitschichten; Reinhart Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, Berlin 2010. Nebst Olsen, History in the Plural, vgl. zu Koselleck und seinem Werk C ­ hristof Dipper, Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten, in: HZ 270 (2000), S. 281–308; Hans Joas/Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt a. M. 2011, sowie Kari Palonen, Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster 2004. 42 Zur Gruppe Poetik und Hermeneutik vgl. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 35 (2010), S. 46–142.

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zusammenhangs zu suggerieren43: Man befindet sich in der selben Gegenwart, und es wäre nur mittels eines modernen Vergangenheit-herstellenden Überwindungsgestus möglich, diese Gleichzeitigkeit zu verleugnen und eine »unaufhebbare Differenz zwischen dem Interpreten und dem Urheber« zu inszenieren44. Nimmt man nun das aktuelle Forschungsfeld in Augenschein, so zeigt sich nicht nur, dass das Interesse an Zeit als Gegenstand metahistorischer, geschichtswissenschaftlicher und soziologischer Untersuchungen in den vergangenen Jahren erheblich gewachsen und dass der Bezug auf Koselleck omnipräsent ist45, sondern dass Gumbrecht und Assmann dort mit wichtigen Publikationen und mit posthistorischen Thesen vertreten sind46. Aleida Assmann, die ihrerseits an dem noch zu erörternden »Gedächtnis-Boom« der vergangenen Jahrzehnte führend beteiligt war, fragte in ihrem kürzlich erschienenem Buch, was denn »auf das moderne Zeitregime gefolgt« sei. Die Konstanzer Literaturwissenschaftlerin stellte fest, dass die »Zukunft als eine sichere Orientierung und glänzende Versprechung, ja Verheißung, die den eigenen Plänen und Zielen eine Richtung« gewiesen habe, »längst Vergangenheit geworden« sei47. Der Literaturwissenschaftler Gumbrecht konstatierte, dass das »historische Chronotop« nach »fast zweihundertjähriger Dominanz« durch »unsere breite Gegenwart« abgelöst worden sei48. Dazu heißt es in einem 2012 erschienenen Aufsatz: »Solche Historisierung des historischen Chronotopen war ein Konvergenzpunkt in der Lebensleistung von Reinhart Koselleck, der erstaunlicherweise allerdings die Frage nach einer ›nächsten‹ Konstruktion von Zeitlichkeit nie gestellt hat. Das wohl deutlichste Symptom für einen profunden Chronotopenwandel liegt in der Beobachtung, dass es für uns alltäglich kaum mehr möglich ist, die Zukunft als einen offenen Horizont von Möglichkeiten zu sehen; die neue Zukunft ist erfüllt von konvergierenden Bedrohungen, die auf uns zukommen und deren Wirksamwerden wir aufschieben, aber nicht endgültig blockieren können. Statt die Vergangenheit hinter uns zu lassen, scheint zweitens unsere Gegenwart von Vergegenwärtigungsformen der Vergangen-

43 Vgl. Rüdiger Graf/Kim Ch. Priemel, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften. Legitimität und Originalität einer Disziplin, in: VfZ 59 (2011), S. 479–508. 44 Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Her­ meneutik, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 1, Tübingen 61990, S. 280. 45 Allein aus den Jahren 2013 und 2012 sind folgende grundlegende Studien zu erwähnen: Achim Landwehr, Über den Anachronismus, in: ZfG 61 (2013), S. 5–29; Achim Landwehr, Alte Zeiten, Neue Zeiten. Aussichten auf die Zeit-Geschichte, in: ders. (Hrsg.), Frühe neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012, S. 9–40; Achim Landwehr, Von der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, in: HZ 295 (2012), S. 1–34, sowie Lorenz/Bevernage (Hrsg.), Breaking up time. Als Überblick vgl. Rüdiger Graf, Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http:// docupedia.de/zg/Zeit_und_Zeitkonzeptionen_Version_2.0_R%C3 %BCdiger_Graf. 46 Vgl. Assmann, Zeit, sowie die Arbeiten von Hans Ulrich Gumbrecht: Nach 1945. Latenz als Ursprung der Gegenwart, Berlin 2012; Unsere breite Gegenwart, Berlin 2010. 47 Assmann, Zeit, S. 22 und S. 10. 48 Vgl. hierzu insbesondere Gumbrecht, Gegenwart, sowie Gumbrecht, Nach 1945.

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heit überschwemmt. […] Zwischen jener blockierten Zukunft und dieser nicht mehr zurückweichenden Vergangenheit ist drittens unsere Gegenwart zu einer sich verbreiternden Gegenwart der Simultaneitäten geworden, in der alle Möglichkeiten der Vergangenheit bestehen bleiben und – sozusagen – nebeneinander existieren.«49

Ganz ähnlich registrierte der am Centre de Recherches Historiques an der Pariser

EHESS tätige Historiker François Hartog die Ablösung des modernen zukunfts-

zentrierten Historizitätsregimes durch ein »präsentistisches«50. Während im modernen Historizitätsregime die Geschichte eben vom Standpunkt der Zukunft aus geschrieben worden sei, werde sie nun von jenem der Gegenwart geschrieben. Unter Rückgriff auf Koselleck postulierten also Assmann, Gumbrecht und Hartog, dass jene Neue Zeit an ihr Ende gelangt sei, die in der Sattelzeit anbrach und mit dem Kollektivsingular Geschichte, mit der Verzeitlichung derselben, mit dem Bruch zwischen Erfahrung und der immer gewichtigeren Erwartung sowie dem Fortschrittsnarrativ einherging. Lenkte die  – so Charles Maier im Hinblick auf Territorialität  – »contem­ porary dissolution of a structural order« Kosellecks Blick auf die Entstehung des »modernen Historizitätsregimes«, so wandten sich die stärker gegenwartsorientierten Wissenschaften dem entstehenden Neuen zu51. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Frage nach der Transformation des modernen Zeitregimes auch die Soziologie beschäftigte52. Während der Geograph David Harvey 1989 auf eine weitere vom »Spätkapitalismus« angetriebene »Verdichtung unserer räumlichen und temporalen Welten« aufmerksam machte, wies Helga Nowotny im selben Jahr auf die Wiederkehr zyklischen Zeitdenkens und die Erstreckung der Gegenwart hin. 1991 sprach Anthony Giddens von der schwindenden Fähigkeit, die Zukunft zu kolonisieren, und 1996 schien sich für Manuel Castells im Zuge des Aufstiegs der »Netzwerk-Gesellschaft« eine »zeitlose Zeit« zu etablieren. Richard Sennett machte 1998 auf die diskontinuierliche Zeit aufmerksam, welche die »neue Kultur des Kapitalismus« mit ihrer Betonung der »Flexibilität« hervorbrachte. Für Zygmunt Bauman schien »die immaterielle, unmittelbare Zeit der Softwarewelt« der »flüssigen Moderne« auch »eine Zeit ohne Folgen«

49 Hans Ulrich Gumbrecht, Vom Wandel der Chronotopen. Ein mögliches Nachwort, in: Klaus Birnstiel/Erik Schilling (Hrsg.), Literatur und Theorie seit der Postmoderne, Stuttgart 2012, S. 229–236, hier S. 230 f. 50 Vgl. die Arbeiten von François Hartog: Régimes d’historicité; The Modern Régime of Historicity in the Face of Two World Wars, in: Lorenz/Bevernage (Hrsg.), Breaking up time, S. 124–133; Time and Heritage, in: Museum International 57 (2005), S. 7–18. 51 Charles S. Maier, Consigning the Twentieth Century to History: Alternative Narratives for the Modern Era, in: AHR 105 (2000), S. 807–831, hier S. 809. 52 Als Überblick vgl. Rosa, Beschleunigung, sowie Armin Nassehi, Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit einem Beitrag »Gegenwarten«, Wiesbaden ²2008. Wenngleich es immer Vorläufer gibt – beispielsweise Luhmann – so scheint die intensivierte Auseinandersetzung mit Zeit in der Soziologie erst um 1990 herum einzusetzen; vgl. hierzu ebenda, S. 35.

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zu sein53. Schließlich hielt Hartmut Rosa 2005 fest, dass wir uns aufgrund eines komplexen Zusammenspiels unterschiedlicher Beschleunigungsfaktoren derzeit in einer »Zeitkrise« befänden. Deren »schwerwiegendste Folge« sei die »Rücknahme ihres Gestaltungsanspruches [der Politik] und der damit verknüpfte Wandel in der Konzeption von Status und Funktion der Politik in der Geschichte. Dieser Wandel indiziert […] zugleich eine tiefliegende Verwerfung im Geschichtsverständnis der Moderne überhaupt.«54

Diese sozialwissenschaftlichen Diagnosen, die unleugbar den Hintergrund der hier verhandelten Frage bilden, sind Indikatoren wie Faktoren jenes Wandels des temporalen Imaginariums, der in den 1970er einsetzte und weiterhin andauert. Da die Orientierungssuche, die damit einherging, nicht abgeschlossen ist und sich die Erwartungshorizonte gleichen, ist es meines Erachtens auch nicht möglich, einen Standpunkt außerhalb jenes diskursiven Zusammenhangs einzunehmen. Die »vergegenwärtigte Zukunft«, die sich in den 1970er Jahren zu etablieren begann, ist weiterhin gegenwärtig55.

4. No future oder »eine Zukunft, die es zu verhindern gilt«56 Posthistorische Motive finden sich in der Jugend- und Subkultur der späten 1970er und frühen 1980er Jahre, Punk und New Wave, allenthalben. Wenn beispielsweise Peter Hein von »Fehlfarben« in dem 1980 veröffentlichten Song »Ein Jahr (es geht voran)« singt, »keine Atempause / Geschichte wird gemacht / es geht voran«, so ist der ironische Unterton unverkennbar57. Besonders gut scheint es den »Einstürzenden Neubauten« – dem Inbegriff der Westberliner subkulturellen Szene der 1980er Jahre – gelungen zu sein, das weitverbreitete Gefühl von beklemmender Angst und Ohnmacht einzufangen58. 1981 erschien bei ZickZack Records eine Single der »Neubauten« mit dem Titel »Kalte Sterne«. Dort heißt es: 53 David Harvey, The Condition of Postmodernity, Oxford 1989; Helga Nowotny, Eigenzeit. Entstehung und Strukturierung eines Zeitgefühls, Frankfurt a. M. 1989; Anthony Giddens, Modernity and Self-Identity. Self and Society in the Late Modern Age, Cambridge 1991; Manuel Castells, The Information Age. Economy, Society and Culture, Bd. I: The Rise of the Network Society, Cambridge 1996; Richard Sennett, The corrosion of character, New York, NY 1998; Zygmunt Baumann, Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M. 2003, S. 141. 54 Rosa, Beschleunigung, S. 415. 55 Vgl. Reinhart Koselleck, »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« – zwei historische Kategorien, in: Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 349–375, hier S. 355. 56 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986, S. 44. 57 Fehlfarben, Ein Jahr (es geht voran), Welt-Rekord/EMI (1C 064–46 150), 1980. Vgl. aber auch Peter Heins ein Jahr zuvor veröffentlichtes Lied »Herrenreiter«; Mittagspause, Herren­reiter, Rondo 1979. 58 Vgl. hierzu etwa Wolfgang Müller, Subkultur West-Berlin 1979–1989. Freizeit, Hamburg 2013, sowie Frank A. Schneider, Als die Welt noch unterging. Von Punk zu NDW, Mainz 2007.

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»Wir sind Kalte Sterne (Du kannst sehen wie wir funkeln) / Nach uns kommt nichts mehr / Bakterien / Jede einzelne eine Bakterie / Für Dein Hirn für deine Seele für dein Herz / Nie wieder / Nach uns nichts mehr / Wir sind Kalte Sterne (Du kannst sehen wie wir funkeln) / Und nach uns kommt nichts mehr (Kannst du sehen wie wir funkeln?)«59

Die hier zum Ausdruck gebrachte Nachgeschichtlichkeit meint ein Ende der Welt im Sinne des Eintretens der atomaren und ökologischen Apokalypseszenarien, welche die Friedens- und Ökologiebewegung an die Wand malten60. Es scheint jedenfalls naheliegend, in der Jugendkultur Punk und New Wave, die gemeinhin mit dem Leitspruch no future in Verbindung gebracht wird, einen Widerhall jener schwindenden Erwartungshorizonte zu hören, die von Konrad Jarausch als »Ende der Zuversicht« oder von Tony Judt als »diminished expectations« beschrieben werden61. Glaubt man den Ergebnissen der Befragungen im Rahmen der Shellstudien, so schienen Orientierungslosigkeit, das Gefühl schwindender Handlungsmächtigkeit und der Unbeherrschbarkeit einer bedrohlichen Zukunft die Bewusstseinslage zahlreicher Jugendlicher zu prägen62. Doch die unter den Jugendlichen tatsächlich verbreitete Stimmung lässt sich nur schwerlich empirisch nachweisen, und es ist anzunehmen, dass eher viel­ fältige Gefühlslagen und differenzierte Erwartungen vorherrschten und nicht allein die Angst. Was sich hingegen recht deutlich abzeichnet, ist die zeitgenös­ sische Aufladung und Instrumentalisierung der Projektionsfläche »Jugend«. Üblicherweise mit Aufbruch und Zukunftshoffnung verbunden, fand vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Jugendproteste und der Jugendarbeitslosigkeit nun eine Umkodierung statt63. Jugend und gerade Punk wurden von der Politik wie insbesondere von den Medien als Symptom der Krise interpretiert und dargestellt. Unter der Überschrift »Jugend, die sich zerstört fühlt« hieß es beispielsweise 1979 im Januar-Heft des »Merkur«: 59 Einstürzende Neubauten, Kalte Sterne, ZickZack Records (ZZ 40), 1981. ZickZack Records (Hamburg) war erst ein Jahr zuvor vom spiritus rector der deutschen Punk-Bewegung, dem Musikjournalisten Alfred Hilsberg, gegründet worden. 60 Vgl. Bernd Greiner/Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hrsg.), Angst im Kalten Krieg, Hamburg 2009; Silke Mende, Nicht rechts, nicht links, sondern vorn. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011; Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982–1990, München 2006, S. 429 ff. 61 Konrad H. Jarausch (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008; Tony Judt, Postwar. A history of Europe since 1945, New York 2006. 62 Vgl. etwa Die Einstellung der jungen Generation zur Arbeitswelt und Wirtschaftsordnung, hrsg. vom Jugendwerk der Deutschen Shell, Hamburg 1980, S. 10 f., oder Jugend ’81. Lebensentwürfe, Alltagskulturen, Zukunftsbilder, Bd. 1, hrsg. vom Jugendwerk der Deutschen Shell, Hamburg 1981, S. 15 und S. 378. 63 Zur Jugendarbeitslosigkeit vgl. Thomas Raithel, Jugendarbeitslosigkeit in der Bundes­ republik Deutschland und in Frankreich in den 1970er und 1980er Jahren, in: ders./ Thomas Schlemmer (Hrsg.), Die Rückkehr der Arbeitslosigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland im europäischen Kontext 1973 bis 1989, München 2009, S.  67–80, sowie­ Thomas Raithel, Jugendarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik. Entwicklung und Auseinandersetzung während der 1970er und 1980er Jahre, München 2012.

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»Jugend ist Utopie und Hoffnung, Jugend ist Phantasie, Elan, Dynamik und Fortschritt, Jugend heißt neue Ideen, Kritik und Kraft. Sie ist belebend, wenn sie nicht – bedroht und bedrohlich zugleich – auch Spiegel für die Krankheiten, die Fehlschläge und Fehler […] einer Gesellschaft wäre.«64

Zwei Jahre später konstatierte der Frankfurter Psychotherapeut Jörg Bopp in einem Beitrag für das »Kursbuch 65«: »Wesentlich stärker als 1968 ist bei den heutigen Jugendprotesten die Zukunftsangst. Während wir damals fragten: ›Wie gestalten wir unsere Zukunft?‹, fragen viele Jugendliche heute: ›Haben wir überhaupt eine Zukunft?‹ Es gibt heute nicht mehr die Aufbruchstimmung der Studentenrevolte und der beginnenden sozialliberalen Koalition.«65

Das zunehmende Bewusstsein von den »Grenzen des Wachstums« und der Gefährdung der Umwelt sowie die sich ausbreitende Furcht vor der zivilen Nutzung der Atomenergie und einem Atomkrieg waren der Kontext für eine »innerweltliche Eschatologie«66. Der Glaube an die Gestaltbarkeit der Zukunft, an das Vermögen, die Schreckensszenarien abwenden zu können, schwand. Insofern lässt sich während der zweiten Zeitschicht eine Schließung jener einst »offenen Zukunft« beobachten67. Dieses posthistorische Zukunftsverhältnis brachte Dan Diner 1983 in der Zeitschrift des Sozialistischen Büros zum Ausdruck: »Dass die zumindest seit der Aufklärung in unterschiedlicher Weise kulturell und politisch wirksamen linearen Fortschrittsvorstellungen nicht mehr tragend sind, ist allgemein ersichtlich. Das Ende der Zukunft ist paradoxerweise selbst zum Motiv von Zeiterklärung geworden. Und ohne Zukunft bzw. Zukunftsvorstellungen, nach vorn – was das auch immer hießen [sic!] mag  – gerichtete Entwürfe, lässt sich kein Leben sinnvoll, d. h. vernünftigerweise entwerfen. Die Wahrnehmung vom Ende der Zeit, von line­arer Zeit, findet seine Entsprechung in einem sich verengenden Lebensgefühl  – dem Lebensgefühl von no future – konkret im erwarteten Ende unserer Zivilisation. Dass keine oder nur noch wenige und unter der Hand verrinnende Zeit bleibt, ein solches Ende zu verhindern, reflektiert die seismographische Wahrnehmung vom Ende einer epochalen Vorstellung von Fortschritt.«68

64 Bettina Dürr, Jugend, die sich zerstört fühlt; in: Merkur 33 (1979) S. 461–468, hier S. 461. 65 Jörg Bopp, Trauer-Power. Zur Jugendrevolte 1981, in: Kursbuch 65 (1981): Der große Bruch – Revolte 81, S. 151–168, hier S. 161. 66 Vgl. hierzu und zum Folgenden Mende, Nicht rechts, S. 289–321 und S. 365–406, sowie Landwehr, Geburt der Gegenwart, S. 26 ff. Zur innerweltliche Eschatologie vgl. Alexandre Escudier, Das Gefühl der Beschleunigung der modernen Geschichte: Bausteine für eine­ Geschichte, in: Trivium 9 (2011), http://trivium.revues.org/4034. 67 Zur »offenen Zukunft« vgl. etwa Reinhart Koselleck/Christian Meier, Fortschritt, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, S. 351–423, hier S. 371, sowie Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999. 68 Dan Diner, Hier stimmt was nicht. Mutmaßungen über die Angst in der Friedensbewegung; in: links 162 (1983), S. 21 f., hier S. 21.

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Die Zunahme der Dystopien und die – gerade in Deutschland – keineswegs neue Infragestellung des Fortschritts wurde von einer wachsenden Delegitimierung der Utopien begleitet. Shoah und Weltkrieg hatten den Faschismus bereits restlos diskreditiert. Der Kommunismus war zwar bereits infolge des 20.  Parteitags der KPdSU, der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands und des Prager Frühlings in Misskredit geraten. Angesichts von Solschenizyns »Archipel Gulag« und des Terrors des »roten Jahrzehnts« schien nun auch die kommunistische Utopie nur noch in den Augen weniger einen Orientierungspunkt für die Zukunft zu bieten69. »Die Projekte des 19. Jahrhunderts« waren, wie es in Hans Magnus Enzensbergers Beitrag zum »Kursbuch 52« hieß, das sich dem »Zweifel an der Zukunft« widmete, »von der Geschichte des 20. samt und sonders falsifiziert worden«70. Und weil sich nun die Erkenntnis breit gemacht hatte »dass wir mithin, wenn wir politisch handeln, nie das erreichen, was wir uns vorgesetzt haben, sondern etwas ganz anderes, das wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen«, ließen sich keine neuen Ziele formulieren  – zumindest keine, die den Projekten der Moderne entsprochen hätten. Der Zusammenbruch der Sowjetunion verkörperte dann den Höhepunkt jenes Prozesses der Entzauberung der Utopien, der bereits nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt und sich während der zweiten Zeitschicht radikalisiert hatte. 1991 konstatierte Joachim Fest: »Mit dem Sozialismus ist, nach dem Nationalsozialismus, der andere machtvolle Utopieversuch des Jahrhunderts gescheitert. Was damit endet, ist der mehr als zweihundert Jahre alte Glaube, dass sich die Welt nach einem ausgedachten Bilde von Grund auf ändern lasse. Zersprungen sind all die scharfsinnigen Träume über die Menschheitszukunft, die aus der Welt ein riesiges Schlachthaus gemacht haben.«71

Dieses von den Zeitgenossen diagnostizierte »Ende der utopischen Systeme, die rund zweihundert Jahre lang die Geschichte beherrscht« hatten, löste einen »Zukunftsschock« aus, den der nichtsdestotrotz überzeugte Marxist Eric Hobsbawm bereits 1978 auf den Punkt gebracht hatte: 69 Zum roten Jahrzehnt vgl. Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Frankfurt a. M. ²2004. Darauf, dass es sich bei der Proklamation des Endes der Utopien und der Ideologien (Bell) ursprünglich um ein konservatives Argument handelte, machte Frederic Jameson aufmerksam: Frederic Jameson, Postmoderne und Utopie, in: Robert Weimann/Hans Ulrich Gumbrecht (Hrsg.). Postmoderne. Globale Differenz, Frankfurt a. M. 1991, S. 73–109, hier S. 84. 70 Hans Magnus Enzensberger, Zwei Randbemerkungen zum Weltuntergang, in: Kursbuch 52 (1978): Utopien I. Zweifel an der Zukunft, S. 1–8, hier S. 7; dort auch das folgende Zitat. 71 Joachim Fest, Der zerstörte Traum. Vom Ende des utopischen Zeitalters, Berlin ³1991, S. 81; dort (S. 102 und S. 96) auch die folgenden Zitate. Die Rede vom Zukunftsschock geht zurück auf das Buch des Futurologen Alvin Toffler, The Future Shock, New York 1970. Vgl. hierzu Armin Nassehi, Keine Zeit für Utopien. Über das Verschwinden utopischer Gehalte aus modernen Zeitsemantiken, in: Rolf Eickelpasch/Armin Nassehi (Hrsg.), Utopie und Moderne, Frankfurt a. M. 1996, S. 242–286.

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»Once upon a time, say from the middle of the nineteenth century to the middle of the twentieth, the movements of the left […] like everybody else who believed in ­progress, knew just where they wanted to go and just what, with the help of history, strategy, and effort, they ought or needed to do to get there. Now they no longer do. In this respect they do not, of course, stand alone. Capitalists are just as much at a loss as socialists to understand their future, and just as puzzled by the failure of their theorists and prophets.«72

Das Telos der Geschichte, so schien es, war verloren, und für eine wachsende Zahl an Zeitgenossen hatte sich die Zukunft von einem handlungsleitenden, offenen Horizont der Möglichkeiten zu einer Quelle unterschiedlichster Bedrohungen verwandelt, die auf sie zuzukommen schienen73. Nicht Aufbruch, Fortschritt und Machbarkeitsglaube, sondern no future, »innerweltliche Eschatologie«, die Ahnung, es könne für eine Umkehr bereits zu spät sein, und das Gefühl verlorener Agency waren Charakteristika jenes Zukunftsverständnisses, das in den 1970er und 1980er Jahren in den Vordergrund trat. Diese einschneidenden Transformationen des futurischen tem­ poralen Imaginariums sind wesentliche Symptome eines weiterhin anhaltenden Posthistoire-Syndroms. Und wenngleich der semantische Wandel, den der Begriff der Zukunft durchlief, für die Konjunktur des Chronotopos Post­histoire am gewichtigsten war, so korrelierte er doch auch mit Verschiebungen in den Verständnissen von Gegenwart und Vergangenheit, die im Folgenden behandelt werden.

5. Die Gegenwart als Epilog In dem noch vor dem Reaktorunfall in Tschernobyl verfassten Vorwort seines 1986 veröffentlichten Buchs »Risikogesellschaft« nannte Ulrich Beck das Präfix »post« »das Schlüsselwort unserer Zeit. Alles ist ›post‹. […] ›Post‹ ist das Codewort für Rat­ losigkeit, die sich im Modischen verfängt. Es deutet auf ein Darüberhinaus, das es nicht benennen kann, und verbleibt in den Inhalten, die es nennt und negiert, in der Erstarrung des Bekannten. Vergangenheit plus ›post‹ – das ist das Grundrezept, mit dem wir in wortreicher, begriffsstutziger Verständnislosigkeit einer Wirklichkeit gegenüberstehen, die aus den Fugen geraten zu scheint.«74

72 Eric J. Hobsbawm, Should the Poor Organize?, in: The New York Review of Books 25 (1978), S. 44–49, hier S. 44. 73 Vgl. hierzu die bereits zitierte Passage aus Gumbrecht, Wandel der Chronotopen, S. 230 f., sowie Beck, Risikogesellschaft, S. 44. 74 Ebenda, S. 12.

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Ähnliches konstatierte Peter Sloterdijk unter der Kapitelüberschrift »Nach der Geschichte« in seinem 1989 erschienenen Buch »Eurotaoismus«: »Die Karriere der Vorsilbe ›nach‹ deutet an, dass uns, obwohl Haarsträubendes geschieht, kein Geschichtsbild mehr zur Verfügung steht, das es der Gegenwart erlaubt, sich zu datieren. Seit allgemein sich der Eindruck verbreitet, dass die Geschichte keinen Fahrplan hat, tasten wir uns durch ein prozessuales Niemandsland voran.«

Und wenige Seiten später heißt es: »Wo niemand mehr wissen kann, was morgen gilt, da wirkt es fast wie ein Geschenk, dass wenigstens das Vergangene vorüber ist. […] Die Gegenwartskultur ist eine große epilogische Maschine, die Nachreden ausstößt und durch Außerkraftsetzung des Gestrigen einen Hauch von Orientierung in der Gegenwart erzeugt.«75

Da sich am Zukunftshorizont an der Stelle erstrebbarer Ziele zunehmend bedrohliche Szenarien abzeichneten, wurde die Bestimmung der Gegenwart nunmehr in Abgrenzung von der Vergangenheit vorgenommen. Die Flut an Postismen, die sich in den 1970er und 1980er Jahren ausbreitete, zeugt ebenso davon wie der beachtliche Erfolg, welcher der Epochenchiffre »nach dem Boom« beschieden ist76. Man befand sich in der Postmoderne77, das Produktionsregime war postfordistisch78, die Gesellschaft postindustriell, ihre Werte postmaterialistisch79, ihre

75 Peter Sloterdijk, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik, Frankfurt a. M. 1989, S. 266 f. und S. 271; vgl. auch seine Ausführungen auf S. 293. 76 Vgl. hierzu die Äußerung des Konstanzer Romanisten Hans Robert Jauß, der 1983 festhielt: »[Es scheint] sich in der gegenwärtigen Erscheinung einer Postmoderne, wenn sie in der Tat eine Epochenschwelle anzeigen sollte, zum ersten Mal in der Geschichte des ästhetischen Modernismus das Bewusstsein eines eingetretenen Bruchs zwischen dem Alten und dem Neuen nur mehr in Kategorien des ›nicht mehr‹ artikulieren zu können. […] Dabei scheint zwar das eingetretene Neue noch nicht als Erfahrung artikulierbar zu sein, wohl aber das abgelöste Alte in seiner sich abschließenden Gestalt fassbar zu werden.« Hans Robert Jauß, Der literarische Prozess des Modernismus von Rousseau bis Adorno; in: Ludwig von Friedeburg/Jürgen Habermas (Hrsg.), Adorno-Konferenz 1983, Frankfurt a. M. 1983, S. 95–130, hier S. 97 f. 77 Vgl. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 51997, S. 12 ff., sowie Hans Ulrich Gumbrecht, Postmoderne, in: ders., Dimensionen und Grenzen der Begriffs­ geschichte, München 2006, S. 81–87. 78 Die Debatte um den Postfordismus scheint etwa Mitte der 1980er Jahre begonnen zu haben; vgl. Ash Amin (Hrsg.), Post-Fordism. A reader, Oxford u. a. 1994, und Adelheid von Saldhern/Rüdiger Hachtmann, Das fordistische Jahrhundert: Eine Einleitung, in: ZF 6 (2009), S. 174–185. 79 Vgl. Daniel Bell, The coming of post-industrial society. A venture in social forecasting, New York 1973, sowie Ronald Inglehart, The Silent Revolution in Europe: Intergenerational Change in Post-Industrial Societies, in: The American Political Science Review 65 (1971), S. 991–1017.

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Diagnostiker und Kritiker waren poststrukturalistisch80, postmarxistisch81 oder postkolonialistisch82 – und vieles andere mehr83. Am prominentesten und zugleich am umstrittensten war sicherlich der Begriff der Postmoderne, der in den 1960er und 1970er Jahren zunächst im Umfeld der Architektur, dann der Literatur und schließlich, von der Philosophie ausgehend, in zahlreichen Disziplinen heftig diskutiert wurde. Die weit ausgreifende Debatte braucht an dieser Stelle nicht zu interessieren84; relevant sind hingegen die posthistorischen Implikationen des Postmoderne-Begriffs: Da die Moderne stets auch als ein spezifisches Zeitverhältnis, als eine bestimmte Zeitlichkeit, verstanden wurde, bedeutete die Rede von der Postmoderne wenn nicht einen Bruch mit so doch auf jeden Fall eine Kritik und eine Reflexion der modernen Zeitlichkeit85. So hieß es beispielsweise im Vorwort des Sammelbands »Der Tod der Moderne«, der auf eine unter anderem zwischen Jean Baudrillard und­ Dietmar Kamper im Februar 1983 in Tübingen geführte Diskussion zurückging: »Von der Zukunft ist nichts mehr zu erwarten. Die Moderne, die Zeit der Erneuerung, des Fortschritts und der unaufhaltsam sich verwirklichenden Vernunft ist vorbei. ­Baudrillards Theorie der Simulation ist gleich weit entfernt von Blochscher Jubelpflicht angesichts des Zu-Hoffenden und Adornitischer Resignation in das heillos Bestehende. Alles ist schon vollendet. Nichts ist mehr zu tun. So lautet seine frohe Botschaft einer neuen Freiheit: der Freiheit von Zukunft und vorgeschriebener Selbstverwirklichung. […] Ist die Moderne nun endgültig, wie schon so oft vorausgesagt, tot? Oder steht sie in der Art und Weise, wie sie tot­gesagt wird, wieder auf?«86

Bekämpft wurden die Postmoderne und ihre Verfechter nicht zuletzt von Jürgen Habermas, der letztere als Neokonservative brandmarkte87. In seinen Augen ge80 Vgl. den Beitrag Martin Kindtners in diesem Band sowie Johannes Angermüller, Nach dem Strukturalismus. Theoriediskurs und intellektuelles Feld in Frankreich, Bielefeld 2007, und François Dosse, History of Structuralism. 2. Bde, Minneapolis 1997. 81 Vgl. Stuart Sim, Post-Marxism. An Intellectual History, New York 2002. 82 Vgl. etwa Edward W. Said, Orientalism, London 1978, oder Robert Young, Postcolonialism. An historical introduction, Oxford/Malden (Mass.) 2008. 83 Eine ganze Reihe weiterer zeitgenössischer Postismen finden sich bei Hans Lenk, Postmodernismus, Postindustrialismus, Postszientismus. Wie epigonal oder rational sind Post­ (modern)ismen, in: Walther Ch. Zimmerli (Hrsg.), Technologisches Zeitalter oder Postmoderne?, München 1988, S. 153–198. 84 Vgl. hierzu Wolfgang Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin ²1994; vgl. hierzu und zum Folgenden auch Gumbrecht, Postmoderne, S. 84 ff. 85 Vgl. etwa Peter Osborne, The politics of time. Modernity and avant-garde, London, New York 1995, S.  XII: »Modernity is a form of historical time which valorizes the new as the product of a constantly self-negating temporal dynamic.« 86 Vorwort zu: Der Tod der Moderne. Eine Diskussion, Tübingen 1983, S. 5 f. 87 Vgl. etwa folgende Beiträge von Jürgen Habermas: Die Moderne  – ein unvollendetes Projekt, in: ders., Kleine Politische Schriften I–IV, Frankfurt a. M. 1981, S. 444–464; Die Neue Unübersichtlichkeit. Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopi-

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fährdeten sie die in Deutschland durch den Nationalsozialismus ohne­hin prekären Bindungen an die Aufklärung. Die »neue Unübersichtlichkeit« der Gegenwart rühre daher, dass sich die »utopischen Energien aufgezehrt« und sich vom »geschichtlichen Denken zurückgezogen« hätten88: »Der Horizont der Zukunft hat sich zusammengezogen und den Zeitgeist wie die Politik gründlich ver­ändert.« Darin zeige sich »eine Veränderung des modernen Zeitbewusstseins überhaupt […]. Vielleicht löst sich jenes Amalgam von geschichtlichem und utopischem Denken wieder auf; vielleicht verwandeln sich die Struktur des Zeitgeistes und der Aggregatszustand der Politik. Vielleicht wird das Geschichtsbewusstsein von seinen utopischen Energien entladen«.

Habermas selbst widersprach der These vom Anbruch der Postmoderne und der Auflösung jenes Amalgams von utopischem und geschichtlichem Denken, das die letzten 200 Jahre geprägt habe. Nicht das utopische Denken an sich ziehe sich vom Geschichtsbewusstseins zurück: »An ein Ende gelangt« sei allein »eine bestimmte Utopie, die sich in der Vergangenheit um das Potential der Arbeits­ gesellschaft kristallisiert« habe. Unabhängig davon, ob man nun persönlich geneigt ist, Habermas oder seinen Gegnern Recht zu geben, lässt sich festhalten, dass sich im Laufe der zweiten Zeitschicht eine postmoderne Haltung ausbreitete. Diese war, so Jean-François­ Lyotard 1979, durch eine »Skepsis gegenüber den Metaerzählungen« der Aufklärung, des Idealismus und des Historismus gekennzeichnet89. Diese Skepsis hatte unter anderem ein kritisches Hinterfragen der marxistischen Utopie und der ihr zugrunde liegenden historistischen Kategorien zur Folge, so beispielsweise bei Ernesto ­Laclau und Chantal Mouffe. Deren 1985 erschienenes Buch »Hegemony and Socialist Strategy« ist eine der wichtigsten Gründungsschriften des Postmarxismus und bereits ein Blick in die Einleitung verdeutlicht die Konsequenzen, die das hier vorgenommene »Redigieren« für das historische Bewusstsein zeitigen konnte: scher Energien, in: Merkur 39 (1985), S. 1–14; Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985. Für einen zeitgenössischen Überblick über den Streit, der sich nicht zuletzt an Jean François Lyotard entzündete, vgl. Andreas H ­ uyssen, Mapping the Postmodern, in: New German Critique 33 (1984), S. 5–52, sowie Richard Rorty, Habermas and Lyotard on Post-Modernity, in: Praxis International 4 (1984), S. 32–44. 88 Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, S. 1; dort (S. 1 und S. 3) auch die folgenden Zitate. 89 Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 41994, S.  13 f. Vgl. hierzu Carsten Vielhaber, Die Präfixe der Postmoderne oder: wie man mit dem Mikroskop philosophiert, Münster 2001, sowie Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Berlin 62002, S. 32. Dieser Haltung lag zudem der Anspruch zugrunde, einige »Charakterzüge« zu »redigieren«, die »die Moderne für sich in Anspruch genommen hat, vor allem aber ihrer Anmaßung, ihre Legitimation auf das Projekt zu gründen, die ganze Menschheit durch die Wissenschaft und die Technik zu emanzipieren«. Jean-François Lyotard, Die Moderne redigieren, in: ders.: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 2001, S. 51–69, hier S. 68.

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»Bei der dekonstruktiven Arbeit im Bereich der marxistischen Kategorien beanspruchen wir nicht, an einer ›Universalgeschichte‹ zu schreiben, unseren Diskurs als ein Moment einer einzigen linearen Entwicklung des Wissens einzuschreiben. Ebenso wie die Ära normativer Epistemologien fand die Ära universaler Diskurse ihr Ende. […] Indem wir die Ansprüche und das Gebiet der Gültigkeit der marxistischen Theorie herunterschrauben, brechen wir zugleich mit etwas, was dieser Theorie zutiefst inhärent ist: nämlich ihrer monistischen Sehnsucht, mittels ihrer Kategorien das Wesen beziehungsweise die eigentliche Bedeutung der Geschichte zu erfassen. […] Es ist nicht länger möglich, die Subjektivitäts- und Klassenkonzeption, wie sie durch den Marxismus ausgearbeitet worden ist, seine Vorstellung vom historischen Verlauf der kapitalistischen Entwicklung und selbstverständlich auch nicht seine Konzeption des Kommunismus als einer transparenten Gesellschaft, in der die Antagonismen verschwunden sind, beizubehalten.«90

Die postmarxistische Kritik stellte also unter anderem den Universalismus, die »lineare Entwicklung«, die dem modernen Geschichtsverständnis inhärente »monistische Sehnsucht«, das heißt ihre »totalisierende« Tendenz in Frage. Angesichts der in den vergangenen Jahrzehnten erlebten »Ausweitung der sozialen Konfliktualität auf ein weites Feld von Gegenständen«, so Laclau und Mouffe, stand auch das Proletariat als das Subjekt der Geschichte zur Debatte91. An die Seite der Kategorie Klasse traten nun auch Kategorien wie Gender und Ethnizität. Die postmarxistische wie auch die postkoloniale Kritik am Historismus führten jedenfalls zu einer Vervielfältigung der Subjekte sowie zu einer Plura­ lisierung des Kollektivsingulars Geschichte, aus dem nun wieder zahlreiche Geschichten wurden92. Die von Habermas konstatierte »Neue Unübersichtlichkeit« gründete in eben diesen »posthistorischen« Entwicklungen. Die Infragestellung der Utopien und ihrer Ziele, der Bedeutungsverlust der bisherigen Subjekte der Geschichte (insbesondere des Proletariats und der Nation) und ihre Vermehrung führte dazu, »dass wir offenbar nicht mehr inhaltlich bestimmen können oder wollen, wo wir sind und wohin wir wollen. Wir meinen nur noch zu wissen, woher wir kommen und dass das, was damals selbstverständlich oder wünschenswert erschien, seine Unschuld verloren habe.«93 90 Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2006, S. 34; dort (S. 31) auch das folgende Zitat. 91 Vgl. hierzu auch André Gorz, Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus, Frankfurt a. M. 1980. 92 Zur postkolonialen Kritik an der eurozentrischen Geschichte vgl. unter anderem D ­ ipesh Chakrabarty, Postcoloniality and the Artifice of History. Who Speaks for »Indian« Pasts?, in: Representations 37 (1992), S. 1–26, sowie Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial thought and historical difference, Princeton/NJ 2008. Vgl. hierzu Chris­ Lorenz, Unstuck in time. Or: the sudden presence of the past, in: Karin Tilmans/Frank van Vree/Jay M. Winter (Hrsg.), Performing the Past: Memory, History, and Identity in Modern Europe, Amsterdam 2010, S. 67–102, hier S. 80. 93 Niethammer, Posthistoire, S. 17.

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Mit dem Verlust nicht zuletzt des Telos, der Kompassnadel der Geschichte, ging ein tiefgreifender Orientierungsverlust einher. Da die Zukunft keine (positive) Orientierung zu stiften vermochte, ließ sich der Standort der Gegenwart allein mittels einer Abgrenzung zur Vergangenheit bestimmen. Die Inflation der Postismen ist also Indikator wie Faktor einer gewichtigen Veränderung des Gegenwartsverständnisses: Die Gegenwart wurde immer seltener als eine Zeit des »Noch-nicht-x« verstanden, sie erschien vielmehr als Zeit des »Nicht-mehr-x«, also als »Spät-« oder als »Nachzeit«. Durch diese posthistorische Mutation der Gegenwart wurde sie auch zu einer anderen Art der »Übergangszeit«. In einem 1977 erschienenen Aufsatz hatte Koselleck die Erfahrung der eigenen Zeit als »Übergangszeit« zu einem der zentralen Kriterien der verzeitlichten Geschichte und das heißt der die Moderne bestimmenden Neuen Zeit erkoren94. Folgt man Koselleck, so dienten im 19. und 20. Jahrhundert die »›ismus‹-Bildungen« dazu, »die geschichtliche Bewegung perspektivisch in die Zukunft hochzurechnen«. Bei den Bewegungsbegriffen, also beispielsweise dem Liberalismus, Sozialismus oder Kommunismus, handelte es sich um »temporale Kompensa­ tionsbegriffe«, die eben auch als »Steuerungsinstrumente der geschichtlichen Bewegung« und als »Vorgriffe in die Zukunft« dienten. Als die teleologischen Bewegungsbegriffe in den 1970er und 1980er Jahren zunehmend dekonstruiert wurden, verloren sie nicht nur ihre handlungsleitende, sondern auch ihre orientierungsstiftende Macht. Und da die Zukunft keine Orientierung mehr in der Gegenwart zu stiften vermochte, erzeugte man »einen Hauch von Orientierung in der Gegenwart« »durch Außerkraftsetzung des Gestrigen«95. Im folgenden Abschnitt gilt es, die komplexe Transformation des Vergangenheitsverständnisses, die sich während der zweiten Zeitschicht ereignete, wenigstens anzureißen. Auch sie zeugt von einer Verbreitung des posthistorischen Syndroms.

6. Vergangenheit – zwischen traumatischer Geschichte und nostalgischer Musealisierung Der Wandel des vergangenheitsbezogenen temporalen Imaginariums lässt sich vorläufig unter den Stichworten »Vergangenheit, die nicht vergehen will« und »Vergangenheit, die nicht vergehen soll« subsumieren96. Um die Umrisse dieses posthistorischen Vergangenheitsverständnisses zu verdeutlichen, ist es hilfreich, zunächst Lyotards »Notizen« heranzuziehen:

94 Vgl. Reinhart Koselleck, »Neuzeit«. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 300–348, hier S. 328 ff.; dort (S. 339, S. 341 und S. 344 f.) auch die folgenden Zitate. 95 Sloterdijk, Eurotaoismus, S. 271. 96 Vgl. hierzu und zum Folgenden Andreas Huyseen, Present Pasts. Media, Politics, A ­ mnesia, in: Public Culture 12 (2000), S. 21–38.

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»Da wir [die Modernen] etwas völlig Neues einleiten, müssen wir die Zeiger der Uhr auf null stellen. Der Gedanke der Moderne selbst korreliert eng mit dem Prinzip, dass es möglich und notwendig ist, mit der Tradition zu brechen und eine völlig neue Lebensund Denkweise einzuführen. Heute haben wir den Verdacht, dieser ›Bruch‹ sei eher eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu vergessen und zu unterdrücken, das heißt sie zu wiederholen, als sie zu überwinden.«97

Die moderne geschichtliche Zeitlichkeit zeichnet sich, so wird vielfach angenommen, durch das unablässige Brechen mit der Vergangenheit, durch die permanente Erzeugung von »Hiatus-Erfahrungen« und das dauerhafte Hervorbringen von Diskontinuität zwischen Herkunft und Zukunft aus98. Dieses Brechen mit der Vergangenheit geriet in den 1980er Jahren unter anderem in den Verdacht, eine Verdrängung zu sein und somit eben die Gefahr der Wiederholung in sich zu bergen. Ohnehin erwies sich die Vergangenheit mit einem Mal als ungewöhnlich präsent. In der »Historischen Zeitschrift« vom Juni 1983 stellte Hermann Lübbe fest: »Die reflektierende Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus hat mit der Zahl der Jahre, die uns von ihm trennen, an Intensität nicht etwa abgenommen, sondern ganz im Gegenteil zugenommen. Mit der größeren temporalen Distanz […] ist kein Effekt des Verblassens der Erinnerung an […] [das Dritte Reich] im wachen zeitgenössischen Bewusstsein verbunden gewesen. Ganz im Gegenteil hat die kulturelle und politische Aufdringlichkeit dieser Erinnerung zugenommen.«99

Diese »Aufdringlichkeit« der Vergangenheit stellte sich für jene Zeitgenossen, die zu den Opfern des Nationalsozialismus gehörten, naturgemäß ganz anders dar. Wie Lawrence Langer mit seiner Unterscheidung zwischen »chronological time« und »durational time« gezeigt hat100, weist gerade eine traumatische Vergangenheit die Eigenschaft auf, dass sie eben »nicht vergehen will«101: Sie bleibt im Zustand der 97 Jean-François Lyotard, Notizen über die Bedeutung von »post-«, in: ders., Postmoderne für Kinder. Briefe aus den Jahren 1982–1985, Wien ³2009, S. 103–109, hier S. 104 f. Vgl. dazu auch Lyotard, Moderne redigieren, S. 52. 98 Vgl. hierzu Assmann, Zeit, S. 131–148. Zu den Hiatus-Erfahrungen vgl. Koselleck/Meier, Fortschritt, S. 392. 99 Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein, in: HZ 236 (1983), S. 579–599. 100 Vgl. hierzu und zum Folgenden Lorenz, Unstuck in time, S.  81–95, sowie Lawrence­ Langler, Admitting the Holocaust. Collected Essays, Oxford u. a. 1995. Das Trauma zeichnet sich durch eine »durational time« aus, die »resists precisely the closure  – the putting an end to the past – that chronological/historical time necessarily effects: durational time persists as a past that will not pass, hence as a past always present«. Gabrielle M. Spiegel, Memory and History. Liturgical Time and Historical Time, in: History and Theory 41 (2002), S. 149–162, hier S. 159. 101 »Vergangenheit, die nicht vergehen will« war bekanntlich der Titel von Ernst Noltes provokativem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6.6.1986, mit dem der »Historikerstreit« losbrach. Mit dem Artikel »Die Entsorgung der Vergangenheit« hatte Jürgen Habermas 1985 auf die »geschichtspolitische Entlastungsoffensive« reagiert, die er

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Latenz präsent, und zwar trotz aller Versuche, einen »Schlussstrich« zu ziehen oder sie zu »entsorgen«, und sie vermag jederzeit hervorzubrechen. Es ist hier nicht der Ort, den sogenannten Historikerstreit und die Entwicklung des Umgangs mit der deutschen Vergangenheit in der Bundesrepublik zu erläutern, noch vermag an dieser Stelle das Aufkommen der Erinnerungskultur und Gedächtnisforschung historisiert zu werden102. Es muss aber deutlich werden, inwiefern es sich dabei auch um Manifestationen eines posthistorischen Vergangenheitsverständnisses handelte. Vermag man, von den »kausalobsessiven Deutungen des Zusammenhangs von Nationalsozialismus und Bolschewismus« und den teils revisionistischen Absichten abzusehen, die dem Artikel zugrunde lagen, lässt sich konstatieren, dass Noltes Rede von »der Vergangenheit, die nicht vergehen will« auf einer konzisen Beobachtung des Wandels des temporalen Imaginariums beruhte103: »Mit der ›Vergangenheit, die nicht vergehen will‹, kann nur die nationalsozialistische Vergangenheit der Deutschen oder Deutschlands gemeint sein. Das Thema impliziert die These, dass normalerweise jede Vergangenheit vergeht und dass es sich bei diesem Nicht-Vergehen um etwas ganz Exzeptionelles handelt.«104

In der Bundesrepublik war die traumatische Vergangenheit nicht zuletzt in Folge der Ausstrahlung der US -amerikanischen Fernsehserie »Holocaust« im Januar 1979 aus der Phase der Latenz herausgetreten105. Damit ging der Wechsel von einer Phase der »Vergangenheitsbewältigung« zu einer Phase der »Vergangenheitsbewahrung« einher, und es festigte sich auch eine neuartige »Gegenwart der Vergangenheit«106. sowohl hinter der Rede des liberal konservativen Hermann Lübbe zwei Jahre zuvor anlässlich des 50. Jahrestages der »Machtergreifung« vermutete als auch hinter Kohls Bitburg-­ Inszenierung. Vgl. Ernst Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte, in: »Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 91995, S.  39–47; Jürgen Habermas, Entsorgung der Vergangenheit, in: ders., Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a. M. 1985, S. 261–268. Zu Lübbes Vortrag vgl. Axel Schildt, Zur Durchsetzung einer Apologie. Hermann Lübbes Vortrag zum 50. Jahrestag des 30. Januar 1933, in: ZF 10 (2013), S. 148–152. Zum »Historikerstreit« vgl. Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005, S. 91–114; dort (S. 96) ist auch von der »geschichtspolitischen Entlastungsoffensive« die Rede. 102 Vgl. Christoph Cornelißen, Erinnerungskulturen, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeit­geschichte; https://docupedia.de/zg/Erinnerungskulturen_Version_2.0_Christoph_Cornelißen. 103 Vgl. Große Kracht, Zankende Zunft, S. 95, und Lorenz, Unstuck in time, S. 83. 104 Nolte, Vergangenheit, S. 39. 105 Vgl. Frank Bösch, Film, NS -Vergangenheit und Geschichtswissenschaft, Von »Holocaust« zu »Der Untergang«, in: VfZ 55 (2007), S. 1–32, und Wulf Kansteiner, Ein Völkermord ohne Täter. Die Darstellung der »Endlösung« in den Sendungen des Zweiten Deutschen Fernsehens, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 2003, S. 229–262. 106 Aleida Assmann/Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, und Norbert Frei, 1945 und wir, München 2005, S. 26–40.

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Neben dem Aufkommen dieser posthistorischen »Vergangenheit, die nicht vergehen will« sah die zweite Zeitschicht auch die Inflation einer Vergangenheit, die nicht vergehen sollte. Oder um mit Charles Maiers zu sprechen: dem »unmasterable past« gesellte sich ein »usable past« zur Seite107. Das Aufkommen dieser »brauchbaren Vergangenheit« wurde von Teilen der Historikerzunft kritisch beäugt, nicht zuletzt von Hans-Ulrich Wehler: »Die Kritik an den Schattenseiten der ökonomischen Modernisierung hat sich inzwischen wieder bis zum altvertrauten Vorwurf einer Pathologie des Fortschritts gesteigert. Komplementär dazu ist die Neigung zur ›kleinen Alternative‹ (›Small is beautiful‹) gewachsen. Der Ruf nach ›Geborgenheit‹, ›Heimat‹, ›Wurzeln‹, ›Identität‹ wird lauter.«108

Wie auch ein Jahr später im Falle des »Historikerstreits« ist Wehlers Kritik am »biederen Hirsebrei der Alltagsgeschichte ›von unten‹« und an den »gefühlsstarken ›Barfußhistorikern‹ in ihren alternativkulturellen, ›linkspluralistischen‹ Werkstätten« vor dem Hintergrund der »veränderten ideellen und ideologischen Großwetterlage«, sprich im Rahmen der befürchteten neokonservativen »Tendenzwende« zu verstehen109: Nebst diversen missglückten (Lübbe 1983) und geglückten (Richard von Weizäcker 1985) Gedenkveranstaltungen und geschichtspolitischen Versöhnungsgesten (Verdun und Israel 1984 sowie Bitburg 1985) fand 1986 auch noch die Museumsdebatte statt, die um das Bonner Haus der Geschichte und das in Berlin zu gründende Deutsche Historische Museum kreiste. Dieser Debatte wiederum war die Stuttgarter Stauferausstellung (1977) sowie die Berliner Schau »Preußen – Versuch einer Bilanz« (1981) vorangegangen, die gleichfalls vom Eintritt in das »Zeitalter des Gedenkens« und der Musealisierung zeugten. Letzteres kündigte sich keineswegs nur in diesen großen Ausstellungen und Museen an110. Es genüge ein Blick in die Feuilletons oder Heimatzeitungen, so Hermann Lübbe, in denen man »allwöchentlich […] von Bürgerinitiativen zur Umfunktionierung einer aufgelassenen Zwergschule in ein Schulmuseum, von Ratsbeschlüssen zur Subventionierung eines Arsenals historischer Landmaschinen, von Privatspenden zur Anreicherung der ausgestellten Objekte in einer Posthalterei-Erinnerungsstätte und so fort«

erfahre111. Von dem wachsenden Bedarf an dieser identitäts- und orientierungsstiftenden Vergangenheit zeugten auch, wie Lübbe zu Recht beobachtete, Denk107 Vgl. Charles S. Maier, The unmasterable past. History, Holocaust, and German National Identity, Cambridge/Mass. 1988. 108 Die Zeit vom 3.5.1985: »Geschichte – von unten gesehen. Wie bei der Suche nach dem Authentischen Engagement mit Methodik verwechselt wird« (Hans-Ulrich Wehler); dort auch das folgende Zitat. 109 Vgl. hierzu Große Kracht, Zankende Zunft, S. 92 ff. 110 Vgl. Pierre Nora, Das Zeitalter des Gedenkens, in: ders. (Hrsg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005. 111 Hermann Lübbe, Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts, Graz u. a. 1983, S.10; zum Folgenden vgl. ebenda, S. 9–32.

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malsschutz und Regionalismus, die sich – man denke etwa an das »Europäische Denkmalschutzjahr 1975« – seit den1970er Jahren ausbreiteten112. Folgt man der Kompensationstheorie Lübbes, so handelte es sich bei diesem »Übermaß an Historie« um eine Reaktion auf jene rasante Veränderungsdynamik, welche die 1970er und 1980er Jahre kennzeichnete113. Neben der »Homogenisierung der Welt«, die mit dem tiefgreifenden Wandel einherging, sei es der »Zukunftsgewissheitsschwund« gewesen, der die Zeitgenossen veranlasste, nützliche Vergangenheiten zu vergegenwärtigen. Aleida Assmann, die an der theoretischen Untermauerung von Erinnerung und Gedächtnis und somit an der Etablierung dieses posthistorischen Vergangenheitsverständnisses führend beteiligt war, konstatierte: »Parallel zum Verblassen der Zukunftsvisionen des Modernisierungsparadigmas erlebten wir seit den 1980er und 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts die überraschende kulturelle Aufwertung von Vergangenheit und Erinnerung als globales Phänomen.«

Außer dem epilogischen Bezug zur Vergangenheit, der sich in den Postismen kundtat, und der Gegenwärtigkeit der traumatischen Geschichte qua Erinnerung, sind es die neu-alten Formen der Traditionspflege, die Sehnsucht nach Heimat und nach Wurzeln, die Bewahrung der Natur, die das posthistorische Vergangenheitsverständnis charakterisieren114.

7. Vom Ende der Geschichte zum Beginn der Geschichten Abschließend gilt es, eine vorläufige Verortung dieses Posthistoire-Syndroms vorzunehmen und einen kurzen Ausblick auf die weitere Entwicklung des Chronotopos Posthistoire in der dritten Zeitschicht zu geben. Bedrohliche Zukunft und geschwundene Agency: An die Stelle der in weiten Teilen der Boom-Gesellschaften verbreiteten Planungseuphorie, des Machbarkeitsglaubens und des Fortschrittsoptimismus’ traten in den 1970er und 1980er Jahren vielerorts Skepsis, Ohnmacht und Angst115. Selbstverständlich kursierten diese Gefühle bereits während des »goldenen Zeitalters«116. Doch was sich in den 1950er und 1960er Jahren im Zei112 Zum Denkmalsschutz vgl. Wilfried Lipp, Kultur des Bewahrens. Schrägansichten zur Denkmalpflege, Wien u. a. 2008. 113 Vgl. Assmann, Zeit, S. 209–228; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 19. 114 Vgl. dazu François Hartog, Time, History and the Writing of History: the Order of Time, in: Rolf Torstendahl/Irmline Veit-Brause (Hrsg.), History-Making. The Intellectual and Social Formation of a Discipline, Stockholm 1996, S. 95–113, S. 109. 115 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, S. 43. Zur Planung vgl. Dirk van Laak, Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: GuG 34 (2008), S. 305–326, und jetzt auch Elke Seefried, Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunfsforschung 1945–1980, Berlin u. a. 2015. 116 Zum goldenen Zeitalter vgl. Eric J. Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995.

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chen von Auschwitz, Hiroshima und des Kalten Kriegs ankündigte, blieb vielfach latent und vermochte durch anderweitige Erfolge überdeckt zu werden117. Nun aber verbreiteten sich zahlreiche apokalyptische Zukunftsszenarien, deren Gemeinsamkeit in der Wahrnehmung einer verlorenen Handlungsmacht lag. Die Zukunft, einst ein vermeintlich herstellbares Objekt menschlicher Planung, Gestaltung und Ordnung mutierte in der Sicht der Zeitgenossen zu einer unbeherrschbaren Quelle der auf sie zurasenden, unkalkulierbaren und unbeherrschbaren Gefahren und »Risiken«. Ulrich Becks »Risiko­gesellschaft« kann als Indikator dieser Metamorphose der Zukunftswahrnehmung gelesen werden: »Risiken [meinen] eine Zukunft, die es zu verhindern gilt.«118 Die Konjunktur des Chronotopos Posthistoire ist Indikator und Faktor dieser Umdeutung der Zukunft von einem offenen Horizont zu verwirklichender Möglichkeiten zu einer Stätte zu verhindernder Katastrophen. In der Verbreitung des Posthistoire-Interpretaments ist auch der wahrgenommene Verlust von Agency aufgehoben. Die Diffusion des Deutungsmusters vom »Ende der Geschichte« gründete darin, dass die Subjekte der Geschichte, die Nation und das Proletariat, delegitimiert, verschwunden oder aber ohnmächtig schienen. Der Fortschritt und eine neu-alte Krise des Historismus: Der Erfolg des Chrono­ topos Posthistoire reflektiere, so Hartmut Rosa, die Wahrnehmung des »Ende[s] der um die Fortschrittsidee zentrierten, gerichteten, verzeitlichten Geschichte der klassischen Moderne«119. Im wissenschaftlichen und technologischen Bereich blieb der Glaube an den Fortschritt teils erhalten und lebte, man denke etwa an die mit der digitalen Revolution verbundenen Erlösungs- und Gewinnhoffnungen, immer wieder auf120. Doch gerade in seiner Einschränkung auf diese Sphäre deutete sich der Verlust seiner einstigen Stellung an. Der geschichtsphilosophische Universalbegriff und Kollektivsingular Fortschritt, der nicht zuletzt durch die Verbesserung des Lebensstandards und die wohlfahrtsstaatliche Absicherung während des Booms zu einer konkreten Erfahrung zahlreicher Westeuropäer geworden war, mutierte zu einem sektoral beschränkten Begriff, dem gerade seine moralische Dimension abhandengekommen zu sein schien121.

117 Vgl. Bernd Greiner (Hrsg.), Angst im Kalten Krieg, Hamburg 2009, sowie Gumbrecht, Nach 1945. 118 Beck, Risikogesellschaft, S. 44. Weiter heißt es dort: »Es sind in diesem Sinne Risiken, die dort, wo sie eintreten, Zerstörungen von einem Ausmaß bedeuten, daß Handeln im nachhinein praktisch unmöglich wird, die also bereits als Vermutung, als Zukunfts­ gefährdung, als Prognose im präventiven Umkehrschluß Handlungsrelevanz besitzen und entfalten. […] Wir werden heute aktiv, um die Probleme oder Krisen von morgen und übermorgen zu verhindern, abzumildern, Vorsorge zu leisten  – oder eben gerade nicht.« 119 Rosa, Beschleunigung, S. 478. 120 Vgl. etwa Fred Turner, From Counterculture to Cyberculture. Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the Rise of Digital Utopianism, Chicago 2006. 121 Vgl. hierzu Koselleck/Meier, Fortschritt, S. 351–423.

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Doch die sich ausbreitende Fortschrittsskepsis allein zeugt noch keineswegs von einem Ende der Geschichte. Aus dieser Perspektive erweisen sich die 1970er und 1980er Jahre als eine weitere Verdichtungsphase, die in einer längeren Reihe analoger »Zeitkrisen« seit der Sattelzeit verortet werden muss. Kulturpessimismus und Vorbehalte gegenüber dem Fortschritt hatten den Fortschrittsglauben seit jeher wie mal größere mal kleinere Schatten begleitet – sei es während der Romantik, des Fin de siècle, in der Zwischenkriegszeit. Stets dann, wenn die Zeitgenossen verstärkt mit einer rasanten Veränderungsdynamik und einer entsprechenden »Gegenwartsschrumpfung« konfrontiert waren, schwand der Glaube an den Fortschritt, und das temporale Imaginarium wurde einer Revision unterzogen122. Die Kombination der Fortschrittsskepsis, die sich in der zweiten Zeitschicht ausbreitete, mit der Delegitimation der Utopien des 19.  Jahrhunderts lässt die Rede von Posthistoire dann doch berechtigt erscheinen. Denn in dem Zweifel gegenüber Utopien, Metanarrativen und allumfassenden ideologischen Ansprüchen deutet sich eine neu-alte »Krise des Historismus« an – und zwar im Sinne eines Wendepunkts, der gleichsam in eine Genesung des historistischen Geschichtsdenkens mündete: Der Geltungsbereich des historistischen Geschichtsdenkens wurde ausgeweitet. Jegliche Utopie, jegliches Telos oder Geschichtssubjekt, ja das historistische Bewusstsein selbst wurden historisiert und somit (prinzipiell) in Frage gestellt. Diese Konsolidierung des kritischen, Ordnungen und Gewissheiten delegitimierenden Geschichtsdenkens führte dazu, dass (vorerst) keine vergleichbar »totalisierenden« Metanarrative, Deutungs- und Handlungsmuster an die Stelle der alten traten. »Die Projekte des 19. Jahrhunderts« waren, wie es bei Enzensberger hieß, »von der Geschichte des 20. samt und sonders falsifiziert worden«123. Und weil sich nun die Erkenntnis breit gemacht hatte »dass wir mithin, wenn wir politisch handeln, nie das erreichen, was wir uns vorgesetzt haben, sondern etwas ganz anderes, das wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen«, ließen sich keine neuen Ziele formulieren – zumindest keine, die den alten Projekten der Moderne entsprochen hätten. Insofern das Verständnis der Geschichte aufs Engste mit den Bewegungsbegriffen und Ideologien, den vermeintlich handlungsfähigen Subjekten und ihren allumfassenden Gestaltungs- und Machbarkeitsansprüchen verbunden war, kündigte sich in deren Historisierung tatsächlich ein Ende und eine Erfahrungssättigung des Chronotopos Posthistoire an. Doch die weitere Entwicklung dieses Chronotopos zeugt von einer anderen Wendung. Denn als Francis Fukuyama 1989 das »Ende der Geschichte« verkündete, geschah dies nicht vor dem Hintergrund einer postmodernen und historistischen Skepsis. Fukuyamas Posthistoire war triumphalistisch, stellte er doch in seinem im Sommer 1989 erschienenen Aufsatz ein »unabashed victory of economic

122 Vgl. Koselleck, Erfahrungsraum. 123 Enzensberger, Randbemerkungen, S. 7; dort auch das folgende Zitat.

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and political liberalism« fest124. Dieses Posthistoire-Postulat bildet gewissermaßen eine Antithese zu den bislang erörterten Symptomen des Posthistoire-Syndroms: Auf der einen Seite herrschte die Wahrnehmung eines »Endes der Geschichte« vor, die sich aus der Angst vor künftigen Bedrohungen speiste und sich als Korrelat eines wachsenden Zweifels an »totalisierenden Meta­narrativen« und ihren »vergegenwärtigten Zukünften« verstehen lässt125. Intellektuelle konzipierten ein Ende der Geschichte als Ergebnis der Infragestellung des westlichen Universalismus und der chronozentrischen Arroganz sowohl der liberal-­kapitalistischen als auch der marxistischen Varianten der Modernisierung, gemäß derer sich die anderen in jenem »imaginären Warteraum der Geschichte« befänden, der sie zu fortwährender Ungleichzeitigkeit verdamme126. Im Bewusstsein der Traumata, die aus den im 20. Jahrhundert verübten Menschheitsverbrechen resultierten, dachten sie über ein Ende der Geschichte im Sinne einer Rekonfiguration des Verhältnisses zur Vergangenheit nach. Auf der anderen Seite wurde ein »Ende der Geschichte« propagiert, das sich in der vom Zusammenbruch des Ostblocks und der fortschreitenden Digitalisierung angetriebenen127, seit den 1990er Jahren scheinbar unaufhaltsamen Ausbreitung des ökonomischen Liberalismus, sprich Kapitalismus erschöpfte. In der Annahme einer »total exhaustion of viable systematic alternatives«, aus der Überzeugung also, dass »ideengeschichtlich nichts mehr zu erwarten« sei, leitete man den weltweiten Siegeszug einer unter dem Rubrum Globalisierung firmierenden Modernisierungstheorie 2.0 ab128. 124 Francis Fukuyama, The End of History?, in: The National Interest 1 (1989), S. 3–18, hier S. 3. Vgl. auch sein drei Jahre später veröffentlichtes Buch: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992. Vgl. hierzu und zum Folgenden Dieter Langewiesche, »Zeitwende« – eine Grundfigur neuzeitlichen Geschichtsdenkens: Richard Koebner im Vergleich zu Francis Fukuyama und Eric Hobsbawm, in: ders., Zeitwende. Geschichtsdenken heute, Göttingen 2008, S. 41–55; Otto Pöggeler, Ein Ende der Geschichte? Von Hegel zu Fukuyama, Opladen 1995, sowie Daniel T. Rodgers, Age of fracture, Cambridge (Mass.)/ London 2011, S. 245 ff. 125 Zu den vergegenwärtigten Zukünften vgl. Koselleck, Erfahrungsraum, sowie Andreas Huyssen, Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory, Stanford 2003. 126 Zum Chronozentrismus und Allochronismus vgl. Johannes Fabian, Time and the other. How anthropology makes its object, New York 2002. Zum »Warteraum der Geschichte« vgl. Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial thought and historical difference, Princeton/NJ 2008, S.  8, sowie Amit Chaudhuri, In the Waiting-Room of History, in: London Review of Books 26 (2004), S. 3–8. 127 Zum Zusammenhang zwischen Digitalisierung, dem Geist des Monetarismus und der »Künstlerkritik am Kapitalismus« (Luc Boltanski/Ève Chiapello) vgl. Doering-­Manteuffel/ Rapahel, Nach dem Boom, S. 8–12. 128 Fukuyama. End of History, S.  3; vgl. auch Gehlen, Kristallisation, S.  308. Folgt man Andreas Huyssens (Present Pasts, S. 21), läge Fukuymas »Ende der Geschichte« und der Modernisierungstheorie 2.0 eben jene Vorstellung »gegenwärtiger Zukünfte« zugrunde, welche die »modernistische Kultur« seit jeher beflügelte. En passant heißt es dort in Fußnote 2: »Of course, an emphatic notion of present futures still operates in the neoliberal imaginings of financial and electronic globalization, a version of the former and largely discredited modernization paradigm, updated for the post-Cold War world.«

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Der Widerspruch zwischen diesen beiden Verständnissen von Posthistoire bleibt für den Historiker (vorerst) unaufhebbar. Für die Historiographie selbst lässt sich indes ein drittes Ende der Geschichte konstatieren: »Mit dem Konsens, dass es eine Geschichte gibt und dass diese in die moderne okziden­ tale Welt mündet, mit dem Konsens also, der von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, das Denken des 19. Jahrhunderts beherrscht hat, ist es zu Ende. Das bedeutet aber keineswegs, dass die Geschichte zu Ende ist. Es sollte zu der Erkenntnis führen, dass es nicht die Geschichte, sondern eine Vielfalt von Geschichten gibt.«129

Die Pluralisierung der historiographischen Ansätze seit den 1970er Jahren und die entsprechende Vervielfältigung ihrer verstreuten Subjekte und Zeitlichkeiten scheinen Iggers Recht zu geben130. Aus dem einstigen Kollektivsingular Geschichte, den Koselleck an den Anfang der Neuen Zeit und der Moderne stellte, wurden erneut viele Geschichten131. Diese »multiple histories«, die sich im Windschatten der Multiplikation der Modernen etablierten, sind als ein nicht zuletzt für die Geschichtsschreibung selbst durchaus relevanter Sinn von Posthistoire aufzufassen132. Die Heterogenisierung des Kollektivsingulars Geschichte zeugt von einem Ende, das zugleich ein Neuanfang ist. Denn, wie Bruno Latour bereits 1991 feststellte, »zwingt uns [glücklicherweise] nichts, die moderne Zeitlichkeit und alles, was sie mit sich führt beizubehalten: ihre Abfolge radikaler Revolutionen; ihre Antimodernen, die zurückkehren in das, was sie für die Vergangenheit halten; ihr Doppelkonzert von Lobreden und Klagen für oder gegen den ständigen Fortschritt, für oder gegen den ständigen Niedergang. Wir sind nicht auf ewig an diese Zeitlichkeit gekettet, mit der sich weder unsere Vergangenheit noch unsere Zukunft verstehen lässt […]. Besser wäre zu sagen, dass die moderne Zeitlichkeit aufgehört hat. Lamentieren wir nicht darüber, denn unsere wirkliche Geschichte hatte immer nur recht lose Beziehungen zu diesem Prokrustesbett, in das die Modernisierer und ihre Feinde sie gezwängt hätten.«133

129 Georg G. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 2007, S. 112. 130 Vgl. hierzu neuerdings Georg G. Iggers/Q. Edward Wang/Supriya Mukherjee, Geschichtskulturen. Weltgeschichte der Historiografie von 1750 bis heute, Göttingen 2013. 131 Zum Kollektivsingular Geschichte vgl. Engels u. a., Geschichte, Historie, S. 647 ff., sowie Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 12, S. 130 und S. 265. Zur Kritik vgl. Jan Marco Sawilla, Geschichte und Geschichten zwischen Providenz und Machbarkeit. Überlegungen zu Reinhart Kosellecks Semantik historischer Zeiten, in: Hans Joas/Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt a. M. 2011, S. 387–422. 132 Vgl. Shmuel N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000. 133 Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 100.

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Bruch im Fortschrittsverständnis? Zukunftsforschung zwischen Steuerungseuphorie und Wachstumskritik

1. Das Ende des Booms als Ende des Fortschrittsdenkens? Das Ende des Booms wurde zuletzt mit einem »Stimmungsumschwung« von Optimismus zu »Zukunftsangst«1 infolge der Öl- und Wirtschaftskrisen gleich­gesetzt. Mit dem Strukturbruch der 1970er Jahre habe sich das charakteristische, an Planung, Modernisierung und Emanzipation orientierte Fortschrittsverständnis der Boomepoche »erledigt«2, und ein »Bewusstsein für die Grenzen des Wachstums« sei entstanden3. Die Zukunfts-Studie »Die Grenzen des Wachstums«4 erschien allerdings schon Anfang 1972, also über ein Jahr vor der ersten Ölkrise. Damit deutet sich an, dass die Zukunftsforschung eine »Krise« zunächst konstruierte und dann mit Einsetzen der ersten Ölkrise 1973 in ihrer Wahrnehmung verstärkte. Im Folgenden soll dieses Feld der Zukunftsforschung in den Blick genommen werden, um Zukunftsvorstellungen beziehungsweise (im wissenschaftlichen Verständnis) Zukunftswissen sowie damit verknüpfte Fortschrittsverständnisse zwischen den 1960er und 1980er Jahren zu analysieren. Es soll gezeigt werden, dass sich die Zukunftsforschung in den westlichen Industriestaaten schon um 1970 grundlegend veränderte. War sie zunächst von einer regelrechten Steuerungseuphorie geprägt, so bröckelte das Vertrauen in die Prognostizierbarkeit von Zukunft mit den Krisenkonstruktionen und einer neuen Wachstumskritik. Das in der Zukunftsforschung dominierende Verständnis technischen Fortschritts erodierte. Doch hatte sich das Fortschrittsdenken nicht erledigt, sondern Fortschritt wurde neu gedacht. In einem ersten Schritt wird die Formierung der Zukunftsforschung in den 1950er und 1960er Jahren rekapituliert und nach Wahrnehmungs- und Deutungsmus1 Konrad Jarausch, Verkannter Strukturwandel. Die siebziger Jahre als Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart, in: ders. (Hrsg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 9–26, hier S. 9; vgl. auch Hartmut Kaelble, The 1970s: What Turning Point?, in: JMEH 9 (2011), S. 18 ff., hier S. 18 f. 2 Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeit­ geschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, S. 135. 3 Edgar Wolfrum, Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 2007, S. 327. 4 Dennis L. Meadows u. a., The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind, New York 1972; die deutsche Übersetzung erschien noch im selben Jahr unter dem Titel »Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit« bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart.

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tern, nach Zukunfts­vorstellungen und Prognosen sowie dominierenden Methoden und Fortschrittsverständnissen gefragt. In einem zweiten Schritt werden Wandlungsprozesse der Zukunftsforschung um 1970 analysiert. Drittens ist zu skizzieren, wie sich die Zukunftsforschung bis Ende der 1980er Jahre entwickelte. Dabei wird die Bundesrepublik in den Fokus gestellt, ohne transnationale Aspekte in den westlichen Industriestaaten auszublenden, die für die Zukunftsforschung ohnehin elementare Bedeutung besaßen.

2. Die Zukunft steuern und gestalten: Formierung in den 1950er und 1960er Jahren Die Beschäftigung mit dem Zukünftigen ist sicherlich kein Phänomen des 20. Jahrhunderts, sondern dem Menschen inhärent. »Fortschritt« ist allerdings ein moderner Begriff. In der Sattelzeit, so Reinhart Koselleck, erschlossen sich neue Erwartungshorizonte abseits eschatologischer Vorstellungen. Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte traten auseinander, und zwar durch die Vorstellung einer offenen Zukunft, die als Prozess einer »irdischen Daseinsverbesserung« gedacht war und »als Fortschritt auf den Begriff gebracht« wurde5. Zugleich formten sich um 1800 – etwa bei Auguste Comte – Überlegungen, die Zukunft wissenschaftlich erkunden und planen zu können. Dies verdichtete sich mit der Antizipation wissenschaftlich-technischer Entwicklungen in der beginnenden »Hochmoderne« der 1890er Jahre6. Die methodischen Wurzeln der modernen Zukunftsforschung in den westlichen Industriegesellschaften ruhen freilich im Zweiten Weltkrieg. Wissenschaftler in den Diensten des britischen und amerikanischen Militärs entwickelten logistische Optimierungsanalysen für Waffen- und Gerätesysteme im sogenannten Operations Research; daran knüpften nach 1945 die Think Tanks in den USA an. Diese großen, interdisziplinär angelegten Forschungsinstitute – am bekanntesten ist die RAND Corporation – bearbeiteten im Zeichen des entstehenden Kalten Kriegs militärstrategische und technologische Projekte. Zugleich entwickelten sie ein neues Selbstverständnis und Methodenarsenal von »ratio5 Reinhart Koselleck, »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 349–375, hier S. 362. 6 Vgl. etwa Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999, S.  63 f., S. 103–113 und S. 152–161; Michael Salewski, Technik als Vision der Zukunft um die Jahrhundertwende, in: ders/Ilona Stölken-Fitschen (Hrsg.), Moderne Zeiten. Technik und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 77–91; zur Diskussion um die Hoch­ moderne vgl. Ulrich Herbert, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: JMEH 5 (2007), S.  5–21; Lutz Raphael, Ordnungsmuster der »Hoch­ moderne«? Die Theorie der Moderne und die Geschichte der europäischen Gesellschaften im 20.  Jahrhundert, in:  Ute Schneider/Lutz Raphael (Hrsg.), Dimensionen der Moderne. Festschrift für Christof Dipper, Frankfurt a. M. u. a. 2008, S. 73–91.

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naler«, also quasi objektivierter, wissenschaftsgestützter Prognostik. Hier entstanden neue Methoden der Vorausschau wie computergestützte Simulationsund Entscheidungsmodelle. Die wissenschaftstheoretische Basis bildete erstens der Behaviorismus, also die erfahrungswissenschaftliche Verhaltenstheorie, die naturwissenschaftliche Ansätze der Beobachtung und Beschreibung auf soziale Gegenstände übertrug. Zweitens entstand bei Kriegsende die Spieltheorie, die nun als Basis von Entscheidungsmodellen diente, und drittens formte sich die Kybernetik als neue Meta-Wissenschaft von der Nachrichtenübermittlung, Kontrolle und Steuerung in Systemen, welche die Handhabe zu bieten schien, soziale Systeme prognostizier- und steuerbar zu machen7. Entstammte das Methodenwissen für Prognostik mehrheitlich den USA, so entstand die Zukunftsforschung in den 1950er Jahren im westeuropäisch-transatlantischen Austausch, in einem Prozess der »Westernisierung« – und sie entsprang dem Denken des Kalten Kriegs8. Den institutionellen Rahmen schuf zum einen der Congress for Cultural Freedom, eine Ideenagentur des Konsensliberalismus, in der sich amerikanische und westeuropäische Liberale und nicht-­kommunistische Linke im Zeichen von Reformpolitik und freiheitlichen Planungsideen sammelten9. Wichtiger noch war die Ford Foundation, die im Zeichen des Kalten Kriegs darauf zielte, die modernisierungstheoretischen Grundlagen der amerikanischen Sozialwissenschaften und damit das amerikanische Moderne- und Demokratieverständnis im Westen zu verankern10. Die Ford Foundation unterstützte ab 1961 das Projekt Strengthening the democratic institutions in Europe and other areas, das der französische Ökonom und Politikwissenschaftler Bertrand de Jouvenel initiierte. Sein Projekt reflektierte im Rahmen transatlantisch besetzter Tagungen und Publikationen über die Zukunft der westlichen Demokratie und die Möglichkeiten ihrer Stabilisierung, aber ebenso über Methoden und Wege der Erforschung des Zukünftigen11. Damit zir7 Vgl. etwa Sharon Ghamari-Tabrizi, The Worlds of Herman Kahn. The Intuitive Science of Thermonuclear War, Cambridge/Mass. 2005; Michael Hagner/Erich Hörl (Hrsg.), Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt a. M. 2008; mit weiterer Literatur Elke Seefried, Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945–1980, Berlin u. a. 2015, S. 53–68. 8 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 9 Vgl. Peter Coleman, The Liberal Conspiracy. The Congress for Cultural Freedom and the Struggle for the mind of Postwar Europe, New York/London 1989; Michael Hochgeschwen­ der, Freiheit in der Offensive? Der Kongress für Kulturelle Freiheit und die Deutschen, München 1998. 10 Vgl. Volker R. Berghahn, Transatlantische Kulturkriege. Shepard Stone, die Ford-Stiftung und der europäische Antiamerikanismus, Stuttgart 2004; zur Ford Foundation und zu ihrer Rolle in der Etablierung der transnationalen Zukunftsforschung vgl. Jenny Anders­son, The Great Future Debate and the Struggle for the World, in: AHR 117 (2012), S. 1411–1430. 11 RAC , Ford Foundation Archives, Grant File 61–41, Executive Committee Meeting vom 12.7.1961; vgl. Bertrand de Jouvenel, Die Kunst der Vorausschau, Neuwied 1967; die Originalausgabe erschien 1964.

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kulierte Zukunftswissen in den westlichen Industriestaaten. In der Folge entstanden zahlreiche Institutionen der Zukunftsforschung wie das Institute for the­ Future in den USA oder das Zentrum Berlin für Zukunftsforschung (ZBZ) in der Bundesrepublik, aber auch transnationale Epistemic Communities wie der Club of Rome und die Initiative Mankind 2000, aus der 1973 die World Future Studies Federation hervorging. Letztere reichte dabei über die Grenzen des Kalten Kriegs hinweg. Ausgehend vom marxistisch-leninistischen Fortschritts­paradigma und geprägt vom technologischen Wettlauf zwischen West und Ost hatte sich nämlich ebenso in den sozialistischen Staaten die wissenschaftliche Beschäftigung mit Zukunft intensiviert12. Jene, die in den westlichen Industriestaaten Zukunftsforschung als neuen Zugang des Nachdenkens, des Erforschens und der Gestaltung der Zukunft konzeptionierten und praktizierten, waren sich in zentralen Punkten einig. Sie einte – erstens – die Wahrnehmung einer Vielzahl möglicher Zukünfte. Dieser Begriff, von de Jouvenel als Futuribles erstmals geprägt, entsprang unterschiedlichen Motiven. De Jouvenel wollte in epistemologischer Hinsicht betonen, dass es im engeren Sinne kein Wissen über die Zukunft gebe. Dennoch sollte der Mensch mögliche Zukünfte ermitteln und abschätzen, ja die Vorausschau müsse in den politischen Entscheidungsprozess integriert werden, um die Zukunft zu gestalten13. Vor dem Hintergrund der dynamischen Veränderungen im Bereich von Wissenschaft und Technik, des wirtschaftlichen Booms, der neue Handlungsund Planungsspielräume zu bieten schien, und der Prägekraft der Modernisierungstheorie symbolisierte das Nachdenken über die vielen möglichen Zukünfte und ihre Gestaltung zunehmend Aufbruchstimmung und Machbarkeitsdenken: In enger Interaktion mit einem neuen politischen Interesse für Planung, ja nachgerade einer Planungseuphorie, welche fast alle westlichen Demokratien erfasste14, gingen Wissenschaftler davon aus, dass die Zukunft gestaltbar sei und dass es eine Fülle an Zukünften gebe, die nicht nur prognostiziert werden könnten, sondern aus denen der Mensch geradezu wählen könne15. 12 Vgl. Seefried, Zukünfte, insbesondere S.  179–254; Alexander Schmidt-Gernig, Ansichten einer zukünftigen »Weltgesellschaft«. Westliche Zukunftsforschung der 60er und 70er Jahre als Beispiel einer transnationalen Expertenöffentlichkeit, in: Hartmut Kaelble/­ Martin Kirsch/Alexander Schmidt-Gernig (Hrsg.), Transnationale Öffentlichkeit und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./New York 2002, S. 393–421; zu Epistemic Communities vgl. Peter M. Haas, Introduction. Epistemic Communities and International Policy Coordination, in: International Organization 46 (1992), S. 1–35. 13 De Jouvenel, Kunst, S. 35. 14 Vgl. etwa Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn u. a. 2005; Glen O’Hara, From Dreams to Disillusionment: Economic and Social Planning in 1960s Britain, Basingstoke/New York 2007. 15 BAK , B 138/1550, undatierte Informationsschrift zur Gründung des ZBZ (1968); vgl. Olaf Helmer, Analysis of the future, Santa Monica 1967, S. 1 f.; zur »Wahl« der Zukünfte auch Jenny Andersson, Choosing Futures. Alva Myrdal and the Construction of Swedish ­Futures Studies 1967–1972, in: International Review for Social History 51 (2006), S. 277–295.

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Das Machbarkeitsdenken verband sich – zweitens – mit der Denkfigur eines immer schnelleren Wandels der wissenschaftlich-technischen Entwicklung. In zahlreichen Stellungnahmen war von einer »Beschleunigung des technischen Fortschritts« die Rede, vom exponentiellen Anstieg wissenschaftlichen Wissens und Durchbrüchen in der Forschung, etwa in der Raumfahrt, der Atomtechnik und der elektronischen Datenverarbeitung, wodurch auch soziale Komplexität wachse16. Daher sahen jene, die sich im Feld der Zukunftsforschung bewegten, eine wissenschaftlich abgesicherte Vorausschau und Planung als erforderlich an17. Zugleich schien der technische und wissenschaftliche Wandel  – drittens  – eine mittel- und langfristige Vorausschau erst möglich zu machen. Denn nun existierten Methoden und Instrumente, welche suggerierten, die Zukunft sei prognostizier- und steuerbar. Dies galt für den Computer, der die Möglichkeit bot, große Datenmengen zu speichern und aufzubereiten, so dass Prozesse in­ Simulationsmodellen immer wieder durchgespielt werden konnten. Vor allem rekurrierte die Zukunftsforschung auf die Kybernetik, die eine »Einheit des Wissens« über die Grenzen von Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften hinweg verhieß. In einem mechanistischen Verständnis ging sie davon aus, dass Aspekte von Regelung und Nachrichtenübertragung sowohl Menschen als auch Maschinen kennzeichneten und insofern nicht nur in Modellen erfasst, sondern als Systeme prognostiziert und gesteuert werden könnten18. Kybernetisch inspirierte Methoden, wie die Systemanalyse, die in Regelungsprozessen dachten, avancierten zu einem zentralen Anknüpfungspunkt für die Zukunftsforschung. Erkennbar wird an diesen Überlegungen, welch zentrale Bedeutung die Zukunftsforschung der 1950er und 1960er Jahre den Gegenständen Wissenschaft und Technik zumaß; sie prägten das Fortschrittsverständnis jener Jahre. Um zu differenzierten Aussagen zu kommen, ist es allerdings wichtig, zwischen grundlegenden Denkstilen zu unterscheiden, in denen sich unterschiedliche personale Erfahrungen, Deutungsmuster, erkenntnistheoretische Ansätze und soziale Kontexte der Zukunftsforschung spiegeln. In dieser Vielgestaltigkeit wurzeln auch die zahlreichen Begriffe für das Feld der Zukunftsforschung: futures ­research, futurology, future(s) studies19. Ein erster, normativ-ontologischer Denkstil, wie ihn etwa de Jouvenel verkörperte, basierte auf einem philosophischen Fundament. Sein Blick galt der Spekulation über das Mögliche in der Zeit des wissenschaftlich-technischen und so16 Vgl. Robert Jungk, Modelle für eine neue Welt, in: ders./Hans Josef Mundt (Hrsg.), Der Griff nach der Zukunft. Planen und Freiheit, München 1964, S. 23–36, hier S. 26; vgl. auch Futures. Confidence from Chaos, in: Futures 1 (1968) H. 1, S. 2. 17 BAK , B 138/1550, Informationsschrift zur Gründung des ZBZ . Zur Beschleunigung als Denkfigur des Zeitregimes der Moderne vgl. Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, S. 192–207. 18 Vgl. Michael Hagner, Vom Aufstieg und Fall der Kybernetik als Universalwissenschaft, in: Hagner/Hörl (Hrsg.), Transformation, S. 38–72, hier S. 40. 19 Zu Denkstilen vgl. Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Basel 1935.

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zialen Wandels, den Methoden, mit denen die Zukünfte eruiert werden könnten, und dem normativ unterlegten Nachdenken über »Ursachenordnungen« und gewollte Zukünfte. Der Mensch, »der in der festen Absicht handelt, sein Projekt zu verwirklichen«, sei Schöpfer des Zukünftigen, so de Jouvenel. Zwar könne der »Fortschritt« nicht leichtfertig-optimistisch als »graduelle Bewegung in Richtung auf einen gegebenen ›Bestimmungsort‹« betrachtet werden. Und doch sprach de Jouvenel, der dem Liberalismus nahe stand, vom »Fortschritt der Gesellschaft«20, den er in besonderer Weise mit Technik verband. Der Mensch könne mit Mechanisierung und Automation auch seine intellektuellen Fähigkeiten entfalten und so seine Freiheit vergrößern. Zugleich ermögliche der technische Fortschritt – ebenso wie Bildung – eine Hebung des Wohlstands und damit das gute Leben aller21. Gleichwohl begriff de Jouvenel Zukunftsforschung auch als Kunst in einem elitären Sinne, womit er die individuellen Fähigkeiten desjenigen betonte, der über die Zukunft nachdachte. Dieser elitäre Anspruch prägte auch die Gründer des Club of Rome, worauf noch zurückzukommen sein wird. Einen zweiten, kritisch-emanzipatorischen Denkstil verkörperten etwa der deutsch-österreichische Historiker Robert Jungk, der deutsche Politikwissenschaftler Ossip Flechtheim oder Johan Galtung, der norwegische Begründer der Friedensforschung. Konstitutiv für dieses Verständnis von Zukunftsforschung waren eine sozialistische Sozialisation, die oft mit einer Verfolgungs- oder Emigrationserfahrung verbunden war, eine Orientierung an einem kritisch-­dialek­ tischen Verständnis von Erkenntnis sowie eine sozialphilosophische Wissens­ basis, die eine Nähe zur Kritischen Theorie besaß. Leitbild war das aufklärerische Verständnis des mündigen Menschen, dessen Partizipation an der Zukunft mit modernen Planungsmethoden verbunden werden sollte. In diesem Sinne speiste sich dieser Denkstil aus einem Zeitverständnis, das in historischen Kategorien der Entwicklung dachte und dem so trotz aller Zeitkritik ein Fortschrittsdenken eingeschrieben war, das an die Emanzipation des Menschen aus seinem selbst geschaffenen Gebäude der Unfreiheit glaubte, ja eine utopische Färbung besaß22. Das galt für Überlegungen zur Zukunft des Friedens, die für diesen Denkstil konstitutiv waren: Zwar reflektierte man hier den technisch-wissenschaftlichen Wandel – mit Blick auf den drohenden Atomkrieg – kritisch, doch wurden diese Überlegungen immer in Machbarkeitsdenken, ja Aufbruchstimmung eingebettet. So plante das von Jungk initiierte Netzwerk Mankind 2000, das Zukunfts- und Friedensforschung verband, zunächst eine Ausstellung, die eine Fülle möglicher und gewünschter Zukünfte frei imaginieren und visualisieren sollte, »presenting the ordinary man with an exciting and challenging glimpse of the possible world of the year 2000«. Die Zukunft galt als »a matter of human choice«, und dies im Hinblick auf Aspekte von Wissenschaft und Technik ebenso 20 De Jouvenel, Kunst, S. 318, S. 40, S. 306 und S. 27; vgl. Seefried, Zukünfte, S. 75–87; Olivier Dard, Bertrand de Jouvenel, Paris 2008. 21 Vgl. de Jouvenel, Kunst, S. 306 f. 22 Vgl. Seefried, Zukünfte, S. 125–154.

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wie für die kommende Abrüstung23. Deutlicher noch wurde der utopische Gehalt in Jungks schwärmerischen Überlegungen zur Verbindung von Planung, Kybernetik und »soziale[r] Phantasie«24, zum »neue[n] Mensch[en]«25, der das Feld der »noch offenen, unendlich wandelbaren, erst beginnenden Menschheitsentwicklung« bestelle26. Ausgehend von der utopischen Vorstellung, die Zukünfte mehr oder weniger frei gestalten zu können, wollte Jungk Planung partizipativ anlegen, aber verwendete, weil von einer Formung von Menschentypen und einer Erziehung zur Planung die Rede war, auch technokratische und steuerungsorientierte Argumentationsmuster. Eine fast emphatische Begeisterung für den technischen Fortschritt kennzeichnete einen dritten, empirisch-positivistischen Denkstil. Ihn verkörperten Naturwissenschaftler, Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, welche Zukunft in einem positivistischen Sinne vermessen wollten. Hier dominierten ein Empirismus, der tendenziell systemanalytisch-quantitativ und computergestützt arbeitete, und ein Verständnis von Prognose, das am stärksten davon ausging, Zukünfte im Sinne einer objektiven Wissensproduktion prognostizieren und planen zu können. Im Zeichen einer starken Technikaffinität, die auf moderne, effiziente Planung und damit Sicherung des linear gedachten Fortschritts ausgerichtet war, stand im Fokus, technisch-wissenschaftliche Entwicklungen zu extrapolieren oder in Modellen zu simulieren. Dies gilt für das Gros der Think Tanks und für den prominentesten US -Futurologen Herman Kahn, einen der Erfinder der computergestützten Modellsimulation und Autor des Bestsellers »The Year 2000«, das Szenarien über mögliche interplanetarische Reisen und die Nutzung der Atomtechnik im Haushalt enthielt27; dies galt auch für den Soziologen Daniel Bell, der Anfang der 1960er Jahre mittels Analyse sozialer frameworks die kommende, durch wissenschaftliches Wissen gekennzeichnete post-industrial society prognostizierte28. Ferner bewegte sich die britische Arbeitsgruppe Social and Technological Alternatives for the Future an der University of Sussex im Bannkreis eines vor allem quantitativ arbeitenden Verständnisses von Forecasting29. 23 Mankind 2000: A Vision of Tomorrow, in: Peace Information Bulletin 2 (1964) H. 2, S. 2 f.; vgl. Robert Jungk/Johan Galtung (Hrsg.), Mankind 2000, London 1969, und – mit weiterer Literatur – Seefried, Zukünfte, S. 179–207. 24 Jungk, Modelle, S. 25. 25 Robert Jungk, Gesucht: ein neuer Mensch. Skizze zu einem Modell des Planers, in: Jungk/ Mundt (Hrsg.), Griff, S. 505–516. 26 Jungk, Modelle, S. 36. 27 Vgl. Herman Kahn/Anthony J. Wiener, The Year 2000. A Framework for Speculation on the next 33 Years, London 1968; Ghamari-Tabrizi, Worlds. 28 Vgl. Daniel Bell, Notes on the Post-Industrial Society, 2 Teile, in: The Public interest 2 (1966/67) H. 6, S. 24–35, und H. 7, S. 102–168. 29 NA , EY 2/216, The University of Sussex, SPRU, Christopher Freeman, an Social Science Research Council vom 7.7.1970 mit Antrag »Support for  a Programme of Forecasting Research«; vgl. auch Hugh S. D. Cole u. a. (Hrsg.), Thinking about the Future. A Critique of the Limits to Growth, London 1973.

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Der empirisch-positivistische Denkstil dominierte auch die bundesdeutsche Zukunftsforschung der 1960er Jahre. Hier wird ein szientistisch anmutendes Vertrauen in die Prognostik besonders fassbar. So propagierte das ZBZ im Gründungsaufruf 1968: »Es kommt uns darauf an, diejenigen Probleme, die heute dem Fortschritt der Zivilisation entgegenstehen oder mit deren Entstehung in absehbarer Zukunft gerechnet werden muß, akzeptablen Lösungen zuzuführen.«30 Man wollte deshalb mit wissenschaftlichen Methoden die Zukunft erforschen und Alternativen entwickeln, die eine »positive und rasch fortschreitende Evolution der menschlichen Zivilisation sichern«31. Das ZBZ besitze die Erfahrung, entsprechende Gedankenmodelle zu konstruieren, insbesondere die »simulativ arbeitende Systemanalyse«32. Evident wird, dass das ZBZ einem auf die technische Entwicklung ausgerichteten Fortschrittsverständnis, einem ausgeprägten Machbarkeitsdenken und einem Vertrauen in die Methode der Systemanalyse entsprang. Die Probleme, die dem Fortschritt entgegenstanden, erschienen so lösbar und damit die Zukunft steuerbar und gestaltbar. Dies ging durchaus Hand in Hand mit dem Verständnis, die Evolution »sichern« zu müssen, also in ihrer Aufwärtsentwicklung zu stützen33. Stellvertretend hierfür stand der erste Vorsitzende des ZBZ , Heinz Hermann Koelle. Der Raumfahrttechniker, der bis in die 1960er Jahre für die NASA tätig gewesen war, argumentierte, der Entscheidungsprozess sei ein Regelvorgang mit Rückkopplungsschleifen. Ermittele man Zielvorstellungen, Prioritäten, Lösungsalternativen, Entscheidungs­k riterien und Rahmenbedingungen, so ließen sich in computerunterstützten Simulationen Konsequenzen dieser Alternativen modellieren; damit ließe sich aber auch die Zukunft steuern34. Diese Überlegungen spiegelten eine Steuerungs­euphorie, weil Koelle davon ausging, dass sich Entscheidungsprozesse durchweg quantifizieren, modellieren und visualisieren ließen. Die recht holzschnittartigen Modell­simulationen und Systemanalysen des ZBZ unterschätzten aber massiv die soziale und politische Komplexität. Dies zeigten Studien, die das ZBZ für die Bundesregierung zwischen 1968 und 1972 erstellte und die  – auch aufgrund ihrer konsequenten Quantifizierungs- und Formalisierungsneigung – wenig verwendungsfähig für Regierung und Ministerial­ büro­k ratie waren35. 30 BAK , B 138/1550, Informationsbroschüre des ZBZ . 31 IfZ-Archiv, ED 701/40, Satzung des ZBZ , § 3. 32 BAK , B 138/1550, Informationsbroschüre des ZBZ . 33 Vgl. dazu Eckart Conze, Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer »modernen Politikgeschichte« der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 53 (2005), S. 357–381, hier S. 372. 34 IfZ-Archiv, ED 701/40, Protokoll der ZBZ -Vorstandssitzung vom 9.7.1970; vgl. auch Warnsystem bezüglich der Lebensfähigkeit von Berlin (West). Definitionsstudie von M. Birreck und H. H. Koelle. Kondensat, in: analysen und prognosen über die Welt von morgen 3 (1971) H. 15, S. 21 f.; Heinz Hermann Koelle, Werden und Wirken eines deutsch-amerikanischen Raumfahrt-Professors, Berlin 1994. 35 Vgl. Elke Seefried, Experten für die Planung? »Zukunftsforscher« als Berater der Bundesregierung 1966–1972/73, in: AfS 50 (2010), S. 109–152; Alexander Schmidt-Gernig, Das

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Mithin war die »westliche« Zukunftsforschung der 1950er und 1960er Jahre von Aufbruchstimmung und Machbarkeitsdenken, ja zum Teil von einer Steuerungseuphorie geprägt. Dies ist nicht gleichzusetzen mit grenzenlosem Optimismus, denn gerade im Bild von der Beschleunigung spiegelte sich die Sorge vor einer Entgrenzung rasanter Entwicklungen, vor einer Entgrenzung des »Fortschritts«. Doch dominierten das Vertrauen in die Erforschbarkeit und Gestaltbarkeit der Zukünfte und ein Fortschrittsverständnis, das zwischen einem ambivalenten Utopismus vom »neuen Menschen« und der Überzeugung vom technischen Fortschritt als steuerbarer Vorwärtsentwicklung von Wissenschaft und Technik changierte.

3. Wandlungsprozesse um 1970 Die Zukunftsforschung erfuhr zwischen 1970 und 1973 – also schon vor der ersten Ölpreiskrise – einen Wandel. Als Gegenbewegung zur Steuerungs- und Technikfixierung der 1960er Jahre rückte nun eine Orientierung am menschlichen Subjekt und am Ökologischen in den Mittelpunkt, und dies hatte Folgen für das Fortschrittsverständnis. In einem ersten Veränderungsprozess geriet das Steuerungs- und Technikparadigma ins Kreuzfeuer einer »kritischen Futurologie«, welche die Zukunftsforschung polarisierte, aber auch einer neuen Orientierung am Menschen Bahn brach. Die »kritische Futurologie« entwickelte sich aus der kritisch-emanzipatorischen Strömung der Zukunftsforschung, verband sich aber mit der Dynamisierung von Ideen der Neuen Linken im Gefolge von 1968. ­Robert Jungk erhielt 1968/69 Lehraufträge beziehungsweise eine Honorarprofessur an der TU und FU Berlin36 und solidarisierte sich in der Folge empathisch mit den Leitbildern und Protestpraktiken der Studentenbewegung37. Evident wurde eine Polarisierung Ende 1969 auf einer Veranstaltung der Gesellschaft für Zukunftsfragen namens SYSTEMS 69. Zukunftsforschung, so argumentierte Jungk, lautstark unterstützt von einer Gruppe mitgereister Studierender und Doktoranden der TU Berlin, dürfe nicht als »Verlängerung der Gegenwart« begriffen werden, sondern müsse »radikale Kritik« an der Gegenwart üben38. Dabei war die Herausbildung der »kritischen Futurologie« ein transnationales Phänomen, wie sich auf dem International Future Research Congress in Jahrzehnt der Zukunft. Leitbilder und Visionen der Zukunftsforschung in den 60er Jahren in Westeuropa und den USA , in: Uta Gerhardt (Hrsg.), Zeitperspektiven. Studien zu Kultur und Gesellschaft, Stuttgart 2003, S. 305–345, hier S. 344. 36 JBZ , NL Jungk, Helmut Klages an Robert Jungk vom 15.1.1968, und Otto-Suhr-Institut an der FU Berlin, Robert Jungk: Seminarplan Technik und Politik, WS 1969/70. 37 JBZ , NL Jungk, Robert Jungk an Rüdiger Proske vom 27.1.1970. 38 Archiv des Karlsruher Instituts für Technologie, NL Karl Steinbuch 324, Presseerklärung Systems 69: Zukunftsforschung braucht Öffentlichkeit vom 10.11.1969 und SYSTEMS 69. Initiativgruppe, Fragen zum Referat »Zukunftsentwicklung der Informationstechnik«, undatiert.

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Kyoto 1970 zeigte39. Unterstützt von Robert Jungk, entwarf der junge niederländische Soziologe Bart van Steenbergen dort das dichotomische Bild der establishment futurology und der critical futurology«. Die establishment futurology gehe von einer Ordnungsvision aus, habe enge Bindungen zum politischen und wirtschaftlichen Establishment und sammle – wie Herman Kahn – nur Daten, um systemkonforme Prognosen aufzustellen. Hingegen wolle die critical futurology von einer Konfliktperspektive ausgehen, sich an einem dialektischen Erkenntnisbegriff orientieren und diesen mit der cultural revolution verbinden. Revolution sei dabei der Kampf um mehr Freiheit und mehr Partizipation, der durch den Entwurf verschiedener Zukünfte und ihre Durchsetzung realisiert werde40. Es ist evident, dass die »kritische Futurologie« sich aus mehreren Faktoren speiste. Fassbar wird eine generationelle Kluft zwischen der Mehrheit der Gründergeneration der Zukunftsforschung, die den Geburtsjahrgängen 1900 bis 1920 entstammte, und jungen Studierenden und Wissenschaftlern, die – dynamisiert durch den transnationalen generationellen Protest des Jahres 1968 – eigene Wege und Methoden des Nachdenkens über Zukünfte einforderten. Dies verband sich mit einer Dynamisierung neomarxistischer Ideen und Partizipationsforderungen durch Ideen der Neuen Linken. Die »kritische Futurologie« fragte nach der Rolle ökonomischer Interessen im Prozess der Generierung von Zukunftswissen und wandte sich gegen eine Zukunftsforschung, die nur Trends in die Zukunft verlängere. Neomarxistisch war die »kritische Futurologie« insoweit, als sie sich auf die Befreiung des einzelnen aus dem kapitalistischen System bezog. Hin­gegen distanzierte man sich vom marxistischen Positivismus, und im Zentrum standen nicht ökonomische Fragen, sondern Freiheit und Partizipation. Von Partizipation war bei Jungk oder Galtung auch schon in den 1950er und 1960er Jahren die Rede; doch sehr viel deutlicher ging es nun um die Rolle des Individuums und seiner Ziele in Abgrenzung zu uniformierenden Planungsprozessen. Die Wurzeln dessen ruhten in der Dynamisierung partizipativer Ideen durch das transnationale Phänomen 1968 und  – hiermit verknüpft  – in einem wissenschaftstheoretischen Wandel, der die Sozialwissenschaften erfasste, nämlich eine Erschöpfung des Strukturalismus, des Denkens in Systemen und Strukturen, zugunsten antipositivistischer und konstruktivistischer Ansätze und einer neuen Fokussierung der Dimension des Subjektiven, also des Menschen, seiner Wahrnehmungen und Bedürfnisse. Dies trieben Soziolo39 Vgl. Seefried, Zukünfte, S. 221–225. 40 Vgl. Bart van Steenbergen, Critical and Establishment Futurology, und Robert Jungk, The Role of Imagination in Future Research, beide Beiträge in:  Challenges from the­ Future. Proceedings of the International Future Research Conference, Bd. 1, hrsg. von der Japan Society of Futurology, Tokyo 1970, S. 93–101 und S. 1–7; Bart van Steen­bergen, Kritische Futurologie und Utopie, in: Dietger Pforte/Olaf Schwencke (Hrsg.), Ansichten einer künftigen Futurologie. Zukunftsforschung in der zweiten Phase, München 1973, S. 73–94.

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gen, die in der Epistemic Community der Zukunftsforschung wirkten, aktiv mit an: Neben van Steen­bergen war dies Amitai Etzioni, der argumentierte, in fort­ geschrittenen Industriegesellschaften würden Gefühle der Entfremdung fassbar, denen man durch die Suche nach den menschlichen Bedürfnissen in partizipativen Verfahren und sozialen Experimenten entgegentreten müsse41. So entstand Anfang der 1970er Jahre eine neue Orientierung der Zukunftsforschung am menschlichen Subjekt, seinen Bedürfnissen und Gestaltungsfreiheiten. Dies ging über den Kreis der »kritischen Futurologie« hinaus: Mehrere Referenten sprachen schon in Kyoto davon, dass der Einzelne nicht mehr den Eindruck gewinnen dürfe, er sei nur noch ein Objekt der technologischen Entwicklung und der Zukunftsplanung, etwa im Erziehungswesen. Stattdessen müsse Zukunftsforschung vom Menschen, seinen Zielen und Bedürfnissen ausgehen42. Die »kritische Futurologie« schob mit ihrer harten Kritik an Positivismus und Establishment diesen Paradigmenwechsel aktiv mit an. Nahezu zeitgleich wurde die Zukunftsforschung  – und das ist der zweite Aspekt des Wandels – von ökologischer Wachstumskritik erfasst. Wirtschaftliches Wachstum war ja in den westlichen Industriestaaten nach 1945 im Zeichen des Booms zum zentralen Merkmal für Wohlstand avanciert. Dies begann zu bröckeln. Eine konservative Kulturkritik, die ein Unbehagen an der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft transportierte und den Schutz der Natur zum Ziel hatte, war kein Novum; sie lässt sich schon im Kaiserreich finden43. Zunehmend aber formierte sich nun wissenschaftliche Kritik am Leitbild des wirtschaftlichen Wachstums44, die Anleihen an der Ökologie nahm. Die Ökologie als Wissenschaft von den Wechselbeziehungen zwischen Organismen und ihrer unbelebten und belebten Umwelt, die sich den Mechanismen einer Her­stellung von Gleichgewichten im Ökosystem widmete, erlebte in den 1960er Jahren, zunächst in den USA , eine Konjunktur. Hintergrund war ein wachsendes gesellschaftliches und politisches Interesse an Umweltthemen, das auf die Belastung der Lebensgrundlagen des Menschen (und nicht nur den Schutz gegebener Natur) zielte. Frühe Mahnrufe wie Rachel Carsons »Silent Spring« und die Herausbildung eines neuen Politikfelds Umweltschutz trugen ab Mitte der 1960er Jahre zur Formung einer modernen Umweltbewegung bei, 41 Vgl. Volker Kruse, Geschichte der Soziologie, Konstanz 2008, S. 299–305; François Dosse, Geschichte des Strukturalismus. Bd. 2: Die Zeichen der Zeit, 1967–1991, Hamburg 1997, S. 394–409 und S. 428–443; Amitai Etzioni, The Active Society. A Theory of Societal and Political Processes, London/New York 1968; zu Etzionis Teilnahme an der Konferenz von Kyoto: Challenges, Bd. 4, S. 171. 42 Vgl. James Wellesley Wesley, Human Development in a Critical Future, und Richard P. Wakefield, Images of Man and the Future of Human Institutions, beide Beiträge in: Challenges, Bd. 3, S. 31–35 und S. 25–30. 43 Vgl. Jens Ivo Engels, Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn 2006, S. 35–86. 44 Vgl. Reinhard Steurer, Der Wachstumsdiskurs in Wissenschaft und Politik. Von der Wachstumseuphorie über »Grenzen des Wachstums« zur Nachhaltigkeit, Berlin 2002.

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die sich mit dem US -counterculturalism und alternativen Werten und Lebenskonzepten verband45. Ebenso sickerten in Teile der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ökologische Denkmuster ein. Zunächst wenig beachtet, hatte Bertrand de Jouvenel, angeregt durch das von der Ford Foundation gegründete Institut Resources for the Future, schon um 1960 von einer »Politischen Ökologie« gesprochen, die in Rechnung stelle, dass das menschliche Leben nur Teil des Ökosystems sei. Auch mit Blick auf die Harmonisierung von Mensch und Natur müsse hinterfragt werden, ob Produktivitätssteigerungen und mehr Güter in der industriellen Gesellschaft mehr »Wohlergehen« und »gutes Leben« bedeuteten. In seinen Überlegungen zur Zukunftsforschung fand das Ökologische aber bis Ende der 1960er Jahre keinen Niederschlag46. Dann allerdings wurde die herrschende neoklassische Wachstumstheorie intensiver zugunsten eines neuen Wachstums- und damit Fortschrittsverständnisses hinterfragt. John Kenneth Galbraith vom linksliberalen Spektrum des Congress for Cultural Freedom argumentierte: »Cultural and­ aesthetic progress cannot easily be measured. Who can say for sure what arrangements best allow for the development of individual personality?« Galbraith reaktivierte den Begriff der Lebensqualität, mit dem nicht nur der Lebensstandard, sondern darüber hinausgehend Verteilungsgerechtigkeit, Umweltaspekte und – hier griff er wachsende Individualisierungstendenzen auf – individuelles Glück erfasst werden sollten47. Ökologisch angelegte Wachstumskritik umfasste aber nicht nur eine Neuverhandlung dessen, was Wachstum war, sondern auch eine Infragestellung der Möglichkeit und Notwendigkeit weiteren Wachstums. Dies wies, da die Ökologie in Gleichgewichten dachte, auf eine zyklische Zeitdeutung, die sich von einem linear gedachten Fortschrittsverständnis absetzte. Sichtbar wurde diese in der Metapher Spaceship Earth, die der US -Ökonom Kenneth Boulding popularisierte48. 45 Vgl. Rachel Carson, Silent Spring, New York 1962; John R. McNeill, The Environment, Environmentalism, and International Society in the Long 1970s, in: Niall Ferguson u. a. (Hrsg.), The Shock of the Global. The 1970s in Perspective, Cambridge/Mass. 2010, S.  262–278; Engels, Naturpolitik, S. 294–299; Patrick Kupper, Die »1970er Diagnose«. Grundsätzliche Überlegungen zu einem Wendepunkt der Umweltgeschichte, in: AfS 43 (2003), S. 325–348. 46 Vgl. Bertrand de Jouvenel, From Political Economy to Political Ecology (1957), in: Dennis Hale/Marc Landy (Hrsg.), Economics and the good Life, New Brunswick 1999, S. 235–245, und Bertrand de Jouvenel, Das bessere Leben in einer reichen Gesellschaft (1961), in: ders., Jenseits der Leistungsgesellschaft. Elemente sozialer Vorausschau und Planung, Freiburg 1971, S. 108–126. 47 John Kenneth Galbraith, The New Industrial State, London 21972, S. 410; vgl. Heinz-­Herbert Noll, Konzepte der Wohlfahrtsentwicklung. Lebensqualität und »neue« Wohlfahrtskonzepte, Berlin 2000. 48 Vgl. Kenneth Boulding, The Economics of the Coming Spaceship Earth (1966), in: Herman E. Daly/Kenneth N. Townsend (Hrsg.), Valuing the Earth. Economics, Ecology, Ethics, Cambridge/Mass. 1993, S. 297–310; Sabine Höhler/Fred Luks (Hrsg.), Beam us up, Boulding! 40 Jahre »Raumschiff Erde«, Karlsruhe/Hamburg 2006; John McCormick, Reclaiming Paradise. The Global Environmental Movement, Bloomington 1989, S. 67.

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Das »Raumschiff Erde«, das um 1970 zur »mythische[n] Figur des Umweltzeit­ alters« avancierte, verwies auf die Begrenztheit der Erd-Ressourcen und die Notwendigkeit ihrer Wieder-Verwendung, betonte aber zugleich die menschlichen Steuerungsmöglichkeiten49. Mit der Mondlandung 1969 erhielt die Metapher neue Zugkraft, als die Bilder vom verletzlichen blauen Planeten Erde um die Welt gingen. In der Folge floss die ökologische Wachstumskritik in die Zukunftsforschung ein. Dies hatte unterschiedliche Gründe: Zum ersten waren die Ökologie, die in Stoff- und Energiekreisläufen dachte, und die Metapher »Raumschiff Erde« als System ja geradezu kongenial kybernetisch angelegt und insoweit anschlussfähig für die Zukunftsforschung50. Zweitens wirkten mediale Verstärkungen, denn die ökologische Wachstumskritik zirkulierte um 1970 in populärwissenschaftlichen Büchern und in den Medien. Dies gilt etwa für das rasch ins Deutsche übersetzte Buch »The Population Bomb« des US -Biologen Paul Ehrlich51, aber auch für den »Spiegel«, der 1970 – mit Bezug auf Ehrlich – plötzlich vor dem unkalkulierbaren »Ritt auf dem Tiger« des technischen Fortschritts warnte, ja sich in dunkle Sorgen vor dem neuen Jahrzehnt hüllte. Man verwies auf den drohenden Welthunger durch Überbevölkerung sowie ökologische Probleme und zeigte mit dem Finger auf die Wirtschaftswissenschaft und ihr »naiv[es]« Wachstumsdenken52. Drittens wurde eine diskursive Dynamik fassbar, die durch das Erscheinen der Studie »The Limits to Growth« 1972 ausgelöst wurde. Die Studie wurde vom Club of Rome in Auftrag gegeben, einer 1968 gegründeten, westeuropäisch geprägten Organisation aus Wissenschaftlern, Intellektuellen und Unternehmern; auch Bertrand de Jouvenel gehörte zu deren Mitgliederkreis. An der Spitze stand Aurelio Peccei, ein italienischer Manager, der über die Netzwerke des Konsensliberalismus sehr gut politisch vernetzt war53. Auch Peccei ging von der Beschleu­ nigung des technologischen Fortschritts aus. Diese vergrößere das »technological gap« zwischen Westeuropa und den USA, aber auch zwischen den Industrieländern und den Entwicklungsländern54 und führe zu einer »disorganization of the world system«. Ökologische Probleme spielten für ihn bis 1970 nur eine unterge49 Sabine Höhler, Raumschiff Erde. Eine mythische Figur des Umweltzeitalters, in: Höhler/ Luks (Hrsg.), Beam us up, S. 43–52, hier S. 47; zum Folgenden vgl. ebenda. 50 So auch Engels, Naturpolitik, S. 280 f. 51 Vgl. Paul R. Ehrlich, The Population Bomb, New York 1968, sowie Barry Commoner, The Closing Circle. Nature, Man, and Technology, New York 1971; Kai F. Hünemörder,­ Kassandra im modernen Gewand. Die umweltapokalyptischen Mahnrufe der frühen 1970er Jahre, in: Frank Uekötter/Jens Hohensee (Hrsg.), Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Stuttgart 2004, S. 78–97. 52 Der Spiegel vom 5.1.1970: »Ritt auf dem Tiger«. 53 Vgl. Peter Moll, From Scarcity to Sustainability. Futures Studies and the Environment. The Role of the Club of Rome, Frankfurt a. M., New York 1991; Seefried, Zukünfte, S. 235–254. 54 Aurelio Peccei, The Challenge of the 1970s for the World of Today (1965), in: Pentti Malaska/ Matti Vapaavuori (Hrsg.), The Club of Rome. Finnish Society for Futures Studies, Turku 1984, S. 10–20, hier S. 14; vgl. auch Aurelio Peccei, The Chasm Ahead, London 1969; zur

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ordnete Rolle55. Grundsätzlich sah er die globalen Ordnungsaufgaben wachsen, die nur durch ein »world planning« der am meisten entwickelten Staaten unter amerikanischer Leitung gelöst werden könnten56. Mithin standen Pecceis Überlegungen im Zeichen eines technokratischen, elitären Ordnungs- und Planungskonzepts, das eine Lösung der »Weltprobleme« unter westlicher Führung beziehungsweise jener der Industriestaaten angehen wollte. Zugleich leitete Peccei aus der Wahrnehmung globaler Interdependenzen ab, dass die komplexen kommenden Probleme nur mittels eines systemanalytischen Ansatzes aufzuhellen seien. Ein erster Auftrag des Club of Rome für eine Studie ging an das Massachusetts Institute of Technology (MIT), das über einen Spezialisten für computerbasierte Systemmodelle verfügte57. Das Bearbeiter-Team am MIT ging von fünf globalen Grundgrößen aus: Bevölkerungszahl, industrielle Produktion, Nahrungsmittel, Rohstoffvorräte und Umweltverschmutzung. Das Zusammenwirken der Wechselwirkungen zwischen den Grundgrößen bei verschiedenen Dateneingaben zu berechnen, war Aufgabe des Computers. Das Szenario unter der Voraussetzung, dass keine größeren Veränderungen physikalischer, sozialer oder politischer Art eintraten, zeigte, dass angesichts des exponentiellen Wachstums von Bevölkerung und Wirtschaft die Wachstumsgrenzen der Erde bis zum Jahr 2100 erreicht seien. Dann werde ein rasches Absinken der Bevölkerungszahl und der industriellen Kapazität folgen. »The behavior mode of the system […] is clearly that of overshoot and collapse.«58 Als Grundproblem identifizierte die Gruppe das exponentielle Wachstum von Bevölkerung und industrieller Produktion. Einen Ausweg sah man nur in einem demografischen und wirtschaftlichen Gleichgewichtszustand, erreicht durch scharfe Bevölkerungskontrollen und Verzicht auf wirtschaftliches Wachstum. Mithin prognostizierten die Autoren nicht nur die kommenden Grenzen des Wachstums, sondern stellten den Wert und die Wünschbarkeit von Wachstum an sich in Frage. Ihr Gleichgewichtsmodell setzte eben auf Ausgleich in einer begrenzten Welt, nicht auf Fortschritt. Gleichwohl wollten die Autoren Fortschritt nicht ganz verwerfen, sondern – in Anlehnung an John Stuart Mill – neu denken. Denn es ging ihnen nicht um wirtschaftlichen oder technischen Fortschritt, sondern um eine menschliche Dimension. Es gebe auch in einer Gesellschaft ohne wirtschaftliches Wachstum Spielraum für die Entwicklung von Kultur, Musik, Bildung, Erziehung, eben für »human improvement«.

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Diskussion um die technologische Lücke vgl. Johannes Bähr, Die »amerikanische Heraus­ forderung«. Anfänge der Technologiepolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: AfS 35 (1995), S. 115–130. Aurelio Peccei, Reflections on Bellagio, in: Erich Jantsch (Hrsg.), Perspectives of Planning. Proceedings of the OECD Working Symposium on long-range Forecasting and Planning, Paris 1969, S. 517 ff., hier S. 518. Peccei, Chasm, S.  243; vgl. auch Peccei, Challenge, S.  16; Alexander King, The Club of Rome and its Policy Impact, in: William M. Evan (Hrsg.), Knowledge and Power in the Global Society, Beverly Hills 1981, S. 205–224, hier S. 206 f. Vgl. Moll, Scarcity, S. 76–81 und S. 93. Meadows u. a., Limits, S. 125; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 175.

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Die Thesen von »The Limits to Growth« trafen einen Nerv: Das Buch wurde etwa zwölf Millionen Mal verkauft, in Wissenschaft und Öffentlichkeit intensiv diskutiert und von den Medien begierig rezipiert59. Drei Aspekte machten die starke Rezeption des Buchs aus: Es stand zum einen im Geist des Zukunftsund Planungsdenkens, das die 1960er so stark beherrscht hatte, ja es schien dieses mit dem kybernetischen Computermodell und dem Planungsprogramm geradezu zu perfektionieren. Zum zweiten griff es jene Ansätze einer ökologischen Wachstumskritik auf, die bereits zu zirkulieren begonnen hatte und im Sommer 1972 mit der Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Stockholm neue Nahrung erhielt. »The Limits to Growth« verwissenschaftlichte eben diese Wachstumskritik mittels des quasi-objektiven Computermodells60. Dies galt vor allem Ende 1973, als die Ölkrise die These von der Endlichkeit der Ressourcen zu bestätigen schien. Zum dritten war es die Denkfigur der Apokalypse, welche die kommenden Probleme grell an die Wand malte, um die Dringlichkeit eines Umdenkens zu unterstreichen, und damit zugleich neue Aufmerksamkeit generierte61. In der Zukunftsforschung der westlichen Industriestaaten wurden das Modell und die Thesen vom begrenzten Wachstum intensiv diskutiert, und dies gilt für alle Denkstile. In der Bundesrepublik zeigten sich Protagonisten der empirischpositivistischen Strömung wie Heinz Hermann Koelle vom computerbasierten Simulationsmodell beeindruckt62. Bertrand de Jouvenel, der den normativ-­ ontologischen Denkstil verkörperte, hatte ja schon um 1960 das wirtschaftliche Wachstumsparadigma in Frage gestellt und sah sich bestätigt63. Robert Jungk und Ossip Flechtheim, der »kritischen Futurologie« nahe stehend, äußerten zwar Skepsis im Hinblick auf die Ausblendung politischer Herrschaftsstrukturen, doch konnten sie die Wachstumskritik gut in kapitalismuskritische Denkmuster integrieren64.

59 Vgl. Patrick Kupper, »Weltuntergangs-Vision aus dem Computer«. Zur Geschichte der Studie »Die Grenze des Wachstums« von 1972, in: Uekötter/Hohensee (Hrsg.), ­Kassandra, S. 98–111, hier S. 105 f. 60 Vgl. auch ebenda, S.  109 f.; Kai F. Hünemörder, 1972  – Epochenschwelle der Umwelt­ geschichte?, in:  Franz-Josef Brüggemeier/Jens Ivo Engels (Hrsg.), Natur- und Umweltschutz nach 1945. Konzepte, Konflikte, Kompetenzen, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 124–144, hier S. 133 und S. 137. 61 Vgl. Robert K. Merton, Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen, in:  Ernst­ Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Königstein 1980, S. 144–161. 62 Vgl. Heinz Hermann Koelle, Wie schlüssig und aussagefähig ist das MIT-Weltmodell?, in: analysen und prognosen über die welt von morgen 5 (1973) H. 29, S. 18 f. 63 Vgl. Bertrand de Jouvenel, Sur la croissance économique, in: Lionel Stoléru (Hrsg.), Économie et Société humaine. Dialogue Général des Recontres Internationales du Ministère de l’Économie et des Finances, Paris 1972, S. 43–94. 64 Vgl. Robert Jungk, Zukunftsforschung. Dennis Meadows: Die Grenzen des Wachstums, in: Universitas 27 (1972), S. 1113 f.; Ossip K. Flechtheim, Beunruhigend und unbequem, in: Umwelt 4 (1972), S. 34 ff.

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Gleichwohl wurde auch massive Kritik an »The Limits to Growth« laut. Ökonomen bemängelten die Methode, die dünne Datenbasis und den fehlenden ökonomischen Sachverstand. Sie argumentierten im Sinne der herrschenden neoklassischen Wachstumstheorie, Wachstum sei notwendig, um Wohlstand zu sichern; zudem vernachlässige die Studie den Preismechanismus, der im Fall von Engpässen in einer Marktwirtschaft greife und zu technischer Innovation führe65. An diese Kritik schlossen sich Protagonisten vor allem aus der US -­Zukunfts­ forschung an, etwa Herman Kahn, der die Krisenszenarien völlig verwarf und weiter auf die Chancen des technischen Fortschritts und die Möglichkeit der Substitution von Rohstoffen verwies; in diese Richtung argumentierte auch Daniel Bell66. Die britische Sussex-Gruppe bemängelte – auch anhand eigener Modellbildungen –, die Datenbasis und die unzureichende Verknüpfung der Variablen in »The Limits to Growth«. Zudem seien mit wirtschaftlichem Wachstum auch Wohlstand und sozialer Ausgleich verknüpft67. Auf die globale Ebene hoben dieses letzte Argument Teile der kritischen Zukunftsforschung, etwa J­ ohan Galtung, aber auch Wissenschaftler aus Schwellenländern wie die argentinische Bariloche-­ Gruppe. Sie argumentierten, es fehle eine Regionalisierung, die deutlich mache, dass in Entwicklungs- und Schwellenländern Wachstum notwendig sei. Galtung wandte sich grundsätzlich gegen die malthusianische »Klassen­politik« einer technokratischen Elite, welche die Probleme von Umweltverschmutzung auf Kosten der ärmsten Regionen lösen wolle68. Historischer Hintergrund war eine verstärkte politische Thematisierung des globalen Nord-Süd-Verhältnisses seit Mitte der 1960er Jahre, die mit der Entspannung im Kalten Krieg und Forderungen der Entwicklungsländer nach besseren Terms of Trade einherging69. Im Zuge der Wachstumsdebatte und der UNUmweltkonferenz in Stockholm entstand eine neue Solidarisierung mit den Entwicklungsländern, die insbesondere von der westeuropäischen Linken getragen wurde, aber – mit Verweis auf die auch kybernetisch gedachte vernetzte 65 Vgl. etwa Wilfred Beckerman, Economists, Scientists, and Environmental Catastrophe, in: Oxford Economic Papers (New Series) 24 (1972), S. 327–344. 66 Vgl. Herman Kahn, in: Willem L. Oltmans (Hrsg.), Die Grenzen des Wachstums, Reinbek bei Hamburg 1974, S. 51–62; Daniel Bell, The Coming of Post-Industrial Society. A V ­ enture in Social Forecasting, New York 1973, S. 463–466. 67 Vgl. Cole u. a. (Hrsg.), Thinking. 68 Vgl. Johan Galtung, Wachstumskrise und Klassenpolitik, in:  Heinrich von Nußbaum (Hrsg.), Die Zukunft des Wachstums. Kritische Antworten zum »Bericht des Club of Rome«, Düsseldorf 1973, S.  89–102; Johan Galtung, »The Limits to Growth« and Class­ Politics, in: Human Needs, News Societies, Supportive Technologies. Collected documents presented at the Rome Special World Conference on Futures Research 1973, Bd. 5, Rom o. J., S. 174–197; Amílcar Oscar Herrera u. a., Catastrophe or New Society? A Latin American World Model, Ottawa 1976. 69 Vgl. Gilbert Rist, The History of Development. From Western Origins to Global Faith, London/New York 42014, S. 109–170; Sönke Kunkel, Zwischen Globalisierung, internationalen Organisationen und »Global Governance«. Eine kurze Geschichte des Nord-­ Süd-Konflikts in den 1960er und 1970er Jahren, in: VfZ 60 (2012), S. 555–577.

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»eine Welt« – auch weite Teile der Zukunftsforschung erfasste und teilweise bis zu einer Idealisierung subsistenzorientierter Lebensstile ging70. In der Tat durchzogen die Debatte teilweise kulturkritische Zeitdiagnosen, die Zweifel an den Strukturprinzipien und Lebensformen der technisch-industriell geprägten Moderne und Konsumgesellschaft äußerten; so war von neuen Idealen der Genügsamkeit die Rede, die einer Rückversicherung in Zeiten raschen Wandels dienen sollten71 und Anleihen an zyklische Zeitkonzepte nahmen. Evident ist eine besondere Resonanz der Krisenszenarien in der bundesdeutschen Zukunftsforschung. Dies wurzelte in vielerlei Gründen: in ideengeschichtlichen Traditionen des angloamerikanischen Pragmatismus, im traditionell starken französischen Vertrauen in Planung, aber auch in gebrochenen Erfahrungs­ räumen in der bundesdeutschen Zukunftsforschung. Angesichts der Verwerfungen des Nationalsozialismus wird hier ein fehlendes Vertrauen in evolutionäre Entwicklungen fassbar. Der Bruch in der deutschen und der eigenen Vergangenheit – gerade bei den Emigranten unter den Zukunftsforschern – machte sie affiner für Zukunftsängste und apokalyptische Szenarien72.. Dennoch war die drohende Apokalypse immer auch rhetorische Figur einer Warnungsprognose, die mit der Beschwörung der Krise die Dringlichkeit des Umdenkens hin zu einem anderen Wachstum unterstreichen sollte. Die Krise wurde so auch ein Stück weit konstruiert, um einem Neuanfang den Boden zu bereiten, und insofern verband sie sich mit »Gestaltungsoptimismus«73. In der Tat entstand aus dem Diskurs, aus dem Sprechen über die Grenzen des Wachstums und die Grenzen der Beschleunigung technischen und sozialen Wandels ein gemeinsames Nachdenken über die globale Zukunft, und es entstand ein neuer Wachstumsbegriff. So herrschte in der Zukunftsforschung bald mehr oder weniger Konsens darüber, dass – gerade in globaler Perspektive – wirtschaftliches Wachstum und technische Lösungsmodelle nicht generell zu verwerfen seien, dass man aber stärker von einem qualitativen Wachstumsbegriff ausgehen wollte. Dieser sollte menschliche und ökologische Kategorien zumindest einbeziehen, wenn nicht präferieren und damit dem Leitbild der Lebensqualität folgen, das ökonomische, öko70 Als Abschlussbericht der UN-Konferenz: Barbara Ward/René Dubos, Only One Earth. The Care and Maintenance of a Small Planet, Harmondsworth 1972; vgl. David K ­ uchenbuch, »Eine Welt«. Globales Interdependenzbewusstsein und die Moralisierung des Alltags in den 1970er Jahren und 1980er Jahren, in: GuG 38 (2012), S. 158–184. 71 Vgl. etwa Edward Goldsmith u. a., Blueprint for Survival, Harmondsworth 1972; Robert Jungk, Anfänge eines anderen Wachstums, in:  Christopher Horn/Martin P. von Walterskirchen/Jörg Wolff (Hrsg.), Umweltpolitik in Europa, Stuttgart 1973, S. 34–44, hier S. 41 f.; zur Debatte vgl. auch Silke Mende, Nicht rechts, nicht links, sondern vorn. Eine Geschichte der Gründungsgrünen, München 2011, S. 289–321. 72 Zum drohenden »Ende des Menschen« vgl. etwa Ossip K. Flechtheim, Futurologie in der zweiten Phase?, in: Pforte/Schwencke (Hrsg.), Ansichten, S. 17–25, hier S. 24. 73 Zur Krisenkonstruktion in der Weimarer Republik vgl. Rüdiger Graf, Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918–1933, München 2008, S. 132 f.; vgl. ähnlich zu den Grünen Mende, Nicht rechts, S. 382–389.

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logische und soziale Aspekte in einen Ausgleich brachte74. Zugleich verband sich mit der Wachstumsdebatte eine Neuverhandlung des modernen Fortschrittsverständnisses. Auch wenn diese Debatte nicht dieselbe diskursive Dynamik gewann wie die Auseinandersetzung um den Wachstumsbegriff, so war nicht nur erkennbar, dass das Vertrauen in eine stabilisierte Vorwärtsentwicklung von Wissenschaft und Technik – und damit auch der Evolution – bröckelte, sondern dass sich große Teile der Zukunftsforschung von einem technisch und materiell geprägten Fortschrittsverständnis lösten. Stattdessen wurde nach neuen Kriterien für Fortschritt gefahndet. In einem Beitrag »Fortschritt – wohin?« argumentierte Rainer Mackensen vom ZBZ , Romantik führe nicht weiter, denn die moderne Zivilisation und die Bedingungen der Qualität des Lebens basierten auf dem Rationalismus der Aufklärung. Gleichwohl müsse die Zukunftsforschung diesen Rationalismus neu durchdenken und zu einem differenzierten Weltbild finden75. Mithin prognostizierte beziehungsweise konstruierte die Zukunftsforschung in einer dynamischen, globalen Kommunikationssituation zwischen 1970 und 1973 eine Krise und war dann maßgeblich daran beteiligt, ein neues, qualitatives Wachstumsverständnis zu evozieren. Das neue Wachstumsverständnis war gesellschaftlich nicht mehrheitsfähig. Doch diffundierte es durch die mediale Aufbereitung der Debatte um die »Grenzen des Wachstums« in verschiedene Kontexte. Jungk, Flechtheim oder Galtung, die in den 1970er und 1980er Jahren eine wichtige Rolle in der Anti-Atomkraft- und Friedensbewegung spielten, trugen es in das alternative Milieu und die Neuen Sozialen Bewegungen76. Ebenso stießen die Wachstumsdebatte und das qualitative Wachstumsverständnis in Teilen der SPD auf Resonanz. Vermittelt insbesondere durch Erhard E ­ ppler, avancierte die Qualität des Lebens 1972/73 zum amorphen Leitbild der SPD, das im Hinblick auf Ressourcensicherung an den Planungsgedanken anknüpfte, aber nun sehr viel stärker auf Ökologie, Mitmenschlichkeit und globales Verantwortungsbewusstsein, kurz auf weiche Faktoren zielte. In der Folge etablierte sich ein linksökologischer Flügel in der Partei, der auch die Frage nach dem Wesen von Fortschritt neu stellen wollte: Die »Fortschreibung des Gewohnten«, so ­Eppler, ergäbe »nicht nur keine ideale, sondern gar keine Zukunft mehr«77. Zudem sickerten 74 Vgl. etwa Heinz Hermann Koelle, Ein Zielfindungsexperiment über die Qualität des Lebens, in: analysen und prognosen über die welt von morgen 4 (1972) H. 24, S. 15; de Jouvenel, Sur la croissance, S. 47 und S. 79; Jungk, Anfänge. 75 Vgl. Rainer Mackensen, Fortschritt – wohin?, in: analysen und prognosen über die welt von morgen 5 (1973) H. 27, S. 24 f. 76 Vgl. Elke Seefried, Towards the »Limits to Growth«? The Book and its Reception in West Germany and Great Britain 1972/73, in: Bulletin of the German Historical Institute London 33 (2011), S. 3–37. 77 Vgl. Erhard Eppler, Die Qualität des Lebens, in: Aufgabe Zukunft. Qualität des Lebens. Beiträge zur vierten internationalen Arbeitstagung der Industriegewerkschaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland, 11. bis 14. April 1972 in Oberhausen, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1973, S. 86–101, hier S. 98; vgl. Erhard Eppler (Hrsg.), Überleben wir den technischen Fortschritt? Analysen und Fakten zum Thema Qualität des Lebens, Freiburg u. a. 1973; hierzu Seefried, Zukünfte, S. 458–464.

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die Wissensbestände aus dem Diskurs in den Konservatismus, sichtbar etwa bei Herbert Gruhl, einem CDU-Politiker und dann Mitbegründer der Grünen und der ÖDP78. Mithin überwand die ökologische Wachstums­k ritik, das zeigte auch Silke Mende, das klassische Rechts-Links-Kontinuum  – eine Entwicklung, die Ende der 1970er Jahre wesentlich zur Gründung der Grünen beitrug79. Auch darüber hinaus drangen die bedeutungsoffenen Leitbilder Lebensqualität und qualitatives Wachstum in die (politische) Sprache ein. In den 1980er Jahren wurde aus dem qualitativen Wachstum – gerade mit Blick auf die Verschränkung von globalen Umwelt- und Entwicklungsfragen – die Formel der »nachhaltigen Entwicklung«80.

4. Strukturbruch der frühen 1970er Jahre? Die Zukunftsforschung der 1970er und 1980er Jahre Für die Zukunftsforschung hatten die Wandlungsprozesse um 1970 weitreichende Folgen. Die Krisen- und Untergangssemantiken der frühen 1970er Jahre verloren ebenso an Dynamik wie die Polarisierung durch die »kritische Futurologie«. Doch setzte sich eine Orientierung am Menschen durch, welche sich mit der Ökologisierung und dem neuen Fortschritts- und Wachstumsverständnis verbinden ließ. Damit rückte eine neue Orientierung am Menschen an die Stelle der ehedem dominierenden Technikfixierung. Die Konferenz der World Future Studies Federation in Rom 1973 stellte die »man-centred futures« in den Blickpunkt und stand unter dem Motto: »Man must try to discover himself, his aims and needs, inasfar as, and perhaps to a greater extent than, he tries to discover the world he wants to change.«81 Damit galt der Blick der Suche nach den jetzigen und kommenden menschlichen Bedürfnissen, nach Partizipation und Lebensqualität des Einzelnen82. Dies reflektierte den Drang nach Authentizität, Selbstverwirklichung und Partizipation nicht nur der »kritischen Futurologie«, sondern auch des alternativen Milieus und der aufkommenden Neuen Sozialen Bewegungen, verkörperte aber zudem das ökologisch durchsetzte neue Wachstumsverständnis und eine neue Form der Suche nach dem Selbst, welche die Bewusstseinsformen und Praktiken des alternativen Milieus und des New Age 78 Vgl. Herbert Gruhl, Ein Planet wird geplündert. Die Schreckensbilanz unserer Politik, Frankfurt a. M. 1975. 79 Vgl. Mende, Nicht rechts. 80 Vgl. Moll, Scarcity, S. 207–223; Elke Seefried, Rethinking Progress. On the Origin of the Modern Sustainability Discourse, 1970–2000, in: JMEH 13 (2015), S. 377–399. 81 Memorandum 4, in: Human Needs, News Societies, Supportive Technologies. Collected documents presented at the Rome Special World Conference on Futures Research 1973, Bd. 1, Rom o. J., S. 24 und S. 26 f. 82 Vgl. Memorandum 7, in: ebenda, S. 69 f.; Katrin Lederer/Rainer Mackensen, Gesellschaftliche Bedürfnislagen. Möglichkeiten und Grenzen ihrer wissenschaftlichen Bestimmung, Göttingen 1974.

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der 1970er und 1980er Jahre prägte83. Das Bedürfnis avancierte dabei in seiner semantischen Offenheit zum zentralen Gegenstandsbereich der Zukunftsforschung der 1970er Jahre: Es leitete zu einer Orientierung am Menschen, den Individuen und Gesellschaften; und es deutete an, dass die Zukunft des Menschen erforscht werden sollte, und zwar »von unten«, also partizipativ. Und das Bedürfnis ließ sich sowohl immateriell lesen, also im Hinblick auf Selbstverwirklichung und Partizipation und als Kritik an Wachstumsdenken und Technikfixierung, als auch materiell, im Hinblick auf Aspekte sozialer und globaler Gerechtigkeit. In diesem Sinne etablierte das ZBZ die »langfristige Sozialplanung« als neuen Schwerpunkt, welche die Auswirkungen möglicher Entwicklungen auf die menschlichen Lebensbedingungen zum Gegenstand hatte84. Während das Projekt »Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Bedürfnislagen« über methodische Ansätze der Bedürfniserforschung reflektierte, rückten in der operativen Arbeit Stadt-, Umwelt- und Verkehrsplanung, aber auch die Integrationspolitik auf lokaler Ebene in den Blickpunkt. Der institutionelle Nachfolger des ZBZ , das Berliner Institut für Zukunftsforschung (IFZ), untersuchte mittels qualitativer Erhebungen in Berlin-Wedding, inwieweit die in- und ausländische Wohnbevölkerung ihre soziale Umwelt »gemeinsam erkunden« und neue Lebens- und Wohnformen entdecken könnte. Das Projekt trug damit mehr den Charakter empirischer Sozialforschung denn der Zukunftsforschung85: Das Partizipative deckten das ZBZ beziehungsweise das Institut für Zukunftsforschung auch durch Seminare für Berliner Bürger ab, in denen Probleme der Berliner Stadtentwicklung diskutiert wurden86. In ebendiese Richtung zielten die »Zukunftswerkstätten«, die Robert Jungk entwarf und in denen Bürger – gerade auf kommunaler Ebene – ihre Bedürfnisse, Wünsche und Gestaltungsoptionen ermittelten, diskutierten und umzusetzen versuchten87. Zugleich dominierte Anfang der 1970er Jahre die Auffassung, Wissenschaft und Technik sollten sich nun einer Priorisierung menschlicher Bedürfnisse und ökologischer Erfordernisse unterordnen88. So avancierten supportive technology oder soft technology zu neuen Schlagworten89. Freilich bildete die Erforschung der Zukunft von Wissenschaft und Technik weiter einen wichtigen Gegenstand 83 Vgl. Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014; Pascal Eitler, Körper – Kosmos – Kybernetik. Transformationen der Religion im »New Age« (Westdeutschland 1970–1990), in: ZF 4 (2007), S. 16–36. 84 Vgl. Rainer Mackensen, Ist langfristige Sozialplanung aktuell?, in: analysen und prognosen über die welt von morgen 7 (1975) H. 38, S. 4 f. 85 IFZ -Forschungsprojekte, in: analysen und prognosen über die welt von morgen 9 (1977) H. 49, S. 2; Lederer/Mackensen, Bedürfnislagen. 86 IfZ-Archiv, ED 701/40, ZBZ -Mitteilungen 2/75. 87 Vgl. Robert Jungk, Einige Erfahrungen mit »Zukunftswerkstätten«, in: analysen und prognosen über die welt von morgen 5 (1973) H. 25, S. 16–19. 88 Memorandum 2, in: Human Needs, Bd. 1, S. 9 f. 89 Ebenda, S. 21; vgl auch Jungk, Anfänge, S. 41.

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der operativen Arbeit der Zukunftsforschung, nicht zuletzt weil mit solchen Auftragsstudien für Politik und Verbände, bisweilen auch für die Privatwirtschaft, Mittel für die eigene Forschung akquiriert werden konnten. Ende der 1970er Jahre rückte die Diskussion um die Bedeutung neuer Technologien für die Arbeitsplatzsituation wieder stärker in den Blickpunkt90. Allerdings dominierte im Vergleich zu den 1960er Jahren eine kritische Reflexion über die Folgen des »technischen Fortschritts«, der »große und zum Teil unüberschaubare psycho-soziale, wirtschaftliche, politische und ökologische Probleme« ausgelöst habe91. Der »fast götzenhafte Glaube an die Lösungsmacht von Wissenschaft und Technologie«, aus dem sich ein weithin dominierender »ungebrochener Fortschrittsoptimismus« gespeist habe, müsse, so der Direktor des Instituts für Zukunftsforschung 1978, neu bewertet werden92. Aus dieser kritischen Reflexion formte sich zum einen die Technikfolgenabschätzung. Diese hatte in der Bundesrepublik vor allem die in der Zukunftsforschung verwurzelte Studiengruppe für Systemforschung angestoßen93. Zum anderen arbeitete die Zukunftsforschung der 1970er und 1980er Jahre vermehrt über Umwelt- und Energietechnologien und brachte damit das Ökologische in die Technologieforschung ein94. Neben der lokalen Dimension spielte – im Sinne einer »Glokalisierung« – die Zukunft des Globalen weiterhin eine zentrale Rolle. Mit dem Diskurs um »The Limits to Growth« und der UN-Umweltkonferenz 1972 waren Fragen globaler Entwicklung, Ressourcensicherung und Umweltbewahrung in den Blickpunkt der Zukunftsforschung gerückt. Dabei verband sich die Suche nach Lebensqualität mit Überlegungen zu Chancen- und Verteilungsgerechtigkeit in globaler Perspektive. Dies ging einher mit der politischen Diskussion um eine neue Weltwirtschaftsordnung, die von den Entwicklungsländern gefordert wurde und tendenziell mit kapitalismuskritischen Ordnungsvorstellungen durchsetzt war. Gerade jene Zukunftsforscher, die auch im Bereich der Friedensforschung arbeiteten, machten sich in den 1970er Jahren die Sache der Entwicklungsländer emphatisch zu eigen und forderten einen »Weltlastenausgleich«, der eine Wachstumsbeschränkung der Industrieländer mit einer expliziten Wachstumsförderung der Entwicklungsländer verband95. Während die Nord-­Süd-­Dimension in den frü90 Vgl. Hans Buchholz/Wolfgang Gmelin (Hrsg.), Science and Technology and the Future. Proceedings and Joint Report of the World Future Studies Conference and DSE -Precon­ ference held in Berlin (West), 4th-10th May 1979, München u. a. 1979. 91 Vorwort, in: Blickpunkt Zukunft 5 (1985) H. 11, S. 1. 92 Archiv des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, Ordner GZ /IFZ , Rolf Kreibich: Forschungsbereichsgliederung, undatiert. 93 Vgl. Armin Grunwald, Technikfolgenabschätzung. Eine Einführung, Berlin 2010, S. 65–74; Andrea Brinckmann, Wissenschaftliche Politikberatung in den 60er Jahren. Die Studiengruppe für Systemforschung, 1958 bis 1975, Berlin 2006, S. 170–174. 94 IFZ -Forschungsprojekte, S. 2. 95 Vgl. Peter Menke-Glückert, Weltlastenausgleich?, in: Merkur 29 (1975), S. 1095–1107; Bestand Peter Menke-Glückert (Bonn), World Future Studies Federation. Objectives, Statutes, Activities (circa 1974); zur »Glokalisierung« auch Kuchenbuch, »Eine Welt«.

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hen 1980er Jahren mit der erneuten Verschärfung des Kalten Kriegs in den Hintergrund trat, überdauerte in der Zukunftsforschung das Ziel eines »qualitativen Wachstum[s]«, das den globalen Problemen des »forcierten Wettrüsten[s], der »fortschreitenden, teilweise ja irreversiblen Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen« und der »Schuldenkrise der Dritten Welt« entgegengestellt werden sollte96. In methodisch-theoretischer Hinsicht schließlich lässt sich eine Pragmatisierung und Pluralisierung der Zukunftsforschung beobachten. Die Zukunftsforschung reflektierte nun verstärkt über ihre eigenen Grundlagen und Wis­sens­ bestände, rückte vom Anspruch einer Produktion objektiven Zukunftswissens ab und betonte den Anspruch, »langfristige Perspektiven« aufzuzeigen und »nicht Prognosen« zu erstellen. Die überragende Bedeutung von Trendextrapolationen, quantitativen Modellierungen und Computersimulationen wich einer Vielfalt an Methoden, die von regionalisierten Weltmodellen und Computersimulationen über qualitative Szenarien, die verschiedene Wirkungszusammenhänge berücksichtigten und Alternativen skizzierten, bis zu partizipativen Methoden reichten, welche die wachsende Individualisierung reflektierten und zivil­gesell­schaftliche Ideen aufgriffen. Das Kybernetische trat zurück, verschwand aber nicht – nicht nur wegen der weiterhin wichtigen systemanalytisch angelegten Modellierungen, sondern auch, weil ja in partizipative Verfahren Feedback-­Elemente eingebaut waren (etwa in den Zukunftswerkstätten). Insgesamt wurde das Methodenspektrum vielschichtiger, qualitativer und im Objektivitäts- und Validitätsanspruch reduzierter. Doch die Zukunftsforschung sah sich ab Mitte der 1970er Jahre mit Finanzproblemen und einem erkennbaren Schwund an gesellschaftlicher und politischer Aufmerksamkeit konfrontiert. Die Prognostik generell hatte, da sie die Ölund Wirtschaftskrisen in dieser Form nicht vorausgesehen hatte, an Glanz verloren. Ebenso schwanden mit der Wirtschaftskrise die Handlungsspielräume für großangelegte Planungskonzepte. Mindestens ebenso wichtig war, dass das übersteigerte Steuerungsdenken die Zukunftsforschung selbst in eine Krise geführt hatte. Dies gilt für die skizzierten wenig verwendungsorientierten Modellierungen des ZBZ , die das Vertrauen der politischen Planer bröckeln ließ, dies gilt aber auch für ein Zu-Ende-Denken der Kybernetik, welche die Zukunftsforschung – wie im Zusammenhang mit »The Limits to Growth« gezeigt – dazu (ver-)führte, das ganze »System« auf globaler Ebene prognostizieren und steuern zu wollen und hierbei alle Interaktionen zu berücksichtigen. Daraus resultierte eine tiefgreifende Verunsicherung, weil diese Steuerung und Integration aller Interaktio­ nen nicht möglich war und im Grunde einer hybriden und szientistischen Weltsicht entsprang. Fast notwendigerweise kippte deshalb die Zukunftsforschung in ihrem Steuerungsparadigma und beförderte Wachstums- und Technologiekritik, welche mit dazu beitrug, Steuerungs- und Modernisierungskonzepte in 96 Rolf Kreibich, Blickpunkt Zukunft-Gespräch, in: Blickpunkt Zukunft 5 (1985) H. 11, S. 2; das folgende Zitat findet sich ebenda.

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Frage zu stellen. Als weiterer innerwissenschaftlicher Faktor der Destabilisierung wirkte ab Mitte der 1980er Jahre die Chaostheorie, weil sie aufzeigte, dass dynamische Systeme eben von Regeln bestimmt seien, die sich nicht berechnen ließen97. Wie stark Modernisierungs- und Planungsmodelle in den 1980er Jahren an Boden verloren, indizierten die Theorien der »reflexiven Moderne« und die Postmoderne-Diskussion98. Diese Krise von Steuerungskonzepten trug auch zum Siegeszug von monetaristischen Ideen und Deregulierungskonzepten in den westlichen Industriestaaten bei. Mithin verlor ab Mitte der 1970er Jahre die Zukunft als wissenschaftliche und gesellschaftliche Kategorie an Bedeutung, und zwar zugunsten einer neuen Bedeutung der Erinnerungskultur. Dies hatte zweifellos mit der Erosion von Prognose- und Planungsmodellen zu tun, aber auch mit einer verstärkten Suche nach Identität und Orientierung – gerade in der Bundesrepublik, die »Abschied vom Provisorium« zu nehmen schien99. Die Zukunftsforschung reagierte, indem sie Erkenntnisse aus der Chaos-Forschung über das Verhalten komplexer dynamischer, nicht-linearer Systeme in die eigene Arbeit aufzunehmen suchte und in »Selbstorganisationskonzepte« einpasste100. Damit integrierte sie kursierende Netzwerkkonzepte, die sich kybernetisch lesen ließen, bot aber bis Ende der 1980er Jahre auch einem systemischökologischen Spiritualismus Raum, wie ihn Fritjof Capra vertrat101. In großen Unternehmen wie Daimler-Benz keimten nun eigene Einheiten zur Zukunftsforschung, welche teilweise als Abteilungen für strategische Planung firmierten, während die aufstrebenden Unternehmensberatungen im Zeichen marktorientierter, neoliberaler Konzepte Zukunftsstudien und Management-Techniken zu verbinden suchten102. In den 1990er Jahren verspürte die Zukunftsforschung neuen Aufwind, befördert vom Digitalisierungs-Boom und einer Renaissance des Programms der Wissensgesellschaft, das man ja selbst ehedem propagiert hatte. Und im Gegensatz zu den 1970er Jahren, als die Wirtschaftskrisen das Steuerungsdenken unterminierten, profitierte sie in den 2000er Jahren von der Dotcom- und der Finanzkrise, weil sich Politik und Unternehmen von einer­ 97 Vgl. Werner Mittelstaedt, Zukunftsgestaltung und Chaostheorie. Grundlagen einer neuen Zukunftsgestaltung unter Einbeziehung der Chaostheorie, Frankfurt a. M. u. a. 1993; Schmidt-Gernig, Jahrzehnt, S. 344. 98 Vgl. Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986; Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz/Wien 1986; hierzu Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 85–94. 99 Vgl. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium 1982–1990, München 2006, S. 466– 488; Assmann, Zeit. 100 Rolf Kreibich, Zukunftsforschung, in:  Bruno Tietz u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch des Marketing, Stuttgart 1995, Sp. 2813–2833, hier Sp. 2832. 101 Vgl. Fritjof Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, Bern u. a. 1983; Mittel­ staedt, Zukunftsgestaltung. 102 Vgl. Karlheinz Steinmüller, Zukunftsforschung in Deutschland. Versuch eines historischen Abrisses, Teil 2, in: Zeitschrift für Zukunftsforschung 2 (2013) H. 1 (www.zeitschriftzukunftsforschung.de/ausgaben/jahrgang-2013/ausgabe-2/3699/steinmueller.pdf).

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managementorientierten Zukunftsforschung neue Orientierung erhofften. Dazu zählen heute die bereits genannte Technikfolgenabschätzung, die Technologiefrüherkennung, die im Umfeld der Innovationsforschung entwickelt wurde, sowie das Foresight, das sich der Antizipation und Reflexion von sozioökonomischen und wissenschaftlich-technischen Trends widmet und auf das Dialogische im Herausfiltern von Zukünften setzt103.

5. Fazit In den frühen 1970er Jahren veränderten sich Wahrnehmungs- und Deutungsmuster, Methoden und Fortschrittsverständnisse der Zukunftsforschung maßgeblich. Der Wandel umfasste allerdings nicht einen eindimensionalen Wechsel von Optimismus zu Pessimismus, von Fortschrittseuphorie zu Fortschrittsskepsis, sondern eine vielschichtige Transformation der frühen 1970er Jahre. In den 1960er Jahren war die Zukunftsforschung von Machbarkeitsdenken, ja zum Teil  von einer Steuerungseuphorie geprägt, und es dominierte ein Fortschrittsverständnis, das zwischen dem Bild des steuerbaren wissenschaftlich-­ technischen Fortschritts und utopischen Vorstellungen vom »neuen Menschen« changierte. Um 1970 dynamisierte zum einen die »kritische Futurologie« radikale Systemkritik, die zu einer Polarisierung in der Zukunftsforschung führte, aber auch einer neuen Orientierung an menschlichen Bedürfnissen und konstruktivistischen Ansätzen Bahn brach. Zum anderen durchdrang ökologische Wachstumskritik die Zukunftsforschung, die sich im Diskurs um die »Grenzen des Wachstums« spiegelte. Damit konstruierte und verwissenschaftlichte die Zukunftsforschung die Krise – mit weitreichenden Folgen – schon vor der Ölpreiskrise 1973. Diese Krisenwahrnehmung veränderte auch die Zukunftsforschung selbst: Der Glaube an technische Machbarkeit und moderne Steuerung schwand zugunsten von wachsender Ungewissheit, methodischer Pragmatisierung sowie einer neuen Orientierung am Menschen und am Paradigma der Lebensqualität. Dieser Wandel hatte unterschiedliche Gründe, die auch mit exogenen Faktoren zusammenhingen. Doch entscheidend war eine Übersteigerung des kybernetisch angelegten Steuerungsdenkens, welches das ganze »System« auf globaler Ebene zum Untersuchungs- und Steuerungsgegenstand erhob und so immer neue Problemhorizonte aufriss, die nicht bewältigt werden konnten104. In der Folge rückte der Fortschrittsbegriff in den Hintergrund105, doch wurde Fortschritt in gewisser Weise auch neu gedacht. Das Gros der Zukunftsfor103 Vgl. Reinhold Popp/Elmar Schüll (Hrsg.), Zukunftsforschung und Zukunftsgestaltung. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, Berlin/Heidelberg 2009, hier unter anderem Axel Zweck, Foresight, Technologiefrüherkennung und Technikfolgenabschätzung, S. 195–206. 104 Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung, Bd. 3: Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Wiesbaden 42005, S. 377 f. 105 So auch Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 135.

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schung orientierte sich nun an einem qualitativen Wachstumsbegriff. Das qualitative Wachstum sollte ökonomische, ökologische und menschliche beziehungsweise individuelle Entwicklungsaspekte – auch in einer globalen Perspektive – in einen Ausgleich bringen. Damit vereinte es Wachstum und Gleichgewicht in einem Bild globaler Interdependenz. In den 1980er und 1990er Jahren erhielt zudem – das ist in weiteren Forschungen zu prüfen – das Verständnis technologischen Fortschritts in einer pluralisierten Zukunftsforschung neue Nahrung. Das emphatische Fortschrittsdenken, das einerseits in der Technikfixierung und Steuerungseuphorie, andererseits in der Aufbruchstimmung und Fundamentalpolitisierung der 1960er Jahre gründete, gehört aber in dieser Form nicht mehr zu den Kennzeichen der Zukunftsforschung.

Dennis Eversberg

Destabilisierte Zukunft Veränderungen im sozialen Feld des Arbeitsmarkts seit 1970 und ihre Auswirkungen auf die Erwartungshorizonte der jungen Generation

1. Erinnerungen an die Zukunft Zukunft unterscheidet sich von der sinnlich erfahrbaren Gegenwart und der dokumentierten und in Erfahrungen wie Artefakten überdauernden Vergangenheit fundamental dadurch, dass wir über sie nichts wissen, und auch nichts wissen können. Als das, was stets erst noch real zu werden hat, existiert sie immer nur in Form eines kollektiven Imaginären, das selbst auf nichts anderem gründen kann als auf (verkörperlichter und in Dingen wie Überlieferungen gespeicherter) vergangener Erfahrung in ihrer Konfrontation mit gegenwärtigem Erleben. Wenn ich der Frage nachgehe, was sich im Verlaufe der vergangenen vier Jahrzehnte an der Zukunft junger Menschen in ihrem Verhältnis zu jenem Feld sozialer Beziehungen, das wir gemeinhin Arbeitsmarkt nennen, geändert hat, so kann der Gegenstand dabei also nicht die jedem Wissen unzugängliche Zukunft selbst sein, sondern die Erwartungshorizonte, die sich weder allein aus Strukturbedingungen (sedimentierter Vergangenheit) noch aus einer bloßen Analyse der gegen­ wärtigen subjektiven Sicht junger Menschen auf ihre Zukunft als Erwerbstätige, sondern eben nur aus dieser Konfrontation beider Dimensionen verstehen lassen. Mit Blick auf die heutige junge Generation scheint dabei zunächst die Behauptung gerechtfertigt, dass die Bedingungen, unter denen sie ihre Arbeitskraft zu Markte zu tragen hat, zwischen hochbezahltem Management und expandierendem Niedriglohnsektor, Selbstverwirklichung in kreativer Arbeit und strikt ratio­ nalisierten Abläufen auch im Dienstleistungsbereich unterschiedlicher sind als je zuvor1. Dennoch, so meine These, gibt es eine gemeinsame gesellschaftliche Veränderungsdimension, die sich auf die Erwartungshorizonte junger Menschen in all diesen auseinanderdriftenden sozialen Lagen auswirkt. Sie hat ihre Ursache in dem jeder kapitalistischen Wachstumsgesellschaft inhärenten Zwang zur stetigen Ausweitung und Beschleunigung gesellschaftlicher Produktivität, und sie besteht darin, dass über alle Segmente und Teilarbeitsmärkte hinweg die Möglichkeit, sich als arbeitender Mensch die eigene Zukunft anzueignen, eine grundsätzliche Destabilisierung erfahren hat: Die Bewegung hin zu einer 1 Vgl. den Überblick von Michael Vester, Postindustrielle oder industrielle Dienstleistungsgesellschaft: Wohin treibt die gesellschaftliche Arbeitsteilung?, in: WSI-Mitteilungen 64 (2011), S. 629–639.

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relativen Vereinheitlichung linearer und langfristiger Erwartungshorizonte, die trotz ihrer Begrenztheit und Selektivität für die Gesellschaft des organisierten Kapitalismus der 1950er und 60er Jahre bewusstseinsbildend gewesen war, hat sich seit den frühen 1970er Jahren umgekehrt, die vorherrschenden Repräsentationen der Zukunft sind erneut kurzfristiger und stärker unsicherheitsbehaftet geworden. Diese These will ich in diesem Beitrag begründen, indem ich zunächst skizziere, wie die Stabilisierung des Zugriffs auf die Zukunft durch die fordistisch-­ sozialstaatlichen Dispositive2 der Nachkriegsjahrzehnte bewerkstelligt wurde und aus welchen ökonomisch-politischen, technologischen und sozialen U ­ rsachen diese Konstellation inzwischen unwiederbringlich verschwunden ist. Allerdings, das sei direkt angemerkt, ist die eben formulierte These auf keinen Fall als totalisierende Diagnose misszuverstehen. Daraus, dass die Zukunft für die junge Generation instabil geworden ist, lässt sich nicht schließen, dass nunmehr alle gleichermaßen mit Unsicherheit und Zukunftsangst als Folgeproblemen konfrontiert wären  – denn wie junge Menschen aus ihren unterschiedlichen sozial spezifischen Erfahrungsräumen heraus mit dieser Destabilisierung umgehen, ist damit noch nicht gesagt. Ebensowenig soll, um ein weiteres mögliches Missverständnis gleich hier vorwegzunehmen, behauptet werden, dass die Zukunftsbezüge in Zeiten des Booms unverrückbar und für alle stabil gewesen seien: Es handelt sich um eine Tendenzaussage, nicht um die Behauptung eines absoluten Bruchs. Mehrere Komplexe von Veränderungen trugen auf unterschiedliche Weise dazu bei, dass ein planender Zugriff auf den zukünftigen Fortgang des eigenen Arbeitslebens zunehmend schwerer zu erlangen war – sie machten ihn aber keineswegs grundsätzlich unmöglich. Zudem darf die De­stabilisierung des Zukunftsbezugs auch nicht einseitig als Verlust gedeutet werden. Für bestimmte Gruppen in der Gesellschaft war sie zunächst eine Verheißung: Der Ausbruch aus den vorgezeichneten Bahnen standardisierter, beruflich codierter Lebensentwürfe wurde zu Recht als Befreiung und als Ermächtigung zu selbstbestimmter Gestaltung des eigenen Lebens erfahren – und gerade diese Tatsache verhalf den im Folgenden zu umreißenden Veränderungen erst zu ihrer durchgreifenden sozialen Wirksamkeit. Was dabei allerdings entstand, sind verstärkte Ungleichheiten in der Verteilung des Zugriffs auf die subjektiven und qualifikatorischen Mittel der Produktion biographischer Zukunftsaneignungsmöglichkeiten. Was in der Soziologie seit einigen Jahren breit unter dem Stichwort »Prekarisierung«3 diskutiert wird, bezieht sich genau auf die zunehmende Verbreitung von Situationen einer gestörten Zukunftsaneignung, die diese Dynamiken auch hervorbringen. Wie sich das soziale Feld der Positionen, in denen 2 Zu meiner Verwendung von Foucaults Dispositivbegriff vgl. Dennis Eversberg, Dividuell aktiviert. Wie Arbeitsmarktpolitik Subjektivitäten produziert, Frankfurt a. M. u. a. 2014, Kapitel 4 bis 6. 3 Robert Castel/Klaus Dörre (Hrsg.), Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a. 2009; Alessandro Pelizzari, Dynamiken der Prekarisierung. Atypische Erwerbsverhältnisse und milieuspezifische Unsicherheits­ bewältigung, Konstanz 2009.

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sich junge Menschen im Verhältnis zum Arbeitsmarkt wiederfinden, und der für sie typischen Erwartungshorizonte infolge jener Veränderungen heute darstellt, soll im letzten Teil kurz umrissen werden, gefolgt von einigen abschließenden Bemerkungen.

2. Organisierter Kapitalismus: Beruf, Sozialeigentum und Wachstumsstaat Zunächst also ein kurzer Blick auf die arbeitsmarktbezogenen Erwartungshori­ zonte junger Menschen in jener Ära, die um 1970 zu Ende ging: In der Wiederaufbauphase nach dem Zweiten Weltkrieg mit ihrem organisierten Kapitalismus4 war es für Beschäftigte in dem, was sich damals – jedenfalls für männliche, autochthone Industriearbeiter sowie für Beschäftigte des öffentlichen Diensts – als »Normalarbeitsverhältnis5 durchsetzte (unbefristete Vollzeit mit Ernährerlohn, garantierte Rente und Absicherung gegen soziale Risiken) möglich gewesen, sich einen weitreichenden Zugriff auf die eigene Zukunft zu verschaffen: Die Dispositive von großbetrieblicher Unternehmensorganisation, Sozial­versicherung, Mitbestimmung in Unternehmen und Betrieb, Tarifautonomie und Kündigungsschutz hatten als Ensemble eine Situation geschaffen, die es einem großen Teil der lohnabhängigen Bevölkerung ermöglichte, die eigene Zukunft als berechenbare Verlängerung der Gegenwart wahrzunehmen, in der der eigene Lebensstandard und der der eigenen Kinder sich kontinuierlich weiter verbessern und im Fall unvorhersehbarer Schicksalsschläge zumindest nicht einschneidend verschlechtern würde. Eine heute im Rückblick weithin unterschätzte Grundlage dieses Zugriffs auf die Zukunft – jedenfalls in seiner spezifisch deutschen Variante – war die in dieser Periode besonders stark ausgeprägte berufliche Verfasstheit der Ware Arbeits­ kraft. Helmut Schelsky nannte den Beruf 1965, »neben der Familie, eine der großen sozialen Sicherheiten, die der Mensch in der modernen Gesellschaft, insbesondere in der westlichen Zivilisation, noch besitzt«6. Der Beruf, den der »Normalarbeiter« in seiner Jugend erlernte, bescheinigte nicht nur das Vorhandensein eines standardisierten, auf bestimmte Aufgabenbereiche zugeschnittenen und zugleich innerhalb dieser Tätigkeitsfelder hoch flexibel nutzbaren Bündels an Fähig4 Vgl. Martin Höpner, Sozialdemokratie, Gewerkschaften und organisierter Kapitalismus, 1880–2002, in: Paul Windolf (Hrsg.), Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Wiesbaden 2005, S. 196–221; Hajo Holst, Von der Branche zum Markt. Zur Regulierung überbetrieblicher Arbeitsbeziehungen nach dem organisierten­ Kapitalismus, in: Berliner Journal für Soziologie 21 (2011), S. 383–405. 5 Damals war dieses allerdings so normal, dass der Begriff selbst erst 1985 geprägt wurde – zusammen mit der Diagnose seiner Krise; vgl. Ulrich Mückenberger, Die Krise des Normalarbeitsverhältnisses. Hat das Arbeitsrecht noch Zukunft?, in: ZSR 31 (1985), S. 415–434. 6 Helmut Schelsky, Die Bedeutung des Berufs in der modernen Gesellschaft, in: Thomas Luckmann/Walter Michael Sprondel, Berufssoziologie, Köln 1972, S. 25–35, hier S. 25.

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keiten und Fertigkeiten, sondern er verlieh der einzelnen Arbeitskraft auch eine Identität, die sie mit anderen desselben Berufsstands verband, und sicherte vermittels von Qualifikationsordnungen und tariflichen Lohngarantien als kollektiv-institutionell sanktionierte Anspruchsgrundlage die dauerhafte Integration in den Betrieb und in das staatliche Netz sozialer Sicherung7. Die Logik der Beruflichkeit war also ein keineswegs technisch-ökonomisch determiniertes8, aber dennoch für den westdeutschen sozialen Kompromiss der Nachkriegszeit nicht wegzudenkendes Element: Sie war Grundlage der politischen Kampfkraft von Gewerkschaften und Sozialdemokratie, durch die dieser Kompromiss erzwungen werden konnte, und sie war mit bestimmend für die spezifische ständischkonservative Struktur der Institutionen des westdeutschen Wohlfahrtsstaats. Der französische Soziologe Robert Castel hat die maßgeblich an den Beruf gebundenen sozialen Stabilisierungsmechanismen des Nachkriegskapitalismus das »Sozialeigentum«9 genannt und darauf hingewiesen, dass die kollektive Garantie dieses Eigentums Voraussetzung dafür war, dass größere Teile der Bevölkerung überhaupt als »moderne Individuen«10 existieren konnten. Als Grundlage des Anspruchs auf Schutz gegenüber den Wechselfällen der Zukunft funktionierte der Beruf als eine Individualisierungsressource, die es erst möglich machte, sich vom erzwungenen Kollektiv der proletarisierten arbeitenden Klasse emanzipieren und das eigene Leben nach einem selbst gewählten Muster gestalten zu können. Frauen, das muss hinzugefügt werden, war dieser Weg in der Regel versperrt – sie waren meist auf die Rolle der Hausfrau und Mutter fest7 Diese herausgehobene Funktion des Berufs findet sich in dieser Form nur in Deutschland und einigen angrenzenden Ländern Zentraleuropas wie Österreich und Belgien. Da in anderen Ländern – etwa in Frankreich mit dem System gestufter und differenzierter­ Bildungsabschlüsse – funktionale Äquivalente existierten, kann die These zumindest in modifizierter Form auch für größere Teile Westeuropas Geltung beanspruchen. Zu Frankreich vgl. Pierre Bourdieu u. a., Titel und Stelle. Über die Reproduktion sozialer Macht, Frankfurt a. M. 1981. 8 Der Beruf war durchaus kein logisches Korrelat der hoch arbeitsteiligen und mit fortschreitender Rationalisierung von sich aus eher zu fortschreitender Dequalifizierung tendierenden mechanisierten Arbeitsorganisation, die zu dieser Zeit in industriellen Großbetrieben das bestimmende Modell darstellte. Vielmehr handelte es sich bei der Ordnung der Berufe, ihrem relativ breiten Zuschnitt und der starken Bindung an eine kol­lektive Identität eher um ein Relikt der Herkunft des Berufssystems aus den ständischen Traditionen des Handwerks, das sich wohl nicht nur durch den Kampf der ver­ beruflichten Arbeitenden mittels und für eben diese kollektive Identität gehalten hatte, sondern auch, weil die Industrie sich erst wenige Jahrzehnte zuvor gegen den Widerstand der Handwerkskammern das Recht erkämpft hatte, durch ihre eigenen Kammern berufliche Qualifikationen zu zertifizieren. Vgl. hierzu Kathleen Thelen/Marius R. Busemeyer, Institutional change in German vocational training: from collectivism toward segmentalism, in: Marius R. Busemeyer/Christine Trampusch (Hrsg.), The political economy of collective skill formation, Oxford 2012, S. 68–100, hier S. 72 f. 9 Robert Castel, Die Stärkung des Sozialen, Hamburg 2005, S. 40 ff. 10 Robert Castel, Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums, Hamburg 2011.

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gelegt und blieben damit auch in ihren Möglichkeiten zu gesellschaftlicher Teilhabe und Selbstbestimmung von den Männern abhängig. Für die aber galt: Weil die Entwicklung der eigenen Lebenssituation und des Einkommens auf einer einmal begonnenen beruflichen Laufbahn relativ berechenbar war, die Zukunft sich also im Idealfall als plan- und gestaltbare Verlängerung der Gegenwart unter sich kontinuierlich verbessernden Bedingungen darstellte, konnte die aus freien Stücken gewählte Festlegung auf dauerhafte räumliche und soziale Bindungen nach dem Muster der bürgerlichen Kleinfamilie nun auch für Arbeiter zur sozialen Norm avancieren. Eine Familie zu gründen und ein Haus zu bauen, wurde auf diese Weise als Bestandteil eines gesellschaftlich hegemonialen Modells der männlichen Normalbiographie institutionell verankert. In deren Rahmen erschien es nun auch als unproblematisch, Kredite aufzunehmen und so bereits in der Gegenwart kalkuliert auf die Früchte der eigenen zukünftigen Arbeit zuzugreifen. Weil man ja wusste, dass durch das mit hinreichender Sicherheit erwartbare spätere Einkommen die in dauerhafte Gebrauchswerte (Haus, Auto) investierten Kredite zurückgezahlt werden könnten, erschienen diese auch nicht als moralisch verwerfliche Verschuldung, sondern als Bestandteil einer ganz normalen, legitimen Lebensplanung. Es muss betont werden, dass weder das berufliche Normalarbeitsverhältnis noch die zu seiner Absicherung institutionalisierte Normalbiographie (in ihrer männlichen Ernährer- wie ihrer weiblichen Hausfrauen- oder Zuverdienerinnen­ variante)  als universell verallgemeinerte Daseinsformen misszuverstehen sind: Gemessen an der empirischen Vielfalt der realen Arbeitsverhältnisse und Lebenspraktiken auch jener Zeit waren sie fraglos Fiktionen – aber eben »herrschende Fiktion[en]«11, solche, die nicht nur für Wirtschafts-, Sozial-, Familien- und Tarifpolitik, sondern auch für das Bewusstsein von Bevölkerungsmehrheiten bestimmend waren. Das bedeutete auch, dass gerade die durch das Sozialeigentum institutionell stabilisierte Standardisierung der Lebensläufe individuelle Abweichungen auch abfedern und so eine größere Offenheit ermöglichen konnte, weil die Stabilität der Verhältnisse am beruflich strukturierten Arbeitsmarkt es zugleich erlaubte, einmal getroffene »berufliche Entscheidungen gegebenenfalls zu korrigieren, ohne dabei die Stabilität und Kontinuität des Lebenslaufs nach­haltig zu gefährden«. Damit musste die Berufswahl eben nicht als mit existentiellen, auf eigene Verantwortung frühzeitig abzuwägenden Risiken belastet wahrgenommen werden, sondern konnte (zumindest im Rahmen der jeweils angebotenen Ausbildungsstellen und des eigenen Bildungsabschlusses) den eigenen Wünschen folgend getroffen werden. Was für Erwartungshorizonte das bei der jungen Generation bedingte, lässt sich anhand von Theodor Scharmanns für damalige Verhältnisse groß angelegter Befragung junger Arbeiter Mitte der 1960er Jahre illustrieren. Scharmann betonte, 11 Martin Osterland, »Normalbiographie« und »Normalarbeitsverhältnis«, in: Peter A. Berger/ Stefan Hradil (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensstile, Lebensläufe, Göttingen 1990, S. 351–362, hier S. 351; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 359.

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»daß die Probanden […] als Angehörige von Geburtskohorten zu gelten haben, deren Berufswahl und Arbeitseinmündung sich im Zeichen der Vollbeschäftigung und der Dauerkonjunktur in der Regel wesentlich ungestörter und zukunftsgewisser hatte entfalten können als das Berufsschicksal früherer Arbeitergenerationen«12. In den Befragungsergebnissen schlug sich das so nieder, dass von 630 befragten männlichen Arbeitern unter 25 in der deutschen Metallindustrie 57 Prozent angaben, sie hätten immer in dem Beruf arbeiten wollen, in dem sie nun tätig waren. Als häufigstes Motiv für die Wahl des Berufs wurde die eigene Neigung beziehungsweise das eigene Interesse genannt (25 Prozent), gefolgt von Empfehlungen der Berufsberatung oder Eignungstests (15 Prozent), Empfehlungen von Verwandten und Bekannten (13 Prozent) sowie dem Vorbild des Vaters oder eines anderen Familienmitglieds (11 Prozent). Gemeinsam ist diesen Motiven, dass sie die Berufswahl von (selbst oder mit Hilfe anderer bestimmten) Wünschen, Neigungen oder Fähigkeiten der eigenen Person abhängig machten und nicht von Eigenschaften der potentiell zu erreichenden Positionen: Verdienst­ motive (neun Prozent), bessere Aufstiegschancen (drei Prozent) oder Mangel an Alternativen (drei Prozent) hatten eine deutlich kleinere Rolle gespielt13. Für eine Mehrheit der jungen Arbeiter waren es, bei aller Schablonenhaftigkeit der angebotenen beruflichen Kompetenzprofile und Identitäten, also doch meist der eigene Wille oder die eigenen Neigungen und Stärken, die hinter der Wahl einer Schablone für die eigene Identität standen. Die für die Zukunft hoch folgenreiche Festlegung konnte ruhigen Gewissens dem eigenen Maß folgend getroffen werden, weil nachhaltig negative Folgen nicht zu befürchten waren. Scharmanns Ergebnisse lassen auch erahnen, was Normalbiographie im Bewusstsein junger Arbeiter damals bedeutete: Die Frage, ob man »seine Arbeitsstelle wechseln oder […] möglichst an einer Arbeitsstelle bleiben« solle, beantworteten die Befragten fast genau zur Hälfte im Sinne der ersten (49 Prozent) und zur anderen Hälfte im Sinne der zweiten Möglichkeit (51 Prozent). Von denjenigen, die Wechsel befürworteten, meinten 26 Prozent damit innerbetriebliche Wechsel, 42 Prozent solche in andere Firmen bei gleicher Tätigkeit und 27 Prozent zwischenbetriebliche Wechsel in andere Tätigkeiten14. Während also die Hälfte sich die Normalbiographie als dauerhaften Verbleib in ein und demselben Arbeitsverhältnis vorstellte, zog etwa ein Drittel auch zwischenbetriebliche Mobilität als Teil der eigenen Lebensplanung in Erwägung – allerdings weit überwiegend un12 Theodor Scharmann, Lebensplanung und Lebensgestaltung junger Arbeiter aus der Metallindustrie der Bundesrepublik und der Schweiz, Bern/Stuttgart 1967, S. 77. Ich gehe hier nur auf die deutsche Stichprobe ein. 13 Vgl. ebenda, S. 184. 14 Vgl. ebenda, S. 195. An dieser Stelle ist der Vergleichswert aus der Schweiz interessant: Unter den befragten Jungarbeitern sprachen sich hier 79 Prozent für und nur 20 Prozent gegen Stellenwechsel aus; mit 37 Prozent fand der Wechsel »zu anderer Firma mit anderer Arbeit« deutlich mehr Zuspruch als im deutschen Sample. Auch das unterstreicht, in welch hohem Maße in der Bundesrepublik die Berufsfachlichkeit sowohl der Arbeit selbst als auch der Arbeitsmärkte die Einstellungen der Beschäftigten bestimmte.

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ter Beibehaltung des Berufs: Nur drei Prozent waren auch bereit, in einen anderen Beruf zu wechseln15. Zugleich war Aufstiegsmobilität durchaus Teil der beruflich-biographischen Planung: Bis zum Alter von 40 Jahren wollten 32 Prozent der Befragten zum Werkmeister, 21 Prozent zum Techniker oder Ingenieur und 19 Prozent zum Meister aufgestiegen sein16. Und für eine deutliche Mehrheit war der Glaube an das Versprechen auf Aufstieg durch eigene Leistung auch intakt: 70 Prozent meinten, in ihren Betrieben in höhere Positionen aufsteigen zu können. Auch über die eigene Generation hinaus erschien die Zukunft als von Kontinuität geprägt: 43 Prozent rechneten damit, ihren Kindern werde es einmal besser gehen als ihnen selbst, 47 Prozent erwarteten, dass es ihnen »genau so gut« gehen werde. Dass sie schlechter dran sein würden, erwartete nur ein einziger Befragter. Ganz klar konturiert war für die jungen Arbeiter aber auch die weibliche Normalbiographie, und zwar als komplementär zum eigenen erwerbszentrierten Lebensentwurf: Von den 374 Befragten, die konkrete Vorstellungen von ihrer späteren Ehefrau zu Protokoll gaben, erwarteten 58 Prozent, dass sie »den Haushalt gut führen müsse«, für 28 Prozent sollte sie »hübsch sein«, 20 Prozent meinten, sie müsse »kochen können«. Eine Frau mit »Bildung« oder »Charakter« wünschten sich dagegen lediglich je 11 Prozent17. 53 Prozent aller unverheirateten Befragten erklärten, sie wünschten nicht, dass ihre künftige Frau nach der Hochzeit noch arbeiten gehe – weil der Haushalt »genug Arbeit« mache (61 Prozent), weil der »Verdienst des Mannes […] ausreichen« (14 Prozent) und weil die Frau »für die Familie da sein« müsse (12 Prozent). Die 44 Prozent, die eine Erwerbstätigkeit ihrer künftigen Frau befürworteten, begründeten dies zuvörderst damit, dass dann zusätzliche »Anschaffungen« und ein »höherer Lebensstandard« (67 Prozent) beziehungsweise ein höheres Haushaltseinkommen (20 Prozent) möglich seien18. Dass die Frau auch nach der Geburt von Kindern berufstätig bleiben könne, zogen von 604 nicht Verheirateten ganze acht (ein Prozent) in Betracht, 92 Prozent lehnten es ab, weil sie die »Kinder erziehen« (74 Prozent) und »nur für [den] Haushalt da sein« (16 Prozent) solle. Die Frauen selbst waren freilich nicht gefragt worden, und gerade bei ihnen sollte sich denn auch eine der entscheidenden Sollbruchstellen des damaligen sozialen Arrangements auftun, waren doch viele von ihnen keineswegs bereit, diese ihnen zugewiesene Rolle ohne weiteres zu akzeptieren. Zugleich verweisen Scharmanns Zahlen auch auf die Grenzen der Integrations­ kraft der beruflichen Normalbiographie für die jungen Arbeiter selbst: 39 Prozent von ihnen gaben an, sie hätten »etwas anderes werden« wollen; 41 Prozent hätten sich nicht noch einmal für den gleichen Beruf entschieden19. Die Hauptgründe ih15 Vgl. ebenda; in der Schweiz wurde der Berufswechsel mit immerhin sechs Prozent doppelt so häufig bejaht. 16 Vgl. hierzu und zum Folgenden ebenda, S. 200, S. 213 und S. 311. 17 Ebenda, S. 303; bei dieser Frage waren Mehrfachnennungen möglich. 18 Vgl. hierzu und zum Folgenden ebenda, S. 308 ff. 19 Vgl. hierzu und zum Folgenden ebenda, S. 187 f.

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rer Unzufriedenheit lagen dabei ebenfalls genau in der Beruflichkeit ihrer Arbeit – also der dauerhaften Festlegung auf bestimmte Tätigkeiten und eine bestimmte Identität: 33 Prozent der Unzufriedenen gaben an, kein Interesse an ihrer Arbeit zu haben, 22 Prozent beklagten fehlende Aufstiegschancen, und zehn Prozent kritisierten eine monotone Tätigkeit ohne Verantwortung. Dies war die Kehrseite des Berufs: Sofern er den eigenen Wünschen und Interessen nicht entsprach, konnte er auch zur Sackgasse werden, der stabilisierte Erwartungshorizont konnte sich umkehren in die Perspektive auf Dauer gestellter Frustration. So fiktional ihre Universalität war, darf man also doch annehmen, dass die politisch befestigten beziehungsweise hergestellten Konstrukte normaler Arbeits­ verhältnisse und Biographien eine breite Wirkung auf die junge Generation hatten. Für eine Mehrheit der abhängig Beschäftigten wie für die öffentliche Meinung der Zeit »stellten Kontinuitätserwartungen und Zukunftsgewißheit eine wesentliche Grundlage für den Entwurf beruflicher Strategien und für die private Lebensführung dar und gestatteten nicht nur eine längerfristige berufliche und außerberufliche Lebensplanung, sondern auch deren weitgehende Realisierung«20.

Im Kleinen entsprach damit der vom Beruf und den an ihn gekoppelten Sicherungsdispositiven eröffnete Erwartungshorizont dem Verhältnis zum Kommenden, für das im Großen die in jener Zeit verbreiteten planungseuphorischen politischen Konzeptionen standen21. Ein aus heutiger Sicht entscheidender Pferde­f uß der ganzen Konstellation war allerdings die Abhängigkeit des organisiert-­kapita­ lis­tischen Gesellschaftsmodells von einem starken und kontinuierlichen wirtschaftlichen Wachstum. Sowohl der kalkulierbare Anstieg der Löhne als auch die dauerhafte Gewährleistung der wohlfahrtsstaatlichen Absicherungen waren nur möglich, weil die Produktion von Gütern und Dienstleistungen in jenen Jahren stetig anwuchs: Die Zukunft stellte sich aus dem Erfahrungsraum der 1950er und 1960er Jahre heraus auch der Politik und den Unternehmen als verlängerte Gegenwart dar, mit deren erst noch zu erwirtschaftenden Früchten vorwegnehmend geplant werden konnte. Robert Castel hat deshalb den Sozialstaat jener Ära treffend als »Wachstumsstaat« bezeichnet22: Ein Staat, der nicht nur für die Aufrechterhaltung seiner Schutzleistungen vom Wachstum abhängig war, sondern zugleich mittels dieser Schutzleistungen jenen stabilisierten Erwartungshorizont maßgeblich mit erzeugte, der für das kollektive Bewusstsein der Wachstums­ gesellschaft prägend war.

20 Osterland, Normalbiographie, S. 352. 21 Vgl. den Überblick bei Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspek­ tiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, S. 39–42. 22 Robert Castel, Die Metamorphosen der sozialen Frage, Konstanz 2000, S. 326

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3. Das Wegbrechen der Zukunft – drei Ursachenkomplexe Seit Ende der 1960er Jahre ist all das einen langsamen Tod gestorben. Grob vereinfacht lassen sich, wiederum in der Fokussierung auf den Arbeitsmarkt, drei Komplexe von Ursachen ausmachen, die zu den seither eingetretenen einschneidenden Veränderungen in Struktur und Praktiken dieses Felds sozialer Beziehungen beigetragen haben: einen ökonomisch-politischen, einen technologischen und einen sozialen Ursachenkomplex. Ökonomisch-politische Ursachen: Die wirtschaftlichen und sozialen Grundbedingungen, und damit auch Funktionsweise und Regeln des Arbeitsmarkts, haben sich seit 1970 fundamental geändert. Der organisierte Kapitalismus geriet in die Krise, weil sich herausstellte, dass das dauerhafte Wachstum nicht unendlich aufrechtzuerhalten war. Das Wachstum begann in den wichtigsten Industrie­natio­ nen Westeuropas  – in der Bundesrepublik ab dem ersten Konjunktureinbruch 1966/67 – zu stagnieren, weil nicht nur die im Krieg zerstörte infrastrukturelle Substanz inzwischen weitgehend wiederhergestellt war, sondern auch der Wohlstand der Bevölkerung ein Niveau erreicht hatte, auf dem die materiellen Konsuminteressen nicht mehr im gleichen Maße anstiegen wie zuvor. Weil beides einen relativen Nachfrageeinbruch bedeutete, konnten die Unternehmen ihre im Zuge der Rationalisierung weiter ständig anwachsende Produktion nicht mehr im gleichen Maße im eigenen Land absetzen und orientierten sich deshalb zunehmend auf den Absatz ihrer Güter am Weltmarkt. Den höheren Konkurrenzdruck, dem sie dort ausgesetzt waren, gaben sie durch Massenentlassungen und Kostensenkungen an ihre Beschäftigten weiter23; der rasche Niedergang ganzer Zweige der alten Industrien begann. Weil für Unternehmen, die den Großteil ihrer Produkte exportieren, die Binnennachfrage keine entscheidende Orientierungsgröße ist und daher regelmäßige Lohnsteigerungen und wohlfahrtsstaatliche Sicherungsmechanismen nicht mehr ohne weiteres als auch im Unternehmensinteresse liegend wahrgenommen wurden, war hierin das Zerbrechen des wachstumsbasierten Klassenkompromisses schon im Keim angelegt. Diese Dynamik wurde weiter befeuert nicht nur durch die Ölpreisschocks der 1970er Jahre24, sondern auch durch die von der Aufkündigung des US -Goldstandards durch Nixon 1971 und das Ende des Systems fester Wechselkurse ausgelöste Finanzialisierung der Weltwirtschaft25. 23 Vgl. Robert Boyer, Are there laws of motion of capitalism?, in: Socio-Economic Review 9 (2011), S. 59–81, hier S. 74. 24 Zu deren weitreichender Bedeutung vgl. Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom, S. 53–56. 25 Zur Finanzialisierung vgl. Michel Aglietta, Ein neues Akkumulationsregime. Regulations­ theorie auf dem Prüfstand, Hamburg 2000, und Ismail Ertürk u. a. (Hrsg.), Financialization at work. Key texts and commentary, London/New York 2008. Zum Kontext der politischen Kernentscheidungen Anfang der 1970er Jahre vgl. David Graeber, Debt: The First 5000 ­Years, London 2011, S. 361–375, zur Krise und den Folgen vgl. Christian Marazzi, Verbranntes Geld, Zürich 2011.

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Seither waren die Firmen in zunehmendem Maße gezwungen, kurzfristige Renditeinteressen der Anteilseigner zu bedienen26. Dies führte seit den späten 1970er Jahren zu einer Entkopplung von Produktivitäts- und Lohnentwicklung und später auch zu verbreiteten Reallohnverlusten. Ausgeglichen wurden diese (besonders in Nordamerika und einigen europäischen Ländern) durch ein rapide steigendes privates Verschuldungsniveau. Diese Verschuldung ruhte nun aber nicht mehr wie in der vorangegangenen Phase auf einem planerischen, sondern auf einem spekulativen Erwartungshorizont. Nicht ein angesichts der vorhandenen Kollektivabsicherungen hinsichtlich seiner weiteren Entwicklung antizipierbares persönliches Einkommen legitimierte jetzt den Vorgriff auf die Zukunft, sondern rein marktabhängige Preisentwicklungen. Dieses spekulative Moment, das im Zuge der Finanzialisierung in das Geschäft mit Privatkrediten einwanderte, konnte an der Gewöhnung der Menschen an planbare Verschuldung in einen Horizont verlängerter Gegenwart hinein ansetzen, wobei die dadurch eingetretene Normalisierung der Verschuldung aber dafür in Anspruch genommen wurde, hoch riskante Wetten auf eine nun eben nicht mehr planbare, weil direkt von Marktschwankungen abhängige Zukunft zu legitimieren. Damit war die frühere Sicht auf die Zukunft als kalkulierbare verlängerte Gegenwart auch auf gesellschaftlicher Ebene nicht mehr haltbar. In den Unternehmen setzte sich verstärkt der Zwang durch, den Arbeitseinsatz so weit wie möglich zu rationalisieren. Bis in die 1990er Jahre geschah dies hauptsächlich durch Massenentlassungen und Standortschließungen, was zunächst in der Rückkehr des seit den 1930er Jahren unbekannten Phänomens der Massenarbeitslosigkeit resultierte. Damit geriet aber auch der Staat, dessen Einnahmen nun ebenfalls nicht mehr stetig stiegen, in wachsende Finanznöte, und Ansprüche auf staatliche Absicherungsleistungen wurden schrittweise eingeschränkt. All dies bewirkte eine erhebliche Zunahme gefühlter Zukunftsunsicherheiten gerade für die junge Generation, die sich mit einem zurückgehenden Lehrstellenangebot konfrontiert sah und generell vor einer mit steigenden Risiken behafteten Berufswahl stand – einer Berufswahl, die immer stärker unter dem Diktat äußerer Gelegenheitsstrukturen erfolgte, hinter denen intrinsische Motive zurücktreten mussten. Inzwischen hat sich jedoch ein zweiter, intensiver Modus der Rationalisierung des Einsatzes von Arbeitskraft durchgesetzt. Um die zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit erforderliche weitere Minimierung der Kosten zu ermöglichen, wurden neue Wege gesucht, alle »toten«, vom jeweiligen Auslastungsgrad der Anlagen nicht zwingend erforderten Arbeitskraftpotentiale für die Dauer ihrer Nichtnutzung auszusteuern, um sie nicht bezahlen zu müssen. Hierbei erschienen kollektive Garantien und institutionalisierte Mitbestimmungsrechte immer weniger als beiderseits nützliche Instrumente zur Wachstumsförderung, sondern zunehmend als hinderliche Rigiditäten, die notwendige Umstrukturierungen blockierten. Die politischen Reformen des Arbeitsmarkts in den letzten 30 Jahren 26 Vgl. dazu die Beiträge in Windolf (Hrsg.), Finanzmarkt-Kapitalismus, und Karel Williams, From shareholder value to present-day capitalism, in: Economy and Society 29 (2000), S. 1–12.

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haben diese Strategien der Flexibilisierung, also der Entsicherung der Beschäftigungsverhältnisse zugunsten eines kurzzyklischen, jederzeit beendbaren Zugriffs auf die Arbeitskraft, in stetig steigendem Maße ermöglicht, etwa durch die Liberalisierung von Leiharbeit oder die Lockerung von Befristungsregelungen27. Mit dem speziell an die junge Generation gerichteten JUMP-Projekt sowie mit den Hartz-Reformen erfuhr die Arbeitsmarktpolitik unter der rot-grünen Bundesregierung eine weitere Neuausrichtung: Nicht nur wurden Höhe und Dauer der gezahlten Leistungen an Arbeitslose gekürzt, um die Aufnahme einer Erwerbsarbeit auch unter verschlechterten Bedingungen attraktiver zu machen, sondern es kam zudem ein elaboriertes Instrumentarium von Trainings-, Beschäftigungs- und Aktivierungsmaßnahmen zum Einsatz, das darauf zielte, gerade junge Arbeitslose so schnell wie möglich in Beschäftigungsverhältnisse am deregulierten Arbeitsmarkt zu bringen. Für einen wachsenden Anteil der Beschäftigten im expandierenden Sektor atypischer und gering bezahlter Arbeitsverhältnisse stellt sich die Frage der »Berufswahl« damit nun gar nicht mehr: Sie müssen sich darauf einrichten, stets bedarfsgemäß denjenigen Betrieben und Tätigkeiten zugewiesen zu werden, in denen ihre Arbeitskraft für den Moment gefragt ist. Technologische Ursachen: Das veränderte Handeln der Unternehmen im Verhältnis zu den Arbeitenden wäre allerdings nicht denkbar gewesen ohne erhebliche Veränderungen in den technischen Möglichkeiten, die in der gleichen Phase begannen: Die Einführung von Computern und später des Internet hat eine kurzfristige und umfassende Koordination komplexer Produktionsprozesse ermöglicht, wie sie zuvor in diesem Maße undenkbar gewesen war. Die flächendeckende Verbreitung von Mobiltelefonen erlaubt inzwischen auch den ständigen bedarfsorientierten Zugriff auf räumlich verstreute Arbeitskräfte (eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren etwa der Leiharbeit in ihrer heute üblichen Form). Die Folge ist, dass Arbeitskräfte heute erheblich kurzfristiger und raum-zeitlich flexibler in die in einem tendenziell globalen »Informationsraum«28 in Echtzeit abgebildeten Arbeitsvollzüge eingespannt werden können29. Dies können Unternehmen nutzen, um den Arbeitskrafteinsatz jederzeit so schnell wie möglich an die Schwankungen der Absatzmärkte anzupassen, sich so gegen die Risiken einer eben nicht mehr planbaren Zukunft zu schützen und zugleich die Arbeitskosten so gering wie möglich zu halten. Diese Technologien haben also die neueren, auf Flexibilisierung angelegten Rationalisierungsstrategien beim Arbeitskrafteinsatz überhaupt erst ermöglicht. 27 Vgl. Pelizzari, Dynamiken, S. 67–81; Hajo Holst, »Die Flexibilität unbezahlter Zeit«. Die strategische Nutzung von Leiharbeit, in: Arbeit 19 (2010), S. 164–177. 28 Vgl. den Beitrag von Andreas Boes, Tobias Kämpf und Thomas Lühr in diesem Band. 29 Vgl. Donald Hislop (Hrsg.), Mobility and technology in the workplace, London 2008; Till Westermayer, Transformation durchs Telefon? Mobile Kommunikation und die Auslagerung von Arbeit in der Netzwerkgesellschaft, dargestellt am Beispiel forstlicher Dienstleistungsunternehmen, in: Dorina Gumm u. a. (Hrsg.), Mensch, Technik, Ärger? Zur Beherrschbarkeit soziotechnischer Dynamik aus transdisziplinärer Sicht, Münster u. a. 2008, S. 135–152.

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Sie tragen dazu bei, berufliche Ansprüche und kollektive Sicherungen auszuhöhlen, und ermöglichen es den Unternehmen, die Kosten des Verlusts eines planenden Zugriffs auf die Zukunft, den sie selbst erfahren, auf Beschäftigte und Arbeitslose abzuwälzen30. Spätestens seit den 1990er Jahren verstärkten sie die Auswirkungen der wirtschaftlichen Dynamik  – das Ergebnis ist ein Arbeitsmarkt, in dem nicht nur das Gesamtangebot an Arbeitskräften die Nachfrage strukturell übersteigt (und für sein Funktionieren übersteigen muss), sondern auch Beschäftigungsverhältnisse früher enden und Wechsel häufiger geworden sind31. Statt gestützt auf einen erlernten Beruf den Anspruch auf einen festen Arbeitsplatz geltend machen zu können, sehen sich junge Leute, die in den Arbeitsmarkt eintreten, oft mit harten Konkurrenzkämpfen um knappe, häufig nicht dauerhafte Stellen konfrontiert, wobei die technischen Möglichkeiten, ihre Arbeitskraft (in Form minutiös dokumentierter, hoch spezialisierter Kompetenzen) punktuell und kurzzyklisch abzurufen, um sie in digital koordinierte produktive Netzwerke einzuspeisen, so ausgefeilt sind wie nie zuvor. Soziale Ursachen: Über all das darf aber auch die Dimension der sozialen Veränderungen nicht vergessen werden, die keineswegs als bloße abgeleitete Größe oder Folge des ökonomisch-technologischen Wandels zu betrachten sind, sondern in ihrer Eigendynamik als eine Kraft anerkannt werden müssen, die ihrerseits Rückwirkungen auf die anderen Dimensionen entfaltete. Denn zeitgleich zur fortschreitenden Aushöhlung der binnenmarktorientierten ökonomischpolitischen Konstellation der Nachkriegszeit erodierte auch in sozialer Hinsicht der Konsens der Wachstumsgesellschaft, weil die Festschreibung sozialer Rollen, die die stabilen und zukunftsstabilisierenden Sozialstrukturen von Fabrik, Verwaltung und Familie als Kehrseite immer begleitet hatte, nun an ihre subjektiven Grenzen stieß. Denn die an persönliche Identitäten gebundene berufliche und vergeschlechtlichte Arbeitsteilung, die in der fordistischen Wachstumsgesellschaft auf die Spitze getrieben worden war, wurde nun von mehr und mehr Menschen weniger als willkommener Rahmen von Sicherheit und Planbarkeit denn als einengendes, repressives Korsett erlebt. Eben hier liegen einige der wichtigsten Motive der Neuen Sozialen Bewegungen, die ab Ende der 1960er Jahre entstanden, und der sozialen Konflikte dieser Zeit: Die Studierenden lehnten sich gegen eine aus ihrer Sicht erstarrte Gesellschaft von macht- und fantasielosen Befehlsempfängerinnen auf, die sie intellektualisiert unter Rückgriff auf Thesen der Kritischen Theorie von der »verwalteten Welt«32 und dem »ein­ 30 Vgl. Hajo Holst, Gefahrenzone Absatzmarkt? Leiharbeit und die Temporalstrukturen der Flexibilisierung, in: Alexandra Krause/Christoph Köhler (Hrsg.), Arbeit als Ware. Zur Theorie flexibler Arbeitsmärkte, Bielefeld 2012, S. 141–161. 31 Vgl. Alexandra Krause/Christoph Köhler, Von der Vorherrschaft interner Arbeitsmärkte zur dynamischen Koexistenz von Arbeitsmarktsegmenten, in: WSI-Mitteilungen 64 (2011), S. 588–597. 32 Theodor W. Adorno, Kultur und Verwaltung, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd.  8:­ Soziologische Schriften I, Frankfurt a. M. 1972, S. 122–146.

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dimen­sionalen Menschen«33 deuteten. Die neue Frauenbewegung wies die Festlegung auf Kinder und Küche zurück, und die Lehrlingsbewegung wehrte sich gegen die Zurichtung für monotone und anspruchslose Arbeit in der betrieblichen Ausbildung. In den wilden Streiks der frühen 1970er Jahre setzten sich mit den »Gastarbeitern« schließlich auch diejenigen zur Wehr, die in der industriellen Wachstumsgesellschaft nicht nur durch die Festlegung auf die härtesten und am schlechtesten bezahlten Arbeiten, sondern darüber hinaus auch durch die stigmatisierende Identifikation mit ihrer Herkunft doppelt marginalisiert waren. Diese Kämpfe brachten der fordistischen Wachstumsgesellschaft zu Bewusstsein, dass sie sich als Folge ihrer eigenen Dynamik innerlich subjektiv-sozial auszuhöhlen begonnen hatte. Der materielle Lebensstandard und die wahr­ genom­mene Kontinuität in die Zukunft hinein, die großen Teilen der Bevölkerung zuteil geworden waren, bildeten einerseits die Voraussetzung dafür, dass eine Mehrheit nun zunehmend ausdifferenzierte Lebensstile und lebensweltliche Praktiken entwickeln konnte. Die formal-institutionell kollektivierenden Dispositive erlaubten lebensweltlich, quasi auf ihrer Rückseite, eine zunehmende Individualisierung (oder besser: Personalisierung) von Freizeitpraktiken, Geschmack, Formen des Zusammenlebens und so weiter. Industrie und Wachstumsstaat hatten Geister gerufen, also Lebensentwürfe denkmöglich gemacht, die sie nun nicht nur nicht mehr loswurden, sondern deren greifbare soziale Möglichkeit letztlich das Gehäuse der Normalbiographie sprengte, das eben diese Dispositive auf der Alltagsebene getragen hatte. Je größer die Optionen einer selbstbestimmten Lebensgestaltung außerhalb der von der Arbeitsgesellschaft zugewiesenen Arbeitnehmer- beziehungsweise Hausfrauenrolle wurden, desto mehr wuchs die Unzufriedenheit mit der  – von denselben Dispositiven nicht nur im positiven Sinne abgesicherten, sondern eben auch zum dauerhaften Schicksal gemachten – Perspektive, das ganze Leben lang an Haushalt und Kinder gefesselt oder auf hoch arbeitsteilige, wenig sinngebende Tätigkeiten in der Industrie festgelegt zu sein. Gerade diese wachsende Diskrepanz zwischen lebensweltlichen Emanzipationsinteressen auf der einen und einer vorgezeichneten monotonen Zukunft in einer verordneten gesellschaftlichen Funktion auf der anderen Seite war es denn auch, die ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre in vielfacher Hinsicht zur Auflehnung gegen das Zukunftsregime der verlängerten Gegenwart Anlass gab. Diese Auflehnung kam sowohl in großem Maßstab individuell-innerinstitutionell zum Ausdruck, indem immer mehr junge Männer und Frauen die Spannung zwischen Ansprüchen und Möglichkeiten als »Lernaufforderung«34 nahmen 33 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Neuwied u. a. 1967. 34 Michael Vester u. a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt a. M. 2001, S. 261 f. Das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 256.

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und sich der verordneten Zukunft durch den Erwerb höherer Bildung entzogen, als auch kollektiv-antiinstitutionell in den neuen Bewegungen: »Nicht moralische Prinzipien oder ein ›stiller‹ Wertewandel motivierten die neuen sozialen Bewegungen, sondern die praktische Erfahrung eines nicht legitimierbaren Widerspruchs wachsender und doch verweigerter Freiheitspotentiale.« Diese subjektiven Grenzen hatte die westdeutsche organisiert-kapitalistische Wachstumsgesellschaft erreicht, als ihr kollektiver Erwartungshorizont 1972/73 mit dem Ölschock und der Studie zu den »Grenzen des Wachstums«35 auch in ökonomischer und ökologischer Hinsicht eine erste nachhaltige Erschütterung erfuhr. Im Hinblick auf den Arbeitsmarkt war das aber lediglich eine Seite der sozialen Veränderungen: Die auf relativ strikter beruflicher wie familiärer Arbeitsteilung beruhende Ordnung hatte einen Teil  ihrer Legitimität eingebüßt, aber was an ihre Stelle treten würde, war an diesem Punkt alles andere als ausgemacht. Dass der Arbeitsmarkt in den folgenden Jahrzehnten zu einem Kampffeld wurde, war keine automatische Folge des wirtschaftlichen und technologischen Wandels, sondern seinerseits Ergebnis eines Umbruchs in den Praktiken, die die sozialen Akteure im Umgang damit anwendeten. Ausgangspunkt dieses Umbruchs waren die Strategien von Fraktionen der gesellschaftlichen Eliten, die sich als erste von der kollektiv verankerten Logik der identitäts- und anspruchsbegründenden Beruflichkeit lossagten, weil sie für sich keine Notwendigkeit mehr für diese Art von Individualisierungsressource sahen. Einerseits gehörte hierzu eine »neuartige Spezies« sozial gut vernetzter Manager, die B ­ ourdieu in Frankreich schon in den 1970er Jahren an den wichtigen strategischen Schnittstellen der miteinander vernetzten Unternehmen ausgemacht hatte36 und die nun zunehmend zur dominierenden Fraktion im Managementfeld wurden. Sie stützten ihre Machtgewinne vor allem auf (nicht zuletzt in ihren Herkunfts­ familien sozial ererbte) Beziehungsnetzwerke und social skills, die sie als spezifische Ressourcen zusätzlich zu ihren Bildungstiteln geltend machen konnten37. Andererseits, und für die Breitenwirkung der so angestoßenen sozialen Veränderungen mutmaßlich wichtiger, veränderten sich auch die Reproduktionsstrategien von Teilen der kulturellen Elitefraktionen  – Künstler, Schauspieler, Werbefachleute, Journalisten. Als aufschlussreich erweisen sich hier besonders

35 Vgl. Dennis L. Meadows u. a., Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Stuttgart 1972. 36 Bourdieu u. a., Titel und Stelle, S. 40 ff. 37 Zur Bundesrepublik Deutschland vgl. Walter A. Oechsler/Christian Schmidt/Christopher Paul, Charakteristika von Vorstandsmitgliedern. Humankapitalsignale bei der Besetzung von Positionen im Top-Management, in: Zeitschrift für Management 3 (2008), S. 199–224; Michael Hartmann: Topmanager. Die Rekrutierung einer Elite, Frankfurt a. M. u. a. 1996. Vor allem Hartmann betonte stark den reproduktiven Charakter dieser Strategien und zeigte, dass es sich bei den »neuen« Managementeliten dennoch weit überwiegend um die Söhne und (selten) Töchter des unternehmerischen Spitzenpersonals der Nachkriegszeit handelt.

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die 1974 vorgelegten Ergebnisse der sogenannten Künstler-Enquete38. Anlass dieser Untersuchung war ein Auftrag des Bundestags, der damals nach Möglichkeiten suchte, »bisher überhaupt nicht oder unzulänglich geschützte Personenkreise in die soziale Sicherung einzubeziehen«, also auch den künstlerisch Tätigen Zugang zum Sozialeigentum zu gewähren. Als Problem des Sozialstaats galt hier (noch) nicht die finanzielle Überbelastung von Staat und Steuerzahlerinnen durch überbordende Absicherungsansprüche, sondern im Gegenteil die mangelnde Reichweite jener Ansprüche. Es handelte sich damals um einen sehr kleinen Teilarbeitsmarkt: Die Zahl der beruflich als Künstler tätigen Personen hatte zwischen 1950 und 1970 von 76.000 auf 62.000 abgenommen, ihr Anteil an der Erwerbsbevölkerung wurde auf ganze 0,3 Prozent geschätzt. Zurückgegangen waren insbesondere die Zahlen von Musikerinnen und Musikern, Tänzerinnen und Tänzern sowie Artistinnen und Artisten, während entgegen dem Trend die Zahl der Designerinnen und Designer, die in der Wirtschaft und insbesondere der Werbebranche tätig waren, auf nun bundesweit rund 11.500 deutlich gestiegen war. Der Zustrom junger Menschen in diese Tätigkeitsfelder war erheblich: Die Zahl der Studierenden an Kunst- und Musikhochschulen nahm seit 1968 fast ebenso schnell zu wie die der Studierenden insgesamt, am schnellsten wuchs der Anteil der Studierenden in Fächern des Bereichs Bildende Kunst und Design. Damit einher ging eine zunehmende Orientierung der Studierenden auf Tätigkeiten in der gebrauchs­ bezogenen künstlerischen Produktion. Dass diese Berufsgruppen als Eliten durchaus richtig benannt sind, belegen die Angaben zur sozialen Herkunft der Befragten. Die Herkunft aus »mittleren und oberen Beamten-, Angestellten- oder Selbständigen-Familien« war für die Forscher faktisch ein wirksames Ausschlusskriterium: »Wer nicht aus diesen Schichten stammt, hat es – außer im Bereich der Unterhaltungsmusik und Unterhaltungskunst  – verhältnismäßig schwer, ›Kulturschaffender‹ zu werden.«39 Auf eine Selbstwahrnehmung als Elite deuten zudem die geäußerten Einkommenserwartungen hin: Selbständige wie abhängige künstlerisch Tätige gaben fast durchgängig zu mehr als 50 Prozent an, dass für ihre Tätigkeit ein Einkommen von mindestens 36.000 DM angemessen wäre, von den Selbständigen sahen auch durchweg deutlich über ein Viertel (27 bis 33 Prozent) ein Einkommen von

38 Vgl. Karla Fohrbeck/Andreas J. Wiesand, Der Künstler-Report. Musikschaffende – Darsteller/Realisatoren – Bildende Künstler/Designer, München 1975; das folgende Zitat von Bundesarbeitsminister Walter Arendt sowie die weiteren Angaben finden sich ebenda, S. 4, S. 20 f. und S. 97. 39 Ebenda, S. 88. Ähnliche Feststellungen finden sich im Hinblick auf Autoren und Journalisten auch in der »Autorenenquête« von 1970/71. Fohrbeck und Wiesand hatten sich hier genötigt gesehen, der verbreiteten Selbstwahrnehmung der schriftstellerischen Zunft als arme und unterbezahlte Künstler explizit zu widersprechen und sie als romantisierende Verkennung der Realitäten zu kennzeichnen. Vgl. Karla Fohrbeck/Andreas J. Wiesand, Der Autoren­report, Reinbek 1972, S. 9 f., S. 19 f. und S. 259 ff.

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mehr als 50.000 DM als gerechtfertigt an. Mit unter 24.000 DM hätte sich nur eine kleine Minderheit (neun bis 15 Prozent) abgefunden40. Als zunehmend problematisch wurde erlebt, dass diese Einkommenserwartungen sich häufig als unrealistisch erwiesen: Wiederholt wurde in der Studie bemängelt, dass die staatliche Kulturförderung nicht im notwendigen Maße ausgebaut sei, dass es keine koordinierte, am wachsenden Bedarf orientierte Kulturpolitik gebe und dass die öffentliche Hand auf allen Ebenen ihre Rolle als wichtigste Arbeitgeberin im Kultursektor nicht angemessen reflektiere41. Darin kam zum Ausdruck, dass die an den Wachstumsstaat gerichteten Erwartungen auf stetigen Ausbau des sozialen Sicherungsniveaus in diesem Segment besonders früh enttäuscht wurden – nämlich noch bevor sie überhaupt realisiert worden waren. Der Kultursektor stand um 1970 an der Schwelle zur Etablierung als breit finanzierte und akzeptierte öffentliche Aufgabe – die Zahl der Studierenden in künstlerischen Fächern expandierte bereits in Erwartung einer solchen Entwicklung –, doch diese trat nicht ein, weil just nun die expansive Dynamik des Wachstumsstaats und mit ihr der Ausbau des Sozialeigentums ins Stottern geraten waren. Der Ausbau des öffentlichen Kultursektors von einem kleinen Betrieb, der schmale gesellschaftliche Eliten bediente, zu einer sozialen Dienstleistung für die All­gemeinheit erfolgte zwar, aber nicht in der erhofften Breite, sondern teils verengt auf die massenmediale Vermittlung von Kulturinhalten und unter finan­ ziellen Bedingungen, die, wenn auch noch nicht von akuten Sparzwängen, so doch von geringerer Bereitschaft der politischen Akteure zu weiterer Ausgaben­ expansion gekennzeichnet waren. Weil es nicht mehr politisch geboten, sondern zunehmend fiskalisch riskant schien, weitere Beschäftigtengruppen staatlich finanziert in den Genuss des Sozialeigentums kommen zu lassen, wurden die nun in den Arbeitsmarkt eintretenden Kulturschaffenden gewissermaßen die ersten Opfer der sich später multiplizierenden Prekarisierungsdynamik – mit der Besonderheit, dass sie die für die fordistische Ära bestimmende Entprekarisierung nie manifest, sondern nur als Zukunftserwartung erfahren hatten. Zudem waren auch Beruflichkeit und berufliches Selbstverständnis dieser Gruppen nie sehr stark ausgeprägt gewesen: Von jeher war es für sie übliche Praxis, sich vor allem durch den Nachweis spezifischer persönlicher Fähigkeiten und durch Referenzen früherer Tätigkeiten Zugang zu Engagements oder Projekten zu verschaffen. Beim Kampf um solche Positionen ist der Bezug auf den Beruf als standardisiertes Identitätsmuster nicht nur wenig hilfreich, sondern sogar schädlich, kommt es doch darauf an, mit den spezifischen, unverwechselbaren Erfahrungen und Eigenschaften der eigenen Person perfekt zu genau dieser Position zu passen. In qualifikatorischer Hinsicht war eine berufliche Ausbildung dennoch nicht unwichtig: Für die meisten künstlerischen Tätigkeitsfelder 40 Vgl. Fohrbeck/Wiesand, Künstler-Report, S.  279; zum Vergleich: Das durchschnittliche jährliche Bruttoarbeitsentgelt der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Bundes­ republik lag 1972 bei 16.335 DM . 41 Vgl. ebenda, etwa S. 161–169 und S. 173–180.

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gab es einen oder mehrere typische Ausbildungswege. Jedoch reichte das in der Regel nicht aus, um zu reüssieren. So musste bei vielen Studiengängen der Mangel an praktischen Lernanteilen durch eine praxisorientierte Zweitausbildung kompensiert werden; wirkliche Meisterschaft war erst durch mehrjährigen Einzelunterricht zu erreichen. Auch nicht-künstlerische Zweitausbildungen waren nicht selten. Dass künstlerische Arbeit weniger stark beruflich codiert war, bedeutete mithin nicht, dass sie keine Berufsqualifikation erfordert hätte, sondern dass die berufliche Ausbildung allein den Zugang nicht sicherstellen konnte: Sie war notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung, es musste mehr hinzukommen. Zudem war in der Regel auch das Spektrum der ausgeübten Tätigkeiten breiter, als die Zuordnung zu einem Beruf erkennen ließ: »Manches, was gemeinhin als Beruf bezeichnet wird, stellt sich häufiger als nur einer von vielen Anwendungsbereichen einer oder mehrerer künstlerischer Grundqualifikationen heraus: so ist das Komponieren viel häufiger eine Tätigkeit, die viele Musiker neben anderen musikalischen Tätigkeiten ausüben als ein selbständiger Beruf in dem Sinne, daß sich jemand ausschließlich damit identifiziert, davon lebt bzw. dafür arbeitet.«42

In biographischer Perspektive bedeutete das bereits damals eine hohe Mobilität zwischen unterschiedlichen Tätigkeiten, die nicht nur typische Verläufe umfasste, die über notwendige Zwischenstationen in prestigereiche Spitzenpositionen (etwa Intendanzen) führten, sondern auch ein hohes Maß an erzwungener Mobilität unter prekären Bedingungen. Nicht nur in dieser Hinsicht waren in den künstlerischen und Medienberufen schon damals Problemlagen von unsicherer, unsteter, kurz: prekärer Beschäftigung stark verbreitet. Im Bereich von Fernsehen und Rundfunk etwa wirkten sich auf Kosteneinsparung zielende Umstrukturierungen wie die Teilprivatisierung der Produktionen in einem Rückgang der Zahl fester und gut bezahlter Arbeitsplätze und einem gleichzeitigen Aufwuchs prekärer und schlecht bezahlter Beschäftigung als freie Mitarbeiter aus. Ähnliche Auswirkungen hatte im Bereich der Printmedien die schon damals starke Konzentrationsdynamik. Häufig kam es zu Berufswechseln aus erlernten künstlerischen in nicht-künstlerische Berufe, was in der Studie als Reaktion auf verbreitete Schwierigkeiten bei der Etablierung im künstlerischen Arbeitsmarkt gedeutet wurde – eine Art vorweggenommene künstlerische »Generation Praktikum«: »Im Ergebnis sehen sich gerade jüngere Künstler (Absolventen der Hoch- und Fachhochschulen) vor die Alternative gestellt, entweder Unsicherheit, schlechten Verdienst und ein Umlernen in der ›Anfänger-Praxis‹ in Kauf zu nehmen, oder in einen anderen, allgemein erheblich besser bezahlten ›bürgerlichen‹ Beruf bzw. in einen ebenfalls qualifizierten oder ›kunstnahen‹ Tätigkeitsbereich überzuwechseln.«43

42 Ebenda, S. 104; zum Folgenden vgl. ebenda, S. 114 und S. 181–184. 43 Ebenda, S. 146 f.; dort – S. 100 f. und S. 102 f. – finden sich auch die folgenden Zitate.

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Durch die Bildungsexpansion im Bereich der Kunsthochschulen verschoben sich aber auch in einem noch umfassenderen Sinne die Gewichte in Richtung Markt. Unter der jungen Generation von künstlerisch Tätigen und Kunststudierenden war der Enquete zufolge inzwischen das Bewusstsein bestimmend, dass unter den sich verändernden Bedingungen künstlerische Tätigkeit im etablierten hochkulturellen Bereich nicht für alle von ihnen in Frage kam, die erhofften neuen Felder aber weniger stark expandierten als erwartet. Zudem hatten viele den Anspruch, mit der eigenen Tätigkeit auch eine breitere gesellschaftliche Relevanz zu entfalten. Daher war die Überzeugung weit verbreitet, »daß der Künstler heute möglichst vielseitig qualifiziert sein muß, daß er über Kenntnisse des Marktes bzw. seiner Mechanismen und Begrenzungen sowie über die ihm faktisch (und nach Veränderungen auch potentiell) gegebenen Wirkungsmöglichkeiten informiert sein muß.«

Im Ergebnis sah sich also bereits damals die einzelne Künstlerin oder der einzelne Künstler mit der Anforderung konfrontiert, nicht nur die eigenen Interessen zu verbreitern und sich für ein weiteres Spektrum von Tätigkeiten zu begeistern, sondern auch die in Frage kommenden Aktivitätsfelder als Markt zu begreifen und das eigene Handeln daran auszurichten. Forderungen der künstlerischen Berufsverbände richteten sich denn auch zu dieser Zeit auf Reformen der Ausbildung und Institutionalisierung von Weiterbildungsangeboten: »Zur Vorbereitung auf die heutige Berufspraxis und auf künftige Arbeitschancen gehören neben einem verbesserten technischen bzw. handwerklichen, rechtlichen oder pädagogischen know-how auch Diskussionen über den gesellschaftlichen bzw. kulturund bildungspolitischen Stellenwert von künstlerischer Arbeit.«

Ein Spezifikum des künstlerischen Arbeitsmarkts war zudem die große Bedeutung privater Arbeitsvermittlungen wie Agenturen oder Konzertbüros, die oft informell und faktisch illegal agierten, während die Möglichkeiten der öffentlichen Arbeitsvermittlung in den meisten Teilbereichen eher gering waren44. Unter diesen Umständen kam der steten gewissenhaften Pflege von Kontakten und des eigenen Renommees eine lebenswichtige Bedeutung zu: »Die wichtigsten Wege der Arbeits- bzw. Auftragsbeschaffung waren generell: die schon vorhandenen festen Beziehungen zu bestimmten Kunden, Arbeitgebern, sonstigen Vertragspartnern, Beziehungen und Empfehlungen, die Nachfrage aufgrund des eigenen Marktwertes, des beruflichen Namens, den man sich gemacht hat.«

Und dies sollte keine Momentaufnahme bleiben. In den 1980er Jahren sorgten die Zulassung des Privatfernsehens und -rundfunks sowie ein neuerlicher Boom der Werbebranche, in den 1990er Jahren ein anhaltender Kommerzialisierungsschub und die fortschreitende Ausdifferenzierung der Kultur- und Medien44 Vgl. ebenda, S. 199–212; dort (S. 200) findet sich auch das folgende Zitat.

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landschaft für schnell expandierende Beschäftigtenzahlen. So stieg die Zahl der Musikerinnen und Musiker, die 1970 17.000 betragen hatte, bis 1995 auf 42.000 und bis 2010 auf 65.000; die Zahl der Publizistinnen und Publizisten wuchs von 29.900 1970 auf 92.000 1995 und 160.000 2010. Noch beeindruckender der Zuwachs bei den Designerinnen und Designern: Von 11.500 im Jahr 1970 war ihre Zahl 1995 auf 60.000 gestiegen und erreichte 2010 187.000  – ein Anstieg um mehr als das fünfzehnfache in 40 Jahren45. Insgesamt ist der Anteil der Kulturberufe an der Beschäftigung von weit u ­ nter einem Prozent in Westdeutschland 1970 auf mehr als drei Prozent in Gesamtdeutschland 2010 gestiegen – nach Berechnungen des Arbeitskreises Kulturstatistik sind das annähernd 1,3 Millionen Erwerbstätige. Gleichzeitig wurden mit zunehmender Dominanz des betriebswirtschaftlichen Kalküls, routinemäßiger Auslagerung an Produktionsfirmen und der Erosion langfristiger Arbeits­ beziehungen auch im Freelance-Bereich die Arbeitsverhältnisse noch unsteter und kurzzyklischer als zuvor46. Diese Entwicklungen machen die Annahme plausibel, dass die bereits für die frühen 1970er Jahre nachweisbare strategische Orientierung vieler Kulturbeschäftigter am Markt sich als Erfordernis für das Bestehen in diesen Bereichen weiter verallgemeinerte. Zudem legen nicht nur die zahlenmäßige Dynamik der Beschäftigungsentwicklung, sondern auch die besondere Beteiligung dieser Gruppen an der Produktion der gesellschaftlichen Diskurse über soziale Realitäten wie den Arbeitsmarkt nahe, dass den Verände­ rungen des Kultursektors eine herausgehobene Bedeutung für die Entwicklung des Arbeitsmarkts insgesamt zukommt47. Überdies erfuhren diese Tätigkeitsfelder im Zuge ihrer Expansion soziale Öffnungen, so dass sie ihren elitären Charakter teilweise verloren, was ebenfalls zur Normalisierung der für Kulturschaffende typischen Erfahrungen als Teil der gesellschaftlich üblichen Erfahrungsräume im Verhältnis zum Arbeitsmarkt beitrug. Aus diesen Gründen und weil sich gleichzeitig infolge der Veränderungen in den beiden anderen Dimensionen die Anforderungen an Arbeitskräfte auch in 45 Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 wirkt sich in diesen Zahlen zwar als Verzerrung der Zuwächse vor 1995 nach oben aus, aber die anhaltende Expansion auch in der Zeit danach zeigt deutlich, dass die grundlegende Dynamik hiervon unabhängig ist. Vgl. Michael Söndermann, Kulturberufe. Statistisches Kurzportrait zu den erwerbstätigen Künstlern, Publizisten, Designern, Architekten und verwandten Berufen im Kulturberufemarkt in Deutschland 1995–2003. Bericht im Auftrag der Beauftragten der Bundes­ regierung für Kultur und Medien, Bonn 2004, S. 29; Michael Söndermann, Kultureller Beschäftigungsmarkt und Künstlerarbeitsmarkt. Kulturstatistische Analyse zum Anhang des Staatenberichts, im Auftrag der Deutschen UNESCO -Kommission, Bonn 2012, S. 30 (zum Folgenden vgl. ebenda). 46 Vgl. Alexandra Manske/Christiane Schnell, Arbeit und Beschäftigung in der Kultur- und Kreativwirtschaft, in: Fritz Böhle/G. Günter Voß/Günther Wachtler (Hrsg.), Handbuch Arbeitssoziologie, Wiesbaden 2010, S. 699–727, hier S. 706. 47 Vgl. Carroll Haak/Günther Schmid, Arbeitsmärkte für Künstler und Publizisten: Modelle der künftigen Arbeitswelt?, in: Leviathan 29 (2001), S. 156–178.

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anderen Arbeitsfeldern durch zunehmende »Verkleinteiligung« und Spezialisierung denen im Kultursektor formal anzunähern begannen, konnten sich die anfangs elitären Strategien als bestimmendes kulturelles Muster durchsetzen: In immer mehr Teilarbeitsmärkten waren im Wettbewerb um die besten Posten nun die im Vorteil, die in der Lage waren, über ihre Abschlüsse hinaus gezielt zusätzliche Kompetenzen, nützliche Beziehungen und einschlägige Erfahrungen in die Waagschale zu werfen. Man könnte sagen, dass der Arbeitsmarkt gerade in seinen oberen Segmenten durch das strategische Handeln dieser Gruppen Schritt für Schritt erst zu einem Markt im eigentlichen Sinne gemacht worden ist. Ein subjektiv stabiler Erwartungshorizont, der die praktische Aneignung der eigenen Zukunft ermöglicht, wird unter diesen Bedingungen nicht mehr durch allgemeine Dispositive gewährt, sondern zur personalisierten Verantwortung: Alle sind aufgerufen, sich die eigene Zukunft selbst wieder anzueignen, indem sie sich entsprechend der Erfordernisse des angestrebten Tätigkeitsfelds ein persönliches »Portfolio«48 an Kompetenzen zulegen und dieses in einem dauerhaften Prozess der Selbstverbesserung weiterentwickeln, um ihre zukünftige Beschäftigungsfähigkeit zu sichern. Der Erwartungshorizont derjenigen Eliten, die diese soziale Verschiebung maßgeblich vorangetrieben haben, ist jedoch kein planender mehr, sondern ein spekulativer, in dem die Zukunft als offener Raum von zu nutzenden Chancen und zu kontrollierenden Risiken erscheint. Die post-beruflichen Strategien, mit denen die Avantgarde eines solchen Erwartungshorizonts dieser Zukunft zu begegnen hat, sind eben nicht individuell, sondern »dividuell«: Sie beruhen auf der Operation einer analytischen Zerlegung der eigenen Person in einzelne Eigenschaften – Kompetenzen, skills, assets – die jeweils einzeln zu evaluieren, an einem durch den Markt bestimmten Standard zu messen, einzeln durch unterschiedliche Formen von Selbstsorgepraktiken zu verbessern und zu einem den Markterfolg sichernden »Portfolio« zu kombinieren sind49. Allein: Zunächst handelt es sich bei diesen Anforderungen eben nur um die diskursive Zuspitzung der Strategien bestimmter elitärer Klassenfraktionen. Inwiefern ein solcher Erwartungshorizont verallgemeinerungsfähig ist, diese Anforderungen an die Einzelnen also real wirksam werden können, ist damit noch nicht gesagt.

4. Destabilisierte Zukünfte – fragmentierte Subjekte Ziel dieses Beitrags war es zu zeigen, dass sich seit Anfang der 1970er Jahre in der (west-)deutschen Gesellschaft sowohl auf der Ebene der ökonomischen, poli­ tischen und technologischen Dispositive der Herstellung des Sozialen als auch 48 So die paradigmatisch gewordene Bezeichnung dieses Prinzips bei Charles Handy, The Age of Unreason, London 1989. 49 Näher ausgeführt, theoretisch begründet und an einer Fallstudie empirisch untersucht habe ich die dividualisierende Subjektivierungsdynamik zeitgenössischer arbeitsmarktpolitischer Dispositive in meinem Buch: Dividuell aktiviert.

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auf der Ebene der sozialen Praktiken Veränderungen abgespielt haben, die sich im Ergebnis als Destabilisierung des Zukunftsbezugs junger Menschen im Verhältnis zum Arbeitsmarkt charakterisieren lassen. Damit sollte weder gesagt sein, dass die Erwartungshorizonte junger Menschen in den 1950er und 1960er Jahren hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft durchweg linear und stabil gewesen seien, noch dass sich die Zukunft jungen Menschen heute überhaupt nicht mehr in dieser Weise darstellen könnte, wohl aber, dass die frühen 1970er Jahre einen Gezeitenwechsel markieren. Wie dargestellt war die für das Bewusstsein der Mehrheit prägende Dynamik der Koordination von Unternehmen, Gewerkschaften und Staat zur Absicherung einer auf stabiler Binnennachfrage einerseits und kollektiv garantiertem Sozialeigentum andererseits beruhenden Wachstumsgesellschaft einher gegangen mit der Vorstellung einer sich zusehends stabilisierenden – zugleich aber auch für viele zur potentiell einengenden identitären Festlegung gerinnenden – linear-planbaren Zukunft. Diese Vorstellungswelt wurde jedoch, wie anhand der ökonomisch-politischen, technischen und sozialen Veränderungen gezeigt, im Lauf der letzten Jahrzehnte weitgehend abgelöst durch die Ahnung und zunehmend auch die Erfahrung, dass es nunmehr gleichsam in die andere Richtung geht: An die Stelle der auf Binnenkonjunktur und Ausbau sozialer Sicherungen gegründeten Wachstumskoalition traten eine stärker exportdominierte Ökonomie mit rasch fortschreitender technologiegestützter Rationalisierung des Arbeitskräfteeinsatzes im Inland, steigender Druck auf Löhne und öffentliche Haushalte und schließlich eine Neuausrichtung der Arbeitsmarktpolitik. Daneben trugen Strategien der postberuflichen Selbstpositionierung am Arbeitsmarkt, die an gegen die dauerhaften Festlegungen der organisiert-kapitalistischen arbeitsteiligen Vergesellschaftung gerichtete kritische Praktiken anschließen konnten und sich ausgehend von Fraktionen der ökonomischen und kulturellen Eliten schrittweise durchsetzten, zur Vermarktlichung des Arbeitsmarkts und zur Ablösung des Berufs- durch ein Kompetenzregime der Arbeitskraft bei. Der Beruf gilt hier nicht mehr als hin­ reichende Voraussetzung für den Zugang zu Beschäftigung, sondern als notwendiges Kernelement eines breiter zusammengesetzten persönlichen »Portfolios« an Kompetenzen, die grundsätzlich auch einzeln, für diskontinuierliche Zeiträume und an unterschiedlichen Orten zum Verkauf anzubieten sind. Die Zukunft stellt sich aus einer solchen strategischen Sicht nicht mehr als vom Beruf eröffnete, gegen Unwägbarkeiten abgesicherte Fortsetzung der Gegenwart dar, sondern als offener Raum von gezielt zu nutzenden Chancen und aktiv zu vermeidenden Risiken. Nun darf die These von der Destabilisierung des Zukunftsbezugs aber weder dazu Anlass geben, eine allgemeine Durchsetzung eines solchen Selbstführungsmodus zu vermuten – im Blick auf die mehrheitlichen Lagen junger Menschen wäre das kaum mehr als Wunschdenken –, noch zu der kurzschlüssigen Behauptung, dass nun die ganze junge Generation gleichermaßen ihrer Zukunft beraubt und um die Möglichkeit sozialer Teilhabe gebracht sei. Dass sich auf der Ebene der strukturellen Anforderungen des Arbeitsmarkts eine allgemeine De-

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stabilisierung diagnostizieren lässt, erlaubt keine direkten Schlussfolgerungen auf das, was junge Menschen aus ihren jeweils konkreten Erfahrungsräumen heraus an praktischer Vermittlungsarbeit leisten, um ihre sozial spezifischen Erwartungshorizonte zu konstruieren. Für die Gegenwart lassen sich vor dem Hintergrund der skizzierten Dynamiken hypothetisch zumindest vier Typen sozialer Positionen50 unter den Bedingungen destabilisierter Zukunftsaneignung unterscheiden: 1. Kontinuität: Ein schrumpfender, aber keineswegs im Verschwinden begriffener Kern der alten Arbeitsgesellschaft, in dem die Möglichkeit zur beruflich basierten Zukunftsaneignung weiter besteht. In den Kernbelegschaften der exportorientierten Industrie und in Teilen des öffentlichen Dienstes ist unbefristete, sozial abgesicherte Vollzeitbeschäftigung nach wie vor – vornehmlich für Männer – die Norm. Die Logik der Beruflichkeit ist hier allenfalls als Identitäts- und Anspruchsgrundlage, keineswegs aber als notwendige Grundqualifikation in Frage gestellt51. 2. Aktiver Bruch: Von diesem Kern setzen sich nach oben hin die Avantgardefraktionen der Eliten ab, die die Gelegenheit hatten, sich gezielt große Bildungs- und Erfahrungsressourcen anzueignen und starke Netzwerke aufzubauen. Die aktive, selbstgesteuerte (Re-)Stabilisierung des Zugriffs auf die Zukunft auf der Basis eines persönlichen Kompetenzportfolios, die sie praktizieren, entspricht den von den kulturellen Eliten der 1970er Jahre eingeführten Reproduktionsstrategien52. Allerdings legen neuere Forschungen zu selbständiger Kultur- und Kreativarbeit nahe, dass solche Lebensstile oft eher als aus der Not geborenes, permanente Überanstrengung erforderndes Sichüber-Wasser-Halten erlebt werden – oder nach einigen anfänglichen Jahren des Enthusiasmus in die Erschöpfung kippen53. 3. Prekarität: Fließend ist von dort aus der Übergang zum wachsenden arbeits­ gesellschaftlichen Kraftfeld der Prekarität. Es erfasst unterschiedlichste Gruppen, die aber eine entscheidende Gemeinsamkeit vereint: Die Erfahrung einer 50 Diese Typen sind nicht als anhand von Indikatoren unterscheidbare Gruppen von Akteuren zu verstehen, sondern eher als, wie es Castel (Metamorphosen, S. 13 ff) nennt, »­ Zonen« des gemeinsamen Kraftfelds, in dem sie sich bewegen. 51 Vgl. Christoph Köhler u. a., Offene und geschlossene Beschäftigungssysteme. Determinanten, Risiken und Nebenwirkungen, Wiesbaden 2008; Gerhard Bosch, Facharbeit, Berufe und berufliche Arbeitsmärkte, in: WSI-Mitteilungen 67 (2014), S. 5–13. 52 In der Arbeitssoziologie sind diese Strategien seit längerem ein Thema, breit diskutiert etwa anhand der These vom »Arbeitskraftunternehmer«; vgl. G. Günter Voß/Hans J. Pongratz, Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft?, in: KZf SS 50 (1998), S. 131–158. 53 Vgl. Dieter Sauer, Entgrenzung: Chiffre einer flexiblen Arbeitswelt. Ein Blick auf den historischen Wandel von Arbeit, in: Bernhard Badura u. a. (Hrsg.), Gesundheit in der flexiblen Arbeitswelt: Chancen nutzen – Risiken minimieren. Fehlzeiten-Report 2012, Berlin u. a. 2012, S. 3–13; Klaus Dörre, Die Selbstmanager. Biographien und Lebensentwürfe in unsicheren Zeiten, in: Axel Bolder u. a. (Hrsg.), Neue Lebenslaufregimes – neue Konzepte der Bildung Erwachsener?, Wiesbaden 2010, S. 139–149.

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nachhaltigen Störung des Verhältnisses zur eigenen Zukunft. Sie sind den Effekten der Destabilisierung des Zukunftsbezugs ausgesetzt, verfügen aber nicht über die für eine ständige strategische Selbstoptimierung und -positionierung notwendigen Ressourcen. Der Alltag gerät hier zu einem ständigen Kampf darum, das eigene Leben um die Arbeit herum zu organisieren. Fehlen zusätzlich auch noch unterstützende soziale Netzwerke, so beginnt die Arbeit, das ganze Leben zu dominieren und andere Lebensbereiche und soziale Verpflichtungen regelrecht aufzufressen, indem sie sie ihrer Planbarkeit beraubt. Die Zukunft erscheint als unbeeinflussbares Schicksal, auf dessen günstigen Ausgang sich allenfalls ohnmächtig hoffen lässt54. 4. Aktivierung: Jenseits dessen lässt sich schließlich noch eine Zone der Aktivierung ausmachen55, die für junge Menschen die Stelle der von Castel identifizierten Zonen von »Fürsorge« und »Entkopplung« einnimmt56. Um zu vermeiden, dass junge Arbeitslose dauerhaft den Anschluss an die Arbeitsgesellschaft verlieren, ist seit den Hartz-Reformen eine arbeitsmarktpolitische Praxis vorgeschrieben, die ihre Gewöhnung an den Hilfebezug verhindern soll: Wer im Wettbewerb um Arbeitsplätze auf der Strecke bleibt, soll dazu gebracht werden, das Spiel des dynamisierten und entstetigten Arbeitsmarkts dennoch weiter mitzuspielen – ein spekulativer Zukunftsbezug wird administrativ als Pflicht oktroyiert. Weil dieser aber weit mehr persönliche Ressourcen voraussetzt, als arbeitsmarktpolitische Trainings- und Eingliederungsprogramme vermitteln können, kann es hier realistisch nur um die Integration in das Feld der prekären Beschäftigung gehen. Bedenklich erscheint beim Blick auf diese soziale Topologie vor allem, dass jene Zonen, in denen die Folgen der Umbrüche der letzten Jahrzehnte den Zugriff der Menschen auf ihre Zukunft tendenziell zerstören und ihre Möglichkeit zu einem selbstbestimmten Leben einschränken – die Felder der Prekarität und der Aktivierung –, sich auf Kosten der Lagen mit nach wie vor stabilem Erwartungs­ horizont erheblich ausgedehnt haben. Damit stellt sich die Frage nach der Zukunft des Individuums in noch drängenderer Weise, als es Castel bewusst war, der sie in seinem Spätwerk aufwarf57. Denn mit dem Wegfall des Sozialeigentums, mit dessen Hilfe der Beruf zur Grundlage für Identität wie gesellschaftliche Partizipationsansprüche des modernen Individuums hatte werden können, steht angesichts der Ausbreitung von Modi des Handels mit menschlicher Arbeitskraft, die diese auf sub-individueller 54 Etymologisch kommt Prekarität von lateinisch precari: bitten, beten; der Begriff bezeichnet also wörtlich genommen die Lage derer, die selbst keinerlei Zugriff auf ihre Zukunft haben und nur für eine glückliche Fügung beten können. Vgl. Franco »Bifo« Berardi,­ Precarious Rhapsody. Semiocapitalism and the pathologies of the post-alpha generation, London 2009, S. 148. 55 Vgl. Stephan Lessenich, Die Neuerfindung des Sozialen. Der Sozialstaat im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2008. 56 Castel, Metamorphosen, S. 360 f. 57 Vgl. Castel, Krise.

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Ebene adressieren und der Verwertung zuführen, nicht nur – wie von Castel angenommen – die Autonomie der Einzelnen als ihrer selbst mächtige, entscheidungsfähige Subjekte, sondern eben auch ihre Individualität selbst in Frage. Nicht das Untergehen im uniformen Kollektiv, sondern die Passivität erzwingende Fragmentierung von Persönlichkeit und Lebenszusammenhang stellt sich heute als das wirkliche Problem des Individuums heraus.

Morten Reitmayer

Britische Elitesemantiken vor und nach dem Strukturbruch

1. Elite-Begriff und semantischer Wandel Folgt man der Grundannahme sozialwissenschaftlicher Elite-Theorien1, dass es sich bei den Eliten2 um diejenigen Gruppen handelt, die vermittels ihrer Macht, ihres Reichtums, ihrer Kompetenzen und ihres Ansehens die zentralen gesellschaftlichen Entscheidungspositionen besetzen und die durch ihre Entscheidungen die Gestalt und den Charakter ihrer jeweiligen Epoche prägen, so drängt sich die Frage auf, welche Erwartungen die Zeitgenossen an ihre Eliten richteten, welche Bezeichnungen sie ihnen gaben, um ihre Erfahrungen mit diesen Eliten auszudrücken, kurz: welche Bedeutungsinhalte sich in der zeitgenössischen Elite­ semantik aufspeicherten. Das Interesse der Historischen Semantik richtet sich naturgemäß auf den Wandel oder die Persistenz dieser Begriffe sowie auf deren soziale Wirkungskraft als gesellschaftliche Klassifikationsschemata. Dass sich ein semantischer Wandel und damit eine ideengeschichtliche Diskontinuität in der jüngeren Zeitgeschichte ereignet haben müsse, legt jedenfalls der Nach dem Boom-Ansatz nahe, der davon ausgeht, dass sich nach dem Ende der großen Nachkriegsprosperität ein gesellschaftlicher Strukturbruch ereignet habe, welcher unsere Gegenwart von der Epoche des Booms trennt (wobei gegenwärtig offen bleiben muss, ob es sich bei der anschließenden Nach dem BoomZeit um eine mittlerweile abgeschlossene Übergangsperiode handelt und wie lange diese andauerte). Auf jeden Fall dürfte jener Strukturbruch die gängigen Elitesemantiken nicht unberührt gelassen haben, handelt es sich bei ihnen doch um die sprachlichen Verdichtungen der zentralen gesellschaftlichen Funktionsund Herrschaftsverhältnisse und »Appropriationschancen«3 sowie um die in ihnen enthaltenen Über- und Unterordnungserfahrungen und die entsprechenden Lenkungs- und Entscheidungserwartungen. 1 Als Überblicke vgl. Günter Endruweit, Elitebegriffe in den Sozialwissenschaften, in: ZfP 26 (1979), S. 30–46; Suzanne Keller, Elites, in: David L. Sills (Hrsg.), International Encylo­ paedia of the Social Sciences, Bd. 5: Elec to freq, New York 1968, S. 26–29; Morten ­Reitmayer, Eliten, Machteliten, Funktionseliten, Elitenwechsel, in: Docupedia-Zeitgeschichte, http:// docupedia.de/zg/Eliten. 2 Ist mit dem Begriff Elite die sozialwissenschaftliche Analysekategorie gemeint, so wird das Wort hier und im Folgenden kursiv gesetzt. 3 Hans D. Evers/Tilman Schiel, Strategische Gruppen. Vergleichende Studie zu Staat, Bürokratie und Klassenbildung in der Dritten Welt, Berlin 1988, S. 10.

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Ganz allgemein formuliert der Nach dem Boom-Ansatz die Arbeitshypothese, dass die Veränderungsprozesse, deren Summe den Strukturbruch ergibt, als Folgen sowohl des politisch-ökonomischen Wandels als auch der Verbreitung neuer Zeitdiagnosen und Leitbegriffe zu begreifen seien – und zwar vor allem solcher, die auf marktförmige Regulierungen in allen gesellschaftlichen Bereichen sowie auf die Befreiung des Individuums von konformistischen Zwängen sowie auf die Entfesselung seiner kreativen Energien (aber auch deren ökonomischer Ausbeutung) abstellten4. Diese Hypothesen zur Periodisierung der europäischen Zeitgeschichte und zur Bewegungsrichtung des sozialen Wandels der zurückliegenden rund 40 Jahre sollen im Folgenden am Gegenstand der britischen Elitesemantiken überprüft werden. Mit Elitesemantiken ist hier und im Folgenden nicht allein der Elite-­ Begriff in seinen unterschiedlichen und sich wandelnden Ausprägungen und Komposita (soziale Elite, Leistungselite, Funktionselite)  gemeint, sondern die Gesamtheit der Bezeichnungen für die Inhaber gesellschaftlicher Spitzenpositionen und darüber hinausgehend für die obersten sozialen Milieus (Upper Class, Establishment); dazu zählen auch die Bedeutungen, die Verwendungsweisen und die politisch-ideellen Funktionen dieser Begriffe sowie ihre möglichen Koppelungen an weitergehende Zeitdiagnosen. Auf drei Ebenen soll deshalb eine Untersuchung der britischen Elitesemantiken vorgenommen werden: Erstens muss untersucht werden, welcher Art die in den entsprechenden Begrifflichkeiten sedimentierten sozialstrukturellen Ordnungsvorstellungen waren. Standen hier beispielsweise eher Erfahrungen vertikaler Schichtung im Vordergrund, oder betonten die jeweils dominanten Elite­ semantiken stärker funktionale Aspekte? Zweitens ist zu fragen, auf welche gesellschaftspolitischen Diskussions- und Handlungsfelder die Begriffe und Topoi der Elitesemantiken in der Praxis bezogen wurden, mit anderen Worten, welche zeitgenössischen Probleme mit Erörterungen über die Elite(n) benannt, und welche Fragen beantwortet werden sollten. Drittens soll kurz diskutiert werden, in welcher Form es zu Rückkopplungseffekten und Wechselwirkungen zwischen den jeweils vorherrschenden Elitesemantiken auf der einen Seite und den von den Elite-Theorien angenommenen Appropriationschancen, Funktions- und Herrschaftsverhältnissen kam. Das Ziel besteht in einer Bestimmung des Ausmaßes und der Dynamik der Veränderungen, die die britischen Elite­ semantiken nach dem Ende der Boom-Epoche durchliefen. Im Vordergrund des Interesses stehen dabei Begrifflichkeiten und Bedeutungsinhalte, die auf eine verstärkte Orientierung an Vermarktlichungsprozessen und an individueller Aktivität als Grundlage sozialer Wertschätzung in den Selbst- und Fremd­ bezeichnungen der Elitemitglieder und -gruppen hindeuten. Der Forschungsstand zu diesem Vorhaben ist ausgesprochen uneinheitlich. Einerseits ist die empirische Beschäftigung mit den britischen Eliten reichhal4 Vgl. Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte nach 1970, Göttingen 3., ergänzte Aufl. 2012, S. 7–23.

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tig in ihren Befunden, überaus kritisch in ihren Analysen und getragen von Publi­zis­tik, Geistes- und Sozialwissenschaften mit unterschiedlichen Interessenschwerpunkten und vielfältigen Erträgen. Gemeinsamkeiten bestehen in den Fragen nach der Bedeutung der exklusiven Bildungsinstitutionen (Public Schools,­ Oxbridge) sowohl für die Selbstrekrutierung der Upper Class als auch für die Besetzung politischer, kultureller und ökonomischer Spitzenpositionen, im Interesse an der überaus großen Fähigkeit der englischen Aristokratie, die ökonomischen und politischen Stürme des 20. Jahrhunderts zu überdauern, sowie im Versuch, die außerordentlichen Macht- und Vermögenskonzentration in den Händen einer verhältnismäßig kleinen Gruppe aus Grundbesitzern und Bankiers zu rekonstruieren5. So sind beispielsweise die Akkumulation der großen Vermögen und die Strategien der Reichtumsvererbung für die britischen Eliten bei weitem besser erforscht als für entsprechende Gruppen in Deutschland. D ­ arüber hinaus hat vor allem die Zusammensetzung konservativer Unterhausfraktionen und Kabinette immer wieder zu Reflexionen über die Wechselwirkungen zwischen der politischen und sozialen Macht einer Klasse und den Einflussmöglichkeiten der Politik auf die Reproduktion dieser Klasse herausgefordert. Andererseits fehlen ideengeschichtliche Untersuchungen fast vollständig. Entsprechende Einzelbefunde stellen häufig allenfalls Nebenprodukte anders gelagerter Forschungsinteressen dar. Die kulturhistorisch angereicherte Sozialgeschichte ist seit E. P. Thompsons bahnbrechender Pionierstudie6 hauptsächlich drei Forschungsperspektiven gefolgt: Erstens orientierte sie sich ganz überwiegend an Prozessen der Klassenbildung, an Klasseninteressen, Klassenkulturen und nicht zuletzt an der Entstehung von Klassensprachen7. Zweitens hat sie sich vor allem auf das 19. Jahrhundert konzentriert, also auf die Epoche der modernen Klassenbildungen schlechthin. Und drittens galt ihr Hauptinteresse der Arbeiterklasse. Daneben existiert eine breite Debatte über die kulturellen Ursachen des industriellen Niedergangs Großbritanniens, die sich vor allem an der Frage der Prägekraft der Aristokratie für das Verhalten der Unternehmerschaft sowie der von Public Schools und den alten Universitäten tradierten gesellschaft5 Exemplarisch seien genannt W. L. Guttsman, The British Political Elite, London 1963; W. L. Guttsman (Hrsg.), The English Ruling Class, London 1969; W. D. Rubinstein, Men of Property. The very Wealthy in Britain since the Industrial Revolution, London 1981; W. D. Rubinstein, Elites and the Wealthy in Modern British History. Essays in Social and Economic History, Brighton 1987; David Cannadine, The Decline and Fall of the British Aristocracy, New Haven/Conn. 1990; Peter J. Cain/Antony G. Hopkins, British Imperialism ­1688–2000, London 1993; Philip Stanworth/Anthony Giddens (Hrsg.), Elites and Power in British Society, Cambridge 1974; John Scott, The Upper Classes. Property and Privilege in Britain, London 1982; John Scott, Who Rules Britain?, Cambridge 1991; Harold Perkin, The Third Revolution. Professional Elites in the Modern World, London 1996. 6 Vgl. Edward P. Thompson, The Making of the English Working Class, London 1963. 7 Vgl. etwa Penelope J. Corfield (Hrsg.), Language, History and Class, Cambridge 1991; P ­ atrick Joyce (Hrsg.), Class. Oxford Readers, Oxford 1995; Stephen Brook, Class. Knowing your Place in Modern Britain, London 1997; David Cannadine, Class in Britain, New H ­ aven/Conn. 1998.

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lichen Leitwerte entzündet hat8. Probleme der historischen Semantik spielen in dieser Kontroverse bislang keine Rolle. Deshalb stellt eine Untersuchung der britischen Elitesemantiken des 20. Jahrhunderts in der Tat ein beträchtliches Desiderat der Forschung dar. Bemerkenswert ist diese Lücke nicht zuletzt wegen der zahlreichen verschiedenen Bezeichnungen, welche die britische Gesellschaft für ihre Eliten in diesem Zeitraum gefunden hat, was die Frage nach den in diese Bezeichnungen eingegangenen Bedeutungsgehalte und den ihnen zu Grunde liegenden historischen Erfahrungen aufwirft.

2. Die Elitesemantik der Boom-Ära: Declinism und Establishment Der Elite-Begriff als solcher spielte nach 1945 in der politischen Sprache Großbritanniens sowie in den einschlägigen Selbst- und Fremdbeschreibungen zunächst überhaupt keine Rolle. Die britische Elitesemantik wurde bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg von Klassenbegriffen beherrscht. Solange belastbare Daten und Interpretationen fehlen, muss der Verweis auf einige einschlägige Quellen genügen. Bekanntlich hatte George Orwell 1941 England als »the most classridden country under the sun« bezeichnet9. Und knapp 20 Jahre später eröffnete der Publizist Hugh Thomas seinen Sammelband über das »Establishment« mit den Worten: »The English are accustomed to think of their society as being organized in three classes  – upper, middle and lower.«10 Dazwischen teilte die reichlich snobistische und selbst aus der Aristokratie stammende Schriftstellerin Nancy Mitford (eine der fünf berühmt-berüchtigten Mitford-Sisters) die soziale Welt in zwei Klassen ein: Upper Class und alle anderen (»U and non-U«)11. Lassen wir schließlich noch den Wirtschaftshistoriker Richard H. Tawney zu Wort kommen, der schon früh feststellte, das Wort »Klasse« rufe viele unangenehme Assoziationen hervor und werde deshalb von vielen abgelehnt (vor allem von denjenigen, die von der gegenwärtigen Klassenstruktur überproportional profitierten), man könne ihm aber im täglichen Leben in keiner Weise entkommen12. Kurz und gut: Die Wahrnehmung der britischen Gesellschaft artikulierte sich mindestens bis in die 1950er Jahre hinein – tatsächlich weitaus länger, wenn 8 Vgl. als Überblick W. D. Rubinstein, Capitalism, Culture and Decline in Britain 1750–1990, London 1993. Der mittlerweile klassische Text dazu stammt von Martin J. Wiener, English Culture and the Decline of the Industrial Spirit 1850–1980, Cambridge 1981. Aus wirtschaftshistorischer Perspektive vgl. Tom Nicholas, Enterprise and Management, in: Roderick Floud/Paul Johnson (Hrsg.), The Cambridge Economic History of Modern Britain, Bd. 2, Cambridge 2003, S. 227–252. 9 George Orwell, The Lion and the Unicorn. Socialism and the English Genius, London 1941, S. 52. 10 Hugh Thomas, The Establishment and Society, in: ders. (Hrsg.), The Establishment. A Symposium, London 1959, S. 7–20, hier S. 9. 11 Nancy Mitford, The English Aristocracy, in: Encounter 5 (1955) H. 3, S. 5–11. 12 Vgl. Richard H. Tawney, Equality, London 1931, S. 52.

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auch nicht mehr ausschließlich – in Klassenbegriffen. Die dahinter liegende historische Erfahrung war eine der vertikalen Klassenschichtung, die in fast allen Bereichen des sozialen Lebens die Handlungsspielräume der Menschen bestimmte und die seit Generationen stabil zu sein schien. Am gebräuchlichsten waren dabei Vorstellungen einer Dreiteilung dieser Klassengesellschaft, obwohl auch andere Konzepte existierten. Diese Klassen schienen allerdings nicht ökonomisch determiniert zu sein (außer in orthodox marxistischen Modellen), sondern verbanden wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Elemente miteinander. George D. H. Coles Befund ließ sich dabei selbstverständlich auch auf politische Parteien übertragen. So mühten sich die Tories, soweit sie die Upper Class repräsentierten, in öffentlicher Rede derartige Begriffe überhaupt zu vermeiden (­ »Toryism hates the division of Englishmen into classes« hatte der konservative Politiker und Schriftsteller Duff Cooper, später Viscount Norwich, geschrieben)13, selbstverständlich ohne die bestehenden Klassenunterschiede zu leugnen, während Labour-Politiker gern verbal die Ruling-Class attackierten, um für Arbeiterinteressen zu mobilisieren. Der Historiker Asa Briggs bestätigte 1955 diese Bipolarität der britischen Elitesemantik, als er notierte, es gebe zwei Gruppen, die über Klassen sprächen: diejenigen, die sich an sozialen Unterschieden erfreuten (namentlich Angehörige der Aristokratie), und diejenigen, die die Klassengesellschaft letztlich abschaffen wollten14. Durch diese zwei Positionen war der Raum der Möglichkeiten zum Reden über die britische Elite zunächst begrenzt. Noch 1955 glaubte der libertär-sozialistische und in der Fabian Society engagierte Wirtschaftshistoriker Cole in einer soziologisch-moralischen Schrift, seinen Lesern den Begriff überhaupt erst vorstellen und erklären zu müssen15. Zwar sei der Terminus in Großbritannien tatsächlich schon gebraucht worden, nämlich von und für diejenigen mit unmittelbarem Zugang zur seinerzeit mächtigen High Society. Cole machte nicht recht deutlich, von welcher Epoche hier die Rede war; angesichts des Funktionswandels der High Society16 liegt es jedoch nahe, an die Zeit vor dem Zweiten oder sogar vor dem Ersten Weltkrieg zu denken17. Diese Akteure hätten das französische Wort in einem radical chic als Selbstbezeichnung verwendet; doch habe sich das Wort gegenüber konkurrierenden Benennungen (nobs, toffs, upper ten) eben nicht durchgesetzt. Für die kontinentaleuropäische, von Soziologen (gemeint war wohl vor allem Pareto) geprägte Bedeutung des Elite-Begriffs, in der die historischen Aristokratien nur eine von vielen möglichen Ausprägungen darstellten, habe sich nie ein englisches Wort gefunden: 13 Zit. nach: Cannadine, Class in Britain, S. 137. 14 Vgl. Asa Briggs, U-, M- and W-, in: The New Statesman and Nation vom 26.11.1955, S. 724 f., hier S. 724. 15 Vgl. George D. H. Cole, Élites in British Society, in: ders., Studies in Class Structure, London 1955, S. 101–146. 16 Vgl. Ross McKibbin, Classes and Cultures. England 1918–1951, Oxford 1998, S. 22–37. 17 Vgl. Cole, Élites in British Society, S. 102 f.; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 103.

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»No english word was found for it, and the French word slipped into the technical ­language of Politics and Sociology just as it was slipping out of use in its older, ›high ­society‹ sense. It has never become truely naturalized in this second usage: there is still, for any Englishman who uses the term, a sense of applying a foreign concept to a ­British situation.«

Aus zwei Gründen fand der Elite-Begriff laut Cole in Großbritannien also keine Verbreitung: Erstens erschien der Terminus in seiner szientistischen Ausprägung als sozial und historisch abstrakter Begriff, das heißt hier als generische Bezeichnung für Herrschaftsgruppen aller Art, und deshalb erschien er auch als ungeeignet für eine Popularisierung, obwohl der deutsche Fall zeigt, dass es durchaus möglich ist, einen derart abstrakten Terminus in der politischen Sprache zu verwenden, etwa in den Auseinandersetzungen über das Bildungssystem mit ihrer Unterscheidung zwischen misstrauisch beäugten sozialen Eliten und offensiv geforderten Leistungseliten18. Und zweitens widersprach der paretianische Elite-Begriff ganz eindeutig aller historischen und gegenwärtigen Erfahrung in England, weil er bei aller konzeptionellen Offenheit doch einen Bias auf dem Faktor der individuellen Leistungsauslese der Elitemitglieder besaß, während »the old aristocracies […] were essentially hereditary in their basis«19. Trotzdem blieb Cole in seinem Text bei dem Kunstwort Elite. Seine Ausgangs­ frage lautete, wer die wirklichen Machthaber des Landes seien (»who really governs Great Britain to-day?«) – eine Frage, die bereits impliziert, dass diese wirklichen Machtinhaber nicht so unmittelbar sichtbar sind wie vielleicht angenommen. Die Einzelbefunde auf den in Frage kommenden Handlungsfeldern (Kirche, Unternehmen, Gewerkschaften, Parlament und Regierung) interpretierte Cole als Auflösung der ehemals stabilen Verbindung zwischen der Upper Class und den zentralen politisch-gesellschaftlichen Entscheidungspositionen, mit anderen Worten: Die Mitglieder der Positionselite waren früher auch Mitglieder der Upper Class gewesen. Diese Verbindung habe sich (spätestens) seit dem Zweiten Weltkrieg aufgelöst  – nicht umsonst diskutierte Cole zu allererst James Burnhams ähnlich gelagerte These der »Managerrevolution«20. Die gegenwärtige Sozialstruktur Großbritanniens sei daher gekennzeichnet durch eine Mehrzahl einander überschneidender Machtgruppen in verschiedenen Handlungsfeldern. Die einstmals stabile Klassenschichtung sei erodiert. Aus dieser Feststellung, dass sich eine einzelne und kohärente Machtelite nicht hatte identifizieren lassen, sondern nur unterschiedliche funktionale Teileliten, schloss er, dass die britische Gesellschaft über erstaunlich große Freiheitsgrade verfüge – vielleicht über größere als in anderen Ländern –, wenig(er) anfällig für diktatorische Experimente sei und kontinuier18 Vgl. Morten Reitmayer, Comeback der Elite. Die Rückkehr eines politisch-gesellschaftlichen Ordnungsbegriffs, in: AfS 52 (2012), S. 433–458. 19 Cole, Élites in British Society, S. 103; das folgende Zitat findet sich ebenda, S. 101. 20 Vgl. ebenda, S. 105 f. Cole lehnte Burnhams These aus methodischen Gründen ab. Vgl. James Burnham, The Managerial Revolution, New York 1941.

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liche (Macht-)Kompromisse der britischen Sozialstruktur angemessener seien als ein revolutionärer Alles-oder-Nichts-Eskapismus21. Dass Coles Argumentation und die von ihm verwendete Semantik (unter anderem der Elite-Begriff selbst) für die weiteren Auseinandersetzungen zunächst folgenlos blieben, ist vermutlich auf zwei Ursachen zurückzuführen: Erstens mochte die These der Auflösung des Konnex’ zwischen Upper Class-Zugehörigkeit und der Besetzung von Entscheidungspositionen richtig sein oder auch nicht (in langer Perspektive war sie es sicherlich)  – mit der alltagspraktischen Wahrnehmung der Briten, dass politische Macht, Reichtum, Ansehen und kultureller Einfluss sich in den Händen einer kleinen Gruppe konzentrierten und dass Klassengrenzen ihr Leben bestimmten, waren Coles Thesen nicht in Übereinstimmung zu bringen. Tatsächlich überschätzte Cole vermutlich die funktionale Professionalität der britischen Unternehmerschaft (die sich gerade von den wettbewerbsintensiven Weltmärkten in den Schutz des Commonwealth zurückzog), und er unterschätzte auch die Appropriationschancen an Unternehmensprofiten, die sich aus klassengebundenen sozialen Netzwerken – statt aus individuellem Leistungserfolg – ergaben. Und zweitens bestand wohl schon während der 1950er Jahre kaum Nachfrage nach dieser Art von Affirmation des politischsozialen Systems Großbritanniens. Gleichwohl zeugt Coles Argumentation von einer qualitativen Differenz gegenüber der erfahrungsgesättigten Selbstverständlichkeit der britischen Klassengesellschaft: Als doxa, die alle Erörterungen und Auseinandersetzungen über die britischen Eliten auf Klassenbegriffe begrenzte, war diese Klassenschichtung tatsächlich brüchig geworden22. Diese Möglichkeit, sich die britische Gesellschaft überhaupt jenseits ihrer Klassengrenzen vorstellen zu können – Voraussetzung aller gesellschaftlichen Reform, Reformbemühungen und Reformversprechen und der Erwartung gesellschaftlichen Wandels überhaupt – muss meines Erachtens unbedingt zu den politisch-ideellen Kernelementen des Nachkriegskonsenses und der Konsensära gerechnet werden. Dass die relative Folgenlosigkeit23 von Coles Beitrag nicht einem allgemeinen Desinteresse an den britischen Eliten geschuldet war, zeigt das Aufsehen, das ein verhältnismäßig kleiner Zeitungsartikel im gleichen Jahr (1955) erregte. Der liberalkonservative Publizist Henry Fairlie prägte – eher en passant – in einem Artikel für den Spectator einen zentralen Begriff für die folgende Diskussion: Establish­ ment. Fairlie kritisierte den politischen Umgang mit der Spionage-Affäre der »Cambridge Five« und sah hinter den Vertuschungen das Establishment am Werk: 21 Vgl. Cole, Élites in British Society, S. 145. 22 Zum Doxa-Begriff allgemein und zur Elite-Doxa in der Bundesrepublik vgl. Morten Reitmayer, Elite. Sozialgeschichte einer politisch-gesellschaftlichen Idee in der frühen Bundesrepublik, München 2009. 23 Kaum einer der im Folgenden untersuchten Beiträge verwies auf Coles Text, oder setzte sich gar mit diesem intensiver auseinander. Der Historiker Asa Briggs (U-, M- and W-) lobte zwar insbesondere Coles Text über die britischen Eliten, bemängelte aber die Unentschiedenheit des Buchs zwischen wissenschaftlicher Arbeit und politisch-intellektueller Intervention, so dass es letztlich den Anforderungen keines Genres genüge.

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»By the ›Establishment‹ I do not only mean the centres of official power – though they are certainly part of it – but rather the whole matrix of official and social relations within which power is exercised. The exercise of power in Britain (more specifically, in England) cannot be understood unless it is recognised that it is exercised socially. […] The ›Establishment‹ can be seen at work in the activities of, not only the Prime Minister, the Archbishop of Canterbury and the Earl Marshall, but of such lesser mortals as the chairman of the Arts Council, the Director General of the BBC […], not to mention divinities like Lady Violet Bonham Carter.«24

Zweierlei war bemerkenswert an Fairlies Begriffsbestimmung: Erstens unterstrich er besonders stark die Beziehungen zwischen der politischen Sphäre und den kulturellen Mächten (Anglikanische Kirche, Institutionen zur Förderung der schönen Künste, Massenmedien), was sowohl dem kulturellen – man denke an die Bedeutung der »angry young men« für die Literatur der 1950er Jahre – als auch dem ökonomischen Klima jenes Jahrzehnts geschuldet war, als der relative wirtschaftliche Niedergang noch weniger sichtbar gewesen war (»you never had it so good«). Die Beziehungen zwischen Politik und Unternehmerschaft, besonders zur Londoner City, spielten hier noch keine Rolle. Zweitens legte er Wert darauf, dass die Macht des Establishments auf seinem sozialen, hinter den Fassaden der Institutionen verborgenen Einfluss beruhte, personifiziert in der keinerlei politisches Amt innehabenden Lady Violet Bonham Carter. Fairlie formulierte an ihrem Beispiel auch den kategorialen Einwand gegen jede positionale Definition einer Machtelite: »A study of her activities during the past twenty­ years would reveal how power in this country can still be exercised by someone who has, politically, been stripped of it.« Auch wenn der Begriff Establishment selbstverständlich nicht in allen der nachfolgenden Beiträgen dieses Erörterungszusammenhangs zu finden ist, so prägte sein Bedeutungsgehalt doch weite Teile der britischen Diskussion für Jahrzehnte25. Establishment statt Elite, und zwar wegen des starken sozialmoralischen Konnex’ zwischen den Positionsinhabern über die Grenzen der verschiedenen Handlungsfelder hinweg – in dieser dominanten Begriffsbildung bestand das Vermächtnis der Erörterungen der 1950er Jahre über die britischen Eliten. Hier verdichtete sich ein Erörterungszusammenhang, der um 1960 mit einer zusätzlichen Problemwahrnehmung verbunden wurde. Der seit der Suez-Krise 1956 immer stärker sichtbar werdende Niedergang Großbritanniens als Industrie- und Weltmacht legte es nahe, die politischen, ökonomischen und administrativen Entscheidungseliten auf ihre Verantwortlichkeit 24 Harry Fairlie, Political Commentary, in: The Spectator vom 23.9.1955, S.  379 ff., hier S. 380; das folgende Zitat findet sich ebenda. 25 Etwa durch den einflussreichen Sammelband von Thomas (Hrsg.), Establishment, zu dem Fairlie einen Beitrag über die BBC beisteuerte. Hugh Thomas wurde später von Premierministerin Margaret Thatcher geadelt und war in den 1980er Jahren Chairman des neokonservativen Think Tanks Centre for Policy Studies.

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für den Niedergang hin zu prüfen. Schnell kristallisierten sich hier zwei Interpretationsrichtungen heraus: Einige Autoren vertraten die Ansicht, es seien gewissermaßen die falschen Elitegruppen, die vor allem die wirtschaftspolitischen Entscheidungen träfen26. Diese Antworten reproduzierten den seit dem 19. Jahrhundert bekannten Gegensatz zwischen provinziellem Industrie- und metropolitanem Bankkapital und folgerten, dass die Wirtschaftspolitik einseitig die Banken zu Lasten der Industrie (und damit zu Lasten der Arbeiterklasse) begünstige, weil die Banken über den größeren politischen Einfluss verfügten – eine Auffassung, die die neuere Wirtschaftsgeschichte zumindest teilweise bestätigt hat27. Die andere, argumentativ weitergehende Richtung diagnostizierte eine fortgeschrittene Verkrustung der gesamten britischen Entscheidungseliten, mit ausgesprochen negativen Folgen für deren typisches Entscheidungshandeln. Die folgenden Diskussionen wurden wieder maßgeblich von einem Publizis­ ten vorangetrieben, nämlich von Anthony Sampson. Dieser veröffentlichte zwischen 1962 und 2004 unter dem Titel »Anatomy of Britain« insgesamt sechs Mal eine umfassende Darstellung der britischen Eliten und ihrer Institutionen, die bis auf die »Anatomy of Britain today« von 1965 jeweils zu Beginn des Jahrzehnts erschienen28. Sampson, ein sozialliberaler Journalist (von 1955 bis 1966 gehörte er der Redaktion des »Observer« an; 1981 war er der Mitgründer der ­Social ­Democratic Party) mit langjähriger Auslandserfahrung und starken Interessen an Themen der Verflechtungen zwischen politischen und wirtschaftlichen Akteuren, verfasste auch Bücher über die Öl- und die Waffenindustrie29, über Industrieeliten30 und die Finanzindustrie31 sowie über die Bedeutung Europas für Großbritannien32. Sampson avancierte mit den zusammen über 3300 Seiten seiner sechs »Anatomien« und auch den anderen genannten Büchern gewissermaßen zum Chronisten der britischen Eliten in der Epoche des Niedergangs sowie des zweifelhaften Wiederaufstiegs. In diesem Werk entwarf er – auf hohem publizistischem Niveau, mit analytischer Tiefenschärfe und zeithistorischen Perspektiven  – ein Gesamtbild der britischen Eliten, die er als ­»interlocking­ circles« präsentierte, also als eine Vielzahl von einander berührenden Kreisen, 26 Vgl. etwa Michael Barrat-Brown, The Controllers. A Research Document of the British Power Elite, in: Universities & Left Review 2 (1957), S. 53–61. 27 Dies ist einer der zentralen Bausteine der Thesen von Cain/Hopkins, British Imperialism. 28 Vgl. Anthony Sampson: Anatomy of Britain, London 1962; Anatomy of Britain today, London 1965; The New Anatomy of Britain, London 1971; Changing Anatomy of Britain, London 1982; The Essential Anatomy of Britain: Democracy in Crisis, London 1992; Who Runs This Place? The Anatomy of Britain in the 21st Century, London 2004. 29 Vgl. Anthony Sampson: The Seven Sisters. The Great Oil Companies and the World they shaped, London 1975; The Arms Bazaar. The Companies, the Dealers, the Bribes: from­ Vickers to Lockheed, London 1977. 30 Vgl. Anthony Sampson: The Sovereign State. The Secret History of ITT, London 1973; Company Man. The Rise and Fall of Corporate Life, London 1995. 31 Vgl. Anthony Sampson, Money Lenders, London 1981. 32 Vgl. Anthony Sampson, The New Europeans. A Guide to the Workings, Institutions and Character of Contemporary Western Europe, London 1968.

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die jedoch nicht konzentrisch angeordnet waren, so dass sich in diesem Bild kein eindeutiges Machtzentrum identifizieren ließ, sondern als ein Geflecht von komplementären und konkurrierenden Machtgruppen und Institutionen. Die ersten drei »Anatomien« enthielten jeweils eine Abbildung dieses Elite-Modells, das indirekt Coles These bestätigte. Doch weniger Sampsons Morphologie der britischen Eliten erklärt seinen Erfolg als vielmehr seine argumentative Stoßrichtung und die von ihm verwendete Elitesemantik. Sampsons zentrales Thema war der Niedergang Großbritanniens nach 1945. Die drei einleitenden Zitate seiner ersten »Anatomie«, die alle den Abstieg des Landes thematisieren – davon eines vom Duke of Edinburgh aus dem Oktober 1961: »Just at the moment we are suffering a national defeat comparable to any lost military campaign, and, what is more, self-inflicted.«33 – machen dieses Anliegen unmissverständlich deutlich. Um diesen Abstieg zu erklären, schrieb er »about the people who are responsible for running the country and its institutions«34. Denn die Frage war, weshalb sich die wirtschaftliche ­Dyna­mik in Großbritannien so unterdurchschnittlich entwickelte, und weshalb sich das Land nicht in ausreichendem Maße zu Wandel und Reformen aufzu­raffen vermochte. Und die Antwort fand er in seinen schwerfälligen und verkalkten Institutionen – vor allem in den heute sogenannten Eliteschulen, also den Public Schools und den Colleges von Oxbridge, und den von ihnen vermittelten Werten, die wiederum die Professionalisierung der Unternehmensführung (in diesem Deutungshorizont war das der zentrale Hebel der Modernisierung!) blockierten – ebenso wie in seinen altmodischen Eliten. Für diese überholte Machtstruktur fand Sampson eine überaus einprägsame Metapher: Großbritanniens Machtfeld gleiche einem Museum35. Bereits in der ersten Ausgabe diskutierte Sampson das Problem ausführlich in einem Interview mit dem reformis­tischen Labour-Politiker Hugh Gaitskell: »Sampson: To what extent is the lack of dynamic in industry linked with the actual managerial structure of family firms and the social traditions in industry? Gaitskell: […] ›Social tradition‹ is, I would guess, far more the villain of the piece, if you mean the kind of snobbery I have been talking about. And, personally, I think the public school system and the influence it must carry quite a bit of the blame. You have a set of s­ ocial values, encouraged by the public schools, that it is really not done to be too professional, that what wins renown and social repute is not whether you sold a large number of motor-­cars to the United States but what sort of handicap you’ve got at golf. It is an ­attitude which often still looks upon industry as something inferior to the professions of the civil service of even finance. It is a nineteen-century hangover, as it were, which the public schools preserve and I think this is a bad thing.«36 33 Sampson, Anatomy of Britain, S.VI . 34 Sampson, Changing Anatomy of Britain, S. XXI . 35 »I have aimed to offer myself as an informal guide to a living museum«. Sampson, Anatomy, S. XI; fast wörtlich wiederholt in Sampson, Anatomy of Britain today, S. XIV. 36 Sampson, Anatomy of Britain, S. 110.

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Tatsächlich nahm das Leitmotiv von Sampsons Darstellung sehr weitgehend die später von Martin Wiener37 verbreitete, unter Wirtschaftshistorikern umstrittene, aber politisch (zum Beispiel bei Margaret Thatcher38) einflussreichen These der gentryfication der britischen Unternehmer vorweg. Zu viele englische Unternehmer interessierten sich, so Sampson, »mehr für Ansehen und Politik als für Gewinne«39. Denn die Rolle des Establishments (sic!) bestehe darin, dass »it ­creates  a closed, self-contained circle which favours hereditary amateurs against self-made professionals, produces ›old-boy‹ agreements between banks and business, and acts as a drag on ambition and dynamic«40. »What is needed is to turn the sons of gentlemen into businessmen: the sons of amateurs into professionals.«41 Die wichtigsten Ursachen machte Sampson in der Struktur des britischen Bildungssystems aus, das noch in den 1960er Jahren »still the old classridden one of 1944« gewesen sei. Die Auswirkungen der selbstgewählten sozialen­ Isolation der Public Schools auf die ganze britische Gesellschaft und vor allem auf den sozialmoralischen Entscheidungshorizont der britischen Eliten durchzog nach Sampsons eigener Aussage seine »Anatomie« als Leitmotiv. Den fatalen Beitrag Etons zum sozialen Wandel in Großbritannien sah er in »turning a plutocracy into an aristocracy«. Damit hatte sich eine dritte, und zwar sozialliberale und reformistische Variante britischer Elitesemantik etabliert. Sie speiste sich bis in die 1970er Jahre hinein vor allem aus der Problematisierung des sichtbaren ökonomischen Nieder­gangs des Landes. Für diesen machte sie vor allem ein in den elitären Bildungsinstitutionen vermitteltes Ethos verantwortlich, das die Professionalisierung und die Autonomisierung der Unternehmensführung gegenüber dem Lebensstil der alten Aristokratie verhinderte und damit die notwendige ökonomische Dynamik ­blockierte. Für die britische Elite verwendete Sampson die Bezeichnung »Establishment«, um ihren engen sozialen Zusammenhalt über die Grenzen unterschiedlicher Handlungsfelder hinweg hervorzuheben, und »Elite«, gelegentlich auch »Mandarin«, um ihre soziale Selbstabschließung und Abgehobenheit vom Rest der Gesellschaft zu unterstreichen. Beide Termini verwendete er also durchaus im pejorativen Sinne. Die weitere Terminologie war überwiegend von deskriptiven Bezeichnungen geprägt, wie »aristocracy«, »bankers/­citymen« oder »men of industry«. Diese, auf der Möglichkeit gesellschaftlicher Reformen beruhende und vor allem auf den Abbau von Klassenschranken und -beschränkungen in den Köpfen der Briten hin orientierte Elitenkritik, welche die britische Gesellschaft verändern, aber nicht umzustürzen beabsichtigte, stellte die Elite37 Wiener, English Culture and the Decline of the Industrial Spirit. 38 Vgl. Harold James, Europe: Cultural Adjustment to  a New Kind of Capitalism? http:// capitalism.columbia.edu/files/ccs/CCSWP18_James.pdf. 39 Sampson, Wer regiert England?, S. 139. 40 Sampson, Anatomy, S. 21. 41 Sampson, Anatomy of Britain today, S.  205; das Folgende nach ebenda, S.  192 (Zitat), S. 204 f. und S. 201 (Zitat).

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semantik der Konsensära par excellence dar, weil sie das Einverständnis mit den politischen Grundwerten der Zeit mit der Bereitschaft verband, Konsequenzen aus dem relativen Niedergang des Landes zu ziehen, ohne ganze Bevölkerungsgruppen von den Früchten der Reformen auszuschließen. Plausibel blieb diese Variante der Elitesemantik allerdings nur, solange begründete Aussicht auf derart inklusive Reformen bestand. Wie viele andere sozialliberale britische Politiker und Intellektuelle erhoffte sich auch Sampson – und dies war geradezu ein feststehender Topos – von einer Integration Großbritanniens in die Europäische (Wirtschafts-)Gemeinschaft einen starken modernisierenden Impuls zur Überwindung oder Verflüssigung der verkrusteten Strukturen Großbritanniens – auch und vor allem seiner Eliten42. Doch diese Hoffnungen wurden ebenso enttäuscht wie das Vertrauen auf Politiker, die einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel versprachen, wie Harold Willson es 1964 getan hatte (»the white heat of technological change« als Motor auch sozialer Veränderungen)43. Bereits zehn Jahre nach Erscheinen der ersten »Anatomie« bekannte Sampson: »My approach may be less romantic [im Vergleich zu den beiden ersten Auflagen], and more sceptical.«44 Zweifellos sei ein Wandel eingetreten – obwohl es eine verbreitete Stimmung gebe, dass »only the names have changed«. Doch der Wandel, der tatsächlich eingetreten sei, habe lediglich eine Machtverschiebung zwischen einzelnen Elite-­Gruppen bewirkt, beziehungsweise einige ältere »Eliten-Probleme« beseitigt und dafür neue geschaffen. Eine Modernisierung der Machtstruktur sei gerade nicht erfolgt. Die Enttäuschung über diese immer wieder von den Politikern versprochene, doch stets ausgebliebene Modernisierung prägte dann überdeutlich die folgende »Anatomie« aus dem Jahr 1982. Schon die Einleitung war mit »Change and Decay« überschrieben: Wandel und Verfall45. Der Wandel war unübersehbar (Thatchers berühmte Antwort auf die Frage: »What have you changed?  – I have changed everything« leitete den Text ein), aber die Modernisierung der Machtstruktur war ausgeblieben, und der wirtschaftliche Niedergang war unübersehbar46.

42 »Der Verfall unseres internationalen Ansehens setzt uns immer mehr äußeren Einflüssen aus – sowohl in der Religion als auch in der Politik. Englands Eintritt in den Gemeinsamen Markt könnte daher das religiöse Leben des ganzen Landes noch rechtzeitig umformen.« Sampson, Wer regiert England?, S.  194. Selbst der konservative Politiker Iain ­Macleod bekannte gegenüber Sampson 1961 off the record, ohne Beitritt zur EWG »werden wir eine Art Portugal«. Sampson, Changing Anatomy of Britain, S. XX . Vgl. auch das Kapitel »Britain and Europe«, in: Sampson, New Anatomy of Britain, S. 655–673. 43 Vgl. Malcolm Pearce/Geoffrey Steward, British Political History 1867–1990. Democracy and Decline, London 1992, S. 485–490. 44 Sampson, New Anatomy, S. XV; das folgende Zitat findet sich ebenda. 45 Sampson, Changing Anatomy, S. XVII; das folgende Zitat findet sich ebenda. 46 Vgl. ebenda, S.  XVIII–XXI; das folgende nach diesem Buch, S.  475 (Zitat), S.  XXI und S. 480 ff.

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»The traditional British elite, fortified by their ancient schools and Oxbridge colleges, have maintained their edge over others – at some cost to the country. Their values are less closely related to technology and industry than to pre-industrial activities such as banking and the army […] Britain found it much harder to change her social structure to ensure her commercial survival.«

Dennoch keimte vorsichtige Hoffnung auf, ablesbar schon an der verwendeten Begrifflichkeit: Das »Museum« war einem »Labyrinth« gewichen. Die Schwierig­ keiten, Großbritannien planvoll zu verändern, hatten sich nicht verringert, aber Margaret Thatchers robuste Entscheidungsfreudigkeit und ihr Veränderungswille – selbst wenn diese nach Sampsons Ansicht teilweise von falschen Voraussetzungen wie ihrem Antisozialismus ausgingen  – schienen einen wirklichen Wandel zumindest möglich zu machen.

3. Die neokonservative Elitesemantik nach dem Boom Zwei Umstände trugen dann sehr schnell zum Niedergang dieser sozialliberalen und reformistischen Elitesemantik bei: Erstens das Ausbleiben einer inkrementellen Modernisierung der innerbritischen Machtstruktur, die es ermöglicht hätte, eine wirtschaftliche und soziale Dynamik zu entfachen, von der alle sozialen Schichten – die untere stärker als die obere – profitiert hätten. Und zweitens die Rückkehr unverhüllter materieller Interessendurchsetzung und sozialer Härten in der Ära Thatcher. Dennoch kehrte das semantische Feld der Rede über die britischen Eliten nach dem Niedergang der sozialliberal-reformerischen Position jenseits von Status Quo-Legitimierung und rhetorischem Klassenkampf nicht einfach in den Zustand vor 1955/60 beziehungsweise vor 1945 zurück, sondern erhielt seine Gestalt jetzt durch eine neue Kräftekonstellation. Die wichtigste Neuerung bestand sicherlich im Entstehen einer neuen konservativen Rede­weise, die sich Teile der sozialliberalen Semantik zu eigen machte, ohne deren reformistische Stoßrichtung zu übernehmen. Auch aus (neo-)konservativer Sicht konnten verkrustete Eliten die wirtschaftliche Dynamik des Landes blockieren. Ein besonders plastisches Beispiel für die neue konservative Elitesemantik stellt die dreiteilige Artikelserie dar, die der Journalist John Lloyd 1988 in der »Financial Times« veröffentlichte. Zwar annoncierte die Zeitung die Serie als ein Beitrag über »Britain’s new élite« – ein Anzeichen dafür, dass der Elite-­Begriff mittlerweile Eingang in die politisch-soziale Sprache gefunden hatte, und zwar durchaus in der nämlichen Bedeutung, in der ihn auch Anthony Sampson zunehmend verwendet hatte, also als pejorative Bezeichnung für die Machtkonzentration einer kleinen, sozial exklusiven Gruppe47. Der tragende Begriff seiner 47 Vgl. The Financial Times vom 16.7.1988: »The Crumbling of the Establishment«; das folgende Zitat findet sich ebenda.

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Darstellung – und derjenige, der einiges Aufsehen erregte – war jedoch ein anderer: Lloyd postulierte nämlich die Existenz einer ganz neuen sozialen Eliteformation: des »Disestablishment«. Dieses »Disestablishment«, so Lloyd, habe das alte Establishment an gesellschaftlicher Bedeutung mittlerweile hinter sich gelassen: »Britain is no longer run by an Establishment. In its place is a Disestablishment comprising men and women whose values, assumptions and habits are those of outsiders. Often they still perceive themselves as outsiders, radicals, anti-Establishment figures, but that is increasingly a pose. They have successfully dethroned much, though not all, of the old Establishment, and in many crucial centres of power have taken its place. The Disestablishment, like the old Establishment, is defined more by its ability to maintain and transmit a set of values, which become the dominant ones in society, than by its power and wealth. The argument is that the values transmitted by the Disestablishment are materialistic, efficient, demotic, hedonistic, internationalist and rulebreaking.«

Geschäftssinn, Effizienz, das Ohr dicht an den Wünschen des Volks (das heißt der Kunden), und der Wille, sich über Verkrustungen hinweg zu setzen – mit diesen Einstellungen entsprach das »Disestablishment« durchaus den Vorstellungen des marktradikalen Beraterkreises der Premierministerin. Nicht umsonst lautete die Überschrift des zweiten Artikels der Serie »Preaching the Market«48, denn dem Markt verdanke, so Lloyd, das »Disestablishment« seine ganze Existenz: »It is in the market that the Disestablishment sinks or swims. It is the market that the leading Disestablishment members have thrust into the Civil Service, the broadcast media, the arts, the schools, the City, industry and even Fleet Street.«49

Mit dieser Orientierung auf unternehmerischen Eifer und Marktkräfte stand das »Disestablishment« der gewerkschaftsfreundlichen und staatsinterventionistischen Politik der Tories (und damit des alten Establishments) während der Konsens-Ära nach 1945 diametral entgegen, die unter der Bezeichnung »Butskellism«50 bekannt geworden war. »Butskellism« und Gewerkschaften – das waren die Feindbilder des neuen »Disestablishment«: »The thing we really hated most of all was Butskellism. We identified the Whigs as the real enemies in British history because they always smoothed over everything.«51 »Butskellism« habe es »allen recht machen« und mittels staatlicher Steuerung Wohlstand für alle52 schaffen wollen – ganz im Sinne des alten One-Nation-Konservatismus des Tory-Establishments. 48 Vgl. The Financial Times vom 18.7.1988: »Preaching the Market«. 49 The Financial Times vom 16.7.1988: »The Crumbling of the Establishment«. 50 Ein Wortspiel aus dem Nachnamen von R. A. Butler und Hugh Gaitskell, den führenden Wirtschaftspolitikern von Konservativen und Labour während dieser Ära, das die Ähnlichkeiten ihrer Politik ausdrücken sollte. 51 The Financial Times vom 16.7.1988: »The Crumbling of the Establishment«. 52 Als programmatischer Schlüsseltext gilt hier die Ankündigung des damaligen Schatzkanzlers R. A. Butler aus dem Jahr 1954, der britische Lebensstandard könne innerhalb der kommenden 25 Jahre verdoppelt werden. Zit. nach: Arthur Marwick, A History of the Modern British Isles 1914–1999, Oxford 2000, S. 206.

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Und diese Wirtschafts- und Sozialphilosophie wurde nicht ganz zu Unrecht verdächtigt, diejenigen sozialen Härten zu vermeiden, die den Neokonservativen wie den »Disestablishment«-Aufsteigern notwendig für die Rückkehr wirtschaftlicher Dynamik erschienen. Gewerkschaftliche Vertretungen wurden von Alan Sugar, einem der erfolgreichsten Unternehmer Großbritanniens und »Quintessenz des Disestablishment« (Sugar war der Gründer des Amstrad-Konglomerats, sein Privatvermögen wurde auf über 800 Millionen Pfund geschätzt) als ein vollkommen überholtes, früher vielleicht einmal notwendiges, nun aber der wirtschaftlichen Dynamik im Wege stehendes Phänomen angesehen. »A hundred years ago there was a need for them, but in the Harold Wilson era they went OTT […]. I think business is fragile. One little hiccup could send you spinning down.«53 Die ideologische Nähe dieser Einstellung zur Weltsicht des Kreises um Premierministerin Margaret Thatcher ist augenfällig54. Als eine weitere emblematische Figur des »Disestablishments« galt der in Deutschland vermutlich bekanntere, auch deutlich reichere und nur wenig jüngere Richard Branson55. Wie Sugar betätigte sich auch Bransons Virgin-Gruppe auf zahlreichen unterschiedlichen Geschäftsfeldern, die schnell erobert, aber gegebenenfalls auch schnell wieder verlassen wurden; allesamt in neuen, sehr­ volatilen kundenahen Märkten für Dienstleistungen und Konsumgüter. Diese Geschäftsstrategie galt als typisch und vorbildlich für viele Angehörige des »Disestablishment«: »There are many defining characteristics of the Disestablishment, but one stands out above all. That is, the Disestablishment’s members see themselves as cutting with the grain. Their job, often, is to find out what people want and give it to them. Hence the importance of their materialistic, demotic, hedonistic values; values about which they are themselves ambivalent, since many of them – notably, the Prime Minister – are puritanical. Hence the centrality of the market to their self definition and to our society.«

Was sie in dieser Zuschreibung von der alten Geschäftswelt des Establishment unterschied, war demnach vor allem ihr unternehmerischer Habitus und ihre Einstellungen zum Unternehmer-Beruf: Immer nah an den Kundenwünschen, schnell in Entscheidungen zur strategischen Ausrichtung ihrer Unternehmen (was ihnen als Eigentümer-Unternehmer leichter möglich sein sollte als bei Kapitalgesellschaften), ohne Rücksicht auf die eigenen Beschäftigten, stets auf den eigenen wirtschaftlichen Vorteil bedacht und ohne snobistische Scheu, Massenmärkte zu bedienen. In sozialgeschichtlichter Perspektive sind hinter die Behauptung von der Verdrängung des Establishment durch das »Disestablishment« durchaus einige Frage­ 53 The Financial Times vom 18.7.1988: »Preaching the Market«. 54 Dominik Geppert, Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories (1975–1979), München 2002. 55 Vgl. The Financial Times vom 18.7.1988: »Preaching the Market«; das folgende Zitat findet sich ebenda.

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zeichen zu setzen. Die Sozialhistoriker sind gegenüber einem Machtverlust des Establishments immer skeptisch geblieben56. Das Ausmaß an Public School-Absolventen am Kabinettstisch veranlasste den früheren Headmaster von Westminster in den 1980er Jahren zu dem Ausruf: »We are back in the 18th century!«57 Bei den erwähnten Ikonen des »Disestablishments« handelte es sich möglicherweise lediglich um Repräsentanten von wenigen Aufsteigern aus der Middle Class (die es auch zur Blütezeit des exklusiven Establishments oder der Society vor 1914 immer gegeben hatte!), wenn nicht sogar in ihrer Breite lediglich um eine nachfolgende Generation aus dem Establishment selbst, die mit durchaus bekannten Geschäftstechniken auf neuen Geschäftsfeldern großen Erfolg hatte. Nicht umsonst sehen Wirtschaftshistoriker in der Konzentration auf Konsumgüter und kundennahe Dienstleistungen eine der traditionellen Stärken der britischen Wirtschaft bis in die Gegenwart58! Die Protagonisten des »Disestablishments« waren in einer Zeit tiefgreifender wirtschaftlicher Umbrüche offensichtlich fähig, sich neu bietende Marktchancen auszunutzen, und dazu waren sie umso mehr in der Lage, als es sich um Märkte handelte, welche die Vertreter des ökonomischen Establishments in den boards schwerfälliger Großunternehmen noch nicht hatten besetzen können: »Branson straddles all walks of life […] records: the youth market; chain stores: the consumers; airways (once the preserve of the big corporations); and now condoms: awareness of health, social conscience, free sex.«59 Auf der anderen Seite waren diese Repräsentanten des »Disestablishments« auch durchaus bereit, sehr schnell die kulturellen Formen des Establishment zu übernehmen: Adelstitel und andere monarchische Auszeichnungen60, Wohl­ tätigkeit, Public School-Erziehung ihrer Kinder (»the new money […] is sending its children to public schools. Alan Sugar, Amstrad’s chairman, does, because he thinks they cannot get a decent education in the state sector«)61 und exzentrische Hobbys, die eine gentlemanhafte Distanz zur Berufswelt repräsentieren. Für die Übernahme dieser kulturellen Formen wurde Richard Branson geradezu prototypisch; nicht umsonst wurde Branson von einem ministeriellen Medienberater 56 Vgl. etwa Arthur Marwick, British Society since 1945, London ³1996, S.  210–215 und S. 325–331. 57 Zit. nach: The Financial Times vom 20.7.1988: »Serving Thatcher’s Children« (John Lloyd). 58 Vgl. Sidney Pollard, Entrepreneurship 1870–1914, in: Roderick Floud/Donald McCloskey (Hrsg.), The Economic History of Britain since 1700, Bd. 2, Cambridge ²1994, S. 62–89; abgewogen Sidney Pollard, Britain’s Prime and Britain’s Decline. The British Economy 1870–1914, London 1989. 59 The Financial Times vom 18.7.1988: »Preaching the Market«. 60 Alan Sugar wurde zum Life Peer ernannt, und auch Richard Branson ließ sich adeln. 61 Die Mitglieder des »Disestablishments« kannten auch die feinen Unterschiede, die zwischen den Institutionen der Elite bestehen: »And it knows what it wants: Eton first, Harrow, Westminster, Winchester in the second rank; Marlborough, Rugby, Radley next. The Disestablishment has no allegiance to the public sector in education, no sentiment to cloud a clear-eyed view that money buys better.« The Financial Times vom 20.7.1988:­ »Serving Thatcher’s Children«.

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als »zentral« für den »irreversiblen« Prozess des »disestablishing« bezeichnet62. In ideengeschichtlicher Perspektive ist deshalb nach den soziokulturellen Gemeinsamkeiten der Propagandisten und Apologeten des »Disestablish­ments« zu fragen – handelte es sich am Ende lediglich um eher neuen radical chic eines Teils des alten Establishments? Hier müssen weitere Tiefenbohrungen vorgenommen werden, bevor belastbare Antworten gegeben werden können. Dennoch spricht viel für die Annahme einer ideengeschichtlichen Zäsur in den 1980er Jahren. Ein semantischer Wandel bestand sicherlich darin, dass nun vermeintliche Außenseiter und Aufsteiger zu den gefeierten Ikonen und Vorbildern erklärt wurden, und nicht mehr besonders orthodoxe oder exzentrische (und auf diese Weise die Orthodoxie bestätigende) Vertreter des Establishments. Weitere wichtige Aspekte des Wandels waren erstens die Entkoppelung der Beschäftigung mit der Elite von Erwartungen an inklusiven gesellschaftlichen Reformen. Zweitens richteten sich die Hoffnungen auf eine neue ökonomische Dynamik jetzt auf besonders agile und von sozialen Fesseln befreite Individuen und setzten auf deren Vorbildwirkung, und nicht mehr auf den Abbau von Klassenschranken und auf die Beseitigung eines hochmütigen Oberklassen-Snobismus. Und drittens drehte sich die neue Elitesemantik zentral um marktförmige Regulierungen beziehungsweise Deregulierungen statt um staatliche Interventionen und um institutionelle Reformen. Tatsächlich meldete der »Economist« fünf Jahre später unter dem schönen Titel »Antidisestablishmentarianism« Zweifel an der These von der Verdrängung des Establishment durch die homines novi an: Zwar sei es »Thatcherite conventional wisdom, Britain’s establishment changed radically during the 1980s, from a male, public-school, Oxbridge-educated clique to a meritocracy. In the process, the views of the establishment became less conservative, more radical, closer to those of Joe Public.«63

Doch in Wahrheit habe sich bemerkenswert wenig verändert im Sozialprofil der britischen Eliten, und die Verdrängung des Establishment sei ein »Mythos«. Der einzige Unterschied zu den 1950er und 60er Jahren bestehe darin, dass größere Teile der Entscheidungsträger die wirtschaftliche Lage nun optimistischer einschätze als damals. Man ist versucht zu sagen, mit den Gewerkschaften ging auch der Kulturpessimismus der britischen Eliten dahin. Und noch ein zweiter grundlegender Wandel hatte sich in der britischen Elitesemantik seit den 1980er Jahren ereignet: Die triumphale Rückkehr des Klassenbegriffs, und mit ihr die Betonung der unverhüllten materiellen Klasseninteressen, der Klassenkonflikte und der Klassengrenzen. Nicht umsonst wurde in den 1990er Jahren die Schicht der schwerreichen Selbständigen, Manager und Frei­ berufler, die in ihrem sozialmoralischen Entscheidungshorizont gewissermaßen die historische Verbindung aus Establishment und »Disestablishment« darstell62 The Financial Times vom 18.7.1988: »Preaching the Market«. 63 The Economist vom 31.7.1993: »Antidisestablishmentarianism«.

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ten, als »Super Class« tituliert64. Doch auch diese Rückkehr des Klassenbegriffs zur dominanten Kategorie der Elitesemantik stellte keine einfache Wiederherstel­ lung der Konstellation vor den 1950er Jahren dar. Ausweislich des Sprachgebrauchs einiger einschlägiger Zeitungen und Zeitschriften (»The Times«, »Times Literary Supplement«, »Financial Times«, »The Economist«) vollzog sich nämlich seit 1950 ein Wechsel von der Plural- zur Singularform: Aus den Upper ­Classes wurde die Upper Class, und aus den Ruling Classes (beginnend etwa ein Jahrzehnt früher) die Ruling Class65. Diese semantische Verschiebung ist allein schon deshalb bemerkenswert, weil sie einigen soziologischen und sozialhistorischen Grundannahmen über die fortschreitende Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften diametral zuwiderläuft. So gesehen hätte der Wandel von der Singular- zur Pluralform verlaufen müssen, wie es in den sozialwissenschaftlichen Diskursen, etwa über die Middle Classes, auch tatsächlich geschah. Offenbar hatte die Pluralform  – gemeinsam mit konkurrierenden Bezeichnungen wie Aristocracy oder Nobility – in der ersten Jahrhunderthälfte dazu gedient, stärker die soziokulturellen Unterschiede innerhalb der Elite auszudrücken. Nach dem Boom dagegen, das heißt seit etwa 1980, als sich die Singularform offensichtlich durchgesetzt hatte, betonte diese vor allem die soziale Geschlossenheit und die politisch-ökonomische Interesseneinheit, aber auch die interessenpolitische Verhärtung, der britischen Elite. Beispielhaft für diese Sichtweise sind etwa die Schriften des Soziologen John Scott, der zwischen den ausgehenden 1970er Jahren und den 1990er Jahren zahlreiche Bücher herausgab oder selbst verfasste, in denen er sich um eine Analyse der ökonomischen und politischen Machtkonzentration in Großbritannien bemühte66. Eine ganze Reihe seiner Befunde und Interpretationen indizieren dabei den Wandel der Diskussion sowohl gegenüber den Erörterungen der 1950er Jahre (und davor) als auch gegenüber der reformistisch-sozialliberalen Position der 1960er und 1970er Jahre. Im Kern liefen Scotts Analysen darauf hinaus, dass Großbritannien seit dem 19. Jahrhundert kontinuierlich von einer sehr kleinen, 64 Vgl. Andrew Adonis/Stephen Pollard, A Class Act. The Myth of Britain’s Classless Society, London 1997, S. 67–102. 65 In der Times übertraf die Singularform Upper Class die Pluralform Upper Classes seit den 1940er Jahren, signifikant allerdings erst seit dem Folgejahrzehnt. Im Times Literary ­Supplement verhielt es sich genauso. In der Financial Times war die Singularform erst seit den 1960er Jahren dominant, im Economist bereits seit den 1950er Jahren. Beim Terminus Ruling Class/Ruling Classes überwog der Singular in der Times seit den 1950er Jahren, im Times Literary Supplement bereits seit den 1920er Jahren, in der F ­ inancial Times erst seit den 1960er Jahren und im Economist signifikant seit den 1940er Jahren. Eigene Berechnung nach Material in: The Times, Digital Archive; Times Literary Supple­ ment, Historical Archive; Financial Times, Historical Archive; The Economist, Historical Archive. 66 Vgl. John Scott: Corporations, Classes and Capitalism, London 1979; The Upper Classes, London 1982; Who rules Britain?, Cambridge 1991.

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verhältnismäßig homogenen und sozial äußerst exklusiven Gruppe beherrscht wurde, für die er die Bezeichnungen »Ruling Class« beziehungsweise »Capitalist Class« wählte, wobei für ihn die »Ruling Class« offenbar eine besondere Ausprägung oder Form einer »Capitalist Class« darstellte: »A capitalist class may be regarded as forming a ruling class when its economic dominance is sustained by the operations of the state and when, alone or through a wider power bloc, it is disproportionally represented in the power elite which rules the state apparatus. […] Modern Britain has a power bloc which is dominated by its ­capitalist class. This power bloc is centred around  a power elite which has been described as an ›establishment‹ and which has its political voice in the Conservative Party. I shall also show that there is a community of interests within this power bloc and that the state’s operations reflect this balance of interests. Within this balance, the i­ nterests of the capitalist class paramount. To this extent, therefore, Britain does, indeed, have a ­ruling class.«67

Bemerkenswert ist hier zunächst, dass Scott soziologische Kategorien, die üblicherweise voneinander abgegrenzt werden (Klasse, Elite, Machtblock, Establishment) integrativ beziehungsweise aufeinander aufbauend verwendet68. Zweitens fällt auf, dass Scott mittels dieser Kategorien ein Modell der britischen Elite entwarf, das  – im Gegensatz zu Sampsons Bild der »interlocking­ circles«, also der einander berührenden exzentrischen Kreise  – konzentrisch aufgebaut war. Mit anderen Worten, während die sozialliberal-reformistischen Elitevorstellungen von unterschiedlichen, dezentralen und tendenziell miteinander konkurrierenden Machtblöcken ausgingen, behauptete die neue Elitekritik der 1980er Jahre die Konzentration politischer und ökonomischer Macht in den Händen einer winzigen Gruppe – an anderer Stelle sprach Scott von 25.000 bis 50.000 Personen (einschließlich der Familienangehörigen!), also 0,1 bis 0,2 Prozent der Bevölkerung als Kern der »Business Class«, was in etwa der »­ Capitalist Class« entsprechen dürfte69. Über eine abgestufte Hierarchie der Macht kontrollierte diese »Capitalist Class« den Staatsapparat und damit das Land. Insofern war der Titel seiner Monographie »The Upper Classes« durchaus missverständlich: Scott beschrieb gerade nicht einen mehrdimensionalen Raum der Oberklassen unterschiedlicher Machtformen, Reproduktionslogiken, Legitimationsformen und Lebensweisen, sondern ein primär ökonomisch determiniertes Machtfeld mit einem weitgehend einheitlichen Zentrum und einer abgestuften Peripherie.

67 Scott, Who Rules Britain?, S. 38 f. 68 Vgl. ganz ähnlich ebenda, S. 151 f. 69 Vgl. ebenda, S. 82, und Scott, Upper Classes, S. 124. Unter dem Gesichtspunkt der Zeit­ bedingtheit derartiger Analysen und der ihnen zu Grunde liegenden Fragestellungen spielt es daher auch keine Rolle, dass Scott den Beginn dieser Machtkonzentration bereits in den 1940er Jahren ansetzte.

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4. Zusammenfassung und Ergebnisse Die britischen Elitesemantiken veränderten sich nach Ende des Zweiten Weltkriegs zweimal grundlegend: Zunächst entstand unter dem Horizont des Nachkriegskonsenses eine neue Redeweise über die Elite, die das Bestehen der tradierten Klassengesellschaft in Frage stellte, und die konstitutiv mit der Wahrnehmung des industriellen und imperialen Niedergangs verbunden war. Diese sozial­ liberal-reformerische Elitesemantik dominierte während der Konsens-Ära die Auseinandersetzungen über die britische Elite, weil sie sich in Übereinstimmung mit den politischen Werten der Konsensära befand, vor allem durch die Ablehnung konfrontativer Klassenauseinandersetzungen und strikter Klassengrenzen sowie durch die Hoffnung auf inklusive gesellschaftliche Reformen. Ein Abbau der Verkrustungen, die das Establishment vom Rest der Gesellschaft trennten und die als Ursache wirtschaftsfeindlicher Einstellungen angesehen wurden, sollten wesentlich dazu beitragen, wirtschaftliche Dynamik wiederzuerlangen und dadurch verbreiterte Spielräume für weitere Reformen zu schaffen. Dieser Elitesemantik gegenüber waren konfrontative und sozial exklusive Semantiken vorübergehend in den Hintergrund getreten, zumindest in den öffentlichen medialen Diskursen. Während der Regierungszeit Margaret Thatchers, mit der bekanntlich die Konsens-Ära endete, verschwand auch diese sozialliberal-reformerische Elitesemantik schnell von der Bildfläche. Die Erwartungen auf Reformen waren weitgehend enttäuscht worden, und die monetaristische und auf Deregulierung angelegte Wirtschaftspolitik brachte die ökonomischen Interessengegensätze unverhüllt zum Vorschein. Die neokonservative Elitesemantik erfreute sich jedoch nicht mehr an den feinen Binnenabstufungen und Klassenunterschieden, wie es in ihrem aristokratisch geprägten paläokonservativen Vorläufer der Fall gewesen war, sondern übernahm Elemente aus der sozialliberal-reformerischen Semantik. Die Anklage mangelnder ökonomischer Dynamik richtete sich nun zwar hauptsächlich gegen die Macht der Gewerkschaften und gegen die staatsinterventionistische und inklusive Sozial- und Wirtschaftsphilosophie der Konsensära, subkutan jedoch auch gegen die Trägheit des alten Establishments. Die neuen Gallionsfiguren der Elite wurden daher als Außenseiter und soziale Aufsteiger gefeiert, die ihren individuellen Erfolg auch dem Bruch mit den unternehmerischen Einstellungen des alten Establishment verdankten. Gleichzeitig feierte diese Elitesemantik die stimulierende Kraft deregulierter ökonomischer Märkte. Die kulturellen Formen des alten Establishment, die in der sozialliberalreformerischen Elitesemantik mitverantwortlich für die wirtschaftliche Trägheit der Elite gemacht worden waren, galten nun eher als Ausweis ihrer Verwurzelung mit den Traditionen des Landes und ihrer Gemeinwohlorientierung. Gleichzeitig kehrte der Klassenbegriff mit Macht in die Auseinandersetzungen über die britische Elite zurück, weil Klassengegensätze und Klassengrenzen viel sichtbarer wurden als während der Konsens-Ära.

Britische Elitesemantiken vor und nach dem Strukturbruch 

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Diese Befunde deuten darauf hin, dass es sich sowohl bei der dominanten Elite­semantik der Konsens-Ära als auch bei derjenigen der Nach dem Boom-Ära um politisch-ideelle Phänomene einer distinkten historischen Epoche handelte. Und sie bekräftigen die Annahme eines tiefergehenden Strukturbruchs in der britischen Nachkriegsgeschichte, dessen zeitliche Verortung jedoch nicht auf das Symboljahr 1979 verkürzt werden sollte.

Abkürzungen ABM Allgemeine Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung AdsD Archiv der sozialen Demokratie, Bonn AFG Arbeitsförderungsgesetz AfS Archiv für Sozialgeschichte AG Aktiengesellschaft AHR The American Historical Review AKU Algemene Kunstzijde Unie APuZ Aus Politik und Zeitgeschichte ASF Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen AVAVG Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung BAFF Bündnis Aktiver Fußballfans BAK Bundesarchiv, Koblenz BASF Badische Anilin- & Soda-Fabrik BBC British Broadcasting Corporation BDIC Bibliothèque de documentation internationale contemporaine, Nanterre BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. Bundesgesetzblatt BIP Bruttoinlandsprodukt BSE Bovine spongiforme Enzephalopathie BWL Betriebwirtschaftslehre CBS Columbia Broadcasting System CDU Christlich-Demokratische Union CEPR Centre for Economic Policy Research Co. Company/Compagnie CPI Consumer Price Index CSU Christlich-Soziale Union D. C. District of Columbia DDR Deutsche Demokratische Republik DFB Deutscher Fußball-Bund DGB Deutscher Gewerkschaftsbund DHI Deutsches Historisches Institut DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung DM Deutsche Mark DNA Deoxyribonucleic Acid ECB European Central Bank EG Europäische Gemeinschaft EHESS École des Hautes Études en Sciences Sociales Emnid Erforschung der öffentlichen Meinung, Marktforschung, Nachrichten, Informationen und Dienstleistungen EMS European Monetary System EU Europäische Union

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Abkürzungen

EWG Europäische Wirtschaftsgemeinschaft FA Football Association FDP Freie Demokratische Partei Fed Federal Reserve System FFA Ford Foundation Archives FORBA Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt FU Freie Universität GCA Glasgow City Archives GDC Glasgow District Council G. I. P. Groupe d’information sur les prisons GKV Gesetzliche Krankenversicherung GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung G. P. Gauche prolétarienne GPO U. S. Government Publishing Office GRV Gesetzliche Rentenversicherung GuG Geschichte und Gesellschaft HPM Historisch-Politische Mitteilungen HZ Historische Zeitschrift IBM International Business Machines ICC Intercontinental Chemical Corporation ICI Imperial Chemical Industries IFSD International Finance and Service District IfZ Institut für Zeitgeschichte IFZ Institut für Zukunftsstudien IG Industriegewerkschaft IG Farben Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG IG Metall-Archiv IGMA ILO International Labour Organisation IMEC Institut Mémoires de l’édition contemporaine, Caen IMF International Monetary Fund Inc. Incorporated INFAS Institut für angewandte Sozialwissenschaft IT Informationstechnologie ITIL Information Technology Infrastructure Library I&K-Technologien Informations- und Kommunikationstechnologien JBZ Robert Jungk Bibliothek für Zukunftsfragen JMEH Journal of Modern European History KAP Knowledge, Attitudes, and Practices KDHS Kenya Demographic Health Surveys KNA Kenya National Archives KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion KZf SS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie KZO Koninklijke Zout-Organon Lkw Lastkraftwagen Ltd. limited MIT Massachusetts Institute of Technology Mitt AB Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung

Abkürzungen

NA NARA

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The National Archives of Great Britain, Kew National Archives and Records Administration, College Park/ Maryland NAS National Archives of Scotland, Edinburgh NASA National Aeronautics and Space Administration NATO North Atlantic Treaty Organization NBER National Bureau of Economic Research NL Nachlass N. V. Naamloze Vennootschap (Aktiengesellschaft) OECD Organisation for Economic Co-operation and Development ÖDP Ökologisch-Demokratische Partei o. J. ohne Jahr OLI Ownership, Local and Internalisation Advantages o.P. ohne Paginierung OPR Office of Population Research OT ohne Tarifbindung PC Personal Computer PCI Partito Comunista Italiano PDR Population and Development Review Pkw Personenkraftwagen RAC Rockefeller Archives Center, Tarrytown RAND Research And Development REFA Reichsausschuß für Arbeitszeitermittlung ROI Return of Investment RWWA Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv S. A. Sociedade Anônima (Aktiengesellschaft) SECC Scottish Exhibition and Conference Centre SOHC Scottish Oral History Centre an der University of Strathclyde, Glasgow SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands S. R. Secours rouge SSA Social Security Act TU Technische Universität TV Television UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken U. K. United Kingdom UN(O) United Nations (Organisation) UNCTAD United Nations Conference on Trade and Development US(A) United States (of America) Ver.di Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft VfZ Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte VGF Vereinigte Glanzstoff-Fabriken WBGA World Bank Group Archives, Washington D. C. WSC When Saturday Comes WSI Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut ZBZ Zentrum Berlin für Zukunftsforschung ZF Zeithistorische Forschungen

500 ZfG ZfP ZKM ZSR

Abkürzungen

Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für Politik Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe Zeitschrift für Sozialreform

Autorinnen und Autoren Dr. Andreas Boes (1959), wissenschaftlicher Mitarbeiter und Vorstandsmitglied am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V. München, Privatdozent an der TU Darmstadt. Dr. Tobias Dietrich (1972), Fachleiter für Geschichte am Staatlichen Studien­ semi­nar für das Lehramt an Gymnasien in Koblenz, teilabgeordnet als Lehrkraft für besondere Aufgaben an das Historische Seminar der Johannes GutenbergUniversität Mainz. Dr. Anselm Doering-Manteuffel (1949), Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Seminars für Zeitgeschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen. Maria Dörnemann M. A. (1983), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Zeitgeschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen. Stefan Eich M.phil. (1983), Doktorand im Fach Politikwissenschaft an der Yale University. Dr. Fernando Esposito (1975), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Zeitgeschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen. Dr. Dennis Eversberg (1978), wissenschaftlicher Mitarbeiter am DFG -Kolleg Postwachstumsgesellschaften an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Tobias Gerstung M. A. (1976), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Zeitgeschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen. Dr. Samuel Greef (1982), Politologe, freiberuflicher Wissenschaftler und Publizist. Hannah Jonas (1984), Doktorandin an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Dr. Tobias Kämpf (1978), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V. München, Lehrbeauftragter an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Martin Kindtner (1979), ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Zeitgeschichte der Eberhard Karls Universität Tübingen. Lutz Leisering Ph.D. (1953), Professor für Sozialpolitik an der Universität Bielefeld.

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Autorinnen und Autoren

Dipl.-Pol. Thomas Lühr (1981), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V. München. Dr. Christian Marx (1977), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungszentrum Europa an der Universität Trier. Dr. Maren Möhring (1970), Professorin für Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des modernen Europa an der Universität Leipzig. Dr. Lutz Raphael (1955), Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier. Dr. Morten Reitmayer (1963), Privatdozent an der Universität Trier und dort Vertreter des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte. Dr. Dieter Sauer (1944), Mitglied des Vorstands am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e. V. München, Honorarprofessor für Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dr. Thomas Schlemmer (1967), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München  – Berlin und Privatdozent am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians Universität München. Dr. Wolfgang Schroeder (1960), Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel, 2009 bis 2014 Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Brandenburg. Dr. Elke Seefried (1971), Dipl.-Betriebswirtin (FH), Professorin für Neueste Geschichte an der Universität Augsburg und Zweite Stellvertretende Direktorin des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin. Dr. Dietmar Süß (1973), Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg. Dr. Adam Tooze (1967), Professor für moderne Geschichte an der Columbia University, New York. Dr. Frank Trentmann (1965), Professor für Geschichte am Birkbeck College in der University of London. Dr. Wiebke Wiede (1974), wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Trier.