Wassily Kandinskys frühe Bühnenkompositionen: Über Körperlichkeit und Bewegung 9783110263367, 9783110263329

In his synthetic stage art known as “stage composition” Wassily Kandinsky (1866-1944) revealed his concept of the Gesamt

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German Pages 262 [264] Year 2012

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Table of contents :
Dank
1. Einleitung
1.1. Zielsetzung
1.2. Stand der Forschung
1.3. Methode
2. Körperlichkeit in den frühen Bühnenkompositionen
2.1. Körperbilder als Realisation des Geistigen – Die Einflüsse der zeitgenössischen Künste und Ideen
2.1.1. »Trachten« als Volksseele: Eingang zu einer utopischen Welt
2.1.2. Einfluss von Maurice Maeterlincks Theater für Marionetten
2.1.3. Abkömmling einer göttlichen Figur: Edward Gordon Craigs Konzepte der Übermarionette
2.1.4. Das Geistige und der Körper: Einfluss der theosophischen Bilderwelt
2.1.5. Russische Identität: Körperbilder in den Ikonen
2.2. Körperlichkeit in den frühen Bühnenkompositionen
2.2.1. Das dramaturgische Schema der Figuren
2.2.2. Semiotische Erklärung des körperlichen Zeichens
2.2.3. Körperlichkeit zwischen dem Materiellen und dem Geistigen
3. Bewegung in den frühen Bühnenkompositionen
3.1. Die Suche nach der neuen Bewegungssprache auf der Bühne
3.1.1. Isadora Duncan und »Der Tanz der Zukunft«
3.1.2. Alexander Sacharoff – Komposition der bildhaften Gestik
3.1.3. Ikonenhafte Gestik und Meyerholds Stilbühne
3.2. Kandinskys Metapher der »Bewegung« und die Bühnensynthese
3.2.1. »Bewegung« als Metapher
3.2.2. Mit der »Bewegung« zur Bühnensynthese
3.2.3. Bewegungspartitur
3.3. Bewegungspraxis in den frühen Bühnenkompositionen
3.3.1. Kandinskys Hinweise zur Bewegungspraxis
3.3.2. Theorien zur Bewegung in der Malerei
3.3.3. Die kinetischen Zeichen in den Bühnenkompositionen
3.3.3.1. Mimisches Zeichen in den frühen Bühnenkompositionen
3.3.3.2. Gestisches Zeichen
3.3.3.3. Proxemisches Zeichen
3.3.3.4. Tanz
3.3.3.5. Sonstige räumliche und zeitliche Faktoren der Bewegung
3.3.4. Das Zusammenwirken der Bewegung und der Körperlichkeit
4. Analyse der frühen Bühnenkompositionen I bis IV
4.1. Hinweise zur Interpretationsmethode
4.1.1. Christliche Ikonographie und »Offenbarungen«
4.1.2. Farbsymbolik
4.1.3. Volkssage
4.1.4. Literatur
4.2. Bühnenkomposition I Riesen und Vergleich zu Der gelbe Klang – Eine Bühnenkomposition
4.2.1. Bild I: Fünf Propheten und Cherubim
4.2.2. Bild II: Hinrichtung der Märtyrer und die gelbe Blume
4.2.3. Bild III: Davids Gründung Israels in Jerusalem und der rote Reigen
4.2.4. Bild IV: Der greise Simeon segnet das Jesuskind im Tempel
4.2.5. Bild V: Kreuzigung Christi – Erfüllung der Prophezeiung
4.2.6. Weiterentwicklung zu Der gelbe Klang
4.2.7. Schluss: Gelb als Verkündungston der Offenbarung
4.3. Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang
4.3.1 Das erste Bild: Die Verklärung Jesu
4.3.2. Das zweite Bild: Ecclesia und Synagoge
4.3.3. Schluss: Verklärung von Ecclesia und Synagoge im grünen Klang
4.4. Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß
4.4.1. Das erste Bild – Weiß: Verschwinden des Wunderbilds Mariä
4.4.2. Das zweite Bild – Schwarz: Kreuzzug
4.4.3. Das dritte Bild – Schwarz und weiß: Entschlafen der Gottesmutter und Erlösung im Grau
4.4.4. Das vierte Bild: Schwarzer Ritter und Mariä Lichtmeß, der blaue Vogel
4.4.5. Schluss: Zwischen Orient und Okzident
4.5. Bühnenkomposition IV Schwarze Figur
4.5.1. Bild I: Mondsichel und acht Menschen in Kostümen
4.5.2. 2tes Bild: Liebespaar im verlorenen Paradies
4.5.3. 3tes Bild: Schifffahrt zum Himmelreich
4.5.4. 4tes Bild: Rosenkranz im Himmelreich und Einzug der klugen Frauen als Brautjungfern
4.5.5. 5tes Bild: Erwählung des zukünftigen Reiters im Tannenwald
4.5.6. Schluss: Himmlische Hochzeit und ihr Erbe
4.6. Nachspiel (Ohne Musik)
4.6.1. Analyse von Nachspiel
4.6.2. Schluss: Aufgabe des Künstlers
5. Schluss
6. Anhang
6.1. Literaturverzeichnis
6.1.1. Abkürzungsverzeichnis
6.1.2. Quellen
6.1.3. Kataloge
6.1.4. Forschungsliteratur über Kandinsky
6.1.5. Sonstige Forschungsliteratur
6.1.6. Nachschlagswerke
6.2. Abbildungen
6.3. Abbildungsnachweis
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Wassily Kandinskys frühe Bühnenkompositionen: Über Körperlichkeit und Bewegung
 9783110263367, 9783110263329

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Studien zur Geschichte und Theorie der dramatischen Knste

Herausgegeben von Christopher B. Balme, Hans-Peter Bayerdçrfer, Dieter Borchmeyer und Andreas Hçfele Band 58

Naoko Kobayashi-Bredenstein

Wassily Kandinskys frhe Bhnenkompositionen ber Kçrperlichkeit und Bewegung

De Gruyter

ISBN 978-3-11-026332-9 e-ISBN 978-3-11-026336-7 ISSN 0934-6252 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.dnb.de abrufbar.  2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin / Boston Druck und Einband: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Gçttingen

¥ Gedruckt auf surefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Dank

Mein besonderer Dank gilt zuallererst Prof. Dr. Hans-Peter Bayerdörfer, Universität München, der diese Arbeit stets mit kritischer Aufmerksamkeit und wertvollen Hinweisen begleitete. Ohne seine freundliche Aufnahme hätte es diese Forschungsstudie nicht gegeben. Bei Prof. Dr. Claudia Jeschke, Universität Salzburg, sowie Prof. Dr. Hubertus Kohle, Universität München, bedanke ich mich herzlich für ihre fachspezifischen Beratungen. Prof. Yasuko Kataoka, Waseda University (Tokyo), möchte ich für ihre trotz großer Entfernung unveränderte Unterstützung danken. Die Museen und Archive, die mir für Bildvorlagen sowie Nutzungsgenehmigungen geholfen haben, seien sehr gedankt. Bei allen Freunden, die sich mit meinen Korrekturen beschäftigt haben und mich mit positiven Anregungen ermunterten, möchte ich mich bedanken. Die Rotary Foundation gestattete mir eine einjährige Förderung für meinen Studienaufenthalt in München. Die Friedrich-Naumann-Stiftung mit Mitteln des Auswärtigen Amtes ermöglichte mir einen weiteren Forschungsaufenthalt für das Promotionsvorhaben. Das International Institute for Education and Research in Theatre and Film Arts, Global COE Programme, Theatre Museum, Waseda University unterstützte eine weitere Forschungsphase. Dafür möchte ich mich ebenfalls bedanken. Nicht zuletzt möchte ich mich bei der Société Kandinsky bedanken, deren Zusage, mich bei der Drucklegung dieser Arbeit zu unterstützen, mir eine besondere Freude bedeutet.

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Inhaltsverzeichnis

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V 1.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1. Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2. Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.3. Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

2.

Körperlichkeit in den frühen Bühnenkompositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Körperbilder als Realisation des Geistigen – Die Einflüsse der zeitgenössischen Künste und Ideen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. »Trachten« als Volksseele: Eingang zu einer utopischen Welt . . . . . 2.1.2. Einfluss von Maurice Maeterlincks Theater für Marionetten . . . . . 2.1.3. Abkömmling einer göttlichen Figur: Edward Gordon Craigs Konzepte der Übermarionette . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.4. Das Geistige und der Körper: Einfluss der theosophischen Bilderwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.5. Russische Identität: Körperbilder in den Ikonen . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Körperlichkeit in den frühen Bühnenkompositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Das dramaturgische Schema der Figuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Semiotische Erklärung des körperlichen Zeichens . . . . . . . . . . . . . 2.2.3. Körperlichkeit zwischen dem Materiellen und dem Geistigen . . . .

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Bewegung in den frühen Bühnenkompositionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Die Suche nach der neuen Bewegungssprache auf der Bühne . . . . . . . . . 3.1.1. Isadora Duncan und »Der Tanz der Zukunft« . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Alexander Sacharoff – Komposition der bildhaften Gestik. . . . . . . 3.1.3. Ikonenhafte Gestik und Meyerholds Stilbühne . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Kandinskys Metapher der »Bewegung« und die Bühnensynthese . . . . . . 3.2.1. »Bewegung« als Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Mit der »Bewegung« zur Bühnensynthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Bewegungspartitur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Bewegungspraxis in den frühen Bühnenkompositionen . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1. Kandinskys Hinweise zur Bewegungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2. Theorien zur Bewegung in der Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3. Die kinetischen Zeichen in den Bühnenkompositionen . . . . . . . . . . 3.3.3.1. Mimisches Zeichen in den frühen Bühnenkompositionen . .

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3.

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VII

3.3.3.2. Gestisches Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.3.3.3. Proxemisches Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.3.3.4. Tanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.3.3.5. Sonstige räumliche und zeitliche Faktoren der Bewegung . . . 98 3.3.4. Das Zusammenwirken der Bewegung und der Körperlichkeit . . . . 100 4.

VIII

Analyse der frühen Bühnenkompositionen I bis IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.1. Hinweise zur Interpretationsmethode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4.1.1. Christliche Ikonographie und »Offenbarungen« . . . . . . . . . . . . . . 102 4.1.2. Farbsymbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 4.1.3. Volkssage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.1.4. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4.2. Bühnenkomposition I Riesen und Vergleich zu Der gelbe Klang – Eine Bühnenkomposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 4.2.1. Bild I: Fünf Propheten und Cherubim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 4.2.2. Bild II: Hinrichtung der Märtyrer und die gelbe Blume . . . . . . . 116 4.2.3. Bild III: Davids Gründung Israels in Jerusalem und der rote Reigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4.2.4. Bild IV: Der greise Simeon segnet das Jesuskind im Tempel . . . . . 130 4.2.5. Bild V: Kreuzigung Christi – Erfüllung der Prophezeiung . . . . . . 134 4.2.6. Weiterentwicklung zu Der gelbe Klang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 4.2.7. Schluss: Gelb als Verkündungston der Offenbarung . . . . . . . . . . . 139 4.3. Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 4.3.1 Das erste Bild: Die Verklärung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4.3.2. Das zweite Bild: Ecclesia und Synagoge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4.3.3. Schluss: Verklärung von Ecclesia und Synagoge im grünen Klang . . . 152 4.4. Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4.4.1. Das erste Bild – Weiß: Verschwinden des Wunderbilds Mariä . . . . 157 4.4.2. Das zweite Bild – Schwarz: Kreuzzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 4.4.3. Das dritte Bild – Schwarz und weiß: Entschlafen der Gottesmutter und Erlösung im Grau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4.4.4. Das vierte Bild: Schwarzer Ritter und Mariä Lichtmeß, der blaue Vogel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 4.4.5. Schluss: Zwischen Orient und Okzident . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4.5. Bühnenkomposition IV Schwarze Figur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 4.5.1. Bild I: Mondsichel und acht Menschen in Kostümen . . . . . . . . . . 168 4.5.2. 2tes Bild: Liebespaar im verlorenen Paradies. . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 4.5.3. 3tes Bild: Schifffahrt zum Himmelreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 4.5.4. 4tes Bild: Rosenkranz im Himmelreich und Einzug der klugen Frauen als Brautjungfern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 4.5.5. 5tes Bild: Erwählung des zukünftigen Reiters im Tannenwald . . . . 188 4.5.6. Schluss: Himmlische Hochzeit und ihr Erbe . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 4.6. Nachspiel (Ohne Musik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 4.6.1. Analyse von Nachspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 4.6.2. Schluss: Aufgabe des Künstlers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

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Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

6.

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 6.1. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 6.1.1. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 6.1.2. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 6.1.3. Kataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 6.1.4. Forschungsliteratur über Kandinsky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 6.1.5. Sonstige Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 6.1.6. Nachschlagswerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 6.2. Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 6.3. Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

IX

1.

Einleitung

1.1. Zielsetzung Wassily Kandinskys (1866–1944)1 synthetische Bühnenkunst Bühnenkomposition reflektiert seine tief innerliche Weltanschauung. Die frühen vier Stücke, die zu Lebzeiten des Künstlers unpubliziert in seiner Hand blieben, zeigen eine von ihm frei interpretierte Geschichte von Welt, Religion sowie Kunst. Darüber hinaus stellen sie ein kunst-religiöses Bekenntnis Kandinskys dar; er skizziert hier seine Aufgabe als »Reiter für das Geistige«. Der Reiter, der als Titelfigur des von ihm und seinem Künstlerkollegen Franz Marc herausgegebenen Almanachs Der blaue Reiter (1912) gewählt wurde, war eines von Kandinskys Lieblingsmotiven in seinem malerischen Œuvre. Kandinsky sah in der Figur das Abbild des Künstlers selbst als eines reitenden Kämpfers gegen den Materialismus. Die Tetralogie der frühen vier Bühnenkompositionen enthüllt den Werdegang sowie die Erwählung des blauen Reiters. Die vorliegende Arbeit erklärt zum ersten Mal das von Kandinsky konzipierte Schema der Körperlichkeit sowie der Bewegungssprache auf der Bühne und entschlüsselt damit die gesamten Motive der frühen vier Bühnenkompositionen. Sie stellen christlich ikonographische Figuren wie Simeon, Ecclesia, Synagoge, Maria, Kluge Jungfrauen und Christus dar und verkörpern die vom Künstler frei gewählten christlich-apokalyptischen Ideen aus den beiden Testamenten, der christlichen Ikonographie und der vom Christentum bestimmten Literatur bis zu den europäischen Volkssagen. Zum Schluss der vorliegenden Analyse wird gezeigt, dass die frühen vier Bühnenkompositionen und das anschließende Bühnenwerk Nachspiel als Epilog eine geschlossene Tetralogie bilden, die Kandinskys Gesamtbild der Welt- und Religionsgeschichte in der Vergangenheit bis zur Entstehung des geistigen Reiters in der Gegenwart darstellt. Der künstlerische Wert der frühen vier Bühnenkompositionen ist seit ihrer Entstehung umstritten. Als Kandinsky die Theorie der von ihm Bühnenkomposition genannten synthetischen Bühnenkunst2 in seiner ersten programmatischen Schrift Über das Geistige in der Kunst (Dezember 1911, datiert 1912) veröffentlichte, war dies ein Höhepunkt seiner

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Die russischen Namen werden in dieser Studie in heutiger Transkription geschrieben, soweit sie nicht innerhalb von Zitaten vorkommen, die der älteren Transliteration folgen. Dies gilt auch im Literaturverzeichnis. ÜGK, S. 125. Die Bühnenkomposition genannte neue Kunstgattung besteht aus drei abstrakten Bewegungselementen, nämlich aus Tönen, Farben und Bewegungen. Die Entwürfe enthalten hauptsächlich Regieanweisungen über Szenerie, Körperbilder der Darsteller und ihre Bewegungen und Effekte der Musik und Farben. Weder Monolog noch Dialog führt die

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gesamten Kunsttheorie.3 Darauf folgend hinterließ die Publikation des Stücks Der gelbe Klang – Eine Bühnenkomposition (1912)4 zwar einen Eindruck unter den zeitgenössischen Künstlern,5 jedoch erfuhr seine synthetische Bühnenkunst keine ausführliche Kritik, weil kurz vor der geplanten Aufführung des Stücks Violett – Eine Bühnenkomposition der Erste Weltkrieg ausbrach, so dass diese neue Kunstgattung tatsächlich nicht verwirklicht wurde.6 Dies symbolisiert das weitere Schicksal der synthetischen Kunst Kandinskys. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs fand der Traum des vom Künstler »monumentale Kunst«7 genannten Bühnenwerks keine Verwirklichung mehr. Der Künstler plante zwar im Exil in Paris, ein Ballett auf die Bühne zu bringen, er starb aber 1944 noch vor Kriegsende.8 Schließlich wurde kein einziges Stück der Bühnenkompositionen zu seinen Lebzeiten aufgeführt und die »monumentale« Bühnenkunst blieb im Schatten seines malerischen Œuvres. Anders als die zwei bekannten Stücke sind die frühen vier Bühnenkompositionen nicht publiziert worden, jedoch wurden sie ins Reine geschrieben, mit römischen Ziffern nummeriert und sind im Nachlass des Künstlers unversehrt erhalten.9 Die frühen vier Bühnenkompositionen – Bühnenkomposition I Riesen, Bühnenkomposition II Stimmen (die später in Bühnenkomposition II Grüner Klang umbenannt wurde), Bühnenkomposition III Schwarz und weiß und Bühnenkomposition IV Schwarze Figur – entstan-

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Handlung, nur ungereimte Verse werden an wenigen Stellen vorgelesen. Ein Stück umfasst zwei bis sechs Bilder. Zur Theorie der Bühnensynthese ließ sich Kandinsky von den zeitgenössischen Künsten inspirieren. Als deren Vorläufer nannte Kandinsky Schönbergs atonale Musik und das Theater des Symbolismus wie z.B. von Maeterlinck. Zu kritisieren waren jedoch neben Wagners Gesamtkunstwerk das klassische Ballett und der neue Tanz von Isadora Duncan. Auch Picasso und Matisse wurden als Pioniere in der Malerei angeführt. Die Kunstgattung Bühnenkomposition war für Kandinsky ein Monument für die avantgardistischen Künste, wie z.B. die Idee der Kollaboration der selbstständigen Töne und Bewegungen. Publiziert wurde es im von Kandinsky und Franz Marc herausgegebenen Almanach Der blaue Reiter. Schreyer 1956, S. 22. Lothar Schreyer schrieb: »Schon vor 1916 hatten führende STURMKünstler ihre revolutionierende Kraft der Bühne zugewandt. [...] Die frühen Dramen des Malers Oskar Kokoschka, die Pantomime ›Die Toten der Fiametta‹ von William Wauer mit der Musik Herwarth Waldens, Kandinskys abstraktes Spiel ›Der gelbe Klang‹, [...], zielten alle auf das Einheitswerk der Bühne.« Die durch den Münchner Dadaisten Hugo Ball geplante Aufführung von Kandinskys fünftem Stück, Violett – Eine Bühnenkomposition, von 1914 kam wegen des Ersten Weltkriegs nicht zustande. ÜGK, S. 125. Der Text in kursiv stammt von Kandinsky. Im Sommer 1939 besuchte ihn der Choreograph Léonid Massine und bot an, mit Kandinsky ein Ballett zur Neunten Symphonie Beethovens zu entwerfen, was jedoch, bedingt durch den Zweiten Weltkrieg, nicht weiterverfolgt wurde. »Noch während der letzten Monate seines Lebens dachte Kandinsky daran, ein Ballett zu entwerfen, aber seine Lieblingsidee, eine wirklich umfassende ›Bühnensynthese‹ auf dem Theater zu verwirklichen, kam nicht mehr zur Ausführung.« (Kandinsky, Nina 1999, S. 159f.) Von den ersten drei Bühnenkompositionen blieben die Notizen in Gabriele Münters Nachlass bei der Münter-Eichner-Stiftung; die vier kompletten Texte befanden sich in Kandinskys Nachlass im Centre Pompidou und wurden 1998 von Jessica Boissel herausgegeben.

den in den Jahren 1908 und 1909.10 Sie waren bereits 1910 aus der Sicht des Künstlers »ziemlich veraltet«.11 Jedoch wurde das erste Stück bis 1912 überarbeitet, und daraus entstand das oben genannte, einzig vollständig publizierte Stück Der gelbe Klang. Auch aus den restlichen drei Stücken wurden zahlreiche Motive entnommen und in das in der Bauhaus-Zeit zum Teil veröffentlichte Stück Violett integriert. So lässt sich erahnen, dass Kandinsky die nummerierten vier frühen Werke weiter behielt, weil sie für ihn einen Wert als Ideenquelle oder Vorstudie besaßen, auch wenn die gesamte Darstellung wegen seines rasch weiterentwickelten Stils »veraltet« und künstlerisch überholt war. Die frühen vier Bühnenkompositionen waren ursprünglich Produkte der engen Zusammenarbeit von drei Künstlern. Das Regiebuch und die Szenarien wurden von Kandinsky entworfen. Die Musik übernahm der russische Komponist Thomas von Hartmann12 und die Choreographie der russisch-jüdische Tänzer Alexander Sacharoff.13 Dies reflektiert das Gestaltungsprinzip der Bühnenkomposition, in denen die drei Bühnenelemente, die von Kandinsky »musikalische Bewegung«, »malerische Bewegung«, und »tanzkünstlerische Bewegung« genannt wurden, ein »selbständiges Leben führen« sollten.14 Anders als ein harmonisches Gesamtkunstwerk von Wagner wurde bei der modernen Kunstsynthese nicht nur eine »Mitwirkung« von Tönen, Farben und Bewegungen gesucht, sondern auch eine »Gegenwirkung«15 erwartet und auf ein zukünftiges Kollaborationsmodell hingewiesen, wie es später viele avantgardistische Künstler sowie Choreographen erprobten. So enthielt Kandinskys Regietext außer dem Hinweis auf die wesentlichen Ton-Effekte sowie den Bewegungsablauf weder Musiknoten noch Tanznotation, und die praktisch-technische Aufführungsfrage ist nicht zu beantworten. Jedoch kann der Regietext als primäres Forschungsobjekt der Bühnenkomposition gelten, weil gerade darin Kandinskys Vision am deutlichsten zum Ausdruck kommt. Die Schwierigkeit der Interpretation liegt jedoch darin, dass der Regietext der Bühnenkomposition hauptsächlich aus Beschreibungen der sich bewegenden abstrahierten Darsteller sowie von Objekten, Farben und Tönen besteht und nur sehr wenige Sprachtexte beinhaltet. Eine literarische Methode konnte deshalb nur fragmentarische Motive klären, die aber untereinander keinen Zusammenhang aufwiesen. So verstanden die bisherigen Forschungsarbeiten, die meistens und vorrangig das bedeutendste und im Folgenden überarbeitete Werk Der gelbe Klang untersuchten, unter manchen Motiven nur abstrakte Bedeutungen, wobei die ursprünglichen Ideen der frühen Bühnenkompo-

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Die Entstehungsjahre und die Aufführungsjahre liegen weit auseinander. Die Uraufführungen der frühen Bühnenkompositionen I bis III fanden 1987 durch ein Projekt der Hochschule für Künste Berlin und der Akademie der Künste Berlin statt. Die Videoaufnahme ist in der Bibliothek der Hochschule für Künste Berlin zu sehen. Brief von Kandinsky an Gabriele Münter (1877–1962) am 27. Nov. 1910, ÜT op.cit., S. 53. Thomas von Hartmann (Thomas de Hartmann, 1885–1956) war zuerst als Komponist tätig für das Bolschoi Theater und lernte später bei George Gurdjieff. Sacharoff (1886–1963) lernte in Paris Malerei und in München Tanz unter dem Einfluss von Isadora Duncan (1877–1927) und Sarah Bernhardt (1844–1923). ÜGK, S. 125. ÜGK, S. 126. »[...] geradeso wird die Komposition auf der Bühne unter Mit- (=Gegen-) wirkung der obengenannten drei Bewegungen möglich werden.«

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sitionen nicht berücksichtigt wurden und der Wert der »monumentalen Kunst« nicht erkannt wurde. Stattdessen wurden die frühen Werke oft als »therapeutisch«16 bezeichnet, womit die künstlerische Abgeschlossenheit sowie Konsequenz der Konzeption der Werke in Frage gestellt wurde. Welche Bezeichnung – »therapeutisch« oder »monumental« – den frühen Bühnenkompositionen angemessen ist, hängt von dem Verständnis der Werke ab. Die beiden Bezeichnungen beruhen schließlich auf subjektiver Einschätzung. Zum einen, weil der Künstler selbst, wie oben erwähnt, seine frühen Werke schon bald als »veraltet« bezeichnete und die Schaffensperiode zwischen der Erholung von seiner körperlichpsychischen Depression17 und dem Beginn der abstrakten Malerei lag. Auch bis zur Publikation seiner theoretisch-programmatischen Schrift Über das Geistige in der Kunst vergingen noch etwa drei Jahre, wobei die erste Fassung des theoretischen Manuskripts 1909 bereits fertiggestellt war.18 So wurde angenommen, die früh entstandenen Bühnenwerke gehörten noch teilweise zum Heilungsprozess des Künstlers, obwohl »die Plötzlichkeit und der durchdringende Charakter des Wandels von 1908 sowie die Direktheit und Intensität [...] einen entscheidenden Wendepunkt in seiner Kunst« belegten.19 Auch sind in den frühen Werken einige vermeintliche Inkonsequenzen in Theorie und Praxis zu vermuten, was in der vorliegenden Arbeit ausführlich zu diskutieren sein wird. Somit wäre die Bezeichnung »therapeutisch« den frühen experimentellen Werken in gewisser Weise angemessen, wobei aber nicht vergessen werden darf, dass ein »therapeutisches« Werk den inneren Konflikt des Patienten sogar deutlicher darstellen kann als ein ausgearbeitetes Kunstwerk und somit für das Verstehen des Künstlers auf jeden Fall aufschlussreich ist. Zu diesen »therapeutischen« Aspekten könnte jedoch die zweite, von Kandinsky selbst verwendete Bezeichnung »momumental« Widersprüche hervorrufen. Zwar trafen die frühen vier Bühnenkompositionen nach einem Jahr die aktuelle Position des Künstlers nicht mehr, aber die behandelten Themen waren so umfassend und universell für ihn, dass sie noch bis 1912 sowie wiederum 1927 als zentrale Themen in Der gelbe Klang bzw. Violett überarbeitet wurden. Auch die schematische Darstellung der Körperbilder mit Farben in den frühen Bühnenkompositionen zeigt viele Elemente der späteren Farbtheorie Kandinskys, so dass behauptet werden kann, dass sich Kandinsky auf der dreidimensionalen Bühne mit den grundlegenden Fragen nach dem neuen Darstellungsstil der Körperbilder sowie der Bewegung auseinandergesetzt hat. Außerdem stellt diese Tetralogie zum Schluss dar, wie der zu-

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Nach dem Aufenthalt in Paris von 1906 bis 1907 litt Kandinsky unter einem körperlichen und psychischen Tiefstand. Um sich zu erholen, besuchte er im Winter 1907 bis 1908 Konzerte und Theateraufführungen in Berlin. Kandinsky litt von 1906 bis 1907 unter Depressionen sowohl wegen des Privatlebens als auch wegen seines Ringens um die eigene künstlerische Richtung. Er malte von Juni bis September 1907 gar nicht, erst nach dem Aufenthalt in Berlin vom September bis Mai 1908 begann Kandinsky wieder leidenschaftlich zu malen. Siehe Barnett 2008, S. 228f. Kleine 1994, S. 330. Demnach wurde das Manuskript für Über das Geistige in der Kunst am 15. Oktober 1909 vom Verleger Georg Müller abgelehnt. Von Reinhard Piper bekam der Künstler jedoch am 20. Juli 1910 eine Zusage, dennoch benötigte er bis zur Publikation im Dezember 1911 (datiert 1912) eine stilistische Überarbeitung. Barnett 2008, S. 229.

künftige Reiter für die Religion oder die Kunst erwählt wurde, der in der Gegenwart den Kampf für das Geistige übernimmt. So ist sein persönliches Bekenntnis zur Aufgabe der Kunst bereits zum Ende der Tetralogie sichtbar, und dieses Motiv war bis zum letzten malerischen Werk des Künstlers von großer Bedeutung. Angesichts des Inhalts der frühen vier Bühnenkompositionen, in denen sich die Vorgeschichte bzw. der Werdegang des Reiters erkennen lässt, können sie als diejenigen Werke gelten, die den Neubeginn des Künstlers einläuten. So müssen sie für ihn inhaltlich tatsächlich eine monumentale Kunst gewesen sein. Zum Schluss der vorliegenden Studie soll diese Bedeutung der frühen Bühnenwerke Kandinskys verständlich gemacht werden. Für das Grundverständnis von Kandinskys Bühnensynthese muss ein Überblick über das Phänomen der synthetischen Bühnenkunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegeben werden, denn Kandinskys Theorie der Bühnensynthese gehört ohne Zweifel zur kunsthistorischen Genealogie des Gesamtkunstwerks. Motiviert ist dies durch das unvermeidliche Bedürfnis moderner Künstler, aus der unerwünschten Realität des neuen Jahrhunderts zu fliehen und eine utopische Welt zu schaffen, in der sie sich mittels ihrer Kreativität grenzenlos entfalten können. Unter der nachhaltigen Wirkung der Idee des Gesamtkunstwerks von Richard Wagner (1813–1883)20 standen zu dieser Zeit alle modernen Künstler. Gleichzeitig jedoch waren sie mit der radikalen Modernisierung und Industrialisierung konfrontiert. Seit dem 19. Jahrhundert entstanden in Westeuropa Großstädte und Transportmöglichkeiten für Menschen und Waren. Dies ermöglichte eine scheinbar unbegrenzte Kooperation über Städte und Nationen hinweg, erforderte jedoch unter Umständen die Loslösung von der vertrauten Heimat sowie von der regionalen Gemeinde. Einerseits war die Erwartung an die offene neue Welt groß, andererseits drohte Heimatlosigkeit. Die neue Umwelt in Großstädten war in manchen Fällen von dem geträumten Paradies weit entfernt, so dass Bewegungen wie ›Gartenstadt‹, ›Wandervogel‹ sowie ›Freikörperkultur‹ entstanden, deren Motivation auf Versöhnung mit dem Ursprung und der Natur beruhte. Auf jeden Fall herrschte inmitten der Zersplitterung der Gesellschaft im 20. Jahrhundert sowohl gesellschaftlich als auch politisch der Traum, eine neue utopische Welt zu erschaffen. Nietzsches Wort, dass » G o t t t o t ist«,21 kennzeichnet die Weltanschauung der Künstler im 20. Jahrhundert. Schließlich wollten Künstler selber »Schöpfer der schönen Dinge«22 sein und suchten eine neue bzw. alternative Ordnung, wie z.B. in Mythen der antiken Griechen (vgl. Isadora Duncan), im Primitiven, im Orientalischen oder im Religiösen und Geistigen. Die Theaterkunst wurde als ein Medium verstanden, das allen Kunstmitteln dreidimensionalen Raum und eindimensionale Zeit zur Verfügung stellt. Zur Jahrhundertwende lieferte die Wissenschaft die Hypothese der

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Wagner 1907 [1850]. Nietzsche, Friedrich: Also Sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen. [1883–85] Stuttgart 1953, S. 8. Die Hervorhebung stammt von Nietzsche. Wilde, Oscar: Das Bildnis des Dorian Gray. [1891] Berlin [Schreitersche Verlagsbuchhandlung], o.J., S. 5. »Der Künstler ist der Schöpfer schöner Dinge./Kunst zu offenbaren und den Künstler zu verbergen, ist die Aufgabe der Kunst.« Kandinsky zitierte Wildes De Profundis in seiner Publikation Über das Geistige in der Kunst. Dabei zählt er Wilde zu Literaten wie Goethe, der das Prinzip ausdrücke, »dass die Kunst über der Natur steht.« ÜGK, S. 128.

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Vierdimensionalität, deren Eindruck attraktiv genug war, um die Künstler zu inspirieren und sie zu Experimenten mit dem Medium Theater zu bewegen.23 Die Bühne zog daher avantgardistische Künstler wie magisch an. So waren zahlreiche Dichter, Maler, Komponisten und Choreographen gemeinsam an experimentellen Bühnenwerken beteiligt wie z.B. an Diaghilevs Ballets Russes, an den Bühnenwerken des Futurismus, des Züricher Dada, des Bauhaus von Gropius und an Rolf de Marés Ballets Suédois. Die Kunstsynthese entsprach dem Zeitgeist und war zugleich ein Sanctuarium für Asylanten aus der Realität, wie einst die Romantiker in Literatur oder Malerei ihre Sehnsucht nach dem Romantischen äußerten. Doch das hergestellte neue Paradies stellte keine harmonische Einheit dar, sondern eine Disharmonie, die die modernen zerrissenen Individuen reflektierte. Kandinsky betont, dass die »heutige Disharmonie« die »Consonanz« von »morgen« sei,24 wobei er in der modernen atonalen Musik das Vorbild sah. So schlug er vor, bei der Zusammenstellung der Bühnenelemente keinen »äußeren Vorgang (=Handlung)«, keinen »äußeren Zusammenhang« und keine »äußere Einheitlichkeit«25 zu erlauben, sondern »äußerlich selbständig« spielen zu lassen, so dass das einzelne Element seine individuelle Wirkung ohne Unterordnung entfalten und dennoch neue Zusammenklänge schaffen könne.26 So schien ihm, ›Disharmonie‹ könne die moderne Welt am besten verkörpern. Auf diese Weise wurde die Tradition der Bühnensynthese gemäß der modernen Weltanschauung reaktiviert. Jedoch musste es dabei einen Katalysator geben, der die zerteilten Elemente auf der Bühne bzw. in der Welt verband. Kandinsky drückte sein Konzept der Synthese bereits im Titel seiner programmatischen Schrift aus, d.h. das »Geistige« in der Kunst sollte als höchste Ordnung hervorgehoben werden. So treten in seinen frühen Bühnenkompositionen sämtliche Überlegungen über die Welt, Menschen, Kultur, Religion, Leben, Tod und Kunst unverschleiert auf. Sie können als das Gesamtbild der Weltanschauung des Künstlers gelten, wie er es auch in seinen vogelperspektivischen Gemälden auszudrücken versuchte. Nun stellt sich die Frage, wie Kandinsky seine Weltanschauung auf der Bühne zu realisieren gedachte. Die Töne, Farben und Bewegungen sollten die Hauptelemente der Synthese sein.27 Daher wurde die Farb- und Formtheorie Kandinskys in den bisherigen Forschungsstudien über seine Malerei und die Bühnenkompositionen als wichtigste Methode betrachtet, jedoch konnte mit der abstrakten Symbolik der Farben sowie der Formen keine umfassende Interpretation eines Bühnengeschehens erreicht werden. Da die Bühnenkompositionen hauptsächlich aus Beschreibungen der Körperbilder der Darsteller und ihrer Bewegungsabläufe bestehen, kann behauptet werden, dass sie ursprünglich, zumin23 24

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Die Kunstdiskussion über die vierte Dimension war Kandinsky durch Apollinaire bekannt. Siehe Kleine 1994, S. 436. »Ich finde eben, daß unsere heutige Harmonie nicht auf dem ›geometrischen‹ Wege zu finden ist, sondern auf dem direkt antigeometrischen, antilogischen. Und dieser Weg ist der der ›Dissonanzen in der Kunst[‹], also auch in der Malerei ebenso, wie in der Musik. Und die ›heutige‹ malerische und musikalische Dissonanz ist nichts als die Consonanz von ›morgen‹. (Brief von Kandinsky an Schönberg, 18. Jan. 1911, Zimmermann 2002 op.cit., S. 173). DBR, S. 206. DBR, S. 208. ÜGK, S. 125.

dest in den frühen Bühnenkompositionen, die eigentlichen Zielobjekte des Experiments gewesen waren. Die Darsteller der Bühnenkompositionen, die puppenhaft farbig und zum Teil sehr konkret mit Berufsangaben versehen sind, zum Teil aber auch sehr abstrakt undeutlich aussehen, sind schließlich die Bewohner in Kandinskys Weltbild des Geistigen und müssen gemäß dem Weltgesetz dargestellt worden sein. Abgesehen davon, dass sie (als Mensch, Figur und Gestalt) höchst unterschiedlich benannt werden, lässt sich erahnen, dass Kandinskys Experiment genau darin bestand, durch die äußerliche Körperlichkeit den geistigen Charakter der Figuren dazustellen. Um Kandinskys Auffassung des Körpers zu verstehen, wirft die vorliegende Arbeit zunächst einen Blick auf die zeitgenössischen Künste und Ideen, die Kandinsky beeinflusst haben könnten (Kap. 2.1.). Zu untersuchen ist Kandinskys Interesse an Folklore, Symbolismus, Theaterreform, theosophischer Bilderwelt sowie Ikonen. Danach werden die Körperbilder in den Bühnenwerken vollständig klassifiziert, und anschließend wird daraus Kandinskys Darstellungsprinzip der Körperlichkeit in den Bühnenkompositionen abgeleitet (Kap. 2.2.). Durch diese beiden Schritte können die Charaktere der frühen Bühnenkompositionen gemäß der durch sie verkörperten Geistesstufen geordnet werden. Die Körperfarben, die gewiss wichtige Informationen zum Charakter vermitteln, werden erst mit dem Verständnis der Körperlichkeit die richtige Deutung finden, wobei zu beachten ist, dass es Indizien gibt, die auf einen Wechsel der Farbsymbolik zwischen der Bühnenkomposition I Riesen und der daraus entstandenen Bühnenkomposition Der gelbe Klang hinweisen. So soll die Anlehnung an die Farbtheorie dem Kontext gemäß flexibel gehandhabt werden. Die Bewegungen fungieren als Hauptsprache der Bewohner in Kandinskys utopischer Welt. Im ganzen Ablauf des Stücks werden Worte nur spärlich und in Gedichtform verwendet. Angesichts der Tatsache, dass Kandinsky in Über das Geistige in der Kunst zur Erneuerung der konventionellen Bewegungssprache auf der Bühne – besonders im Ballett und in der Oper – aufrief, soll die Bewegungssprache auch als Ergebnis seiner experimentellen Gedanken betrachtet werden. Zu ihrem Verständnis soll Kandinskys Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Bewegungssprache geklärt werden, wobei auf den neuen Tanz von Isadora Duncan und Alexander Sacharoff und auf die russische Theaterreform von Meyerhold hingewiesen wird (Kap. 3.1.). Dadurch wird gezeigt, dass die Bewohner der Bilderwelt tatsächlich ihre Sprache zur stilisierten Gestik abstrahiert haben. So hängt die Bewegungssprache in den Bühnenkompositionen, ebenso wie die Körperfarben, mit der Körperlichkeit der Darsteller zusammen. In der vorliegenden Arbeit werden alle Bewegungen der Darsteller semiotisch klassifiziert und können gemäß ihren Geistesstufen interpretiert werden (Kap. 3.2.). Zur Erläuterung der Handlung der Bühnenkompositionen verhielt sich die bisherige Forschung distanziert, weil Kandinsky bei der Veröffentlichung von Der gelbe Klang die Existenz eines »äußeren Vorgang[s]« leugnete.28 Somit stützte man sich bei den unerklärlichen Dingen auf die Kontextlosigkeit. Jedoch lässt sich erkennen, dass die Szenen von

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Im Artikel Über Bühnenkomposition, der neben Der gelbe Klang im Almanach Der blaue

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Der gelbe Klang im Vergleich zum ursprünglichen Stück Riesen von der dort verwendeten Reihenfolge befreit und in einen anderen Zusammenhang gestellt worden waren. Auch die spätere Bühnenkomposition Violett nahm die Motive aus den drei frühen Bühnenkompositionen auf und stellte nur abstrahierte Reste in anderem Ablauf dar. Daher ist zu vermuten, dass Kandinsky in den späteren Werken tatsächlich beabsichtigte, die Spur der Handlung sowie Motive zu streichen. Die frühen Bühnenkompositionen konservierten die Handlung sowie Motive noch in den für Kandinsky »veralteten« Formen, entsprechend sind seine damaligen Überlegungen deutlich spürbar. In der vorliegenden Analyse kommen viele bisher in Kandinskys Œuvre unbekannte Motive ans Licht, womit fast behauptet werden kann, dass die frühen Bühnenkompositionen dem Künstler persönlich so am Herzen lagen, dass er sie als ein Geheimnis mit ins Grab nahm. Sie enthüllen Kandinskys Kenntnisse von bzw. Auseinandersetzung mit den christlich-religiösen Ideen, der christlichen Ikonographie sowohl in orthodoxen als auch in westlichen Künsten,29 mit dem ethnographischen Wissen wie etwa aus Volkssagen, den literarischen Werken Goethes sowie der von der Religion bestimmten Literatur. Mit all diesen sich konfrontierend, legt Kandinsky sein Bekenntnis ab, als Reiter für das Geistige in der Kunst zu kämpfen. So behandelt die Tetralogie der frühen Bühnenkompositionen die Berufung des Reiters des kommenden geistigen Reichs, der dem Bildnis des Künstlers gleicht. Nach der Beschäftigung mit den Bühnenwerken begann Kandinsky christliche Themen zu malen, die anschließend zur Abstraktion führten. Als Hilfe für die Bildinterpretation werden in dieser Studie diejenigen Motive aus den Bühnenkompositionen zusammengestellt, die in Kandinskys Malerei weiterlebten. Inzwischen sind bereits über 100 Jahre vergangen, seitdem Kandinsky mit den frühen vier Bühnenkompositionen seine Aufgabe als Künstler darlegte. Zumindest müssen sie für den Künstler damals Ereignisse der Suche nach einer neuen Kunstsprache und ein »momunentales Kunstwerk« gewesen sein, das die innerliche Weltanschauung des Künstlers in einer Synthese darstellte. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den vier frühen Bühnenkompositionen hinsichtlich der Körperlichkeit und der Bewegung neue Perspektiven zu verschaffen und dadurch eine synthetische Interpretation zu erreichen. Die anthropologische Entdeckungsreise zu Kandinskys geheimem Rosettastone bzw. missing link zwischen Abstraktion und Vorabstraktion macht seine innere Welt anschaulich.

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Reiter publiziert wurde, äußerte Kandinsky seine Absicht, »den äußeren Vorgang (=Handlung) zu streichen«. DBR, S. 206. Zum Einfluss der russischen Ikone auf Kandinskys Malerei siehe Noemi Smolik 1992 sowie Eva Mazur-Keblowski 2000. Die beiden Studien legen die übernommenen Ikonentypen dar. Die vorliegende Studie jedoch beschränkt die Bezugswerke sowie Ikonographie nicht auf Ikonen, sondern bezieht die christliche Ikonographie im Westen sowie Osten umfassend ein. Zu den ethnographischen Motiven in Kandinskys märchenhaften Gemälden bis 1907 siehe Natasha Kurchanova 1994. Zum Einfluss der naturwissenschaftlichen Schriften von Goethe auf Kandinskys Theorie siehe Barbara Hentschel 2000.

1.2. Stand der Forschung Eine erste Datierung der frühen Bühnenwerke Kandinskys beruht auf Johannes Eichners Doppelmonographie zu Kandinsky und Gabriele Münter, die im Jahr 1957 publiziert wurde. Eichner, Philosoph und zugleich Lebensgefährte Münters, datierte das Entstehungsjahr des ersten Versuchs der Bühnenkomposition Riesen auf 1908.30 Ein Jahr später wies Will Grohman, der mit Kandinsky in persönlichem Kontakt stand, in seiner Kandinsky-Monographie auf die Existenz der frühen drei Bühnenkompositionen, Riesen, Grüner Klang sowie Schwarz und Weiß, hin. Da die Manuskripte der frühen vier Bühnenkompositionen jedoch bis in die 1980er Jahre nicht bekannt waren, wurde Der gelbe Klang (1912) bis dahin als einziges Forschungsobjekt betrachtet. In der ersten Forschungsphase bis in die 1960er Jahre bemühten sich die Forscher sowie die Beteiligten rückblickend darum, die Bühnenkompositionen innerhalb der Kunst- und Theatergeschichte zu würdigen. Walther Hermann Romstöck betrachtete 1954 Kandinskys Bühnenkonzepte im Zusammenhang mit der antinaturalistischen Szenengestaltung in Europa zwischen 1890 und 1930.31 In Verbindung mit derjenigen von Adolphe Appia (1862–1928), Edward Gordon Craig (1872–1966) und Max Reinhardt (1873–1943) schaffte er einen theaterhistorischen Überblick der Theorie Kandinskys, jedoch überprüfte er die Anwendung der Theorie nicht. Lothar Schreyer (1886–1966), Theatermacher und einst Kandinskys Mitarbeiter am Bauhaus, schätzte Der gelbe Klang und äußerte seine freie Deutung über die Kreuzigung des grellgelben Riesen.32 Dabei stützte er sich nicht auf Kandinskys Farbsymbolik, sodass seine Ausführungen subjektiver Eindruck bleiben müssen. Jedoch scheinen sich Schreyer und Kandinsky im Bauhaus über ihre mystischen Visionen ausgetauscht zu haben, so dass Schreyers freie Interpretation eine zutreffende Perspektive beinhalten kann. Der Kunsthistoriker Will Grohman verglich 1958 in der obenerwähnten Monographie die Entwicklung zur Abstraktion in Kandinskys Malerei und den Bühnenkompositionen. Demnach ähnelten die Bühnenbilder der frühen Bühnenkompositionen Kandinskys Landschaftsmalerei, die in Murnau zur selben Zeit entstand und in der die Gegenstände allmählich ihre Gestalt verloren. So wurde die Position der frühen Bühnenwerke innerhalb der Malerei als Übergang zur Abstraktion bestimmt. Jedoch wurde die inhaltliche Wechselbeziehung der Motive zwischen Kandinskys Malerei und den Bühnenkompositionen nicht angesprochen. Aus der Sicht des expressionistischen Theaters nahm Horst Denkler 1967 eine Annäherung vor. Er wies auf die Szenenstruktur hin, die durchaus unter Einbeziehung des Mimischen gestaltet werde, und bezeichnete sie als »zweifellos von Motiven der seit 1900 um sich greifenden Vorliebe für den Mimus« beeinflusst.33 Obwohl Denkler die Bühnenkompositionen der Gattung Mimodrama zuordnete, hielt er für die Deutung nur die Farbtheorie für gültig; die Bewegungsab-

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Eichner 1957, S. 91. Romstöck 1954, S. 144ff. Schreyer 1948, S. 81. »Es ist die Kreuzigung der Lichtwelt in der Schöpfung. [...] Nur durch die Kreuzigung des Lichtes wird das Leben offenbar.« Denkler [1. Aufl. 1967] 1979, S. 32.

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läufe wurden nicht gedeutet. Die oben genannten Untersuchungen gaben zwar nach den verschiedenen Gebieten eine historische Perspektive, wagten aber keine Deutung. Mitte der 1970er bis Anfang der 1980er Jahre begann die zweite Forschungsphase über die Bühnenkomposition, wobei auch Kandinskys Gedichtband Klänge (1912) einbezogen wurde. Richard W. Sheppard versuchte 1975 in seinem Artikel ein konsequentes Thema in Der gelbe Klang zu entdecken. Dabei verwendete er Kandinskys Farbtheorie als fundamentale Methode und behauptete, die zentrale Farbe Gelb sei »irdisch« und die Kreuzigung des gelben Riesen suggeriere keine Auferstehung, sondern vor allem die Vernichtung des Irdischen.34 So reflektiere das ganze Stück Kandinskys Pessimismus.35 Peg Weiss widmete 1977 Kandinskys Beschäftigung mit Theaterstücken und Gedichten einen Artikel, in dem Kandinskys enge Beziehung zu symbolistischen Dichtern und Malern, vor allem zum Münchner George-Kreis einschließlich Karl Wolfskehl und Georg Fuchs, thematisiert wurde. Weiss nahm jedoch keine inhaltliche Analyse der Bühnenkompostion vor. 1980 wurde von Robert Richard Pevitts eine Doktorarbeit über Der gelbe Klang veröffentlicht. In dieser Arbeit versuchte der Autor eine weitreichende Methode anzuwenden. Zunächst teilte er alles Geschehen im Stück nach Kandinskys These in drei Bewegungen (musikalische Bewegung, malerische Bewegung und tanzkünstlerische Bewegung) ein, endete aber bei der visuellen Verteilung der einzelnen Geschehen in einer Tabelle und verfolgte die Analyse nicht weiter. Sein anderer Versuch, die Figuren aus Der gelbe Klang auch in Kandinskys früher Malerei aufzufinden, enthielt zwar die Möglichkeit von Anknüpfungspunkten zwischen den Bühnenkompositionen und der Malerei, aber es fehlte ihm an einer grundlegenden Analyse der Körperbilder in Der gelbe Klang, so dass diese keine Identifi kation ermöglichten. Er benutzte schließlich hauptsächlich die Farbtheorie für die Analyse und schloss mit einer Deutung: Die Erlösung des Geistes sei der innere Klang von Der gelbe Klang.36 Ebenso gegensätzlich sind die zwei Deutungen der Endszene bei Sheppard und Pevitts. Dies zeigt das Problem, dass die Methode der Farbtheorie für die synthetische Bühne Kandinskys nicht ausreicht. Auch in einer Doktorarbeit von Heribert Brinkmann aus dem Jahr 1980 wurde die Schwierigkeit der Interpretation von Kandinskys Gedichten sowie Bühnenwerken dargelegt. Brinkmann analysierte Kandinskys synästhetische Ausdrücke und den symbolistischen Stil in seinem Gedichtband Klänge (1912) und widmete auch Kandinskys Beschäftigung mit der Theaterarbeit ein kleines Kapitel. Obwohl Brinkmann in der synästhetischen Wahrnehmung des Künstlers die Basis des Drangs nach dem Gesamtkunstwerk sah,37 schränkte er dies zugleich dahingehend ein, dass die synästhetischen Ideen oft nur auf persönlicher Sinn34 35 36 37

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Sheppard 1975a, S. 174. Ebd., S. 170. Pevitts 1980, S. 74. Kandinsky erwähnte in Über das Geistige in der Kunst einen Aufsatz Spaltung der Persönlichkeit von Dr.med. Franz Freudenberg in der Zeitschrift Die übersinnliche Welt, 1908. Der Aufsatz behandelt das Phänomen der synästhetischen Wahrnehmung, wie Farbenhören. Kandinskys Anmerkung dazu lässt erahnen, dass er seine eigene Wahrnehmung mit diesem Phänomen identifi zierte und sich bestätigt fühlte, »dass gerade bei hoch entwickelten Menschen die Wege zur Seele so direkt und die Eindrücke derselben so schnell zu erreichen sind, dass eine Wirkung, die durch den Geschmack geht, sofort zur Seele gelangt und die entspre-

Ebene Bedeutung finden und nicht auf einem Kodex beruhen könnten. Daher distanzierte er sich von einer Interpretation der Bühnenkomposition. In dieser Forschungsphase war zu erkennen, dass die Forscher nach der historischen Einschätzung der Bühnenwerke Kandinskys auf der Suche nach wirksamen Methoden für eine inhaltliche Analyse waren. Zunächst verließ man sich auf Kandinskys Farbsymbolik, wobei diese für sie so fundamental und beliebig war, dass die daraus entstandenen Ergebnisse nicht miteinander zu vereinbaren waren. In den 1980er Jahren erhielt die Forschung über die Bühnenkompositionen zwei Inpulse durch die Aufführungen der Bühnenwerke und durch die Entdeckung des Manuskripts zu den frühen Bühnenkompositionen. Nach einer Uraufführung (1975) von Der gelbe Klang in Abbaye de la Sainte Baume in der Provence wurde das Stück 1982 im Marymount Manhattan Theater in New York und 1987 im National Theater Bern aufgeführt, so dass die inhaltliche Analyse des Werks in der Forschung notwendig wurde. Anlässlich der Aufführung in New York erschienen 1982 ein Bericht von Rob Baker und ein Artikel von Felix Thürlemann. Thürlemann wies auf die Bedeutung der Theaterarbeit in Kandinskys Entwicklung zur Abstraktion in der Malerei hin, legte jedoch keine inhaltliche Deutung vor. Die zwei Tanzwissenschaftler David Vaughan38 und Deborah Jowitt39 legten Rezensionen zur selben Aufführung vor und zeigten Interesse an der Rekonstruktion des Tanzes in Der gelbe Klang. Angesichts der erhöhten Aufmerksamkeit für die Bühnenkomposition wurden die Manuskripte zu den Bühnenwerken Kandinskys erforscht, und die Existenz der frühen Bühnenkompositionen wurde allgemein bekannt. Im Art Journal (Spring 1983) erschien ein Artikel von Susan Alyson Stein, der sich zum ersten Mal direkt auf die frühen Bühnenkompositionen bezog. Die Autorin untersuchte die Hefte in der Städtischen Galerie Lenbachhaus, München, einschließlich der damals nicht veröffentlichten Bühnenkompositionen Riesen, Grüner Klang und Schwarz und weiß. Stein schlug vor, den gelben Riesen in Riesen bzw. Der gelbe Klang, die grüne Frau in Grüner Klang und den blauen Vogel in Schwarz und weiß in einem trilogischen Farb-Zusammenhang zu betrachten,40 wobei die Einsicht in die Pariser Materialien, die als endgültige Texte gelten, der Autorin damals nicht möglich war, weshalb sie die Reihenfolge anders zuordnete.41 Auch von der vierten Bühnenkomposition Schwarze Figur hatte sie keine Kenntnis. Rein farbsymbolisch betrachtet, könnte ihre Hypothese der Trilogie der Farben Gelb, Blau und Grün zwar möglich sein, aber es fehlte an dem Verständnis der verwendeten Körperbilder, die in der vorliegenden Studie durch die Identifikation der drei genannten Figuren widerlegt werden. Jedoch datierte Steins Arbeit die ursprünglichen Entstehungsjahre der Bühnen-

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chenden Wege aus der Seele zu anderen materiellen Organen mitklingen lässt (in unserem Falle – Auge).« ÜGK, S. 62. Vaughan, David: Judson Dance Theatre 1962–1966 (exhibit); Judson Dance Theater Reconstructions; The yellow Sound. In: Dance Magazine September 1982. New York 1982, S. 46– 49, 97–98. Jowitt, Deborah: Let Yellow Ring; The Village Voice, February 23, 1982. In: The Dance in Mind. Boston 1985, S. 151–154. Stein 1983, S. 65. Die Nummerierung von Riesen und Stimmen oder Grüner Klang war in den früheren Manuskripten umgedreht.

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komposition Der gelbe Klang von 1912 auf 1908/09 deutlich vor, so dass ihr Akzent auf den christlich-religiösen sowie apokalyptischen Motiven lag, die in Kandinskys malerischen Werken um 1909 bis 1911 häufig auftauchten. In den 1980er Jahren beschäftigte sich die Forschung über Kandinskys Malerei mit seiner Auseinandersetzung mit esoterischem Gedankengut42 sowie apokalyptischen Ideen.43 So beurteilte Klaus Kropfinger Kandinskys Kunstsynthese als eine »kosmisch-mystische Spiritualisierung«.44 In seinem Artikel anlässlich des Symposiums »Richard Wagner 1883–1983: Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert« überprüfte Kropfinger Kandinskys theoretische Schrift zur Bühnenkomposition45 und fand darin eine »fehlgehende Wagner-Rezeption«,46 stimmte allerdings zu, dass Kandinskys Idee der Bühnensynthese trotzdem »die Möglichkeit einer Kunst der Künste gesteigert«47 hätte, wobei er dieses Ergebnis als im Bereich »des Esoterischen«48 bezeichnete. Dies zeigt einerseits, dass Kandinskys Theorie zur Bühnensynthese, wie er selbst in seiner Farblehre bekräftigt, auf »empirisch-seelischer Empfindung«49 basiert und damit theoretische Brüche enthalten kann. Andererseits wird sie deswegen als mystisch betrachtet und nicht weitgehend genug analysiert. Die weiteren Forschungsstudien in den späten 1980er Jahren verstärkten diese Tendenz. Sie wiesen »Kausalität« sowie »logische Handlung«50 in den Bühnenkompositionen zurück und verstanden unter ihnen abstraktes Farbspiel sowie Farbkomposition. Im Jahr 1986 wurde ein Teil der Manuskripte zu den frühen vier Bühnenkompositionen, eine Schenkung von Nina Kandinsky an das Centre Pompidou, in Jessica Boissels Artikel im Ausstellungskatalog Der Blaue Reiter (Bern 1986) veröffentlicht.51 Ihr Ansatz, Kandinskys Ziel der Bühnensynthese als eine »Verklärung der Kunst als Offenbarung des Wesens der Schöpfung« zu lesen sowie als »Möglichkeit, die Welt als Einheit zu verstehen,«52 stimmt mit der Ansicht der vorliegenden Studie überein. Ebenso aufschlussreich waren in ihrem Artikel die historische Übersicht sowie die Eingliederung der Bühnenwerke in Kandinskys malerisches Œuvre,53 jedoch bezeichnete Boissel die Farben als »Akteure«54 der Stücke und schlug zur Analyse die Isolation der einzelnen von Kandinsky verwendeten Mittel vor.55 Damit distanzierte sie sich von der Identifikation der Charaktere sowie der Motive. So konnten die »abstrakten« Bühnen-

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Siehe Ringbom 1970, 1982a, 1982b. Siehe Washton Long 1975 sowie 1980. Kropfinger 1984, S. 191. ÜGK sowie ÜB. Kropfinger 1984, S. 195. Ein Missverständnis, dass sich in Kandinskys Artikel Über Bühnenkomposition auflöst, in dem er Wagners Verwendung der Gebärdensprache sowie die Beziehung zwischen den Worten und der Musik kritisiert. Ebd., S. 198. Ebd., S. 198. ÜGK, S. 88. Simhandl 1987, S. 25. Die Klärung des Sachverhalts der vier frühen Werke sowie die Veröffentlichung erfolgten 1998 durch Boissel als Herausgeberin. Boissel 1986, S. 249. Siehe Boissel 1986, S. 247f. Ebd., S. 247. Ebd.

kompositionen für alle Interpretationen offen und willkürlich bleiben. 1987 fand eine Projektaufführung der ersten drei Bühnenkompositionen in einer Zusammenarbeit der Akademie der Künste und der Hochschule für Künste Berlin statt. Der Regisseur Peter Weitzner deutete das Thema von Riesen als Befreiung des Körpers.56 Im Beiheft zur selben Aufführung wies Peter Simhandl auf die mysterienspielhaften Züge in den Bühnenkompositionen hin, jedoch verstand er die Farbdeutung als die einzige Analysemethode57 und legte keine weitere Interpretation vor. Jutta Görickes Versuch war eine erweiterte Studie in dieser Richtung. Sie nahm eine strukturelle Analyse von Der gelbe Klang vor und verstand unter den Substanzen auf der Bühne nur die Hülle der Farben. Sie negierte die Existenz der dramatischen Charaktere und bezeichnete das Thema als Fuge der melodischen Farben,58 wobei sie, auf Sheppards Interpretation des Pessimismus bezugnehmend, das Hauptthema als »Hoffnung auf Erlösung« und deren »Tod«59 bezeichnete. Als weitere Forschungsstudien sind aus demselben Jahr eine Publikation vom bereits erwähnten Peter Simhandl über Bildende Künstler des 20. Jahrhunderts sowie eine Dissertation von Verena Zimmermann60 zu erwähnen. Beide befassten sich mit Kandinskys Bühnensynthese, wobei allerdings keine wesentliche Interpretation erreicht wurde. In den 1990er Jahren gab es neue Aspekte in der Forschung zu Kandinskys malerischem Œuvre. Erneut betont wurde die russische Identität des Künstlers61 wie z.B. Kandinskys Interesse für Ikonen sowie die russische Volkskunst, und so wurden die russisch-religiösen Einflüsse auf seine Malerei allmählich enthüllt. Dies erweiterte die Interpretationsmöglichkeiten der Bühnenkompositionen, allerdings waren die Quellen der Handlung nicht nachweisbar und die Deutungen kreisten daher immer um die abstrakte Ebene. Ulrika-Maria Eller-Rüter publizierte 1990 ihre Dissertation über Kandinskys Bühnenkompositionen – Der gelbe Klang, Grüner Klang, Schwarz und weiß sowie Violett – und Gedichte. Ihrer Auffassung nach sind »Kampf, Überwindung, Entstehen, Vergehen, Untergang und Schöpfung« die »einzig tatsächlich deduzierbaren Themen, die in der Bühnenkomposition, transportiert durch synästhetische Konsonanzen und Dissonanzen, durchgespielt werden.« 62 So verstand sie die Menschenfiguren nur als Prototypen, die »dem Spiel der Medien untergeordnet und in den synästhetischen Kontext einkomponiert« 63 werden, und führte daher keine Identifikation durch. Jelena Hahl-Koch schrieb in ihrer umfassenden Publikation Kandinsky (1993) ein Kapitel über Kandinskys nichtmalerische Aktivitäten von 1908 bis 1912 und beschrieb seine Beziehung zum russischen Theater sowie die Einflüsse, die vom Symbolismus und Futurismus auf ihn ausgingen. Hahl-Koch wies auf die besondere 56 57 58 59 60 61 62 63

Weitzner 1987, S. 20. Simhandl 1987, S. 25. Göricke 1987, S. 129. Göricke 1987, S. 129 sowie 124. In ihrer Studie wurden Kandinskys Bühnenkonzepte mit Schreyer und Schönberg verglichen. Mit dieser Sicht analysierte sie Der gelbe Klang. Siehe Bowlt 1988 sowie 1989, Smolik 1992, Hahl-Koch 1993, Mazur-Keblowski 1993 sowie 2000, Kurchanova 1994 und Weiss 1995. Eller-Rüber 1990, S. 81. Ebd., S. 83.

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Aufmerksamkeit hin, die Maurice Maeterlinck (1862–1949) 64 in Russland zuteil wurde, und führte Rezensionen über Meyerhold an, die Kandinsky wohl gelesen haben könnte. Insgesamt stellte sie in Kandinskys Bühnenkompositionen eine besondere experimentelle Abstraktion im Vergleich zu den Theaterwerken von Symbolisten und Futuristen fest. Diese Erörterung war hilfreich für die Auseinandersetzung mit der Interessensphäre Kandinskys, wobei ihre Einschätzung der Bühnenkompositionen auf der Abstraktion zu basieren scheint und die Erläuterung der vorabstrakten Figuren nicht unternommen wurde. Thomas Schober legte 1994 seine Dissertation über das Theater der Maler vor und verfasste Analysen über Kandinskys Werke Der gelbe Klang, Violett und Bilder einer Ausstellung. Schober entwickelte Susan Alyson Steins These der Dreifarben-Beziehung der Bühnenkompositionen I bis III weiter und verstand darunter ein übergeordnetes Thema der Farbsymbolik Kandinskys. Demnach behandele dies den Weg des Grüns, das durch das Irdische (Gelb) das Geistige (Blau) erlange.65 Obwohl diese These noch auf der Missdeutung der Körperbilder beruht und daher zu metaphysisch wirkt, ist Schobers Auffassung der Endszene von Der gelbe Klang – die Kreuzigung stelle einen Übergang zur Erlösung und damit kein tragisches Ende dar – zutreffender als die von Sheppard sowie von Göricke. Jedoch hielt Schober eine von kausal-logischer Beziehung geleitete Interpretation für riskant. Er ließ die Deutung »offen«. 1995 wurde eine Analyse von Der gelbe Klang aus einer unpublizierten Dissertation (1983) von Victoria Martino in einem Ausstellungskatalog veröffentlicht. Die Autorin benutzte die Farbtheorie als »wesentliche« 66 Methode und endete in einer subjektiven Entschlüsselung. Dass sie einen Bezug auf die Illustrationen im Almanach Der blaue Reiter nahm,67 war zwar zukunftsweisend für die ikonographische Methode, blieb jedoch erfolglos, weil es an einer grundlegenden Analyse der ikonographischen Szenen- sowie Figurengestaltung mangelte. Unter den farbsymbolisch-abstrakt orientierten Forschungsstudien der 1990er Jahre bis heute ist Claudia Emmerts 1998 vorgelegte Dissertation eine Ausnahme. Die Autorin versuchte, die Hauptmotive in Kandinskys literarischen Werken wie den Bühnenkompositionen und Gedichten mit religiös-philosophischen Ideen zu verbinden und im Kontext eschatologischer Themen zu interpretieren. Ihre Studie ist besonders hilfreich insofern, als sie den Ursprung der von Kandinsky in seinen theoretischen wie autobiographischen Schriften benutzten Ideen, etwa die »dritte Offenbarung«, nach russischen sowie westlichen apokalyptisch-eschatologischen Lehren wie der von Wladimir Solowjow ausführlich erläutert. So kann Emmerts Studie für die Vertiefung der Einzelmotive nach religionsphilosophischen Aspekten nützlich sein. Jedoch brachte Emmerts Interpretation der Bühnenkompositionen keine Vertiefung in Wesentliches wie die Körperbilder und Bewegungsabläufe, weil sie sich zu sehr auf die zeitgenössischen

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Kandinsky erwähnt Maeterlincks La princesse Malaine in Über das Geistige in der Kunst. Schober 1993, S. 145. Martino 1995, S. 566. Auch Sheppard 1975a, Pevitts 1980 und Eller-Rüter 1990 versuchten, aus den Illustrationen Hinweise zur Deutung zu ziehen.

religionsphilosophischen Ideen stützte und schließlich Kandinskys Botschaft missdeutete. Ihre Deutungen werden in der vorliegenden Arbeit sorgfältig analysiert.68 Die weiteren Forschungsstudien haben wenig neue Aspekte zur Interpretation gebracht. Im Jahr 2000 legte Marcel Bongni eine Dissertation über Kandinskys abstraktes Bühnenwerk Bilder einer Ausstellung (nach der Musik von Mussorgsky) mit dem Schwerpunkt der Bühnendarstellung und der Musik vor. Da es um Abstraktion geht, berühren sich Bongnis Methode und das Interesse der vorliegenden Studie nur wenig. Die jüngsten Arbeiten über die Bühnenkompositionen wurden 2001 von Donata Kaman und 2004 von Bettina Wilts veröffentlicht. Die erste Autorin widmete den »drei Vertretern des Theaters der Maler in Deutschland,« Oskar Kokoschka, Kandinsky und Oskar Schlemmer, einen Teil.69 Die zweite Autorin behandelte das Bauhaustheater und versuchte dabei auch eine Analyse von Der gelbe Klang und Bilder einer Ausstellung. Die beiden legten jeweils nur auf die abstrakte Bühnengestaltung Wert und schlugen keine neue Methode vor, so dass sich aus ihren Arbeiten keine neuen Interpretationen entwickelten. Kandinskys ästhetische Neigung zum »Verstecken«70 hinderte die Forscher, die Themen sowie die Motive komplett zu entziffern. Kandinskys Ansatz zufolge, der die Handlung ablehnte, wagten sie es nicht, eine kausal-logische Beziehung zwischen den einzelnen Geschehnissen und den Szenen zu suchen, als ob eine weitere Entschlüsselung der Bühnenkompositionen unmöglich wäre. Während Der gelbe Klang die meisten Interpretationsversuche nach sich zog, wurden die zweite Bühnenkomposition Grüner Klang und die dritte Schwarz und weiß beispielsweise nur von Eller-Rüter (1990) und Emmert (1998) interpretiert. Anstelle der vierten Bühnenkomposition Schwarze Figur wurde die noch abstraktere Violett untersucht, und Schwarze Figur blieb von der Forschung fast unbeachtet.71 Ein Grund für die geringe Aufmerksamkeit lag darin, dass in der Abstraktion Kandinskys avantgardistisches Endziel gesehen wurde, so dass die gemischten Abstraktionsstufen der Figuren in den frühen Bühnenkompositionen als unfertig verstanden wurden. Zwar ergab sich durch die Herausgabe der kompletten Manuskripte der frühen vier Bühnenkompositionen durch Jessica Boissel (1998) erneut die Möglichkeit, das Gesamtbild der vier frühen Werke zu überprüfen und die tetralogisch verbindbaren Themen zu entschlüsseln, aber dies wurde wegen der oben genannten Einschätzung in keiner Studie weiter verfolgt. Das erste Problem der bisherigen Forschungsstudien lag in der Wahl der Methode. Für die einzig wirksame Methode hielt man Kandinskys Farbsymbolik, wobei Gegenstände wie Menschen nur als abstrakte Farbträger reduziert verstanden wurden und ihnen keine ikonographische Bedeutung beigemessen wurde. So ergaben sich zu einem Geschehen völlig gegensätzliche Deutungen, weil die Farbsymbolik allein nur fundamentale Informationen zu vermitteln schien. Die unerklärbaren Dinge wurden den

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Siehe Kap. 4.2. Kaman 2001, S. 112ff. ÜGK, S. 107. Boissel 1986 wies auf die Ähnlichkeit einer Szene aus Schwarze Figur mit Kandinskys Bildern hin, die während des Aufenthalt in Berlin von 1907 bis 1908 gemalt wurden. Boissel 1986, S. 247.

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synästhetischen Eindrücken des Künstlers zugeschrieben. So blieben manche Charaktere unbegreiflich. Hier liegt die methodische Grenze der abstrakten Farbsymbolik. Diese Grenze kann durch eine dramaturgisch-thematische Analyse der Körperbilder sowie eine ikonographische Untersuchung überwunden werden. Das zweite Problem beruht auf der Vernachlässigung der von Kandinsky beschriebenen Bewegungsabläufe. Obwohl der größte Teil der Manuskripte aus Kandinskys Beschreibung zur Bewegung durch Menschen und Gegenstände besteht, wurden sie nicht als Forschungsobjekte betrachtet. Die Ursache dafür ist auf Aussagen Kandinskys zurückzuführen. Der Künstler schrieb in Über das Geistige in der Kunst, dass er solche Bewegung in die Bühnenkomposition einführen wolle, die »sehr einfach« sei und »von welcher das Ziel unbekannt ist.«72 So hielten die Fachleute es gar nicht für notwendig, in den praktischen Bewegungen auf der Bühne einen Sinn zu sehen. Ohne Überprüfung der Bewegungssprache Kandinskys wurden die Bewegungsabläufe nur als abstrakte Raumkomposition verstanden und nicht als inhaltliche Motive in die Analyse aufgenommen. So blieb der gesamte Vorgang weder logisch noch kausal entzifferbar. Es ist daher die Aufgabe der vorliegenden Arbeit, Kandinskys Bewegungssprache in den frühen Bühnenkompositionen zu analysieren und das Ergebnis in die Gesamtinterpretation einzubinden. Kandinsky schrieb von einer »inneren Einheitlichkeit«73 in den Bühnenkompositionen, die durch »äußere Uneinheitlichkeit unterstützt und sogar gebildet wird.«74 Dies klingt wie eine Herausforderung für die Zuschauer, als hätte er die äußerliche Logik und Kausalität im Bühnenstück absichtlich zerstört, damit die »innere Notwendigkeit« zur »einzigen Quelle«75 des Werks werde und das »Drama aus dem Komplex der inneren Erlebnisse (Seelenvibrationen) des Zuschauers«76 bestehe. Mit der »inneren Notwendigkeit« meinte Kandinsky den Gegensatz zu von der Natur vorgegebenen Notwendigkeiten.77 Die äußerliche Uneinheitlichkeit der Körperbilder und die fehlende Koordination der Bewegungen könnten deshalb Bausteine der Bühnenkomposition sein, die schließlich zur »inneren Einheitlichkeit« führen. Und die äußeren Darstellungen müssen trotzdem gemäß der »inneren Notwendigkeit«, d.h. dem inneren Darstellungsprinzip des Künstlers, aufgebaut worden sein. Die Farbsymbolik war die einzige Methode, die durch Kandinskys eigene theoretische Schrift gerechtfertigt war. Angesichts der oben genannten Probleme ist es notwendig, für die Körperbilder und die Bewegungen Kandinskys Darstellungsrichtlinien zu suchen. Die frühen vier Bühnenkompositionen, die unpubliziert und in der Hand des Künstlers blieben, besitzen

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ÜGK, S. 123. ÜB, S. 206. »Es kommt von selbst das Gefühl der Notwendigkeit der inneren Einheitlichkeit, die durch äußere Uneinheitlichkeit unterstützt und sogar gebildet wird.« Der Text in kursiv stammt von Kandinsky. Ebd. Ebd. »Hier wird also zur einzigen Quelle die innere Notwendigkeit.« Der Text in kursiv stammt von Kandinsky. ÜB, S. 207. ÜGK, S. 133ff. Zu der Definition der »inneren Notwendigkeit« in Kandinskys Anwendung sowie dem Nachschlagen der angewendeten Textstellen kann Reinhald Zimmermanns Studie als Nachweis dienen. Siehe Zimmermann 2002b, S. 292ff.

gegenständlichere Körperbilder sowie genauer bestimmte Bewegungen als die weitgehend abstrahierten späteren Bühnenkompositionen. So eignen sich die frühen Werke für die Suche nach Kandinskys Darstellungsprinzip sowie für die Analyse der ihm am Herzen liegenden Themen der Bühnenkompositionen.

1.3. Methode Die frühen Bühnenkompositionen bestehen aus der visuellen Gestaltung der Figuren und deren Bewegungen, die auf der Bühne nicht sprachlich wiedergegeben werden. Sie sind die Medien, die, nach Kandinskys Darstellungsprinzip gestaltet, auf der Bühne als Zeichen fungieren. Ohne sie zu entziffern, ist keine Annäherung an den Inhalt der Stücke möglich. Der erste und der zweite Teil der Analyse widmen sich daher dem grundlegenden Verständnis der Körperbilder sowie der Bewegungen in den Bühnenkompositionen. In den beiden Kapiteln finden sich Untersuchungen von Kandinskys Interessensphäre im Hinblick auf die zeitgenössischen Künste. Danach werden die Körperbilder und die Bewegungen sowohl theoretisch als auch praktisch analysiert. Mit den Körperbildern der Bühnenkompositionen werden das romantische Körperkonzept mit Kandinskys ethnographischem Verständnis, Maurice Maeterlincks Theater für Marionetten, Edward Gordon Craigs Konzept der Übermarionette, der theosophisch-anthroposophischen Bilderwelt sowie der Körperdarstellung der russischen Ikone konfrontiert, wodurch klar wird, dass die gegensätzliche Darstellung der Körperbilder in den Bühnenkompositionen dem Unterschied des geistigen Charakters entspricht. Mit dieser Erkenntnis wird das Aussehen der Figuren dramaturgisch klassifi ziert, so dass die semiotische Funktion der einzelnen Körperteile in den Bühnenkompositionen geklärt wird. Die Körperlichkeit der Darsteller bewegt sich auf einer Skala zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, was nach Kandinskys dualistischen Gegenpolen in Über das Geistige in der Kunst dem Materiellen und dem Geistigen entspricht. Das Ergebnis wird bei der ikonographischen Untersuchung der Motive verwendet. Zu den Bewegungen werden als erstes Kandinskys Zeitgenossen Isadora Duncan, Alexander Sacharoff und Vsevolod Meyerhold herangezogen. Die Bewegung war in Kandinskys Kunsttheorie ein Leitbegriff, dessen Bedeutung von der einfachen Körperbewegung bis zum elementaren Kunstmedium reichte. Eine umfassende Forschung über Kandinskys Kunsttheorie wurde bereits von Reinhard Zimmermann (2002) vorgelegt, ein Teil seiner Studie ist der Erklärung des Begriffs der Bewegung bei Kandinsky gewidmet.78 Seine Analyse könnte mit der These der vorliegenden Arbeit verglichen werden, jedoch betrifft sie die Bewegungspraxis in den Bühnenwerken nicht. Nach der theoretischen Untersuchung werden die Bewegungsabläufe semiotisch vier Zeichentypen – mimisches Zeichen, gestisches Zeichen, proxemisches Zeichen und Tanz als Bewegungskomplex – zugeordnet. Damit wird deutlich, dass die Körperlichkeit der Figuren die Bewegungssprache von der alltäglichen bis zur symbolischen bestimmt. So

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Zimmermann 2002, Bd.2, S. 445.

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können die Bewegungen im Zusammenhang mit der Körperlichkeit ikonographisch gelesen werden. Zur Stückanalyse helfen die Ergebnisse der oben genannten Analysen als grundlegende Methode. Die weitere Interpretation der Körperbilder wie der Bewegungsabläufe erfolgt mit Hilfe der Farbdeutung und der orthodoxen sowie westlich-christlichen Ikonographie. Zur Farbdeutung wird Kandinskys eigene Farblehre in Über das Geistige in der Kunst sowie sein persönliches Farberlebnis in seiner autobiographischen Schrift berücksichtigt. Zur orthodoxen und westlich-christlichen Ikonographie wird das Lexikon der christlichen Ikonographie (Abkürzung als LCI) verwendet. Dabei werden auch die Motive in Kandinskys eigener Malerei zum Vergleich herangezogen. Als sonstige Quellen gelten die christlich-religiösen Motive aus dem Alten und Neuen Testament, literarische Werke wie diejenigen von Johann Wolfgang von Goethe und Torquato Tasso79 und Volkssagen sowie Kandinskys eigener ethnographischer Bericht. Da der Künstler selbst keine Belege zum Inhalt hinterließ, müssen die Deutungen teilweise spekulativ bleiben. Auch ist es möglich, dass Kandinsky ikonographische sowie religiöse Motive zugunsten seiner eigenen Auffassung veränderte. Da schließlich die frühen Werke nicht publiziert wurden, könnten sogar die künstlerische Fertigkeit sowie die Konsequenz in Frage gestellt werden. Dennoch sieht die vorliegende Arbeit eine vertiefte, ernste Auseinandersetzung des Künstlers mit den frühen Bühnenkompositionen und bemüht sich darum, mit Hilfe aller hier vorgestellten Methoden Deutungsmöglichkeiten vorzulegen und daraus fassbare Motive vorzustellen.

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Die Texte, die zum direkten Vergleich dienen sollen, werden im Literaturverzeichnis als Primärtext eingeordnet. Der Literaturbestand aus dem Nachlass von Gabriele Münter in der Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung hilft bei der Auswahl. Das Verzeichnis von Kandinskys persönlicher Bibliothek, die sich in seinem Nachlass beim Centre Georges Pompidou (Paris) befindet, war zur Forschungszeit der Verfasserin nicht zugänglich, so dass es nicht möglich war, Kandinskys Besitz von den in der vorliegenden Arbeit erwähnten Werken – Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre/Wanderjahre, Tassos Das befreite Jerusalem sowie Heinrich Sienkiewiczs Quo Vadis? nachzuweisen. Jedoch werden solche literarischen Werke benutzt, soweit sie nach verschiedenen Ansichten sowie Indizien Einflüsse auf Kandinskys Motive ausgeübt haben können.

2.

Körperlichkeit in den frühen Bühnenkompositionen

Seitdem der Sinn der Künste nicht mehr in der Abbildung der Natur gesehen wird, sind die Gegenstände, statt realistisch dargestellt zu werden, zu beliebig umgestaltbaren Materialien geworden, die die Sicht der Künstler sowie gegebenenfalls das innere Wesen des Objektes reflektieren und vermitteln sollen. Für Kandinsky war das »Geistige in der Kunst« das einzig Wichtige, das durch diese Medien offenbart werden sollte. Wie das Geistige ausgedrückt werden kann, stand daher im Mittelpunkt seiner Auseinandersetzung in Über das Geistige in der Kunst, die ihn schließlich zu den abstrakten Künsten führte. In den frühen Bühnenkompositionen, die Kandinsky während seiner Konfrontation mit der Kunsttheorie entwarf, wird die Ausdrucksmöglichkeit des Geistigen durch die Körperbilder der Figuren ausprobiert. Die Bühnenfiguren fungieren darin als ein Modul, wodurch sowohl ihr materieller als auch ihr geistiger Charakter veranschaulicht werden soll. In dieser Hinsicht sind die unterschiedlichen Abstraktionsstufen der Darsteller in den Bühnenkompositionen auf ihre geistige Stufe zurückzuführen. Der Abstraktionsprozess der Körperbilder in den Bühnenkompositionen wurde in der bisherigen Forschung nur innerhalb der Entwicklung von den frühen Stücken zu den späteren Werken betrachtet. Jelena Hahl-Koch erkannte einen Abstraktionsprozess, der sich vom Entwurfstück Riesen (1909) zur endgültigen Fassung Der gelbe Klang (1912) vollziehe. Sie schrieb, dass die Menschen schließlich zum »reinen Farbträger reduziert«1 würden. Donata Kaman (2003) schließt an Hahl-Kochs Bezeichnung »Farbträger« an, nannte die Farbe den »eigentlichen Akteur [...] und zwar sowohl im Kostüm der Darsteller, als auch auf den Lichtwechsel bezogen«, und betonte, dass die Farbe und die Bewegung »wichtigste Träger des Geschehens«2 seien. Neben diesem Aspekt wurden die Körperbilder in den meisten Forschungsarbeiten im Zusammenhang mit dem von Edward Gordon Craig ins Leben gerufenen Begriff der »Übermarionette« diskutiert,3 wobei nicht geklärt werden konnte, weshalb in Kandinskys Bühnenkompositionen die Darsteller nicht konsequent abstrahiert wurden. Wenn man die Abstraktion chronologisch als Endziel Kandinskys verstehen würde, wären die Körperbilder in den frühen Bühnenkompositionen nicht zu erklären, die von folkloristisch angekleideten puppenhaften Menschen bis zu den nichtmenschlichen Farbträgern reichen. Für den Ansatz des Grades der Körperlichkeit kann die Forschungsarbeit von Hubertus Gaßner und Wolfgang Kersten (1991) mit einem Analyse-Beispiel von Kandins-

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Hahl-Koch 1993, S. 150. Kaman 2001, S. 135f. Siehe Römstock 1955 sowie Schober 1995.

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kys »Komposition IV« (1911) herangezogen werden. Die beiden Autoren entwickelten eine Analyse des Gemäldes, ausgehend von den unterschiedlichen Abstraktionsstufen innerhalb des Bildes, und begründeten sie mit einer theosophischen Weltsicht. Sie nannten die Mischung verschiedener Abstraktionsstufen »Kandinskys Bemühungen um bildliche Umsetzung der drei von dem deutschen Theosophen Rudolf Steiner gewiesenen Abstraktionsstufen auf dem Weg zur Erkenntnis ›höherer Welten‹.«4 So könnte in der gemischten Darstellungstechnik Kandinskys eine Bedeutung gesehen werden. Die Methode von Gaßner und Kersten wird hier jedoch nur mit Vorsicht berücksichtigt, denn die Unterscheidung der Körperlichkeit in den frühen Bühnenkompositionen ist komplexer und deutlicher als in dem von ihnen analysierten Gemälde. In der synthetischen Bühnenkunst, die der Künstler als seine Welt schuf, muss ein eigenes Darstellungsprinzip sichtbar werden. Die Bühnenkompositionen waren für Kandinsky ein Experimentierlabor, in dem er die Ausdrucksmöglichkeit des materiell-geistigen Menschenkörpers im dreidimensionalen Raum, der der virtuellen Welt entspricht, untersuchen konnte. Dabei inspirierten ihn vermutlich die Ideen der zeitgenössischen Künste sowie der Geistesphilosophie: Maurice Maeterlinck, Edward Gordon Craig, Rudolf Steiner und das Wesen der orthodoxen Ikone könnten als mögliche Initiatoren genannt werden. Entstanden war in den frühen Bühnenkompositionen eine Mischung von Körperbildern, deren Stil zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion schwankt. Dass dies aufgrund bewusster Unterscheidung verschiedener Geistesstufen verursacht werden kann, wird in diesem Kapitel ausführlich erläutert. Als Erstes werden die Einflüsse der zeitgenössischen Ideen auf Kandinsky im Hinblick auf die Körperbilder untersucht (Kap. 2.1.). Anschließend werden die einzelnen Körperbilder in den frühen Bühnenkompositionen nach dem dramaturgischen Schema klassifiziert (Kap. 2.2.1.). Dadurch wird klar, wie das Gesicht, der Körper und die Farben in den frühen Bühnenkompositionen semiotisch fungieren (Kap. 2.2.2.). Schließlich wird die hierarchische Ordnung der Körperlichkeit der Bühnenfiguren, die technisch gesehen zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion gestaltet werden und sich inhaltlich zwischen dem Materiellen und dem Geistigen befinden können, im Hinblick auf das dualistische Denkmodell des Künstlers analysiert (Kap. 2.2.3.).

2.1. Körperbilder als Realisation des Geistigen – Die Einflüsse der zeitgenössischen Künste und Ideen Kandinsky war ein analytischer Künstler, der alle wissenschaftlichen, gesellschaftlichen sowie kunsthistorischen Entwicklungen im Blick hatte und daraus die Richtung des sich stets bewegenden »Dreiecks« vorherzusehen suchte, das die gesamte Menschheit abbilde und auf dessen oberster Spitze die Künstler sitzen sollten. Als Künstler und »Propheten« wurden in der Publikation Über das Geistige in der Kunst (1911) der symbolistische

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Gaßner / Kersten 1991, S. 267 sowie S. 269. Sie ordneten die Bildelemente in drei der »geistigen Schulung«: die »Vorbereitung«, die »Erleuchtung« und die »Einweihung«.

Dichter Maurice Maeterlinck und der Komponist Arnold Schönberg bezeichnet, die den Beginn der »geistigen Epoche« offenbaren würden. So analysierte Kandinsky die zeitgenössischen Strömungen der Künste und Ideen und stellte die frühen Bühnenkompositionen, die nach seinen Worten das »monumentale Kunstwerk« sein sollten, als Ergebnisse all seiner Überlegungen dar. Die Körperbilder sind, als ob sie das Modell des Dreiecks der Menschheit verbildlichen würden, in unterschiedlichem Stil zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion dargestellt. Um Kandinskys Konzept der Körperbilder in den Bühnenkompositionen zu verstehen, werden in den weiteren Unterkapiteln mögliche Einflüsse der zeitgenössischen Künste in Betracht gezogen. Untersucht werden ethnologischromantische Körperbilder, Maeterlincks Theater für Marionetten, Craigs Übermarionette, die geistesphilosophische Bilderwelt wie die von Rudolf Steiner und die Ikone. 2.1.1. »Trachten« als Volksseele: Eingang zu einer utopischen Welt Die »Menschen« in den frühen Bühnenkompositionen tragen Kostüme, die von Kandinsky als »Tracht« bezeichnet werden. Im Vergleich zu den anderen Körperbildern wie der »Figur« und der »Gestalt«, denen nur Körperfarben und keine Kostüme zugeschrieben werden, sind die Körperbilder der »Menschen« in »Trachten« gegenständlicher, wobei die Ersteren einzeln und handelnd erscheinen, die »Menschen« hingegen immer kollektiv auftreten. Trotz der gegebenen Information der »Tracht« scheint keine eine individuelle Funktion zu haben. Es fehlt allgemein an Angaben zur Nationalität sowie zum Volk, so dass die Menschen in »Trachten« nur als eine Versammlung irgendeines Volks verstanden werden können. Es gibt drei Beispiele der Menschen in trachtenähnlichen Kostümen. Die genauesten Angaben sind im zweiten Bild der Bühnenkomposition II Grüner Klang zu finden (Abb. 1). Demnach tragen die Männer »lange Kaftans, die geschlossen oder auf sind und ein langes Hemd sichtbar machen.«5 Kandinsky fährt in seiner Beschreibung fort: Die Haare sind lang und hängen bei manchen bis zu den Schultern. Gesichter farbig in malerischer Beziehung zu Tracht und Haar. Ebenso bei den Frauen, die eine Art von Sarafan als Kleid haben, auch glatt farbig od. mit sehr einfachem Muster. Kinder haben lose od. durch Gürtel gehaltene Hemden.6

Kaftan und Sarafan sind russische Trachten, insofern geben sie einen kulturellen Hinweis auf die russische Folklore. Jedoch ist keine weitere Information über dieses Volk vorhanden, so dass die Volkszugehörigkeit nicht betont und den Zuschauern nicht wirklich vermittelt wird. In der ersten und vierten der Bühnenkompositionen, Riesen und Schwarze Figur, erscheinen auch Menschen in »Trachten«. Dabei ist das Detail der Kleidung noch unbestimmter als in Grüner Klang. So fungieren die Kostüme in erster Linie zur Differenzierung gegenüber den abstrakten Körperbildern der »Figuren«. In einer hierarchischen Abstufung zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion können die Menschen in

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Kandinsky: Grüner Klang. In: ÜT, S. 92. Ebd.

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Kostümen zur gegenständlichsten Stufe zugehören. Dies gilt für die Mehrheit der Bevölkerung in Kandinskys Welt. Die von Kandinsky »Tracht« genannten Kostüme können seine romantische Sehnsucht nach der Folklore reflektieren. Der Sinn der Kostüme kann in Kandinskys Erfahrung als Ethnograph und in seiner frühen Malerei, die Märchenmotive und mittelalterliche Themen enthielt, gesucht werden. Er war seit 1888 Mitglied der russischen »Gesellschaft der Freunde der Naturwissenschaften, der Anthropologie und Ethnographie«7 und unternahm 1889 eine Feldforschung im Gouvernement Wologda. Laut Peg Weiss soll Kandinsky vom heidnischen Schamanismus und von den Zauberriten in Wologda eine entscheidende Inspiration zu seiner kunstmissionarischen Zielsetzung erhalten haben,8 wobei diese Einschätzung von Natasha Kurchanova (1994) angezweifelt wurde. Demnach vernachlässige Weiss’ These Kandinskys starke christliche Prägung, die sich in seinen Texten und seinen Bildthemen präsentiere. Kurchanova begrenzte die unmittelbaren Einflüsse von Kandinskys Studium der Ethnographie auf die Themenwahl in seiner frühen Malerei und führte sein Interesse auf das romantische Konzept der Mythologieforschung9 in Russland zurück, deren methodische Grundlage von den Brüdern Grimm stammt. Infolgedessen wird die Folklore in der Ethnographie als »Schöpfung und zugleich Spiegelung der ›Volksseele‹« verstanden.10 Kandinsky muss als Ethnograph mit der aus der Romantik stammenden Sehnsucht nach der »Volksseele«11 vertraut gewesen sein. Die beiden genannten Forschungsstudien geben Hinweise auf die Einflüsse der ethnologischen Feldforschungsreise Kandinskys, erklären jedoch nicht, was der Künstler mit den folkloristisch gekleideten Menschen darstellen wollte. Die Bevölkerung in den frühen Bühnenkompositionen, die in »Trachten« erscheint, muss für Kandinskys monumentale Kunstwerke eine entsprechende Funktion besitzen. 7 8

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Kurchanova 1994, S. 58. Weiss 1995. Weiss sah Kandinskys kunstmissionarische Zielsetzung darin, den geistigen Wert der Kunst in der materiellen Welt zu vermitteln, und verwies damit auf deren Ähnlichkeit mit dem Heilungs- und Erlösungsprozess der Schamanen. Sie verglich die Struktur der Bilder Kandinskys mit der ethnischen Kunst, wie der ovalen Schild-Trommel der Schamanen in Tatar. Der Ausgangspunkt war die Darstellung des Universums auf der Leinwand. Auf der ovalen Schild-Trommel zeichneten die Schamanen das Weltbild, Menschen, Tiere und Natur. Einige Bilder Kandinskys in den 1920er Jahren wurden auch auf ovalen Leinwänden gezeichnet bzw. gemalt. Die Übernahme der Bildstruktur kann gewiss Kandinskys Interesse oder Erinnerung an die Volkskunst von Wologda zeigen, jedoch dauerte es viele Jahre, bis Kandinsky die Kunst der Schamanen in seine Kunst aufnahm. Insofern fehlt es an Indizien, die auf eine Initiation des Schamanenkultes hinweisen. Es scheint mir wichtiger, dass das an Wologda erinnernde Dorf mit den Menschen in »Trachten« in den frühen Bühnenkompositionen abgerufen wurde, welche nach Kandinsky die erste monumentale Kunst und möglicherweise ein Abbild der Welt sein sollten. Zur Verbindung von Mythologie und Gesamtkunstwerk siehe Kremer 1994. Ebd., S. 59f. Kurchanova wies anschließend auf die Forschung des russichen Volksmythologie-Forschers Aleksandr N. Afanasiev und seine Sammlung der russischen Volksmärchen und –legenden hin, die 1855 und 1873 vollständig veröffentlicht wurde und bis heute eine große Bedeutung in Russland habe. GSI, S. 32. »die diese Wissenschaft berührende Ethnographie (von der ich mir anfänglich die Seele des Volkes versprach) nahm mich in Anspruch [...].«

Kandinsky schrieb in Rückblicke (1913) über seine Forschungsreise ins Gouvernement Wologda: »Ich kam in Dörfer, wo plötzlich die ganze Bevölkerung von oben bis unten grau gekleidet war und gelblichgrüne Gesichter und Haare hatte, oder plötzlich eine Buntheit der Trachten zeigte, die wie bunte lebende Bilder auf zwei Beinen herumliefen.«12 Dass die »bildhaft« angekleideten Menschen wie Bewohner einer Märchenwelt wirkten, scheint beim Maler einen Eindruck hinterlassen zu haben, denn die Beschreibung der Dorfbewohner in Wologda ähnelt der der Menschen in der zweiten Bühnenkomposition Grüner Klang, als ob Kandinsky die »bunten lebenden Bilder« aus Wologda auf der dreidimensionalen Bühne ins Leben gerufen hätte. Ihn hätten die bunt angekleideten Dorfbewohner gelehrt, »im Bilde mich zu bewegen, im Bilde zu leben«.13 Dieses Erlebniss gibt einen Schlüssel, weshalb die gegenständlichen Menschen in den frühen Bühnenkompositionen in »Trachten« erscheinen: Sie sollen die Zuschauer der Bühnenkompositionen in die Welt der lebenden Bilder einladen und lehren, »im Bilde sich zu bewegen und im Bilde zu leben«. Für Kandinsky scheint die Welt der »lebenden Bilder« eine Art Sanctuarium geworden zu sein, denn er erzählt in Rückblicke, wie der Wohnraum der Dorfbewohner an eine Kirche erinnerte. Die Holzhäuser von Wologda waren mit »Schnitzereien bedeckt« und innen bildhaft ausgestaltet. Alle Wände waren mit Volksbildern und gemalten oder gedruckten Heiligenbildern geschmückt, die sowohl aus heidnischen als auch aus christlichen Traditionen stammten. Zunächst bezog Kandinsky sie auf die Wände von Kirchen: »Als ich endlich ins Zimmer trat, fühlte ich mich von allen Seiten umgeben von der Malerei, in die ich also hineingegangen war. Dasselbe Gefühl schlummerte bis dahin ganz unbewußt in mir, wenn ich in den Moskowischen Kirchen war und besonders im Hauptdom des Kreml.«14 Später hatte er jedes Mal dasselbe Gefühl in den russischen Kirchen und sogar in den katholischen bayerischen und Tiroler Kapellen. Er selbst war erstaunt, dass er trotz seines orthodoxen Glaubens bei den christlichheidnisch gemischt gestalteten Dorfhäusern sowie den anderen Kirchen dasselbe empfand. Der Raum, in dem sich die »lebenden Bilder« mit Trachten befanden, verbindet sich für ihn schließlich mit dem Raum der Kirche bzw. der heiligen Welt. In diesem Sanctuarium vermischt sich das folkloristische Brauchtum mit dem Christentum und macht das Wesen des Glaubens spürbar, das letzten Endes keine Grenze der Religionen kennt.15 Der Unterschied der Religionen bedeutete dem Künstler in dieser heiligen Welt des »primitiven«16 Volks nichts mehr. So dienen die »Trachten« der Menschen bei

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GSI, S. 37. Fett gedruckte Worte werden von der Verfasserin betont. Ebd., S. 37. Ebd., S. 37. In seinem ethnographischen Forschungsbeitrag (1889) schrieb Kandinsky über sein Forschungsvorhaben, »die Spuren der heidnischen Epoche so gut wie möglich zu rekonstruieren, soweit sie sich im Chaos der heutigen religiösen Vorstellungen, die stark vom Christentum beeinflusst sind, noch nachweisen lassen.« GSI, S. 68. Der Text in kursiv stammt von Kandinsky. Pdzemskaia schrieb, dass Kandinskys universale Kunst an die ganze Menschheit gerichtet war, wie auch das Evangelium, nicht nur für das erwählte Volk, sondern auch »an Völker, in ihrer Naivität ähnlich den Kindern, also an die so genannten primitiven Völker«. Podzemskaia 1993, S.109.

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Kandinsky nicht zur Identifizierung eines bestimmten Volkes, sondern zur Einladung in ein Sanctuarium wie in eine utopische Welt, die für alle Völker geöffnet wird, wobei Kandinskys kunstmissionarisches Ziel unverkennbar ist. Dass Kandinsky die Bühnenkompositionen allen Menschen aus verschiedenen Regionen sowie Zeiträumen gewidmet haben könnte, lässt sich in der Bühnenkomposition VI Schwarze Figur sowie in der späten Violett – Eine Bühnenkomposition (1914/1927) deutlicher erkennen. In Schwarze Figur sind »8 Figuren in verschiedenen farbigen Trachten«17 zu sehen (Abb. 2), deren Kostüme nicht mit einem bestimmten Volk verbunden sind. Dies wird in der vorliegenden Studie als eine Szene beim Jüngsten Gericht am Fluss Lethe erklärt.18 In der späten Violett – Eine Bühnenkomposition (1914), die die Motive aus Bühnenkomposition II Grüner Klang, III Schwarz und Weiß sowie IV Schwarze Figur übernahm, bezieht sich Kandinskys Beschreibung der Menschen auf alle Kulturen sowie Nationalitäten wie folgt: »Menschen in roten und grünen russischen Hemden«, »Ein Ägypter«, »Eine Läppin«, »Professortypus mit goldener Brille und langem Bart«, »eine Japanerin in Tracht, Arm in Arm mit einer Dame in Mittelaltertracht«.19 So vertreten die Menschen die eigenen Kulturen sowie Zeiträume und bilden eine Welt, in der sie ohne Konflikt »Arm in Arm« friedlich leben. Kandinskys Konzept der »Trachten« könnte mit den Körperbildern bei Diaghilevs Ballets Russes in Paris verglichen werden, die von 1909 bis 1929 durch die russischfolkloristischen Bühnenbilder und Kostüme,20 wie in L’oiseau de Feu21 oder in Le sacre du printemps,22 eine Sensation im westlichen Raum hervorrief.23 Zum einen wurden die russisch-folkloristischen Körperbilder im westlichen Raum aufgeführt, weil die russische Identität das Pariser Publikum durch ihre Exotik ansprach. Zum anderen besaßen die russisch-folkloristischen Themen für die von Diaghilev engagierten russischen Künstler wie Natalija Gontscharowa 24 einen nationalen Wert. Nachdem das russische Reich die westlichen Kulturen lange geschätzt und Aspekte und Ideen von ihnen übernommen hatte, entdeckten die jungen Künstler um die Jahrhundertwende die Kunst des eigenen Landes: die Ikone und die Volkskunst.25 Sie wirkten wie ein Katalysator, wodurch die Künstler ihre künstlerische Identität wahrzunehmen began-

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Kandinsky, Schwarze Figur. In: ÜT, S. 110. Siehe Kap. 4.5.1. sowie Kap. 4.5.3. Kandinsky, Violett. In: ÜT, S. 224. Als Bühnen- und Kostümentwerfer beteiligten sich die russischen Künstler wie Leon Bakst, Alexander Benois und Natalija Gontscharowa. Uraufgeführt 1910. Musik: Stravinsky, Choreographie: Fokin, Bühnenbild: Golovine / Bakst, später Gontscharowa. Uraufgeführt 1913. Musik: Stravinsky, Choreographie: Nijinsky, Bühnenbild: Benois. Mit der russischen Künstlerszene war Kandinsky gewiss vertraut. In der Zeitschrift Mir Iskusstva (1898–1904), die von Sergei Pavlovich Diaghilev, Leon Bakst und Alexander Benois gegründet wurde, schrieb Kandinsky Korrespondenzen aus München. Dazu Zweite 1982a, Bowlt 1989, Hahl-Koch 1993. Lankheit wies auf den auffallenden starken Anteil der beteiligenden Russen in Der Blaue Reiter hin. Lankheit 2000, S. 280. Kandinsky nahm N.Gontscharowas »Weinlese« (Um 1911/12, Bleistiftzeichnung, 28,5 × 37cm. Paris, Musée National d’Art Moderne) in der Stelle seines Artikel Über Bühnenkomposition als Illustration auf. DBR, S. 195. Diaghilevs Mitarbeiter Leon Bakst sammelte beispielsweise die Ikone sowie russische Volks-

nen und sich vom Realismus verabschiedeten. Die russisch geprägten Körperbilder bei Diaghilevs Ballets Russes waren deshalb für die beteiligten Künstler identisch mit einer Ausstellung der eigenen nationalen Künste. Die russische Tendenz ging jedoch bei den Ballets Russes nach und nach verloren, während nichtrussische Künstler wie Picasso oder Matisse daran teilnahmen. Anders als bei den Ballets Russes behielten die Körperbilder der Bühnenkompositionen die »Trachten« bei, aber es wird deutlich, dass sie nicht nur russische Trachten darstellen, sondern sich auf alle Volkstrachten beziehen sollen. Dies ist ein Zeichen, dass Kandinsky die »Trachten« konzeptionell in die Welt der Bühnenkompositionen einbrachte. Wie bereits besprochen wurde, reflektieren die Menschen in »Trachten« Kandinskys romantisches Konzept einer Utopie, jedoch besteht die Welt der Bühnenkompositionen nicht nur aus den folkloristisch gekleideten Völkern. Kein einziger von diesen Menschen spielt eine wichtige Rolle. Sie erscheinen stets im Kollektiv und handeln nicht. Sie können nur als passive Zuschauer des Geschehens stehen oder sitzen. So sind die gegenständlichen Menschen in »Trachten« keine wirklichen Vertreter des heiligen Raums. Die eigentlichen Protagonisten sind die abstrahierten »Figuren«, denn sie beeinflussen mit ihrer Gestik direkt den Bühnenvorgang. Der Aufbau der Hierarchie könnte dem von Kandinsky sogenannten »geistigen Dreieck« ähnlich sein, das die gesamte Menschheit sowie die Entwicklung des Menschengeistes verkörpern solle. In der höchsten Spitze sollen die Künstler und »Menschendiener« sitzen, die geistige Nahrung schaffen. Die Mehrheit der Menschen, die zu den übrigen Ecken und zum Boden gehören, bekommt die Nahrung, versteht aber ihre Bedeutung nicht sofort. Erst später, wenn sich das »geistige Dreieck« langsam nach oben bewegt, kann die Mehrheit den Sinn der Nahrung verstehen. Entsprechend dieser analogischen Weltstruktur Kandinskys können die abstrahierten wenigen Darsteller in den Bühnenkompositionen als Triebkraft dieser Utopie erkannt werden. Sie treiben die Welt der Bühnenkomposition zur geistigen Höhe. Hingegen stehen oder sitzen die nicht abstrahierten gegenständlichen Menschen in »Trachten« in dem unteren Teil des »Dreiecks«, das sich durch die Triebkraft der oberen Geistigen langsam nach oben bewegt, und können den geistigen Sinn erst später verstehen. So bilden die gegenständlichen Körperbilder in »Trachten« einen Gegenpol zu Kandinskys Endziel der Abstraktion. 2.1.2. Einfluss von Maurice Maeterlincks Theater für Marionetten Kandinsky spricht in Über das Geistige in der Kunst den Dramenstil von Maurice Maeterlinck (1862–1949) an. Er erkennt in der Verwendung der Sprache bei Maeterlinck zwei Bedeutungen, »die erste direkte und zweite innere«, und nennt die zweite Bedeutung einen »inneren Klang«, der »im Kopfe des Hörers die abstrakte Vorstellung«, den »dematerialisierten Gegenstand« und »im ›Herzen‹ eine Vibration sofort hervorruf[t]«.26 Dies entspricht seiner Wertschätzung der symbolistischen Literatur und der Nachwirkung von

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kunst und stellte sie in der Zeitschrift Mir iskusstva (1898–1904) vor. Zum Einfluss der Ikone auf Kandinsky siehe Kap. 2.1.5. ÜGK, S. 45.

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Maeterlinck in der Literaturgeschichte.27 Die von Kandinsky in Über das Geistige in der Kunst genannten Stücke Maeterlincks für Marionettentheater, La Princesse Maleine, Sept Princesses und Les Aveugles waren Anfang des 20. Jahrhunderts auch im deutschsprachigen Experimenttheater beliebt.28 Sie wurden von Theaterreformern wie Max Reinhardt29 oder durch die Schwabinger Schattenspiele30 aufgeführt, die Kandinsky gekannt haben muss. Während er in der Ainmillerstraße wohnte, fand ebendort die erste Aufführung der Schwabinger Schattenspiele statt. Mit Karl Wolfskehl, dessen Stück Wolfdietrich und die Rauhe Els im Rahmen der Ausstellung München 1908 durch die Schwabinger Schattenspiele aufgeführt wurde, schloss Kandinsky ab etwa 1907 eine enge und lange Freundschaft.31 Kandinskys Bemerkungen über Maeterlinck beweisen nicht nur sein Interesse an der symbolistischen Literatur, sondern auch an den Körperbildern in Maeterlincks Dramen. Er schrieb, dass die Titelrollen der oben genannten Stücke Maeterlincks »keine Menschen vergangener Zeiten, wie uns die stilisierten Helden Shakespeares vorkommen«, seien, sondern dass sie vielmehr »direkt Seelen, die in Nebeln suchen, von Nebeln erstickt zu werden bedroht sind, über welchen eine unsichtbare, düstere Macht schwebt«, seien.32 Kandinskys Ansicht spiegelt die Marionettenhaftigkeit der Rollen wider, jedoch liegt dabei sein Interesse in der andeutend-indirekten Darstellung des Unsichtbaren. Eine Bemerkung von Alexander von Bernus, dem Gründer der Schwabinger Schattenspiele, über das Schattentheater deutet die Eigenschaft der Maeterlinck’schen Körperbilder und ihre Übersetzbarkeit ins Schattenspiel an: »Allein das Eigentümliche und tief Ergreifende des Schattenspiels liegt ganz wo anders, ganz im Seelischen. Es spiegelt am reinsten die entmaterialisierte Welt der wachen Träume, die feinste Linie zwischen Sein und Schein, es ist im eigentlichen Sinn romantisch.«33 Die Urteile von Kandinsky und Alexander

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In Russland wurde die symbolistische Literatur wie diejenige Maeterlincks besonders von den Avantgardisten der Jahrhundertwende hochgeschätzt. Ebert schrieb: »Die symbolistische Sammlungsbewegung hatte nicht nur eine ideelle Dimension, die vor allem in der Konzentration des traditionellen russischen Welteinheitsdenkens zu sehen ist, sondern auch eine organisatorische: Das große Engagement, mit dem Zeitschriften, Verlage, Zirkel, Veranstaltungen verschiedenster Art eingerichtet wurden, zeugt davon, dass die neuen Ideen in praktische Kulturarbeit umgesetzt werden sollten.« Ebert 1994, S. 76. Auch die Vertreter der russischen Theaterreform, Konstantin Stanislawski und Wsewolod Meyerhold inszenierten die Stücke Maeterlincks wie Tintagiles Tod (inszeniert von Meyerhold, 1906). Siehe Bayerdörfer 1976. Das symbolistische Theater, dessen Versuch in der Erneuerung der Tragödie beruht, schließt sich an die Tradition des Marionettentheaters an und stimulierte das Experimenttheater im 20. Jahrhundert durch die Erprobung der theatralischen Möglichkeiten. Reinhardt inszenierte 1908 Maeterlincks Pelleas und Melisande mit dem optisch-experimentellen Nebelvorhang, der dem Stück die entsprechende Stimmung wie die eines mystischen Traumes verlieh. Dazu Kluncker 1978. Zu den Schattenfiguren passte die symbolistische Dramatik Maeterlincks, die ursprünglich für Puppentheater geschrieben wurde. Zu Kandinskys Kontakten mit Symbolisten in München siehe Weiss 1977, S. 210. Den möglichen Einfluss von Georg Fuchs auf Kandinsky, den Weiss aufstellte, lehnte Hahl-Koch jedoch ab und wies auf den engeren Zusammenhang zwischen Kandinsky und den russischen Symbolisten bzw. der Theaterreform hin. Hahl-Koch 1993, S. 149. ÜGK, S. 44. Der Text in kursiv stammt von Kandinsky. Alexander von Bernus, Schwabinger Schattenspiele. Kluncker 1978 op.cit., S. 335.

von Bernus bekunden eine gemeinsame Faszination für die Darstellung unsichtbarer »Seelen« auf der Bühne, die in der Tragik von Maeterlinck angedeutet werden. Kandinsky bezeichnete als die Ursache der Tragik Maeterlincks den Besuch des Todes34 als »unsichtbare düstere Macht«. Anschließend nannte er Maeterlinck »vielleicht einen der ersten Propheten, den ersten künstlerischen Berichterstatter und Hellseher des oben beschriebenen Niederganges [d.h. der geistigen Finsternis].«35 »Propheten« erschienen nach Kandinskys Auffassung am Beginn der neuen Epoche. Er bezeichnete neben Maeterlinck auch Arnold Schönberg als Propheten. Da Kandinsky in Über das Geistige in der Kunst die schon begonnene »Epoche des Geistigen« verkündete, muss Maeterlinck für Kandinsky Wegbereiter der geistigen Epoche gewesen sein. Kandinskys Begeisterung für die Körperbilder in Maeterlincks Theater scheint sich auf die Darstellung der unsichtbaren Seelen zu konzentrieren. Kandinsky besaß Maeterlincks Aufsatzsammlung Von der inneren Schönheit (1909),36 so dass sich sein Kommentar zu »Seelen« in Maeterlincks Theater37 vermutlich auf die Seelenvorstellung des Autors bezieht.38 Maeterlinck stellt sich die Seele als das innerliche Wesen der Menschen vor, in dem das Göttliche sich verstecke. Deshalb schrieb Maeterlinck die Bühnenwerke nicht für Menschen, sondern für Marionetten. MacGuinnes (2000) schrieb: »Maeterlinck is preoccupied both with the actor’s bodily presence and with his residual or obstructive personality. [...] The actor, both as body and as personality, is always ready to intrude upon the fiction, to block or divert attention from the message, and to redirect it to the medium.«39 Die von Maeterlinck als »Alternatives« gewählten Marionetten konnten, anders als ein menschlicher Körper, als »une ombre, un reflet, une projection de formes symboliques« fungieren.40 Sie waren Maeterlincks Medien, deren Körperlichkeit und Persönlichkeit höchst reduziert waren41 und durch die das »Wesen der Anderen in den Seelen«42 auf der Bühne dargestellt werden konnte.

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Der unsichtbare Besuch des Todes ist das Hauptthema in Maeterlincks Der Eindringling oder Interieur. Wie der Inbegriff des unsichtbaren Tod bzw. des Schicksals durch das Groteske Theater sichtbar auf der Bühne dargestellt wird, siehe Bayerdörfer 1976. ÜGK, S. 44. Im Literaturbestand aus dem Nachlass von Gabriele Münter. Kandinsky zitierte am Ende seiner Publikation Über das Geistige in der Kunst aus Maeterlincks genanntem Werk. ÜGK, S. 44. Maeterlinck 1909, S. 143. »Im Grunde leben wir nur von Seele zu Seele und wir sind Götter, die sich nicht kennen.« McGuinnes 2000, S. 107. Ebd., S. 110. Maeterlinck schrieb, »Il faudrait peut-être écarter entièrement l’être humain de la scène. [...] L’être humain sera-t-il remplacé par une ombre, un reflet, une projection de formes symboliques ou un être qui aurait les allures de la vie sans avoir la vie? Je ne sais, mais l’absence de l’homme me semble indispensable.« Maurice Maeterlinck: Introduction à une psychologie des songes (1886–1896), Textes réunis et commentés par S. Gross, Brussels, 1985. MacGuinnes 2000 op.cit., S. 109. Es gibt jedoch auch Marionetten, deren Rolle einem bestimmten Charakter wie z.B. Kaspar zugeschrieben wird, wobei die Körperlichkeit und Persönlichkeit nicht reduziert sondern übertrieben werden. Maeterlinck 1909, S. 175. Maeterlinck nannte den Zugang zum Wesen anderer Menschen

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Die reduzierte Körperlichkeit der Marionetten bei Maeterlinck erinnert an die abstrahierten Körperbilder in Kandinskys Bühnenkompositionen. Mag sein, dass Kandinsky von Maeterlincks Theater die Anregung bekam, das »Geistige« auf die Bühne zu bringen und zu offenbaren. Kandinsky schätzte auch die anti-naturalistischen Bühnenbilder bei Maeterlinck und nannte sie »einen nötigen Übergang vom Materiellen zum Geistigen des Theaters der Zukunft«.43 Die Bühnenkomposition, die nach Kandinsky das »erste Werk der monumentalen Kunst«44 sein sollte, leistet einen wesentlichen Schritt vom Materiellen zum Geistigen. 2.1.3. Abkömmling einer göttlichen Figur: Edward Gordon Craigs Konzepte der Übermarionette Kurz bevor Kandinsky seine synthetische Kunst zu entwerfen begann, besuchte er von September 1907 bis April 190845 in Berlin verschiedene Konzerte und Theateraufführungen. Der Künstler bekam durch die Inszenierungen von Theaterreformern wie Max Reinhardt oder Ernst Stern, der genau wie Kandinsky von Franz von Stuck ausgebildet worden war, schöpferische Impulse.46 Die Farbsymbolik und Verwendung der Lichteffekte der Theaterreformer47 müssen Kandinsky gefallen haben. Eine weitere Begegnung mit einem Protagonisten der Theaterreform folgte im Sommer 1908, als Edward Gordon Craig das Künstlertheater München besuchte. Kandinsky besaß durch Emmy Schroeter, die Schwester von Gabriele Münter, ein Exemplar von Craigs Die Kunst des Theaters (1905).48 Gisela Kleine hält Kandinskys persönliche Begegnung mit Craig in München für möglich und wies auf einen Einfluss von Craig auf Kandinsky hin,49 wobei diesem Umstand in den bisherigen Studien nicht ausführlich nachgegangen wurde. Ein Grund dafür ist, dass Kandinsky in seiner Publikation Über das Geistige in der Kunst die Vertreter der Theaterreform wie Craig oder Georg Fuchs nicht erwähnte, so dass die Haltung des Künstlers zur Theaterreform nicht festzustellen ist. Es scheint, dass der Maler sich selbst nicht als

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das Tor: »wenn man sich immerfort in der Nähe der Tore hält, von denen ich soeben sprach, entdeckt man das Göttliche, das in den Seelen ist.« Die Nächstenliebe hieß bei ihm nicht nur »sich ihm ganz hingeben, ihm dienen, helfen und den Anderen beispringen,« sondern das »ewige Tor« öffnen und das »Wesen der Anderen in den Seelen« sehen und lieben. Ebd., S. 45. Ebd., S. 125. Der Text in kursiv stammt von Kandinsky. Kat. Kandinsky und München 1982, S. 439. Durch die beiden gab es in dieser Saison die Aufführungen Was Ihr wollt, Prinz Friedrich von Homburg, Die Räuber. Kleine 1994, S. 287. Weitere mögliche Besuche von Reinhardts Theater durch Kandinsky könnten bei den Festspielen in München stattgefunden haben. Reinhardt kam in den Sommern 1909, 1910 und 1911 und zeigte Stücke von Shakespeare, Lessing, Goethe, Schiller, Ibsen und anderen. Siehe Reinhardt 1974, S. 134. Neben Reinhardt war Adolphe Appia ein Vertreter der Farb-Lichteffekte. Er schrieb: »Mit Licht malt der Wort-Tondichter sein Bild. Die leblosen Farben, welche das Licht bloß vorgestellt hatten, sind nicht mehr vorhanden, dafür aber ist das Licht selbst da, tatsächlich und lebendig, und nimmt der Farbe alles, was sich seiner Beweglichkeit entgegenstellt.« Appia 2001, S. 44. Boissel 1986, S. 244. Kleine 1994, S. 288.

»Theaterreformer« oder »Theatermacher« verstand, denn er beabsichtigte nicht, die Theaterkunst zu reformieren, sondern wollte durch die Bühnenkomposition eine neue Kunstgattung unter Beteiligung von drei Künstlerprotagonisten, Komponist, Maler und Choreograph, schaffen. Obwohl Kandinskys Aussage dazu fehlt, ist der Impuls von Craig in seiner Theorie der Bühnensynthese nicht zu vernachlässigen. Beispielsweise könnte in Kandinskys Verwendung der »Bewegung« als Bühnenelement ein direkter Einfluss von Craigs Theorie gesehen werden. Für Craig war die Kunst des Theaters die Gesamtheit der Elemente, aus denen diese einzelnen Bereiche zusammengesetzt sind. Sie besteht aus der Bewegung, die der Geist der Schauspielkunst ist, aus den Worten, die den Körper des Stückes bilden, aus Linie und Farbe, welche die Seele der Szenerie sind, und aus dem Rhythmus, der das Wesen des Tanzes ist.50

Kandinsky wollte Craigs Worten nach »ein Künstler des Theaters der Zukunft« sein, der aus »Bewegung, Szenengestaltung und Stimme« seine Meisterwerke schafft, wobei Kandinsky die Bedeutung der »Bewegung« nicht auf die Körperbewegung einschränkte, sondern metaphorisch für alle Elemente wie auch Farben und Tönen erweiterte.51 Andererseits schloss Kandinsky die in Craigs Theorie wichtigen Worte, also Text, aus der Reihe der wichtigsten Elemente aus, so dass der von Craig genannte »Körper des Stücks« in den Bühnenkompositionen nur spärlich existiert. Zur Untersuchung der Körperbilder in den frühen Bühnenkompositionen ist Craigs Idee der Übermarionette besonders hilfreich. Craigs Aufsatz Der Schauspieler und die Übermarionette wurde zuerst im April 1908 in der Zeitschrift The Mask Vol. 1, Nr. 2 veröffentlicht. Es gibt darin drei Merkmale, die Kandinskys Körperbilder beeinflusst haben könnten. Erstens wird bei den Bühnenkompositionen die Schauspielkunst kaum verlangt. Wie die Figuren aussehen sollen und was für Bewegungen sie machen, wird von Kandinsky vorgeschrieben. Dabei wird ein Emotionsausdruck nicht explizit gefordert und ist auch kaum möglich, da sich in den Bühnenkompositionen kein offensichtlich emotionales Ereignis entschlüsseln lässt. Diese Gestaltungskonzeption für die Darsteller erinnert an Craigs Ansatz der Übermarionette. Craig schrieb über die Schauspielkunst, »die menschliche Natur ist ganz auf Freiheit gerichtet; so erbringt der Mensch mit seiner eigenen Person den Beweis, dass er als Material für das Theater untauglich ist.«52 Craig schreibt weiter, dass das eigene Gefühl, auf dem der Schauspieler beharre, nicht unter der Kontrolle des Schauspielers selbst und des Regisseurs sein könne und für ein Kunstwerk nicht geeignet sei. Der Verzicht auf die »menschliche Natur« war ein wichtiger Schritt im Prozess der Abstraktion bei den Bühnenkompositionen. So teilen die Körperbilder der frühen Bühnenkompositionen die wesentliche Idee mit der Übermarionette. Den abstrahierten Figuren der Bühnenkompositionen fehlt nicht nur eine Persönlichkeit, sondern auch Geschlechtsmerkmale und Charakter, so dass sie nur noch eine

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Craig 1969b, S.101. »Die Bühnenkomposition wird zunächst aus diesen drei Elementen bestehen: 1. musikalische Bewegung, 2. malerische Bewegung, 3. tanzkünstlerische Bewegung.« ÜGK, S. 125. Craig 1969a, S. 53. Der Text in kursiv stammt von Craig.

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Farbe am Körper und eventuell noch eine weitere Farbe am Gesicht tragen. »Farbträger« wurden sie von Jelena Hahl-Koch (1993) und Donata Kaman (2001) genannt, so betrachten die beiden in den farbigen Figuren nur den abstrakten Sinn nach der Farbsymbolik, auch wenn die farbigen Gesichter wie die Masken ihre Botschaft als Menschen vermitteln wollen. Die Craig’sche Theorie der Übermarionette könnte die These der »Farbträger« widerlegen, denn die abstrakten Körperbilder verkörpern nach Craig für die Bühnenkunst idealisierte Menschen und stellen keine Verkörperung reiner Farbe dar. Zweitens liegt Craigs Ziel der Übermarionette nah an Kandinskys Absicht in den Bühnenkompositionen, durch künstlerische Mittel das »Geistige« in der Kunst hervorzubringen. Craig schrieb, dass der Körper des Schauspielers zum »Sklaven des Geistes« werden müsse, wogegen der »gesunde Körper« sich entschieden wehren würde.53 In Craigs Dialog führen ausgerechnet ein Maler und ein Schauspieler das Gespräch, und der Maler sagt: »Was Sie [der Schauspieler] im Geiste entwerfen, die Natur gestattet nicht, dass Ihr Körper es vollendet. Vielmehr führt ja der Triumph des Körpers über den Geist häufig dazu, das Geistige schließlich ganz vom Theater zu vertreiben.«54 Craig folgert daraus: »Der Schauspieler muss das Theater räumen, und seinen Platz wird die unbelebte Figur einnehmen – wir nennen sie die Über-Marionette, bis sie sich selbst einen besseren Namen erworben hat.«55 Der Maler bespricht die Aufgabe bzw. das Schicksal der Theaterkunst, durch den Körper das Geistige ausdrücken zu müssen, und schlägt vor, statt Schauspieler Figuren zu nehmen, die eine symbolische Gebärdensprache56 beherrschen. Der Charakter des Malers in Craigs Dialog ruft fast das eigenartige Gefühl hervor, Kandinsky selbst sei das Modell für diese fiktive Figur gewesen. Kandinskys Konzept der Körperbilder in den Bühnenkompositionen, die materielle Eigenschaft des Körpers zu reduzieren und dadurch das Geistige hervorzuheben, entspricht der Idee der Übermarionette. Die abstrahierten Figuren in Kandinskys Welt verhalten sich auch symbolisch und handeln nur durch die minimale Gestik, die an die stilisierte Gestik in den bildenden Künsten erinnert. So liegt der Sinn der abstrakten Figuren in den Bühnenkompositionen wahrscheinlich in der Darstellung des Geistigen. Die dritte Gemeinsamkeit zwischen den Körperbildern der Bühnenkompositionen und Craigs Übermarionette ist die Verbindung der Figuren mit der Abbildung von Göttern. Craig bezeichnet die ursprüngliche Bedeutung der Marionette als Abbild von Göttern, wofür er als Beispiele zwei Formen religiös bestimmter Kunst nennt: die ägyptische Kunst und das asiatische Puppentheater, die durch die Abbildung der Götter entstanden seien. Er nennt die Marionette »einen Abkömmling der Steinbilder in den alten Tempeln: das heute recht degenerierte Abbild eines Gottes. [...] Die Marionette ist für mich der letzte Abglanz einer edlen und schönen Kunst vergangener Kulturen.«57 Dies verbindet Craig und Kandinsky, denn der Zusammenhang zwischen dem Ursprung der Kunst und der Religion war auch für Kandinsky wichtig. Im Ge-

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Craig 1969a, S. 54. Craig 1969a, S. 58. Craig 1969a, S. 64–66. Craig 1969a, S. 54f. Craig 1969a, S. 66.

spräch mit Lothar Schreyer wies Kandinsky auf den Zusammenhang der ägyptischen und der christlichen Kunst hin, und nannte die ägyptischen Mumienporträts den »Ursprung der christlichen Malerei.«58 Er sagte weiter, dass die christliche Malerei fast verloren sei oder im Verborgenen schlafe. Dabei fühle er sich ohne Zweifel als ihr Nachkomme. Die beiden Künstler wurden durch die ägyptische bzw. sogenannte »primitive« Kunst inspiriert und setzten sich ein ähnliches Ziel, auch wenn sie nicht die gleiche Methode verwendeten. Craig schrieb weiter: Wir müssen uns daher um die Wiederherstellung jener Götterbilder bemühen, und wir müssen – nicht zufrieden mit den Marionettenpuppen – die Über-Marionette schaffen. Die Über-Marionette wird nicht mit dem Leben wetteifern, sie wird über das Leben hinausgehen. Ihr Vorbild wird nicht der Mensch aus Fleisch und Blut, sondern der Körper in Trance sein; sie wird sich in eine Schönheit hüllen, die dem Tode ähnlich ist, und doch lebendigen Geist ausstrahlen.59

Er beschrieb nochmals die ägyptische Steinfigur, bei der nichts von »Schwärmerei, Gefühlsüberschwang, prahlerischer Persönlichkeit zu spüren ist.«60 Die Beschreibung deutet auf die neue Ausdrucksmöglichkeit der Abstraktion durch die Belebung des reduzierten Ausdrucks der ägyptischen Kunst hin. Craig nannte die Marionetten »Abkömmlinge einer großen und vornehmen Familie von Götterbildern und Idolen« und »Ebenbilder Gottes«61 und wollte sie als vorbildliche Figuren ins zukünftige Theater einführen. Wie Craig durch die Auseinandersetzung mit den »primitiven« Künsten die neuen »Götterbilder« herzustellen versuchte, unternahm auch Kandinsky den Versuch, das »Geistige« bzw. »Göttliche« in den Künsten hervorzubringen, wobei es einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden gibt: Craigs Ansatz der »Götterbilder und Idole« widerspricht der Grundvoraussetzung der Ikonen, mit denen Kandinsky vertraut war, denn die Ikonen sind weder Götterbilder noch Idole, sondern die Schatten der »göttlichen Menschendiener« oder »Märtyrer«, die nicht gegen Moses Verbot der Idolatrie verstoßen. In Kandinskys Über das Geistige in der Kunst sind Bemerkungen zu finden, deren christlich geprägter Standpunkt sich deutlich von Craigs Idee unterscheidet. Es steht dort, man suche »alle Mittel, dieses Körperliche [von Christus] aus Marmor, Eisen, Bronze, Stein in gigantesken Größen wiederzugeben. Als ob etwas läge an diesem Körperlichen bei solchen göttlichen Menschendienern und Märtyrern, die das Körperliche verachteten und nur dem Geistigen dienten.«62 So ist Kandinsky der Meinung, »Ebenbilder Gottes« seien durch das Körperliche unmöglich herzustellen. An anderer Stelle wies er auf die Geschichte von Mose und dem Goldenen Kalb hin und schrieb, dass die von Mose zu den Menschen gebrachte »neue Weisheit« für die Massen, die um das Goldene Kalb tanzen, unhörbare Sprache besäße und diese »zuerst doch vom Künstler gehört« worden sei.63

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Schreyer 1956, S. 230. Craig 1969a, S. 67. Craig 1969a, S. 70. Craig 1969a, S. 71. ÜGK, S. 27. ÜGK, S. 33.

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Die Körperbilder der frühen Bühnenkompositionen haben vieles gemeinsam mit Craigs Übermarionette. Das Ziel der beiden, das Geistige auf der Bühne hervorzuheben, führte die Körperbilder zur Abstraktion. Im großen Blick waren die beiden Künstler auf der Suche nach dem verlorenen Göttlichen für ihre Welt der Künste. Jedoch sagte Kandinsky, anders als Craig, nicht, dass er »Götterbilder« in den Künsten darstellen wolle, sondern stellte nur die abstrakten Figuren dar, deren Identität vom Künstler verschwiegen wurde. Dies muss für Kandinsky eine Voraussetzung gewesen sein, durch die er die Bühnenkompositionen als »monumentale Kunstwerke« für alle Kulturen, Religionen und Zeiten zu entwerfen glaubte. 2.1.4. Das Geistige und der Körper: Einfluss der theosophischen Bilderwelt Für Kandinskys Experiment der Körperbilder in den frühen Bühnenkompositionen spielte die theosophische Bilderwelt, in der das Wesen der Menschen durch die Farben offenbart wird, ohne Zweifel eine große Rolle. Von März bis April 1908 war Kandinsky in Berlin und besuchte mit dem Paar Maria Strakosch-Giesler64 und Alexander Strakosch Rudolf Steiners Architektenvorträge.65 Laut Gisela Kleine inspirierte die Vortragsreihe Kandinsky, so dass er sich anschließend Steiners Publikation Theosophie (1908) und die Zeitschrift Luzifer-Gnosis (1903–1908) zulegte.66 Sixten Ringbom, der den theosophischen Einfluss auf Kandinskys Malerei untersuchte, nahm vorsichtig Stellung: Kandinsky übernehme Rohstoffe aus dem okkulten bzw. theosophischen Gedankengut, nutze sie aber auf seine eigene Art. Die absolute Gleichsetzung der Kunst Kandinskys und der Theosophie sei daher nicht möglich.67 Ringboms Warnung, dass man sich bei der Analyse der Kunstwerke Kandinskys zu sehr auf die theosophische Theorie stütze und ihren eigentlichen Sinn missverstehe, zeigte in den Studien zu den frühen Bühnenkompositionen nicht immer Wirkung. So betonte z.B. Claudia Emmert in ihrer Analyse von Der gelbe Klang – Eine Bühnenkomposition den unmittelbaren Einfluss des Vortrags Steiners über die Schöpfung und behauptete, Kandinsky habe nach Steiners Interpretation der Schöpfung seine frühe Bühnenkomposition I Riesen überarbeitet,68 was aber in der vorliegenden Studie widerlegt wird. Man kann zwar über den Einfluss der theosophischen Lehre auf Kandinskys Kunst spekulieren, aber zumindest waren alle wichtigen Stoffe in Bühnenkomposition I Riesen bereits vorhanden gewesen, bevor Kandinsky mit Steiners Ideen in Kontakt kam. Das Ziel dieses Unterkapitels beschränkt sich daher darauf, durch einen Vergleich der Körperbilder in den Bühnenkompositionen und der theosophischen Bilderwelt einen Überblick über deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu geben. Kandinskys Besuch der Vortragsreihe Steiners wird von Claudia Emmert wegen der Schaffenszeit der frühen Bühnenkompositionen im Zeitraum von 1908 bis 1909 direkt mit diesen in Verbindung gebracht, obwohl Veit Loers darauf hinwies, dass Kandinsky

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Mit ihrer Cousine Emy Dresler war sie Schülerin an Kandinskys Malschule Phalanx. Die beiden wurden um 1908 Mitglieder in der Theosopischen Gesellschaft. Ringbom 1970, S. 65. Kleine 1994, op. cit., S. 297. Ringbom 1982a, S. 85. Siehe Kap. 4.2.1.

bereits während seines Aufenthalts in Paris, besonders 1906 und 1907, einen engen Kontakt zur »okkulten Gesellschaft« und ihrer Bilderwelt entwickelte. Auch einige Hefte der russischen Okkultismus-Zeitschrift Spiritualist – Bote für das Gebiet der Verbindung zum Jenseits (1906/07) enthält der Besitz Kandinskys.69 In seiner Publikation zitierte der Künstler Worte H.P. Blawatzkys, der Gründerin der theosophischen Gesellschaft, und ordnete sie »einer der größten geistigen Bewegungen«70 zu, womit Kandinskys positive Einschätzung des theosophischen Gedankenguts71 belegbar ist.72 Kandinsky besaß das Buch Gedankenformen von Annie Besant und C.W. Leadbeater und einige Publikationen Rudolf Steiners. Bezüglich der genannten Texte lassen sich die Spuren des theosophischen Gedankenguts in den Körperbildern Kandinskys in drei Ansätzen zusammenfassen. Erstens könnte Kandinsky in der Idee der farbigen Aura, die den Körper umgeben soll, eine Erweiterung des Verständnisses des Körpers sowie eine neue Gestaltungsmöglichkeit der Körperbilder mit symbolischen Farben gesehen haben. Durch Steiners Vorträge in Berlin wurde er erneut auf die Farbenlehre Goethes aufmerksam, die er durch sein Malstudium kennengelernt haben dürfte. Die Gesamtausgabe von Goethes Farbenlehre erschien mit einer Einleitung und Kommentaren von Rudolf Steiner von 1883 bis 1897. Goethes Verständnis von der Wahrnehmung der Farben durch das Auge enthält einen Zugang, an den sich die theosophische Sicht anschließt. Goethe schrieb, »nunmehr behaupten wir, wenn es auch einigermaßen sonderbar klingen mag, daß das Auge keine Form sehe, in dem Hell, Dunkel und Farben zusammen allein dasjenige ausmachen, was den Gegenstand vom Gegenstand, die Teile des Gegenstandes voneinander, fürs Auge unterscheidet.«73 Dass die Augen nicht die Form sehen, bekräftigte die theosophischen Weltanschauung in zwei Punkten: das Misstrauen gegen die materielle Welt und der Glaube an das Unsichtbare wie die Aura des Menschen. Steiner begründet die Existenz der Aura in seinem Aufsatz Von der Aura des Menschen (Januar bis April 1904) in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Lucifer Gnosis, die Kandinsky auch besaß und an deren Rand er eigene Anmerkungen schrieb.74 Es handelt sich um Steiners Zeilen,

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Siehe Loers 1995, S. 245ff. ÜGK, S. 42. Nach der Anmerkung des Herausgebers, Max Bill, machte Kandinsky in Über das Geistige in der Kunst keine Unterscheidung »zwischen der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft von Rudolf Steiner und der aus dem Orient stammenden Theosophie von H.P.Blawatzky, [...] weil die Auseinandersetzungen über die gegensätzlichen Auffassungen erst in jenen Jahren stattfanden.« Anm.2 von Max Bill 1962, ÜGK, S. 42. Bowlt wies darauf hin, dass die russischen Künstler Anfang des 20. Jahrhunderts im okkulten Kontext Experimente zur Entwicklung des Körpers unternahmen: »In vielen okkulten Lehren, vom Interesse der Theosophie für Vegetariertum bis zu Gurdjeffs Hatha Yoga, ist die überlegte Kontrolle des Körpers durch Diät, körperliche Übungen und Belastungsproben der Schlüssel zur geistigen Offenbarung.« Bowlt 1988, S. 178. Dabei wird auch der Einfluss von Isadora Duncan in Russland durch ihre erste russische Tournee 1905 genannt. Goethe 1988, S. 56. Ringbom 1982a, S. 91.

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es ist doch klar, daß nur ein Teil des Menschen für das äußere Auge sichtbar ist. Es ist der Teil, den man als physischen Leib bezeichnet. Dieser physische Leib besteht aus solchen Bestandteilen, aus denen auch die äußeren Naturdinge bestehen. Und es sind in ihm die physischen und chemischen Kräfte tätig, die auch in den Mineralien tätig sind.75

Laut Steiner beinhalte ein Körper nicht nur den »physischen Leib«, sondern auch »einen größeren Körper, in dem der erstere wie in eine Wolke eingehüllt ist«, und diese Wolke, »menschliche Aura«, habe je nach Zustand der Menschen verschiedene Farben und sei nur durch die »geistigen Augen« wahrnehmbar.76 Die Publikation Gedankenformen, die von Besant und Leadbeater, den Vertretern der Theosophischen Gesellschaft in England, verfasst wurde, behandelte ebenfalls die unsichtbare Welt, die »Vibrationen« bzw. »Schwingungen« der Gedanken und Emotionen, und führte die Sicht des »Hellsehers«77 ein. Der Glaube an die Überlegenheit des Nicht-Materiellen, d.h. des Geistigen, wurde mit den Farben verbunden, wodurch Kandinsky sich angesprochen gefühlt haben könnte.78 Die Darstellung in den Bühnenkompositionen, die sich hierauf beziehen kann, ist erstens die Verwendung des von Gegenständen befreiten farbigen Lichtes, welches andererseits aber auch auf die Theaterreform zurückgehen kann. Die übermäßige Größe der Figuren, wie die der Riesen in Der gelbe Klang und die der weißen sitzenden Figur in Schwarz und Weiß, kann auch durch die Größe der Aura eine Erklärung finden, denn Steiner schrieb, dass die Aura bei verschiedenen Menschen unterschiedlich sei, »doch kann man sich – im Durchschnitt – etwa vorstellen, daß der ganze Mensch doppelt so lang und viermal so breit ist als der physische«.79 Es ist möglich, dass Kandinsky die Menschen, die eine große Aura zu besitzen vermögen, auf der Bühne groß darstellte. Dies erinnert jedoch gleichzeitig an seine Beschreibung der religiös bestimmten Kunst. Kandinsky wies darauf hin, dass man die »göttlichen Menschendiener und Märtyrer, die das Körperliche verachteten und nur dem Geistigen dienten«, aus »Marmor, Eisen, Bronze, Stein in gigantesken Größen« wiederzugeben versuchte.80 Dieser Satz bezieht sich auf die christliche Kunst wie die Ikone, bei der die

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Steiner 1960a, S. 113. Steiner 1960a, S. 115. Zum »Hellseher« siehe Leadbeater 1964, S. 24. Demnach sei der Hellseher »einfach ein Mensch, der die Fähigkeit entwickelt hat, eine Oktave mehr aus der Tonleiter der unendlichen Schwingungen, die uns umgeben, wahrzunehmen, und das befähigt ihn, mehr zu sehen und zu wissen, als jene, deren Sehkraft nur auf den physischen Plan beschränkt ist.« Kandinskys damalige Maltechnik, wie das Überschreiten der Konturen der Gegenstände durch die Farben, stünde laut Ringbom sowie Weiß unter dem Einfluss der Theosophie, und dies sei ein wichtiger Schritt zur Entwicklung der gegenstandslosen Malerei bei Kandinsky gewesen. Sein Bild »Improvisation 19« (1911), in dem die Farben von den Konturen befreit sind, sowie »Paradies« (1911/1912) und »Dame in Moskau« (1912), in denen die Farben wolkenartig um die Gegenstände schweben, werden als Beispiele für theosophische Einflüsse angeführt (siehe Ringbom 1982, sowie Weiss 1990.), wobei die vorgelegte Studie das Darstellungsprinzip von »Paradies« nicht auf die theosophische Bilderwelt, sondern auf Kandinskys eigene ikonographische Sprache, die sich in den frühen Bühnenkompositionen vor allem im vierten Werk Schwarze Figur ergab, zurückführt. Siehe Kap. 4.5.2. Steiner 1960a, S. 115f. ÜGK, S. 27.

riesige Darstellung der Hauptperson als die Verkörperung ihres geistigen Wesens interpretiert werden kann. Der zweite Ansatz des theosophischen Gedankenguts, der die Körperdarstellung in den frühen Bühnenkompositionen beeinflusst haben könnte, ist die semiotische Funktion des einzelnen Vermittlungsfeldes in den Körperbildern. Die Farben der abstrakten Körperbilder in den Bühnenkompositionen scheinen je nach Feld unterschiedliche Informationen zu geben, wie z.B. eine abstrakte Figur eine Farbe auf ihrem ganzen Körper trägt, wohingegen eine andere Figur die erste Farbe am Körper und die zweite im Gesicht trägt. Noch dazu lässt sich Kandinskys unterschiedliche Behandlung der Farben im Regietext erkennen, d.h. je nach Abstraktionsstufe ist eine Figur farbig »angekleidet« oder stellt ohne Kleidung direkt eine Farbe am Körper dar. Auch wird farbiges Licht auf den Körper geworfen, was eine Übertragung der Farbe auf die Körperbilder andeutet.81 So werden die Erscheinungsfelder sowie Übertragungsart der Farben in Kandinskys Körperbildern semiotisch strukturiert. Da der Künstler durch die Körperbilder nicht nur einen materiellen Gegenstand zeigen wollte, sondern das »Geistige« durch das Materielle zu verkünden versuchte, erinnert diese Absicht an das in der theosophischen Lehre erklärte Erscheinungsschema der menschlichen Aura. Die Wesenheit des Menschen wird laut Rudolf Steiner aus drei Gliedern – »Leib, Seele und Geist« – zusammengesetzt, und die Aura zeigt den drei Gliedern entsprechend gegensätzliche Farberscheinungen.82 Steiner schrieb, »der Leib ist das vergängliche im Menschen; dasjenige, was geboren wird und stirbt«. Die Aura für diesen Teil zeige undurchsichtige und stumpfe Farben. Der Geist dagegen sei »das Unvergängliche. Er macht nach dem Tode des Leibes in Gebieten, welche für die äußeren Sinne nicht zugänglich sind, verschiedene Erlebnisse und Zustände durch, um – nach kürzerer oder längerer Zeit – in einem neuen Leibe wieder verkörpert zu werden.«83 Der Geist habe einen funkelnden glitzernden Charakter in seinen Farben. Und die Seele sei »das Bindeglied zwischen dem vergänglichen Leibe und dem unvergänglichen Geist« und »gleichsam ganz Licht«. Sie erhelle den Raum und fülle ihn aus.84 Die Seele sei die Botin des unsterblichen Geistes, der nicht allein in den Menschen verkehren könnte. Sie verbinde den Geist und den Leib, in diesem Sinne sei sie der »eigentliche Träger dessen, was der Mensch zwischen Geburt und Tod in seinem Inneren erlebt.«85 Die dreifache Struktur eines Menschen wurde in Steiners Artikel noch siebenfach unterteilt. Am Rand dieses Artikels von Steiner hinterließ Kandinsky Notizen über die siebenfache Menschenstruktur, anhand derer sich das Interesse des Künstlers nachweisen lässt.86 Steiner stellt die folgenden Elemente mit indischen geistesphilosophischen

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Im dritten Bild von Schwarz und Weiß liegt eine große weiße Figur, fünfmal so groß wie ein Mensch, auf einem schwarzen, einer Bahre ähnlichen Felsen, und lässt somit den Tod erahnen. Am Ende des Ablaufs in diesem Bild entsteht ein graues Licht in der Mitte. Steiner 1960a, S. 119. Ebd. Steiner 1960a S. 119ff. Der Text in kursiv stammt von Steiner. Ebd., S. 121. Ringbom veröffentliche 1982 Kandinskys Notizen in Kat. Kandinsky und München 1982.

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Begriffen vor: »Physischer Leib (Sthula Sharira), Lebensleib (Linga Sharira), Empfindungsleib=Astralkörper (Kama rupa), Verstandesseele=niederer Manas (Kama manas), Bewusstseinsseele, die das ›Ich‹ gebärt (höherer Manas), Lebensgeist=Spiritueller Körper (Budhi), und Geistesmensch (Atma).«87 Diese Gliederung bezog Steiner aber nicht auf die verschiedenen Farberscheinungen in der Aura, so dass sie nicht in visuelle Vorstellung umgesetzt wird. Bühnentechnisch gesehen ist unwahrscheinlich, dass Kandinsky die siebenfach erweiterte Gliederung des Menschenwesens an die Bühnenfiguren anzupassen versuchte. Jedoch könnte für ihn zumindest die Idee wichtig gewesen sein, dass sich die Wesenheit des Menschen88 durch die Farben und ihre Erscheinungsformen offenbaren könnte. Ein Beispiel aus den Bühnenkompositionen, das sich auf die dreifache Struktur der Wesenheit des Menschen im Sinne von Steiner beziehen kann, ist die weiße riesige Figur in Schwarz und Weiß. Nachdem die weiße Figur auf einem an eine Bahre erinnernden schwarzen Felsen liegt, entsteht ein graues Licht in der Mitte der Bühne. Ein Licht kann im Zusammenhang mit dem theosophischen Begriff eine Seele sein, denn die Farberscheinung der Seele sei laut Steiner »gleichsam ganz Licht«.89 Im anschließenden Bild fliegt ein Vogel auf, dessen Farbe sich von grün zu blau ändert. Da in der christlichen Ikonographie der heilige Geist als Taube dargestellt wird, kann dies als der Geist verstanden werden, der von der irdischen Welt befreit in den Himmel entschwindet. Der Tod der weißen Figur könnte auf ihren Geist verweisen, der vom materiellen Leib befreit wurde, nachdem das graue Licht der Seele (die nach Steiner dem Bindeglied des Leibes und des Geistes gleicht) zuvor den Körper verlassen hatte.90 Der dritte Anknüpfungspunkt zwischen den Körperbildern in den Bühnenkompositionen und der theosophischen Bilderwelt ist die Einstufung der Entwicklung des Menschen zwischen Leib und Geist. Neben der komplexen Wesenheit des Menschen erklärt Steiner, wie ein Mensch sich zwischen »Leiblichkeit« und »Geistigkeit« bewegt. Demnach strebe ein Mensch an, von den »unmittelbaren Reizen der sinnlichen Leiblichkeit« unabhängig zu sein und »den Einflüssen der Geistigkeit zugänglich« zu werden. Je »unentwickelter« der Mensch sei, desto mehr werde er »sich den sinnlichen Reizen hingeben«.91 Mit Hilfe der gegensätzlichen Farberscheinung von Leib, Seele und Geist könne ein Hellseher die Entwicklung der Menschen einstufen. Steiner beschreibt das Beispiel eines unentwickelten Menschen; hier sieht er [der Hellseher] die erste Aura in den schreiendsten Farbentönen; die zweite dagegen ist nur schwach ausgebildet. Man sieht in ihr nur spärliche Farbenbildungen; die dritte aber ist kaum angedeutet. Da und dort nur zeigt sich ein glitzerndes Farbenfünkchen, darauf hindeutend, dass auch in diesem Menschen schon das Ewige als Anlage lebt.92

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Kandinsky Annotation in Lucifer Gnosis, Ringbom 1982b op.cit., S. 105. Bezügliche Stelle siehe Steiner 1960a, S. 135. Steiner 1960a, S. 119. Der Text in kursiv stammt von Steiner. Ebd. Siehe Kap. 4.4. In der vorliegenden Stückanalyse wird die weiße Figur nicht nach der theosophischen Lehre gedeutet, sondern nach der christlichen Ikonographie interpretiert. Steiner 1960a, S. 122. Steiner 1960a, S. 124. Der Text in kursiv stammt von Steiner.

So deutet Steiner die einzelnen Farbeigenschaften als Merkmale der geistigen Entwicklung des Menschen. Kandinsky verbindet, anders als Steiner, seine Farbtheorie in Über das Geistige in der Kunst nicht mit Eigenschaften der Menschen, jedoch erinnern die Körperbilder in den frühen Bühnenkompositionen, die zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion stufenweise dargestellt werden, an das theosophische Verständnis des Menschen: Ein Mensch bewege sich zwischen »Leiblichkeit« und »Geistigkeit«, und seine Entwicklungsstufe sei von einem »Hellseher« über die Farben erkennbar. Es ist möglich, dass Kandinsky den durchaus ähnlichen Gedanken hatte, dass sich ein Mensch in der Entwicklung vom Materiellen zum Geistigen befinde, und dies in den Körperbildern der Bühnenkompositionen durch ihre Abstraktionsstufe veranschaulichen wollte. 2.1.5. Russische Identität: Körperbilder in den Ikonen Anfang des 20. Jahrhunderts erkannten russische Avantgardisten in der Ikone, einer einzigartigen, ostkirchlichen Tradition, eine neue Möglichkeit nichtnaturalistischer moderner Darstellungen, und auch Kandinsky erhielt dadurch eine wichtige Anregung für die nichtgegenständliche Malerei.93 Krieger (1998) untersuchte die Bedeutung der Ikone in der russischen Moderne und erklärte, dass die russisch-traditionellen Ikone, ähnlich wie im Orientalismus in den westeuropäischen Künsten, bei den russischen Avantgardisten »neu« entdeckt und gefeiert wurde. Der russische Geistesphilosoph und Kunsthistoriker Pawel Florenski unternahm Anfang des 20. Jahrhunderts die systematische Charakterisierung der Ikone und gab eine wichtige Anregung zur Ikonenforschung. Die Künstler selbst wurden große Sammler der russischen Volkskunst, vor allem von Ikonen und Volksbilderbögen, den lubki. Die von Sergej Diaghilew und Alexander Benois gegründete Zeitschrift Mir Iskusstva war ein wichtiges Organ, in dem die Avantgardekünstler die altrussischen Bilder und ihre Tradition prüfen und diskutieren konnten. Benois sammelte Volkskunst und unterstrich in seinen Aufsätzen ihre künstlerische Bedeutsamkeit.94 Natalija Gontscharowa, Michail Larionow und David Burljuk, deren Bilder Kandinsky in der ersten Ausstellung Der Blaue Reiter ausstellte, gehörten zu dieser neuen künstlerischen Avantgarde in Russland, die sich der Tradition der russischen Kunst bewusst geworden war. Kandinsky war nicht nur Leser, sondern auch Korrespondent von Mir Iskusstva, so dass er mit der Auseinandersetzung der russischen Avantgardisten mit der Ikone vertraut war. In der Bauhauszeit sagte Kandinsky zu Lothar Schreyer:

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Zur Entwicklung der Bilder Kandinskys im Hinblick auf die Einflüsse der Ikone siehe Smolik 1992 und Mazur-Keblowski 2000. Über die Rezeption der Ikone und darüber hinaus entwickelte Kunstkonzepte der russischen Avantgarde siehe Krieger 1998. Im Vergleich zur radikalen Industrialisierung in den west-europäischen Ländern, erlebte Russland einen etwas langsameren Prozess der Modernisierung. Der Aufbruch der »Moderne« im Westen drängte die russischen Avantgardisten zur Konfrontation mit der Kultur und zur Suche der Identität. Schließlich suchten die russischen Avantgardisten ihre Wege in zwei Richtungen: Zum einen in der Übernahme des Einflusses des Westens, wie des Impressionismus in der Malerei oder des Symbolismus in der Literatur, zum anderen in der Entwicklung eines eigenen Standpunkts im Hinblick auf die Tradition, die im Fall der Malerei durch die Ikone verkörpert wurde. Krieger 1998, S. 45.

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Ich schätze keine Malerei so hoch wie unsere Ikonen. Das Beste, was ich gelernt habe, habe ich an unseren Ikonen gelernt, nicht nur das Künstlerische, sondern auch das Religiöse. [...] Die Forschungen des Kondakov-Instituts95 haben ergeben, dass der Ursprung der Kunst der Ikonen die ägyptischen Mumienporträts sind. [...] Das ist der Ursprung der christlichen Malerei.96

Kandinsky fühlte sich als Nachkomme der religiös-künstlerischen Bestrebung der Ikone. Mit »unseren« Ikonen identifizierte er sich als ein russischer Künstler. Der Einfluss der Ikone auf Kandinskys vorabstrakte Malerei wurde in den bisherigen Studien, wie denen von Noemi Smolik (1992) und Eva Mazur-Keblowski (2000), mit Schwerpunkt auf christlich-eschatologischen Themen, Personen sowie kompositorischen Strukturen untersucht. Diese Studien bestätigten, dass Kandinsky in der Ikone nicht nur religiöse Andachtsbilder, sondern eine Quelle für seine künstlerische Schöpfung suchte. Diese Erkenntnis wurde bisher nicht für die Deutung der Bühnenkompositionen angewendet, weil die Darstellungsbedingungen der Ikone und der Bühnenkunst nicht leicht zu vergleichen waren. Kandinskys Auseinandersetzung mit dem ikonenspezifischen Ausdruck lässt sich aus einer Anmerkung in Über das Geistige in der Kunst erahnen.97 Seine Beschäftigung mit bayerischer Hinterglasmalerei vor 1911 war sonst das einzige Zeichen, mit dem er seine Vertrautheit mit der Ikone offen in seinen Kunstwerken präsentierte.98 In der traditionellen Hinterglasmalerei werden die christlichen Heiligen hinter der Glasscheibe in Kleinformat gemalt und ähnlich wie die Ikonen als Andachtsbilder an die Wand gehängt. Hiervon inspiriert, stellte der Künstler um 1911 selbst Hinterglasbilder her. Die gewählten Motive waren religiös und bezogen sich vor allem auf apokalyptische Themen wie das Jüngste Gericht, apokalyptische Reiter, apokalyptischer Engel und Trompete, Auferstehung der Märtyrer usw. Auch ein russischer Heiliger, der Heilige Wladimir, war dabei (Abb. 18), als ob Kandinsky durch das Mittel der bayerischen Volkskunst seine persönliche Ikone hergestellt 95

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Krieger 1998, S. 69 sowie 73. Nikodim Kondakov gehört zur zweiten Forschungsgeneration der Ikone. Laut Krieger gab es Mitte des 19. Jahrhunderts eine erste Forschungswelle durch I.P. Sacharow, F.I. Buslajew, N. Iwantschin-Pisarew und D.A. Rowinski. Bei diesen Forschern waren aber die Ikonen »Gegenstand ausschließlich historischer und ikonographischer Untersuchung« und wurden dabei »nicht als ästhetische, sondern nur als religiöse Objekte« betrachtet. Dann kam die zweite Forschungsgeneration, Nikodim Kondakow, N. Pokrowski und Nikolaj Lichatschow, Ende des 19. Jahrhunderts. Krieger schätzt aber die Forschung der zweiten Generation auch hauptsächlich als ikonographisch ein. Die Entdeckung der Ikonen als Kunstobjekt und Quelle der nicht-realistischen Maltechnik verdankt sich den Avantgardisten wie Alexander Benois und Sergej Diaghilew. Schreyer 1956, S. 230. ÜGK, S. 93, Anm.1. Kandinsky erläutert die Farbsymbolik eines Nimbus und das Blau in den Ikonen. Dazu siehe Mazur-Keblowski 2000, S. 94. Mazur-Keblowski 2000, S. 94f. Mazur-Keblowski wies auf die Fotos von Kandinskys Wohnung in der Ainmillerstraße 38 in München hin. An der Wand hingen sakrale Gegenstände unterschiedlicher Provenienz nebeneinander, unter ihnen bayrische Hinterglasbilder, russische Volkskunst lubki und drei aneinandergereihte russische Kruzifi xe. Auf seinem Tisch standen eine barocke Heiligenfigur und ein weiteres Kruzifi x. Die Forscherin lehnte es ab, Kandinskys Interesse an der Ikone auf seine Frömmigkeit zu beziehen, weil die gleichen religiösen Symbole wiederholt wurden, was erahnen lässt, dass sie nicht als Andachtsbilder, sondern aus Interesse an ihren Ausdrucksweisen gesammelt wurden.

hätte. So spielten die beiden Künste für Kandinsky um 1911 eine wichtige Rolle, und führten schließlich zum Übergang zur abstrakten Malerei. Eine wichtige Aussage in Über das Geistige in der Kunst, die sich indirekt auf die Ikone zu beziehen scheint, gibt einen Hinweis auf ihren Einfluss auf die Körperbilder der frühen Bühnenkompositionen. Laut Kandinsky hätten die Menschen der frühen Zeiten versucht, das »Geistige« von »Menschendienern« durch das »Körperliche« in gigantischer Größe darzustellen.99 Als Beispiel wies er auf ein Bildnis Christi hin, was sein Interesse an dem Ausdruck der nichtrealistischen christlichen Künste erahnen lässt. Dies eröffnet eine Verbindung zu einigen abstrakten Figuren in den Bühnenkompositionen, denn sie besitzen nichtmenschliche Körpergröße und -formen, die auf die Übernahme des Ausdrucks der Ikone hinweisen könnten. Es gibt drei Ausdrucksformen, die die Körperbilder der frühen Bühnenkompositionen von der Ikone übernommen haben könnten. Die erste Möglichkeit ist die Umsetzung des geistigen Charakters als Körpergröße sowie -form. Der zweite ikonentypische Ausdruck ist oklady, der Überzug der Personen durch Silberblech. Der dritte Einfluss könnte auf der A-Perspektivik der Ikone beruhen. Die Hauptperson im Verhältnis zu den anderen Gegenständen größer zu malen, ist eines der auffälligsten Darstellungsprinzipien der Ikone. Die Gottesmutter wird z.B. in der Bildmitte in übermäßiger Größe gezeigt, während die anderen Personen und Gegenstände um sie herum viel kleiner gemalt werden. Dies trifft auch auf die Körperbilder der abstrakten Figuren in den Bühnenkompositionen zu; fünf gelbe Riesen sowie ein grellgelber Riese in Riesen, eine mit einem weißen Tuch völlig bedeckte riesige Figur in Schwarz und Weiß, die schwarze hohe Gestalt mit langem schmalem Hals in Schwarze Figur und der blaue große Mann mit einem roten Balken in dem die Tetralogie abschließenden Einakter Nachspiel. Da alle genannten Figuren eine Hauptrolle zu übernehmen scheinen, könnte ihre Größe eine Darstellung des Geistigen durch das Übermaß des Körperlichen bedeuten.100 Kandinsky suchte wie Künstler der frühen Zeiten seine eigene Kunstsprache, »alle Mittel, dieses Körperliche [der Menschendiener des Geistigen] aus Marmor, Eisen, Bronze in gigantesken Größen wiederzugeben.«101 Als zweiter Einfluss der Ikone kann das Verstecken des Körpers betrachtet werden. Die Personen der Ikone werden zuerst mit in Eigelb gelösten Farben gemalt. Danach wird ihre Gestalt ganz, oder mit Ausnahme ihrer Hände und Gesichter, mit Silberblech

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ÜGK, S. 27. Smolik 1992, S. 93. Smolik führte den Begriff des »Geistigen«, den Kandinsky im Titel seiner Publikation verwendete, auf den russischen Dichter und Theaterkritiker Brjusov zurück. Brjusov schrieb in der Zeitschrift Mir Iskusstva einen Artikel Nenužnaja pravda (Unnütze Wahrheit), der auch den russischen Theaterkünstler Meyerhold beeinflusste. Brjusov schrieb, »Ein Bildhauer kann nicht die Seele und das Gefühl nehmen, das Geistige muß er in das Körperliche umgestalten. Demgegenüber muß der Dramaturg dem Schauspieler die Möglichkeit geben alles Körperliche durch Geistiges auszudrücken.« (V. Brjusov, Nenužnaja pravda, in Mir iskusstva, 1902, 7, S. 73, Smolik 1992 op.cit., S. 93.) Kandinsky fühlte sich vermutlich von dieser Zeile persönlich angesprochen. Siehe auch Kap. 3.1.3. über den Einfluss von Brjusov auf Kandinskys und Meyerholds Bewegungsdarstellungen. ÜGK, S. 27.

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beschichtet (oklady). Das Silber steht für die Göttlichkeit, die dem Licht gleicht. Dadurch soll das geheimnisvolle Wesen der göttlichen Personen umhüllt und geschützt werden. So ist das Verdecken des Körpers ein wichtiges semantisches Element. In der Bühnenkomposition III Schwarz und weiß tritt eine riesige Figur auf, die durch ein weißes Tuch vollständig versteckt ist, so dass ihr Körper nur durch das geformte weiße Tuch zu erahnen ist. Das Verstecken der Identität dieser Figur verrät, bezogen auf die Ikone, die Göttlichkeit der Person. Kandinskys Ästhetik des Versteckens könnte von der Silberbeschichtung der Ikone inspiriert worden sein. Die »A-Perspektive« ist der dritte Einfluss, der in den Bühnenkompositionen ausgemacht werden könnte. Von den russischen Avantgardisten wurde die umgekehrte Raumtiefe der Ikone als Möglichkeit eines nichtnaturalistischen Ausdrucks gesehen.102 Der Grund dieser A-Perspektive in der Ikone war die Absolutheit der göttlichen Personen. Die Perspektive, die aus der Sicht des Malers und des Betrachters bestimmt wird, steht der Absolutheit der dargestellten Personen entgegen. Stattdessen soll die Raumtiefe aus Sicht der göttlichen Figuren gestaltet werden. Die A-Perspektive hat zwei äußerliche Merkmale. Erstens werden die wichtigen Personen größer dargestellt, damit die Bildtiefe ihrer Sicht nach hergestellt wird. Das Beispiel der großen abstrakten Körperbilder in den Bühnenkompositionen wurde bereits im vorletzten Absatz dargelegt. Das zweite Merkmal betrifft die Szenengestaltung. In der Ikone stehen die Wände, Decke sowie Vorhänge, die perspektivisch über bzw. um den Innenraum gestaltet werden sollten, ganz im Hintergrund der Bildfläche, so dass der Innenraum aussieht, als ob er sich unter freiem Himmel befände. Eine Szene aus der Bühnenkomposition IV Schwarze Figur erinnert an diese Täuschung der aperspektivischen Raumgestaltung. Der an das Paradies erinnernde himmlische Garten liegt in der Mitte der Bühne. Nach der westlich-christlichen Ikonographie müsste der himmlische Garten, mit den Motiven des Reigens oder des Lammes, innerhalb der Burgmauer liegen, die die himmlische Stadt Jerusalem umgibt. Bei Kandinsky umgibt die hohe Burg nicht den Garten, sondern liegt am linken Bildrand, so dass der Garten außerhalb der Burg zu liegen scheint. Im oberen Teil hängt ein Regenbogen. Falls diese Bühne aus der aperspektivischen Sicht gestaltet worden sein sollte, könnte sich der Garten mit dem Baum des Lebens und dem Baum der Erkenntnis nicht außerhalb der Burg, sondern innerhalb der Mauer befinden. Der Regenbogen hinge ebenfalls aperspektivisch nicht außerhalb der himmlischen Stadt, sondern über dem Innenraum der Burg. Trotz der Hinweise auf mögliche Einflüsse der Ikone auf die frühen Bühnenkompositionen sind die einzelnen Körperbilder sowie die Szenen durchaus abstrahiert und durch Kandinskys eigene Farbsymbolik gestaltet, so dass von den traditionellen Ikonen fast keine

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Smolik 1992, S. 64ff. Smolik wies auf die Übernahme der kreisförmigen Raumstruktur aus der Ikone in Kandinskys Malerei hin. Auch Marc Chagall übernahm dieselbe Raumstruktur für seine Malerei. Siehe Liebelt 1971. Zum Beleg der zeitgenössischen Diskussion über die A-Perspektive siehe Wulff, Oskar, Die A-Perspektive bzw. umgekehrte Perspektive und die Niedersicht. Eine Raumanschauungsform der altbyzantinischen Kunst und ihre Fortbildung in der Renaissance, in: Kunstwissenschaftliche Beiträge A. Schmarsow gewidmet, Leipzig 1907.

direkte Spur mehr zu finden ist. Es ist, als ob Kandinsky seine russische Identität hinter der abstrakten Kunstsprache völlig versteckt hätte. In Kap. 4 der vorliegenden Studie wird eine Analyse unternommen, in der die Körperbilder der Figuren im Zusammenhang mit der orthodoxen und westlich-christlichen Ikonographie untersucht und die zusammenhängenden Motive entschlüsselt werden. Viele abstrakte Figuren sind schließlich identisch mit den Personen der von Kandinsky selbst hergestellten »Ikone« – der Hinterglasmalerei »Allerheiligen I« (1911) (Abb. 3) und des Holzschnitts »Große Auferstehung« (1911) (Abb. 4), so dass behauptet werden kann, dass die beiden Bilder als Zusammenfassung der tetralogischen Bühnenwerke entworfen wurden. Kandinskys frühe Bühnenkompositionen und die »Ikonen« behandeln schließlich dieselben Themen, nur ihre Kunstsprachen bewegen sich zwischen der Abstraktion einerseits und der christlichen Ikonographie andererseits. Das Ziel der Tetralogie, das monumentale Kunstwerk für alle Künste und Kulturen zu schaffen, führte den Künstler schließlich zur Abstraktion, d.h. aus seiner ursprünglichen Kunstsprache der Ikone schöpfte Kandinsky die universale abstrakte Sprache der Kunst, um das Geistige ohne Grenzen zu offenbaren. In diesem Sinne stehen Kandinskys zwei »Ikonen« für das Monument seiner russischen Identität und die Bühnenkompositionen für das Monument aller Künste der Welt.

2.2. Körperlichkeit in den frühen Bühnenkompositionen Im Anschluss an die Untersuchung von Kandinskys Ideen der Körperbilder wird hier eine tabellarische Klassifikation der Bühnenfiguren in den frühen Bühnenkompositionen durchgeführt. Um die äußerlichen Merkmale der Bühnenfiguren einheitlich zu vergleichen, sollen zunächst die einzelnen Körperbilder nach dem dramaturgischen Schema analysiert werden (Kap. 2.2.1). Als nächstes werden die einzelnen Vermittlungsfelder der Körperbilder, die in den Bühnenkompositionen als Zeichen fungieren, semiotisch erklärt (Kap. 2.2.2). Anschließend wird die Körperlichkeit der Bühnenfiguren angesprochen, die als eine Skala zwischen der Gegenständlichkeit und der Abstraktion verstanden wird und zur Einstufung des geistigen Charakters dient, denn sie gilt gleichsam als Skala zwischen dem Materiellen und dem Geistigen. Mit der Erläuterung der Körperlichkeit werden alle Darsteller der frühen Bühnenkompositionen hierarchisch geordnet (Kap. 2.2.3), so dass die einzelnen Körperbilder gemäß Kandinskys »Weltgesetz« interpretiert werden können (Kap. 4). 2.2.1. Das dramaturgische Schema der Figuren Die Eigenschaften der Figuren in den Bühnenkompositionen können nach folgenden formalen Kategorien beschrieben werden: 1. 2. 3. 4. 5.

kollektive Figuren oder Einzelfiguren, menschlich oder nichtmenschlich (übermenschlich), bewegt oder unbewegt, handelnd oder nichthandelnd, sprechend oder nichtsprechend, 41

6. 7. 8. 9.

individualisiert oder nichtindividualisiert, männlich, weiblich oder neutral, Sonderbehandlung des Gesichts, Farbe.

Die Tabellen der Figuren in den Bühnenkompositionen I bis IV, die sich im Anschluss an die Erklärung der Kategorien befinden, sind entsprechend der zeitlichen Reihenfolge des Auftritts geordnet und zeigen die Klassifizierung der Figuren anhand oben genannter Kategorien. Kategorie 1: Kollektive Figuren und Einzelfiguren Die Verwendung kollektiver Figuren ist charakteristisch in den Bühnenkompositionen. Sie bilden eine Gruppe und führen meist gemeinsame Bewegungen aus, lassen jedoch Unterschiede des Aussehens erkennen: 1. Gruppen mit unterschiedlichem Aussehen, das sich z.B. in Farben oder Trachten äußert, und 2. solche mit der gleichen Farbe bzw. dem gleichen Aussehen. Im ersten Fall spielt das Mitglied trotz des unterschiedlichen Aussehens auf der metaphysischen Ebene keine wichtige Einzelrolle, denn die gegenständlichen Darsteller der frühen Bühnenkompositionen übernehmen nie eine entscheidende Rolle in der Handlung. Die Mitglieder dieser Gruppe repräsentieren zusammen eine Gesellschaft und unterscheiden sich von Einzelfiguren, die auf der Bühne allein auftreten. Das Mitglied der zweiten Gruppe hat ein abstrakteres Aussehen. Die Eliminierung von gegenständlichen Merkmalen lässt die Farbe stärker hervortreten. Nach Kandinskys metaphorischer Erklärung der Farbe durch musikalische Wörter wie »Klang« könnte eine solche einfarbige Gruppe mit dem Begriff des Einklangs gekennzeichnet werden. Sowohl auf der malerischen als auch auf der musikalischen Ebene bedeutet die kollektive Anwendung einer Farbe bzw. eines Tons räumliche Entfaltung und Verstärkung des Eindrucks bzw. der Lautstärke. Darum bildet die kollektive Bewegung dieser Gruppe einen der dramaturgischen Höhepunkte. Kategorie 2: Menschlich oder nichtmenschlich (übermenschlich) Kandinskys Rollenbezeichnungen, wie »Menschen«, »Figur«, »Gestalt«, sind für die Rolleninterpretation entscheidend, obwohl der Zuschauer diesen Definitionsunterschied nicht gleich erkennen kann. Darum wird hier als Erstes Kandinskys Rollendefinition und als Nächstes der durch das Aussehen vermittelte Eindruck untersucht, um zwischen den menschlichen und den nichtmenschlichen Erscheinungen stufenweise zu differenzieren. Je mehr die menschlichen Merkmale verschwinden, umso abstrakter und nichtmenschlicher wirken die Figuren. Die als »Mensch«, »Mann«, »Frau« oder »Knabe« bezeichneten Rollen, auch die als Masse behandelten und geschlechtlich gemischten »Menschen«, sind in dieser Hinsicht »menschlich«. Die Bezeichnung »Figur« wird von Kandinsky für die Rollen benutzt, deren Erscheinung weniger menschliche Eigenschaft aufweist als die »Menschen«. Dabei fehlt eine Angabe zum Geschlecht. Obwohl »Figur« ein allgemeiner Begriff ist, wurde er vermutlich bewusst verwendet, um den individuellen Charakter zu verbergen oder ihn geheimnisvoller erscheinen zu lassen. Daher spielt eine »Figur« bei Kandinsky eine zentrale Rolle, und je abstrakter sie erscheint, desto weniger menschlich wirkt sie. Eine »Gestalt« wiederum ist eine spezielle Bezeichnung für übermenschliche 42

Rollen, wie »rote vogelartige Gestalten mit menschenartigen Gesichtern« in Riesen oder »hohe schwarze Gestalt mit einem großen grünlichblaßen Kopf auf langem schmalen Hals« in Schwarze Figur. Beispielsweise sind die roten vogelartigen Gestalten nach der orthodoxen Ikonographie Cherubim und somit übermenschlich. Auch Wesen wie Vogel, Berg, Wolke, Baum u.a. sind wichtige Darsteller in den Bühnenkompositionen, obwohl sie nicht der menschlichen Gruppe angehören. Kategorie 3: Bewegt oder unbewegt Zwischen dem Bewegungsverhalten der Figuren und der Bedingung der Kategorie 1 besteht ein Zusammenhang. Während die Einzelfiguren meistens ruhigere, gestische Bewegung zeigen, führt die Gruppe der kollektiven Menschen chaotische Bewegungen aus, die oft mit einem Standortwechsel (proxemische Bewegung) verbunden sind.103 Die Bewegung, das kinetische Zeichen, ist eine der am häufigsten verwendeten Informationen in den Bühnenkompositionen. Somit hängt die Frage dieser Kategorie mit der nächsten Kategorie »handelnd oder nichthandelnd« zusammen. Während in den Bühnenkompositionen nur spärlicher Sprachtext vorhanden ist, fungiert die Körperbewegung quasi als die erste Sprache der Darsteller. Die Figuren, die sich nicht bewegen und trotzdem eine wichtige Rolle spielen, werden mit vergleichbaren Informationen belegt wie z.B. eine besondere abstrakte Form, nichtrealistische Farbe, gesprochene Verse usw. Kategorie 4: Handelnd oder nichthandelnd Hier wird danach differenziert, ob eine Figur aktiv beteiligt ist und Information vermittelt oder nur im Hintergrund auftritt und keine aktive Information trägt. Die sich bewegenden oder singenden Figuren sind »handelnd«. Dies gilt auch für Gegenstände wie Wolke, Berg oder Bäume, die sich bewegen. Figuren oder Gegenstände, die sich im Lauf der Szene weder bewegen noch sprechen, können als »nicht handelnd« betrachtet werden. Sie wirken in dem Fall als Farben oder als Hintergrund. Jedoch können sie als »handelnd« bewertet werden, wenn sie eine bemerkenswerte Information, wie ein nichtnatürliches Aussehen, besitzen und damit auffallend wirken. Kategorie 5: Sprechend und nichtsprechend Ein großer Teil des Szenenvorgangs wird durch die Bewegungen getragen, demgegenüber sind Sprachtexte nur spärlich vorhanden. In den Bühnenkompositionen gibt es drei Sprech-Arten: Prosa (sowohl Dialog als auch Monolog), Verse und Stimme (Gesang ohne Worte). Die Prosa und Verse werden mit oder ohne Gesang aufgeführt. Die Sprecher sind nicht immer erkennbar oder werden mit Absicht nicht genau beschrieben. Die Sprache der Bühnenkompositionen ist nicht kontinuierlich und wird nicht als Mittel der Handlung verwendet. Obwohl kein Sprachtext bei Kandinsky das aktuelle Geschehen der Bühne realistisch beschreibt, existiert doch ein Zusammenhang des Sprachtextes mit dem Thema, so dass der Sprachtext sich von den Gedichten der Dadaisten sowie der Surrealisten unterscheidet.

103

Die Unterscheidung der Bewegungssprache nach der Körperlichkeit wird im Kap. 3.3.3. sowie Kap. 3.3.4. erläutert.

43

Der Sprachtext der Bühnenkompositionen könnte daher als ein Verweis auf das vergangene oder folgende Geschehen oder auf das Thema des Stücks verstanden werden. Kategorie 6: Individualisiert oder nichtindividualisiert Keine einzige Rolle trägt in den Bühnenkompositionen einen individuellen Namen. Einige Menschen führen eine Tätigkeit aus, jedoch fehlt es ihnen an individuellen Eigenschaften. In Grüner Klang erscheinen z.B. Menschen mit unterschiedlichem Geschlecht sowie einer Rolle wie Mutter mit Kind, Musiker, Liebespaar, Bettler, Krieger usw. Bei solchen Figuren tragen die Gesichter meistens keine besonderen Farben. Sie spielen keine aktive, handelnde Rolle, sondern stellen nur bestimmte Prototypen dar. Das Alter wird nur wo nötig erwähnt. Es gibt eine grobe Einteilung in drei Altersstufen: sehr jung (Kind / Mädchen / Knabe), jung (junge Frau / Mann) und alt. Auch Attribute wie Stock oder Bart deuten das Alter an. Wer eine bestimmte Altersbezeichnung hat, besitzt auch entsprechende Angaben zu Frisur oder Kleidung. Bei den abstrakten Figuren findet die Individualisierung in den Bühnenkompositionen vor allem durch die Farben statt. Besonders die Farben direkt am Körper, wie am Gesicht und an den Händen, können als individueller Ausdruck von emotionalen bzw. geistigen Zuständen gedeutet werden. Kategorie 7: Männlich, weiblich oder neutral Dieser Aspekt hängt mit Kategorie 1 und 2 zusammen. Die bunt oder unterschiedlich gekleideten »Menschen« sind geschlechtlich nicht eingeordnet, d.h. die Information des Geschlechts scheint nicht wesentlich zu sein. Bei den kollektiven einfarbigen »Menschen« ist der Geschlechtsunterschied zusätzlich farblich geordnet, wie bei den weißgekleideten Frauen und schwarz gekleideten Männern in Schwarz und Weiß oder den rosagekleideten Männern und Frauen in Schwarze Figur. Dabei vermittelt der Kontrast von Farben und Geschlecht eine wichtige Bedeutung. Bei der Einzelfigur ist das Geschlecht nur wo nötig angegeben und wird sonst oft im Unklaren gelassen. Solche neutralen Figuren sind abstrakter als »Menschen«. Inwieweit das Geschlecht angedeutet werden soll, dürfte von Kandinsky mit Bedacht bestimmt worden sein. Dies gibt Hinweise zur Identifikation und zur Einordnung in die Hierarchie der Abstraktion. Kategorie 8: Sonderbehandlung des Gesichts Die Gesichter werden bei den Einzelfiguren und abstrakten Kollektivfiguren als Vermittlungsfeld benutzt und gefärbt. Es gibt keine sonstige Mimik-Angabe, so dass die Farbe als Ausdruck der Emotion oder des gegebenen Charakters betrachtet werden kann. Diese Verwendung von Farben gleicht der Funktion der Maske. Wenn bei den neutralen Einzelfiguren nur Körperfarbe bestimmt und keine weitere Farb- und Geschlechtsangabe vorhanden ist, bestimmt diese Farbe vermutlich auch das Gesicht. Solche einfarbigen Figuren sind abstrakt und stellen eventuell Nichtmenschliches dar.

44

Kategorie 9: Farbe Die Farben der abstrakten Körperbilder sind in der Regel unabhängig von jeder biologischen Hautfarbe. Sie sind die wichtigste Information, die durch das Aussehen vermittelt wird. Je weniger Angaben zum Charakter gemacht werden, desto wichtiger wird die Farbinformation. Als Vermittlungsfelder werden von Kandinsky Gesichter, Kleidung, Körper und Hände benutzt. Es lässt sich unterscheiden, ob die Farbe durch die Kleidung dargestellt wird oder möglicherweise direkt auf die Haut aufgetragen ist. Kandinsky bestimmt die Farbe bei den Menschen sowie den gegenständlicheren Figuren mit Geschlechtsangabe durch die Kleidung, wie z.B. »in Rosa angekleidet«. Dagegen wird die Kleidung bei den abstrakten Figuren nicht konkret beschrieben, so dass der ganze Körper an sich farbig erscheint. Dies ist bei der Abstufung der Körperlichkeit sowie bei der Interpretation der Farbe ein wichtiger Faktor. In der folgenden Tabelle werden die nach den genannten Kriterien entwickelten Schemata der Figuren dargestellt. Sie dienen bei der Stückanalyse dazu, die Eigenschaften der Figuren nach ihrer Körperlichkeit zu bestimmen. Jedoch kann dies kein eindeutiges Ergebnis bringen, weil die Beschreibungen der Figuren im Text Kandinskys für die Bestimmung nicht immer ausreichend sind und kein objektives Urteil erlauben.

45

46

einzeln

einzeln

einzeln

Ein schwarzer Mann

Schwarzer Jüngling

Ein hellgelber Riese



bewegt bewegt

menschlich



handelnd

handelnd

handelnd





menschlich



bewegt

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

menschlich

bewegt

bewegt

bewegt

lich)

– (klein, undeut-

handelnd

handelnd

handelnd

K.4 handelnd





individuiert (Form/Farbe/Bewegung)

individuiert (Farbe)

– –

Individuiert (Haut/Bart)



individuiert (Farbe)

individuiert (Bewegung)







individuiert (Form/Farbe)

– –



neutral

männlich

männlich

neutral

neutral

männlich

männlich/ weiblich

neutral

neutral männlich/ weiblich

individuiert (Form/Farbe)



neutral

K.7 männlich/ weiblich/ neutral

sprechend

indviduiert (Form/Farbe)**

K.6 individuiert

Bassgesang ohne Worte

K.5 sprechend

* Nicht bestimmbare Kategorie. ** In Klammern werden die Kriterien hinzugefügt. º »Viele Menschen« beinhaltet »eine größere Gruppe von rot gekleideten Figuren«.

einzeln

Schwarzrote Wolke

menschlich

einzeln

kollektiv

Einer

kollektiv

Viele Menschenº

Eine größere Gruppe von rot gekleideten Figurenº

menschlich

kollektiv

Kleine undeutliche Figuren

bewegt

menschlich

bewegt

kollektiv

Menschen

– (vogelartig)

kollektiv

Gestalten

bewegt

–*

kollektiv

5 Riesen

K.3 bewegt

K.2 menschlich

K.1 kollektiv/ einzeln

Figuren

Tabelle 1: Bühnenkomposition I Riesen

Schema der Figuren gemäß zeitlicher Reihenfolge

schwarz

schwarz

schwarzrot

rot gekleidet

(in Der gelbe Klang weiß)

verschiedene Trachten (kurz, lang, eng, breit etc.), grau/ schwarz/weiß/bunt

grüngrau

helle Trachten

rot

grellgelb

K.9 Farbe

weißes undeutliches Gehellgelb sicht, große schwarze Augen



mit weißem Bart



(rot)

normal

normal

(grüngrau)

normal

menschenartig

(grellgelb)

K.8 Sonderbehandlung des Gesichts

47

einzeln

einzeln

einzeln

einzeln

einzeln

Alter Mann (1)*

Sitzende Frau mit Kind (2)*

2 Mädchen und ein Jüngling*

Musizierender junger Mann*

Ein junges träumerisch stehendes scheinbar taubes Mädchen*

Ein sehr bunter kollektiv Strom von Menschen [hinten auf der Bühne]

menschlich

menschlich

menschlich

menschlich

menschlich

menschlich

– – –

– –



musizie- – rend

stehend/ – nichts hörend









individuiert

individuiert

individuiert

individuiert

individuiert







individuiert (Kleid)



handelnd

handelnd

individuiert (Farbe)

individuiert (Farben)





K.6 individuiert

K.5 sprechend

bewegt

bewegt

einzeln

Ein bunt gekleideter Mann

menschlich

handelnd

– menschlich (mit Gesicht)

einzeln

K.4 handelnd

Eine stehende Figur

K.3 bewegt

handelnd

K.2 menschlich

menschlich bewegt (mit Gesicht)

K.1 kollektiv/ einzeln

3 nebeneinander kau- einzeln ernde Figuren (von links nach rechts)

Figuren

Tabelle 2: Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang

weiblich

männlich

weiblich/ männlich

weiblich/ neutral

männlich

männlich/ weiblich

männlich

neutral

neutral

K.7 männlich/ weiblich/ neutral

sehr hell kalt grün

normal

normal

normal

normal

normal











bei Kinder lose oder durch Gürtel gehaltene Hemden

bei Frauen eine Art von Sarafan als Kleid, glatt farbig oder mit sehr einfachem Muster (Quadrate oder Kreise)

bei Männern lange Kaftans, die geschlossen oder auf sind, ein langes Hemd sichtbar

bunt gekleidet, im Kleid von bunten Flecken

Gesichter farbig in bunt malerischer Beziehung zu Tracht und Haar, Haare sind lang und hängen bei manchen bis zu den Schultern

-

schwarze, sehr lose, unförmige Gewänder bis zum Boden, dunkel gelbe Hände

in kalt grün angezogen, die Hände orange ziemlich hell blau angezogen, die Hände orange

hell grün stark gelblich Gesicht dunkel gelb, vom Gewand bedeckte Haare

in kalt rot (Stich in’s blaue) angezogen, die Hände orange

K.9 Farbe

kalt grün dunkel

K.8 Sonderbehandlung des Gesichts

48

einzel/ kollektiv

einzeln

einzeln

einzeln

einzeln

einzeln

kollektiv

einzeln

6 Krieger*

2 Buben*

Schwarzer Mann mit Bart*

Ein dicker runder kleiner Mann*

Eine alte Frau*

Junge Frau*/**

Eine Anzahl ganz weißer Figuren

Eine ganz grüne Frauenfigur**

– –

(Klagelied) – –

– – – –

– –

– – –

– – – –

sitzend, in linker Hand Krücken, in rechter eine Schale für Almosen



einer mit dem Rücken zum Zuschauer, den anderen anschauend, der geradeaus schaut, die Hände an die Brust gepresst



umarmend

ganz langsam gehen

laufen rasend



menschlich

Gesicht in die Höhe gerichtet

sitzend

Händen in die Hüften gestützt

sich an den Händen haltend

menschlich

menschlich

menschlich

menschlich

menschlich

menschlich

menschlich





individuiert (Farbe) individuiert (Farbe)

handelnd – handelnd –

individuiert

individuiert

individuiert

individuiert

individuiert

individuiert

individuiert

individuiert

individuiert

individuiert

individuiert





sitzend

zuschauend

K.6 individuiert

K.4 K.5 handelnd sprechend

K.3 bewegt

weiblich

neutral

weiblich

weiblich

männlich

männlich

männlich

männlich

männlich

männlich

neutral

weiblich

männlich

K.7 männlich/ weiblich/neutral

einer rot gekleidet



buntgekleidet



K.9 Farbe

hell grünlich angezogen mit langem Schleier**

alt

dick, rund, klein

hoch, schwarz



grell gelbe Gewänder mit großem roten Quadratornament

buckelig, krumm

sehr blaßgrünlich mit großen unbeweglichen dunklen Augen

ganz grün**

kaum erkennbare Gesichter ganz weiß

in die Höhe gerichtet

normal

normal

mit schmalem langen weißen Bart

der andere ist blaß, hat große aufgerissene Augen

normal



der andere mit sehr blaßem der andere in weißem Geschmalem Gesicht wand mit großen blauen Tupfen

einer mit rotem grobem Gesicht und schief sitzender Spitzenmütze

normal

normal

normal

K.8 Sonderbehandlung des Gesichts

* Die makierten Menschen befinden sich als Schar im Vordergrund der Bühne. ** Zwei Frauenfiguren, von denen eine hell grünlich angezogen ist und die andere eine grüne Gestalt hat, lassen sich als Doppelfiguration des Grüns verstehen.

einzeln

Bettler*

menschlich

menschlich

einzeln

einzeln

menschlich

Eine sehr dicke bunt- einzeln gekleidete Frau*

Ein Liebespaar*

menschlich

einzeln

Ein Knabe*

2 Jünglinge*

K.1 K.2 kollektiv/ menschlich einzeln

Figuren

49

einzeln

kollektiv

kollektiv

einzeln

ein Wind

verschleierte Gestalten

einige schwarze Streifen

ein grüner Vogel





menschlich



menschlich

einzeln

ein schwarzgekleideter Reiter

menschlich



kollektiv

viele bunt gekleidete Menschen



drei große länglich runde kollektiv schief stehende Bäume

einzeln

große Frauenfigur





einzeln

2 Wolken

menschlich

menschlich



einzeln

schwarzgekleidete Frau

kollektiv

kollektiv

weißgekleidete Frauen

menschlich

länglich runde weiße Wolken

einzeln

ein weißgekleideter junger Mann

menschlich



menschlich



K.2 menschlich

graues undeutliches Licht einzeln

einzeln

kollektiv

einzeln

ein schwarzgekleideter Mensch

schwarz gekleidete Männer

einzeln

eine große weiße rundformige Figur

großer schwarzer Berg

K.1 kollektiv/ einzeln

Figuren

bewegt

bewegt

bewegt

bewegt

bewegt

bewegt

bewegt

bewegt

bewegt



bewegt

bewegt

bewegt

bewegt

bewegt

bewegt

bewegt



K.3 bewegt

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd



handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd



K.4 handelnd

Tabelle 3: Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß

















sprechend



















K.5 sprechend

individuiert (Farbe)

individuiert (Form)

individuiert (Farbe)



individuiert (Farbe)

individuiert (Form)







individuiert (Form/ Farbe)







individuiert (Haare)



individuiert

individuiert (Farbe)

individuiert (Form)

K.6 individuiert

neutral

neutral

neutral

neutral

männlich

neutral

neutral

neutral



weiblich

neutral

weiblich

weiblich

männlich

männlich

neutral

männlich

neutral

K.7 männlich/ weiblich/ neutral

oben rechts größere wattig beinahe weiß, unten links klein sehr hell gelblichweiß

schwarzgekleidet

weiß gekleidet

weißgekleidet

schwarzgekleidet

schwarz

schwarzgekleidet

weiß, etwas wie ein weißes Tuch liegt über den Knieen

K.9 Farbe

















die Gesichter haben im selben Farbenton wie das Kleid

grün-blau

schwarz

verschleiert (1 in hellgrün warm, 2 in hellgrün kalt, 3 warm etc.)



schwarzgekleidet auf weißem Roß

auf schwarzen Stämmen, 2 davon haben fruchtartige bunte Flecken – rund.

weiß

grau

bunt gekleidet

mit weißem Stoff verhüllt (auch Kopf) undeutlich, groß (5x größer wie ein Mensch), mit weißem Stoff verhüllt, an den Füßen fällt der Stoff auf den Boden und zieht sich weiter





dunkele oder helle Gesichter

sehr warm gelb, blonde Haare

grünliche rosige Gesichter





von Schultern ab verschwindet der obere Teil in der Decke der Bühne

K.8 Sonderbehandlung des Gesichts

50

K.1 kollektiv/ einzeln

kollektiv

einzeln

kollektiv

einzeln

kollektiv

kollektiv

kollektiv

einzeln

einzeln

einzeln

einzeln

Figuren

8 Figuren

zwei weißgekleidete Figuren

Prozesson von hellblauen Menschen

hohe schwarze Gestalt

die Bäume

eine große Anzahl Männer und Frauen

Frauenfiguren

der Regenbogen

eine runde Wolke

ein Knabe

ein Mädchen

menschlich

menschlich





menschlich

menschlich





menschlich

menschlich

menschlich

K.2 menschlich

bewegt

bewegt

bewegt

-

bewegt

bewegt

bewegt

bewegt

bewegt

bewegt



K.3 bewegt

Tabelle 4: Bühnenkomposition IV Schwarze Figur

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

handelnd

K.4 handelnd

sprechend

sprechend















sprechend

sprechend

K.5 sprechend

individuiert (Kleidung)

individuiert (Kleidung)

individuiert (Farbe/ Form)



individuiert (Farbe)





individuiert (Farbe/ Form)



individuiert (Farbe)

individuiert (Stimme)

K.6 individuiert

weiblich

männlich

neutral

neutral

weiblich

männlich/weiblich

neutral

neutral

gemischt

männlich/weiblich

männlich/weiblich

K.7 männlich/weiblich/ neutral

hellblau

weißgekleidet

verschiedene farbige Trachten

K.9 Farbe

normal

normal





weiße Gesichter

normal

normal

ein Körbchen von Erdbeerensträußchen

hellgrünes langes Hemd

rund, groß, wittrig grauweiß, später ganz weiß

sieben Farben

in’s blaue ganz umhüllt

ganz in rosa gekleidet



mit einem großen grün- schwarz lichblassen Kopf auf langem schmalen Hals

normal

ganz rosige Gesichtern, beide mit langen schwarzen Haaren (Mann und Frau)

normal

K.8 Sonderbehandlung des Gesichts

2.2.2. Semiotische Erklärung des körperlichen Zeichens Die äußere Erscheinung des Schauspielers ist semiotisch gesehen das erste Zeichen,104 das die Identität der Rollen vermittelt.105 Insofern fungieren die Körperbilder in den Bühnenkompositionen auch »als ein bedeutungserzeugendes System«.106 Durch die vorhergehende Untersuchung wurde deutlich, dass Kandinsky den Charakter der Rollen mittels Körperbildern zeigte. Die Zuschauer sind herausgefordert, an den Körperbildern die Rolle zu verstehen. Im Hinblick auf das dramaturgische Schema der Körperbilder (Kap. 2.2.1.) sind folgende wichtige körperliche Zeichen in den Bühnenkompositionen festzustellen: Gesicht + Farbe, Körper + Farbe (auf dem Körper und der Kleidung), Körpergröße und Abstrahierung der menschlichen Körperform. Die Aufgabe ist nun zu klären, wie Kandinsky über die Körperlichkeit der Figuren ihre semiotischen Merkmale gestaltete.107 Da Kandinsky seinen Darstellungsstil zügig weiterentwickelte, betrifft die semiotische Erklärung in diesem Kapitel nur die frühen vier Bühnenkompositionen. Entsprechend Jelena Hahl-Kochs Hinweis auf die Entwicklung von der Bühnenkomposition I Riesen (1908/09) zur publizierten Bühnenkomposition Der Gelbe Klang (1912), lässt sich ein »Fortschreiten zur Abstraktion« im Ablauf der Bearbeitung verfolgen,108 d.h. die Bedeutung eines Zeichens wie Frisur sowie Kleidung änderte sich stark in den späteren Bühnenkompositionen. Die »Maske«, das semiotische Bedeutungsfeld des Gesichts, bezieht sich im Allgemeinen wie nach der lateinischen persona auf die Persönlichkeit. Die Persönlichkeit reicht vom Charakter bis zum vorübergehenden emotionalen Ausdruck. Eine theaterhistorisch typische Sonderbehandlung des Gesichts stellt die persona im antiken Theater dar. Die persona wurde in vielen Urformen des Theaters in der Welt benutzt, wie im balinesischen Tanz, im japanischen Nô-Theater, in der italienischen Commedia dell’arte und im französischen ballet du cour. Sie diente der Typologisierung der Rolle und der Verwandlung des Schauspielers in den Charakter, wie z.B. in eine gottesgleiche Figur. Zu Kandinkys Zeit war Edward Gordon Craig der bedeutendste Vertreter der Maskenverwendung. Jedoch verwendete Kandinsky keine Masken in seinen Bühnenk-

104 105

106 107

108

Als nächstes bringt ein Schauspieler die linguistischen und paralinguistischen, die mimischen, gestischen und proxemischen Zeichen hervor. Siehe Fischer-Lichte 2003, S. 98. Aus dem äußerlichen Merkmal können laut Fischer-Lichte gegebenenfalls folgende Eigenschaften erkannt werden: Alter und Geschlecht, eine soziale Stellung in einer bestimmten Epoche oder Kultur, Rasse und Nationalität, Berufe, bestimmte theatrale Typen wie Clown, oder schließlich einzelne Bühnengestalten wie Othello oder Mephisto. Fischer-Lichte 2003, S. 94. Ebd. Für die semiotische Analysemethode der Erscheinung des Schauspielers siehe Fischer-Lichte 2003. Sie teilt die Erscheinungsfelder in drei Teilzeichen, Maske, Frisur und Kostüm, und führt aus, wie die äußerlichen Merkmale als Zeichen den verschiedenen Bedeutungen dienen und besonders im Theater bewusst dafür verwendet werden. Hahl-Koch 1993, S. 150. »Aus der ›grellen, bunten Menschenprozession mit Fahnen und Kränzen‹ in Riesen wurden ›Menschen in verschiedenenfarbigen Trikots, sie ähneln Gliederpuppen, ihre Haare sind durch enganliegende Haarlose Perücken verdeckt‹. In der letzten Fassung sind schließlich die Perücken und Gesichter von derselben Farbe wie die Trikots, der Mensch ist also zum reinen Farbträger reduziert.«

51

ompositionen, sondern Gesichtsfarben. Die Farben werden von Kandinsky in der Funktion einer Maske als dominierender Bedeutungsträger des Charakters verwendet. Sie werden entweder homogen als eine Farbe oder gemischt in Flecken aufgetragen. Da bei Kandinsky die Gesichtsfarben innerhalb der Aufführung nicht verändert werden, könnten sie nur für den Ausdruck des bereits definierten Charakters und nicht für einen vorübergehenden Emotionsausdruck stehen. Die meisten »Figuren« haben farbige Gesichter und die meisten »Menschen« besitzen keinen Hinweis auf Gesichtsfarben. Diese Unterscheidung hängt mit der Körperlichkeit der Rollen zusammen, d.h. falls auf die Farbe nicht hingewiesen wird, ist sie bei den »Figuren« gleich wie die Körperfarbe, und bei den »Menschen« wie die menschliche Hautfarbe. Im ersten Fall geht es um die Farben, die in Kandinskys Farbensymbolik bestimmte Eindrücke vermitteln. Andererseits handelt es sich im zweiten Fall um eine Hautfarbe wie »weiß«, »gelb« oder »schwarz«, die eine Zugehörigkeit zu einer Rasse oder vorübergehende Änderungen wie z.B. vor Schreck blaß werden, vor Zorn dunkel werden, oder sonstige Veränderungen der Haut durch die Sonne, Schminken oder Krankheit darstellen soll, d.h. das Zeichen »Gesicht + Farbe« fungiert je nach der Stufe der Körperlichkeit auf unterschiedlichen Ebenen. So tragen die gegenständlichen »Menschen« normale Hautfarbe an ihren materiellen Gesichtern. Sie können ihre geistige Eigenschaft nicht durch die Farbe äußern. Hingegen ist das Geistige bei den abstrakten »Figuren« am Gesicht als Farbe sichtbar. Das Verdecken des Gesichts (durch ein Tuch oder Ähnliches) fungiert ebenfalls wie eine Gesichtsfarbe bei Kandinsky. Bei den abstrakteren »Figuren« betont dies eine besondere Identität der Rolle, die versteckt bleiben muss.109 Hingegen signalisiert ein Schleier bei den gegenständlichen »Menschen« die kulturelle Bedeutung. Im christlichen Kontext wird der Schleier beim Beten von Frauen in der Kirche getragen. Das Kopftuchverhalten der Christen ist in 1. Korinther 11.5–15 beschrieben.110 Demnach könnte ein Schleier als die Andächtigkeit der Figur verstanden werden, wobei sich seine Wirkung auch auf die Abstrahierung des Gesichts bzw. der Identität beziehen könnte. Auch die Braut trägt einen Schleier. Doch ist dieser in anderer Verwendung auch ein Kennzeichen des Todes. Der erste Fall gilt für die verschleierte grüne Frau im zweiten Bild der Bühnenkomposition II Grüner Klang. Sie kann in der vorliegenden Studie als Ecclesia – Verkörperung der Kirche sowie Braut Christi – identifiziert werden. Der zweite Fall, Schleier als Todeszeichen, trifft auf die weiße riesige Figur auf dem einer Bahre ähnelnden Fels in der dritten Szene der Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß zu. Wie in Kap. 2.2.2. unter Kategorie 9 erläutert wurde, zeigt sich das Zeichen »Körper + Farbe« je nach der Körperlichkeit in einer gegensätzlichen Erscheinungsform. Bei den gegenständlichen Rollen wie »Menschen« wird die Farbe durch die Kleidung dargestellt, welche von der Tracht bis zu einer unbestimmten farbigen Kleidung reicht. Die Tracht

109 110

52

Siehe Kap. 2.1.5. über den Silberüberzug der Ikone. »Eine Frau aber, die betet oder prophetisch redet mit unbedecktem Haupt, die schändet ihr Haupt; denn es ist gerade so, als wäre sie geschoren. [...] Darum soll die Frau eine Macht [Schleier] auf dem Haupt haben um der Engel willen. [...] Urteilt bei euch selbst, ob es sich ziemt, daß eine Frau unbedeckt vor Gott betet.« Siehe auch Signori 2005, S. 96ff.

steht nach Kandinskys Neigung zur romantischen Ethnographie für Volksseele und bezieht sich auf eine utopische Welt, in der Menschen verschiedener Herkunft leben und das geistige Ereignis gemeinsam erleben.111 Eine unbestimmte Kleidung, die keine detaillierte Beschreibung der Form aufweist, ist im Vergleich zu den farblich gekleideten Menschen abstrakter. Kandinskys damalige Absicht, das Geistige mit einer nichtrealistischen Gestalt zu offenbaren, verursachte die Eliminierung der Form und die Betonung der Farbe. Im Prozess der Abstrahierung der menschlichen Körperform war beispielsweise das Geschlecht ein zu löschendes Merkmal. Je weniger Angaben zur Form es gibt, desto wichtiger und größer wird die Bedeutung der Farbe. Diese Beziehung entspricht der Körperlichkeit zwischen der Gegenständlichkeit und der Abstraktion. Die Farbe als Zeichen reicht je nach der Körperlichkeit der Figuren von einer allgemeinen Dekoration bis hin zu einem symbolischen Attribut, das zur Identifikation des geistigen Charakters dient. Auch die Körpergröße ist für Kandinsky ein Zeichen, das die Eigenschaft der Rolle sichtbar macht. Ein menschlicher Körper ist seiner Auffassung nach materiell und birgt gleichzeitig Geistiges in sich, so dass die Körpergröße in den Bühnenkompositionen für die Verkörperung des innerlichen Status der Rolle stehen kann. Die mögliche Übernahme von Techniken aus der Malerei ist auch zu berücksichtigen, z.B. die aperspektivische Darstellung der Ikonen. Laut Kandinsky waren die antiken Götterskulpturen Versuche, das Geistige durch das Körperliche darzustellen. In diesem Sinne ist das Zeichen der Körpergröße in den Bühnenkompositionen die Übersetzung des Geistigen. In den Bühnenkompositionen dient das Darstellungsfeld »Frisur«112 als einziges gegenständliches Zeichen zum Hinweis auf die kulturelle Identität. Kandinsky beschreibt bei den »Figuren« selten die Form der Frisur, so dass deren Erwähnung eine wichtige Information vermitteln könnte. In solchen Fällen sind insbesondere lange Haare sowie langer Bart auffallend. Fischer-Lichte weist auf den Unterschied der Bedeutung der langen Haare bei Männern je nach der religiösen Gemeinschaft hin; »während den einen (z.B. den orthodoxen Christen) das lange Haupt- und Barthaar als Zeichen der Frömmigkeit, eines gottgefälligen Lebens erscheint, gilt es den anderen [...] als Ausdruck sexueller Ausschweifung und eines unkeuschen Lebenswandels.«113 Die langen Haare der Männer in den Bühnenkompositionen könnten angesichts der orthodoxen Herkunft von Kandinsky einen positiven Eindruck vermitteln, jedoch könnten sie in einem anderen Kontext auch eine langjährige Ungepflegtheit oder Verwilderung andeuten, so ist die Vermittlung der Frisur nicht eindeutig. Außer der Haarlänge gibt es von Kandinsky Hinweise auf die Haarfarbe,

111 112

113

Siehe Kap. 2.1.1. Siehe Fischer-Lichte 2003, S. 113. Die Komponente Frisur enthält laut Fischer-Lichte Merkmale, wie etwa Grad der Behaarung, Farbe, Beschaffenheit und Länge der Haare, die je nach kulturellem Kontext unterschiedliche Bedeutung vermitteln. Dazu gehören z.B. Klassenzugehörigkeit, sozialer Status, Erwachsenszeichen, Geschlechtsunterschiede, Tätigkeit, Nationalität, Zugehörigkeit zur Region und zu religiöser Gemeinschaft usw. Wie bei der Maske könnte eine Frisur auch für eine nicht-dauerhafte, sondern kurzfristige Situation des Trägers stehen. Fischer-Lichte 2003, S. 113.

53

etwa »blond« und »schwarz« in der zweiten Szene der Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß. Dies könnte auf die Polarisierung der europäischen und nichteuropäischen Kulturen hindeuten.114 2.2.3. Körperlichkeit zwischen dem Materiellen und dem Geistigen Nach der schematischen Bewertung der Körperbilder sowie ihrer semiotischen Analyse stellt sich heraus, dass die Charaktere der frühen Bühnenkompositionen durch die Körperlichkeit115 ihre geistige Eigenschaft äußern. Die Körperlichkeit der Bühnenfiguren scheint von Kandinsky zwischen Gegenständlichem und Abstraktem bestimmt worden zu sein, und dies gleicht dem Stand zwischen dem Materiellem und dem Geistigen. Je abstrakter die Figur ist, desto geistiger kann sie bewertet werden. Kandinskys Verständnis der Körperlichkeit lässt sich anhand der Passage über die Form in der bildenden Kunst nachvollziehen. Er nennt zwei Arten der Form, die auf der Welt und in der Kunst existierten. Die erste Form dient als »Abgrenzung, [...] einen materiellen Gegenstand aus der Fläche herauszuschneiden«,116 und dies könnte die gegenständlichen Körperbilder betreffen. Die zweite Form hat ein »rein abstraktes Wesen« wie eine geometrische Form, z.B. ein Quadrat. Dies kann im Hinblick auf Kandinskys spätere abstrakte Malerei als das Ziel seiner Kunstsprache erkannt werden. Beide Arten seien laut Kandinsky »gleichberechtigte Bürger des abstrakten Reiches«, und »zwischen diesen beiden Grenzen liegt die unendliche Zahl der Formen, in welchen beide Elemente vorhanden sind und wo entweder das Materielle überwiegt oder das Abstrakte«.117 So stehen die Körperbilder in Kandinskys Auffassung der Form der Kunst zwischen zwei Polen, zwischen Gegenständlichem118 und Abstraktem, und diese sind mit dem Materiellen und dem Geistigen vergleichbar. Nach diesem Grundprinzip kann sich die Körperlichkeit im Spannungsfeld zwischen Materiellem und Geistigem befinden. Kandinskys Verständ-

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Siehe Kap. 4.4.2. Der blonde junge Mann ist nach der vorliegenden Interpretation ein junger Kreuzzugheld wie Rinaldo oder Tancredi aus der epischen Literatur Das befreite Jerusalem, und die schwarzhaarige Frau eine heidnische Heldin wie Armida oder Clorinda. Es geht schließlich um die Vereinigung der zwei Farben – Schwarz und Weiß – und sie symbolisieren die Gegensätze von Ost und West, Heiden und Christen sowie Frau und Mann. Das Wort »Körperlichkeit« bezieht sich auf das Wesen der Körperbilder und unterscheidet sich vom »Körperlichen,« das nach Kandinskys Auffassung die gleiche Bedeutung besitzt wie das »Materielle«. ÜGK, S. 71. Ebd. Der Text in kursiv stammt von Kandinsky. Kandinsky verwendet das Wort »das Körperliche« auch als Gegensatz zu »dem Abstrakten«. Kandinsky schrieb; »Je freier das Abstrakte der Form liegt, desto reiner und dabei primitiver klingt es. In einer Komposition also, wo das Körperliche mehr oder weniger überflüssig ist, kann man auch dieses Körperliche mehr oder weniger auslassen und durch rein abstrakte oder durch ganz ins Abstrakte übersetzte körperliche Formen ersetzen.« (ÜGK, S. 75). »Das Körperliche« äußert dabei die Gegenständlichkeit der Körperbilder. Da dies mit der hier als zentrales Thema hingestellten »Körperlichkeit«, die als das Wesen der Körperbilder zwischen der Gegenständlichkeit und der Abstraktion verstanden wird, verwechselt werden könnte, werden hier die ersten Gegensätze als »das Materielle« und »das Geistige« bezeichnet.

nis der Körperbilder vereint inhaltlich das materielle Wesen eines Körpers und das geistige Wesen der Seele, denn er definierte die »tanzkünstlerische Bewegung«,119 die eins der wichtigsten drei Elemente der Bühnenkomposition ist, als »körperlich-seelischen Klang«, und dieser werde durch »Menschen und Gegenstände« ausgedrückt.120 Aus Kandinskys Wortverwendung lässt sich erkennen, dass die gegensätzlichen Begriffe wie gegenständlich / abstrakt, materiell / geistig sowie körperlich(leiblich) / seelisch miteinander zusammenhängen. Dies könnte sowohl von Aristoteles’ Analogie zwischen Körper und Seele, Descartes’ Dualismus »Leib« und »Geist« bzw. »Seele«, »Verstand« oder »Vernunft« als auch von Steiners Definition des Menschen aus drei Teilen, Leib, Seele und Geist,121 beeinflusst worden sein, wobei Kandinsky in den Körperbildern in den Bühnenkompositionen keine klare Trennlinien zwischen diesen Gegensätzen vorlegte, sondern sie gerne in einer untrennbaren graduellen Skala gestaltete. Dies erinnert an Kandinskys Farbdeutung der gegensätzlichen Farben Weiß und Schwarz, die sich als Metapher von »A und O« aus den beiden Testamenten verstehen lassen.122 In Kandinskys Farbtabelle stehen Weiß und Schwarz einander gegenüber und umschließen die Welt der bunten Farben (Abb. 5). Die beiden Farben stehen nach Kandinskys Farbdeutung für den Anfang und das Ende, und somit könnten sie analog als A und O verstanden werden. Obwohl sie Gegensätze sind, bilden sie nach den Testamenten den Zustand Gottes. Dies wird in den beiden Testamenten bei der Schöpfung und der Offenbarung Johannes erläutert. In den Bühnenkompositionen, die die Apokalypse behandeln, wird daher die Vereinigung der Farben Weiß und Schwarz – Inbegriff von A und O – als ein zentrales Motiv dargestellt. Kandinskys Farb-Weltvorstellung der zwei Gegensätze kann auch auf das Gesetz der Formen bzw. Körperbilder in den Bühnenkompositionen erweitert werden, d.h. in den Körperbildern sind das Materielle und das Geistige nicht trennbar, sondern existieren zwischen zwei »Grenzen«,123 wobei die eine Seite zur Gegenständlichkeit bzw. zum Materiellen hin orientiert ist und die andere zur Abstraktion bzw. zum Geistigen. Die Körperlichkeit bestimmt das Wesen der behandelten Charaktere, die zwischen dem Materiellem und dem Geistigen schwanken. Je konkreter und genauer die äußerlichen Merkmale beschrieben werden, desto materieller sind die Figuren. Die Figuren, deren äußerliche Merkmale geschwächt sind, wirken abstrakter und folglich geistiger. Dies war das Gesetz der Körperlichkeit, das Kandinsky für die Welt der frühen Bühnenkompositionen entwarf und durch die Körperbilder zu verwirklichen versuchte. Aufgrund dieses Verständnisses der Körperlichkeit kann die Identifikation der Charaktere in Kap. 4 vertieft werden.

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Für die begriffliche Ausführung dieser »Bewegung« siehe Kap. 3.2. DBR, S. 206. Steiner 1960a, S. 121. Steiner bezeichnete einen Menschen als Einheit von Leib, Seele und Geist, dabei ist die Seele wie eine Energie, die dem Leib das Leben bringt, wobei der Geist die Identität trägt. Zur Farbdeutung von Schwarz und Weiß siehe Kap. 4.4.3. Zum erweiterten Verständnis der Farbdeutung von Schwarz siehe Kap. 4.5.2. ÜGK, S. 71.

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3.

Bewegung in den frühen Bühnenkompositionen

Kandinskys Bühnensynthese beruhte zum Zeitpunkt der Publikation Über das Geistige in der Kunst (1911) auf der Synthese der »Bewegungen«.1 Kandinsky suchte ein in den verschiedenen Kunstgattungen anwendbares Mittel bzw. einen gemeinsamen Teiler der Künste, mit dem alle Kunstmittel auf derselben Ebene behandelt werden könnten. So wählte er die Metapher der »Bewegung« als Grundmaterial aller Künste und träumte von ihrer Unabhängigkeit, um eine freie Komposition der Bewegungen – Mit- und Gegenwirkung – schaffen zu können. Es muss jedoch betont werden, dass die von Kandinsky gewählten »Bewegungen« der Künste nicht nur praktische und sichtbare Bewegungen behandeln, sondern vielmehr eine metaphysische Grundlage zur Synthese bieten. Jedoch wies Denkler darauf hin, dass Kandinskys Dramentext überwiegend aus der Schilderung des praktischen Bewegungsablaufs bestehe, d.h. bei manchen Betrachtern könnte die Gestik als meistverwendetes Kunstmittel wahrgenommen werden. Weiter behauptet Denkler, dass Kandinsky nach dem Vorbild des Mimodramas vorginge, dessen Motiv im Misstrauen gegenüber der Sprache und dem naturalistischen Sprechdrama gesehen werden könne, wobei er hinzufügte, dass Kandinsky gleichzeitig die Form des Mimodramas durchbreche, denn er behalte »gesprochene Sprache und Sprachmimik als Elemente des Spiels« bei.2 Da Denklers Eindruck der Wahrnehmung der der meisten Zuschauer entsprechen könnte, wenn nur von praktischen Bühnengeschehnissen die Rede ist, ist zunächst eine Analyse dieser praktischen Bewegung notwendig. Betrachtet man den Regietext Kandinskys, so fällt auf, dass seine Beschreibungen der Formen und Farben im Vergleich zu Texten über andere Bühneneffekte wie Töne und Sprechtexte überwiegen. So sind die Körperbilder, die im vorhergehenden Kapitel untersucht wurden, die wichtigsten Bedeutungsträger der Bühnenkompositionen. Sie sprechen kaum und führen die ihnen zugeschriebenen Bewegungen aus. Während die Körperbilder wichtige Informationen durch ihre Formen und Farben vermitteln, bilden die praktischen Bewegungen den gesamten Ablauf des Stücks. Das Thema der Bühnenkompositionen kann daher nur durch ein grundlegendes Verständnis der Körperbilder und ihrer Bewegungssprache verstanden werden. Zur Analyse der Bewegungen werden drei Schritte unternommen. Erstens wird die von Kandinsky vorgeschlagene Bewegungssprache im Hinblick auf die Tanz- sowie Bewegungssprache der zeitgenössischen Künstler im historischen Kontext gesehen, so dass die Vision Kandinskys verdeutlicht wird. Dabei wird gezeigt, dass seine Bewegungssprache in den

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Später wurde die »Bewegung« durch »Klang« ersetzt. Siehe Kap. 3.2.2. Denkler 1979 S. 33.

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Bühnenkompositionen durch die Auseinandersetzung mit der stilisierten Gestik in der Malerei und die Übernahme ihrer Andeutungseffekte entstanden sein könnte. Als zweiter Schritt werden die von Kandinsky benutzten Metaphern der »Bewegung« untersucht und seine Idee der Synthese erläutert. Das Phänomen der »Bewegung« stand Anfang des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt der Künste sowie Naturwissenschaften. Kandinskys Verwendung des Begriffs »Bewegung« reflektiert seine Auffassung der »Bewegung« als ideale Weltsprache. Drittens werden die praktischen Bewegungen in den frühen Bühnenkompositionen semiotisch klassifiziert und ihre Funktionen analysiert. Dabei wird festgestellt, dass die Bedeutungsebene der Bewegungssprache in den Bühnenkompositionen gemäß der Körperlichkeit der Darsteller variiert. Manche Gesten der abstrakten Körperbilder weisen auf eine Übernahme der christlich-ikonographischen Gestik hin. Dagegen sind bei den gegenständlicheren Darstellern keine andeutenden Gesten zu finden, sondern nur räumliche Gruppenbewegungen. Der Reigen ist die einzige und wichtigste Tanzform, die in den frühen Bühnenkompositionen als Tanz genannt und getanzt wird. In den vier frühen Bühnenkompositionen wird er für mehrere Bedeutungen verwendet, wie für den Blumenkranz des Dichters, Mariä Rosenkranz, die Realisation der Farbverwandtschaft sowie die Verkörperung des Paradieses.

3.1. Die Suche nach der neuen Bewegungssprache auf der Bühne Kandinskys Überlegungen zur Bewegungssprache beruhten auf der gegenseitigen Annäherung der bildenden Künste und der Tanzkunst um die Jahrhundertwende. Er suchte für die Bühnenkompositionen eine andere Bewegungssprache als die »Sprache der Ballettbewegungen« oder die der »Tanzreformatoren unserer Zeit« wie Isadora Duncan,3 und nannte dies »tanzkünstlerische Bewegung«, die sich als eines der drei Hauptelemente der Bühnenkompositionen verstehen lässt. Die praktischen Bewegungen nehmen daher im Verlauf der Bühnenkompositionen einen größeren Raum ein als die Wortsprache. Jedoch wird die Balance der drei gleichberechtigten Elemente im einzelnen Bühnenwerk gewahrt. Als Folge bleibt der Anteil der Bewegungssprache unauffälliger als in den sonstigen Bewegungskünsten wie dem Ballett. In den frühen Bühnenkompositionen werden nur spärliche einfache Körperbewegungen unternommen, so dass der Stil der Bewegungssprache schwer zu entziffern ist. In den bisherigen Forschungsstudien wurden die Körperbewegungen daher wenig beachtet. Jedoch erläuterte Kandinsky in Über das Geistige in der Kunst seine Reformidee der Bewegungssprache bzw. der Sprache des Tanzes, und dies muss ein wichtiger Schritt zur Bühnensynthese gewesen sein. In diesem Unterkapitel wird Kandinskys Idee der Bewegungssprache auf der Bühne im Hinblick auf die zeitgenössischen Bühnenkünste besprochen. Berücksichtigt werden drei Künstler, Isadora Duncan, Alexander Sacharoff sowie Wsewolod Meyerhold. Die Gemeinsamkeit dieser drei mit Kandinsky besteht darin, dass sie am Schnittpunkt der Bühnenkunst und der bildenden Künste eine neue Bewegungssprache suchten, d.h. bildende Künstler suchten in der Tanzkunst die ideale Darstellung der »Bewegung« und TänzerInnen sowie Thea-

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ÜGK, S. 124.

termacher wiederum die stilisierte Bewegung in den bildenden Künsten. Zur Einleitung wird hier das Phänomen der Begegnung der beiden Künste um die Jahrhundertwende erläutert. Die Bewegung sowie die sich bewegenden Körperbilder waren Ende des 19. Jahrhunderts bei vielen bildenden Künstlern ein zentrales Thema, denn sie galten als ideale Objekte, deren Darstellbarkeit sowohl räumlich als auch zeitlich erörtert wurde und damit einen neuen Horizont der Wahrnehmung eröffnete.4 Einen Anstoß dazu bot der englische Photograph Eadweard Muybridge (1830–1904). Er nahm 1877 Reihenfotos von einem laufenden Pferd auf und wies nach, dass das Pferd beim Laufen zeitweise seine vier Hufe unter dem Bauch in der Luft hielt. Anschließend wurden weitere Chronophotographien von sich bewegenden Objekten wie Tieren und Menschen in Animal Locomotion (1887) sowie in The Human Figure in Motion (1901) publiziert (Abb. 6), woraufhin sich die Kubisten wie Marcel Duchamp (1887–1968) und die Futuristen wie Umberto Boccioni (1882–1916) mit der Realisation der sich bewegenden Körperbilder durch die bildenden Künste auseinandersetzten. Aus demselben Interesse wurden die Tanzkunst sowie TänzerInnen als ein modernes Sujet bei den bildenden Künstlern beliebt. Auch von der Seite des Tanzes her gab es eine Anäherung an die bildenden Künste. Im 20. Jahrhundert entstanden neue Aspekte im Tanz: »Man erkannte Körper und Bewegung als Bedeutungsträger.«5 Körper und Bewegung wurden als ein Ausdrucksmittel erkannt, dessen Funktionalität in Raum und Zeit zu erproben war. So konnte der Tanz durch die körperliche Bewegung die innere Befindlichkeit äußern.6 Die Tänzer sowie Choreographen gingen auf die Suche nach einer neuen eigenen Bewegungssprache, und dazu gehörten zwei amerikanische Tänzerinnen, Loïe Fuller (1862–1928) und Isadora Duncan (1877–1927). Sie stammten nicht aus der europäischen Tradition des Balletts, erweiterten die Ästhetik der Bewegungssprache und lockten damit die bildenden Künstler an. Anders als das klassische Ballett, in dem die vollendeten formal-ästhetischen Posen durch ihre Verweilzeit verdichtete Eindrücke hinterlassen,7 boten Fuller und Duncan sich stets verändernde Formen wie Wolke oder Wellen. Fullers Serpentinentanz, präsentiert in Paris seit 1892, passte beispielsweise zum Geschmack des Art Nouveau wie bei Henri de Toulouse-Lautrec 4

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Beispielsweise führten die Kubisten wie Pablo Picasso (1881–1973) und Georges Braque (1882–1963) die Philosophie Henri Bergsons in die Malerei ein. Bergson lehnte ein räumliches Verständnis der Zeit ab und stellte dies als ein fließendes Kontinuum dar, das nur durch das Bewusstsein wahrgenommen werden kann. Daraufbeziehend zerteilte Picasso das räumliche Abbild der Gegenstände in Körperfragmente und stellte sie nach dem subjektiven Sehen des Künstlers in Prismen und Kuben zusammen (»Les Demoiselles d’Avignon«, 1907). Jeschke 1999, S. 19. Jeschke bietet die vogelperspektivische Ansicht der Tanzkunst an, wonach die epochentypischen Problematisierungen der Tanzkunst durch die Untersuchung der Tanzschriften in den jeweiligen Zeiten zu begreifen sind. Dadurch wird klar, dass die Blüte des modernen Tanzes in Europa am Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur von außereuropäischen Katalysatoren wie Fuller, Duncan oder Ballets Russes ermöglicht wurde, sondern sich erst mit der grundlegenden Körperanalyse im 19. Jahrhundert entfalten konnte, in dem das Stadium der »Segmentierung« des Körpers in Raum und Zeit erreicht wurde. Siehe Jeschke 1999, S. 20. Es ist zu betonen, dass die Posen des Balletts technisch sowie ästhetisch keinen Stillstand bedeuten, sondern im Gegenteil die unendliche Fortdauer durch und in Posen fordert.

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(1864–1901) (Abb. 7).8 Jedoch basierte Fullers Bewegungssprache überwiegend auf Lichteffekten mit Stoffen,9 so dass sie im modernen Tanz des 20. Jahrhunderts, bei dem die Bewegung und der Körper die inhaltlichen Gesichtspunkte wurden, nicht weiterentwickelt werden konnte. Dagegen schlug Isadora Duncan einen neuen Kurs sowohl für das Ballett als auch für den modernen Tanz ein. Sie erforschte die Körperbilder in den antiken griechischen Künsten, die im British Museum in London zu sehen waren, und tanzte mit spärlichen Stoffen in griechischer Tunika und barfuß (Abb. 8). Duncan war nicht die Einzige, die durch einen zeichnerischen Schaffensprozess eine eigene Bewegungssprache entwarf. Die jüngeren Choreographen wie Alexander Sacharoff (1886–1963) und Waslaw Nijinsky (1889–1950) skizzierten ebenfalls Figuren aus den bildenden Künsten wie von Luca della Robbia und setzten sie in die Bewegung ein.10 Es war ein bedeutender Zufall, dass die beiden Choreographen aus Russland stammten wie Kandinsky. Und noch ein Künstler aus Russland, Wsewolod Meyerhold (1874–1940), schlug auf ähnliche Weise für das symbolistische Theater eine neue Bewegungssprache entsprechend den bildenden Künsten der italienischen Renaissance vor.11 Es war offensichtlich ein Phänomen um die Jahrhundertwende, dass sich die Theaterkünstler auf der Suche nach der neuen Bewegungssprache von den bildenden Künsten inspirieren ließen, allerdings war diese Phase in der Tanzkunst nur von kurzer Dauer.12 In den bisherigen Forschungsstudien über die Bühnenkompositionen wurden die oben genannten Annäherungen der unterschiedlichen Künste als Anreger zu Kandinskys Bewegungsreform nicht berücksichtigt, so dass der Stil seiner Bewegungssprache nicht sinnentsprechend beurteilt wurde. Eller-Rüter betrachtete beispielsweise Kandinskys Reformidee als »in seiner Zeit kein Novum«,13 wobei sie nur einen allgemeinen Vergleich mit Vertretern des zeitgenössischen Tanzes wie Duncan, Jaques-Dalcroze, Sacharoff, Laban, Wigman sowie Palucca durchführte.14 Ballets Russes von Sergej Diaghilew und Eurythmie von Rudolf Steiner15 wurden dabei als nahestehende Tänze zu Kandinsky hinzugefügt. So basiert ihr Urteil auf den Ergebnissen

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Toulouse-Lautrec malte Loïe Fuller in »Loïe Fuller in Follie Bergères« (1893). Fuller inszenierte mit loser langer Kleidung und farbigen Lichtern die Illusion der sich verändernden Formen, von Wellen bis zu flatternden Schmetterlingen. Ihr Körper war durch die flutenden Stoffe außer ihrem Gesicht kaum auf der Bühne zu sehen. Siehe Hutchinson/Jeschke (Hrsg.) 1991, S. 10, Brandtstetter 1994, S. 76–79, sowie Kat.Sacharoffs 2002, S. 14–15. Siehe Kap. 3.1.3. Die Vertreter des modernen Tanzes wie Rudolf von Laban und Mary Wigman bestimmten den weiteren Kurs zum Interesse an Bewegung und Körper an sich, so dass der Tanz ohne die jeweiligen Katalysatoren wie die bildenden Künste sowie die Musik das neue Feld auszuprobieren begann. Eller-Rüter 1990, S. 55. Laut Eller-Rüter befinden sich die genannten TänzerInnen in Kandinskys Vorlesungsaufzeichnungen »Cours du Bauhaus« vom 19. 06. 1925 unter dem Stichwort »Renaissance de la Danse«. Eller-Rüter 1990 op.cit., S. 53. Befindet sich in Sers, Philippe (Hrsg.): W. Kandinsky. Ecrits complets. La Synthèse des Arts. Paris 1975, S. 166. 1912 fand die Aufführung der Eurythmie von Rudolf Steiner auf der Bühne in München statt.

»sämtlicher Innovatoren des modernen Tanzes«16 und entbehrt trotzdem einer grundlegenden Auffassung, zu welcher tanzhistorischen Genealogie Kandinsky nun eigentlich positioniert werden soll. Der zeitgenössische Tanzkritiker Hans Brandenburg rechnete die Tänzer in München – Gertrud Leistikow,17 Alexander Sacharoff, Clotilde von Derp, Sent M’ahesa und Rudolf von Laban18 – zu den »vorläufigen Blüten« vor dem Ersten Weltkrieg.19 So kann Sacharoffs Tanzsprache, wenn man im Vergleich dazu etwa den etablierten und bis zum Zweiten Weltkrieg erfolgreichsten Tanz von Mary Wigman betrachtet, nur als ein Beispiel der Suche nach einer neuen Tanzsprache im Übergangsstadium vom »neuen Tanz« zum »modernen Tanz« verstanden werden, wie auch Eller-Rüter Kandinskys Überlegung als »kein Novum in seiner Zeit« bezeichnete. Sacharoffs zeichnerischer Schaffensprozess ähnelt dem von Duncan. Zur Schaffenszeit der frühen Bühnenkompositionen bestand eine Zusammenarbeit mit Kandinsky. Dies war die Blüte der Begegnung der Tanzkunst mit den bildenden Künsten, die zwar nicht sofort verwelkte, aber von der späteren Entwicklung des modernen Tanzes aus als ein Übergang zu betrachten ist. Auf dieser Linie von Duncan zu Sacharoff, zu der auch Nijinsky gehören könnte,20 kann die Bewegungssprache der Bühnenkompositionen betrachtet werden. Kandinsky ging als Maler einen Schritt näher zur Bilderwelt als Duncan und kritisierte sie wegen der zitierten Form der antiken Griechen. Für die Bühnenkompositionen musste die Bewegungssprache eine Form haben, die nach Kandinskys kunstmissionarischen Gedanken interkulturell und universell, d.h. einfach und allgemein, ist. Hier liegt das Ziel der synthetischen monumentalen Kunst, die Schöpfung einer Weltsprache. Kandinskys Versuch, aus dem Tanz alle kultur-, religions- sowie nationalitätsbedingten Faktoren zu beseitigen und daraus eine abstrakte Sprache zu schaffen, soll in diesem Kontext verstanden werden. Mit dieser Auffassung könnte die Bewegungssprache in den Bühnenkompositionen nach den Worten des Künstlers, »bedeutungsvoll«, »geheimnisvoll«, »dramatisch und packend«21 wirken. 3.1.1. Isadora Duncan und »Der Tanz der Zukunft« Von 1902 bis 1908 erlebte Isadora Duncan »mit ihren zahlreichen Auftritten und Vorträgen in verschiedenen Städten Deutschlands wohl die intensivste Zeit in ihrer Karriere«.22 Kandinsky besuchte den Tanzabend Isadora Duncans23 und erwähnte seit dem 31. Novem-

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Eller-Rüter 1990, S. 53. Debutierte 1910 in Berlin. Rudolf von Laban öffnete 1910 die Tanzschule in München. Brandenburg 1921, S. 211. Nijinskys L’aprés midi d’un faune ist ein Beispiel für den zeichnerischen Schaffensprozess. In Le sacre du printemps ist dagegen der Einfluss von Jacque-Dalcroze deutlicher zu erkennen. ÜGK, S. 123. Dörr 2000, S. 31. Im Brief von Kandinsky an Münter vom 18. November 1902: »Ich beeile mich gehorsamst, Sie im voraus für Ihre freundliche Besorgung der Karten für den Duncan-Abend höflichst zu bedanken und zugleich Ihnen mitzuteilen, dass meine Frau und ich sehr gern die berühmte Tänzerin sehen werden.« Kleine 1994 op.cit., S. 162.

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ber 1902 den Namen der Tänzerin mehrmals in seinen Briefen an Münter.24 Die von Duncan in Berlin gehaltene Rede Der Tanz der Zukunft erschien 1903 in Buchform. Der Inhalt muss Kandinsky zur Reform des Tanzes angeregt haben, weil er in seiner Publikation Über das Geistige in der Kunst den Titel der Rede Duncans andeutend schrieb: »Wir stehen vor der Notwendigkeit der Bildung des neuen Tanzes, des Tanzes der Zukunft.«25 Gemeint war jedoch nicht der Tanz Duncans. Kandinsky nannte ihren Tanz »nur ein Übergangsstadium.«26 Kandinskys Kritik an Duncans Tanz ist unter zwei Aspekten zu verstehen: Übernahme eines vergangenen Kunststils und Umgang des Tanzes mit den anderen Künsten. Duncans Schaffensprozess, der beinhaltete, aus den griechischen Künsten die Inspiration für den neuen Tanz zu entnehmen,27 war in ihrer Zeit bereits umstritten.28 Der Hauptgrund für die negative Kritik basierte auf der Übernahme des griechischen Stils. Gabriele Brandstetter verstand unter Duncans Absicht, die »Essenz jener Körperbilder, die in der Kunst der Antike in Pathosformeln symbolisch verdichtet erscheint, zu lesen und in individuelle Tanz-Bewegung – ohne den rhetorisierten Code des Balletts – zu übertragen«.29 Dieser Weg wurde, trotz Duncans Einwand, dass es unmöglich und unnötig sei, zu den Tänzen der Griechen zurückzukehren,30 als Rückgriff auf den antiken Stil verstanden. Der zeitgenössische Tanzkritiker André Levinson widersprach dem Vergleich zwischen Duncan und der »antiquity« und bezeichnete den Charakter des Tanzes Duncans, indem er sich auf den Stil der bildenden Künste bezog, als »Präraffaelismus«. Er fügte hinzu: »Pre-Raphaelitism is a reactionary movement which brings overrefined classical and post-classical forms back to the level of primitive artistic concepts.«31 So versuchte Levinson, mit einem kunsthistorischen Blick Duncans

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Hahl-Koch 1993, S. 144. ÜGK, S. 125. Ebd., S. 124. Duncans Wertschätzung der antiken Griechen: »In all ihren Malereien und Skulpturen, in ihrer Architektur und Poesie, in ihrem Tanz und in ihrer Tragödie entwickelten die Griechen ihre Bewegungen aus der Bewegung der Natur. [...] Darum ist die Kunst der Griechen nicht eine bloß nationale und charakteristische geblieben, sondern ist und wird zu allen Zeiten eine Kunst der ganzen Menschheit sein.« Duncan 1903, S. 36. Zu den Kritiken an Duncan siehe Dörr 2000. Brandstetter 1995, S. 74. Das Wort »Pathosformel« übernahm Brandstetter aus Kunstwissenschaft. Aby Warburg (1866–1929) nannte bestimmte Gesten und Bildmotiven in den bildenden Künsten »Pathosformeln« und extrahierte sie von der Antike bis zur Moderne, so dass die Künste aus gegensätzlichen Epochen durch den Atlas der Pathosformeln im Zusammenhang ikonographisch analysiert werden konnten. Duncan 1903, S. 43f. »Hier möchte ich ein naheliegendes Mißverständnis vermeiden. Aus dem, was ich gesagt, könnte man leicht schließen, es wäre meine Absicht, zu den Tänzen der alten Griechen zurückzukehren, und ich dächte, daß der Tanz der Zukunft ein Wiederaufleben der antiken Tänze oder sogar der Tänze wilder Stämme sein würde. Nein, der Tanz der Zukunft wird eine neue Bewegung sein, eine Frucht der ganzen Entwicklung, die die Menschheit hinter sich hat. Zu den Tänzen der Griechen zurückzukehren, würde ebenso unmöglich sein, als es unnötig ist: wir sind keine Griechen und können daher auch nicht die griechischen Tänze tanzen.« Levinson 1983, S. 440.

Schaffensprozess in der Tanzgeschichte zu platzieren. In seiner Analyse wies er jedoch darauf hin, dass Duncans »neue« Tanzsprache aufgrund der raschen Entwicklung der bildenden Künste um die Jahrhundertwende schnell an Bedeutung verlieren könne, obgleich sie zunächst im Hinblick auf das Ballett sowie den Gesellschafttanz eine Innovation bedeutete. Aus Kandinskys Sicht war Duncans Absicht ein richtiger Schritt in der Tanzgeschichte. Demnach ersetze ihr Tanz die Sprache des Balletts, das nur den »materiellen Gefühlen (Liebe, Angst usw.)« diene. Dagegen sei der neue Tanz imstande, »feinere seelische Vibrationen zu verursachen«.32 Diese Aussage ist vergleichbar mit den Zeilen, in denen er den Präraffaeliten wie Rosetti als »Charakteristik des Suchens auf nicht materiellen Gebieten« zuschrieb.33 Dennoch beurteilte Kandinsky Duncans Tanz als »(ebenso in der Malerei) nur ein Übergangsstadium«,34 denn sie suche »Hilfe« in den »vergangenen Formen«.35 Damit meinte er die Anknüpfung zwischen dem griechischen Tanz und dem »kommenden«.36 Wie er in der Einleitung von Über das Geistige in der Kunst bereits ansprach, sei jedes Kunstwerk »Kind seiner Zeit«, so dass jede Kulturperiode »eine eigene Kunst zustande« bringe, »die nicht mehr wiederholt werden kann«.37 Kandinskys Worten zufolge könnten die vergangenen Kunstprinzipien »höchstens Kunstwerke zur Folge haben, die einem totgeborenen Kinde gleichen«.38 Aus seiner Sicht gliche etwa die Anwendung der griechischen Prinzipien in der Plastik den »Nachahmungen der Affen«.39 Diese Worte verdeutlichen, weshalb Kandinsky Duncans Tanz nicht akzeptierte. Seiner Auffassung nach bedeutete ein solcher Prozess schließlich keinen wahren Fortschritt. Kandinskys zweiter Kritikpunkt an Duncans Tanz beruht auf der mangelnden Selbständigkeit der einzelnen Künste. In seiner synthetischen Bühnenkunst beabsichtigte der Künstler die Abschaffung des »mathematischen Prinzips« (1+1=2),40 d.h. eine harmonische Zusammenarbeit der Bühnenelemente wie in Wagners Gesamtkunstwerk strebte er nicht an. Vielmehr betonte er, neue Kombinationen der gegensätzlichen Elemente in seine synthetische Bühnenkunst einführen zu wollen, wie etwa »Mitwirkung und Gegenwirkung«.41 Dabei sah er ein Vorbild der neuen Kunstsynthese in der atonalen Musik von Arnold Schönberg, in der die Töne nicht nur harmonisch zusammenklängen, sondern durch Disharmonie ein »neues Reich« eröffneten.42 Disharmonie schien Kandinsky eine zukünftige Methode für die synthetische Bühnenkunst zu sein. Dies könnte Kandinskys Ideal-

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ÜGK, S. 124. ÜGK, S. 50. ÜGK, S. 124. Ebd. »Dieses ist also aus demselben Grunde geschehen, aus welchem die Maler bei den Primitiven Hilfe suchten.« Ebd. ÜGK, S. 21. ÜGK, S. 21. Ebd. ÜB, S. 194. Dazu »Mathematisch ist 1+1=2. Seelisch kann 1–1=2 sein.« ÜB, S. 208. ÜGK, S. 49. »Schönbergsche Musik führt uns in ein neues Reich ein, wo die musikalischen Erlebnisse keine akustischen sind, sondern rein seelische. Hier beginnt die ›Zukunftsmusik‹.«

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bild der Welt entsprechen, in der die gegensätzlichen Elemente »mitwirkend« und »gegenwirkend« ein »neues Reich« suchen. Isadora Duncan findet dagegen in einer Harmonie von Beethoven und Wagner ihre künstlerischen Vorbilder.43 Im Essay Richard Wagner (1921) schreibt sie: »Wagner is more than an artist: he is the glorious far-seeing prophet, liberator of the art of the future. It is he who will give birth to the new union of the arts, the rebirth of the theatre, tragedy and the dance as one.«44 Duncan versuchte selbst die Idee der Musik zu realisieren, wie der Tanzkriktiker Levinson schreibt: »In her dancing she extracts mimetic, even dramatic content from the music’s impressions.«45 So erlebte ihre Tanzkunst keine Disharmonie mit der Musik, und dies scheint Kandinskys Weltvorstellung nicht entsprochen zu haben, denn er sah in ihrem Tanz die Unterordnung der Bewegung unter die Musik. Seiner Ansicht nach hingegen müsse der Tanz »die Höhe der heutigen Musik und Malerei«46 erreichen, und dafür fehle die Selbständigkeit bei der Bewegungssprache. In seinem »monumentalen Kunstwerk« soll die Unabhängigkeit der drei Bühnenelemente der Bühnenkompositionen – Ton, Farbe und Bewegung – geschaffen werden, so dass nicht nur eine »Harmonie«, sondern mehrere »Harmonien« sowie »Disharmonie« durch die verschiedenen Beziehungen entstehen können. Durch die kritische Haltung gegenüber Duncans Tanz äußerte Kandinsky seine Forderung nach der Unabhängigkeit der Tanzsprache. Sein Synthesekonzept scheint alle Arten der »Unterordnung« abzulehnen, wie die der Musik gegenüber den Worten in der Oper47 oder der Bewegung unter die Handlung im Ballett.48 Darin könnte sein ideales Weltbild liegen, d.h. in einer Weltkunst sollen alle gegensätzlichen Elemente gleichberechtigt sein. Nur dadurch kann ein neues Reich der Künste verwirklicht werden. Ein wandernder Künstler, der zwischen West und Ost lebte, wünschte inmitten der radikalen politischen Entwicklungen, die im 20. Jahrhundert nicht problemlos daherkamen, keine Harmonie, die nur unter einer Führung oder durch Unterordnung zu bestehen vermag. Stattdessen träumte er von einer Welt, in der alle Elemente ihre Selbständigkeit bewahren und ihre Kooperationsmöglichkeiten ausprobieren. Die »monumentale« Bühnenkomposition bietet keine monotone Welt, sondern eine polytonal-bunte Synthese, in der kein Element eine leitende Position übernimmt. Kandinsky verwirklichte die Idee einer polytonalen Gesellschaft, in der die volkstümlich gekleideten Menschen mit unterschiedlichen Tätigkeiten ungestört zusammenleben, in seiner Malerei »Das bunte Leben« (1907) (Abb. 9). Diese Überlegung lebte weiter in seinen Bühnenkompositionen.

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Siehe Duncan, Isadora: I see American dancing. [1927] In: Cheney, Sheldon: The Art of the Dance: Isadora Duncan. [1.Aufl.1928] New York 1969. Duncan 1983. Sie wurde 1904 von Cosima Wagner nach Bayreuth eingeladen und choreographierte das »Bacchanale« für die Oper Tannhäuser. Levinson 1983, S. 441. ÜGK, S. 125 ÜB, S. 197. ÜB, S. 200.

3.1.2. Alexander Sacharoff – Komposition der bildhaften Gestik Der russisch-jüdische Tänzer und Choreograph Alexander Sacharoff war der Mitwirkende der frühen Bühnenkompositionen (Abb. 10). Jedoch ist weder eine Notation noch eine Illustration zur Choreographie der Bühnenkompositionen vorhanden, so dass Sacharoffs Beitrag nicht bestimmbar ist. In der Schrift Über das Geistige in der Kunst, in der Kandinsky seinen Vorschlag zur Bewegungssprache im Zusammenhang mit der Bühnenkomposition entwickelte, erwähnte er Sacharoff mit keinem Wort, so dass nicht festzustellen ist, inwieweit dieser als Choreograph die Bewegungsvorgänge mitbestimmte, die sich in Kandinskys Regietext als Gestik befinden. In den vier Bühnenkompositionen gibt es nur eine einzige Bewegungsreihe, die »Tanz« genannt wurde: der Tanz des weißen Mannes in Der gelbe Klang, den Sacharoff hätte spielen sollen. »Es ist wie eine Art Tanz«,49 schrieb Kandinsky dazu, so dass sich vermuten lässt, dass diese Choreographie Sacharoff überlassen war und alle andere Gesten in den Bühnenkompositionen von Kandinsky entworfen wurden. Trotz des Mangels an Manuskripten ihrer Auseinandersetzungen über die Tanzkunst müssen Kandinsky und Sacharoff eine gemeinsame Vision der Bewegungssprache verfolgt haben. Daher wird im Folgenden eine Suche nach der übereinstimmenden Bewegungssprache von Kandinsky und Sacharoff unternommen. Die Vision des Tanzes in den Bühnenkompositionen bleibt in den bisherigen Forschungsstudien im Unklaren. Kandinskys Vorschlag zum »kommenden«50 Tanz, das »praktische Ziel« der Bewegung zu verstecken oder zu entnehmen, schien den zukünftigen abstrakten Tanz zu verkünden. Wurden die Stücke auch nicht aufgeführt, so bewertete die Tanzforscherin Valerie PrestonDunlop Kandinskys Vorschlag dennoch als »Prophezeihung« des abstrakten Tanzes und nannte Rudolf von Laban, den Vertreter des modernen Tanzes, denjenigen, der diese Prophezeihung erfüllte.51 Ulrika-Maria Eller-Rüter bezog Kandinskys Bewegungsidee, ohne sie zu überprüfen, auf die zeitgenössischen innovativen Tänze wie den Tanz von Rudolf von Laban sowie die Eurythmie von Rudolf Steiner52 und beurteilte Kandinskys Bewegungssprache der Bühnenkompositionen als »eine allgemeine Neuorientierung innerhalb des Tanzes selbst«.53 So wurde seine Bewegungssprache aber weder analysiert noch in ihrer Bedeutung verstanden. Kandinskys Bewegungsästhetik scheint sich nach der Abstrahierung der Bewegung zu orientieren. Demnach wirke »eine einfache gemeinsame Arbeit (z.B. die Vorbereitung zur Hebung eines großen Gewichtes), wenn das Ziel unbekannt ist, »so bedeutungsvoll, so geheimnisvoll, so dramatisch und packend, daß man unwillkürlich stehen bleibt, wie vor einer Vision, wie vor einem Leben auf anderer Fläche,

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Kandinsky Der gelbe Klang. In: DBR, S. 226. ÜGK, S. 124. Preston-Dunlop 1991, S. 122. »At the time Kandinsky was writing (1911), Laban had not yet started his work, but it was he who would fulfi ll Kandinsky’s prophecy for the establishment of the abstract in dance.« Preston-Dunlop wies auf die Verbindung von Hermann Obrist und Rudolf von Laban hin. Obrist war an der Malschule bei Anton Azbé Kommilitone von Kandinsky. Obrist hatte später in dem Appartment, wo auch Kandinsky wohnte, seine Malschule geleitet. Rudolf von Laban wiederum war Schüler bei Obrist. Eller-Rüter 1990, S. 54. Eller-Rüter 1990, S. 52.

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bis plötzlich der Zauber fort ist«.54 Durch die Vereinfachung und Beseitigung des Ziels könne der »innere Wert jeder Bewegung«55 gefühlt und als »Element« der »monumentalen Kunst«56 verwendet werden. Demnach wurden den Darstellern einfache Bewegungen zugeschrieben, wie Handhebung, Kopfneigung, Armstrecken, Gehen usw. Keine einzige Bewegung davon offenbart ein klares Ziel. Von Kandinsky wurde eine alltägliche Bewegung nicht zum Alltäglichen verwendet, sondern als ein geheimer Code dargestellt. Wie er schrieb, wurde von den Bewegungen in den Bühnenkompositionen der »›natürliche‹ Vorgang (Erzählung = literarisches Element)« beseitigt.57 Für eine Interpretation der Bewegung muss daher das fehlende Ziel der Bewegung bzw. die Quelle der Bewegungssprache gefunden werden. Die Tanzkunst von Alexander Sacharoff bietet dabei einige Hinweise, wonach sich Kandinskys Bewegungssprache richtet. Alexander Sacharoff war zehn Jahre jünger als Kandinsky und stand zum Zeitpunkt der Mitarbeit am Anfang seiner Karriere. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs gingen die beiden im Exil unterschiedliche Wege. Seitdem gab es keine Zusammenarbeit mehr. So lässt sich Sacharoffs Ästhetik des späteren Tanzes nicht in allen Aspekten mit Kandinskys Bewegungsidee vereinbaren. Jedoch sind einige Gemeinsamkeiten in ihren Bewegungsideen zu sehen, so dass diese für die Entschlüsselung der Bewegungsdarstellungen in den frühen Bühnenkompositionen Aufschluss geben könnten. Der erste Aspekt, der Kandinskys Idee und Sacharoffs Tanz zu verbinden scheint, ist die Übernahme der bildhaften Gestik aus den bildenden Künsten, die »Pathosformel«58 genannt wird. Sacharoff lernte in Paris Malerei und fing in München an zu tanzen und zu choreographieren. Er begeisterte sich für den Tanz Isadora Duncans und erzählte in einem Interview 1931, dass er außer Duncans My Life nichts aus der Tanzliteratur las.59 Die Posen aus den bildenden Künsten herauszugreifen und als Bewegungsprache zu verwenden, unternahm Sacharoff ohne Zweifel unter dem Einfluss von Duncan sowie aus seiner malerischen Begabung heraus. Der zeitgenössische Tanzkritiker Levinson schrieb: In essence Duncan’s dance is mimetic – figurative. She draws her forms from imitations of natural, common poses and movements, and with her spontaneous mimicry she conveys emotional experiences. It is true that there is not an exact duplication, but there is a deep analogical resemblance to antiquity.60

Auch Sacharoffs Tanz besaß eine große Ähnlickeit zur antiken Kunst, denn ihm schien, »dass er [der Tanz der Griechen] die Basis jedes wahren Kunst-Tanzes ist«.61 Jedoch

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ÜGK, S. 123. ÜGK, S. 125. Ebd. ÜGK, S. 123ff. »Pathosformel« ist ein Begriff, der vom Kunsthistoriker Abi Warburg eingeführt wurde. Die Gesten, die Duncan sowie Sacharoff aus den bildenden Künsten übernahmen, können als »Pathosformel« bezeichnet werden, die dem epochentypischen Ausdruck des Pathos dienen. Siehe Brandstetter 1995, S. 75ff. Mitsuyoshi, Natsuya: The Sacharoffs. In: Kageki, Nr.33. April 1931: S. 17. Levinson 1983, S. 440. Der Text in kursiv stammt von Levinson. Kat. Sacharoffs 2002, S. 46.

unterscheiden sich Duncan und Sacharoff in dem Punkt, wie sie die Bewegungssprache einsetzten. Der Tanzkritiker Hans Brandenburg erkannte in Duncans und Sacharoffs Tänzen eine Verwandtschaft, weil beide mit den bildhaften Gesten »mehr eine Bilderfolge als Bewegung« darstellten. Er fügte jedoch hinzu, worin sie sich unterschieden. Demnach trete »an die Stelle des intellektualen Dilettantismus der Duncan« bei Sacharoff »eine intellektuale, krampfhaft ehrgeizige Technik, die jede Pose höchst bewußt bis ins Einzelne durchbildete«.62 Duncan hinterließ, wie Levinson schrieb, ihren emotionalen Eindruck mit mimetischen Formen sowie mit der improvisatorischen Unwillkürlichkeit. Dagegen bildete Sacharoff, so Brandenburg, »jede Pose höchst bewußt bis ins Einzelne« und setzte sie in eine vollkommene Choreographie zusammen. So gibt es bei Duncan keine genaue Duplikation der antiken Kunst, vielleicht auch keine fertige Choreographie. Sie verwendete die Formen aus der Natur sowie der antiken Künste schließlich als eigene Sprache. Sacharoff versuchte dagegen, durch jede »Pathosformel« den Zeitgeist darzustellen, wie den der antiken Griechen, des Barock sowie der russischen Zeremonie. Dabei war die Bewegungssprache kein Mittel eigener Emotion, sondern ein Kunstwerk an sich, das durch und durch vollendet werden musste. Rudolf von Delius’ Kritik an Sacharoffs Tanzabend (1913) verdeutlicht den Charakter seines Tanzes. Demnach bestehe der erste Tanz aus den Extrakten des Barocken und stelle die Essenz dieser Zeit in grotesker Form satirisch dar.63 Der zweite Tanz sei mit griechischen Formen geschmückt und drücke schließlich russisch-moderne Farben aus. Und der dritte Tanz, der Delius am meisten faszinierte, brächte den Eindruck einer Zeremonie der »russischen antiken Religion«,64 die nach der westlichen Sicht des Kritikers als orthodoxe Zeremonie verstanden werden könnte. Sacharoff versuchte in drei Tänzen den Geist bestimmter Kulturen und Zeiten zu verkörpern. Dies erinnert an die Einleitung in Kandinskys Über das Geistige in der Kunst, in der es heißt, jede Kulturperiode bringe eine eigene Kunst zustande, die nicht mehr wiederholt werden könne. Die Nachahmung »vergangener Kunstprinzipien« lehnt Kandinsky zwar entschlossen ab, aber es gebe »eine andere äußere Ähnlichkeit der Kunstformen, der eine große Notwendigkeit zugrunde liegt«,65 d.h. »die Ähnlichkeit der inneren Stimmung einer ganzen Periode« könne »logisch zur Anwendung der Formen führen, die erfolgreich in einer vergangenen Periode denselben Bestrebungen dienten«.66 So lässt sich Duncans Tanz für Kandinsky in dem Sinne verstehen, dass er »vergangene Kunstprinzipien« wie die der antiken Griechen als eigene Sprache verwendete, was »den Nachahmungen der Affen« gleiche.67 Dagegen kann Sacharoffs Tanz, der einen bestimmten Geist, der in einer bestimmten Periode erfolgreich war, durch ähnliche Formen ausdrückt, als eine »innere Bestrebung« betrachtet werden. Für die Bewegungsdarstellung in den Bühnenkompositionen könnte dies bedeuten, dass Bewegungssprache aus den

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Brandenburg 1921, S. 145. Kat. Sacharoffs 2002, S. 49 Ebd. ÜGK, S. 21. Ebd. Ebd. Das Wort bezieht sich nicht direkt auf Duncans Kunst, sondern auf den Klassizismus in der Plastik.

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bildenden Künsten einer bestimmten vergangenen Epoche übernommen werden kann, sofern sie dem Ausdruck der inneren Stimmung dieser Epoche dient. Der zweite gemeinsame Aspekt bei Sacharoffs Tanz und Kandinskys Bewegungssprache ist die Durchführung der langsamen »ruhigen« Gestik. Sacharoff teilte die Bewegungsart in zwei Gruppen: in die Zweckbewegungen, wie Laufen, Fassen, Tragen usw., in die Ausdrucksbewegungen, die ein Seelisches durch die Gebärde unmittelbar versinnlichen. Hierher rechne ich auch die ruhigen Stellungen des Körpers, die gleichsam eine ernsthafte Bewegung sind, und die für den Tanz eine ganz besondere Bedeutung haben.68

Die Bewegung, die Sacharoff »ruhige Stellung des Körpers« nannte, versinnliche ein »Seelisches durch die Gebärde«. Laut Hans Brandenburg vermied Sacharoff »bacchantisches Hüpfen« wie bei Duncan und vollzog vielmehr »alles in einem getragenen Tempo, in einer langsamen Gestik, der zuliebe die Musik Thomas von Hartmanns eigens gebildet zu sein schien«.69 Thomas von Hartmann war der Komponist, der mit Kandinsky und Sacharoff die Bühnenkomposition schuf. Dies scheint zu Kandinskys Bewegungssprache zu passen, in der »der innere Wert jeder Bewegung gefühlt« werden sollte.70 Der Tanz der Zukunft solle eine »sehr einfache Bewegung« als Mittel haben, »von welcher das Ziel unbekannt ist.«71 So ist es möglich, dass Kandinskys Bewegungssprache, die aus sehr einfacher Bewegung besteht und deren »innerer Wert« gefühlt werden sollte, langsam durchgeführt wird, wie Sacharoff darstellte. Die dritte Gemeinsamkeit basiert auf den ersten zwei Aspekten: die Verwendung der bilderhaften Gestik und ihre langsame ruhige Durchführung. Daraus entstand eine »Folge von Bewegungen«, die nach Sacharoffs Worten als »Folge von Bildern« bezeichnet wird. Sacharoff sah seine Aufgabe in der Sichtbarmachung der »Folge von Bewegungen« als »Folge von Bildern«, so dass »ein mimischer Tanz« entstehen solle.72 Dabei lässt sich Sacharoffs Neigung zum Stil des 18. Jahrhunderts wie von Jean-Georges Noverres Lettres sur la danse et sur les ballets erkennen, worin das Verb »malen« für einen choreographischen Entwurf der Bewegung verwendet wird.73 Wenn die Bildhaftigkeit der einzelnen Bewegung vollendet wird, kann eine Pose wie in der Malerei einen Zustand andeuten. Kandinsky schrieb nicht, dass er durch Bewegungen eine Folge von Bildern schaffen wolle, jedoch gibt es in den frühen Bühnenkompositionen Indizien dafür, dass die gestischen Bewegungen nach dem Vorbild der Gestik in der Malerei gemacht werden. Dieser Aspekt wird in Kap. 3.3.2. ausgeführt. Der vierte Aspekt beruht auf der Mystifizierung der Bewegung. Sacharoff schrieb in einem nicht veröffentlichten Manuskript, »Vom inneren her gesehen, suchen wir den

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Kat. Sacharoffs 2002, S. 46. Brandenburg 1921, S. 145. ÜGK, S. 125. Der Text in kursiv stammt von Kandinsky. Ebd., S. 123. Kat. Sacharoffs 2002, S. 46. Foster 1998, S. 13f. »[...] the verb ›to paint‹ utilized in every eighteenth-century text on dance to describe the choreographic processes of selection and refinement that transformed nature into art.«

Tempel, und nicht die Bühne.«74 So findet er beispielsweise in der Arabeske vom indischen Tänzer-Gott Schiwa die »Lösung der magischen Formeln der Bewegung«.75 Auch von den christlichen Künsten erhielt Sacharoff Inspirationen, so skizzierte er die Skulpturen von Luca della Robbia (Abb. 11) und ahmte ihre Pose nach.76 Diese Einstudierung der religiös-zeremoniellen Posen verlieh seinem Tanz den Eindruck eines »Gottesdienstes«.77 Delius bezeichnete Sacharoffs Körperbilder in seiner Tanzaufführung als »Johannes unter dem Kreuz«.78 Dies ruft eine Verbindung zwischen Sacharoffs Tanzsprache und der Rolle in der Bühnenkomposition I Riesen hervor, die Sacharoff hätte spielen sollen.79 Die Gestik dieses Charakters beschreibt der Regietext als »etwas schnellere einfache Bewegungen mit Armen und Beinen«. Dann setzt er sich plötzlich, »streckt einen Arm aus und bewegt die Hand langsam in der Richtung zu seinem Kopf«. Anschließend stützt er den Ellbogen auf das Knie und legt den Kopf auf die Hand. Alle abstrahierten Einzelfiguren in den Bühnenkompositionen haben eine ähnliche einfache Bewegungsfolge, die an sich keinen Hinweis darauf gibt, was sie behandelt. Jedoch wird in der vorliegenden Studie neu artikuliert, dass die abstrahierten Einzelfiguren in den Bühnenkomposition geistig höhere Personen darstellen, so dass ihre Bewegungssprache zu Sacharoffs Bewegungssprache, die an einen Gottesdienst erinnert, einen Bezug haben könnte. Vermutlich haben Kandinsky und Sacharoff die Gestik in der Ikone einstudiert, die sich als ikonographischer Code wie Orans verstehen lässt, und diese Art der Gestik, die im geistigen Kontext mystifiziert wurde, als eine geheimnisvolle Bewegungssprache in den Bühnenkompositionen eingeführt. Der fünfte gemeinsame Aspekt von Kandinskys und Sacharoffs Bewegungssprache ist die Auffassung der »Komposition« als das Ziel der Künste. Die beiden Künstler verwendeten die musikalischen Begriffe analog, um ihre Idee auszudrücken. UlrikaMaria Eller-Rüter nennt Sacharoffs Ziel die »Visualisierung der Musik«.80 Dies könnte jedoch zu dem Missverständnis führen, dass Sacharoffs Ziel sich mit Kandinskys Haltung zur Malerei nicht vereinbaren ließe, denn Kandinsky wies die Möglichkeit einer Visualisierung der Musik durch malerische Mittel zurück und schrieb, »Ich will keine Musik malen.«81 Sacharoffs eigentliche Aussage beinhaltet eine ähnliche Botschaft wie bei Kandinsky, »daß wir – Clotilde Sacharoff und ich – nicht mit der Musik tanzen und daß die Musik unsere Tänze auch nicht begleitet, sondern daß wir die Musik selber tanzen. Das soll heißen, daß wir die Musik in visueller Form verwirklichen, indem wir mit den Mitteln der Bewegung das ausdrücken, was der Komponist in

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Sacharoff o.J.b. Ebd. »In seiner [Schiwas] Arabeske, die vollkommen abstrakt ist und als Bewegung den Arabesken des Balletts [der Sylphide] nicht ähnelt, in ihr liegt die Lösung der magischen Formeln der Bewegung.« Siehe Kat. Sacharoffs 2002, S. 14f. Ebd., S. 49. Ebd. Diese Rolle wurde in Kap. 4.2.3. als König David bei der Gründung Israels identifi ziert. Eller-Rüter 1990, S. 54. GSI, S. 58.

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Tönen ausdrückt.«82 Dies bedeutet, dass sein Tanz an sich im metaphorischen Sinn Musik wird, dadurch dass er seine eigenen Bewegungen als eine Komposition verdichtet. Insofern könnte Sacharoffs Ziel »Komposition der Bewegungen« genannt werden. Er nannte seinen Tanz in einem nicht veröffentlichten Aufsatz tatsächlich »Tanzkomposition« und äußerte sein jahrelanges Vorhaben: Früher, als ich die elementarsten Anfangsgründe dessen, was ich ›unsere‹ Technik nenne, selbst suchen und ausarbeiten mußte, arbeitete ich bis zu 10 Stunden am Tag, wobei ich mich für lange Zeit vom noch so bescheidenen Versuch, einen Tanz zu komponieren, zurückhielt. Ich wiederhole: Als ich den Mechanismus des menschlichen Körpers und alle seine Möglichkeiten studierte, arbeitete ich jahrelang wie ein Strafgefangener und dachte gar nicht daran, mich mit irgendeiner Tanzkomposition zu zerstreuen.83

Sacharoff versuchte, durch die ausgewählten und ausgearbeiteten Bewegungen eine fertige Komposition zu schaffen.84 Dieses Vorhaben ähnelt Kandinskys Ziel der Malerei Komposition. Die Komposition ist die Art der Bilder, die aus den sich »in mir bildenden Ausdrücken« bestehen, welche »lange und beinahe pedantisch nach den ersten Entwürfen von mir geprüft und ausgearbeitet werden.«85 Die drei von Kandinsky genannten Kategorien der Malerei, »Impression«, »Improvisation« und »Komposition«, weisen auf seinen Schaffensprozess hin. Ähnlich wie Sacharoff die bildhafte Gestik aus den bildenden Künsten entnahm und als Bewegungssprache ausarbeitete, probierte Kandinsky durch »Impression« und »Improvisation« seine Ausdrücke aus, überprüfte sie, und bildete daraus schließlich eine Form von »Komposition«. Demnach spiele dabei »die Vernunft, das Bewußte, das Absichtliche, das Zweckmäßige eine überwiegende Rolle.«86 So lässt ein fertiges Kunstwerk »Komposition« keine improvisatorischen Elemente mehr übrig. Sowohl Sacharoff als auch Kandinsky verstanden unter dem musikalischen Begriff »Komposition« eine vollkommene Form der Kunst und versuchten dies durch das eigene Kunstmittel zu verwirklichen. Die sechste und letzte Gemeinsamkeit von Kandinsky und Sacharoff liegt in der Abstrahierung des »Körperlichen«. Ulrika-Maria Eller-Rüter schreibt, die »Eliminierung des Dekorativen und Nebensächlichen«87 sei die gemeinsame Eigenschaft von Sacharoffs und Kandinskys Künsten. Es ist jedoch nicht klar, welcher Tanz von Sacharoff gemeint war. Denn das »Dekorative« existierte in Sacharoffs Tänzen, die eine bestimmte Epoche und einen bestimmten Stil wie den französischen Hoftanz des

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Sacharoff, Alexander, Réflexions sur la Dance et la Musique, Viau 1943, S. 13, Hahl-Koch 1985 op.cit., S. 355. Sacharoff o.J.b. Darin könnte der Grund liegen, warum Sacharoffs Tanz kein improvisatorisches Element besaß, d.h. er schuf eine fertige Komposition durch seine Bewegungssprache, und diese bedeutete für ihn ein fertiges Kunstwerk wie die Musiknoten, die interpretiert werden können, aber nicht verändert werden. Vom Schaffensprozess der Bewegungssprache von den bildenden Künsten aus gesehen könnte auch gesagt werden, dass Sacharoffs Tänze aus sorgfältig gestalteten Posen wie eine fertig gestellte Skulptur keinen freien Raum für Improvisation ließen. ÜGK, S. 142. Ebd. Eller-Rüter 1990, S. 54.

18. Jahrhunderts behandeln. Bei dem Tanz, mit dem Sacharoff die französische Hofkultur verkörperte, trug er zu Satirezwecken Perücke sowie Spitzenschuhe und brachte dekorative Körperbilder hervor. So wurde das »Dekorative« in Sacharoffs Tanz nicht eliminiert, sondern das »Körperliche«,88 denn der Charakter der Hofkultur sowie -kostüme liegt darin, den natürlichen Körper zu erziehen bzw. zu vertreiben. Laut Susan Leigh Foster versuchten die französischen Hoftänzer das »Körperliche« zu regulieren und dies als feine Aktion zu artikulieren.89 Sie bezeichnete daher den Charakter des französischen Hoftanzes als »vanishing physicalities«.90 Foster verwendet das englische Wort »physicalities« für das, was durch die Regulierung des Körpers verschwindet. Dies kann in der vorliegenden Studie als das »Körperliche« verstanden werden. An einer anderen Stelle benutzt Foster »corporeality« für das, was durch die Tänzer kultiviert und verkörpert wird. Dies entspricht der »Körperlichkeit«, im Sinne der vorliegenden Studie, als das innere Wesen des Körpers. Sacharoffs Körper diente nicht dem Ausdruck des Körperlichen, sondern dem der Körperlichkeit einer bestimmten Epoche sowie Kultur. Bei Sacharoffs Tanz verschwindet das »Körperliche« dadurch, dass die kultur- und epochentypischen Gesten verfeinert und als Bewegungssprache instrumentalisiert werden. Dabei könnte seine androgyne Körperlichkeit zusätzlich zur Eliminierung des Körperlichen beigetragen haben. In Kandinskys Bühnenkompositionen erscheinen abstrahierte Figuren, deren Geschlecht nicht bekannt ist. Die Menschen sowie ihre Gestik treten in den Bühnenkompositionen nicht als ein natürliches Wesen auf, sondern in reduzierten Formen. Dies verursacht die Eliminierung des »Körperlichen« bzw. des »Materiellen« und fungiert daher als die Sprache des »Geistigen«. Das Ziel von Sacharoff und Kandinsky scheint in dieser Hinsicht übereinzustimmen. 3.1.3. Ikonenhafte Gestik und Meyerholds Stilbühne Wsewolod Meyerhold (1874–1940) war der erste Regisseur, der die nichtrealistische Bühnengestaltung ins russische Theater einführte. Er veröffentlichte 1907 seine Idee zur Studiobühne. Diese liefert Hinweise auf Kandinskys Verwendung von Bewegungen in den Bühnenkompositionen, denn, ausgehend von der symbolistischen Theaterliteratur wie der Maeterlincks, suchten beide, Meyerhold und Kandinsky, eine neue Form des Theaters.91 Jelena Hahl-Koch stellte die folgenden gemeinsamen Tendenzen bei der Bühnen-

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Hier unterscheidet sich das »Körperliche« von der »Körperlichkeit«. Das »Körperliche« steht für das Leibliche, das nur die materielle Seite des Körpers ausdrückt. Die »Körperlichkeit« ist dagegen das Wesen eines Menschenkörpers, der sowohl das Geistige als auch das Materielle (bzw. das Körperliche) beinhaltet. Siehe Foster 1998, S. 22. »Like many other French dancers of his background and training, Dupré had perfected a kind of dancing whose origins resided in the drive to regulate the body’s comportment and to refine the body’s every action in each endeavor it performed throughout the day«, sowie ebd., S.32. »Each of the dances in Dupré’s repertoire, the minuet, rigaudon, and sarabande—the very dances that Diderot had dismissed as meaningless— articulated a structuring of feeling through is vocabulary and syntax.« Ebd., S. 19ff. Ob Kandinsky Meyerhold direkt kannte, wurde bisher nicht nachgewiesen. Dem Brief von Hugo Ball an Maria Hildebrand-Ball zufolge, München 29. Juli 1914, ist zumindest zu ent-

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arbeit Kandinskys und Meyerholds fest: »die Stilisierung, die Marionettenhaftigkeit der Darsteller, ihre nicht mehr individuelle Gestik, Mimik und Sprechweise«.92 Diese wurden parallel unter dem starken Einfluss Maeterlincks, dem die russischen Symbolisten viele Anregungen verdankten, und des russischen symbolistischen Dichters und Theaterkritikers Valerij Brjusov (1873–1924) entwickelt, wobei die Entwicklung der Gestik bei Kandinsky und Meyerhold als ein nächster Schritt, der die Arbeit ihrer Vorgänger weiterführte, betrachtet werden kann. Denn der Bedarf einer neuen Gestik entstand erst nach der Stilisierung der Bühnengestaltung und der Figuren: Die marionettenhaften Figuren forderten von den Schauspielern die plastisch-körperliche Fertigkeit auch in ihrer Bewegung. Kandinsky und Meyerhold vollzogen den nächsten Schritt parallel und fanden eine ähnliche Idee, nämlich die Idee der ikonenhaften Gestik aus der plastischen Welt, in der die Gestik eine stilisierte Form besitzt und eine suggestivere (erzählende) Funktion trägt als im Alltag. Um die Idee der Stilisierung der Bewegung zu erläutern, soll der Gedankengang der beiden bezüglich der Gestik nachvollzogen werden. In einer Ausgabe (1902) der Zeitschrift Mir iskusstva (1898–1904) erschien neben Kandinskys Korrespondenz Valerij Brjusovs Aufsatz Nenužnaja pravda (Unnütze Wahrheit). Meyerhold zitierte diesen Aufsatz häufig und schätzte ihn: I think I am right in saying that in Russia Valery Brysov [Brjusov] [Meyerholds Fußnote verwies auf den Aufsatz in Mir Isskusstva. (1902, Nr. 4)] was the first to stress the futility of the ›truth‹ which theatres have expanded all their efforts in depicting in recent years. Equally, he was the first to indicate the new means of dramatic presentation. He demanded the rejection of the futile ›truth‹ of the contemporary stage in favour of conscious stylization (all the italics are mine).93

Im genannten Aufsatz rief Brjusov dazu auf, die naturalistische Gestaltung des Theaters abzulehnen,94 und begründete die Stilisierung des Theaters mit dem Beispiel der plastischen Kunst: »There is stylization in the absence of colour in marble and bronze statues. An engraving with black leaves and a striped sky is stylized, yet it can yield pure aesthetic pleasure. Wherever there is art, there too is stylization.«95 Von Brjusovs Appell beeinflusst, führte Meyerhold das zweidimensionale dekorative Panneau in die Studiobühne ein, um die symbolistische Welt Maeterlincks in einem angemessenen Stil zu verwirklichen. Er wies aber zugleich auf das Problem hin, dass

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nehmen, dass Kandinsky im Jahr 1914 Meyerhold noch nicht als Vertreter der russischen Theaterreform anerkannte: »Kandinsky fährt dieser Tage nach Moskau, und will Stanislawski, Andrejew und Fokin bringen.« Ball 1957, S. 33f. Kandinskys Bekanntschaft mit den russischen Theaterleuten wurde vermutlich durch den Komponisten Thomas von Hartmann geschaffen, der in Moskau fürs Ballett komponierte. Hahl-Koch 1993, S. 144. Meyerhold 1907a, S. 37. In der deutschen Ausgabe S. 118. In der deutschen Übersetzungsausgabe des Texts Meyerholds steht Bd.VII statt Mir Iskusstva Nr.4. »It is time for the theatre to stop imitating reality. A cloud in a painting is flat, stays motionless, does not change its shape or colour, yet it contains something which excites in us the same sensation as a real cloud in the sky. The stage must supply that which is needed to help the spectator to picture as easily as possible in his imagination the scene demanded by the plot of the play.« Brjusov 1902, Meyerhold 1907a op.cit., S. 39. Der Text in kursiv stammt von Meyerhold. Brjusov 1902, Meyerhold 1907a op.cit., S. 38.

das zweidimensionale Panneau von den Figuren ebenso gemalte Eigenschaften verlangt wie bei Pappmarionetten und nicht wie bei »Figuren aus Wachs, Holz oder Fleisch und Blut«.96 Der menschliche Körper sowie Requisiten um ihn herum haben drei Dimensionen. Deshalb sollen die Darsteller laut Meyerhold nicht durch die Malerei, sondern durch die dreidimensionale Kunst wie ein Bildhauer »the plasticity of the statue«, d.h. die Körperlichkeit der Skulptur, lernen.97 Dabei dachte er nicht nur an die Stilisierung der Form, sondern auch an die der Gestik, denn Form und Gestik sind bei den Körperbildern in der bildenden Kunst gleichwertig. Kandinsky hingegen näherte sich der zweidimensionalen Kunst. In Meyerholds Worten könnte er als »non-theatrical painter«98 bezeichnet werden. In den Bühnenkompositionen werden die Figuren farbig gemalt, und es werden nur wenige Requisiten verwendet. Die Figuren wurden durch Kandinsky als reine Repräsentanten der materiell-geistigen Körperbilder dargestellt. Wie Meyerhold den Schauspielern die Körperlichkeit der Skulptur zueignete, muss Kandinsky auch für seine Figuren die Körperlichkeit der Malerei gewählt haben. Die beiden führten die Körperlichkeit der bildenden Kunst und die damit verbundene stilisierte Form der Gestik ins Theater ein. Die gestischen Ideen bei Kandinsky und Meyerhold weisen drei Merkmale auf. Erstens wurde die Autonomie der Gestik propagiert, zweitens wurde die Suggestivität der Gestik durch die Reduzierung der Bewegung erhöht und drittens wurde die Bedeutung der Gestik aus den plastischen Künsten ins Theater übertragen. Meyerhold schrieb, eine zweidimensionale dekorative Szenerie verlange zweidimensionale Figuren, aber das Theater sei dreidimensional,99 und er forderte daher das Theater zur Einführung der Plastizität aus der Bildhauerei auf. Die Plastizität an sich sei seiner Ansicht nach nicht neu, aber was er konkret meinte, sei neu: »I am speaking of a plasticity which does not correspond to the words.«100 Damit meinte er nicht nur die skulpturenähnliche Haltung, sondern eine Gestik, die unabhängig vom Dialog stattfindet. Seiner Ansicht nach seien »gestures, poses, glances and silences« entscheidende Faktoren für die menschliche Beziehung, und die Worte alleine könnten nicht alles sagen.101 So schätzt Meyerhold keine Bewegung, die ein praktisches Ziel hat, wie trinken und essen, oder das Gespräch begleitet, sondern nur die Gestik, die eine Stimmung auf der Bühne hervorbringt. Die Bewegung aus der Bildhauerei besitzt an sich eine vollendete Form, die ohne Worte das Thema des Kunstwerks verkörpert. Die Gestik muss vom praktischen Zweck und vom Gespräch befreit werden, um sie als ein autonomes Mittel auf der Bühne zu verwenden. Dies erinnert an Kandinskys Vision der »tanzkünstlerischen Bewegung«, die als eins der drei Hauptelemente bei seiner synthetischen Bühnenkunst komponiert werden soll. Kandinsky schrieb, dass der »›natürli-

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Meyerhold 1979, S. 130. Meyerhold 1969, S. 58. »Meanwhile, the painter has retired to a realm where actors and concrete objects are not admitted, because the aims of the actor and the non-theatrical painter are quite distinct.« Ebd. Meyerhold 1907b, S. 57. Ebd., S. 56. Der Text in kursiv stammt von Meyerhold. Ebd.

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che‹ Vorgang (Erzählung = literarisches Element)« der Bewegung »unnötig« bzw. »störend« sei.102 Damit meinte er etwa die Pantomime im Ballett, die besonders der Handlung dient. Für Kandinsky entsteht die neue Schönheit der Bewegung durch Eliminierung des Bewegungsziels und der Handlung. Um den »inneren Wert«103 der Bewegung hervorzubringen, müsse sie als reine Bewegung von allem Nebensächlichen befreit verwendet werden. So stimmen Meyerholds und Kandinskys Vorschläge überein. Angesichts dessen, dass Alexander Sacharoff, Choreograph der frühen Bühnenkompositionen, die Posen der bildenden Künste einstudierte und die andeutende Gestik in seine Tänze einführte,104 könnte Kandinskys Vorstellung der neuen Bewegungssprache auch aus den bildenden Künsten stammen. Eine Pose in der Malerei erzählt nicht, deutet aber das Geschehnis sowie das Thema an, d.h. sie kann nur den minimalen Bewegungsvorgang zeigen. Jedoch wird dieser als einzige Aktion auf der Bildfläche betont, und die Zuschauer können spekulieren, was für eine Motivation hinter dieser Pose stehen mag und was für eine kausale Folge dies hervorbringen könnte, usw. So kann eine Pose bzw. eine Geste in der Malerei das Thema des Werks darstellen, wobei dies auch manchmal zu gegensätzlichen Interpretationen des Werks führen kann, weil eine Geste im Bild sehr spärlich vorgetragen und ihr Ziel nie erreicht wird. So offenbart die Gestik in der Malerei nie ihren ganzen Ablauf oder ihr konkretes Ziel. Kandinskys Worten zufolge sei die Bewegung »geheimnisvoll«,105 wenn das Ziel der Bewegung nicht geklärt wird. So ist zu vermuten, dass Kandinsky in den Bühnenkompositionen die Bewegung verwenden wollte, die, wie in der Malerei, autonom von alltäglichen Bedeutungen und unabhängig von allen anderen Mitteln wie von Worten sowie vom offensichtlichen Ziel stattfindet, wie Meyerhold die Gestik vom praktischen Zweck und Gespräch befreien wollte. Dies ist der erste Schritt, den Kandinsky und Meyerhold gemeinsam vollzogen. Die zweite Gemeinsamkeit bei Kandinsky und Meyerhold beruht auf der Reduzierung der Gestik, wodurch ihre Suggestivität erhöht werden soll. Als ein Beispiel der reduzierten Bewegung auf der Bühne nannte Meyerhold Vera Komissaryhevskayas Tanz in Ibsens Nora: »Vera Komissaryhevskaya’s Tarantella in The Doll’s House was no more than a series of expressive poses during which the feet simply tapped out a nervous rhythm. If you watched only the feet, it looked more like running than dancing.« 106 Laut Meyerhold verwende ihr Tanz »the power of suggestion«. Durch die reduzierte Gestik stellte die Schauspielerin einen Tanz effektiver dar als durch die gelernten Tanzschritte einer Tänzerin. Die Zuschauer besitzen die Fähigkeit, Angedeutetes durch ihre Vorstellung zu ergänzen. Sie haben sogar den Wunsch, das, was nicht gesagt wird, zu entschlüsseln. Meyerhold fast dies wie folgt: »It is this mystery and the desire to solve it which draw so many people to the theatre.«107 Im Gegensatz zum naturalistischen Theater, das die Fähigkeiten des Zuschauers nicht forderte, will Meyerhold der Phantasie des Zuschauers durch die einfache Gestik mehr Raum geben.

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ÜGK, S. 124f. Ebd., S. 125. Siehe Kap. 3.1.2. ÜGK, S. 123. Meyerhold 1969, S. 24. Ebd., S. 25.

Meyerhold Vorschlag, die Gestik zu reduzieren und damit den Wunsch der Zuschauer hervorzurufen, den versteckten Sinn des Spiels zu entschlüsseln, ähnelt dem Ziel der »tanzkünstlerischen Bewegung« in den Bühnenkompositionen. Kandinsky schlug vor, auf der Bühne einfache Bewegungen zu verwenden, und schrieb, »eine einfache gemeinsame Bewegung wirkt, wenn das Ziel unbekannt ist, so bedeutungsvoll, so geheimnisvoll, so dramatisch und packend.«108 Die Vereinfachung der Bewegung wird von Kandinsky unternommen, um das praktische Ziel der Bewegung zu streichen und dadurch eine offene Sinngebung der Gestik zu ermöglichen. Mit einem gesprochenen Text verglichen, kann eine Gestik von ihrer Natur her schwer etwas definieren. Eine konkrete Bedeutung durch die Gestik zu liefern, wie die Pantomime die Handlung des Balletts ergänzt, wäre nicht Kandinskys Ziel. Je einfacher die Gestik ist, desto unklarer wird ihre konkrete Bedeutung, und so gewinnt sie eine erweiterte Suggestivität, so dass die Sinngebung des Inhalts der Imagination der Zuschauer überlassen wird. Darin stimmen die neuen Bewegungssprachen bei Kandinsky und Meyerhold überein. Der dritte gemeinsame Schritt bei Kandinsky und Meyerhold ist die Übernahme der Gestik aus der plastischen Welt. Das Vorbild für die reduzierte suggestive Gestik fanden die beiden Künstler in den bildenden Künsten, in denen eine Bewegung nicht in der zeitlichen Folge gezeigt, sondern in einer stillen Pose komprimiert wird. Wenn eine Pose aus dem Bewegungsablauf entnommen wird, lässt sie den ganzen Vorgang des Motivs erahnen. Eine Geste fungiert daher in den bildenden Künsten sowohl als Handlungsträger als auch als ein Attribut der Figur, das den Charakter sowie die Tat der Person darstellt. In der von der Religion bestimmten Kunst entwickelte sich diese Funktion der Gestik besonders, denn ihr Ziel lag in der Mission bestimmter Lehrinhalte, und die bildenden Künste waren Hilfsmittel für die Vermittlung der Lehre. Daraus entwickelte sich die Gestik für die geistigen Personen, die nicht einem konkreten Zweck, sondern der geistigen Lehre dient. Die mystische Gestik wird wiederholend in den Kunstwerken zitiert, so dass eine eigenständige ikonographische Sprache wie Orans erkannt wird. Es lässt sich vermuten, dass Meyerhold und Kandinsky die Gestik der bildenden Kunst als Möglichkeit eines neuen Ausdrucks sahen und sie auf der Bühne einführen wollten. Denn Meyerhold bezeichnete Maeterlincks Stil als »archaized«109 und verglich die Figuren Maeterlincks mit denen der Ikonenmalerei. Als Beispiele nannte er Ambrogio Borgognoni und Perugino (um 1450–1524) (Abb. 12): »One senses the need for symmetrical groupings in the manner of Perugino, for thus do they resemble most closely the divine nature of the universe. […] Is not the same true of Maeterlinck? It is this which prompted an iconic style of portrayal.«110 Laut Meyerhold erfordere Maeterlincks Theater die Dramatik des »Unbewegten Theaters« (le théâtre statique) bzw. der »aktionsarmen Tragödie« (la tragédie immobile) wie das Theater der Antike. Er bezieht sich damit nicht nur auf die Darstellungsweise der gesagten Worte, sondern auch auf die Technik der Bewegung. Die Bewegung werde im

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ÜGK, S. 123. Meyerhold 1969, S. 56f. Ebd.

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unbewegten Theater als »plastische Musik« aufgefasst, und sie funktioniere als »Illustrator« des inneren Empfindens. Meyerhold verzichtet daher auf die »allgemeine Trivialgeste« und zieht die »gebändigte Geste und die sparsame Bewegung« vor.111 Gemeint sein könnte damit die Gestik in der bildenden Kunst, die auf eine Pose reduziert ist und dennoch viel andeutet. Kandinsky äußerte sich nicht direkt über die Gestik aus der bildenden Kunst und ihre Einführung auf der Bühne, jedoch lernte der mitwirkende Tänzer Sacharoff durch den Stil der bildenden Kunst seine Bewegungssprache. Insofern müssen Kandinsky und Sacharoff sich über den Stil der Bewegung in den Bühnenkompositionen einig gewesen sein. Im Hinblick auf die Ähnlichkeit der Ideen bei Meyerhold und Kandinsky ist es möglich, dass Kandinsky den idealen Stil der Bewegung in der archaischen bildenden Kunst, und zwar konkret in den für ihn bedeutenden Ikonen, suchte. Kandinskys Interesse an Ikonen ist in seinen Publikationen wie Über das Geistige in der Kunst und Almanach Der Blaue Reiter erkennbar.112 Kandinskys Bewegungsbeschreibung in Schwarz und Weiß könnte z.B. einen Bezug zu einer Ikone, die er in den Almanach aufnahm, aufweisen. Er schrieb, »dann drehen sich alle Menschen sehr langsam zum Zuschauer. Pause. Sie heben die Arme mit etwas gebogenen Ellbogen und geradeaus gestreckten Händen (Händerücken nach oben) bis zur Hüftenhöhe, Köpfe legen sich auf die Seite.«113 Prinzipiell unterscheidet Kandinsky in seinen Bewegungsbeschreibungen zwei Bewegungsarten: die Bewegung mit Ortswechsel und diejenige ohne. Bei der ersten achtet er zwar auf die Bewegungsrichtungen links und rechts auf der Bühne, aber nicht so sehr auf vorne und hinten, so dass die Bühne den Zuschauern gegenüber zweidimensional wirkt. Bei der letzten Bewegungsart ohne Ortswechsel, wie im oben genannten Beispiel, wird die Flächigkeit der Bühne auch dadurch betont, dass die Darsteller sich frontal zum Zuschauer richten und ihm die Gestik seitlich oder frontal zeigen. Kandinskys Verwendung der Gestik fehlen die dreidimensionalen Richtungen. Diese Bewegungen werden ohne Worte als Hauptgeschehnisse aufgeführt, daher müssen sie zu dem Zeitpunkt Hauptträger der Bedeutung sein. Eine von Kandinsky im Almanach abgebildete Ikone aus dem 13. Jahrhundert (Abb. 13) enthält eine ähnliche Eigenschaft in der Gestik. Anlässlich der Erscheinung des Evangelisten Markus neigen alle Anwesenden ihre Köpfe und heben die Arme mit gebogenen Ellbogen. In der Ikone gibt es keine Perspektive, denn der Raum wird nicht aus der Sicht des Malers dargestellt, sondern richtet sich nach der Sicht des göttlichen Protagonisten.114 Dies ist die dritte Idee über die Gestik, die Meyerhold und Kandinsky verbinden könnte. Den Vergleich abschließend, sollen zwei Unterschiede in den Ideen Kandinskys und Meyerholds besprochen werden. Der erste Unterschied besteht in der Behandlung des Körpers als Theaterelement. Meyerhold gab den Schauspielern die Rolle, die Interpreten der Stücke zu sein. Laut Meyerhold ist ein Schauspieler eins der »four basic theatrical

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Meyerhold 1979, S. 117f. Über den Zusammenhang der Körperbilder der Bühnenkompositionen und die der Ikonen siehe Kap. 2.1.5. Kandinsky Schwarz und Weiß. In: ÜT, S. 104. Über die Eigenschaft der Ikone und ihre Bedeutung in der russischen Avantgarde siehe das Kap. 2.1.5.

elements (author, director, actor and spectator)«.115 Daher betont er die Notwendigkeit der körperlichen Ausbildung der Schauspieler: »The actor must study the plasticity of the statue.«116 Bei Kandinskys Bühnenkompositionen waren der Maler, der Komponist und der Choreograph die wichtigsten Mitwirkenden, und er schenkte in seinen theoretischen Schriften den Schauspielern keinerlei Aufmerksamkeit. Die detaillierte Beschreibung der gestischen Bewegung in den Bühnenkompositionen zeigt, dass von den Schauspielern keine autonome Interpretation der Bewegung verlangt wird. So wurde in Kandinskys Bühnensynthese mit Ausnahme vom Mitwirkenden und Tänzer Alexander Sacharoff keine besondere körperliche Fertigkeit benötigt, und dies deutet die weitere Entwicklung in Kandinskys abstrakter Kunst an. So ließ er in seinem späteren Bühnenwerk Bilder einer Ausstellung mit der Musik von Modest Mussorgski Puppen auftreten, wobei das Werk nicht als Bühnenkomposition bezeichnet wurde und sich daher sein Konzept von dem der Bühnenkompositionen abgrenzt. Kandinskys Synthese-Konzept unterscheidet sich ebenfalls von Meyerholds Idee. Von Wagner beeinflusst, bemühte sich Meyerhold um die Synthese der Theaterelemente, wobei er Wagners Ideal für unmöglich hielt.117 Er versuchte, das Problem der Disharmonie zwischen verschiedenen Elementen zu lösen, und wünschte schließlich, zumindest Autor, Direktor und Schauspieler zu vereinen: »It became clear that these three, the basis of the theatre, could work as one, but only if given the approach which we adopted in the rehearsals of The Death of Tintagiles at the Theatre-Studio.«118 Kandinsky dagegen ging es um eine andere Art der Harmonie bzw. Disharmonie. Er versuchte mit den verschiedenen Theaterelementen wie Ton, Farbe und Bewegung, »eine Reihe von Kombinationen, die zwischen den zwei Polen liegen: Mitwirkung und Gegenwirkung« zu schaffen. Auch schrieb er, »Graphisch gedacht können die drei Elemente vollkommen eigene, voneinander äußerlich unabhängige Wege laufen.« Der Unterschied der Harmonie oder Disharmonie hängt also davon ab, auf welcher Ebene die Synthese stattfinden soll.119 Obwohl sich die Wege von Kandinsky und Meyerhold nicht einmal kreuzten, suchten beide Künstler aus der russischen Kunstszene eine ähnliche Weiterführung. Ihre Motivation, der stilisierten Bühne sowie den Körperbildern eine neue Bewegungssprache zu schaffen, war von der Idee der Kunstsynthese geprägt, die einem Weltbild gleicht. Die Frage, ob dieses Bild eine vollkommene Harmonie der gegensätzlichen Elemente schafft oder eine Disharmonie als neue Harmonie akzeptiert, könnte je nach dem Weltschöpfer unterschiedlich sein. Die beiden Künstler waren sich jedenfalls des Problems der harmonischen Weltvorstellung des 19. Jahrhunderts bewusst, und suchten im 20. Jahrhundert eine neue Sprache für ihre eigene Kunstsynthese.

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Meyerhold 1907b, S. 50. Ebd., S. 57. Der Text in kursiv stammt von Meyerhold. Meyerhold 1969, S. 49. »One never sees an ideal blend of author, director, actor, designer, composer and property-master. For this reason, Wagner’s notion of a synthesis of the arts seems to me impossible.« Ebd. Zur Syntheseebene von Kandinsky siehe Kap. 3.2.2.

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3.2. Kandinskys Metapher der »Bewegung« und die Bühnensynthese Die »Bewegung« umfasst in Kandinskys Kunsttheorie alles von der praktischen gymnastischen Bewegung bis zur Metapher des Kunstmittels. In den Bühnenkompositionen wurden alle Kunstmittel wie Töne, Farben und physikalische Bewegungen metaphorisch mit mathematischem Hintergrund wie ein gemeinsamer Teiler der Künste gesehen, wodurch die gegensätzlichen Phänomene sowie Mittel der Künste mit einem Maßstab klassifiziert, analysiert und komponiert werden sollten. Dies bezeichnete Kandinsky auf der metaphorischen Ebene als »Bewegung«, was jedoch später durch »Klang« ersetzt wurde. Im Weiteren wird Kandinskys Definition der Bewegung analysiert (Kap. 3.2.1.), wodurch verdeutlicht wird, mit welchem Synthesekonzept die Bühnenkompositionen geschaffen wurden (Kap. 3.2.2.). Anschließend wird die Bewegungspartitur zu den Bühnenwerken besprochen, wonach Kandinskys Idee der Synthese auf der metaphysischen Ebene betrachtet werden kann (Kap. 3.2.3.). 3.2.1. »Bewegung« als Metapher Die Definitionen der »Bewegung« in Kandinskys Kunsttheorie wurde in Reinhard Zimmermanns publizierter Habilitation Die Kunsttheorie von Wassily Kandinsky (2002) zum ersten Mal untersucht. Er unterteilt sie in sechs Anwendungen mit Belegen: 1. ein elementarer, inhaltlich weit gefasster Begriff, wie z.B. das geistige Leben als Bewegung der Erkenntnis, 2. ein konstitutives Element der monumentalen abstrakten Bühnenkunst, wie z.B. die musikalische, malerische und tanzkünstlerische Bewegung in den Bühnenkompositionen, 3. die Bewegung in Bezug auf Tanz und Ballett, 4. ein Moment der Komposition, wie z.B. eine Analogie der Formenbewegung sowohl in Musik als auch in der Malfläche, 5. eine Qualität der Farbe, wie z.B. eine ex- und konzentrische Bewegung, und 6. die Linie und ihre innerliche Spannung.120 Diese Definitionen und die Belege sind ausführlich, so dass sie hier nicht wiederholt werden. Nur eins geht daraus nicht hervor, und zwar wie Kandinsky diese Definitionen entwickelte und welche Motivation dem zugrunde liegt. Der obengenannten Reihenfolge könnte ein etymologischer Zusammenhang hinzugefügt werden, d.h. Kandinsky entwickelte das Verständnis von »Bewegung« von den allgemeinen Definitionen bis zu den Metaphern und zur praktischen Anwendung in den Bühnenkompositionen, worin sein Ableitungsziel zur Synthese aller Künste zu erkennen ist. Die Bühnensynthese war in Über das Geistige in der Kunst nach Kandinskys Worten ein monumentales Kunstwerk. Die »Bewegung« spielt dabei eine katalysatorische Rolle, mit der der Künstler die Gleichberechtigung aller Kunstmittel zu erreichen versuchte. Im vorliegenden Kapitel wird Kandinskys Idee der verschiedenen »Bewegungen« im Hinblick auf den Prozess der Bühnensynthese erklärt. Die »Bewegung« besitzt allgemein vier verschiedene Bedeutungen. Nach OxfordDuden German Dictionary (3. Aufl.) sind die folgenden Übersetzungen möglich: »movement (bes. Technik, Physik)«, »exercise (körperliche Bewegung)«, »emotion (Ergriffenheit)«, »movement (Bestreben, Gruppe)«. Kandinsky sah in der »Bewegung«

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Zimmermann 2002, Bd.2, S. 445ff.

dichterische und künstlerische Nuancen wie die Abstufung verschiedener Farben und entwickelte aus ihnen die Metaphern, mit denen er künstlerische Geschehnisse erklären wollte. Die Bewegung hatte, zumindest in seiner programmatischen Schrift Über das Geistige in der Kunst, einen dem Begriff »Klang« ebenbürtigen Sinn. Die erste Bedeutung der »Bewegung« bei Kandinsky wird von Reinhardt Zimmermann als »ein elementarer, inhaltlich weit gefasster Begriff, wie z.B. das geistige Leben als Bewegung der Erkenntnis« erklärt. Kandinsky betitelte den ersten Aufsatz nach der Einleitung in Über das Geistige in der Kunst »Die Bewegung«; durch diese wird die geistige Triebkraft der gesamten Menschheit dargestellt. Kandinsky bezeichnete die Weiterentwicklung des geistigen Lebens als »Vor- und Aufwärtsbewegung«.121 Das geistige Leben wird mit einem »großen spitzen Dreieck« verglichen, das sich langsam, kaum sichtbar vor- und aufwärts bewege. In der spitzesten, kleinsten Abteilung, die oben angesiedelt sei, würden die größten Künstler stehen. Wenn die Kunst bei einer alten künstlerischen Form stehen bleibe und die Künstler nur nach einer oberflächlichen Manier suchen würden, verderbe die Kunst. Dann scheine es, als ob das geistige Leben stillstehe. Trotzdem »bewegt sich in Wirklichkeit langsam, aber sicher, mit unüberwindlicher Kraft das geistige Dreieck vor- und aufwärts«.122 Damit drückt der Künstler seinen Glauben an die positive Menschenentwicklung aus, wobei er darin keine absolute, unbewegliche Wahrheit erkennt. Kandinsky schreibt in Rückblicke (1913), dass die ›Wahrheit‹ überhaupt, und speziell in der Kunst nicht ein X ist, nicht eine immer unvollkommen erkannte, aber unbeweglich stehende Größe ist, sondern dass diese Größe beweglich ist, sich in ständiger, langsamer Bewegung befindet. [...] Auch hier bemerkte ich diese wichtige Tatsache erst in der Kunst, und später sah ich auch in diesem Fall, daß dasselbe Gesetz die anderen Gebiete des Lebens ebenso bestimmt.123

Dies klingt wie das Bestreiten der Existenz einer einzigen Wahrheit. Der ständige Wandel des geistigen Lebens betreffe nicht nur den Wert der Kunst, sondern auch das Gesetz der Welt. Dabei lässt sich Kandinskys Aufnahmebereitschaft gegensätzlicher Künste sowie Werte als gleichberechtigte Weltelemente erkennen, wie er z.B. auch im Almanach Der blaue Reiter die Künste aller Welten und Zeiten abbildete. Der Almanach ermöglicht einen Überblick über die Ereignisse des geistigen Lebens der Menschheit. Die von Kandinsky »monumental« genannten Bühnenkompositionen sollen im Hinblick auf diese ständige, geistige »Bewegung« betrachtet werden, d.h. Kandinsky versuchte ein »Monument« für die ewig bewegliche Welt durch die Bühnenkompositionen zu realisieren. Die von Reinhardt Zimmermann vorgelegten Definitionen 2 bis 6124 könnten im großen Sinne zueinander gehören, denn sie dienen zum Prozess der monumentalen synthetischen Kunst und vermitteln auf der Meta-Ebene die gleiche Funktion des Kunstmittels wie ein Medium. Bei der »Bewegung« des geistigen Lebens anfangend, führt Kandinsky den Leser

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ÜGK, S. 29ff. Ebd., S. 33. GSI, S. 45. Zimmermann 2002, Bd.2, S. 445ff. Siehe auch Anfang des Kap. 3.2.1.

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zunächst in seine Farbentheorie ein. Mit den Farbenlehren von Goethe und Steiner verglichen, fällt Kandinskys Absicht auf, für die Analyse verschiedener Farben das Wort »Bewegung« als Schlüsselwort abzuleiten. Er erklärt Eigenschaften und Wirkungen der Farben, die auf den Betrachter einströmen, mit einer Maßeinheit, die von ihm »Bewegung« genannt wurde.125 Zimmermann zufolge kann diese als »eine Qualität der Farbe«126 bezeichnet werden. Kandinsky schreibt: »Die zweite Bewegung von Gelb und Blau, die zum ersten großen Gegensatz beiträgt, ist ihre ex- und konzentrische Bewegung,« und dabei als Fußnote, »Alle diese Behauptungen sind Resultate empirisch-seelischer Empfindung und sind auf keiner positiven Wissenschaft basiert.«127 Offensichtlich wollte er keinen wissenschaftlichen Beweis, denn er legte keinen Wert auf einen solchen. Jedoch benötigte er zur Beschreibung der gegensätzlichen Farbeigenschaften ein einheitliches Beschreibungsmaß, um die »subjektive« Farbenempfindung möglichst »objektiv« zu systematisieren. Dies ist als ein wichtiger Schritt zur Kunstsynthese zu betrachten, da Kandinsky die Maßeinheit »Bewegung« nicht nur für Farbwirkung verwendet, sondern diese Metapher anschließend auf andere Künste wie Musik und Tanz erweitert. Er behauptet in Über das Geistige in der Kunst, durch die »Bewegung« verschiedener Künste sein monumentales synthetisches Kunstwerk »Bühnenkomposition« zu schaffen. Kandinsky muss geglaubt haben, dass es ein Element gibt, das auf metaphysischer Ebene ein »gemeinsamer Teiler« für alle Künste ist und mit dem man verschiedene Kunstmittel ohne Hindernis der Gattungsunterschiede »komponieren« kann. Die drei gewählten Elemente der Bühnenkompositionen – die »musikalische Bewegung«, die »malerische Bewegung« und die »tanzkünstlerische Bewegung«128 – vertreten daher Kandinskys Synthesemethode, bei der alle gegensätzlichen Elemente auf der abstrakten Ebene gleichberechtigt sind, um zu einer idealen Synthese zu gelangen. In einer solchen idealen Synthese geht kein einziges Element den anderen voran. Mit diesem utopischen Weltbild, dessen Basis in der Gleichberechtigung der Weltelemente liegt, muss Kandinsky ein Monument für alle Völker, Religionen sowie Kulturen zu schaffen versucht haben. 3.2.2. Mit der »Bewegung« zur Bühnensynthese Analysieren und Synthetisieren aller Künste war für Kandinsky eine kunstmissionarische Aufgabe. Laut seinem späteren Essay suchte er in der Zeit, als die Schrift Über das Geistige in der Kunst entstand, »›analytisch‹ vorzugehen, synthetische Zusammenhänge zu entdecken[,] und träumte von der kommenden ›großen Synthese‹«.129 Die »Bewegungen« in den Mitteln jeder einzelnen Kunst wie Malerei, Musik sowie Tanz waren die gemeinsamen Teiler der Künste und zugleich die Ergebnisse seiner Analyse, die anschließend als Mittel zur Synthese verwendet werden sollten. Im Hintergrund dieses analytischen Prozesses lässt sich das Interesse an der »Raum-Zeit« erkennen, die in der Physik zu

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ÜGK, S. 89. Tabelle. Zimmermann 2002, Bd.2, S. 445ff. ÜGK, S. 88. Ebd., S. 125. EKK, S. 152.

seiner Zeit diskutiert wurde.130 Kandinsky schreibt in Rückblicke (1913): »Ein wissenschaftliches Ereignis räumte eins der wichtigsten Hindernisse auf diesem Wege. [...] Das Zerfallen des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der ganzen Welt gleich.«131 Die neue Erkenntnis der Physik bewegte ihn einerseits zur Analyse der künstlerischen Phänomene in der Raum-Zeit und andererseits zur Rekonstruktion der Welt durch die erforschten Kunstmittel. Max Bill schreibt in der Einführung zu Über das Geistige in der Kunst, dass die Atomphysik zwar damals noch keinen entscheidenden Platz in der Gedankenwelt des schaffenden Künstlers einnahm, sich aber trotzdem »bei Kandinsky, parallel der Physik, ähnliche Gedankengänge entwickeln [mußten], und dabei ist es von besonderer Bedeutung, daß die künstlerischen Resultate den physikalischen insofern vorauseilten, indem sie unmittelbarer, direkter von der Theorie zur Wirklichkeit wurden und damit anschaulich zur Diskussion standen«.132 Die zeitgenössischen Futuristen beispielsweise versuchten, den sich bewegenden Körper und seine veränderten Formen in der Kunst sichtbar zu machen. Auch Emile Jacques-Dalcroze führte bei seinen musikalisch-gymnastischen Übungen das Schlüsselwort »Rhythmus« ein, denn es fungiert als Bindeglied zwischen Körper und Geist, analog zu Raum und Zeit.133 Der »Rhythmus« stellt ein Kommunikationsmedium in der »Raum-Zeit« dar. Der Begriff »Medium« kann mit dem Wort »Bewegung« bei Kandinsky in Beziehung gebracht werden, d.h. die von Kandinsky genannte »Bewegung« hält sowohl die Räumlichkeit als auch die Zeitlichkeit zusammen, und daher konnte die »Bewegung« von Kandinsky als Mittel aller Künste gewählt werden. Kandinsky nannte seine synthetischen Bühnenstücke »Bühnenkomposition«; nach seinen Worten bestehe sie aus den »Bewegungen« aller Künste. Dabei betonte er, dass drei Hauptelemente, die musikalische Bewegung, die malerische Bewegung und die tanzkünstlerische Bewegung, eine gleich wichtige Rolle spielten, »äußerlich selbständig« blieben und »gleich behandelt« würden,134 weil nur dadurch auf der Bühne bedingungsfreie »Mit- (=Gegen-)wirkung« ermöglicht werde.135 Die »Bewegung«, die Kandinsky für den gemeinsamen Teiler hielt, hatte genau genommen keine einheitliche Substanz. Die »malerische Bewegung« ist eine Metapher für die Reize beim Sehen, und sie hat keine Beziehung zur Dauer der Zeit. Die »musikalische Bewegung« ist ebenso eine Metapher für die Kontinuität des Tons oder der Melodie, die – metaphorisch – wie eine Linie empfunden wird. Nur die »tanzkünstlerische Bewegung« war konkret in Raum und Zeit darstellbar.

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Die Spezielle Relativitätstheorie (1905) von Albert Einstein erregte eine große Sensation nicht nur in naturwissenschaftlichen Gebieten, sondern brachte den Künstlern eine neue Darstellungs- und Wahrnehmungsmöglichkeit der Künste in der »Raum-Zeit«. Zu dem Thema siehe Kat. Zeit 1985. GSI, S. 33. Max Bill, In: ÜGK, S. 12. Siehe Jaques-Dalcrozes »elementary principles.« Spector 1990, S. 117. ÜB, S. 208. ÜGK, S. 125f.

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Die Eigenschaften jeder Kunst müssen aufgrund der Wahrnehmung des Empfängers unterschiedlich beschrieben werden. Kandinskys Metapher der Bewegung umfasst alles, was als Medium auf der Bühne fungiert. Die wichtigsten drei Elemente der Bühnenkompositionen wählte Kandinsky aus Musik, Malerei und Tanz. Seine Begründung dazu umfasst das Verständnis der Künstler der genannten Künste und macht zugleich sein Ziel der Abstraktion deutlich. Im Folgenden werden Kandinskys Überlegungen zu Musik, Malerei, Tanz und zum Mittel der genannten Künste besprochen. Die Musik ist die Zeitkunst. Der musikalische Klang wirkt durch Vibration auf den Gegenstand. Auch in einem geräumigen Raum kann die Musik diesen Effekt problemlos einsetzen, d.h. der Klang kann Räumlichkeit durchdringen. Kandinskys Metapher der »musikalischen Bewegung« könnte daher die räumliche Vorstellung der Töne, Dynamik, Melodielinie bedeuten. Für Kandinsky war die Musik »mit wenigen Ausnahmen und Ablenkungen [...] einige Jahrhunderte die Kunst, die ihre Mittel nicht zum Darstellen der Erscheinungen der Natur brauchte, sondern als Ausdrucksmittel des seelischen Lebens des Künstlers und zum Schaffen eines eigenartigen Lebens der musikalischen Töne«.136 Er hielt daher die Musik für eine fortgeschrittene Kunstform. Seiner Auffassung nach sieht ein bildender Künstler »mit Neid, wie solche Ziele [die »innere Welt« zum Ausdruck zu bringen] in der heute unmateriellsten Kunst – der Musik natürlich und leicht zu erreichen sind«.137 Kandinskys Einschätzung der Musik beruht vor allem auf der »absoluten Musik«, ein Begriff, der durch Richard Wagner als Gegensatz zu seinem Musikdrama verwendet und von seinem Kritiker Eduard Hanslick unterstützt wurde.138 Hanslick verglich die Musik und Goethes Farbenlehre und führte zwischen der Musik und den abstrakten Formen – wie der Arabeske – eine Analogie ein. Goethe schreibt bereits Anfang des 19. Jahrhunderts in Das Märchen, »sie [die Einbildungskraft] muß uns keinen Gegenstand aufdrängen wollen, sie soll, wenn sie Kunstwerke hervorbringt, nur wie eine Musik auf uns selbst spielen, uns in uns selbst bewegen, und zwar so, daß wir vergessen, daß etwas außer uns sei, das diese Bewegung hervorbringt.«139 Die Musik besitzt keinen Gegenstand, so dass sie dem Gehör und dem Geist eine Form direkt vermitteln könnte. So war die Musik eine anziehende nichtmaterielle Kunst für Kandinsky. Anders als die Musik besteht die Malerei aus materiell-sichtbaren Substanzen, die den Geist nicht durchdringen können. Jedoch glaubte Kandinsky an ihre unmittelbare Wirkung auf den Geist der Menschen. Gisela Kleine schrieb, dass die Farben nach Kandinskys Idee den Rahmen überspringen und den Raum beherrschen müssten.140 Die Bühnenkunst war eine geeignete Experimentierstätte, wo Kandinsky den Effekt der Farben im dreidimensionalen Raum ausprobieren konnte. Ein Gemälde kann zwar nicht in zeitlicher Reihe dargestellt werden, vermittelt aber eine Form, die die Bewe-

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Ebd. Ebd., S. 54f. Der Zusatz in eckigen Klammern stammt von der Verfasserin. Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. 1854. Goethe, Das Märchen. S. 17. Der Zusatz in eckigen Klammern stammt von der Verfasserin. Kleine 1994, S. 287

gung erahnen lässt. Kandinsky sieht sowohl in der stillen Form, wie er später als theoretische Schrift Punkt und Linie zur Fläche zusammenfasste, als auch in den Farben die »malerische Bewegung« mit zeitlicher Eigenschaft. So fügt seine Idee der metaphorischen Bewegung das fehlende Element zur Gleichsetzung der Künste hinzu. Die Tanzkunst war nach Kandinskys Auffassung noch im Übergangsstadium. Er schlug dem Tanz die »Abstraktion« auf der »Höhe der heutigen Musik und Malerei«141 vor. Es sei wichtig, dass der innere Wert jeder Bewegung bald auch im Tanz gefühlt werde und die innere Schönheit die äußere ersetze, um dem Tanz die Fähigkeit zur »Bühnenkomposition« zu verleihen.142 Kandinsky beabsichtigte, von der »Bewegung« des Tanzes alle Nebensächlichkeiten wie Handlung und Emotion zu entfernen. Dadurch erscheine der innere Sinn der »Bewegung«.143 Es könnte sich um die Idee eines Abstrakttanzes handeln, wobei das vorhergehende Unterkapitel darauf hinweist, dass Kandinskys Idee der Bewegungssprache auf die suggestive Gestik in den bildenden Künsten zurückgehen könnte, und es ist fraglich, ob sie als Tanz erkannt werden kann. Darum nannte Kandinsky die Bewegung der Tanzkunst nicht die »tänzerische Bewegung«, sondern die »tanzkünstlerische Bewegung«, die das elementare Mittel des Tanzes andeutet. Von den drei Gestaltungselementen der Bühnenkompositionen besitzt nur die »tanzkünstlerische Bewegung« eine praktisch sichtbare Bewegung durch das Material. Die praktische Anwendung der »tanzkünstlerischen Bewegung« wird daher in semiotischer Hinsicht im nächsten Unterkapitel besprochen. Durch die Metapher der »Bewegung« wollte Kandinsky die gegensätzlichen Darstellungsebenen der Künste vereinen, wobei der Unterschied des Mittels nicht zu überwinden war. Einerseits bezeichnete er das Mittel der Musik und der Malerei als »musikalischen Ton« und »farbigen Ton«. Das Wort »Ton« konnte er jedoch für das Tanzmittel nicht verwenden, und nannte dies »körperlich-seelischen Klang«, ausgedrückt durch Körper und Gegenstand.144 Die »Bewegung« der drei Künste entspricht daher schließlich dem Ton und dem Klang. Um die physikalische Bewegung und die metaphorische Bewegung zu unterscheiden, musste Kandinsky eine höher abstrahierte Metapher finden. Im späteren Essay Über die abstrakte Bühnensynthese (1923) gab er die Bezeichnung »Bewegung« für alle Künste außer dem Tanz auf, vermutlich, weil dies mit der Bedeutung der physischen Bewegung verwechselbar ist und als Metapher nicht geeignet war. So übersetzte er den Wert des Kunstmittels in die einheitliche Bezeichnung »Klang«, der die von den Künsten hervorgerufene seelische Vibration metaphorisch beschreibt und somit das Medium aller Künste darstellen soll, das zum Geist einen direkten Zugang besitzt. In seiner theoretischen Schrift von 1926 erklärte er daneben, die Metapher der »Bewegung« aufgeben zu wollen:

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ÜGK, S. 125. ÜB, S. 206. Das Wort »inner« bedeutet hier weder die Innerlichkeit des amerikanischen modernen Tanzes wie bei Martha Graham (1894–1991) noch den Ausdruck des deutschen Ausdruckstanzes wie bei Mary Wigman (1886–1973). Desto interessanter ist, dass Kandinsky kurz vor dem Aufbruch des Ausdruckstanzes eine völlig andere Richtung des abstrakten Tanzes aufzeigte. ÜB, S. 206.

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»Den fast allgemein üblichen Begriff ›Bewegung‹ ersetze ich durch ›Spannung‹. Der übliche Begriff ist ungenau und führt deshalb auf unrichtige Wege, die zu weiteren terminologischen Missverständnissen verleiten.«145 So verzichtet er auf die Metapher der »Bewegung« für alle Mittel der Künste und schränkt das Wort auf die Beschreibung der Linien sowie Formen ein. Ferner definiert er, dass die »Bewegung« zwei Teile hat: »Spannung«146 und »Richtung«, so dass die bildliche Vorstellung der physikalischen Linie deutlicher wird und keine seelische »Bewegung« mehr andeutet. 3.2.3. Bewegungspartitur Kandinsky entwarf für die Bühnenkomposition II Grüner Klang und Der gelbe Klang – Eine Bühnenkomposition Bewegungspartituren, die die gesamten Abläufe der drei Bühnenelemente wie in einer Notation veranschaulichen. Keine weiteren Partituren für die anderen Stücke sind bekannt, und ob solche verloren gingen oder gar nicht entworfen wurden, ist unklar. Es ist auch nicht erkennbar, welchen Wert Kandinsky der Partitur beimaß, weil die Notation hauptsächlich auf der subjektiven Empfindung der Elemente basiert und das Geschehen zu sehr vereinfacht, so dass die Vielfalt der Farben, Töne sowie Körperbewegungen gar nicht notiert werden konnte. Robert Richard Pevitts Versuch, das Geschehen der drei Elemente in Der gelbe Klang wie in der Bewegungspartitur auf metaphysischer Ebene zu betrachten, führte daher nicht zu einer inhaltlichen Deutung.147 Die Bewegungspartitur hilft nur, wenn die Bedeutung des Geschehens durch eine Art Lautstärke der Musiknoten eingeschätzt wird, und gibt an sich keine konkreten Informationen zur Interpretation. Der Wert dieser Partitur liegt eher an der Idee an sich, d.h. sie bietet die Möglichkeit, das Bühnengeschehen durch die gegensätzlichen Elemente auf derselben Metaebene zu betrachten und ihr Miteinander- sowie Gegeneinanderwirken zu kontrollieren. Es ist möglich, dass Kandinsky und seine Mitwirkenden beim Entwurf der frühen Bühnenkompositionen eine strategische Auseinandersetzung über die gesamte Struktur führten und dabei ihre Arbeitsanteile durch die Bewegungspartituren ausglichen. Denn nach Kandinsky mussten die drei Bühnenelemente gleich behandelt werden, d.h. die drei mitwirkenden Künstler sollten versucht haben, ihre Beiträge sowie deren Auswirkungen auf die Zuschauer gleichmäßig zu verteilen. Um die Selbständigkeit der Bühnenelemente zu fördern, könnte der einzelne Beitrag des Künstlers vermutlich mit Hilfe der Bewegungspartitur getrennt betrachtet worden sein.

145 146 147

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Kandinsky 1926, S. 58 Ebd. Das Ersatzwort »Spannung« bedeute »die dem Element innelebende Kraft«. Pevitts 1980. In der Studie gibt es als Anhang eine Klassifikation, die das Geschehen in drei Kategorien, die den drei Elementen entsprechen, unterteilt. Dies bietet ein vogelperspektivisches Verständnis über das Werk, es wurde jedoch keine Annäherung zur Interpretation mit Hilfe des Schemas unternommen.

3.3. Bewegungspraxis in den frühen Bühnenkompositionen Im Kap. 3.1. wurden die zeitgenössischen Bewegungsdarstellungen untersucht, anhand derer Kandinskys Vorstellung der Bewegungssprache erläutert wurde. Anschließend wurde im Kap. 3.2. Kandinskys Metapher der »Bewegung« in Bezug zur Bühnensynthese analysiert. Als dritte Untersuchung wird nun die Bewegungspraxis in den Bühnenkompositionen betrachtet, wobei die »Praxis« in keiner Aufführungsform zu sehen ist, sondern lediglich in der Beschreibung der Bewegung in Kandinskys Regietext enthalten ist. Der Stil der praktischen Bewegung in den frühen Bühnenkompositionen wurde in den bisherigen Forschungsstudien nicht konkret festgestellt. Nur Susan Alyson Stein bezeichnete Kandinskys Verwendung der Bewegung als »largely confined to slow, very simple yet deliberate gestures«,148 woran der in Kap. 3.1.2. untersuchte Tanzstil von Alexander Sacharoff erinnert. Steins weitere Anmerkungen, dass Kandinskys Bewegungsschilderung im Regietext auf »visual metaphors out of verbal ones« beruhe und die Maßangaben, wie »scale (›gross‹, ›klein‹, ›nicht hoch‹), duration (›kurz‹, ›lang‹), or tempo (›langsam‹, ›schnell‹)«149 nicht Genauigkeit, sondern Flexibilität im Design verlangten, hätten zwar zur ikonographischen Analyse der praktischen Bewegung als visuelles Bildelement führen können, dies wurde aber bis heute nicht besprochen. Um die Grammatik der Bewegungssprache Kandinskys zu verstehen, werden im vorliegenden Kapitel drei Schritte unternommen. Erstens werden die Hinweise auf seinen Umgang mit der praktischen Bewegung überprüft. Zu untersuchen sind seine Kritik an der Bewegungsstilistik der Oper bis zu seiner eigenen Gestik im Alltag, wodurch die Umrisse der Bewegungssprache der Bühnenkompositionen im Vergleich zu den für Kandinsky konventionellen oder alltäglichen Bewegungssprachen vorgestellt werden können (Kap. 3.3.1.). Anschließend wird als hypothetisches Vorbild für die Bewegungsdarstellung der Bühnenkompositionen die Theorie der Gestik in der Malerei untersucht (Kap. 3.3.2.). Als Hauptanalyse werden die Beispiele der Bewegungsdarstellung in den frühen Bühnenkompositionen auf semiotische Weise als kinetische Zeichen klassifiziert, und ihre jeweilige Funktion wird gemäß Kandinskys Auffassung der Bewegungssprache ausgeführt (Kap. 3.3.3.). Zum Schluss wird die Bewegungssprache im Zusammenhang mit der Körperlichkeit der Bühnenfiguren besprochen und in einer Tabelle veranschaulicht, welches kinetische Zeichen zu welcher Körperlichkeit zugeordnet sein könnte (Kap. 3.3.4.). Dies dient schließlich der gesamten Stückanalyse im Kap. 4. 3.3.1. Kandinskys Hinweise zur Bewegungspraxis Die »tanzkünstlerische Bewegung« ist das einzige Element der Bühnenkompositionen, das sich auf die praktischen Körperbewegungen bezieht.150 Kandinskys Beispiel zur Realisation der »tanzkünstlerischen Bewegung« lautet: »Eine sehr einfache Bewegung, von

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Stein 1983, S. 62. Stein 1983, S. 62. Siehe Kap. 3.2.1.

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welcher das Ziel unbekannt ist, wirkt schon an und für sich als eine bedeutende, geheimnisvolle, feierliche. Und das, solange man das äußerliche, praktische Ziel der Bewegung nicht kennt. Dann wirkt sie als reiner Klang.«151 Ausgehend von dieser Äußerung, benötigt die Bewegungspraxis in den Bühnenkompositionen keine musikalische Begleitung und besitzt keine ausdrucksvollen Gesten. Jedoch ist die Frage, wo diese durchaus »bedeutende, geheimnisvolle« sowie »feierliche« Bewegung in der Praxis verwendet wird. Als ein Gegenbeispiel kritisierte Kandinsky die Bewegungsart in der Oper. Er beschrieb das Bedeutungssystem der Gesten in der Oper, »das An-die-Brust-Drücken der Hände – Liebe, das Heben der Arme – Gebet, das Ausbreiten der Arme – starke Gemütsbewegung u.dgl.«, und nannte solche »ein naives Anhängsel«, »Entartung« und »kindliche Formen«.152 Dies zeigt, dass er mit Interesse die Verbindung zwischen dem kinetischen Zeichen und der Bedeutung betrachtete. Sein Urteil jedoch lautet, die obengenannten Bewegungen hätten einen »rein äußerlichen und oberflächlichen Sinn«.153 Auch die Bewegung bei Wagner gefiel Kandinsky nicht, denn »Wagner hat […] eine direkte (künstlerische) Verbindung zwischen der Bewegung und dem musikalischen Takt geschaffen: die Bewegung wurde dem Takt untergeordnet«,154 wobei dies von Klaus Kropfinger als eine »fehlgehende Wagner-Rezeption« betrachtet wurde.155 Auch wenn Kandinskys Verständnis der Mime der Oper sowie der Bewegung bei Wagner nicht einwandfrei ist, zeigen die oben genannten Aussagen sein Interesse an der semiotischen Funktion des kinetischen Zeichens. Seinem Appell zufolge sollen die konventionellen Verbindungen der Bewegung mit der Bedeutung sowie der Musik nicht angestrebt werden. In Teil 3.1. wurde bereits festgestellt, dass sein Mitwirkender Alexander Sacharoff symbolische Gestik aus der Malerei sammelte und sie in seiner Tanzkomposition wie eine Bilderfolge verwendete. Auch das Interesse Kandinskys und Sacharoffs an der religiösen Kunst war auffallend. Sacharoff verwendete im Tanz zeremoniale Gestik. Diese Eigenschaft der Bewegung bei Sacharoff muss auch bei Kandinskys Bewegungsgrammatik zu finden sein. Ein anderer Zeitgenosse, Meyerhold, zeigte eine ähnliche Neigung zur Verwendung der besonderen Gestik auf der Bühne und wollte die stilisierten Gesten der bildenden Kunst in die Bühnenkunst einführen. Bei Kandinsky und Meyerhold können zwei gemeinsame Ideen erkannt werden: Verwendung der autonomen Gestik und Erhöhung ihrer Suggestivität durch reduzierte Bewegung. Wie Sacharoff und Kandinsky war auch Meyerhold an der Ikonenmalerei interessiert, so dass er unterdessen auch die Gestik nach deren Vorbild zu stilisieren versuchte. Die Gestik in den bildenden Künsten fungiert anders als in der Bühnenkunst, denn sie ist nicht fähig, eine Tat in einem zeitlichen Ablauf zu verwirklichen. Dadurch entsteht die stille Geste bzw. Pose, die trotz des Fehlens einer praktischen Bewegung für die ganze Tat steht. Das alltägliche oder bühnenspezifische Zeichensystem zwischen Bewegung und Bedeutung wird hier gebrochen. Für die Interpretation der Bewegungssprache in den

151 152 153 154 155

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ÜGK, S. 123. ÜB, S. 197. Ebd. Ebd. Kropfinger 1984, S. 195.

Bühnenkompositionen könnte daher das Zeichensystem der bildenden Künste berücksichtigt werden. Gisela Kleine schrieb eine interessante Analyse über Kandinskys eigene alltägliche Körperhaltung in Bezug auf seine Malerei und Persönlichkeit. Demnach mochte er sowohl in seiner Malerei als auch in seinem Alltag eine etwas gesteuerte stilisierte Haltung: »Seine Körpersprache – der stets leicht zurückgebeugte Oberkörper, die Nähe verhindernde Kopfneigung – bewies, dass er ein Hineingleiten in das ihn umgebende Geschehen vermeiden wollte.«156 Seine Bitte an Gabriele Münter, die damalige Lebensgefährtin, »ihn vor andrängenden Menschen abzuschirmen und sich bei Tisch zwischen ihn und fremde Personen zu setzen«,157 zeigt seine Empfindlichkeit in der Kommunikation durch die körperliche Haltung und Nähe. Für ihn sei das Individualporträt eine »Anpassung an die Körper- und Seelenbewegung eines anderen« gewesen, so hätten Menschen »in seiner Kunst allenfalls die Bedeutung von Figuren, wobei die stilisierte Haltung von Kopf, Armen und Händen ähnlich symbolische Bedeutung gewann, wie er es seit der Kindheit von russischen Ikonen kannte«.158 Ihm habe es gar an »Körpergefühl« gemangelt, so dass das »Balance-Problem zum Inhalt seiner Bilder« würde.159 In ihrer Analyse weist Kleine darauf hin, dass Kandinskys Bewegungsdarstellung in der Malerei sowohl seine eigene Körpersprache im Alltag als auch seine Gefühlsnähe zur Bewegungssprache der Ikone reflektieren könnte. Die Sensibilität gegenüber der eigenen Körpersprache könnte ein Grund dafür sein, dass Kandinsky die am großen Theater orientierte Bewegungssprache der Oper übertrieben fand und in den Bühnenkompositionen einen feineren Umgang mit der Bewegungssprache suchte. Eine »bedeutende, geheimnisvolle, feierliche« Bewegung fand der Maler in der von der Religion bestimmten Malerei wie der Ikone. Vermutlich verlieh er den Bühnenfiguren in den frühen Bühnenkompositionen eine ihm angenehme, vertraute Sprache der Bewegung, denn er fand mit solcher Bewegungssprache seine Ruhe und konnte so den »reinen Klang« der Bewegung genießen. 3.3.2. Theorien zur Bewegung in der Malerei Das kinetische Zeichen in der Malerei hat eine bildspezifische Funktion.160 In Kap. 3.1. und Kap. 3.3.1. wurde festgestellt, dass Kandinsky das Zeichensystem der Gestik aus der Malerei auf der Bühne einzuführen versucht haben könnte. Im vorliegenden Kapitel wird die Funktion des kinetischen Zeichens in der Malerei im Hinblick auf die aktuellen Forschungsstudien über die Gesten und Gebärden der Malerei besprochen, wodurch Kandinskys Überlegung zur Bewegungssprache in den frühen Bühnenkompositionen nachvollzogen wird.

156 157 158 159 160

Kleine 1994, S. 295. Ebd. Ebd. Ebd. Schon sehr früh erkannten Maler die Eigenart der Gestik im Bild. Historisch wurde bereits von Leonardo da Vinci darauf hingewiesen, dass es zwischen der Gestik der Realität und der Gestik des Bildes einen Unterschied gibt. Rehm 2000, S. 172.

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Als neueste Publikationen über die Gestik in der Malerei gibt es die ikonographische Studie von Gabriela Signori über kirchliche Räume sowie Gesten in religiösen Bildern161 und eine Studie über die Begriffsbestimmung und -verwendung der Gesten und Gebärden von Marcus Mrass im Hinblick auf kunsthistorische Untersuchungen.162 Signori erfasst die Rezeptions- und Interpretationsgeschichte der Kircheneinrichtungen, Kleidung und Gestik mit zahlreichen Abbildungen aus dem europäischen Mittelalter. Mrass behandelt die Gesten und Gebärden aus verschiedener Zeit, erklärt, wie unterschiedlich ihre Vermittlungen sein mögen, und versucht, aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht Richtlinien für die Analyse der Gesten und Gebärden zu geben. Im interdisziplinären Kontext wie im Text und im Bild gibt es von Margreth Egidi u.a. eine Aufsatzsammlung,163 in der die Gestik in verschiedenen Zeiten, Kulturen und Gattungen thematisiert wird.164 Die Aufsätze enthalten Modelle von Analysemethoden je nach verschiedenen Umständen und zeigen das Problem der Interpretation auf, z.B. die Vieldeutigkeit einer Gestik in der Malerei. Für die Deutung der Gestik sind daher die Entstehungskonditionen zu berücksichtigen.165 Die drei oben genannten Arbeiten sind anregend und hilfreich, um die wichtigen Eigenschaften der Gestik in der Malerei zu verstehen, die in den Bühnenkompositionen übernommen worden sein könnten. Es gibt zwei Aspekte der Gestik in der Malerei. Erstens nimmt eine Gestik ihren Bezug entweder zur Lebenswelt oder zur Bilderwelt, d.h. eine Gestik könnte aus der Abbildung der alltäglichen Gestik entstehen, gewinnt aber in der Malerei eine eigene Funktion wie die der Sprache, deren Bedeutung weiterentwickelt werden kann. Zweitens besitzt die Gestik in der Malerei eine »sprachersetzende« Funktion, die dazu dient, das behandelte Thema ohne Worte zu beschreiben. Bei einer Interpretation der Gestik in der Malerei wird beachtet, ob die Gestik aus der Lebenswelt stammt oder aus der Bilderwelt, weil das semiotische System der Gestik in den beiden Welten unterschiedlich gebaut ist. In der Aufsatzsammlung von Egidi erfasst Schütze die Interpretationsgeschichte von Caravaggios Die Berufung des Matthäus (1599– 1600, Öl auf Leinwand, 322 × 340cm, Rom, San Luigi dei Francesi) und findet in den bisherigen Interpretationen der Gestik zwei unterschiedliche Deutungsmodelle, eben »Lebenswelt« und »Bildwelt«.166 Demzufolge unterscheiden die Autoren der Interpretationen zwischen den Gesten, die »a) nach einem lebensweltlichen System gebildet und

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Signori 2005. Mrass 2005. Egidi u.a. (Hrsg.) 2000. Brassat 2000, Rehm 2000 und Schütze 2000 fassen die »traditionellen« Diskussionen über die Interpretation der Gestik in Bildern wie von Raffael oder Caravaggio zusammen. Von Dmitri Zachar’in wurden z.B. symbolische Körperhaltungen vom 16. bis 17. Jahrhundert zwischen russischen und westeuropäischen Gesellschaften verglichen. In den beiden höfischen Kulturen gab es eine Differenzierung. Auch wenn diese Bedingung einer abgeschlossenen Gesellschaft vom 16. bis 17. Jahrhundert für Kandinskys Zeit und Herkunft nicht denkbar ist, ist solche Forschung anregend. Es gibt sonst noch keine Forschung über die Übernahme bzw. Austausch der Gestik in der modernen Zeit. Egidi u.a. (Hrsg.) 2000, S.87ff. Schütze 2000, S. 189.

zu verstehen sind« und »b) nach einem bildspezifischen System funktionieren«.167 Schütze bezeichnet sie als »lebensweltlich« und »bildimmanent (interpiktural)«. Die lebensweltlichen Gesten haben laut Schütze zwei Konzepte, »Geste der Handlungskondensierung« und »nonverbale Verdeutlichungsgeste«.168 Die erste konzentriert sich auf einen bestimmten Moment aus dem Handlungsablauf. Die zweite wird als Begleitung der Handlung zur Verdeutlichung der Realität gesucht. Dabei berücksichtigt man vor allem die eigene Körpersprache. Die bildimmanenten Gesten hingegen beziehen sich auf ein »gemeinsames Bildwissen«, und je nach der Art des Verweises werden von Schütze zwei Konzepte, »Zitatgeste« und »Motivgeste«, unterschieden.169 Die »Zitatgeste« ist »auf eine spezifische Geste in einem bestimmten Kunstwerk« bezogen. Sie kann auch transformiert werden, »solange sie den Bezug auf ihre Vorgängerin noch erkennen lässt«. Die von der Zitatgeste abgegrenzte »Motivgeste« konventionalisiert sich »in der Kunst für die Intensität eines Körperausdruckes bzw. für die Intensität einer Handlung«.170 Schützes Interpretationsmodelle weisen darauf hin, dass die Eigentümlichkeit der Gestik in der Malerei auf ihrer zweiten Nutzung, der »Zitatgeste« und »Motivgeste«, beruht. Diese Formen der Gestik wurden zunächst aus der Lebenswelt imitiert oder extrahiert und später nur als »bildimmanente« Sprache verwendet, obwohl ihre ursprüngliche Bedeutung mit der Zeit in der Lebenswelt verloren ging. Kandinskys Methode der Bewegung, den Ausdruck des Ziels oder der Gefühle abzulehnen, deutet auf die Dissoziation von der Lebenswelt hin. Kandinsky lehnt die Bewegungsstilistik des Balletts ab, die ähnlich wie die bildimmanente Gestik als so genannte »ballettimmanente« oder »bühnenimmanente« Gestik entwickelt wurde, d.h. Kandinsky war mit der ersten Stufe der Dissoziation von der Lebenswelt nicht zufrieden. Hier könnte die Hypothese bekräftigt werden, dass Kandinsky die bildimmanente Gestik in die Bühnenkunst einführen wollte. Solange die ballettimmanente Bewegung noch im Tanz entsteht, ist der Zugang zur Interpretation offen, weil der Betrachter die Bedeutung der Bewegung noch auf die Bühnenwelt, die auch aus der Lebenswelt entstanden war, zurückführen kann. Wenn aber die bildimmanente Bewegung in die Bühnenkunst hineingetragen wird, verliert die herkömmliche Bildsprache ihren Kontext der Bilderwelt und es wird die dreifache Dissoziation der Gestik sowohl von der Lebenswelt als auch von der Bildwelt und der Bühnenwelt erreicht. Kandinsky legte Wert auf die geheimnisvolle Bewegung, die ihren Kontext nicht erkennen lässt. Eine weitere spezifische Funktion der Gestik in der bildenden Kunst, die bei Irene Schütze als »bildimmanent« bezeichnet wurde, wird von Ulrich Rehm die »in der bildenden Kunst angewandte Gestik« genannt. Er weist wie Schütze auf den Unterschied zwischen der Gestik der Realität und der Gestik des Bildes hin und definiert die

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Ebd., S. 189. Ebd., S. 198. Ebd. Ebd.

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Besonderheit der Letzteren als »sprachersetzende Funktion«,171 d.h. die Gestik fungiert als Vertreterin des Geschehens bzw. des Themas und ersetzt die narrative Rolle der gesprochenen sowie geschriebenen Sprache. Die von Kandinsky geschätzte Funktion der »tanzkünstlerischen Bewegung« verkörpert ebenfalls den gesamten Bühnenablauf, während Sprache nur spärlich verwendet wird, und so könnte ihre Funktion als »sprachersetzend« bezeichnet werden. Bei einer Interpretation des Bewegungsablaufs soll der Stil der Choreographie beachtet werden, womit die Bedeutungsebene festgestellt wird. Dies war auch bei vielen ikonographischen Forschungsstudien der Malerei ein Brennpunkt. Rehm erklärt die unterschiedlichen Interpretationsebenen anhand von Raffaels »Die Schule von Athen« (um 1510, Vatikanstadt, Palazzo Apostolico, Stanza della Segnatura).172 Rehm zufolge werden die Gesten zuerst »entweder als Abbildung von Naturbeobachtung oder als Darstellung literarischer Vorgaben angesehen«, dann werden sie, je nach dem behaupteten Kontext gegensätzlich interpretiert. Es gebe für Platons Zeigegestus in »Die Schule von Athen« nach bisherigen Studien fünf Deutungsebenen: Zeigegestus als Verweis, als rhetorische Gestik, als Konnotation, als Attribut und als ein enigmatisches Konzept.173 Kurz zusammengefasst, könnte Platons Zeigegestus je nach der Deutungsebene das Zeigen des Kosmos, den Sitz des Gottes, die Andeutung einer langen Rede, den Predigertypus von Johannes bis Paulus, Repräsentanten der Weisheit oder eine Antikerezeption darstellen. So böte ein Zeigegestus die Möglichkeit, den Charakter einer Person zu bestimmen, wenngleich dessen Interpretation so variierbar und verwirrend ist. Das Zeichensystem der Malerei scheint Kandinsky eine Vorstellung davon vermittelt zu haben, welche Funktion die Gestik in den Künsten besitzt und was sie transportiert. Die bildspezifische Gestik kann sich auf die Lebenswelt oder auf die Bilderwelt beziehen und demnach gegensätzlich gedeutet werden. Die Gestik der Bilderwelt ist eine Sprache, die die ursprünglichen, alltäglichen Formen beibehält und trotzdem einen bildimmanenten Sinn liefert. Dies erinnert an Kandinskys Methode der »tanzkünstlerischen Bewegung«, die an sich eine einfache Bewegung ist. Trotzdem wirkt sie »geheimnisvoll«, weil ihr praktisches Ziel, der Lebensbezug, entnommen wurde. Kandinsky wünschte ein gebrochenes Zeichensystem des Alltags als Bewegungssprache der Bühnenfiguren. Wie eine Sprache auf die Zugehörigkeit des Sprechers hinweist, wollte Kandinsky für seine abstrakt-geistigen Figuren eine mystische Bewegungssprache erzeugen. Diese in der bildenden Kunst angewandte Gestik fungiert nach dem Zeichensystem der Malerei sprachersetzend und dient zur Andeutung des Geschehens bzw. des Themas. Diese Funktion kann wiederum zur Identifikation der Figuren verwendet werden, wenn die Deutungsebene eingeschränkt werden kann. Zu der Schaffenszeit der Bühnenkompositionen I bis IV malte Kandinsky Gemälde mit biblischen Themen, und einige dieser Figuren wurden bereits nach Gestik und Physiognomie identifiziert, wie z.B. in dem Stehenden, der nach oben blickt und die Hände an die Brust presst, in dem Bild »Große Auferstehung« (1911) (Abb. 4), eine Darstellung von Johannes dem 171 172 173

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Rehm 2000, S. 172. Dabei beruft sich Rehm auf Leon Battista Alberti (1404–1472) und Leonardo da Vinci (1452–1519), die in ihren Schriften bereits darauf hinwiesen. Ebd., S. 172. Für die Beispiele siehe ebd. S. 175ff.

Täufer erkannt wird. In den Bühnenkompositionen besitzen die meisten entscheidenden Figuren keine gegenständlich identifizierbare Physiognomie. Stattdessen haben sie die von Kandinsky bestimmte Körperlichkeit zwischen der Gegenständ lichkeit und Abstraktion, die der Bestimmung der Deutungsebene nutzen kann. Die Gestik könnte dabei als Konnotation oder Attribut der behandelten Personen einen Schlüssel zur Identifikation liefern. 3.3.3. Die kinetischen Zeichen in den Bühnenkompositionen Die kinetischen Zeichen in den frühen Bühnenkompositionen lassen sich in vier Kategorien174 einordnen; in mimisches Zeichen, in gestisches Zeichen, in proxemisches Zeichen175 und in Tanz. Das mimische Zeichen findet auf dem Gesicht statt. Zum gestischen Zeichen gehören alle anderen körperlichen Bewegungen ohne Ortswechsel. Das proxemische Zeichen ist dagegen eine Bewegung, die einen Ortswechsel mit sich bringt. Der Tanz besteht aus allen oben genannten kinetischen Zeichen in einer Sequenz, und innerhalb des Tanzes lassen sich die kinetischen Zeichen nicht voneinander trennen. Er wird, semiotisch gesehen, als ein inhaltlich insgesamt geschlossener Kode verstanden, wie z.B. Symbole, geometrische Form u.a. Die Bedeutung des einzelnen kinetischen Zeichens ist nach Kultur, Kontext und Individuum verschieden. Die folgende Tabelle bietet einen Überblick der Bewegungen in den Bühnenkompositionen I bis IV. Betrachtet wird, welches Bewegungsvokabular Kandinsky verwendete und welche Funktionen176 es hat. Die Körperlichkeit der Bewegungsträger entscheidet die Bedeutungsebene der Bewegung, die anhand des Kap. 3.3.2. zwischen »Lebenswelt« und »Bilderwelt« unterschieden werden könnte, wobei die Deutung des einzelnen Zeichens von weiteren Faktoren wie der Körperlichkeit der Figuren sowie dem Zusammenhang des Ablaufs abhängig ist.

174 175

176

Für die semiotische Bewegungsanalyse siehe Fischer-Lichte 2003. Jeschke 1999, S. 37. »Die Proxemik orientierte sich an den räumlichen Bezügen zwischen dem Körper des Kommunizierenden und anderen Menschen oder Objekten der Umgebung«. Zu den allgemeinen Funktionen der Bewegung siehe Eisenberg Abne M. / Ralph R. Smith: Nonverbal Communication. Indianapolis: Bobbs-Merrill, 1970, S. 25ff. Zitiert nach Jeschke 1999, S. 37. »[...] emblems are usually gestural equivalents of a word or phrase. [...] illustrators are directly linked to speech, for they ›illustrate‹ what is being said orally. [...] Regulators are actions which serve to control oral interaction. [...] Most regulators, like most illustrators, cannot be understood apart from the verbal messages being exchanged. [...] Affect displays are body expressions which indicate the emotional state of the communicator. [...] facial expressions are the principal way most humans convey their feelings [...] Adaptors are movements we first learned in childhood which were part of a patterned activity with an instrumental purpose.«

91

Tabelle 5: Die kinetischen Zeichen in den frühen Bühnenkompositionen Semiotische Kategorie

Bewegungsvokabular

Funktion

Bedeutungsebene

Mimisches Zeichen

Gesichtsfarbe

Darstellung der Eigenschaft oder Emotion

Bilderwelt (Farbsymbolik)

Augenrichtung

Darstellung der Lebenswelt / Bilderwelt Beziehung der Person zum Gegenstand

»starr«

Unterbrechen des bisherigen Zustands, emotionaler Ausdruck

Lebenswelt

»Köpfe zurückwerfen wie von großem Glück überwältigt« »sich mit Angst umwenden«

allgemeiner konkreter Emotionsausdruck

Lebenswelt

Hand / Armhebung Fingerzeige (auf jemanden / vor dem Mund) an die Brust gepresste Arme

bildimmanente Darstellung einer Tat

Bilderwelt

Kopfneigung (seitlich / zum Himmel)

bildimmanente Darstellung einer Tat oder einer Beziehung

Bilderwelt

unordentliche ArmBein-Bewegung

Metapher für einen Zustand

Lebenswelt / Bilderwelt

»starr«

Unterbrechen des bisherigen Zustands, emotionaler Ausdruck

Lebenswelt

Gehen (nach rechts/ links / vorne / hinten)

Metapher für Ortswechsel wie Reise, Einzug usw.

Lebenswelt / Bilderwelt

»hin- und hergerissen«

Metapher für Chaos wie Lebenswelt / Bilderwelt Sturm, Flut, Kampf

Prozession

alltägliche oder festliche Lebenswelt / Bilderwelt Gelegenheit bis zur abstrakten Raumkomposition

Reigentanz

alltägliche oder festliche Lebenswelt / Bilderwelt Gelegenheit bis zur abstrakten Raumkomposition

Vergrößerung

Metapher für Veränderung bzw. Ent wicklung

Gestisches Zeichen

Proxemisches Zeichen

Tanz

sonstiges

92

Bilderwelt

3.3.3.1. Mimisches Zeichen in den frühen Bühnenkompositionen Das eigentliche mimische Zeichen, das durch die Bewegung bzw. Veränderung des Gesichts vermittelt wird, ist in den Bühnenkompositionen selten zu finden. Stattdessen verwendete Kandinsky Farben als Masken, die den Charakter der Rolle festlegen. Die Eliminierung der Mimik ist in vielen Bühnenkünsten, die Körperbewegungen als Hauptmittel verwenden, üblich, um die Vermittlung des Körpers zu betonen, denn der Verzicht auf den kinetischen Ausdruck des Gesichts erhöht die Konzentration auf die Körperbewegung.177 Dagegen dient die Mimik einer Person vor allem dazu, die Emotion der Person auszudrücken. Da Kandinsky die emotionale Bedeutung der Bewegung entnehmen wollte, muss die Mimik ein Hindernis gewesen sein. Eine Gesichtsfarbe ist abstrakter als Mimik und verwehrt eine eindeutige Interpretation, so dass die »geheimnisvolle« Wirkung der Körperbewegung bewahrt wird. Ein mimisches Element, auf das Kandinsky ausnahmsweise hinwies, ist die Augenbewegung und -richtung. Ihre Bedeutung wird im Zusammenhang mit den Körperbildern in Kap. 4 interpretiert. Beispiel 1: Bühnenkomposition I Riesen, Bild II, [2a], ÜT, S. 58 »Dann erscheinen kleine undeutliche Figuren von rechts nach links, ziehen über den Hügel langsam nach vorwärts blickend.«178 Beispiel 2: Bühnenkomposition I Riesen, Bild II, 3, ÜT, S. 58 »Links ziemlich im Hintergrund macht einer etwas schnellere einfache Bewegungen mit Armen und Beinen. (Allmählich blicken alle auf ihn) Er setzt sich plötzlich, [...]. (Alle Köpfe strecken sich zu ihm.)« Beispiel 3: Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang, Bild I, 3–4, ÜT, S. 90/92 »Die 3 sitzenden Figuren stehen auf, stecken die Köpfe zueinander und gehen nach rechts ab. Von Zeit zu Zeit werfen sie Blicke zu verschiedenen Seiten.« Beispiel 4: Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang, Bild II, 7–8, ÜT, S. 94 »Weiter vorn 2 Buben (10) einer mit dem Rücken zum Zuschauer, den anderen anschauend, der blaß ist, große aufgerissene Augen hat und geradeaus schaut, die Hände an die Brust gepreßt.« Beispiel 5: Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang, Bild II, 10, ÜT, S. 94 »Sofort darauf geht ganz langsam ganz vorne eine ganz grüne Frauenfigur von rechts nach links immer auf die Zuschauer blickend. Ihr Gesicht ist sehr blaßgrünlich mit großen unbeweglichen dunklen Augen.«

177

178

Foster 1998, S. 29. »The face, normally the vehicle for a mute form of discursive exchange among dancers and between dancers and audience, was stilled by the mask. The absence of such highly specific information as the face would convey imparted a greater articulateness to the gestures of the limbs, the swaying of the torso, and the tiniest inclinations of the head.« Alle Unterstreichungen in Zitaten stammen von der Verfasserin.

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Beispiel 6: Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß, Bild IV, 7, ÜT, S. 106 »Die Gestalten stehen plötzlich auf und haben plötzlich weiß brennende Fackeln in der Hand. Sie entfernen sich hastig, sich immer umschauend.« Beispiel 7: Bühnenkomposition IV Schwarze Figur, Bild IV, 8, ÜT, S. 114 »Die rosa Menschen wenden sich mit Angst um, sehen die blauen Frauen und bleiben wie hypnotisiert auf sie schauend.« 3.3.3.2. Gestisches Zeichen Das Bewegungsvokabular des gestischen Zeichens in den frühen Bühnenkompositionen ist simpel und erzeugt selbst keine Bedeutung. In Über das Geistige in der Kunst wies Kandinsky darauf hin, dass die »tanzkünstlerische Bewegung« kein praktisches Ziel hat, so dass sie geheimnisvoll wirkt. Damit schlug er die Einführung eines Kontextbruchs zwischen der Bewegung und der alltäglichen Bedeutung vor. Die von Kandinsky gewählten gestischen Zeichen beruhen auf Gesten, die ursprünglich im Alltag zu sehen sind. Wenn sie dann in den Bühnenkompositionen ohne offensichtliche Handlung einzeln verwendet werden, werden sie zu abstrakten bewegten Formen und ermöglichen Mobilität auf der Bedeutungsebene.179 Kandinskys Verwendung der kontextlosen Gestik lässt sich auf das Bewegungsvokabular in der Malerei zurückführen. Wie in Kap. 3.3.2. erläutert, wird der narrative Inhalt in der Malerei durch eine Gestik bzw. Pose dargestellt. Eine Pose in der Malerei kann je nach dem Kontext, der eine bestimmte Szene behandelt, eine ganze Geschichte andeuten. Diese Funktion, durch die kleinste Gestik eine Geschichte zu erzählen, ist nur möglich, wenn die Episode bereits Popularität besitzt, wie die im Mythos oder in der Religion behandelten Themen. Wenn die gleiche Pose vom populären Kontext abgetrennt ist oder wenn der Betrachter die Geschichte nicht kennt, verliert sie ihren ursprünglichen Sinn und es entsteht zwischen der Pose und der Bedeutung eine Lücke. Kandinskys Absicht war vermutlich, diesen Bruch zwischen der Gestik und der Bedeutung willkürlich zu schaffen, so dass eine endgültige Interpretation nicht möglich ist und gleichzeitig die Möglichkeit für eine offene Deutung geschaffen wird. Für Kandinsky war die Mime im Ballett zu direkt und pantomimisch, vermutlich weil die Beziehung zwischen der Gestik und ihrer Bedeutung bereits vorhanden war und konkrete Bedeutung vermittelt werden konnte. Das gestische Zeichen in den Bühnenkompositionen erlaubt somit keine eindeutige Interpretation, sondern fordert vielseitige Deutung auf den verschiedenen Bedeutungsebenen. Die Körperlichkeit der Handelnden bestimmt, auf welcher Ebene das gestische Zeichen fungieren soll. Beispiel 1: Bühnenkomposition I Riesen, Bild I, [1a], ÜT, S. 56 »Die Riesen (hohe und tiefe Schultern) bewegen sehr langsam die Köpfe zueinander und seitwärts, machen einfache Armbewegungen.«

179

94

Siehe Kap. 3.3.2.

Beispiel 2: Bühnenkomposition I Riesen, Bild II, 3, ÜT, S. 58 »Links ziemlich im Hintergrund macht einer etwas schnellere einfache Bewegungen mit Armen und Beinen. (Allmählich blicken alle auf ihn) Er setzt sich plötzlich, später streckt [er] einen Arm aus und bewegt die Hand langsam in der Richtung zu seinem Kopf. (Alle Köpfe strecken sich zu ihm.) Seine Bewegung endet damit, daß er den Ellbogen auf das Knie stützt und den Kopf auf die flache Hand.« Beispiel 3: Bühnenkomposition I Riesen, Bild V, [4a]–5, ÜT, S. 60 »Er hebt seitwärts die beiden Arme und wächst dabei. Wenn er die Kreuzform erreicht hat (Handrücken oben) plötzliche Dunkelheit.« Beispiel 4: Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang, Bild I, 2–3, ÜT, S. 90 »Die Figur rechts dreht langsam den Kopf in der Richtung zu den 3 sitzenden Figuren und hebt langsam den linken Arm mit steifer Hand halb seitwärts (Handfläche nach oben).« Beispiel 5: Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß, Bild I, [1]-[2], ÜT, S. 102 »Links im Vordergrunde auf einem grauen Stein ein schwarz gekleideter Mensch hält beide Arme auf dem Schoß. Nach langer Zeit hebt er den linken Arm hoch in die Luft, gerade über den Kopf gestreckt, der rechte sinkt herunter.« Beispiel 6: Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß, Bild II, [2]–3, ÜT, S. 102 »[...] kommt von links schnell ein weißgekleideter junger Mann. Ziemlich nahe zu den anderen tretend, streckt er plötzlich den linken Arm aus, Handfleche nach oben und vorne, rechter Arm etwas nach hinten ausgestreckt.« Beispiel 7: Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß, Bild II, 3, ÜT, S. 104 »Sie heben die Arme mit etwas gebogenen Ellbogen und geradeausgestreckten Händen (Händerücken nach oben) bis zur Hüftenhöhe, Köpfe legen sich auf die Seite.« Beispiel 8: Bühnenkomposition IV Schwarze Figur, Bild II, S. 4 »›Dicht‹ hinter ihr geht eine sehr hohe schwarze Gestalt mit einem großen grünlichblaßen Kopf auf langem schmalen Hals. Sie streckt plötzlich den langen Arm aus (im schmalen Ärmel) und breitet ihn über die Sänfte.« Beispiel 9: Bühnenkomposition IV Schwarze Figur, Bild III, 4, ÜT, S. 112 »Hinten auf dem blauen Wasser fährt ein schwarzer Kahn, drauf gerade stehend die schwarze Figur, die wieder den Arm ausstreckt.« Beispiel 10: Bühnenkomposition IV Schwarze Figur, Bild IV, 7, ÜT, S. 114 »Von rechts erscheint auf den Fußspitzen gehend, mit horchendem Kopf und ausgestrecktem Finger vor dem Gesicht eine in’s blaue ganz umhüllte Figur mit weißem Gesicht. Sie bleibt bald stehen und winkt mit dem Finger.« 95

3.3.3.3. Proxemisches Zeichen Das proxemische Zeichen in den Bühnenkompositionen enthält keine tänzerischen Schritte und besteht aus simplen Bewegungen wie Fortgehen, Laufen usw. Dies ist eine praktische Anwendung der Theorie Kandinskys – eine ziellose einfache Bewegung hätte den eigentlichen Wert der Bewegung. Da kein Zielobjekt dieser Bewegung bekannt ist und solche Bewegungen meistens durch Gruppen dargestellt werden, fehlt es der Bewegung an einem konkreten Motiv. Folglich dient sie primär der Raum-Komposition, wobei dies auch je nach der Körperlichkeit der Darsteller auf unterschiedlichen Ebenen von einer Metapher des alltäglichen Motivs bis zum abstrakten Farbspiel variiert werden kann. In den frühen Bühnenkompositionen sind drei Grundstrukturen des proxemischen Zeichens zu beobachten: vor- oder rückwärts, horizontal (rechts oder links) und Konzentrierung oder Zerstreuung. Sie erinnern an Kandinskys Beschreibung der Farbeigenschaften in Über das Geistige in der Kunst. Er führte aus, wie eine Farbe verschiedene »Bewegungen« vermittelt, als ob die »Bewegung« die gegensätzlichen Eigenschaften der Farben veranschaulichen würde. Ähnlich wie beim gestischen Zeichen lehnt Kandinsky eine konkrete Verbindung zwischen dem proxemischen Zeichen und der Bedeutung ab. Stattdessen bietet er eine Mobilität der Bedeutungsebene je nach der Körperlichkeit. Vor-/rückwärtsbewegung Beispiel 1: Bühnenkomposition I Riesen, Bild I, [1a], ÜT, S. 56 »[...] die Riesen bewegen sich sehr langsam zur Rampe. [...] Je näher sie zur Vorderbühne kommen desto unklarer werden sie gemacht durch blaue Gasevorhänge.« Beispiel 2: Bühnenkomposition IV Schwarze Figur, Bild IV, 8, ÜT, S. 114 »Die blauen Frauen bewegen sich langsam nach vorne. [...] Die blauen Figuren gehen immer vorwärts und beugen sich jetzt etwas nach vorne.« Horizontalbewegung Beispiel 1: Bühnenkomposition I Riesen, Bild II, ÜT, S. 58 »Dann erscheinen von rechts nach links kleine undeutliche Figuren, die über den Hügel langsam ziehen nach vorwärts blickend.« Beispiel 2: Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang, Bild II, 6, ÜT, S. 92 »Die Menschen wollen in die Mitte der Bewegung dringen. Man sieht gehobene Arme, manchmal ›mit‹ geballter Faust. Der Haufen wird wie ein Schiff im Meer von Seite zu Seite der Bühne geworfen.« Beispiel 3: Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang, Bild II, 10, ÜT, S. 94 »Während diesem Gesang laufen rasend von links nach rechts über die Bühne hinter den Gruppen eine Anzahl ganz weißer Figuren mit weißen kaum erkennbaren Gesichtern.« Beispiel 4: Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß, Bild II, [2]–3, ÜT, S. 102 »Sehr bald von rechts nach links schwarz gekleidete Männer gehen langsam im Vordergrund über die Bühne, sich auf Stöcke (schwarze) stützend. Wenn ungefähr 10–12 96

vorbei sind, kleine Pause; dann Fortsetzung.[...] Von links nach rechts hinter den Männern gehen weißgekleidete Frauen. Nachdem 10–12 vorbei sind, Pause, weitere 6–8, [...].« Konzentrierung/Zerstreuung Beispiel 1: Bühnenkomposition I Riesen, Bild III, 4, ÜT, S. 58/60 »Starke Bewegungen zu einander, von einander, Lauf, Sprünge, auf den Boden fallen. Einzelne machen starke Bewegungen nur mit den Armen, andre mit Beinen, manche kombinieren sie. Hier und da sind es Gruppenbewegungen (wobei manchmal eine Bewegung von einer ganzen Gruppe gemacht wird)*. *In der Mitte bildet sich eine größere Gruppe von rot gekleideten Figuren. Sie bilden einen Kreis, mit den Gesichtern nach innen desselben.« Beispiel 2: Bühnenkomposition IV Schwarze Figur, Bild IV, 6, ÜT, S. 112 »Eine große Anzahl ganz in rosa gekleideter Männer u. Frauen laufen von rechts herein, sich an den Händen haltend. Sie [...] bilden ein Reigen und tanzen wild und lustig mit lebhaften Gesten, Sprüngen. Dann zerreißt sich der Kreis, die Menschen bilden 2 Gruppen, die einander nachlaufen, aufeinander zu tanzen. Schließlich ermattet, fallen sie beinah in Paaren (1 Mann und 1 Frau) in verschiedenen, aber gleichmäßig verteilten Gruppen auf der ganzen Bühne.« 3.3.3.4. Tanz Bei der vierten Kategorie des kinetischen Zeichens, »Tanz«, kann zwischen dem proxemischen und dem gestischen Zeichen nicht differenziert werden. In den Bühnenkompositionen betrifft dies die Bewegungen, die von Kandinsky »Tanz« bzw. »tanzen« genannt wurden. Solche Bewegungsreihen werden in den frühen Bühnenkompositionen meist durch eine Gruppe oder mehrere Gruppen durchgeführt. Die einzelnen Darsteller stellen dagegen ohne proxemisches Zeichen eine Kombination des gestischen Zeichens dar. Sonst gibt es keinen Hinweis auf Tanzstil und Schritte, und Sacharoffs choreographische Hinweise fehlen. Obwohl Kandinsky mit der zeitgenössischen Tanzreform, beispielsweise von Isadora Duncan, vertraut war, lehnte er die damals existierenden Tanzformen wie das Ballett und den neuen Tanz ab.180 Stattdessen wählte er eine ursprünglichere und simple Tanzform, nämlich den Reigen. In den Bühnenkompositionen I bis IV; in Riesen und in Schwarze Figur, gibt es zweimal »Tänze«, von denen einer ausdrücklich als »Reigen« und der andere als »Kreis« bezeichnet wird. Die Form des Reigens ist in fast allen Kulturen als ein festliches oder alltägliches Spiel zu finden.181 Laut Salmen können Reigen in dreifacher Weise ausgeführt werden: »a) als geschlossener Kreis (= ronde, chaîne fermée), b) als offener Kreis und c) als ausgezogene Reihe (= chaîne ouverte oder Kette)«.182 Der Reigen erscheint im 19. Jahr180 181

182

Siehe Kap. 3.1.1. Zum allgemeinen Reigen siehe Curt Sachs, Eine Weltgeschichte des Tanzes, [1.Aufl.1934], 1992 Hildesheim. Zur Reigen- sowie Gruppentanzvorstellung in der Malerei siehe Salmen 1988 und 1989. Salmen 1999, S. 139f.

97

hundert und Anfang des 20. Jahrhunderts häufig als ein beliebtes Motiv sowohl in der Bühnenkunst als auch in der bildenden Kunst und Literatur.183 Obwohl Kandinsky keine Anmerkung zum Reigen schrieb, muss er ihn absichtlich als eine Form, die eine wichtige Bedeutung vermittelt, gewählt haben, denn die gleiche Form wird einmal in Riesen durch Menschen in roten Trachten und nochmals in Schwarze Figur durch in rosa gekleidete Menschen aufgeführt. Sie haben eine gemeinsame Information. Allgemein und traditionell in den westlichen Kulturen wird ein Reigen mit dem Frühlingsfest verbunden, wie die Tanzdarstellung in Botticellis Frühling oder der Tanz um den Maibaum. Der Reigen stammt von ursprünglich-spielerischen Formen von Festlichkeit, und seine Bedeutung erstreckt sich vom Symbol des Rings oder des Rads bis zur vereinten Gesellschaft, zur Wiederkehr des Frühlings und zur kosmischen Weltdarstellung.184 Der Reigen erscheint auch in der vom Christentum geprägten bildenden Kunst, wie der Tanz um das goldene Kalb,185 der Tanz Davids186 und der Reigen im Paradiesgarten.187 Jedoch unterscheidet sich der erste Tanz von den letzteren beiden, denn der Tanz um das goldene Kalb behandelt die Idolatrie und verehrt, nach Kandinskys Worten, das »rein harte Materielle«. Kandinsky führt in Über das Geistige in der Kunst den Tanz um das goldene Kalb als Beispiel für die geistige Rückständigkeit an.188 Demnach komme der »unsichtbare Moses« vom Berge und bringe eine »neue Weisheit« zu den um das goldene Kalb tanzenden Menschen. Dabei ist Kandinskys Kriterium für die Bewertung des Tanzes zu beachten, d.h. ein Reigen um einen materiellen Gegenstand ist eine zurückgebliebene Form des Tanzes. Der Tanz Davids sowie der Tanz im Paradies stellen dagegen keinen materiellen gegenständ lichen Inhalt dar, sondern das Geistige. So könnte nachvollzogen werden, warum Kandinsky in den frühen Bühnenkompositionen zwei Reigen einführte, die nach der vorliegenden Studie als Tanz Davids und Tanz des Himmelreichs verstanden werden. Die Bedeutung des Reigens in den Bühnenkompositionen kann also auf verschiedenen Bedeutungsebenen von einem abstrakten Kreis bis zum Bibelmotiv reichen. Kandinsky wählte den Reigen als die spezielle Tanzform, die kulturell universell stattfindet, keine geometrische Farbkomposition darstellt und keinen Bezug auf eine alltägliche Emotion oder einen Ausdruck besitzt. Auch die Beliebtheit des Reigens in den bildenden Künsten um die Jahrhundertwende kann vermutlich ein Anlass gewesen sein. Beispiel 1: Bühnenkomposition I Riesen, Bild III, 4, ÜT, S. 58/60 [Erster Teil des Tanzes]

183 184 185 186 187 188

98

Über die Reigendarstellung in der Kunst des 20. Jahrhunderts siehe Fassbender 1994, S. 44 »Reigentanz« und S. 171 »Roman de la Rose.« Zur Entwicklung des Reigens vom Mittelalter bis zur Renaissance siehe Salmen 1999, S. 138ff. 2. Mose 32, 1–35. 2. Samuel 6, 1–23. Kein biblisch belegter Tanz. ÜGK, S. 33. Kandinsky schreibt, dass nicht die Massen, sondern der Künstler Moses Sprache zuerst versteht und dem Rufe folgt. Dabei ist Kandinskys Auffassung der künstlerischen Aufgabe ausgedrückt, d.h. die Idolatrie – Verehrung des Materiellen – zu vermeiden.

»In verschiedenen Punkten entsteht Tanz, der immer kräftiger wird und sich über die Umgebung ausgießt. Starke Bewegungen zu einander, von einander, Lauf, Sprünge, auf den Boden fallen. Einzelne machen starke Bewegungen nur mit den Armen, andre mit Beinen, manche kombinieren sie.« [Zweiter Teil des Tanzes] »Hier und da sind es Gruppenbewegungen (wobei manchmal eine Bewegung von einer ganzen Gruppe gemacht wird).* *In der Mitte bildet sich eine größere Gruppe von rot gekleideten Figuren. Sie bilden einen Kreis, mit den Gesichtern nach innen desselben. Sie stampfen mit den Füßen und singen im Takt eine monotone Melodie ohne Worte, die immer lauter klingt. Dabei stampfen sie auch mit den Füßen immer energischer. *Die anderen Menschen stellen sich rechts und links dazu, schließen sich der Melodie und dem Stampfen an.« [Dritter Teil des Tanzes] »Schließlich hastige Bewegungen in der ganzen Menschenmasse. Musik entsprechend. Im Moment der höchsten Bewegung plötzliche Dunkelheit und Stille.« Beispiel 2: Bühnenkomposition IV Schwarze Figur, Bild IV, 6, ÜT, S. 112 »Sie beten, ziehen einander an der Hand, küßen sich, werfen die Köpfe zurück wie von großem Glück überwältigt, bilden ein Reigen und tanzen wild und lustig mit lebhaften Gesten, Sprüngen. Dann zerreißt sich der Kreis, die Menschen bilden 2 Gruppen, die einander nachlaufen, aufeinander zu tanzen.« 3.3.3.5. Sonstige räumliche und zeitliche Faktoren der Bewegung Die Vergrößerung ist eine zeitlich-räumliche Änderung. Dies soll je nach der Körperlichkeit der Bewegungsträger betrachtet werden. Wenn der Vermittler der Bewegung sehr abstrakt aussieht und keinen materiellen Menschenkörper darzustellen scheint, bedeutet dies Verstärkung bzw. Erweiterung der metaphorischen Bedeutung. Wenn er aber von materiellem Charakter wäre, würde dieselbe Veränderung eine wachsende Natur oder Zauberei darstellen. Im unten gezeigten Beispiel unternimmt jedoch eine sehr abstrakte Figur die Vergrößerung, so dass dies metaphorisch verstanden werden soll, wie z.B. dass die Figur stärker bzw. bedeutender wird. Beispiel: Bühnenkomposition I Riesen, Bild V, [4a]–5, ÜT, S. 60 »In der Mitte der Bühne ein hellgelber Riese (weißes undeutliches Gesicht, große schwarze Augen). Er hebt seitwärts die beiden Arme und wächst dabei.« Der andere zeitliche Faktor, der aus dem malerischen Ausdruck zu stammen scheint, ist die Geschwindigkeit der Bewegung. Dies hängt mit der Körperlichkeit der weißen Figuren zusammen. Dass ihre Gesichter »kaum erkennbar« sind, zeigt ihre hohe geistige Stufe. Die Undeutlichkeit der Form wird durch die rasende Bewegung verstärkt bzw. inszeniert. Dies könnte als eine zeitliche Realisierung der malerischen Idee verstanden werden. 99

Beispiel: Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang, Bild II, 10, ÜT, S. 94 »Während diesem Gesang laufen rasend von links nach rechts über die Bühne hinter den Gruppen eine Anzahl ganz weißer Figuren mit weißen kaum erkennbaren Gesichtern.« 3.3.4. Das Zusammenwirken der Bewegung und der Körperlichkeit Der Bewegungsstil und seine Funktionsebene werden in den Bühnenkompositionen durch die Körperlichkeit des Darstellers bestimmt. Die Interpretation der Stücke soll daher durch die Analyse der Körperbilder und der Bewegung durchgeführt werden. Die folgende Tabelle bietet dazu einen Wegweiser. Körperlichkeit gegenständlicher

 

abstrakter

Kinetisches Zeichen Mimisches Zeichen

alltäglich Emotionsausdruck

   

Farben Augenrichtung

Gestisches Zeichen

alltäglich Ziel bekannt Gespräch begleitend

     

malerisch, stilisiert Ziel unbekannt nichtbegleitend

Proxemisches Zeichen

konkrete Form wie Prozession Ziel bekannt

 

Raumkomposition

 

Ziel unbekannt

alltäglich/feierlich

 

geometrische Form

Tanz

Tabelle 6: Das Zusammenwirken der Bewegung und der Körperlichkeit

100

4.

Analyse der frühen Bühnenkompositionen I bis IV

Im Folgenden wenden wir uns interpretierend den frühen Bühnenkompositionen sowie dem dazugehörigen Einakter Nachspiel zu. Kandinsky beabsichtigt explizit, »den äußeren Vorgang ( = Handlung) zu streichen«.1 Entsprechend wurde in den bisherigen Forschungsstudien die Existenz einer Handlung in den Bühnenkompositionen bezweifelt. Als Ersatz für die gestrichene Handlung suchte die vorliegende Studie in den ersten Kapiteln nach dem Darstellungsgesetz der Bühnenkompositionen, wonach Kandinskys Überlegung zum »monumentalen« Kunstwerk verwirklicht worden sein sollte. Die Bühnenkomposition ist für den Künstler das Monument für die ideale Welt, Religionen, Künste, Kulturen sowie Völker. Die Welt der frühen Bühnenkompositionen wird von Kandinskys »Weltgesetz« regiert. Die Körperbilder der Bewohner werden nach seiner Schöpfungsrichtlinie gestaltet, und ihre Körperlichkeit, die zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion angesiedelt ist, offenbart ihren geistigen Status. Mit Hilfe des dramaturgischen Schemas der Figuren2 sowie der semiotischen Untersuchung der körperlichen Zeichen3 wird in diesem Kapitel eine nahezu vollständige Analyse der Bühnenfiguren möglich. Kandinsky räumt den Bewohnern seiner Kunstwelt nur spärlichen Sprechtext ein und wählt stattdessen die Bewegung als ihr erstes Ausdrucksmittel.4 Die Bewegungssprache wird ebenfalls nach seinem Weltgesetz gebildet; die geistigen Bühnenfiguren weisen eine Gestik auf, die keine Verbindung zum alltäglichen Bedeutungssystem hat. Ihre Bewegungssprache wird durch Kandinskys Auseinandersetzung mit der Gestik in den bildenden Künsten entwickelt5 und basiert daher auf dem Zeichensystem der metaphysischen Bilderwelt. Bei der Stückanalyse können sich die Bewegungsabläufe je nach der Körperlichkeit der Bühnenfiguren auf ein Bedeutungssystem vom Alltag bis zur Metaebene beziehen, so dass Interpretationen vielseitig ausfallen.

4.1. Hinweise zur Interpretationsmethode Für die Deutungen der Motive werden folgende inhaltliche Bezugswerke herangezogen: christliche Ikonographie, Farbsymbolik, Literatur und Volkssagen.

1 2 3 4 5

EKK, S. 60. Siehe Kap. 2.2.1. Siehe Kap. 2.2.2. Siehe Kap. 3.2.1. Siehe Kap. 3.3.1. sowie Kap. 3.3.2.

101

4.1.1. Christliche Ikonographie und »Offenbarungen« Als wichtigste Methode der Interpretation wird in der vorliegenden Forschungsstudie die christliche Ikonographie als Hauptquelle vorgeschlagen, obwohl nicht nachzuweisen ist, inwieweit und auf welchen Wegen Kandinsky davon Kenntnisse erwarb. Kandinskys Besitz eines Nachschlagewerkes über die christliche Ikonographie ist nicht bekannt. Dennoch lassen die abstrakten Körperbilder in den frühen Bühnenkompositionen ihre ursprünglichen Vorbilder in den west- und ostkirchlichen Künsten erkennen, so dass davon auszugehen ist, dass Kandinsky sich in der christlichen Ikonographie auskannte und die abstrakten Bühnenfiguren daraus entwickelte. Bezug genommen wird in der Analyse auf das Lexikon der christlichen Ikonographie (Abkürzung LCI), in dem zu einzelnen Motiven Quellen, Typen der Darstellung sowie weitere Entwicklungen in den Ost- und Westkirchen bis zur Gegenwart ausführlich erläutert werden. Diesbezüglich wird in der vorliegenden Analyse auf die betreffenden Stellen im Alten und Neuen Testament hingewiesen und Kandinskys Auffassung der Motive besprochen. Dabei wird nicht nur die Darstellung in den Bühnenkompositionen, sondern auch Kandinskys Malerei zum Vergleich herangezogen. Außer der allgemeinen christlichen Ikonographie könnten die Ideen der »Offenbarung« einen Hinweis auf den tetralogischen Zusammenhang der vier frühen Bühnenwerke geben. In den vier Bühnenkompositionen einschließlich des Einakters Nachspiel existiert ein durchgehendes Thema, die »zweite Offenbarung«, das aus der russischen Religionsphilosophie stammt. Nach Kandinskys Auffassung gibt es drei Teilungen der geisteshistorischen Zeit, die Offenbarung des Vaters, des Sohnes und des Geistes.6 Die Offenbarung Gottes entspreche der Epoche des Alten Testaments, die Offenbarung Christi der des Neuen Testaments, und die Offenbarung des Geistes läge in der anbrechenden Gegenwart, die für Kandinsky den Beginn eines Kampfes für das Geistige durch die Künste bedeutet. Laut Claudia Emmert geht der Begriff auf die Wiederbelebung der religionsphilosophischen Idee des Abts Joachim von Fiore aus dem 12. Jahrhundert durch Dimitrij Mereschkowskij zurück.7 Mit Mereschkowskij war Kandinsky persönlich bekannt.8 Emmert behauptet, die einzige vollständig publizierte Bühnenkomposition Der gelbe Klang behandle den Beginn der von Kandinsky so genannten »Offenbarung des Geistes« bzw. »dritte Offenbarung«. Emmerts Begründung hierfür, dass nämlich vorrangig die Farbe Gelb nach Runges sowie Goethes Farblehre für die Trinität sowie für den Heiligen Geist stehe,9 ist nicht einwandfrei, denn Kandinsky bezeichnete Blau als die geistige Farbe und wählte für die Leitfigur seines Kampfs für das Geistige den blauen Reiter. Die vorliegende Studie versteht die »zweite Offenbarung« bzw. die »Offenbarung des Sohnes« als das Hauptthema der frühen Bühnenkompositionen. Laut Kandinsky wäre die »dritte Offenbarung« ohne die zweite nicht »denkbar«, wie auch die zweite

6 7 8 9

GSI, S. 45. Emmert 1998 S. 57ff. Hahl-Koch 1993, S. 29 und S. 402, Anm. 77. Emmert 1998, S. 57f.

102

ohne die erste nicht möglich wäre.10 Dementsprechend zeigt er in der Bühnenkomposition I Riesen Motive aus dem Alten Testament und schafft durch die Prophezeiung einen Übergang zur Erlösung Christi im Neuen Testament. Die Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang thematisiert anschließend die Verklärung Christi sowie die Vereinigung der Kirche und Synagoge. In der Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß wird der Kreuzzug als der weitere Kampf um die Religionen gezeigt, und die letzte Schwarze Figur behandelt das Jüngste Gericht sowie den Einzug ins Himmelreich. Am Ende findet die Erwählung des Künstlers als des neuen Kämpfers der »dritten Offenbarung« statt. Im Einakter Nachspiel wird der begonnene Kampf für das Geistige angedeutet. Die Tetralogie kann als eine Ouvertüre für die Eröffnung der neuen Epoche des Geistigen verstanden werden und könnte damit ein »monumentales« Kunstwerk darstellen. 4.1.2. Farbsymbolik In den bisherigen Forschungsstudien wurde Kandinskys Theorie der Farben in Über das Geistige in der Kunst als Grundsatz der Farbdeutung verstanden. Eine angewandte Interpretation, die über die primäre Bedeutung hinausgeht, wurde jedoch nicht gewagt. Wenn z.B. die Farbe Gelb von Kandinsky als »irdisch« bezeichnet wird, schrieben die Forscher den fünf gelben Riesen in Der gelbe Klang einen »irdischen« Charakter zu,11 ohne zu berücksichtigen, dass dieselbe Farbe in seiner Malerei wiederholt für die apokalyptische Trompete des Engels herangezogen wird. Dies zeigt, dass sich der Grundcharakter der Farbe in Kandinskys theoretischer Schrift nicht völlig mit der angewandten Farbsymbolik in seinen Künsten deckt. Es lässt sich daher vermuten, dass die Farbtheorie in Über das Geistige in der Kunst allgemeine Deutungsmöglichkeiten zeigt und Kandinskys Farbanwendung in seinen Werken im Zusammenhang mit dem dargestellten Objekt jeweils eine eigene Farbsymbolik bzw. Farbsprache bildet. Die frühen Bühnenkompositionen bieten durch mehrere Farb-Zusammenführungen in den Körperbildern sowie in den Gegenständen assoziative Deutungsmöglichkeiten. Im Folgenden werden die Farben im Zusammenhang mit ihren Erscheinungsformen betrachtet, wodurch ein Überblick darüber geschaffen wird, dass die in gleicher Farbe dargestellten Bühnenfiguren sowie Gegenstände in einer farbsymbolischen Verwandtschaft stehen und Kandinskys Weltanschauung durch Farben offenbaren. Die Identifikation der Figuren wird in der jeweiligen Stückanalyse erläutert. Gelb steht in Riesen für die Ankündigung der neuen Epoche. Die gelben Figuren sind fünf Riesen und ein hellgelber Riese. In Der gelbe Klang erscheint zusätzlich eine riesige gelbe Blume, und in einem Akt herrscht gelbes Licht. In der vorliegenden Interpretation wird gezeigt, dass die Bedeutung von Gelb in Kandinskys autobiographischen Schriften sowie in seiner Malerei konsequent die Funktion eines Boten, der Ankündigung sowie der Prophezeiung einnimmt und dies ebenso die gelben Darstellungen in den Bühnenkompositionen betrifft.

10 11

Ebd., S. 46. Siehe Kap. 4.2.1.

103

Blau wird für den blauen Vogel in Schwarz und Weiß, für die blauen Frauenfiguren in Schwarze Figur und für den großen blauen Mann mit einem roten Balken in Nachspiel verwendet. Nach der vorliegenden Interpretation steht der blaue Vogel für den Geist Mariä. Die blauen Frauenfiguren sind die gläubigen Brautjungfern. Der blaue Mann in Nachspiel ist der Künstler bzw. der blaue Reiter. Dahinter befindet sich der blaue Berg, der als Thron Gottes dargestellt wird. Somit steht Blau insgesamt für das Geistige. Grün wird als Einheit von Gelb und Blau, Doppelklang von Irdischem und Himmlischem verwendet. Eine bedeutende Erscheinung von Grün bilden zwei Frauenfiguren, die ganz in Grün verschleiert in Stimmen oder Grüner Klang auftreten. Da sie Ecclesia und Synagoge darstellen könnten, steht Grün für die zwei Jerusalems, das irdische und das himmlische. Die Märtyrer in Riesen, die Apostel im ersten Bild von Stimmen oder Grüner Klang haben grüne Gesichter und die Gläubigen im vierten Bild von Schwarz und Weiß werden in Graugrün dargestellt. So wird Grün einerseits für die Stadt verwendet, die zwischen dem Irdischen und Himmlischen liegt, und andererseits verkörpert die Farbe die menschlichen Körper, bei denen das Irdische und das Himmlische durch den Glauben vereint ist; wie Kandinsky schreibt, steht Grün für den »geistig gelöschten I. Gegensatz [Blau und Gelb].«12 Grün besitzt eine parallele Funktion zu Grau, denn das erste Volk im dritten Bild von Riesen wird nach dem Abbild Gottes grau dargestellt. Grau steht für die Einheit von A und O, kennt keine Trennung von Leben und Tod. Dies ähnelt der Eigenschaft der grünen Märtyrer im zweiten Bild von Riesen, bei denen der Unterschied des Lebens und Todes durch den Glauben überwunden ist. Schwarz steht für ein nichtmaterielles Wesen in der materiellen Welt und gleichzeitig für das Ende sowie den Tod. In den vier frühen Bühnenkompositionen werden das Jesuskind sowie Christus als Erlösung bringende Gestalt in Schwarz dargestellt. Benutzt wird Schwarz für den weißbärtigen, schwarzen Mann und den schwarzen Jüngling im vierten Bild von Riesen, für die stehende, schwarz gekleidete Figur im ersten Bild von Stimmen oder Grüner Klang, für die schwarze, sitzende Figur im ersten Bild von Schwarz und Weiß, für einen Berg und einen schwarz gekleideten Menschen im zweiten Bild von Schwarz und Weiß sowie für die schwarze Gestalt vom zweiten bis fünften Bild in Schwarze Figur. Diese Anwendung von Schwarz bezieht sich stark auf die theologische Rechtfertigung der Ikone, dass die Ikone Christi kein Abbild sei, sondern den Schatten seines anwesenden Körpers zeige. Schwarz steht somit nicht für einen negativen Sinn, sondern für eine nichtmaterielle Eigenschaft, die wiederum als Todesdarstellung abgeleitet werden kann. In Schwarz und Weiß wird das Gegensatzpaar von Orient und Okzident, Tod und Leben sowie Anfang und Ende thematisiert, wobei am Schluss die Vereinigung durch Grau steht. Weiß wird für die kleinen Blumen im zweiten Bild von Riesen, für weiße, undeutliche Figuren im zweiten Bild von Stimmen oder Grüner Klang, für die weiße, riesige Figur, den weißgekleideten, jungen Mann und die weißgekleideten Frauen im dritten Bild von Schwarz und Weiß sowie für das weiß gekleidete Paar im zweiten Bild von

12

ÜGK, S. 97.

104

Schwarze Figur benutzt. Weiß wird als Gegensatz zu Schwarz, sowie zum Tod, d.h. als Zeichen des Lebens, verwendet. Beim Kreuzzugsmotiv in Schwarz und Weiß wird Weiß für Christen benutzt, während Schwarz den Heiden zugeschrieben wird, so dass Weiß für Okzident und Schwarz für Orient stehen könnte. In der Weise, wie Schwarz für die Darstellung Christi benutzt wird, setzt sich Kandinsky von der traditionellen Farbsymbolik Schwarz und Weiß, im Sinne von Böse und Gut, ab. Die beiden Farben werden auch hier in Grau vereint. Grau steht für die Einheit der zwei Pole Weiß und Schwarz und gleicht der Einheit von Leben und Tod sowie A und O. Benutzt wird Grau für die erste Menschengruppe in Riesen. Der Erste Mensch soll nach dem Vorbild Gottes – Allmacht von A und O – geschaffen werden. Ein graues Licht erscheint im dritten Bild von Schwarz und Weiß, als die weiße, riesige Figur auf dem an eine Bahre erinnernden Schwarzen Felsen liegt. Dabei wird die Vereinigung von Schwarz und Weiß – Inbegriff von Orient und Okzident – als Lied besungen, so dass das graue Licht für Versöhnung steht. Grau wird auch für die Szene des Jüngsten Gerichts im ersten Bild von Schwarze Figur verwendet, weil dies den apokalyptischen Zustand, in dem es zwischen Leben und Tod keinen Unterschied mehr gibt, verkörpert. Rot und Rosa stehen in einer analogen Beziehung. Sie sind die Farben für die Bewohner des irdischen und himmlischen Jerusalems, denn die in rote Tracht gekleideten Menschen im dritten Bild von Riesen und die rosa gekleideten Menschen im vierten Bild von Schwarze Figur tanzen im Reigen, der bei der Gründung Israels im irdischen Jerusalem und im Himmelreich bzw. im himmlischen Jerusalem getanzt wird. Schließlich steigen in Nachspiel die in Rot gekleideten Figuren und die in Rosa gekleideten Figuren zusammen den Hügel hinauf, so dass die Vereinigung der Erde und des Himmels betont wird. Geht man davon aus, dass die aufgehende grellrote Sonne in Nachspiel die Besteigung des Throns Gottes, nach der Offenbarung des Johannes, symbolisiert, könnte Rot auch für »Vater« bzw. Gott stehen. Dies erklärt Kandinskys Farbsymbolik für die Trinität, Rot für den Vater, Gelb für den Sohn und Blau für das Geistige, und damit verkörpert die Trias die drei Offenbarungen. 4.1.3. Volkssage In den frühen Bühnenkompositionen erscheinen Motive, die auf Kandinskys ethnographische Kenntnisse hindeuten. Die gelbe Blume in Der gelbe Klang ähnelt Malva Alcea, einer Pflanze, die seit dem Mittelalter in Mitteleuropa wegen ihrer Heilskraft »Simeonskraut« genannt wird. Im fünften Bild von Schwarze Figur erscheinen weitere Naturwesen wie Tanne, Erdbeere sowie Kuckuck. In der vorliegenden Interpretation werden die genannten Objekte nach den europäischen Volkssagen gedeutet. Nachgeschlagen wird Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 1987 (Abkürzung als HDA). Ebenfalls werden Kandinskys eigene Schriften bezüglich seiner ethnographischen Forschungen als Primärtext verwendet.

105

4.1.4. Literatur Kandinsky griff für das »monumentale« Kunstwerk nicht nur zurück auf Musik, Malerei und Tanz, aus denen er die drei Hauptelemente für die Bühnenkompositionen wählte. Wie der Gesang im zweiten Bild von Riesen lautet, müssen auch die Blumen der »Dichtung« in einem »Kranz« gesammelt werden. In den frühen Bühnenkompositionen gibt es Motive, die sich auf literarische Werke, etwa von Johann Wolfgang von Goethe, von Torquato Tasso (1544–1595) oder von Heinrich Sienkiewicz (1846–1916), beziehen könnten. Solche Werke werden in der Analyse benutzt, soweit eine inhaltliche Verwandtschaft vermutet wird.13 Genannt werden auch Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre, Wilhelm Meisters Wanderjahre und andere seiner Werke, Tassos Das befreite Jerusalem und Sienkiewicz’ Quo Vadis?. Goethes Worte, dass die Malerei ihren »Generalbass«14 erhalten muss, bezeichnete Kandinsky als »prophetische Äußerung Goethes«.15 Laut Barbara Hentschel fand Kandinsky in Goethes naturwissenschaftlichen Schriften eine »Fundierung und Legitimierung« für die abstrakte Kunst.16 Auch die »sprachlichen Gemeinsamkeiten sowie ähnliche Metaphern berührende Parallelen der Goetheschen Naturwissenschaft mit Über das Geistige in der Kunst« lassen eine direkte Goethe-Kenntnis Kandinskys vermuten.17 Dennoch wurde in den bisherigen Forschungsstudien ein möglicher Bezug von Kandinskys Kunst zum literarischen Werk Goethes nicht vorgetragen.18 In der vorliegenden Studie lässt sich zeigen, dass Kandinsky in den frühen Bühnenkompositionen einige Motive bzw. Ideen als Hommage an Goethes literarische Werke gewählt und gestaltet haben könnte. Die Übernahme der Motive findet freilich auf indirekte Weise statt wie eine heimliche persönliche Antwort sowie Verehrung der Kunst Goethes.19 Torquato Tassos literarisches Werk Das befreite Jerusalem könnte Kandinsky über Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre oder Torquato Tasso – Ein Schauspiel zur Kenntnis genommen haben. Die Liebe zwischen Tankredi und Clorinda, dem Held der Christen und der Heldin der Heiden, inmitten des Kampfes im Kreuzzug in Das befreite Jerusalem begeistert den jungen Wilhelm Meister, so dass er sein erstes Theaterstück dem Thema Tasso widmete. Das befreite Jerusalem muss auch Kandinsky gelesen haben, denn Schwarz und Weiß zeigt mindestens zwei Motive, die auf eine Episode des Werkes anspielen: die verschwundene Ikone Mariä vom heidnischen Altar20 und der 13

14 15 16 17 18

19 20

Der Literaturbestand aus dem Nachlass von Gabriele Münter in der Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung wurde berücksichtigt. Das Verzeichnis von Kandinskys persönlicher Bibliothek, die in seinem Nachlass beim Centre Georges Pompidou (Paris) besteht, war zur Forschungszeit der Verfasserin nicht zugänglich, so dass Kandinskys Besitz der Werke nicht nachzuweisen war. Gespräch mit Friedrich Riemer vom 19.5.1807. In: Goethes Gespräche, 1969, B.2, S. 223. ÜGK, S. 66. Auch siehe S. 85. Hentschel 2000, S. 115. Hentschel 2000, S. 117. Außer Kandinskys zwei Gemälden »Landschaft mit Regenbogen« und »Ariel-Szene aus Faust II«, die sich nach Konrad Roethel auf Goethes Faust II beziehen sollen. WVZÖ, S. 192. Siehe Kap. 4.2.2., Kap. 4.2.3. sowie Kap. 4.5.5. Siehe Kap. 4.4.1.

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Kampf zwischen dem jungen christlichen Helden Rinaldo und der heidnischen Nichte des Königs, Armida, die Zauberkraft besitzt.21 Diese Bezüge werden in der Analyse von Schwarz und Weiß ausgeführt. Das dritte literarische Werk, von dem Kandinsky eine Inspiration zu den frühen Bühnenkompositionen bekommen haben könnte, ist Heinrich Sienkiewicz’ Quo Vadis?. Im Literaturbestand aus dem Nachlass von Gabriele Münter ist Sienkiewicz’ historischer Roman Ohne Dogma22 vorhanden. Das Erscheinungsjahr der deutschen Ausgabe ist 1903. In den Jahren 1895 und 1896 schrieb der Autor den historischen Roman Quo Vadis?, dessen gebundene Ausgabe 1896 erschien. Mit diesem Werk wurde der Autor sogleich als Mitglied der kaiserlichen Petersburger Akademie der Wissenschaften empfohlen. Der Roman wurde in 30 Sprachen übersetzt, und 1905 gewann Sienkiewicz den Nobelpreis für Literatur. Da der Literaturbestand von Kandinskys Pariser Nachlass während meiner Forschungszeit nicht zugänglich war, war nicht nachzuweisen, ob Kandinsky Sienkiewicz’ populärsten Roman Quo Vadis? besaß. Trotzdem ist wahrscheinlich, dass Kandinsky die Werke Sienkiewicz’ zur Kenntnis nahm, wenn seine damalige Lebensgefährtin Gabriele Münter eine deutsche Ausgabe von einem seiner Werke besaß. Kandinsky erwähnt den Namen des Schriftstellers in Über das Geistige in der Kunst und zitiert23 aus einem der Romane Sienkiewicz’, dessen Titel nicht genannt wird. Ein inhaltlicher Einfluss der Literatur Sienkiewicz’ bleibt hypothetisch, jedoch könnten die allgemeinen Motive des Märtyrertums sowie die Verfolgung der Christen im Römischen Reich in Quo Vadis? Anregung zu einigen Motiven der frühen Bühnenkompositionen gegeben haben. Die graugrünen Bühnenfiguren in den frühen Bühnenkompositionen, die in der vorliegenden Interpretation als Märtyrer24 sowie Gläubige verstanden werden, haben ähnliche gestische Merkmale – auf den Himmel gerichtete Augen und hastiges Entfernen nach der Versammlung – wie die verfolgten Christen in Quo Vadis?. Wegen des inhaltlichen Zusammenhangs der Szenen ist eine Inspiration durch christliche Literatur wie Quo Vadis? denkbar.

4.2. Bühnenkomposition I Riesen und Vergleich zu Der gelbe Klang – Eine Bühnenkomposition Riesen wurde in der Zeit vom Herbst 1908 bis zum Winter 1909 zunächst als zweites Stück der Bühnenkomposition geschrieben. Später wurde das Stück als das erste nummeriert. Daraus entstand noch später Der gelbe Klang,25 eine überarbeitete und erweiterte Bühnenkomposition, die nicht nummeriert und 1912 im Almanach Der Blaue Reiter publiziert

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Siehe Kap. 4.4.2. Der Roman wurde von 1889 bis 1990 in einer Tageszeitung in Warschau veröffentlicht. ÜGK, S. 31. »Sienkiewicz vergleicht in einem seiner Romane das geistige Leben mit Schwimmen: wer nicht unermüdlich arbeitet und mit dem Sinken fortwährend kämpft, der geht unfehlbar unter.« Siehe Kap. 4.2.2. und Kap. 4.4.4. Uraufführung von Der gelbe Klang 1975 in der Abbaye de la Saint Baume in der Provence, dann 1982 in New York und 1987 in Bern.

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wurde. Da Riesen zu Lebzeiten des Künstlers weder aufgeführt26 noch veröffentlicht wurde, ist das Stück in der Forschung wenig beachtet worden. Dagegen genoss das später daraus entwickelte Stück Der gelbe Klang stets große Aufmerksamkeit, und seine abstrakte Szenengestaltung wurde hervorgehoben. Leider bieten die bisherigen Studien über Der gelbe Klang noch keine eingehende Interpretation, denn viele Motive wurden von ihrer ursprünglichen Funktion in Riesen abgelöst, so dass die ursprünglichen inhaltlichen Zusammenhänge unbeachtet blieben. In der früheren Fassung Riesen lassen sich jedoch noch die ursprünglichen Formen erkennen. Riesen und Der gelbe Klang unterscheiden sich in ihren Gliederungen. Das erste Stück besteht aus fünf Bildern, das letzte aus sechs Bildern mit einer Einleitung. Inhaltlich entspricht das 3. Bild von Riesen dem 5. Bild von Der gelbe Klang, in dem ein neues Bild als Nr. 3 entworfen wurde. Die anderen vier Bilder sind identisch. Diese Entwicklung führt Susan A. Stein auf die Unreife von Riesen zurück27 und Claudia Emmert auf den Einfluss »neuer formaler Erkenntnisse«.28 Thomas Schober wies darauf hin, dass sich Kandinskys Bühnentheorie zwischen den Entstehungsjahren der beiden Stücke mehr auf Abstraktion richtet und die frühen Entwürfe den Anforderungen der theoretischen Schrift »Über Bühnenkomposition« (1911) nicht entsprechen.29 Da es bislang keine ausführliche Analyse von Riesen gibt, sind die bisherigen Interpretationsversuche von Der gelbe Klang insofern als vorläufige Forschungsarbeiten zu berücksichtigen. Bis in die 1980er Jahre wurde Der gelbe Klang als »abstraktes Spiel« bezeichnet30 und die Farbtheorie als einzig mögliche Deutungsmethode genannt.31 Richard W. Sheppard bezog sich darauf, dass jedes Bild von Der gelbe Klang mit Dunkelheit endet, und deutete das gesamte Stück als eine pessimistische Auffassung der menschlichen Existenz.32 Robert Richard Pevitts unternahm eine ikonographische Analyse anhand von Kandinskys Farbdeutung, bezog sich jedoch auf seine eigenen, willkürlichen Vorstellungen der Formen, was sich z.B. in der Deutung der gelben Blume als ein Symbol für die »physisch-sexuelle Welt« zeigt. Diese war wiederum mit dem gelben, kreuzförmigen Riesen, der durch seine Form als Erlösungsmotiv erkennbar ist, nicht zu vereinbaren, obwohl die beiden gleicherweise auf dem Hügel wachsen und semantisch gemeinsame Eigenschaften wie Farbe und Größe besitzen. So erklärte Pevitts, ohne dabei den Bezug der beiden gelben Symbole zu klären, das Thema des Stücks als »spiritual salvation«.33 In der Forschungsphase der 1980er Jahre wurden die unveröffentlichten Manuskripte der frühen Bühnenkompositionen im Nachlass entdeckt, mit der Folge, dass die Entstehungszeit der Bühnenkomposition von 1911/12 auf 1908/09 revidiert wurde. Dies

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Riesen wurde im Juli 1987 durch ein Theaterprojekt der Hochschule für Künste Berlin und Akademie der Künste Berlin uraufgeführt. Stein 1983, S. 63. Emmert 1998, S. 80ff. Sie hält den Einfluss von Steiners Vortragszyklus über die Schöpfungsgeschichte (vom 16. bis 26. August 1910 in München) für die entscheidende Motivation der Überarbeitung. Schober 1994, S. 140. Schreyer 1956, S. 22. Denkler 1967, S. 33. Sheppard 1975a, S. 170. Pevitts 1980, S. 74.

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führte zu einer verstärkten Betrachtung der Verbindung der Stücke mit Kandinskys Hinterglasmalerei um 1910, die wiederholt christlich-religiöse Themen behandelt. Susan Alyson Stein wies auf Kandinskys starkes Interesse an apokalyptischen und eschatologischen Themen in seiner Malerei von 1910 bis 1914 hin, und betrachtete die drei Farben – Gelb in Riesen, Grün in Stimmen oder Grüner Klang und Blau in Schwarz und Weiß – in einem trilogischen Zusammenhang.34 Danach wurde die Existenz des Manuskripts von Schwarze Figur in Kandinskys Pariser Nachlass bekannt, so dass die Möglichkeit entstand, von einer Tetralogie auszugehen. Jessica Boissels Verständnis der Bühnenkompositionen, wonach Kandinskys Ziel darin liegt, durch das »Welttheater mit kosmischem und religiösem Beiklang den Erlösungswunsch sowie den Glauben an die Allmacht der Kunst«35 auszudrücken, stimmt mit der Deutung in der vorliegenden Arbeit überein. Boissel selbst begrenzte die Akteure des Stückes auf die Farben und sah in der Isolation des einzelnen Mittels auf der Bühne eine mögliche Analysemethode,36 ging jedoch in ihrer Deutung nicht weiter. Ihre Einschätzung des zu Lebzeiten des Künstlers nicht veröffentlichten und undatierten (vermutlich 1908/09) Manuskripts Chronik, das schließlich 1998 publiziert wurde, kann durch die hier präsentierte Deutung allerdings bestätigt werden. Weitere Deutungsversuche wurden in den späten 1980er Jahre unternommen, doch waren diese durch die Negierung kausaler Beziehungen und logischer Handlungsführung in den Werken geprägt und blieben offen und willkürlich. Peter Weitzner, der Regisseur des Aufführungsprojektes der Bühnenkompositionen I, II und III,37 sah in Riesen die Sehnsucht nach der Befreiung des Körpers und führte für die Realisation des Stücks einen Geist »des Blauen Reiters« ein, der, von der Romantik stammend, die Künste der ganzen Welt und aller Epochen veranschaulicht. Als Vorlage für die Riesen und den Riesentanz übernahm er die Kunst der Papua.38 Obwohl Weitzner die einzelnen Bühnengeschehnisse nicht entschlüsselte, kann seine eigene Auffassung der Motive, die in den Bühnenkompositionen thematisiert worden seien,39 als eine erweiterte freie Interpretation verstanden werden. Peter Simhandl bezeichnete den Grundcharakter der Bühnenkompositionen als moderne Mysterienspiele und verstand die Aussage von Der gelbe Klang, die Auffassung von Peg Weiß zitierend, als »universales Thema der Auferstehung in einer kranken Gesellschaft«.40 Dabei hielt er jedoch nur das Ausgehen von der Farbtheorie Kandinskys für eine gültige Analysemethode.41

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Stein 1983, S. 64. Boissel 1986, S. 249. Ebd., S. 247. Siehe Aufführungskatalog Echo – Kandinsky – Echo (1987). Die Universität für Künste Berlin und die Akademie der Künste Berlin arbeiteten zusammen für die Uraufführung von Riesen, Grüner Klang und Schwarz und weiß. Weitzner 1987, S. 20. Ebd., S. 21. »Die Realität wird zum Ersatzmythos. Es entstehen Scheinwelten und die authentische Welt wird Phantom. Die Stofflichkeit der Dinge wird unsinnlich und dadurch unsichtbar (richtiger: nicht mehr wahrnehmbar). Der Mensch wird zu seinem eigenen Schatten. / Unser Gegner ist der ins Leben transformierte Tod. Dagegen muß der Tod als Lehrer des Lebens gesetzt werden.« Weiss 1982, S. 76, zitiert nach Simhandl 1987, S. 26. Simhandl 1987, S. 25.

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Jutta Göricke lieferte eine weitere Wendung für die Deutung von Der gelbe Klang auf der abstrakten Ebene und erfasste das Hauptthema als den Konflikt zwischen geistigen und irdischen Kräften, die Problematik der Conditio humana und die Hoffnung auf die Erlösung. Jedoch stimmt Görickes Verständnis der Schlussszene, die sie, wie Richard W. Sheppard, als hoffnungsloses Ende, d.h. den »Tod der Hoffnung«,42 las, mit der Deutung der vorliegenden Arbeit nicht überein. Nach Görickes Perspektive hätten die Figuren nur als »Hüllen farbiger Kräfte« ihren Wert, dramatische Charaktere würden nicht existieren, womit nur die architektonische Struktur als eine farbige Fuge bliebe. Eine Entschlüsselung der Farb- und Formmotive wurde nicht entwickelt. Von den 1990er Jahren bis heute wagten sich die Forscher immer noch nicht an die inhaltlichen Zusammenhänge der Motive. Zwar wurde die Deutung allmählich auf religiöse Themen erweitert, jedoch bestand man teilweise auf der Abstraktion oder blieb bei einer willkürlichen Deutung. Laut Ulrika-Maria Eller-Rüter entziehe Kandinskys »Neigung zum Versteckten und Rätselhaften«43 den Bühnenkompositionen ihren äußeren Zusammenhang der Elemente, so dass nur allgemeine Themen wie »Kampf, Überwindung, Entstehen, Vergehen, Untergang und Schöpfung« als tatsächliche Motive deduziert werden könnten.44 Farben, Klänge, Sprache und Gebärden werden, so EllerRüter, durch synästhetische Konsonanzen und Dissonanzen durchgespielt. Schober sah dagegen in den ersten drei Bühnenkompositionen einen Zusammenhang im Kontext apokalyptischer Vorstellungen sowie in der Kreuzigung des Riesen einen Vorgang der Erlösung.45 Bedeutend ist, dass Schober der bisherigen Tendenz, die Kreuzigungsszene des Riesen als tragisches Ende zu betrachten, entgegentrat.46 Obwohl seine Sicht dem Inhalt nahe kam, ergaben sich keine weiteren Entschlüsselungen der Motive und von deren Zusammenhängen. So hielt er eine eindeutige Interpretation nach Homogenität und kausal-logischer Beziehung gar für gefährlich und ließ sie offen. Claudia Emmert ist die Einzige, die in ihrer Studie die Existenz der Handlungen in den Bühnenkompositionen als gegeben betrachtete. Sie wies auf die Entwicklung von Riesen zu Der gelbe Klang hin und stellte eine wichtige Veränderung des Themas fest. Sie deutete das ursprüngliche Thema von Riesen als Aufgabe der Kunst und das Thema von Der gelbe Klang als Schöpfungsgeschichte, die vom Sündenfall bis zur Erlösung Christi frei zusammengefasst ist.47 Ihr Augenmerk auf Steiners Vortragsreihe48 über die Schöpfung

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Göricke 1987, S. 124 sowie S. 129. GSI, S. 37, zitiert nach Eller-Rüter 1990, S. 70. Eller-Rüter 1990, S. 81. Schober 1993, S. 145. Zur positiven Entschlüsselung von Der gelbe Klang zählen Schreyer 1948 und Denkler 1967, zur negativen Sheppard 1975a und Göricke 1987. Emmert 1998, S. 86. Ebd., S. 85. Laut Claudia Emmert hatte Kandinsky durch seine ehemalige Schülerin Emy Dresler die Möglichkeit diesen Veranstaltungen beizuwohnen. Das Vortragsskript wurde 1911 veröffentlicht und Kandinsky bekam es. »Zwar gibt es keine unumstößlichen Beweise, daß Kandinsky tatsächlich diesen Aufsatz gelesen hat. Doch da er sich als religiöser Mensch intensiv mit den Themen Schöpfung, Entwicklung, Erlösung sowie dem christlich-missionarischen Auftrag des Künstlers befasst hat, müssen ihn die Gedanken Steiners über die Schöpfung besonders interessiert haben.«

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und deren möglichen Einfluss auf die Überarbeitung von Riesen ist zwar verdienstvoll, doch lehnt sie sich sehr an Steiners Interpretation der Schöpfung an und vernachlässigt die in Riesen bereits existierenden Charaktere. Ihre Deutung der Figuren kann daher in der vorliegenden Arbeit nicht bestätigt werden. Seit Emmerts Arbeit ist in der Forschungsliteratur kein weiterer inhaltlicher Deutungsversuch unternommen worden.49 Als Methode wird hier der Zugang über die christliche Ikonographie vorgeschlagen. Motive wie Landschaft, Lebewesen, Gesten und Farben enthalten Indizien in Form von ikonographischen Merkmalen, die sowohl in den westkirchlichen als auch den ostkirchlichen Künsten entwickelt wurden. Diese Quelle wurde in den bisherigen Studien zu den Bühnenkompositionen völlig vernachlässigt, weil Kandinsky in den Entstehungsjahren der frühen Bühnenwerke keine Gemälde mit christlicher Ikonographie malte. Jedoch gibt es Studien, die nachweisen, dass Kandinsky bereits in seinen früheren romantischen Gemälden die Strukturelemente der Ikone übernahm.50 Ein Jahr später, 1910, erschien Hinterglasmalerei mit christlichen Themen wie »Allerheiligen I« (Abb. 3). So ist zu vermuten, dass Kandinsky in der Entstehungszeit der frühen Bühnenkompositionen bereits mit der christlichen Ikonographie vertraut war. In der vorliegenden Analyse wird gezeigt, dass Kandinsky in vier frühen Bühnenwerken viele Heilige auftreten ließ, die in der oben genannten Hinterglasmalerei zu sehen sind. Die Frage, worin Kandinskys Motivation zur Überarbeitung der Bühnenkomposition I Riesen (1908/09) in ein selbständiges Werk Der gelbe Klang – Eine Bühnenkomposition (1912) lag, ist ein wichtiger Punkt, der durch einen Vergleich der beiden Werke erklärt werden soll. Susan Alyson Stein machte zwar bereits in ihrer oben erwähnten Studie eine kurze Aussage zum Wandel von Riesen in Der gelbe Klang: Die Überarbeitung der Erstfassung sei durch die Veränderung des psychologischen Zustands Kandinskys zwischen 1909 und 1910 bedingt und der Begegnung mit Maeterlinck und Schönberg zu verdanken.51 Dabei fehlte es aber an inhaltlichen Erläuterungen, die den positiven Stimmungswechsel mit Beispielen belegen sollten, so dass diese Hypothese nicht weiter verfolgt wurde. Thomas Schober, der das Thema von Der gelbe Klang als positives Ende betrachtete, stimmte Steins Bemerkungen über den Stilwechsel zu und wies auf die Lücke hin, die in den Theorien zwischen den frühen Bühnenkompositionen und Der gelbe Klang besteht, führte jedoch keine vergleichende Analyse durch. Claudia Emmert nannte Steiners Einfluss den einzig möglichen Anlass der Überarbeitung von Riesen zu Der gelbe Klang, jedoch wurden die ursprünglichen Motive und das Thema von Riesen teilweise innerhalb des Einflusses Steiners besprochen, so dass ihre ursprüngliche Bedeutung missverstanden wurde. Was eigentlich der »gelbe Klang« im Titel bedeutet, bleibt unerklärt, denn viele verstehen unter dem »Klang« ein proklamierendes Stichwort der Abstraktion, welches keine konkrete Bedeutung liefere. Die Verwandlung des Titels »Riesen« in »Der gelbe Klang« muss dem inhaltlichen Wandel und der Absicht Kandinskys entsprechen. In den weiteren Unterkapiteln wird

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Kamans Forschung 2003 blieb wieder in der abstrakten Sicht. Siehe Smolik 1992, Illetschko 1997 sowie Mazur-Keblowski 2000. Kandinsky nannte Maeterlinck und Schönberg in seiner Ende 1910 veröffentlichten Publikation Über das Geistige in der Kunst »Propheten« der Künste und empfand ihre Erscheinung als Vorzeichen eines Beginns der geistigen Epoche.

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nun gezeigt, dass es sich um die Prophezeiung der Erlösung handelt. Dabei ist Kandinskys Verständnis des Alten Testaments und des Neuen Testaments mit Kunstepochen vergleichbar dargestellt. Er schreibt in Rückblicke (1913), dass die neue Epoche ohne die alte nicht existiert. In Riesen sagen fünf Propheten des Alten Testaments die Erlösung voraus (Bild 1). Während die Juden unterdrückt waren, gab ihnen die Erwartung des Messias eine Hoffnung (Bild 2). Bevor der Messias geboren wird, muss noch der Stamm Davids gegründet werden. Als David mit der Bundeslade in die Stadt Jerusalem einmarschiert, tanzt er. Es folgt dann ein Reigen zur Feier (Bild 3). Davids Gründung des israelischen Staats wird nach der Auffassung der christlichen Religion als Schaffen des »irdischen Jerusalems« im Vergleich mit dem himmlischen Jerusalem betrachtet, so dass die beiden Themen ikonographisch dasselbe Motiv des Reigens besitzen. Daher steht das dritte Bild der ersten Bühnenkomposition zum vierten Bild der Bühnenkomposition IV Schwarze Figur in einem Kontrast, in dem nach der vorliegenden Interpretation ein Reigen des himmlischen Jerusalems getanzt wird. Die Erwartung des Messias wird jedoch erst durch den Greis Simeon, der noch zum alttestamentarischen Judentum gehört und trotz seines Alters auf das Kommen des Messias wartet, ins Neue Testament weitergeleitet: Er entdeckt in einem Kind, das im Tempel kniend betet, den zukünftigen Messias (Bild 4). Simeons Prophezeiung wird schließlich durch die Kreuzigung des hellgelben Riesen erfüllt (Bild 5). Dies war die ursprüngliche Handlung von Riesen, die diese Studie als Ereignisse darstellt. Simeon wurde bisher in Kandinsky-Studien nie erwähnt, jedoch bestätigt das überarbeitete Bühnenwerk Der gelbe Klang – Eine Bühnenkomposition diese Identifikation. Im zweiten Bild von Der gelbe Klang erscheint eine auffällige riesige, gelbe Blume. Diese wird nach der vorliegenden Interpretation als Abbild der Blumenart malva alcea gedeutet, die auf Deutsch »Simeonskraut« genannt wurde. Der Zusammenhang der beiden Motive kann durch Kandinskys Hinterglasmalerei »Allerheiligen I« (Abb. 3) in der weiteren Analyse erläutert werden. 4.2.1. Bild I: Fünf Propheten und Cherubim In der Mitte der Bühne ist ein von einfachen Blumen bedeckter grüner Hügel zu sehen. Vor dem Hügel erscheinen von rechts nach links fünf grellgelbe Riesen, machen Armbewegungen, richten die Köpfe zueinander und singen mit Bassstimme ohne Worte. Als die Riesen beginnen, sich zum Zuschauerraum zu bewegen, fliegen vogelartige Gestalten mit Menschenköpfen über sie hinweg. Die Riesen werden immer undeutlicher, und ihr Auftritt endet mit Dunkelheit. Grüner Hügel Den Hügel deutete Emmert mit Bezug auf Steiners Interpretation der Schöpfung als Symbol für die Trennung von Himmel und Erde.52 Dies ist eine Seite der ikonographischen Bedeutung des Hügels, jedoch bleibt die Begründung für Riesen etwas zu allgemein. 52

Emmert 1998, S. 92.

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Vielmehr bezieht sich die Anfangsszene bereits auf die Kreuzigung im letzten Bild. In der christlichen Ikonographie symbolisiert ein Hügel drei Geschehnisse: Erstens befand sich in der antiken Zeit die Hinrichtungsstätte auf einem Hügel, und die Passion Christi fand auf Golgatha, dem Hügel in der Nähe Jerusalems, statt. Zweitens wurde bereits im 3. Jahrhundert angenommen, der erste Mensch Adam sei unter dem Hügel Golgatha begraben worden.53 Diese beiden Motive fügten sich zum dritten ikonographischen Motiv »Höllenfahrt Christi«, d.h. Christus bricht Golgatha mit dem Kreuz auf, steigt in die Hölle und rettet Adam von seiner Ursünde (Abb. 14). Da im zweiten Bild von Riesen dieser Hügel wieder erscheint und darauf die grünen Figuren, die in der folgenden Deutung als Märtyrer identifiziert werden, in der Reihe gehen, und im fünften Bild der hellgelbe, kreuzförmige Riese erscheint, ist der grüne Hügel der Hügel von Golgatha, der das Leiden von vielen Gläubigen und die Erlösung in sich vereint. Fünf grellgelbe Riesen Die fünf grellgelben Riesen bilden ein Kollektiv und sind nicht voneinander zu unterscheiden. Die Bedeutung der Riesengestalt wurde von vielen Interpreten als gewalttätig empfunden. Sheppard setzt sie gegen die roten vogelartigen Gestalten und versteht die gelben Riesen als Kräfte anarchischer Natur, die gegen die Ordnung bringenden Menschen und deren Lebenskräfte als rote vogelartige Gestalten ihre Macht ausdrücken.54 Göricke sah in ihnen das freie Licht, das in eine Form gegossen wurde und sich in die irdische Gewalt verwandelte.55 Eller-Rüter deutete sie im Kontext der Märchenwelt und bezeichnete sie neben der Magie der Blumen als Verkörperung der Naturkräfte.56 Diese Aussagen der bisherigen Forschungsstudien werden der Bedeutung der Riesen nicht gerecht, denn später erscheint eine hellgelbe Riesengestalt, die wegen ihrer Kreuzform unbestritten als Christus erkannt wurde. Wie in den vorhergehenden Unterkapiteln 2.1.3, 2.1.4. sowie 2.1.5. ausgeführt, stellte die übermäßige Größe des Menschen, in den antiken bildenden Künsten, in der theosophischen Bilderwelt sowie in der Ikonenmalerei eine Eigenschaft von Heiligkeit dar. Eine Gegenüberstellung der gewaltigen Natur und der Menschen wäre daher zu allgemein. Bevor das Stück als Der gelbe Klang publiziert wurde, waren die fünf Riesen die Titelrollen des Stücks. Sie müssten daher eine zentrale Bedeutung für Riesen besitzen. Claudia Emmert vernachlässigt dies, obwohl sie anders als andere Interpreten die Riesengestalt positiv betrachtete, und identifiziert sie als Geist Gottes,57 der in Steiners Vortrag über die Schöpfungsgeschichte in fünf Urelementen erscheint.58 Keine einzige

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Siehe LCI Bd.2, S. 164. Sheppard 1975a, S. 172. Göricke 1987, S. 124. Eller-Rüter 1990, S. 76. 1. Mose 1, 2. Steiner 1961a, S. 103, 115, Emmert 1998 op.cit., S. 93. »Mit dem Geist Gottes sind nach Steiner die Elemente des Ursprungs gemeint, die während der Schöpfung tätig werden. [...] Steiner unterscheidet im ganzen fünf Urelemente und ordnet ihnen geistige Wesen zu: 1. dem Erdhaften die Geister des Willens, 2. der Wärme die Geister der Form, 3. dem Gasför-

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Forschungsarbeit erklärt, weshalb auch die vermutlich Christus darstellende Rolle der letzten Szene in Form eines Riesen erscheint. Die Gestalt der Riesen nahm in Kandinskys Gedankenwelt einen speziellen Charakter an. In Über das Geistige in der Kunst wies er auf die riesigen göttlichen Skulpturen der antiken Welt hin und bezeichnete sie als Versuche, die Menschendiener und Märtyrer, die das Körperliche verachteten und nur dem Geistigen dienten, durch das Körperliche darzustellen.59 Wie bereits in Kap. 2.2.2. erklärt wurde, entspricht die Körpergröße dem geistigen Rang des Charakters in den Bühnenkompositionen. Fünf Riesen müssen daher zu einem ähnlichen Rang gehören wie der Christus-Riese im fünften Bild. Auch in den orthodoxen Ikonen ist es üblich, einen wichtigen Charakter wie Christus, Maria u.a. in der Mitte der Ikone riesig darzustellen.60 Die Christus vergleichbaren kollektiven Figuren befinden sich in der Ikonostase, im »Prophetenrang« (Abb. 15).61 Anders als die zwölf Apostel des Neuen Testaments stehen die Propheten des Alten Testaments, die je nach Wahl in unterschiedlicher Anzahl erscheinen, im gleichen Rang wie Christus, der von Maria getragen wird. Ihr Wesen ist in den orthodoxen Ikonen wichtig, weil durch ihre Vorhersage der Geburt des Messias und der Erlösung durch sein Leiden eine Brücke zwischen dem Alten und Neuen Testament gebaut werden kann. Das Wesen der Propheten besteht für Kandinskys apokalyptische Gedanken geradezu in Unfehlbarkeit. Er bezeichnete z.B. auch Maeterlinck und Schönberg als Propheten bzw. Hellseher,62 die die geistige Zeit in der Kunst offenbarten. Die Bewegungen und der Gesang der fünf Riesen passen zu den ikonographischen Typen der Propheten,63 und auch als Einleitung zum Schluss des Stücks, zur Kreuzigung, ist diese Identifikation plausibel.64 In Riesen singen fünf Riesen nur im Bass, was an den Propheten des Neuen Testaments Johannes den Täufer in der Oper Salome von Richard Strauß (Uraufführung 1905 in Dresden) erinnert. Dass in Der gelbe Klang die Riesen in Bass, Tenor, Sopran und Alt singen, wurde vermutlich hinsichtlich der westlichen Chorbesetzung variiert, so dass die Stimmen in verschiedenen Höhen klingen. Als ein weiterer möglicher Ideengeber für die Bassstimme kann ein Riesentyp in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre angesprochen werden. Als Wilhelm in einem kleinen Dorf unterkommt, singt ein Handwerker, wegen seiner riesenhaften Figur Hl. Christophorus genannt, mit der

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migen die Geister der Bewegung, 4. dem Wässrigen die Geister der Weisheit und 5. dem Licht die sogenannten Feuergeister.« ÜGK, S. 27. Siehe Kap. 2.1.5. Siehe LCI Bd. 1, S. 380. ÜGK, S. 44 sowie S. 49. LCI Bd. 3, S. 462. Es gibt keine Malerei von Kandinsky, die »Riesen« oder »Propheten« genannt wurde, jedoch existiert ein Gemälde aus späterer Zeit, das fünf parallel stehende Figuren behandelt (Abb.16). Diese wurden bisher nicht identifi ziert. Angesichts der Identifi kation der Riesen als Propheten wird es möglich, die fünf Figuren dieser Malerei als die alttestamentarischen Propheten oder die gegenwärtigen Künstler-Propheten in Erinnerung an die erste Bühnenkomposition zu verstehen.

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Bassstimme.65 Zu dieser Spekulation über den Einfluss von Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre ist noch ein Indiz zu erwähnen: Als Wilhelm in seiner Kindheit zu Hause ein Puppentheater-Spiel über David und Goliath sieht, bekommt er den Eindruck, David sei für seine Bedeutung gegenüber Goliath zu klein dargestellt.66 Kandinskys Absicht, die Charaktere ihrer geistigen Größe sowie der dramaturgischen Bedeutung getreu auf der Bühne darzustellen, kann als eine Antwort auf Wilhelms Einwand gelten. Für die Handlung von Riesen sind fünf Riesen und ein Riese Christus die Hauptfiguren, so dass ihnen eine entsprechende Größe verliehen wurde.67 Die weiteren Szenen von Riesen lassen darauf schließen, dass der Inhalt des Gesangs die Geburt Jesu und die Erlösung Christi behandelt. Zu diskutieren bleibt noch die Frage, ob die fünf Riesen von Der gelbe Klang, wie Claudia Emmert behauptet, fünf Elemente der Schöpfung darstellen. Aus meiner Sicht bleiben die fünf Riesen in Der gelbe Klang weiter Propheten, da Kandinskys Erwartung des Erscheinens von Propheten, die den Beginn der geistigen Zeit ankündigen sollen, durch das Kennenlernen von Arnold Schönberg erfüllt wurde. Das später hinzugefügte neue 3. Bild von Der gelbe Klang zeigt ein gelbes Licht, das den Raum erfüllt. Diese Szene kann sich auf das Gemälde »Impression Nr. 3 – Konzert« beziehen. Schönbergs Konzert gab den Ton der Prophezeiung, d.h. den gelben Klang. Dies entspricht gleichzeitig der gelben Trompete bzw. der gelben Posaune der apokalyptischen Engel, wie sie in Kandinskys Hinterglasmalerei »Allerheiligen I« (1911) (Abb. 3) erscheint. Ihre Gemeinsamkeit ist die des »Verkünders«. Kandinskys Beschreibung von Gelb in Rückblicke, dass das Gelb der bayerischen Post und von Kanarienvögeln gleiche Eindrücke bringe, gibt einen Hinweis, dass der Bote einen gelben Klang besitzt. Die ursprüngliche Identifikation der fünf Riesen ist also unverändert bzw. verstärkt als Propheten geblieben, wobei die Bedeutung der späteren Propheten sich zu einem Porträt der avantgardistischen Künstler hin entwickelt haben kann. Bei der oben genannten Funktion von Gelb werden die bisherigen Deutungen, die sich auf Zitate aus Kandinskys Über das Geistige in der Kunst, wie »irdische« Eigenschaft68 und »lichtähnliche Ausstrahlung« 69 von Gelb, stützen, nur bedingt akzeptiert. Hier bezieht sich Gelb vielmehr auf den Geist der Riesen (= Propheten) als Verkünder. Als zweite Deutung könnte es als »irdisches« Licht, Wegweiser in der Dunkelheit verstanden werden. Rote vogelartige Gestalten mit menschenartigen Gesichtern In Der gelbe Klang sind die Gestalten als »rote undeutliche Wesen, die etwas an Vögel erinnern«, und deren Köpfe »eine entfernte Ähnlichkeit mit menschlichen haben,«

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Siehe Goethe 2008b, Drittes Buch, Erstes Kapitel. Die »riesenhafte Figur« singt »mit einer ungeheuren Baßstimme«. Goethe 2008a, Erstes Buch, Zweites Kapitel. »[...] verdross es mich doch bei aller Freude, dass der Glücksprinz so zwergmäßig gebildet sei. Denn nach der Idee vom großen Goliath und kleinen David hatte man nicht verfehlt, beide recht charakteristisch zu machen.« Zu den anderen an Goethes Werke erinnernden Stellen siehe Kap. 4.1.2. ÜGK, S. 91. Ebd., S. 88.

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bezeichnet. Göricke assoziierte die Gestalten mit mythologischen Vogelmenschen wie etwa dem Donnergott im Taoismus und sah sie als Bindeglieder zwischen Himmel und Erde und somit als Hoffnungssignal für das Geistige.70 Emmert wiederum behauptet nach Steiners Schöpfungsinterpretation, sie seien »ätherische Wesen, ordnender Klangäther,« die die Kräfte enthielten, »die den Stoff differenzieren, trennen und zusammenfügen«.71 Die beiden Auffassungen stimmen trotz des unterschiedlichen Ergebnisses darin überein, dass sie diesen Flugwesen eine vermittelnde Rolle zwischen Himmel und Erde beimessen. Jedoch ist die Begründung, in welchem Zusammenhang sie hier in dieser Form auftreten, nicht aussagekräftig genug. Wenn die Beziehung dieses Stücks zur christlichen, besonders zur orthodoxen, Ikonographie beachtet wird, sind die Mischgestalten eines Vogels und eines Menschen ohne Zweifel als Cherubim zu sehen, die ganz in Rot mit sechs Flügeln dargestellt werden (Abb. 17). Sie erscheinen in Gen 3, 24, 1. Könige 6, Ezechiel 1 und 10, Jesaja 6 und später in der Apokalypse des Johannes als Mischwesen mit Menschenkopf, Löwenleib, Stierfüßen und Adlerflügeln, und ihre Körperbilder werden mit denen von Seraphim vermischt.72 Ursprünglich sind sie Torwächter des Gartens Eden und schützen den Lebensbaum vor sündigen Menschen, später dienen sie im Tempel Gottes als Schutzwesen des Thrones Gottes. Mit den Riesen (= Propheten) sind sie verbunden, denn diese Wesen treten als erste Vertreter der Gottesbotschaft in der prophetischen Vision auf. Somit ist das Bild I als die Szene der Prophezeiungen zu verstehen, die in den folgenden Szenen erfüllt werden. 4.2.2. Bild II: Hinrichtung der Märtyrer und die gelbe Blume Auf dem grünen Hügel finden sich viele kleine, einfache Blumen, die in Der gelbe Klang nicht zu sehen sind, wo stattdessen eine einzige große, gelbe Blume wächst. Die Menschen in hellen Trachten treten mit vielen Blumen auf und sprechen die Worte. Rechts vom Hügel gehen kleine, undeutliche Figuren, die, vorwärts blickend, langsam über den Hügel ziehen. Bei diesem Anblick erstarren die Menschen mit »Trachten«, laufen zum Vordergrund und verschwinden in verschiedene Richtungen. Deutung des Gedichts Das ursprüngliche Gedicht in Riesen lautet: [1] Die Blumen der Dichtung sind über die Welt gestreut [2] Sammle sie in einen ewigen Kranz [3] In der Wüste wirst du nicht einsam sein [4] Im Gefängnis frei. (nummeriert von der Verfasserin)

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Göricke 1987, S. 124. Steiner 1961a, S. 56, Emmert op.cit., S. 93. Siehe LCK 2002, S. 68f.

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»Die Blumen der Dichtung« beziehen sich auf die Blumen auf dem Hügel und in den Händen der Menschen in Trachten. Da Kandinsky eine analoge Beziehung zwischen der Kunst und der Religion erkennt,73 symbolisieren »die Blumen der Dichtung« sowohl Künste als auch Glauben. Im ersten Vers [1] wird die Verbreitung der Künste bzw. des Glaubens erläutert. Der Vers 2 beschreibt einen Versuch, durch die Blüte der Künste bzw. des Glaubens ein Monument der Vereinigung zu schaffen. Die Vereinigung kann hier als eine harmonische Beziehung zwischen verschiedenen Religionen, Völkern und Kulturen verstanden werden und symbolisiert gleichzeitig die Idee des Gesamtkunstwerks. Die Form eines Kranzes ist in allen Kulturen und Zeiten eine ursprüngliche und universelle Weltsprache der Versöhnung und ist für ein solches Ziel geeignet. Die Blumen der Künste oder des Glaubens benötigen auch in der Wüste kein Wasser. Somit deutet der Vers 3 die Unsterblichkeit des Geistes an, und auch die Gefangenschaft kann die Künste und den Glauben, die beiden geistigen Tätigkeiten, nicht verhindern (Vers 4). Die letzten beiden Verse suggerieren den harten Weg der Künstler und Gläubigen. Hier ist Kandinskys Ideal der Bühnenkomposition, ein monumentales Gesamtkunstwerk aus allen Künsten zu schaffen, deutlich zu erkennen. Auch seine Wahl der Form, des Kranzes, die später sogar als Reigen zweimal in den frühen Bühnenkompositionen erscheint, nimmt seine malerische Entwicklung zur Abstraktion als universeller Kunstsprache vorweg. Zur Wortwahl Kandinskys im Vers 1, warum die Blumen für den Kranz nicht von allen Künsten, sondern speziell von »der Dichtung« sein müssten, gibt es keinen nachweisbaren Beleg, sie könnte aber spekulativ mit einer Verbindung zu Goethe erklärt werden. In Goethes Theaterstück Torquato Tasso werden nämlich zwei Kränze, einer aus Blumen und ein anderer aus Lorbeer, von zwei Damen gebunden und den Skulpturen der Dichter Ariosto und Vergil gegeben. Später erhält der Protagonist Tasso den Lorbeerkranz durch die Prinzessin. Die Kränze spielen im Werk Goethes eine wichtige Rolle sowohl für Tasso als auch für den Konflikt zwischen ihm und einem Politiker. Historisch erhielt Tasso vom Vatikan einen Dichterkranz. Da im dritten Bild der Bühnenkomposition III Schwarz und weiß an Tassos Das befreite Jerusalem erinnernde Figuren und eine Kampfszene erscheinen,74 könnte der Blumenkranz, den Kandinsky hier in seinem Text nennt, zu Goethes Torquato Tasso oder Dichter wie Tasso einen Bezug haben. Eine alternative Quelle, die Kandinsky in Bezug auf den Kranz verwendet worden sein könnte, ist der polnische Schriftsteller Heinrich Sienkiewicz. Er erhielt 1905 den Nobelpreis für Literatur. Seinen Namen nannte Kandinsky in Über das Geistige in der Kunst. Die mögliche Verbindung von Riesen zu Sienkiewiczs Roman Quo Vadis? wird in der weiteren Analyse zu grüngrauen Figürchen besprochen. In Der gelbe Klang ist die Vision des Gedichts expressionistisch stilisiert. Wortwiederholungen, Imperativ sowie Gegensätze der Wörter erinnern auch an dadaistische Stilistik. Diese führt für den Leser bzw. Zuhörer zur Auflösung des Kontexts, und so kam die bisherige Forschung zu gegensätzlichen Deutungen.

73 74

GSI, S. 46. »Die Kunst ist in vielem der Religion ähnlich.« Siehe Kap. 4.4.3.

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[1] Die Blumen bedecken alles, bedecken alles, bedecken alles. [2] Schließ die Augen! Schließ die Augen! [3] Wir schauen. Wir schauen. [4] Bedecken mit Unschuld Empfängnis. [5] Öffne die Augen! Öffne die Augen! [6] Vorbei. Vorbei. (nummeriert von der Verfasserin) Göricke deutet die Vision als einen Blick innerer Erkenntnis.75 Schober schlägt eine ähnliche Deutungsmöglichkeit vor: Die Blumen, die die irdischen Kräfte symbolisierten, verhinderten die spirituelle Erkenntnis. Der Vers 4 sei die Beschreibung, wie die irdische Natur die Empfängnis des Geistigen verhindert.76 Emmert verstand das Gedicht als eine Beschreibung der Ursünde und der Vertreibung. Ihrer Meinung nach bezieht sich der Vers 1 auf den Garten Eden, wobei die Bedeckung der Blumen die Ursünde symbolisiere, die außerhalb von Gottes Sicht begangen werde. Nach der Tat würden die Augen von Adam und Eva einen Moment geblendet, im 3. Vers erwürben sie durch die Früchte des Baumes die Erkenntnis, wobei gleichzeitig die Sünde empfangen würde (Vers 4). Die Verse 5 und 6 bezögen sich auf die Gottesstrafe und Vertreibung aus dem Paradies.77 Damit wird aber der auffallend in der Mitte des Gedichts platzierte Vers 4 nicht plausibel bewertet, und auch die Täter des wiederholt entfalteten Seh-Motivs im Imperativ (2 und 5) und Indikativ (3) sind nicht erklärt. Aus dem Gedicht in Riesen abgeleitet, sind die Blumen im Gedicht von Der gelbe Klang auch als die Künste, der Glaube oder die Gläubigen selbst zu verstehen. Die beiden Befehlsformen der Verse 2 und 5 bilden einen inhaltlichen Gegensatz, durch den die innere Vision der Verse 3 und 4 eingeklammert wird. Während die körperlichen Augen nichts sehen, gewinnen »wir«, die Propheten oder die Gläubigen, die geistige Sicht auf Mariä Empfängnis und die Geburt des Messias. Wenn sich aber die körperlichen Augen wieder öffnen, ist die Hoffnung der Erlösung vorbei und dies deutet einen steinigen Weg für die Gläubigen an. Im Vergleich zum ursprünglichen Text in Riesen wird hier die Bedeutung der Prophezeiung im Alten Testament,78 die von der christlichen Religion als Vorhersage der Geburt Christi verstanden wird, hervorgehoben, so dass sich die gelbe Blume als messianisches Gleichnis Christi verstehen lässt. Menschen in hellen Trachten und kleine undeutliche grüngraue Figürchen Die Körperbilder der in Trachten gekleideten Menschen sind nicht einem bestimmten Volk zuzuordnen. Sie kamen aus irgendeinem Volk und zeigen Kandinskys Neigung zu ethnographischem Romantizismus. In einer Gesellschaft von »Menschen in Trachten«

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Göricke 1987, S. 126. Schober 1993, S. 137. Emmert 1998, S. 97. Jes 7. Jesaja sagte der königlichen Familie Davids die Geburt des Messias voraus.

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lassen sich Religion, Mythos, Aberglaube und Volkssage nicht voneinander trennen.79 Zwischen diesen Menschen und den graugrünen Figuren entsteht eine Beziehung, und die Figuren besitzen einen Charakter, welcher die Tracht tragenden Menschen erstarren und, sich umschauend, fliehen lässt. Die bisherigen Forschungsbeiträge versuchten eine Erklärung zu der Reaktion dieser Begegnung zu geben. So führte Göricke das Erstarren der Menschen auf eine Angst vor Erkenntnis auf der Suche nach dem Wissen zurück.80 Dass sie wie Verfolgte die Bühne verlassen, deutete sie als Folge dieser Angst. Eller-Rüter verbindet die graugrünen Figuren mit den rot werdenden Blumen, die von den Menschen in Trachten getragen werden, und vermutete einen märchenhaften Bezug, vgl. die grünen Blattläuse in Andersens Märchen Die kleinen Grünen.81 Emmert erkennt hier eine Vertreibungsszene und schreibt die Ursache des Erstarrens der Menschen nicht den graugrünen Figuren zu, sondern identifiziert die beiden gleicherweise als Vertriebene, die das Paradies nach dem Sündenfall verlassen, wobei die Reihe der graugrünen Figürchen wie die Schlange die Ursünde andeute. Demnach seien die Menschen in Trachten im Vordergrund beim Anblick der Welt draußen erschrocken und flöhen schnell.82 Bei den drei erwähnten Deutungsversuchen fehlt es an einem grundlegenden Verständnis des Gestaltungsprinzips der Körperlichkeit in den Bühnenkompositionen, so wird die Beziehung zwischen den beiden Gruppen nicht verstanden oder erklärt. Nach Kap. 2.2.3. besitzt eine abstrakte Figur einen geistigen Charakter, d.h. die graugrünen »Figürchen« haben einen höheren Status im geistigen Rang als die Menschen in Trachten. Das Erstarren der Menschen beim Anblick der graugrünen Figürchen soll daher in einem anderen Kontext verstanden werden. Die kleinen, undeutlichen grüngrauen Figuren sind wegen ihres nicht realistischen Aussehens und ihrer einheitlichen Körperfarbe geistige Wesen. Ähnlich undeutlich aussehende Menschen in weißgrünlicher Farbe erscheinen in Kandinskys Hinterglasmalerei »Allerheiligen I« (1911) (Abb. 3) und »Heiliger Wladimir« (1911) (Abb. 18). Die kleinen, undeutlichen Figuren im ersten Bild stehen in der Bildmitte unter dem an Maria erinnernden Frauenbildnis und haben Fackeln in der Hand. Die auf ähnliche Weise in Grün verschleierten Figuren mit Fackeln erscheinen in der vierten Szene von Schwarz und Weiß. Die beiden Szenen behandeln nach meiner Deutung Mariä Lichtmess durch die Gläubigen.83 Beim zweiten Hinterglasgemälde »Heiliger Wladimir« handelt es sich um Wladimirs Schutz der Orthodoxie in Russland.84 Die kleinen grünlichweißen Figuren am Fuß Wladimirs sind namenlose Gläubige. Die Gemeinsamkeit der grünlichen undeutlichen Figuren in den oben genannten Gemälden und in der Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß weist darauf hin, dass diese nach Kandinskys ikonographischer Sprache für namenlose Gläubige stehen. Somit können die graugrünen Figuren auf dem Hügel in Riesen auch als die unzähligen namenlosen Gläubigen verstanden werden.

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Siehe Kap. 2.1.1. Göricke 1987, S. 126. Eller-Rüter 1990, S. 76f. Emmert 1998, S. 99. Siehe Kap. 4.4.4. Der Heilige Wladimir erklärte die Orthodoxie zur Staatsreligion.

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Die graugrüne Farbe der kleinen undeutlichen Figuren wurde in den bisherigen Forschungsstudien angesichts von Kandinskys negativer Definition von Grün in Über das Geistige in der Kunst als wie mit »Starrheit« oder »Unbeweglichkeit« interpretiert. Es gibt aber auch andere Anhaltspunkte. Obwohl die erwähnte Eigenschaft die Grunddefinition ist, sollte die positive Bedeutung von Grün als Einheit von Blau und Gelb, Himmlischem und Irdischem, nicht vernachlässigt werden. Im Kontext der Bedeutung dieser Figuren als namenlose Gläubige ist Graugrün keine negative Farbe, sondern eine Einheit der vier Farbeigenschaften (s.u.), d.h. Blau als das Himmlische bzw. Gläubigkeit,85 Gelb als das Irdische des Menschen und Grau als die Urform des Menschen, Abbild des allmächtigen Gottes, der Schwarz und Weiß, die Symbole für Leben und Tod, Gut und Böse und A und O beherrscht.86 Die Bedeutung von Grau in Kandinskys Malerei wurde in den bisherigen Studien ebenfalls nicht positiv betrachtet: Weil Weiß einen unschuldigen Eindruck hervorruft und Schwarz für das Böse, Bedrohliche steht, wurde Grau als das verschmutzte Weiß verstanden. Auch Kandinsky erzählte in Rückblick von seiner Erinnerung an Schwarz: Als die Füße eines Pferdes schwarz gemalt wurden, war das Bild plötzlich nicht mehr schön.87 Jedoch besäßen laut Kandinsky sowohl Weiß als auch Schwarz die Konnotation von Schweigen – Schweigen vor der Geburt und nach dem Tod. Wenn sich das Schweigen des Anfangs und das des Endes zu einer Einheit als Grau verbinden, könnte dieser Zustand die Allmacht von A und O, bzw. die Überwindung von Leben und Tod, bedeuten. Vorwärts blickend, gehen die namenlosen Gläubigen in einer Reihe auf dem Hügel. Da der Hügel die Hinrichtungsstätte andeutet und die Menschen in Trachten bei dem Anblick erschrocken sind, suggeriert die Vision die Verfolgung und Hinrichtung der Gläubigen. Der Charakter der Figürchen ist vom Glauben erfüllt und die Präsenz des Leibes ist so gering, dass sie undeutlich aussehen. Ihre kleine Proportion bezieht sich sowohl auf die Entfernung, d.h. die vage Sichtbarkeit, als auch auf ihre Namenlosigkeit. In Der gelbe Klang werfen die Menschen in Trachten die rot werdenden Blumen weg und verschwinden, d.h. sie stehen selbst in Gefahr und geben den Glauben auf. Rot ist ein Zeichen des Blutes Christi und der Gläubigen. Ob es sich um ein bestimmtes Volk oder eine bestimmte Zeit handelt, ist nicht klar, jedoch fasst die Szene die Verfolgung allgemein von der alttestamentarischen bis nach der neutestamentarischen Zeit zusammen, weil in dieser ganzen Szene das gegenwärtige Geschehen und die prophetische Vision nicht voneinander zu trennen sind.

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Siehe Kap. 4.5.4. Die blauen Frauen, die in Schwarze Figur in einem an das Paradies erinnernden Ort vor den rosa gekleideten Figuren erscheinen und offensichtlich die schwarze Figur begleiten, sind nach der Deutung dieser vorliegenden Arbeit die Klugen Frauen, die auf das Kommen des Bräutigams Christus warteten und in den Himmel gelassen werden. Die Farbe Blau ist als Brautkleidung der Gläubigen und gleichzeitig als die Geistesfarbe zu verstehen. Anders als die graugrünen Figuren sind die blauen Frauen im Paradies nicht mehr irdisch-gelb. Siehe Kap. 4.2.3. über die Menschen in verschiedenen Trachten, von denen die ersteren in Grau und dann in Schwarz, Weiß, dann in Bunt gekleidet auf die Bühne kommen, und Kap. 4.4.3. über das graue Licht, das nach dem schwarzen Tod einer an Maria erinnernden weißen Figur auf der Bühne entsteht. GSI, S. 34.

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Als ein Exkurs könnte hier der Einfluss von Sienkiewicz’ Roman Quo Vadis? besprochen werden. Dem Autor wurde, wie schon an anderer Stelle erwähnt, für den Roman der Nobelpreis verliehen.88 Als Höhepunkt des fiktiven historischen Romans wird das Märtyrertum der Christen unter Nero dramatisch beschrieben. Die Christen besprachen, dass sie mit Würde sterben wollten. Die Situation der kleinen grüngrauen Figürchen und ihre Körperhaltung in Riesen könnten daher auf den Eindruck des Märtyrertums in Quo Vadis? zurückgeführt werden. Außerdem wird eine Illustration des Fisches an der Stelle von Der gelbe Klang im Almanach Der blaue Reiter abgebildet, so dass dies als Kandinskys Hinweis auf Quo Vadis? zu verstehen ist. Denn im Römischen Reich galt der Fisch als ein Zeichen Christi, und genau dieses Zeichen spielt in Quo Vadis? eine wichtige Rolle. So ist zu vermuten, dass Kandinsky bei Riesen an den geistigen Kampf zwischen frühen Christen und antiken Römern gedacht haben könnte. Von den weißen Blumen zur gelben Blume Aus den kleinen einfachen Blumen auf dem Hügel in Riesen entwickelt sich eine riesiggroße gelbe Blume in Der gelbe Klang. Sie wird so beschrieben: Links auf dem Hügel wird plötzlich eine große gelbe Blume sichtbar. Sie ist entfernt einer großen, krummen Gurke ähnlich und wird immer greller. Der Stiel ist lang und dünn. Nur ein stacheliges schmales Blatt wächst aus der Mitte des Stieles heraus und ist seitwärts gerichtet.89

Eine ähnliche Blume erscheint in Kandinskys Hinterglasmalerei »Allerheiligen I« (Abb. 3). Obwohl sie diese Gemeinsamkeit erkennen, bewerten die meisten Studien zu Der gelbe Klang die gelbe Blume entweder als Vanitassymbol oder als Phallussymbol, sowohl im einen wie im anderen Fall gegen die weißen Blumen in den Händen der Menschen oder die irdische Kraft, die die geistige Erkenntnis verhindert.90 Diese Deutung basiert auf Kandinskys Farbsymbolik von Gelb als irdisch, erklärt jedoch den Grund der Blumenform nicht. Göricke sieht eine Beziehung zwischen den weißen Blumen und der gelben Blume, nennt die ersten ein Symbol der Unschuld und die letztere die Urblume.91 Emmert grenzt sich von den meisten Deutungen ab, bezieht sich auf Steiners Schöpfungsinterpretation und versteht die gelbe Blume als ein Symbol für das Paradies. Ihrer Auffassung nach behandelt die Szene die Entstehung der Pflanzen auf der Erde, und die Blumenform verkörpert die wachsende pflanzliche Kraft. Die mögliche Assoziation der riesigen Blume und des hellgelben Riesen im letzten Bild wird in allen Studien vernachlässigt, denn sie sehen keine kausallogische Beziehung innerhalb des Geschehens. Die starke Symbolhaftigkeit dieser gelben Blume entspricht aber dem Kern von Der gelbe Klang. Da dies eine der wichtigsten Änderungen zwischen Riesen und Der gelbe Klang ist, sollte sie nicht nach allgemeiner Symbolik erklärt werden. In Der gelbe Klang verzichtet Kandinsky auf die

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Siehe Kap. 4.1.2. DBR, S. 219. Siehe Sheppard 1975a, S. 172, Göricke 1987, S. 126, Eller-Rüter 1990, S. 75 und Schober 1993, S. 137. Göricke 1984, S. 126.

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Pluralität der Blumen auf dem Hügel, wie sie sich in Riesen findet. Die Blumen waren nach der vorliegenden Arbeit das Symbol für Glauben und Künste. Die Einzigartigkeit der gelben Blume wies auf die Personifikation eines bestimmten Charakters hin. In der christlichen Symbolik ist eine Blume das Gleichnis des Messias.92 Die Tatsache, dass die Blume in der Prophezeiung den Messias verkörpert, kann die farbliche Beziehung der Blume und des kreuzförmigen Riesen bestätigen. Die weißen Blumen bei den Trachtenmenschen werden zuerst gelb, dann blutrot. Dies ist ein Zeichen, dass Christi Blut für alle Menschen vergossen wird. Die imaginäre Form der gelben Blume besteht aus einem Mosaik verschiedener symbolhafter Blumen. Emmert führt den langen Stängel und ein stacheliges Blatt auf die Distel zurück, die das Leiden Christi und die Vertreibung aus dem Paradies symbolisiert.93 Die Änderung der weißen Blumen ins Rot sei die Erscheinung der Rosen, die das Opfer Christi andeutet.94 Die beiden Deutungsversuche sind im Zusammenhang mit dem kreuzförmigen Riesen möglich, jedoch wirken sie gegenüber der Blütenform etwas zu allgemein, denn Distel und Rosen haben mehrere Blütenblätter. Die Blüte der gelben Blume ähnele der »krummen Gurke«. Eine Gurkenblume hat fünf gelbe dünne, gekräuselte Blütenblätter. Die Größe beträgt etwa 3 cm im Durchmesser, und die Blüte bleibt lange an der Frucht, während sie reift. Die Ringfläche in der Mitte der Blume in »Allerheiligen I« (Abb. 3) erinnert an das Gurkenende, jedoch ist zur Gurkenblüte keine Symbolik bekannt. Kandinsky betrieb Gartenarbeit in der ländlichen Gegend in Murnau. Die Beschreibung der Gurke muss eine Metapher der eigentlichen Symbolblume sein, die ähnliche Eigenschaften besitzt. Es gibt eine Blumenart, die auch Blüten mit fünf dünnen, gekräuselten Blütenblättern im Frühsommer bis Hochsommer trägt und eine symbolische Bedeutung besitzt. Malvengewächse, zu denen Malva alcea (engl. Muskmallow), Malva rosea (Stockrosen, Apothekermalve), Hibiskus und mehrere verwandte Arten zählen, haben fünf dünne, gewellte Blütenblätter und werden seit Langem als Nutzpflanzen, verschiedentlich als Arznei und als Nahrungsmittel verwendet. Besonders nützlich war Malva alcea, die aufgrund ihrer Augenkrankheiten heilenden Wirkung »Augenpappel«, »Fellrißwurzel« oder »Hochleuchten« genannt wurde.95 Ein bemerkenswerter Beiname von Malva alcea lautet »Simeonskraut« bzw. »Simeonswurz«. Der Name, dessen Ursprung dem Greis Simeon in Lukas 2, 25 zugeschrieben wird, wurde bereits im 16. Jahrhundert erwähnt und noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwendet.96 Im Neuen Testament gibt es zwar keinen Hinweis darauf, dass Simeon an einer Augenkrankheit litt, dennoch wurde die Erzählung, dass er noch im hohen Alter das Jesuskind als »Ein Licht zu erleuchten die Heiden«97 gesehen habe, mit der Wirkung von Malva alcea verkoppelt. Der Beiname »Hochleuchten« soll daher stammen. Angesichts

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Lurker 1973, S. 56. Laut Lurker stammt diese Symbolik vom »Reis« des Alten Testaments (Jes 11,1). Emmert 1998, S. 97. Ebd., S. 99. Rießen 1936, S. 188, Prag 1937, S. 112 sowie Marzell 1977, S. 29. Die Flüssigkeit ist pappelartig. Eine Verwandte, die auf Englisch marshmallow heißt, hat ähnliche pappelartige Flüssigkeit, aus der Süßigkeit produziert wurde. Marzell 1977, S. 28 sowie Rießen 1936, S. 188. Lk 2, 22.

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der Blumenform und der legendenhaften Beziehung zu Simeon, der im Jesuskind den Messias erkannte und das Heil Israels vorhersagte, ist anzunehmen, dass die Form der gelben Blume der von Malva alcea entspricht. Die zusätzliche Beschreibung der Blätter stimmt auch mit der Eigenschaft des Simeonskrauts überein; anders als alle anderen Malvengewächse, die flächige, runde Blätter haben, hat Malva alcea schmale, stachelige Blätter. Kandinskys ethnographische Erfahrung lässt seine Kenntnis des auf Volkssagen beruhenden Pflanzennamens vermuten. Bestätigend ist, dass unter der gelben Blume in »Allerheiligen I« (Abb. 3) ein in der Forschung noch nicht identifizierter weißbärtiger schwarz gekleideter Greis liegt.98 Ähnliche Körperbilder lässt Kandinsky den weißbärtigen schwarzen Mann im 4. Bild von Riesen tragen. Er tritt mit dem an einer kleinen Kapelle knienden schwarzen Kind, das in Der gelbe Klang als weiß gekleidet erscheint, auf. Die Szene behandelt vermutlich den Tempelbesuch des Jesuskinds und seine Begegnung mit dem Greis Simeon.99 All diese Indizien, die Erscheinung der an den Messias erinnernden Blume im 2. Bild von Der gelbe Klang, die Zusammenstellung dieses Mannes mit dem knienden Kind im Bild 4 von Riesen (im Bild 3 von Der gelbe Klang) und die Kreuzigung des Riesen, zeigen eine klare Beziehung auf, d.h. der Blume wurde die Form des Simeonskrauts verliehen und steht sowohl für den Messias als auch für die Vorhersage Simeons, der als Erster im Neuen Testament die Erlösung prophezeite. Nun wirft die gelbe Farbe der Blume eine Frage auf. Sie steht weder für die irdische Kraft noch für den Zusammenhang mit der Blütenfarbe von Malva alcea. Die erste Bestimmung der Farbe kommt ohne Zweifel von der Eigenschaft der Verkündung, wie bei den fünf Riesen, dem hellgelben Riesen sowie der Trompete bzw. Posaune der Johannes-Offenbarung in Kandinskys Hinterglasmalerei, jedoch könnte die Farbe auch von einer natürlichen Blume stammen. Die Fläche mit schwarzen Punkten in der Mitte der gelben Blume in »Allerheiligen I« erinnert an Sonnenblumen. Auch der lange Stiel und eine Blüte darauf ähneln der Gattung der Sonnenblumen. Die Sonnenblume stand im 17. Jahrhundert für die Malkunst, und Ende des 19. Jahrhunderts lebte diese Symbolik wieder auf. Sie ahmt die Natur nach und ist auch treue Gefährtin der Sonne. Nach Kandinskys apokalyptischer Metapher ist die Sonne als Gott zu verstehen.100 All solche Symbolik der Sonne und der Sonnenblume weisen auf die Beziehung Gottes und des Lamms Gottes hin. In diesem Sinne ist die gelbe Blume die Verkörperung der Erwartung der zweiten Epoche des Sohnes (s.u.). Die Farbe Gelb der Blume in Der gelbe Klang steht für die Sonnenblume, gleichzeitig ist die Sonnenblume ein Vorzeichen der zweiten Offenbarung des Sohnes. Damit kann der Sinn des Titels, Der gelbe Klang, als Prophezeiung bzw. als Klang der Offenbarung verstanden werden. Der gelbe Klang

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Das schwarze Kleid vom liegenden Greise zeigt weiße Schädel. Laut Roethel trüge dieser ein russisches Priesterkleid und liege im Tod. Die Frau, die ihm gegenüber liegt, trauere über den Tod dieses Priesters (Roethel 1982, S. 76), wobei der Gesichtsausdruck der Frau nicht nach einem traurigen Gefühl aussieht sondern einen zufriedenen Eindruck macht. Sie ist mit dem Auftritt von Simeon zusammenhängend als die Prophetin Hanna zu verstehen, die ähnlich wie Simeon im Tempel das Jesuskind als Messias erkannte (Lk 2, 36–39.). Siehe Kap. 4.2.4. In Nachspiel sagt der alte »jetzt kann die Sonne aufgehen.« Dies ist nach der Offenbarung des Johannes (Offb 21, 23) als Ankündigung der Besteigung des Throns Gottes zu verstehen.

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kann auch am Beginn der dritten Offenbarung gehört werden, denn Kandinsky malte in fast allen seinen apokalyptischen Bildern die gelben Posaunen des Engels. Trotz der Abstraktion blieb ein Teil des Instruments bis zum Ölgemälde »Komposition VII« sichtbar. Die gelben Posaunen tönen, wenn die alte Epoche schließt und die neue Epoche beginnt. Dies kann als das Hauptmotiv der Bühnenkomposition I Riesen bzw. Bühnenkomposition Der gelbe Klang verstanden werden. Kandinskys Auffassung der gelben Blume und ihre Verbindung zur Kreuzigungsszene Christi kann auch in der Struktur des Hinterglasgemäldes »Allerheiligen I« (Abb. 3) erkannt werden. Zwar erscheint im Bild keine gelbe Riesengestalt, dafür aber ein kleines, eher konventionelles Kreuzigungsbild im Hintergrund. Im Vergleich dazu blüht die gelbe Blume im Vordergrund am rechten Bildrand sehr groß. Diese Struktur könnte Kandinskys Auffassung der Entstehung des Messias reflektieren, d.h. das Bild der Kreuzigung ist, soweit der gekreuzigte materielle Körper dargestellt wird, nur ein materielles Ereignis.101 Vielmehr trägt das dadurch entstandene eigentliche Wesen des Messias die Bedeutung, weshalb die riesige gelbe Blume als das Gleichnis Christi das Bild beherrscht. 4.2.3. Bild III: Davids Gründung Israels in Jerusalem und der rote Reigen Hinten rechts und links sind zwei große rotbraune Felsen, zwischen denen fünf Riesen stehen, die sich etwas zuflüstern. Von links kommen Menschen in verschiedenen Trachten, zuerst in Grau, dann in Schwarz, schließlich in Weiß auf die Bühne, danach kommen bunte Menschen. Als einer plötzlich einfache Armbewegungen macht und sich hinsetzt, beginnen die Menschen unterschiedliche Bewegungen zu vollführen und finden sich in unterschiedlichen Gruppierungen zusammen. Bald verschwinden die grauen, schwarzen und weißen Menschen und die in rot gekleidete Menschengruppe beginnt mit dem Reigen, der nur in Riesen erscheint und in Der gelbe Klang durch chaotische Sprünge und durch Laufen ersetzt wird. Die anderen stehen links und rechts davon und stampfen mit. Am Ende entsteht eine hastige Bewegung aller Menschen und danach Stille und Dunkelheit. Sheppard deutete die Szene, die in Der gelbe Klang im 5. Bild stattfindet, als die Bewegung der menschlichen Gesellschaft, mit der geistigen Kraft gegen die anarchische Naturkraft (Riesen) zu kämpfen.102 Jedoch scheint die Bewegung der Menschen gerade eine unorganisierte natürliche Formation zu bilden, und es entsteht kein Motiv, das die geistige Kraft andeutet. Emmert wiederum deutete die Szene als Erschaffung der Tiere in der Schöpfung und den sich allein bewegenden Mann als leidenden Christus.103 Sie verstand die Menschen als Personifikation der Tiere, weil die Menschen in Der gelbe Klang ein einfaches Trikot tragen, vernachlässigte aber die ursprüngliche Rolle der Trachten in Riesen. Die von Emmert angenommene Beziehung von Tieren und Christus ist nicht

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Auch siehe im Kap. 4.2.4. die Interpretation des schwarzen Kindes als der materielle Körper Christi. Sheppard 1975a, S. 173. Emmert 1998, S. 103.

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plausibel. Auch die Bedeutung des in Der gelbe Klang verschwundenen Reigens wurde bisher in keiner Forschungsarbeit angesprochen. Zwei rotbraune Felsen – Irdisches Jerusalem In der Landschaft mit zwei Felsen sah Emmert eine karge Öde und deutete sie als Symbol der Welt nach der Vertreibung.104 Diese Auffassung muss genauer geprüft werden, denn zwei ähnliche Felsen erscheinen in den frühen Bühnenkompositionen häufig105 und fungieren nun als ein ikonographischer Code. Ein Fels ist nach der christlichen Ikonographie Gott als Festung106 oder Petrus als Grundstein der Kirche. Doch geht es hier um zwei Felsen, die nicht mit dem einen Fels symbolisch übereinstimmen. Die Form der Felsen vermittelt in der Ikone Informationen, wie z.B. ein Fels mit drei Gipfeln als Symbol für Dreieinigkeit gilt und ein Fels bzw. Berg mit V-förmigem Rücken für Offenbarung steht.107 Zwei steile Felsen links und rechts im Bildhintergrund sind bei der »Kreuzabnahme« oder der »Höllenfahrt Christi« (Abb. 14)108 zu sehen. Die beiden Szenen finden in Jerusalem statt. Hier in Riesen aber erscheint kein Kreuz, sondern ein Reigen. Der Reigen kann sich auf das irdische und himmlische Jerusalem beziehen. Die Stadt Jerusalem ist durch Berge eine natürliche Festung und war für die Israeliten ein Synonym für den heiligen Ort Gottes. Hier gründete David den israelischen Staat, und hierher brachte er die Bundeslade. Nachdem der Staat unterging, bot die Stadt die Bühne für die Erlösung Christi und wurde Ausgangsort der christlichen Mission.109 Die Vorstellung der himmlischen Stadt, die nach dem Jüngsten Tag erscheinen soll, wurde das »himmlische Jerusalem« genannt. Die Repräsentation des »himmlischen Jerusalems« verband sich mit der Bedeutung des verlorenen Paradieses.110 Während die wirkliche Stadt Jerusalem, jetzt als das »irdische Jerusalem« geltend, ikonographisch mit zwei Felsen dargestellt wird, ist das himmlische Jerusalem eine von einer soliden Mauer umgebene Stadt und besitzt oft einen Garten, der aus dem Paradies stammt. Ein Reigen ist in der Regel ein Attribut des Paradieses, fand aber ursprünglich im irdischen Jerusalem beim Einmarsch der Bundeslade statt. Daher behandelt diese Landschaft mit zwei Felsen die irdische Stadt Jerusalem.

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Ebd., S. 100. Im 3. Bild in Schwarz und Weiß, in dem die an Maria erinnernde weiße Figur zu sterben scheint, und im 3. Bild in Schwarze Figur, in dem die an Christus erinnernde schwarze Gestalt bzw. Figur auf dem Kahn zwischen zwei Felsen hineinzufahren scheint. Die erstere Szene behandelt Jerusalem und die zweite das himmlische Tor. Siehe Kap. 4.4.3. und Kap. 4.5.3. 2. Sam 22, 2. Tradigo 2005, S. 128f. Siehe Kap. 4.2.1. unter »Grünen Hügel«. Lk 24, 47 und Apg 1, 8. Zur Entstehung der ikonographischen Darstellung des himmlischen Jerusalems siehe LCI Bd. 3, S. 375, sowie LCI Bd. 2, S. 394.

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Viele Menschen in verschiedenfarbigen Trachten Im 5. Bild von Der gelbe Klang tragen die Menschen keine Tracht, sondern Trikots und sehen wie »Gliederpuppen« aus. Emmert deutete sie einerseits als die Nachkommen des aus dem Paradies vertriebenen graugrünen Volks und andererseits als die Personifikation der erschaffenen Tiere.111 Jedoch steht die Mischform des Tiers und des Menschen prinzipiell für eine dämonische Darstellung,112 und somit ist Emmerts Vorschlag nicht nachzuvollziehen. Wegen der das irdische Jerusalem darstellenden Felsen und des Reigens sind die Menschen die einmarschierenden israelischen Völker. Die verschiedenen Farben symbolisieren die zwölf Stämme Israels. Die Menschen, die zuerst auftreten, tragen graue Trachten. Dann folgen die Menschen in schwarzen und weißen Trachten. Die bunt gekleideten Figuren kommen später. In Kandinskys Farbsymbolik steht Weiß für das Schweigen, das keinen Tod, sondern eine Möglichkeit in sich hält,113 und Schwarz für das an Tod erinnernde Nichts ohne Möglichkeit.114 Grau entsteht aus den beiden Farben und stellt eine Unbeweglichkeit ohne Klang und Bewegung dar. Von der Entstehungsreihe der farbigen Völker in diesem Bild aus gesehen, waren die ersten Menschen grau und die schwarzen und die weißen entstanden daraus. Andererseits verwendete Kandinsky Grau auch als Vereinigung von Weiß und Schwarz, nämlich in Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß, wo ein graues Licht nach dem angeblichen schwarzen Tod der weißen Figur entsteht. In diesen beiden Szenen der Bühnenkompositionen symbolisiert Grau sowohl den Urzustand des Menschen als auch die Vereinigung von Leben und Tod. Im Alten Testament schuf Gott Adam, den ersten Menschen, aus dem Staub als Abbild Gottes.115 Nachdem Adam und Eva die verbotene Frucht der Erkenntnis aßen, wurden sie aus dem Paradies vertrieben und konnten keine Frucht des Lebens mehr erwerben, so dass sie zu sterblichen Wesen wurden.116 Der erste Mensch kannte ursprünglich weder Gut und Böse noch Leben und Tod. Es ist anzunehmen, dass Kandinsky den Zustand des ersten Menschen farbsymbolisch in Grau, als Einheit von Schwarz und Weiß, d.h. Vereinigung von Gut und Böse bzw. Leben und Tod, darstellte. Dieser Urzustand des Menschen stammt ursprünglich vom Abbild des allmächtigen Gottes, der über Anfang und Ende, Alpha und Omega herrscht.117 Kandinskys Beschreibung von Weiß und Schwarz – Weiß sei Schweigen des Anfangs und Schwarz Schweigen des Endes – könnte sich auf diese biblische Gottesbeschreibung als Allmacht vom Anfang bis zum Ende beziehen. Demzufolge könnte Grau, Einheit von Weiß und Schwarz, als ein Farbzustand Gottes verstanden werden. Adams erster Nachkomme trägt daher eine graue Tracht nach dem Abbild Gottes. Danach trennten sich Gut und Böse sowie Leben und Tod, als Adam und Eva die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis brachen und von Gott bestraft wurden. Die Reihenfolge des Einmarsches, erst Grau, dann Schwarz, Weiß und Bunt, könnte 111 112 113 114 115 116 117

Emmert 1998, S. 102f. Nur das Lamm Gottes kann in der christlichen Religion als Personifi kation des Menschen gelten. ÜGK, S. 96. Ebd., S. 98. 1. Mose 1, 26 sowie 2, 7. 1. Mose 4, 19–24. Jes 41, 4, Offb 1, 8 sowie 21, 6.

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daher weitere Nachkommen von Adam und Eva darstellen und als Entstehung der israelischen Stämme oder Entfaltung der verschiedenen Rassen interpretiert werden. Einer, der tanzt Der Eine ist in Der gelbe Klang in Weiß gekleidet. In Riesen wiederum gibt es keinen Hinweis auf seine Kleidung, nur seine Bewegung gewinnt die Aufmerksamkeit aller anwesenden Figuren. Emmert nannte ihn den einsamen Christus, der nicht von den Menschen unterstützt wird, sondern, von den Tieren umgeben, unter seinem Schicksal leidet, das sich auf die Kreuzigungsszene des Riesen bezieht.118 Diese Deutung geht von der Gestik des Mannes aus, der, sich hinsetzend, den Kopf auf den Arm lehnt. Da sich meiner Auffassung nach Emmerts Deutung der Tiere nicht mit den Menschen in Trachten in Riesen deckt, muss die Rolle des Mannes im Folgenden anders gedeutet werden. Wenn man von der Aufmerksamkeit der Menschen auf diesen Mann ausgeht, kann der Mann eine führende Position innehaben, oder seine Tat kann eine große Wirkung in der Gesellschaft gehabt haben. Als führende Figuren einer Gesellschaft, die sich auf den Tanz beziehen, lassen sich im Alten Testament Mose, Aaron und David ausmachen. Mose und Aaron wohnten dem Tanz um das goldene Kalb bei, jedoch tanzten sie nicht. Aaron übernahm die Führung auf die Bitte des Volks hin, aus den goldenen Ohrringen des Volks das gegossene Kalb zu bilden.119 Mose wurde beim Anblick des Tanzes vor dem Idol zornig.120 Die Szene findet aber nicht in Jerusalem statt. Auch der Charakter des Reigens, der nach der christlichen Ikonographie im Paradies getanzt wird, passt nicht zu dem Gottes Zorn erregenden Tanz um das Kalb. Da Kandinsky in Über das Geistige in der Kunst die neue Verwendung der tanzkünstlerischen Bewegung, die der Bühnenkomposition als drittes Element die geistige Aussagekraft verleihen soll, propagierte, ist es unwahrscheinlich, dass er einen nach christlicher Tradition als sündig verstandenen Tanz, den Tanz um das goldene Kalb oder Tanz Salomes, ins Bild einführte. Die weiße Kleidung des Mannes in Der gelbe Klang bietet eine ikonographische Deutungsmöglichkeit. Die Körperbilder von Mose und Aaron unterscheiden sich dann in der Ikonographie durch Alter und Kleidung. Moses Kleidung besitzt kein besonderes Merkmal, Aaron hingegen hat eine festliche, prächtige Kleidung als Priester.121 Die Priesterkleidung wurde aus goldenen, blauen, violetten und roten Fäden gewoben.122 Trotz der führenden Rolle Aarons beim Tanz kann die weiße Kleidung des Mannes ihm nicht zugeordnet werden. Die dritte und wahrscheinlichste Person, David, brachte mit 30.000 Israeliten die Bundeslade in die Stadt Jerusalem. Vor der Bundeslade opferte er einen Stier und »tanzte mit aller Macht vor dem HERRN her und war umgürtet mit einem leinenen Priesterschurz«.123 Später spielte die Königstochter Mikal auf seinen Tanz an, denn sein Kleid verdeckte

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Emmert 1998, S. 103. 2. Mose 32, 2. Ebd., 32, 19. Zu Mose siehe LCI Bd. 3, S. 283, zu Aaron siehe LCI Bd. 1, S. 2. 2. Mose 39, 1 sowie 3. Mose 16, 4. 2. Sam 6, 14.

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seinen Körper nicht ausreichend.124 Aus dem Ereignis, dass ein Mann in Jerusalem, das Volk anführend, mit einem einfachen Kleid tanzt, kann man schließen, dass der Eine in Riesen und in Der gelbe Klang als David zu identifizieren ist. Der darauf folgende Tanz des israelischen Volks wurde, anders als der Tanz um das Kalb, wörtlich als »Reigen«125 bezeichnet und passt daher zu der Tanzszene in Riesen. In der christlichen Ikonographie wird David in der Regel als ein anmutiger jugendlicher Mann dargestellt.126 Alexander Sacharoff, der in den Bühnenkompositionen als Tänzer und Choreograph mitwirkt und vermutlich in Der gelbe Klang den weiß gekleideten Mann hätte tanzen sollen, hatte ein androgynes schönes Antlitz. Angesichts der möglichen Widmung der Rolle des Mannes an Sacharoff könnte man folgern, dass zu ihm die Körperbilder und die Episode Davids besser als die von Mose oder von Aaron passen. Sacharoff benutzte für seine Choreographie eine mystische Gestik, die er durch die Einstudierung der bildenden Künste aus der Antike und der Barockzeit als Tanzsprache entwickelte.127 Der Tanz des Einen in Riesen bzw. des weißen Mannes in Der gelbe Klang war der einzige Solotanz in den vier frühen Bühnenkompositionen und muss eine der wichtigsten Szenen des ganzen Stückes dargestellt haben. Die notwendige Verbindung zwischen der Episode Davids und der Erlösung kann durch die Prophezeiung von Jesaja hergestellt werden. Jesaja sagte der königlichen Familie Davids die Geburt Christi voraus.128 Dies brachte die ikonographische Darstellung der Wurzel Jesse, des Stammbaums Christi, hervor. Außerdem fungiert das Paar David und Batsheba ikonographisch als ein Gleichnis für Christus und seine Braut Ecclesia, die die Kirche symbolisiert,129 und suggeriert die Legitimität Christi als Davids Nachfolger und angekündeter Messias. Deshalb ist die Szene Davids in der Logik der Prophezeiung von Riesen nach Kandinskys Auffassung ein notwendiger Meilenstein zur Erlösung. Reigen der Menschen in roten Trachten In Der gelbe Klang wird kein Reigen gezeigt, es werden unterschiedliche Gruppenbewegungen dargestellt. Einige bilden Gruppen, die anderen verteilen sich auf der Bühne, »als ob ihnen ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe unklar sei«.130 Die eigentliche Darstellung ist jedoch nicht von negativer Bedeutung, sondern steht für die Auflösung und Vereinigung der getrennten Stämme Israels anlässlich der Gründung des Reichs durch David. Der Reigen spielt anscheinend in Kandinskys Auffassung des Tanzes eine zentrale Rolle, denn zweimal wird er in der ersten und vierten Bühnenkomposition getanzt. Er ist die einzige Tanzform, die im Text der frühen Bühnenkompositionen beschrieben wird. In Über das Geistige in der Kunst führte Kandinsky die Entstehung des Kunsttanzes auf zwei Ursprünge zurück, den Volkstanz, der von »rein sexueller Natur« sei, und den Tanz des Gottesdienstes, der, aus dem Volkstanz stammend, zum Zweck der spirituellen Inspiration

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2. Sam 6, 20. 2. Sam 6, 5. Siehe LCI Bd. 1, S. 478. Siehe Kap. 3.1.2. Jes 7, 14. Siehe LCI Bd. 1, S. 324, S. 486 und S. 562. Göricke 1987, S. 128.

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entstanden sei. Die beiden ursprünglichen Tänze hätten sich über mehrere Jahrhunderte bis zum Kunsttanz entwickelt.131 Obwohl er mit seiner Vorstellung des »Tanzes der Zukunft« die zeitgenössischen Tanzformen wie das klassische Ballett und den Tanz Isadora Duncans ablehnte,132 übernahm er den Reigen, eine einfache und ursprüngliche Form des Tanzes, in die Bühnenkompositionen, wo die Menschen in roten Trachten von Riesen in einem Kreis tanzen, und in Schwarze Figur die rosa gekleideten Menschen einen Reigen aufführen.133 Der Reigen bietet zwei Deutungsmöglichkeiten für die Bühnenkompositionen. Erstens symbolisiert diese Tanzform den Zeitgeist, die Sehnsucht nach der ursprünglichen Gesellschaft, die in den industrialisierten Großstädten verloren ging. Vom 19. Jahrhundert bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts war der Reigen in verschiedenen Künsten ein beliebtes Motiv. Kandinsky zeigte Matisses Gemälde »La Danse« (1909) (Abb. 19) im Almanach Der Blaue Reiter. Die nackten Menschen tanzen wild auf dem Rasen, fassen sich an den Händen und bilden einen Kreis. Die Reigen tanzenden Akteure in der Natur hängen mit dem Topos des Paradieses zusammen. In der Bibel wurde zwar ein Reigen im Paradies nicht erwähnt, jedoch entwickelte sich diese Verbindung in der christlichen Ikonographie, wie z.B. in Lukas Cranach d.Ä. Gemälde »Das goldene Zeitalter« (Abb. 20), das in der Alten Pinakothek München zu sehen war und ist. Es wurde sogar vermutet, dass dieses Gemälde Kandinskys Malerei um 1911, die das Paradies und die Liebespaare behandelt, beeinflusste.134 Die zweite Deutung des Reigens in den Bühnenkompositionen beruht auf der einfachen und kulturübergreifenden Form des Kreises. Kandinskys Absicht beim Verfassen der Bühnenkomposition bestand darin, eine monumentale Kunst aller Künste und Kulturen zu schaffen. Ein Monument für alle Kulturen muss eine allgemeine Sprache wie »Esperanto« haben. Ein Reigen, dessen einfache Form zeit- und kulturübergreifend überall in der Welt zu sehen ist, fungiert in den Bühnenkompositionen als eine Weltsprache, d.h. die abstrakte Form des Reigens öffnet die Tür zu allen Künsten und Kulturen. In diesem Sinne lässt die Nutzung des Reigens in den frühen Bühnenkompositionen Kandinskys spätere Entwicklung der Abstraktion in der Malerei voraussehen, die abstrakte Form als »Esperanto«. Der Reigen in Riesen ist rot und der in Schwarze Figur ist rosa. In der christlichen Ikonographie ist die Rose die Blume des Paradieses, und der Rosengarten wird von Maria geschützt. Daher wird die Gottesmutter vom roten Rosenkranz (oder auch manchmal abwechselnd mit rot und weiß) umringt dargestellt, woraus sich das Rosarium entwickelte.135 In Dantes Divina Commedia (1307) findet ein Reihentanz, eine offene Form des Reigens, statt, getanzt von Menschen mit Lilien und mit Rosen. Dann kommen drei Damen, gekleidet in Rot, Grün und Weiß, und die rote und die weiße Dame führen anschließend den Tanz an.136 Da Maria die Beschützerin des Paradiesgartens ist, werden die verstorbenen Menschen im Paradies mit Rosen verglichen, d.h. ein Rosenkranz deutet einen Reigen der Menschen

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ÜGK, S. 124. Siehe Kap. 3.1.1. Zur allgemeinen Funktion des Reigens als das kinetische Zeichen siehe Kap. 3.3.3. unter der Überschrift »Tanz.« Siehe Washton-Long 1983. Siehe LCI Bd. 3, 563–572. Purgatorio 29: 80ff.

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an. Der rotfarbige Reigen in Riesen und der rosafarbige Reigen haben daher einen besonders starken Bezug zum Paradies. Der Unterschied zwischen beiden ist, dass der erste im »irdischen Jerusalem« und der zweite im »himmlischen Jerusalem« stattfindet. 4.2.4. Bild IV: Der greise Simeon segnet das Jesuskind im Tempel Ein weißbärtiger schwarzer Mann und ein schwarzer Junge besitzen in Riesen das individuellste Aussehen. Kandinskys Beschreibung weist auf keine Farbe der Kleidung, sondern auf die direkt aufgetragene Körperfarbe, so ist nach seinem Darstellungsprinzip der Körperlichkeit zu vermuten, dass die beiden einen höheren Grad der Geistigkeit besitzen als ein normaler Mensch.137 Der schwarze Mann drückt den linken Arm an die Brust und streckt den rechten an die Seite. Der schwarze Jüngling kniet an einem kleinen Häuschen mit einem Turm und läutet Glocken. In Riesen gibt es keinen Dialog, in Der gelbe Klang sagt aber der Mann zum weißgekleideten Kind »Schweigen!«, so dass die bisherige Forschung den Mann für das fürchterlich Mächtige und das weißgekleidete Kind für das Unschuldige hielt.138 Jedoch haben die beiden in Riesen dieselbe schwarze Farbe am Körper, so dass sie im Wesentlichen einen gemeinsamen Charakter besitzen. Der weißbärtige schwarze Mann Der weiße Bart deutet auf das Alter des Mannes hin. Ein alter Mann und sein schwarzes Körperbild passen ohne Erklärung nicht zusammen, denn schwarz sind in der christlichen Ikonographie nur die Teufelfiguren. Die Möglichkeit der schwarzen Rasse ist hier auch nicht zutreffend, denn der schwarze Jüngling in Riesen ändert sein Farb-Attribut in Der gelbe Klang zur weißen Kleidung, d.h. die Hautfarbe Schwarz ist nicht physisch bedingt, sondern symbolisch bestimmt. In den Ikonen ist die Zusammenstellung des bärtigen Mannes und des Kindes in zwei Typen zu sehen. Der erste Typ behandelt Johannes den Täufer und das Jesuskind,139 der zweite ist der greise Simeon und das Jesuskind. Der zweite erscheint wiederum in zwei Formen, von denen die erste den ersten Tempelbesuch des Jesuskindes behandelt (Abb. 21).140 Links kommt Maria mit Joseph, der zwei Tauben für die Opferung trägt, herein, und Simeon (manchmal auch mit der Prophetin Hanna) empfängt das Jesuskind von Maria am Altar rechts mit gestreckten Armen.141 Die zweite Simeon-Ikone zeigt den Greis Simeon als Einzelfigur. Er steht frontal und trägt das Jesuskind mit beiden Armen. Bei der Ikone von Johannes dem Täufer dient der Bau der Kirche oder des Tempels nicht zur Bestimmung, beim Tempelbesuch Jesu ist er jedoch notwendig. Daher ist zu vermuten, dass die Szene des schwarzen Mannes mit dem am Häuschen knienden schwarzen Jüngling die Ikone vom Greise Simeon mit dem Jesuskind behandelt. Diese Möglichkeit kann auch durch die Erscheinung des Simeonskrauts in

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Siehe Kap. 2.2.3. Siehe Göricke 1987, S. 128, Eller-Rüter 1990, S. 77 sowie Emmert 1998, S. 102. Für diese Zusammenstellung gibt es auch eine Variation mit dem erwachsenen Jesus. Lk 2, 25–35. Siehe LCI Bd. 8, S. 361.

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Der gelbe Klang bekräftigt werden.142 Demzufolge ist der schwarze Mann identisch mit dem weißbärtigen, schwarz gekleideten Alten in Kandinskys Hinterglasmalerei »Allerheiligen I« (Abb. 3), der unter der gelben Blume liegt. Buchstäblich wächst die gelbe Blume, die als »hochleuchtender« Messias strahlt, aus der Wurzel,143 dem Greis Simeon. Die Simeon-Legende stammt angeblich von Judenchristen und wurde von Lukas im Evangelium mit der Prophetin Hanna in Verbindung gebracht.144 Der gläubige Greis, der lange die Erlösung des Volks Israel erwartete, bekam vom Heiligen Geist ein Orakel, dass er nicht sterben werde, bevor er nicht den Messias gesehen habe. Beim Tempelbesuch Jesu bezeichnete Simeon Jesus als »ein Licht zu erleuchten die Heiden«, was die Verbreitung des Christentums in den anderen Völkern andeutet, und prophezeite die Opferung Christi. Die Simeon-Ikone ist in den orthodoxen Festikonen ein fester Bestandteil.145 Simeons Rolle in diesem Bild, als letzter Prophet des vorchristlichen Judentums die Erlösung Christi zu prophezeien, bildet eine Brücke zwischen der Prophezeiung der Riesen im Alten Testament und der Erlösung Christi im Neuen Testament. Aus der offensichtlichen Ähnlichkeit der Ikone Simeons mit dem Bild IV von Riesen könnte die Vermutung entstehen, dass die schwarze Erscheinung der Haut von der ikonenspezifischen Farbmischung mit Eigelb stamme. Das Eigelb in der Hautfarbe wird im Zeitverlauf immer schwärzer, jedoch ist eine solche Wirkung nur eine materielle Folge. Die Körperfarbe muss nach der Körperlichkeit in den Bühnenkompositionen eine geistig-körperliche Eigenschaft zum Ausdruck bringen. Simeon lebte mit Hilfe des Heiligen Geistes trotz seines übermäßigen Alters weiter, obgleich sein Körper aus physischen Gründen hätte längst sterben müssen. Sein Körper birgt den Tod bereits in sich, bzw. der Körper ist tot, und Simeon selbst ist Geist. Es war vermutlich Kandinskys Absicht, Simeons materielle Abwesenheit durch einen Schatten des Körpers darzustellen. Der Alte im Hinterglasgemälde »Allerheiligen I« (Abb. 3) trägt ein schwarzes Kleid mit weißen Schädelmustern. Ein Schädel ist ohne Zweifel Vanitas, Symbol des Todes und der Vergänglichkeit. Ein Körper des Todes, der materiell vergangen ist, erwartet das Kommen des Messias mit seinem Schatten. Dies war nach Kandinsky das wahre Gesicht Simeons. Der schwarze Jüngling Angesichts der Identifizierung des Alten als Simeon ist der schwarze Jüngling, der am Häuschen kniend Glocken läutet, als das Jesuskind im Tempel zu verstehen. Zur endgültigen Deutung muss seine Darstellungsfarbe Schwarz mit dem geistig-körperlichen Status Jesu übereinstimmen. Die Hypothese des schwarzen Jesuskindes mag nach der konventionellen Ikonographie einen Widerspruch hervorrufen, denn die Farbe Schwarz steht im Allgemeinen für das Böse und den Tod. Jedoch schreibt Kandinsky später in Der gelbe Klang den Jüngling dieser Szene in ein weißgekleidetes Kind um, so dass der

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Siehe Kap. 4.2.2. Malva alcea wurde sowohl »Simeonskraut« als auch »Simeonswurz« genannt, weil die Arznei aus der Flüssigkeit der Wurzel hergestellt wurde. RGG, Bd. 6, S. 37 sowie LTK, S. 761. Der Festtag Simeons ist in der katholischen Kirche am 8. Oktober, in der orthodoxen am 3. Februar.

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Grundcharakter des Jünglings in Riesen nicht eindeutig für das Böse bestimmt sein kann. Daher muss bei der Interpretation die Eigenschaft von Schwarz und Weiß berücksichtigt werden. Dieser Farbwandel ist ein Zeichen, dass zwischen Riesen und Der gelbe Klang Kandinskys persönliche Auffassung von der Heilsgeschichte und der Aufbau seiner Darstellungstheorie vollendet wurden, d.h. die Farbänderung reflektierte die Änderung seiner Perspektive. Wenn man die Deutung von Schwarz nur aus Kandinskys späterer Farbtheorie in Über das Geistige in der Kunst übernimmt, wird die Deutung einseitig, wie auch die bisherigen Forschungsstudien in fünf Riesen nur »irdischen« Charakter lesen konnten, da der Kontakt der Erscheinungen unbeachtet blieb. Als wichtigstes ist darum zu berücksichtigen, welche Körperlichkeit die schwarze Figur in den tetralogischen frühen Bühnenwerken besitzt und welche Funktion sie übernimmt. Als Grundlage für die Identifikation des schwarzen Kindes ist Kandinskys Haltung zum Bildnis Christi zu berücksichtigen. Er malte in seinen Hinterglasmalereien keine erkennbare Christusgestalt, mit Ausnahme einer kleinen Kreuzigungsszene, die im Hintergrund von »Allerheiligen I« (Abb. 3) erscheint. Die Wahrnehmung durch den Betrachter ist wegen der kleinen Darstellung beschränkt, so dass man denken könnte, in diesem Bild spiele Christus nur eine kleine Nebenrolle. Demgegenüber blüht die große gelbe Blume im Vordergrund am rechten Bildrand. Das Prinzip der Körperlichkeit in den Bühnenkompositionen, die Körpergröße getreu ihrer geistigen Bedeutung darzustellen, gilt hier zwischen dem gekreuzigten Mann und dem durch dieses Opfer entstandenen Messias. Die große gelbe Blume ist in der vorhergehenden Interpretation als Gleichnis des Messias zu erkennen,146 d.h. die gelbe Blume im Hinterglasgemälde ist auch als die wahre Erscheinung des Messias zu verstehen und bildet einen Gegensatz zum menschlichen, leidenden Körper Christi. Die indirekte Art der Darstellung des Messias als Blume macht Kandinskys Absicht deutlich, das geistige Bildnis Christi nicht in materiell realistischer Gestalt zu malen. Dies ist der Ausgangspunkt, das schwarze Kind von Riesen sowie die schwarze Figur in den anderen Bühnenkompositionen als Jesus Christus zu identifizieren, d.h. Kandinsky lässt den höchst abstrahierten Menschenkörper Christi nicht materiell darstellen, er zeigt ihn vielmehr als schwarzen »Schatten«. Kandinskys Darstellungsprinzip des Messias könnte auf der Maltechnik der Ikone beruhen. In der Geschichte war das Bildnis Christi heftig umstritten, denn sein Wesen als Gottessohn besaß sowohl einen Menschenkörper als auch einen heiligen Geist. Der Menschenkörper berührt das Verbot der Idolatrie. Nachdem die Ikone Mitte des 9. Jahrhunderts nach dem Ikonoklasmus wieder zugelassen war, wurde die Gültigkeit des Bildnisses Christi weiter thematisiert und gerechtfertigt mit der Begründung, das Bildnis Christi sei kein Idol, sondern ein »Schatten« seines Körpers.147 Kandinsky schätzte die Ikonenkunst hoch und sammelte sie selbst. Auch zu fachspezifischen Ikonenkenntnissen hatte er einen Zugang durch die Fachzeitschrift des Kondakova-Instituts.148 Die Darstellungstechnik Jesu muss ihm daher wichtig gewesen sein. Neben den beim Ikonoklasmus zerstörten oder schwarz übermalten Bildnissen Jesu 146 147 148

Siehe Kap. 4.2.2. Siehe LCI Bd. 1, S. 372. Kandinsky zitiert die Farbdeutung der Ikone aus dieser Fachzeitschrift in Über das Geistige in der Kunst.

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gibt es eine Ikone von Simeon und Jesus, in der keine Erscheinung Jesu zu sehen ist. Simeon deutet nur durch eine Gestik, das Kind in den Armen zu tragen, das Dasein Jesu an (Abb. 22). Dies beruht auf dem Glauben, das Dasein Jesu sei nicht vergangen und nur mit den physischen Augen unsichtbar. Demnach könnte der schwarze Jüngling einen unsichtbaren Menschenkörper darstellen, wie das Beispiel des Greises Simeon zeigt. Der schwarze Körper in den frühen Bühnenkompositionen ist denkbar als Ergebnis der Überlegung Kandinskys, den materiellen Körper des geistigsten Wesens als einen Schatten zu malen, denn nach der Hinrichtung des materiellen Körpers Jesu wird der geistige Körper Christi als ein gelber Riese auf der Bühne sichtbar. Weitere Unterstützung erhält die These der schwarzen Körperbilder Christi dadurch, dass die frühen vier Bühnenkompositionen Kandinskys Auffassung von Apokalypse sowie Eschatologie behandeln und dabei die Rolle Christi als todbringender Richter zu verstehen ist. Die schwarze Figur breitet im dritten und vierten Stück ihre Arme aus, als ob sie ihre schwarze Macht drohend ausübe.149 Kandinskys aus dem Almanach Der blaue Reiter stammender Ausdruck, »schwarze-todbringende« Hand, passt zur Gestik der schwarzen Figur. Eine todbringende Hand liefert ohne Zweifel eine böse Bedeutung. Jedoch kann der Tod in einer apokalyptischen Szene einen anderen Sinn haben, nämlich Tod als ein Prozess hin zum ewigen Leben. Die schwarze Figur in der Bühnenkomposition IV Schwarze Figur tritt auf der weißen Wolke unter dem schwarzen Himmel auf.150 Wer von diesem Naturphänomen begleitet wird, muss nach dem Neuen Testament als kommender »Menschensohn« gelten.151 Die schwarze Figur ist daher keine Figuration des Bösen, sondern Darstellung Christi. In diesem Zusammenhang personifiziert der schwarze Jüngling, der am Häuschen Glocken läutet, nicht das Böse, sondern die höchste Heiligkeit. Es mag sein, dass Kandinsky in dieser Szene durch die gemeinsame Farbe von Simeon und dem Jesuskind seine eigene Auffassung der Legende Simeons andeutete; die wahre Heiligkeit sei nicht mit körperlichen Augen zu sehen, sondern nur durch geistige Augen wahrnehmbar. Der schwarz dargestellte Simeon besitze keine materiellen Augen mehr, so dass er die wahre, geistige Gestalt des zukünftigen Messias in dem schwarz dargestellten Jüngling erkennen konnte. Die Begegnung der schwarzen Figuren birgt das wichtigste Geheimnis sowohl für die Handlung als auch für das Darstellungsprinzip der Körperbilder in den Bühnenkompositionen. In Der gelbe Klang wurde die schwarze Gestalt des Jünglings nicht aufgenommen, stattdessen wird ein weiß gekleidetes Kind dargestellt. Zwei Gründe für die Änderung sind denkbar; erstens fand Kandinsky später die Darstellung des Kindes als Schatten widersprüchlich, denn Jesus muss als Kind noch einen menschlichen Körper besessen haben. Erst als Jesus den höchsten geistigen Stand erreichte, konnte er ohne Menschenkörper

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Kandinsky, Schwarz und weiß, Bild 1 und die Schwarze Figur, Bild 2. Zu den Deutungen siehe Kap. 4.4.1. und Kap. 4.5.2. Kandinsky, Schwarze Figur, Bild 4. »Sofort nach den Tagen der großen Not wird sich die Sonne verfinstern, (...) und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden«(Mt 24, 29).»Danach wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen; dann werden alle Völker der Erde jammern und klagen, und sie werden den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels kommen sehen« (Mt 24, 30).

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dargestellt werden. Zweitens wirkte das schwarze Kind als Jesuskind sowohl für Kandinsky als auch für ihm nahestehende Menschen doch zu unerwartet und führte zu dem Missverständnis, dass es einen bösen Charakter personifiziere. 4.2.5. Bild V: Kreuzigung Christi – Erfüllung der Prophezeiung Auf der Bühne ist ein hellgelber Riese zu sehen. Er hebt die beiden Arme seitlich hoch und wächst dabei. Die Handflächen sind nach unten gerichtet. Als der Riese eine Kreuzform erreicht, kommt die Dunkelheit. Die Szene unterscheidet sich nicht von dem entsprechenden Bild VI in Der gelbe Klang. Die Kreuzform des einzelnen Riesen weist deutlich auf Christus hin. Ein hellgelber Riese Der hellgelbe Riese hat ein »weißes undeutliches Gesicht und große schwarze Augen«. Schreyer und Sheppard deuteten die Kreuzigung des Riesen als Opferung des Lichtes.152 Göricke verstand diesen Riesen als Vereinigung der fünf Riesen, die Kreuzigung sei die Folge des Kampfs zwischen dem Riesen und der Dunkelheit, wobei die Dunkelheit den Riesen besiege.153 Emmert deutete den Riesen, sich auf Steiners Schöpfungsinterpretation beziehend, als den Urmenschen, der mit der riesengleichen Darstellung die Fähigkeit ausdrücke, den Himmel zu erreichen, und Christus befreie durch die Opferung die Menschen von der Ursünde.154 Dies kann als freie ikonographische Deutung des kreuzförmigen Riesen verstanden werden, jedoch ergibt sich ein Widerspruch zwischen der Deutung der Riesenfigur und derjenigen der fünf Riesen. Dem Gesichtsausdruck schrieb Emmert »Trauer und Erhabenheit« zu, Kaman deutete wiederum das weiße Gesicht und die schwarzen Augen als den Kontrast des Nichts, womit eine Atmosphäre der Bedrohung und des Unheils vermittelt würde.155 Weit geöffnete Augen sind ein Merkmal für die Augen Christi in der Ikone.156 Die Augenfarbe bezieht sich auf die schwarze Darstellung des Jünglings im Bild IV. Auf Hinrichtungsbildern hat Christus im Allgemeinen geschlossene Augen (Abb. 23).157 Hier wird jedoch durch die geöffneten Augen klar gemacht, dass es sich bei dieser Darstellung nicht um eine Leiche handelt, sondern um den Geist Christi, der nicht schläft.158 Das Wachsen des Riesen ist ein Zeichen für den Verlust des materiellen Körpers und die Befreiung des Geistes Christi.

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Schreyer 1948, S. 81. Göricke 1987, S. 129. Emmert 1998, S. 104f. Kaman 2001, S. 138. Dazu LCI Bd. 1, S. 371ff. Siehe LCI Bd. 2, S. 614. Ein Thema der Ikone, dass Christus auch im Schlafen seine Augen nicht schließt, stammt vom Psalm 121, 4. Zur Ikone siehe Tradigo 2005, S. 240.

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Gestik der Kreuzform mit nach unten gerichteten Handflächen Anders als das übliche Kruzifix, in dem die Handflächen Christi wegen der Wunde des Nagels zum Zuschauer oder nach oben gerichtet werden, richten sich beim Riesen die Handrücken nach oben.159 Emmert ordnet diese detaillierte Gestik Motiven wie Auferstehung, Himmelfahrt Christi und Offenbarung zu,160 jedoch vernachlässigt sie dabei die Riesendarstellung des Bildnisses Christi und verallgemeinert das Kruzifix zu sehr. Bei der Auferstehung muss Christus mit dem Menschenkörper wieder vor den Frauen und den Aposteln erscheinen und fährt im selben Zustand in den Himmel hinauf, so dass die körperlose Darstellung des Riesen nicht zum Körperkonzept der Auferstehung und Himmelfahrt Christi gehören kann. Bei der Gebetsgestik Orans oder bei der Offenbarung als Richter sind die Handflächen der Orans-Figur nach oben gerichtet, stimmen also nicht mit der Gestik des Riesen überein.161 Die spezifische Gestik des Riesen ähnelt der Ikone der Kreuzerhöhung (exaltatio crucis). Am Tag der Kreuzerhöhung, der zu den zwölf orthodoxen Kirchenfesttagen gehört, werden die Auffindung des heiligen Kreuzes durch die Heilige Helena, die Mutter von Konstantin dem Großen,162 die Einweihung der Auferstehungskirche in Jerusalem und die Anerkennung des Christentums durch das Römische Reich gefeiert. Es gibt zwei Typen dieser Themen: Einweihung der Kirche, in der Konstantin der Große das Kreuz trägt, und die Verehrung des Kreuzes, wobei das Kreuz im Wasser getauft wird (Abb. 24). In der zweiten Form der Ikone erscheint Christus im Himmel in Kreuzform. Die Handflächen Christi werden dabei nach unten gerichtet und stimmen mit der Handgestik des Riesen überein, d.h. die Kreuzigung des Riesen bezieht sich nicht nur auf die allgemeine Passion Christi, sondern auf die Anerkennung des Christentums als Weltreligion.163 Da das vorhergehende Bild in Riesen auch die Verfolgung der Gläubigen andeutete, zielt das Thema von Riesen schließlich auf die Erlösung der Christen. Das letzte Bild behandelt daher die Erfüllung der Prophezeiung der fünf Riesen: den Sieg des Glaubens. 4.2.6. Weiterentwicklung zu Der gelbe Klang Nun stellt sich die Frage, inwieweit die Motive aus dem ursprünglichen Stück Riesen für die Bühnenkomposition Der gelbe Klang beibehalten und welche neuen Ideen eingebracht wurden. Trotz der offensichtlichen und strukturellen Unterschiede wie der zugefügten Einleitung164 und dem neu gestalteten dritten Bild blieben die Figuren und die Geschehnisse im Prinzip gleich, so dass das Hauptthema der Prophezeiung und der Erlösung 159 160 161 162

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In Riesen stand »Handrücken oben«, und in Der gelbe Klang »Handfläche nach unten«. Emmert 1998, S. 105. Siehe LCI Bd. 2, S. 214. Die Kaisersmutter Helena lässt Konstantinus den römischen Tempel auf Golgotha abreißen und unternahm die Ausgrabung des Kreuzes. Das Grab wurde 326 entdeckt und die Holzstücke des Kreuzes und Nägel wurden in der Nähe auch gefunden, so dass dort eine christliche Kirche erbaut wurde. Am 14.9. ist der Feiertag zur Kreuzerhöhung. Zum Ursprung des Kreuzes und dessen Weiterentwicklung siehe LCI Bd. 2, S. 562. In der Sprache der Einleitung ist die dadaistische Stilistik zu erkennen. Dazu siehe Kap.

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nicht verändert wurde. Die einzelnen Bühnenelemente wie Sprecharten und Lichteffekte wurden komplexer und lassen Kandinskys vertiefte Fähigkeit zur Inszenierung deutlich erkennen. Einige der Motive, wie z.B. die gelbe Blume, sind konkreter dargestellt, zeitweise wurden die Figuren wie etwa die Menschen in verschiedenfarbigen Trachten sowie im roten Reigen gegenstandsloser und ihre ursprünglichen Ideen sind fast nicht mehr zu sehen. Wie in der neu vorgelegten Deutung klar wurde, schließt sich die Bühnenkomposition I Riesen den weiteren drei Bühnenkompositionen an. Die Bühnenkomposition Der gelbe Klang enthält dagegen eine entscheidende Änderung der Gestaltungsprinzipien des Bildnisses Christi, so dass das Stück der weiteren Entschlüsselung der möglichen Tetralogie der frühen Bühnenkompositionen nicht nutzt, daher sind hier nur kleine Hinweise auf wichtige neue Motive in Der gelbe Klang zu erkennen. Das dritte Bild in Der gelbe Klang Emmert nannte das in Der gelbe Klang hinzugefügte Bild 3 eine »Lichtkomposition« und deutete es als den vierten Schöpfungstag der Sterne.165 Da diese Deutung hauptsächlich auf dem Einfluss Steiners auf Der gelbe Klang basiert166 und mit der vorliegenden Deutung des Stücks Riesen nicht übereinstimmt, ist eine neue Interpretation des Bildes im Hinblick auf die Neuinterpretation von Riesen nötig. Sheppard und Göricke sahen in diesem Bild einen Konflikt zwischen den Farben Gelb und Schwarz. Das die Bühne überflutende gelbe Licht zeige die stark werdende irdische Kraft, deren Figuration die fünf Riesen seien. Der Kampf ende schließlich zu Gunsten der Dunkelheit und es herrsche Pessimismus auf der Bühne.167 Diese Folgerung beruht auf einer inhaltlichen Deutung der Dunkelheit am Ende der sechs einzelnen Bilder, wobei meines Erachtens nach die Abdunkelung aus einem rein bühnentechnischen Grund, nämlich der Absicht, die Szene ohne Vorhang zu schließen, eingeführt worden sein kann und darin keine Bedeutung gesehen werden muss. In Anschluss an das zweite Bild von Riesen und von Der gelbe Klang erscheinen hier wieder fünf Riesen. Dann folgt die Simeonsszene als das vierte Bild. Hinter dieser Umstellung der Bilderfolge ist Kandinskys Absicht zu vermuten, das Thema zu verstecken, jedoch verstärkt dies zugleich die Verbindung der Propheten des alten Testaments zum Propheten Simeon im Neuen Testament. Davids Szene wurde zum fünften Bild gemacht, vermutlich weil die Tanzszene im verlängerten Stück einen dynamischen Höhepunkt bilden soll. Das zugefügte dritte Bild behandelt das überflutende gelbe Licht, dies ist unverkennbar die Erscheinung des im Titel bezeichneten gelben Klangs, d.h. in diesem Bild liegt

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4.2.2. Zur strukturellen Analyse des Gedichtes siehe Göricke 1987, S. 123 und Schober 1993, S. 135. Emmert 1998, S. 100. Emmerts Hypothese fand ich persönlich sehr interessant und nicht unmöglich. Das dritte Bild wird, wenn man die Einleitung mitzählt, zum vierten Schritt des gesamten Stücks und die ganze Gestaltung der sieben Szenen inkl. Einleitung könnte als eine Verwirklichung der sechstägigen Schöpfung verstanden werden. Es kann auch sein, dass Kandinsky in Riesen die das ursprüngliche Thema überschreitende Gemeinsamkeit mit Steiners Schöpfungsinterpretation entdeckte und gerne deren Gliederung nachahmte. Jedoch ist das Hauptthema von Riesen noch so präsent, dass die Motive im Prinzip unberührt blieben. Sheppard 1975a, S. 172 und Göricke 1987, S. 127.

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die wichtigste Änderung von Riesen zu Der gelbe Klang. Das Licht besitzt keine Gegenständlichkeit. So verstand Kandinsky, der die Farbwirkung in der Malerei unabhängig von Gegenständen zu analysieren und zu verwenden versuchte, den Lichteffekt als eine besondere Inszenierungsmöglichkeit der Bühnenkunst. Nachdem er 1908 und 1909 die frühen Bühnenkompositionen entwarf, gestaltete er 1910 und 1911 seine Theorie konkreter in Über das Geistige in der Kunst. Er bezeichnete die drei wichtigsten Gestaltungselemente der Bühnenkomposition als »Bewegungen«, die als Mittel aller Künste die Vermittlerrolle zwischen dem Kunstwerk und dem Zuschauer spielen. Später verzichtete er aber auf das Wort »Bewegung« und ersetzte es durch »Klang«, weil das Wort »Klang« seiner Vorstellung eines Kunstmittels aller Künste näherkam.168 Diese entscheidende Änderung ist auch bei der Benennung der frühen Bühnenkompositionen deutlich zu erkennen, und zwar wurde die Bühnenkomposition I Riesen später in Der gelbe Klang umbenannt und die Bühnenkomposition II Stimmen in Grüner Klang.169 Daraus geht hervor, dass der »Klang« nach dem Entwurf der frühen Bühnenkompositionen eine zentrale Bedeutung erhielt. Das dritte Bild der Lichtkomposition war daher ein Experiment des Klangs, der den Geist in Schwingung versetzen soll. Das Licht bzw. der gelbe Klang symbolisiert die magische Kraft der Propheten. Sie überspringen die Zeit, die verfließt, bis die Prophezeiungen erfüllt werden. Die Farbe Gelb ist, wie in 4.2.2. analysiert wurde, die Farbe der Prophezeiung und zugleich die der Posaune, die die Offenbarung170 verkündet. Das gelbe Licht ist darum der gelbe Klang, der den Beginn der Erfüllung der Prophezeiung kennzeichnet. Damit wird die Funktion dieses Bildes klar; das dritte Bild in Der gelbe Klang kündigt an, dass in den folgenden Bildern 4 bis 6 die Erfüllung der Prophezeiung beginnt. Das dritte Bild gibt dem Stück den Ton der Offenbarung und läutet die geistige Wende ein. Dreimaliger Schrei Claudia Emmert argumentiert, der dreimalige Schrei in Der gelbe Klang mache das »Zaudern Christi deutlich, als er am eigenen Opfertod zu verzweifeln beginnt«.171 Da jedoch im Neuen Testament Jesus bei der Kreuzigung ein- oder zweimal schrie,172 ist Emmerts Begründung fraglich. Alternative Motive, die dreimal wiederholt werden und auf die Kreuzigung als Folge verweisen, gibt es drei: die dreimalige Prophezeiung Christi seines Todes und der

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Siehe Kap. 3.2.1. sowie Kap. 3.2.2. Im Pariser Manuskript stand auf dem Titelblatt Stimmen oder Grüner Klang. Angesichts von der vorliegenden Interpretation, dass fünf Riesen die alttestamentarischen Propheten behandeln, wird in Riesen die »zweite Offenbarung« bzw. den Kampf des Sohnes angekündigt. Emmert 1998, 108. Mt 27, 46/50. Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: »Eli, Eli, lama asabtani? das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« sowie »Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.« Vergl. Mk 15, 34/37, Lk 23, 46, Joh 19, 30. Bei Mk und Lk schrie Jesus nur einmal.

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Auferstehung,173 die angekündigte Verleugnung des Petrus174 und das Geschrei des Volks bei der Verurteilung Jesu bei Pilatus.175 Der erste Deutungsvorschlag könnte mit dem Thema der Prophezeiung der fünf Riesen in Verbindung gebracht werden, jedoch fehlt es hier noch an weiterer Begründung. Als zweiter Vorschlag könnte der dreimalige Schrei die Verleugnung des Apostels symbolisieren, die dreimal geschah und von ein- oder zweimaligem Krähen des Hahns begleitet wurde.176 Jedoch könnte dies auch zu ausgeweitet wirken, denn für die Thematik von Riesen sowie von Der gelbe Klang spielen die Apostel bisher keine große Rolle. Darum mag der dritte Vorschlag die naheliegendste Interpretation des dreimaligen Schreis sein: Die Hohepriester, die Oberen und das Volk schrien alle miteinander und riefen, »Kreuzige, kreuzige ihn!« Pilatus sprach zum dritten Mal im Hohen Rat: »Was hat denn dieser Böses getan? Ich habe nichts an ihm gefunden, was den Tod verdient.«177 Seine Rede beruhigte aber die Leute nicht und alle »setzten ihm zu mit großem Geschrei und forderten, daß er [Jesus] gekreuzigt würde. Und ihr Geschrei nahm überhand.«178 Das Geschrei des Volks, das sich nach dem Todesurteil Jesu sehnt, wäre ein plausibler Begleiter zur Kreuzigung des grellgelben Riesen. Die Anonymität der Schreienden passt auch mit der Abstraktion des Stücks zusammen. Dass es in Der gelbe Klang dreimal vorkommt, könnte mit Pilatus’ dreimaliger Rede und der darauf folgenden Empörung des Volks übereinstimmen. Eine weitere Spekulation zum Nachtrag des dreimaligen Schreis in Der gelbe Klang ist, dass Kandinsky vielleicht dabei an den deutschen Aberglauben, den Kuckuck betreffend, dachte. Dazu kann ein Verweis auf die Bühnenkomposition IV Schwarze Figur weiterhelfen.179 Da Kandinsky sich für die Verbreitung und Anpassung des Christentums interessierte, führte er in die Bühnenkompositionen IV aus europäisierten christlichen Volkssagen stammende Motive ein. In einer von vielen Volkssagen über den Kukkuck gilt dieser Vogel als Verräter, der mit dem dreimaligen Schrei »Guck guck!« das Versteck Christi verriet.180 Kandinskys Ergänzung des dreimaligen Schreis in Der gelbe Klang könnte entsprechend dem Kuckucksschrei in der Bühnenkomposition IV entstanden sein, so dass das die Tetralogie einleitende Stück und das sie abschließende Werk in einer symmetrischen Beziehung zueinander stehen könnten. Ferner könnte dies auf Kandinskys eigene Auffassung der Volkssagen hinweisen, in denen das ursprüngliche religiöse Ereignis in andere Kulturen überliefert und verändert wird.

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Mt 20, 17–19, Mk 10, 32–34 und Lk 18, 31–34. Zur Ankündigung der Verleugnung siehe Mt 26, 34, Mk 14, 30 sowie Lk 22, 34. Zur Verleugnung des Petrus siehe Mt 26, 69–75, Mk 14, 66–72 sowie Lk 22, 54–62. Mt 27, 15–26, Mk 15, 6–15, Lk 23, 13–25, und Offb 18, 39–19, 16. Während bei Matthäus und Lukas der Hahn nur einmal kräht, unterscheidet sich Markus Evangelium dadurch, dass der Hahn zweimal kräht, wenn Petrus dreimal seine Zugehörigkeit verleugnet. Lk 23, 21f. Lk 23, 23. Siehe Kap. 4.5.5. In dem vierten Stück schreit nämlich der Kuckuck am Tannenbaum dreimal und kündigt damit den Auftritt Christi an. HDA, S. 707.

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4.2.7. Schluss: Gelb als Verkündungston der Offenbarung Die Bühnenkomposition I Riesen ist die Geschichte der Propheten. Die fünf Bilder reichen von der Vorhersage der Geburt des Messias bis zur Erfüllung der Erlösung. Die fünf Propheten, die entsprechend ihrem geistigen Rang als Riesen dargestellt werden, betrachten die Welt und beginnen ihre Prophezeiung mit der Vision des Cherub in den BassStimmen (Bild 1). Der Glaube wird in die Welt wie Blumen gestreut. Die Gläubigen wurden dabei als Märtyrer hingerichtet, die auf den Hügel gehen. Bei diesem Anblick widerrufen die anderen ihren Glauben, jedoch wird die Geburt des Messias als große gelbe Blume in Der gelbe Klang vorhergesagt, und der weitere Vorgang zur Erlösung wird erwartet. Die große gelbe Blume symbolisiert eine der wichtigsten Figuren des Stücks, nämlich Simeon den Gottesträger (Bild 2). Im dritten Bild kommen die unterschiedlichen Völker, die ursprünglich aus dem Vorbild Gottes entstanden sind, auf die Bühne. Grau ist die Urfarbe Gottes und enthält das Leben und den Tod, Anfang und Ende zusammen. Alle von grau bis bunt gekleideten Menschen feiern die Gründung Israels durch David und bilden schließlich einen roten Reigen wie im Paradiesgarten. Der Reigen wurde von Kandinsky als ein Symbol für das irdische und das himmlische Jerusalem verwendet und steht auch für die Vereinigung der verschiedenen Völker. Der führende Mann ist David, aus dessen Familie der Messias geboren wird. Im vierten Bild besucht das Jesuskind den Tempel, und Simeon sagt die Erlösung Israels durch die Opferung Christi voraus. Simeons Körper ist materiell bereits verloren, so dass er durch Schwarz dargestellt wird. Auch das Jesuskind wird schwarz dargestellt, denn sein Körper hat als Materie geringste Bedeutung und gilt nur als Schatten. Im fünften Bild formt der geistige Körper Christi ein Kreuz, während sein physischer Körper verloren ging. Die nach unten gerichteten Handflächen des Riesen beziehen sich auf die Gestik in der Ikone Kreuzerhöhung und deuten die Anerkennung und Verbreitung des Christentums an. Die Prophezeiung der fünf Riesen ist damit erfüllt.

4.3. Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang Von der zweiten Bühnenkomposition Stimmen oder Grüner Klang sind unterschiedliche Ausgaben vorhanden. Gabriele Münter schrieb nach Kandinskys mündlichem Diktat den ersten Text, den er später selbst korrigierte. Ein russischer Text wurde später Grüner Klang genannt.181 Der russische Text von Grüner Klang enthält jedoch wesentlich weniger Text als der deutsche von Kandinsky rein geschriebene Text.182 So wird hier das deutsche Manuskript, das von Kandinsky als Bühnenkomposition II – Stimmen – bezeichnet wurde, als Primärtext benutzt. Laut der Herausgeberin schienen die Figuren in den späteren Texten weitergehend abstrahiert zu werden.183 Das Werk besteht aus zwei Szenen, dazu jeweils einer Skizze und einer Bewegungspartitur mit einer kleinen Skizze.

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In seinem Notizbuch auf Russisch im Lenbachhaus wurde das Stück als das erste bezeichnet, in den deutschen Texten im Centre Pompidou jedoch als das zweite. Siehe ÜT, S. 89. ÜT, S. 322f. ÜT, S. 89.

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Die vorliegende Analyse deutet das Thema der Bühnenkomposition II Stimmen als Vereinigung des Alten und Neuen Bundes. Das erste Bild behandelt die Szene der »Verklärung Jesu«, bei der Jesus mit der Erscheinung von Mose und Elia spricht. Bei diesem Anlass verspricht Petrus, Gebetsstätten für Jesus, Mose und Elia zu bauen. Das zweite Bild zeigt dann nach einer Streitszene von Menschenmassen zwei grüne verschleierte Frauenfiguren, von denen die eine unauffällig in der Gruppe sitzt und die andere auf die Zuschauer mit »unbeweglichen« Augen guckend im Vordergrund der Bühne entlanggeht. Die beiden könnten als Ecclesia und Synagoge verstanden werden, die die christliche Kirche und den jüdischen Tempel darstellen. Die identischen Frauenfiguren erscheinen in Kandinskys Hinterglassmalerei »Allerheiligen I« (Abb. 3). Da die beiden Figuren das Grün gemeinsam haben und der umbenannte Titel der Bühnenkomposition II »Grüner Klang« heißt, senden die zwei Frauen trotz der gegensätzlichen Darstellungen von Synagoge und Ecclesia den gleichen Klang. 4.3.1 Das erste Bild: Die Verklärung Jesu Im ersten Bild sitzen drei »nebeneinander kauernde Figuren« auf der Bühne links vor dem Berg (Abb. 25). Rechts steht eine »ganz gerade stehende [schwarz angekleidete] Figur mit dem Gesicht zu den Coulißen gewendet«. Nach einer Musik tritt von rechts ein Mann mit einem buntgefleckten Kleid ein und geht hinter den Figuren langsam über die Bühne. Dann erscheint im Hintergrund eine »größere Undeutlichkeit« und ein Lärm »als ob der Himmel auf die Erde fiele«. Der gehende Mann spricht einige Worte und geht ab. Die stehende schwarz gekleidete Figur dreht langsam den Kopf in die Richtung zu den drei sitzenden Figuren und hebt langsam den linken Arm »mit steifer Hand halb seitwärts (Handfläche nach oben)«. Drei Figuren stehen auf, »stecken die Köpfe zueinander« und gehen, Blicke zu verschiedenen Seiten werfend, nach rechts ab. Die schwarze Figur bleibt stehen und verschwindet erst in dem Moment, als die zweite Szene anfängt. Ulrika-Maria Eller-Rüter vergleicht den Lärm mit dem »Einsturz des Himmels« und versteht unter dem ersten Bild einen Weltuntergang,184 womit sich das Thema des zweiten Bildes als Jüngstes Gericht verstehen ließe.185 Zu den sonstigen Bühnenfiguren sowie den Geschehnissen legte sie keine konkrete Interpretation vor. Claudia Emmert ging auf die ikonographische Identifikation der Personen im ersten Bild ein und deutete dies als »Jesus in Gethsemane« bzw. »Jesus am Ölberg«,186 weil hier die drei »kauernden« Figuren und eine anscheinend wegweisende Figur am Berg erscheinen. Nach Emmert repräsentieren sie drei Apostel, die am Ölberg auf Jesus warteten und einschliefen, sowie Christus selbst. Seine schwarze Farbe müsse »nicht unbedingt negativ gedeutet werden«,187 jedoch könne der Lärm nach Emmert »das Verzweifeln des Gottessohnes symbolisieren«.188 Dem

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Eller-Rüter 1990, S. 86. Ebd. Mt 26, 36–46, Mk 14, 32–34 sowie Lk 22, 39–46. Bei Lukas erscheint ein »Engel vom Himmel« und stärkte Jesus. Emmert 1998, S. 129. Ebd.

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bunt gekleideten, gehenden Mann schreibt Emmert die Rolle eines Engels zu, der im Evangelium des Lukas Jesus stärkt.189 So versteht Emmert das zentrale Interesse des Stücks an der »mit der Heilserwartung verbundenen Thematik des ›Überwindens‹«,190 das nach der Offenbarung des Johannes eine Voraussetzung für Auserwählung sei.191 Von den beiden Interpretationsversuchen kann in der vorliegenden Studie nur zwei Aussagen zugestimmt werden: Identifizierung der schwarzen Figur als Christus und drei kauernde Figuren als Apostel. Das von Emmert vorgeschlagene Motiv von »Jesus in Gethsemane« erfüllt zwar die Bedingung der Szene, es gibt aber eine andere Szene im Neuen Testament, die alle Bedingungen dieses Bildes erklären kann. Angesichts der Tatsache, dass auf der Bühne außer Jesus und den Aposteln im Hintergrund eine »noch größere Undeutlichkeit« erscheint und im Sprechtext »ein unklarer Halbnebel« erwähnt wird, lässt sich die Szene als die »Verklärung Jesu«192 nach dem neuen Testament interpretieren. Jesus und die drei Apostel Petrus, Johannes und Jakobus gehen auf einen Berg, um zu beten. Beim Beten wird das Aussehen Jesu verklärt und sein Angesicht leuchtet wie die Sonne, und seine Kleider werden weiß wie das Licht. Dann erscheinen vor ihnen Elia und Mose und reden mit Jesus. Petrus verspricht, hier drei Hütten für Jesus, Mose und Elia zu bauen. Danach erscheint eine lichte Wolke und eine Stimme spricht: »Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!«193 Den sich fürchtenden Gefährten sagt Jesus, »Steht auf und fürchtet euch nicht!« Dies ist der Ablauf im Neuen Testament, den die erste Szene von Grüner Klang behandelt. Die einzelnen Bühnenfiguren werden im Weiteren analysiert. Drei nebeneinander kauernde Figuren mit grünen Gesichtern Die drei kauernden Figuren haben drei verschiedenfarbige Gewänder; »kalt rot (Stich in’s Blaue)«, »kalt grün« und »ziemlich hell blau«. Die Abstufung der Farben könnten den Darstellungen von Petrus, Jakobus und Johannes in der Ikone »Verklärung Christi« (Abb. 26) entsprechen. Die drei Apostel in der Ikone zeigen durch ihre Körperhaltung ihre Ehrfurcht sowie Angst vor der Verklärung, während Christus im weißen Gewand mit Begleitung von Elia links und Mose rechts mit der Tafel der zehn Gebote in der Mitte auf dem Berg steht. Die grünen Gesichter der Apostelfiguren könnten in Kandinskys Farbsymbolik der frühen Bühnenkompositionen194 den Zustand der Gläubigen darstellen, bei denen zwei Farben – Gelb und Blau –, die der irdischen und der himmlischen Eigenschaft entspre-

189 190 191

192 193 194

Ebd. sowie Lk 22, 43. Ebd. Ebd. Emmert weist auf das Zitat hin, »Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Throne zu sitzen, wie ich überwunden habe und mich gesetzt mit meinem Vater auf seinen Thron« (Offb 3, 21). Mt 17, 1–8, Mk 9, 2–13, Lk 9, 28–36. Auf einem hohen Berg wird Jesus vor Petrus, Jakobus und Johannes (evt. auch dessen Bruder) verklärt. Mt 17, 5, Mk 9, 7 und Lk 9, 35. Siehe Kap. 4.1.2.

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chen könnten, durch den Glauben vereinigt sind. Dieselbe Farbe tragen die graugrünen Figuren im zweiten Bild von Riesen, die die verfolgten Märtyrer darstellen.195 Auch werden die »verschleierten Gestalten« im vierten Bild von Schwarz und Weiß mit »unterschiedlichen hellgrünen Gesichtern« dargestellt. Sie sind Gläubige, die, Fackeln in der Hand haltend, sich für Mariä Lichtmeß versammeln.196 Die Gemeinsamkeit der drei Darstellungen basiert auf ihrem Glauben und der Bereitschaft zum Martyrium, die dem Überwinden der Grenze zwischen dem Irdischen und dem Himmlischen entsprechen kann. Wie die »graugrünen« Figuren in Riesen zeigen, steht Grün in einer Verwandtschaft mit Grau in den frühen Bühnenkompositionen. Die beiden bestehen aus zwei gegensätzlichen Farben und symbolisieren damit die Vereinigung der Gegensätze. Grau steht in Kandinskys Bühnenwerken für den Zustand, der bei der Schöpfung für den Menschen ursprünglich gegeben wurde,197 d.h. der erste Mensch kannte weder den Unterschied zwischen Gut und Böse noch zwischen Leben und Tod,198 bis er die Ursünde beging. Farbsymbolisch könnte dieser Urzustand in Grau, der Vereinigung von Weiß und Schwarz, dargestellt worden sein. Parallel mit Grau steht die Farbe Grün für den Zustand, den die Märtyrer und Gläubigen durch ihren Glauben schaffen, d.h. Überlegenheit über den Tod. Ihnen bedeutet die Differenz zwischen der Erde und dem Himmel nichts mehr, weil sie an das Himmelreich glauben. Die Gesichtsfarbe der Apostel könnte daher ihren geistigen Zustand repräsentieren. Nach einer wegweisenden Gestik der schwarz gekleideten Figur stehen die drei Apostel auf, stecken ihre Köpfe zueinander und gehen »von Zeit zu Zeit Blicke zu verschiedenen Seiten werfend«199 nach rechts ab. Dies könnte auf ihre missionarischen Aufgaben hinweisen, wie Petrus etwa versprach, durch Mission die Lehre Christi zu verbreiten und Hütten, bzw. Kirchen, für Christus, Elia und Mose zu bauen, denn in der anschließenden Szene treten zwei Frauenfiguren, Ecclesia und Synagoge, als Personifikation des Christentums und des Judentums auf, womit der Erfolg des Vorhabens von Petrus dargestellt zu werden scheint. Eine gerade stehende schwarz gekleidete Figur mit gelbem Gesicht und Händen Eine schwarze Kleidung mag Widerspruch zu den Körperbildern der Verklärung Jesu hervorrufen, denn im Neuen Testament findet sich folgende Passage: »sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht«.200 Dementsprechend wird die Kleidung Jesu in der Ikone »Verklärung Christi« in Weiß dargestellt (Abb. 26). Jedoch gilt in den frühen Bühnenkompositionen das Darstellungsgesetz Kandinskys, dass die Körperbilder nicht nach dem natürlichen Gesetz gestaltet sind, sondern eine Körperlichkeit zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen darstellen. Wie bereits in der Analyse von Riesen erläutert wurde, wird das Abbild Christi in den Bühnenkom-

195 196 197 198 199 200

Siehe Kap. 4.2.2. Siehe Kap. 4.4.4. Siehe Kap. 4.2.3. 1. Mose 2, 17 und 1. Mose 3, 22. Stimmen oder Grüner Klang, Bild I, 3, ÜT, S. 90. Mt 17, 1–8, Mk 9, 2–13, Lk 9, 28–36.

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positionen in Schwarz dargestellt, weil sein materieller Körper die geringste Bedeutung als Materie besaß. Dies berücksichtigt den Sinn des Christus-Bildnisses in der Ikone, d.h. das Bild Christi ist nach der orthodoxen Auffassung der Ikone kein Abbild, sondern Schatten Christi,201 womit die Reproduktion des Bildnisses Christi gerechtfertigt wird. Die schwarze Figur in den frühen Bühnenkompositionen spielt daher keine negative Rolle, sondern bildet die höchst immaterielle Substanz, den verklärten Körper Christi. Neben dem schwarzen Gewand besitzt die stehende Figur ein dunkelgelbes Gesicht und Hände, die ihren Charakter als Prophet darstellen könnten, wie die fünf Riesen und der hellgelbe kreuzförmige Riese im fünften Bild von Riesen.202 Die schwarz gekleidete Figur dreht langsam den Kopf in die Richtung zu den drei sitzenden Figuren und hebt ebenso langsam den linken Arm. Dies erinnert an die Geste mit dem geneigten Kopf in der Ikone »Verklärung Christi« (Abb. 26), wobei hier die rechte Hand vor der Burst und der linke Arm unten nur leicht gebogen wird. Kandinskys Beschreibung zum linken Arm »mit steifer Hand halb seitwärts (Handfläche nach oben)« trifft die Geste in »Verklärung Christi« nicht. Eine alternative Deutungsmöglichkeit könnte in der Berufungsgestik wie bei »Berufung des Hl. Petrus« (Abb. 27) oder »Berufung des Hl. Matthäus« (Abb. 28) bestehen, in der Jesus mit der Hand oder dem Finger auf die Erwählten weist, wobei die Berufungsgestik meistens mit dem rechten Arm durchgeführt wird und Kandinskys Beschreibung der schwarzen Figur entgegensteht. Vielleicht fungiert die Geste der schwarzen Figur in dieser Szene auf der alltäglichen Ebene und bedeutet eine Wegweisung zur Mission der Apostel. Die schwarze Figur bleibt auf der Bühne bis zum Beginn der zweiten Szene, so dass die Verbindung der beiden Szenen angedeutet wird. Hier findet die Szene der Offenbarung des Johannes statt. Der Übergang von der Verklärung Christi bis zum Jüngsten Gericht könnte sich auf die Worte Jesu beziehen, dass die Apostel niemandem von der Verklärung erzählen sollen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist.203 Das Kommen des Menschensohns gleicht dem Tag des Jüngsten Gerichts, an dem die himmlische Stadt Jerusalem als die Braut Christi erscheint. Die zwei grünen Frauenfiguren in der zweiten Szene von Stimmen könnten Ecclesia und Synagoge – die Figuration des Neuen und Alten Bundes204 – darstellen. So liegt der Sinn der ersten Szene von Stimmen in Petrus’ Worten, für Christus, Mose und Elia drei Hütten zu bauen. Ecclesia und Synagoge bieten eine Gegenüberstellung des Alten und des Neuen Bundes. Ein Mann im Kleid von bunten Flecken und eine größere Undeutlichkeit Der »Mann im Kleid von bunten Flecken« geht über die Bühne. Er hält sich »sehr gerade« und geht langsam hinter den Figuren »vor sich schauend«. Während er geht, erscheint »noch größere Undeutlichkeit auf der Bühne im Hintergrund,« und dies wird von einem Lärm, »als ob der Himmel auf die Erde fiele« begleitet. Der Mann im bunten Kleid spricht,

201 202 203 204

Siehe Kap. 4.2.4. Siehe Kap. 4.1.2. sowie Kap. 4.2.5. Mt 17, 9 und Mk 9, 9. LCI Bd. 1, S. 569.

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Um mich ein unklarer Halbnebel. In mir Stille des Schweigens.

Dann geht er ab. Das Wort des Mannes »ein unklarer Halbnebel« hängt mit der Erscheinung der »noch größeren Undeutlichkeit« im Hintergrund der Bühne zusammen. Angesichts dessen, dass der Mann vor der Erscheinung der »größeren Undeutlichkeit« auftritt, muss er Mose oder Elia in der Verklärung Christi, die beiden Vertreter des Alten Bundes darstellen. Nach Matthäus 17, 3 erscheinen Mose und Elia vor dem verklärten Jesus und reden mit ihm. Weshalb die beiden großen Propheten des Alten Testaments nicht als zwei abstrakte Figuren, sondern als ein Mann im bunten Kleid erscheinen, ist nicht klar, dennoch erscheinen Mose und Elia in der Ikone »Verklärung Christi« auf dem Festrang des Moskauer Kreml, Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale tatsächlich im farbigfleckigen Kleid (Abb. 29). Elia trägt laut 1. Könige 1, 8. »langes Haar und einen Ledergurt um seine Lenden«. Seinen Mantel überließ er bei der Entrückung seinem Nachfolger Elisa, der wie Elia den Mantel ins Wasser schlug und damit den Geist Elias empfing.205 So könnte das charakteristische Kleid des gehenden Mannes auf den Mantel Elias verweisen, es fehlen aber noch weitere Attribute für Elia wie z.B. langes Haar. Bei Moses Körperbildern gibt es keine besonderen Attribute außer der Tafel der zehn Gebote, die beim bunt gekleideten Mann nicht zu finden ist. So lässt die Darstellung des Mannes seine Identifikation offen. Es ist möglich, dass in dieser Szene der gehende Mann als Gegensatz zur schwarz gekleideten stehenden Figur das bunte Kleid trägt. Kandinsky lässt ihn allein erscheinen, weil vermutlich nach seiner Auffassung die beiden Propheten identische Bedeutung besitzen. Sowie die »größere Undeutlichkeit« auf der Bühne erscheint, gibt es Lärm, »als ob der Himmel auf die Erde fiele«. Dies könnte die »Stimme aus der Wolke« sein, die sprach: »Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!«206 Als die Apostel diese Stimme hörten, »fielen sie auf ihr Angesicht und erschraken sehr«.207 So ist vorstellbar, dass die Stimme plötzlich und laut gewesen sein muss. 4.3.2. Das zweite Bild: Ecclesia und Synagoge Nachdem die Bühne lange Zeit in Dunkelheit verblieben ist, erscheint plötzlich im Hintergrund eine gelbe Mauer mit einem niedrigen, sehr bunten Tor. Hinter der Mauer befinden sich bunte Kuppeln. Die schwarze Figur vom ersten Bild verschwindet ebenso plötzlich. Das Tor öffnet sich und ein »sehr bunter Strom von Menschen«, der aus Männern, Frauen und Kindern besteht, kommt schnell heraus und füllt die Bühne. Es entstehen Gruppierungen durch das ziellose Gehen in verschiedenem Tempo. Schließlich entsteht hinten eine »unheimlich wogende Massenbewegung«, bei der die Menschen in die Mitte drängen. Gehobene Arme und geballte Fäuste sind zu sehen. Die Massen wogen auf der Bühne hin und her. Während der chaotischen Bewegung im hinteren Raum 205 206 207

2. Könige 2, 8 sowie 2, 14. Mt 17, 5. Ebd.

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bilden sich im Vordergrund verschiedene Gruppen und Figuren, die in keinem Zusammenhang mit den hinteren Gruppen stehen. Unter den vorne stehenden Menschen finden sich so gegensätzliche Typen wie alter Mann mit Stock, Frau mit Kind, musizierender Mann, Liebespaar, Reiche, Bettler usw. (Abb. 1). Eine in den bisherigen Forschungsstudien nicht beachtete Figur sitzt ebenfalls in dieser Gruppe. Sie ist eine junge Frau, »hell grünlich angezogen mit langem Schleier«, die ihr Gesicht in die Höhe richtet. Nach der Gruppenbildung im Vordergrund bleiben alle Menschen eine Weile unbeweglich. Währenddessen drängen die hinteren Menschen allmählich nach rechts weg. Dann ist ein Liebesmonolog durch eine tiefe weibliche Stimme vom Standort des Liebespaars zu hören. Während des Gesangs laufen hinter den vorderen Gruppen eine Anzahl ganz weißer Figuren mit »weißen kaum erkennbaren Gesichtern« über die Bühne von links nach rechts. Nach einer kurzen Musik tritt eine ganz grüne Frauenfigur ganz langsam von rechts nach links. Sie geht über die Bühne bis ganz nach vorne und blickt immer auf die Zuschauer. Ihr Gesicht ist »sehr blaßgrünlich mit großen unbeweglichen dunklen Augen«. Danach ertönt eine klägliche, männliche, etwas nasale, aber hohe Stimme, wo der Bettler sitzt. Das Lied wird im langsamen Tempo gedehnt gesungen. Nach dem Gesang wird die Bühne allmählich dunkel. Nur die grüne Figur ist sichtbar und geht immer weiter, wird undeutlicher und tritt ab. Mit der vollen Dunkelheit endet das Bild. Ulrika-Maria Eller-Rüter und Claudia Emmert interpretierten die zweite Szene nach der Offenbarung des Johannes als die Szene des Jüngsten Gerichts. Eller-Rüter geht davon aus, dass die Titelfarbe Grün durch die »Balance zwichen den paralysierten Kräften Gelb und Blau« die »farbliche Synthese« visualisiere. Emmert schließt sich ihrer Deutung an und versteht das Grün als »die Farbe des Überwunden-Habens«.208 Bei der Identifikation der Figuren jedoch unterscheiden sich die Analysen der beiden. Eller-Rüter behauptet, dass Bettler und die gehende grüne Frauenfigur »im dramatischen Geschehen in eins gesetzt« würden, d.h. »sie als Gestalt, er als Stimme«.209 Emmert macht dagegen den Einwand, dass die Gleichsetzung des Bettlers und eines personifizierten Heiligen 210 nicht zur Kandinsky’schen Ikonographie passe.211 Emmert bewertet die Bedeutung der gehenden, grünen Figur »wesentlich größer als die des Bettlers«.212 Nach Emmerts Deutung ist die gehende grüne Frau die Personifikation des »himmlischen Jerusalems«, das als geschmückte Braut 213 Christi in der Offenbarung des Johannes erscheint.214 Die vorliegende Analyse zieht eine andere Folgerung. Eller-Rüters Behauptung, dass das Klagelied, das von dem Sitz des Bettlers erklingt, der gehenden grünen Frauenfigur zugeordnet werde, könnte stimmen. Jedoch vernachlässigt sie den ebenso aufgeführten Liebesmonolog und entdeckt die Figuration dieses Gesangs nicht. Emmert wiederum sucht in den Motiven der Offenbarung des Johannes eine passende Rolle für die Frauenfigur, die Braut Christi bzw. die himmlische

208 209 210 211 212 213 214

Emmert 1998, S. 129. Eller-Rüter 1990, S. 88. Ebd., S. 87. Emmert 1998, S. 127. Ebd. Offb 21, 2–9. Emmert 1998, S. 131.

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Stadt Jerusalem, ordnet diese Rolle jedoch zur falschen grünen Figur zu, so dass der Sinn dieser Szene nicht richtig zu verstehen ist. Beiden haben nicht beachtet, dass der Titel »Stimmen« heißt, d.h. zwei Stimmen andeutet und zwei Figurationen des grünen Klanges existieren. Im Folgenden werden die Menschen sowie die Figuren ikonographisch interpretiert. Menschengruppe im Vordergrund der Bühne In der Gruppe befinden sich Menschen gegensätzlichen Aussehens und gegensätzlicher Tätigkeiten. Dies erinnert an Kandinskys Gemälde »Das bunte Leben« (1907) (Abb. 9) sowie die Hinterglasmalerei »Allerheiligen I« (1911) (Abb. 3). Diese Gruppen könnten Kandinskys utopische Gesellschaft symbolisieren, in der z.B. ein junger Mann einem träumerisch stehenden Mädchen, das »vielleicht nichts hört«, seine Musik vorspielt. Die versammelten Menschen zeigen zwar individuelle Eigenschaften und Tätigkeiten wie ein Liebespaar, Dicke, Reiche und Arme, handeln aber nicht selbständig, sondern fungieren als Prototypen. Einige Figuren könnten entsprechend der Hinterglasmalerei »Allerheiligen I«, die als Kandinskys selbstgemalte »Ikone« gelten kann, als Heilige verstanden werden. Die zwei Jünglinge, »einer rot gekleidet mit rotem grobem Gesicht und schief sitzender spitzen Mütze, der andere mit sehr blaßem schmalen Gesicht im weißen Gewand mit großen blauen Tupfen«, stehen, sich an den Händen haltend (Abb. 1). Sie ähneln den Körperbildern in »Allerheiligen I« (Abb. 3), die sich als russische Heilige Boris und Greb identifizieren lassen, wobei die Farbe der Kleidung nicht übereinstimmt. Eine andere Figur, ein »hoher schwarzer Mann mit schmalem langen weißen Bart« steht hinter zwei Buben (Abb. 1). Die Beschreibung seiner Gestalt ähnelt der des alten schwarzen Mannes im Bild IV von Riesen sowie in Nachspiel. Dieser erscheint auch im Gemälde »Das bunte Leben« (Abb. 9) an der linken Seite hinten und in der Hinterglasmalerei »Allerheiligen I« am rechten Fuß der Bildfläche. Er könnte im Zusammenhang mit Riesen als Prophet Simeon identifiziert werden.215 Die Anwesenheit des Propheten Simeon weist darauf hin, dass diese Szene den »Trost Israels« sowie den »Heiland Gottes«216 behandelt, denn er wartete lange darauf. Eine Anzahl ganz weißer Figuren Die weißen Figuren mit »kaum erkennbaren Gesichtern« laufen während des Liebesmonologs rasend von rechts nach links in den hinteren Raum der Bühne. Sie werden in den bisherigen Forschungsstudien kaum beachtet. Ihre abstrakte Körperlichkeit und ihr kollektiver Auftritt lassen sie als die Auserwählten am Jüngsten Gericht erkennen. In der Offenbarung des Johannes heißt es, »Wer überwindet, der soll mit weißen Kleidern angetan werden.«217 Bei der Öffnung des fünften Siegels waren »unten am Altar die Seelen derer, die umgebracht worden waren um des Wortes Gottes und um ihres Zeug-

215 216 217

Siehe Kap. 4.2.4. Lk 2, 29f. Offb 3, 5.

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nisses willen«,218 zu sehen. Ihnen wurde »einem jeden ein weißes Gewand«219 zugeteilt. Schließlich kommen solche in großer Schar, »die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen.«220 Die weißen Figuren in großer Anzahl haben »kaum erkennbare Gesichter«. Die höchst abstrahierte Körperlichkeit zeigt keinen physiognomischen Unterschied mehr. Hier zeigt sich das Ideal der abstrakten Kunst, d.h. die Darstellungsform, die keine Grenze zwischen Nationen, Stämmen, Völker sowie Sprachen kennt, entspricht bei Kandinsky der abstrakten Kunst. In der Bewegung der weißen Figuren, die rasend laufen, könnte Kandinskys experimentelle Inszenierung durch Körperbewegung erkannt werden, d.h. die sichtliche Wahrnehmung wird durch die Bewegung beschränkt und die Konturen dieser Figuren werden verschwommener empfunden, so dass die Leichtigkeit der Körper dargestellt wird. Anders als die futuristische Skulptur wie von Umberto Boccioni, die durch den sich auflösenden Umriss einen bewegenden Körper darzustellen versuchte, könnte Kandinsky umgekehrt beabsichtigt haben, durch die Bewegung die Substanz des Körpers auf der Bühne auszulöschen. Doppelerscheinung der grünen Frauenfiguren – Ecclesia und Synagoge Von Emmert wurde nur die gehende grüne Frau als die Figuration des himmlischen Jerusalems als Braut verstanden, wobei ihre unbeweglichen Augen und ihr sehr blassgrünliches Gesicht einen etwas unheimlichen Eindruck bereite. Dabei wurde eine andere wichtige Darstellerin für die Titelfarbe Grün weder bei Eller-Rüter noch bei Emmert zur Kenntnis genommen. Sie ist eine hellgrünlich angezogene junge Frau mit langem Schleier und befindet sich in der Menschengruppe, die andächtig in Ruhe den Ablauf der Szene betrachtet. Der ursprüngliche Titel des Stücks »Stimmen« deutet (mindestens) zwei Gesänge an. Die Beschreibung der ersten jungen, grünen Frau findet sich kurz vor dem Beginn des Liebesmonologs, so dass das Lied der verschleierten, sitzenden Frau zugeordnet werden. Und die grüne gehende Figur, die von Eller-Rüter und Emmert als einzige Figuration des »grünen Klangs« eingeschätzt wurde, tritt erst nach dem Liebesmonolog auf. So bedeutet ihr Erscheinen einen Einsatz zum Klagelied. Die gehende Frau ist daher eigentlich als die zweite Darstellerin zu verstehen, die die zweite Stimme verkörpert. Zwei grüne Frauenfiguren fügen sich zueinander. Die erste sitzende Frau in der Gruppe ist die eigentliche Braut Christi und die Figuration des himmlischen Jerusalems. Sie ist hellgrünlich angezogen mit langem Schleier und richtet ihr Gesicht in die Höhe, was eine erwartende Haltung darstellen könnte. Die zweite grüne Frau, die von Emmert das himmlische Jerusalem bzw. »geschmückte Braut« genannt wurde, hat einen etwas unheimlichen Ausdruck: »Ihr Gesicht ist sehr blaßgrünlich mit großen unbeweglichen Augen«. Sie steht wie eine Dop-

218 219 220

Offb 5, 9. Offb 5, 11. Offb 7, 9.

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pelgängerin zu der jungen hellgrün angezogenen Frau. Die Gegenüberstellung der zwei Frauen lässt sich als Ecclecia und Synagoge identifizieren. Ecclesia verkörpert die christliche Kirche, und Synagoge steht für den jüdischen Tempel.221 In der christlichen Ikonographie wurden Ecclesia und Synagoge ursprünglich beide als Bräute Christi dargestellt, aber als sich später in der Geschichte die Kluft zwischen dem Christentum und dem Judentum verschärfte, wurde Synagoge in der christlichen Darstellung immer mehr benachteiligt. Ecclesia personifiziert die christliche Kirche und wird von Menschen geschützt dargestellt. Dagegen steht Synagoge verstoßen und blind mit Augenbinde.222 Synagoge kann auch durch Mose ersetzt werden, so dass die Verbindung mit der ersten Szene besteht. Dies entspricht der christlich-ikonographischen Auffassung des himmlischen Jerusalems und des irdischen Jerusalems.223 Im Grunde sind die beiden Figuren identisch, soweit sie die heiligen Städte der jeweiligen verwandten Religionen personifizieren. Die zwei Frauen tragen schließlich dieselbe Farbe, so dass sie farbsymbolisch sowie musikalisch als Einklang der Oktave verstanden werden könnten. So lassen sich die Stimmen des Titels, die auf zwei Lieder in der zweiten Szene hinweisen, in der späteren Fassung in einem Einklang, dem Grünen Klang, vereinen. Bei der orthodoxen Ikonographie wird das himmlische Jerusalem in die Form der Kirchengebäude übernommen. Das traditionelle Bild der heiligen Stadt Jerusalem wird weiter ins Neue Testament geleitet und wird in der Offenbarung des Johannes die Braut für Christus.224 Eine ist das alte irdische Jerusalem in der Vergangenheit, die andere das junge himmlische Jerusalem, das als Braut neu geschmückt ist. Diese Doppelgänger-Bilder passen auch zu dem Gesang in der Szene »Ewig bleibt das, was vergangen / Und zum Heilen wird gelangen / Was zerrissen. Und darauf / Blüht das Welke wieder auf.« Die zweite grüne Frau ist das Welke in der Vergangenheit und das Aufblühen ist die junge grüne Braut in der Gruppe. Damit gewinnt der Schluss, dass die zweite grüne Frau, die das irdische Jerusalem symbolisiert, immer weiter unsichtbar wird, an Folgerichtigkeit. Da die grüne Braut in der Gruppe ist, wurde sie als eine kollektive, unwichtige Figur missverstanden. Eigentlich hat die Gruppendarstellung in diesem Fall aber eine wichtige Bedeutung. Das orthodoxe Christentum erkennt die Versammlung der Gläubigen als den Tempel selbst, der nicht von Menschenhand gemacht ist und wo Gott wohnt. Ouspensky erläutert, wie die Symbolik des Tempels und Jerusalems aus dem Alten Testament ins Neue Testament eingeführt wurde und bei der Symbolik des orthodoxen Kirchengebäudes betont wurde.225 Demnach seien die Gläubigen »die Kirche, und diese Kirche ist der Beginn des Reiches Gottes, der Anfang

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Ouspensky, S. 54. Laut Ouspensky drücken die Propheten Jesaja (Jes 2, 2f; 60, 1) und Sacharja (Sach 2, 10–13) die Funktion der orthodoxen Kirchengebäude als der Tempel des Gottes, das himmlische Jerusalem aus. LCI Bd. 1, S. 569. Im Alten Testament trägt die Personifi kation der Stadt Jerusalem männliche und weibliche Formen. Jesaja nennt die belagerte Stadt Jerusalem »Ariel«, mit einem männlichen Namen: »Weh Ariel, Ariel, du Stadt, wo David lagerte.« (Jes 29, 1–7). Bei Sacharja ist die Stadt weiblich, (Sach 2, 14): »Freue dich und sei fröhlich, du Tochter Zion! Denn siehe, ich komme und will bei dir wohnen, spricht der HERR.«. Offb 21. Ouspensky 1962, S. 54. Als Quelle wurde Joh 2, 19ff und 1. Petri 2, 5 genannt.

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des himmlischen Jerusalems, dessen Vorbild der alttestamentarische Tempel gewesen ist«. In diesem Sinne wird die wahre geschmückte Braut, das himmlische Jerusalem, von den Gläubigen geschützt bzw. mit ihnen vereint. Die zwei grünen Frauen, Ecclesia und Synagoge, stehen darum gegensätzlich in der Szene Grüner Klang. Die an diese beiden erinnernden Figuren, die bisher nicht identifiziert worden waren, können auch in Kandinskys Hinterglasmalerei »Allerheiligen I« (1911) betrachtet werden (Abb. 3). So ist möglich, dass Kandinsky die ikonographische Darstellung von Ecclesia und Synagoge in der zweiten Bühnenkomposition thematisierte und diese Handlung in seine Malerei übernahm. Liebesmonolog und Klagelied Wie die zwei grünen Frauen stehen der Liebesmonolog und das Klagelied in einer Gegenüberstellung. Liebesmonolog [1] »Ewig bleibt das, was vergangen [2] Und zum Heilen wird gelangen [3] Was zerrißen. Und darauf [4] Blüht das Welke wieder auf. – [5] Ohne Zwang und ohne Namen [6] Ist der Einheit wahrer Samen [7] Und in Eins verklärter Guß... [8] Wo ist Anfang? Wo ist Schluß?« Der Liebesmonolog steht für die Vereinigung der Gegensätze nach der »zweiten Offenbarung«, d.h. dem Ende der zweiten geisteshistorischen Epoche, in der Kandinsky einen Konflikt der Gegensätze sah. In der Offenbarung des Johannes wird angekündigt: »Der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen«, und es kommen ein neuer Himmel und eine neue Erde. Dabei wird der »Thron Gottes und des Lammes«226 in der Stadt sein. Die Stadt braucht keine Leuchte, denn »Gott der Herr wird sie erleuchten, und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit.«227 Im Vers [1] steht, »was vergangen«, bleibt »ewig«. So wird das vergangene irdische Jerusalem am Ende der »Epoche des Sohnes« durch das Kommen des himmlischen Jerusalems die Ewigkeit erlangen. Die Konflikte zwischen den Religionen, Kulturen und Nationen werden am Jüngsten Gericht gelöst, so dass »was zerrißen« [3], zum »Heilen« [2] gelangen wird. So läuft im Hintergrund eine Anzahl weißer Figuren, die die Menschen »aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen« symbolisieren und weiße Kleider tragen.228 Darauf »blüht das Welke wieder auf« [3,4], dies bezieht sich nicht nur auf das neue Jerusalem, sondern ebenso auf

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Offb 22, 3. Offb 22, 5. Offb 7, 9.

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die Auferstehung Christi. Denn in Der gelbe Klang wurde die Prophezeiung der Geburt des Messias durch eine große Blume, die die Form des »Simeonskrauts« annahm, dargestellt.229 Das Wiedererblühen der verwelkten Blume könnte daher die Auferstehung Christi bedeuten. Die Zeile »Ohne Zwang und ohne Namen« könnte sich auf die abstrahierten weißen Figuren mit unerkennbaren Gesichtern beziehen, die während des Liebesmonologs rasend von rechts nach links in den hinteren Raum der Bühne laufen und als Auserwählte gedeutet werden können. Die Bedingung »ohne Zwang« kann sich z.B. auf die Unterdrückung der Staaten oder der gegensätzlichen Religionen beziehen. »Ohne Namen« deutet auf die Befreiung von allem Zugehörigkeit wie der zu einer Nation oder einem Volk hin, und dies gleicht dem »wahren Samen« der »Einheit« der Welt [5,6]. So können alle Gegensätze in einem »verklärten Guß« ihren Frieden finden [7]. Die »Einheit« sowie der »verklärte Guß« können auf verschiedenen Ebenen Kandinskys Ziel entsprechen, wie Ecclesia und Synagoge, die ikonographisch für Christentum und Judentum stehen, durch die abstrakte Farbe Grün im Einklang harmonieren. Und die Bühnensynthese wird auch durch Abstrahierung der Elemente aller Künste geschaffen, wie die verklärten Menschen mit weißem Gewand keine Namen kennen. Das Wort »verklärter Guß« deutet die »Verklärung Christi« an, bei der Jesu Körper und Kleidung verklärt weiß wurden und er mit Mose und Elia – den zwei Vertretern des Alten Bundes – redete. Da Petrus dabei versprach, allen drei Propheten jeweils eine Hütte zu widmen, kann die Verklärung Christi als ein Vorbild für Kandinskys Idee der Synthese durch Verklärung bzw. Abstraktion verstanden werden. So sind die erste Szene und die zweite Szene durch die »Verklärung« verbunden. Schließlich kommt der Vers [8] zum Wort Gottes: »Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.«230 Damit schließen sich der Anfang und der Schluss einer Geschichte zu einem Kreis, wobei eine vollkommene Gleichberechtigung geschaffen wird. Ein Kreismotiv wird im zweiten Bild von Riesen als Blumenkranz, im dritten Bild von Riesen als Reigen im irdischen Jerusalem, dann im vierten Bild von Schwarze Figur wieder als Reigen im himmlischen Jerusalem dargestellt. Daher steht der letzte Vers »Wo ist Anfang? Wo ist Schluss?« [8] für einen Kranz, also die Darstellung des Zieles der Menschheit. Dass das Lied vom Standpunkt des Liebespaares aus erklingt, gibt noch den Hinweis, dass die Liebe für dieses Ziel eine Rolle spielt. Der zweite Gesang [1] »Ich bin lahm. Ohne Krücken [2] Ich kann mich nicht rücken [3] Noch nicht geboren [4] Die Kraft verloren [5] Die strahlende Sonne die seh’ ich nicht [6] Wie soll ich betasten das Licht? [7] Noch nicht geboren [8] Gesicht verloren 229 230

Siehe Kap. 4.2.2. Offb 22, 13.

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[9] Ich verkomme verlaßen [10] Ich lebe für Massen [11] Noch nicht geborene [12] Sind wir für verlorene!« Eller-Rüter behauptet, »Bettler und [gehende] Frauengestalt werden im dramatischen Geschehen in eins gesetzt: Sie als Gestalt, er als Stimme.«231 Emmert bezeichnet EllerRüters Sicht des Bettlers als »fragwürdig«,232 vor allem, weil der vorgeschlagene Bezug zwischen dem Bettler und dem Wort Christi nicht zutreffend sei. Ihrer Meinung nach passe die Ikonographie vom Bettler mit den Heiligen nicht zusammen, außerdem sei die Darstellung der grünen gehenden Figur auffälliger. Die genannten Deutungsversuche unterscheiden sich in der Identifikation der zweiten grünen Frauenfigur, so dass das Verständnis des Klageliedes nicht berücksichtigt wird. Die vorliegende Analyse versteht das Klagelied als einen Gegensatz zum Liebesmonolog, wobei es nicht unbedingt für einen negativen Sinn steht, sondern eine andere Darstellung des gleichen Prozesses wie der Liebesmonolog unternimmt. Die Struktur des Klageliedes lässt drei Teile erkennen. Bei den Versen [1, 2] geht es um die Unbeweglichkeit des Körpers. Dies wird durch den Vers [4] auf Verlust der Kraft zurückgeführt. Die Ursache könnte z.B. Alter sein. Die Verse [5, 6] beschreiben die gestörte Sehkraft. Dies wird im Vers [8] durch Verlust des Gesichtes, d.h. Blindheit, erklärt, wobei ein gesichtloser Zustand auch als Verlust der Identität oder der Zugehörigkeit, d.h. als Heimatlosigkeit und Hilflosigkeit, gedeutet werden könnte. Der Vers [9] lässt sich als Verlassenheit verstehen, jedoch geht die Bedeutung des Verses [10] »ich lebe für Massen« über die Verlassenheit hinaus und zeigt ein neues Ziel für die Gesellschaft. Die Unbeweglichkeit, die Blindheit und die Verlassenheit sind die drei Punkte, die das Lied beklagt bzw. worunter der Ich-Erzähler leidet. Wer die Ich-Person ist, ist nicht festzustellen. Da der Vers »noch nicht geboren« jedesmal wiederholt wird, könnte die Klage von den Menschen stammen, die noch nicht in der neuen himmlischen Stadt wiedergeboren werden können. Im Vers [12] erscheint dann das Subjekt »Wir«, das viele solche »noch nicht geborene« andeutet. Es lautet, »Sind wir für verlorene!«. Eine mögliche Deutung ist, dass »Wir«, die zusammen unter der körperlichen sowie geistigen Not leiden, als Schützer für »verlorene« stehen, denn der Gesang erklingt anonym beim Sitzort des Bettlers. Ein Bettler kann sowohl in der orthodoxen als auch in der westlichen Kirche nicht negativ betrachtet werden, so könnte das Lied als ein Trostlied für die noch Leidenden verstanden werden.233 Im Neuen Testament werden die Leidenden bereits bei den »Seligpreisungen«234 besprochen: »Selig sind, die da Leid tra-

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234

Eller-Rüter 1990, S. 88. Emmert 1998, S. 127. Ein verwandtes Lied von einem Alten mit Harfe, dessen Erscheinung an den Bettler in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre erinnert, lautet; »Wer nie sein Brot mit Tränen aß,/ Wer nie die kummervollen Nächte/ Auf seinem Bette weinend saß,/ Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte.« Ein Zusammenhang mit Kandinskys Gedicht ist nicht zu belegen. Goethe 2008a, Zweites Buch, Dreizehntes Kapitel. Mt 5, 1–12.

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gen; denn sie sollen getröstet werden.«235 So könnten die bisher Leidenden auch ihr Heil im Himmelreich finden. Bevor das Lied beginnt, erscheint die grüne Frauenfigur, die ganz vorne langsam von rechts nach links geht. Sie blickt immer auf die Zuschauer, und ihr Gesicht ist blass-grünlich mit großen unbeweglichen, dunklen Augen. Wie bereits besprochen, steht sie für die Synagoge, die in der christlichen Ikonographie oft als blind dargestellt wird. Ihre unbeweglichen Augen könnten sich auf die Klage der Verse [5−8] beziehen. Ob sie etwa für eine Schützerin der Leidenden sowie Verlorenen steht,236 kann nicht ergründet werden. 4.3.3. Schluss: Verklärung von Ecclesia und Synagoge im grünen Klang Die zwei Szenen von Stimmen (Grüner Klang) werden durch ein Motiv verbunden: Verklärung. In der ersten Szene wird Jesus verklärt und redet mit Mose und Elia, so dass Petrus vorschlägt, drei Gebetsstätten für drei Propheten zu bauen. Dies symbolisiert eine friedliche Beziehung des Christentums und des Judentums. In der zweiten Szene wird dies weiter thematisiert. Als Figuration der christlichen Kirche und des jüdischen Tempels erscheinen zwei grüne Frauenfiguren, die als Ecclesia und Synagoge identifiziert werden. Der Liebesmonolog, den der grüne Klang von Ecclesia bedeuten könnte, predigt eine »Einheit« von »Anfang« und »Schluß«, die durch Verklärung erreicht werden soll. Dabei laufen die Auferstandenen im weißen Kleid aus allen Nationen, Völkern und Religionen im Hintergrund. Die verklärte weiße Kleidung kann mit Kandinskys Prozess der Abstraktion verglichen werden, wodurch der Künstler von einer Weltkunstsprache träumte. Das Klagelied symbolisiert die Leidenden und Verfolgten, die auch am Jüngsten Tag ihr Heil finden sollen. Im Gegensatz dazu, dass Ecclesia als Braut Christi den Liebesmonolog vertritt, übernimmt Synagoge das Lied des Leides. Die zwei »Stimmen« der zwei grünen Frauenfiguren werden in einem »Grünen Klang« eine harmonische Oktave im himmlischen Jerusalem schaffen. In Kandinskys Hinterglasmalerei »Allerheiligen I« (Abb. 3) erscheinen zwei Figuren, deren Gesichter grünlich gemalt sind. Die beiden schließen die Augen. Eine trägt eine Kerze und scheint zu lächeln. Die andere neigt den Kopf und kreuzt ihre Arme vor der Brust. Sie sieht aus, als ob sie sich ausruhe. Die beiden Bildmotive könnten sich auf die zwei grünen Frauenfiguren in Stimmen beziehen und als Ecclesia und Synagoge gedeutet werden. Die Motive müssen dem Künstler ein Anliegen gewesen sein. Die Umbenennung des Titels Stimmen zu Grüner Klang könnte daran liegen, dass Kandinsky den Einklang von Ecclesia und Synagoge mehr betonen wollte. Da die ikonographisch-historische Sinngebung der beiden Figurationen nicht immer von harmonischer Bedeutung war, könnte die Interpretation der zwei grünen Frauen in der Bühnenkomposition II auch an die negative Gegenüberstellung der Frauen erinnern. Jedoch schlug Kandinsky durch die erste Szene der Verklärung Jesu sowie den Liebesmonolog ein harmonisches Bündnis auf der abstrakten Ebene vor, so dass seine Absicht 235 236

Mt 5, 4. LCI Bd. 1, S. 575. In der Geschichte wird die Gegenüberstellung von Ecclesia und Synagoge verschärft, z.B. schmetterte Ecclesia ihre Gegnerin zu Boden. In einer weniger konfrontativen Darstellung wird gezeigt, dass Christus Ecclesia krönt und Synagoge den Schleier von den Augen zieht, so dass sie am Jüngsten Tage sehend wird (LCI Bd. 1, S. 577).

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als Versöhnung der beiden in einem Einklang verstanden werden kann. Da die beiden Frauen – das Abbild der Kirche und des Tempels und zugleich des himmlischen und des irdischen Jerusalems – am Ende eine Einheit werden, heißt der Titel im Singular »Grüner Klang«, d.h. sowohl Mischung von himmlischem Blau und irdischem Gelb als auch zwei grüne Töne im Einklang. So sollen die beiden zwei Frauenfiguren schließlich in Einheit als Braut Christi empfangen werden. Eine ähnliche Vision der Vereinigung der Erde und des Himmels stellt Kandinsky im sich der Tetralogie anschließenden Einakter Nachspiel dar. Dabei stehen die grellroten Figuren und die grellrosafarbigen Figuren zusammen auf einem Hügel. Sie waren ursprünglich als Bewohner des irdischen Jerusalems237 sowie des himmlischen Jerusalems238 im Reigen tanzend dargestellt worden. In Kandinskys Farbschema (Abb. 30 und 5) bilden Grün und Rot Gegensätze.239 Daher können der Einklang der zwei grünen Frauenfiguren in Stimmen (Grüner Klang) sowie der Einklang der grellrotgrellrosa Figuren in Nachspiel als parallele Übereinstimmung betrachtet werden.

4.4. Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß Die Manuskripte für Schwarz und Weiß beinhalten Kandinskys Ideenzettel,240 die deutsche Endfassung und farbige Szenenskizzen.241 Sie wurden 1998 von Jessica Boissel herausgegeben. Laut Tagebuch von Gabriele Münter wurde Schwarz und Weiß im Winter 1908/09 verfasst, als Kandinsky in die Versammlung des Neuen Künstlervereins gehen wollte, sich dann aber nicht wohl fühlte. Er blieb zu Hause und diktierte Münter die »erste Bühnenkomposition Schwarz-weiß-bunt«.242 Schwarz und Weiß sei, laut dem Tagebuch von Münter, die erste Bühnenkomposition gewesen, hingegen wurde das entsprechende Werk, das Nina Kandinsky dem Museum Centre Pompidou stiftete, als drittes nummeriert. Nachdem die ersten zwei Stücke, Riesen und Stimmen, ursprünglich keine Farbe im Titel besaßen und später als Der gelbe Klang und Grüner Klang überarbeitet und umbenannt wurden, könnte es bedeuten, dass Kandinsky die ersten Stücke zunächst nicht Bühnenkompositionen nannte und erst nach dem Entwurf des dritten Werks Schwarz und Weiß die Idee entwickelte, die früheren zwei nach Farben umzubenennen und somit vier Stücke (inkl. der vierten Bühnenkomposition Schwarze Figur) als Tetralogie zu werten.243 Im Vergleich zur vollständig publizierten Bühnenkomposition Der gelbe Klang gibt es über Schwarz und Weiß wenig Untersuchungen.244 Es besteht aus vier »Bildern«, 237 238 239 240 241 242 243

244

Siehe Kap. 4.2.3. Siehe Kap. 4.5.4. ÜGK, S. 105. In der Gabriele-Münter-Eichner-Stiftung. In der Bibliotheque Kandinsky, teilweise Kopie von Olga von Hartmann. Hoberg 1995, S. 47. Drei Bühnenkompositionen haben eine ähnliche Struktur. Stein nannte sie Trilogie, denn das vierte Stück war damals nicht bekannt. Von Boissel wurden die vier Stücke als Tetralogie erkannt. Bisher gibt es nur zwei Stückanalysen von Schwarz und Weiß. Siehe Eller-Rüter 1990, S.90– 93 sowie Emmert 1998, S. 139ff.

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die als Bild I. »Weiß«, Bild II. »Schwarz«, Bild III. »Schwarz und Weiß« bzw. Bild IV. [ohne Titelangabe] bezeichnet wurden. Wie der Titel lautet, bilden die Farben Schwarz und Weiß stets einen Kontrast und werden auf Figuren und Gegenständen verteilt. Das einzelne Bildthema entspricht der Dominanz der Farbe in der Bühnenfläche. Im ganzen Ablauf befindet sich nur ein Sprechtext in Gedichtform, und der Regietext besteht hauptsächlich aus den Beschreibungen der Formen sowie Farben der Gegenstände und ihrer Bewegungen. Claudia Emmert versuchte die Themen von Kandinskys Bühnenkompositionen sowie seines Gedichtbands Klänge nach Themenbereichen zu kategorisieren. Daraus ergaben sich abstrakte Themen wie »Schöpfung«, »Leiden«, »Erlösung«, »Neuschöpfung«, »Vom Überwinden«, »Leben und Tod«, »die Klänge des Geistigen in einer materiellen Welt« sowie »die Anwendung des Wortes«.245 Demnach gehöre Schwarz und Weiß zur Kategorie »Leben und Tod«, bei der der Kontrast sowie Konflikt der Gegensätze im Mittelpunkt stünde. Emmert ging weiter in der konkreten Deutung und interpretierte die Prozessionen der schwarzen und der weißen Partei im zweiten Bild als »AntichristBewegung«.246 Ihre Methode, das Bühnengeschehen einerseits auf ein historisches Ereignis und andererseits auf ein abstraktes Motiv zu beziehen, scheint bei dieser Bühnenkomposition möglich zu sein, denn Kandinsky bringt in die Kunst seine kunstmissionarische Intention ein. So dienen die Bühnenkompositionen nicht nur zum Zweck der reinen Kunst, sondern zur Aufklärung über das Geistige. Dieses Vorhaben ist verbunden mit dem kulturellen und industriellen Wandel der Jahrhundertwende und gleichzeitig mit seinem Interesse, eine neue Epoche des Geistigen zu entwerfen. In Kandinskys Themenkreis sind sowohl künstlerische, literarische und naturwissenschaftliche als auch religiöse Interessen zu sehen. Jedoch sind die Interpretationsvorschläge von Emmert nicht einwandfrei, denn es fehlt die Erläuterung, weshalb sich die Antichrist-Bewegung mit einem allgemeinen und universellen Thema »Leben und Tod« verbinden lässt. Sie versuchte ohne Untersuchung der Bühnenfiguren, den abstrakten Sinn zu entschlüsseln. So wurde das Gesamtbild zwar hinreichend analysiert, von »Überwindung des Todes« bis zur »Auferstehung und dem Aufbruch der Menschen in die neue Welt des Geistigen«,247 sie vermied damit jedoch eine Auseinandersetzung mit Kandinskys Überzeugung und Intention. Wenn »Leben und Tod« thematisiert werden, muss es dahinter auch eine schöpferische »Notwendigkeit« des Künstlers geben. Es fehlt die Sicht, wer den Tod überwinden muss und wofür das Werk notwendig ist; so blieb das Verständnis des Werkes rein oberflächlich. Die vorliegende Interpretation sieht in der dritten Bühnenkomposition Schwarz und Weiß mindestens drei Sinnebenen. Auf der ersten Ebene handelt es sich um ein Farbspiel, in dem das Weiß (Bild I) das eindringende Schwarz (Bild I-II) empfängt und dadurch ein Grau entsteht (Bild III). Bei der Vereinigung sind die anderen bunten Farbelemente Beobachter (Bild III). Auf der zweiten Ebene geht es hier um die Geschichte der Verehrung der Gottesmutter. Das erste Bild zeigt das Thema der Ikone Mariä, das zweite Bild zeigt die Erkrankung Mariä – ein Kampf zwischen dem Leben und Tod –,

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Emmert 1998, S. XI. Ebd., S. 142. Laut Emmert gab es vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Erlösungsdebatte in Russland, die durch die Veröffentlichung des russischen Religionsphilosophen Wladimir Solowjow erregt wurde. Ebd., S. 145.

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das dritte Bild bezieht sich auf die Ikone »Entschlafen der Gottesmutter« (Abb. 31), bei der die farbigen Apostel Maria umkreisen. Im vierten Bild ist der entflogene Geist Mariä als Vogel zu sehen. Darunter findet Mariä Lichtmess statt. Auf der dritten Ebene spielen die Episoden aus dem epischen Roman des italienischen Dichters Torquato Tasso, Das befreite Jerusalem. Im ersten Bild wird die Episode der verschwundenen Ikone der Gottesmutter aus dem heidnischen Tempel thematisiert. Das zweite Bild zeigt einen Kampf um Jerusalem, darunter sind der christliche Held Rinald und die heidnische Zauberin Armida zu sehen. Der Konflikt von Schwarz und Weiß gleicht dem des Orients und des Okzidents. Im dritten Bild wird der Konflikt durch die Verehrung der Gottesmutter gelöst, denn die Ikone der Gottesmutter hat in der ägyptischen Kunst ihren Ursprung. Im vierten Bild erscheint das Zeichen der Versöhnung der beiden Parteien im Himmel, und darunter reitet ein schwarz gerüsteter Reiter (oder Reiterin), der vermutlich die verstorbene heidnische Heldin Clorinda darstellt, die einst ein christliches Liebespaar rettete und die der christliche Held Tankred liebte. So werden in der Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß auf den drei Deutungsebenen der Verbund der Gegensätze, von Schwarz und von Weiß sowie des Orients und des Okzidents, thematisiert, denn das monumentale Kunstwerk Kandinskys hat das Ziel, ein Monument für alle Künste, alle Nationen, alle Völker und alle Sprachen zu schaffen. Im Folgenden werden die einzelnen Motive mit Hilfe der Ikonographie, Farbsymbolik sowie der Literatur analysiert. Zum Verständnis der Deutung wird zunächst noch die Farbdeutung vom Schwarz und Weiß ausgeführt. Nach Kandinskys theoretischer Erklärung in Über das Geistige in der Kunst steht die Farbe Weiß für die Welt, die alle Farben verlor, oder die Pause in der Musik, die während eines Satzes oder in einer Entwicklung stattfände. Sie enthält keinen Ton wie in einer Generalpause, hat aber einen innerlichen Klang. Ein solcher Zustand ohne Töne ist ein Nichts vor einem Beginn und lässt eine Geburt ahnen. Die Farbe Schwarz hingegen steht für ein Nichts ohne Möglichkeit, Zukunft und Erwartung. In ihrer ewigen Ruhe ist kein Klang zu empfinden. Musikalisch bedeutet Schwarz eine Pause nach dem endgültigen Schluss und hat auch die Funktion der Schließung des Kreises. Außerdem ist Schwarz eine Leiche, das Unbewegliche, Ende des Lebens und Schweigen der Leiche. Laut Kandinsky sind diese Deutungen »Resultate empirisch-seelischer Empfindung« und basieren »auf keiner positiven Wissenschaft«.248 Außer Kandinskys eigener Farbanalyse scheint seine persönliche Erfahrung mit den Farben auf sein Kunstwerk Einfluss geübt zu haben. Schwarz war längst eine Farbe für ihn, die überwunden werden musste, denn angeblich erinnerte sie ihn an die Trennung von seiner Mutter. Im Rückblick (1913) schrieb er von zwei seiner Erfahrungen, die Italien in ihm »ganz schwarz« prägten. Kandinsky war drei Jahre alt und begleitete die Reise der Eltern in Italien. Die erste »schwarze Erfahrung« war auf dem Sitz einer schwarzen Kutsche zur Kindertagesstätte in Florenz. Die zweite Erfahrung war auf einer Gondel auf dem schwarzen Wasser. Demnach heulte er »aus Leibeskräften«249 auf der Gondel. Es wird vermutet, dass seine Eltern auf der Gondel über ihre Scheidung gesprochen hat-

248 249

ÜGK, S. 88. GSI, S. 28.

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ten.250 Es ist möglich, dass die Angst vor der Trennung von der Mutter bei einem Kleinkind ein unvergessliches Trauma bildet und die Erfahrung und den Eindruck mit einer bestimmten Farbe verbindet: Schwarz bei Kandinsky. Laut Kandinsky ist seine Mutter »in menschlicher Gestalt die weißsteinige, goldhäuptige Mutter-Moskau«.251 Und ihre Heimatstadt Moskau im Abendrot war für ihn die allerschönste. Alle möglichen Farben der Stadt ändern sich allmählich in der untergehenden Sonne und zeigen ihren letzten Schimmer in diesem »Schlußakkord der Symphonie«, »wie ein Triumphgeschrei, wie ein sich vergessendes Halleluja«.252 Für einen Maler, der eine synästhetische Wahrnehmung von Sehvermögen und Gehör zu besitzen scheint, war dieser Moment der Gipfel der Wonne. Und das, was diese Mutter-Moskau von ihm wegnimmt und in Nichts auflöst, war die Dunkelheit, Schwarz. Ein anderer Aspekt der Farbe Schwarz ist ihre Anwendung in Kandinskys Malerei. Von seiner Angst beeinflusst, hatte Kandinsky in seiner Kindheit einen schwierigen Umgang mit Schwarz in seinen Gemälden. Im Rückblick erzählt er von seiner Zuneigung zum scheckigen Schimmel. Als er sein Bild mit dem letzten Strich auf die Hufe fertigstellen wollte, verwendete er die Farbe Schwarz. Allerdings machte dieser letzte Strich das ganze Bild für ihn fremd, ekelhaft und hässlich. Er fühlte sich »verzweifelt und grausam bestraft«.253 Auch später beim Malen rief die Verwendung von reinem Schwarz auf Leinwand in ihm eine »ordentliche Seelenangst« hervor.254 Kandinsky benutzte bis um 1908 für seine noch dekorativen, vom Jugendstil beeinflussten Temperagemälde und Holzschnitte schwarze bzw. braune Pappen und malte ohne schwarze Farbe mittelalterliche Ritter oder märchenhafte Darstellungen, d.h. die schwarze Pappe wurde durch Farben bestrichen, und die Lücken fungierten als Umrisse. Kandinskys aktive Verwendung von Schwarz als Kontur wird um 1908/09 nach dem Aufenthalt in Paris und Berlin unter dem Einfluss von Fauvismus und am Beginn der Abstraktion sichtbar. Es ist zu vermuten, dass der Sinn von Schwarz sich durch die Praxis wandelte. In den frühen vier Bühnenkompositionen spielt die schwarze Figur eine Hauptrolle. Dies könnte mit seiner eigenen Überwindungsgeschichte zusammenhängen. Die Verwendung von Weiß erwähnt Kandinsky in dem für einen Vortrag vorbereiteten Text Mein Werdegang (1914). So befiel ihn im Sommer 1911 ein Anfall wegen der Hitze. »Die Haut reißt. Der Atem vergeht. Plötzlich kam mir die Natur weiß vor. […]Seitdem weiß ich, welche ungeahnten Möglichkeiten diese Urfarbe in sich birgt.« Er hätte diese Farbe früher »falsch« aufgefasst und sogar Angst vor dem »Leichtsinn ihrer inneren Kraft« gehabt.255 Diese Erfahrung des Sommers datiert jedoch ins Jahr 1911 und liegt somit nach dem Entwurf der frühen Bühnenkompositionen von 1908/09. Durch den Überblick der Bedeutung von Schwarz und Weiß bei Kandinsky wird deutlich, dass Schwarz besonders persönlich auf den Künstler wirkte. Die Einschränkung dieser Farbe bis 1909 könnte auch auf seine Kindheitserlebnisse zurückgeführt werden. Da Schwarz in den frühen vier Bühnenkomposi-

250 251 252 253 254 255

Kleine 1994, S. 131. GSI, S. 50. Ebd., S. 29. Ebd., S. 34. Ebd. GSI, S. 56.

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tionen stets von Protagonisten getragen wird, könnten der Konflikt der zwei Farben in Schwarz und Weiß sowie ihre Vereinigungsgeschichte in seiner persönlichen Farbsymbolik eine Bedeutung besitzen. Im nächsten Kapitel werden die Erscheinungen der Farben, Figuren und ihrer Bewegungen in Schwarz und Weiß ausführlich analysiert. 4.4.1. Das erste Bild – Weiß: Verschwinden des Wunderbilds Mariä Im ersten Bild sind die Darsteller zwei zueinander gewandte, sitzende Figuren: eine riesige weiße Figur rechts und ein schwarz gekleideter Mensch links im Vordergrund (Abb. 32). Die weiße Figur ist von einem losen weißen Tuch bedeckt, und ihr Oberteil ist von der Schulter herab durch das Proszenium abgeschnitten. Wegen der Größe, der gelösten Konturen und der Versteckung wirkt diese Figur nicht menschlich, sondern wie ein Fels. Die weißen Wolken um sie betonen die übermenschliche Größe der weißen Figur. Hingegen ist die schwarze Figur klein und hat Menschengröße. Der schwarz gekleidete Mensch sitzt auf einem grauen Stein. Er hält beide Arme auf dem Schoß, dann nach langer Zeit hebt er den linken Arm hoch in die Luft, gerade über den Kopf gestreckt. Der rechte Arm sinkt herunter. Vorhang. Riesige, weiße, vom losen weißen Tuch bedeckte Figur Kandinsky begann ab etwa 1908 mit der nichtnaturalistischen Proportion in seiner Malerei, aber es gab um diese Zeit noch keine übermäßige Vergrößerung einer Figur wie in den Bühnenkompositionen. Es ist zu vermuten, dass die weiße Figur in Schwarz und Weiß eine besondere geistige Identität wie die gelben Riesen in Riesen haben könnte, die in der vorliegenden Analyse als wichtige Propheten identifiziert wurden.256 In Kandinskys Malerei zeigen die biblischen Figuren wie die Heiligen um 1910/11 eine nichtproportionale Vergrößerung. Ein Beispiel dafür ist die Hinterglasmalerei »Heiliger Wladimir« (1911) (Abb. 18).257 Er wird von vielen unbekleideten Täuflingen umschlossen und ragt wie ein hoher Berg bis zum Rand des Rahmens empor. Auf dem Berg hinter ihm befinden sich Kirchen mit Zwiebeltürmen. Wladimir hebt mit seiner linken Hand eine Kirche und mit der anderen ein Kreuz hoch, zeigt sich als Beschützer. Seine Größe entspricht seiner religiösen Macht und Bedeutung. In Kandinskys anderen religiösen Bildern wie »Große Auferstehung« (Abb. 4) stellt Kandinsky auch vergrößerte Figuren wie Engel mit Posaunen dar. Die übermenschliche Größe könnte daher die vom Materiellen befreite geistige Überlegenheit darstellen. Diese Darstellungstechnik hat den Ursprung in der

256 257

Siehe Kap. 4.2.1. Wladímir Swatosláwitsch (? –1015) war Großfürst von Kiew. Von ihm wurde das Christentum zur Staatsreligion erklärt und die Stadt Kiew wurde der Mittelpunkt der Gläubigen im östlichen slawischen Raum. Von ihnen wird er wie ein Apostel verehrt (Lexikon der Namen und Heiligen, Hamburg, 2002). Die ausführliche Bedeutung dieses Heiligen in der russischen Ikonographie und bei Kandinsky siehe Mazur-Keblowski 2000. In Kandinskys Darstellung des Heiligen Wladimir sind die Züge von Kandinsky selbst zu erkennen (Kleine, S. 442).

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Ikone. Es scheint, dass sich Kandinsky in Schwarz und Weiß mit der Maltechnik der Ikone auseinandersetzte. Die weiße riesige Figur erscheint nochmals im dritten Bild. Dabei wurde ihr »Frauenfigur« zugeschrieben, so könnte die weiße Figur auch hier weiblich sein. In der Ikone wird Mariä Wesen oft groß dargestellt (Abb. 33). Ein Berg mit der Höhle gehört ikonographisch zur Erscheinung Marias, denn die Höhle deutet die Funktion der »Gottesgebärerin« als Schutz Jesu an. Das weiße Tuch über der Figur kann mit dem Silberüberzug verglichen werden.258 So könnten die Körperbilder der weißen riesigen Figuren zum Darstellungstyp von Maria passen. Ein schwarz gekleideter Mensch Der schwarz gekleidete Mann kann, nach dem Ergebnis der vorhergehenden Analyse von Riesen und Stimmen, als unsichtbarer oder nichtmaterieller Körper Christi gedeutet werden.259 Er hebt seine linke Hand sitzend zum Himmel auf und senkt die rechte Hand nach unten. Die Streckung der Hände dient an sich keinem konkreten Ziel, jedoch könnte dies einen symbolischen Sinn vermitteln. Dass die Hände nach oben und unten gerichtet sind, könnte die Vergrößerung der Figur bedeuten, denn eine vertikale Richtung hat einen stärkeren Zusammenhang mit Höhe als eine horizontale. Da die Figur außer Schwarz keinen anderen Charakter besitzt, sollte diese Farbe mit der Bewegung verbunden sein. Die Ausdehnung des schwarzen Etwas ist das einzige wesentlich dramatische Geschehen dieses Bildes und die Folge davon wird durch das Fallen des Vorhangs ins nächste Bild überführt. Die Handbewegung des schwarz gekleideten Mannes könnte im Zusammenhang mit dem nächsten Bild sowie mit Hilfe der Literatur interpretiert werden. Im zweiten Bild findet der Kampf des Kreuzzuges statt. Tassos populäres Epos Das befreite Jerusalem260 erhält eine Episode über die Ikone Mariä. Im zweiten Gesang empfiehlt der böse Zauberer Ismen dem Jerusalem regierenden Tyrannen Aladin, das Bild der Gottesmutter vom unterirdischen christlichen Altar zu rauben. Ismens Wort nach erhelle »ein nie verlöschend Licht« die Grotte des Altars, und »ein dichter Schleier deckt das Wunderbild«.261 Ismen behauptet, dass der Zauber des Bildes die Mauer Zions vor Angriffen schützen würde, wenn Aladin das Wunderbild in seinen Tempel stellte. So stürzt Aladin ins »Gotteshaus« und trägt das Bild zum Tempel. Ismen fängt an, Lästerworte vor dem Marienbild zu sprechen. Doch am nächsten Tag verschwindet das Bild vom Tempel. Dieses Werk sei »dem Himmel zuzuschreiben«.262 Die Gestik des schwarzen Mannes vermittelt den Eindruck, dass er sich vergrößert und auf die gegenüber sitzende weiße Figur seine schwarze Macht, die in diesem Fall keine böse, sondern geheimnisvolle, unsichtbare Hand bedeutet, ausübt. Da im zweiten Bild zwei Menschen erscheinen, deren Aussehen dem Merkmal der Helden in Das befreite Jerusalem 258 259 260 261 262

Siehe Kap. 2.1.5. Siehe Kap. 4.2.4. sowie Kap. 4.5.2. Zur Literatur siehe Kap. 4.1.4. Tasso 1963, S. 31. Ebd.

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ähneln, könnte das erste Bild das Verschwinden der Ikone aus dem heidnischen Tempel darstellen. Die zweite Möglichkeit bietet sich mit der Thematik von Ikonen. Im dritten Bild von Schwarz und Weiß wird meines Erachtens nach das ikonographische Motiv »Entschlafen der Gottesmutter« dargestellt. Dabei erscheint in der Regel Christus, um die Seele Mariä zu empfangen. In Bezug auf dieses Bildmotiv könnte das erste Bild von Schwarz und Weiß die Erkrankung der Gottesmutter behandeln. Der schwarze Mann streckt seine Hände. Dies bedeutet, dass er gekommen ist, um Maria den Tod zu bringen und ihr das ewige Leben zu verleihen. 4.4.2. Das zweite Bild – Schwarz: Kreuzzug Im zweiten Bild liegt im Hintergrund ein großer schwarzer Berg, der an ein »liegendes Ungeheuer« erinnert. Bald treten von rechts schwarz gekleidete Männer langsam im Vordergrund über die Bühne. Sie stützen sich auf schwarze Stöcke. Nachdem 10 bis 12 Männer vorbei sind, gibt es eine kleine Pause, dann wird die Reihe fortgesetzt. Als 6 bis 8 Männer auf der Bühne sind, kommt von links ein weißgekleideter junger Mann. In der Skizze sind seine blonden Haare erkennbar (Abb. 34). Er tritt ziemlich nahe an die schwarz gekleideten Männer heran und streckt plötzlich den linken Arm aus. Die Handfläche wird nach oben und vorne gerichtet. Sein rechter Arm wird nach hinten etwas ausgestreckt. Alle bleiben stehen. Dann beginnt die gegensätzliche Bewegung. Von links hinter den Männern treten weiß gekleidete Frauen auf. Nachdem zehn bis zwölf Frauen vorbeigelaufen sind, gibt es eine kleine Pause. Dann kommen weitere sechs bis acht Frauen auf die Bühne. Von rechts kommt danach eine schnell gehende schwarz gekleidete Frau, die wie der junge Mann die Bewegung der weiß gekleideten Frauen unterbricht. Nach einem kurzen Moment der Bewegungslosigkeit drehen sich alle Menschen langsam zum Zuschauer. Nach einer weiteren Pause heben alle die Arme »mit etwas gebogenen Ellbogen und gerade ausgestreckten Händen«. Die Handrücken werden nach oben gerichtet und bis zur Hüfthöhe gehoben. Sie legen ihre Köpfe auf die Seite. Ein kurzer Hornton erklingt. Alle Figuren heben die Arme ganz in die Höhe. Die Köpfe werden zurückgelehnt. Nach einer Stille ziehen die Wolken nach oben und verschwinden. Die Arme fallen herunter. Alle brechen zusammen oder setzen sich hin, während nur der weiß gekleidete Mann und die schwarz gekleidete Frau unbeweglich stehen bleiben. Am Ende wächst der schwarze Berg erst langsam, dann immer schneller in die Höhe und verdeckt den Hintergrund. Dann klingt eine »gutturale Stimme«, die mit zunehmender Dunkelheit allmählich nicht mehr hörbar ist. Großer schwarzer Berg Als Folge des vorausgegangenen Bildes könnte der große Berg die riesige weiße Figur sein, die durch die Hand Christi aus dem heidnischen Tempel verschwand.263 Die »liegende« Haltung könnte auch auf eine Erkrankung hinweisen, wie auch das Lied im

263

Ebd.

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dritten Bild »Schwarztodte Schleier« andeutet. Dementsprechend findet im nächsten Bild die Beerdigung der weißen Figur statt. Die Assoziation des Bergs mit der Gottesgebärerin Maria ist in der Symbolik des orthodoxen Christentums bekannt. Laut Ouspensky wird der Text aus dem Alten Testament, in dem die Mutter Gottes als Grundstein der Inkarnation des Christus gedeutet wird, an allen Feiertagen vorgetragen, die der Mutter Gottes und ihren Ikonen gewidmet sind.264 In Daniel 2, 34–35 steht z.B., »Der Stein aber, der das Bild zerschlug, wurde zu einem großen Berg, so daß er die ganze Welt füllte.« Maria wird daher in der Symbolik mit dem Berg verglichen. Sie gleicht dem »Haus Gottes« und der »Himmelspforte«.265 Der Berg wächst am Ende dieses Bildes mit dem Ton eines Horns immer mehr und bedeckt fast den ganzen Hintergrund. Solches Wachsen eines Gegenstandes benutzte Kandinsky bereits in Gelber Klang, in dem ein hellgelber Riese sich bis zur Decke vergrößert und sich wie ein Kreuz zeigt. Das allmähliche Wachsen einer Farbe oder Form scheint eine typische Vision bei Kandinskys zu sein. Dies könnte nach der Deutung des kreuzförmigen Riesen die Befreiung vom materiellen Körper bedeuten.266 Ein weiß gekleideter junger Mann und eine schwarz gekleidete Frau Der Mann ist »ganz weiß« gekleidet und besitzt ein »sehr warm gelbes Gesicht« und »sehr blonde Haare«. Er führt offensichtlich die Gruppe der weiß gekleideten Frauen mit »dunklen und hellen Gesichtern«. Die blonden Haare des Mannes beziehen sich auf die Menschen im Okzident. Dagegen werden der schwarz gekleideten Frau keine weiteren Merkmale zugeschrieben. Sie leitet die Gruppe der schwarz gekleideten Männer, die, aus Jungen und Alten bestehend, grünliche, rosige etc. Gesichter zeigen. Die schwarz gekleideten Menschen könnten im Gegensatz zu den Menschen aus dem Okzident für den Orient stehen. Diese Szene behandelt den Kreuzzug, und die Einzelfiguren beziehen sich auf die Darsteller in Das befreite Jerusalem von Tasso. In Das befreite Jerusalem gibt es zwei Paare, die von den gegensätzlichen Parteien stammen, jedoch eine Liebesbeziehung entwickelen. Das erste Paar sind Rinald und Armida, und das zweite sind Tankred und Clorinda. Das Merkmal des jungen Mannes, der allein dem Gegner gegenübersteht, könnte mit dem Bild von Rinald übereinstimmen: »Wenn er gewaffnet, blitzt von Mutesfülle, scheint er dir Mars und Amor ohne Hülle.«267 Die schwarz gekleidete Frau muss Armida sein, die eine junge Nichte des heidnischen Königs ist und die Zauberkraft der Liebeskunst besitzt.268 Sie verführt die Kreuzritter und versucht, Rinald zu entführen. Das andere Paar sind Tankred und Clorinda. Tankred ist einer der größten Krieger des Kreuzzugs und älter als Rinald. Er trifft zufällig die heidnische Kriegerin Clorinda, die mit Ausnahme des Gesichtes völlig in der Rüstung steckt. Obwohl er in sie verliebt ist, tötet er sie in der Nacht, ohne zu wissen, das sie sein Gegner ist. Die gefallene Clorinda 264 265 266 267 268

Ouspensky 1962, S. 57. Ebd. Siehe Kap. 4.2.5. Tasso 1963, S. 23. Tasso 1963, S. 71.

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wünscht angesichts des Todes das Wasser zur Taufe. Von dieser Szene erzählt Wilhelm Meister in Wilhelm Meisters Lehrjahre so begeistert, wobei er der »heidnischen Heldin mit ganzem Herzen« beisteht.269 Es ist spekulativ, aber möglich, dass Kandinsky genauso wie Wilhelm Meister durch Tassos Das befreite Jerusalem eine Anregung zur Bühnenkunst bekam. Denn Wilhelm erzählt: »Es bemächtigte sich die Geschichte meiner Einbildungskraft so, daß sich mir, was ich von dem Gedichte gelesen hatte, dunkel zu einem Ganzen in der Seele bildete, von dem ich dergestalt eingenommen war, daß ich es auf irgendeine Weise vorzustellen gedachte.«270 Wilhelm wollte Tankred und Reinald spielen, die beiden Kreuzritter, die beider einer Heidin ihr Herz schenken und an Liebeskummer leiden. Da Kandinskys Ziel von Schwarz und Weiß nicht im Kreuzzugstriumph, sondern, wie im Gedicht im nächsten Bild angedeutet wird, in der Versöhnung zwischen Orient und Okzident liegt, könnte die Auswahl von Rinald und Armida bzw. Tankred und Clorinda, seiner Absicht entsprechen. Schwarz gekleidete Männer und weiß gekleidete Frauen Vor dem schwarzen Berg finden zwei Bewegungen einer schwarzen Gruppe und einer weißen Gruppe statt, die von einer die Gegenfarbe tragenden Figur unterbrochen werden. Die schwarze Gruppe besteht aus Menschen mit grünen, rosafarbigen und anderen Gesichtern. Sie haben auch Bärte und stützen sich auf den Stock, bis der junge Mann im weißen Kleid den Zug der schwarzen Gruppe stoppt. Der zweite Zug der weißen Frauengruppe wird ebenso von einer schwarz bekleideten Frau aufgehalten. Die Mitglieder der schwarzen Gruppe zeigen Zeichen des Alters, so tragen sie z.B. Stöcke. Dies könnte die Reife des Orients, der eine längere Geschichte als Europa hat, andeuten. Bei ihnen erscheint außer Armida und Clorinda keine weibliche Kriegsheldin. Die weiß gekleideten Frauen sind keine Kriegerinnen, jedoch beziehen sie sich auf einige Figuren in Das befreite Jerusalem, wie Sophronia, die christliche Frau, die trotz ihrer Jugend Märtyrerbereitschaft zeigte, und Erminia, die zu den Heiden gehört, aber wegen der Liebe zu Tankred zur Christin wird. 4.4.3. Das dritte Bild – Schwarz und weiß: Entschlafen der Gottesmutter und Erlösung im Grau Die »Frauenfigur«, die fünfmal größer als ein Mensch und von weißem Stoff verhüllt ist, liegt auf einem an eine Bahre erinnernden schwarzen Hügel (Abb. 35). Sie scheint dieselbe riesige weiße Figur wie im ersten Bild zu sein. Das Attribut »Bahre« und der bunt gekleidete Menschenzug »wie eine Prozession« deuten den Tod der weißen Figur an. Die bunten Menschen gehen, sich einander eng anschließend, »wie ein langes buntes Band« und singen Worte. Sie gehen schließlich langsam nach rechts mit steifer Haltung, sich etwas nach vorne neigend, die Hälse ausstreckend und mit hängenden Armen ab. Als die

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Goethe 2008a, Erstes Buch, Siebentes Kapitel. Ebd.

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Bühne sich leert, wird es allmählich dunkel. In der Mitte der Bühne bleibt graues undeutliches Licht. Danach volle Dunkelheit. Von weißem Stoff verhüllte Frauenfigur Die Frauenfigur ist fünfmal so groß wie ein Mensch und liegt auf dem Hügel. Hier werden die Motive aus der Ikone »Entschlafen der Gottesmutter« entnommen (Abb. 31). In der Mitte liegt Maria und wird von den bunt gekleideten Aposteln umkreist. Dass sie auf einem schwarzen Hügel liegt, deutet die bevorstehende Erlösung an, die das weiße Leben und den schwarzen Tod vereinigt. Anschließend entsteht an der Stelle der Frauenfigur ein »graues undeutliches Licht«. Dies könnte bedeuten, dass die Gottesmutter entschläft und die gegensätzlichen Farben sich vermischen. Zwei Riesenberge Der linke Berg ist »sehr tief blau ins schwarze mit schwarzen Flecken unregelmäßig verteilt« und der rechte »mit roten Streifen hier und da«. Ähnliche Berge kommen in Kandinskys Bild »Improvisation 2 (Trauermarsch)« (1909) vor (Abb. 36). Die beiden könnten das gleiche Motiv behandeln. Im Bild erscheint auch ein Ritter, wie im vierten Bild von Schwarz und Weiß. Wer in dem Trauermarsch des Bildes beerdigt wird, ist jedoch nicht klar, weil die weiße Figur nicht im Bild zu sehen ist. Zwei Berge könnten ikonographisch auf die Stadt Jerusalem hinweisen. Deutung des Gedichtes Die bunt gekleideten Menschen singen folgendes Lied: [1] »Angst in der Tiefe, die Freude im Ahnen. [2] Kalte Berggipfel und schwindlige Bahnen. [3] Schwarztodte Schleier. Wildrasende Winde. [4] Weißes Stillschweigen. Zerreisse und binde! [5] Zerrißene Bänder! [6] Entdeckte Fernländer! [7] Zerreiße und binde! [8] Zerriß’nes gebunden [9] Das Schwarz überwunden! [10] Zerreiße und binde!« Worte wie »Angst« und »Freude«, »Berggipfel« und »Bahnen«, »Schwarztodte Schleier« und »Weißes Stillschweigen« können als Gegensatzpaare betrachtet werden. Ab dem Vers [5] könnten drei Verse als ein Absatz verstanden werden. So könnten sie strukturell in vier Teilen [1,2], [3,4], [5,6,7] und [8,9,10] betrachtet werden. Die ersten zwei Teile sind eine Aufzählung der Gegensätze. Die letzten zwei Teile haben eine gemeinsame Innenstruktur, so vermittelt die mittlere Zeile wichtige Informationen des Liedes, d.h. die Verse [6] »Entdeckte Fernländer!« und [9] Das Schwarz überwunden!« sind das Ziel des 162

Gedichtes. Es geht um die Überwindung von allen Gegensätzen wie Schwarz und Weiß, Orient und Okzident, usw. Claudia Emmert bezieht das Wort »Entdeckte Fernländer« auf das Kommen eines »neuen Himmels« und einer »neuen Erde«271 in der Offenbarung des Johannes,272 wobei dies nicht zutreffend ist, weil es nur ein neues Jerusalem gibt, das aus dem neuen Himmel und der neuen Erde besteht. »Entdeckte Fernländer« könnte im Bezug zu Kreuzzügen die Länder im Orient bedeuten. Kandinsky interessierte sich wie seine Zeitgenossen der Jahrhundertwende für die Volkskunst.273 Im Almanach Der blaue Reiter (1912) publizierte er außereuropäische Künste aus Ägypten, China, Japan, Indien, Indonesien, Afrika, Südamerika, Mexiko, Nordamerika und Australien.274 Kandinskys Interesse an den außereuropäischen Künsten muss durch seine Teilnahme an der Brücke-Ausstellung um 1908 erweckt worden sein. Seit 1906 begann in Deutschland die Rezeption von Bildern des Franzosen Paul Gauguin (1848–1903) von der südpazifischen Insel Tahiti. Aus dieser Faszination heraus suchten die Künstler der Brücke um 1907–1909 statt einer nicht finanzierbaren Reise zu den Südinseln ein simuliertes Paradies-Erlebnis an See oder Meer. Da Kandinsky auch mit seinen Bildern an der Brücke-Ausstellung teilnahm, muss er auch darauf aufmerksam geworden sein. Das Wort »Entdeckte Fernländer« in Schwarz und Weiß könnte daher das neue Reich der Künste, d.h. die ›nicht-‹ oder ›außer-‹ europäischen Fernländer bedeuten. »Zerreiße und binde« wies daher auf die zerbrochene Freundschaft des Orients und Okzidents hin. Warum das »Schwarz überwunden« werden soll, bezieht sich auf Kandinskys Farbsymbolik. Er ordnete den Urzustand der Menschen dem Grau zu, denn diese Farbe symbolisiert die Vereinigung von A und O sowie Schwarz und Weiß. Die Menschen kannten erst nach der Ursünde den Unterschied vom Gut und Böse sowie Leben und Tod. Das »Schwarz überwinden« heißt daher die Erlösung durch die Aufnahme von Schwarz ins Leben. Der Zug der bunt gekleideten Menschen Diese Szene ist die Verkörperung einer von Kandinsky erstellten Tabelle III (Abb. 5) in Über das Geistige in der Kunst. Er bezeichnet die Tabelle als »Die Gegensätze als Ring zwischen zwei Polen = das Leben der einfachen Farben zwischen Geburt und Tod.«275 Grau steht nicht in der Tabelle, weil es durch die Mischung der zwei Pole Schwarz und Weiß geschaffen wird. Obwohl die Bedeutung dieses grauen Lichtes auf der Bühne nicht ausführlich analysiert wurde, handelt es sich um das wichtigste Moment dieses Stückes, denn Kandinsky schrieb am Ende seiner Farbenlehre: »Das Vereinen der beiden Ausdehnungen im Mit- oder Widerklang ist eines der reichsten und gewaltigsten Elemente der

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Offb 21, 1. Emmert 1998, S. 142. Siehe Kap. 2.1.1. Für die Aufzählung und Einordnung der im Almanach vorgestellten Künste, Musik, Gedichte siehe Kat. Der Blaue Reiter, 1986, S. 9ff. ÜGK, S. 105.

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zeichnerisch-malerischen Komposition.«276 Die weiße Figur stirbt einmal, mischt sich aber mit Schwarz und veranlasst damit die Geburt einer neuen Farbe. Diese Szene behandelt schließlich keinen Todesmarsch und kein Ende, sondern Opfergabe, Vereinigung und Wiedergeburt. Im vierten und letzten Bild bilden Schwarz und Weiß keinen Konflikt mehr, sondern Harmonie in der Landschaft. Graues undeutliches Licht Nach dem Lied erscheint ein graues undeutliches Licht. Die graue Farbe ist als eine Farbenmischung von Weiß und Schwarz zu verstehen und deutet eine symbolische Vereinigung der gegensätzlichen Zustände an: von Leben und Tod. Durch die Aufnahme des Todes wird das Leben auf der Erde beendet, jedoch bedeutet dies christlich die Wiedergeburt im Himmelreich. In dem Sinne könnte Grau den Zustand zeigen, mit dem der Einzug ins Himmelreich geschafft werden kann. 4.4.4. Das vierte Bild: Schwarzer Ritter und Mariä Lichtmeß, der blaue Vogel Die Szene unterscheidet sich deutlich von den ersten drei. Im Gegensatz zu den bisherigen kahlen Felsenszenen befinden sich im vierten Bild drei Bäume, von denen zwei scheinbar Früchte tragen (Abb. 37). Die Früchte könnten einen positiven Eindruck machen. Ein anderes positives Zeichen bei Kandinsky, ein weißes Ross, befindet sich auch in dieser Landschaft. Dies ist Kandinskys Lieblingspferd seit seiner Kindheit. Im Rückblick erwähnt er den Besitz eines Apfelschimmels als Spielzeug und fügt hinzu, dass ein Apfelschimmel bzw. Bleischimmel in seiner Erinnerung nie altert und ihn glücklich macht.277 Die vierte Szene besitzt deshalb optisch keine Spannung des Kampfes und des Todes, die durch den Konflikt von Farben – Schwarz und Weiß – dargestellt wurde, sondern eine entspannte, idyllische Atmosphäre. Auf dem Pferd sitzt ein schwarz gekleideter Ritter, und die Hufe machen Laute. Während der Ritter abtritt und nicht mehr sichtbar ist, bleiben die Huflaute eine Weile. Dieser schwarze Ritter ändert den Eindruck der Farbe Schwarz von Angst zu Stärke. Dass der Himmel langsam ganz weiß wird und sich ein paar schwarze Streifen am Himmel zeigen, deutet auf die Harmonie und das Zusammensein von Schwarz und Weiß nach dem Konflikt. Ein schwarz gekleideter Reiter auf dem weißen Roß Im Zusammenhang mit den vorhergehenden Szenen könnte der Reiter die Kriegerin Clorinda darstellen, denn sie reitet auch ein Ross, und als sie stirbt und getauft wird, hat sie eine schwarze Rüstung an, obwohl sie sonst silberne Rüstung trägt. Sie findet in der Landschaft ihre Ruhe.

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ÜGK, S. 112. GSI, S. 28. »Er weckt die in mir lebende Sonne. Er ist unsterblich, da er in den fünfzehn Jahren, die ich ihn kenne, gar nicht gealtert ist. […]Dieser scheckige Schimmel machte mich plötzlich in München heimisch.«

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Verschleierte Gestalten mit unterschiedlichen hellgrünen Gesichtern Nach dem Auftritt des Reiters erscheinen verschleierte Gestalten. Sie setzen sich im Profil mit hochstehenden Knien schräg dicht hintereinander. Nachdem im Himmel einige schwarze Streifen entstehen, stehen die Gestalten plötzlich auf und haben weiß brennende Fackeln in der Hand. Danach entfernen sie sich hastig, sich ständig umschauend. Sie sind Gläubige, die sich für Mariä Lichtmess versammeln. Mit Bezug auf Tassos Werk, in dem die christlichen Gläubigen unter der heidnischen Herrschaft verfolgt werden, könnte dies heimlich organisiert sein. Daher entfernen sie sich hastig, sich immer wieder umschauend. Die verschleierten grünlichen Figuren ähneln den kleinen Figuren in der Mitte des Holzschnittes »Große Auferstehung« (1911) (Abb. 4). Daneben steht eine relativ große Figur. Diese könnte mit der weißen riesigen Figur, die die Gottesmutter darstellt, identisch sein und zeigt die Verehrung der Gottesmutter. Blauer Vogel Die Wandlung vom grünen Vogel in den blauen Vogel erinnert an das Drama von Maurice Maeterlinck, L’oiseau bleu. Nach Kandinskys Äußerungen muss er die Theaterstücke von Maeterlinck hochgeschätzt haben.278 Das Stück L’oiseau bleu wurde 1908 im Moskauer Künstlertheater unter der Regie von Stanislawski uraufgeführt und erhielt gute Rezensionen. Dass Kandinsky davon hörte, ist sehr wahrscheinlich. Möglicherweise ist die Erscheinung des blauen Vogels eine Hommage an Maeterlinck. Dass Kandinsky später, im Jahr 1910, die Aufführung in Moskau sah und von ihrer »philosophisch-okkulten Flickschusterei«279 enttäuscht war, entspricht seinen damaligen hohen Erwartungen an das Stück. Blau ist für Kandinsky eine »typisch himmlische Farbe«. Es weckt in Menschen die »Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem«. Als Gegenpol gegen »irdisches« Gelb verkörpert Blau bei Kandinsky das Geistige.280 Bemerkenswert ist aber, dass Blau laut Kandinsky durch Vertiefung zu Schwarz sinkt und durch Verdünnung zu Weiß übergeht.281 Blau führt Menschen also zur Ruhe, die Schwarz und Weiß gleichermaßen enthält. Anders als die Ruhe von Grün, die wie »irdische, selbstzufriedene Ruhe ist«, ist die Ruhe von Blau »feierliche, überirdische Vertiefung«. Für Kandinsky ist also Blau die Quelle von Schwarz und Weiß, es ist auf der sinnlichen Ebene die totale Vereinigung der beiden. Grau ist die materielle Harmonie von Schwarz und Weiß, und von dieser Harmonie ausgehend, wird die nicht-materielle geistige Einheit,

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Hahl-Koch 1993, S. 151. Laut Hahl-Koch besaß Kandinsky die Erstausgabe (St.Petersburg, 1896) von Maeterlincks Theaterstücken. Hahl-Koch erwähnt aber nicht den Bezug des Vogels zu Maeterlinck und schlägt in Klammer eine Interpretationsmöglichkeit »vielleicht Phönix« vor. Von Kandinskys Brief an Münter im November. Zitiert nach Kleine S. 355. ÜGK, S. 93. Kandinsky zitiert, »... les nymbes ... sont dorés pour l’empereur et les prophètes (also für Menschen) et bleu de ciel pour les personnages symboliques (also für nur geistig existierende Wesen). (Kondakoff, N. Histoire de l’art byzantin consid. Princip. Dans les miniatures. Paris 1886–1891. Vol. II, p. 38, 2.)«. ÜGK, S. 93.

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Blau, erreicht. Das vierte Bild der Bühnenkomposition Schwarz und Weiß zeigt die Vereinigung der Gegenpole zu totaler Einheit und Heiligkeit. 4.4.5. Schluss: Zwischen Orient und Okzident Die dritte Bühnenkomposition Schwarz und Weiß behandelt das Entschlafen Mariä und den Kreuzzug parallel. Das Ziel des Stückes ist es, die Gegensätze wie Schwarz und Weiß, Tod und Leben sowie Orient und Okzident in einer Einheit zu vereinigen. Die weiße riesige Figur stellt Mariä Ikone dar. Während sie durch die Hand Christi verschwindet, kämpfen im zweiten Bild die zwei Parteien um Jerusalem. Während des Kreuzzuges entstehen jedoch auch Liebespaare zwischen den Feindesparteien. Im dritten Bild liegt Maria auf dem Felsen und wartet auf den Tod. Durch den Tod vereinigen sich das Leben und der Tod und erlangen einen Zustand des Graus, das dem Urzustand der Menschheit entsprechen kann. Das vierte Bild stellt die Folge des Kreuzzuges in einer Idylle dar. Daraus fliegt der grüne Vogel hervor, der nach und nach blau wird. Dies symbolisiert die Einheit von Schwarz und Weiß, weil Blau je nach der Abstufung die beiden Farben verkörpert.

4.5. Bühnenkomposition IV Schwarze Figur Die Existenz der vierten Bühnenkomposition Schwarze Figur im Nachlass Kandinskys wurde erst 1986 bekannt gemacht, und 1998 wurde diese Bühnenkomposition veröffentlicht.282 Sie besteht ähnlich wie Riesen aus fünf Bildern. Die Liebespaare und die Paare der Bäume, die im zweiten, vierten und fünften Bild in gegensätzlichen Formen erscheinen, bilden offensichtlich das Hauptmotiv, d.h. die Variation des Topos des Liebespaars, der ursprünglich von Adam und Eva stammt und bis zur Hochzeit Christi im himmlischen Reich weitergeführt wird. Die schwarze Figur tritt nämlich jedes Mal vor den Liebespaaren mit einer bedeutsamen Gestik auf. Im zweiten Bild wird das Ur-Liebespaar Adam und Eva von seiner Ursünde283 befreit und ins Himmelreich eingeladen, im vierten Bild erscheinen die klugen Jungfrauen284 als Brautjungfern der himmlischen Hochzeit Christi im Himmelreich, und im fünften Bild werden die Kinder als zukünftiges Liebespaar und Nachfolger im geistigen Kampf von der schwarzen Figur auserwählt. In den bisherigen Forschungsstudien wurde Schwarze Figur kaum erwähnt, zum einen, weil das Stück erst später entdeckt wurde, und zum anderen, weil im Vergleich zu den ersten drei Bühnenkompositionen viel mehr kinetische Zeichen als Ausdrucksmittel verwendet worden waren, so dass der Vorgang mit der literarischen Methode nicht zu verstehen war. Jessica Boissel stellte dazu zwei Thesen auf. Demnach beziehe sich der Regenbogen im vierten Bild auf Kandinskys zwei vorausgehende Gemälde, »Landschaft mit Regenbogen« und »Ariel-Szene

282 283 284

ÜT, S. 110ff. 1. Mose 4, 22. Mt 25, 1–13.

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aus Faust II« (Abb. 38).285 Zweitens würden die Entstehungsjahre und der gemeinsame Stil der vier frühen Stücke darauf hinweisen, dass sie als Tetralogie entworfen worden waren.286 So könnte die Szene mit dem Regenbogen auf Faust II bezogen werden, wobei es außer dem Regenbogen und dem gesamten idyllischen Eindruck an weiteren Indizien hierfür fehlt. Der Einfluss von Faust II auf den Regenbogen kann innerhalb der assoziativen Möglichkeit angesprochen werden.287 Bei Kandinskys Szenerie des vierten Bildes tritt die Präsenz der zwei Bäume, um die die in rosa gekleideten Menschen im Reigen tanzen, viel mehr hervor. So könnte sich dies auf die christlich-ikonographische Darstellung des himmlischen Paradieses beziehen. Boissels zweite These wurde in der Forschung nicht näher untersucht. Die vorliegende Studie bestätigt sie auf der Grundlage einer vollständigen Interpretation, und am Ende wird deutlich gemacht, dass das Werk Nachspiel als Epilog zur Tetralogie gehört und zur selben Zeit entstanden sein muss. Für die Entschlüsselung des Stücks sind zwei Hauptmotive zu untersuchen: die schwarze Figur und die Brautmystik. Die Titelrolle, die schwarze Figur, die vom zweiten bis fünften Bild auftritt, spielte auch in den ersten drei Bühnenkompositionen eine der Hauptrollen und wurde in der vorliegenden Analyse bereits als Jesus Christus in Menschengestalt identifiziert.288 In Schwarze Figur wird die Auseinandersetzung zwischen dieser Figur und den Liebespaaren wiederholt thematisiert. In der christlichen Ikonographie können die Liebespaare als Topos von Braut und Bräutigam variieren,289 wie David und Batsheba, König Salomon und die Königin von Saba, Christus und Ecclesia oder Christus und Heilige bzw. Gläubige wie die klugen Jungfrauen. Diese Gleichnisse gelten als ein allegorisches Gegenmotiv zu Adam und Eva. Hier handelt es sich um die Erlösung des Urehepaars in der Form der heiligen Hochzeit. Das erste Bild beginnt mit sich unterhaltenden Menschen vor dem Jüngsten Gericht. Sie warten nach dem Tod auf die Entscheidung über den Weg in den Himmel oder in die Hölle und äußern sich über ihr Leben. Im zweiten Bild tritt ein schwarzhaariges Liebespaar in einer Landschaft mit zwei schwarzen Bäumen auf. Das Ehepaar sind Adam und Eva, und die zwei Bäume sind der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis. Die schwarze Figur tritt vor das in die weiße Sänfte einsteigende Paar und segnet es. Im dritten Bild erscheinen wieder die wartenden Menschen in Trachten und betrachten am Fluss oder Meer, wie die schwarze Figur im Kahn die Auserwählten in den Himmel bringt. Im vierten Bild tanzen die rosa gekleideten Liebespaare einen Reigen. Sie sind die Bewohner des Himmelreichs. Während sie tanzen und singen, erscheinen die neuen Auserwählten in der Form von klugen Jungfrauen als Brautjungfern, die die schwarze Figur bzw. Christus als Bräutigam begleiten. Das fünfte Bild zeigt eine Landschaft mit Tannenbäumen, deren Wald nach Kandinskys ethnographischer Erfahrung als Wohnort der heidnischen Götter verstanden werden kann. Der träumende Knabe

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288 289

Boissel 1986, S. 249. ÜT, S. 109. Zum Einfluss der literarischen Werke Goethes auf die Bühnenkompositionen siehe Kap. 4.1.2. Kandinsky ließ hin und wieder an Goethes literarische Werke erinnernde Motive als Hommage auftreten. Als Beispiel siehe im Kap. 4.5.5. die Deutungen des Knaben und des Mädchens. Siehe Kap. 4.2.4. Der schwarze Körper steht für die nicht-materielle Körperlichkeit. LCI, Bd. 1, S. 319.

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und das Mädchen mit dem Erdbeerkorb gehören ursprünglich einem heidnischen Volk an, werden jedoch von der schwarzen Figur als zukünftige Erben für den geistigen Kampf auserwählt. Dies ist das Ende der von Kandinsky sogenannten »zweiten Offenbarung« bzw. »Offenbarung des Sohnes« und die Überleitung zur »dritten Offenbarung« bzw. »Offenbarung des heiligen Geistes«.290 Kandinskys Auffassung nach wird in der Gegenwart der Kampf zwischen Geistigem und Materiellem ausgetragen, wobei die Künstler für das Geistige kämpfen sollen. Kandinsky selber identifiziert sich als Kunstmissionar und Reiter. Der Knabe, der davon träumt, ein Schloss zu bauen, ist daher der potenzielle Reiter und gleicht Kandinskys Selbstbildnis, dessen Zukunft im anschließenden Werk Nachspiel als ein blauer Mann, der ein Kreuz auf dem Rücken schleppt, gezeigt wird. Dies ist zugleich die Geschichte der Entstehung des Reiters der geistigen Ära und Kandinskys eigene Heilsgeschichte sowie sein kunstmissionarisches Bekenntnis. 4.5.1. Bild I: Mondsichel und acht Menschen in Kostümen Auf der Bühne sind acht Menschen in verschiedenfarbigen »Trachten« zu sehen. Jeder von ihnen spricht Verse bei unterschiedlichen Klängen. Die orangefarbige Mondsichel wandert langsam nach unten rechts. Untergehende Mondsichel Kandinsky macht Angaben zur Form der untergehenden Mondsichel. Die Sichelschneide richtet sich nach rechts, d.h. sie nimmt in den weiteren Tagen weiter ab, und bald kommt die Neumondzeit. Der Mond ist in der christlichen Ikonographie ein »Sinnbild der Unbeständigkeit alles Irdischen«.291 Wegen der von der Sonne übernommenen Strahlkraft292 bekommt der Mond in der Mythologie, in der der Hauptgott männlich dargestellt wird, einen Bezug auf eine weibliche Figur, wie z.B. Isis oder Diana. Im Alten und Neuen Testament erscheint das Apokalyptische Weib »mit der Sonne bekleidet« und hat den »Mond unter ihren Füßen«,293 so könnte der Mond ein Sinnbild für das Apokalyptische Weib sein. Daraus entsteht auch der ikonographische Topos von Maria auf der Mondsichel. Da in der letzten Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß eine Maria ähnelnde weiß verhüllte Figur stirbt, könnte sich die untergehende Mondsichel darauf beziehen, zugleich aber auch einen baldigen Beginn der neuen Zeit bedeuten. Es wird nämlich der Mond nach Jesaja und der Apokalypse des Johannes im himmlischen Jerusalem nicht mehr leuchten, weil Gott selbst das Licht der himmlischen Stadt sein wird.294 Dieser Bezug zur Sonne kann von Kandinskys kleinem Theaterstück Nachspiel, das zur gleichen Zeit geschrieben wurde und dessen Zugehörigkeit zu den Bühnenkompositionen bisher 290 291 292 293 294

Siehe Kap. 4.1.1. LCI Bd. 3, S. 280. Jes 30, 26. Offb 12, 1. Is 60, 20. »Die Sonne wird nicht mehr untergehen [...] denn der Herr wird dein ewiges Licht sein.« Offb 21, 35. »Und die Stadt bedarf keiner Sonne mehr [...] denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie.« Siehe LCI Bd. 3, S. 279.

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nicht bewiesen wurde, bestätigt werden, denn es heißt darin: »Jetzt kann die Sonne aufgehen.« Die Bedeutung dieser Zeile ist innerhalb des Stücks nicht festzustellen, was darauf hindeutet, dass das Nachspiel ursprünglich als Epilog für Schwarze Figur bzw. die Tetralogie der Bühnenkompositionen gedacht war. Acht Menschen in verschiedenen »Trachten« Die Menschen in »Trachten« besitzen das gegenständlichste Aussehen in Kandinskys imaginärer Welt, trotzdem ist kein einziger Charakter von ihnen individueller als die anderen. Ihre Zugehörigkeit, die durch eine »Tracht« offensichtlich gemacht werden könnte, wird von Kandinsky nicht benannt. Die verschiedenfarbigen Kostüme der acht Menschen beziehen sich weder auf ein bestimmtes Volk noch einen bestimmten Ort. So ist die »Tracht« bei Kandinsky nicht im Sinne einer Volkstracht, sondern nur als ein unbestimmtes folkloristisches Kostüm zu verstehen.295 Eine »Tracht« verweist auf die ethnographisch-romantische Neigung des Künstlers und dient der Bildung einer Welt, in der die Volkssagen und der Glaube voneinander untrennbar wahrgenommen werden.296 Die Menschen in »Trachten« treten in Schwarze Figur stets kollektiv auf und verraten weder Eigennamen noch individuelle Eigenschaften. Ihre Worte wurden anhand von Nummern zugeordnet. Da ihre Äußerungen untereinander keinen inhaltlichen Zusammenhang haben, scheint es, als ob die Menschen über unterschiedliche oder gar gegensätzliche Objekte sprechen. Die Äußerung »kein Klang« wird auch im dritten Bild wiederholt. Dieselben Menschen erscheinen im dritten Bild nochmals, in dem sie an einem Ufer nach der schwarzen Figur im schwarzen Kahn sehen. Die »verschiedenen Farben« der Kostüme könnten eine vereinfachte Darstellung der unterschiedlichen Herkunft und Eigenschaften der einzelnen Figuren sein. Eine Versammlung von Menschen unterschiedlichster Herkunft, die mit der Endzeitstimmung der Mondsichel zu tun haben könnte, erinnert an Pfingsten oder den Gruß an die regionalen Gemeinden in der Offenbarung des Johannes,297 jedoch sind beim ersten Fall mehr Völker erwähnt als acht, und beim letzteren sieben Gemeinden, so dass die beiden nicht wirklich assoziierbar sind. Vermutlich spielt die Zahl acht eine wichtige Rolle für die Handlung. In diesem Zusammenhang sind aus der christlichen Ikonographie die acht Seligpreisungen in der Bergpredigt Christi zu erwähnen.298 Die acht entsprechenden Eigenschaften sind die Voraussetzung für die Menschen, die in das Himmelreich eintreten können.299 Sie werden in der christlichen

295 296 297 298 299

In der späteren Violett – Eine Bühnenkomposition werden die Trachten zu den Nationalitäten, Völkern sowie Zeiten zugeordnet, wie z.B. »Läppin«, »Japanarin« sowie »barocke«. Siehe Kap. 2.2.1. Offb 1, 4ff. Johannes an die sieben Gemeinden in der Provinz Asien. Mt 5, 3–10 und Lk 6, 20–23. Matthäus Evangelium enthält 8 Seligpreisungen, dagegen stellt Lukas 4 Seligpreisungen und 4 Weherufe entgegen. Mt 5, 2–11. »Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach:/Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelsreich. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden./Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen./Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden./Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen./Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen./Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden

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Ikonographie mit acht Tugenden in Verbindung gebracht und als weibliche Figuration personifiziert.300 Jedoch weist die Gegenständlichkeit der acht Menschen darauf hin, dass sie keine Figuration der acht Tugenden, sondern willkürlich gewählte Menschen darstellen. Das Lukas-Evangelium berichtet in der der Bergpredigt im Matthäus-Evangelium entsprechenden Rede von vier Seligpreisungen und vier Weherufen,301 so könnten die acht Menschen auch gegensätzliche Charaktere besitzen. Die acht Menschen sitzen in einem Kreis und unterhalten sich. Es gibt keine weiteren Hinweise auf den konkreten Ort mit Ausnahme von zwei Felsen, die in Riesen das irdische Jerusalem darstellten.302 Im dritten Bild gibt es einen zusätzlichen Hinweis darauf, dass die Figuren nach dem Tod auf das Gerichtsurteil warten. Denn dort befinden sich dieselben Menschen an einem Ufer. Auf dem Wasser befindet sich ein schwarzer Kahn, auf dem die schwarze Figur die Richtung zeigt. Da die schwarze Figur Christi die Auserwählten ins Himmelsreich bringt, liegt das Wasser vermutlich vor dem himmlischen Paradies. Um dorthin zu gelangen, muss nach der griechischen Mythologie die Quelle des Vergessens, Lethe, überquert werden. Die Situation, in der sich die acht Menschen befinden, ist daher noch vor der Schifffahrt in den Himmel anzusetzen. Die tanzenden Menschen in Bild 4, das mit dem Regenbogen und der goldenen Kuppel das Himmelsreich andeutet, tragen nur rosafarbige Kleidung. Daher ist anzunehmen, dass die verstorbenen Menschen nach der Schifffahrt keine »Tracht« mehr tragen, denn sie vergessen durch Lethe ihre Herkunft und Vergangenheit. Deutung des Gedichts Die acht Menschen sprechen folgende Worte. Figur 5 – »Volle... Volle...« (mittlere Stimme) Figur 7 – »Tiefe« (tiefe Stimme) Pause Figur 8 »Kein Klang« – (klanglose mittlere Stimme) Pause Figur 4 – »Spitzscharfes Streben« (hohe weibliche Stimme) Figur 6 »Gespanntes Beben« (weiblicher Alt) Figur 1 »Gesundes Leben« (Tenor) Figur 2 »und tiefe Glut« (Basso) Die Mondsichel orange unten rechts ins rote geht langsam in schräger Richtung nach rechts unter Figur 8 »Kein Klang, kein Laut« Figur 3 – Verstecktes Wort Alle (gedehnt nicht laut) »Wer hat’s gebaut?..«

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Gottes Kinder heißen./Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelsreich./[...]Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden. Denn ebenso haben sie verfolgt die Propheten, die vor euch gewesen sind.« Siehe LCI, Bd. 4, S. 148 sowie S. 364. Lk 6, 20–23. Siehe Kap. 4.2.3. unter »Zwei rotbraune Felsen.«

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Die gegensätzlichen Worte bilden keine vollständigen Sätze und erzeugen Spannungen zwischen den Bedeutungen, als ob sie mit dadaistischer Wortverwendung völlig kontextlos gewählt worden wären. Die Struktur der Worte kann durch die zeitlichen Unterbrechungen der Pause sowie des Regietextes in vier Abschnitte unterteilt werden. Im ersten Abschnitt sprechen die Figur 5 und 7. Mit ihren Worten beschreiben sie möglicherweise ihren Eindruck von diesem Ort. Es gibt nichts außer »voller« »Tiefe«.303 In den Äußerungen der Figuren 4 und 6 klingt eventuell ein Gefühl der Befremdung an. Die nächsten Worte der Figur 8 »kein Klang« werden mit Pausen eingeklammert und sowohl im zweiten als auch im vierten Abschnitt wiederholt. Da dieselben Worte auch in der dritten Szene zu hören sind,304 dominieren sie die gesamte Situation. Ein Ort, an dem »kein Klang« zu hören ist, lässt sich nach Kandinskys Farbsymbolik dem Zustand von Weiß und Schwarz zuordnen. Demnach stehen Weiß und Schwarz für das »Schweigen des Anfangs« und das »Schweigen des Endes« sowie für Geburt und Tod.305 Diese Beschreibung entspricht dem Zustand Gottes, der als die Allmacht von »A und O« verstanden wird.306 Kandinsky benutzte in der Bühnenkomposition I Riesen die Farbe Grau für den ursprünglichen Zustand des Menschen, der nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde.307 Dieselbe Farbe symbolisiert in der dritten Bühnenkomposition die Vereinigung von Leben und Tod, d.h. den Todeszustand des Lebewesens.308 Daher ist zu vermuten, dass die Szene mit »keinem Klang« eine jenseitige Situation darstellt, die die Menschen nach dem Tod erleben. Da sie in der dritten Szene am Ufer der Abreise stehen, könnte der Ort eine Zwischenstation behandeln, bei der sie auf das Urteil warten, um in den Himmel oder in die Hölle geschickt zu werden.309 Im dritten Abschnitt nach der zweiten Pause sprechen die Figuren 4, 6, 1 und 2 nacheinander in Versen mit Reimen. Anders als bei den Äußerungen zuvor, werden die Stimmen dieser vier Figuren geschlechtlich bestimmt. Dies könnte andeuten, dass sich die Inhalte auf die Persönlichkeiten beziehen und als Rückblicke der einzelnen Sprecher gelten, d.h. sie geben eine Zusammenfassung ihres Lebens. Dies lässt sich durch die Worte der Figur 1, »Gesundes Leben« am deutlichsten erkennen. Bevor sie Lethe, den Fluss des Vergessens, überqueren, werfen die Menschen einen Blick auf ihr Leben. Die Mondsichel geht langsam unter. Die Endzeit vertieft sich und das Urteil des Jüngsten Gerichts steht bevor. Im vierten Abschnitt wiederholt die Figur 8 nochmals die Worte über die Klanglosigkeit. Die Worte der Figur 3 lassen sich nicht vernehmen und entschlüsseln. Die letzten Worte werden von allen gesprochen und deuten an, dass diese Menschen ihre Situation immer noch nicht begreifen können. Vielleicht bleiben sie weiter verlassen in dieser Klanglosigkeit und können nicht vom wegweisenden Christus ins klangvolle Himmelsreich gebracht werden.

303 304 305 306 307 308 309

Eine Art Vor-Nirwana ist vorstellbar. Siehe Kap. 4.5.3. ÜGK, S. 98. Offb 1, 8; 21, 6. sowie 22, 13. Siehe Kap. 4.2.3. Siehe Kap. 4.2.3. sowie Kap. 4.4.3. Siehe Kap. 4.5.3.

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4.5.2. 2tes Bild: Liebespaar im verlorenen Paradies Die zweite, vierte und fünfte Szene haben eine gemeinsame Grundstruktur; jedes Mal erscheinen die Liebespaare in der Landschaft mit den Bäumen und begegnen der schwarzen Figur. Es handelt sich um die Variation des Liebespaars, dem schließlich erlaubt wird, im himmlischen Reich zu wohnen. Auf dem weißen Boden mit dem roten Hintergrund stehen zwei große schwarze Bäume an jeder Seite der Bühne. Von rechts kommen ein Mann und eine Frau, einander die Hände haltend. Sie haben weiße Kleidung, lange schwarze Haare und rosafarbene Gesichter und sprechen in Versform. Dann kommen blaue Menschen mit einer weißen Sänfte und lassen das weißgekleidete Paar einsteigen. Sobald sich die Prozession mit der Sänfte in Bewegung setzt, kommt die schwarze Figur von hinten und legt die Hand auf die Sänfte. Der Himmel wird purpurrot, und die Bäume neigen ihre Kronen herab. Die Prozession geht ab. Obwohl der Vorgang abstrakt dargestellt wird und kein endgültiger Beleg durch den Künstler vorhanden ist, lässt sich entschlüsseln, dass in dieser Szene die Erlösung des ersten Menschenpaars, Adam und Eva, stattfindet. Das Paar wird nach langer Zeit der Wanderung ins Himmelreich eingeladen. Die weiße Sänfte, in die das Paar steigt, wird von den blauen Menschen, den Gläubigen, getragen. Die schwarze Figur, Christus, erscheint und segnet das Paar. Die Thematik bezieht sich auf das Bildthema Höllenfahrt Christi, bei dem Christus mit dem Kreuz die Hölle öffnet und das erste Menschenpaar rettet. Jedoch betont Kandinsky hier nicht die Höllenfahrt Christi, sondern die Aufnahme des Ehepaars ins Himmelreich, denn Adam und Eva gelten als ein Urbild für alle Paare. Der allegorische Typ des Paars wird schließlich durch das christliche Idealbild der Ehe, das Hochzeitspaar Christus und Ecclesia, Sinnbild der Kirche, ersetzt. Zwei schwarze Bäume Die zwei Bäume symbolisieren in der christlichen Ikonographie den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis. Allegorisch wird ihre Bedeutung auf Leben und Tod, Erlösung und Sünde, Christus und Adam, Tugendbaum (arbor bona) und Lasterbaum (arbor mala)310 sowie Ecclesia und Synagoge erweitert.311 So können sie urzeitliche Bäume im Garten Eden oder Sinnbilder für die gegensätzlichen Urteile beim Jüngsten Gericht darstellen. In dieser Szene sind die zwei Bäume nicht voneinander zu unterscheiden, so dass ihre Gegensätzlichkeit nicht wichtig zu sein scheint. Die schwarzen Bäume neigen ihre Krone beim Auftritt der schwarzen Figur. Dies bedeutet, dass ihre Eigenschaft mit der der schwarzen Figur verwandt ist. Die Farbe Schwarz steht nach der vorliegenden Interpretation von Riesen für einen Körperzustand, der in höchstem Maße geistig ist und als Materie nur eine geringe Bedeutung (wie etwa ein Schatten) besitzt.312 Daher ist zu vermuten, dass die schwarzen Bäume nicht als Materie, sondern nur als Schatten oder als Geist existieren. Angesichts des gehenden Paars, dessen lange Haare die langen Jahre 310 311 312

Mt 7, 15–20. LCI Bd. 1, S. 264f. Siehe Kap. 4.2.4.

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der Wanderung symbolisieren, könnten die schwarzen Bäume den Baum des Lebens sowie den Baum der Erkenntnis im Garten Eden darstellen,313 die wegen des Sündenfalls in Beschlag genommen wurden. Sie existieren zwar noch, aber der Weg zu ihnen wird vom Cherubim mit dem Schwert bewacht,314 so dass sie von Menschen nicht mehr zu erreichen sind. Dies ist ein andeutender Übergang zur vierten Szene, in der zwei gegensätzlich farbige, blühende Bäume zu sehen sind, d.h. die Szene 2 behandelt das verlorene irdische Paradies durch die materiell-unsichtbaren Bäume. Die vierte Szene zeigt dagegen den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis in den eigentlichen natürlichen Farben, die man durch die Erlösung im Himmelreich wieder sehen soll. Weißgekleidetes Paar mit langen schwarzen Haaren Zwei weißgekleidete Figuren, Mann und Frau, gehen von rechts nach links auf der Bühne »dicht neben einander mit hängenden Armen.« Die Haltung erinnert an die Szene der Vertreibung Adams und Evas (Abb. 39). Dabei sind die schwarzen Bäume, zu denen die Menschen keinen Weg mehr finden können, Attribute des verlorenen Paradieses. Die einfache weiße Kleidung und die rosafarbenen Gesichter sind abstrakter als bei den acht Menschen in Trachten in der ersten Szene und weisen darauf hin, dass die beiden geistigen Charakter besitzen. Die Gesichtsfarbe könnte sich auf die Kleidungsfarbe der Liebespaare der vierten Szene beziehen. Diese befinden sich im Himmelreich und tanzen einen Reigen. Die Farbe Rosa steht für die Rosen des Himmelsgartens, die von Maria beschützt werden und daher als Gleichnis der Bewohner des Himmelreichs gelten. Die weiße Kleidung wird in der ersten Bühnenkomposition Riesen im dritten Bild von einem Mann getragen, der den vor der Bundeslade nackt tanzenden David darstellt. Darauf Bezug nehmend, könnte die weiße Kleidung eventuell eine Andeutung der Nacktheit sein. Die schwarzen Haare bilden einen Gegensatz zur weißen Kleidung. Die Gegenüberstellung von Schwarz und Weiß wurde bereits in der ersten und dritten Bühnenkomposition thematisiert. Demnach war das Grau als Vor- und Nachzustand der beiden getrennten Farben Schwarz und Weiß dargestellt.315 Gott ist Allmacht von Anfang und Ende sowie Leben und Tod, so dass er nach Kandinskys Farbsymbolik die beiden Farben in sich bergen könnte. Dem ersten Menschenpaar Adam und Eva wurde erst Grau als Abbild Gottes verliehen, dann wussten sie durch Sündenfall Gut und Böse zu unterscheiden und mussten sterblich sein.316 Daher tragen sie Schwarz und Weiß als Zeichen ihrer Grundeigenschaften. In der christlichen Ikonographie werden David und Batsheba sowie Salomon und die Königin von Saba allegorisch mit dem himmlischen Brautpaar Christus und Maria bzw. Ecclesia verglichen.317 Es besteht daher die Möglichkeit, das weißgekleidete Paar als David und Batsheba oder Salomon und Königin von Saba als Topos

313

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In der christlichen Ikonographie kann der Baum des Lebens sowie der Baum der Erkenntnis auch in der Mehrzahl dargestellt werden. Daher ist hier nicht eindeutig, ob die beiden Bäume jeweils verschiedene Bäume oder gleiche in der Mehrzahl darstellen. 1. Mose 4, 24. Siehe Kap. 4.2.3. sowie Kap. 4.4.3. 1. Mose 4, 22. LCI, Bd. 1, S. 319.

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des Brautpaars zu identifizieren. Ihre Auftritte könnten damit begründet werden, dass sie im Alten Testament eine als Paar vorbildliche Funktion besitzen und ihre Anwesenheit bei der himmlischen Hochzeit die Vereinigung des irdischen Jerusalems und des himmlischen Jerusalems betonen könnte.318 Jedoch fehlt es hier an Attributen und Indizien, die einen Auftritt von David oder Salomon in der apokalyptischen Handlung bestätigen könnten. Im Vergleich dazu ist das Motiv des vertriebenen Adam und der vertriebenen Eva mit zwei schwarzen Bäumen plausibel. Die schwarze Figur erscheint und breitet die Hand über die weiße Sänfte. Dies bedeutet, dass das Paar Adam und Eva, von der Ursünde befreit, ins Himmelreich eingelassen wird. Dies erinnert an das Thema in der Ikone Höllenfahrt Christi (Abb. 14), jedoch ist in dieser Szene keine wirkliche Hölle zu sehen, sondern schwarze Bäume und roter Hintergrund. Ob sich der rote Hintergrund auf die Darstellung der Hölle bezieht, ist nicht eindeutig, weil das Rot nach Kandinskys Farbtheorie »sehr reich und verschieden in der materiellen Form«319 ist, so dass dessen Deutung nicht endgültig bestimmt werden kann. So könnte die Szene sowohl das verlorene Paradies als auch die Hölle darstellen. Die Einladung ins Himmelreich könnte als das Ende der Wanderung verstanden werden. Gedicht des Paars Das weißgekleidete Paar spricht folgende Zeilen. Sie »Das ewige Schmelzen320 in Herzen und Brust Die ewige Freude und klingende Lust« Er »Und ewige Hoffnung im Himmel, auf Erden Und ewiges Streben zum Sein und zum Werden.«

Auffallend ist das wiederholte Wort »ewig« in jedem Vers. Die Anaphorik dient der besonderen Hervorhebung der abstrakten Begriffe. Die betonten Wörter deuten mit Ausnahme des zweiten Verses eine Vereinigung bzw. Verbindung an und symbolisieren damit den endzeitlichen Zustand der Apokalypse, in der die Gegensätze des Himmels und der Erde überwunden werden. In Vers 1 wird die Verschmelzung des Herzens und der Brust, d.h. des Inhalts und der Hülle sowie des Geistes und des Leibes, thematisiert. In Vers 2 werden zwei Freuden gegenübergestellt; die erste Freude könnte sich auf den Ausdruck »zur ewigen Freude eingehen« beziehen und damit die Freude des Himmelreichs andeuten, dagegen kann die »klingende Lust« auf die Sinnenlust des Diesseits hinweisen.321 Dabei ist das »Herz« als Empfindungsorgan für die himmlische Freude und die »Brust« für die Sinneslust, so beziehen sich Vers 1 und 2 aufeinander. Im dritten Vers werden der

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David und Salomon begingen Fehlverhalten wie Adam, so dass sie Gottes Zorn hervorriefen. David schickte Batshebas Mann zum Tod, um sie zu heiraten, und Salomon ließ für seine Frauen heidnische Religionen zu. ÜGK, S. 99. Im herausgegebenen Text wurde an dieser Stelle im Klammer ein Fragezeichen durch Herausgeberin hinzugefügt, weil ein Schreibfehler vom »Schmerzen« denkbar ist. Siehe ÜT, S. 110. Eine Assoziation zu Hieronymus Boschs Gemälde Garten der Lüste ist möglich.

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Himmel und die Erde durch die Hoffnung verbunden, wie nach der Sintflut ein Regenbogen das Zeichen des Friedens zwischen Gott und Menschen sowie Himmel und Erde zeigte.322 Die in den ersten drei Versen dargestellten Gegensätze werden im vierten Vers parallel weitergeleitet. Das »Sein« und das »Werden« sind als ein Kontrast zu verstehen, nämlich das Wesentliche im Himmel und dessen Entwicklungsform auf Erden, und dies könnte nach Kandinskys dualistischer Sichtweise mit den Gegensätzen zwischen dem Geistigen und der Materie verglichen werden. Das »ewige Streben« zu den beiden Begriffen erinnert an die ewige Verwandlung des »Stirb und Werde« der Natur. Denn Goethes Wort »Stirb und werde!« 323 drückt aus, dass der Tod eines Schmetterlings, der selbst ins Feuer flattert, ein notwendiger Prozess zur Metamorphose bzw. zur Erlösung ist.324 Die Bühnenkomposition IV thematisiert auch den Tod und die Erlösung durch die schwarze Figur, die sich gemäß der vorgelegten Interpretation als Christus verstehen lässt. Sein materieller Körper wird als ein Schatten dargestellt und symbolisiert die Vergänglichkeit der Materie. Christus lädt die Menschen ins Himmelreich ein, was zugleich für das Leben im Diesseits den Tod bedeutet. Der Vers drückt daher den Sinn der Erlösung aus, der das ewige Streben der Menschen zwischen dem »Sein« und dem »Werden« bedeutet. Das Gedicht wird durch das Liebespaar gesprochen, so könnte der Text auch die Vermählung des Liebespaars bzw. die bevorstehende himmlische Hochzeit am Jüngsten Tage andeuten. Bei der Apokalypse werden die angesprochenen Gegensätze überwunden. Dieses Gedicht könnte daher als ein Lied zur Ankündigung der himmlischen Hochzeit verstanden werden, die im Himmelreich stattfindet.325 Weiße Sänfte und die Prozession hellblauer Menschen Nachdem das Paar die Verse gesprochen hat, tritt die Prozession hellblauer Menschen auf, die eine weiße Sänfte tragen. Das Paar steigt in die Sänfte ein und die Prozession geht ab. Woher die Sänfte kam und wohin sie geht, wird nicht gezeigt. Die Sänfte deutet den hohen Rang des Paars an, und die Prozession weist auf eine festliche Gelegenheit hin. Da die Einsteigenden einen Stereotyp des Liebespaars darstellen, ist eine Hochzeit denkbar. Die Sänfte könnte eine Variation des Salomonischen Throns darstellen,326 auf dem die Hochzeit von Christus und Ecclesia stattfindet. Jedoch wurde der Sitz hier nicht als Thron dargestellt, sondern als Fahrzeug. Deshalb ist zu vermuten, dass das Paar zunächst ins Himmelreich gebracht wird, wo die Hochzeit gefeiert wird. Ob die beiden selbst Brautpaar sind, ist jedoch nicht klar. Eine mögliche

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1. Mose 9, 13. Goethe, Westöstlicher Divan: Selige Sehnsucht. Z. 17–20. »Und so lang du das nicht hast,/ Dieses: Stirb und werde!/Bist du nur ein trüber Gast/Auf der dunklen Erde.« Bei Goethe drücken das »stirb« und das »werde« einen einheitlichen Prozess aus. Hingegen ist Kandinskys Wort »Werden« im Hinblick auf die ersten drei Verse als irdische Metamorphose des himmlischen Wesentlichen zu verstehen. Siehe Kap. 4.5.4. Die blauen Figuren treten die schwarze Figur Christus begleitend auf. Sie können sich auf die Parabel der klugen und törichten Jungfrauen in Mt 25, 1–13 beziehen. Siehe LCI, Bd. 1, S. 320.

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Erklärung zur weißen Sänfte könnte das Gleichnis der »königlichen Hochzeit«327 bieten. Demnach lud der König, der dem Herrscher im Himmelreich gleicht, die Gäste zur Hochzeit des Sohnes ein. Seine Knechte wurden gesandt und das Festmahl war bereitet, doch verachteten die Gäste die Einladung und gingen nicht zur Hochzeit oder kamen nicht in festlichem Gewand. Auch wenn »viele […] berufen« sind, sind nur »wenige […] auserwählt«.328 So könnten die beiden Gäste der königlichen Hochzeit darstellen und die blauen Menschen die Knechte des Himmelreichs. Die weiße Sänfte könnte die Einladung des Königs symbolisieren. Anders als die Gäste in der Parabel nimmt das Paar die Einladung an, und so wird es von der schwarzen Figur mit der Handauflegung gesegnet, was zugleich die Auserwählung bedeuten könnte. Die blauen Menschen, die an der Prozession teilnehmen und die Sänfte tragen, sind abstrakter als die Menschen mit gegenständlicher Kleidung wie »Tracht«, insofern könnten sie eine geistige Eigenschaft besitzen. Ähnlich kollektive blaue Frauen erscheinen in der vierten Szene mit der schwarzen Figur. Sowohl die blauen Menschen der Szene 2 als auch die blauen Frauen der Szene 4 dienen anscheinend der schwarzen Figur. In der dazwischen liegenden Szene 3 findet die Schifffahrt der schwarzen Figur statt, so könnte behauptet werden, dass die blauen Menschen sowie die blauen Frauen die Auserwählten sind, die, die schwarze Figur Christus begleitend, ins Himmelreich mitreisen. In der christlichen Ikonographie werden die Auserwählten mit der Braut Christi verglichen und stehen bei der himmlischen Hochzeit von Christus und Ecclesia als Brautzeugen bzw. Hochzeitsgäste neben dem Brautpaar.329 So könnte die blaue Kleidung als das Kleid der Gläubigen, der Brautjungfern, verstanden werden. Laut Kandinsky ist Blau die geistige Farbe. Seine Beschreibung von Blau weist auf eine Verwandtschaft mit Weiß und Schwarz hin. Demnach wirkt die Farbe je nach der Dichte weißer oder schwärzer und beinhaltet das »Schweigen vor der Geburt« und »vor dem Tod«. Dies ruft die allegorische Verwandtschaft von Blau und Grau hervor, denn im Grau werden die Gegensätze von Weiß und Schwarz vereint, und stellt somit in der Bühnenkompositionen den Urzustand des Menschen vor der Ursünde sowie seinen Endzustand nach dem Tod dar.330 Das Grau steht für die Bewohner im irdischen Paradies, jedoch ist der Garten Eden bereits verloren. Es ist daher anzunehmen, dass Blau als Farbe der Menschen, die mit ihrem Glauben ins Himmelreich fahren, im allegorischen Bezug zu Grau bestimmt wurde. Dies ist vermutlich die Farbe des Brautjungfernkleids, das nur die Gläubigen tragen dürfen. Die hohe schwarze Gestalt (die schwarze Figur) Sobald die schwarze Gestalt erscheint und ihre Hand zur Sänfte hin ausstreckt, wird der Himmel purpurrot und die Bäume neigen ihre Kronen zum Boden. Die Prozession geht langsam ab. Die schwarze Gestalt wird beschrieben als »sehr hohe schwarze Gestalt mit

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Mt 22, 1–14 sowie Lk 14, 16–24. Mt 22, 14. LCI, Bd. 1, S. 323. Siehe Kap. 4.2.3. sowie 4.4.3.

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einem großen grünlichblaßen Kopf auf langem schmalen Hals«, sie unterscheidet sich im Aussehen von den Menschen. Ihre Gestik wird sogar von Naturphänomenen begleitet, daher besitzt sie vermutlich übermenschliche Kraft. Sie erscheint von der zweiten bis zur fünften Szene dieses Werks und übernimmt offensichtlich die Hauptrolle. In den vorhergehenden Analysen kam heraus, dass die schwarzen Körperbilder als Körper Christi identifiziert werden können, weil in der Ikone der materielle Körper von Christus die geringste Bedeutung besitzt, wie sein Schatten, und Kandinsky die Idee der Ikone in die Körperlichkeit der Bühnenkomposition übernommen haben kann. So erscheint der wahre geistige Körper Christi nach dem materiellen Tod als grellgelber Riese.331 Die schwarze Gestalt könnte daher Christus darstellen. Die Deutung der schwarzen Gestalt als Christus mag Widerspruch hervorrufen, denn Kandinsky bezeichnete 1912 im Almanach Der blaue Reiter die schwarze Hand als die Hand »des Hassenden« sowie des Bösen, die »die Menschen verblendet«.332 Diese negative Bezeichnung könnte sogar direkt mit der Handbewegung der schwarzen Gestalt in dieser Szene assoziiert werden. Die Gestik ähnelt zwar einem Segnen, aber je nach der Farbdeutung kann sie bösartig wirken, so passt das Bild eines schwarzen Christus nicht zum Guten. Jedoch soll hier nochmals daran erinnert werden, dass zwischen den frühen Bühnenkompositionen I Riesen und dem daraus entstandenen Werk Der gelbe Klang – Eine Bühnenkomposition von 1912 offensichtlich ein Strategiewechsel bei der Verwendung von Schwarz zu erkennen ist. Kandinsky wählte in Riesen für den knienden Jungen an der Kapelle, der nach der vorliegenden Analyse als das Jesuskind zu identifizieren ist, Schwarz als Farbe des Körperbildes.333 Dabei steht auch ein schwarzer Mann als Simeon, der prophezeit, der die Glocken läutende Junge sei der zukünftige Messias.334 Dass Kandinsky später in Der gelbe Klang für dasselbe Kind weiße Kleidung wählt, zeigt, dass das Darstellungsprinzip von Schwarz korrigiert wurde. Angesichts dieser Änderung ist auf jeden Fall zu vermuten, dass die Farbe Schwarz beim Entwurf der frühen Bühnenwerke mehr Aussagekraft als Weiß besaß und dies für einen bestimmten Ausdruck verwendet wurde. Weshalb die Bedeutung von Schwarz sich zwischen 1908/09 und 1912 in ihr Gegenteil verkehrte, muss überlegt werden. Ein mögliches Argument ist die Regulierung der Farbsymbolik. Kandinsky schrieb 1911 in Über das Geistige in der Kunst, Schwarz sei »wie eine Leiche, was zu allen Ereignissen nicht fühlend steht und alles von sich gleiten läßt«. Kandinsky schrieb weiter, »Es ist wie das Schweigen des Körpers nach dem Tode, dem Abschluss des Lebens.«335 Zu dieser Farbdeutung von Schwarz passt das Jesuskind nicht, jedoch könnte sie den Körperzustand Christi nach der Auferstehung treffen. So ist denkbar, dass Kandinsky zwischen dem Körper des Jesuskindes und demjenigen Christi bei der

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Siehe Kap. 4.2.4. sowie 4.2.5. DBR, S. 136. »Eine schwarze Hand legt sich auf ihre Augen. Die schwarze Hand gehört dem Hassenden. Der Hassende versucht durch alle Mittel die Evolution, die Erhöhung zu bremsen. / Das ist das Negative, das Zerstörende. Das ist das Böse. Die schwarze todbringende Hand.« Siehe Kap. 4.2.4. Lk 2, 22–35. ÜGK, S. 98.

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Auferstehung eine Trennlinie zog, so dass Christus in der dritten und vierten Bühnenkomposition als schwarze Figur bleiben kann. In der zweiten Bühnenkomposition Stimmen bzw. Grüner Klang zeigt eine schwarz gekleidete Figur bewusst ihre hell-hautfarbenen Hände, was als ein Zeichen des Lebens zu verstehen ist und somit eine Mischform darstellen könnte. So könnte Kandinsky die Körperbilder Christi in den frühen Bühnenkompositionen je nach dessen Körperlichkeit variiert haben, wobei die Frage ungelöst bleibt, ob dieses Konzept seiner späteren Farbtheorie sowie Darstellungstechnik standhalten konnte. Schließlich wurde von den Stücken nur die Bühnenkomposition I Riesen überarbeitet und als das selbständige Werk Der gelbe Klang – Eine Bühnenkomposition veröffentlicht, worin das schwarz dargestellte Jesuskind nicht mehr vorhanden war. Aus den Bühnenkompositionen II, III und IV wurden einige Motive übernommen und in das ebenso selbständige Violett – Eine Bühnenkomposition integriert,336 wobei die schwarze Figur wiederum nicht zu sehen ist.337 Darüber hinaus könnte vermutet werden, dass die Überarbeitung der Tetralogie aufgegeben wurde, weil die Darstellung der Schlüsselfigur für den Künstler später nicht mehr plausibel erschien. Denn man sieht in keinem von Kandinskys Gemälden eine schwarze Figur. In der Hinterglasmalerei »Allerheiligen I« (Abb. 3) existiert zwar ein kleines Bildnis Christi, er wurde aber im Hintergrund dargestellt. Stattdessen dominiert die riesige gelbe Blume im Vordergrund der Fläche, die auch später in Der gelbe Klang auftritt und nach meiner Interpretation als das Gleichnis des Messias zu verstehen ist. Es ist möglich, dass Kandinsky nach den frühen Bühnenkompositionen darauf verzichtete, den Körper Christi darzustellen. Ob dies ein technischer Entschluss war oder ein inhaltlicher, ist nicht nachzuweisen. Vermutlich geschah der Wandel, weil Kandinsky den religiösen Kampf in der Epoche des Sohnes nicht mehr weiterführte und stattdessen den Kampf für das Geistige durch die Kunst begonnen hatte. Die Darstellung von Christus als die schwarze Gestalt könnte – abgesehen von der Darstellung der immateriellen Körpereigenschaft – auf Kandinskys damaliger Auffassung der Endzeit sowie dem Wechsel der Epochen beruhen; in der vierten Bühnenkomposition Schwarze Figur dominiert die Farbe Schwarz, weil sie die mutmaßlich »alte« Epoche beenden und einen Übergang zur neuen »Epoche des großen Geistigen«338 schaffen soll.339 In Kandinskys Farbsymbolik steht Schwarz für das Ende. Das Schwarz sei »musikalisch dargestellt wie eine vollständig abschließende Pause, nach welcher eine Fortsetzung kommt wie der Beginn einer anderen Welt, da das durch diese Pause Abgeschlossene für alle Zeiten beendigt, ausgebildet ist: der Kreis ist geschlossen.«340 So ist zu vermuten, dass die schwarze Fi-

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Zu den übernommenen Motiven in Violett siehe Kap. 4.7. Unter der Darstellerliste ist zwar ein schwarzer Mann benannt, der aber im Text gar nicht erscheint. In dem von Kandinsky korrigierten Text von Violett ist seine Überlegung der Farbverwendung von Schwarz zu erkennen. Er versucht einen weißen oder schwarzen Lichtwerfer zu benutzen. Eine solche technische Frage zeigt zum Einen Kandinskys Interesse an der Verwirklichung auf der Bühne, zum anderen die symbolische Ersetzbarkeit der beiden Farben. So stellt die letzte Bühnenkomposition Violett (1914/1927) die Konsequenz der Körperlichkeit der schwarzen Figur erneut in Frage. ÜGK, S. 143. Siehe Kap. 4.1.1. ÜGK, S. 98.

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gur in den frühen Bühnenkompositionen den Charakter eines beendenden Erlösers besitzt. Die Bedeutung der schwarzen Figur kann auch durch Kandinskys psychologische Auseinandersetzung mit Schwarz gedeutet werden.341 Das Schwarz hinterließ bei ihm persönlich einen bedrohlichen, tragischen Eindruck, der die Erinnerung an den Abschied von der Mutter und an einen Fehler beim Malen hervorrief, jedoch schien er das »Tragische« in den Entstehungsjahren der frühen Bühnenkompositionen nicht vermieden zu haben. Und auch nach dem Beginn der abstrakten Malerei war das »Tragische« wie etwa die Sintflut für ihn ein beliebtes Thema.342 Noch eine Äußerung über den Tod kann in Bezug zu Schwarz genannt werden, um zu zeigen, wie zweideutig Schwarz sein könnte. In einem seiner Artikel im Almanach Der blaue Reiter (1912) gehörte die schwarze Hand dem »Hassenden« und symbolisiert »das Negative«, »das Zerstörende«, »das Böse« und sei »todbringend«,343 Jedoch beschreibt er danach die positive Folge des Todes: »Es ist besser, den Tod für das Leben zu halten, als das Leben für den Tod. Wenn auch nur ein einziges Mal. Und nur auf einer freigewordenen Stelle kann wieder etwas wachsen.«344 Ähnlich erklärt sich vermutlich auch der Sinn der Apokalypse für Kandinskys Ästhetik – der Tod als Voraussetzung zur Neugeburt. 4.5.3. 3tes Bild: Schifffahrt zum Himmelreich Auf der Bühne links sammeln sich die Menschen in Kostümen (die gleichen wie im ersten Bild) und singen. Hinten liegt die blaue Wasserfläche, auf der die schwarze Figur langsam auf einem schwarzen Kahn fährt. Die schwarze Figur steht gerade und streckt den Arm aus, wie im zweiten Bild. Der schwarze Kahn verschwindet langsam zwischen dem ersten und zweiten Felsen am linken Ende des Wassers, während die Menschen vorne sich nach ihr umdrehen und eine Weile die Fahrt zu verfolgen scheinen. Dann setzen sie sich wie im ersten Bild und sprechen folgende Worte: »Figur 5 – Volle... Volle... / Figur 7 – Tiefe... / Figur 8 – ›Kein Klang‹ / (Dunkelheit).« Die Situation, in der sich die Menschen befinden, lässt sich als Wartestelle auf das Urteil über das diesseitige Leben interpretieren.345 Im ersten Bild äußerten sie sich über das eigene Leben im Diesseits. Dabei brachten ihre Aussagen gegensätzliche Eindrücke, so dass zu vermuten ist, dass sie noch vor dem Urteil über ihr weiteres Schicksal stehen.346 Die Wasserfläche hinter den Menschen im dritten Bild deutet an, dass sie das Wasser überqueren müssen, um das Himmelreich zu erreichen. Das Wasser kann

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Siehe Kap. 4.4. In Mein Werdegang (1914) äußert Kandinsky sich über seine Darstellungstechnik des Tragischen, z.B. hätte er in der Malerei »Komposition 2« »das Tragische in der Komposition und Zeichnung durch gleichgültigere und gleichgültige Farben gemildert«. DBR, S. 136. DBR, S. 182. Siehe Kap. 4.5.1. Dies erinnert an die katholische Lehre des Purgatoriums, die jedoch bei den anderen christlichen Religionen umstritten war und für die hier keine weiteren Indizien vorhanden sind. Das orthodoxe Christentum konzedierte im 15. Jahrhundert die Lehre des Purgatoriums.

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daher als Fluss Lethe aus der griechischen Mythologie verstanden werden, dessen Wasser den Überquerenden die Erinnerung an das Diesseits nimmt. Zwei Felsen auf dem Wasser Die Fahrt zwischen den Felsen bezieht sich weiter auf die vierte Szene, in der die schwarze Figur auf der Wasserfläche erscheint, d.h. die schwarze Figur fährt den schwarzen Kahn bis zum Ort der vierten Szene. Da die vierte Szene Attribute des Himmelreichs wie den Baum des Lebens und der Erkenntnis besitzt, ist zu vermuten, dass die Fahrt des Kahns eine Reise ins Himmelreich darstellt. Nach der christlichen Ikonographie entspringt ein Strom im Garten Eden und »teilt sich in die vier Flüsse Phison, Geon, Tigris und Euphrat, die zusammen das Paradies bewässern«.347 Diese Flüsse stammen aus dem irdischen Paradies. Im eschatologischen Kontext hingegen gibt es einen Strom des lebendigen Wassers, der »klar wie Kristall« ist, und »von dem Thron Gottes und des Lammes«348 ausgeht. So könnte die Wasserfläche auf der Bühne entweder den Strom aus dem irdischen oder dem himmlischen Paradies symbolisieren, wobei hier der Letztere zutreffender scheint, weil in der zweiten Szene eine öde Landschaft mit dem vermeintlichen, ersten Menschenpaar gezeigt wird und in der vierten Szene vermutlich vom Himmelreich mit Wasser die Rede ist. Zwei Felsen bilden ein Tor zur Quelle. Ein Tor fungiert in der christlichen Ikonographie als die »Verbindung von zwei in sich begrenzenden Räumen (Außen- und Innenraum) oder Bezirken (Stadt und Land) oder Realitätssphären (Himmel und Hölle)«, und so wird die Bedeutung des Tors als »Zugang nur für besonders Erwählte hervorgehoben«.349 Außerdem erscheinen zwei Felsen auch in der ersten und dritten Bühnenkomposition. Sie werden in der orthodoxen Ikonographie als das Attribut des irdischen Jerusalems benutzt. Zwei Felsen deuten ikonographisch die Entsprechung des irdischen Jerusalems im Diesseits und des himmlischen Jerusalems im Jenseits an. Die schwarze Figur auf dem schwarzen Kahn Um bis zum Himmelreich zu gelangen, muss das Wasser überquert werden. Die schwarze Figur übernimmt dabei die Rolle des Steuermanns. Die Allegorie des Schiffs als Kirche mit dem Steuermann Christus ist in der christlichen Ikonographie bekannt,350 und der Zielhafen wird als das himmlische Jerusalem verstanden.351 Da in der nächsten Szene vor dem Meer die blauen Frauenfiguren auftreten und hinter ihnen die schwarze Figur auf einer Wolke auf dem Meer erscheint, könnten die Mitfahrer des Kahns als die auserwählten Gläubigen verstanden werden.

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LCI Bd. 3, S. 382. Offb 22, 1. LCI Bd. 4, S. 339. Quelle dazu Mk 4, 1, Mk 4, 35ff sowie Lk 5, 1ff. LCI Bd. 4, S. 61ff.

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Das Motiv des Kahns bzw. Schiffes findet sich oft in Kandinskys abstrakter Malerei. Sie könnten sich auf die Arche Noah352 oder das Beruhigen des Sturms durch Christus353 beziehen, jedoch taucht in der Bühnenkomposition der Kahn in einer anderen Situation auf, die in Zusammenhang mit der ikonographischen Bedeutung der beiden vorher genannten Motive stehen kann, nämlich eine Fahrt über das stürmische Meer ins Himmelreich. In dieser Szene deutet die schmale Form des Kahns an, dass das Tor zum Himmelreich eng ist und kein großes Schiff zugelassen wird. Die acht Menschen in Kostümen müssen am Ufer bleiben, weil sie nicht in den Kahn einsteigen konnten. Dies bedeutet, dass ihnen nicht erlaubt wird, ins Himmelreich einzureisen.354 Der schwarze Kahn, der einst Kandinskys persönliche Erinnerung an die Trennung von seiner Mutter begleitete, führt die Auserwählten ins Himmelreich. Hierin könnte die Zweideutigkeit der Fahrt gesehen werden, die einerseits den Tod bedeutet und andererseits das ewige Leben im Himmelreich verspricht. Vielleicht reflektierte diese widersprüchliche Farbgebung ein Zeichen der Selbstüberwindung des persönlichen Traumas Kandinskys. »Kein Klang« Die Menschen in Kostümen blicken der Fahrt nach und wiederholen die Worte, die sie auch in der ersten Szene gesprochen haben. Ihre Bedeutung bezieht sich auf die Situation, in der sich die Menschen befinden, d.h. am Jüngsten Tag gibt es keinen Klang mehr, weil es keinen Unterschied zwischen Leben und Tod gibt, welche farbsymbolisch durch Weiß und Schwarz (das Schweigen vor der Geburt und nach dem Tod) empfunden werden, so dass kein Farbklang mehr zu hören ist. Diese Menschen sind keine Auserwählten oder müssen nach dem christlich-mittelalterlichen Gedanken auf das Purgatorium warten, bis sie ins Himmelreich eingelassen werden können. So bleiben sie Beobachter der Fahrt. 4.5.4. 4tes Bild: Rosenkranz im Himmelreich und Einzug der klugen Frauen als Brautjungfern Die Beschreibung der Szene enthält viele Motive des Himmelreichs sowie des Kommens des Menschensohnes aus dem Neuen Testament. Jedoch werden sie nicht getreu der Bibel, sondern nach Kandinskys eigener Auffassung auf der Bühne dargestellt. Im Hintergrund hängt ein riesiger Regenbogen und darunter liegt ein smaragdgrünes Meer. Links am Meer steht eine Burg mit zwei goldenen Kuppeln auf blauem Felsen. Vor dem Meer links und rechts auf dem Boden stehen zwei Bäume, von denen einer große rosenfarbige Blumen auf rotem Stamm trägt, der andere weiße Blumen auf gelbem Stamm. Von rechts kommen viele rosa gekleidete Männer und Frauen, tanzen einen Reigen, fallen paarweise auf den Boden und singen freudig. Hinter ihnen vor dem Meer erscheinen nach und

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Siehe 1. Mose 7. Mt 12, 46ff, Mk 4, 35ff sowie Lk 8, 22ff. Wie auch in der zweiten Szene dargestellt, sind zwar viele »berufen, aber wenige sind auserwählt.« Mt 22, 14.

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nach die blau gekleideten Frauenfiguren, die sich mit erhobenem Finger leise in einer Reihe versammeln. Am Ende erscheint auf dem Meereswasser die schwarze Figur. Der Regenbogen verschwindet, der Himmel wird schwarz und die Wolke wird weiß. Als unter den rosa gekleideten Menschen vor Schrecken ein Schrei ausbricht, bewegen sich die blau gekleideten Figuren mit geneigter Körperhaltung nach vorne. Die Szene endet im Dunkeln. Diese Szene behandelt nach der vorliegenden Deutung das »Kommen des Menschensohnes«355 sowie den Empfang des Bräutigams durch die klugen Jungfrauen356 – eine Allegorie der Wachsamkeit der Gläubigen bezüglich des Jüngsten Tages und der »königlichen Hochzeit«,357 bei der die Auserwählten als Hochzeitsgäste eingeladen sind. Laut Jessica Boissel wurde diese Szene als das ursprüngliche Schlussbild entworfen. Denn der Wechsel des Bleistiftes in der anschließenden fünften Szene deute auf eine neue Schaffensphase hin.358 Die fünfte Szene, die durch einen Knaben und ein Mädchen wie eine Märchenszene gespielt wird, passt mit dem bisherigen abstrakten Stil nicht zusammen. Jedoch gewinnt das Stück durch die fünfte Szene eine besondere Bedeutung für Kandinsky, denn mit ihrem Hinzufügen wird das Hauptthema bis zum Erbe des heiligen Kampfs weitergeführt, so dass das ursprüngliche Thema der Brautmystik eine Neuentfaltung erlebt. Mit dieser Kenntnis ist die Komplexität der vierten Szene sowohl in der Szenerie als auch im Bewegungsablauf verständlich. Szenerie des Himmelreichs Das Wasser und die zwei Bäume gehören der Beschreibung des Himmelreichs nach der Apokalypse des Johannes an.359 Eine sichere Burg mit zwei goldenen Kuppeln steht laut Kandinsky auf »wie lapislazuli blauen Felsen«. Diese Bezeichnung bezieht sich auf die gleiche Passage der Apokalypse, die lautet: »Und er führte mich hin im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt Jerusalem herniederkommen aus dem Himmel von Gott,/ die hatte die Herrlichkeit Gottes; ihr Licht war gleich dem alleredelsten Stein, einem Jaspis, klar wie Kristall.«360 Und weiter: »Die Grundsteine der Mauer um die Stadt waren geschmückt mit allerlei Edelsteinen. Der erste Grundstein war ein Jaspis, der zweite ein Saphir, der dritte ein Chalzedon«,361 was die Präsenz der blauen Farbe betont. Die Burg auf blauem Felsen könnte daher als die »heilige Stadt Jerusalem« verstanden werden.

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Mt 24, 29ff, Mk 13, 24ff sowie Lk 21, 25ff. Kennzeichnend ist die Sonnenfinsternis,das wogende Meer, das Bangen der Völker und das Erscheinen des Menschensohns in den Wolken. Die hellen Posaunen der Engel sammeln die Auserwählten »von einem Ende des Himmels bis zum andern« Mt 24, 31. Mt 25, 1ff. Mt 22, 1ff. ÜT, S. 109. »mitten auf dem Platz und auf beiden Seiten des Stromes Bäume des Lebens, die tragen zwölf Mal Früchte, jeden Monat bringen sie ihre Frucht, und die Blätter der Bäume dienen zur Heilung der Völker.« Offb 22, 2. Offb 21, 10. Offb 21, 19f.

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In Bezug auf diese Szene wies Jessica Boissel auf Kandinskys Aquarell-Zeichnung »Landschaft mit Regenbogen und Figuren« (1907/08)362 sowie das daraus entstandene gleichnamige Ölgemälde (1908) (Abb. 38) hin.363 Die beiden Gemälde mit einem Regenbogen behandelten zwar laut Konrad Roethel und Benjamin die Ariel-Szene aus Faust II,364 so dass sie von den Forschern »Faust II – Ariel Szene« genannt wurden, besitzen aber mehr Ähnlichkeit zur Szenerie von Schwarze Figur, so dass die Identifikation als Faust II eventuell widerlegt werden kann. Sowohl im oben genannten Gemälde als auch in der vierten Szene von Schwarze Figur befindet sich eine Burg links auf dem Felsen, und der Regenbogen hängt über dem Hintergrund. Nach der vorliegenden Interpretation stellt die Landschaft das Himmelreich dar. Die Bedingungen, um in das Himmelreich zu gelangen, könnten in Kandinskys ikonographischer Sprache festgelegt worden sein, denn Kandinskys Ölgemälde »Improvisation 19« (Abb. 40) thematisiert womöglich die gleiche Szene. Zwar behandele dieses abstrahierende Gemälde ein »unbekanntes Ritual«,365 aber die ovale bunte Form, die von der linken oberen Kante ins Bild hineinströmt, erinnert an den Regenbogen in der vierten Szene. Auch der Einzug der blauen Figuren zur Mauer ist zu erkennen. Somit besitzt Kandinskys ikonographische Sprache auch in seiner Malerei Gültigkeit. Als ein möglicher Anlass für den Regenbogen aus der Mauer ist wieder auf die Beschreibung der heiligen Stadt Jerusalem in der Apokalypse des Johannes zu verweisen, nach der die Grundsteine der Mauer um die Stadt »mit allerlei Edelsteinen« geschmückt seien.366 Das Himmelreich bedürfe »keiner Sonne noch des Mondes, daß sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie«,367 so werde die Stadt von Gott direkt beleuchtet und »die Völker werden wandeln in ihrem Licht«368 ins Himmelreich. Daher könnte der Regenbogen in der vierten Szene als Quelle des Lichtes verstanden werden, das aus der Mauer ausströmt, wie in »Improvisation 19«. Vor dem Erscheinen der schwarzen Figur verschwindet der Regenbogen, und der Himmel wird schwarz. Dies ist als eine gemischte Vision vom Kommen des Menschensohnes und der Apokalypse des Johannes zu verstehen, d.h. »die Kräfte der Himmel werden ins Wanken kommen«369 und »ihre [der Stadt] Leuchte ist das Lamm«.370 Dass die Burg mit zwei Kuppeln am hinteren linken Rand der Bühne steht, mag etwas seltsam sein, weil sie der Zielort der Auserwählten sein muss und sie in die Stadt hineingehen sollen.371 Mit der westlichen Per-

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»Landschaft mit Regenbogen und Figuren«, 1907-08, Schwarze Kreide und Wasserfarben auf Papier, 22,4 × 17,4cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. Boissel 1986, S.249. WVZÖ, S. 192. Kat. Absolut Abstrakt, S. 80. Offb 21, 19. Offb 21, 23. Offb 21, 24. Mt 24, 29. Offb 21, 23. Eine ähnliche kompositorische Bildstruktur hat auch das Ölgemälde »Improvisation 19«. Dabei scheinen sich die großen blauen Figuren an den rechten Bildrand zu bewegen, wobei sich von der Mauer als dem Ziel nur eine wenige Streifen sehen lassen und nicht als Schwerpunkt des Bildes gezeigt werden. Wie Annegret Hoberg erwähnt, ist bei den großen blauen

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spektive könnte es so verstanden werden, dass sich die Menschen außerhalb der Mauer in einem Außengarten befinden. Hinter der Darstellung der Burg am Bildrand könnte die A-Perspektive der Ikone liegen, d.h. der mittlere Raum der Bühne ist eigentlich der Innenraum der Burg. In der A-Perspektive sieht ein Innenraum wie außerhalb des Gebäudes aus, weil das Dach des Raums nicht über dem Raum, sondern außerhalb des Raums hängt, so dass die Objekte im Raum wie im Freien stehen. Der Vorderraum der Bühne, in dem zwei Bäume blühen und die rosa gekleideten Menschen Reigen tanzen, ist dann als innerhalb der Mauer zu verstehen. So können der Einzug der blauen Frauenfiguren und die Erscheinung der schwarzen Figur im Inneren der heiligen Stadt mehr Ehrfurcht einflößen. Ein roter Baum mit rosafarbenen großen Blumen und ein gelber Baum mit weißen Blumen Laut der Apokalypse des Johannes gibt es nur den Baum des Lebens im Himmelreich, und dies stimmt nicht mit zwei gegensätzlichen Darstellungen der Bäume in dieser Szene überein. Zwar bilden der Baum der Erkenntnis und der Baum des Lebens in der christlichen Ikonographie einen Antitypus und werden als Allegorie für Laster-Baum (arbor mala) und Tugend-Baum (arbor bona) sowie Adam und Christus verstanden. Aber der Baum der Erkenntnis könne durch die Erlösung in den Baum des Lebens umwandelt werden.372 So enthalten die zwei Bäume drei Sinnzusammenhänge: »Darstellung des Paradieses nach Gn2–3, der Endzeit und des Opfertodes Christi«.373 Um den gegenüberstehenden Bäumen ikonographische Bedeutung zu verleihen, könnte ein einziger Baum nicht aussagekräftig genug sein. Auch könnte die Darstellung des Paars der Bäume im Zusammenhang mit den Themen wie Hochzeitspaar und Liebespaar eine Allegorie bilden. Die rosafarbigen großen Blumen und die weißen Blumen beziehen sich wohl nach der christlichen Ikonographie auf den Rosengarten Mariä. Demnach schützt Maria als Gärtnerin die Rosen, die allegorisch als Bewohner des Himmelreichs, d.h. Verstorbene, verstanden werden. Da der Rosenkranz als Ornament aus rosafarbigen Blumen oder auch abwechselnd rosa und weiß besteht, sind die beiden Blüten vermutlich Rosen. Die im Reigen tanzenden rosafarbig gekleideten Männer und Frauen sind auch allegorisch als Rosen bzw. Rosenkranz zu verstehen.374 Reigen der in rosa gekleideten Menschen Eine große Anzahl ganz rosa gekleideter Männer und Frauen laufen von rechts herein. Sie beten, ziehen einander an der Hand, küssen sich und werfen die Köpfe wie vor Freude

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Figuren eine byzantinische Darstellungstechnik, »Isokephalie« – »aus der gleichen Höhe der Köpfe« – zu sehen (Kat. Absolut Abstrakt, S. 80). So wäre auch möglich, in diesem Bild den Einfluss der A-Perspektive zu sehen. LCI Bd. 1, S. 264. LCI Bd. 1, S. 260. »Dante schildert in seinem Paradiso die große Schar der Erlösten im Himmel als eine riesige Rose.« Lurker, Manfred: Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole. 1973 München. S. 56.

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zurück. Allmählich bilden sie einen Reigen und tanzen wild und lustig mit lebhaften Gesten und Sprüngen. Dann zerreißt der Kreis, und es bilden sich zwei Gruppen. Sie laufen einander nach und tanzen aufeinander zu. Schließlich fallen alle Menschen ermattet in Paaren und verteilen sich gleichmäßig auf der ganzen Bühne. Sie singen ohne Worte. Die rosa gekleideten Männer und Frauen sind Erlöste, die als Rosen im Himmelreich leben. Dass alle paarweise auftreten, betont das Thema des Brautpaars sowie Liebespaars. In ähnlicher Weise malte Kandinsky 1911/12 Liebespaare in den Aquarellen »Aquarell Nr. 3 (Liebesgarten)«375 sowie »Paradies« (Abb. 41), jedoch haben sie keine rosafarbige Erscheinung, sondern nackte Körper. Von diesen Bildmotiven sollen die Liebespaare in dieser Szene durch die rosafarbige Kleidung unterschieden werden. Der Reigen der Menschen symbolisiert, wie im Kap. 3.3.3. sowie Kap. 4.2.3. erklärt, die ideale Einheit der Welt, der Völker und der Künste. Anders als die Menschen in trachtenähnlichen Kostümen in der ersten und dritten Szene, tragen die Menschen im Himmelreich nur eine einheitliche, rosafarbige Kleidung, was andeutet, dass sie weder National- noch Volkszugehörigkeit mehr haben. Der Reigen der rosa gekleideten Menschen ist die Figuration des Rosenkranzes. Der Reigen im Himmelreich kann mit dem Reigen in der ersten Bühnenkomposition Riesen im dritten Bild verglichen werden. Der Reigen in Riesen wurde bei Davids Gründung von Israel vom in Rot gekleideten Volk getanzt. Der rote Reigen steht für die Vereinigung der Stämme Israels und Gründung des irdischen Jerusalems. Der rote Reigen im irdischen Jerusalem und der rosafarbige Reigen im himmlischen Jerusalem werden hier als Kontrast gesehen wie das Alte und Neue Testament. Im Kontext der Tetralogie könnte die Handlung zwischen diesen zwei Reigen liegen, d.h. der Reigen der Erde, der die einheitliche Weltvorstellung sowie die Bühnensynthese symbolisiert, ist zwar verloren, findet aber im Himmel seine Vollendung. Da der Reigen von Männern und Frauen getanzt wird, wird dadurch auch die Vereinigung der Gegensätze des Menschen symbolisiert. Dass Kandinsky den Reigen als symbolische Tanzform benutzte, reflektiert seine Sehnsucht nach der synthetischen Kunst, die als eine Weltsprache fungieren soll, denn die Form des Reigens existiert in allen Kulturen. Der Reigen war um die Jahrhundertwende ein beliebtes Motiv in der bildenden Kunst, weil er dem Paradies angehörte. Wie auch viele Künstler von einer Flucht aus der radikalen Modernisierung ins Paradies träumten, reflektierte der Versuch eines »Gesamtkunstwerks« den inneren Wunsch der Künstler, als Schöpfer eine ideale Welt zu erschaffen. So symbolisiert der Reigen auch die Idee der Bühnenkomposition in kürzester Form. Blaue Frauen mit weißen Gesichter, die den schwarzen Mann begleiten Nach dem Reigen legen sich die in rosa gekleideten Männer und Frauen paarweise auf den Boden und singen freudig. Die idyllische Szene wird aber durch das Erscheinen der »in’s blaue ganz umhüllten« weiblichen Figuren mit weißen Gesichtern unterbrochen. Sie treten nach und nach von rechts und links auf die Bühne und winken den nachfolgend

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»Aquarell Nr.3 (Liebesgarten)«, 1911–2, Aquarelle, Tusche und Bleistift auf Papier, 24,8 × 31,6cm. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München.

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auftretenden Figuren. Sie wirken kollektiv, denn alle sehen gleich aus und haben die gleiche Gestik. Danach gehen sie »auf den Fußspitzen, mit horchendem Kopf und ausgestrecktem Finger«. Die ähnlichen, blauen Figuren nehmen schließlich den ganzen Hintergrund ein. Dies scheint der Empfang für den darauf folgenden Auftritt der schwarzen Figur zu sein. Die schwarze Figur erscheint nämlich auf der Meeresfläche hinter den blauen Frauenfiguren, während der Himmel schwarz und die Wolken weiß werden und der Chorgesang eine Klimax376 erreichen. Die Versammlung der blauen Frauenfiguren und ihr Empfang der schwarzen Figur könnten als das Ziel des Stücks verstanden werden. Die »in’s blaue ganz umhüllten« Frauenfiguren, die horchend und mit ausgestrecktem Finger vor weißem Gesicht auf den Fußspitzen gehen, sind die klugen Jungfrauen, die auf das Kommen des Bräutigams warten ohne einzuschlafen.377 Eine Parabel, die ein Sinnbild des Weltgerichts sowie des Kommens des Messias schildert. In der christlichen Ikonographie werden die klugen Jungfrauen und törichten Jungfrauen vor der Himmelspforte dargestellt,378 wobei die törichten Jungfrauen schlafend oder weinend dargestellt und nicht zugelassen werden. Kandinsky zeigte einen Fotodruck der Skulptur der törichten Jungfrau im Almanach Der blaue Reiter, insofern ist sein Interesse an dieser Parabel nachweisbar. Die horchende Haltung der blauen Figuren zeigt ihren dienenden Charakter im Verhältnis zu der schwarzen Figur. Ähnliche, blau gekleidete Menschen erschienen im zweiten Bild und trugen die weiße Sänfte, in der die mutmaßlichen Hochzeitsgäste zur heiligen Hochzeit getragen werden könnten. So ist zu erwarten, dass hier im ursprünglichen Schlussbild die heilige Hochzeit stattfindet. Die Weiblichkeit der blauen Figuren im vierten Bild deutet an, dass diese Dienerinnen selbst Bräute oder Brautjungfern sind. Nach der christlichen Ikonographie könnten die versammelten Frauenfiguren als »Kluge Jungfrauen«379 aus dem Neuen Testament identifiziert werden,380 die eine Parabel des Weltgerichts darstellen. Demzufolge tragen sie als Brautkleid eine ungegürtete Tunika mit weiten Ärmeln oder einen über den Kopf gezogenen Mantel.381 Die Darstellung der Klugen Jungfrauen mit einem Mantel ist in der byzantinischen Kunst üblich, was zu Kandinskys Beschreibung von den »in’s blaue ganz umhüllten« Frauenfiguren mit weißen Gesichtern passt. Bei den ikonographischen Körperbildern der Klugen Jungfrauen sind Fackeln sowie Ölgefäße in der Hand Attribute, die hier allerdings nicht zu sehen sind. Die Klugen Jungfrauen, die stets wachsam auf das Kommen des Bräutigams bzw. auf den Jüngsten Tag vorbereitet sind, dürfen als Bräute Christi ins Himmelreich zugelassen werden. So werden die Motive des Einzugs der Gläubigen

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Ursprünglich war die Szene das Schlussbild. Mt 25, 1ff. »Schon die früheste Darst. ist streng symm. geordnet. Häufig in der Min.-Mal., in Kupfst., Holzschn. u. am Gewände ma. B.türen; nördli. Querschiff des Magdeburger Doms – sog. Paradiespforte.« LCI, Bd. 1, S. 323f. Mt 25, 1ff. »Dann wird es mit dem Himmelreich sein wie mit zehn Jungfrauen, die ihre Lampe nahmen und dem Bräutigam entgegengingen. Fünf von ihnen waren töricht, und fünf waren klug. Die törichten nahmen ihre Lampen mit, aber kein Öl, die klugen aber nahmen außer den Lampen noch Öl in Krügen mit.« Mt 25, 1ff. Zu der ikonographischen Darstellung siehe LCI, Bd. 2, S. 458ff. LCI Bd. 2, S. 459.

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im Himmel sowie das Kommen des Menschensohnes in einer Form der Hochzeit vereint und gefeiert.382 Die symmetrischen Auftritte der Frauenfiguren in der vierten Szene erinnern an die ikonographische Darstellung der Klugen Jungfrauen sowie der Törichten Jungfrauen, die an der Pforte des Paradieses383 in der Bildmitte symmetrisch rechts und links in einer Reihe stehen,384 wobei hier die weinenden oder schlafenden Törichten Jungfrauen nicht zu sehen sind. Kandinsky druckte jedoch im Almanach Der blaue Reiter die Fotokopie der Skulptur der weinenden Törichten Jungfrau ab (Abb. 42)385 und zeigte damit sein Interesse an dem Thema. Die charakteristische Gestik der blauen Frauenfiguren, auf den Fußspitzen mit einem ausgestreckten Finger vor dem Gesicht zu gehen, könnte sich darauf beziehen, dass die Klugen Jungfrauen während der nächtlichen Ruhe den Bräutigam empfingen und in den Hochzeitssaal eintreten.386 Auch eine klösterliche Ordensregel des Schweigens könnte durch ihre Fingergestik angedeutet werden. So könnten die blauen Frauenfiguren auch als die wie Bräute geschmückten Ordensschwestern verstanden werden. Nachdem alle blauen Figuren auf der Bühne sind, stehen sie in einer Reihe und bewegen sich vorwärts zum Publikum. Die einfache Gruppenbewegung lässt weder einen Emotionsausdruck noch ein Bewegungsziel erahnen. Wichtig ist, dass diese Bewegung als Folge die Erscheinung der schwarzen Figur hervorruft. In dem Sinne fungiert die Vorwärtsbewegung der blauen Figuren zeremoniell. Hinter ihnen auf dem Wasser erscheint dann die schwarze Figur. Erscheinung der schwarzen Figur: Kommen des Menschensohnes Der Auftritt der schwarzen Figur, der ursprünglich als Klimax dieses Bühnenstücks entworfen wurde, wird von Naturphänomenen begleitet. Nach dem Regietext verschwindet der Regenbogen, der zur idyllischen Landschaft beitrug. Hinter dem Meer hebt sich dann eine »runde große wittrig grauweiße Wolke«. Bei dieser Veränderung erzittern die Bäume. Die rosa gekleideten Menschen werden ängstlich und wenden sich um, so dass sie die in der Reihe stehenden blauen Frauenfiguren bemerken und »wie hypnotisiert« sind. Die Reaktion der rosa gekleideten Menschen deutet an, dass die blauen Frauenfiguren für das Himmelreich fremde Eindringlinge sind. Während sich die blauen Frauenfiguren langsam nach vorne bewegen, wird der Himmel schwarz und die Wolke ganz weiß, als ob in der weiteren Szene eine Katastrophe zu erwarten wäre. Nach all dieser Vorbereitung erscheint die schwarze Figur »wie auf dem Wasser«, und ein »lautes Schreien« kommt von den rosa Menschen. Dies scheint ein böses Vorzeichen zu sein. Die schwarze Figur tut jedoch

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LCI Bd. 1, S. 319. Christus als Bräutigam siehe Mt 9, 15, Mk 2, 19 sowie Lk 5, 34. Siehe Kap. 4.5.3. Zwei Felsen auf dem Meer wiesen auf die Himmelspfote hin. LCI, Bd. 1, S. 323f. »Schon die früheste Darstellung ist streng symmetrisch geordnet. Häufig in der Miniaturmalerei, in Kupferstich, Holzschnitt und am Gewände mittelalterlicher Brauttüren; nördliches Querschiff des Magdeburger Doms – sogenannt Paradiespforte.« DBR, S. 183. »Während sie (Törichte Jungfrauen) noch unterwegs waren, um das Öl zu kaufen, kam der Bräutigam; die Jungfrauen, die bereit waren, gingen mit ihm in den Hochzeitssaal, und die Tür wurde zugeschlossen.« Mt 25, 10.

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nichts Weiteres. Nur die blauen Figuren gehen weiter vorwärts und beugen sich etwas nach vorne. Die Szene endet dann in Dunkelheit. Der Chor hinter der Bühne wiederholt die im zweiten und dritten Bild vorkommenden Worte »kein Klang, kein Klang«. Der gesamte Verlauf wäre von böser Bedeutung, wenn man alle Naturphänomene und die schwarze Figur als böses Vorzeichen betrachten würde. Es muss daher wieder daran erinnert werden, dass die schwarze Figur nach Kandinskys damaligem Körperlichkeitsprinzip den immateriellsten Körper darstellt und damit für Christus steht. Außerdem begleitet ihn in der Szene ein schwarzer Himmel. Dies bezieht sich eindeutig auf die Stelle aus dem Neuen Testament über das Kommen des Menschensohnes.387 Kandinsky inszenierte das Ende der alten Epoche und den Beginn einer neuen mit dem schwarzen Himmel, denn, wie er in Rückblicke schrieb, die »Offenbarung dieses Reiches« erscheine »unerwartet, erschreckend und beglückend aus der Finsternis«. Am Beginn der »großen Epoche des Geistigen« bzw. der »Offenbarung des Geistes«388 hänge der »gestrige Himmel« wie »schwarz, erstickend und tot über uns«.389 So verstand der Künstler in Schwarz einen notwendigen Übergang zu einer neuen Epoche. Der Himmel muss sich am Jüngsten Tag verdüstern, so dass Gott selbst danach als die Sonne aufsteigen kann.390 So beendet Kandinsky hier die »Offenbarung des Sohns«391 mit dem Kommen der schwarzen Figur Christi. Die anschließende Szene, die gegenständlichere Körperbilder enthält, deutet damit den Beginn der neuen Epoche an. 4.5.5. 5tes Bild: Erwählung des zukünftigen Reiters im Tannenwald Das fünfte Bild wurde, anders als die in Tusche geschriebenen ersten vier Szenen, in Bleistift zugefügt.392 Die Herausgeberin des Textes Jessica Boissel analysiert die fünfte Szene in folgender Weise: »Als Schlussbild wird ihm ein hübscher Zierrat in der Form eines Kinderdialoges im Märchenstil vorgeschlagen, eine Idylle, die durch die Erscheinung der Schreckgestalt des Schwarzen Mannes gestört wird.« So versteht sie unter der schwarzen Figur eine »Schreckgestalt« und sieht die hinzugefügte Szene im Zusammenhang mit Kandinskys Bemerkung von 1913,393 als wäre sie ein kitschiger Versuch gewesen. Dem 387

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Mt 24, 29f. »Sofort nach den Tagen der großen Not wird sich die Sonne verfinstern, (...) und die Kräfte des Himmels werden erschüttert werden. Danach wird das Zeichen des Menschensohnes am Himmel erscheinen; dann werden alle Völker der Erde jammern und klagen, und sie werden den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf den Wolken des Himmels kommen sehen.« Siehe Kap. 4.1.1. GSI, S. 45. Siehe Offb 21, 23a sowie 22, 5. Obwohl in der Apokalypse des Johannes betont wird, dass die Stadt weder Sonne noch Mond braucht, weil die »Herrlichkeit Gottes« sie erleuchte, lässt Kandinsky im anschließenden Bühnenwerk Nachspiel eine Sonne aufsteigen, während die Auserwählten mit dem an Gott erinnernden weißbärtiger Mann auf den Thron hinaufsteigen. Dazu siehe Kap. 4.6. Siehe Kap. 4.1.1. ÜT, S. 109. Von Boissel wurde Kandinskys Brief an Franz Marc über den geplanten zweiten Band des Almanachs Der blaue Reiter zitiert. Demnach wollte Kandisnky das Thema der Ladenschildermalerei behandeln und schrieb, »Ich möchte versuchen, hier an die Grenze des Kitsches

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wird jedoch durch die vorliegende Interpretation widersprochen, denn die vier Szenen behandeln die Verwirklichung der himmlischen Hochzeit sowie des Kommens des Menschensohnes mit der ikonographischen Methode, was das Ende der zweiten Offenbarung bedeuten kann. Die fünfte Szene schließt sich dieser Vision an und führt sie zu Kandinskys eigener Interpretation der gegenwärtigen Epoche, in der ein zukünftiger Künstler als Kämpfer für die neue »Epoche des großen Geistigen«394 berufen wird. Im anschließenden Bühnenwerk Nachspiel wird, während die Gläubigen den Thron besteigen, der neue Leidensweg eines blauen, ein großes Kreuz tragenden Menschen gezeigt. Dies könnte den Ursprung des Blauen Reiters darstellen, der als Gleichnis des Künstlers identifiziert werden kann und der gegen den Materialismus kämpfen soll. In dieser Szene treten drei Darsteller auf, ein »Knabe von 8–10 Jahren in hellgrünem langen Hemd«, ein »Mädchen gegen 8 Jahre alt« und der »schwarze Mann«. Der Knabe bearbeitet, unter dem Tannenbaum sitzend, einen Holzstock mit dem Messer und träumt davon, ein Schloss zu bauen. Ein Mädchen mit dem Erdbeerkorb tritt ein, spricht ihn an und bietet ihm Erdbeeren an. Sie unterhalten sich und machen aus, in der Zukunft zu heiraten und im vom Knaben gebauten Schloss zusammen zu wohnen. Als sie sich küssen, schreit der Kuckuck zum dritten Mal. Auf dieses Signal erscheint die schwarze Figur hinter einer Tanne und winkt den Kindern mit einer Fingergestik. Nachdem sie den schwarzen Mann lange angeschaut haben, gehen sie mit zögernden Schritten auf ihn zu. Der Kuckuck schreit noch zweimal. Obwohl die Kinder danach gucken, gehen sie weiter zum schwarzen Mann und es wird dunkel. Von der formalen Gestaltung her ist dies das erste Mal, dass die Gegenstände auf der Bühne so realistisch dargestellt werden. Auch die Körperbilder des Knaben sowie des Mädchens sind, anders als sonstige Darsteller in den vier Bühnenkompositionen, weder gefärbt noch in unbestimmten Trachten gekleidet. Die Worte der Kinder werden zum ersten Mal in den vier Bühnenkompositionen in Dialogform durchgeführt. Dementsprechend ist ihre Gestik naturalistisch und unterscheidet sich von der des schwarzen Mannes. So differenziert sich die Darstellung der Kinder vom bisherigen Darstellungsprinzip, bei dem die geistige Eigenschaft durch die Körperlichkeit sowie in Farben sichtbar wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Kinder entsprechend ihrer Körperlichkeit in einen geistig-niedrigeren Rang gesetzt werden, sondern weist darauf hin, dass sie zu einem anderen »Reich«395 gehören, in dem das naturalistische Darstellungsgesetz regiert, denn anders als die bisherigen Szenen sind die Motive dieser Szene (wie Tannenbäume, Erdbeeren und Kuckuck) nicht nach der christlichen Ikonographie sowie der Bibel zu entziffern, sondern nach europäischen Volkssagen bzw. Aberglauben, in denen sich die

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zu gehen (oder wie viele meinen werden, über diese Grenze.« ÜT, S. 109, zitiert nach Lankheit, Klaus, W.Kandinsky – F.Marc – Briefwechsel, 1983, S. 226. ÜGK, S. 143. Kandinsky bezeichnete ein einzelnes Fachgebiet bzw. einen Mikrokosmos als »Reich«, wie das »Reich der Kunst, der Natur, der Wissenschaft, der politischen Lebensform«. Das einzelne »Reich« ist »gleich ein Reich für sich« und wird »durch eigene und nur ihm eigene Gesetze regiert«. Dies bildet mit den anderen Reichen zusammen das »große Reich« (GSI, S. 45). So verstand er seine malerische Entwicklung von der Naturnachahmung zur Abstraktion als Trennung des »Reiches der Kunst vom Reiche der Natur« GSI, S. 42.

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ursprünglich heidnischen Sagen mit dem christlichen Glauben vermischen. Daher ist wahrscheinlich, dass Kandinsky einen bewussten Standort- sowie Epochenwechsel in der fünften Szene unternahm, so dass die Wende zur dritten Offenbarung – zu seiner Gegenwart – deutlich wird. Tanne Die Nadelbäume erscheinen zum ersten Mal in den Bühnenkompositionen. Kandinsky berichtete in seinem ethnographischen Artikel über die Volkssagen der Sysol- und VečegdaSyrjänen, die in einem Teil der Provinz Vologda siedelten. Demzufolge bedeutete der Tannenwald dem ursprünglich heidnischen Volk den Wohnort der Götter.396 Kandinsky versuchte durch diese Untersuchung, »die Spuren der heidnischen Epoche so gut wie möglich zu rekonstruieren, soweit sie sich im Chaos der heutigen religiösen Vorstellungen, die stark vom Christentum beeinflusst sind, noch nachweisen lassen«.397 Die Tanne war ein gutes Beispiel dafür, denn der Wohnort der heidnischen Götter wurde anlässlich der Mission durch den Hl. Stefan398 gefällt. Später verwandelte sich der einst abgelehnte Tannenbaum in Russland durch die Rezeption des deutschen christlichen Brauchs in ein Weihnachtssymbol,399 wobei zahlreiche Volkssagen der Tanne in Deutschland auch in heidnischem Glauben ihren Ursprung haben könnten.400 Angesichts von Kandinskys Interesse an Volkssagen könnte der Tannenwald in der fünften Szene von Schwarze Figur einen Ort darstellen, in dem sich Gegensätze wie das Heidentum und das Christentum oder unterschiedliche Kulturen begegnen und sich vereinigen. Eine Stätte, in der das Heidnische und das Christliche sich vermischen, scheint für Kandinsky besonders attraktiv gewesen zu sein, weil er dabei seiner eigenen Angabe nach eine wegweisende Initiation zum Ziel der eigenen Kunst erlebte.401 In Rückblicke schrieb er, dass er in der Wohnung in Vologda, deren Wände durch heidnische Helden und christliche Heiligenbilder bedeckt waren, ein Gefühl wie in einer russischen Kirche und gleichzeitig wie in einer katholischen Kapelle hatte; dieser Eindruck lehrte ihn, »im Bilde zu leben« bzw. die »selbstvergessene Auflösung im Bilde« zu erlangen.402 In 396 397 398

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GSI, S. 73. Ebd., S. 68. Ebd., S. 68. »Der starke Arm des Missionars [Hl.Stefan] hat jegliche Verbindung mit der Vergangenheit zerrissen.« Die Syrjänen ehrten trotz der Christianisierung ihre Ahnen, daher »rührt die Annahme, daß der Hl. Stefan nicht eine Birke, sondern eine Tanne gefällt habe, weil die Tanne den Sitz vieler Götter dargestellt habe« (ebd., S. 73). In Russland wurde der Weihnachtsbaum erst gegen 18. Jahrhundert durch Deutsche eingeführt, und ab 1852 auch öffentlich hingestellt, d.h. für die orthodoxe Kirche war die Tanne ein fremdes Symbol zur Weihnachtsfeier. Siehe Hiroko Kano: Lexikon für russische Metaphern, Vorstellungen, Assoziationen, Symbole – Pflanzen. Tokyo 2007. Siehe HDA, S. 663ff. Kandinsky schrieb, dass die mit Volkskunst geschmückten Häuser sowie Zimmer in Wologda ihn lehrten, »im Bilde mich zu bewegen, im Bilde zu leben.« (GSI, S. 37) Dieselben Eindrücke bekam er in den orthodoxen sowie katholischen Kirchen und bildete seine »weiteren Wünsche, Ziele meiner eigenen Kunst, [...] den Beschauer im Bilde »spazieren« zu lassen, ihn zu der selbstvergessenen Auflösung im Bilde zu zwingen. (GSI, S. 38). GSI, S. 38f.

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der künstlerischen Form bedeutete ihm der Unterschied der Religionen, ob heidnisch oder christlich, ob orthodox oder katholisch, schließlich keine Kluft mehr, vermutlich, weil er das Wesentliche des Glaubens in der Form der Kunst verwirklicht sah. So ist zu verstehen, dass der Tannenwald als Schlussbild von Schwarze Figur dem utopischen Weltbild bzw. dem Ziel der synthetischen Kunst Kandinskys entsprach. In dem Tannenwald begegnen die Kinder in Schwarze Figur dem schwarzen Mann, der unter dem Tannenbaum erscheint. Dies kann entsprechend der die Tanne betreffenden Volkssagen entziffert werden. Unter anderem in Siebenbürgen gibt es den Aberglauben, dass Christus, von seinen Feinden verfolgt, unter eine Tanne flüchtete, so dass sie immergrün ist.403 Da der schwarze Mann, der in der vorhergehenden Analyse als Abbild Christi zu verstehen ist, nach dem Kuckucksruf404 unter der Tanne erscheint, ist wahrscheinlich, dass Kandinsky die Motive der Volkssagen aus seiner ethnographischen Kenntnis als neue Kunstsprache in die Bühnenkomposition einführte. Dass der Knabe träumt, ein Schloss zu bauen, deutet sein handwerkliches wie künstlerisches Vorhaben an und spiegelt damit Kandinskys eigene Motivation für die Kunst wider. Im Hinblick auf Kandinskys Erfahrung in Vologda, die wegweisend für seine Kunst war, kann sich der Tannenwald als Ausdruck der Berufung des Künstlers geeignet haben. Kuckuck In der fünften Szene von Schwarze Figur schreit der Kuckuck insgesamt dreimal, und die Kinder blicken sich nach ihm suchend um. Nach dem dritten Schrei erscheint der schwarze Mann plötzlich unter der Tanne, so dass es den Anschein hat, als kündige der Kuckuck den Auftritt des schwarzen Mannes an. So ein Eindruck ist den Volkssagen gemäß richtig, denn einem Aberglaube zufolge, der u.a. im ehemaligen Westpreußen verbreitet ist, verrät der Kuckuck mit seinem Schrei das Versteck Christi, als Christus einst von den Juden verfolgt unter einer Morchel gewesen sei, weshalb die Stimme des Kuckucks zur Strafe nach dem Frühling verschwinde.405 Eine solche Sage könnte einen Teil des KuckuckMotivs in Schwarze Figur gebildet haben, wobei der Kuckuck in Volkssagen nicht immer negative Bedeutung trägt. Der Kuckuck war wie die Tanne ursprünglich ein Objekt des volkstümlichen Aberglaubens, so besaß er vielseitige Bedeutungen in Sagen, wie die eines Frühlingsboten, Zukunftskünders, Verräters, Dämonen,406 Vertriebenen aus dem Paradies usw.407 Eine Sage stellt den Kuckuck beispielsweise als Glücksverkünder dar: Hat man das »Glück unter einem Baume zu stehen, auf dem ein K.[uckuck] ruft, so kann man drei Dinge sich wünschen, die dann in Erfüllung gehen.«408 Da der schwarze Mann nach dem dritten Schrei unter der Tanne steht, kann sein Auftritt als Glückszeichen betrachtet

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HDA, S. 663. Siehe den nächsten Absatz über den Kuckuck. HDA, S. 663. Ebd., S. 716. Man glaubte, im selben Jahr zu sterben, wenn man einen Kuckuck links von sich schreien hörte. Siehe ebd., S. 690ff. Ebd., S. 716f. Jedoch gibt es auch eine gegensätzliche Sage, dass man Todesfälle befürchten müsse, wenn der Kuckuck im Dorfe dreimal schreie.

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werden, wobei die Deutung des Kuckucksschreis in Volkssagen wahrlich vielseitig ist, so dass nicht endgültig entschlüsselt werden kann, was genau der Kuckuck hier verkündet. Später schreit der Kuckuck noch zweimal, während die Kinder vom schwarzen Mann mit einer Fingergestik gerufen werden und zu ihm gehen. Der Zusammenhang des zusätzlichen Kuckucksschreis mit der Berufung der Kinder bleibt unklar. Ein anderer Aspekt des Kuckucksschreis ist die Verbindung mit Johanni. Laut Volkssage soll der Kuckuck um Johanni schweigen, »tut er’s nicht, so ist Missernte zu befürchten«.409 Die Sage über den Kuckuck und Johanni schließt sich den Erdbeeren an, die auch in dieser Szene als Attribut erscheinen. Demnach sollen Schwangere sowie Mütter, deren Kinder gestorben sind, vor Johanni keine Erdbeeren essen, weil »sie sonst dem Kinde die ›Freude abesse‹ oder das Kind im Himmel keine E[rdbeere]n bekomme, weil sie die Mutter schon gegessen habe«.410 Am Johannistag gehe Maria mit den Kindern in den himmlischen Garten Erdbeeren pflücken.411 So ist zu vermuten, dass die fünfte Szene mit dem Kuckuck und den Erdbeeren vor oder um Johanni spielt. Der Knabe mit den Stöckchen und das Mädchen mit dem Erdbeerkörbchen Der Knabe und das Mädchen begegnen sich im Tannenwald, und nach einem Dialog geloben sie sich ihre gemeinsame Zukunft. Dies lässt sich als eine Variation des bereits in den vorhergehenden Szenen behandelten Themas, Liebespaar bzw. Brautpaar, verstehen, wobei hier einige neue Motive für die neue Epoche hinzukommen, denn das künftige Liebespaar wird nicht am Jüngsten Tag ins Himmelreich eingeladen, sondern vom schwarzen Mann, Christus, zum Kampf für die neue »Epoche des Geistigen« berufen. Die von Kandinsky gedachten Kriterien für die Erwählung sind anscheinend kindliches Herz und schöpferische Motivation. Ein neutestamentarisches Zitat in Kandinskys Artikel Über die Formfrage im Almanach Der blaue Reiter könnte einen Hinweis darauf liefern, weshalb die Kinder in dieser Szene erwählt werden. Denn »Christus sagte: Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich.«412 Kandinsky folgt dem Zitat weiter. Demnach gleiche der Künstler »sein ganzes Leben in vielem dem Kinde«, so dass er »oft leichter als ein anderer zu dem inneren Klang der Dinge gelangen« könne.413 Der Charakter des Knaben, der, Stöckchen »hobelnd«, von der Schöpfung träumt, scheint der Natur des künstlerischen Schaffens zu entsprechen. So behandelt die Szene offensichtlich die Berufung des Künstlers durch Christus und reflektiert Kandinskys Bekenntnis seiner kunstmissionarischen Aufgabe. Im anschließenden Stück Nachspiel geht ein blauer Mann vorbei, der auf den Schultern ein großes Kreuz trägt. Da dieser Mann

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Ebd., S. 733. Ebd., S. 893. Nähere Angaben zu Erdbeeren siehe den nächsten Aufsatz über das Mädchen mit Erdbeerkorb. DBR S. 177. Siehe Mt 19, 13ff, Lk 10, 13ff sowie Lk 18, 16–17. »Jesus rief sie zu sich und sprach: Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes./ Wahrlich, ich sage euch: Wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.« (Lk 18, 16ff). DBR, S. 78.

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dem Blauen Reiter, Titelfigur des von Kandinsky herausgegebenen Kunstalmanachs und zugleich Kämpfer für das Geistige, gleicht, kann der das Kreuz tragende blaue Mann in Nachspiel das künftige Bild des träumenden Knaben in der Endszene von Schwarze Figur sein. Der Knabe ist 8–10 Jahre alt und trägt ein hellgrünes Hemd. Er sitzt unter einer der Tannen und nimmt eins der Stöckchen, die neben ihm liegen. Er bearbeitet es mit einem Messer und singt dabei: »Liebe Stöckchen, ich mache was Feines aus Euch. Ich baue ein schönes Ding.« Währenddessen hört man zweimal einen Kuckuck, und der Knabe schaut auf. Dann wird seine Beschäftigung durch den Auftritt des Mädchens unterbrochen. Er bekommt die Erdbeeren vom Mädchen und sagt, auf die Frage des Mädchens antwortend, dass er aus den Stöckchen ein Schloss bauen will. Die beiden machen aus, zusammen im Schloss zu wohnen und zu heiraten, und küssen sich. Der Knabe bearbeitet ein Tannenstöckchen und träumt von einem Schloss. Zahlreiche Volkssagen aus verschiedenen Regionen in Westeuropa erklären, dass Tannenzweige den Blitz sowie alles Ungemach von Haus und Bewohnern abhielten. Beispielsweise wurden sie in katholischen badischen Ortschaften an der Schweizer Grenze über den Stalltüren befestigt, weil sie dem Haus Glück und Segen sowie Schutz gegen Blitzschlag brächten.414 Die Tanne sei vor allen Bäumen ausgezeichnet, weil sie das Holz zum Kreuz Christi hergab.415 In der christlichen Symbolik jedoch besitzt die Tanne keine besondere Bedeutung. Allegorisch kann ein Schlossbau mit einem Kirchenbau verglichen werden, denn laut Kandinsky sei das künstlerische Vorhaben schließlich »in vielem der Religion ähnlich«.416 Daher könnte die Ambition des Knaben sowohl mit Bezug zur Kunst als auch zur Religion betrachtet werden, und die handwerkliche Beschäftigung des Knaben bedeutet nicht nur eine künstlerische Begabung, sondern auch eine Grundlage zum Glauben. Das Mädchen – die künftige Partnerin des Knaben − stellt sich die Aufgabe, Erdbeeren zu sammeln und dem Knaben anzubieten. Dies erinnert an die Volkssage über Mariä Erdbeeren am Johanni. So könnte sich die handwerkliche Begabung des Knaben gleichermaßen auf Joseph, den Ziehvater Jesu, beziehen. Die beiden Kinder verkörpern somit das ideale Ehepaar für die christliche Ikonographie. Das Mädchen ist gegen 8 Jahre alt und trägt ein Erdbeerkörbchen. Ihre Kleidung, Frisur sowie die Körper-/Kleidungsfarben werden nicht angegeben, so ist zu vermuten, dass sie ein gegenständliches Körperbild besitzt. Sie kommt von rechts und sieht den Knaben. Sie bleibt stehen und legt einen Finger »in den Mund« und »schaut«. Die Bedeutung dieser Gestik ist nicht klar. Da die Körperlichkeit des Mädchens auf der alltäglichen Ebene bestimmt wird, fungiert diese Gestik vermutlich auf derselben Ebene. Ein Finger vor dem Gesicht erinnert jedoch an die Gestik der blauen Frauenfiguren in der vierten Szene, die an einen Klosterorden des Schweigens erinnert. Auch wenn die Möglichkeit der gestischen Beziehung wegen ihrer gegensätzlichen Körperlichkeiten gering ist, könnte hier eine Relation des Auftritts der blauen Frauenfiguren und des

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HDA, S. 664. Ebd., S. 663. GSI, S. 46.

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Mädchens durch die Gestik vermutet werden. Auf Wunsch des Knaben gibt sie ihm Erdbeeren. Dabei spricht sie wiederholt »Iß nur, iß nur!«, scheint dabei selbst aber keine Erdbeeren essen zu wollen. Hiermit drückt Kandinsky möglicherweise das Gegenmotiv zur Ursünde in einer Form des Volksglaubens aus. Denn im Alten Testament verführt das Weib den Mann mit der Frucht vom Baum der Erkenntnis zur Ursünde.417 Ikonographisch wird die Frucht von dem Baum der Erkenntnis durch den Apfel dargestellt (Abb. 43).418 So steht der Apfel für das irdische Paradies. Dagegen gehört die Erdbeere zum himmlischen Garten Mariä (Abb. 44). Die Erdbeere wächst direkt auf der Erde und ist von kleinen Kindern erreichbar. So wurde sie als Speise der Seligen und früh verstorbener Kinder im himmlischen Paradies verstanden.419 Daher entstand die Volkssage, dass Maria mit den Kindern am Johanni Erdbeere pflücken gehe.420 Eine weitere Volkssage berichtet, Erdbeeren seien für die Männer sehr gesund, für die Frauen aber schädlich. Daher solle ein Mann, wenn er eine Erdbeere sieht, vom Pferd steigen und ein Weib (besonders das menstruierende) die Erdbeeren zertreten.421 Darum ist das Verhalten des Mädchens, selbst keine Erdbeere zu essen, gemäß der Volkssage vernünftig. Ferner lässt sich die Vermutung anstellen, dass diese Szene die Erlösung der Ursünde des Weibs durch die Erdbeere Mariä in der Volkssage thematisiert, wenn man die ganze Tetralogie als Erlösungsgeschichte interpretieren will. Das Mädchen ist sowohl als ein Kind unter dem Schutz der Gottesmutter als auch als ein kleines Abbild Mariä zu verstehen. Der Knabe und das Mädchen haben ihre Tätigkeiten jeweils vom Ziehvater Joseph und der Gottesmutter Maria. Als die beiden mit einem Kuss ausgemacht haben, zu heiraten und zusammen in dem Schloss zu wohnen, erfüllen sie die Bedingungen als Erben der christlichen Geschichte. Der Kuckuck schreit

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1. Mose 3, 6. Zum Bildtypen des Sündenfalls siehe LCI Bd. 1, S. 54ff. LCI Bd. 1, S. 656. Die Erdbeere wird als Paradiespflanze verstanden und ihre dreiteiligen Blätter stehen für Trinität. Franz Xaver von Schönwerth: Aus der Oberpfalz: Sitten und Sagen. Bd. 1. Augsburg 1857, S. 203–204. »[203]Eine Mutter, der ein kleines Kind gestorben ist, soll von nun an keine Rothbeeren vor Johanni essen, sonst darf es an diesem Tage nicht mit U.L. Frau in den Rothbeergarten. Neukirchen. / Dem gestorbenem Kinde zieht man schöne Kleidchen an und gibt ihm ein Kreuzchen von weissem Wachs mit in das Grab; den Totenkranz bringen die Gevatterleute. [204]Es muß ja geschmückt seyn; denn am Johannestage geht U.L. Frau mit den kleinen Kindern und ihren Engeln in den Rothbeergarten; da dürfen sie spielen und Rothbeeren pflücken – deshalb darf die Mutter an solchen Tagen nicht von diesen Beeren essen, damit sie dem Kinde bleiben. Rötz.« − Panzer 1855, S. 13. »14. Vor dem tage Johannis darf eine mutter, welcher schon kinder gestorben sind, keine erdbeeren (rothbeeren) essen, denn an diesem tage führt die liebe himmelsmutter Maria die kleinen kindlein in’s paradies in die rothbeer. Die kinder, deren mütter schon vor Johannis rothbeeren genossen haben, müssen zurückbleiben. ›bleibt‹, spricht Maria, »zurück! Euren theil hat eure genäschige mutter schon gegessen«. Ich (der erzähler wohnt in Königstein in der Oberpfalz) kannte viele mütter, die um keinen Preis vor Johannis erdbeeren gegessen hätten. Sie pflegten zu sagen: ›o! Das thue ich meinen kindern nicht an‹. / Folgende erzählung verdanke ich herrn Wolfgang Menzel: es ist glaube, wenn ein weib des weges geht und eine erdbeere sieht, soll es dieselbe zertreten, wenn es auch noch so beschäftigt wäre. Sieht ein reiter eine erdbeere, soll er vom pferde steigen und sie essen, wenn er auch noch so eile hätte.« HDA, S. 893.

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zum dritten Mal, und dann erscheint der schwarze Mann Christus vor ihnen und lädt sie ein. Dies ist die Berufung bzw. Erwählung der Kämpfer gegen den Materialismus. Die Idee, das Pärchen als junges Abbild von Maria und Joseph darzustellen, könnte anhand des Ehepaars in Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre, I. Buch, Kap. 1–3, entwickelt worden sein. Im ersten Kapitel begegnet Wilhelm mit seinem Sohn Felix in einem Wald, in dem die Tannen-verwandten Zapfen liegen,422 einer Familie, die auf dem Gebirgsweg Waren trägt. Sie ähnelt der Szene der Flucht nach Ägypten der heiligen Familie, die Wilhelm oft gemalt gesehen hatte. Der Mann »Joseph«, Verwalter des Waldes und zugleich Zimmermeister, und seine Frau »Marie«, die ein Baby mit ihrem im Krieg verstorbenen ehemaligen Mann hat, wohnen in einem Klostergebäude »Sankt Joseph«, das durch den Verwalter »Joseph« restauriert wurde und Gemälde über die Geschichte des heiligen Joseph beherbergte. Zu Wilhelms Überraschung erzählt der Wirt, »das Gebäude hat eigentlich die Bewohner gemacht. Denn wenn das Leblose lebendig ist, so kann es auch wohl Lebendiges hervorbringen.«423 Zwei Darsteller, der handwerklich begabte Knabe und das an Maria erinnernde Mädchen, und ein Ort im Tannenwald finden sich in Schwarze Figur wie in Wilhelm Meisters Wanderjahre. Wir können somit annehmen, dass Kandinsky diese Episode aus Wilhelm Meisters Wanderjahre bewusst übernahm und damit Goethes Idee, dass der Raum mit von der Religion bestimmten Gemälden die Bewohner beeinflusse und sie selber die Geschichte der Gemälde verkörpern. Ein Unterschied zwischen den beiden Werken ist, dass bei Goethe ein Kind erzogen wird, dessen Vater nicht mehr lebt. Das Kind, das bei Goethes Abbildung der Heiligen Familie die Rolle des Jesuskindes übernehmen soll, erscheint in Kandinskys Schwarze Figur noch nicht. Jedoch kündigt der Kuckuck den Frühling an und der schwarze Mann erscheint unter dem Tannenbaum. Es ist zu vermuten, dass Kandinsky in der fünften Szene von Schwarze Figur (nach dem Ende der zweiten Offenbarung in der vierten Szene) den Beginn der dritten Offenbarung inszenieren wollte, in der die künftigen Eheleute als Erben der alten Geschichte und Kämpfer für die neue Epoche erwählt werden. Das junge Paar ähnelt der Gottesmutter und dem Ziehvater Jesu, weil damit die Geburt eines neuen Jesuskindes zu erwarten ist. Dadurch ist schlüssig, warum bei dieser Erwählung des Künstlers nicht er allein, sondern die Partnerin vorgestellt werden muss. Die Allegorie der Ehe in den beiden Testamenten, die von der Ursünde bis zur Erlösung durch die himmlische Hochzeit reicht, wird durch Kandinsky in die Welt der Volkssagen eingeführt und bereitet den neuen Weg zur dritten Offenbarung, zum Kampf für das Geistige. Der schwarze Mann hinter dem Tannenbaum Der schwarze Mann kommt unter einer Tanne heraus. Er macht »ein Paar leise Schritte« und hebt den Arm. Bei diesem Anblick ziehen die Kinder sich zurück und pressen sich aneinander. Der Mann jedoch winkt ihnen mit dem Finger und die Kinder gehen, sich an der Hand nehmend, mit zögernden Schritten zu dem Mann hin, der weiterhin winkt.

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Goethe 2008b, Buch I, Kap. 1. S.7, Z. 25. Ebd., Buch I, Kap. 2, S. 15, Z. 27.

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Der Kuckuck schreit zweimal kurz, wobei die Kinder nach ihm schauen und doch zu dem Mann gehen. Zum Schluss kommt volle Dunkelheit. Die Bezeichnung, »der schwarze Mann«, weist auf seine materiellere Körperlichkeit hin als die der »schwarzen Figur« sowie der »schwarzen Gestalt«. Alle drei Darsteller lassen sich im Wesentlichen nicht unterscheiden. Es ist bemerkenswert, dass Kandinsky die schwarze Figur bewusst je nach Szene in drei gegensätzlichen Körperlichkeiten darstellte. Die »hohe schwarze Gestalt« erscheint in der zweiten Szene, die nach der vorliegenden Interpretation das ehemalige irdische Paradies darstellt. In der vierten Szene tritt sie als die »schwarze Figur« im himmlischen Reich auf. In der fünften Szene schließlich trägt die schwarze Figur die menschliche Form eines Mannes. Die erste »Gestalt« besitzt einen langen Hals und entfernt sich von menschlicher Form. Dies könnte ein auf Kandinskys Darstellungsprinzip beruhendes Bildnis Christi als Pantokrator sowie Erlöser sein. Denn die beiden Ikonentypen zeigen einen langen schmalen Hals, der über menschliche Proportionen hinausgeht. Laut Alfredo Tradigo weist der geschwellte Hals des Pantokrators und Erlösers »auf die Fülle des Atems des Heiligen Geistes« hin.424 Neben dem Hals sind die Augenlider, Wangen geschwollen, was »die Gegenwart des Heiligen Geistes im verklärten Fleisch« anzeigen soll.425 Da in der zweiten Szene das vermeintliche Paar Adam und Eva durch die weiße Sänfte von der Ursünde erlöst wird, übernahm die schwarze Gestalt die Physiognomie des Erlösers. Dagegen wird in der vierten Szene, die nach der vorliegenden Interpretation das Kommen des Menschensohnes im Himmelreich behandelt, die Eigenschaft des Erlösers zurückgehalten. Die dritte Variante, der menschliche Körper eines Mannes der fünften und zugleich letzten Szene, bezieht sich auf die Auferstehungsgeschichte, in der der Leib Jesu nicht mehr im Grab war, weil er drei Tage nach der Kreuzigung auferstanden war.426 Wie der Kuckuck jedes Jahr nach dem Winter einen neuen Frühling verkündet, wird die Auferstehung Christi jedes Jahr zu Ostern gefeiert. So ist die Erscheinung des schwarzen Mannes vor den Kindern vermutlich kein einzelner Auftritt Christi, sondern er kann jedes Jahr vorkommen, wenn Kinder oder Künstler bereit sind, sich für den »schon begonnenen Neubau des neuen geistigen Reiches«427 zu engagieren. 4.5.6. Schluss: Himmlische Hochzeit und ihr Erbe Im Zentrum der Bühnenkomposition IV Schwarze Figur stehen die Variationen des Paars in drei Epochen, Adam und Eva im irdischen verlorenen Paradies, Christus und seine Braut (wobei diese hier nicht erscheint und nur die Brautjungfern gezeigt werden) und schließlich der Knabe und das Mädchen als das künftige Liebespaar, das in der gegenwärtigen Epoche lebt und für das neue geistige Reich erwählt wird. Die drei Typen entsprechen den drei Offenbarungen, die nach der russischen Religionsphilosophie als die Offenbarung des Vaters, des Sohnes und des Geistes428 verstanden werden. Durch

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Tradigo 2005, S. 244. Ebd., S. 247. Mt 28, 6, Mk 16, 6, Lk 24, 5–7 sowie Offb 20,14. ÜGK, S. 143. Siehe Kap. 4.1.1. Obwohl die »dritte Offenbarung« nach dem Heiligen Geist die »Offenbarung des Geistes« genannt wird, übernimmt Kandinsky für die Bezeichnung der Epoche

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die Variationen des Ehepaars werden die drei Epochen in Kandinskys eigener Logik verbunden. Darin sind die Motive der beiden Testamente, die westlich-christlichen sowie orthodoxen, ikonographischen Themen und europäische Volkssagen als eine umfassende Religionsgeschichte dargestellt. Neben den drei Paaren ist die Auserwählung durch die schwarze Figur Christus ein Leitmotiv, das drei Epochen durchdringt. In der ersten und dritten Szene werden die Menschen in Kostümen am Ufer des Weltgerichts gezeigt. Ihre Erinnerungen an das eigene Leben im Diesseits beziehen sich auf die Seligpreisungen, jedoch waren diese acht Menschen nicht auserwählt, so dass sie am Ufer auf die Fahrt der schwarzen Figur blickend, die die Auserwählten ins Himmelreich führt, zurückbleiben. Dazwischen befindet sich die zweite Szene, in der die Bäume, die einst der Baum der Erkenntnis und der des Lebens gewesen sein können, in schwarzer Farbe dargestellt werden. Dies ist das irdische verlorene Paradies, in dem die Bäume materiell nicht mehr vorhanden sind. Dort wanderten Adam und Eva, jedoch werden sie zur himmlischen Hochzeit Christi eingeladen und mit der Sänfte durch die Gläubigen ins Himmelreich gebracht. Dies zeigt die Erlösung des ersten Paars durch Christus. In der vierten Szene wird das Himmelreich mit zwei Bäumen gezeigt, dessen Blüten rot und weiß sind. Sie sind die Rosen in Mariä Himmelgarten, und die rosa gekleideten tanzenden Männer und Frauen sind die Bewohner des Himmelreichs und zugleich die Figuration der Rosen sowie die Verstorbenen, die unter dem Schutz Mariä stehen. Die Burg auf dem blauen Felsen verkörpert das himmlische Jerusalem. Vor dem Meer versammeln sich die blau gekleideten Frauenfiguren, die die auserwählten Klugen Jungfrauen als Brautjungfern darstellen. Hinter ihnen auf dem Meer erscheint die schwarze Figur. Ihr Auftritt wird auf die neutestamentarische Szene des Kommens des Menschensohnes bezogen, vom schwarzen Himmel begleitet. Dies ist ein Höhepunkt des Stücks – die himmlische Hochzeit. Die letzte Szene basiert auf einem völlig neuen Darstellungsprinzip. Da sie die gegenwärtige Epoche behandelt, werden die Körperbilder nach dem materiell-gegenständlichen Gesetz gezeigt. Jedoch lassen sich die Gegenstände – Tannen, Kuckuck sowie Erdbeeren – im Hinblick auf Volkssagen interpretieren. Durch die Bildlichkeit der Volkssagen wird ein Ort inszeniert, an dem der Glaube an das Christentum lebendig weitergegeben wird und der neue Kampf für das Geistige und gegen Materialismus stattfinden soll. Dies ist der Beginn der Epoche des Geistigen. Der Knabe und das Mädchen, die durch den schwarzen Mann unter dem Tannenbaum berufen werden, üben dieselben Tätigkeiten aus wie die Heilige Familie. Hinter der Idee, den Kindern das frühe Bildnis von Joseph und Maria zu verleihen, könnte die Inspiration durch Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre stehen. Der Knabe wurde als der künftige Reiter bzw. Kämpfer für das neue geistige Reich erwählt, vermutlich weil seine Ambition zur künstlerischen Schöpfung die Grundlage für die Mission des Geistigen ist. Das

nicht das Wort »des Geistes«, sondern nennt die Gegenwart die »Epoche des großen Geistigen« (ÜGK, S. 143, GSI, S. 45 und 48). Offensichtlich unterscheidet er die beiden Bezeichnungen, jedoch wird nicht definiert, weshalb der Name der dritten Epoche nicht »des Geistes« sein darf, sondern »des großen Geistigen« sein soll. Vermutlich musste die christliche Bezeichnung vermieden werden, weil die Kunst der neuen Epoche für alle Völker und auch für nicht christliche Kulturen offen sein soll.

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Mädchen verkörpert dabei die Gottesmutter, d.h. sie wirkt als Schutzmantel des Kindes und bereitet ihm geistige Nahrung. Da laut Kandinsky der Künstler selbst einem Kinde gleicht, könnte das Mädchen als Hüterin des Künstlers gedacht worden sein. Dadurch könnten die beiden selbst ein Abbild der Heiligen Familie sein, und dies ist die Grundlage der künftigen Geburt des Messias. Dass Christus als der schwarze Mann auftritt, beruht darauf, dass Jesus nach der Kreuzigung in seinem Leib auferstand. Da in der dritten Epoche des Geistigen noch das materielle Gesetz dominiert, wurde der Körper Christi in der fünften Szene nicht als abstrakte »Figur«, sondern als »Mann« dargestellt, so dass die Darstellungsebene des Körpers Christi der des Knaben und des Mädchens angepasst wurde. Auch kann der menschliche Körper des Mannes auf die Inkarnation hinweisen. Der Kuckuck als Frühlingsbote kündigt dabei die Osterfeier an.

4.6. Nachspiel (Ohne Musik) Im Manuskript von Nachspiel (Ohne Musik) [um 1909] lassen sich keine klaren Hinweise darauf finden, dass das Stück zu einer Bühnenkomposition gehört oder aber als ein autonomes Bühnenwerk gedacht wurde. Jedoch zeigt der Darstellungsstil von Nachspiel, worauf die Herausgeberin des Textes, Jessica Boissel, hinweist, eine deutliche Annäherung an die frühen Bühnenkompositionen, und zwar deutlicher als an das spätere Werk Violett (Eine Bühnenkomposition) (1914/1927).429 In Violett scheinen einige Motive aus den Bühnenkompositionen II bis IV übernommen worden zu sein, und es erhält eine Apotheose genannte Szene, deren Titel von Kandinsky durchgestrichen und durch »Nachspiel« ersetzt wurde.430 Darum ist denkbar, dass Nachspiel, das ursprünglich den frühen Bühnenkompositionen zuzuordnen war, bei der Neuauffassung zu Violett als Apotheose hinzugefügt wurde, wobei Nachspiel und Apotheose sich in ihrem Gestaltungsprinzip unterscheiden; anders als in Nachspiel sind in Apotheose keine Körperbilder mehr zu finden, sondern nur geometrische Formen, als ob es Kandinsky in der letzten Szene von Violett darum geht, nur die abstrakten Formen und Farben triumphieren zu lassen.431 Hier wird vorgeschlagen, Nachspiel als das abschließende Werk für die Tetralogie der frühen Bühnenkompositionen zu verstehen. Begründet wird dies durch die Verbindung der Körperbilder zwischen den frühen vier Werken und Nachspiel sowie die Gemeinsamkeit in der Themenwahl. In dem Einakter Nachspiel erscheinen ganz grellrote Figuren, grellrosa Figuren, eine greisenartige ganz schwarze Figur mit langem ,schmalem weißem Bart, eine große Anzahl Nonnen mit weißen Gesichtern und schwarzen Äugelchen und ein sehr großer blauer Mann. Während die grellroten Figuren, die grellrosa Figuren sowie die schwarze Greisenfigur die Treppe des Hügels im hinteren Raum der Bühne hinaufsteigen und sich auf die weiße Bank auf dem Hügel dicht

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ÜT, S. 119. Ebd. Ebd. Von der Herausgeberin wurde Apotheose »ein das Schauspiel abschließendes wahres Feuerwerk« genannt.

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nebeneinander hinsetzen, laufen im Vordergrund von links eine große Anzahl Nonnen. Die Nonnen werden im Vergleich zu den hinteren Figuren auf dem Hügel kleiner dargestellt. Nach einer Pause erscheint ein »sehr großer blauer Mann (alles blau)« von rechts nahe an der Rampe. Er schleppt einen sehr großen, schweren grellroten Balken. Das eine Ende liegt auf seiner Schulter und das andere auf dem Boden. Dann sagt die greisenartige Figur: »Nun jetzt kann auch die Sonne aufgehen« in »(ruhige[m], fast mechanische[m], aber einfache[m] Ton)«. Als hinter dem Hügel links die »riesige« grellrote Sonne aufsteigt, werden alle anderen Farben »übertönt und totgeschlagen«. Alle bleiben unbeweglich, und der Hintergrund ist ziemlich tief violett. Danach kommt plötzlich die Dunkelheit, und das Stück endet. 4.6.1. Analyse von Nachspiel Die »Figuren«, die auf dem Hügel im hinteren Raum sind, und die »Menschen« im vorderen Raum scheinen nach gegensätzlichen Körperlichkeiten dargestellt worden zu sein. Die Darstellung erinnert an die letzte Szene der Bühnenkomposition IV Schwarze Figur, in der der Wechsel der zwei Epochen sowie der Darstellungsgesetze durch gegensätzliche Körperbilder dargestellt wurden. Dabei handelte es sich um das Ende der zweiten Offenbarung bzw. der Epoche des »Sohnes« und den Beginn der »dritten Offenbarung« – der »Epoche des Geistigen«. So ist zu vermuten, dass sich der hintere Raum mit dem Sonnenaufgang auf die Szene der Offenbarung des Johannes bezieht, während die vordere Welt den schon begonnenen Kampf in der »Epoche des Geistigen« darstellt. Grellrote Figuren und grellrosa Figuren Die kollektiven grellroten Figuren und die grellrosafarbigen Figuren im hinteren Raum ähneln den Menschen, die im dritten Bild der Bühnenkomposition I Riesen und im vierten Bild der Bühnenkomposition IV Schwarze Figur erschienen und im Reigen tanzten. Nach der vorhergehenden Interpretation beziehen sich diese Menschen auf die Bewohner des irdischen Jerusalem432 bzw. die des himmlischen Jerusalem.433 Sie stehen für zwei Paradiestypen, die dem Alten Testament und dem Neuen Testament entsprechen. In Nachspiel treten sie zusammen in einer sublimierteren Körperlichkeit auf und besteigen die weiße Bank. Da sie ursprünglich für gegensätzliche Religionen stehen, verkörpert die Besteigung der Bank Kandinskys Ideal der Vereinigung der zwei Epochen sowie der dazugehörigen Menschen. Die Körperlichkeit der Figuren wird im Vergleich zu den ursprünglichen »Menschen« in den frühen Bühnenkompositionen noch abstrakter dargestellt. In Riesen trugen die Menschen rote »Trachten«, in Nachspiel werden die Charaktere als grellrote Figuren abstrahiert. Auch die in rosa gekleideten Liebespaare in Schwarze Figur werden in Nachspiel als »Figuren« dargestellt. Dies erinnert an die erste und dritte Szene von Schwarze Figur, in denen die Menschen in »Trachten« sich vor dem Weltgericht über

432 433

Siehe Kap. 4.2.3. Siehe Kap. 4.5.4.

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ihr diesseitiges Leben unterhielten und schließlich nicht auf dem schwarzen Kahn ins Himmelreich einreisen durften. Die Auserwählten, die ins Himmelreich einziehen, werden dagegen als blaue Figuren gezeigt. Daher war zu vermuten, dass nach dem Weltgericht die Auserwählten keine »Trachten« mehr tragen, die die Zugehörigkeiten der Träger zu Kultur, Religion und Staat verdeutlichen. Stattdessen werden sie in reine Farbgestalt sublimiert. Die grellroten und grellrosafarbigen Figuren in Nachspiel stellen daher die Bewohner einer Utopie nach dem Jüngsten Tag dar, die aus einer »neuen Erde« und einem »neuen Himmel«434 besteht. Grellrot und Grellrosa werden in dieser Szene als verwandte Farben benutzt. So ist die Gegensätzlichkeit der Erde und des Himmels in Kandinskys abstrakter Farbwelt zu überwinden. Dies könnte seinen Entschluss ausdrücken, für die utopische Weltdarstellung nach dem Weltgericht äußerliche Differenzen der materiellen Körper, die Konflikte zwischen Kulturen sowie Religionen verursachen, zu streichen und als reine Farben zu betrachten, die im großen Sinne miteinander verwandt sind, wie Kandinsky in der Tafel zur Farbbeziehung (Abb. 5) in Über das Geistige in der Kunst zeigt. Von der Abstraktion betrachtet sind alle Farben außer Schwarz und Weiß in einem Kreis darstellbar. Die Abstrahierung der Körperbilder bedeutet daher die Überwindung der äußeren Merkmale und Lösung der Differenzen, um in eine utopische Welt zu gelangen, in der alle Farben in Harmonie und Disharmonie – die »Consonanz« von »morgen«435 – miteinander in Frieden leben können. So ist die weitere Entwicklung des malerischen Œuvres Kandinskys – der Weg zur Abstraktion – in Nachspiel als sein Bekenntnis vorhersehbar. Die weiße Bank auf dem Hügel könnte den »Thron Gottes und des Lammes«436 symbolisieren. Demnach steht beim Weltgericht ein »großer, weißer Thron«.437 Die sitzenden grellroten und grellrosa Figuren könnten daher die »Knechte«438 Gottes sein. Gott selbst sowie Christus werden in Nachspiel zwar nicht dargestellt, aber die Besteigung des Throns durch die beiden wird durch die aufgehende riesige Sonne symbolisiert, die das Licht Gottes verkörpert. Eine greisenartige ganz schwarze Figur mit langem schmalen weißen Bart Die schwarze greisenartige Figur ist vermutlich identisch mit dem »weißbärtigen schwarzen Mann« im vierten Bild von Riesen, der als Prophet Simeon zu verstehen ist.439 Simeon tritt in Nachspiel auf, vermutlich weil er von der Erlösung aller Völker sprach.440 Für die

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Offb 21, 2. »die ›heutige‹ malerische und musikalische Dissonanz ist nichts als die Consonanz von ›morgen‹.« Brief von Kandinsky an Schönberg, 18.Jan.1911, zitiert nach Zimmermann 2002, S. 173. Siehe Offb 20, 4ff. Offb 20, 11. Offb 22, 3. »Und der Thron Gottes und des Lammes wird in der Stadt sein, und seine Knechte werden ihm dienen [...].« Siehe Kap. 4.2.4. Lk 2, 29–32. »Herr, nun läßt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, den du bereitet hast vor allen Völkern, ein Licht, zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.«

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christliche Logik spielte dies eine wichtige Rolle, weil er als frommer Jude im Jesuskind – im Träger des Christentums – den »Heiland« sah. So steht die greisenartige schwarze Figur als Friedensrichter zwischen den grellroten und grellrosafarbigen Figuren. Die Körperlichkeit der Figuren auf dem Hügel ist abstrakter und größer als die der Nonnen im vorderen Raum. Hier ist offensichtlich auch die Technik der Ikone, die A-Perspektive, verwendet worden. Demnach wird die Hauptfigur, die in der tiefsten Ebene des Raums gemalt wird, im Verhältnis zu den anderen Personen größer dargestellt, weil die Ikone die Raumanschauung aus der Sicht der Hauptperson verwirklicht.441 Für die Größe der Körperbilder in den Bühnenkompositionen wurde vermutlich die Darstellung der Ikone übernommen, und dies könnte Kandinskys Auffassung von ihrer geistigen Bedeutung entsprechen. So bilden der hintere und der vordere Raum eine ikonenhafte Gesamtansicht. Eine große Anzahl Nonnen mit weißen Gesichtern Die Kleidungsfarbe der Nonnen wird von Kandinsky nicht bestimmt, so tragen sie vermutlich ein schwarzes Nonnenkostüm sowie eine Nonnenhaube. Ihre weißen Gesichter könnten auf eine innerliche Verwandtschaft mit den blauen Frauenfiguren im vierten Bild von Schwarze Figur hinweisen, die in der vorhergehenden Analyse als Kluge Jungfrauen identifiziert wurden. Die Fingergestik der blauen Figuren ähnelte der Gestik für die Ordensregel der Schweigsamkeit.442 So könnten die Nonnen mit den blauen Figuren der Auserwählten in Verbindung gebracht werden. Die Nonnen gehen von links über die Bühne »eilend dicht hintereinander, etwas nach vorne geneigt« und »alle vor sich schauend«. Die letzte »dreht plötzlich (bevor sie die Bühne verläßt) zu den Zuschauern ihr weißes Gesicht mit kleinen schwarzen Äugelchen«. Im Bezug zu den Klugen Jungfrauen erinnert die Eile der Nonnen an das plötzliche Kommen des Bräutigams, wobei hier keine schwarze Figur Christi zu sehen ist, sondern ein sehr großer blauer Mann nach einer Pause von rechts auf die Bühne tritt. Ob die Nonnen und der blaue Mann in Verbindung miteinander zu sehen sind, ist nicht klar, jedoch kann der rote Balken des Mannes mit dem Kreuz Christi verglichen werden. So könnten die eilenden Nonnen den bevorstehenden oder begonnenen Kampf für das Geistige andeuten. Ein sehr großer blauer Mann mit einem grellroten Balken Dem blauen Mann verlieh Kandinsky die Körperlichkeit, die dessen geistigem Charakter entspricht. Die Zeilen, die später hinzugeschrieben wurden, lauten, er sei »(alles Blau)« und »sehr groß.« Er gehört trotz der nicht-naturalistischen Darstellung zum vorderen materiellen Raum, der sich vom hinteren Raum der Bühne unterscheidet. So ist zu vermuten, dass dieser blaue Mann in der von Kandinsky »dritten Offenbarung« genannten, begonnenen Epoche für das Geistige steht. Obwohl er einen roten Balken trägt, der

441 442

Siehe Kap. 2.1.5. Siehe Kap. 4.5.4.

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an das Kreuz erinnert, unterscheidet sich die Farbe von dem grellgelben Riesen in Kreuzform, so dass er nicht mit der Figur Christi identisch ist. Jedoch nennt Kandinsky die Kunst »eine der mächtigsten Agentien«443 des »geistigen Lebens« und vergleicht die Aufgabe eines Künstlers mit der Aufgabe Christi. Zum Künstler schreibt er in Über das Geistige in der Kunst, »Da kommt aber unfehlbar einer von uns Menschen, der in allem uns gleich ist, aber eine geheimnisvoll in ihn gepflanzte Kraft des ›Sehens‹ in sich birgt.«444 Demnach ähnele die höhere Gabe des Künstlers einem »schweren Kreuz.« Er möge sich dessen entledigen wollen, kann aber nicht, und zieht »die sich sträubende, in Steinen steckende schwere Karre der Menschheit mit sich immer vor- und aufwärts«.445 Am Ende derselben programmatischen Schrift bezeichnet Kandinsky nochmals die Aufgabe des Künstlers als »sein Kreuz«.446 So ist offensichtlich, dass dieser blaue Mann einen Künstler darstellt, der eine große Last trägt und für das »geistige Leben« kämpft. Der grellrote Balken, dessen eines Ende auf der Schulter des blauen Mannes getragen und dessen anderes Ende auf der Erde geschleppt wird, kann durch die Farbsymbolik in Über das Geistige in der Kunst nur schwer bestimmt werden, weil die Bedeutung von Rot relativ breit gefasst wird.447 Beispielsweise ordnete Kandinsky Rot je nach der Abstufung musikalische Metaphern zu, wie die »Trompete«,448 »Fanfaren, wobei die Tuba beiklingt«, den Ton der Tuba »mit starken Trommelschlägen«, ein »Element von Leidenschaften tragenden, mittleren und tieferen Tönen des Cellos« sowie eine »mittlere Kirchenglocke, die zum Angelus ruft« oder eine »starke Altstimme, wie eine Largo singende Altgeige«.449 So könnte die Symbolik von Rot von Blechbläsern, Trommel, Streichern bis zur Menschenstimme variiert werden. Jedoch kann das im vorhergehenden Absatz genannte Zitat über die »schwere Karre der Menschheit«, die der Künstler trage, mit dem roten Balken des blauen Mannes verglichen werden. So ist zu vermuten, dass der rote Balken die gesamte Menschheit symbolisiert und die Farbe dabei deren Vielfältigkeit ausdrückt. Auch die grellroten Figuren im hinteren Raum der Bühne könnten darauf hinweisen, dass die Menschen der Erde in Grellrot dargestellt werden. Der blaue Mann trat in den frühen Bühnenkompositionen zwar nicht auf, die Berufung des Mannes oder seines Vaters fand jedoch bereits im fünften Bild von Schwarze Figur statt. Der Knabe, der Stöckchen hobelte, wurde von der schwarzen Figur eingeladen, weil der Knabe künstlerisches Vorhaben hatte. Später wird dieser blaue Mann als der blaue Reiter in Kandinskys Bildmotiv übernommen. So stellt der blaue Mann mit dem roten Balken ein Bindeglied von Schwarze Figur zum Almanach Der blaue Reiter dar. 443 444 445 446 447

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ÜGK, S. 26. Ebd., S. 27. Ebd. Ebd., S. 135. Ebd., S. 99ff. »Dieses ideale Rot kann aber in realer Wirklichkeit große Änderungen, Abschweifungen und Verschiedenheiten dulden. Das Rot ist sehr reich und verschieden in der materiellen Form. Man denke sich nur: Saturnrot, Zinnoberrot, Englischrot, Krapplack, vom hellsten in die dunkelsten Töne!« Ebd., S. 67. Ebd., S. 100–102.

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Die aufgehende grellrote Sonne Die greisenartige schwarze Figur kündigt den Sonnenaufgang an. Dies symbolisiert das Licht Gottes im Himmelreich und schließt damit die Endszene der Apokalypse des Johannes ab.450 Der Sonnenaufgang lässt sich als Folge der untergehenden Mondsichel im ersten Bild der Bühnenkomposition IV Schwarze Figur451 sowie des schwarzen Himmels beim Kommen des Menschensohnes im vierten Bild desselben Werks452 verstehen. Die aufgehende riesige Sonne ist nach Kandinskys Beschreibung so grell rot, »daß sie alles andere übertönt und totschlägt«. In Über das Geistige in der Kunst verwendet er die Sonne als Metapher für »Selbstopfer, Hilfe, reine hohe Gedanken, Liebe, Altruismus, Freude an anderer Glück, Humanität, Gerechtigkeit«.453 Demnach töten solche Motive die gegensätzlichen Elemente wie »Selbstmorde, Morde, Gewalttaten, unwürdige, niedere Gedanken, Haß, Feindseligkeit, Egoismus, Neid, ›Patriotismus‹, Parteilichkeit«, wie »die Sonne die Mikroben« tötet, und stellen »reine Atmosphäre« her.454 Kandinsky merkt dabei an, dass die ersteren Wesen in der Geschichte des Christentums bekannt sind. So könnte der Sonnenaufgang sowie die Übertönung durch die grellrote Farbe des Lichtes in Nachspiel als Vollendung der Reinigung in der »zweiten Offenbarung« verstanden werden. Die Sonne bedeckt fast die Hälfte der Szenerie, und der blaue Hintergrund wird durch das grellrote Farblicht der Sonne »violett ziemlich tief« übertönt. Neben dem blauen Hügel könnte die Sonne wie ein roter kreisförmiger zweiter Hügel aussehen. Dies ruft die Frage hervor, wie das Verhältnis zwischen dem Grellrot der Sonne und dem Blau des Hügels sowie dem grellroten Balken und dem blauen Mann zu verstehen ist. Kandinsky benutzte offensichtlich dasselbe Motiv aus Nachspiel für ein Plakat der Neuen Künstlervereinigung München (1910) (Abb. 45). Ein Einbandentwurf für Über das Geistige in der Kunst (1910) lässt sich auch als eine Variante desselben Motivs verstehen, wobei hier der rote Balken statt der Sonne wie ein Lichtstrahl erscheint (Abb. 46). Offensichtlich ist, dass das Motiv des Hügels und der Sonne von Nachspiel weiter abstrahiert und als das vorläufige Titelbild zur künstlerischen Aktivität Kandinskys um 1910 aufgenommen wurde, jedoch verlor es seinen Kontext im Prozess der Abstraktion und fungierte als eine neue Sprache. Ähnlich wie der gelbe Klang in Riesen und Der gelbe Klang den Beginn einer neuen Epoche verkündet, lässt die Szene von Nachspiel mit dem blauen Hügel und der grellroten Sonne den Beginn der neuen abstrakten Kunstform erahnen.

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Offb 21, 23a. »Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, daß sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm.« Sowie Offb 22, 5. Eigentlich steht in Johannes Offenbarung, die Sonne existiere nicht mehr. Daher soll die Sonne in Nachspiel als keine wirkliche Sonne, sondern als eine Metapher des Lichts Gottes verstanden werden. Siehe Kap. 4.5.1. Siehe Kap. 4.5.4. ÜGK, S. 107. Ebd.

203

4.6.2. Schluss: Aufgabe des Künstlers Die Übernahme der Darsteller aus den frühen Bühnenkompositionen macht deutlich, dass Nachspiel als abschließendes Werk der Tetralogie gedacht wurde. Die Szene umfasst die Folge der gesamten Handlung der vier Stücke und weist auf einen neuen Weg des Künstlers hin. Während die Bewohner der Erde und des Himmels nach dem Jüngsten Gericht in der sublimierteren Form zusammen im Himmelreich wohnen, findet die Besteigung des Throns Gottes statt. Der greise Simeon verbindet dabei die gegensätzlichen Religionen in einer Einheit. Die Abstraktion wird als neue Form der Vereinigung angesehen und die damit verbundene Aufgabe trägt ein sehr großer blauer Mann als Vertreter des Künstlers. Die grellrote Sonne am blauen Hügel sowie der blaue Mann mit dem grellroten Balken symbolisieren Kandinskys Bekenntnis zur Kunstmission, für den »schon begonnenen Neubau des neuen geistigen Reiches« in der »Epoche des großen Geistigen«455 zu kämpfen. So kann die gesamte Tetralogie der vier frühen Bühnenkompositionen einschließlich Nachspiel als ein »monumentales Kunstwerk«456 des Künstlers verstanden werden. Später entwickelte sich der große blaue Mann zur Titelfigur des blauen Reiters. So können die Berufungsszene des Knaben im fünften Bild der Bühnenkomposition IV Schwarze Figur und die Szene von Nachspiel mit Kandinskys Aquarellen sowie der Hinterglasmalerei »Mit Schwan« (Abb. 47) als verbunden betrachtet werden. Das Motiv des Reiters erschien zwar in Kandinskys früher Malerei, jedoch war nicht klar, ob eine bestimmte Geschichte wie ein Märchen oder ein Roman dem Reiter zugrunde liegt, wobei die Ikone des Heiligen Georgs bisher immer als Ursprung betrachtet wurde. In der vorliegenden Interpretation von Bühnenkomposition III Schwarze Figur wurde vorgeschlagen, dass das Motiv des Kreuzzugs aus Torquato Tassos Das befreite Jerusalem übernommen worden sein kann. Der schwarze Ritter gehört zur »Epoche des Sohnes« und der Knabe sowie der blaue Mann zur dritten Epoche. So kann das Konzept der Tetralogie als Vorspiel für den modernen Kreuzzug Kandinskys verstanden werden, durch eine abstrakte Weltsprache der Kunst alle Differenzen der Völker, Kulturen sowie Religionen zu überwinden.

455 456

Ebd., S. 143. ÜGK, S. 125: »[...] die Bühnenkomposition zu verwirklichen, welche das erste Werk der monumentalen Kunst sein wird.«

204

5.

Schluss

Die Entstehungsjahre der vier frühen Bühnenkompositionen Kandinskys lagen zwischen einer Phase der Schwermut und der folgenden Regeneration des Künstlers. Die zu Lebzeiten Kandinskys nicht publizierten vier Bühnenwerke entstanden vom Winter 1908 bis zum Frühjahr 1909 und bilden einschließlich eines Einakters Nachspiel eine Tetralogie. In der vorliegenden Studie wurden die genannten Werke, deren Bedeutung als Tetralogie bisher nicht bewiesen war, mit Hilfe der Analyse der Körperbilder sowie der Bewegungen zum ersten Mal vollständig interpretiert. Kandinsky drückt in den vier frühen Bühnenkompositionen und im Nachspiel seine eigene Sicht der christlichen Weltgeschichte aus und schließt mit einer Vorgeschichte bzw. mit der Berufung des Künstlers, der als Reiter für die »Epoche des großen Geistigen« kämpfen soll. Die Schlussfolgerung der Tetralogie war es, durch Abstraktion die Differenzen der Kulturen, Sprachen, Religionen und Völker zu überwinden und eine universelle Weltsprache der Kunst zu schaffen. So bedeutete die Tetralogie für den Künstler eine »monumentale Kunst«, die wegweisend für seine kunstmissionarische Aufgabe war. In den vier Bühnenkompositionen unternahm Kandinsky eine ernste Auseinandersetzung mit der Darstellbarkeit des Geistigen auf der Bühne. Die Experimentierobjekte waren die Körperbilder und die Bewegungssprache. Diese beiden drücken als zentrale Medien Kandinskys Überlegungen zu Farben und Formen aus. Auf die Körperbilder der frühen Bühnenkompositionen ist der Einfluss der zeitgenössischen Künste sowie Ideen denkbar, zu denen das romantische Körperkonzept der Ethnographie, Maeterlincks Theater für Marionetten, Edward Gordon Craigs Übermarionette sowie die Bilderwelt der Theosophie zu rechnen sind. Einerseits wurde die Sehnsucht nach dem Primitiven sowie der Folklore durch Trachten dargestellt, andererseits suchten die Körperbilder ihren geistigen Charakter anschaulich zu machen. So bestimmte Kandinsky die Körperlichkeit der Darsteller zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion, und dies entsprach ihrem Charakter auf einer Skala zwischen dem Materiellen und dem Geistigen. So existieren in den frühen Bühnenkompositionen Menschen, Figuren und Gestalten, und ihr Grad der Körperlichkeit dient der Identifikation. Das Attribut der Farbe der Körperbilder war vermutlich von der theosophischen oder anthroposophischen Bilderwelt inspiriert. Die Farbregionen sind das Gesicht und der Körper. Die gegenständlichen Menschen zeigen ihre normalen Gesichter. Dagegen weisen die geistig-höheren Figuren bestimmte Farben für Gesicht und Körper auf. Die dem Geisteigen nächste Erscheinung trägt nur eine Farbe auf dem gesamten Körper. Die Farben drücken die innere Eigenschaft der Figuren aus. Einen weiteren und wesentlichen Einfluss für seine Körperbilder erhielt Kandinsky von der Ikone. Die ikonentypische Darstellungstechnik wie die A-Perspektive stellte für ihn den geistigen Charakter dar. So übernahm er sie in die frühen Bühnenkompositionen und experimen205

tierte auf der Bühne mit der Darstellbarkeit des Geistigen. Die Übersetzung des geistigen Charakters erfolgte bei Kandinsky durch die Abstrahierung der Körperbilder. Dies entsprach seiner Absicht, eine alle Kulturen sowie Religionen umfassende Kunstsprache zu erfinden, denn solange die Körperbilder die Identität (wie z.B. Christus oder Maria) offenbaren, können sie nur für Christen zugänglich sein. Durch die Abstraktion versteckte Kandinsky die eigentliche Identität der Figuren und befreite sie vom christlichen Kontext, so dass sie keine religionsbedingte Abgrenzung hervorrief. Hier lässt sich der Ursprung des Prozesses der Abstraktion in seinem Œuvre erkennen. Das zweite Experimentierobjekt war die Bewegungssprache. Die Bewegung auf der Bühne ist eine Sprache, die keine Worte benötigt. Daher wurde sie von Kandinsky als die Hauptsprache der Bühne gewählt. Er bestimmte die Bewegung sogar als Metapher für die minimale Einheit der Kunstmittel sowie als den gemeinsamen Teiler aller Künste, so dass auf der Bühne die unterschiedlichen Elemente der »Bewegung« auf der gleichen Meta-Ebene betrachtet werden konnten, wobei die Metapher der »Bewegung« später mit »Klang« ersetzt wurde, so dass die wesentlichen Elemente von den praktischen Bühnenbewegungen unterschieden wurden. Die frühen Bühnenkompositionen enthalten nur wenig Sprachtext. Die Figuren spielen hauptsächlich mit einfachen Bewegungen. Kandinsky versuchte, da er der zeitgenössischen Tanzsprache, wie der vom Ballett und von Isadora Duncan, kritisch gegenüberstand, eine neue Bewegungssprache einzuführen. Zur Analyse der Bewegungssprache war das Konzept von Alexander Sacharoff und Vsewolod Meyerhold aufschlussreich, wobei Kandinskys Beziehung zu Meyerhold nicht nachzuweisen ist. Duncan, Sacharoff, Meyerhold und Kandinsky gemeinsam war die Übernahme des Bewegungsstils aus Vorlagen der bildenden Kunst. Duncan studierte den Stil der antiken Griechen sowie der italienischen Künste in der Renaissance, Sacharoff entnahm gestische Elemente aus den antiken griechischen Künsten, aus religiösen Zeremonien sowie den göttlichen Skulpturen, wie etwa Schiwa, oder aus der französischen Hofkultur. Meyerhold schlug für das Theater eine Stilisierung der Bewegung vor, wie er sie aus der bildenden Kunst der italienischen Renaissance kannte. So war die neue Bewegungssprache kurz vor Beginn des Ausdruckstanzes durch die Begegnung mit stilisierten Bewegungssprachen in anderen Kunstbereichen zu erreichen. Kandinsky sah die Gestik in der Ikone sowie die christlich-ikonographische Bewegungssprache als Vorbild und führte sie als Sprache der geistig-höheren Darsteller ein. Die von Kandinsky benutzten Bewegungen konnten semiotisch in vier Kategorien – das gestische Zeichen, das mimische Zeichen, das proxemische Zeichen und der Tanz als Komplex mehrerer Zeichen – eingeordnet werden. Das gestische Zeichen wird im Zusammenhang mit dem Grad der Körperlichkeit von der alltäglichen bis zur ikonenhaften Gestik variiert. Das mimische Zeichen wird durch die Gesichtsfarben ersetzt. Das proxemische Zeichen wie Laufen und Gehen wird ausschließlich für kollektive Figuren benutzt und dient dem raumkompositorischen Zweck. Kandinsky bevorzugte eine Tanzform besonders: den Reigen. Er wird in den ersten und vierten Bühnenkompositionen als Darstellung des irdischen und himmlischen Paradieses verwendet. Dies drückt die universelle Form des Kreises aus und symbolisiert die Synthese der Künste, der Menschen sowie der Farben. Aufgrund der Studie der Körperlichkeit sowie der Bewegungssprache ergaben sich in den Analysen der frühen Bühnenkompositionen einschließlich des Einakters Nach206

spiel neue Interpretationsmöglichkeiten, die Figuren sowie Bewegungen bzgl. Formen und Farben ikonographisch zu analysieren. Somit wurde die These dieser Studie, Kandinskys vier frühe Bühnenkompositionen als Tetralogie zu verstehen, sowie die Motivation des Künstlers zu den Werken, zur Wende der Epoche ein »Monument« zu entwerfen, bestätigt. Die folgenden Interpretationen werden in dieser Studie vorgeschlagen bzw. entziffert: Die erste Bühnenkomposition Riesen, woraus das überarbeitete Werk Der gelbe Klang – Eine Bühnenkomposition entstand, enthält fünf Bilder und behandelt die Prophezeiung der Geburt des Messias sowie ihre Erfüllung. Im ersten Bild erscheinen fünf gelbe Riesen, die als Propheten identifiziert wurden. Ihr Bassgesang wird von den roten vogelartigen Gestalten begleitet, die nach der christlichen Ikonographie als Cherubim zu verstehen sind und die Geburt des Messias verkünden. Im zweiten Bild blühen die Blumen, die als Glauben zu interpretieren sind, jedoch werden die Gläubigen verfolgt und hingerichtet. Im überarbeiteten gleichwertigen Bild von Der gelbe Klang erscheint dabei eine große gelbe Blume, die als Darstellung des Messias in der Prophezeiung verstehen lässt. Die Form der Blüte gleicht der von Malva Alcea, die auf Deutsch nach dem Namen von Simeon dem Gottesträger als Simeonskraut bezeichnet wird, der lange auf die Geburt des Messias wartete. Das dritte Bild zeigt die Szene der Gründung Israels durch David. Völker in unterschiedlich gefärbten Kostümen erscheinen auf der Bühne. Die grau gekleideten Menschen, die als Erste auftreten, verkörpern die Urfarbe Gottes, die in sich die Mischung der Gegensätze Weiß und Schwarz, Leben und Tod sowie Anfang und Ende darstellt. Nach dem Einsatz des weißen Mannes, der David verkörpert, bilden die rotgekleideten Menschen einen Reigen wie im Paradiesgarten. Der Reigen steht in der Tetralogie für das Symbol des irdischen und himmlischen Jerusalem und gleicht auch der Vereinigung der verschiedenen Völker. Anschließend wird im vierten Bild die Geburt des Messias durch die Szene des Tempelbesuchs Jesu gezeigt. Das Jesuskind sowie der Greis Simeon werden in Schwarz dargestellt, weil ihre Körper als Materie geringste Bedeutung haben und als Schatten gelten. Während das schwarze Kind die Glocken läutet, sagt Simeon die Erlösung Israels durch die Opferung Christi voraus. Im fünften Bild wird die Kreuzigung Christi durch einen hellgelben Riesen verwirklicht. Dieser meint den geistigen Körper Christi, dessen physischer Teil durch den Tod verloren ging, und die wahre Gestalt als Riese erscheint, der den Charakter der Propheten symbolisiert. Die nach unten gerichteten Handflächen des Riesen weisen auf die Ikone Kreuzerhöhung hin und verkünden die Anerkennung und Verbreitung des Christentums, wodurch sich die Prophezeiung der fünf Riesen im ersten Bild erfüllt. Die durch das erste Werk dominante Farbe Gelb steht schließlich für die Verkündung sowie Offenbarung, die dem Klang der Prophezeiung verliehen wird. Die Bühnenkomposition II Stimmen (umbenannt Grüner Klang) besteht aus zwei Bildern, die durch das Motiv der Verklärung verbunden werden. Im ersten Bild wird die Ikone Verklärung Jesu nach Kandinskys Farbsymbolik gezeigt. Jesus steht als schwarzer Mann, und drei Apostel mit grünlichen Gesichtern sitzen, sich zusammenkauernd. Ein Mann im Kleid von bunten Flecken geht über die Bühne. Sogleich entsteht eine größere Undeutlichkeit und Lärm. Dies ist der Auftritt von Elia, der in der Ikone Verklärung Christi einen farbig-fleckigen Mantel trägt. Die Szene symbolisiert eine friedliche Beziehung des Christentums und des Judentums, denn im Neuen Tes207

tament verspricht Petrus in der entsprechenden Szene, drei Gebetsstätten für Jesus, Mose und Elia zu bauen. Dieses Versprechen wird im zweiten Bild des Jüngsten Gerichts durch zwei grüne Frauen verkörpert. Die eine steht für Ecclesia, die Figuration der christlichen Kirche, und die andere für Synagoge, die Figuration des jüdischen Tempels. Die zwei dabei klingenden Lieder, der Liebesmonolog und das Klagelied, symbolisieren die zwei Frauen und beschreiben die Verklärung sowie Vereinigung des Anfangs und des Endes sowie den Trost des Leidenden. Da der Titel Stimmen später als Grüner Klang umbenannt wurde, werden die beiden Lieder als Einklang von zwei grünen Frauen, Ecclesia und Synagoge, verstanden. Dies ist Kandinskys Vision des Jüngsten Gerichts, an dem die zwei gegenüberstehenden Figurationen im Konzept der Verklärung auf der abstrakten Ebene die gleiche Farbe Grün tragen und eine harmonisch Verbündete bilden. Die dritte Bühnenkomposition Schwarz und weiß, die aus vier Bildern besteht, thematisiert die Vereinigung der gegensätzlichen Titelfarben, die Tod und Leben sowie Orient und Okzident symbolisieren. Viele Indizien zeigten, dass zu diesem Stück Tassos Das befreite Jerusalem als eine Inspirationsquelle gedient haben kann. Auf diesem Epos basierend, werden die Motive der Ikone Entschlafen Mariä und des Kreuzzugs parallel gezeigt. Im ersten Bild sitzt eine weiße riesige Figur, die die Gottesmutter Maria selbst bzw. die Ikone Maria darstellt. Die Figur wird durch die schwarze Figur, die als Christus zu identifizieren ist, zum Tod geleitet, wie er in der Ikone Entschlafen Mariä ihre Seele empfängt. Zugleich thematisiert diese Szene das Verschwinden der Ikone Mariä in Das befreite Jerusalem. Im zweiten Bild kämpfen die zwei Parteien um Jerusalem, wobei inmitten des Kreuzzugs auch Liebespaare zwischen den beiden Feindeslagern entstehen. Im dritten Bild liegt die weiße Figur auf dem schwarzen Felsen und wartet auf den Tod. Am Ende dieser Szene entsteht ein graues Licht, das die Vereinigung des Lebens und des Todes und zugleich den Urzustand der Menschheit andeutet. Das vierte Bild stellt die Folge des Kreuzzuges und die Entstehung des blauen Vogels, der dessen Farbe die Einheit von Schwarz und Weiß symbolisiert, weil Blau nach Kandinskys Farbsymbolik je nach der Abstufung die beiden Farben verkörpern könnte. Die Bühnenkomposition IV Schwarze Figur weist fünf Bilder auf. Im Zentrum des Stücks stehen die Variationen des Paars in drei Epochen, Adam und Eva im irdischen verlorenen Paradies, Christus und seine Braut, wobei auf der Bühne keine Braut, sondern nur die Brautjungfern auftreten, und der Knabe und das Mädchen als das künftige Liebespaar, das in der gegenwärtigen Epoche lebt und für das neue geistige Reich als Kämpfer erwählt wird. Die Paare werden von entsprechenden Bäumen begleitet, d.h. Adam und Eva von schwarzen Bäumen, dem Baum des Lebens und dem der Erkenntnis, das himmlische Brautpaar von zwei blühenden Bäumen im Himmelreich und das junge Paar von Tannenbäumen. Das Leitmotiv, das die drei Paare sowie die Epochen durchdringt, ist die Auserwählung, die durch die schwarze Figur Christus erfolgt. Im ersten Bild und im dritten Bild sitzen bzw. stehen acht Menschen in Kostümen am Ufer des Weltgerichts. Ihre Erinnerungen an das eigene Leben haben einen Bezug zu den Seligpreisungen, jedoch waren diese acht Menschen nicht auserwählt. Sie blicken am Ufer auf die Fahrt der schwarzen Figur, die die Auserwählten ins Himmelreich führt. Das zweite Bild thematisiert die Erlösung des ersten Paars durch Christus. Adam und Eva werden zur himmlischen Hochzeit Christi eingeladen. Im vierten Bild 208

wird ein Reigen von den rosa gekleideten Männern und Frauen getanzt. Sie sind die Bewohner und zugleich die Rosen des Himmelsgartens Mariä. Die Burg auf dem blauen Felsen verkörpert das himmlische Jerusalem. Die in blau gekleideten Frauenfiguren, die sich vor dem Meer versammeln, lassen sich als die auserwählten Klugen Jungfrauen identifizieren, die die himmlische Hochzeit als Brautjungfern begleiten. Mit dem schwarzen Himmel wird das Kommen des Menschensohnes inszeniert. Das fünfte Bild basiert auf einem neuen Darstellungsprinzip. Es behandelt die gegenwärtige Epoche, in der die Körperbilder nach dem materiell-gegenständlichen Gesetz gezeigt werden. Der Knabe und das Mädchen, die durch den schwarzen Mann unter dem Tannenbaum berufen werden, haben Beschäftigungen wie die der Heiligen Familie. Der Knabe, der die Stöckchen bearbeitet, wurde als der künftige Reiter bzw. Kämpfer für das neue geistige Reich erwählt, weil seine Ambition zur künstlerischen Schöpfung die Grundlage für die Mission des Geistigen ist. Das Mädchen, das Erdbeeren sammelt und diese dem Knaben anbietet, verkörpert die Rolle der Gottesmutter, die Schutzmantel seines kindlichen Vorhabens ist und den Kindern im Himmelsgarten die geistige Nahrung gibt. Tannenbäume sowie Kuckucksschrei können im Bezug auf Volkssagen interpretiert werden. Der Kuckuck kündigt als Frühlingsbote die Osterfeier an. Unter dem Tannenbaum tritt der schwarze Mann auf, der die Auferstehung andeutet. Er lädt die Kinder mit einer Erwählungsgeste ein. So werden in der vierten Bühnenkomposition das Ende der zweiten Epoche sowie der Beginn der dritten gegenwärtigen Epoche, der Epoche des großen Geistigen dargestellt. Der Einakter Nachspiel übernimmt die Darsteller der vier frühen Bühnenkompositionen, so dass deutlich ist, dass das Werk als ein Epilog der Tetralogie gedacht wurde. Die Szene umfasst die Besteigung des Throns Gottes und den schon begonnenen Kampf des Künstlers. Zu einer weißen Bank auf dem blauen Hügel gelangen die Bewohner des Himmels und der Erde, die sich durch die Abstraktion vereinigen, gemeinsam. Auch der greise Simeon aus der ersten Bühnenkomposition Riesen ist auf der Bank zu sehen. Vor dem Hügel sind die laufenden Schwestern, die im Vergleich zu den hinteren Figuren viel kleiner erscheinen; die Szene kann aperspektivisch dargestellt werden. Der blaue große Mann im Vordergrund trägt einen grellroten Balken, der eine schwere Last bzw. die Aufgabe des Künstlers andeutet. Die beiden Farben bilden einen Kontrast mit dem blauen Hügel und der grellroten Sonne. Mit dieser Szene leitet die Tetralogie den Beginn des Kampfs des Künstlers ein, der einen modernen Kreuzzug unternimmt, um eine abstrakte geistige Weltsprache der Kunst zu erschaffen und dadurch alle Differenzen der Völker, Kulturen sowie Religionen zu überwinden. Die Tetralogie umfasst schließlich christliche Themen, christliche Literatur sowie Volkssagen. Zum großen Teil behandelt sie die »zweite Offenbarung«, die nach der russischen Religionsphilosophie als die Epoche des Neuen Testaments verstanden wird. Die Entschlüsselung der Themen mag die Bedeutung der Tetralogie auf Christen begrenzen. Jedoch deuten einige Motive die Vereinigung zwischen dem Christentum und dem Judentum (Stimmen und Nachspiel) sowie dem Okzident und dem Orient (Schwarz und Weiß ) an. Der neue Kämpfer für die »dritte Offenbarung«, die der in Kandinskys Gegenwart bevorstehenden Epoche des Geistigen entspricht, wird vom ursprünglich heidnischen Volk im Tannenwald erwählt (Schwarze Figur). So verdeutlicht die Tetralogie die Wende von der zweiten Epoche zur »Epoche des großen Geisti209

gen«. Nach der Wende ist die Kunst das Hauptmittel des Kampfes für das Geistige, und das Ziel liegt darin, durch die Kunst eine Weltsprache zu schaffen. Die Trachten und Personifikationen drücken die Differenzen der Völker und Religionen aus und verhindern das Entstehen einer Weltsprache, die allen Menschen zugänglich sein soll. So trieb Kandinsky die Abstraktion der Körperbilder weiter voran. Vielleicht wurde die Tetralogie nicht veröffentlicht, weil sie Kandinskys christliche Weltanschauung zu sehr verdeutlicht und zu Missverständnissen führen kann. Da seine Aufgabe die Kunstmission für die gesamte Menschheit war, musste die christliche Vorgeschichte des Künstler-Reiters im Hintergrund bleiben. Kandinskys letztes Ölgemälde »Gedämpfter Schwung« (1944) (Abb. 48) zeigt den blauen Reiter zum letzten Mal. Er neigt seinen Kopf in der rechten Hälfte des Bildes und das Pferd scheint zu ruhen, als ob es ermüdet ist. Sein langer Weg, der Kampf, um durch die absolute Kunstsprache die Vereinigung der Welt zu erreichen, begann mit der Erwählung des Knaben im Tannenwald und endet inmitten des Zweiten Weltkriegs. In diesem sinne könnte sein letztes Werk »Gedämpfter Schwung« als eine Schlussszene der Tetralogie der Bühnenkompositionen betrachtet werden.

210

6.

Anhang

6.1. Literaturverzeichnis In dieser Studie werden russische Namen in Transkription geschrieben. Folglich werden die Autorennamen, die ursprünglich in Transliteration geschrieben wurden, als Verweis ebenso in Transkription geschrieben. 6.1.1. Abkürzungsverzeichnis DBR

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6.1.3. Kataloge Kat. Absolut Abstrakt 2008: Friedel, Helmut (Hrsg.): Kandinsky – Absolut. Abstrakt. Mit Beiträgen von Vivian E. Barnett, Tracey Bashkoff, Christian Derouet, Matthias Haldemann, Annegret Hoberg. [Ausst. München] München / Berlin / London / New York 2008. Kat. Russische Avantgarde 1999: Schneede, Uwe M. (Hrsg.): Chagall, Kandinsky, Malewitsch und die russische Avantgarde. [Ausst. Hamburg / Zürich] Ostfi ldern-Ruit 1999. Kat. Der Blaue Reiter 1986: Tavel, Hans Christoph von (Hrsg.): Der Blaue Reiter. Bern 1986/87. Kat. Der Blaue Reiter 1991: Zweite, Armin (Hrsg.): Der Blaue Reiter im Lenbachhaus München. München 1991. Kat. Das bunte Leben 1994: Friedel, Helmut (Hrsg.): Das bunte Leben. Wassily Kandinsky im Lenbachhaus. München/Köln 1994.

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6.1.6. Nachschlagswerke HDA Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. unter besonderer Mitwirkung von E. Hoffmann-Krayer und Mitarbeit zahlreicher Fachgenossen von Hanns Bächtold-Stäubli. Berlin 1987 [1. Aufl.1932/33]. LCI Lexikon der christlichen Ikonographie. 8 Bd. Hrsg. von Engelbert Kirschbaum, in Zusammenarbeit mit Günter Bandmann [et al.]. Rom 1990. [1. Aufl.1974]. LCK Seibert, Jutta: Lexikon christlicher Kunst. Themen, Gestalten, Symbole. Freiburg/Basel/ Wien 2002. LTK Lexikon für Theologie und Kirche. Begründet von Dr. Michael Buchberger. Hrsg. von Josef Höfer und Karl Rahner. Freiburg 1964. RGG Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd.1–7. Tübingen 1957–1965 [3. Aufl.]. Deutsche Bibelgesellschaft. Die Bibel: Nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart, 1978.

224

6.2. Abbildungen

225

Abb. 1: Kandinsky, Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang, Bild II, um 1909.

Abb. 2: Kandinsky, Zeichnung zu Bühnenkomposition IV Schwarze Figur, Bild 1, um 1909.

Abb. 3: Kandinsky, Allerheiligen I, 1911.

Abb. 4: Kandinsky, Große Auferstehung, 1911.

228

Abb. 5: Kandinsky, Tabelle III aus Über das Geistige in der Kunst, 1912.

Abb. 6: Eadweard J. Muybridge, Woman Dancing (Fancy), 1884–1886.

229

230

Abb. 7: Henri de Toulouse-Lautrec, Miss Loïe Fuller, 1893.

Abb. 8: Auguste Rodin, Greek Dancer, um 1890.

231

Abb. 10: Alexander Sacharoff, um 1912. f

Abb. 9: Kandiknsky, Das bunte Leben, 1907.

Abb. 11: Luca Della Robbia, Cantoria (Singing Gallery): dancing putti, 1431–1438.

Abb. 12: Perugino, Pietà, um 1493/94.

232

Abb. 13: Anonym, Prayer for the Finding of the Body of Saint Mark, 13. Jh.

Abb. 14: Anonym, Höllenfahrt Christi, Ende 14. Jh.

233

Abb. 15: Anonym, Der Hauptikonostas der VerkündigungsKathedrale des Moskauer Kremls, nach 1547.

Abb. 16: Kandinsky, Kreis und Viereck, 1943.

234

Abb. 17: Theophanes the Greek, Seraphim, 14. Jh.

Abb. 18: Kandinsky, Heiliger Wladimir, 1911.

235

Abb. 19: Henri Matisse, La danse, 1910.

Abb. 20: Lucas Cranach d.Ä., Das Goldene Zeitalter, um 1530.

236

Abb. 21: Anonym, Präsentation des Herrn im Tempel, Ende 15. Jh.

Abb. 22: Anonym, Simeon, He who carries God, 15. Jh.

237

238

Abb. 23: Dionisij, Kreuzigung (Crucifi xion), um 1500.

Abb. 24: Anonym, Auffinden des Kreuzes, Mitte 19. Jh.

239

Abb. 26: Theophanes the Greek, Verklärung Christi (The Transfiguration), 1403. f

Abb. 25: Kandinsky, Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang, Bild I, um 1909.

240

Abb. 27: Hans Süss von Kulmbach, Berufung des Hl. Petrus (The Calling of Saint Peter), 1510.

Abb. 28: Merisi Michelangelo da Caravaggio, Die Berufung des Hl. Matthäus (Calling of Saint Matthew), 1598–1601.

241

Abb. 29: Der gerechte Andrej Rubljow, Verklärung Christi, 1405.

Abb. 30: Kandinsky, Tabelle II aus Über das Geistige in der Kunst, 1912.

Abb. 31: Anonym, Entschlafen der Gottesmutter, 2. Hälfte 15. Jh.

Abb. 32: Kandinsky, Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß, erstes Bild: Weiß, um 1909.

242

Abb. 33: Anonym, Gottesmutter Eleusa (Our Lady of Liubiatovo), Anfang 15. Jh.

Abb. 34: Olga von Hartmann, Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß, zweites Bild – Kopie nach Kandinsky, um 1909.

243

Abb. 35: Olga von Hartmann, Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß, drittes Bild – Kopie nach Kandinsky, um 1909.

Abb. 36: Kandinsky, Studie zu Improvisation 2 (Trauermarsch), 1909.

244

Abb. 37: Olga von Hartmann, Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß, viertes Bild – Kopie nach Kandinsky, um 1909.

Abb. 38: Kandinsky, Landschaft mit Regenbogen und Figuren, 1908.

245

246

Abb. 39: Dürer, Albrecht, Die Vertreibung aus dem Paradies, 1510.

Abb. 40: Kandinsky, Improvisation 19, 1911.

247

Abb. 41: Kandinsky, Paradies, 1911/1912.

Abb. 42: Anonym, Törichte Jungfrau, um 1240–50.

248

Abb. 43: Lucas Cranach d. Ä., Adam und Eva (Pendants), um 1500–1550.

Abb. 44: Oberrheinischer Maister, Madonna in den Erdbeeren, um 1425.

249

Abb. 45: Kandinsky, Plakat der Neuen Künstlervereinigung München, 1910.

Abb. 46: Kandinsky, Einbandentwurf Über das Geistige in der Kunst, um 1910.

Abb. 47: Kandinsky, Mit Schwan, um 1912.

Abb. 48: Kandinsky, L’Elan tempéré (Gedämpfter Schwung), 1944.

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6.3. Abbildungsnachweis Abb. 1 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang, Bild II, um 1909, Zeichnung/Tusche auf Papier, 16.6 × 21cm. Centre PompidouCNAC-MNAM, Paris. Photo: © bpk | CNAC-MNAM | Jacques Faujour. Abb. 2 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Zeichnung zu Bühnenkomposition IV Schwarze Figur, Bild 1 (Dessin pour Figure noire, Tableau I), um 1909, Tusche auf Papier, 16.8 × 21cm. Centre Pompidou – MNAM – Bibliothèque Kandinsky – Guy Carrard, Paris. Abb. 3 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Allerheiligen I, 1911, Tempera, Silber u.a. auf Glas, 34.5 × 40.2cm. Städtishe Galerie im Lenbachhaus, München. Abb. 4 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Große Auferstehung, 1911, Farbholzschnitt auf Japanpapier, 21.9 × 21.9cm. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. Abb. 5 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Tabelle III aus Über das Geistige in der Kunst, 1912. Photo: Benteli Verlag, Bern/Sulgen/Zürich. Abb. 6 Muybridge, Eadweard J. (1830–1904), Woman Dancing (Fancy), 1884–1886. Museum of Modern Art (MoMA), New York. Collotype, 7 1/4 × 16 3/4 (18.4 × 42.5cm). Gift of Mrs. Jane K. Murray. Acc. n.: 30.1944. Photo: © 2011. Digital image, The Museum of Modern Art, New York/Scala, Florence. Abb. 7 Henri de Toulouse-Lautrec (1864–1901), Miss Loïe Fuller, 1893, Lithograph printed in five colors; vellum, 37.9 × 25.9cm. Rogers Fund, 1970. The Metropolitan Museum of Art, New York. Photo: © bpk | The Metropolitan Museum of Art. Abb. 8 Rodin, Auguste (1840–1917), Greek Dancer, um 1890, Ink. Albright-Knox Art Gallery, Buffalo (NY). Watercolor on paper, sheet: 7 1/2 × 5 1/2 (19.05 × 13.97cm). Gift of A. Conger Goodyear, 1954. Photo: © 2011. Albright Knox Art Gallery/Art Resource, NY/Scala, Florence. Abb. 9 Kandiknsky, Wassily (1866–1944), Das bunte Leben, 1907, Öl auf Leinwand, 130 × 162.5cm. Dauerleihgabe der Bayern LB in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München. FH 225. Abb. 10 Alexander Sacharoff, um 1912. Photo: Hanns Holdt – Deutsches Theatermuseum München/ Courtesy of Deutsches Tanzarchiv Köln. Abb. 11 Della Robbia, Luca (c. 1400–1482), Cantoria (Singing Gallery): dancing putti, 1431– 1438, Relief, 328 × 560cm. Museo dell’Opera del Duomo, Florence. Photo: © 2011. Photo Scala, Florence. Abb. 12 Perugino (1445/50–1523), Pietà, um 1493/94, Öl auf Holz, 168 × 176cm. Galleria degli Uffi zi, Florence. Photo: © 2011. Photo Scala, Florence – courtesy of the Ministero Beni e Att. Culturali. Abb. 13 Anonym, Prayer for the Finding of the Body of Saint Mark, 13. Jh., Mosaik. St. Mark’s Basilica, Venice. Photo: © 2011. Photo Scala, Florence. Abb. 14 Anonym, Höllenfahrt Christi, Ende 14. Jh., Russland. Photo: Ikonen der orthodoxen Kirche, Directmedia Publishing. Abb. 15 Anonym, Der Hauptikonostas der Verkündigungs-Kathedrale des Moskauer Kremls, nach 1547, Moskau. Photo: Ikonen der orthodoxen Kirche, Directmedia Publishing. Abb. 16 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Kreis und Viereck, 1943, Tempera und Öl auf Karton, 42,0 × 58,0 cm. Paris, Centre Pompidou-CNAC-MNAM. Photo: © bpk | CNACMNAM. Abb. 17 Theophanes the Greek, Seraphim, 14. Jh., Freske, Russland. Photo: Ikonen der orthodoxen Kirche, Directmedia Publishing. Abb. 18 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Heiliger Wladimir, 1911, Hinterglasmalerei, 28.7 × 25.2cm. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. Abb. 19 Matisse, Henri (1869–1954), La danse, 1910. Öl auf Leinwand, 260 × 390cm. Hermitage Museum, St. Petersburg. Photo: © 2011. Photo Scala, Florence. Copyright: © Succession H. Matisse/ VG Bild-Kunst, Bonn 2011. Abb. 20 Lucas Cranach d.Ä. (1472–1553), Das Goldene Zeitalter, um 1530. Photo: Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Alte Pinakothek, München.

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Abb. 21 Anonym, Präsentation des Herrn im Tempel, Ende 15. Jh., Beidseitige Ikone, Leinen, Levkas, Tempera, 24.0 × 19.0cm, Museum der Sophia-Kathedrale, Nowgorod, Russland. Photo: Ikonen der orthodoxen Kirche, Directmedia Publishing. Abb. 22 Anonym, Simeon, He who carries God, 2. Hälfte 15. Jh., Tempera auf Board. 29.5 × 21.5cm. Intesa Sanpaolo Collection, The Galleries of Leoni Montanari Palace, Vicenza Abb. 23 Dionisij, Kreuzigung (Crucifi xion), um 1500, Ikone, Nowgoroder Schule, 85 × 52cm, The State Tretyakov Gallery, Moscow. Photo: Ikonen der orthodoxen Kirche, Directmedia Publishing. Abb. 24 Anonym, Auffi nden des Kreuzes, Mitte 19. Jahrhundert, zweiseitige Ikone (Rückseite), Holz, Stirnquerstreben, Levkas, Tempera, Vergoldung, 53.0 × 46.0 × 3.0cm, Newjansker Schule, Sverdlovsk regional museum of the local lore, Ekaterinburg. Photo: Ikonen der orthodoxen Kirche, Directmedia Publishing. Abb. 25 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Bühnenkomposition II Stimmen oder Grüner Klang, Bild I, um 1909, Tusche auf Papier, 16.5 × 21.1cm. Centre Pompidou-CNAC-MNAM, Paris. Photo: © bpk | CNAC-MNAM | Jacques Faujour. Abb. 26 Theophanes the Greek, Verklärung Christi (The Transfiguration), 1403, 184 × 134cm, The State Tretyakov Gallery, Moscow. Photo: Ikonen der orthodoxen Kirche, Directmedia Publishing. Abb. 27 Süss von Kulmbach, Hans (c. 1480–1522), Berufung des Hl. Petrus (The Calling of Saint Peter), 1510, Galleria degli Uffi zi, Florenz. Photo: © 2011. Photo Scala, Florence – courtesy of the Ministero Beni e Att. Culturali. Abb. 28 Caravaggio, Merisi, Michelangelo da (1571–1610), Die Berufung des Hl. Matthäus (Calling of Saint Matthew), 1598–1601. Öl auf Leinwand, 322 × 340cm. Church of San Luigi die Francesi, Rome. Photo: © 2011. Photo Scala, Florence. Abb. 29 Der gerechte Andrej Rubljow, Verklärung Christi, Ikone aus dem Festrang, 1405, Lindenbrett, Levkas, Tempera, Moskauer Schule, 80,5 × 61cm. Mariä-HimmelfahrtsKathedrale, Moskauer Kreml. Photo: Ikonen der orthodoxen Kirche, Directmedia Publishing. Abb. 30 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Tabelle II aus Über das Geistige in der Kunst, 1912. Photo: Benteli Verlag, Bern/Sulgen/Zürich. Abb. 31 Anonym, Entschlafen der Gottesmutter, 2. Hälfte 15. Jh., Holz, Tempera, 113 × 88cm. Russland. Photo: Ikonen der orthodoxen Kirche, Directmedia Publishing. Abb. 32 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß, erstes Bild: Weiß, um 1909, Gouache auf Karton, 33 × 41cm. Centre Pompidou-CNACMNAM, Paris. Photo: © bpk | CNAC-MNAM. Abb. 33 Anonym, Gottesmutter Eleusa (Our Lady of Liubiatovo), Anfang 15. Jh., 109 × 77cm, The State Tretyakov Gallery, Moscow. Photo: Ikonen der orthodoxen Kirche, Directmedia Publishing. Abb. 34 Von Hartmann, Olga (1885–1979), Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß, zweites Bild – Kopie nach Kandinsky, um 1909, Gouache auf Papier, 11.7 × 15.4cm. Centre Pompidou-CNAC-MNAM, Paris. Photo: © bpk | CNAC-MNAM. Abb. 35 Von Hartmann, Olga (1885–1979), Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß, drittes Bild – Kopie nach Kandinsky, um 1909, Bleistift und Deckfarben auf Papier, 11.7 × 15.5cm. Centre Pompidou-CNAC-MNAM, Paris. Photo: © bpk | CNACMNAM. Abb. 36 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Studie zu Improvisation 2 (Trauermarsch), 1909, Öl auf Malpappe, 49.8 × 69.8cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. Abb. 37 Von Hartmann, Olga (1885–1979), Bühnenkomposition III Schwarz und Weiß, viertes Bild – Kopie nach Kandinsky, um 1909, Bleistift, Tusche und Gouache auf Papier, 11.6 × 14.8cm. Centre Pompidou-CNAC-MNAM. Photo: ©bpk | CNAC-MNAM. Abb. 38 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Landschaft mit Regenbogen und Figuren, [1908], Öl auf Pappe, 41 × 33cm. Von der Heydt-Museum, Wuppertal.

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Abb. 39 Dürer, Albrecht (1471–1528), Die Vertreibung aus dem Paradies, 1510. Herzog Anton Ulrich-Museums Braunschweig, Kunstmuseum des Landes Niedersachsen. Photo: Museumsfotograf. Abb. 40 Kandinsky, Wassily, Improvisation 19, 1911, 120cm × 141.5cm, Öl auf Leinwand, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. Abb. 41 Kandinsky, Wassily, Paradies, 1911/1912, Aquarell, Tusche und Bleistift auf Papier, 24 × 16cm, auf Karton aufgezogen, 30.1 × 20.5cm. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. Abb. 42 Anonym, Törichte Jungfrau, um 1240–50, Sandstein, von der Paradiesprofte des Magdeburger Doms. Photo: Ines Sachsenweger. Abb. 43 Cranach, Lucas d.Ä. (1472–1553), Adam und Eva (Pendants), um 1500–1550, Aufnahme color von Müller und Sohn, 1943/1945. Schochs Garten, Gotisches Haus, Wörlitz. Photothek des Zentralinstituts für Kunstgeschichte, München. Abb. 44 Oberrheinischer Maister, Madonna in den Erdbeeren, um 1425, Mischtechnik auf Fichtenholz, 144.5 × 87.5cm. Kunstmuseum, Solothurn. Übernommen vom Kunstverein Solothurn, 1879. Abb. 45 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Plakat der Neuen Künstlervereinigung München, 1910, Lithographie, Papier, 94 × 64cm, Ausstellung II in der »Modernen Galerie« von H. Thannhauser, München. Münchner Stadtmuseum. Abb. 46 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Einbandentwurf Über das Geistige in der Kunst, um 1910. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. Abb. 47 Kandinsky, Wassily (1866–1944), Mit Schwan, um 1912, Tempera auf Glas, 32.1 × 27.6cm. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München. Abb. 48 Kandinsky, Wassily (1866–1944), L’Elan tempéré (Gedämpfter Schwung), 1944, Tempera und Öl auf Karton. Centre Pompidou-CNAC-MNAM, Paris. Photo: ©bpk | CNAC-MNAM. © VG Bild-Kunst, Bonn 2011 für alle Abbildungen der Werke von Wassily Kandinsky. © Succession H. Matisse/ VG Bild-Kunst, Bonn 2011 für Abb. 19 von Henri Matisse.

Soweit nicht gesondert angegeben, sind die Quellen der Photovorlagen identisch mit den Standortmuseen. Den Museen, Galerien, Archiven, Fotografen sowie Urhebern der Bilder, die mich bei diesem Buch unterstützten, sei herzlich gedankt. Die Autorin ersucht diejenigen Urheber, Rechtsnachfolger und allfälligen Werknutzungsberechtigten, die nicht kontaktiert werden konnten (insbesondere von den Werken Olga von Hartmanns), im Falle des fehlenden Einverständnisses zur Vervielfältigung, Veröffentlichung und Verwertung von Werkabbildungen im Rahmen dieser Publikation um Kontaktaufnahme.

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