Was wird, wenn die Zeitbombe hochgeht?: Eine sozialgeschichtliche Analyse der fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda im September 1991 9783737003247, 9783847103240, 9783847003243


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Was wird, wenn die Zeitbombe hochgeht?: Eine sozialgeschichtliche Analyse der fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda im September 1991
 9783737003247, 9783847103240, 9783847003243

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Christoph Wowtscherk Was wird, wenn die Zeitbombe hochgeht? Eine sozialgeschichtliche Analyse der fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda im September 1991

Berichte und Studien Nr. 66 herausgegeben vom Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V.

Christoph Wowtscherk

Was wird, wenn die Zeitbombe hochgeht? Eine sozialgeschichtliche Analyse der fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Hoyerswerda im September 1991

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Polizeiabsperrungen nach schweren Übergriffen von Rechtsradikalen auf Ausländerheime in Hoyerswerda am 23.9.1991 Foto pictures alliance / ZB.

Von der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen im Jahre 2012.

1. Aufl. 2014 © 2014, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISBN 978-3-8471-0324-0 ISBN 978-3-8470-0324-3 (E-Book)

Vorwort

Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Fassung einer Dissertation, welche die Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr - Universität Bochum im Dezember 2012 angenommen hat. Das Thema beschäftigte mich über einen längeren Zeitraum. Obwohl ich in Hoyerswerda geboren und aufgewachsen bin, waren mir die Ausmaße der Gewalttaten des Jahres 1991 lange Zeit nicht bewusst. Im Gegenteil : Rechtsextreme Jugendliche schienen mir als Heranwachsendem zwar potentiell gefährlich, gehörten aber zur Lebenswelt dazu. Ich selbst bin nie einem Rechtsextremen begegnet, dafür war die Szene zu klein und vor allem auf die Neustadt beschränkt. Aber dass es sie auch in Hoyerswerda gab, war bekannt. Doch wo gab es sie nicht ? Die rechtsextreme Subkultur wurde damals, zumindest von mir, als Normalität hingenommen. Erst durch Rückfragen von neuen Bekannten im Studium (»Hoyerswerda – da war doch mal was mit Ausländern ?«) wurde mir bewusst, dass die Ausschreitungen 1991 deutschlandweit bekannt waren. »Hoyerswerda« stand in den Augen Auswärtiger für Plattenbauten und Rechtsextremismus. Doch dass meine Heimatstadt als Hochburg des Rechtsextremismus galt, wollte ich nicht akzeptieren. Gewiss gab es »Neonazis« auch in Hoyerswerda, aber waren es denn mehr als in anderen Städten ? Ich begann mich für das Thema zu interessieren : Was war in Hoyerswerda so besonders, dass die Stadt im Rest der Republik zum Symbol für fremdenfeindliche Gewalt geworden war ? Doch je mehr ich nachforschte, umso unbefriedigender erschien mir der Wissensstand. Die wissenschaftliche Literatur streifte die Ausschreitungen von 1991 nur und verwies nirgends auf eine Quelle. Detailliertere Beiträge waren im Internet zu finden. Die meisten Seiten vertraten allerdings eine politische Agenda. Dies steht einer wissenschaftlichen Aufarbeitung im Wege. Mein Interesse an den Hintergründen der fremdenfeindlichen Ausschreitungen wurde durch diesen unbefriedigenden Wissensstand nur größer. Letztlich ist daraus das Forschungsthema für die Dissertation gereift. Für die Anregungen hierzu sowie ihre langjährige Ermutigung und Beratung möchte ich Frau PD Dr. habil. Tânja Puschnerat herzlich danken ! Weiterhin danke ich den beiden Gutachtern Herrn Prof. Dr.

6

Vorwort

Goschler und Herrn Prof. Dr. Backes sowie der Redaktion des Hannah - Arendt Instituts für die vielen wertvollen Hinweise. Während der Forschungsarbeit habe ich viele Unterstützer kennen gelernt. Mein Dank gilt den engagierten Damen und Herren in den Archiven. Insbesondere Frau Noack vom Stadtarchiv Hoyerswerda bin ich für ihre unermüdliche Arbeit zu Dank verpflichtet ! Viele Hoyerswerdaer waren hilfsbereit, standen als Zeitzeugen zur Verfügung oder gaben nützliche Tips und Informationen. Ihnen allen sei gedankt ! Bedanken möchte ich mich auch bei den vielen Freunden, auf deren Unterstützung ich in den vergangenen Jahren bauen konnte. Besonders seien hier Sandra und Robert, Pia sowie Ulrike und Erik genannt. Doch ohne meine Familie hätte diese Arbeit nicht entstehen können. Der größte Dank gebührt daher meinen Eltern und Geschwistern ! Hoyerswerda im März 2014

Christoph Wowtscherk

Inhaltsverzeichnis

I.

II.

Einleitung

11

1.

Forschungsüberblick

14

2.

Methodischer Ansatz und Fragestellung

17

3.

Aufbau der Arbeit und Quellenkritik

22

Die stadtgeschichtliche Entwicklung Hoyerswerdas aus sozialhistorischer Sicht 1.

29

Der Aufbau Hoyerswerdas zur zweiten sozialistischen Wohnstadt der DDR

29

2.

Bevölkerungsentwicklung

42

3.

Das Leben in der Stadt

45

4. 4.1 4.2 4.3

Die Folgen der Wiedervereinigung für Hoyerswerda Ökonomische und soziale Transformationsbelastungen Die Jugendbetreuung Kriminalitätsfurcht

53 53 58 63

5.

Zusammenfassung

66

III. Die Situation der Ausländer in Hoyerswerda

69

1. 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3

Die Ausländerbeschäftigung in der DDR Rechtliche Rahmenbedingungen Lebensbedingungen Verhältnisse am Arbeitsplatz Wohnverhältnisse Soziale Kontakte

69 74 77 77 79 81

2. 2.1

Vertragsarbeiter in Hoyerswerda Polnische Arbeiter

83 83

8

Inhaltsverzeichnis

2.2 2.3

Algerische Arbeiter Weitere Nationalitäten

90 102

3.

Asylbewerber in Hoyerswerda

106

4.

Zusammenfassung

114

IV. Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus vor 1991 1. 2. 3. 3.1 3.2 4. V.

119

Die Entwicklung der rechtsextremen Skinheadszene in der DDR

119

Die Skinheadszene in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit

123

Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Strukturen in Hoyerswerda Fremdenfeindliche Auseinandersetzungen und die Entwicklung einer Skinheadszene in Hoyerswerda Fremdenfeindliche Vorfälle im Vorfeld der Ausschreitungen 1991 Zusammenfassung

132 132 149 158

Die Ausschreitungen im September 1991

161

1. 1.1 1.2 1.3 1.4

161 161 168 173

1.5

Zeitlicher Ablauf der Ausschreitungen Phase Eins : Der Beginn der Ausschreitungen Phase Zwei : Gewalt als tägliches Ritual Phase Drei : Verlagerung der Ausschreitungen Phase Vier : Evakuierung der Asylbewerber und (vorläufiges) Ende der Gewalt Epilog : Gewalttätiger Gegenprotest am 29. September 1991

2. 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.2.5

Die Ausschreitungen als sozialer Protest Entstehungsbedingungen Langfristig wirkende Ursachen Manifestationsbedingungen Gerüchte und Vorurteile Protestparteien Skinheads und andere gewalttätige Jugendliche Die Beifall klatschende Menge Die Behörden Die Ausländer Die Gegendemonstranten

184 184 185 186 189 192 192 197 202 209 211

178 181

Inhaltsverzeichnis

9

2.3

Exkurs : Protest oder Pogrom ?

213

3.

Zusammenfassung

216

VI. Konsequenzen

217

1.

Strafverfolgung

217

2. 2.1 2.2

219 219

2.3

Politische Reaktionen Die Bundesebene – Asyldebatte und Asylkompromiss Die Landesebene – Forderung nach weniger Asylbewerbern für Sachsen Die Kommunalpolitik – Imagesorgen und Jugendarbeit

221 223

3.

Ausländer in Hoyerswerda

228

4.

Zivilgesellschaftliche Gegenmaßnahmen

230

5.

Die Entwicklung der rechtsextremen Szene

233

6.

Zusammenfassung

241

VII. Schluss

243

VIII. Anhang

249

1.

Quellenverzeichnis

249

2.

Verzeichnis der Interviews

251

3.

Literaturverzeichnis

252

4.

Verzeichnis der Diagramme

257

5.

Abbildungsverzeichnis

257

6.

Kartenverzeichnis

257

7.

Abkürzungsverzeichnis

258

I.

Einleitung

Am 2. November 1990 überschrieb das »Hoyerswerdaer Wochenblatt« einen ihrer Artikel mit dem Titel : »Was wird, wenn die Zeitbombe hochgeht ?« In dem Beitrag wird von einer Diskussionsrunde in Hoyerswerda berichtet, in der Bürgerinnen und Bürger ihre Sorgen und Nöte wenige Wochen nach der Wiedervereinigung zum Ausdruck brachten. Der Reporter fasste die besorgte Stimmung mahnend zusammen : »Die Stadt Hoyerswerda ist in ihrer ganzen Bauweise, von ihrer Funktion als Wohn - und Schlafstadt, von der Monowirtschaft, die sie kennzeichnet und die eine hohe Arbeitslosenquote bringen kann, so geprägt, dass sozialer Zündstoff in Massen vorhanden ist. Nun kommt es darauf an, dass er nicht zum Zünder wird.«1 Ein knappes Jahr nach dem Erscheinen des Artikels war es zur befürchteten Explosion gekommen. Vom 17. bis 22. September 1991 griffen Jugendliche zunächst das Wohnheim für ausländische Vertragsarbeiter, später die Unterkünfte für Asylbewerber in Hoyerswerda an. Dabei wurden sie von Teilen der Bevölkerung durch Beifallsbekundungen unterstützt. Letztendlich bewertete die sächsische Regierung die Gefahr für die Ausländer als so bedrohlich, dass die Asylbewerber am 23. September aus Hoyerswerda gebracht wurden. Diese Ereignisse führten zu einer breiten medialen Berichterstattung. Als erste überregionale Tageszeitung informierte die »Frankfurter Rundschau« über die Gewalttaten. Am 18. September 1991 berichtete die Zeitung über Sicherungsmaßnahmen sächsischer Asylbewerberheime vor »Rechtsradikalen«.2 Eher am Rande widmete sich ein kleinerer Beitrag dem Überfall einer Gruppe rechtsextremer Skinheads auf Vietnamesen auf dem Markt in Hoyerswerda tags zuvor. Am 19. September berichteten auch die »BILD«3 und die »taz«4 in kurzen Artikeln von den Ereignissen am 17. September. Alle drei Zeitungen waren sich sicher, dass die Angriffe auf die Vietnamesen auf dem Markt von Hoyerswerda von rechtsextremen Skinheads ausgeführt worden seien. Aufgrund welcher Merk1 2 3 4

Was wird, wenn die Zeitbombe hochgeht ? In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 2.11.1990. Vgl. Bernd Salzmann, Sachsen zäunt Asylheime ein. In : Frankfurter Rundschau vom 18.9.1991. Vgl. Skins verprügelten Polizisten. In : BILD – Dresden vom 19.9.1991. Vgl. Überfall auf Vietnamesen. In : taz vom 19.9.1991.

12

Einleitung

male sie die Angreifer als Rechtsextreme und Skinheads definierten, wurde nicht deutlich. Die Nachrichten waren in den Zeitungen kurz gehalten und an weniger exponierten Stellen zu finden. Bedenkt man, dass es in den ersten drei Monaten des Jahres 1991 zu circa 30 fremdenfeindlichen Gewalttaten pro Monat5 und im August bereits zu 84 solcher Vorfälle in ganz Deutschland gekommen war,6 erschien der mutmaßliche Skinhead - Überfall in Hoyerswerda lediglich als ein weiterer fremdenfeindlicher Angriff, auf den die Medien zunächst nicht näher eingingen. Die »FAZ« widmete sich gar erst am 23. September den Ereignissen.7 Doch mit dem Erscheinen der Dresdener Ausgabe der »BILD« am 20. September wurde aus dem vermeintlich alltäglichen Vorfall ein herausragendes Ereignis. Auf Seite sieben titelte die Zeitung : »Hass auf Ausländer ! Jetzt prügeln sich auch Nachbarn mit ihnen«.8 Der Beitrag berichtete nicht nur über die seit mittlerweile drei Tagen andauernden Ausschreitungen, sondern hob die Beteiligung von circa 150 Anwohnern des Ausländerwohnheims hervor. Auch die »taz« meldete am 21. September empört, dass seit mehreren Tagen »bis zu 600 Deutsche« dieses Wohnheim »terrorisieren« und sprach von einer »Straßenschlacht«. Die Polizei habe erst am dritten Tag eine Hundertschaft zum Schutz der Bewohner eingesetzt und sei dabei von Passanten behindert worden.9 Etwas verhaltener äußerte sich die »Frankfurter Rundschau«, die von einer teilweisen Unterstützung der »rechtsradikalen Skinheads« durch Anwohner schrieb. Der Artikel zeichnete sich zudem durch eine breitere Recherchearbeit aus und skizzierte die Ausschreitungen der vergangenen Tage, ohne diese werten zu wollen. Zum ersten Mal wurde ein Beitrag über die Ereignisse in Hoyerswerda auf der Titelseite platziert.10 Mit den Berichten ab dem 20./21. September 1991 wurden diese Ausschreitungen zu einem herausragenden und damit medienwirksamen Ereignis. In Hoyerswerda, so wurde deutlich, wiederholten sich täglich fremdenfeindliche Angriffe. In den Artikeln wurde schockiert berichtet, dass diese Gewalttaten nicht allein von rechtsextremen Jugendlichen ausgingen, sondern sich auch Nachbarn daran beteiligten. So überschrieb die »BILD« ihre Themenseite zu den Ausschreitungen vom 21. September mit »Bürgerkrieg in Hoyerswerda«,11 und die »taz« titelte am 23. September entsetzt »Menschenjagd – und alle schauen 5

6 7 8 9 10 11

Darunter fällt jedoch auch der tödliche Angriff Dresdener Skinheads auf einen Mosambikaner am 31. 3. 1991, vgl. Verfassungsschutzbericht 1991. Hg. vom Bundesministerium des Inneren, 1992, S. 77. Vgl. ebd., S. 75. Vgl. Polizei befürchtet weitere Feindseligkeiten. In : FAZ vom 23. 9. 1991. Andreas Kunze, Haß auf Ausländer ! Jetzt prügeln sich auf Nachbarn mit ihnen. In : BILD – Dresden vom 20.9.1991. Straßenschlacht gegen AusländerInnen. In : taz vom 21.9.1991, S. 4. Skinheads in Sachsen drohen mit Sturm auf ein Flüchtlingsheim. In : Frankfurter Rundschau vom 21.9.1991. Bürgerkrieg in Hoyerswerda. In : BILD – Dresden vom 21.9.1991.

Einleitung

13

zu«.12 Die Tatsache, dass die mehrtägigen Ausschreitungen gegen das Wohnheim der ausländischen Arbeiter und später gegen das Asylbewerberheim von vielen Bürgerinnen und Bürgern der Stadt mindestens ignoriert, im schlimmeren Fall sogar mit Beifall begrüßt wurden, war für die Zeitungen das eigentlich Skandalöse an den Vorkommnissen. Dies wurde auch an der Erinnerungsberichterstattung späterer Jahre deutlich. So leitete die »Frankfurter Rundschau« anlässlich des fünften Jahrestages der Angriffe 1996 einen Artikel ein, indem sie an den »hysterischen Mob« erinnerte, der die Wohnheime belagerte, während »Bürger und Polizei« weggesehen und »etliche Gaffer [...] Beifall« geklatscht hätten. »Die Fernsehbilder vom Pöbel, der Brandflaschen und Steine warf, gingen um die Welt«. Dadurch sei Hoyerswerda »zum Synonym für Fremdenhass, Gewalt und Primitivität« geworden.13 Die »taz« flankierte 2001 ihren eigentlichen Hauptbeitrag über den Wiederbesuch eines 1991 betroffenen ghanaischen Asylbewerbers in Hoyerswerda mit einem kurzen Informationstext. Darin hieß es, die Ausschreitungen seien von einem Dutzend Skinheads »unter den Augen der Polizei« begonnen, aber bereits nach wenigen Stunden durch Beifall der Anwohner unterstützt worden. Da sich diese Szene jeden Tag wiederholte, seien am 21. September 100 mosambikanische Vertragsarbeiter in ihre Heimat geflogen worden. Daraufhin hätten sich die Ausschreitungen vor das Asylbewerberheim verlagert, deren Bewohner schließlich ebenfalls umquartiert wurden. Schließlich endet der kurze Text mit dem Satz : »Danach eskalierte die erste Welle rassistischer Gewalt im wiedervereinigten Deutschland.«14 Im kollektiven Gedächtnis steht »Hoyerswerda« somit für den Auftakt zu einer Reihe von Gewaltakten gegen Ausländer in der gesamten Bundesrepublik, die häufig mit den Stationen »Rostock - Lichtenhagen« (1992), »Mölln« (1992) und »Solingen« (1993) benannt werden. Nur wenige Zeitungen bemühten sich jedoch um eine tiefere Ursachenforschung und ein umfassenderes Bild der Stadt.15 Vielmehr fielen einige Medien durch grobe Verallgemeinerungen und pauschale Verurteilungen auf. So zeigten sich für die »BILD« in Hoyerswerda »die hässlichsten Abgründe der menschlichen Seele«.16 Auch Matthias Matussek sah in seiner Polemik im »Spiegel« den »hässlichen Deutsche[ n ]« in Hoyerswerda am Werk.17 Die »taz« hob ebenso die breite Zustimmung der Gewalt durch Hoyerswerdaer hervor, um zu suggerieren,

12 13 14 15 16 17

Menschenjagd – und alle schauen zu. In : taz vom 23.9.1991. Bernd Honnigfort, Eine Stadt sucht nach ihrer Normalität. In : Frankfurter Rundschau vom 20.9.1996. Heike Kleffner, Ein mühsamer Weg zu Toleranz. In : taz vom 22./23.9.2001. Bei dem für diese Arbeit ausgewerteten Textkorpus fielen besonders die Frankfurter Rundschau und die Zeit durch eine sehr differenzierte Recherche auf. Wolf - Dieter Kröning / Veiko Kunkis, Hoyerswerda. Der jüngste Schläger ist gerade 12 ... In : BILD – Dresden vom 24.9.1991. Matthias Matussek, Jagdzeit in Sachsen. In : Der Spiegel vom 30.9.1991, S. 41–51, hier 41.

14

Einleitung

ganz Hoyerswerda sei eine fremdenfeindliche »Schauerstadt«.18 Schließlich widmete sich der Journalist Andreas Borchers in seiner Publikation über »Neue Nazis im Osten« ausführlich den Ausschreitungen in Hoyerswerda. Dabei zeichnete auch er ein einseitiges Bild. Er erweckte den Eindruck, alle Hoyerswerdaer seien fremdenfeindlich und hätten die Gewalt gegen die verängstigten Ausländer begrüßt.19 Die Hintergründe des Gewaltausbruchs blieben dem Leser solcher Medien verborgen. Durch diese defizitäre Berichterstattung wurde die gesamte Einwohnerschaft Hoyerswerdas als fremdenfeindlich stigmatisiert. Doch pauschale Verurteilungen ohne ausreichende Kenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge erschweren eine Aufarbeitung der Ausschreitungen. Die vorliegende Arbeit untersucht deshalb detailliert die langfristigen Ursachen sowie die kurzfristigen Bedingungen der fremdenfeindlichen Gewalt in dieser Stadt. Die Ausschreitungen in Hoyerswerda können nicht als singuläres Ereignis unabhängig vom stadtgeschichtlichen Kontext erklärt werden. Erst in der sozialgeschichtlichen Betrachtung Hoyerswerdas seit 1955 können die Gewaltakte verstanden werden.

1. Forschungsüberblick Während sich ein Großteil der Medien mit einer oberflächlichen Behandlung der Ausschreitungen begnügte, beschäftigte sich die wissenschaftliche Literatur bisher nur am Rande mit den Ereignissen in Hoyerswerda. So erstellten Trierer Forscher um Helmut Willems 1993 ein umfangreiches Kompendium, welches fremdenfeindliche Gewalt u. a. mithilfe von Umfrageergebnissen, Polizei - und Gerichtsakten zu erklären versucht. Um Eskalationsprozesse zu verdeutlichen, zeichnen die Autoren darin neben fremdenfeindlichen Gewalttaten in Saarlouis 1991 und Rostock 1992 auch die Ausschreitungen in Hoyerswerda nach. Auf welche Quellen sie sich dabei beziehen, bleibt allerdings unklar.20 Dies ist auch bei Johanna Engelbrecht der Fall. In ihrer Arbeit über Rechtsextremismus bei Jugendlichen in Ostdeutschland behauptet sie ohne Quellenangaben, bei den Ausschreitungen in Hoyerswerda seien drei Menschen zu Tode gekommen.21 Diese Arbeiten können die Hintergründe der Ausschreitungen nicht erhellen. Lediglich ein Aufsatz des Soziologen Detlef Pollack bildet die Ausnahme. Auch er verweist auf »Hoyerswerda« als Synonym für »die militante Ausländerfeindlichkeit der Ostdeutschen«,22 das die Stadt durch die ersten Ausschreitungen 18 19 20 21 22

Annette Rogalla, Hoyerswerda im Belagerungszustand. In : taz vom 24.9.1991. Andreas Borschers, Neue Nazis im Osten. Hintergründe und Fakten, Weinheim 1992. Vgl. Willems, Fremdenfeindliche Gewalt, S. 227 f. Vgl. Engelbrecht, Rechtsextremismus bei ostdeutschen Jugendlichen, S. 125. Pollack, Ausschreitungen, S. 15.

Forschungsüberblick

15

gegen Ausländer unter Beifallsbekundung der Anwohner bekam. In seinem Aufsatz verfolgt er einen »multifaktoriellen Ansatz«, »um die sozialen, politischen und regionalen Ursachen herauszufinden«.23 Dabei zeichnet sich die Studie durch eine detaillierte, auf Polizeiberichten basierende Rekonstruktion der zeitlichen Abläufe der Ausschreitungen aus. Allerdings reduziert Pollack die Gewalt auf den Konflikt mit Asylbewerbern.24 Den Ausgangspunkt der Ausschreitungen, die Angriffe auf das Wohnheim ehemaliger Vertragsarbeiter, hält er für einen Zufall räumlicher Nähe.25 Er kommt zu dem Schluss, die Ausschreitungen hätten viele Ursachen gehabt und seien letztlich eine »Form des Aufbegehrens gegen das neue System, in das man so große Hoffnungen gesetzt hatte, das sich aber gerade zur damaligen Zeit anschickte, diese Hoffnungen zu enttäuschen, und dem man sich daher auf neue Art ausgeliefert fühlte.«26 Die übrige, umfangreiche Literatur zu Rechtsextremismus der beginnenden 1990er Jahre betrachtet diese Ideologie allgemein. Winfried Schubarth entwickelte 1992 die These, Rechtsextremismus sei eine »subjektive Verarbeitungsform des Umbruchs«.27 Demnach habe der Modernisierungsschub in Folge der Wiedervereinigung bestehende Orientierungsschwierigkeiten ostdeutscher Jugendlicher verstärkt. In ihrer Unsicherheit hätten sie sich extremistischen Strömungen zugewandt.28 Zu dieser These gelangt auch Thomas Lillig in seiner breit angelegten Studie über Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern. Auch er verweist auf den »Modernisierungsschock«,29 den die Ostdeutschen nach 1990 erlebt hätten, als Ursache der Hinwendung zu autoritären und rechtsextremen Einstellungen. Für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten sei die Politik verantwortlich gemacht worden, was zu einem Legitimationsverlust der politischen Institutionen geführt habe. Die Ostdeutschen hätten zwar keine rechtsextreme Partei in großem Umfang gewählt. Doch habe jeder Vierte Verständnis für Fremdenfeindlichkeit gezeigt.30 Zu Grunde liegt solchen Erklärungen die These Heitmeyers, Rechtsextremismus sei eine Reaktion auf gesellschaftliche Auflösungsprozesse.31 Gerade die ostdeutschen Jugendlichen hätten 1990 vor der Herausforderung gestanden, sich aus einer formierten Gesellschaft kommend in einer individualisierten Gesellschaft zurechtzufinden. Während in den westlichen Ländern die Jugendlichen diese Entwicklung prozesshaft erlebten, habe

23 24 25 26 27 28 29 30 31

Ebd. Vgl. ebd., S. 29. Vgl. ebd., S. 23. Ebd., S. 30. Schubarth, Rechtsextremismus, S. 78. Vgl. ebd., S. 94 ff. Lillig, Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern, S. 155. Vgl. ebd., S. 156 f. Vgl. Heitmeyer, Rechtsextremistische Orientierungen.

16

Einleitung

1990 auf die ostdeutschen Heranwachsenden ein »Individualisierungs - ›Aufprall‹«32 gewartet. Neben der Modernisierungsthese gibt es in der Forschung auch Verweise auf einen genuin ostdeutschen Rechtsextremismus. Der Jugendforscher Walter Friedrich belegte 1990, dass fremdenfeindliche Tendenzen unter Jugendlichen in der DDR bis weit in die 1970er Jahre zurückreichten.33 Frank Neubacher legte 1994 eine erste Studie über Rechtsextremismus unter ostdeutschen Jugendlichen vor, in der er explizit auf die Entwicklung seit den 1980er Jahren einging. Bezüglich des Anstiegs fremdenfeindlicher und rechtsextremer Tendenzen in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung warnt er vor monokausalen Begründungen. Der Rechtsextremismus und die Fremdenfeindlichkeit könnten nicht »ausschließlich mit 40 Jahren DDR noch mit einem am Westen entwickelten Ansatz allein« erklärt werden.34 Vielmehr müssten beide Ansätze verknüpft werden. Demnach seien in der ostdeutschen Gesellschaft autoritäre Einstellungen durch die Sozialisation in der DDR angelegt gewesen. Hinzu seien enttäuschte Hoffnungen nach der Wiedervereinigung getreten. Diese Melange bereitete seiner Meinung nach den Boden für nationalistische und fremdenfeindliche Einstellungen.35 Trotz der zahlreichen Arbeiten stellt Jürgen Danyel für die historische Aufarbeitung fest : »Diesen in die DDR - Geschichte verweisenden Spuren wurde allerdings in der ersten Hälfte der neunziger Jahre kaum nachgegangen. Das Problem der rechten und fremdenfeindlichen Gewalt blieb im Bereich der Wissenschaft lange Zeit eine Domäne der Soziologen, Psychologen und Extremismusforscher.«36 Erst die im Jahr 2000 »in den Medien geführte Debatte über DDR - spezifische Wurzeln von Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit in den neuen Ländern hat die Dringlichkeit einer historischen Ursachenforschung noch einmal nachdrücklich bestätigt«.37 Vor diesem Hintergrund fordert Danyel, »von einer besonderen ostdeutschen Konstellation bei Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus zu sprechen«.38 Dies erleichtere die differenzierte Erklärung des Rechtsextremismus in den neuen Bundesländer sowohl aus der Geschichte der DDR heraus als auch in Wechselwirkung mit dem westdeutschen Rechtsextremismus. Der ostdeutsche Rechtsextremismus sei demnach als ein »Phänomen der Transformation der ostdeutschen Gesellschaft zu begreifen«.39 Wie die Heraus32 33 34 35 36 37 38 39

Ders., Widerspiegelung von Modernisierungsrückständen, S. 101. Vgl. Walter / Schubarth, Ausländerfeindliche und rechtsextreme Orientierungen, S. 1052 ff. Neubacher, Jugend und Rechtsextremismus, S. 166. Vgl. ebd., S. 166 ff. Danyel, Spätfolgen, S. 31. Ebd., S. 32. Ebd., S. 34. Hervorhebung im Original. Ebd. Hervorhebung im Original.

Methodischer Ansatz und Fragestellung

17

geber des Bandes Fremde und Fremd - Sein in der DDR ( in welchem auch der zitierte Aufsatz von Danyel erschien ), Behrend, Lindenberg und Poutrus, schrieben, habe die Transformation die Wurzeln der Fremdenfeindlichkeit in der DDR verstärkt.40

2. Methodischer Ansatz und Fragestellung Diesem Ansatz folgt die vorliegende Arbeit. Es wird versucht, die fremdenfeindlichen Ausschreitungen als »symbiotische Beziehung zwischen historischen Kontinuitätsmomenten und strukturellen Brüchen«41 zu erklären. In Anlehnung an die These Danyels wird eine Antwort auf die Frage, wie es zu den Ausschreitungen kommen konnte, in der Stadtgeschichte Hoyerswerdas gesucht. Dabei sind die Jahre vor 1990 ebenso bedeutsam wie die Zeit kurz nach der Wiedervereinigung. Die Geschichte Hoyerswerdas ist geprägt von zwei elementaren Brüchen, die mit den Jahreszahlen 1955 und 1990 symbolisch benannt werden können : 1955 beschloss die Regierung der DDR den rasanten Aufbau der Stadt, der bis 1990 anhielt. In dieser Zeit wuchs die Einwohnerschaft von 7 500 Menschen auf über 70 000 an. Hoyerswerda sollte als »zweite sozialistische Wohnstadt« Vorbildcharakter für den DDR - Städtebau haben. Die Jahre der DDR waren für Hoyerswerda scheinbar Boom - Jahre. Doch Hoyerswerda war nur oberflächlich ein Erfolg der DDR - Wirtschafts - und Sozialpolitik. Tatsächlich entwickelte sich in den gleichförmigen Wohngebieten nie eine funktionierende Stadtgesellschaft. Das Ende der DDR brachte für diese künstliche Stadt enorme wirtschaftliche und soziale Probleme mit. Viele Einwohner wurden arbeitslos und noch mehr fürchteten, bald ihre Anstellung zu verlieren. Diese Jahre offenbarten die seit jeher bestehende Desintegration der Stadtgesellschaft. Doch resultierten die ökonomischen Schwierigkeiten nicht singulär aus den Folgen der Wirtschafts - Währungs - und Sozialunion, sondern waren in der starken und gewollten Abhängigkeit Hoyerswerdas von der Kohle - und Energieindustrie seit 1955 angelegt. Aber nicht nur ökonomisch erfolgte 1990/1991 ein Umbruch, sondern vor allem auch politisch. Die Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR waren in einem autoritären Staat aufgewachsen, in welchem der Erfolg der eigenen Lebensplanung in großer Abhängigkeit zur eigenen Positionierung gegenüber den SED - Machthabern stand. Der Staat verlangte politische Fügsamkeit im Tausch für eine umfassende soziale Sicherheit.42 Die SED - Sozialpolitik hatte die Menschen entmündigt, Eigeninitiativen verdrängt und letztlich die Zivilgesell40 41 42

Vgl. Behrends / Lindenberger / Poutrus, Fremde und Fremd - Sein, S. 11 f. Danyel, Spätfolgen, S. 34. Vgl. Jarausch, Realer Sozialismus, S. 43; Hockerts, Soziale Errungenschaften, S. 262 f.

18

Einleitung

schaft blockiert.43 Die allseitige Umsorge bei gleichzeitiger politischer Entmachtung der Bürger durch den Staat fiel 1989 weg. Die Menschen in der DDR erkämpften sich ihre Freiheit. An die Stelle des autoritären Staates trat die unabhängige, selbstbestimmte Person. Das Erleben der scheinbar unbegrenzten neuen Freiheit war die zweite wesentliche Umbrucherfahrung der Jahre 1989/90/91. Denn der Umgang mit diesem neuen Gut war den Menschen bislang unbekannt und musste erlernt werden. Da die Grenzen der Freiheit erst entdeckt werden mussten, wurde sie zuweilen als grenzenlos verstanden. Die erste Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer trug somit auch anarchische Züge. Der scheinbar allmächtige SED - Staat war Vergangenheit. Doch die neuen Regeln und Gesetze der Bundesrepublik mussten von den Menschen erst erlernt werden. Der eingangs zitierte Zeitungsartikel aus dem Jahr 1990 verdeutlicht drastisch, wie angespannt die soziale Situation in Hoyerswerda in diesen Jahren war. Aus diesem Grund wurde die Artikelüberschrift als Titel für die vorliegende Arbeit gewählt. Die Ausschreitungen müssen vor diesem Hintergrund der mehrfachen Brüche in der Stadtgeschichte untersucht werden. Mit einer »dichten Beschreibung« wird diese Stadtgeschichte sozialhistorisch problematisiert. Eine dichte Beschreibung soll, laut Clifford Geertz, nicht nur tatsächliche Geschehnisse beschreiben, sondern diese in einen Interpretationszusammenhang einordnen und damit deuten.44 Wie Hans Medick ausführt, ist eine dichte Beschreibung als Deutung historischer Ereignisse auch für den Historiker gewinnbringend.45 Für diese Arbeit bedeutet »dichte Beschreibung« zum einen, die Ausschreitungen nicht singulär zu betrachten, sondern die Ereignisse im stadthistorischen Kontext zu betrachten. Aus einer Vielzahl sich ergänzender Quellen wird die Stadtgeschichte Hoyerswerdas beschrieben, um wie in einem Mosaik facettenreich den sozialhistorischen Hintergrund der Ausschreitungen im September 1991 darzustellen. Darauf aufbauend muss zum anderen gefragt werden, welche Bedeutung einzelne Ereignisse der Stadtgeschichte für die Einwohner hatten. Welche Lernprozesse waren mit bestimmten Geschehnissen verknüpft ? Im Fokus liegen dabei Fragen nach sozialen Verwerfungen : Welche sozialen Probleme rief der große Bevölkerungszuwachs hervor ? Wie lebte es sich in dieser »Musterstadt« der DDR ? Gab es eine Lücke zwischen »Anspruch und Wirklichkeit«46 ? Wieweit können Entwicklungen in Hoyerswerda während der Jahre der DDR als mögliche Ursachen der Ausschreitungen betrachtet werden ? Wie wirkte sich die Wiedervereinigung auf Hoyerswerda aus ? Vor welchen Herausforderungen stand die Kommune ? Wie wurden diese Probleme von den Bürge43 44 45 46

Vgl. Jarausch, Realer Sozialismus, S. 43. Geertz, Dichte Beschreibung. Medick, Missionare im Ruderboot. So lautete der Titel einer Broschüre, die die Gesellschaft für Heimatkunde Hoyerswerdas herausgab.

Methodischer Ansatz und Fragestellung

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rinnen und Bürgern verarbeitet ? Durch die Beantwortung dieser Fragen wird deutlich, dass Hoyerswerda 1991 unter erheblichem sozialen Druck stand. Dieser war letztlich so hoch, dass er sich in den Gewalttaten ein Ventil suchte. Die Ausschreitungen werden als sozialer Protest eingeordnet. Protest wird im Sinne Manfred Gailus’ als »öffentliche, kollektive Aktion mit Konfliktcharakter«47 verstanden. Sie sind demnach offen und suchen gleichzeitig die Öffentlichkeit. Die Teilnahme an ihnen ist unbegrenzt. Proteste sind überindividuell. Die Aktion ist die »eigentliche Sprache des Protestes«.48 Die Protestgruppen kommunizieren durch eine aktive Handlung mit der Öffentlichkeit. Es werden Rechte gefordert oder verteidigt. Proteste sind eine Form des Konfliktaustrages.49 Werner Giesselmanns Definition beinhaltet ebenso die Momente Widerspruch und Konflikt. Er erweitert den Protestbegriff jedoch um »sozialbedingte Ursachen und Motive«. Weiterhin verletzt Protest die »gesellschaftlichen Normen«.50 Werden beide Definitionen zusammengefasst, ergibt sich eine sehr enge Begriffsbestimmung für den sozialen Protest. Diese Art von Protest hat soziale Ursachen, die bei einer sozialen Gruppe Widerspruch oder Wünsche hervorrufen. Die Protestgruppe artikuliert ihr Anliegen als öffentlichen Konflikt. Ein Protest ist geeignet, vorhandene Normen des gesellschaftlichen Streites zu verletzen. Sozialer Protest ist somit eine öffentliche, kollektive Aktion aufgrund sozialer Veränderungen mit normverletzendem Konfliktcharakter. Manfred Gailus stellt zum Protestbegriff fest, dass dieser seit den 1970er Jahren positiv konnotiert wird. Proteste seien demnach emanzipatorisch und legitim. Sie werden häufig als Kampf Unterdrückter gegen Unterdrücker verstanden. »Protest war insofern eigentlich fraglos ›good protest‹«, so Gailus.51 Mit diesem Protestverständnis wehrt sich Christoph Butterwegge in seinem 1996 erschienenen Werk über Erklärungsmodelle zum Rechtsextremismus vehement gegen die Protestbezeichnung bei fremdenfeindlichen Gewalttaten. Für ihn gründen sich Proteste »auf moralische [...] Prinzipien und / oder bestimmten politisch- ideologischen Grundsätzen«. Sie bedürften »eines Programms und des – utopischen – Gegenentwurfs für eine andere Lebens weise oder eine bessere Gesellschaft«.52 Folgt man dieser Vorstellung von Protest, kann »Hoyerswerda« nicht als Protest bewertet werden. Doch nicht jeder Protest war und ist an sich moralisch positiv. Es gab immer auch eine »ugly side of collective action«.53 Gailus hebt als Beispiel für bad protests u. a. die Hep - Hep - Unruhen 1819 und andere 47 48 49 50 51 52 53

Gailus, Protestforschung, S. 130. Ebd. Vgl. ebd., S. 130 f. Giesselmann, Protest, S. 50. Gailus, Protestforschung, S. 134. Butterwegge, Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt, S.93. Gailus, Protestforschung, S. 137. Hervorhebung im Original.

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Einleitung

antisemitische Gewaltakte im 19. Jahrhundert hervor.54 Dabei lag auch solchen Protesten eine spezifische soziale Logik zugrunde : Die Gewalt gegen Konkurrenten, »die angeblich oder tatsächlich die Normen der moral economy verletzten, [ erschien ] ein Stück weit legitimer, wenn letztere ›Fremde‹, insbesondere wenn sie Juden waren«.55 Die Anwendung des Protestbegriffes muss folglich auch für moralisch verwerfliche Ereignisse möglich sein. Die Einordnung eines Ereignisses als Protest darf nicht davon abhängen, ob die Protestziele den eigenen sittlichen und politischen Überzeugungen entsprechen, ob sie eine Gesellschaft voranbringen, sondern ob die Ereignisse die Definitionsmerkmale aufwiesen. Die Protestforschung muss auch für die Betrachtung von bad protest offen sein. Wenn es sich in Hoyerswerda um einen sozialen Protest handelte, ist zu fragen, welcher soziale Konflikt 1991 ausgetragen wurde. Was war, im Sinne Edward Thompsons, die »soziale Logik« des Protestes ? Thompsons These lautet, dass die Unruhen über Brotpreiswucher im England des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts bestimmten Legitimationsvorstellungen folgten. Diese Vorstellung nennt er »moralische Ökonomie«. Darunter versteht er eine »in sich geschlossene, traditionsbestimmte Auffassung von sozialen Normen und Verpflichtungen und von angemessenen wirtschaftlichen Funktionen mehrerer Glieder innerhalb des Gemeinwesen«.56 Das heißt, »dass diese Männer und Frauen in dem Bewusstsein handelten, traditionelle Rechte und Gebräuche zu verteidigen, und dass sie sich hierbei im allgemeinen auf die breite Zustimmung des Gemeinwesens stützen konnten«.57 Soziale Proteste leiten ihre Begründung »aus der jeweiligen politischen Kultur« ab, die sich »u. a. in Vorstellungen vom ›guten Recht‹ und im bestimmten Gerechtigkeitsempfinden über den gerechten Preis und Tausch äußert«.58 Proteste reagieren auf eine sich verändernde Welt, reagieren auf »Verletzungen der legitimen, gemeinwohlbasierten Ordnungen«.59 Ein Verstoß gegen das »gute alte Recht«, gegen das Gewohnheitsrecht, gibt die Legitimation, »Selbsthilfe zur Schadensabwehr und Rechtswahrung« zu ergreifen.60 Bei der Analyse von sozialen Protesten gilt es also, die inhärente »soziale Logik«, die Legitimationsvorstellungen der Akteure herauszuarbeiten. Warum richtete sich die Wut der Protestakteure gegen Ausländer ? Warum erschien den Tätern die Anwendung von Gewalt legitim ? Welches waren die konkreten Ziele und Motive ? Von welcher Gerechtigkeitsvorstellung waren die Täter geprägt ? Was wollten sie durch ihre Tat erreichen ? 54 55 56 57 58 59 60

Vgl. ebd., S. 135 f. Ebd., S. 136. Thompson, Moralische Ökonomie S. 69 f. Ebd., S. 69. Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. 16. Gailus, Protestforschung, S. 133. Giesselmann, Protest, S. 67.

Methodischer Ansatz und Fragestellung

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Bei der Beantwortung dieser Fragen muss zwischen langfristig wirkenden Protestursachen und Manifestationsbedingungen unterschieden werden. Mit ersteren sind solche Spannungen gemeint, die seit langer Zeit latent schwelten. Es wird zu fragen sein, welche Spannungen dies in Hoyerswerda waren. Dennoch müssen langfristige Faktoren nicht zwangsläufig zu Protesten führen. Bedingungen, die Protest auslösen, werden Manifestationsbedingungen genannt. Heinrich Volkmann definiert diese als Faktoren, »die die latenten Spannungen aktualisieren, ihren Umschlag in manifeste Aktion fördern und damit für den Zeitpunkt des Protests wichtig sind«.61 Die Manifestationsbedingungen sind somit aktuelle Ereignisse, die den Anlass zum Protest geben.62 Welche waren dies 1991 ? Durch welche Ereignisse wurden welche latenten Spannungen in der Stadt soweit verschärft, dass sie sich in gewaltsamen Ausschreitungen entluden ? Im Sinne Charles Tillys wird zu fragen sein, warum Menschen plötzlich kollektive Gewalt gegen andere Menschen ausüben.63 Proteste können vielfältige Gründe haben. Häufig reagieren sie auf einen Wandel. Diese Veränderungen können beispielsweise demographischer, politischer oder ökonomischer Natur sein. Derartige Entwicklungen bringen Gewinner und Verlierer hervor. So können wirtschaftliche Veränderungen den sozialen Status einer Gruppe beeinflussen. Dabei reagieren jene Gruppen unzufrieden, die von sozialem oder wirtschaftlichem Abstieg bedroht sind. Doch wichtiger als ein tatsächlicher Abstieg ist die relative Deprivation. Raschke definiert die relative Deprivation als »subjektiv empfundene Diskrepanz zwischen Erwartungen und realen Verhältnissen«.64 Ohne dass sich die objektive wirtschaftliche Lage verschlechtert hat, wird eine Benachteiligung der eigenen Person wahrgenommen. Allein die persönliche schlechtere Bewertung der Zukunft in Bezug zum Aufstieg anderer führt zur gefühlten Verschlechterung der eigenen Lage.65 Eng verknüpft mit der relativen Deprivation ist die Statusempfindlichkeit. Wenn es, aufgrund eines ( ökonomischen oder demographischen usw.) Wandels, einer Gruppe gelingt, sozial aufzusteigen, werden die tradierten Vorstellungen vom gesellschaftlichen Status verletzt. Der Aufstieg der Einen bedroht somit den Status anderer.66 Durch den gesellschaftlichen Wandel wird eine »soziale Deklassierung« befürchtet.67 Diese Veränderungen werden von der scheinbar benachteiligten Gruppe als Verstoß des »guten alten Rechtes« bewertet. Waren solche Ängste auch in Hoyerswerda zu spüren ? Wenn ja, welche konkreten Sorgen trieb die Bürger in 61 62 63 64 65 66 67

Volkmann, Kategorien, S. 176. Vgl. Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. 73 ff. Vgl. Tilly, Collective Violence. Raschke, Soziale Bewegungen, S. 148. Vgl. Giesselmann, Protest, S. 59. Vgl. Wirtz, Widersetzlichkeiten, S. 238. Giesselmann, Protest, S. 59.

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Einleitung

den Jahren vor 1991 um ? Was war der Grundkonflikt, der sich in der Gewalt gegen Ausländer entlud ? Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Gewalt gegen Ausländer häufig parallel als »Ausländerfeindlichkeit«, »Rassismus« und »Fremdenfeindlichkeit« bezeichnet. Tatsächlich meinen sie jeweils etwas Anderes, wenn auch Ähnliches. In Deutschland fußt der Begriff des »Rassismus« auf der Rassenlehre im 19. Jahrhundert. Die damals entwickelte Theorie von vermeintlich natürlichen, vererbbaren Unterschieden zwischen verschiedenen Menschenrassen wurde von Autoren wie de Gobineau oder Chamberlain radikalisiert und mündete schließlich in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik.68 Rassismus ist demnach ein biologistisches Konzept. Um rassistische Äußerungen handelt es sich, wenn Menschen wegen ihrer Abstammung negativ konnotierte Eigenschaften zugeschrieben und dadurch abgewertet werden. »Ausländerfeindlichkeit« meint, streng genommen, die abwertende Sicht auf Ausländer. Allerdings ist dieser Begriff irreführend. Denn nicht alle Ausländer werden angefeindet. Hingegen werden auch deutsche Staatsbürger als vermeintliche Ausländer diffamiert.69 Die Konflikte verlaufen nicht »zwischen In - und Ausländern, sondern zwischen den Ethnien«.70 Abgelehnt werden nicht alle Ausländer, sondern als fremd wahrgenommen Menschen. Fremdenfeindlichkeit beruht auf der Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden und ist somit eine Frage der Gruppen - Identität.71 »Fremdenfeindlichkeit« ist ein offener Begriff und kann die Konzepte des Rassismus und der Ausländerfeindlichkeit umfassen. Es empfiehlt sich daher von »Fremdenfeindlichkeit« zu sprechen.

3. Aufbau der Arbeit und Quellenkritik Eine dichte Beschreibung erfordert eine Einbettung des Ereignisses in das nähere Umfeld. Das bedeutet, bevor die Ausschreitungen analysiert werden können, ist es notwendig, die Sozialgeschichte Hoyerswerdas Schicht für Schicht zu betrachten. Aus diesem Grund wird zunächst in Kapitel II der Aufbau der Hoyerswerdaer Neustadt während der DDR skizziert. Es wird den Fragen nachgegangen, warum es zu diesem rasanten Ausbau kam und wie sich die Stadtgesellschaft dadurch verändert hat. Aufbauend auf die kritische Betrachtung der soziologischen Entwicklung Hoyerswerdas in den Jahren der DDR werden die Folgen der Wirtschafts - , Währungs - und Sozialunion problematisiert. Dabei werden insbe-

68 69 70 71

Vgl. Jaschke, Rechtsextremismus, S. 65. Vgl. Silbermann / Hüsers, Der »normale« Haß, S. 35 f. Jaschke, Rechtsextremismus, S. 63. Vgl. ebd.

Aufbau der Arbeit und Quellenkritik

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sondere die Arbeitslosigkeit, die schwierige Situation der Jugendbetreuung sowie die Kriminalitätsfurcht in Betracht gezogen. Dadurch soll dargestellt werden, welche Sorgen die neuen Freiheiten und Herausforderungen bei den Einwohnern hervorrief. Wie wirkten sich die Ängste um die eigene Zukunft auf die Bevölkerung aus ? Das Kapitel stützt sich dabei auf eine breite Quellenbasis. Um zu beschreiben, wie es sich in Hoyerswerda vor 1989 lebte, ist es schwierig, auf offizielle Quellen zurückzugreifen. Zwar gaben der Rat der Stadt und der Rat des Kreises regelmäßig Informationsbroschüren heraus. Doch finden sich in diesen lediglich Zahlenkolonnen über neuerrichtete Kinderbetreuungseinrichtungen, die Ausleihquote der Bibliotheken oder über diverse Feste, die stattgefunden haben. Bei solchen Quellen handelt es sich um offizielle Darstellungen von DDR - Institutionen. Die Veröffentlichungen dienten als Erfolgsmeldung der SED - geführten Kommunalpolitik zur Rechtfertigung des Machtmonopols. Daher können diese Quellen nicht unkritisch übernommen werden. Zudem ist es zweifelhaft, ob Zahlenreihen einen wirklichen Eindruck vom Lebensgefühl vermitteln. Dieser ist vielmehr subjektiver Natur. Nur jeder einzelne Bürger kann seine Lebensqualität bewerten. Von hohem Aussagewert sind daher Aufsätze, Broschüren und Bücher der Einwohner selbst. Indizien für die Bewertung des eigenen Lebens in der Stadt finden sich in einer Veröffentlichung der Gesellschaft für Heimatkunde e. V.72 Zudem haben die Kombinats - Nachfolgeunternehmen ESPAG73 und Vattenfall Werke über die Geschichte des Gaskombinates Schwarze Pumpe und dessen Wohnstadt Hoyerswerda herausgegeben. Besonders der Sammelband des Vattenfall - Konzerns zeichnet sich durch einige Zeitzeugenbefragungen aus.74 Ergänzend wurden Gespräche mit Zeitzeugen geführt. Vorrangig wurden solche Personen befragt, die 1991 in Verantwortung standen. Der Fragenkatalog umfasste jedoch auch immer Fragen zur persönlichen Wahrnehmung der Lebensverhältnisse und von Begegnungen mit Ausländern in der Stadt vor 1989. Dennoch muss bei dem Verweis auf diese Quellen stets bedacht werden, dass damit eben kein Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhoben wird. Es kommen darin lediglich die subjektiven Sichtweisen zum Ausdruck. Sie erlauben aber einen Einblick, wie die Bürgerinnen und Bürger Hoyerswerdas ihr Leben in der Stadt wahrnahmen und erinnern. Eine weitere wichtige Quellenbasis bilden die Lokalzeitungen. Während der DDR gehörte Hoyerswerda zum Bezirk Cottbus. Die SED - Bezirkszeitung hieß »Lausitzer Rundschau«. Im Zuge der medialen Öffnung distanzierte sich dieses Blatt von der Partei und führte eine unabhängige Pressearbeit ein. Ab dem 72 73 74

Anspruch und Wirklichkeit. 40 Jahre Hoyerswerda - Neustadt 1955–1995. Hg. von der Gesellschaft für Heimatkunde e. V., o. O., o. J. Geschichte eines Unternehmens. Vom Gaskombinat zur Aktiengesellschaft. Hg. von ESPAG, Bautzen 1993. Vgl. Caroline Dieterich, Werk + Mensch.

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Einleitung

8. Januar 1990 versah sie sich mit dem Namenszusatz »Unabhängige Tageszeitung«. Als Regionalzeitung verfügt sie seit jeher über einen Lokalteil, der sich explizit dem Kreis Hoyerswerda widmet. Zunächst bestand dieser aus lediglich einer Seite. Ab 1990 lag der »Lausitzer Rundschau« ein mehrseitiges Lokalblatt bei, welches bis zum Januar 1992 »Rundschau für Nordsachsen« hieß und seitdem »Rundschau für Hoyerswerda« heißt.75 Die »Lausitzer Rundschau« fiel in den Jahren nach 1989 durch eine Vielzahl von Leserbriefen auf. Diese geben einen Einblick in die Problemlagen der Leser in dieser Epoche. Die zweite wichtige Regionalzeitung ist die »Hoyerswerdaer Zeitung« als Beilage der »Sächsischen Zeitung«. Die »Sächsische Zeitung« war das SED - Organ des Bezirkes Dresden. Mit dem Beitritt des Kreises Hoyerswerda zum neugegründeten Freistaat Sachsen Anfang 1990 expandierte die »Sächsische Zeitung« in diese Region. Zunächst widmete sie eine Seite ihrer Ausgabe dem Kreis Hoyerswerda. Ab Oktober 1991 lag der »Sächsischen Zeitung« im Raum Hoyerswerda eine eigene Regionalzeitung mit dem Titel »Hoyerswerdaer Zeitung« bei. Diese heißt seit 1993 »Hoyerswerdaer Tageblatt«.76 Obwohl die »Hoyerswerdaer Zeitung« von einer eigenen Chefredakteurin verantwortet wurde, blieb sie ein Beiblatt der »Sächsischen Zeitung«. Neben diesen beiden etablierten Blättern entstanden in der Aufbruchsphase nach 1989 mehrere neue Zeitungen. Neben Anzeigenblättern war dies vor allem das »Hoyerswerdaer Wochenblatt«. Die erste Nummer erschien am 21. Juli 1990, die letzte am 26. Februar 1993. Dazwischen versuchte sie neben der »Lausitzer Rundschau« und der »Sächsischer Zeitung« eine Leserschaft zu gewinnen. Auffällig sind die zahlreichen Interviews mit Lokalpolitikern zur Situation der Stadt, die einen Kontrast zu den Leserbriefen der »Lausitzer Rundschau« und den Berichten der »Sächsischen Zeitung« bieten. Bei der Verwendung von Zeitungsberichten als historische Quelle muss immer hinterfragt werden, inwiefern in den Artikeln Realität wiedergegeben oder durch eine selektive Themenwahl eine bestimmte Wahrnehmung von Realität konstruiert wird. Für die vorliegende Arbeit wurden drei verschiedene Zeitungen, zwei ehemalige SED - Bezirkszeitungen und ein im Zuge der Friedlichen Revolution gegründetes Blatt, herangezogen. Durch die angenommene differenzierte Berichterstattung soll dieses Quellenproblem möglichst minimiert werden. In Verbindung mit weiteren Quellen, wie Zeitzeugengesprächen und den erwähnten regionalen Publikationen entsteht so eine breite Quellenbasis, die eine facetten75

76

Im Folgenden wird als Fundort für Lokalbeiträge, die bis Januar 1990 erschienen, Lausitzer Rundschau, für den Zeitraum Januar 1990 bis Januar 1992 Rundschau für Nordsachsen und für Beiträge ab Januar 1992 Rundschau für Hoyerswerda angegeben. Der Fundort für Beiträge, die nicht im Lokalteil erschienen, wird durchgängig mit Lausitzer Rundschau angegeben. Im Folgenden wird als Fundort für Lokalbeiträge, die bis Oktober 1991 erschienen, Sächsische Zeitung, für den Zeitraum Oktober 1991 bis Januar 1993 Hoyerswerdaer Zeitung und für Beiträge ab Januar 1993 Hoyerswerdaer Tageblatt angegeben. Der Fundort für Beiträge, die nicht im Lokalteil erschienen, wird durchgängig mit Sächsische Zeitung angegeben.

Aufbau der Arbeit und Quellenkritik

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reiche und detaillierte Darstellung der jüngsten Sozialgeschichte der Stadt Hoyerswerda ermöglicht. Im Anschluss an diese Erörterung der sozialen Probleme Hoyerswerdas wird geklärt, seit wann welche Ausländer unter welchen Bedingungen in Hoyerswerda lebten. Die DDR war in nur geringem Maße ein Einwanderungsland. 1989 lebten circa 191 000 Ausländer in der ostdeutschen Republik.77 Größtenteils ( circa 90 500) waren sie als Vertragsarbeiter beschäftigt. Ungefähr 40 000 waren Flüchtlinge oder mit DDR - Bürgern verheiratet. Eine nahezu gleich große Gruppe bildeten ausländische Studentinnen und Studenten bzw. Auszubildende.78 Aufgrund des Übergewichtes der Vertragsarbeiter sowie der Tatsache, dass in Hoyerswerda 1991 ein Vertragsarbeiterwohnheim angegriffen wurde, konzentriert sich die Darstellung zunächst auf die Gruppe der ausländischen Arbeitnehmer. Für die Unterbringung der Arbeiter war das jeweilige Einsatzkombinat zuständig. Der Großteil der in Hoyerswerda lebenden Vertragsarbeiter war im Kombinat Schwarze Pumpe beschäftigt. Demzufolge ist das Archiv des Nachfolgeunternehmens Vattenfall Europe Fundort etwaiger Quellen. Allerdings ergab eine intensive Recherche lediglich Quellen für die 1970er Jahre. Damit können Aussagen über die Beschäftigung und Unterbringung polnischer und algerischer Arbeiter getroffen werden. Diese waren jedoch nur bis 1981 beschäftigt. Die Verträge mit Polen ließ die DDR wegen der dortigen Regierungskrise auslaufen. Algerien protestierte zu Beginn der 1980er Jahre gegen die Ausbeutung seiner Bürger und zog diese aus der DDR ab. Stattdessen waren in den 1980er Jahren vor allem Mosambikaner und Vietnamesen in Hoyerswerda untergebracht. Detaillierte Aussagen über deren Lebenssituation können aber aufgrund der Quellenlage nicht getroffen werden. Zudem muss für die Berichte der 1970er Jahre bedacht werden, dass sie die Sichtweise der Kombinatsleitung auf die polnischen und algerischen Vertragsarbeiter wiedergeben. Etwaige Probleme werden dann benannt, wenn diese den Arbeitsablauf im Kombinat störten. In den Berichten findet sich aus diesem Grund durchaus Kritik bspw. an Diskriminierung von Ausländern durch Deutsche, auch nach der Arbeitszeit. Das Interesse des Betriebes bestand jedoch darin, solche Vorkommnisse zu unterbinden, damit die Probleme nicht die Arbeit im Kombinat stören. Aufgrund der schwierigen Quellenlage wird die bisherige Forschung zu Vertragsarbeitern resümiert, um einen allgemeinen Überblick über die Situation von ausländischen Arbeitern in der DDR zu geben. Eine zweite große Gruppe ausländischer Bürger bildeten ab 1991 Asylbewerberinnen und - bewerber. Aufgrund der weltweiten Krisenherde dieser Jahre, besonders auf dem Balkan, nahm die Bundesrepublik viele Asylbewerber auf. 77 78

Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 4. Vgl. ebd.

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Einleitung

Diese wurden über eine Quotierung auch ostdeutschen Kommunen zugeteilt. In Hoyerswerda kamen 1991 die ersten Asylbewerber an. Auch hierzu ist die Quellenlage schwierig. Die Akten über die einzelnen Asylbewerberheime wurden in den jeweiligen kommunalen Archiven abgelegt. Aufgrund der sächsischen Kreisreformen der letzten Jahre befindet sich der Bestand des Hoyerswerdaer Wohnheimes im Kreisarchiv Bautzen. Dieser ist jedoch sehr überschaubar. Als einzig verwertbare Quelle erwies sich ein Dienstbuch der Wohnheimbetreuer, das ab dem 10. Juli 1991 geführt wurde. Die protokollarischen Einträge verzeichnen nur Besonderheiten im Tagesablauf. Erkenntnisse über die allgemeine Lebenssituation konnten daraus nicht gewonnen werden. Hilfreicher waren an dieser Stelle diverse Zeitungsbeiträge. Jedoch berichteten die Regionalblätter tendenziell eher über Probleme im Zusammenleben zwischen den Asylbewerbern und ihren Nachbarn. Die unterschiedlichen Standpunkte und die spannungsgeladene Situation im August 1991 konnten dadurch aber gut ausgewertet werden. Nachdem die erhebliche Spannung in Hoyerswerda in den Jahren 1990/91 sowie das vorurteilsbelastete Zusammenleben mit den Ausländern erörtert ist, werden in Kapitel IV fremdenfeindliche und rechtsextreme Vorkommnisse in den 1980er Jahren betrachtet. Der Blick liegt dabei auf Strukturen in der Endphase der DDR, die die Grundlagen für die fremdenfeindlichen Ausschreitungen in den neuen Bundesländern nach 1990 gelegt haben. Konkret wird die Entstehung einer NS - affinen jugendlichen Subkultur, die der Skinheads, in den 1980er Jahren analysiert. Diese fiel mit einer immer aggressiver werdenden Fremdenfeindlichkeit und der Verherrlichung des NS - Regimes auf. Während der Friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung wurde Fremdenfeindlichkeit von der Öffentlichkeit vor allem mit Skinheads in Verbindung gebracht. Zunächst wird die Geschichte der DDR - Skinheads kurz zusammengefasst. Im Anschluss an diese generalisierende Betrachtung erfolgt eine Untersuchung über fremdenfeindliche und rechtsextreme Vorfälle in Hoyerswerda. Dabei wird die Entstehung einer rechtsextremen Szene beleuchtet, die bei den Ausschreitungen 1991 in Erscheinung traten. Die Literatur über den Rechtsextremismus und die Skinheadszene in der Endphase der DDR ist nahezu unüberschaubar. Nach der Öffnung der DDR widmeten sich viele Autoren mit unterschiedlichen Interpretationen der Entstehung der rechtsextremen Szene der DDR sowie den fremdenfeindlichen Anschlägen. Zunächst erschienen Publikationen von Journalisten.79 In den folgenden Jahren untersuchten zahlreiche Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen diese Materie. Sozialwissenschaftler,80 Sozialpsychologen81 79 80

81

Ködderitzsch / Müller, Rechtsextremismus in der DDR; Schumann, Glatzen am Alex. Engelbrecht, Rechtsextremismus bei ostdeutschen Jugendlichen; Neubacher, Jugend und Rechtsextremismus; Schubarth, DDR - Jugend; ders./ Heinemann ( Hg.), Der antifaschistische Staat. Maaz, Sozialpsychologische Ursachen.

Aufbau der Arbeit und Quellenkritik

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und Politikwissenschaftler82 suchten eine Erklärung, wie Rechtsextremismus in einem »antifaschistischen« Staat gedeihen konnte. Ihre Erkenntnisse bilden die Grundlage für die allgemeinen Ausführungen. Im Anschluss werden die Entwicklung der Skinheadszene sowie Erscheinungen von Fremdenfeindlichkeit in Hoyerswerda vor 1990 dargestellt. Für die Jahre der DDR sind die Hinterlassenschaften des Ministeriums für Staatssicherheit unerlässlich. Hierbei muss aber der institutionelle Blickwinkel der Staatssicherheit auf das Phänomen »Skinheads« wie auf alle jugendlichen Subkulturen und gesellschaftlichen Normabweichungen bedacht werden. Eine eingehende Analyse der MfS - eigenen Betrachtung der Skinheadszene geht der Auswertung dieser Quellen voran. Für fremdenfeindliche Vorkommnisse und Ausschreitungen im Zeitraum Herbst 1989 bis September 1991 sind die Regionalzeitungen eine gute Quelle. Daneben thematisierten umfangreichere journalistische Publikationen über zahlreiche fremdenfeindliche Ausschreitungen zu Beginn der 1990er Jahre erste Vorkommnisse dieser Art in Hoyerswerda. Zu nennen sind hier Kurt Hirsch und Peter Heim,83 Andreas Borchers84 sowie Bernd Siegler.85 Für einen Angriff auf ein Ausländerwohnheim in der Nacht der Wiedervereinigung stehen zudem Verhörprotokolle der Polizei zur Verfügung. Nach diesen Vorbetrachtungen der Kapitel II bis IV, die Ursachen und Bedingungen für das Ausbrechen der Gewalt darlegen, werden in Kapitel V die mehrtägigen Ausschreitungen im September 1991 detailliert beschrieben. Zunächst erfolgt eine Schilderung des chronologischen Ablaufs. Anschließend wird geprüft, ob die Ausschreitungen die Definitionsmerkmale des sozialen Protestes aufwiesen. In Rückgriff auf die Kapitel II bis IV werden die langfristig wirkenden Ursachen sowie die spannungsverstärkenden Bedingungen zusammengefasst. Ein wesentlicher Bestandteil der Fremdenfeindlichkeit waren Gerüchte und Vorurteile über Ausländer. Es gilt daher, die besondere Rolle der Gerüchte während der Spannungen zu analysieren. Zur Protestanalyse gehört ferner die eigenständige Betrachtung der Protestakteure. Diese Untersuchung ermöglicht, die Dynamik des Protestes besser verstehen zu können und zu beurteilen, welche Akteure durch welche Verhaltensweise der Gewalteskalation Vorschub geleistet haben. Neben dem bereits erwähnten Aufsatz von Pollack stützen sich die Ausführungen im Wesentlichen auf Polizeiberichte. Diese sind zumeist Teletex Nachrichten an andere Dienststellen. Sie wurden daher täglich verfasst, geben die einzelnen Abläufe aber nur sehr allgemein wieder. Daneben werden die Akten 82 83 84 85

Madloch, Entwicklung des Rechtsextremismus; Stöss, Rechtsextremismus im vereinten Deutschland. Hirsch / Heim, Von links nach rechts. Borchers, Neue Nazis. Siegler, Auferstanden.

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Einleitung

der Staatsanwaltschaft Dresden einbezogen. Dabei handelt es sich um Aussage und Verhörprotokolle. Aufgrund der Zeugenaussagen sowie der Protokolle der Beschuldigtenvernehmungen lässt sich besonders der erste Tag der Gewalttaten gut rekonstruieren. Allerdings sind die im Sächsischen Hauptstaatsarchiv befindlichen Akten der Staatsanwaltschaft Dresden lückenhaft. Zwischen dem 17. und 23. September wurden 124 Personen vorläufig festgenommen und schließlich 85 Ermittlungsverfahren gegen 82 Beschuldigte eingeleitet. Davon wurden 27 Verfahren eingestellt. Gegen acht Personen wurde Haftbefehl erlassen und Anklage in 50 Fällen erhoben.86 Im Hauptstaatsarchiv Dresden befinden sich aber nur noch Akten zu 42 Beschuldigten. Die Aussagen und Verhöre, die vom 18. bis 23. September durchgeführt wurden, geben aus diesem Grund nur einen kurzen, stark subjektiven Einblick in die Gewalteskalation. Das summarische Gesamtbild lässt sich letztlich nur über die Polizeiberichte herstellen. Diese Art von Berichten zeichnet sich naturgemäß durch eine Täterfixierung aus. Das Handeln der Betroffenen der Gewalt sowie der Polizei wird nur am Rande beschrieben. Dennoch kann in Verknüpfung der Polizeiberichte mit den zum Teil recht ausführlichen Beschuldigtenaussagen die Gewaltdynamik gut analysiert werden. In Kapitel VI werden die Reaktionen und Folgen der Ausschreitungen vorgestellt. Zunächst werden die politischen Reaktionen auf Bundes - , Landes - und auf kommunaler Ebene betrachtet. Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Kommunalpolitik. Die Frage lautet, welche Ursachen für die Ausschreitungen die Verantwortlichen vor Ort sahen und wie sie darauf reagierten. Ebenso bedeutsam ist die Betrachtung zivilgesellschaftlichen Engagements in der Stadt als Verarbeitung der Gewalteskalation. Es werden verschiedene Aktivitäten vorgestellt. Letztlich soll die weitere Entwicklung der rechtsextremen Jugendszene Hoyerswerdas betrachtet werden. Als vorläufiger Endpunkt wird dabei ein dramatischer Überfall im Jahr 1993 gewählt, in dessen Folge zwei Beteiligte zu Tode kamen.

86

LKA Sachsen, Dokumentation Rechtsorientierte / fremdenfeindliche Straftaten im Freistaat Sachsen 1991/1992, S. 18 ( SächsHStA Dresden, 12989 SMI, Nr. 1157, unpag. ).

II. Die stadtgeschichtliche Entwicklung Hoyerswerdas aus sozialhistorischer Sicht

1. Der Aufbau Hoyerswerdas zur zweiten sozialistischen Wohnstadt der DDR Beim ersten Spatenstich im Zuge der Erweiterung Hoyerswerdas 1955 wohnten 7 755 Menschen in der Stadt.1 Heinz Stampe charakterisiert die Stadt als »kleine[s] Landstädtchen«.2 Warum entschloss man sich, aus dieser Kleinstadt die zweite sozialistische Wohnstadt der DDR3 zu bauen ? Die Gründe lagen zum einen in der Wirtschafts - und Energiepolitik der DDR, zum anderen in der besonderen Lage Hoyerswerdas. Durch die Teilung Deutschlands fielen für die ostdeutsche Wirtschaft die Koks - und Steinkohlelieferungen aus dem Ruhrgebiet weg. Auch die Lieferungen aus Schlesien erreichten nicht mehr den Stand wie vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Wirtschaft der DDR war daher auf ihre eigenen Braunkohlevorkommen angewiesen.4 In der Lausitz hatte man ergiebige Kohlefelder erkundet, für die ein Braunkohleveredelungskombinat errichtet werden 1

2 3 4

Vgl. Heinz Stampe, Untersuchen Sie die Befriedigung der ständig wachsenden Bedürfnisse der Bevölkerung an Reparaturen und Dienstleistungen im Bereich der Stadt Hoyerswerda unter besonderer Beachtung der Arbeit der örtlichen Staatsorgane. Unveröffentlichte Hausarbeit an der Fachschule für Industrieökonomik Plauen, Fachrichtung Planung und Statistik, Plauen, 15. 2. 1962, S. 3 ( Stadtarchiv Hoyerswerda, Nr. 3181). Gerd Michel, Aufbau und Entwicklung Hoyerswerdas als zweite sozialistische Wohnstadt der DDR – Ausdruck der Bündnispolitik der Partei der Arbeiterklasse ( von der Mitte der 50er Jahre bis zum Beginn der 60er Jahre ). Unveröffentlichte Diplomarbeit an der Humboldt - Universität zu Berlin, Sektion Geschichte, Abteilung Fernstudium Geschichte, Schwarze Pumpe 1986, S. 26 ( Stadtarchiv Hoyerswerda, Nr. 4150) und Norbert Birnbaum, Die Entwicklung des Bauwesens in der Zeit nach dem VIII. Parteitag der SED am Beispiel der Stadt Hoyerswerda. Unveröffentlichter Abschlussbeleg zum Doktorandenseminar vorgelegt dem Institut für Marxismus - Leninismus der Ingenieurhochschule Cottbus und dem Kreismuseum der Stadt Hoyerswerda, Cottbus, 31. 7. 1988, S. 7 (BLHA, SED - Bezirksleitung Cottbus, Rep. 930, Nr. 4250) sprechen dagegen von 7 500 Einwohnern. Stampe, Befriedigung der ständig wachsenden Bedürfnisse, S. 3. Die erste sozialistische Wohnstadt war Eisenhüttenstadt. Vgl. Mehls, Arbeiterwohnungsbau, S. 237 f.

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Die stadtgeschichtliche Entwicklung Hoyerswerdas

sollte. Der Standort wurde in zwei verschiedenen Gutachten 1953/54 und 1954/55 geprüft. Ersteres schlug die Errichtung des »Kokskombinates Trattendorf« in Trattendorf vor. Die zweite Studie erarbeitete Pläne für ein »Kokskombinat Schwarze Pumpe« im Ort Schwarze Pumpe bei Hoyerswerda. »Der Vorteil dieser Studie lag darin, dass ein kohleflözfreier Standort gewählt war, sowohl hinsichtlich des Baues des Kombinates, als auch einer sozialistischen Wohnstadt Hoyerswerda.«5 Dieses Argument war letztlich ausschlaggebend. Vor dem Bezirkstag Cottbus erläuterte Fritz Selbmann, Stellvertreter des Ministerpräsidenten und Minister für Schwerindustrie, die Wahl Hoyerswerdas als Wohnort der Arbeitnehmer in Schwarze Pumpe : »Welche Gesichtspunkte waren dabei für uns maßgebend ? Der entscheidende Gesichtspunkt war der, dass wir die Wohnsiedlung für die Arbeiter des Kombinats ›Schwarze Pumpe‹ dort bauen müssen, wo wir in den nächsten 100 Jahren nicht erwarten müssen, dass wir wegen Kohlemangel mit der Kohlegewinnung nicht hinkommen werden. Die Entwicklung nach Norden, d. h. Spremberg, zu, würde uns in einigen Jahrzehnten, spätestens im Jahre 2000, dazu zwingen, das neubebaute Gebiet für die Kohlegewinnung in Anspruch zu nehmen [...] Lediglich im Nordosten der Stadt Hoyerswerda haben wir ein genügend großes kohlefreies Gebiet, um dort eine große Wohnsiedlung zu bauen.«6

Der Ausbau Hoyerswerdas war demnach den Erfordernissen der geplanten wirtschaftlichen Entwicklung der DDR unterworfen. Es handelte sich nicht um ein natürliches Wachstum, sondern wurde von der Regierung beschlossen. Die Planer nahmen dabei »bewusst zwei gravierende Nachteile in Kauf : die Anbindung einer großen Siedlung an eine kleine Stadt und die Notwendigkeit eines umfangreichen Berufsverkehrs«.7 Hoyerswerda lag an der Bahnstrecke Falkenberg - Elstra sowie an der Nebenstrecke Hoyerswerda - Bautzen. Durch die Stadt führten die beiden Fernstraßen F96 und F97. Damit »war die Stadt sowohl an den Nord - Süd - als auch an den Ost - West - Kraftverkehr angebunden, wobei der F97 eine wichtige Aufgabe bei der Erschließung des Aufbaugebietes zukam«.8 Diese Straße führte von Hoyerswerda zum Ort Schwarze Pumpe. Am 23. Juni 1955 wurden zwei Urkunden vom Ministerrat als Beschlusssache der Regierung ausgefertigt. Minister Selbmann unterschrieb die erste, die den Aufbau des Kombinates Schwarze Pumpe beschloss.9 Das Kombinat Schwarze Pumpe produzierte seit 1959 Kohlebriketts und Elektroenergie, seit 1964 Stadtgas und seit 1969 Braunkohlenkoks.10 Die Urkunde über den »Bau der sozialistischen Wohnstadt Hoyerswerda« wurde vom Minister für Aufbau, Kramer, unter5 6 7 8 9 10

Michel, Aufbau und Entwicklung, S. 30. Rede Fritz Selbmann auf der VII. Sitzung des Bezirkstages Cottbus, 27. Juli 1955. Zit. in ebd., S. 32. Mehls, Arbeiterwohnungsbau, S. 239. Ebd. Vgl. Michel, Aufbau und Entwicklung, S. 30 f. Vgl. Hübner / Rank, Schwarze Pumpe, S. 36.

Der Aufbau Hoyerswerdas zur sozialistischen Wohnstadt

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Karte 1 : Stadtgebiet Hoyerswerdas 195411 (dunkle Fläche : Die Altstadt von Hoyerswerda, unausgefüllte Umrisse : Klein - Neida, ein Ort, der 1959 zu Hoyerswerda eingemeindet wurde.)

schrieben.12 Damit war die nächste Zukunft der Stadt besiegelt. Sie wurde, nach Eisenhüttenstadt, die zweite sozialistische Wohnstadt der DDR. Michel interpretiert den Aufbaubeschluss folglich : »Somit war, sowohl staatsrechtlich, als auch parteipolitisch die sozialistische Industrialisierung der Lausitz eingeleitet worden, indem der Bezirk Cottbus den Status eines Kohle - und Energiebezirkes erhielt und Hoyerswerda als zweite sozialistische Wohnstadt der DDR determiniert war.«13 Der Historiker wies in seiner Arbeit auf die zentrale Entscheidung durch die Regierungsebene der DDR und vor allem der SED - Parteispitze hin. Die Errichtung einer sogenannten »sozialistischen Stadt« bedeutete eine zentrale Planung und Baukoordinierung für die gesamte Stadt. Die Zukunft Hoyerswerdas wurde von einigen wenigen Politikern und Stadtplanern bestimmt. Die alteingesessene 11 12 13

Vom Verfasser überarbeitete Karte, Original in : Biernath, architektour, S. 6. Vgl. Michel, Aufbau und Entwicklung, S. 30 f. Ebd., S. 31.

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Bevölkerung Hoyerswerdas und der Region wurden nicht befragt. Sie verloren die Handlungsfreiheit über die Entwicklung ihrer Stadt. Diese wurde von der Regierung an die zuständigen Planstellen delegiert. Nachdem der Standort für die Wohnstadt gefunden worden war, sollte ein Städtebauwettbewerb 1955/56 die genauere Planung festlegen. Die Grundlage für die Stadtplanungen sozialistischer Länder in der zweiten Hälfte der 1950er Jahren wurde jedoch nicht in architektonisch - künstlerischen Diskussionen erörtert, sondern vom KPdSU - Vorsitzenden Nikita Chruschtschow auf einer Rede vor der Allunions - Baukonferenz der sowjetischen Bauschaffenden im Dezember 1954 in Moskau festgelegt. In seinem Beitrag kritisierte der sowjetische Parteichef die stalinistische Architektur, der er Verschwendung volkswirtschaftlicher Mittel vorwarf. Stattdessen forderte er die Technologiesierung des Bauwesen, um dadurch »Besser, billiger und schneller bauen«14 zu können. Effizientes, und damit sozialistisches Bauen hieß in der Folge, Wohnungen und mithin ganze Städte planmäßig, typisiert und industrialisiert zu errichten. Dafür wurden Häuserserien entworfen, »deren Bauelemente als unveränderbare Fabrikate so lange vom Band laufen sollten, bis eine neue Häuserserie aufgelegt wurde«.15 Die beteiligten Stadtplaner und Architekten orientierten sich an Leitbildern aus der Weimarer Republik, besonders an die »Idee vom universellen Häuserkasten, die Walter Gropius und andere Architekten [...] propagiert hatten«.16 Das Problem dabei war, dass die DDR - Planer keine praktischen Erfahrungen im komplexen Städtebau besaßen. »Sie versuchten, ihre Ideen von einem menschlichen Wohnen aller Bürger umsetzen, und ihr Experimentierfeld wurde Hoyerswerda.«17 Bei ihren Planungen waren sie von einem idealen Menschenbild geleitet und »übersahen die konkreten Interessen und Bedürfnisse der Energie - und Bergarbeiter in ihrer ganzen Vielfalt und Breite«.18 Für die praktische Umsetzung des sozialistischen Bauens bedeuteten Chruschtschow Anordnungen eine monotone Gleichförmigkeit der Häuserzeilen. Jeglicher Individualismus sollte durch die typisierten Bauten aus dem Straßenbild verschwinden. Bei der konkreten Konzeption der Hoyerswerdaer Neustadt mussten die gegebenen Bedingungen vor Ort in das Konzept der neuen Wohnstadt einbezogen werden. Dabei wurde »das Verhältnis zwischen dem kleinen Handwerker - und Ackerbürgerstädtchen und de[ n ] umliegenden Orte[ n ] auf der einen und der großen Industriesiedlung auf der anderen Seite zur Disposition gestellt«.19 Zwei 14

15 16 17 18 19

So der programmatische Titel, unter dem die 1. Baukonferenz der DDR 1955 unter dem Eindruck der Chruschtschow - Rede stattfand, vgl. Topfstedt, Neustadt von Hoyerswerda, S. 17; ders., Städtebau in der DDR, S. 10 f. Topfstedt, Neustadt von Hoyerswerda, S. 17. Ebd. Mehls, Arbeiterwohnungsbau, S. 234. Ebd. Ebd., S. 240.

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Varianten wurden entworfen. Die eine sah die Errichtung einer Neustadt als eigenständige Stadt getrennt von der über 700 Jahre alten Kleinstadt Hoyerswerda vor. Räumlich sollte diese Trennung am Verlauf der Schwarzen Elster sichtbar sein. Letztlich entschloss man sich für die zweite Variante, die Verschmelzung beider Teile »zu einer organischen Einheit«.20 Mit diesem integrativen Modell gewann das Stadt - und Dorfplanungsbüro Halle den Städtebauwettbewerb.21

Karte 2 : Erweitertes Stadtgebiet nach dem Bebauungsplan 195722

Konkret sah der Entwurf eine Erweiterung der Stadt östlich der Schwarzen Elster um sieben Wohnkomplexe ( WK ) entlang einer abknickenden Magistrale vor. Bei Bedarf konnten zwei WK ergänzt, sowie Baulücken in der Altstadt geschlossen werden. So sollte zusätzlicher Wohnraum für 48 000 Einwohner entstehen.23 Der Grundgedanke eines WK »bestand darin, dass alle Bedürfnisse des täglichen Lebens in weitestgehendem Maße innerhalb seiner Grenzen befriedigt werden können«.24 Jeder WK sollte somit eine funktionelle Einheit sein. Pro WK sollten 3 500 bis 4 000 Einwohner in 3 - bis 4 - geschossigen Häusern leben. Als gesellschaftliches Zentrum waren jeweils ein Versammlungshaus und eine Gaststätte vorgesehen. Ebenso waren für jeden WK eine Ladengruppe, Schulen sowie Kinderkrippen und - gärten ( sog. Nachfolgeeinrichtungen ) geplant.25 Die einzelnen WK sollten aber nicht isoliert voneinander sein, sondern durch Grünflächen 20 21 22 23 24 25

Ebd. Vgl. Anspruch und Wirklichkeit, S. 4; Biernath, architektour, S. 4. Karte entnommen aus : Biernath, architektour, S. 6. Vgl. Anspruch und Wirklichkeit, S. 4 f. Biernath, arichtektour, S. 19. Vgl. Anspruch und Wirklichkeit, S. 6; Mehls, Arbeiterwohnungsbau, S. 246.

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miteinander verbunden werden.26 Im Entwurf waren weiterhin zentrale städtische Bauten vorgesehen. Dazu zählten Verwaltungsgebäude, Hotels, ein Kulturhaus, ein Krankenhaus, eine Kaufhalle, eine zentrale Sportanlage und ein Bahnhof in der Neustadt.27 »Die WK, die die kleinstädtische Ruhe und Überschaubarkeit in einer Mittelstadt verkörperten, bildeten in der Konzeption mit dem großzügig entworfenen Zentrum eine Einheit.«28 In der Elsteraue sollte ein Kulturpark entstehen, der beide Stadtgebiete vereinen sollte. Diese Variante erleichterte den Bau der Neustadt und der notwendigen Dienstleistungen, sodass er die Grundlage für den Aufbau wurde.29 Hartmut Mehls sieht in diesem Entschluss lang wirkende negative Auswirkungen auf das Zusammenleben der Alt und Neuhoyerswerdaer : »Er führte zu einem belastenden Umbruch in der Lebensweise der Altstadt und zum Wandel des Stadtbildes, obwohl bis heute zwischen Alt - und Neustadt erhebliche Unterschiede bestehen.«30 Der Bau der Neustadt sollte 1963 beendet sein.31 Bevor der Bebauungsplan des Hallenser Instituts ausgereift vorlag, wurde 1955 begonnen, die Baulücken in der Altstadt zu schließen und so drei neue Wohngebiete zu schaffen. Dadurch entstanden 1 200 Wohnungen, zwei Schulen, eine Grundschule, eine Oberschule, Kindergärten und - krippen, ein Sportplatz, ein Jugendklubhaus und ein Festsaal.32 »Dieses Vorgehen, das für den Aufbau in der DDR dieser Jahre typisch war, wurde beschönigend ›gleitende Projektierung‹ genannt. So entstanden Tatsachen, die später nur schwer zu korrigieren waren«,33 urteilte Mehls. Der erste Spatenstich für die Erweiterung der Altstadt wurde von der Vorsitzenden des Rates des Kreises, Gertrud Grauer, am 10. August 1955 vor dem Bahnhofsgelände ausgeführt.34 Bereits am 31. August 1955 wurden zwei weitere symbolische Akte vollzogen : Am Vormittag führte Minister Selbmann den ersten Spatenstich in Schwarze Pumpe aus und am Nachmittag wurde der Grundstein der erwähnten Wohnungen gelegt.35 Auf dem Baugelände »Bahnhofsvorplatz« ( Stadtteil »Am Bahnhof«) entstanden die ersten 380 Wohnungen (davon 350 in staatlichem Eigentum ). Ebenfalls von 1955 bis 1957 wurden im benachbarten Baugebiet »Westrandbebauung« ( Stadtteil »Am Stadtrand«) etwa 900 Wohnungen gebaut.36 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Vgl. Michel, Aufbau und Entwicklung, S. 46. Vgl. Anspruch und Wirklichkeit, S. 7. Mehls, Arbeiterwohnungsbau, S. 246. Vgl. ebd., S. 240. Ebd. Vgl. Anspruch und Wirklichkeit, S. 7. Vgl. ebd. Mehls, Arbeiterwohnungsbau, S. 236. Vgl. Michel, Aufbau und Entwicklung, S. 36. Vgl. Michel, Aufbau und Entwicklung, S. 36; Birnbaum, Entwicklung des Bauwesens, S. 7. Vgl. Biernath, architektour, S. 13.

Der Aufbau Hoyerswerdas zur sozialistischen Wohnstadt

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Karte 3 : Erweitertes Stadtgebiet nach dem Bebauungsplan 195737

Auf der östlichen Uferseite der Schwarzen Elster entstand ab 1957 die Neustadt von Hoyerswerda. Die Grundsteinlegung wurde auch hier feierlich begangen. Am 15.38 oder am 16.39 Juni gab der Minister für Bauwesen, Winkler, im

37 38 39

Karte entnommen aus : Biernath, S. 18. Vgl. ebd., S. 26; Anspruch und Wirklichkeit, S. 13. Vgl. Michel, Aufbau und Entwicklung, S. 58.

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WK I das Startsignal für den Bau der Neustadt.40 Bis 1966 entstanden in der Neustadt die WK I bis VII. Die Hoyerswerdaer Neustadt sollte als »Verwirklichung des industriellen Bauens im Maßstab einer ganzen Stadt«41 gebaut werden. Darum wurden bei der Errichtung der einzelnen Wohngebiete bautechnische Innovationen ausprobiert und eingeführt. So kam im WK I erstmals die Großplattenbauweise zum Einsatz. Dafür wurde in den Jahren zuvor ein Großplattenwerk in der Ortschaft Groß Zeisig bei Hoyerswerda errichtet. Es war das erste Betonwerk dieser Art der DDR. »Damit begann der industrielle Wohnungsbau in Hoyerswerda« sowie in der DDR überhaupt.42 Der WK III, erbaut von 1959 bis 1962, war das erste Wohngebiet der Stadt, welches ausschließlich aus Plattenbauten errichtet wurde. Die Architekten mussten jedoch zunächst mit der neuen Bauweise umgehen lernen. Der Häuserbau orientierte sich folglich an technischen Zwängen : Die Montage des Portalkranes konnte nur nach starren Verfahren erfolgen. Dadurch wurden auch die Häuser in strengen Zeilen errichtet. Unterbrochen wurde diese erstarrte Gliederung lediglich durch Straßen und Wege.43 »Hoyerswerda wurde damit zum Prototyp der ›Stadt nach dem Verlauf des Portalkrans‹«.44 Das WK III erhielt darüber hinaus die ersten Hochhäuser der DDR, welche in Plattenbauweise errichtet worden waren. Rund ein Drittel der 1 300 Wohnungen entstanden in diesen achtgeschossigen Häusern, welche gegenüber dem geplanten Stadtzentrum arrangiert wurden.45 Der Bau des WK IV brachte eine weitere Neuerung in Form einer neuen städtebaulichen Ordnung. An Stelle einzelner Häuser wurden ganze Häusergruppen aus verschieden langen Häuserblocks um die zentrale Grünfläche gruppiert.46 1 340 Wohnungen entstanden von 1961 bis 1963 im WK IV.47 Im WK VI wurde an einem Haus die Raumzellenbauweise erprobt. Dafür wurden bereits im Betonwerk je sechs Betonelemente zu einer Raumzelle zusammengefügt, zur Baustelle gebracht und dort montiert. Dadurch wollte man Zeit und Kosten sparen. Da diese Ziele aber nicht umgesetzt werden konnten, blieb es bei diesem Experiment.48 Mit dem WK VII wurde 1965 und 1966 der ursprünglich geplante Entwurf mit drei Jahren Verspätung abgeschlossen. Allerdings fehlte das Stadtzentrum.49 Der Grund dafür lag in den mangelnden finanziellen Ressourcen. Man berechnete, dass das geplante Stadtzentrum mehr als 40 Millionen Mark gekostet hätte. Aus diesem 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49

Vgl. ebd. Flierl, Hoyerswerda, S. 9. Anspruch und Wirklichkeit, S. 13. Vgl. ebd., S. 16; Biernath, architektour, S. 33. Topfstedt, Städtebau in der DDR, S. 33. Vgl. Anspruch und Wirklichkeit, S. 16. Vgl. ebd., S. 17 und Biernath, architektour, S. 37. Vgl. Biernath, architektour, S. 37. Vgl. Biernath, architektour, S. 49 f.; Anspruch und Wirklichkeit, S. 19. Vgl. Biernath, architektour, S. 21; Anspruch und Wirklichkeit, S. 53.

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Grund wurde es nicht gebaut.50 Damit ist ein wesentliches Problem beim Bau des »neuen Hoyerswerda« angesprochen : Es war zu wenig Geld und Material vorhanden, um die Stadt planmäßig zu erbauen. Deswegen wurde sehr früh der Schwerpunkt auf die Bereitstellung von Wohnraum bei Vernachlässigung von Nachfolgeeinrichtungen gelegt.51 Das Stadtzentrum bspw. fiel fast völlig weg. Am Ende der DDR war es nur in Bruchstücken verwirklicht.52 Hinzu kam der Endausbau des Kombinates Schwarze Pumpe. Dadurch musste die Neustadt ab 1963 erweitert werden. Man plante nun eine Stadt für 75 000 Einwohner. Dafür wurden in den WK III und V Erweiterungen vorgenommen ( WK III / E bzw. WK V / E ) sowie die WK VIII bis X errichtet. Statt des ursprünglich geplanten Stadtzentrums wurden auf dem dafür veranschlagten Gebiet ebenfalls Wohnhäuser gebaut. Durch diese Maßnahmen wurde Wohnraum für weitere 30 000 Einwohner geschaffen.53 Die neuen Pläne konnten aber aufgrund der bisher geschaffenen Tatsachen nur mit Kompromissen umgesetzt werden und schufen eine Reihe von Problemen. Darunter fielen Verkehrsprobleme und die ursprünglich geplanten Versorgungseinrichtungen für 54 000 Einwohner.54 Besonders problematisch war das defizitäre Handels - und Versorgungsnetz, welches durch das fehlende Stadtzentrum verschärft wurde. Wegen dieser mangelnden wirtschaftlichen und vor allem auch kulturellen Attraktivität wurde die Wohnstadt Hoyerswerda alsbald zur reinen »Schlafstadt«.55 In der Neustadt entwickelte sich schlichtweg kein städtisches Treiben : »Ins Theater fuhr man nach Cottbus und zum Einkaufsbummel nach Dresden oder Berlin.«56 Bereits ein Jahr nach dem Baubeginn der Neustadt nahm die Unzufriedenheit der Einwohner über die Unterversorgung mit alltäglichen Gütern ab 1958 kontinuierlich zu. Die Situation war 1960 schließlich so angespannt, dass sich das Kombinat Schwarze Pumpe für die Belange seiner Arbeiter einschaltete. Auch die kommunale Verwaltung, die Nationale Front, die Frauenausschüsse und die Leitung des Aufbaustabes setzten sich für die Hoyerswerdaer ein.57 Eine allgemeine Diskussion wurde, angeregt durch die Schriftstellerin Brigitte Reimann, ab 1963 öffentlich geführt.58 Die Einwohner kritisierten das fehlende Stadtzentrum sowie die mangelnde künstlerische Gestaltung der Stadt, wodurch ein »Gefühl der Monotonie« entstanden sei.59 In der Folge räumte der Rat der Stadt 1965 Fehler im bisherigen Aufbau ein. 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59

Vgl. Mehls, Arbeiterwohnungsbau, S. 246. Vgl. ebd., S. 251 f. Vgl. Anspruch und Wirklichkeit, S. 7. Vgl. Biernath, architektour, S. 20. Vgl. Anspruch und Wirklichkeit, S. 7 f. Ebd., S. 8. Mehls, Arbeiterwohnungsbau, S. 246. Vgl. ebd., S. 261. Vgl. ebd., S. 261 f. Flierl, Hoyerswerda, S. 12.

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Besonders die fehlenden Freizeitmöglichkeiten wurden angesprochen. Als Grund hieß es selbstkritisch, die zuständigen städtischen Institutionen hätten zu spät auf das rasante Wachstum der Stadt reagiert. Michel kritisiert zu Recht, dass der Bau der Stadt völlig den Bedürfnissen des Kombinates und nicht seiner Einwohner untergeordnet wurde.60 Der Ausbau der Neustadt ab Mitte der 1960er Jahre, also die zweite Aufbauphase, sorgte dann dafür, dass die neuen WK mehr Nachfolgeeinrichtungen erhielten. Dies führte zu einer Verbesserung der materiellen und kulturellen Lage. »Aber gleichzeitig damit verlor der Aufbau des Stadtzentrums an Dringlichkeit, was sich negativ auf das städtische Milieu in den ersten sieben WK auswirkte.«61 Schließlich nahm sich 1971 der Ministerrat dieses Problems an und beschloss eine Verbesserung der Arbeits - und Lebensbedingungen der Bergarbeiter der Kohleindustrie besonders im kulturellen Bereich. Für Hoyerswerda hieß das, dass zusätzliche Nachfolgeeinrichtungen in den WK VII und IX sowie als Lücken - und Randbebauung in den WK II, III und VI entstehen sollten.62 Bei dieser »Nachverdichtung«63 wurde auf eine sensible Einfügung der neuen Blöcke in das bisherige Umfeld weitgehend verzichtet. So wurde z. B. ab 1967 die Erweiterung des WK V in südlicher Richtung gebaut. Dabei befand sich das WK V / E auf dem Gebiet, das ursprünglich für den Kulturpark vorgemerkt war. Dieses fiel dem Wohnungsbau zum Opfer. Als Ausgleich entstanden eine Kaufhalle und ein Jugendklub in diesem Wohngebiet.64 Weiterhin wurde 1971/2 im WK V die sogenannte »Randbebauung« mit fünf - , acht - und elfgeschossigen Häusern errichtet. Diese Häuserzeile erhielt im Volksmund die Bezeichnung »Stadtmauer«. Der Name spielt auf die architektonisch wenig reizvolle Errichtung einer langen, geschlossenen Plattenbaureihe an. Die Randbebauung bewies, dass es bei diesem Bau weniger um architektonische Aspekte als vielmehr um technologische Möglichkeiten ging.65 Wegen des erwähnten Ausbaues des Kombinates Schwarze Pumpe wurden nicht nur die bisherigen WK verdichtet, sondern drei weitere Wohngebiete ( WK VIII–X ) gebaut. Allerdings ließ die vorhandene Infrastruktur eine Erweiterung lediglich nach Norden in Richtung der Ortschaft Kühnicht zu.66 Trotz des forcierten Wohnungsbaues mangelte es an ausreichenden Wohnungen. Beispielsweise gab es noch am 30. September 1988 4 637 offene Wohnungs-

60 61 62 63 64 65 66

Vgl. Michel, Aufbau und Entwicklung Hoyerswerdas, S. 78. Mehls, Arbeiterwohnungsbau, S. 246. Vgl. Birnbaum, Entwicklung des Bauwesens, S. 32. Biernath, architektour, S. 37. Vgl. ebd., S. 45 f.; Anspruch und Wirklichkeit, S. 18. Vgl. Biernath, architektour, S. 46. Vgl. ebd., S. 57 ff.

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Karte 4 : Die Hoyerswerdaer Wohngebiete um 199067

anträge im Kreis. Davon waren 2 073 Antragsteller ohne eigenen Wohnraum.68 Besonders betroffen von der Wohnungsnot waren junge Menschen, denn es fehlten 1 - bis 2 - Zimmer - Wohnungen für Alleinstehende und Alleinerziehende.69 Wie drängend das Problem war, zeigten Zeitungsberichte nach der Öffnung der DDR. Eine der ersten Forderungen der Hoyerswerdaer Bürger im November 1989 war demnach die Bereitstellung von Wohnraum, der von Parteien und anderen Organisationen genutzt wurde. Die Räume der SED - Kreisleitung wurden geräumt und renoviert, standen aber seit Januar 1990 leer. Daraufhin beschäftigte sich im Februar die »Ständige Kommission Örtliche Versorgungswirtschaft« mit dem Thema. Die Abgeordneten setzten sich für die lange auf Wohnungen wartenden Bürger ein und erhöhten in einem Pressebericht den Druck auf die Organisationen. Ihre zentrale Forderung war die Räumung weiterer Wohnungen, die von anderen Parteien genutzt wurden. Sie verwiesen aber 67 68

69

Vom Verfasser überarbeitete Karte, Original in : Biernath, architektour, S. 5. Vgl. Rat der Stadt Hoyerswerda ( Hg.), Informationsblatt. Bilanz und Argumentation zur erfolgreichen Verwirklichung der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED in der Stadt Hoyerswerda, 40/41 (1988), S. 4 ( KA BZ, 13000/ Nr. 921, unpag. ). Vgl. Specht, Sozialraum Hoyerswerda, S. 71.

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auch auf leer stehende Wohnungen der beiden Betreiber »AWG« und »Gebäudewirtschaft«. Die Kommission schlug ebenso vor, Wohnungen von solchen Bürgern neu zu vergeben, die die DDR in den Wochen und Monaten zuvor verlassen hatten.70 Dennoch wurden von 4 585 Anträgen auf einen Wohnberechtigungsschein, die zwischen dem 1. September 1990 und dem 30. April 1991 eingereicht wurden, lediglich 3 896 bestätigt. Erst aufgrund dieser Bestätigung wurde den Antragstellern eine Wohnung von den beiden Wohnungsgesellschaften zugewiesen. Im genannten Zeitraum erhielten aber von den bestätigten Ansprüchen nur 1 663 Antragsteller eine Wohnung.71 Laut dem damaligen Büroleiter des Landrats, Stefan Skora, habe sich jedoch die Wohnungssituation schnell entspannt. Die Wohnungsvergabe wurde nicht mehr reglementiert, sondern dem Markt überlassen. Zusätzlich wurde in den umliegenden Gemeinden Bauland für Eigenheime ausgeschrieben. Die Wohnungsnot sei dadurch abgeschwächt worden.72 Wie bereits geschildert, wurde die Umsetzung des Stadtzentrums nicht realisiert. Erst 1965 wurde mit dem Bau eines großen Kaufhauses, des CENTRUM Warenhauses, begonnen. Fertig gestellt war es 1968. Ebenso wurden in dieser Zeit 220 Wohnungen auf dem als Kulturpark geplanten Gebiet angelegt. Weitere Wohnungen in elfgeschossigen Häusern wurden in den 1970er Jahren gebaut. Damit entfernte man sich erneut vom ursprünglichen Konzept. Ein Kompromiss wurde insofern umgesetzt, als dass in den Erdgeschossen Dienstleistungseinrichtungen eingeräumt wurden und dadurch zwei Ladenstraßen entstanden.73 Als kulturelles Zentrum entstand mit starker Verzögerung zwischen 1977 und 1982 das »Haus der Berg - und Energiearbeiter« ( HBE ). Darin waren ein großer Saal mit 850 Plätzen, ein kleiner Saal mit 280 Plätzen, ein Jugendklub, eine Bar und Geschäftsräume untergebracht. Im Stadtzentrum wurde ein ehemaliger Friedhof zu einem Ehrenhain mit Kriegerdenkmal, Ehrenfriedhof und Gedenkstätte umgewandelt. Eingeweiht wurde der Ehrenhain 1975. Die ehemalige Begräbniskapelle wurde 1989 zum Martin - Luther - King - Gemeindehaus umgestaltet.74 Nicht gebaut wurde die Schwimmhalle und auch der »zentrale Bereich, bei dem an ein Rathaus, ein ›Haus der Dienste‹, Kaufhäuser, Kino, Gastronomie und Geselligkeit u. a. gedacht war, blieb weiter als Brache liegen«.75 Durch die Fokussierung auf den Aufbau der Neustadt wurde Hoyerswerda eine geteilte Stadt. Altstadt und Neustadt liegen nebeneinander, das integrierende 70 71 72 73 74 75

Elfride Sickert, Eine brennende Frage. In : Rundschau für Nordsachsen vom 10.2.1990. Zahlen entnommen aus : Siegbert Matsch, Wohnungs - Notstand. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 24.5.1991. Zeitzeugengespräch mit Stefan Skora am 23. 6. 2011. Biernath, architektour, S. 69; Anspruch und Wirklichkeit, S. 24. Vgl. Biernath, architektour, S. 69 f.; Anspruch und Wirklichkeit, S. 24 f. Biernath, architektour, S. 71.

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Stadtzentrum wurde nicht gebaut. Einwohner der Altstadt hatten den Eindruck, in Hoyerswerda existierten zwei Welten. Die Altstadt zeichnete sich durch ihre jahrhundertelang gewachsene dörfliche Struktur aus. In der Reißbrettsiedlung Neustadt lebte hingegen ein »bunt zusammengeworfene[ s ] Völkchen«.76 Die Altstadt wurde durch die drei Neubaugebiete in ihren Lücken zu einer kleinen Mittelstadt. Die Neustadt indes kann »mit einer Ansammlung von Kleinstädten verglichen werden [...] wobei [ sie ] abermals in die Gebiete zerfällt, die vor bzw. nach 1967 gebaut wurden, so dass Hoyerswerda gleichsam aus drei architektonisch unterschiedlich gestalteten Städten besteht«.77 Beim Aufbau ging es weniger um kulturelle und künstlerische, sondern um technologische und ökonomische Aspekte.78 Architekten wurden überflüssig. In einem vom Vattenfall - Konzern herausgegebenen Werk heißt es über einen der letzten Architekten, Klaus Richter, salopp : »Der letzte Mohikaner vom Aufbaustab Neustadt hatte nach einem Jahrzehnt Wohnungsbau für die junge DDR die Nase voll. ›Man war Gefangener der Statistik.‹ Von Wohnkomplex zu Wohnkomplex sank der architektonische und städtebauliche Anspruch. ›Ästhetik war keine Kategorie mehr‹«.79 Dieser Mangel wurde an den Straßenzügen sichtbar. »Die Straßen glichen einander, ohne eigene Züge zu tragen. In Art und Umfang der Nachfolgeeinrichtungen unterschieden sich zunächst die WK I bis VII kaum voneinander.«80 Die Wohnkomplexe zeichneten sich durch Gleichförmigkeit aus. »Die Gleichförmigkeit regte nicht dazu an, die Grenzen des eigenen Kiezes zu überschreiten; es fehlten Notwendigkeit und Anreiz.«81 Dadurch wurde das Zusammenwachsen der Einwohner der vielen WK und der Altstadt zu einer gefestigten Stadtgesellschaft erschwert. Dies stellte der DDR - Architekt Bruno Flierl bereits 1979 fest. Er kritisierte, dass die Neustadt Hoyerswerdas nicht mit ausreichenden gesellschaftlichen Einrichtungen gebaut wurde und die Altstadt für die Gewährleistung von Kommunikationsmöglichkeiten zu klein war. Sein Fazit lautet : »So fehlte der neuen Stadt lange Zeit die soziale und territoriale Identität. Es fehlte ihr an geschichtlichen und gegenwärtigen Bindungen. Sie war auf sich allein gestellt.«82 Durch eine zentrale Planung wurde Hoyerswerda ab 1955 zu einer gleichförmig aufgebauten, künstlichen Stadt ohne Tradition und Identität.

76 77 78 79 80 81 82

Zeitzeugengespräch mit Friedhart Vogel am 18. 6. 2011. Auch Stefan Skora sprach in einem Zeitzeugengespräch am 23. 6. 2011 von den zwei Welten Alt - und Neustadt. Mehls, Arbeiterwohnungsbau, S. 245. Topfstedt, Städtebau, S. 15. Schellin, Werk + Stadt, S. 54. Mehls, Arbeiterwohnungsbau, S. 246. Ebd. Flierl, Architekturentwicklung, S. 27. Zit. nach Topfstedt, Neustadt von Hoyerswerda, S. 21.

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Die stadtgeschichtliche Entwicklung Hoyerswerdas

2. Bevölkerungsentwicklung Zu Beginn des Ausbaues Hoyerswerdas 1955 wurden 7 755 Einwohner registriert. In den nächsten Jahren explodierte jedoch die Einwohnerzahl. Das Kombinat Schwarze Pumpe brauchte Arbeiter. Diese wurden aus der ganzen Republik zusammengezogen. »In Zeitungen, übers Radio, sogar auf Bierdeckeln warb die sozialistische Regierung um Arbeitskräfte.«83 Tausende Menschen folgten diesem Aufruf. Bereits 1956 lebten 9 607 Menschen in den Grenzen der Stadt. 1960, fünf Jahre nach dem Beginn des Aufbaues waren es bereits 24 549. Die Einwohnerzahl hatte sich somit in fünf Jahren mehr als verdreifacht. Den bereits in der Lausitz lebenden und arbeitenden Menschen schien es, als ob täglich ganze Busladungen herangebracht würden.84 Der große Anreiz für die Hinzugezogenen war der Erwerb einer eigenen Wohnung : »Schnell hatte sich herumgesprochen, dass es dort nicht nur gutes Geld gab, sondern vor allem Wohnungen. Während man in anderen Teilen der Republik oft viele Jahre auf eine Mehr - Raum - Wohnung warten musste, gab es für die Arbeiter von Schwarze Pumpe die Aussicht auf eine ganze Stadt : Hoyerswerda.«85 Diese Gründe sorgten dafür, dass der Bevölkerungszuwachs bis Anfang der 1980er Jahre anhielt.

Diagramm 1 : Bevölkerungsentwicklung Stadt Hoyerswerda 1955–199086 83 84 85 86

Dieterich, Werk + Mensch, S. 13. Vgl. ebd. Ebd. Diagramm erstellt auf Zahlenbasis aus : Anspruch und Wirklichkeit, S. 31 f.

Bevölkerungsentwicklung

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Wie Diagramm 1 zeigt, nahm die Einwohnerzahl bis 1981 zu. Bis 1969/1970 wuchs die Bevölkerung teilweise um 3–4 000 Menschen pro Jahr. In den 1970er Jahren verlangsamte sich dieses Wachstum und stagnierte zwischen 1977 und 1987 relativ konstant bei 70 000 Einwohnern. Die meisten Bürger verzeichnete Hoyerswerda am 31. Dezember 1981. An diesem Tag lebten 71 054 Menschen in der Stadt. Damit hatte sich die Bevölkerung innerhalb eines Vierteljahrhunderts nahezu um den Faktor Zehn erhöht. Ab 1981 sank die Bevölkerungszahl leicht. Gleichzeitig war die Bevölkerung sehr jung. Im Jahr 1964 lag der Altersdurchschnitt bei 26,4 Jahren,87 1971 bei 27 Jahren.88 Eine Bevölkerungsanalyse im Jahr 1968 ergab, dass von den 53 472 Einwohnern lediglich 5,1 Prozent (2 736 Menschen ) zur Gruppe der Rentner zählte, also über 60 ( Frauen ) bzw. 65 (Männer ) Jahre alt war. Alle unter 15 - Jährigen ( d. h. alle Minderjährigen im nicht arbeitsfähigen Alter ) zusammen stellten 35,4 Prozent (18 895 Menschen ) der Gesamtbevölkerung. Darunter fielen allein 3 978 Neugeborene (7,5 Prozent der Gesamtbevölkerung ). Die arbeitsfähige Bevölkerung stellte schließlich nahezu zwei Drittel (59,5 Prozent) der Wohnbevölkerung. Fast die Hälfte (47,3 Prozent) waren zwischen 25 und 60 bzw. 65 Jahre alt.89 Neben den Zuzügen wuchs die Bevölkerung auch auf natürlichem Wege. Die Geburten stabilisierten sich in den 1960er Jahren auf einem hohen Niveau von über 1 000 Geburten pro Jahr.90 Ab den 1970er Jahren begann sich die Bevölkerungsstruktur allmählich zu verändern. Zwar gibt es keine detaillierten Angaben über die Stadt Hoyerswerda. Aber es lässt sich eine Tendenz ableiten, wenn man die Angaben für den Kreis Hoyerswerda der Volkszählung 1981 betrachtet. Zu diesem Zeitpunkt lebten im Kreis 114 340,91 in der Stadt 71 054 Menschen.92 In der Stadt Hoyerswerda lebten somit circa zwei Drittel der Kreisbevölkerung. Von dieser Kreisbevölkerung waren 76 681 Menschen im arbeitsfähigen Alter, was einem Anteil von 67,1 Prozent entspricht. Zehn Jahre zuvor entsprach diese Gruppe lediglich 59,4 Prozent der Gesamtbevölkerung.93 Mit der relativen Zunahme der arbeitsfähigen Bevölkerung ging eine Abnahme des Anteils der Kinder einher. 1981 lebten 87 88 89

90

91

92 93

Vgl. Staatliche Zentralverwaltung für Statistik beim Ministerrat : Ergebnis der Volks - und Berufszählung 1964 der Stadt Hoyerswerda ( Stadtarchiv Hoyerswerda, Nr. 1890, unpag. ). Vgl. Roschmann, Geschichte der Stadt Hoyerswerda, S. 24. Vgl. Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, Kreisstelle Hoyerswerda ( Hg.), Bericht über die Entwicklung der Arbeits - und Lebensbedingungen der Bevölkerung im Kreis Hoyerswerda. Hoyerswerda, o. D., S. 39 ( KA BZ, 13000/ Nr. 920, unpag. ). Vgl. dies. ( Hg.), Statistisches Taschenbuch 1963/64 Kreis Hoyerswerda, Hoyerswerda 1964, S. 17 ( KA BZ 13000/ Nr. 997); Rat der Stadt Hoyerswerda ( Hg.), Kennen Sie die Entwicklung von Hoyerswerda ? o. O., o. D., S. 11 ( KA BZ, 13000/ Nr. 844, unpag. ). Vgl. dies. ( Hg.), Angaben über Bevölkerung, wirtschaftliche Tätigkeit und Bildung. Detaillierte Ergebnisse der Volks - , Berufs - , Wohnraum - und Gebäudezählung, 31. Dezember 1981 ( KA BZ, 13000/ Nr. 16865, Bl. 2). Im Folgenden zit. als Volkszählung 1981. Vgl. Anspruch und Wirklichkeit, S. 32. Vgl. Volkszählung 1981, Bl. 2.

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25 210 Kinder im Kreis (22 Prozent), 1971 stellten sie jedoch 29,7 Prozent der Bevölkerung.94 Lediglich der Anteil der Rentner blieb stabil. Sowohl 1971 als auch 1981 waren 10,9 Prozent der Bevölkerung im Rentenalter.95 Betrachtet man die Qualität der Bevölkerungsbewegung, wird die dargestellte Tendenz noch deutlicher. Zwischen 1971 und 1981 nahm der Anteil der Personen im arbeitsfähigen Alter um 12 744 Menschen (20 Prozent) zu. Die Gruppe der Rentner wuchs um 689 Personen und damit um 5,9 Prozent. Bei den Kindern wurde jedoch ein Rückgang verzeichnet. Die Kreisbevölkerung in dieser Altersgruppe nahm zwischen 1971 und 1981 um 6 812 Personen ab (21,3 Prozent).96 Diese Angaben zeigen, dass sich der Bevölkerungszuwachs verlangsamte. Gleichzeitig wurde die Bevölkerung älter, der Zuwachs an Kindern ging zurück. Im Jahr 1980 lag der Altersdurchschnitt bei rund 30 Jahren97 und damit ca. 3 Jahre höher als noch 1971. Bis zum Jahr 1989 hatte sich dieser Trend wiederum fortgesetzt. Nun waren 67,7 Prozent der Wohnbevölkerung des Kreises im arbeitsfähigen Alter, 20,4 Prozent Kinder und bereits 11,9 Prozent im Rentenalter.98 Zwar wurde die Bevölkerung langsam älter, doch war sie insgesamt noch sehr jung. Das Gros der Einwohner stellten arbeitsfähige Menschen. Die »Großelterngeneration« war minimal vorhanden. Bei den vielen Zuzügen stellt sich die Frage, woher die neuen Einwohner kamen. Eine Antwort darauf geben Analysen aus den Jahren 1960, 1963 und 1964. Die Untersuchung des Jahres 1960 analysiert den Zuzug in die Stadt Hoyerswerda zwischen Dezember 1958 und dem 15. September 1960.99 Insgesamt sind 4 384 Menschen in diesem Zeitraum nach Hoyerswerda gezogen. Da nicht bei allen eine Angabe über den alten Wohnort vorlag, wurden nur 3 303 Personen für die Analyse berücksichtigt. Von diesen kamen allein 1 452 Menschen, also nahezu die Hälfte, aus dem Bezirk Cottbus. Schaut man sich die Bewegung innerhalb des Bezirkes Cottbus an, fällt auf, dass die meisten Menschen aus dem Kreis Hoyerswerda in die Stadt umzogen (565 Personen ). Fast ebenso viel Einwohner, 515 Personen, kamen aus dem benachbarten Kreis Spremberg. 139 Menschen kamen aus dem Kreis Senftenberg, einem weiteren Nachbarkreis. Aus allen anderen Kreisen kamen jeweils weit weniger als 100 Per94 95 96 97

98 99

Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. Rat der Stadt Hoyerswerda ( Hg.), Informationsblatt 22/23 (1980) : 25 Jahre Aufbau der neuen Stadt Hoyerswerda und des Kombinates Schwarze Pumpe, S. 9 ( KA BZ, 13000/ Nr. 876, unpag. ). Zahlen aus : Statistisches Amt der DDR : Statistische Daten 1989 über den Kreis Hoyerswerda, Bezirk Cottbus, Juni 1990 ( BArch, DO 5/124, unpag. ). Untersuchung des Zuzuges in die Neustadt Hoyerswerda, Bericht der Plankommission an den Rat des Bezirkes Cottbus – Wirtschaftsrat – Plankoordinierung, Str./ Schö. 28.10.1960 ( KA BZ, 10466 unpag. ).

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sonen, aus den Kreisen Guben und Lübben je zwei und damit die geringste Anzahl. Im Jahr 1963 kamen die meisten Personen ebenfalls aus dem Bezirk Cottbus (2 524).100 Die innerbezirkliche Wanderung zeigt ein ähnliches Bild wie 1960 : Die meisten Menschen zogen aus den Nachbarkreisen Spremberg (1 005 Personen ), Senftenberg (477 Personen ) und Weißwasser (206 Personen ) in den Kreis Hoyerswerda. Die geringsten Zuzüge kamen aus Luckau (24 Personen ) und Lübben (25 Personen ).101 Die Zahlen für das Jahr 1964 sind ähnlich. Wiederum lag der Bezirk Cottbus vorn (2 582 Personen ).102 Innerhalb des Bezirkes Cottbus kamen wie im Vorjahr mehr als doppelt so viele Menschen aus Spremberg (1199 Personen ) als aus Senftenberg (499 Personen ).103 Auch wenn nur für wenige Jahre Daten zur Verfügung stehen, ist deutlich sichtbar, dass vorwiegend Menschen nach Hoyerswerda zogen, die aus der Region selbst stammten. Der Bezirk Cottbus stellte in allen Erhebungen die meisten Zuzüge. Innerhalb dessen kamen die meisten Menschen aus den nördlich von Hoyerswerda liegenden Kreisen Spremberg und Senftenberg. Auffallend ist weiterhin, dass aus den westlicheren Bezirken weniger Personen in die Lausitz zogen als aus den entfernteren nördlicheren Bezirken. Dennoch hatten die Bürger das Gefühl, die neuen Einwohner kämen aus allen Teilen der DDR.104 Ihnen war jedoch eines gemeinsam : »Sie waren sich fremd.«105 Umso wichtiger wäre ein Stadtbild gewesen, welches die Einwohner der verschiedenen Stadtteile zusammenführte. Dieses fehlte jedoch.

3. Das Leben in der Stadt Es waren vorwiegend zwei Aspekte, die Hoyerswerda so beliebt erscheinen ließen und Menschen in die Stadt lockten : ein guter Verdienst und die relativ schnelle Zuteilung einer modernen Wohnung mit Innenbad und Fernheizung.106 Bei den vielen neuen Einwohnern der Stadt stellt sich die Frage, wie ein neues Gemeinwesen entstehen konnte. Mit diesem Interesse befragte die Chronistin Carola Dieterich eine Zeitzeugenfamilie für eine 2005 erschienene Publikation über die

100 Vgl. Staatliche Zentralverwaltung für Statistik ( Hg.), Anmeldungen über die Kreisgrenzen innerhalb der DDR im Bezirk Cottbus, Jahr 1963 ( BArch, DE 2/30829, Bl. 107 ). 101 Vgl. ebd. 102 Vgl. Staatliche Zentralverwaltung für Statistik ( Hg.), Anmeldungen über die Kreisgrenzen innerhalb der DDR im Bezirk Cottbus, Jahr 1964 ( BArch DE 2/ 30830, Bl. 81 ). 103 Vgl. ebd. 104 Vgl. Dieterich, Werk + Mensch, S. 15. 105 Ebd. 106 Vgl. Geschichte eines Unternehmens, S. 11; Dieterich, Werk + Mensch, S. 13.

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Geschichte des Kraftwerkes Schwarze Pumpe. Für die Familie Adamec, die bereits 1955 in die Lausitz zog, war das verbindende Element die Arbeit : »Wir haben zusammengearbeitet, Schwierigkeiten gemeistert, Probleme gelöst – das verbindet.«107 Die Arbeit bestimmte den Tagesablauf. Die Kollegen waren somit die wichtigsten Bezugspunkte : »›Mit den Kollegen war man ja mehr zusammen als mit sonst irgendwem‹, sagt Dorle Adamec. In der Brigade ging die Bindung weit über den Arbeitsalltag hinaus. Man unternahm gemeinsame Ausflüge und feierte zusammen. Wenn ein Wohnungswechsel anstand, ersetzte die Brigade das Umzugsunternehmen. Wenn ein Kind krank war, half man bei der Betreuung.«108 Für die Adamecs wie für viele der Neu - Hoyerswerdaer war die Arbeitswelt gleichzeitig die Lebenswelt. Wie eng die Verzahnung der Arbeits - und Freizeitkontakte war, zeigt der Name, den sich die Arbeiter von Schwarze Pumpe gaben. Sie nannten sich »die Pumpschen«.109 Die Kollegen im Gaskombinat bildeten, wie der Eigenname beweist, eine eigene soziale Gruppe. In vielen Brigaden in den Betrieben der DDR wurden solche sozialen Netzwerke aufgebaut. Die Brigaden wirkten oft identitätsstiftend.110 Die sozialen Leistungen der DDR waren auf die Betriebe konzentriert. Die Leistungen der Betriebe reichten »vom Betriebsgesundheitswesen bis zum Feriendienst, von der Kinderkrippe bis zum Veteranenclub, von der Wohnungsverwaltung bis zur Betriebswäscherei, die neben der Berufswäsche auch die Haushaltswäsche reinigt usw«.111 Martin Kohli stellt daher fest : »Die soziale Landkarte der DDR war eher durch Betriebe als durch Wohnorte zusammengesetzt.«112 Neben dem KSP stellten das Braunkohlewerk Welzow, das Braunkohlekombinat Glückauf, das Wohnungsbaukombinat und der Kreisbaubetrieb die meisten Arbeitsplätze.113 Der Anteil der Arbeiter im Kohle - und Energiesektor an der Einwohnerschaft war demzufolge sehr hoch. Dies war von Anfang an politisch gewollt. Das Politbüro der SED beschloss bereits 1956, dass 51 Prozent der berufstätigen Bevölkerung der Stadt im KSP und Bergbau, 19 Prozent in anderen überörtlichen Einrichtungen und 30 Prozent in örtlichen Einrichtungen arbeiten sollten. Für die in der Neustadt lebenden Berufstätigen war sogar vorgesehen, dass circa 80 Prozent von ihnen im Kombinat und im Bergbau zu arbeiten

107 108 109 110 111 112 113

Zit. in Dieterich, Werk + Mensch, S. 15. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Bauerkämpfer, Sozialgeschichte, S. 15. Hockerts, West und Ost, S. 271. Kohli, DDR als Arbeitsgesellschaft, S. 43. Vgl. Rat der Stadt Hoyerswerda ( Hg.), Informationsblatt 22/23 (1980) : 25 Jahre Aufbau der neuen Stadt Hoyerswerda und des Kombinates Schwarze Pumpe, S. 6 ( KA BZ, 13000/ Nr. 876, unpag. ).

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haben.114 Im Jahr 1981 arbeiteten laut SED - Bezirksorgan »Lausitzer Rundschau« circa 43 Prozent der insgesamt rund 60 500 Berufstätigen des Kreises in der Kohle - und Energiewirtschaft. Dabei pendelten 16 000 von ihnen in benachbarte Kreise, so allein in das Kombinat Schwarze Pumpe 10 000 Menschen und in den Tagebau Welzow 3 600 Kumpel. Für die jungen Menschen waren dies auch beliebte Berufsfelder. Ungefähr 40 Prozent der Schulabgänger dieses Jahres nahmen in diesen Bereichen eine Ausbildung auf.115 Das Kombinat und die Stadt waren nicht nur eng verflochten. Vielmehr war Hoyerswerda in allen Bereichen von Schwarze Pumpe abhängig. Das Leben der Stadt wurde vom Schichtrhythmus des Kombinates bestimmt.116 Beziehungen im Wohnumfeld konnten dagegen nur schwer aufgebaut werden. Zum einen sorgten die dichtgedrängten Wohnblocks, als »Arbeiterschließfächer« verschrien, für Anonymität. Zum anderen wurden bestehende Nachbarschaftsbeziehungen zerstört, wenn wachsende Familien eine größere Wohnung in einem anderen Wohnkomplex zugewiesen bekamen.117 Diese Probleme wurden durch eine Reihe von Zeitzeugengesprächen bestätigt. So zählte bspw. Martin Schmidt bis zu fünf verschiedene Wohnungen, in die er im Laufe seines Lebens in Hoyerswerda einzog. Bei jeder Vergrößerung der Familie ( Heirat, Geburt der Kinder ) bekamen die Schmidts eine neue Wohnung. Mittels der Kinder lernten die Schmidts auf dem Spielplatz zwar recht schnell andere Familien kennen. Doch ebenso blieben viele Hausbewohner unbekannt. Kontakte zu Menschen aus anderen WK waren eine Seltenheit. Die Anonymität in der Stadt empfand er daher als »wahnsinnig hoch«.118 Superintendent i. R. Vogel bestätigte den Eindruck der Anonymität der Stadt. Er war in den 1980er Jahren Pastor der evangelischen Johanneskirchengemeinde in der Altstadt. Seiner Erinnerung nach habe es auch in der Neustadt zum Teil intakte Hausgemeinschaften gegeben. Diese habe es besonders in den ersten Wohnkomplexen gegeben, da hier weniger Umzüge vorgenommen worden seien. Allerdings habe es auch Bewohner gegeben, die ihre Nachbarn nicht kannten. Dies sei darauf zurückzuführen, dass bei Heirat oder Familienzuwachs ein Umzug notwendig geworden sei. Dadurch wechselten die Menschen ihre Wohnungen und damit ihr Wohnumfeld. »Die Fluktuation war schuld, dass man kein Wir - Gefühl entwickelte.« Die großen Hochhäuser führten zu Anonymität. Hinzu kam die Schicht114 SAPMO - BArch, DY 30/ J / IV /2/2 - 479, Punkt 8, Anlage 2, Bl. 13. Zit. in Mehls, Arbeiterwohnungsbau, S. 246. 115 Bernd Dietrich, Gros der Schulabgänger wird Berg - oder Energiearbeiter. In : Lausitzer Rundschau vom 22.10.1982. 116 Vgl. Gesellschaft für Heimatkunde, S. 28. 117 Vgl. Specht, Sozialraum Hoyerswerda, S. 68. 118 Zeitzeugengespräch mit Martin Schmidt am 19. 7. 2011. Auch Klaus Naumann berichtete im Gespräch am 11.7.2011, dass Kontakt zu Nachbarn häufig über die Aufsicht der eigenen Kinder auf dem Spielplatz hergestellt worden sei.

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arbeit, die unterschiedliche Tagesrhythmen ausbildete. Wichtiger sei die Brigade gewesen, mit der auch Feste gefeiert worden seien. In der Altstadt habe es dagegen ein »homogenes Umfeld« gegeben. Kontakte zwischen Alt - und Neustädtern habe es »höchstens« im Zoo gegeben. Dieser sei der einzig verbindende Ort gewesen, da die Altstädter mit dem »Kastanienhof« ihre Gaststätte, die Neustädter in jedem Wohnkomplex eine gastronomische Einrichtung hatten. Auch einen gemeinsamen Markt habe es nicht gegeben. Die beiden Gruppen hätten auch kein Interesse an der jeweils anderen »Welt« gehabt.119 Auch die Zeitzeugin Frau K. hatte Schwierigkeiten sich einzuleben. Sie kam 1981 im Alter von 20 Jahren zusammen mit ihrem Mann nach Hoyerswerda. In den ersten Jahren hatte sie großes Heimweh. Grund hierfür war zum einen der Kontrast ihrer naturnahen thüringischen Heimat zu den Hoyerswerdaer »Blöcken, die Nachts aussahen wie Lochbandrollen von hinten beleuchtet«, wie sie in der Elektronischen Datenverarbeitung üblich waren. Zum anderen litt sie, trotz eines sehr breiten Freizeitangebotes, an der Anonymität. Es fiel ihr schwer, Bekanntschaften zu schließen. Dennoch habe man »vieles unternehmen« können. Hoyerswerda sei daher keine »Schlafstadt« gewesen. Durch ihre Arbeit im Jugendklubhaus »Nicolai Ostrowski« im WK I ab 1986 lernte sie viele jungen Menschen kennen. Durch dies Engagement bekam sie einen Zugang zur Stadt und fühlte sich zunehmend wohler.120 Es gab jedoch auch Einwohner, die sich in Hoyerswerda zu Hause fühlten. Herr S. berichtete in einem Zeitzeugengespräch von seinem Engagement gerade in den 1980er Jahren. Damals lebte er in einem elfgeschossigen Haus. Er fühlte sich für die Hausgemeinschaft verantwortlich. Daher organisierte er vielfältige Aktivitäten. Beispielsweise gestaltete er mit den Jugendlichen des Hauses Kellerräume um. So seien ein Klubraum und ein Sportraum entstanden. In Zusammenhang mit seiner Ausbildung an der Kreisparteihochschule der SED zu Beginn der 1980er Jahre übernahm er Verantwortung auch für das ganze Wohngebiet. Er gründete einen Wohngebietsausschuss und regelte so die »Arbeit mit den Bürgern«. Weiterhin organisierte er vielfältige Aktionen, wie Sportfeste, Seniorenausflüge in den Kulturpalast Dresden oder Jugendausflüge zu Spielen von Dynamo Dresden. Der Kern seines Wirkens habe, so seine Schilderungen, in der gemeinsamen Arbeit mit den Nachbarn, besonders mit Jugendlichen, gelegen. So baute er zusammen mit einer Schulklasse einen Fußballplatz, mit anderen pflanzte er Rosenrabatten an den Gehwegen oder erneuerte beschmierte Hausfassaden. Das Grundprinzip des Zusammenlebens in seinem Wohngebiet bezeichnet er mit dem Motto : »Einer war für den anderen da«. Mit diesen Erfahrungen könne er nicht von Anonymität der Einwohner der Neustadt sprechen. Im Gegenteil : Es habe einen guten Zusammenhalt gegeben.121 Doch schei119 Zeitzeugengespräch mit Friedhart Vogel am 18.5.2011. 120 Zeitzeugengespräch mit Frau K. am 18.7.2011. 121 Zeitzeugengespräch mit Herrn S. am 30.5.2011.

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nen solche positiven Erfahrungen eher die Ausnahme gewesen zu sein. Bereits 1977 kritisierte Bruno Flierl, dass die industriell gefertigten Wohnhäuser Anonymität förderten. Demnach sei ein solches Haus »in der Regel ein Haus mit Wohnungen ohne gesellschaftliche oder gemeinschaftliche Einrichtungen, es ist kein gesellschaftlicher Organismus im Sinne sozialer Gemeinschaft oder gemeinschaftlicher Versorgung und Betreuung [...]. Das Wohnhaus ist vielmehr eine additive Häufung von Wohnungen mit voneinander unabhängigen, funktionell nicht miteinander verbundenen Individuen und Familien.«122 Die Bewohnerinnen und Bewohner der einzelnen Wohnungen eines Blocks lebten neben einander her. Bei der Errichtung der Plattenbauten hatten die Planer lediglich auf die Kosteneffizienz geachtet. Ob sie die Nachbarn zusammenführten, wurde in den 1950er Jahren unbedacht. Nachdem diese Wohnblöcke errichtet worden waren, stellten die DDR - Architekten fest, dass die Bewohner dieser gleichförmigen Häuser neben einander her lebten. Entstanden bereits innerhalb der Wohnhäuser keine intakten Gemeinschaften, fand ein persönlicher Kontakt zwischen den Bewohnern verschiedener Wohnkomplexe nahezu nie statt. Wie bereits oben geschildert waren die WK wie kleine Städte konzipiert. Untereinander unterschieden sie sich kaum. Es bestand daher für die Bewohner keine Notwendigkeit, einen anderen Wohnkomplex aufzusuchen.123 Dabei wurden die WK nur mit den notwendigsten Nachfolgeeinrichtungen ausgestattet. Die Befriedigung sozialer und kultureller Bedürfnisse sollte im Stadtzentrum erfolgen. Da dieses jedoch nur in Ansätzen verwirklicht wurde, konnte »sich das städtische Leben und Treiben in der Neustadt nicht« entwickeln.124 Das bedeutet aber nicht, dass es keine Kultur in Hoyerswerda gab. So gründete sich bspw. aus Eigeninitiative ein, zunächst privater, später öffentlicher Freundeskreis um das Ehepaar Helene und Martin Schmidt. Diesen besuchten nach einigen Jahren bis zu 200 Kulturinteressierte. Dieser Kreis organisierte vielfältige kulturelle Aktivitäten wie z. B. Theaterfahrten, Buchbesprechungen und Ausstellungen. Durch die zahlreichen Initiativen wurde der Kreis in der Kulturszene der DDR sehr bekannt, sodass prominente Künstler wie Stefan Hermlin, Reiner Kunze und viele andere in Hoyerswerda gastierten. Nach der Friedlichen Revolution konstituierte er sich als organisierter »Hoyerswerdaer Kunstverein«.125 Die Existenz dieser Initiative verdeutlicht die Lücke des staatlich verordneten Kulturlebens. Weil die Teilnehmer unabhängige Angebote vermissten, engagierten sie sich für die Kulturarbeit. Die Gäste kritisierten mit jeder Teilnahme an solchen kulturellen Unternehmungen die Eintönigkeit des staatlichen Kulturbetriebes in Hoyerswerda. 122 123 124 125

Flierl, Ausdruck des Individuums, S. 64. Vgl. Mehls, Arbeiterwohnungsbau, S. 246. Ebd. Zum Kunstverein vgl. Petersen, Die immerwährende Stadt.

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Auch andere Projekte entstanden in der Freizeit der Hoyerswerdaer. Die gemeinsame Arbeit wirkte dabei identitätsstiftend. Man habe »einfach die Spitzhacke gepackt und losgelegt«, wie Karl Adamec schilderte.126 Der Tierpark liegt jedoch auf dem Gebiet der Altstadt. Dort waren auch die Stadt - und Kreisverwaltung, das Kino und das Museum vorhanden. 1958 wurde hier mit der »Alfred - Scholz - Halle« eine Kultur - und Sportstätte eröffnet.127 Somit lagen vor allem in den ersten Jahrzehnten des Aufbaues die Verwaltungs - und Kultureinrichtungen Hoyerswerdas in der Altstadt. Die neuen Bürgerinnen und Bürger nannten Gänge hierhin »In die Stadt gehen«.128 Erst spät entstanden in der Neustadt Dienstleistungs - , Kultur - und Freizeiteinrichtungen, wenn auch nur in bescheidenen Ansätzen. Das große CENTRUM - Warenhaus eröffnete 1968, das »Haus der Berg - und Energiearbeiter« ( HBE ) erst 1984. Ein Krankenhauskomplex mit 1 170 Betten wurde zwischen 1964–1968 gebaut.129 Im »Freizeit Komplex Ost« ( FKO ) entstand ein »Indianerdorf« und mit dem Bau des WK IX eine Schwimmhalle.130 Eine Belebung der Neustadt konnte dadurch erst zaghaft ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre beginnen. Insgesamt gab es gegen Ende der DDR ( genauer : 1983) im gesamten Kreisgebiet neun Kulturhäuser, vier Kinos und 69 Jugendklubs. Neben 2 800 Jugendtanzveranstaltungen organisierten die einzelnen Dorfklubs insgesamt 1 300 Veranstaltungen.131 Es gab demnach regelmäßige Veranstaltungen im Kreisgebiet. Auch für Jugendliche wurden eigene Klubs eingerichtet. Das Platzangebot war jedoch, gemessen an der Menge junger Leute, relativ gering. 1988 standen für diesen Personenkreis 900 Plätze in Kultureinrichtungen der Stadt zur Verfügung.132 Allerdings gab es noch 1981 allein 17 902 schulpflichtige Kinder im Kreisgebiet,133 den Großteil davon in Hoyerswerda. Die Jugendklubs bemühten sich, den vielen Jugendlichen ein vielseitiges Angebot zu bereiten. Frau K., die seit 1986 im Jugendklubhaus »Nicolai Ostrowski« arbeitete, berichtete, dass das Jugendangebot in den 1980er Jahren im Allgemeinen sehr gut und nicht anders als in anderen Städten gewesen sei. Der Klub »Ostrowski« veranstaltete bspw. Fotozirkel, Musikdiskussionen und Diskoveranstaltungen am Wochenende für verschiedene Alterskohorten. Besonders 126 127 128 129 130 131

Dieterich, Werk + Mensch, S. 16. Vgl. Roschmann, Geschichte der Stadt Hoyerswerda, S. 15; Gesellschaft für Heimatkunde, S. 27. Vgl. Gesellschaft für Heimatkunde, S. 27. Zum Krankenhaus vgl. Biernath, architektour, S. 41 f. Vgl. Gesellschaft für Heimatkunde, S. 28. Vgl. Kreisleitung Hoyerswerda der SED ( Hg.), Alles für das Wohl des Volkes und die Sicherung des Friedens. Bilanz der erfolgreichen Verwirklichung der Beschlüsse des X. Parteitages der SED im Kreis Hoyerswerda, Redaktionsschluss 20. November 1983, S. 21 ( KA BZ, 13000/ Nr. 915, unpag. ). 132 Vgl. Rat der Stadt Hoyerswerda ( Hg.), Informationsblatt. Bilanz und Argumentation zur erfolgreichen Verwirklichung der Beschlüsse des XI. Parteitages der SED in der Stadt Hoyerswerda, 40/41 (1988), S. 13 ( KA BZ, 13000/ Nr. 921, unpag. ). 133 Vgl. Volkszählung 1981, S. 2.

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die Tanzveranstaltungen waren sehr beliebt.134 Hans - Joachim Donath, der ab 1986 im Jugendklub im HBE arbeitete, kam nach seinem Studium u. a. wegen der DDR - weit bekannten Jugendklubs »Laden« und »FMP - Klub« nach Hoyerswerda. Diese zeichneten sich durch eine Spezialisierung auf Jazz - und Folk Musik aus. Infolgedessen waren sie allerdings nur für Besucher mit solchen Vorlieben attraktiv.135 Ähnlich sah dies Grit Lemke, die in ihrer Jugend den »Laden« häufig besuchte. Dort seien kritische Filme gezeigt, Liederabende veranstaltet oder Kabaretteinlagen aufgeführt worden. »Die Leute waren neugierig, stritten. Wir hatten Narrenfreiheit, aber natürlich nur bis zu einem bestimmten Punkt«,136 erinnerte sie sich für ein Zeitzeugenprojekt anlässlich des 20. Jahrestages der Friedlichen Revolution in Hoyerswerda. Sie beschreibt den Klub als »kreativen Mikrokosmos« innerhalb einer »miefigen« Stadt. Im »Laden« fühlte sie sich frei. Allerdings seien die Besucher eine isolierte Gruppe geblieben. »Man blieb unter sich. Wenig von dem freien Geist dringt nach außen«, wird in dem Zeitzeugenband resümiert.137 Das Leben in Hoyerswerda in der DDR war durchaus nicht nur von Monotonie geprägt war. Es gab Initiativen auf kulturellem Gebiet. Doch die Teilnehmerzahl der Kulturgruppen war überschaubar. Sie erreichten nicht die breite Öffentlichkeit. Die Interessierten diskutierten untereinander, ein Austausch mit der breiten Gesellschaft fand nicht statt. Martin Schmidt registrierte daher im Allgemeinen einen Rückzug ins Private. Als Grund sah er eine »mehrfache Heimatlosigkeit« an : Viele junge Menschen, die wegen der materiellen Anreize (Wohnung, Arbeit ) nach Hoyerswerda zogen, vermissten, so Schmidt, ihre Heimat und Familie. Hoyerswerda war, gemessen am Altersdurchschnitt, eine sehr junge Stadt. Die Großelterngeneration fehlte. Traditionelle Bindungen und Netzwerke hätten daher nicht entstehen können. Weiterhin habe der Machtanspruch der SED in den staatlichen Organisationen und Vereinen viele Menschen abgeschreckt. Diese suchten ihr Glück daher im Privaten. So seien während der DDR viele Kleingärten als Rückzugsorte vor dem staatlichen Zugriff rund um die Stadt gewachsen.138 In Hoyerswerda gab es somit eine mehrfache Desintegration. Die Altstadt und die Neustadt wurden als zwei verschiedene Welten wahrgenommen. Auch innerhalb der Neustadt waren die einzelnen Wohnkomplexe eigene Sozialräume, die gleichförmig ausgestattet waren. Die Struktur der Stadt hatte keine integrative Wirkung. Letztlich blieb jeder Einwohner auf seine wenigen festen Kontakte beschränkt. Hoyerswerda wurde von den kulturell Interessierten als leblose Stadt wahrgenommen. Deutlich wurde dies, als 134 135 136 137 138

Zeitzeugengespräch mit Frau K. am 18.7.2011. Zeitzeugengespräch mit Hans - Joachim Donath am 4.8.2011. Zit. nach Lienig, Grit Lemke, S. 37. Ebd., S. 37 f. Zeitzeugengespräch mit Martin Schmidt am 19.7.2011.

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Die stadtgeschichtliche Entwicklung Hoyerswerdas

es im letzten Jahr der DDR möglich wurde, offen Kritik zu üben. Der damalige Leiter des Klubs »Laden«, Uwe Proksch nahm im Herbst 1989 an einer öffentlichen Diskussion im Rahmen »Hoyerswerdaer Gespräche« teil. Am 15. November beschäftigte sich diese Diskussionsrunde mit dem Thema »Kultur und Freizeit«. Eine Woche später äußerte er seinen Unmut über diese Veranstaltung in der »Lausitzer Rundschau«. In seinem Kommentar übte er vielschichtige Kritik. Zunächst beklagte er das mangelnde Interesse der Bürgerinnen und Bürger an diesem Abend. Es seien lediglich solche Teilnehmer erschienen, die sich seit längerem im kulturellen Bereich engagierten. Die Ursache für das fehlende Interesse sah er aber in der mangelnden Kulturpolitik der vergangenen Jahrzehnte : »Sind wir in dieser über 20 Jahre kulturentwöhnten Schlafstadt überhaupt nicht mehr an kulturellen Prozessen interessiert ? Gehört das Sich - Zurückziehen und isolierte Leben in den Arbeiterschließfächern, Wohnsilos, Kaninchenställen ( und was kennt der Volksmund nicht noch alles für schöne Begriffe für unsere Einheitsblocks ) zum Alltag dieser Stadt ?« Die Gleichförmigkeit der »Wohnsilos« habe die Menschen voneinander isoliert. Dieser staatlich geförderten Tristesse hätten zwar einige kulturell Engagierte entgegengewirkt. »Aber das ist offensichtlich zu wenig, um sich in dieser Stadt wirklich wohl zu fühlen. Es gibt kein Stadtzentrum, das wirklich Zentrum ist, es fehlt an Cafés, Eckkneipen, Galerien, Gaststätten mit Profil und Gesicht, es mangelt an Einkaufsstraßen mit der Einheit von Konsum und Kultur. Von Schwimmhallen und Kinos ganz zu schweigen.« Statt diese Kontaktzonen zu schaffen, seien andere kulturelle Schätze wie das Schloss oder die Altstadt verfallen. Letztlich beklagte Proksch, dass das die Stadt so monoton und leblos sei, dass die Menschen die Stadt verlassen würden. Er forderte daher : »Diese Stadt muss zu einer Wohnstadt werden, mit einem dementsprechenden Umfeld, kulturellen Strukturen müssen langfristig konzipiert und endlich verwirklicht werden, Organismen müssen geschaffen werden, die für das Zusammenleben und damit das Wohlgefühl in dieser Stadt so wichtig sind.«139 Prokschs Kritik zeigt, dass wie 1960 auch noch 1989 zu wenig Freizeit - und Kontaktmöglichkeiten in der Stadt vorhanden waren. Er bemängelte die dadurch entstandene soziale Desintegration. Hoyerswerda war seiner Meinung nach kein lebendiger Organismus, sondern eine »Schlafstadt«. Damit diagnostizierte er das Ergebnis der zentral geplanten »sozialistischen Musterstadt« : Die Einwohnerschaft war desintegriert. Es gab 1990 kein verbindendes Gemeinschaftsgefühl.

139 Uwe Proksch, In der Schlafstadt eingeschlafen ? In : Lausitzer Rundschau vom 22. 11. 1989.

Die Folgen der Wiedervereinigung für Hoyerswerda

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4. Die Folgen der Wiedervereinigung für Hoyerswerda 4.1 Ökonomische und soziale Transformationsbelastungen

Da Hoyerswerda vom Kombinat Schwarze Pumpe abhängig war, bedeutete dies, dass sich wirtschaftliche Probleme des Betriebes auch nachteilig auf die Bürgerinnen und Bürger Hoyerswerdas auswirkten. Dies wurde mit der Privatisierung des Kombinates sichtbar. Die Umwandlung des Kombinates wurde in mehreren Schritten zwischen Februar und Oktober 1990 vollzogen. Am Ende der Reorganisation waren viele Teilbereiche des vormaligen Kombinates in selbständige Firmen ausgegliedert und das Unternehmen auf den Stammbetrieb beschränkt, das als »Energiewerke Schwarze Pumpe Aktiengesellschafft« ( ESPAG ) gegründet wurde.140 Neben der ESPAG als Energieunternehmen entstand die »Lausitzer Braunkohle Aktiengesellschaft« ( LAUBAG ), die Braunkohle abbaute. Nach wie vor war die Kohleförderung und - verarbeitung der bedeutendste Industriezweig der Region. Die LAUBAG und die ESPAG waren die wichtigsten Betriebe.141 Allerdings gerieten sie in eine Strukturkrise, wie am Beispiel der ESPAG deutlich wird. Dieses neue Unternehmen musste sich am Markt behaupten und entsprechende Anpassungen vornehmen. Dabei blieb die wirtschaftliche Lage im zweiten Halbjahr 1990 noch relativ stabil; »gravierende Markteinbrüche« habe es in diesem Zeitraum nicht gegeben.142 Allerdings stellten sich aufgrund des Wegfalles der Subventionen für Braunkohlebriketts, - koks und Fernwärme ab Mai 1991 sowie durch Nachfragerückgänge bei bisherigen Industriekunden große Absatzeinbußen ein. Der Absatz von Briketts und Braunkohlekoks brach jeweils um ca. 20 Prozent ein.143 Um die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zu erhalten, wurde der Personalbestand entsprechend angepasst. Am Stichtag der Neugründung am 29. Juni 1990 waren 14 439 Menschen im Betrieb beschäftigt. Bis Ende 1991 stellte ESPAG 1 178 Beschäftigte ein, aber 6 007 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verließen das Unternehmen. Am 1. Juli 1991, also genau ein Jahr nach der Umwandlung, arbeiteten noch 12 050, am 31. Dezember noch 9 610 Menschen bei der ESPAG. Das waren 4 829 bzw. 33 Prozent Beschäftigte weniger als zu Beginn des ersten Geschäftsjahres. Allerdings wurden nicht alle Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen. Durch Ausgründungen fanden circa 750 Menschen eine neue Beschäftigung.144 Generell bedeuteten die Personalveränderungen aber einen Anstieg der Arbeitslosigkeit in der gesamten Region. Für Hoyerswerda gibt es lediglich absolute Zahlen für das Kreisgebiet. Eine Betrachtung dieser Zahlen 140 141 142 143 144

Vgl. Bayerl, Werk + Geschichte, S. 30 ff. Vgl. Specht, Sozialraum Hoyerswerda, S. 73. Bericht über das erste Geschäftsjahr 1990/1991, S. 10. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 13.

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Diagramm 2 : Absolute Arbeitslosenzahlen Kreis Hoyerswerda Sept. 1990–Dez. 1991145

lohnt dennoch. Diagramm 2 zeigt, dass die Arbeitslosenzahlen annähernd konstant stiegen. Zu Beginn der Erfassung der Arbeitsmarktdaten im September 1990 waren 2 064 Menschen im Kreis ohne Arbeit. Bis Ende des Jahres kamen monatlich ungefähr 200 neue Arbeitslose hinzu. Im Jahr 1991 stieg die Arbeitslosenzahl monatlich um circa 100 Menschen. Im August 1991, also im Vormonat der Ausschreitungen, waren 3 680 Menschen ohne eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Das bedeutete eine Arbeitslosenquote von 8,1 Prozent und eine Zunahme um 0,4 Prozent im Vergleich zum Vormonat. Allerdings stand der Kreis Hoyerswerda im Arbeitsmarktbezirk Bautzen, welcher neun Landkreise (Bautzen, Bischofswerda, Görlitz, Hoyerswerda, Kamenz, Löbau, Niesky, Weißwasser und Zittau ) betreute, noch am günstigsten da. Alle anderen Kreise wiesen eine zweistellige Quote auf. Der Durchschnitt in diesem Bezirk lag bei 11,3 Prozent.146 Dennoch war die zunehmende Arbeitslosigkeit eine dramatische Entwicklung, bedenkt man die bisherigen sozialpolitischen Erfahrungen der Betroffenen. In der DDR gab es offiziell keine Arbeitslosigkeit. Die Arbeit wurde im Arbeiter - und - Bauern - Staat heroisiert. Die Betriebe und Brigaden waren wich-

145 Diagramm erstellt auf Zahlenbasis laut Bundesagentur für Arbeit, Statistik ( Für den Verfasser erstellte Statistik der Bundesagentur mit speziellen Zahlen für Hoyerswerda). 146 Vgl. Ralph Teichmann, Hoyerswerda mit niedrigster Quote, in : Sächsische Zeitung vom 7. / 8.9.1991.

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tige persönliche Bezugspunkte. Bei den verordneten Brigadeaktivitäten kam durchaus Geselligkeit auf und erzeugte so soziale Nähe. Der Betrieb war identitätsstiftend.147 Doch mit der Wirtschafts - , Währungs - und Sozialunion sahen sich die Menschen in den neuen Bundesländern mit den neuen Marktmechanismen konfrontiert. Die Wirtschaft der DDR begann sich umzustrukturieren. Die Anpassung an moderne Arbeitsprozesse bedeuteten eine Deindustrialisierung der Wirtschaft und der Aufbau eines Dienstleistungssektors. Dabei erfolgte diese Deindustrialisierung weitaus schneller, als dies in den Jahrzehnten zuvor in Westdeutschland der Fall gewesen war. Die Arbeiter der DDR erwarteten eine solche Tendenz nicht und hielten ihren Arbeitsplatz zunächst für sicher.148 Stattdessen wurde Arbeitslosigkeit ein Phänomen, das potentiell jeden betreffen konnte. Ein Recht auf Arbeit gab es nicht mehr. Die Brigaden zerfielen und mit ihnen häufig Freundschaften.149 »Das Ende der DDR führte somit auch zur Entwertung vieler [...] erworbener Erfahrungen, darauf gründender Verhaltensmuster, Arbeits - und Lebensstile. Es geriet auch zu einer Krise der Selbstrezeption und der mentalen Stabilität.«150 Mit der Arbeitslosigkeit waren viele Betroffene überfordert. Sie hatten nie gelernt, wie man sich in dieser Situation verhält. »Sie warteten auf vorgefertigte Lösungen, die in 40 - jähriger Tradition immer bereitgestellt wurden.«151 Stattdessen reagierten sie ratlos und hilflos. Frustration und Resignation waren die Folge.152 Da sich diese Tendenzen immer weiter ausbreiteten, war nicht nur die tatsächliche Arbeitslosigkeit ein Problem, sondern ebenso die Angst davor. Der Betriebsratsvorsitzende von Schwarze Pumpe schätzte im Dezember 1991, dass im Folgejahr 1 000 Menschen bei der LAUBAG und 3 500 Beschäftigte bei der ESPAG entlassen werden würden.153 Aufgrund dieser negativen Prognosen wurde die Arbeitslosigkeit zu einem Angstphänomen. Neben der Arbeitslosigkeit war der Bevölkerungsrückgang ein weiterer sozialer Aspekt. Dieser begann bereits 1981, verstärkte sich aber ab dem Zeitpunkt der Öffnung der DDR. Zwischen dem 1. Januar und dem 2. Oktober 1990 verließen 3 299 Menschen den Kreis ( bei lediglich 463 Zuzügen).154 Der Großteil, 2 695 Per-

147 Vgl. Bauerkämpfer, Sozialgeschichte der DDR, S. 13 ff.; Kohli, DDR als Arbeitsgesellschaft, S. 50. 148 Vgl. Hübner, Arbeiterklasse, S. 200 ff. 149 Zeitzeugengespräch mit Friedhart Vogel am 18.5.2011. 150 Hübner, Arbeiterklasse, S. 203. 151 Specht, Sozialraum Hoyerswerda, S. 78. 152 Vgl. ebd. 153 Vgl. ebd. 154 Vgl. Gemeinsames Statistisches Amt der neuen Bundesländer, Bevölkerungsstatistische Übersichten – Wanderungen über die Grenzen der ehemaligen DDR 1990 – (1. 1.–2. 10. 1990), An und Abmeldungen ueber die Grenzen des Beitrittsgebietes nach Altersgruppen insgesamt, Geschlecht und Kreisen, Berlin, Oktober 1991, S. 44, ( BArch DE 2/21002, Nr. 0014408/00, unpag. ).

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sonen, zog nach Westdeutschland. Von dort zogen lediglich 19 Personen zu.155 Für den genannten Zeitraum wurde ebenso eine Untersuchung der Wanderungsmotive über die Kreisgrenzen innerhalb des Bezirkes Cottbus erstellt. Daraus wird ersichtlich, dass die meisten Menschen angaben, ihren Wohnsitz aus familiären Gründen verlegt zu haben (939 Personen bei den Anmeldungen, 1 240 bei den Abmeldungen ). Aus Gründen der Arbeitsbedingungen wanderten, nach diesen Angaben, hingegen deutlich weniger Menschen ab (175 Anmeldungen, 270 Abmeldungen ).156 Am Tag der Wiedervereinigung lebten in Hoyerswerda noch 65 442 Menschen. Drei Monate später am Jahresende waren es noch 64 888 und damit ca. 600 Einwohner weniger. Bereits im ersten Jahr nach der Wiedervereinigung sank die Einwohnerzahl um 2 480 Personen.157 Die Statistiken zeigen, dass Hoyerswerda seit 1990 zum einen mit einer ansteigenden Arbeitslosigkeit und zum anderen mit einem Rückgang und einer Überalterung der Bevölkerung zu kämpfen hatte. Zeitgenössische Beobachter sahen einen Zusammenhang zwischen beiden Faktoren : »Die meisten Menschen sind aufgrund ihres Arbeitsverhältnisses nach Hoyerswerda gekommen. Fällt die Arbeit weg, entfällt damit der Sinn des Dortseins.«158 Die hohen Wegzugsraten offenbarten, wie wenig die Menschen in Hoyerswerda verwurzelt waren. So schnell wie die Elterngeneration nach Hoyerswerda zog, zogen ab 1989 die Kinder fort. Für die Menschen waren die Erfahrungen des Jahres 1990 dramatisch. Viele lernten die Arbeitslosigkeit als eine bisher unbekannte Erfahrung kennen. Andere bangten um ihren Arbeitsplatz. Nicht wenige Hoyerswerdaerinnen und Hoyerswerdaer waren verunsichert und verließen die Stadt. Die, die zurückblieben, stellten nicht mehr die vermeintlich geschlossene Gemeinschaft der »Pumpschen« dar. Wie zerbrechlich ein sich allein über den Arbeitsplatz identifizierendes Gemeinwesen ist, zeigte sich in dieser Situation. Carola Dieterich beschrieb diese Erfahrungen : »Die Unterschiede wurden größer : Während der eine arbeitslos wurde, kaufte sich der andere ein Auto. Während der eine gerade noch die steigende Miete der Wohnung in Hoyerswerda zahlen konnte, leisten sich andere ein eigenes Häuschen auf dem Land. ›Die Interessen gingen auseinander. Wir hatten nicht mehr die gleiche Lebenssituation‹, sagt Ralf Karl. Gemeinsame 155 Vgl. ebd., Bevölkerungsstatistische Übersichten – Wanderungen über die Grenzen der ehemaligen DDR 1990 – (1. 1.–2. 10. 1990), An - und Abmeldungen ueber die Grenzen des Beitrittsgebietes nach Altersgruppen aus bzw. nach der BRD, S. 96 ( ebd.). 156 Vgl. ebd., Anmeldungen Abmeldungen über die Kreisgrenze im Bezirk Cottbus nach Wanderungsmotiven und Kreisen, S. 449; 451 ( ebd.). 157 Zahlen für 3. 10. 1990 bis 30. 6. 2009 : Statistische Jahreszahlen der Stadt Hoyerswerda 1990 bis 2010. Hg. von der Stadtverwaltung Hoyerswerda, Redaktionsschluss 26. 2. 2010. Die Zahlen geben, wenn nicht anders angegeben, jeweils den Stand zum Stichtag 31.12. an. Die Angaben ab 1993 einschl. Bröthen / Michalken und Knappenrode, ab 1996 einschl. Zeißig und Schwarzkollm sowie ab 1998 einschl. Dörgenhausen. 158 Specht, Sozialraum Hoyerswerda, S. 78.

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Kegelabende, Sportvereine, Kulturgruppen – alles löste sich auf. Die Pumpschen hatten plötzlich anderes im Kopf : Probleme, Fragen, Ängste, die sie im sozialistischen Kombinat nie kennengelernt hatten.«159 Der Dezernent für Ordnung und Sicherheit, Klaus Naumann, bezeichnete die Arbeitslosigkeit als eines der größten Probleme der Stadt. Von der Ansiedlung von Industrie hingen Einkommen, Ordnung und Sicherheit der Stadt ab. »Denn eine Stadt wie Hoyerswerda mit Arbeitslosigkeit in Größenordnungen, das ist ein Pulverfass.«160 Mit dieser dramatischen Metapher verdeutlichte Naumann die großen Spannungen in der Stadt. Die fragile Solidarität einiger Bürger Hoyerswerdas verdeutlichen zwei Ereignisse des Jahres 1991. Während des Jahres gab es in der Stadt viele Verkehrsunfälle. Allein im ersten Halbjahr starben dabei acht Menschen. Am 2. September ereignete sich auf der Erich - Weinert - Straße ein weiterer Unfall, bei dem eine 17 - jährige Frau verstarb.161 Ihre Freunde wollten daraufhin »auf die Gedankenlosigkeit im Verkehr aufmerksam« machen und veranstalteten in den nächsten Wochen eine Mahnwache an der Unfallstelle.162 Laut »Sächsischer Zeitung« riefen sie damit nicht nur Verständnis hervor. Vielmehr fühlten sich die Anwohnerinnen und Anwohner in ihrer Nachtruhe gestört und die Autofahrer beklagten die Verkehrsbehinderung.163 Obwohl sich dieser tragische Unfall vor den Augen vieler Hoyerswerdaerinnen und Hoyerswerdaer ereignete, war bei den Nachbarn und den Verkehrsteilnehmern, also den Adressaten der Mahnwache, kein Zeichen des Mitgefühls zu bemerken. Die Menschen zogen sich auf ihr engstes privates Umfeld zurück und entwickelten eine »Einzelkämpfermentalität«.164 Am 3. September ereignete sich ein weiterer tragischer Vorfall. An diesem Tag stand ein offenbar verzweifelter Mann an der Dachkante eines elfgeschossigen Hauses im WK VIII. »Es heißt, der Mann ist vor kurzem arbeitslos geworden, herausgerissen aus seiner Tätigkeit, die Lebensinhalt bedeutete«, wurde im Bericht der »Sächsischen Zeitung« vermutet.165 Die Absicht des Betroffenen blieb nicht unbemerkt. Doch anstatt dem Verzweifelten zu helfen, versammelte sich vor dem Haus eine Menge von Schaulustigen. Dabei wurden, laut »Sächsischer Zeitung«, Wetten abgeschlossen, ob der Mann springen würde oder nicht. Andere sorgten sich wegen der Menschenmenge um ihre Autos. Vor dem Haus spielten Kinder und wurden von ihren Eltern nicht weggebracht. Nachdem der Verzweifelte bereits drei Stunden mit sich gerungen hatte, waren aus der Menge 159 Zeitzeuge Ralph Karl. Zit. nach Dieterich, Werk + Mensch, S. 24. 160 Der Dezernent. Klaus Naumann, Dezernent für Recht, Ordnung und Sicherheit. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 28.9.1990. 161 Vgl. Jörg Mattern, Mahnwache geht weiter. In : Sächsische Zeitung vom 12.9.1991. 162 Jörg Mattern, Emotionen sind hier falsch. In : Sächsische Zeitung vom 12.9.1991. 163 Vgl. ebd. 164 Specht, Sozialraum Hoyerswerda, S. 78. 165 Vgl. Jörg Mattern, Nun spring doch endlich. In : Sächsische Zeitung vom 5.9.1991.

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Kommentare wie »so ein Feigling« und »uns so hinzuhalten« zu hören. Schließlich begann ein augenscheinlich Alkoholisierter den Verkehr zu regeln. In kritischem Zynismus kommentierte die »Sächsische Zeitung« : »Jetzt fehlt bloß noch eine mobile Bockwurstbude, und das Absurde wäre perfekt.«166 Das »Hoyerswerdaer Wochenblatt« charakterisierte die Stimmung als »Volksfestatmosphäre«.167 Nach fünf Stunden konnte der Mann schließlich gerettet werden. Die Menge umstand noch den Krankenwagen, bevor sie sich auflöste.168 Statt Mitgefühl zeigten die Umstehenden pure Sensationslust. Sie konnten sich mit dem Hoffnungslosen nicht identifizieren. Seine Verzweiflungstat wurde zum Spektakel. Erst als er im Krankenwagen lag, war das Ereignis vorbei, und die Menge löste sich auf. Beide Vorfälle zeigten die brüchige, dysfunktionale Hoyerswerdaer Stadtgesellschaft. Es bildete sich kein tragfähiges Beziehungsgeflecht aus. Doch gerade in einer schwierigen Zeit wie es die Jahre der Transformation waren, wäre eine stabile Gemeinschaft nötig gewesen, um auch Hilfebedürftige zu integrieren und ihnen Halt zu geben. Stattdessen verstärkte sich 1990/91 der »Rückzug ins Private«. 4.2 Die Jugendbetreuung

Die Situation der Freizeitmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche hatte sich nach der Wiedervereinigung verschlechtert. Die DDR hatte die Heranwachsenden durch ein enges Korsett aus schulischen und außerschulischen Aktivitäten ( FDJ ) nahezu ohne Freiraum gelassen. Nun brach »das staatlich verordnete Betreuungssystem in und außerhalb der Schule fast vollkommen zusammen«.169 In den Schulen boten nur noch wenige engagierte Lehrer Arbeitsgemeinschaften an, die lediglich von 8 - bis 10 - jährigen Schülerinnen und Schülern angenommen wurden. »Die ideologische Erziehung bei den Pionieren und der FDJ ist einer ›Nicht - Erziehung‹ gewichen.«170 Die Familien boten den Heranwachsenden häufig ebenfalls keinen Halt. In der DDR betreuten ( und kontrollierten ) staatliche Organisationen die Freizeit der Kinder, während häufig beide Elternteile arbeiteten. Die Kinder wurden bereits im frühen Alter in den Hort, später in die Krippe gegeben »und abends wieder abgeholt«.171 Der Staat hatte den Eltern die Erziehungsverantwortung genommen. Dadurch mangelte es vielen Eltern an Erziehungserfahrung. Mit dem Wegbrechen dieser staatlichen Betreuung fühlten sich viele Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert. Zumal die Erwachsenen 166 167 168 169 170 171

Ebd. Dino S., Wann springt er denn endlich ? In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 6.9.1991. Vgl. Mattern, Nun spring doch endlich. Specht, Sozialraum Hoyerswerda, S. 53. Ebd. Ebd., S. 68.

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selbst eigene Ängste ( Arbeitsplatzverlust ) zu bewältigen hatten. Specht stellte aus diesem Grund fest : »Die Kinder und Jugendlichen fühlten sich alleingelassen. Es mangelt ihnen an Ansprechpartnern ( Eltern sind zu sehr mit sich beschäftigt, und auch Lehrer werden kaum ins Vertrauen gezogen).«172 Viele Jugendliche flüchteten in Jugendklubs. So auch die Zeitzeugin Frau G., 1990 14 Jahre alt. Ihre erwachsenen Brüder bauten sich ihr eigenes Leben auf, ihre Mutter war verstorben und mit ihrem Vater verstand sie sich nicht. Daher war sie beinahe täglich im »Einstein« - Jugendklub. Ihre Freunde in diesem Klub sah sie als »Familienersatz« und als »Zuflucht von zu Hause« an.173 Die Jugendlichen suchten in den Jugendklubs bei ihren Freunden und den Jugendarbeitern eine stabile Orientierungshilfe. Doch die Situation der Jugendklubs wurde nach der Wirtschafts - und Währungsunion ebenfalls schwieriger. Zuvor hatten sich auch Betriebe an der Jugendarbeit beteiligt. Mit der neuen Marktsituation zogen die Betriebe sich aus diesem Bereich zurück. Daraus folgte die Schließung von vier Einrichtungen. Lediglich die vier städtischen Klubs blieben erhalten. Dazu zählten das Jugendklubhaus im WK I, der Jugendklub im WK II, der Jugendklub »Laden« im WK V / E und der Jugendklub im WK X. Die Kapazität dieser Einrichtungen reichte aber nicht aus. Besonders die WK V, VIII und IX blieben unterversorgt.174 Die kommunalen Jugendarbeiter versuchten die Jugendlichen in dieser Situation aufzufangen. Allerdings blieb auch ihnen der neue Rahmen ihrer Tätigkeit zunächst unklar. So empfand die Jugendarbeiterin Frau K. diese Jahre zwar als eine »neue, interessante Zeit«. Man habe in der Jugendarbeit viel ausprobieren können. Dabei habe man sich aber unbewusst außerhalb der neuen Richtlinien bewegt. Sie empfand diese Zeit daher als »ein bisschen gesetzlos«.175 In der Erinnerung Frau K.’s wird diese Zeit mit ihren scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten positiv konnotiert. Der damalige Leiter des Jugendklubhauses »Nikolai Ostrowski«, Roland Wehner, blickt hingegen kritischer auf diese Jahre zurück. Er benannte für ein 2009/2010 umgesetztes Buchprojekt zur Friedlichen Revolution und Wiedervereinigung in Hoyerswerda die Stimmung der Jugendlichen in dieser Zeit als »Narrenfreiheit«.176 Damit beschrieb er das Gefühl der Rechtsfreiheit, welches damals gerade unter Jugendlichen zu spüren gewesen sei.177 Auch der Jugendarbeiter Hans - Joachim Donath registrierte die Orientierungslosigkeit unter den Jugendlichen. Die neuen Freiheiten seien gerade von Jugendlichen ausgereizt worden. Viele meinten, sämtliche alte Regeln gelten nun nicht mehr. So wurde in den Schulen »die Beziehung zwischen Lehrern und Schülern neu ver172 173 174 175 176 177

Ebd., S. 69. Zeitzeugengespräch mit Frau G. am 13.10.2011. Vgl. Specht, S. 55 ff. Zeitzeugengespräch mit Frau K. am 18.7.2011. Vgl. Decker, Roland Wehner, S. 46. Vgl. ebd.

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handelt« – die Lehrer hatten ihre Autorität bei den Schülern verloren. »Man ließ sich von denen nichts mehr sagen.«178 Die Einschätzung der Jugendarbeiter zeigt die Ambivalenz des Freiheitsbegriffes. Während in der Jugendbetreuung neue Wege ausprobiert wurden, wie es Frau K. versuchte, verorteten sich viele Jugendliche nunmehr in einem rechtsfreien Raum. Sie setzten anstelle des autoritären SED - Staates einen anarchistischen Freiheitsbegriff. Zu einer ähnlichen Feststellung kamen die Sozialwissenschaftler um Specht. Sie erinnerten daran, dass sich nach dem Ende der DDR für alle Ostdeutschen jede bekannte Struktur, wie soziale Sicherungssysteme oder die Arbeitsplatzsicherheit geändert hatte. Gerade auch Jugendliche waren von diesen Brüchen enorm betroffen. Das gesamte Schulsystem wurde reformiert. Lehrer und Jugendarbeiter verloren an Autorität und die Eltern konnten aufgrund der eigenen Unsicherheit auch keine stabile Stütze der Jugendlichen sein.179 Die alten Strukturen waren zerbrochen, doch es »kamen dann allerdings keine klaren Spielregeln für den Alltag, sondern er ist insgesamt undurchsichtiger, komplexer geworden«.180 Viele Jugendliche fühlten sich durch solche Umstände oft allein gelassen und hilflos. Daher suchten sie Stabilität in Jugendcliquen. Die Anerkennung und Aufnahme in eine solche Gruppe war häufig mit einem Status verbunden, den man sich durch gewalttätiges Verhalten erwarb.181 Diesen Zusammenhang zwischen der zurückgehenden Jugendbetreuung und der zunehmenden Gewalt sahen 1991 einige Jugendliche selbst. In Hoyerswerda gab es zu diesem Zeitpunkt vier Jugendklubs mit 16 Mitarbeitern. Die Betriebskosten beliefen sich auf eine halbe Million DM pro Jahr und stellten für die Stadt eine finanzielle Belastung dar. Dies umso mehr, als die Veranstaltungstätigkeit auf zehn Veranstaltungen pro Monat gesunken war. In der Stadtverordnetenversammlung wurde daher seit Sommer 1990 über eine Verpachtung der Jugendklubs diskutiert.182 Das Ziel des Jugenddezernats sei aber gewesen, alle Klubs zu erhalten.183 Die Verpachtungspläne bereiteten einigen jungen Menschen dennoch Sorge. Am Sonntag, den 31. März 1991 besetzten daraufhin einige Jugendliche den Einsteinklub. Laut Frau G., die an der Besetzung beteiligt war, wurde diese Aktion nicht vorbereitet. Man habe sich eher spontan entschieden, den Klub nicht zu verlassen.184 Die Jugendlichen protestierten mit dieser Handlung gegen die Verpachtung des Klubs an eine Privatperson. In Gesprächen mit Vertretern der Kommune formulierten sie vier Aufgaben eines Jugendklubs : 178 179 180 181 182

Zeitzeugengespräch mit Hans - Joachim Donath am 4.8.2011. Vgl. Specht, Sozialraum Hoyerswerda, S. 65 f. Ebd., S. 66. Vgl. ebd., S. 89 f. Vgl. Martin Schmidt, Jugendklub – Faß ohne Boden ? In : Rundschau für Nordsachsen vom 5.4.1991. 183 Zeitzeugengespräch mit Martin Schmidt am 19.7.2011. 184 Zeitzeugengespräch mit Frau G. am 13.10.2011.

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»1. Politische Auffassungen Jugendlicher durch die Möglichkeit einer gemeinsamen Freizeitgestaltung nicht in radikalen Aktionen ausarten zu lassen, 2. sozial Schwachen die Möglichkeit einer sinnvollen Freizeitbeschäftigung zu bieten, ungeachtet ihrer finanzieller Situation, 3. kulturelle Veranstaltungen zu organisieren, 4. eine Möglichkeit der aktiven Freizeitgestaltung der Bürger der Stadt zu schaffen ( Vereinsarbeit, Selbsthilfegruppen, Volkskunst ).«185

Die Jugendlichen sahen die Gefahr einer politischen Polarisierung und Radikalisierung ihrer Altersgenossen. Sie setzten diesen Punkt als ersten auf ihre Forderungsliste. Das Abgleiten in eine feindliche Lagerbildung konnte ihrer Meinung nach durch gemeinsame Freizeitaktivitäten verhindert werden. Dafür seien Jugendklubs geeignet. Jugendklubs sollten allen Jugendlichen, unabhängig von ihrem finanziellen Hintergrund, offen stehen. Die Kernaufgaben eines Klubs, die Organisation von Veranstaltungen, setzten sie erst als Punkte drei und vier auf ihre Liste. Ihr Protest hatte Erfolg. Die Stadt nahm Abstand von ihren Verpachtungsplänen. Im Gegenzug sollte sich der Klub in Zukunft finanziell selber tragen können, wofür verschiedene Varianten erörtert wurden.186 Die Warnung der Jugendlichen, eine Verschlechterung des Freizeitangebotes könnte die politische Radikalisierung der Jugend anheizen, wurde vom Jugendhilfeausschuss bestätigt. Dieser warnte wenige Tage nach der Besetzung des Klubs ebenfalls in der »Lausitzer Rundschau« vor einer Verpachtung. In Anbetracht der Jugendarbeitslosigkeit sei eine kostenfreie Begegnungsstätte für Jugendliche wichtig, um ihnen sinnvolle Inhalte zu vermitteln und ihre sozialen Kompetenzen zu stärken.187 Das »Hoyerswerdaer Wochenblatt« warnte ebenfalls vor dem Gewaltpotential dieser Jugendlichen. Für sie war der Einstein - Klub der einzige Ort, »an dem sich rechtsorientierte Jugendliche treffen konnten, ohne dass es ständig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen« gekommen sei.188 Sollten die Jugendlichen diesen Treffpunkt verlieren, warnte die Zeitung vor einem »Gewaltpotential [...], das von niemandem ernst genug genommen werden kann. Die Besetzung sollte ein Signal dafür sein.«189 Der Behauptung, der Klub sei ein Treffpunkt für rechtsorientierte Jugendliche gewesen, widerspricht die Zeitzeugin Frau G. vehement. Sie habe als Jugendliche im Einstein – Klub keine »Rechten« gesehen.190

185 186 187 188 189 190

Das wollen die Besetzer. In : Rundschau für Nordsachsen vom 5.4.1991. Vgl. ebd. Vgl. Aufwind für Jugendklub. In : Rundschau für Nordsachsen vom 9.4.1991. Einstein besetzt ! In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 5.4.1991. Ebd. Zeitzeugengespräch mit Frau G. am 13.10.2011.

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Die Jugendlichen besetzten den Einsteinklub, um sich Gehör zu verschaffen. Ihr Protest wurde schließlich von Erfolg gekrönt und die Stadt gab nach. Dadurch wurde das Signal gesendet, dass man durch öffentlichkeitswirksame Aktionen etwas verändern könne. Dennoch war dies nur ein Teilerfolg. An der Unterversorgung der Jugendlichen mit ausreichenden Betreuungseinrichtungen änderte sich nichts. Aus diesem Grund konnten die Sozialwissenschaftler um Specht 1992 resümieren : »Viele Jugendliche sitzen auf der Straße, langweilen sich. Die Gleichaltrigengruppe von der Straße gewinnt an Bedeutung, sie wird zum ›Größten‹ für die einzelnen. Ohne Aufsicht und pädagogische Hilfen entwickeln sich sehr schnell rivalisierende Gruppen mit Tendenzen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.«191 Zwar zogen die Forscher um Walter Specht dieses Fazit erst nach den Ausschreitungen. Doch blickten sie in ihrer Sozialraumstudie auf die Entwicklung seit 1990 zurück. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass die Verunsicherung und Cliquenbildung, die sie 1992 beobachtet haben, bereits 1990 und 1991 vorhanden war. Dies wird an einer Debatte aus dem Jahr 1990 deutlich. Bei einer Demonstration gegen Rechtsextremismus zu Beginn des Jahres wurde der Mangel an Freizeitangeboten von einem Oberschüler kritisiert. Dieser habe dazu geführt, dass sich junge Menschen »neofaschistischem Gedankengut« zuwendeten.192 Diesen Vorwurf wollte sich Maik Hölzel vom Konrad Wolf - Klub nicht gefallen lassen. Er legte das umfangreiche Angebot des Klubs dar und kritisierte das mangelnde Interesse der Jugendlichen.193 Festzuhalten bleibt, dass nach 1989 viele Jugendliche mit der sich rasant verändernden Lebenswelt überfordert waren. Sie waren orientierungslos und suchten neuen Halt. In den Erwachsenen fanden sie jedoch keine verlässliche Stütze, weil diese selbst Krisen zu verarbeiten hatten ( Angst um den Arbeitsplatz bei den Eltern, Autoritätsverlust der Lehrer ). Zudem gab es zu wenig Jugendbetreuer, die sich den vielen Jugendlichen ausreichend widmen hätten können. Die Jugendlichen bildeten aus diesem Grund rivalisierende Cliquen. Mit ihrer Orientierungslosigkeit und ihren Ängsten alleingelassen, entwickelten sie Frust. Durch Gewalt gegen andere, besonders gegen »feindliche« Jugendgruppen, suchten sie Aufmerksamkeit. Mit Gewalt regelten sie ihre Streitfälle. Dadurch wurde Gewalt unter Jugendlichen zur Alltagserfahrung.

191 Specht, Sozialraum Hoyerswerda, S. 55. 192 Vgl. Maik Hölzel, Jugend und Freizeit – nicht schlecht bestellt. In : Rundschau für Nordsachsen vom 8.2.1990. 193 Vgl. ebd.

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4.3 Kriminalitätsfurcht

Im Zuge der Wiedervereinigung wurde die Polizei neu geordnet. Mit der Konstituierung des Freistaates Sachsen wurden drei Polizeidirektionen gegründet. Der Kreis Hoyerswerda gehörte zur Polizeidirektion Bautzen ( neben den Kreisen Bautzen, Kamenz und Bischofswerda ). In jeder Kreisstadt wurde ein Polizeirevier eingerichtet. Hoyerswerda bekam zusätzlich eine Kriminalpolizei - Außenstelle. Auf die 360 000 Einwohner des Direktionsbereiches kamen 580 Polizisten.194 Die Einwohner zweifelten an der Einsatzfähigkeit der veränderten Polizei. Bereits im März 1990 meinte die »Lausitzer Rundschau« eine große Besorgnis der Hoyerswerdaer in Bezug auf die Polizei zu spüren und sprach von einer »abgetauchten Polizei«.195 In einem Interview mit dem Leiter des Polizeikreisamtes, Polizeirat Jörg Gröber sprach sie die täglich veröffentlichte Polizeistatistik an, die den Eindruck einer steigenden Kriminalitätsrate erweckte. Der Polizeirat versuchte aber zu beschwichtigen. Im Kreis Hoyerswerda gab es seinen Angaben zufolge 200 Polizisten, was der relativen Polizeidichte in den westlichen Bundesländern entsprochen habe. Allerdings wisse die Polizei um ihre Aufgabe, »neues Vertrauen bei den Bürgern zu gewinnen«.196 Gröber argumentierte, es habe noch Unsicherheit seitens der Polizisten über ihren rechtlichen Rahmen gegeben. Zum Zeitpunkt des Interviews warteten die Ordnungshüter auf ein sächsisches Polizeiaufgabengesetz.197 Wie verunsichert einige Bürger waren, zeigt ein Artikel vom 9. März, also wenige Tage nach dem Interview mit dem Leiter der Polizei. Unter dem markanten Titel »Wo der ›Arm des Gesetzes‹ nicht mehr hinreicht ...« stellte die Zeitung eine Bürgerwehr mit dem Namen »Neue Deutsche Ordnung« ( NDO ) vor. Die Vereinigung gründete sich infolge vieler nächtlicher Diebstähle in Hoyerswerda. In dem Artikel schildert der Initiator ausführlich, wie oberflächlich die Polizei die Misshandlung eines Betrunkenen durch zwei Jugendliche geschlichtet habe. Erst die NDO habe die Situation wirklich befrieden können. In dieser Vereinigung engagierten sich circa 60 Männer, wobei viele von ihnen selbst ehemalige Kriminelle waren. Seit November 1990 hätten sie versucht, ihren »Wunsch nach gesetzlicher Fairness sowie Unvoreingenommenheit gegenüber jedermann« umzusetzen.198 Dabei patrouillierten sie in Fahrzeugen und mit CB - Funk sowie Insider - Informationen ausgestattet in der Stadt. »Das macht es möglich, dass die Neue Deutsche Ordnung oftmals vor der Polizei am Ort des jeweiligen Gesche194 Vgl. Zunahme von Straftaten und mehr Tätergewalt. In : Rundschau für Nordsachsen vom 27.8.1991. 195 Manfred Kraszon, Keine ›Ersatzarmee‹ mehr. In : Rundschau für Nordsachsen vom 2.3.1991. 196 Ebd. 197 Vgl. ebd. 198 Ralf Grunert, Wo der »Arm des Gesetzes« nicht mehr hinreicht. In : Rundschau für Nordsachsen vom 9.3.1991.

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hens eintrifft, manchmal die Polizei gar nicht zu Gesicht bekommt.«199 Etwaige Ereignisse wurden von der Vereinigung protokolliert. Dafür habe aber die Polizei kein Interesse gezeigt, was bei der NDO auf wenig Verständnis stieß. Die »Neue Deutsche Ordnung« fühlte sich als Ordnungsmacht, wo die Polizei nicht zu sehen gewesen sei. Von der Polizei wie von anderen Behörden und Bürgern wurde die Organisation eher kritisch bewertet. Den Mitgliedern der NDO war bewusst, dass sie Selbstjustiz übten. Allerdings rechtfertigten sie ihre Aktionen als zweckdienlich. Sie wiesen dabei auf eine angeblich zunehmende Bandenbildung von 18 - bis 25 - Jährigen in der Stadt hin.200 In einem weiteren Beitrag wenige Tage später schilderte ein Reporter der »Lausitzer Rundschau« eine nächtliche Patrouille der NDO, die er begleitet hatte. In seinem Beitrag wollte er ihr Wirken nicht gutheißen. Er interpretierte die Gründung der NDO aber als Symptom einer unsicheren Stadt.201 Die Berichte über diese Bürgerwehr waren daher ein Appell an die Polizei : In der Stadt gäbe es zu viel Kriminalität. Die Polizei müsse ihre Einsätze verstärken. Dann wären Organisationen wie die NDO überflüssig gewesen. Ein solcher Standpunkt verstärkte aber bei den Lesern das Gefühl, dass die Polizei bei der zunehmenden Kriminalität untätig blieb. Dass diese Ängste weit verbreitet waren, wollte eine nicht repräsentative Befragung Hoyerswerdaer Bürgerinnen und Bürgern durch die »Lausitzer Rundschau« im Juli zeigen. Gleich eingangs wurde erwähnt, dass sich vor allem die befragten Mädchen und Frauen »überhaupt nicht mehr« sicher fühlten.202 Sie hätten Angst vor zudringlichen Männern, besonders im Dunkeln. Andererseits gab es bei allen Befragten und in deren Freundeskreisen keine Erfahrung mit sexuellem Missbrauch. Die Angst war dennoch vorhanden. Im Bericht wurde auch die Polizei mit dem Vorwurf konfrontiert, im Vergleich zu »früher« weniger präsent zu sein. Dadurch sei das Gefühl der Schutzlosigkeit entstanden. Der Leiter der Schutzpolizei, Hauptkommissar Norbert Kuchinke, gab dagegen zu bedenken, dass es auch in der DDR Sexualdelikte gegeben habe, diese aber wegen der restriktiven Informationspolitik öffentlich kaum bekannt geworden seien. Seit der Friedlichen Revolution gebe es eine offenere Öffentlichkeitsarbeit und Informationspolitik der Polizei. Das heißt, sie veröffentlichte »jetzt eine ehrliche Statistik«.203 Der Sprecher der Polizei räumte aber gleichzeitig ein, dass sich die Kriminalität erhöht habe. Besonders Diebstähle seien »an der

199 Ebd. 200 Vgl. ebd. 201 Vgl. Werner Arlt, »Der Dienstherr wünscht Sie nicht zu sprechen !« In : Rundschau für Nordsachsen vom 15.3.1991. 202 Vgl. Kein Miami Vice, aber Garant für Sicherheit. In : Rundschau für Nordsachsen vom 31.7.1991. 203 Hauptkommissar Norbert Kuchinke. Zit. in ebd.

Die Folgen der Wiedervereinigung für Hoyerswerda

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Tagesordnung«204 gewesen. Hinzu sei eine veränderte Mobilität der Täter gekommen. Dem Vorwurf der Bürger entgegnete er, die Polizei sei zu jeder Zeit mit Streifen in der Stadt präsent gewesen. Allerdings gab es die Institution des ABV nicht mehr; Polizisten sollten nur noch zu zweit unterwegs sein. Sie bekamen zusätzlich neue Aufgaben bei der Tatortsicherung, was die Zeit für den Streifendienst beeinträchtige. Letztlich mahnte er eine größere Vorsicht der Bürgerinnen und Bürger im täglichen Leben an und lobte die Effizienz privater Sicherheitsdienste. Bemerkenswert an diesem Bericht ist der Verweis auf die Wahrnehmung von Kriminalität. Zwar stieg diese tatsächlich an, durch die nun offene Informationspolitik verstärkte sich allerdings das Gefühl der kriminellen Bedrohung und der Ineffizienz der Politik. Eine Kriminalitätsstatistik war im August 1991 in der »Lausitzer Rundschau« zu lesen. Im Direktionsbereich Bautzen wurden im ersten Halbjahr 7 297 Straftaten verübt, davon jedoch fast 50 Prozent im Kreis Hoyerswerda. Die Aufklärungsquote der Polizei lag bei 52 Prozent. Bei den Delikten nahmen besonders einfache und schwere Einbrüche zu. Des Weiteren wurde eine zunehmende Brutalität der Täter festgestellt.205 Die Stadt Hoyerswerda hatte somit tatsächlich mit einer hohen Kriminalität zu kämpfen. Diese Tendenz war jedoch in allen neuen Bundesländern zu beobachten. Demnach nahm die objektive Kriminalitätsrate bis 1993 deutlich zu.206 »Parallel dazu war ein markanter Anstieg der Sorge der Bürger zu verzeichnen, selbst einmal Opfer einer Straftat zu werden.«207 Dabei stieg diese Angst in den großen Metropolen schneller als in Kleinstädten. Erst Mitte der 1990er Jahre nahmen diese Sorgen langsam ab. Zeitweise war die Kriminalitätsfurcht in den neuen Ländern doppelt so hoch wie in den alten. Die Opferraten unterschieden sich jedoch kaum voneinander.208 »Hieran wird eine Eigenschaft der Kriminalitätsfurcht deutlich, die sich in allen empirischen Befunden widerspiegelt : Die Angst vor Viktimisierungen ist gewissermaßen unabhängig von den ›objektiven‹ Gefährdungen, denen die Bürger tatsächlich ausgeliefert sind.«209 Nach den Ausschreitungen 1991 erklärte Landrat Schmitz gegenüber der FAZ, das sächsische Innenministerium im Zusammenhang mit der Unterbringung von Asylbewerbern rechtzeitig vor der Kriminalitätsfurcht gewarnt zu haben. Man habe den Innenminister darüber informiert, dass sich aufgrund der Strukturkrise in der Stadt »ein Konfliktpotential aufbaue, das eine entsprechende Ausstattung der dortigen Polizei und Sicherheitskräfte dringend erforderlich mache«.210 Zunächst habe der Regierungspräsident die 204 Ebd. 205 Vgl. Zunahme von Straftaten und mehr Tätergewalt. In : Rundschau für Nordsachsen vom 27.8.1991. 206 Vgl. Burgheim / Sterbling, Kriminalitätswahrnehmung, S. 25. 207 Ebd. 208 Vgl. ebd. 209 Ebd. 210 »Über Konfliktpotential informiert«. In : FAZ vom 26.9.1991.

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Die stadtgeschichtliche Entwicklung Hoyerswerdas

Idee einer eigenen Polizeidirektion in Hoyerswerda begrüßt, »doch das Ministerium habe die Warnungen ignoriert, obwohl schon vor der Wende bekannt war, dass Hoyerswerda eine überdurchschnittliche Kriminalitätsrate aufweise«, erklärte das Landratsamt.211 Diese Behauptung lässt sich zwar nicht verifizieren, doch weist die Aussage erneut auf die Wahrnehmung von Kriminalität hin : Die Hoyerswerdaer hatten 1990/91 eine große Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden. Diese Furcht war so hoch, dass einige Bürger bereit waren, das Recht in die eigene Hand zu nehmen. Man vertraute der Polizei nicht mehr und versuchte daher selbst, Sicherheit und Ordnung herzustellen. Die NDO war somit ein Symptom für den Autoritätsverlust des Staates.

5. Zusammenfassung Hoyerswerda war im Wesentlichen eine Neugründung, um Wohnraum für die Arbeiterinnen und Arbeiter des Kombinates Schwarze Pumpe und der umliegenden Tagebaue zu schaffen. Die Stadt wuchs nicht natürlich, sondern auf Anweisung. Aufgrund des hohen Wohnraumbedarfes wurde zunehmend auf eine ausreichende Bereitstellung von Nachfolgeeinrichtungen verzichtet. Die einzelnen Wohnkomplexe wurden wie kleine Städte konzipiert. Besonders nachteilig sollte sich der Verzicht auf das der Integration dienende Stadtzentrum mit Kulturpark erweisen. Die ursprüngliche Absicht war es, dass sich in diesem die Bewohnerinnen und Bewohner der Alt - und Neustadt treffen und kennenlernen sollten. Durch den Wegfall dieses zentralen Kommunikationsortes war eine Integration der Alt - und Neustädter, aber auch der Neustädter der einzelnen WK behindert. Durch fehlende Kontaktzonen lernten sich die Bewohner der einzelnen Wohnkomplexe kaum kennen. Ein tiefes Gemeinschaftsgefühl konnte so nicht entstehen. Vielmehr zogen sich die Einwohner in private Nischen zurück, z. B. Kleingärten, staatlich organisierte Vereine oder Freundeskreise. Einen hohen Stellenwert hatten auch die Brigaden. Die Schichtkollegen bildeten häufig das prägende soziale Umfeld. Mit ihnen fuhr man morgens im Schichtbus ins Kombinat, arbeitete anschließend miteinander und fuhr abends wieder zurück. Deutlich wurde die Desintegration mit den vielen Veränderungen im Zuge der Wiedervereinigung. Neben den neuen Freiheiten und Chancen lernten die Einwohner auch Arbeitslosigkeit und Angst um den eigenen Arbeitsplatz kennen. Andere wiederum verließen die Stadt und suchten ihr Glück in den alten Bundesländern. Alte Beziehungen zerbrachen, die Identität der Stadt als Wohnstadt im Berg - und Energiebezirk der DDR ging verloren. Sicherlich haben viele Menschen sich schnell in der neuen Situation orientieren können und ihre neuen 211 Ebd.

Zusammenfassung

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Chancen genutzt. Aber es gab ebenso Anzeichen von Frustration und Gleichgültigkeit über das Schicksal der Mitbürger. So wurde ein Suizidversuch zu einem Spektakel für die Nachbarn und eine Mahnwache für mehr Rücksicht im Straßenverkehr wurde lediglich als Störung zur Kenntnis genommen. Bereits 1990 nannte der Kulturdezernent der Stadt, Martin Schmidt, die Lethargie und den Egoismus als die zwei größten Probleme der Stadt.212 Durch die gleichförmige Anlage der Wohnkomplexe und den Wegfall des Stadtzentrums entstand eine mehrfach desintegrierte Stadtgesellschaft. Jenseits des eigenen Wohnkomplexes bauten die Einwohner kaum soziale Bindungen zueinander auf. Viele Menschen lebten in engen privaten Kreisen. Diese Desintegration wurde durch die wirtschaftliche Krise ab 1989 verstärkt. Durch Arbeitslosigkeit verloren viele Menschen ihre vertrauten Kollegen. Statt die eigene Zukunft wie bisher überschauen zu können, griff die Angst vor Arbeitslosigkeit um sich. Bereits arbeitslos gewordene Bürger sahen häufig keinen eigenen Ausweg aus der Perspektivlosigkeit. In diesen Jahren zerbrachen viele soziale Beziehungen. Stattdessen wuchs Orientierungslosigkeit, Resignation und Frustration. Die Kriminalität in der Stadt stieg an. Die Polizei wurde umstrukturiert. Beide Faktoren führten zu einer großen Unsicherheit bei der Bevölkerung. Diese Lücke versuchte eine Bürgerwehr zu schließen. Es gab Bürger, die die Selbstjustiz als legitimes Mittel bei einem vermeintlichen Versagen des Staates akzeptierten. Die Gesellschaft brach auseinander, alte Lebenswelten gingen unter und auf die Polizei schien kein Verlass mehr zu sein. Am Vorabend der Ausschreitungen vom September 1991 stand die Stadt Hoyerswerda folglich unter erheblichem sozialen Druck. Dies war den Zeitgenossen durchaus bewusst. So verglich der Ordnungsdezernent Naumann Hoyerswerda mit einem »Pulverfass« und auch das »Hoyerswerdaer Wochenblatt« benutzte, wie einleitend bemerkt, die Metapher der »Zeitbombe«, um die brisante Situation in der Stadt beschreiben zu können. Dies zeigt, welche Brisanz in den massiven sozialen Problemen steckte. Sie waren Manifestationsbedingungen, die die seit vielen Jahren unterschwellig vorhandenen Spannungen der desintegrierten Gesellschaft verstärkten.

212 Vgl. Der Dezernent. Martin Schmidt, Dezernent für Kultur und Bildung. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 31. 8. 1990.

III. Die Situation der Ausländer in Hoyerswerda

1. Die Ausländerbeschäftigung in der DDR Die DDR stilisierte sich gern als ein familienfreundliches Land : »Glücklich strahlende ›Muttis‹ mit gesunden Babys auf dem Arm gehörten zu den beliebtesten Bildern der sozialistischen Propaganda.«1 Nach zwei Höhepunkten der Geburtenrate in den Jahren 1950 bis 1955 und 1959 bis 1965 sank die Geburtenrate jedoch langfristig. Ein erster Tiefpunkt war 1974 mit 10,5 Neugeborenen auf 1 000 Einwohner erreicht. Ein erneuter leichter Anstieg bis 1980 (14,6 Neugeborene je 1 000) konnte den Bevölkerungsrückgang nicht aufhalten.2 Aus dieser Bevölkerungsentwicklung resultierte ein Arbeitskräftemangel. Dieser Mangel konnte auch durch verschiedene Mobilisierungsmaßnahmen, wie beispielsweise die hohe Frauenerwerbstätigkeit, nicht behoben werden.3 Die DDR - Wirtschaft benötigte aber sehr viele Arbeitskräfte. Der Planwirtschaft fehlte Kapital, um notwendige Investitionen zu tätigen, damit die planmäßigen Vorgaben von Produktionssteigerungen erreicht werden konnten. Ein »extensiver Arbeitskräfteeinsatz« sollte den Ausfall von Rationalisierungen und Modernisierungen aufwiegen.4 Mithilfe ausländischer Arbeiter sollte der Arbeitskräftemangel behoben werden. Dem stand bis 1964 die ablehnende Haltung der anderen sozialistischen Länder im »Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe« ( RGW ) gegenüber. Die Übermittlung von Arbeitern in andere Staaten wurde bis dahin abgelehnt, »da er als charakteristisch für die Ausbeutung in kapitalistischen Gesellschaften galt«.5 Im Mai 1964 diskutierten erstmals Fachleute auf der Konferenz »Geographie der sozialistischen Länder« in Moskau den Austausch von Arbeitskräften. Eine 1969 in Buda-

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Wolle, heile Welt der Diktatur, S. 233. Vgl. ebd., S. 233 f. Vgl. Kuck, Aufbau ihrer Heimat, S. 271. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 10. Gruner - Domić, Geschichte der Arbeitskräftemigration, S. 204.

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Die Situation der Ausländer in Hoyerswerda

pest veröffentlichte COMECON - Studie stützte diese Pläne. Schließlich wurde 1971 mit dem »Komplexprogramm für die weitere Vertiefung und Vervollkommnung der Zusammenarbeit und Entwicklung der sozialistischen ökonomischen Integration der Mitgliedsländer des RGW« »erstmals offiziell eine Grundlage für eine Arbeitskräftekooperation zwischen den RGW - Ländern geschaffen«.6 Die DDR traf gleichwohl bereits in den 1960er Jahren Abkommen mit befreundeten osteuropäischen Ländern. Die Regierung schlug im Oktober 1961 Ungarn, Rumänien und Bulgarien vor, Arbeiter aus diesen Ländern zu beschäftigen. Die Gründe für diese Anregungen lagen in den Befürchtungen der DDR, den verpflichtenden Warenlieferungen in diese Länder wegen des Arbeitskräftemangels nicht nachkommen zu können. Dieser Plan wurde jedoch zunächst abgelehnt.7 Wenige Jahre später, 1963, wurde das erste bilaterale Abkommen mit der Volksrepublik Polen abgeschlossen. Beide Länder beschlossen die Beschäftigung und Qualifizierung von 500 polnischen Arbeitern für die ostdeutsche Braunkohlegewinnung. Drei Jahre später wurde die Beschäftigung von Polen als Arbeitspendler im grenznahen Bereich vereinbart. Schließlich wurde man sich 1971 über den Einsatz polnischer Ingenieure, Ärzte und Arbeiter einig.8 Mit Ungarn wurde erstmalig 1967 ein Vertrag über den Einsatz junger Ungarn abgeschlossen, der 1975 und 1985 verlängert wurde. Allerdings kamen nicht wie erhofft 16 000 Ungarn in die DDR.9 Es folgten Verträge mit Bulgarien (1973), Algerien (1974), Kuba (1975), Mosambik (1979), Vietnam (1980), der Mongolischen Volksrepublik (1982), Angola (1985) und zuletzt mit China (1986).10 Mirjam Schulz gliedert die über dreißig Jahre dauernde Ausländerbeschäftigung in der DDR in drei Phasen :11 In der ersten Phase wurden ab Mitte der 1960er Jahre Abkommen mit anderen RGW - Staaten, wie Polen und Ungarn, getroffen. Die Abkommen mit diesen Ländern sahen die Qualifikation der polnischen und ungarischen Arbeiter vor. Die DDR galt als wirtschaftlich fortschrittlicheres sozialistisches Land. Deshalb sollte die ostdeutsche Republik ausländische Arbeiter an entsprechenden Anlagen weiterbilden und qualifizieren. Dadurch sollte ein Erfahrungsaustausch unter den RGW - Staaten erzielt werden. Die

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11

Jasper, Ausländerbeschäftigung, S. 152. Gruner - Domić, Geschichte der Arbeitskräftemigration, S. 205 f. Vgl. ebd., S. 206 ff.; Jasper, Ausländerbeschäftigung, S. 155 f. Vgl. Gruner - Domić, Geschichte der Arbeitskräftemigration, S. 208 ff.; Jasper, Ausländerbeschäftigung, S. 157 ff. Vgl. Gruner - Domić, Geschichte der Arbeitskräftemigration; Jasper, Ausländerbeschäftigung; eine Übersicht bei Kuck, Aufbau ihrer Heimat, S. 272; Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 9. Vgl. Schulz, Migrationspolitik in der DDR, S. 147 f.

Die Ausländerbeschäftigung in der DDR

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Propaganda feierte den Abschluss von Verträgen über den Transfer von Arbeitskräften als »Solidarität durch Ausbildung«.12 In der zweiten Phase ab Mitte der 1970er Jahre wurde die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte erhöht. Die Arbeiter kamen nun aus Algerien und Kuba und damit nicht mehr nur aus RGW - Staaten. Bei den Abkommen mit diesen »›jungen‹ sozialistischen Staaten außerhalb des europäischen Blocks«13 stand die Qualifikation der Arbeiter im Vordergrund. Die ausländischen Arbeiter wurden in den Berufen ausgebildet, die ihr Entsendeland benötigte. Zudem sollten sie in der DDR den Sozialismus kennenlernen, um nach ihrer Rückkehr mit ihren Erfahrungen den Sozialismus im jeweiligen Land aufzubauen.14 Die meisten Ausländer legten einen Facharbeiterabschluss ab und auch der Sprachunterricht wurde von den jeweiligen Betrieben durchgeführt.15 Die dritte Phase in den 1980er Jahren umschreibt Schulz als »Massenimport«16 von Arbeitskräften. Um das Wirtschaftssystem zu retten, beschäftigte die DDR eine sehr große Zahl von Ausländern, vor allem Mosambikaner und Vietnamesen. Die Vertragsarbeiter wurden jetzt »zunehmend unter dem Aspekt der bestmöglichen Verwertung ihrer Arbeitskraft zum Nutzen der DDR - Volkswirtschaft« eingesetzt.17 Die Ausbildung sah nicht mehr die berufliche Fachqualifikation vor, sondern diente nur der Beherrschung der direkten praktischen Tätigkeit. Auch die Sprachförderung reduzierte sich auf die notwendigsten Kenntnisse.18 Die Entsendeländer setzten allerdings weiterhin auf die vereinbarten Qualifizierungsziele. Aus diesem Grund kam es zum Zerwürfnis mit Algerien Anfang der 1980er Jahre. Algerien erließ ein Gesetz gegen die Ausbeutung seiner Bürger durch andere Staaten. Das Regierungsabkommen wurde gekündigt und die algerischen Arbeiter verließen die DDR.19 Andere Staaten nahmen die veränderten Arbeitsbedingungen ihrer Bürger scheinbar hin. Als in den südafrikanischen Medien 1988 über die schlechten Arbeitsbedingungen mosambikanischer Arbeiter in ostdeutschen Braunkohletagebauen berichtet wurde, verharmloste Mosambik die Situation. In einer Gegendarstellung erklärte die Regierung offiziell, ihren Landsleuten in der DDR gehe es gut und sie würden »in der Mehrzahl in der Textil -, Schwer - und Bauindustrie eingesetzt«.20 Von der öffentlichen Wahrneh12

13 14 15 16 17 18 19 20

Vgl. Jasper, Ausländerbeschäftigung, S. 152; Kuck, Aufbau ihrer Heimat, S. 272; Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 9 f.; Schulz, Migrationspolitik in der DDR, S. 148 ff. Schulz, Migrationspolitik in der DDR, S. 152. Vgl. ebd. Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 16. Schulz, Migrationspolitik in der DDR, S. 147. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 16. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 11; Jasper, Ausländerbeschäftigung, S. 162. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 11.

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Die Situation der Ausländer in Hoyerswerda

mung verborgen blieben jedoch Schreiben der mosambikanischen Regierung an die zuständigen DDR - Behörden,21 in denen Mosambik kritisierte, dass die Ausbildung der mosambikanischen Arbeiter zugunsten der Planerfüllung vernachlässigt worden sei.22 Einen offenen Protest konnte Mosambik nicht wagen, da das Land von der Beschäftigung seiner Bürger fern der Heimat profitierte. Infolge einer gescheiterten Wirtschaftspolitik gab es im Mosambik einen erheblichen Arbeitskräfteüberhang. Die mosambikanische Regierung sah in der Beschäftigung ihrer Landsleute eine Entlastung für das eigene System.23 Vietnam stimmte 1985 gar einem Vertrag zu, der ausdrücklich den Vorrang der Arbeitstätigkeit vor der Ausbildung festschrieb.24 Als Grund für diese Politik vermutet Gruner Domić : »Wie Mosambik scheint auch Vietnam einen Teil seiner Schulden mit den DDR - Ausgaben bei der Beschäftigung vietnamesischer Arbeiter verrechnet zu haben.«25 Somit profitierten beide Seiten : Die DDR konnte ihren Arbeitskräftemangel abfedern und ihre Schuldner Mosambik und Vietnam ihre Verbindlichkeiten reduzieren. Diese »Win - Win - Situation« wurde auf Kosten der Arbeitnehmer ausgehandelt. Müggenburg erkennt in der unterschiedlichen Behandlung der Vertragsarbeiter eine »Rangfolge« : »Die Vertragsarbeitnehmer aus den europäischen sozialistischen Staaten und aus Kuba wurden zumeist besser gestellt, als ihre Kollegen aus den sozialistisch orientierten Entwicklungsländern.«26 Sicher ist, dass die DDR in den letzten Jahren ihrer Existenz von der fundierten Ausbildung ihrer ausländischen Arbeitskräfte abrückte und sie stattdessen einzig zum Zwecke der Stabilisierung der eigenen Wirtschaft einsetzte. Mitte der 1980er Jahre stellten Vietnamesinnen und Vietnamesen den höchsten Anteil der ausländischen Arbeiter. Circa 66 000 vietnamesische Bürger arbeiteten in der DDR. Dies entsprach rund 66 Prozent der Vertragsarbeiter. Die zweitgrößte Gruppe bildeten die rund 15 000 Mosambikaner (17 Prozent). Jeweils 5 000 bis 6 000 Kubaner und Polen (6 bis 7 Prozent) arbeiteten zu diesem Zeitpunkt in der DDR. Die Zahl der Angolaner, Mongolen, Chinesen, Rumänen und Bulgarien lag bei jeweils weniger als 1 000 Beschäftigten, was einem Anteil von weniger als einem Prozent aller Vertragsarbeiter entsprach.27 In den industriell geprägten Bezirken wurden die Vertragsarbeiter besonders häufig eingesetzt : In Ostberlin lebten, gemessen an der Wohnbevölkerung, 21

22 23 24 25 26 27

Ein Brief richtete sich an den Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission, ein zweiter an die Abteilung Ausländische Arbeitskräfte des Staatssekretariats für Arbeit und Löhne, vgl. Schulz, Migrationspolitik in der DDR, S. 156. Vgl. ebd. Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 11; Jasper, Ausländerbeschäftigung, S. 161. Vgl. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 10. Gruner - Domić, Geschichte der Arbeitskräftemigration, S. 219. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 11. Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 12.

Die Ausländerbeschäftigung in der DDR

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1,6 Prozent Ausländer, in Cottbus 1,5 Prozent, in Karl - Marx - Stadt ( Chemnitz ) 1,5 Prozent und in Leipzig 1,5 Prozent.28 Gemessen an der Gesamtbevölkerung der DDR gab es 1987 nur 1 Prozent Ausländer. Im Vergleich dazu waren 6,8 Prozent der bundesdeutschen Wohnbevölkerung Ausländer.29 Die Friedliche Revolution hatte auch ihre Auswirkungen auf die Beschäftigung ausländischer Arbeiter. Einige Vertragsländer, Nordkorea, China und Kuba, beorderten ihre Staatsbürger schon kurz nach der Grenzöffnung am 9. November 1989 zurück.30 Nach den ersten freien Volkskammerwahlen beendete die Regierung de Maizière durch entsprechende Verträge die Entsendung von Arbeitskräften aus Vietnam, Mosambik und Angola. Der Aufenthalt der bereits eingereisten Vertragsarbeiter wurde zwar bestätigt,31 allerdings um ein Jahr auf vier Jahre gekürzt. Weiterhin wurde in die jeweiligen Abkommen ein Passus eingefügt, der den einzelnen Arbeitnehmern ein individuelles Ausscheiden aus den Verträgen ermöglichte, sofern sie ein neues Arbeitsverhältnis in der DDR oder ihren Heimatländern eingehen wollten.32 Im Juni erließ die Regierung der DDR eine Verordnung über die Möglichkeit vorzeitiger Beendigung bestehender Verträge aus »zwingenden Gründen«. Als solche galten die Herstellung betriebswirtschaftlicher Rentabilität durch Personalabbau, Modernisierungen der Betriebe oder Umweltschutzmaßnahmen. Diese Verordnung bezog sich ausdrücklich auf die Regierungsabkommen mit Vietnam, Mosambik und Angola.33 Von diesen Maßnahmen Betroffene sollten eine Prämie von 3 000 DM bekommen, eine Ausgleichszahlung von 70 Prozent des Nettolohns für drei Monate und die weitere Unterbringung in den betriebseigenen Wohnheimen bis zur Ausreise. Wer nicht in sein Entsendeland zurückkehren wollte, bekam das Aufenthaltsrecht bis zum vorgesehenen Vertragsende, das Recht auf Erteilung einer Arbeitserlaubnis bzw. einer Gewerbeerlaubnis bei selbstständiger Tätigkeit sowie das Recht auf die Leistungen des Arbeitsamtes.34 Massive Kündigungen ausländischer Arbeitnehmer waren die Folge. Diejenigen, die sich daraufhin um andere Arbeitsmöglichkeiten in der DDR bemühten, standen vor ganz praktischen Schwierigkeiten : Der Stellenabbau erschwerte die Aufnahme neuer Beschäftigungsverhältnisse. Hinzu kam, dass die Arbeitsämter oft feststellten, dass die verbleibende Zeit bis zum Ende der bisherigen Verträge nicht genüge, um die ausländischen Arbeitskräfte hinreichend zu qualifizieren. Auch die zugesicherten Ausgleichszahlungen

28 29 30 31 32 33 34

Vgl. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 7. Vgl. Kasper, Kommunales Wahlrecht, S. 143. Vgl. Jasper, Ausländerbeschäftigung, S. 166; Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 32. Vgl. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 11. Vgl. Jasper, Ausländerbeschäftigung, S. 166 f. Vgl. ebd., S. 167. Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 33.

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Die Situation der Ausländer in Hoyerswerda

konnten die Betriebe oftmals aus Liquiditätsgründen nicht zahlen oder sie versuchten, diese Zahlungen mit individuell abgeschlossenen Verträgen zu umgehen. Viele der arbeitslos gewordenen Ausländer verließen daraufhin die DDR.35 Im Jahr 1989 lebten 191 000 Ausländer in der DDR, von denen die Vertragsarbeiter mit 95 000 die größte Gruppe bildeten.36 Am Jahresende 1990 lebten dagegen nur noch 28 000 ehemalige Vertragsarbeiter, in der Mehrzahl Vietnamesen, in Deutschland.37 1.1 Rechtliche Rahmenbedingungen

Bis 1956 wurde die Thematik »Ausländerrecht« in der DDR überhaupt nicht geregelt. Erst in diesem Jahr wurde eine entsprechende Verordnung erlassen. Ein Ausländergesetz erließ die DDR gar erst 1979.38 Die Ursache für diese stiefmütterliche Behandlung war ideologiebedingt : »Die Frage nach der Relevanz eines Ausländerrechtsbegriffes im Sozialismus wurde in der DDR [...] mit der oberflächlichen Begründung, er wäre der bürgerlichen Fremdenrechtskonzeption entlehnt, verneint.«39 Eine Unterscheidung zwischen eigenen und fremden Bürgern war verpönt. Dadurch sollte eine gesetzliche Diskriminierung verhindert werden. Allerdings übersah dieser Anspruch, dass die »Rechtsmaterie ›Ausländerrecht‹ auch im Sozialismus zwingend erforderlich [ war ]«, welches die klassische Funktion des Fremdenrechtes als »besonderes Recht« im Unterschied zum Recht der eigenen Bürger »permanent zu erfüllen hat«.40 Die Bestimmungen im Ausländergesetz von 1979 sowie einer Aufenthaltsanordnung für Ausländer aus demselben Jahr sind sehr knapp. Das Gesetz umfasste z. B. lediglich 10 Paragraphen.41 Es unterschied drei Aufenthaltstitel : Die Aufenthaltserlaubnis gab es für einen »zeitlich unbefristeten Aufenthalt und ständigen Wohnsitz in der DDR«.42 Die Aufenthaltsgenehmigung galt für einen längeren Zeitraum, die Aufenthaltsberechtigung für einen »kurzfristigen Aufenthalt aus dienstlichen, privaten oder aus touristischen Gründen«.43 Da die Regierungsabkommen über Vertragsarbeiter meist auf mehrere Jahre befristet waren,44 galt für die ausländischen Arbeiter die Aufenthaltsgenehmigung. »Auch nach einem langen Aufent35 36 37 38 39 40 41 42 43 44

Vgl. ebd., S. 34 f. Vgl. Schulz, Migrationspolitik in der DDR, S. 146. Vgl. ebd., S. 163. Vgl. Beyer, Entwicklung des Ausländerrechts, S. 214. Ebd., S. 213. Ebd. Vgl. ebd., S. 214; Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 12. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 8. Ebd. Dabei gab es starke Schwankungen von zwei bis drei Jahren bspw. bei Mongolen oder Ungarn bis hin zu fünf Jahren bei Vietnamesen, vgl. Müggenburg,Vertragsarbeitnehmer, S. 9.

Die Ausländerbeschäftigung in der DDR

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halt erwarben die Vertragsarbeiter kein von ihrer Beschäftigung unabhängiges Aufenthaltsrecht oder eine Arbeitserlaubnis.«45 Das Ausländergesetz regelte lediglich die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen sowie deren Ablauf und die Ausweisungsverfahren. Es enthielt keine genaueren Bestimmungen über die einzelnen Rechte und Pflichten. Aufgrund des kurzen Gesetzestextes waren die einzelnen Regierungsabkommen die tatsächliche rechtliche Grundlage für die Arbeiter.46 Die Ausgestaltung der einzelnen Verträge änderte sich im Laufe der Jahrzehnte. Die Verträge mit anderen RGW - Staaten unterschieden sich stark mit denen sog. »junger« sozialistischer Länder.47 Es müssen daher die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der jeweiligen Vertragsbestimmungen bedacht werden. Während des Aufenthaltes war ein Heimaturlaub gestattet. Dieser wurde »in der Regel für zwei Monate nach zwei Jahren Berufsausbildung bzw. Arbeit in der DDR« gewährt.48 Die Vertragsarbeiterinnen und - arbeiter waren in Wohnheimen untergebracht, die von den jeweiligen Einsatzbetrieben bereitgestellt wurden. Die Unterbringung erfolgte nach Geschlechtern getrennt, »wobei Ehepaare keinen Rechtsanspruch auf gemeinsame Unterkunft« hatten.49 In einem Wohnraum sollten maximal vier Personen leben. Als Berechnungsgrundlage wurden jeder Person 5 m2 Platz zugemessen. Eine Wohnheimordnung regelte weitere Details. Zu Beginn des Aufenthaltes sollten in einer Eingewöhnungszeit Deutschkenntnisse erlernt werden. In dieser Zeit erhielten die Arbeiter 400 Mark Mindestlohn.50 Im Anschluss an die Eingewöhnungsphase begann die eigentliche Tätigkeit. Die Arbeitslöhne und Prämien wurden nach den Bestimmungen der DDR gezahlt. Doch oft entzogen die jeweiligen Heimatländer den Arbeitern einen Großteil des Nettoverdienstes. So mussten vietnamesische Arbeitnehmer »über die Sozialversicherungsbeiträge und hinaus zwölf Prozent ihres Nettolohnes an den vietnamesischen Staat zum Aufbau und zur Verteidigung des vietnamesischen Staates entrichten«.51 Mosambikaner mussten sogar 25 Prozent ihres Nettolohnes als Spareinlage nach Mosambik überweisen, erhielten diese Einlage vom Staat aber oft nicht zurück.52 Neben dem generellen Lohn gab es eine Trennungsentschädigung von vier Mark pro Tag, Polen setzte für seine Arbeiter 1973 jedoch eine Entschädigung von acht Mark pro Tag durch.53 Diese konnte aber bei unentschuldigtem Fehlen gekürzt werden. Auch Kindergeld 45 46 47 48 49 50 51 52 53

Kuck, Aufbau ihrer Heimat, S. 274. Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 12 f.; Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 9. Vgl. Schulz, Migrationspolitik in der DDR, S. 158. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 13. Ebd. Vgl. ebd., S. 13 f. Ebd., S. 14. Vgl. Schulz, Migrationspolitik in der DDR, S. 155. Vgl. ebd., S. 149 f.

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wurde nach den Bestimmungen der DDR gezahlt, bei Vietnamesen allerdings nur bis zum vierten Kind.54 Die Vertragsarbeiter durften »bis zu 60 Prozent des Nettoeinkommens, das monatlich 350,– Mark [ überstieg ], in die Heimatländer [...] transferieren«.55 Dieses individuelle Recht wurde in den 1980er Jahren von vielen Betrieben umgangen. Oft wurde der Nettolohn der Arbeiter bis zur Transfer - Höchstgrenze einbehalten und von den Betrieben an die Heimatländer überwiesen. »Damit war diesen [ gemeint sind die ausländischen Arbeiter ] die Möglichkeit der persönlichen Einflussnahme auf den tatsächlichen Umfang des Transfers bzw. auf die Verwendung der Nettoeinkünfte entzogen.«56 Die Arbeitsverträge konnten aber auch vorzeitig beendet werden und zwar bei »Rechtsverstößen und Verstößen gegen die sozialistische Arbeitsdisziplin, bei Unfall oder längerer Krankheit ( mehr als drei Monate ) sowie bei Schwangerschaft«.57 Gerade dieser Punkt zeigt, dass es der DDR lediglich um die Arbeitskraft der Arbeiterinnen und Arbeiter ging. Konnten diese ihre Leistung nicht mehr erbringen, war es möglich, sie in die Heimatländer zurückzusenden. Die ausländischen Arbeiter waren rechtlich benachteiligt und konnten über ihre Arbeitsbedingungen nicht individuell verhandeln. Sie waren abhängig von den jeweiligen Regierungsabkommen. Zwei Monate vor der Kommunalwahl am 7. Mai 1990 führte die Volkskammer das kommunale Ausländerwahlrecht ein. Diese neue Regelung überraschte nicht nur die politischen Beobachter. Auch alle Beteiligten vor Ort waren mit der neuen Maßnahme überfordert : Die Wahlleiter in den Kommunen mussten sich nun um ausländische Kandidaten bemühen. Die Ausländer ihrerseits zeigten aber wenig Begeisterung aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse und der ohnehin begrenzten Aufenthaltsdauer. Schließlich rief das neue Gesetz, sofern es überhaupt zur Kenntnis genommen wurde, Kritik seitens der DDR - Bürger hervor und verstärkte die Spannungen zwischen Ausländern und Deutschen.58 Laut Sextro handelte es sich bei dem Wahlgesetz auch nicht um eine integrative Maßnahme. Vielmehr war es eine politische Reaktion auf die Diskussion des Kommunalwahlrechtes für Ausländer in der Bundesrepublik. Die DDR sah dadurch »eine Möglichkeit, sich, im Gegensatz zur Bundesrepublik, als ausländerfreundlich zu präsentieren«.59 Dieser Hintergrund des eingeführten Ausländerwahlrechts zeigt, dass die Ausländer für die DDR - Regierung lediglich für Propagandazwecke missbraucht wurden. Sie sollten nicht tatsächlich integriert werden, sondern hat54 55 56 57 58 59

Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 14. Ebd. Ebd., S. 21. Ebd. Zum kommunalen Ausländerwahlrecht und der Kritik daran vgl. Kasper, Kommunales Wahlrecht, S. 143 ff. Sextro, Gestern gebraucht, S. 30.

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ten eine Rolle im vermeintlichen Kampf der Systeme zu spielen. Tatsächlich führte dieses neue Recht zu einer Verschlechterung der konkreten Lebenssituation der Ausländer. Vielfach sorgte die neue Regelung für Streit zwischen Ausländern und Deutschen, die nicht verstanden, warum ausländische Arbeiter in die lokalen Räte gewählt werden sollten. 1.2 Lebensbedingungen

Die gesetzlichen Bestimmungen sowie die in den Regierungsabkommen festgeschriebenen Bedingungen stellten für die Vertragsarbeiter nur den äußeren Rahmen dar. Um die Lebensbedingungen der ausländischen Arbeiter zu beleuchten, ist es unerlässlich, ihre Arbeitsbedingungen, ihre Wohnverhältnisse sowie ihre sozialen Kontakte zu betrachten. Dabei können keine allgemeingültigen Feststellungen getroffen werden. Dies begründet sich zum einen in der Entwicklung der Abkommen. In den 1970er Jahren wurden vor allem Polen, Bulgaren, Ungarn und Algerier beschäftigt, im letzten Jahrzehnt der DDR schwerpunktmäßig Vietnamesen und Mosambikaner. Die Anwerbung erfolgte also in »nationalen Schüben«.60 Zu bedenken ist weiter, dass die Beschäftigung einem »Rotationsprinzip« folgte : Nach Ablauf der jeweiligen Vertragsdauer kehrten die Arbeitskräfte in ihre Heimatländer zurück und wurden durch neue Arbeiter ausgetauscht.61 Zum anderen sind generalisierende Aussagen problematisch. Die Situation der Ausländer stellte sich von Bezirk zu Bezirk und von Betrieb zu Betrieb ganz unterschiedlich dar. Der Umgang mit ihnen veränderte sich über die Jahre und Jahrzehnte hinweg. Schließlich ist auch die subjektive Ebene zu bedenken. Jeder einzelne Ausländer empfand die Behandlung durch deutsche Kollegen und / oder Nachbarn möglicherweise anders. Hier spielen ebenso kulturelle Hintergründe wie ganz persönliche Motive eine Rolle. 1.2.1

Verhältnisse am Arbeitsplatz

Formal waren Ausländer den deutschen Bürgern gleichberechtigt.62 Tatsächlich wurden sie am Arbeitsplatz häufig diskriminiert. Oft, gerade in den späteren Jahren, mussten sie körperlich schwere und allgemein unattraktive Tätigkeiten verrichten. So wurden sie nicht entsprechend der Abkommen qualifiziert.63 Algerische Arbeiter protestierten 1978 gegen die vertragswidrigen Arbeitsbedingungen. Zunächst streikten sie und wurden schließlich, wie oben beschrieben, von 60 61 62 63

Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 15. Vgl. ebd. Vgl. Beyer, Ausländerrecht, S. 215; Jasper, Ausländerbeschäftigung, S. 173 f. Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 16 f.; Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 16.

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ihrer Regierung abgezogen.64 Mosambikaner und Vietnamesen hatten dagegen weniger Einspruchsmöglichkeiten, zumal in dem Abkommen mit Mosambik die Arbeit im Braunkohletagebau, in der Kupferverarbeitung oder der Textilindustrie festgelegt war. Diese Tätigkeiten sollten die entsendeten Mosambikaner nach ihrer Arbeit in der DDR auch im Heimatland verrichten. Die tatsächlichen Tätigkeiten in der ostdeutschen Braunkohle - oder Textilindustrie bestanden aber in der Regel aus unattraktiven Arbeiten.65 Zudem wurden sie nicht ausgebildet, sondern waren in der Regel als Hilfsarbeiter tätig.66 Vietnamesen hingegen waren oft körperlich im Nachteil. Die Maschinen in der DDR waren nicht auf ihre geringere Körpergröße ausgerichtet. Daher erforderte deren Bedienung einen höheren Kraftaufwand.67 Zudem wurde oft wenig Rücksicht auf die unterschiedlichen Lebenswelten genommen. Deutsche Kollegen forderten von Arbeitern aus ganz verschiedenen Regionen der Welt, dass sie sich sofort an die vorherrschenden Bedingungen anzupassen hatten. Dazu zählten der Schichtbetrieb, aber auch scheinbar profane Dinge wie der Betriebsspeiseplan.68 Mosambikaner wurden in einigen Betrieben »mit dem Hinweis, dass sie ja ohnehin ›schwarz‹ seien, an Maschinen gestellt [...], wo sie häufig in Kontakt mit schwarzem Schmieröl kamen«.69 Viele Mosambikaner fühlten sich von ihren deutschen Kollegen wie »Sklaven«70 behandelt. Doch selbst wenn Deutsche die Arbeitsleistung ihrer ausländischen Kollegen würdigten, fühlten sie sich als Überlegene.71 Die Betreuung und der vertraglich vereinbarte Sprachunterricht oblagen den jeweiligen Betrieben. Anleitung erhielten sie aber zentral vom Staatssekretariat für Arbeit und Löhne.72 Der Sprachunterricht wurde sehr unterschiedlich durchgeführt. Gerade in den 1980er Jahren wurden den Ausländern nur die für ihre Arbeit notwendigen Deutschkenntnisse vermittelt.73 Die Betreuer selbst waren mit ihrer neuen Aufgabe aber oft überfordert. Sie waren selten angemessen ausgebildet oder vorbereitet worden. Daher konnte die Betreuung sehr unterschiedliche Formen annehmen : von einer formalen Einführung in die gesetzlichen Bestimmungen bis hin zur Unterstützung bei der Eingewöhnung.74 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74

Vgl. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 16. Vgl. ebd. Vgl. Mense, Ausländerkriminalität, S. 219. Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 17; Müggenburg, Die ausländischen Vertragsarbeitnehmer, S. 16. Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 17 ff. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 16. Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, S. 18; Mense, Ausländerkriminalität, S. 219 f. Vgl. Kuck, Aufbau ihrer Heimat, S. 276. Vgl. Jasper, Ausländerbeschäftigung, S. 175 f. Vgl. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 17. Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 25.

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Die rechtlichen Rahmenbedingungen gaben eine Entlohnung der Vertragsarbeiter gemäß den Bestimmungen der DDR vor. Allerdings wurde dies nicht in allen Betrieben umgesetzt. »Vielfach wurden sie [ die Vertragsarbeiter – Anm. d. Verf.] mit dem Hinweis auf eine gegenüber den deutschen Arbeitskräften geringere Dauer und Qualität der beruflichen Ausbildung und Praxis in untere Lohngruppen eingestuft.«75 Beschwerden führten nicht weit. Es gab allerdings auch Vertragsarbeiter, die die Einstufung in untere Lohngruppen als Vorteil sahen. Die ausgeübte harte körperliche Arbeit wurde durch Zulagen honoriert. Dadurch war es möglich, ein höheres Nettogehalt zu bekommen als in einer höheren Lohngruppe. Überstunden dienten dem gleichen Zweck.76 Die Situation am Arbeitsplatz war vor allem für Mosambikaner und Vietnamesen durch Diskriminierung geprägt. Die Diskriminierungen gingen von zwei Seiten aus : Zum einen waren die Regierungsabkommen zu ihrem Nachteil (schwere Arbeit, geringe Entlohnung ) vereinbart, zum anderen trafen sie auf offene Anfeindungen ihrer deutschen Kollegen. 1.2.2

Wohnverhältnisse

Für die Unterkünfte der Vertragsarbeiter waren die jeweiligen Betriebe zuständig. Als Richtlinie war die maximale Belegung eines Wohnraums mit vier Bewohnern vorgegeben. Dabei sollten jeder Person mindestens fünf Quadratmeter Platz zur Verfügung stehen. Auf die Zusammenlegung hatten die Vertragsarbeiter jedoch keine Einflussmöglichkeit.77 Für einige Nationalitäten ( Kubaner, Chinesen, Polen) war bereits in den Abkommen eine grundsätzliche Geschlechtertrennung vorgesehen. Aber auch vietnamesische Ehepaare hatten keinen Rechtsanspruch auf einen gemeinsamen Wohnraum.78 Bei der Belegung wurde zudem keine Rücksicht auf eine unterschiedliche Schichteinteilung genommen. Dies förderte Konflikte zwischen den Bewohnern.79 Jedes Zimmer sollte mit einer Kochgelegenheit, einem Kühlschrank, einer Waschmaschine und Ess - sowie Kochgeschirr ausgestattet werden. Tatsächlich wurde dieser Standard nicht immer erreicht. Vertragsarbeiter beschwerten sich über überbelegte Zimmer, lediglich einer Kochgelegenheit für 50 Bewohner, unsaubere Sanitär - und Küchenräume und wenig ausgestattete Wohnräume. Neben den Wohnräumen wurde für 50 Personen einer Nationalität ein Klubraum eingerichtet. Dort sollten Rundfunk - und Fernsehgeräte sowie Gesellschaftspiele

75 76 77 78 79

Ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 20. Vgl. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 13 f. Vgl. ebd., S. 14. Vgl. Jasper, Ausländerbeschäftigung, S. 178.

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der Freizeitgestaltung dienen.80 Die Vertragsarbeiter selbst empfanden ihren Wohnraum, gemessen am Standard ihrer Heimatländer, oft als gut ausgestattet. Nachdem sie den Standard der DDR - Bürger kennen gelernt hatten, änderte sich ihre Meinung. Viele bemühten sich daher nach der Friedlichen Revolution um eine eigene Wohnung.81 Zu der mangelnden Ausstattung kamen sehr rigide Heimordnungen, »die als einschränkend und gängelnd empfunden [...] und oftmals mit einer ›Gefängnisordnung‹ verglichen« wurde.82 Zwischen 22 und 5 Uhr war Nachtruhe angeordnet, Übernachtungen von Familienangehörigen mussten angemeldet und genehmigt werden. Besucher mussten sich bei einem Pförtner melden. Dieser konnte Minderjährige »oder auch engagierte ( und daher ›unerwünschte‹ ) Kollegen«83 abweisen.84 Zudem konnte die Heimleitung bei Vietnamesen und Mosambikanern nachts Zimmerkontrollen durchführen, um »illegale« Übernachtungsgäste aufzuspüren.85 Die Bewohner fühlten sich durch diese Heimordnung, die Zeiten der Nachtruhe sowie die Anmeldepflicht und Kontrolle der Besuche bestimmten, entmündigt.86 Trotz dieser diskriminierenden Bedingungen nahmen 1990 fast 50 Prozent der Ostdeutschen an, Ausländer seien bei der Wohnungsvergabe bevorteilt worden.87 Dem stand jedoch eine klare Richtlinie des Politbüros von 1987 entgegen. Im Zusammenhang mit einer Anforderung weiterer vietnamesischer Vertragsarbeiter wurde festgelegt, dass deren Wohnungsversorgung nicht zu Lasten von DDR - Bürgern gehen durfte, denen eine Wohnung versprochen worden war.88 Die Vorurteile basierten auf der getrennten Unterbringung der Ausländer von deutschen Einwohnern. Dadurch mussten sie zwar nicht mit Deutschen um die knappe Ressource »Wohnung« konkurrieren. Doch die zentrale Unterbringung in Wohnheimen führte zu einer mehrfachen Diskriminierung : Die Wohnheime ermöglichten erstens die staatliche Kontrolle des Soziallebens der ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter.89 Zweitens führte die isolierte Unterbringung in separate Wohnheime zur Abschottung vom jeweiligen städtischen Umfeld. Diese Segregation hat einen hohen Beitrag zur Entstehung von Vorurteilen geleistet. 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89

Vgl. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 14 f. Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 23 f.; Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 15. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 24. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 15. Solche Regelungen galten jedoch auch in Schüler - , Lehrlings - oder Studentenwohnheimen; vgl. Sextro, Gestern gebraucht, S. 34. Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 24; Mense, Ausländerkriminalität, S. 218. Vgl. Mense, Ausländerkriminalität, S. 219. Vgl. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 15. Vgl. ebd. Vgl. Jasper, Ausländerbeschäftigung, S. 178.

Die Ausländerbeschäftigung in der DDR

1.2.3

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Soziale Kontakte

Die strikten Einlasskontrollen der Wohnheime erschwerten den privaten Kontakt der Ausländer zu Deutschen. Sie waren auch weder von der Regierung der DDR noch von der des Entsendelandes gewollt.90 Daher wurden die ausländischen Arbeiter in separaten Wohnheimen untergebracht und sogar die Besuche von Deutschen mit Argwohn betrachtet.91 »›Integration‹ wurde von der DDR offenbar ausschließlich als möglichst umfassende Betreuung und Kontrolle verstanden.«92 Die Mitwirkung am gesellschaftlichen Leben hing im Wesentlichen von der Bereitschaft der zuständigen Betreuer ab. In den Betrieben waren die Vertragsarbeiter »weitgehend in die von den Gewerkschaftsleitung und Arbeitskollektiven getragenen kulturellen und sportlichen Aktivitäten einbezogen«.93 In der Freizeit waren sie in der Regel auf sich selbst gestellt. Die Vertragsarbeiter wurden nicht nur von den DDR - Bürgern segregiert, sondern auch von ihren Familien. Der Aufenthalt in der DDR »erfolgte unabhängig vom Familienstatus ohne Familienangehörige : eine Familienzusammenführung war in den Regierungsabkommen ebenso wenig vorgesehen wie das Heranwachsen einer zweiten oder dritten Ausländergeneration in der DDR«.94 Stattdessen wurde pro Aufenthalt ein Heimaturlaub bewilligt. Dieser wurde je nach Abkommen gewährt : bei Vietnamesen, Chinesen und Angolanern beispielsweise nach zwei Jahren Arbeit in der DDR, bei Mosambikanern erst, wenn sie einer Verlängerung ihres Einsatzes über vier Jahre hinaus zugestimmt hatten.95 Die Dauer des Heimaturlaubs variierte ebenfalls : Mosambikaner durften maximal zehn Wochen ausreisen, bei Vietnamesen, Kubanern oder Chinesen bestand die Möglichkeit, den Urlaubsanspruch von zwei Kalenderjahren zusammenzuziehen, was 60 Urlaubstagen entsprach. Angolaner durften nur den Urlaub eines Jahres, also 30 Tage, für ihren Heimatbesuch nutzen. Darüber hinaus bestand die Möglichkeit, bei dringenden familiären Angelegenheiten ( Heirat oder Tod eines nahen Angehörigen ) Heimaturlaub zu bekommen.96 Wurden Vertragsarbeiterinnen schwanger, wurden sie meist vor eine schwierige Wahl gestellt : entweder Rückkehr in die Heimat oder Abbruch der Schwangerschaft. Gerade bei mosambikanischen Frauen war diese Entscheidung ausdrücklich im Regierungsabkommen vorgesehen.97 An dieser Praxis ist deutlich zu erkennen, dass es der Regierung der DDR einzig um die Arbeitskraft der Betrof90 91 92 93 94 95 96 97

Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 26. Vgl. ebd.; Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 23 f. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 24. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 26. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 18. Vgl. ebd., S. 21. Vgl. ebd. Vgl. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 18.

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fenen ging.98 Erst mit einer Verordnung vom 1. März 1989 wurde Schwangerschaft bei Vietnamesinnen und Mosambikanerinnen nicht mehr als Rückkehrgrund angesehen. Stattdessen hatten Frauen nun die gleichen Anrechte auf die entsprechenden Sozialleistungen wie DDR - Bürgerinnen. Zudem sollten sich die Betriebe um ausreichenden Wohnraum für Mutter und Kind bemühen.99 Polinnen hingegen hatten seit je Anspruch auf Schwangerschaftsurlaub und weitere Unterstützung.100 Die soziale Abschottung der ausländischen Arbeiter war im »Systemverständnis der DDR determiniert : Die DDR war ein in sich geschlossenes Gesellschaftssystem, welches nur einen begrenzten Zuzug von außen tolerierte. Diesen Grundsatz wollte die Staats - und Parteiführung auch nicht durch die Regierungsabkommen ›aufweichen‹.«101 Der Aufenthalt von Ausländern in der DDR diente lediglich dem wirtschaftlichen Nutzen der DDR. Sie sollten die unattraktiven Tätigkeiten in den Betrieben verrichten. Durch eine rigide Regelung in den einzelnen Abkommen hatten die Vertragsarbeiter kaum Kontakt zu Deutschen. Wenn, dann wurden sie oft diskriminiert. Diese Diskriminierung durch DDR - Bürger muss aber auch vor dem Hintergrund der fehlenden Sensibilisierung durch die Regierung betrachtet werden. Denn die Isolation der Ausländer führte zu Entstehung von Gerüchten. So hieß es bspw., die Vertragsarbeiter würden in Westgeld bezahlt werden.102 Gegenüber Vietnamesen kam 1988 Neid auf, als 4 500 von ihnen nach dem Ende ihrer Arbeitszeit in ihre Heimat zurückkehrten. Dabei nahmen sie anscheinend eine große Zahl von Konsumgütern wie Mopeds, Fahrräder oder Nähmaschinen mit. Das zuständige Ministerium für Arbeit und Löhne gab als Ursache die Sparsamkeit der Vietnamesen an, die es ihnen nach dem Ablauf ihrer Arbeitsfrist ermöglicht hatte, diese Güter erwerben zu können. Doch der Ankauf der Konsumgüter erzeugte offenbar bei Deutschen Neidgefühle, denn das Ministerium schränkte die Ausfuhr ein.103 Mosambikaner sahen sich mit fremdenfeindlichen Stereotypen konfrontiert. Es wurde behauptet, sie hätten einen Mangel an Disziplin und Hygiene und würden deutsche Frauen sexuell belästigen.104 Tatsächlich ergab eine Analyse von 54 Strafverfahren von Mosambikanern, die Mense in den Akten der Generalstaatsanwaltschaft der DDR fand, dass bei 30 von 43 Straftaten die Persönlichkeit des Opfers angegriffen wurde. Darunter zählten schwere Körperverletzungen, Vergewaltigungen und sexueller Missbrauch. Zwei 98 99 100 101 102 103 104

Vgl. Marburger / Helbig / Kienast / Zorn, Situation der Vertragsarbeitnehmer, S. 29. Vgl. ebd., S. 29 f. Vgl. Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 18. Sextro, Gestern gebraucht, S. 28 f. Vgl. Mense, Ausländerkriminalität, S. 222. Vgl. Schulz, Migrationspolitik in der DDR, S. 156. Vgl. Mense, Ausländerkriminalität, S. 220.

Vertragsarbeiter in Hoyerswerda

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Drittel der Taten waren versuchte oder ausgeübte Vergewaltigungen.105 Laut Mense waren dies »auffällig viele Sexualdelikte«.106 Doch gibt er zu bedenken, dass die Zahl mehr über die Erfassung von Ausländerkriminalität aussagt. Die Häufigkeit der Delikte kann nicht ins Verhältnis mit Sexualstraftaten, die von Deutschen begangen wurden, gesetzt werden.107 Dennoch mag allein die Tatsache, dass einzelne Mosambikaner deutsche Frauen vergewaltigten, zu fremdenfeindlichen Vorurteilen geführt haben. Die Abschottung der Ausländer führte zu Neid und Fremdenfeindlichkeit bei Deutschen. Der Feststellung von Müggenburg, wonach »die ausgegebenen Parolen von internationaler Solidarität, Völkerfreundschaft und proletarischem Internationalismus in der DDR zur routinemäßigen und ritualisierten Folklore«108 verkamen, kann zugestimmt werden. Stattdessen wurden Ausländer, zumal solche aus Nicht - RGW - Ländern möglichst umfassend kontrolliert und isoliert.

2. Vertragsarbeiter in Hoyerswerda 2.1 Polnische Arbeiter

Im Stammbetrieb des Gaskombinates Schwarze Pumpe arbeiteten zehn Jahre lang polnische Bürger. Aufgrund des Abkommens der Regierungen der DDR und der Volksrepublik Polen kamen 1971 die ersten Polen ins Kombinat. Vereinbart war der Einsatz von 738 Arbeitern. Bis zum September kamen insgesamt 538 Arbeiter in drei Gruppen an, 380 Personen aus der Wojewodschaft Lodz und 158 aus der Wojewodschaft Lublin. Allerdings wurden bereits nach wenigen Monaten fast 150 Personen zurückgeschickt.109 Die polnischen Arbeiter waren in betriebseigenen Wohnunterkünften in der Albert - Schweitzer - Straße in Hoyerswerda untergebracht. Die Hoyerswerdaer nannten noch 1991 die Hausnummer 20 in dieser Straße »Polenhaus«,110 zu einem Zeitpunkt, als in diesem Aufgang keine polnischen, sondern vietnamesi-

105 Vgl. ebd., S. 235 f. Die Zahl von 43 Straftaten bei 54 Strafsachen ergibt sich aufgrund von Gruppendelikten bei einigen Straftaten. 106 Ebd., S. 237. 107 Vgl. ebd. 108 Müggenburg, Vertragsarbeitnehmer, S. 24. 109 Vgl. Einschätzung zum Stand der Realisierung des Abkommens der Regierung der DDR und der VR Polen über die zeitweilige Beschäftigung von polnischen Werktätigen in sozialistischen Betrieben der DDR vom 25. Mai 1971 im VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Schwarze Pumpe, 14. 9. 1971, S. 2 ( Zentralarchiv Vattenfall Europe Mining & Generation, Nr. 35868, unpag. ). Im Folgenden zit. als Einschätzung zum Stand der Realisierung. 110 KAst Hoyerswerda vom 17. September 1991, Beschuldigtenvernehmung Ronny H. ( SächsHStA, 13363 StAW Dresden, Nr. 1341, Band 1, Bl. 23).

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sche und mosambikanische Vertragsarbeiter lebten. Durch die Erstbelegung mit polnischen Arbeitern blieb diese Bezeichnung an dem Haus haften. Der Name markierte das Haus als Wohnort für Ausländer. Das Kombinat gab ihnen neben allgemeinen Informationen über den Betrieb auch eine Hausordnung in polnischer Sprache. Demnach wurde den einzelnen Arbeitern ein »Unterkunftsplatz zugewiesen«. Umzüge in andere Zimmer benötigten eine Zustimmung durch die Wohnheimleitung. Auch die Einrichtung in den Zimmern sollte nicht verändert werden, um einen »ständigen Überblick [...] über die Vollständigkeit« des Mobiliars zu gewährleisten. In regelmäßigen Abständen wurden Kontrollen der Zimmer durchgeführt, um den Inventarbestand zu sichten. Dabei war ein polnischer Betreuer anwesend.111 Neben Bestimmungen zur Sorgfaltspflicht stechen einige restriktive Regelungen heraus, die bis in das Privatleben der Bewohner reichten. So mussten Fernseh - und Radiogeräte nicht nur bei der Deutschen Post, sondern auch bei der Wohnheimleitung angemeldet werden. Außerverwandtschaftlichen Besuchern war es nicht gestattet, sich in den Zimmern der Arbeiter aufzuhalten. Für diesen Zweck waren die Klub - und Besucherräume vorgesehen. Die Besuchszeiten waren streng geregelt. Sonntags bis donnerstags durften sich Besucher zwischen 10 und 22 Uhr, freitags bis samstags bis 23 Uhr im Heim aufhalten.112 Das selbstständige Waschen der Wäsche sollte möglichst vermieden werden. Dafür gab es einen speziellen Dienstleistungsbetrieb.113 Vor ihrem Arbeitseinsatz wurden die Arbeiter in drei Wochen für ihre Tätigkeit qualifiziert. Es gab jeweils eine Woche Sprachausbildung, Arbeitsschutzbelehrung und Arbeitsplatzeinweisung sowie einen erster Einsatz in den künftigen Schichten am Arbeitsplatz.114 Während dieser Qualifizierungsmaßnahmen wurden erste Probleme deutlich. Offensichtlich kamen die polnischen Arbeiter mit erhöhten finanziellen Erwartungen in die DDR. Beispielsweise hofften sie auf eine Trennungsentschädigung, Zahlung von Kindergeld, einen günstigen Wechselkurs und einen hohen Lohn.115 Da diese Erwartungen jedoch nicht erfüllt wurden, kam es bereits mit den ersten beiden Gruppen im August 1971 zu »erregte[ n ] Debatten«.116 Die Stimmung unter den Polen war derart gespannt, dass es in der Nacht vom 15. auf den 16. August in den Unterkünften zu Prügeleien unter den polnischen Arbeitern kam. Die Betriebsleitung meinte, Disziplin

111 VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Hausordnung für die Bewohner von Wohnunterkünften des VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, o. D, S. 2 f. ( Zentralarchiv Vattenfall Europe Mining & Generation, Nr. 35868, unpag. ). 112 Vgl. ebd., S. 4. 113 Vgl. ebd., S. 5. 114 Vgl. Einschätzung zum Stand der Realisierung, S. 3. 115 Vgl. ebd. 116 Ebd., S. 4.

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durch die Rückführung von vier Arbeitern herstellen zu können. Die Situation war im Folgenden auch befriedet, bis die dritte Gruppe am 25. August ankam. Dadurch traten die Probleme wieder auf und es kam am 27. August zu einer Arbeitsniederlegung von 380 polnischen Arbeitern. An diesem Streik beteiligten sich jedoch nicht alle Polen, 130 Personen gingen weiterhin ihrer Arbeit nach.117 Als Konsequenz schickte das Kombinat erneut die vermeintlichen »Rädelsführer« zurück. Die übrigen Arbeiter wurden vor die Wahl gestellt, entweder in die Heimat zurückzukehren oder einen Arbeitsvertrag mit dem Kombinat zu unterschreiben und auf alle über das Regierungsabkommen hinausgehenden Forderungen zu verzichten.118 Auch das Kombinat war unzufrieden mit der Organisation der Ankunft der polnischen Arbeiter. Vor allem die ersten beiden Gruppen waren nach Ansicht der Kombinatsleitung nicht ausreichend medizinisch untersucht worden, sodass die Gefahr von Infektionskrankheiten bestand. Erkrankungen an Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten waren bereits aufgetreten. Weiterhin erhielt das Kombinat erst einen Tag vor der Ankunft der jeweiligen Gruppen Namenslisten. Viele Arbeiter übten Berufe aus, die nicht angefordert worden waren, sodass sie vom Kombinat schlecht eingesetzt werden konnten. Die Dolmetscher trafen erst drei Wochen nach Ankunft der ersten Gruppe polnischer Arbeiter ein.119 In der Folge wurde mit den polnischen Vertragspartnern eine Reihe von organisatorischen Verbesserungsmaßnahmen abgestimmt. Dabei war vor allem die neue Zusammensetzung der Ausländergruppen für die Arbeiter selbst von Bedeutung. Nunmehr sollten Verheiratete sowie Verwaltungsfachleute und andere, für die Braunkohleveredelung ungeeignete Berufe nicht mehr angeworben werden.120 Dem Kombinat ging es folglich um Produktivität und Effizienz. Darum sollten vor allem qualifizierte Arbeitskräfte und Alleinstehende in die DDR zum Arbeiten kommen. Erstere brauchten weniger Zeit, um sich die neuen Arbeitsvorgänge anzueignen, letztere benötigten weniger Wohnraum als Familien. Das Kombinat räumte allerdings ebenfalls eine Reihe von eigenen Versäumnissen ein. So konnte die Ausstattung der Unterkünfte nicht vervollständigt werden. Es fehlte an ausreichenden Kissen, Küchengeschirr, Fernseh - und Radiogeräten. Ebenso war der vom Kombinat organisierte Bustransfer aus Hoyerswerda noch nicht befriedigend geregelt, sodass einige Arbeiter wegen überfüllter Busse nicht mitgenommen wurden. Schließlich galt es, die Freizeitmöglichkeiten zu verbessern. Deswegen wurden vor dem Wohnheim ein Fußballplatz und zwei Volleyballfelder angelegt. In den Klubräumen des Heimes standen Tischtennis-

117 118 119 120

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 5. Vgl. ebd., S. 5 f. Vgl. ebd., S. 6.

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platten zur Verfügung. Weiterhin war die Einrichtung einer polnischsprachigen Bücherei und eines polnischen Filmverleihs vorgesehen.121 Nach wenigen Wochen gab es bspw. ein Blasorchester, einen Fotozirkel, einen »Singeclub«, eine Fußballmannschaft und ein Boxtraining.122 Im September, bereits zwei Wochen nach den Spannungen, stellte das Kombinat eine Stabilisierung der Situation fest und schätzte ein, dass »alle polnischen Werktätigen einen überdurchschnittlichen Arbeitseifer« zeigten.123 Probleme blieben zwar nicht aus, waren aber individueller Natur. So beklagten sich einige Arbeiter über zu geringe Verdienstmöglichkeiten an ihrem Einsatzort und wurden daher umgesetzt. Ein Arbeiter war an Syphilis erkrankt und wurde daraufhin nach Polen zurückgeschickt. Offenbar waren die polnischen Arbeiter nicht sozial isoliert, sondern hatten regen Kontakt zu Deutschen, insbesondere zu Frauen. Denn aufgrund der verschiedenen Damenbekanntschaften des erkrankten Polen bestand Ansteckungsgefahr »bei 2 Frauen aus Cottbus, einem minderjährigen Mädchen aus Hoyerswerda und zwei polnischen Kolleginnen, davon einer schwangeren Kollegin«.124 Tripper und Syphiliserkrankungen nahmen in den ersten Monaten des Arbeitseinsatzes zu. Im Oktober waren bereits 12 Arbeiter erkrankt, wobei die Hälfte nach Polen zurückgeschickt wurde.125 Darüber hinaus kam es vor, dass Arbeiter aus disziplinarischen Gründen wie Alkoholismus und »Arbeitsbummelei« nach Polen zurückgebracht wurden.126 Es gab zudem Schwierigkeiten beim Zusammentreffen von polnischen und deutschen Bürgern. In der Gaststätte »Libelle« in Hoyerswerda kam es zu Spannungen. Dort kam es vor, »dass verschiedene Polen beim Tanz mit einzelnen Ehepaaren mitgehen und sagen ›Ich will Frau‹«.127 Belästigungen schienen aber Einzelfälle gewesen zu sein. Im Gegenteil, es gab vereinzelte Liebesverhältnisse zwischen deutschen Frauen und polnischen Arbeitern. Die auferlegte Isolation wurde durchbrochen, indem die Frauen nach den offiziellen Besuchszeiten über die Balkone in das Heim gelangten. Darunter waren auch junge Frauen unter 18 Jahren. Um die Heimordnung aufrechtzuerhalten, wurde die Volkspolizei um Unterstützung bei den Kontrollen gebeten.128 121 Vgl. ebd., S. 7 f. 122 Vgl. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Stab Intern. Arbeitsbeziehungen, Einsatz polnischer Werktätiger. Einschätzung der Situation, Schwarze Pumpe, 29. 9. 1971, S. 3 f. (ebd., unpag. ). 123 VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Einschätzung zur Situation, Schwarze Pumpe, 13.9.1971, S. 1 f. ( ebd., unpag. ). Im Folgenden zit. als Einschätzung zur Situation. 124 Ebd., S. 1 f. 125 Vgl. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Inspektion, Sofortbericht über den Einsatz polnischer Bürger im VEB Gaskombinat Schw. Pumpe, Schwarze Pumpe, 5.10.1971, S. 2 ( ebd., unpag. ). Im Folgenden zit. als Sofortbericht vom 5.10.1971. 126 Vgl. Einschätzung der Situation vom 29.9.1971, S. 1. 127 Sofortbericht vom 5.10.1971, S. 4. 128 Vgl. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stab Internat. Arbeitsbeziehungen, GSKP, 30.11.1971, S. 4 ( ebd., unpag. ).

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Im Jahr 1972 beklagte das Kombinat noch einige Probleme bei den polnischen Arbeitnehmern. Von Seiten des Betriebes wurde vor allem der hohe Stand an Fehlschichten moniert. Des Weiteren war einen hohen Krankenstand zu verzeichnen, angeblich verursacht durch Missbrauch von Alkohol und Tabakwaren sowie mangelnde persönliche Hygiene. Es seien aber auch Ärzte zu einer Krankschreibung genötigt bzw. Krankheiten vorgetäuscht worden. Ferner sei die Teilnahme an der Sprachausbildung schlecht gewesen. Im Januar lag sie bei durchschnittlich 12 Prozent. Die verweigerte Teilnahme an den Sprachkursen führte zu weiteren Schwierigkeiten. Im Betrieb verhinderte sie die »gleichberechtigte Eingliederung der Kollegen in den Arbeitsprozess« und verzögerte die Einstufung in höhere Lohngruppen. Der Kontakt zur deutschen Bevölkerung wurde ebenso erschwert.129 In diesem Bericht zeigte sich, dass das Kombinat sehr wohl an der Integration der polnischen Arbeiter in das deutsche Wohn - und Arbeitsumfeld interessiert war. Es bedauerte, dass die Polen die Sprachkurse nicht besuchte, sahen doch die Verantwortlichen in Deutschkenntnisse die wichtigste Voraussetzung zur aktiven Teilnahme am Sozialleben.130 Im Wohnheim kam es zu vielen Sachbeschädigungen. Beispielsweise lag der Reparaturaufwand der Fahrstühle im Vergleich zu anderen Aufgängen desselben Wohnblocks bei 16 :1. Über die zerstörten Zimmereinrichtungen klagten die Verantwortlichen : »Der Reparaturaufwand insbesondere bei Betten, Türen und Scheiben infolge unsachgemäßer Behandlung oder mutwilliger Zerstörung unter Alkoholeinfluss ist nur noch schwer zu bewältigen, Material in dem benötigten Umfang ( Ornamentglas ) nicht zu beschaffen.«131 Die Anwohner beschwerten sich über ruhestörenden Lärm, aus den Fenstern geworfene Abfälle und andere Gegenstände, Belästigungen und »ungebührliches, disziplinloses Verhalten polnischer Bürger in öffentlichen Einrichtungen«.132 Als Disziplinierungsmittel griff das Kombinat überwiegend auf Aussprachen zurück. Diese seien jedoch von den Arbeitern als Zeichen der Schwäche verstanden worden.133 Rückführungen wurden, im Vergleich zu den Spannungen ein Jahr zuvor, eher selten durchgeführt. Im ersten halben Jahr der Beschäftigung wurden so 51 Arbeiter aus disziplinarischen Gründen nach Polen gebracht. Allerdings kehrten fast genauso viele (44) ohne Abmeldung in ihre Heimat zurück.134 Für die genannten Probleme wurde die Auswahl der Arbeiter verantwortlich gemacht.

129 VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stab Internation. Arbeitsbeziehungen, Kurzinformation über die derzeitige Situation des Einsatzes polnischer Werktätiger im Stammbetrieb, Schwarze Pumpe, 21.3.1972, S. 1 f. ( ebd., unpag. ). 130 Vgl. ebd., S. 2. 131 Ebd., S. 3. 132 Ebd., S. 4. 133 Vgl. ebd., S. 7. 134 Ebd., S. 3 f.

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Unter ihnen habe sich »eine große Anzahl bereits vorbestrafter oder schon früher im Ausland eingesetzter und aus disziplinarischen Gründen zurückgeführter Kollegen« befunden. Hinzu kam eine Überforderung der polnischen Betreuer, die kaum über Erfahrung verfügten und wenig Autorität besessen hätten.135 Der verantwortliche Leiter des Stabes Internationale Arbeitsbeziehungen des Kombinates drängte daher auf stärker disziplinierende Maßnahmen, auch wenn »damit die Rückführung weiterer 120 bis 150 polnischer Werktätiger im Verlauf der nächsten 4 bis 6 Wochen notwendig«136 wurde. Allerdings fielen nicht alle polnischen Arbeiter negativ auf. Eine kleine Gruppe junger Polen zeichnete sich in den Augen der SED - Kreisleitung durch gute Arbeitsdisziplin aus. Der größere Teil jedoch stach, wie oben geschildert, mit anscheinender Indisziplin hervor.137 Darunter gab es einige, die sich »provokatorisch« äußerten : »Die VR Polen hat uns an die DDR verkauft«, »Die Wohnunterkunft ist ein Lager aber kein Arbeiterhotel« oder : »Wir werden in der DDR diskriminiert.«138 Auf solche Vorwürfe reagierte ein Maßnahmeplan des Generaldirektors im April 1972. Er wies an, dass ausländischen Arbeitern »jede Hilfe erwiesen wird«. Ihr Einsatz sei ein »Integrationsprozess [...], der sich auf alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens erstreckt«. Die verschiedenen ausländischen Arbeiter sollten sowohl untereinander als auch gegenüber deutschen Kollegen »völlig gleichberechtigt behandelt werden«.139 Weiterhin wurden für die Verantwortlichen der einzelnen Ebenen detaillierte Aufgaben zur Eingliederung der ausländischen Arbeiter festgelegt.140 Neben diesen Maßnahmen auf Werksebene wurde die Unterbringung verändert. Es sollten »bessere Bedingungen für jeden einzelnen Werktätigen dadurch geschaffen werden, dass durch eine schichtweise Belegung der Wohnungen mehr Ruhe nach Beendigung der Schicht gewährleistet«141 war. Dieser Umzug wurde intensiv durch Flugblätter und Betreuergespräche vorbereitet. Die Verantwortlichen gingen damit wesentlich sensibler mit den Arbeitern um als noch bei der ersten Einquartierung ein Jahr zuvor. Schließlich wurde eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die die Beschwerden der ausländischen Kollegen analysieren sollte. Die Hauptforderung betraf demnach die 135 Ebd., S. 4. 136 Ebd., S. 7. 137 Vgl. SED Kreisleitung, Vorlage an das Sekretariat der Kreisleitung, Hoyerswerda, 30. 3. 1972, S. 3 f. ( ebd. Nr. 38447, unpag. ). 138 Ebd., S. 5. 139 VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Generaldirektor, Maßnahmeplan des Generaldirektors zur Gewährleistung der Realisierung des Abkommens der Regierungen der DDR und der VR Polen über den zeitweiligen Einsatz polnischer Werktätiger in Betrieben der DDR vom 25. Mai 1971, Schwarze Pumpe, 11.4.1972, S. 1 ( ebd., unpag. ). Hervorhebung im Original. 140 Vgl. ebd., S. 2 ff. 141 VE Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stab Internationale Arbeitsbeziehungen, Maßnahmeplan zur Bereichsweisen Belegung der Wohnunterkunft, Hoyerswerda, 7.4.1972, S. 1 ( ebd., unpag. ).

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Eingruppierung in eine höhere Lohngruppe und andere finanzielle Aspekte. Die Arbeitsgruppe stellte jedoch fest, dass die ausländischen Arbeiter bei der Lohneingruppierung mit den deutschen Kollegen gleichberechtigt behandelt worden seien. Sie verwiesen stattdessen auf das mangelnde Interesse an Qualifikationen, die Voraussetzung für eine höhere Lohngruppe war. Dieser »kontinuierliche Prozess unserer Lohnpolitik in Fragen der Eingruppierung [ sei ] von den polnischen Kollegen noch nicht verstanden«142 worden. Die Betriebsleitung musste allerdings einräumen, dass die verantwortlichen Leiter schlecht auf ihre neuen Kollegen vorbereitet waren. Es gab »ungenügende bzw. mangelnde Kenntnis der nationalen Eigenarten der polnischen Bürger und ihres ausgeprägten patriotischen Nationalbewusstseins«.143 Es trafen also unvorbereitete deutsche Kollegen auf ebenso unvorbereitete polnische Arbeiter mit zu hohen Erwartungen. »Dadurch wurde der Integrationsprozess erheblich gestört.« Kündigungen und Rückkehr ohne Abmeldungen waren die Folge.144 Eine Entspannung setzte anlässlich der Eröffnung eines Kultur - und Sportzentrums für polnische Arbeiter am »Tag des Bergmanns« der DDR sowie durch die Feier des 28. Jahrestags der »nationalen Wiedergeburt der VR Polen« ein. »Die bis zu diesem Zeitpunkt spürbar vorhandene Reserviertheit [...] wurde durchbrochen. Das Vertrauensverhältnis stabilisierte sich. Die Freundschaftsbande wurden enger.« Aufgrund der vielen Maßnahmen, die 1972 ergriffen wurden, gingen die Fluktuationen schließlich zurück.145 Mit dem sensibleren Umgang der Bedürfnisse der polnischen Arbeiter schien aus Sicht des Kombinates der Bann gebrochen. Von nun an verzeichneten die entsprechenden Berichte eine volle Integration in die Arbeitskollektive, einen Rückgang der Fehlschichten und damit eine Verbesserung der Arbeitsdisziplin.146 So hätten die polnischen Arbeiter im Laufe der Zeit bei ihren deutschen Kollegen »aufgrund ihrer fleißigen Arbeit [...] Anerkennung und Achtung« genossen. Zwischen den Kollegen entwickelten sich demnach »persönliche Kontakte und brüderliche Beziehungen«.147 Auch die polnischen Arbeiter brachten in Aussprachen zu Protokoll, sie fühlten sich wohl und freundschaftlich aufgenom-

142 Beschwerden der polnischen Arbeitskräfte, 2.6.1972, S. 2 ( ebd., unpag. ). 143 VEB Kombinat Schwarze Pumpe, Stab Internationale Arbeitsbeziehungen, Bericht zum Stand des Einsatzes ausländischer Werktätiger, Schwarze Pumpe, 20.10.1972, S. 5 ( ebd., unpag. ). 144 Ebd., S. 6. 145 Ebd., S. 8. 146 Vgl. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Berichterstattung über die Ergebnisse der Arbeit mit ausländischen Werktätigen im VEB Kombinat Schwarze Pumpe, Schwarze Pumpe, 2. 4. 1976, S. 3 ( ebd., Nr. 44825, unpag. ). 147 VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Abt. ausländische Werktätige, Monatliche Berichterstattung über polnische Werktätige des GSP Monat Juli 1976, Schwarze Pumpe, 12.7.1976, S. 1 ( ebd., unpag. ).

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men.148 Unklar bleibt, ob solche Aussagen von allen polnischen Arbeitern geteilt wurden oder ob diese positiven Wertungen für die entsprechenden Berichte gezielt herangezogen wurden. Ein Idealzustand war aus Sicht des Kombinates jedenfalls nicht erreicht. So gab es Polen, die wegen Randale unter Alkohol, versuchten Einbruchdiebstahls auffielen oder im Verdacht standen, eine Vergewaltigung begangen zu haben.149 Auch wenn dies gravierende Vorwürfe waren, erschienen solche Vorfälle in den Berichten als Einzelfälle. Generell wurde sowohl die Arbeit als auch das Zusammenleben als gut bewertet. Der Einsatz der polnischen Werktätigen endete schließlich am 31. März 1981 in Abstimmung mit der polnischen Botschaft und aufgrund der Festlegung des zuständigen Staatssekretariats für Arbeit und Löhne. Dabei habe die »eingetretene komplizierte [...] Situation in der VR Polen im Jahr 1980« keine »wesentlichen nachteiligen Auswirkungen« auf die letzten polnischen Arbeiter in Schwarze Pumpe gehabt.150 2.2 Algerische Arbeiter

Im Vergleich zu den polnischen Vertragsarbeitern waren die Algerier von Beginn ihres Einsatzes an benachteiligt. Das Regierungsabkommen mit Algerien wurde am 11. April 1974 unterzeichnet. Vereinbart war die Ankunft von 500 algerischen Arbeitern 1974, wovon die Hälfte im Kombinat Schwarze Pumpe arbeiten sollte. Es sollten nur männliche Algerier im Alter zwischen 25 und 40 Jahren in die DDR kommen. Familienangehörige durften nicht mitreisen. Algeriern mit Kindern wurde kein Kindergeld im Sinne der DDR - Gesetze gezahlt. Stattdessen wurde ein Unterhaltszuschuss von 20 Mark pro Monat und Kind ( maximal 80 Mark ) von der DDR zentral nach Algerien überwiesen. Ebenso wurden 40 Prozent des Nettolohns zentral überwiesen. Die Arbeiter konnten somit über einen Großteil ihres Verdienstes nicht frei verfügen.151 Die Transferzahlung des Lohnes wurde 1974 zu einem ernsten Problem, da die Gelder bis Jahresende nicht bei den Familien der Arbeiter eintrafen, was zu großen finanziellen

148 Vgl. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Generaldirektor, Bericht zum Stand der Arbeit und Qualifizierung der polnischen Werktätigen – Ministerrapport am 18. 8. 1977, Schwarze Pumpe, 10.8.1977, S. 1 ( ebd., unpag. ). 149 Vgl. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Abt. ausl. Werktätige, Abschn. Poln. Werktätige, Jahresabschlußbericht 1977, Schwarze Pumpe, 24. 1. 1978, S. 3 f. ( ebd., Nr. 48282, unpag. ). 150 VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Abt. ausländische Werktätige, Bericht zum Einsatz polnischer Werktätiger im VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe – Stammbetrieb – I. Quartal 1981, Schwarze Pumpe, 6.4.1981, S. 2 ( ebd., Nr. 49787, unpag. ). 151 Information zum Einsatz algerischer Werktätiger im GSP vom 29. 4. 1974, S. 1, 3 f. ( in : ebd., Nr. 41502, unpag. ). Im Folgenden zit. als Information vom 29.4.1974.

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Schwierigkeiten bei den betroffenen Familien führte.152 Darüber hinaus wurde der Lohn als zu gering erachtet. In Algerien waren den Arbeitern »nach ca. 6 Monaten 650,– bis 700,– M[ ark ] und ›paradiesische Bedingungen‹« versprochen worden. Tatsächlich erhielten sie 482 Mark. Davon schickten sie 200 Mark nach Algerien. Vom übrigen Gehalt mussten sie essen, Kleidung kaufen, Pakete nach Hause senden und monatlich 50 Mark sparen, um einmal im Jahr in die Heimat fliegen zu können, da die Heimreise insgesamt 600 Mark kostete. Die algerischen Arbeiter forderten Trennungsgeld, wie es ihre polnischen Kollegen erhielten.153 Zunächst wurden die algerischen Arbeiter im Wohnlager I des Kombinates im gleichnamigen Ort Schwarze Pumpe in Baracken untergebracht. Dies konnte allerdings »nur als Übergangslösung anerkannt werden«. Die durchschnittliche Belegung lag bei 38 Personen pro Baracke. Die Enge verursachte »Störungen im normalen Lebensrhythmus«. Die Störungen durch laute Musik, Kochen auf dem Zimmer oder späte Heimkehr betrunkener Algerier führte bereits zu großen Spannungen unter den Algeriern bis hin zu tätlichen Auseinandersetzungen.154 Die Unterkunft lag unter »dem in der DDR erreichten Niveau«.155 Dies führte noch 1974 zu verärgerten Diskussionen unter den Algeriern. Von ihren Bekannten wussten sie von den besseren Unterkünften in den anderen Betrieben. Sie verlangten daher eine Unterbringung in »feste Wohnbauten« wie die polnischen Kollegen.156 Als passender Lösungsvorschlag erschien die Errichtung eines Wohnhauses im »Einzugsgebiet Schwarze Pumpe«. Die Errichtung sollte laut Antrag des GSP - Generaldirektors in den Fünfjahresplan 1976 bis 1980 eingefügt werden. Als Zwischenlösung sollten die Algerier in Hoyerswerda untergebracht werden. Durch das Ende ihres Arbeitseinsatzes sollten Ende 1975 200 Jugoslawen die Blöcke 930/931 verlassen, die danach als Zwischenbelegung zur Verfügung standen.157 Dieser Lösungsvorschlag zeigt die Überforderung des Betriebes, ausreichenden Wohnraum für seine ausländischen Arbeiter bereitzustellen. 152 Vgl. VEB Kombinat Schwarze Pumpe, Werkdirektor, Information an das Sekretariat der Industriekreisleitung über den Stand der Arbeit mit den algerischen Werktätigen, Schwarze Pumpe, 3.12.1974, S. 1 f. ( ebd., unpag. ). 153 Bereich Kader und Bildung, Bereichsdirektor, Information zu algerischen Werktätigen vom 16. 10. 1975, S. 2 ( ebd., Nr. 48021, unpag.). Im Folgenden zit. als Information zu algerischen Werktätigen vom 16.10.1975 154 VEB Kombinat Schwarze Pumpe, Bereichsdirektor, Bericht zu Erfahrungen und Ergebnissen bei der Eingliederung von algerischen Werktätigen in den Arbeitsprozeß des Kombinates Schwarze Pumpe und in das Territorium des Bezirkes Cottbus, Schwarze Pumpe, 12. 11. 1974, S. 3 ( in : ebd., Nr. 41502, unpag. ). Im Folgenden zit. als Bericht zu Erfahrungen. 155 Vgl. Schreiben an Vorsitzende des Rates des Bezirkes Cottbus Irma Uschkamp vom 9. 10. 1975 (ebd., Nr. 43075, unpag. ). 156 Bericht zu Erfahrungen, S. 3. 157 Vgl. Schreiben an Vorsitzende des Rates des Bezirkes Cottbus Irma Uschkamp vom 9.10.1975. Der genaue Standort dieser Blöcke in Hoyerswerda geht aus der Quelle nicht hervor.

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Zu Beginn des jeweiligen Einsatzes führte das Kombinat mit jedem algerischen Arbeiter ein Einsatzgespräch, um »Vorstellungen und Wünsche der alg[erischen ] Werktätigen zu ihrem Einsatz im KSP herauszufinden und mit den Einsatzmöglichkeiten im Kombinat in Übereinstimmung zu bringen«. Demnach waren 93 Arbeiter mit ihrem ursprünglichen Einsatzort unzufrieden und wünschten eine Umsetzung. Eine weitere Folge war eine Lohnerhörung für 50 Arbeiter, die in eine höhere Lohngruppe eingestuft wurden.158 Diese Einsatzgespräche hatten eine deeskalierende Intention : Indem der Betrieb frühzeitig die Stimmung unter den ausländischen Arbeitern eruierte, konnte sensibel auf ihre Bedürfnisse eingegangen werden. Allerdings wurden bereits bis Oktober 1974 die ersten Algerier aus disziplinarischen Gründen zurückgesandt. Ebenso kehrten Arbeiter nach Angaben des Kombinates wegen persönlicher Gründe wie Heimweh, wegen Familienproblemen in der Heimat, klimatischen Unverträglichkeiten oder Unzufriedenheit mit der Arbeit zurück.159 Andere Arbeiter zerstörten unter Alkoholeinfluss die Einrichtung der Wohnbaracken und wurden daher aus disziplinarischen Gründen nach Algerien zurückgesandt.160 Die Sichtweise der deutschen Verantwortlichen im Betrieb war anfangs von massiven Vorurteilen geprägt. So ging man davon aus, dass die Algerier bisher noch nie Erfahrungen mit den Arbeitsbedingungen eines industriellen Produktionsbetriebes hatten sammeln können. Weitere Probleme wurden von ihrem »Hang zum Handeln« und ihren ausgeprägten »sexuale[ n ] Bedürfnisse[ n ]« erwartet.161 Die Arbeit mit algerischen Kollegen bewies aber schnell, dass das durchschnittliche Bildungsniveau höher lag als angenommen, sie »in relativ gut gekleidetem Zustand« und mit Schuhwerk zur Arbeit erschienen und die Nachfrage »an außerordentlicher Kost nicht so umfangreich war«.162 Obwohl es zu einem Vergewaltigungsversuch durch zwei Algerier kam, die daraufhin in ihr Heimatland zurückgebracht wurden, erwiesen sich die sexuellen Vorurteile gegenüber Algeriern im Allgemeinen als unhaltbar. Hingegen hatten viele Algerier schnell Anschluss an deutsche Familien oder Frauen gefunden. »Briefe von DDR - Bürgerinnen [ trafen ] aus Weißwasser, Cottbus, Spremberg, Hoyerswerda, aber auch aus Karl - Marx - Stadt, Dresden und Leipzig ein.«163 Bereits 1975 kam es 158 VEB Kombinat Schwarze Pumpe, Werkdirektor, Information an das Sekretariat der Industriekreisleitung über den Stand der Arbeit mit den algerischen Werktätigen, Schwarze Pumpe, 24.10.1974, S. 1 ( in : ebd., Nr. 41502, unpag. ). 159 Vgl. ebd., S. 2 f. 160 Vgl. VEB Kombinat Schwarze Pumpe, Werkdirektor, Information an das Sekretariat der Industriekreisleitung über den Stand der Arbeit mit den algerischen Werktätigen, Schwarze Pumpe, 7.11.1974, S. 3 ( ebd., unpag. ). 161 Information vom 29.4.1974, S. 2 f. 162 VEB Kombinat Schwarze Pumpe, Bereichsdirektor : Bericht zu Erfahrungen und Ergebnissen vom 12.11.1974, S. 2 ( ebd., unpag. ). Im Folgenden zit. als Bericht vom 12.11.1974. 163 Ebd., S. 5.

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zu zwei Eheschließungen zwischen Algeriern und polnischen Arbeiterinnen. Von sechs bis acht DDR - Bürgerinnen war bekannt, dass sie Kinder von algerischen Arbeitern erwarteten. Deutsch - algerische Liebespaare forderten die Möglichkeit der Eheschließung. Ebenso verlangten einige Arbeiter, dass sie in die Wohnungen ihrer Freundinnen umziehen durften.164 Die Vorurteile der Kombinatsleitung wurden durch den Kontakt mit den algerischen Arbeitern schnell widerlegt. Stattdessen litten die Algerier unter den Diskriminierungen ihrer deutschen Kollegen. So beklagten im September 1974 Algerier, dass sie auf der Busfahrt von Hoyerswerda ins Kombinat von jungen Deutschen »mit Schimpfworten belegt, [ dass ] ihr Glaubensbekenntnis verhöhnt und nicht verwechselbare Bewegungen mit den Händen und Gesäß öffentlich demonstriert« wurden.165 Zwei Küchenkräfte des Wohnlagers I in Schwarze Pumpe, in dem die algerischen Arbeiter zunächst untergebracht waren, beschimpften diese oft mit den Worten : »Was wollt ihr hier, schehrt [ sic !] euch weg, wir haben euch nicht hierher gebeten.« Daneben gab es Schikanen bei der Essensausgabe. Von einem deutschen Kontrolleur wurden ungenießbarer Kaffee und unzureichende Mengen an Milch und Weißbrot festgestellt, die für die Algerier vorgesehen waren. Diese Diskriminierungen führten zu mehreren Auseinandersetzungen. Dabei wurden die beiden Küchenkräfte, die die Algerier schikanierten, von diesen geohrfeigt oder mit Essen beworfen.166 In der Tanzbar »Melodie« wurden Algeriern 1975 keine Eintrittskarten verkauft. Diese konnten sie nur indirekt über deutsche Bekannte erwerben.167 Einer der Dolmetscher, ein jemenitischer Diplom - Philosoph, wurde in der Gaststätte Kühnicht bei Hoyerswerda als »Kameltreiber« beleidigt und bedroht. Die Gaststättenleiterin und zwei deutsche Gäste kamen ihm jedoch zu Hilfe. In einer anderen Gaststätte tranken deutsche Gäste einem Algerier das Bier aus, als dieser auf der Toilette war. Bei einigen Auseinandersetzungen dieser Art kam es in den ersten Monaten 1975 dazu, »dass die alg[ erischen ] Bürger dann zum Messer griffen und sich somit verteidigten«. Solche Ereignisse führten schließlich dazu, dass einige Algerier meinten, »dass sie sich in ihrer Freizeit lieber in Cottbus bzw. Spremberg [ aufhielten ], und nach Möglichkeit Hoyerswerda [ mieden ]«.168 Der Unmut der algerischen Arbeiter über ihre offiziellen Vertreter, ihre schlechte Unterkunft und ihre unzureichende Bezahlung steigerte sich und

164 Vgl. Fragen des Rowdytums, undatiertes Dokument ( ebd., Nr. 44731, unpag. ). 165 Kombinat Schwarze Pumpe, Bereich Kader und Bildung, Bereichsdirektor, Information zu Problemen, Diskussionen und Meinungen algerischer Werktätiger vom 26.9.1974 ( ebd., unpag. ). 166 Bereich Kader und Bildung, Abt. alg. Werktätige, Information ! vom 28.11.1974 ( ebd., unpag. ) 167 Vgl. VEB Kombinat Schwarze Pumpe, Bereich Kader und Bildung, Abschnitt algerische Werktätige, Einschätzung über den bisherigen Einsatz algerischer Bürger im KSP vom 10. 10. 1975, S. 7 ( ebd., unpag. ). 168 Frage des Rowdytums.

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führte im Oktober 1975 zu einem Streik. Dabei ist es unklar, ob sich diese Arbeitsniederlegung in eine Streikwelle algerische Arbeiter einreihte, die in diesem Jahr in über 600 Betrieben der DDR um sich griff,169 oder ob der Streik in Schwarze Pumpe als singuläres Ereignis zu verstehen ist. Fest steht, dass in der Mittagspause des 15. Oktober circa 30 algerische Beschäftigte zum Verwaltungsgebäude zogen. Durch elf Vertreter forderten die Protestierenden zum einen die »sofortige Ablösung des gewählten Gewerkschaftskomitees sowie die Absetzung der beiden algerischen Betreuer«.170 Ihnen warf man vor, sie seien Spitzel der staatlichen algerischen Gewerkschaft ONAMO171 und sie hätten »lang genug das Brot weggefressen, jetzt sollen sie wieder arbeiten«.172 Stattdessen sollten die elf Sprecher als offiziell gewählte Vertretung der algerischen Arbeiter anerkannt werden. Zum anderen forderten sie »eine pauschale Lohnerhöhung aller Lohngruppen zur Sicherung eines Verdienstes in Höhe von 700,00 bis 750,00 Mark«. Diese Forderungen wurden am 16. Oktober abgewiesen. Nachdem die Arbeiter am 17. Oktober ihre Arbeit niedergelegt und dadurch den Druck erhöht hatten, lenkte das Kombinat ein. In der Folge kam es am Sonntag, dem 19. Oktober, zu Vorverhandlungen mit den 11 Sprechern und dem nach wie vor offiziellen Vertreter. Die Betriebsleitung forderte die Arbeitsaufnahme am nächsten Tag als Voraussetzung für weitere Gespräche »mit jedem einzelnen Werktätigen«. Die Kombinatsleitung versuchte, die Gruppe der algerischen Arbeiter zu spalten, indem sie auf individuelle Wünsche einzugehen vorgab. Ihre Vertreter gaben dieses Angebot an die Kollegen weiter. Diese nahmen jedoch, bis auf einzelne Ausnahmen, ihre Arbeit Montag früh nicht wieder auf. Das Kombinat erhöhte den Druck auf den offiziellen Vertreter der ONAMO, der um 11 Uhr eine Versammlung der Algerier einberief. In dieser Versammlung wurde festgelegt, dass die Arbeit wieder aufgenommen werden solle. Aus den Quellen geht nicht hervor, wer dies festgelegt hatte, ob der Beschluss durch Abstimmung erreicht oder vom offiziellen Vertreter diktiert worden war. Bis 13 Uhr nahmen 53 Algerier ihre Arbeit wieder auf, die übrigen folgten spätestens am Dienstag. Dabei ist zu beachten, dass ein Großteil der Arbeiter sich außerhalb des Wohnlagers aufhielt und deshalb nicht rechtzeitig von dem Streikende erfahren konnte. Als Folge des Streiks erhielten die Algerier 120 Mark Trennungsentschädigung pro Monat und wurden im Schichtbetrieb umgesetzt, um dadurch zusätzliche Verdienstmöglichkeiten zu schaffen. Weiterhin wurde ihnen zugesagt, dass sie am 169 Vgl. Schulz, Migrationspolitik in der DDR, S. 153. 170 VEB Kombinat Schwarze Pumpe, Werkdirektor, Analyse und Bericht zur staatlichen Leitungs und Führungstätigkeit im Kombinat Schwarze Pumpe im Zusammenhang mit den aufgetretenen Vorkommnissen vom 10. 11. 1975, S. 1 ( ebd., Nr. 48021, unpag. ). Im Folgenden zit. als Analyse und Bericht vom 10.11.1975. 171 ONAMO ist das Akronym für »Office National de la Main d’Oeuvre«. 172 Zit. in Information zu algerischen Werktätigen vom 16.10.1975, S. 2.

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1. November 1975 in feste Unterkünfte in Hoyerswerda umziehen könnten oder bei Bekannten wohnen dürften.173 Diese, von Harry Waibel als »erste[ r ] erfolgreiche Streik in der Geschichte der DDR«174 bezeichnete Arbeitsniederlegung führte allerdings zu Unzufriedenheit bei deutschen Arbeitern. Generell wurde die Haltung der Kombinatsleitung während des Streiks kritisiert. Die neuen Festlegungen wurden als »Zugeständnis zum Streik« verstanden. Die deutschen Arbeiter zeigten kein Verständnis für die Trennungspauschale. Die Lohnerhöhung sei der Qualifikation der Algerier nicht angemessen gewesen. Daher forderten die deutschen Arbeiter ebenfalls höhere Löhne.175 Der Streik der Algerier erhöhte den Druck auf das Kombinat. Dieses war der Ansicht, durch Zugeständnisse die Ruhe im Betrieb wieder herstellen zu können. Doch dadurch provozierte sie Unverständnis und Neid der deutschen Arbeitnehmer auf die Algerier. Die Kombinatsleitung sowie die Industriekreisleitung der SED des Kombinates werteten den Streik in den folgenden Monaten intensiv aus. Die SED sah die Ursachen für die Arbeitsniederlegung in »Mängel[ n ] [...] der politischen Führung der Parteiorganisation und unparteimäßige[ m ] Verhalten von Mitgliedern der Partei«. So seien unter anderem nicht rechtzeitig »ideologische [...] Einflüsse des Klassengegners, nationalistische Auffassungen sowie dem Sozialismus fremde Denk - und Verhaltensweisen aufgedeckt« worden. Die Vorurteile und Diskriminierungen interpretierte das Kombinat als Ideologieproblem. Die Verantwortlichen sahen nicht die fremdenfeindlichen Einstellungen unter der Belegschaft als ursächliches Problem, sondern das Wirken des Klassengegners, der mithilfe von fremdenfeindlichen Parolen den Zusammenhalt der sozialistischen Länder stören wollte. So hieß es weiter : »Verstöße einzelner algerischer Kollegen gegen die Arbeitsdisziplin und andere einzelne Vorkommnisse wurden von bestimmten Kräften in einigen Bereichen zum Anlass genommen, um eine generelle Stimmung gegen die algerischen Kollegen zu entfachen und das Vertrauensverhältnis zu stören.«176 Fremdenfeindliche Äußerungen wurden von den jeweiligen Bereichsleitern allzu oft als »Kavaliersdelikt« verharmlost.177 Der Streik wurde als Folge fehlender politisch - ideologischer Arbeit der Leitungsebene interpretiert. Die Kombinatsleitung übernahm die volle Verantwortung.178 Es wurde einge173 174 175 176

Analyse und Bericht vom 10.11.1975, S. 1 f. Waibel, Rechtsextremismus in der DDR, S. 130. Analyse und Bericht vom 10.11.1975, S. 4. SED Industriekreisleitung, Sekretariat, Beschluß. Schlußfolgerungen und Aufgaben für die politisch - ideologische Arbeit der Kreisparteiorganisation bei der Durchsetzung der Festlegungen des Politbüros vom 28. Oktober 1975 vom 6.11.1975, S. 1 f. ( ebd., Nr. 48021, unpag. ). 177 Analyse und Bericht vom 10.11.1975, S. 6. 178 Vgl. ebd., S. 8.; VEB Kombinat Schwarze Pumpe, Werkdirektor, Einschätzung der staatlichen Leitungs - und Führungstätigkeit im VEB Kombinat Schwarze Pumpe im Zusammenhang mit den aufgetretenen Vorkommnissen. Schlußfolgerungen und Maßnahmen zur Verbesserung der Leitungs - und Führungstätigkeit vom 18.11.1975 ( ebd., unpag. ).

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standen, dass es Versäumnisse des Kombinates bei den Maßnahmeplänen und Fehler des Staatssekretariats für Arbeit und Löhne in Bezug auf arbeitsrechtliche Probleme gegeben hatte. Diese waren am 5. Dezember 1975 »Anlass für kritische Auseinandersetzungen«. Das Kombinat verstärkte die »politisch - ideologische Arbeit«, mit dem Ergebnis, dass sich »die Einstellung der Werktätigen der DDR zum Einsatz der algerischen Werktätigen im KSP positiv« entwickelt habe. »In allen Bereichen [ bemühten ] sich die Arbeitskollektive, die algerischen Werktätigen immer fester in das Brigadeleben einzubeziehen.«179 Offenbar versuchte die Leitung des Betriebes, die Integration der Algerier in die deutsche Kollegschaft zu erzwingen. Sie übte Druck auf die beiden Gruppen aus, damit diese ihre Differenzen abbauten. Aus Sicht des Kombinates war dieses Vorgehen erfolgreich, habe sich doch die Einstellung der Deutschen zu ihren algerischen Kollegen verbessert. Doch ist es fraglich, ob der Zwang zur Integration die vorhandenen Vorurteile tatsächlich abgebaut hat. Plausibler erscheint es, dass die Probleme unterdrückt und die vermeintlichen Fortschritte in der Zusammenarbeit lediglich eine oberflächliche Feststellung war, mit der sich das Kombinat zufrieden gab. Das Kombinat kritisierte jedoch nicht nur die deutschen Arbeiter, sondern auch das Verhalten der Algerier. Besonders kritisch wurde ihr Alkoholkonsum betrachtet. In ihrer Heimat hätten sie, so die Annahme des Kombinates, aus religiösen und preislichen Gründen wenig Erfahrung auf diesem Gebiet sammeln können. In der DDR war Bier relativ preiswert, der Alkoholgehalt angeblich aber dreimal so hoch. Bei Heimweh griffen Algerier daher oft zum Alkohol. Die Folge waren nicht selten Schlägereien und Zerstörungen der Einrichtung.180 Doch am Arbeitsplatz galten die algerischen Arbeiter in der Regel als »diszipliniert, korrekt und bereitwillig«.181 Probleme gab es lediglich mit einer hohen Zahl an Fehlschichten. Als Ursache galt die angeblich laxe Einstellung der Algerier zur Arbeit. Die Kombinatsleitung warf den Algeriern vor, ihnen sei »das Recht und die Pflicht zur Arbeit ideologisch unklar« gewesen. Bei Unregelmäßigkeiten verließen sie schnell den Arbeitsplatz und zeigten eine »reguläre Unlust zur Arbeit«.182 1975 fielen algerische Arbeiter wegen insgesamt 49 Straftaten auf. Darunter fielen 26 Körperverletzungen, acht Fälle von Raub, eine Nötigung, 18 Diebstähle und acht Betrugsdelikte. Insgesamt waren 54 Algerier beteiligt und 18 Ermittlungsverfahren wurden eingeleitet. Die Taten ereigneten sich seit der Verlegung der Arbeiter nach Hoyerswerda vor allem in lokalen Gaststätten. Die meisten 179 VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Berichterstattung über die Ergebnisse der Arbeit mit ausländischen Werktätigen im VEB Kombinat Schwarze Pumpe, Schwarze Pumpe, 2. 4. 1976, S. 2 (ebd., Nr. 44825, unpag. ). 180 Vgl. Bericht vom 12.11.1974, S. 5. 181 Ebd., S. 1. 182 Ebd., S. 4.

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Delikte wurden unter Alkoholeinfluss begangen. Oftmals wurde betrunkenen deutschen Gästen unter Androhung von Gewalt Geld abgepresst.183 Ähnlich wie bei der Ankunft der polnischen Arbeiter gab es mit Algeriern zunächst erhebliche Probleme beim Zusammenleben. Deutsche Gaststättenbesucher fühlten sich durch das Benehmen polnischer wie algerischer Arbeiter gestört und belästigt. Tatsächlich kam es zu kriminellen Handlungen wie Diebstahl. Laut Erkenntnissen der Volkspolizei versuchten einige Algerier, betrunkene Deutsche zu bestehlen.184 Bei den Fällen der Körperverletzung bleibt aber unklar, gegen wen sich die Gewalt richtete und warum es dazu kam. Handelte es sich um »Wirthausschlägereien« ? Wurden Algerier von Deutschen provoziert ? Gingen die Angriffe von Algeriern aus ? Eine Antwort lässt sich in den Quellen nicht finden. Im Jahr 1976 stabilisierte sich die Lage. Am 31. Mai arbeiteten 159 Algerier im Kombinat, von denen 117 im Arbeiterwohnheim ( AWH ) Hoyerswerda wohnten. Zwölf hatten eine private Unterkunft und 29 waren noch im Wohnlager I untergebracht, zogen aber noch im Juni ebenfalls nach Hoyerswerda. Die Zusammenarbeit mit den algerischen Kollegen wurde von der Betriebsleitung als »nach wie vor gut« bewertet. Bei Problemen mit der Arbeitsdisziplin wie bspw. beim Überziehen der Mittagspause, wurden mit den entsprechenden Kollegen Aussprachen geführt.185 Die ausländischen Arbeiter waren laut Kombinatsbericht »in das Brigadeleben voll einbezogen«. Wie die Arbeitsdisziplin wurde die Ordnung und Sauberkeit im Wohnheim gelobt. Die Ursache lag in den regelmäßigen Kontrollen der Betreuer.186 Ab Mai war rund um die Uhr ein solcher im Wohnheim vor Ort. Mithilfe ständiger Kontrollen wurde somit der Druck auf die Algerier erhöht, um die Ausländer im Sinne des Wohnheimbetreibers ( das Kombinat ) zu Ordnung und Sauberkeit zu drängen. Offenbar meinte man die Algerier zu deutschen Vorstellungen von Sauberkeit regelrecht erziehen zu müssen. Durch die Kontrollen wurden die ausländischen Arbeiter entmündigt und gedemütigt. Um die Freizeitgestaltung zu verbessern, wurde ein Klub für die algerischen Arbeiter eröffnet. »Dieser Klub findet großen Anklang und ist täglich voll besetzt«, hieß es im Bericht über die algerischen Arbeiter. Der Klub bot arabische Kartenspiele und eine Kantine. Durch diese Maßnahme hielten sich die Algerier nun vermehrt im eigenen Klub und weniger in den Gaststätten auf. Er isolierte die Algerier nicht, denn deutsche und polnische Bürger besuchten ebenfalls die

183 Vgl. BS - Amt Schwarze Pumpe, Einschätzung der Vorkommnisse mit algerischen Bürgern im Kombinat Schwarze Pumpe und den anliegenden Kreisen für das Jahr 1975, Schwarze Pumpe, 16.1.1976 ( ebd., Nr. 44825, unpag. ). 184 Vgl. ebd., S. 2. 185 VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Abt. ausländische Werktätige, Monatliche Berichterstattung »Einsatz algerische Werktätige«, Monat Mai 1976, Schwarze Pumpe, 10. 6. 1976, S. 1 ( ebd., unpag. ). Im Folgenden zit. als Monatsbericht Mai 1976. 186 Ebd., S. 2.

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Einrichtung.187 Ebenso gab es eine algerische Folkloregruppe. Eine französisch bzw. arabischsprachige Bibliothek wurde jedoch aus Kostengründen nicht angelegt. Pro Quartal wurden eintägige Exkursionen angeboten, die einen Bezug zur Geschichte der »Arbeiterklasse der DDR« aufwiesen, wie bspw. zum KZ Hohenstein im Mai188 oder zum Treptower Ehrenmal, zum Palast der Republik und zur »Staatsgrenze der DDR am Brandenburger Tor« im Juli 1976.189 Die Ausländer sollten sich auf den Ausflügen nicht nur erholen und die DDR kennenlernen, sondern gleichzeitig ideologisch geschult werden. Trotz der vielen Bemühungen um einen deutsch - algerischen Austausch hatten die deutschen Bürger noch erhebliche Vorbehalte gegenüber den Algeriern. Viele Kollegen, vor allem Frauen, scheuten sich demnach, das Wohnheim der Algerier zu betreten.190 Möglicherweise ist diese Hemmung auf Vorurteile zurückzuführen. Fest steht, dass im Mai 1976 drei Algerier eine Vergewaltigung begingen.191 Solche Verbrechen können Vorurteile gegenüber Algeriern im Allgemeinen ausgelöst haben. Andererseits »zeichnet[ e ] sich der Trend ab, dass alg[ erische ] W[erk ]T[ ätige ], die feste Bindungen zu Frauen [ hatten ], diese im Wohnheim unterzubringen« versuchten.192 Doch trotz solcher Vorfälle bemühten sich die Berichte um eine positive Entwicklung über die Integration der Algerier. Die erheblichen Probleme von 1975 waren beseitigt, die Arbeiter erhielten mehr Geld und waren in besseren Wohnungen untergebracht. Dennoch gab es 1976 einzelne Arbeiter, die ihre Unzufriedenheit mit der DDR lautstark äußerten. Sie waren generell Kritiker des Sozialismus. Da sich aber die Stimmung unter ihren Landsleuten aufgrund der verbesserten Bedingungen hob, wurden Algerier, »die konspirativ mit dem Gen[ ossen ] des Abschnittes alg[ lerische ] W[ erk ]T[ ätige ]« zusammenarbeiteten, verprügelt und mit dem Tod bedroht.193 Offenbar gab es unter den Algerien Spitzel, die inoffiziell abweichende Meinungen ihrer Landsleute an die deutschen Verantwortlichen weitergaben. Des Weiteren agitierten die kritischen Algerier

187 Ebd., S. 2 f. 188 Ebd., S. 3 f. 189 VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Abteilung ausländische Werktätige, Monatliche Berichterstattung »Einsatz algerischer Werktätige« Monat Juli 1976, Schwarze Pumpe, 10.8.1976, S. 2 ( ebd., unpag. ). 190 Monatsbericht Mai 1976, S. 4. 191 Vgl. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Abteilung ausländische Werktätige, Anlage, Sexuelle Übergriffe kamen auch in den folgenden Jahren vereinzelt vor. Im Jahr 1978 wurde bspw. ein minderjähriger Junge vergewaltigt, vgl. Schreiben Beauftragter des Generaldirektors für ausländische Werktätige an Stellv. Minister fKE vom 8. 3. 1978 ( ebd., Nr. 48282, unpag. ). 192 Monatsbericht Mai 1976, S. 4. 193 Schreiben Abteilungsleiter alg. WT an Generaldirektor vom 16. 6. 1976 ( ebd., Nr. 44825, unpag.).

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unter ihren Kollegen. Ein als Wortführer dieser kritischen Gruppe klassifizierter Algerier meinte, dass »die wahre Lösung der Probleme der arabischen Völker nur im Sinne Ägyptens erfolgen [ könne ], d. h. Herstellung der sogen. freien Marktwirtschaft und der weitere Aufbau des Privateigentums auch an Produktionsmitteln«. Im theoretischen Unterricht hatte er seine Ansichten offen propagiert. Er sagte, »der algerische Staatspräsident lebe herrlich und in Freuden und er müsse hier für die Deutschen schuften«. Die 120 Mark Trennungsentschädigung hielt er nicht für ausreichend. Ein weiterer angeblicher Wortführer meinte, die algerischen Arbeiter seien in der DDR diskriminiert worden. »Die Qualifizierung würde nur durchgeführt, weil die DDR dazu gezwungen ist, ansonsten sind die Deutschen alles Rassisten, die die alger[ ischen ] W[ erk ]T[ ätigen ] ausnützen.«194 Ein weiterer Algerier schimpfte, als ihm seine Kündigung mitgeteilt wurde, in der DDR habe er »moderne[ n ] Faschismus und Rassismus« kennengelernt. Auch er war vermutlich ein Gegner des Sozialismus, denn beim Kofferpacken übergab er zwei Bände französischsprachiger »antikommunistischer Hetzliteratur« mit der Bitte, diese an andere algerische Arbeiter weiterzureichen. Während der Fahrt nach Berlin beklagte er sich auf Französisch gegenüber dem Dolmetscher über den algerischen Präsidenten ( er »betreibt Politik nur zum Zweck der persönlichen Bereicherung«), die DDR (»Die Bevölkerung der DDR ist sehr unglücklich, da hier ein Terrorregime herrscht.«), die schlechte Entlohnung und über den algerischen Verantwortlichen der Vertragsarbeiter ( dieser sei »ein Menschenhändler genau wie z. Zt. der Sklaverei«).195 Schließlich wurden alle bekannten Kritiker nach Algerien zurückgebracht, um die Situation unter den Arbeitern zu stabilisieren.196 Dieses Vorgehen zeigt, auf welche Weise das Kombinat die Ruhe im Betrieb herstellte : Es wies Kritiker aus. Die Zurücksendung kritischer Algerier sollte die verbliebenen ausländischen Arbeiter mahnen, keine Unzufriedenheit zu äußern. Das Kombinat erreichte die Befriedung der ausländischen Belegschaft durch Kontrolle der Algerier und die Bestrafung abweichenden Verhaltens. Insofern waren die vermeintlichen Integrationserfolge, die die Kombinatsberichte ab 1976 feierten, nur äußerer Schein. Aufgrund des restriktiven Vorgehens kam es in den nächsten Jahren nicht mehr zu merklichen Problemen. In allen Berichten wurde die Arbeitsdisziplin allgemein gelobt, obwohl Fehlschichten oft zu beklagen waren.197 Probleme gab 194 Schreiben des Generaldirektors an das MfKE, Schwarze Pumpe vom 22.6.1976 ( ebd., unpag. ). 195 VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Abteilung ausländische Werktätige, Aktennotiz über die Rückführung der algerischen Werktätigen, Schwarze Pumpe, 8. 7. 1976 ( ebd., unpag. ). Die vorgestellten Zitate sind nur eine Auswahl aus einer fast dreiseitigen Liste mit Protesten gegen die algerische Politik, die DDR und den Sozialismus im Allgemeinen. 196 Vgl. Schreiben des Abteilungsleiters, a.a.O. 197 Vgl. bspw. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Abteilung ausländ. Werktätige, Monatliche Berichterstattung über den Einsatz algerischer Werktätiger im VEB GSP – Stammbetrieb – Monat Oktober 1977 ( ebd., Nr. 45664, unpag. ).

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es aber nach wie vor im Zusammenhang mit Alkohol. Im alkoholisierten Zustand beleidigten einige Algerier ihre deutschen Kollegen198 oder provozierten Auseinandersetzungen mit deutschen Gaststättenbesuchern.199 Im Jahr 1978 fand ein Austausch der algerischen Arbeiter statt. Die 1974 angekommenen Arbeiter wurden vertragsgemäß zurückgeführt und dafür 102 neue Algerier eingeflogen. Deren Eingliederung wurde gut vorbereitet und lief problemlos. Nach der Einweisung ins Wohnheim gab es Einführungsunterricht in Deutsch, Mathematik und Physik sowie Informationskurse zu den spezifischen Bestimmungen ihres Arbeitseinsatzes wie Disziplin, Krankheit, Urlaub und zu ihren Rechten und Pflichten. Umgekehrt freute sich das Kombinat über den Lerneifer der Neuankömmlinge.200 In einer französischsprachigen Informationsmappe erhielt jeder Algerier unter anderem die Hausordnung des Wohnheimes. Diese unterschied sich kaum von der der polnischen Arbeiter. Neben den allgemeinen Bestimmungen zur Sorgfaltspflicht hieß das, sie mussten einen Zimmerumzug beantragen und durften die Einrichtung nicht verändern. Besucher mussten sich beim Pförtner anmelden, wobei keine Personen unter 18 Jahren zugelassen waren.201 Das Kombinat vermerkte, die Algerier hielten im Wohnheim »eine gute Ordnung und Sauberkeit«. Allerdings kam es bei dieser zweiten Gruppe ebenfalls zu Problemen mit übermäßigem Alkoholkonsum. Im Jahr 1980 kam es zu häufigen Auseinandersetzungen mit jungen DDR - Bürgern, wobei Deutsche Streit provozierten. Zwar bemühten sich die Algerier, Ärger aus dem Weg zu gehen, aber oft wurden sie von einer Überzahl Deutscher so sehr bedrängt, dass »ein Ausweichen nicht immer möglich war«.202 Aufgrund der schlechten Quellenlage für die 1980er Jahre können für die zweite Algerier Gruppe keine weiteren Aussagen getroffen werden. Zusammenfassend muss der Umgang des Kombinates mit den algerischen Arbeitern sehr kritisch betrachtet werden. Die Algerier lebten in Baracken, 198 Vgl. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Abteilung ausländische Werktätige, Protokoll zum Vorfall am 28.4.1977 vor und in der WUK der algerischen Werktätigen Hoyerswerda, Schwarze Pumpe, 29.4.1977 ( ebd., unpag. ). 199 Vgl. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Abteilung ausländ. Werktätige, Monatliche Berichterstattung über den Einsatz algerischer Werktätiger im VEB GSP – Stammbetrieb – Monat November 1977, S. 3 ( ebd.); VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Generaldirektor, Information zur Arbeit mit alger. Werktätigen im VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe – Stammbetrieb – 3. Quartal 1977, Schwarze Pumpe, 17.10.1977 ( ebd.). 200 Vgl. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Abteilung ausländische Werktätige, Bericht zur Arbeit mit den algerischen Werktätigen im VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe – Stammbetrieb, Schwarze Pumpe, 6.4.1978 ( ebd.). 201 Vgl. Hausordnung für die Wohnunterkunft der algerischen Werktätigen des GSP ( ebd.). 202 Vgl. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Beauftragter des Generaldirektors für ausländische Werktätige, Bericht des Beauftragten des Generaldirektors für ausländische Werktätige zur Arbeit mit den ausländ. Werktätigen im VEB GSP – Stammbetrieb, Schwarze Pumpe, 4.2.1980, S. 7 ( ebd., Nr. 49417, unpag. ).

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erhielten einen geringen Lohn und waren andauernden Diskriminierungen durch ihre deutschen Kollegen ausgesetzt. Nachdem sie jedoch in einen Streik getreten waren, verbesserte sich ihre finanzielle und wohnliche Situation. In der Folge meinte das Kombinat feststellen zu können, die Zufriedenheit der Algerier habe sich gesteigert und sich deswegen die Arbeitsdisziplin verbessert. Tatsächlich wurden seit dem Streik bestehende Konflikte unterdrückt : nach wie vor hegten deutsche Kollegen Vorurteile gegen Algerier. Durch die Lohnerhöhung der Ausländer verfestigten sich diese Missstimmungen. Die Parteileitung des Kombinates wertete solche Vorbehalte jedoch als ideologische Abweichung. Der Unmut der Deutschen wurde nicht ernst genommen, den Vorurteilen und dem Neid nicht argumentativ entgegengewirkt. Vielmehr wurden die Deutschen ideologisch bearbeitet, um die Zusammenarbeit beider Nationalitäten zu erzwingen. Ein ähnlicher Druck wurde auch auf die Algerier ausgeübt. Sie wurden selbst in ihren Wohnungen kontrolliert. Kritische Personen wurden nach Algerien gebracht. Durch diese Strafen wurde den übrigen Arbeitern signalisiert, bei entsprechenden Kritiken ebenfalls die Arbeit in der DDR verlieren zu können. Die scheinbare Befriedung der Algerier wurde durch ein System der Kontrolle und Strafe einerseits, andererseits durch soziale Vergünstigungen erreicht. In ihrer Freizeit stand den Arbeitern eine Reihe von Gestaltungsmöglichkeiten offen. Besonders beliebt war dabei der eigene Klub. Dennoch ereigneten sich vereinzelt negative Zusammenstöße mit deutschen Bürgern, wobei es unter Alkoholeinfluss zu Auseinandersetzungen kam. Problematisch waren ferner die sexuellen Übergriffe einiger Algerier. Diese sorgten für Verunsicherung gerade bei deutschen Frauen. Vorurteile über die Gefahr von Sittlichkeitsvergehen, die von Algeriern drohte, verbreiteten sich in der Stadt. Solche Vorfälle zeigten, dass die Spannungen zwischen Deutschen und Algeriern trotz der restriktiven Befriedungsversuche des Kombinates nach wie vor vorhanden waren. Andererseits gingen Algerier Liebesbeziehungen mit deutschen Frauen ein. Einige Algerier bauten sich sogar eine Familie mit Kindern in der DDR auf.203 Eine Familiengründung gab den algerischen Vätern allerdings kein Recht, in der DDR zu verbleiben. Vielmehr wurden die Betroffenen angehalten, die Umsiedlung ihrer Frauen voranzutreiben.204 Diese Regelung zeigte die Bedeutung der ausländischen Arbeiter für die DDR : Sie wurden wegen ihrer Arbeitskraft benötigt. Eine dauerhafte Einwanderung wollte die DDR vermeiden.

203 Vgl. Ausspracheprotokoll vom 16. 5. 1978; Aktennotiz, o. O., o. D.; Protokoll über Abschlussgespräch, o. O., o. D. ( alle ebd., unpag. ). 204 Vgl. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Abt. ausländische Werktätige, Aktennotiz über die Arbeitsberatung des Staatssekretariates für Arbeit und Löhne in der Zeit vom 19.4.–21.4.1978 in Hoyerswerda, Schw. Pumpe, 26.4.1978 ( ebd., unpag. ).

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2.3 Weitere Nationalitäten

Neben den zahlenmäßig großen Gruppen von Vertragsarbeitern aus Polen, Algerien, Vietnam und Mosambik waren noch weitere Nationalitäten im Kombinat Schwarze Pumpe beschäftigt. Im Oktober 1972 waren im Stammbetrieb und auf den Baustellen 1 350 Ausländer im Kombinat beschäftigt, davon 410 Ungarn, 100 Tschechoslowaken, 329 Jugoslawen und 491 Polen. Allerdings waren lediglich die polnischen Beschäftigten auf Grundlage der Regierungsabkommen eingesetzt. Die anderen Arbeiter waren sog. geschlossene Montagekollektive, die »auf der Grundlage gesonderter Abkommen für Betriebe der DDR auf Bau - und Montagestellen zum Einsatz« kamen. Sie unterlagen somit nicht der Kombinatsverwaltung, sondern dem jeweiligen Hauptauftraggeber. Dennoch war das Kombinat für sie verantwortlich, denn sie arbeiteten auf seinem Gelände. Daher waren sie wie die polnischen Vertragsarbeiter in werkseigenen Unterkünften einquartiert. In Hoyerswerda wohnten alle Arbeiter aus Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei. Die jugoslawischen Arbeiter hingegen waren auf Unterkünfte in Hoyerswerda (41 Personen ) und Spremberg (308 Personen ) verteilt.205 Das Kombinat kontrollierte wie bei seinen Vertragsarbeitern auch bei den Montagebeschäftigten deren Verhalten außerhalb der Arbeitszeit. So wurde festgestellt, dass die ungarischen Beschäftigten an »gemeinsamen Kultur - und Sportveranstaltungen mit Werktätigen der DDR, der VR Polen und der ČSSR« teilnahmen. Weiterhin hieß es : »Das Verhalten der ungarischen Werktätigen in der Öffentlichkeit, sowie die Ordnung, Sauberkeit und Disziplin in der Wohnunterkunft sind gut.«206 Die 100 Arbeiter aus der ČSSR kamen alle aus der Slowakei. In ihrer Beurteilung von 1972 spielte der Prager Frühling noch eine Rolle. Die im Kombinat arbeitenden Slowaken hätten eine »konsequente parteiliche Stellungnahme« bezogen und die »Freundschaft zur Sowjetunion, der DDR und den anderen sozialistischen Staaten« gefestigt. Hervorgehoben wurde ihre Kontaktfreude gegenüber den Einwohnern Hoyerswerdas.207 Die Einschätzung der jugoslawischen Arbeiter war hingegen differenzierter. Da sie täglich 12 Stunden arbeiteten, gab es keine Partei - oder Jugendorganisation, zu denen die Verantwortlichen des Kombinates Verbindung hätten aufnehmen können. Die hohe Arbeitsbelastung verhinderte auch die Einbeziehung der jungen Arbeiter in Veranstaltungen der Jugend. Tendenziell hätten die Jugoslawen aber positiv zur DDR gestanden und das Leitungssystem im Wirtschafts - und Sozialbereich gelobt. Kontrastiert wird diese Einstellung aber mit der Kritik der Arbeiter an 205 Vgl. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stab Internationale Arbeitsbeziehungen, Bericht zum Stand des Einsatzes ausländischer Werktätiger, Schwarze Pumpe, 20. 10. 1972, S. 1 ( ebd., Nr. 38447, unpag. ). 206 Ebd., S. 2. 207 Ebd., S. 2 f.

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den Wohnunterkünften. Sie verglichen ihre Ausstattung und die Betreuung mit der ihrer Landsleute in anderen Betrieben der DDR.208 Unter diesem Gesichtspunkt muss angezweifelt werden, ob die Jugoslawen die Situation in der DDR tatsächlich so hoch bewerteten, wie es der Bericht vorgibt. Am Ende des Jahrzehnts, 1980, hatte sich die Zahl der ausländischen Beschäftigten deutlich verringert. Zu diesem Zeitpunkt arbeiteten 140 polnische und 106 algerische Arbeiter im Kombinat. Hinzu kamen 99 Ausländer »auf Konsularpassbasis« und 29 mosambikanische Arbeiter der August - Bebel - Werke Zwickau zur Sprachausbildung in Schwarze Pumpe.209 In Hoyerswerda lebten aber in diesem Jahr weitere Ausländer. Das bedeutet, nicht nur das Kombinat beschäftigte solche Arbeiter. Auch andere Betriebe wie bspw. das BKW Welzow bildeten Ausländer aus oder beschäftigten sie als Arbeiter. Aufgrund der vielen Nationalitäten in der Stadt kam es 1980 zu erheblichen Spannungen. Einige deutsche Jugendliche suchten handgreifliche Auseinandersetzungen mit Ausländern. Laut Bericht griffen sie vorwiegend Algerier an. Die Polizei verstärkte daraufhin ihre Präsenz.210 Als Ausbildungsstätte für Ausländer diente die Betriebsberufsschule (BBS ) »Dr. Salvador Allende« des Wohnungsbaukombinates ( WBK ) Cottbus in der Ortschaft Groß Zeißig bei Hoyerswerda. Ab Februar 1974 lernten dort 15 vietnamesische Praktikanten für drei Jahre den Beruf des Betonfacharbeiters. Ab August desselben Jahres wurden 30 weitere Vietnamesen ausgebildet.211 Bis 1980 waren insgesamt 143 Vietnamesen an der Berufsschule.212 1981 erwartete die Schule vier Palästinenser zu einer zweieinhalbjährigen Berufsausbildung im Bauhandwerk. Sie bildete aber auch junge Leute aus Vietnam oder afrikanischen Staaten aus.213 An der BBS »Ernst Thälmann« des Kombinates Schwarze Pumpe erlernten 1988 in zwei Klassen 25 Kubaner und Vietnamesen Deutschgrundkenntnisse.214 Aufgrund von Gesprächsprotokollen, die Waltraud Spill einen Monat nach den Ausschreitungen 1991 anfertigte, können einige subjektive Wahrnehmungen von vier mosambikanischen Arbeitern der 1980er Jahre, die lediglich mit ihren Vornamen Andreas, Antonio, Victor Jone und Joaquim bekannt sind, wiederge208 Vgl. ebd., S. 3. 209 Vgl. VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe, Stammbetrieb, Beauftragter des Generaldirektors für ausländische Werktätige, Bericht des Beauftragten des Generaldirektors für ausländische Werktätige zur Arbeit mit den ausländ. Werktätigen im VEB GSP – Stammbetrieb, Schwarze Pumpe, 4.2.1980, S. 3 ( ebd., Nr. 49417, unpag. ). 210 Vgl. ebd., S. 8. 211 Vgl. Für ihr neues Vietnam. In : Lausitzer Rundschau vom 9.4.1974. 212 Vgl. Heidi Kinastowski, Die ersten Freunde bauen in Dao Tu und Vinh. In : Lausitzer Rundschau vom 19.7.1980. 213 Vgl. Heidi Kinastowski, Junge Palästinenser an BBS des WBK. In : Lausitzer Rundschau vom 19.2.1981. 214 Vgl. Rüdiger Joel, Solidarität an der Schulbank. In : Lausitzer Rundschau vom 30.9.1988.

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geben werden.215 Die Schichtarbeit im Braunkohlenwerk Welzow ( WBK Welzow) brachte demzufolge mosambikanischen Vertragsarbeitern ein höheres Einkommen als die Arbeit in anderen Betrieben. Ein individueller Arbeitsplatzwechsel war möglich, wenn man sich wie der Mosambikaner Andreas an die Botschaft wendete. Andere kamen nach Welzow, um einen Beruf zu erlernen. Doch in Bezug auf ihre deutschen Kollegen fühlten sich die mosambikanischen Arbeiter unterbezahlt. Victor Jone erinnerte sich, im Vergleich zu ihm seien deutsche Kollegen bereits mit der Arbeitsaufnahme in eine höhere Lohngruppe eingruppiert worden. Für seine Unterkunft habe er monatlich 30 Mark Miete gezahlt. Dafür habe er mit einer weiteren Person ein Zimmer teilen müssen und lebte mit insgesamt acht Menschen in einer Wohnung. Das Verhältnis zu Deutschen wurde von allen vier Befragten ambivalent beurteilt. Im Betrieb gab es demnach keine größeren Probleme. Das Verhältnis wurde als normal beschrieben. Lediglich Victor Jone beschrieb, dass einige Kollegen »von Anfang an böse« gewesen seien und ihn mit den Worten empfingen : »Warum bist du hier, mach, dass du nach Hause kommst. Das ist ein Land für Weiße, nicht für Schwarze.«216 Eine Beschwerde beim Meister ignorierte dieser. Auch die anderen Mosambikaner hatten den Eindruck, ihre zuständigen Betreuer hätten sie nicht unterstützt. Doch allgemein sei auf der Arbeit »nichts von Rassenhass« bemerkt worden. Aber abseits des Arbeitsplatzes vermieden die deutschen Kollegen den Kontakt zu den Mosambikanern. Private Beziehungen gab es zwischen deutschen und mosambikanischen Kollegen nicht. Begegnete man sich zufällig in der Stadt, wurden die Mosambikaner von ihren Kollegen ignoriert. Nach der Friedlichen Revolution erklärten deutsche Kollegen sogar, sie würden Ausländer hassen. Andere Bürger, die nicht mit Mosambikanern zusammenarbeiteten, zeigten bereits vor 1989 offen ihre Fremdenfeindlichkeit. Alle vier interviewten Mosambikaner berichteten von Begebenheiten, bei denen sie öffentliche Orte wie Diskotheken oder Bars besuchen wollten. Dort wurden sie nicht bedient, sondern ignoriert oder sogar von anderen Besuchern beleidigt und geschlagen. Bei Schlägereien verwies die Polizei sie in ihr Wohnheim, während deutsche Bürger unbehelligt geblieben seien. Daher vermieden sie in der Folge solche Orte aus Angst. Ihre Lebenswelt beschränkte sich auf ihre Arbeit, den Einkauf und das Wohnheim.217 Der Zeitzeuge Herr S. erinnert sich anders. Er engagierte sich nicht nur in seinem Wohnumfeld, sondern war gleichzeitig einer der Betreuer für mosambikanische Arbeiter. Bevor Anfang der 1980er Jahre die ersten 48 Mosambikaner und zwei Delegationsleiter eintrafen, lernte er ein paar Worte Portugiesisch, um diese in ihrer Heimatsprache empfangen zu können. Auch für die 215 Vgl. Gesprächsprotokolle vom 18. 10. 1991 ( Privatarchiv Waltraud Spill ). 216 Zit. in ebd. 217 Vgl. ebd.

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Mosambikaner setzte er sich mit großem Engagement ein. So habe er mit ihnen zusammen eine Turnhalle wiederhergestellt oder ihnen Fahrräder besorgt, damit sie im Sommer an den Knappensee fahren konnten. An Probleme im Zusammenleben von Mosambikanern und Deutschen kann er sich nicht erinnern. Die Mosambikaner hätten sich sehr wohl gefühlt, wie sie ihm gegenüber geäußert hätten. Er selbst habe sie als fleißige und wissbegierige Schüler geschätzt. Von Vorurteilen oder gar Fremdenfeindlichkeit gegenüber den Mosambikanern habe er nichts gehört.218 Die Erinnerung des Betreuers steht jedoch in Widerspruch zu den Erlebnissen der vier Mosambikaner. Möglicherweise berichteten die Ausländer ihren deutschen Betreuern nicht über ihre negativen Erlebnisse mit deutschen Kollegen und Nachbarn. Fest steht, dass die ausländischen Arbeiter, insbesondere die Algerier und Mosambikaner, erheblichen Diskriminierungen ausgesetzt waren. Sie wurden als Fremde wahrgenommen und stigmatisiert. Eine Integration fand nicht statt. Im Jahr 1989 wohnten nach Angaben des Gemeinsamen Statistischen Amtes in Berlin im gesamten Kreisgebiet 1 965 Ausländer, davon waren 1 757 männlich.219 Die Volkspolizei zählte hingegen im Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Dezember 1989 1 905 Ausländer. Die meisten, 1 523 Personen, kamen aus sozialistischen Ländern,220 aus nichtsozialistischen Ländern kamen demzufolge 382 Personen.221 Dabei hielt sich der »überwiegende Teil [...] aus Gründen der Berufsausbildung und zeitweiligen Berufsausübung auf«.222 Dabei hatten 173 Ausländer aus sozialistischen Ländern, vor allem Polen und Ungarn, ihren ständigen Wohnsitz im Kreis. Weiterhin lebten drei Bürger aus nichtsozialistischen Staaten und elf staatenlose Personen mit ständigem Wohnsitz im Kreisgebiet.223 Ein Jahr später, im November 1990, lebten nach Angaben der Ausländerbehörde des Landkreises noch 995 ausländische Arbeiter im Kreisgebiet, »hauptsächlich Mocambiquaner und Vietnamesen, Polen und Ungarn«. Rund 80 ehemalige Vertragsarbeiter waren in der Zwischenzeit in ihre Heimatländer zurückgekehrt. Die Möglichkeit, einen Antrag auf weiteren Aufenthalt in Deutschland zu stellen, wurde nur von wenigen Ausländern genutzt, nämlich von 218 Zeitzeugengespräch mit Herrn S. am 30.5.2011. 219 Vgl. Gemeinsames Statistisches Amt in Berlin, Regionalstatistische Angaben 1989 in der Gliederung nach Kreisen in den Grenzen der Länder entsprechend dem Verfassungsgesetz zur Bildung von Ländern, Berlin 30.9.1990, S. 14 ( BArch, DE 2/21035, unpag. ). 220 Davon aus der ČSSR 12, Kuba 17, der Mongolischen Volksrepublik 16, Jugoslawien einer, Vietnam 323, UdSSR 48, Ungarn 338, Bulgarien 8 und Polen 748; vgl. VPKA Hoyerswerda, Periodisch komplexe Lageeinschätzung des Leiters des Volkspolizeiamtes, Hoyerswerda 10.1.1990, S. 13 ( BLHA Potsdam, Rep. 872/17.1 VPKA Hoyerswerda, Nr. 292, unpag. ). 221 Äthiopien 1, Algeriern 1, Kambodscha 14, Madagaskar 1, Österreich 3, Schweiz 2, USA 1, Angola 25 und Mosambik 325; vgl. ebd. 222 Ebd. 223 Vgl. ebd.

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[ v ]ier Vietnamesen und vor allem jene[ n ] Mocambiquaner[ n ], die hier Familie« hatten.224 Der Anteil ausländischer Einwohner im Kreisgebiet wie in der Stadt Hoyerswerda nahm folglich innerhalb eines Jahres rasch ab. Der Hintergrund war die von der de Maizière - Regierung eingeräumte Möglichkeit für die Betriebe, die Verträge mit ausländischen Arbeitnehmern vorzeitig zu kündigen. Dadurch verließen viele ehemalige Vertragsarbeitnehmer die DDR noch im letzten Jahr ihrer Existenz. Auch die verbliebenen Mosambikaner und Vietnamesen warteten in der Mehrzahl, soweit sie keine deutschen Ehepartner oder eine neue Anstellung fanden, auf ihre Heimreise. Es war daher 1991 absehbar, dass auch die letzten Vertragsarbeiter Hoyerswerda verlassen würden.

3. Asylbewerber in Hoyerswerda Seit Ende der 1980er Jahren stieg die Zahl der in der Bundesrepublik asylsuchenden Personen stark an. Im Jahr 1988 waren dies 103 076 Personen. Damit wurde nach 1980 zum zweiten Mal die Marke von 100 000 Asylsuchenden überschritten. Im Jahr der Wiedervereinigung 1990 wurden bereits 193 063 Personen, 1991 bereits 256 112 und 1992 gar 438 191 Antragstellerinnen und Antragsteller gezählt.225 Der rasante Anstieg der Anträge stand in einem engen Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens und den Bürgerkriegen in dieser Region. So kamen 1990 die meisten Asylsuchenden aus Rumänien (35 345 Personen ), gefolgt von Jugoslawien (22 114 Personen ), der Türkei (22 082 Personen ) und dem Libanon (16 229 Personen ). Im Folgejahr kamen jedoch mit 74 854 Personen die meisten Asylbewerber aus dem ehemaligen Jugoslawien. Aus Rumänien kamen 40 504 Personen und aus der Türkei 23 877 Menschen. Dieser Trend setzte sich 1992 fort. Nun flohen aus den Bürgerkriegsgebieten des ehemaligen Jugoslawien 122 666 Menschen nach Deutschland. Aus Rumänien kamen 103 787 und aus Bulgarien 31 540 Personen.226 Dieser starke Anstieg der Asylbewerberzahl forderte viele Kommunen heraus, die nun in kurzer Zeit eine große Zahl Asylsuchender unterbringen sollten. Hoyerswerda bildete hier keine Ausnahme. In einem Interview am 9. November 1990 kündigte die Leiterin der Ausländerbehörde des Kreises Hoyerswerda, Karola Hypko, die Unterbringung von Asylbewerbern in Hoyerswerda an. Sie erklärte, dass laut Einigungsvertrag 20 Prozent der Asylbewerber den neuen Bundesländern zugewiesen worden seien, ein Drittel davon komme nach Sachsen. Sie rechnete mit 220 000 Asylbewerbern im Jahr im Bundesgebiet. Nach der Quotenregelung erwartete sie 224 Zit. in Erst Ausländer raus ! Dann Asylanten rein ! In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 9.11.1990. 225 Bade, Ausländer, S. 97. 226 Ebd., S. 99.

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demnach 1 200 Asylbewerber für den Kreis Hoyerswerda. Diese sollten für die Dauer der Prüfung ihres Asylantrages im Kreis leben. Die Asylbewerber sollten auf alle Gemeinden des Kreises verteilt, 71 Prozent von ihnen in der Kreisstadt untergebracht werden. Sie erwartete zunächst 850 Antragsteller, aber aufgrund der Länge des Verfahrens würden sie sich auf »mehrere [...] Tausend« summieren. Für ihre Unterkunft wurden in Hoyerswerda mehrere Wohnungen eines ehemaligen Arbeiterwohnheims in der Thomas - Müntzer - Straße 14 im WK IX zur Verfügung gestellt. Das Asylverfahren würde »im Allgemeinen drei bis fünf Jahre« dauern. Während dieser Zeit lebten die Asylbewerber von Sozialhilfe und durften nicht arbeiten. »Das heißt, sie nehmen keinem einen Arbeitsplatz weg«, versuchte Hypko etwaigen Ängsten entgegenzuwirken.227 Tatsächlich kamen aber nicht so viele Asylbewerber wie erwartet. Im August 1991 lag die Zahl bei 260 Asylsuchenden. Dabei schwankte die genaue Zahl, da einige Antragsteller von sich aus in ihr Herkunftsland zurückgekehrt waren. Sie seien nicht aus politischen Gründen geflohen und daher nicht asylberechtigt gewesen, so Mathias Stache, Leiter des Ordnungsamtes. Die Asylsuchenden kamen aus Rumänien, Jugoslawien, Ghana, Vietnam, Angola, Nigeria und der Türkei. Jeder von ihnen, der älter als sieben Jahre war, bekam täglich 10 DM und monatlich 70 DM Taschengeld ausgehändigt. Dies wurde nicht vom Landratsamt bezahlt, wie Stache betonte.228 Damit wollte er Vorurteilen entgegenwirken, die Asylbewerber lebten auf Kosten der Hoyerswerdaer. Die Unterbringung der erwarteten Asylbewerber brachte die Behörde jedoch an ihre Grenzen. Seit dem 1. Dezember 1990 wurden in der Müntzer - Straße Wohnungen in drei Hauseingängen vorbereitet. Bis Jahresende sollten 70 Wohnungen bezugsfertig sein. Die Mittel hierfür waren jedoch bescheiden. Daher war der Leiter der Unterkunft froh über bereitgestellte Spenden verschiedener Betriebe und bat die Bürger in der »Lausitzer Rundschau« um Sachspenden.229 Dieser Aufruf war erfolgreich. In den nächsten Wochen wurden »Mobiliar, Geschirr und Haushaltsgeräte« von Hoyerswerdaern bereitgestellt. Die Wohnungen konnten somit ausreichend ausgestattet werden. Die Spendenbreitschaft war sehr groß. Täglich erreichten die Verwaltung circa 20 Angebote, sodass bis Jahresende nicht alle hilfsbereiten Bürgerinnen und Bürger aufgesucht werden konn227 Erst Ausländer raus ! Dann Asylanten rein ! In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 9.11.1990; vgl. Jede Hilfe willkommen. In : Rundschau für Nordsachsen vom 11.12.1990. 228 Vgl. Ralf Teichmann, Wieviele Asylsuchende haben bei uns ein Obdach ? In : Sächsische Zeitung vom 16. 8. 1991. Die genaue Verteilung der Asylsuchenden nach Nationen ist abgedruckt im Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 26. 7. 1991. Demnach kamen von den 260 Asylsuchenden 93 Personen aus Rumänien, 38 aus Ghana, 31 aus Jugoslawien, 19 aus Vietnam, 18 aus Angola, 11 aus Nigeria, 10 aus der Türkei, 9 aus Indien, 7 aus Bangladesch, 5 aus dem Iran, 3 aus Bulgarien, 3 aus Nepal, je 2 aus der Mongolei und Äthiopien sowie je einer aus Ägypten, Kamerun, Mali, Marokko, Peru, dem Senegal, Somalia, Sri Lanka und Zaire. 229 Vgl. Jede Hilfe willkommen.

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ten. Die Stadtverwaltung bedankte sich daher bei allen Spendern in der »Lausitzer Rundschau« und suchte nun nach Dolmetschern.230 Diese Gesten zeigten, dass es in Hoyerswerda viele Bürger gab, die notleidenden Menschen aus fremden Regionen gern ihre Hilfe anboten. Einer dieser engagierten Bürger war der damalige Superintendent Vogel. Er ahnte laut eigenem Bekunden, dass die kommunalen Behörden mit der neuen Situation der Unterbringung von Asylsuchenden aus verschiedenen Ländern überfordert sein würden. Aus diesem Grund organisierte er für den 23. März 1991 ein Treffen sämtlicher Verantwortlicher des Kreises und der Stadt mit zwei Ausländern aus der Partnerstadt Pforzheim. Diese sollten die Behördenvertreter und Bürger für die neue Situation sensibilisieren. Doch die »Lehren« aus diesem Gespräch seien nicht gezogen worden. Die über 200 Asylbewerber aus mehr als 20 Nationen wurden »kaserniert«. Bei der Unterbringung sei keine Rücksicht auf ethnische oder religiöse Spannungen genommen, sondern die Bewohner seien nach Hautfarbe sortiert untergebracht worden.231 Das Wohnheim war für die Menge der Personen nicht ausreichend. Das »Hoyerswerdaer Wochenblatt« rechnete im Juli 1991 vor, dass im Durchschnitt zwölf Personen in einer Vier - Raum - Wohnung untergebracht waren. Dabei nahm man keine Rücksicht auf familiäre Beziehungen.232 Allerdings gab es nicht nur hilfsbereite Hoyerswerdaer, sondern auch solche, die einer Aufnahme von Asylbewerbern ablehnten, wie Landrat Schmitz in einer in beiden regionalen Tageszeitungen abgedruckten Erklärung im April 1991 eingestand. In fünf Punkten ging er auf die Aufnahme der Asylbewerber ein. Er erläuterte, dass der Kreis seiner gesetzlichen Pflicht zur Aufnahme der von der Landesregierung zugewiesenen »Asylanten sowie Aus - und Umsiedler« nachkam. Sie sollten »gesetzlichen Vorgaben entsprechend bestmöglich betreut« werden. Dabei suchte der Kreis die Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlichen Organisationen wie Kirchen, Parteien und Verbänden, um »alle anfallenden konkreten Probleme sozialverträglich zu lösen«. Der Landrat gestand die mangelnde Erfahrung mit der Aufnahme von Asylbewerbern ein. Um die Kommune nicht zu überfordern, bat er die Landesregierung, die Kapazitäten des Kreises nur schrittweise auszulasten. Schließlich bedankte er sich für die Spendenbreitschaft der Bürger, ging aber auch auf negative Meinungen ein. Demnach habe es Bürger gegeben, »die auf Grund der eigenen sozialen Probleme wenig Verständnis dafür haben, dass jetzt der Zustrom von Asylbewerbern auch in unsere Region gelenkt wird, und es gibt auch im Kreis Hoyerswerda Erscheinungen von Radikalismus und Extremismus, dessen Zielrichtung ausländische Bürger sind.« 230 Kommune dankt. In : Rundschau für Nordsachsen vom 29.12.1990. 231 Gespräch mit Friedhart Vogel am 18.5.2011. 232 Vgl. Je später der Abend ... In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 26. 7. 1991. Martin Schmidt erinnerte sich im Zeitzeugengespräch am 19.7.2011 sogar an bis zu 16 Personen in 3 - Zimmer Wohnungen.

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Bislang sei es aber noch zu keinen »schwerwiegenden Vorfällen« gekommen und die Verantwortlichen bemühten sich auch um eine Vermeidung ebensolcher. Zuletzt bat er alle Einwohner um Verständnis : »In diesem sensiblen Bereich ist für alle Beteiligten Behutsamkeit und konstruktives sachliches Herangehen an die Probleme die wichtigste Voraussetzung. Im Vorderrund steht für uns Sicherheit der Menschen des Territoriums, einschließlich der Asylbewerber. Aus diesem Grund halten wir eine über diese Erklärung hinausgehende Medienberichterstattung für wenig sinnvoll und lehnen sie ausdrücklich ab.«233 Dem Landrat ging es in dieser Erklärung darum, die die Bevölkerung über den Hintergrund der Aufnahme der Asylbewerber aufzuklären. Er verwies auf die Landesregierung hin, die für die Zuweisung von Asylbewerbern verantwortlich sei, und drängte darauf, möglichst wenig Ausländer zugeteilt zu bekommen. Gleichzeitig bemühte er sich um eine gute Unterbringung und Betreuung der Asylbewerber, damit möglichst wenig soziale Spannungen auftreten. Aus diesem Grund bat er alle Beteiligten öffentlich um Verständnis für die Situation. In dieser Presseerklärung sprach Schmitz davon, bisher habe es keine »schwerwiegenden Vorfälle« von Fremdenfeindlichkeit gegeben. Offenbar bedachte er dabei nicht die Gewalttaten vom 1. Mai sowie 3. Oktober 1990, als Ausländerwohnheime von Jugendlichen unter dem Beifall von Anwohnern mit Steinen angegriffen worden waren. Schließlich wollte er einer weiteren Eskalation der Situation entgegenwirken, indem er die Medien bat, auf eine Berichterstattung über Asylbewerber zu verzichten. Diese hielten sich in den folgenden Monaten daran. Die Bürger der Stadt erfuhren dementsprechend nichts über ihre neuen Nachbarn, warum sie aus ihren Heimatländern geflohen waren. Ausländer kamen nur im Polizeibericht vor. So wurde Anfang Juli 1991 eine Razzia auf dem Wochenmarkt am »Lausitzer Platz« und an anderen Orten des Kreises durchgeführt. Dabei wurden 19 Vietnamesen und ein Türke wegen Zigarettenschmuggels festgenommen. Insgesamt stellte die Polizei eine Million Zigaretten sicher, deren Steuerwert auf 200 000 DM geschätzt wurde.234 Wenige Wochen später erfuhren die Leser der »Lausitzer Rundschau« von der Vergewaltigung einer 17 - jährigen Berliner Touristin durch fünf bis sechs Ausländer im Asylbewerberheim in der Thomas Müntzer - Straße. Zwei Tatverdächtige im Alter von 17 und 32 Jahren wurden schnell gefasst, ein weiterer war zum Zeitpunkt des Berichtes flüchtig und ein vierter »nur mit dem Sinti - Namen bekannt«. Am Tag der Vergewaltigung war es zudem vor dem Wohnheim zu einem weiteren Vorfall gekommen. Zwei rumäni233 Wolfgang Schmitz, Erklärung des Landratsamtes Hoyerswerda zur : Aufnahme von Asylbewerbern. In : Sächsische Zeitung vom 4. 4. 1991 und Rundschau für Nordsachsen vom 6. 4. 1991. Hervorhebung im Original. 234 Vgl. Ralf Grunert, Razzia auf dem Wochenmarkt – Panik unter Zigarettenhändlern. In : Rundschau für Nordsachsen vom 6.7.1991; Aus dem Polizeibericht. In : Rundschau für Nordsachsen vom 8.7.1991.

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sche Bürger hatten sich geschlagen, weil einer der beiden die Frau des anderen vergewaltigt haben sollte. Doch gegenüber der Polizei schwiegen sie darüber.235 Bedenkt man, dass in den Zeitungen keine Berichte und Reportagen über die Asylbewerber zu lesen waren, sondern Ausländer nur in den veröffentlichten Polizeiberichten erwähnt wurden, verzerrte dies die Wahrnehmung von Ausländern durch die Hoyerswerdaer Bürger. Denn in einer Situation, als die Hoyerswerdaer eigene Existenzängste verarbeiten mussten, bedurfte es einer Aufklärung, warum die Stadt zusätzliche Hilfsbedürftige aufnehmen muss. Doch die Medien klärten die Einwohner über die komplexen Zusammenhänge nicht auf. Ausländer erschienen in der Presse stattdessen als Schmuggler und Sittenverbrecher, als Kriminelle. Noch 1992 stellten die Sozialwissenschaftler um Specht fest : »Obwohl insgesamt keine ausgeprägt aggressive Stimmung gegen Ausländer und Flüchtlinge festzustellen ist, glauben viele, dass sich alle Ausländer und Flüchtlinge unrechtmäßig in Deutschland aufhalten und dass man gegen den wachsenden Zustrom etwas tun müsse. Ausländer gehören in der Eigensicht der Einheimischen eben häufig nicht mit zur Gesellschaft und bringen nur Probleme.«236 In den Sommermonaten begannen die Zeitungen zudem von Beschwerden der Anwohner des Asylbewerberheimes zu berichten. Vor allem nächtlicher Lärm bis in die frühen Morgenstunden wurde beanstandet. Infolge dieser Unmutsäußerungen wurde im Juli 1991 ein permanenter Betreuer im Wohnheim eingesetzt, der Ansprechpartner für die Asylsuchenden sein sollte.237 Doch die Anwohner des Asylbewerberheimes beschwerten sich weiterhin über »nächtliche Ruhestörung durch lautes Singen oder durch Motorenlärm in den frühen Morgenstunden. Andere [ bemängelten ] die Unordnung. Abfälle und Unrat [wurden ] einfach über den Balkon nach unten auf den Rasen gekippt«.238 Das Dienstbuch des Asylbewerberheimes, das seit dem 10. Juli 1991 von den Betreuern geführt wurde, bestätigt die wiederholten nächtlichen Ruhestörungen. So hielten sich bspw. in der Nacht vom 11. auf den 12. Juli Vietnamesen auf dem Hausdach auf. Die zuständige Nachtschicht bat sie zweimal um Ruhe und Verlassen des Daches, bis sie dieser Bitte um 1.30 Uhr Folge leisteten. In den nächsten Stunden diskutierten dafür andere Ausländer lautstark bei geöffneten Fenstern, die erst nach 3.15 Uhr geschlossen wurden. Zwischenzeitlich war die Polizei aufgrund eines Anrufes wegen Ruhestörung vor Ort.239 Abfälle und zerschlagene Schrankteile wurden öfter aus den Fenstern geworfen.240 Es gab jedoch 235 236 237 238 239

Aus dem Polizeibericht, Rundschau für Nordsachsen vom 17.7.1991. Specht, Sozialraum Hoyerswerda, S. 48. Vgl. Je später der Abend ... In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 26.7.1991. Ebd. Vgl. Dienstbuch Asylbewerberheim Hoyerswerda, Eintrag vom 11.7.1991 ( KA BZ, 19800 LRA Hoyerswerda, unpag. ). 240 Vgl. ebd., Einträge vom 20.7. und 7.8.1991.

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empfindliche Anwohner, die sich sehr früh am Abend über Ruhestörung beklagten. So verzeichnete das Dienstbuch den Anruf einer deutschen Nachbarin vom 6. August. Sie beschwerte sich gegen 19.30 Uhr über laute Musik. Dabei war sie »sehr unhöflich«. Bei einem Kontrollgang konnte die Nachtschicht jedoch keine Musik hören.241 Dieselbe Frau beschwerte sich am 31. August gegen 1 Uhr wiederum telefonisch über Ruhestörung aus dem Wohnheim. Allerdings fand in dieser Nacht ein Rockkonzert im Fußballstadion statt.242 Die Nachbarin fühlte sich scheinbar dermaßen von den Asylbewerbern gestört, dass sie die Ausländer für jedweden Lärm verantwortlich machte. Zudem hörten die Bewohner des Asylbewerberheimes den Lärm von nächtlichen Feiern der deutschen Nachbarn.243 Das Zusammenleben von Asylsuchenden und Deutschen war aber nicht nur von Misstrauen geprägt. Mitunter feierten Deutsche in den Räumen der Ausländer. So holte die Nachtschicht am 22. August gegen 2 Uhr nachts einen alkoholisierten Deutschen aus einer der Wohnungen. In dieser unterhielten sich die verbliebenen Ausländer aber bis 3.45 Uhr weiterhin lautstark.244 Solche gemeinsamen Veranstaltungen blieben scheinbar die Ausnahme. Stattdessen kam es häufiger zu spannungsgeladenen Zusammenstößen. In der Nacht des 18. Juli will die Nachtschicht beobachtet haben, wie sich gegen 1.30 Uhr »sechs etwa 15–17jährige« Jugendliche auf das Heim zubewegten. Zunächst berieten sie, »ob sie jetzt hoch in den Aufgang stürmen sollten«. Gegen 1.55 Uhr sah der Betreuer »einen fliegenden Feuerschein und [ hörte ] einen dumpfen Aufschlag«. Bei dem anschließenden Kontrollgang stellte er mehrere Brandstellen auf den Gehwegplatten und dem Rasen fest, die er mit einigen Bewohnern löschte.245 Wenige Tage später, am 25. Juli, beklagten sich zwei Asylbewerber, dass sie von acht Deutschen bedroht worden waren. Diese wollten ihnen Geld und Schmuck abnehmen, verprügelten beide Ausländer und hielten einem von ihnen eine Pistole an den Kopf. Der zuständige Betreuer verständigte daraufhin die Polizei. Noch währenddessen brachen einige Bewohner zum Tatort auf, »um die acht Deutschen zu fangen«. Einen Deutschen ergriffen sie und brachten ihn ins Heim. Die Nachtschicht trennte diesen von den Ausländern und brachte den Deutschen in seinen Räumen in Sicherheit.246 Auch zwischen den Bewohnern brach Streit aus. Am 1. August versuchte ein alkoholisierter Ghanaer in Wohnungen von Frauen aus Jugoslawien einzudringen, von denen er wusste, dass ihre Männer außer Haus waren.247 Am Folgetag hielt das Diensttagebuch die Reaktion eines der Ehe241 242 243 244 245 246 247

Ebd., Eintrag vom 6.8.1991. Vgl. ebd., Eintrag vom 31.8.1991. Vgl. ebd., Eintrag vom 14.9.1991. Vgl. ebd., Eintrag vom 22.8.1991. Ebd., Eintrag vom 18.7.1991. Ebd., Eintrag vom 25.7.1991. Vgl. ebd., Eintrag vom 1.8.1991.

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männer mit mehreren Ausrufezeichen fest. Dieser hatte »das Beil schon geschärft, mit dem er am Vormittag einige Ghanesen erschlagen will !«248 Neben dem Lärmvorwurf beklagten sich Nachbarn über schrottreife Autos, die die Asylbewerber in den Straßen hätten stehen lassen,249 das Schächten von Tieren auf der Wiese vor dem Haus250 oder aggressives Betteln von Sinti und Roma.251 Die Anwohner des Asylbewerberheimes fühlten sich durch solche Vorkommnisse immer mehr gestört und suchten im August die Öffentlichkeit. Die Wochenendausgabe der »Sächsischen Zeitung« vom 17./18. August druckte einen offenen Brief von Mietern der Müntzer - Straße 18 ab. Sie gingen diesen Schritt, weil sie »bei den zuständigen Behörden wenig oder kaum Gehör« gefunden hätten. In dem Brief kritisierten sie zweierlei : Zum einen beklagten sie die Ruhestörung durch »die über 200 Asylbewerber aus über 20 Nationen«. Deren Leben habe »sich vorwiegend, und besonders in der warmen Jahreszeit, vor den Haustüren« abgespielt. Die Nachbarn klagten über alltäglichen Lärm durch »Kindergeschrei, Gruppenversammlungen mit lautem Wortwechsel, Musizieren und laute Musik aus Tonbandgeräten bis nach 23 Uhr«. Neben der Ruhestörung wurde die Verschmutzung des Geländes kritisiert. Sie klagten : »Diese Dauerbelastung ist kaum noch zu ertragen und lässt erhebliche Spannungen aufkommen.« Zwei Familien hatten bereits eine neue Wohnung beantragt. Die Unterzeichner des offenen Briefes fühlten ihre Wohnqualität ebenfalls beeinträchtigt und beantragten Mietminderung bei der zuständigen Wohnungsgesellschaft. Der dortige Umgang mit ihren Beschwerden war ihr zweiter Kritikpunkt. Über Monate hinweg habe sich der zuständige Prokurist verleumden lassen. Eine weitere Angestellte entgegnete auf das Drängen der Hausgemeinschaft, »dass es [sich] bei den jetzt noch geringen Mieten [...] nicht lohne, weil nur ein Trinkgeld herauskäme«. Dieses Benehmen erinnerte die Antragsteller an »alte Zeiten« und ließ sie vermuten, »dass sich so manch alter Leiter gut hinübergerettet« habe. Abschließend wiesen die Unterzeichner darauf hin, unbedingt ihre im BGB verankerten Rechte in Anspruch nehmen zu wollen. Eine »ungesetzlich[ e ] Bereicherung« durch die Mietminderung sei nicht ihr Interesse.252 Der öffentliche Druck war schließlich so groß, dass am 27. August eine Bürgerversammlung zum Thema Asylbewerber stattfand. Zu dieser Zeit lebten 236 Ausländer aus 21 Nationen in der Müntzer - Straße.253 Die Stimmung war

248 249 250 251 252

Ebd., Eintrag vom 2.8.1991. Zeitzeugengespräch mit Wolfgang Schmitz vom 30.6.2011. Zeitzeugengespräch mit Klaus Naumann vom 11.7.2011. Zeitzeugengespräch mit Friedhart Vogel vom 31.5.2011. Matz / Menzel / Meyer / Schill / Varga / Wieczorek, Briefe an die SZ : Was wollen Sie denn, das wird doch nur ein Trinkgeld. In : Sächsische Zeitung vom 17./18.8.1991. 253 Vgl. Roselore Hensel, Wir müssen den richtigen Umgang miteinander noch lernen. In : Sächsische Zeitung vom 29.8.1991.

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sehr aufgeladen, die Bürger machten ihrem Unmut Luft. So empörte sich eine Anwohnerin : »16 Jahre haben wir die Probleme mit diesem Häuserblock, erst als Arbeiterwohnheim mit Polen und Ungarn. Aber das jetzt, dass ist der Gipfel. Es ist Ruhe bis in die Abendstunden. Aber dann geht der Rabbatz [ sic !] meist bis 3.30 Uhr.«254 Die Ruhestörung war der Hauptkritikpunkt. So hätten Asylbewerber »›Nachtralleys‹ mit ›Schrottlauben‹ [ veranstaltet ], die ihnen deutsche Bürger verhöckert [ sic !]« hätten.255 Die Bürger forderten eine Verlegung der Asylbewerber, beispielsweise in das ehemalige Gebäude der Staatssicherheit.256 Die Vertreter der Stadt versuchten sich zu verteidigen. Der Beigeordnete des Landrates, Delling, verwies auf die Gesetzeslage, wonach die »desolate Wirtschaftslage und unsere Unerfahrenheit in diesen Fragen« keine Rolle spielten. »Wir müssen mit Asylbewerbern, Aussiedlern und Einwanderern leben lernen.«257 Bürgermeister Naumann konnte trotz Anstrengungen keine Garantie für die Durchsetzung von Ruhe und Ordnung geben. Einer der Betreuer schilderte die Bemühungen, aber auch die eigene Hilflosigkeit.258 Vielversprechender erschien den Anwesenden jedoch der Vorschlag eines »westdeutschen Bürger[s]«, störende Personen zu identifizieren und anzuzeigen und so »ihr neugewonnenes individuelles Recht in die eigenen Hände« zu nehmen. Eine Verurteilung würde darüber hinaus in der Regel eine Abschiebung nach sich ziehen.259 Da der Staat, bzw. in dem Falle die Kommune nicht in der Lage seien, so suggerierte dieser Wortbeitrag, müssten die Anwohner sich selbst verteidigen. Die Wohnheimleitung schlug indes die Bildung eines Heimbeirates vor, in dem Vertreter der zahlenmäßig stärker vertretenen Nationalitäten mitarbeiten sollten, um »Lärm, Mülltonnengewühle oder auch nächtliche [...] Autoralleys schon an den Wurzeln das Wasser abzugraben«. Die Beiratsmitglieder sollten sich darüber hinaus »bislang als vernünftig« verhalten haben.260 Wer Asylbewerber nach welchen Kriterien als »vernünftig« einstufen und damit über das Recht an der Teilnahme des Heimbeirates entscheiden durfte, blieb unklar. Die »Sächsische Zeitung« schrieb hingegen von dem Vorschlag des Vorsitzenden des Kreistages, der sich für einen Heimbeirat ausgesprochen habe, in dem zusätzlich auch Anwohner vertreten sein sollten.261 Der Bürgermeister kündigte Gespräche mit 254 Zit. in Ralf Grunert, »Wir wollen nichts, als Ruhe !«. In : Rundschau für Nordsachsen vom 30.8.1991. 255 Hensel, Wir müssen den richtigen Umgang miteinander noch lernen. Solche Klagen über Lärm, laute Musik und übermäßigen Alkoholkonsum waren auch in anderen Städten von Nachbarn der Asylwohnheime zu hören, vgl. Willems, Fremdenfeindliche Gewalt, S. 18. 256 Vgl. Hensel, Wir müssen den richtigen Umgang miteinander noch lernen. 257 Zit. in ebd. 258 Vgl. Grunert, »Wir wollen nichts, als Ruhe !«. 259 Ebd.; vgl. ebenso Hensel, Wir müssen den richtigen Umgang miteinander noch lernen. 260 Grunert, »Wir wollen nichts, als Ruhe !«. 261 Vgl. Hensel, Wir müssen den richtigen Umgang miteinander noch lernen.

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der Polizei über eine höhere Polizeipräsenz vor dem Heim sowie die nächtliche Präsenz von zwei Betreuern statt wie bisher einem an.262 Auch die Betreuer wollten sich um mehr Ruhe und Ordnung bemühen. Sie baten um Mithilfe und Verständnis. Am Schluss der Versammlung einigte man sich auf eine Wiederauflage Ende September, um die Fortschritte zu beraten.263 Die »Lausitzer Rundschau« ermahnte die Behörden, schnell Lösungen zu finden, denn sonst würden dies Rechtsextreme tun.264 Diese Worte spiegelten die brisante Situation wider. Die angespannte Situation zwischen den Asylbewerbern und den deutschen Nachbarn hatte sich »zu einer ›emotionalen Eskalation‹ im Vorfeld der Krawalle« gesteigert.265 Mit der »emotionalen Eskalation« bezeichnen die Forscher um Willems die hohen Spannungen zwischen Asylbewerbern und deutschen Nachbarn, die sie im Vorlauf vieler fremdenfeindlicher Ausschreitungen und Anschläge ausmachten.266 Auch in Hoyerswerda waren die Anwohner so frustriert über die Störungen durch die Asylbewerber sowie über die Untätigkeit der Politiker, dass während der Anwohnerversammlung »erste rechtsradikale Meinungsäußerungen [...] laut«267 wurden.

4. Zusammenfassung Spätestens seit 1971 lebten mehrere hundert ausländische Arbeiter des Kombinates Schwarze Pumpe in Hoyerswerda. Ausländern auf der Straße oder im Geschäft zu begegnen, mit ihnen zu arbeiten, hätte für viele Hoyerswerdaer gewohnt sein müssen. Der Kontakt mit Ausländern hätte keine Besonderheit darstellen sollen. Doch dem war nicht so. Ausländer waren nie integriert, sie galten immer als Fremde und als nichtdazugehörig. Die Ursache war bereits in der zentralisierten Unterbringung der Vertragsarbeiter angelegt. Diese führte zum einen dazu, dass die subjektiv wahrgenommene Anzahl der Ausländer höher erschien als ihr tatsächlicher Anteil an der Bevölkerung. Zum anderen erleichterte sie die Kontrolle und Isolation der Ausländer. Wie in den verschiedenen bilateralen Verträgen vorgesehen, sollten die Vertragsarbeiter nicht in die Gesellschaft der DDR integriert werden. Daher fand nach vier oder fünf Jahren ein Austausch der Vertragsarbeiter statt. Ebenso wurden die Besuche von Wohnheimfremden streng reglementiert und kontrolliert. Die ausländischen Arbeiter waren somit 262 Vgl. ebd.; Grunert, »Wir wollen nichts, als Ruhe !«. 263 Vgl. Grunert, »Wir wollen nichts, als Ruhe !«;Schmerzgrenze ? In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 30.8.1991. 264 Vgl. Grunert, »Wir wollen nichts, als Ruhe !«. 265 Willems, Fremdenfeindliche Gewalt, S. 220. 266 Vgl. ebd. 267 Grunert, »Wir wollen nichts, als Ruhe !«.

Zusammenfassung

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durch die Regelungen der Regierungsabkommen vom deutschen Umfeld praktisch ausgegrenzt. Die Isolation war zwar nicht vollständig. Im Betrieb arbeiteten Deutsche und Ausländer zwangsläufig zusammen und einige Hoyerswerdaerinnen gingen Liebesbeziehungen mit Polen oder Algeriern ein. Dennoch förderte die Abschottung das Nicht - Wissen über ausländische Mitbürger. Vorurteile und offene Fremdenfeindlichkeit waren weit verbreitet, in Hoyerswerda wie in der gesamten DDR. Im Kombinat wurden ausländische Kollegen diskriminiert und am Wochenende wurde ihnen der Zutritt zur Diskothek verwehrt. Natürlich können die fremdenfeindlichen Einstellungen nicht verallgemeinert werden. Es ließen sich gegenteilige Zeugnisse finde. Nicht alle Hoyerswerdaer grenzten Ausländer aus. Doch um die Ursachen für die Ausschreitungen 1991 klären zu können, »stehen naturgemäß jene Aussagen im Vordergrund, die ein anderes Bild zeichnen«.268 Fremdenfeindlichkeit war in Hoyerswerda nicht allgemein, aber verbreitet genug. Vor allem die algerischen und mosambikanischen Arbeiter erfuhren nahezu täglich Ausgrenzung und Anfeindung. Auf der Arbeit wie in der Stadt begegneten ihnen viele Deutsche herablassend. Die Deutschen erwarteten, dass sich die Ausländer in ihrer Arbeitsweise, ihren Sitten und Gebräuchen, ihrem Alltag, mit ihrer gesamten Kultur dem deutschen Umfeld anpassten. Sie sahen nicht, dass eine Assimilation nicht nur nicht sofort zu erreichen war, sondern zudem die Leugnung der kulturellen Identität seitens der Ausländer bedeutet hätte. Stattdessen verlangten die Hoyerswerdaer, dass die Bewohner des Ausländerwohnheimes sich zu verhalten haben wie ihre deutschen Nachbarn. Da die Ausländer diese Forderung nicht erfüllten, blieben sie immer die Fremden. Die Wahrnehmung der Ausländer als Fremde korrespondierte mit der Eigenwahrnehmung als Hoyerswerdaer : Sie waren die Einheimischen, die Ausländer die Fremden, die lediglich zum Arbeiten in Hoyerswerda lebten. In dieser Wahrnehmung mussten sich die DDR- Bürger bestätigt fühlen, als die de Maizière Regierung ermöglichte, die Verträge der ausländischen Arbeiter abzulösen. In Anbetracht der wirtschafts - und arbeitsmarktpolitischen Herausforderung wollte man deren Arbeitsplätze schnellstmöglich deutschen Bürgern zur Verfügung stellen. Daher wurden die Laufzeiten der Verträge zunächst gekürzt und schließlich gekündigt. Viele ehemalige Vertragsarbeiter verließen daher 1990 Hoyerswerda. Die letzten Mosambikaner und Vietnamesen sollten im Herbst 1991 in ihre Heimat zurückkehren. Bis dahin waren sie bereits ohne Arbeit und warteten auf ihre Heimreise. Währenddessen war der Landkreis Hoyerswerda verpflichtet, Asylbewerber aufzunehmen. Dabei unterlag der Kreis gesamtdeutschen Regelungen. Die Zuweisung von Asylbewerbern traf den Kreis und die Stadt Hoyerswerda in jeder 268 Rohrbacher, Gewalt im Biedermeier, S. 61.

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Beziehung unvorbereitet. Logistisch bestand das Problem, in kurzer Zeit geeignete Unterkünfte herzurichten. Die Wohnheime konnten letztlich nur mit Unterstützung aus der Bürgerschaft rechtzeitig hergerichtet werden. Ebenso fehlte es an Dolmetschern. Doch neben den organisatorischen Schwierigkeiten führte die emotionale Überforderung der Hoyerswerdaer zu ernsthaften Spannungen. Bisher wurden Ausländer lediglich als Arbeiter angesehen, die nach einigen Jahren das Land wieder verlassen. Während dieser Zeit hatten sie für die DDR zu arbeiten. Doch Asylbewerber waren auf Hilfe angewiesen. Sie konnten nichts geben, sondern benötigten Unterstützung. Diese Erfahrung war für die Einheimischen neu. Die Hoyerswerdaer mussten diese neue Art, mit Ausländern umzugehen, in einer Zeit erlernen, in der sie sich selbst in einer tiefen ökonomischen und sozialen Krise befanden. Sie benötigten selbst Unterstützung. Viele Hoyerswerdaer sorgten sich um ihre eigene Existenz und zeigten wenig Solidarität mit anderen Bürgern der Stadt. Es fehlte an Einfühlungsvermögen für die Nöte anderer im Allgemeinen und für die Fremden im Besonderen. In dieser Situation hätte es einer Aufklärung über die komplexen Zusammenhänge der Asylpolitik bedurft. Doch eine solche Informationspolitik wurde nicht gleistet. Anstatt die Bevölkerung über die Gründe, die Dauer und die Kosten der Aufnahme von Asylbewerbern zu informieren, bat der Landrat, von einer Berichterstattung in der Lokalpresse abzusehen. Dabei ist es vorstellbar, dass er mit diesem Schritt das Konfliktpotential nicht weiter verstärken wollte. Letztlich führte dies bei den Bürgern aber zu einem Mangel an Verständnis für die Hilfesuchenden. Wie bspw. auch in Saarlouis fühlten sich die Anwohner »mit Entscheidungen konfrontiert, an denen sie nicht beteiligt«269 waren. Wie groß das Frustpotential der Nachbarn des Asylbewerberheims in der Thomas - Müntzer - Straße war, zeigte eine Anwohnerversammlung wenige Wochen vor den Ausschreitungen. Die Nachbarn fühlten sich in Bezug auf die nächtlich lärmenden Heimbewohner von den Lokalpolitikern im Stich gelassen. Dennoch versuchten sie, die Verantwortlichen mithilfe dieser Bürgerversammlung im Rahmen der gesetzlichen und demokratischen Norm für ihren Konflikt zu sensibilisieren. Diese waren jedoch selbst mit der Situation überfordert. Als Lösungsweg wurde eine bessere Betreuung der Asylbewerber versucht. Der Grundkonflikt, die zentrale Unterbringung von 236 Menschen unterschiedlicher Kulturen in einem engen Plattenbau inmitten einer Bevölkerung, die für diese Bewohner nicht sensibilisiert war, wurde dadurch nicht gelöst. Der damit verbundene Frust der Anwohner über häufigen nächtlichen Lärm sowie Müll vor dem Wohnheim verstärkte die ohnehin in Hoyerswerda vorhandenen sozialen Spannungen. Hoyerswerda war aufgrund der Transformationskrise ein »Pulverfass«, wie Ordnungsdezernent Naumann beschrieb. Die Aufnahme von Asylbewerbern stellte sich in der Rückschau als zün269 Willems, Fremdenfeindliche Gewalt, S. 216.

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dender Funke heraus. Die zentralisierte Unterbringung der Asylbewerber war eine wesentliche Manifestationsbedingung, denn sie hat verschiedene Spannungen miteinander verknüpft und dadurch verschärft. Zum einen war dies der Unmut über die eigene soziale Krise. Viele Bürger sahen sich in ihrer Unsicherheit aufgrund des epochalen Bruchs 1989/90, der Auflösung bisheriger sozialer Sicherheiten sowie der Verzweiflung in der Arbeitslosigkeit bzw. der permanenten Angst vor dem Arbeitsplatzverlust allein gelassen. Hinzu kam zum anderen die Diskriminierung von Ausländern. Diese wurden als Fremde und außerhalb der deutschen Gesellschaft Stehende wahrgenommen. Doch mit der Aufnahme der Asylbewerber sahen sich die Einwohner mit diesen in einer Konkurrenzsituation um staatliche Unterstützung. Es war vielen nicht verständlich, warum die Ausländer als Fremde Sozialleistung erhalten sollten, die man für sich selbst als Deutscher beanspruchte. Man sah sich selbst vom Staat alleingelassen, doch die Fremden sollten Hilfe bekommen. Dies bedeutete einen Widerspruch zur Legitimationsvorstellung des »guten, alten Rechts«.

IV. Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus vor 1991

1. Die Entwicklung der rechtsextremen Skinheadszene in der DDR Die Ursprünge der rechtsextremen Jungendszene in der DDR liegen im Bestreben Jugendlicher, ihre Distanz zum Staat zum Ausdruck zu bringen. Zu Beginn der 1980er Jahre begannen einige Jugendliche, sich von der uniformierten Freizeitgestaltung der FDJ abzugrenzen und individuelle Stile zu kreieren. Beeinflusst von westlichen Jugendkulturen ging es ihnen zunächst um Musik und Mode. Dabei bildeten sich erste Strömungen von Gruftis, Heavy - Metals, Punks und Skinheads heraus. Die einzelnen Stile waren nicht streng voneinander abzugrenzen. Vielmehr waren die Übergänge fließend : aus Punks konnten Skinheads werden, aus Heavy - Metals Punks usw.1 »Punk war in der DDR die Mutter der Skinheadkultur«, urteilt der Kriminologe Bernd Wagner.2 Die Skinheadkultur war besonders für männliche Schüler und Lehrlinge attraktiv. Hinzu kamen gewalttätige Fußballfans, gerade die des als »Stasi - Verein« verschrienen BFC Dynamo Berlin.3 Dabei waren die Skinheads zu diesem frühen Zeitpunkt keinesfalls politisiert. Ihnen ging es vorrangig um eine Abgrenzung zur bestehenden Gesellschaft. Aus Frust über die spürbare Stagnation entwickelte sich bei ihnen eine »generelle Ablehnung all dessen, was sich als links und systemgemäß verstand«.4 Hinzu kam die Beschäftigung mit Themen der deutschen Teilung, »wie Reisefreiheit, die Beseitigung der Mauer und die Wiedervereinigung«.5 Diese beiden

1 2 3 4 5

Vgl. Ködderitzsch, Rechtsextremismus in der ehemaligen DDR, S. 23; Korfes, Entwicklung des Rechtsextremismus, S. 51. Wagner, Jugend, S. 43. Vgl. Stöss, Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, S. 63. Neubacher, Jugend und Rechtsextremismus, S. 32 f. Korfes, Entwicklung des Rechtsextremismus, S. 52.

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Motive führten die Skinheads nach »rechts«.6 Allerdings wussten die ersten Skinheads in der DDR recht wenig über den Ursprung und die Entwicklung der westlichen Skinheadszene in Großbritannien und der Bundesrepublik. Anfänglich verstanden sich die Skinheads Ende der 1960er Jahre in Großbritannien als unpolitische Protestbewegung gegen die sozialen Verhältnisse. Zwar wurde die zweite Skinheadgeneration während und nach dem sog. Skinhead - Revival 1978 bis 1982 durch den Einfluss der rechtsextremen britischen Organisationen »National Front« und »British Movement« zunehmend politisiert. Doch neben rechtsextremen Skinheads gab es weiterhin unpolitische Oi ! - Skins. Zudem entfalteten sich als Reaktion auf die rechtsextreme Entwicklung der Skinheadszene antirassistische Skinheads ( SHARP - Skins ) und linksextreme Redskins. Die internationale Skinheadszene war immer vielfältig. In Deutschland war die Skinheadszene zu Beginn der 1990er Jahre jedoch von rechtsgerichteten Jugendlichen geprägt. In der Bundesrepublik wurde die Skinheadkultur zu einem Zeitpunkt populär, als die britische Szene bereits unter den Einfluss der »National Front« (NF ) geraten war. Die deutschen Skinheads gingen zudem auf Distanz zur PunkSzene. Als geeignetstes Mittel und besonders provokanter Tabubruch schien ihnen das Spielen mit NS - Parolen. Dennoch war und ist die Skinheadszene insgesamt nicht eindeutig rechtsextrem. Lediglich eine Fraktion, wenn auch eine große, identifizierte sich mit rechtsextremen und sogar neonazistischen Parolen.7 Den Jugendlichen in der DDR galt der Skinheadkult allerdings zunächst lediglich »als das Schärfste, um den ersten antifaschistischen Staat auf deutschem Boden zu ärgern«.8 Die Skinheads verstanden sich als Gegner des sozialistischen Staates. Daraus entwickelte sich mit der Zeit ein »rechtstendenziöses Selbstverständnis, das teilweise sogar dazu führte, dass sich militante neonazistische Zirkel in den Reihen der DDR - Skins bildeten. Rein subkulturelle Skins [...] gab es in der DDR nur in ganz wenigen Fällen«.9 Es ging den Jugendlichen eher um Provokation als um Verbreitung rechtsextremen Gedankengutes : »Die rechtsextremen Parolen bedeuteten anfangs weniger eine Identifikation mit dem Nationalsozialismus, sondern vor allem einen gezielten Tabubruch mit der antifaschistischen Staatsdoktrin der DDR, eine Identifikation mit dem Feind des Feindes.«10

6 7

8 9 10

Vgl. ebd. Ein genauerer Überblick über die Entwicklung und Ausdifferenzierung der Skinheadszene bei Bredel, Gefahr von rechts; El - Nawab, Ästhetik und Gewalt; Farin / Seidel - Pielen, Skinheads; Menhorn, Portrait einer Subkultur; Neubacher, Jugend und Rechtsextremismus. Farin / Seidel - Piehlen, Skinheads, S. 110. Menhorn, Portrait einer Subkultur, S. 155. Stöss, Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, S. 63.

Die Entwicklung der rechtsextremen Skinheadszene in der DDR

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In den Jahren 1985/1986 festigten sich die einzelnen Skinhead - Gruppierungen. Sie hatten jeweils einen festen Mitgliederstamm von 6 bis 12 Personen.11 Neumitglieder wurden erst nach einiger Zeit und nur mit einer eindeutig rechtsextremen Einstellung aufgenommen.12 Die Gruppen beschäftigten sich mit den Tabuthemen der DDR wie bspw. mit Ausländern, der Geschichte des Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg, der deutschen Teilung sowie mit alltäglichen Problemen wie denen der Arbeitsdisziplin und der schlecht organisierten Wirtschaft.13 Die Skinheads bezeichneten sich nun als »Naziskins« und »Faschos«.14 Die lokalen Gruppen vernetzten sich überregional und knüpften Kontakte zu westdeutschen Rechtsextremen wie der »Nationalistischen Front« ( NF ) und der »Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei« ( FAP ).15 Wichtig für die Vernetzung waren, neben dem Kleidungsstil als Erkennungszeichen, Fußballspiele. Durch die Begleitung des jeweiligen Vereins kam man in die verschiedenen Regionen der DDR und lernte dadurch Gleichgesinnte kennen.16 Die Mitglieder waren recht jung. Die Jahrgänge zwischen 1965 und 1975 überwogen. Der Großteil der Skinheads entstammte Arbeiterfamilien, aber auch Kinder aus Familien mit höherem Bildungsgrad waren vertreten. Frauen waren unterrepräsentiert.17 Im Jahr 1986 registrierte die Polizei 1 500 rechtsextrem gesinnte Jugendliche in der gesamten DDR.18 In Relation zur Gesamtbevölkerung und im Vergleich mit der Bundesrepublik ist dies ein hoher pro Kopf - Anteil rechtsextremer Skinheads in der Gesellschaft der DDR.19 Die ostdeutschen Skinheads fielen durch eine hohe Aggressivität auf. Zwischen 1983 und 1988 stieg die Zahl der Überfälle auf Punks, Homosexuelle, SED - Mitglieder oder Polizisten um das Fünffache an.20 Im Jahr 1987 nahm die Gewaltwelle stark zu und kulminierte am 17. Oktober im Überfall auf die Besucher eines Punkkonzerts in

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Vgl. Korfes, Entwicklung des Rechtsextremismus, S. 53 f. Vgl. Neubacher, Jugend und Rechtsextremismus, S. 33. Vgl. Ködderitzsch, Rechtsextremismus in der ehemaligen DDR, S. 24. Vgl. Korfes, Entwicklung des Rechtsextremismus, S. 53; Neubacher, Jugend und Rechtsextremismus, S. 33. Vgl. Madloch, Entwicklung des Rechtsextremismus, S. 55. Vgl. Korfes, Entwicklung des Rechtsextremismus, S. 54 f.; Menhorn, Portrait einer Subkultur, S. 156. Vgl. Ködderitzsch, Rechtsextremismus in der ehemaligen DDR, S. 25. Vgl. Stöss, Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, S. 63 f. Der Bundesverfassungsschutz rechnete 1990 2 500 bis 3 000 westdeutsche Skinheads der rechtsextremen Szene zu; vgl. Verfassungsschutzbericht 1991, S. 113. Vgl. Ködderitzsch / Müller, Rechtsextremismus in der DDR, S. 13.

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der Berliner Zionskirche. Am Ende des Konzertes befanden sich noch 300 bis 400 Menschen in der Kirche, als circa 30 Skinheads um sich schlagend und brüllend eindrangen. »Es kam zu brutalen Prügelszenen, die sich bis in die nebenliegenden Straßen ausdehnten. Die Skins warfen mit leeren Flaschen und brüllten Nazisprüche, wie : ›Sieg Heil‹, ›Judenschweine‹, ›Kommunistenschweine‹, ›Diese Sorte müsste man vernichten‹.«21 Dieser Überfall war ein Wendepunkt im Umgang des Staates mit Skinheads und damit in der Entwicklung des ostdeutschen Rechtsextremismus. Einige Randalierer kamen aus Westberlin, woraufhin die Zionsgemeinde bei der Westberliner Staatsanwaltschaft Strafanzeige stellte. Dadurch wurde der Vorfall publik und die DDR konnte ihn nicht verheimlichen, wie bei bisherigen rechtsextremistischen Vorfällen üblich.22 Zwar wurden zunächst lediglich vier Täter zu milden Strafen verurteilt, doch rief dies Proteste der Staatsanwaltschaft und vor allem der »Jungen Welt« hervor. Im Zentralorgan der FDJ setzte sich der Chefredakteur selbst für härtere Strafen ein. Gleichzeitig sah er die ostdeutsche Skinheadszene als Westimport und setzte sie zudem mit der oppositionellen Bürgerbewegung gleich.23 Von diesem Zeitpunkt an ging die Justiz härter gegen Ausschreitungen vor. In den nächsten Jahren häuften sich die Strafverfahren gegen Skinheads.24 Dieses Vorgehen hatte im Wesentlichen zwei Folgen : Erstens nutzten die Verurteilten »das Gefängnis [...] als ›Akademie‹«.25 Hier kamen sie mit Gleichgesinnten der ganzen Republik in Kontakt und konnten dadurch ein Netzwerk aufbauen.26 Zweitens reagierten die Skinheads auf die verstärkte Kontrolle sowohl der Justizorgane wie der Öffentlichkeit. Aufgrund der zunehmenden Verfolgung veränderten viele Skinheads ihr Aussehen. Neben den Skinheads, die ihr Aussehen beibehielten, entstanden nun die »Faschos«. Diese legten die martialische Kleidung (Springerstiefel, Bomberjacken, kahlgeschorene Köpfe ) ab und passten sich damit dem »normalen« Umfeld an. Im Jahr »1988 verschwanden deshalb zunehmend Skinheadgruppen aus dem Straßenbild«.27 Einerseits passten die »Faschos« ihr Äußeres dem Umfeld an, andererseits radikalisierte sich ihre Ideologie :

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Ködderitzsch, Rechtsextremismus in der ehemaligen DDR, S. 26; vgl. ebenso Stöss, Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, S. 64. Vgl. Busche - Baumann, Rechtsextremismus und die Presse, S. 38; Engelbrecht, Rechtsextremismus bei ostdeutschen Jugendlichen, S. 68 f.; Farin / Seidel - Pielen, Skinheads, S. 111 ff.; Menhorn, Portrait einer Subkultur, S. 157 f. Der Artikel findet sich abgedruckt bei Schumann, Glatzen am Alex, S. 49 ff.; vgl. auch Waibel, Rechtsextremismus in der DDR, S. 44 f. Vgl. Ködderitzsch / Müller, Rechtsextremismus in der DDR, S. 16 f.; Korfes, Entwicklung des Rechtsextremismus; S. 55 f.; Menhorn, Portrait einer Subkultur, S. 158 f.; Stöss, Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, S. 64. Stöss, Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, S. 64. Vgl. ebd.; Korfes, Entwicklung des Rechtsextremismus, S. 56 f. Neubacher, Jugend und Rechtsextremismus, S. 34.

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»Deutlicher als die Skins beziehen sich diese ›Faschos‹ [...] ganz klar auf nationalsozialistisches Gedankengut. Ihre Lieblingslektüre wird geheimnisvoll herumgereicht : Hitlers ›Mein Kampf‹.«28 Das härtere Vorgehen der Justizorgane der DDR erreichte damit das Gegenteil ihrer eigentlichen Intention. Der Rechtsextremismus verschwand nicht, er radikalisierte sich vielmehr. Korfes urteilt über die Ideologisierung Ende der 1980er Jahre : »Seit 1988 sind offensichtlich in den Gruppierungen der Naziskins und Faschos alle wesentlichen Elemente eines rechtsextremistischen Weltbildes vorhanden : Ethnozentrismus, Antiliberalismus und Antikommunismus sowie das Leitbild einer deutschen Volksgemeinschaft bei gleichzeitiger Ablehnung eines demokratischen Staatsaufbaus.«29

2. Die Skinheadszene in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit Die Grundlage für eine Darstellung der rechtsextremen Szene auf lokaler Ebene in Hoyerswerda bilden die Akten der Volkspolizei und mehr noch des Ministeriums für Staatssicherheit ( MfS ). Um aber zu Erkenntnissen zu gelangen, ist es unerlässlich, zuvor den Quellenwert der MfS - Akten zu ermitteln. Denn schriftliche Quellen bilden nicht die Wirklichkeit ab. Sie zeigen vielmehr, wie der jeweilige Verfasser die Wirklichkeit wahrnahm. Dies ist selbstverständlich auch bei Behördenakten und besonders bei den Hinterlassenschaften des MfS der Fall. Diese Akten bergen nicht »die geheime Geschichte eines straff organisierten DDR - Rechtsextremismus [...]. Tatsächlich wird in diesen Akten die Wahrnehmung der Anfänge dieser Bewegung in der DDR durch das MfS abgebildet«.30 Insofern sind die Erkenntnisse der Staatssicherheit eine Reaktion auf den entstehenden Rechtsextremismus. Dabei ist eine gewisse Entwicklung in der Wahrnehmung zu erkennen, ohne dass sich die wesentliche Voraussetzung des Blickfeldes des MfS je geändert hätte. Denn bereits seit einer Dienstanweisung von 1966 wurde der Jugend eine verstärkte Aufmerksamkeit von Seiten des MfS zuteil. Damals reagierte das MfS auf die Beatmusik, die bei DDR - Jugendlichen beliebt war. Sie galt in den Augen der Staatssicherheit als westeuropäische Verschwörung von Politik, Geheimdiensten und der Film - und Musikbranche, um die sozialistische Moral der DDR - Jugend zu zersetzen.31 Diese Deutung des MfS einer westlichen Steuerung ostdeutscher Jugendkultur war bis zum Ende der

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Ködderitzsch, Rechtsextremismus in der ehemaligen DDR, S. 27. Vgl. Wagner, Jugend, S. 49 f. und 65. Korfes, Entwicklung des Rechtsextremismus, S. 57. Süß, Wahrnehmung, S. 3. Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., S. 7 ff.

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DDR die essentielle Interpretation der Jugendszenen. Eine realistische Ursachenforschung war aufgrund dieser ideologischen Sichtweise unmöglich.32 Der Staatssicherheit ging es in erster Linie um die Kontrolle konformistischen Verhaltens bzw. um eine kritische Beobachtung, »wenn sich Jugendliche den verordneten Strukturen und Ritualen entzogen und etwas Eigenes, Unreglementiertes versuchten. In welcher Form das geschah, war demgegenüber sekundär«.33 Dadurch konnten subkulturelle Differenzierungen in den MfS - Berichten leicht durcheinander geraten und bspw. Punks mit rechtsextremen Parolen in Verbindung gebracht werden.34 Es stellt sich daher die Frage, ob die Subkulturen Anfang der 1980er Jahre wirklich noch nicht so scharf getrennt waren oder ob dies an dem ideologischen Blick des MfS lag. Zunächst bewertete die Staatssicherheit die Punk - Szene als größere Gefahr.35 Nach dem Überfall auf die Zionskirche 1987 änderte sich der Schwerpunkt. Zwar wurden schon zuvor rechtsextreme Vorfälle registriert, doch wurden sie als »Rowdytum« bezeichnet. Diese Klassifizierung bedeutete eine Verharmlosung der Taten, da sie den ideologischen Hintergrund verschleiert.36 Erst 1987 wurden differenzierte Ermittlungsergebnisse über die Skinheadszene angefordert. Die Mitarbeiter definierten Skinheads lediglich über das äußere Erscheinungsbild (»militante Kleidung«, Röhrenjeans, Bomberjacke, Kurzhaarschnitt, mit Eisen beschlagene Arbeitsschuhe ). Das entspricht zwar dem heutigen landläufigen Bild eines Skinheads, konnte aber in der DDR viel mehr aussagen. Solche Kleidung konnte bspw. einfach aus Prestigegründen ( die Bomberjacke als schwer zu beschaffendes Westprodukt ) oder zur Provokation getragen werden.37 Diese feinen Unterschiede waren aus der ideologisch geprägten Sicht des MfS nicht wahrnehmbar. Auch bei der Einschätzung ihrer vermeintlichen Erfolge erlag die Staatssicherheit ihrer institutionellen und ideologischen Logik. Der verstärkte Druck von Polizei und Öffentlichkeit nach dem Zionskirchenprozess hatte zur Folge, dass sich die Skinheads, wie beschrieben, zurückzogen. Sie legten ihr martialisches Aussehen ab, um unauffälliger zu werden. »Das MfS hat diese Veränderung der Taktik zwar registriert, scheint ihre Bedeutung aber ebenso wenig wie die des Wandels in der Ideologie begriffen zu haben.«38 Vielmehr werteten sie diesen vermeintlichen Rückzug als Erfolg des repressiven Vorgehens. Die Staatssicher-

32 33 34 35 36 37 38

Vgl. ebd., S. 4. Ebd., S. 10. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 14 ff. Vgl. ebd., S. 17 f. Vgl. ebd., S. 19 f. Ebd., S. 27.

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heit war zufrieden, wenn der Rechtsextremismus aus dem Straßenbild verschwand.39 Das MfS war bei der Bewertung rechtsextremer Strukturen und der Skinhead szene in der DDR durch ihre eigenen ideologischen Vorgaben eingeschränkt. Es ging nicht um eine gründliche Ursachenforschung, sondern um den Nachweis, dass eine Steuerung aus dem Westen erfolgte.40 Auch die Interessenlage der Berichterstatter muss beachtet werden. Untergeordnete Dienststellen wollten nicht untätig erscheinen, sondern ihre erhöhte Wachsamkeit beweisen. Umgekehrt mussten sie darauf achten, in ihrem Bereich die Kontrolle wenigstens scheinbar zu wahren. »So findet sich in den Monatsberichten beides, überhöhte Ziffern wie deren beschwichtigende Interpretation.«41 Anweisung von höheren Ebenen an untergeordnete Dienststellen kamen zum einen wegen der langwierigen Informationsverarbeitung oft sehr spät und enthielten zum anderen verschärfte Aussagen, um zu mehr Aufmerksamkeit aufzufordern. Daher müssen die Sender und Empfänger der Meldungen genau beachtet werden.42 Um objektive Aussagen über die Skinheadszene sowie rechtsextreme und fremdenfeindliche Vorfälle in der DDR machen zu können, eignen sich die Akten des MfS nicht. Die Staatssicherheit trug zwar wesentliche Details über solche Ereignisse auf geheimdienstlichem Wege zusammen, aber die Auswahl der Ergebnisse unterlag einer MfS - eigenen Sicht auf systemabweichenden Lebensformen in der DDR. Die Quellen des MfS sind somit in besonderer Weise von einer institutionellen Logik sowie ideologischen Deutung geprägt. Dies muss bei deren Auswertung immer bewusst bleiben. Wie definierte die Staatssicherheit Skinheads und die rechtsextreme Szene ? In einer Einschätzung zur Skinheadszene der Hauptabteilung XX vom Dezember 1987 wird zunächst das äußere Erscheinungsbild betont. Dieses habe sich durch »militante Bekleidung ( Röhrenjeans, Bomberjacken, hohe Arbeitsschuhe ), extrem kurze Haare bzw. Glatze« ausgezeichnet. Als Leitgedanken der Skinheads machte das MfS ein »übersteigertes ›Bewusstsein als Deutsche‹« aus, welches sich mit Fremdenfeindlichkeit, besonders gegen »farbige Ausländer«, verknüpft habe. In Berlin wurde aber auch eine starke Betonung des »Preußentums« festgestellt, die eine Ablehnung gegen Sachsen und Mecklenburger zur Folge hatte.43 Generell habe es eine starke ideologische Differenzierung gegeben. Die Auffassungen

39 40 41 42 43

Vgl. ebd., S. 27 f. Vgl. ebd., S. 46. Ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 48. Zit. nach Einschätzung über die in der DDR existierenden Skinheads bzw. Skinheadgruppen sowie über die Ergebnisse und Wirksamkeit der politisch - operativen Arbeit zur Verhinderung und Unterbindung der von derartigen Jugendlichen ausgehenden Gefährdung der Sicherheit und Ordnung, Berlin, 21.12.1987 ( BStU, MfS, HA IX, Nr. 8819, Bl. 68).

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»reichen von offener Verherrlichung des Faschismus, verbunden mit der Forderung nach KZ, bis zur Ablehnung der Verbrechen des Faschismus. Die Mehrheit der Skinheads verherrlichen nur bestimmte Erscheinungen des Faschismus, wie ›Heldentum der deutschen Soldaten‹ im Zweiten Weltkrieg, deren ›Kraft und Stärke, Leistungsvermögen und Nationalstolz‹ sowie die damals herrschende ›Zucht und Ordnung‹ und sehen dies als bewundernswert und erstrebenswert an.«44 Als »neofaschistische Tendenzen« im öffentlichen Auftritt registrierte die Staatssicherheit die Glorifizierung des »Führers«, das Tragen »faschistischer Symbole und Tätowierungen« sowie »neofaschistische [...], rassistische [...] und revanchistische [...] Äußerungen«.45 Das MfS nahm demnach in der Beurteilung bestimmte Merkmale des Nationalsozialismus ( Führerkult, Nationalismus, Rassismus ) als einen gemeinsamen Nenner der Skinheadszene wahr. Die Vernichtungspolitik des Dritten Reiches sei von den Skinheads unterschiedlich bewertet worden. Ebenso differenziert waren die Einstellungen zur DDR. Sie hätten nach Einschätzung des MfS von der Befürwortung einzelner Bereiche wie sozialer Sicherheit bis hin zur totalen Ablehnung des DDR - Systems gereicht. Als Bedrohung wurden dabei besonders die Forderungen nach einem wiedervereinten Deutschland wahrgenommen. Dies bedeutete für das MfS eine »Ablehnung der DDR Grenzsicherung«.46 Im Vergleich zu anderen jugendlichen Subkulturen wurde die Einstellung zur Arbeit positiv vermerkt. Skinheads hätten eine gute Arbeitsdisziplin als Wesenszug des Deutschtums angesehen. Es wurde aber auch berichtet, dass sie besonders unattraktive und unqualifizierte Tätigkeiten mit Vorliebe ausführten, um dadurch viel Geld zu verdienen.47 Die Skinheads seien in »lose[ n ] Gruppierungen«48 organisiert gewesen. Die einzelnen Gruppen hätten sich vorwiegend in lokalen Gaststätten, Jugendclubs oder zu gemeinsamen Sportaktivitäten getroffen. Letztere dienten der körperlichen Ertüchtigung, um für Prügeleien mit ihren Gegnern vorbereitet zu sein.49 Ausdrücklich wies der Verfasser darauf hin, dass Disco - und Fußballstadien Besuche mit einem hohen Alkoholkonsum einhergingen. Die Folge waren demnach »rowdyhafte [...] Ausschreitungen und neofaschistische [...] Äußerungen«.50 Die Staatssicherheit wertete die provokanten öffentlichen Auftritte, rechtsextreme 44 45 46 47 48 49 50

Ebd., Bl. 69. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd., Bl. 69 f. Bl. 70.

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Äußerungen und gewaltsame Randale als spontane Ausbrüche aufgrund des Alkoholeinflusses. Der Schwerpunkt der Skinheadszene lag nach Ansicht des MfS in Berlin und dem angrenzenden Bezirk Potsdam. Insgesamt will das MfS für das Jahr 1987 circa 800 Skinheads in der gesamten DDR in ungefähr 38 Gruppen registriert haben. In Berlin gab es demnach circa 350 Skinheads, von denen die Staatssicherheit 200 als Sympathisanten einstufte. Sie waren in 11 Gruppen organisiert. Die Staatssicherheit verzeichnete dabei ein rasantes Wachstum im Vergleich zu den Vorjahren : 1985 wurden circa 50 Skinheads gezählt, 1986 circa 80. Hierbei ist aber der bereits oben erwähnte Einwand von Süß zu beachten, dass das MfS erst nach dem Überfall auf die Zionskirche sein Hauptaugenmerk auf diese Szene richtete. Im Bezirk Potsdam wurden circa 120 Personen in fünf Gruppen festgestellt. Für den in dieser Arbeit interessanten Bezirk Cottbus wurden 15 Personen gezählt.51 Ein Bericht aus dem Jahr 1987 versucht den starken Anstieg der Gruppen abzuwerten. Es heißt, die Anzahl der als Skinheads einzuordnenden Personen weise »keine rückläufige Tendenz« auf. Der Anstieg in Berlin und Potsdam sei zwar deutlich, aber überschaubar gewesen.52 Zwar habe es DDR weite Verbindungen der Skinheads gegeben, eine erkennbare Struktur aber noch nicht. Dem MfS fiel auf, dass die Skinheads der einzelnen Bezirke allerdings bestrebt waren, Beziehungen zu Gesinnungsfreunden in der Hauptstadt herzustellen.53 Erste regionale Vernetzungen konnte die Staatssicherheit zu Pfingsten 1987 herausarbeiten. Zu diesem Zeitpunkt fanden zwei überörtliche Treffen.54 Das MfS beobachtete auch die internationalen Kontakte. Vor allem zu Skinheads in Ungarn und der Tschechoslowakei stellte die Behörde Verbindungen fest. Hier fuhr man zu Oi ! - Konzerten und traf auch Skinheads aus westlichen Ländern.55 Die Beziehungen zu westdeutschen Skinheads seien angeblich von den Westdeutschen betrieben worden. Diese Argumentation folgt der Logik, die Entwicklung einer rechtsextremen Skinheadszene sei vom westlichen Ausland gesteuert worden.56 Westdeutsche Skinheads seien in die DDR gereist, um einen Informationsaustausch voranzubringen, Bekleidungsstücke wie Bomberjacken und NS - Literatur einzuführen.57 Ein knappes Jahr nach dem Bericht von 1987 wurde im August 1988 an die Linie IX, d. h. an die Abteilungen IX aller Bezirksverwaltungen, ein Sonderheft

51 52 53 54 55 56 57

Vgl. ebd., Bl. 66 f. Ebd., Bl. 67. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Bl. 68. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Bl. 71. Vgl. ebd., Bl. 72.

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des Ministeriums des Innern versandt.58 Darin wurden die Erkenntnisse der Kriminalpolizei über die jugendlichen Subkulturen zusammengefasst. Zunächst wurde die stabile Lage gerade unter den Jugendlichen der DDR gelobt. Diese sei aber gezielt von westlichen Kreisen bearbeitet worden, um eine Verunsicherung unter den Jugendlichen auszulösen und sie gegen die Politik der SED aufzuhetzen.59 Das zweite Kapitel des Sonderheftes widmet sich der Jugendszene des westlichen Auslandes, besonders der Bundesrepublik. Hier werden die Marktwirtschaft und die bürgerliche Demokratie direkt für die Entwicklung der verschiedenen Jugendkulturen verantwortlich gemacht. So heißt es bereits im ersten Satz : »Die krisenhafte Entwicklung des Imperialismus ruft insbesondere seit 1967/1968 den Protest großer Teile der Bevölkerung, insbesondere unter der Jugend hervor.«60 Kurz werden die 68er - und die Umweltbewegung angesprochen, bevor der Bericht auf den Rechtsextremismus und den »Faschismus« zu sprechen kommt. Der Rechtsextremismus habe sich seit den 1970er Jahren in den westlichen Ländern ausgebreitet. Dabei sei diese Entwicklung, so die Kriminalpolizei, eindeutig durch die Regierung Kohl unterstützt worden : »Diese Entwicklung wird durch die reaktionäre ›Wendepolitik‹ konservativer Regierungen gestützt, die eine Verschärfung aller Widersprüche mit sich bringt. Sie bildet den ideologischen Nährboden antihumanen, antikommunistischen, demokratie und ausländerfeindlichen Denkens und Handelns und macht deutlich, dass der Imperialismus permanent die Gefahr des Faschismus in sich birgt.«61 Es wird deutlich, dass die Kriminalpolizei 1988 nach wie vor die Faschismusdefinition Dimitroffs der 1930er Jahre als Grundlage für ihre Analyse heranzog, der Faschismus als »offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals«62 definierte. Auch kurz vor dem Zerfall des Ostblocks war die Sicht der Ermittlungsbehörden gerade auf rechtsextreme Bewegungen durch ideologische Vorgaben verstellt. So steht der Antikommunismus - Antisowjetismus auch an erster Stelle der ideologischen Wesenszüge, die die Kriminalpolizei festgestellt haben will. Weitere sind militanter Chauvinismus, Ausländerhass und Rassismus.63 Der Rechtsextremismus dieser Jahre habe den Nationalsozialismus relativiert, sei aber gleichzeitig

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63

MDI - Informationen Kriminalpolizei, Sonderheft 1/1988–II, ( BStU, MfS, HA IX, Nr. 8819, Bl. 81 ff.). Im Folgenden zit. als MDI - Informationen. Vgl. ebd., Bl. 83 ff. Ebd., Bl. 86. Ebd., Bl. 87. »Der Faschismus und die Arbeiterklasse. Bericht des Genossen Dimitroff auf dem VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale« (17.8.1935). In : Theo Pirker ( Hg.), Komintern und Faschismus. Dokumente zur Geschichte und Theorie des Faschismus, Stuttgart 1965, S. 187. Zit. nach Backes, Rechtsextremismus; S. 29. Vgl. MDI - Informationen, Bl. 87.

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durch Gewaltakte und Terror aufgefallen.64 Weiter heißt es, rechtsextreme Organisationen hatten gezielt unter Jugendlichen geworben und damit erreicht, dass angeblich 15 Prozent der westdeutschen Jugendlichen solches Gedankengut hegten.65 Die Ausbildung verschiedener Jugendszenen wurde aber nicht nur rechtsextremen Organisationen angelastet. Vielmehr seien es die gesellschaftlichen Umstände und die Förderung verschiedener Lebensmodelle durch »führende Kreise des Imperialismus« gewesen, die letztlich zu Gefühlen der Ohnmacht und Wut unter den Jugendlichen geführt hätten.66 In der Folge stellt der Bericht einzelne Jugendkulturen vor. Neben Punks waren dies auch Skinheads. Sie seien »bisher in der Regel an ihren Symbolen, wie kurz geschnittenes Haar oder rasierter Schädel, hochgekrempelte Jeans, Röhrenhosen, Bomberjacken und Stiefel (z. B. Doc - Martens - Arbeitsschuhe, Springerstiefel ), zu erkennen gewesen. Seit einiger Zeit veränderte sich die Symbolik in Richtung der Neonazis«.67 Die Kriminalpolizei definierte, wie das MfS, Skinheads zunächst über ihr äußeres Erscheinungsbild. Über den Ursprung dieser Szene war die Kriminalpolizei recht einseitig informiert. Zwar wusste sie, dass die Skinhead - Bewegung in England entstanden war, sie habe sich jedoch bereits zu Beginn vorrangig gegen farbige Zuwanderer, Homosexuelle und »Hippies« gerichtet. Die weitere Ausdifferenzierung der Szene wurde darüber hinaus nicht zur Kenntnis genommen. Vielmehr hieß es, dass sich das Feindbild der Gruppen in rechtsradikaler Richtung erweitert habe.68 Skinheads seien per se »Träger neonazistischen Gedankengutes« gewesen.69 »Nationalismus, Rassismus, Antikommunismus, Demokratiefeindlichkeit und Militanz sind Merkmale ihres Denkens, was sich u. a. in faschistischen Ritualen und der Verherrlichung faschistischer Untaten äußert«.70 Aber nicht nur bei Skinheads wollte die Kriminalpolizei rechtsextreme Tendenzen festgestellt haben. Auch unter den Heavy - Metal - Anhängern hätten einige Gruppen solches Gedankengut gehegt71 und sogar für die Mun-Sekte wurden »Antikommunismus und faschistischen Totalitarismus« als Merkmale beobachtet.72 Auch für die DDR stellte die Kriminalpolizei solche Jugendszenen fest, allerdings stünden sie unter dem »Einfluss der politisch - ideologischen Diversion des

64 65 66 67 68 69 70 71 72

Vgl. ebd., Bl. 87 f. Vgl. ebd., Bl. 88. Vgl. ebd., Bl. 88 f. Ebd., Bl. 89. Vgl. ebd., Bl. 89 f. Ebd., Bl. 90. Ebd. Vgl. ebd. Dabei wird die Heavy - Metal - Szene als differenziert wahrgenommen. Es gebe demnach auch anarchistische Tendenzen. Ebd., Bl. 91.

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Klassenfeindes«.73 Diese Szenen wurden ausnahmslos kritisiert, da sie bürgerliche Werte verherrlichten und sich antisozialistisch äußerten.74 Als wichtigste Gruppe unter den jugendlichen Subkulturen in der DDR wurden die Skinheads angesehen. Sie werden als erste Subkultur angeführt und recht ausführlich analysiert. Schon im ersten Satz heißt es : Sie »sind Träger nationalistischen, militaristischen, rassistischen und neonazistischen Gedankengutes«.75 Es wird aber außerdem notiert, dass es inhaltliche Differenzierungen und unterschiedliche Organisationsgrade der einzelnen Skinhead - Gruppierungen gegeben habe. Bevorzugte Aufenthaltsorte seien Gaststätten oder Jugendklubs gewesen. Dort sei es ihnen gelungen, ihre eigene Musik durchzusetzen, sodass sich solche Klubs in regelrechte Szenetreffpunkte verwandelt hätten. Es seien vereinzelt Feiern an solchen Orten als Geburtstagsfeiern getarnt worden. Darüber hinaus habe man sich in Privatwohnungen getroffen.76 Die Kriminalpolizei stellte zudem eine kurze soziologische Untersuchung an. Demnach seien Skinheads überwiegend junge, unverheiratete Personen im Alter bis 25 Jahre gewesen. Das Einstiegsalter verringerte sich aber im Zeitraum der Berichterstattung, sodass bereits Schüler aus achten Klassen den Kontakt zu Skinheads suchten.77 Wenige Jahre zuvor hätten sich Skinheads vor allem aus Fußball - Hooligans rekrutiert, doch seit den Gewalttaten 1987/88 habe sich gezeigt, »dass sie ihr Betätigungsfeld ausgedehnt haben und die faschistische Stoßrichtung ausgeprägt wurde«.78 Dies zeigt, dass die Polizei die politische Motivation der Skinheads vor dem Überfall auf die Zionskirche auch 1988 nicht zur Kenntnis genommen hatte. Gewaltakte mit rechtsextremem Hintergrund vor 1987 wurden schlichtweg verleugnet. Wie in dem oben untersuchten Bericht des MfS von 1987 stellte die Kriminalpolizei Verbindungen einzelner Skinheads zu neonazistischen Organisationen in der Bundesrepublik, z. B. zur »Aktionsfront Nationaler Sozialisten, der Nationalistischen Front« und »Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei«, fest. Diese Verbindungen hätten der Beschaffung von Bekleidungsgegenständen, Literatur und Musik gedient. Persönliche Treffen ( mit westdeutschen und örtlichen Skinheads ) habe es in der ČSSR und in Ungarn gegeben.79 Die einzelnen Gruppen hätten sich im Verlauf ihrer Existenz nach dem Führerprinzip ausgerichtet und sich demnach organisatorisch verfestigt. Sie verfolgten und bestraften »Verräter«. Nach außen schützten sie sich durch ein 73 74 75 76 77 78 79

Ebd. Vgl. ebd. Ebd., Bl. 92. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd., Bl. 93. Vgl. ebd., Bl. 93 f.

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»Alarmsystem«. Offenbar nutzten sie Telefonverbindungen, um sich gegenseitig zu warnen. Als inhaltliches Merkmal hebt die Polizei den Ausländerhass der Skinheads hervor. Besonders gegen Afrikaner und Araber habe sich ihr Hass gerichtet. Daneben wird die Wiedervereinigung genannt. Die Einstellung zur Arbeit sei positiv gewesen und als »deutsche Tugend« gewertet worden.80 Auch die Wandlung von Skinheads zu »Faschos« wird registriert. Diese wird von der Kriminalpolizei ganz richtig als Strategie erkannt. Sie kleideten sich unauffälliger, um »Konfrontationen mit Sicherheitsorganen einzuschränken«.81 Neben den Skinheads erkannte die Polizei lediglich einige lose Heavy - Metal - Gruppen, die in der DDR »Träger von faschistischem Gedankengut« seien.82 Ein letzter Bericht über rechtsextremistische Strukturen in der DDR wurde im Dezember 1989, also nach dem Fall der Berliner Mauer, verfasst.83 Darin werden vorrangig die jüngsten Angriffe gegen Einrichtungen des AfNS84 und Funktionäre der SED durch sehr »nationalistische« und »faschistische« Personen thematisiert.85 Beobachtet wurde weiterhin, dass »nationalistische und faschistische Kräfte versuchen, Demonstrationen zu beherrschen, um Öffentlichkeit, Sympathie und Anhang zu gewinnen«. Die Kriminalpolizei spricht in diesem Zusammenhang von »Polittourismus«.86 Hier wird die tatsächlich vorhandene Strategie rechtsextremer Organisationen aus der Bundesrepublik, die Montagsdemonstration zu beeinflussen, als Gefahr für den Demokratisierungsprozess und die Friedliche Revolution übertrieben. Dies wird deutlich, wenn eine Förderung der »antifaschistische[ n ] Volksbewegung (Aktionseinheit )« gefordert wird, die ein »Fanal des Staates« benötige.87 Die tatsächlichen Werbeversuche der rechtsextremen Szene werden dazu genutzt, den Einfluss des noch bestehenden Staates und des in das AfNS zu retten und in die Demokratiebewegung auszuweiten. Die im Schreiben folgenden Vorschläge dienen demnach einzig dem Zweck, in allen Initiativen das Wissen des AfNS zu nutzen und die Friedliche Revolution in gewünschte Bahnen zu lenken. Eine auch nur annähernd unternommene Differenzierung des Rechtsextremismus in der DDR lässt sich nicht finden. Das Ziel bestand lediglich darin, in der Bevölkerung die Angst vor dem Rechtsextremismus zu instrumentalisieren, um die Existenz des MfS - Nachfolgers AfNS zu rechtfertigen.

80 81 82 83 84 85 86 87

Vgl. ebd., Bl. 94. Ebd., Bl. 95. Ebd., Bl. 98. Vgl. Hauptinspektion, Vorschläge zur Erhaltung der inneren Sicherheit, Berlin, 12. 12. 1989 (BStU, MfS, HA IX, Nr. 748, Bl. 27–32). Im Folgenden zit. als Erhaltung der inneren Sicherheit. Das »Ministerium für Staatssicherheit« wurde in »Amt für Nationale Sicherheit« umbenannt. Vgl. Erhaltung der inneren Sicherheit, Bl. 27. Ebd. Ebd., Bl. 28.

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Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus vor 1991

3. Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Strukturen in Hoyerswerda In den späten 1980er Jahren entwickelte sich in Hoyerswerda eine Skinheadszene mit eindeutig rechtsextremen Einstellungen. Sie verherrlichten den Nationalsozialismus und lehnten Ausländer ab. Gewaltbereite Fremdenfeindlichkeit war aber nicht nur bei der Gruppe der Skinheads zu verzeichnen, sondern auch bei scheinbar »normalen« Jugendlichen. Deutlich wurde dies nach dem Machtverlust der SED und des MfS 1989. Im Zeitraum zwischen dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung häuften sich Angriffe auf Ausländer in der Stadt. Dabei kam es 1990 zu zwei Ausschreitungen mit einer breiten öffentlichen Beteiligung. Die Entwicklung der gewaltbereiten Fremdenfeindlichkeit im Vorfeld der Ausschreitungen 1991 zerfällt somit in zwei Phasen : Die erste Phase ist geprägt durch die Herausbildung rechtsextremer Skinheadgruppen in den späten 1980er Jahren und vereinzelten fremdenfeindlichen Vorkommnissen. Aufgrund der Allgegenwart der Staatssicherheit bekundeten in dieser Zeit nur wenige Personen offen ihre fremdenfeindliche Einstellung. In der zweiten Phase nach dem Machtverlust des Herrschaftsapparates der SED zeigten mehr und mehr Menschen offen Fremdenfeindlichkeit. Zwar gingen beide Phasen fließend ineinander über, doch sollen sie im Folgenden mit dem symbolischen Datum des 9. November 1989 getrennt behandelt werden. 3.1 Fremdenfeindliche Auseinandersetzungen und die Entwicklung einer Skinheadszene in Hoyerswerda

In den Berichten des MfS ist erst für das Jahr 1986 ein NS - affines Vorkommnis belegt. Das heißt nicht zwangsläufig, dass es solche Ereignisse zuvor nicht gegeben hatte. Diese könnten von der Staatssicherheit entweder nicht beachtet oder als »Rowdytum« verschleiert worden sein. Am Abend des 14. Oktobers 1986 betraten zwei junge Personen die Gaststätte »Kosmos« in Hoyerswerda. Die Person Pm288 war 21 Jahre alt, Jm2 erst 14 Jahre. Beide stammten aus Hoyerswerda. Das besondere an ihrem Auftritt war ihre Kleidung : »Sie trugen Kleidung in der Art faschistischer Uniformen. [ Pm2] war völlig schwarz bekleidet mit Hose, Hemd mit Kragenspiegeln, Schulterriemen und Stiefeln. [ Jm2] trug eine helle Hose, ein braunes Hemd mit schwarzen 88

Aus Datenschutzgründen hat die BStU die Klarnamen pseudonymisiert. Das Pseudonym besteht im Idealfall aus zwei Buchstaben und einer Zahl. Mit dem ersten Buchstaben wird ausgedrückt, ob die / der Beteiligte zum betreffenden Zeitpunkt volljährig ( dafür steht ein P ) oder jünger als 18 Jahre alt ( ausgedrückt mit J ) war. Der zweite Buchstabe gibt Auskunft über das Geschlecht ( m=männlich, w=weiblich ). Ein ? bedeutet, dass für die entsprechende Angabe keine Information gefunden wurden. Die Zahl ist eine von der BStU willkürlich vergebene Nummer, um die Personen unterscheiden zu können.

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Kragenspiegeln sowie einen Schulterriemen und sogenannte Sprungerstiefel [sic!] in schwarzer Farbe. Außerdem hatte er sein schwarzes Haar nach dem Vorbild Hitlers frisiert.«89 Die beiden waren aber nicht nur in dieser Art gekleidet, sondern hoben auch den Arm zum »Hitlergruß« und grüßten mit den entsprechenden Worten. Sie sprachen sich einander als »Sturmbannführer« und »HJ - Führer«90 an und äußerten, »sie fühlten sich ›wie in alten Zeiten‹«.91 Laut Staatssicherheit wollten beide Jugendliche als Neonazis identifiziert werden. Etwaige strafrechtliche Konsequenzen fürchteten sie nicht.92 Die Uniformierten führten sich somit bewusst NS- verherrlichend auf. Ihnen waren die Folgen gleichgültig, sie nahmen sie sogar in Kauf. Ihre ideologische Einstellung war ihnen wichtiger als die staatliche Verfolgung. Bemerkenswert ist, dass dieses Verhalten von den übrigen Gaststättengästen und dem Betreiber scheinbar völlig desinteressiert beobachtet wurde. Das MfS registrierte eine widerspruchslose Duldung der beiden Jugendlichen durch die Gäste.93 Einen weiteren Hinweis auf eine rechtsextreme Szene in Hoyerswerda erhielt die Staatssicherheit im Jahr 1987. Durch den Einsatz von Inoffiziellen Mitarbeitern ( IM ) in einer NVA - Kaserne in Spremberg ( Kreis Spremberg ) wurde der Soldat Pm30 bekannt.94 Dieser fiel nicht nur wegen Alkoholismus und Disziplinarverstößen auf, sondern ebenso wegen seiner Nähe zu »neofaschistischen Gruppierungen in der BRD« wie »Nazirockern« und »Skinheads«. In Anlehnung an diese Szene trug er einen kurzen Haarschnitt. Er bezeichnete sich als »wahren Deutschen«, da er »blond und blauäugig« war. Nachdem er im Fernsehen eine Dokumentation über den Nationalsozialismus gesehen habe, schwärmte er vor seinen Kameraden für diese Bilder und bedauerte, »dass es Adolf leider nicht geschafft hat, die deutsche Rasse zur Weltherrschaft zu führen«.95 Gegenüber dem GMS96 »Jan Siegel« behauptete Pm30, in Hoyerswerda Kontakt zu Gleich-

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90 91 92 93

94 95 96

Information über die Verherrlichung des Faschismus durch Jugendliche und Jungerwachsene aus Hoyerswerda und Cottbus, Cottbus, 21. 10. 1986 ( BStU, MfS, BV Cottbus, AKG, Nr. 892, Bl. 7). Vgl. ebd., Bl. 7 f. Ebd., Bl. 8. Vgl. ebd. Vgl. Einschätzung über die im Verantwortungsbereich existierenden Skinheads bzw. Skinheadgruppen sowie über die Ergebnisse und Wirksamkeit der politisch - operativen Arbeit zur Verhinderung und Unterbindung der von derartigen Jugendlichen ausgehenden Gefährdungen der Sicherheit und Ordnung, Cottbus, 28. 11. 1987 ( BStU, MfS, BV Cottbus, Abt. XX, Nr. 6046, Bl. 157). Sachstandsbericht zur KK - Erfassung, Spremberg, 15. 2. 1987 ( BStU, MfS, BV Cottbus, HA I, AOP – archivierter operativer Vorgang, Nr. 1779/88, Band 1, Bl. 47 ff.). Zit. nach ebd., Bl. 48. GMS : Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit.

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gesinnten zu haben.97 Einem weiteren IM, dem IMS98 »John«, erklärte er hingegen, »seine Masche wäre, überall mitzumachen, ohne dazuzugehören«. In Hoyerswerda habe er einige Jahre zuvor Anschluss an einer »Motorradclique« gesucht, ohne jedoch ein festes Mitglied geworden zu sein. In seiner Privatwohnung hatte er eine Ecke mit nationalsozialistischen Devotionalien eingerichtet. Dem IMS »John« fiel bei einem Besuch ein Buch zur »Rassenkunde« auf.99 Aufgrund dieser Erkenntnisse führte das MfS ein »Vorbeugungsgespräch« mit Pm30, um ihm auf die strafrechtlichen Konsequenzen seiner Äußerungen aufmerksam zu machen. Durch dieses Gespräch wurde Pm30 eingeschüchtert. Nach anfänglichem Zögern bekannte er sich zum Skinhead - Kult, doch allein wegen des Kleidungsstils. Gegenüber dem MfS - Mitarbeiter distanzierte er sich von dem Weltbild der Skinheads. Es sei nicht seine Absicht gewesen, »den Faschismus zu verherrlichen«.100 In Folge des Gespräches verhielt sich der Vorgewarnte zurückhaltender. Er habe zwar bekannt, sich nach wie vor als Skinhead zu identifizieren, jedoch sei er nicht mehr öffentlich mit seiner Einstellung aufgetreten.101 Ein Strafverfahren gegen ihn wurde nicht eingeleitet, sein operativer Vorgang nach Beendigung seines Wehrdienstes aber der Kreisdienststelle Hoyerswerda übergeben. Er sollte weiterhin von IM beobachtet werden.102 Dadurch wurde 1988 bekannt, dass er sich immer noch »mit dem faschistischen Wortschatz identifiziert«.103 Aufgrund dieser Erkenntnisse wurde mit Pm30 ein zweites »Vorbeugungsgespräch« geführt, bei dem er sich wiederum von der Einstellung der Skinheads und der Verherrlichung des Nationalsozialismus distanzierte. Das MfS schätzte ihn schließlich wegen seiner Schüchternheit als Mitläufer ein. Da sie von einer weiteren Beobachtung seiner Person keine »operativ relevanten Hinweise« erwartete, wurde sein Operativvorgang 1988 beendet.104 Da Pm30 jedoch während seiner Dienstzeit mit Kontakten zu Gleichgesinnten in Hoyerswerda prahlte, versuchte das MfS, mehr Informationen über diese zu ermitteln. Es stellte sich heraus, dass es tatsächlich »seit mehreren Jahren« Hinweise über 97 Vgl. Tonbandbericht des GMS »Jan Siegel«, Spremberg, 3.2.1987 ( BStU, MfS, BV Cottbus, HA I, AOP – archivierter operativer Vorgang, Nr. 1779/88, Band 1, Bl. 45). 98 IMS : Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung und Durchdringung eines Verantwortungsbereiches. 99 Tonbandbericht des IMS »John«, Spremberg, 1. 3. 1987 ( BStU, MfS, BV Cottbus, HA I, AOP – archivierter operativer Vorgang, Nr. 1779/88, Band 1, Bl. 57). 100 Bericht über das durchgeführte Vorbeugungsgespräch mit dem Soldaten Pm30, Spremberg, 3.3.1987 (ebd., Bl. 64 ff., Zitat Bl. 65). 101 Vgl. HA I / MB III, Unterabteilung 7. PD an BVfS Abt. IX Cottbus, Dresden, 13.4.1987, ( ebd., Bl. 130). 102 Vgl. Bericht zur Übergabe des OV N.N., Dresden, o. D. (1987), ( ebd., Bl. 173 ff.). 103 Berichtauswertung Information IMS »John« HA I vom 18.2.88, Hoyerswerda, 23.3.1988 ( ebd., Bl. 185). 104 Vgl. Abschlußbericht zum Operativvorgang »Dolch«, Hoyerswerda, 18.7.1988 ( ebd., Bl. 200 ff., Zitat Bl. 202).

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Jugendliche mit »neofaschistischen Charakter« in Hoyerswerda gegeben hatte. 1986 wurden gegen zwei Personen Ermittlungsverfahren eingeleitet. Doch genauere Informationen lassen sich aus den Berichten im Zusammenhang mit Pm30 nicht entnehmen.105 Informativer sind stattdessen die Erkenntnisse der Volkspolizei, die 1987 eine Reihe von Delikten mit rechtsextremem Hintergrund registrierte; jedoch fanden diese keinen Eingang in die Berichte der Staatssicherheit. So wurden beispielsweise am 15. April Bürger von zwei Unbekannten in der Nähe des Busbahnhofes beschimpft. Es seien Worte wie »Jude« und NS - Äußerungen gefallen. Beispiele für letztere werden nicht erwähnt, die Bewertung der Äußerungen als NS - affin kann demnach nicht überprüft werden.106 In der Nacht vom 19. auf den 20. Juni wurden mehrere Jugendliche am Ehrenhain, einer Gedenkstätte für die beim Kampf um Hoyerswerdas 1945 gefallenen sowjetischen Soldaten, angetroffen. Dort hätten die Jugendlichen das Deutschlandlied gesungen.107 Die Personen Sven K. und Thomas M. wurden in der Nacht vom 5. auf den 6. November wegen Singens des Deutschlandliedes sowie eines Liedes mit der Textzeile »Haut die Bullen die Schädeldecke ein« festgenommen.108 Daneben wurden wiederholt NSverherrlichende Schmierereien entdeckt : am 6. September ein Judenstern, ein Hakenkreuz und die Forderung »Juden raus« auf der Toilette der Gaststätte »Wassermann«,109 eine acht mal acht Zentimeter große Hakenkreuzschmiererei am Busbahnhof im WK IX, darunter die Worte »Hitler lebt«110 und am 6. Dezember wurden an der zehnten Oberschule im WK VI ein Hakenkreuz, ein undeutliches Symbol sowie das Wort »Deutschland« entdeckt. Der Abschnittsbevollmächtigte war der Ansicht, Kinder könnten die Schmierereien wegen der Höhe nicht angebracht haben, eine spätere Begutachtung wollte eine Tat von Kindern jedoch nicht ausschließen. Letztlich wurden die Schmierereien entfernt und das MfS verständigt.111 Diese wenigen Eintragungen aus den spärlichen Quellen des Volkspolizeikreisamtes Hoyerswerda zeigen, dass Antisemitismus und Affinitäten zum Nationalsozialismus vorhanden waren. Leider sind solche Einträge nur für das Jahr 1987 überliefert. Eine Analyse, die einen längeren Zeitraum erfasst und Aufschluss über Häufigkeit und eine eventuelle Radikalisierung gibt, ist daher nicht möglich. 105 Vgl. Aktenvermerk über die Absprache mit Gen. Körner ( stellv. Leiter KD Hoyerswerda ) durch unterzeichnenden op. Mitarbeiter vom 12.3.87, Spremberg, 12.3.1987 ( ebd., Bl. 80). 106 Vgl. Lagefilm vom 15. 4. 1987 7 Uhr bis 16. 4. 1987 7 Uhr, Tonband 24, Eintrag 1025 ( BLHA Potsdam, Rep. 872/17.1 VPKA Hoyerswerda, Nr. 288, unpag. ). 107 Vgl. Lagefilm vom 19.6.1987 7 Uhr bis 20.6.1987 7 Uhr, Tonband 22–26, Eintrag 2223 ( ebd.). 108 Vgl. Lagefilm vom 6.11.1987 7 Uhr bis 7.11.1987 7 Uhr, ohne Tonbandnr., Eintrag 3926 ( ebd., Nr. 289, unpag. ). 109 Vgl. Lagefilm vom 6.9.1987 7 Uhr bis 7.9.1987 7 Uhr, ohne Tonbandnr., Eintrag 3569 ( ebd.). 110 Lagefilm vom 13.10.1987 7 Uhr bis 14.10.1987 7 Uhr, ohne Tonbandnr., Eintrag 3060 ( ebd.). 111 Vgl. Lagefilm vom 6.12.1987 7 Uhr bis 7.12.1987 7 Uhr, ohne Tonbandnr., Eintrag 3823 ( ebd.).

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Im Mai 1988 stellte die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit fest, dass im Bezirk Cottbus »der Anfall politisch - operativ relevanter Sachverhalte durch Jugendliche nach einer relativen Stabilisierung der Lage in den Jahren 1985, 1986 bis 1987 hinein, etwa ab Herbst 1987 im Ansteigen begriffen«112 war. Mit der Bezeichnung »politisch - operative Sachverhalte« wurden nicht nur Delikte von rechtsextremen Jugendlichen bzw. Skinheads erfasst, sondern all jene, die von der Norm abwichen. Dabei ging der Trend, so das MfS, zu Aktionen mit politischem Hintergrund. Diese waren aber sehr unterschiedlich und umfassten die Diskriminierung von Ausländern, die »Identifizierung mit den bekannten Berliner Vorgängen«,113 die Mitarbeit in kirchlichen Gruppen sowie die Solidarität mit Übersiedlern und Forderungen nach dem Wegfall der Berliner Mauer.114 Im Monat März 1988 zählte das MfS im Bezirk Cottbus 25 namentlich bekannte Skinheads und 27 Heavy - Metal - Fans.115 Im Berichtzeitraum Januar bis Mai 1988 wurden hingegen 32 bekannte Skinheads und 31 Heavy - Metal - Anhänger erfasst.116 Die Zuordnung erfolgte hierbei »aufgrund ihres Äußeren bzw. ihrer Verhaltensweisen sowie im Zusammenhang mit negativen und rowdyhaften Aktivitäten«.117 Die Staatssicherheit zählte also in dieser Statistik nur solche Jugendliche zu den Skinheads, die erstens durch Störungen oder Protestverhalten auffielen und zweitens durch ein entsprechendes Äußeres als solche zu erkennen waren. Es muss daher eine höhere Dunkelziffer von Jugendlichen angenommen werden, die auf ein kenntliches Äußeres verzichteten, dennoch rechtsextremes und / oder fremdenfeindliches Gedankengut hegten. Die Bezirksverwaltung vermutete ebenfalls eine höhere Zahl von Sympathisanten, die aber namentlich nicht bekannt waren und daher nicht gezählt wurden.118 Zudem waren die Mitarbeiter offensichtlich mit der Differenzierung der jugendlichen Kulturen überfordert, klagten sie doch über äußere Merkmale, die sich keiner bestimmten Richtung zuordnen ließen. Sie wurden als vorübergehende »Modeerscheinungen« erklärt.119 Hier wird erneut die Problematik der Zuordnung sichtbar : Für die Staatssicherheit waren Skinheads einzig an ihren kahlgeschorenen Köpfen und

112 Berichterstattung über Entwicklungstendenzen unter negativ - dekadenten Jugendlichen sowie die Wirksamkeit politisch - operativer Maßnahmen zur Zurückdrängung – Zeitraum 1. 1. 1988 bis 20.5.1988, Cottbus, 20.5.1988 ( BStU, MfS, BV Cottbus, HA XX / AKG, Nr. 5940, Bl. 28). Im Folgenden zit. als Berichterstattung Zeitraum. 113 Ebd., Bl. 29. 114 Vgl. ebd., Bl. 28 f. 115 Monatliche Berichterstattung über Entwicklungstendenzen unter negativ - dekadenten Jugendlichen sowie die Wirksamkeit politisch - operativer Maßnahmen zur Zurückdrängung – Monat März, Cottbus, 30.3.1988 ( ebd., Bl. 1). Im Folgenden zit. als Monatlicher Bericht März. 116 Vgl. Berichterstattung Zeitraum, Bl. 30. 117 Monatlicher Bericht März, Bl. 1. 118 Vgl. ebd. 119 Vgl. ebd. und Berichterstattung Zeitraum, Bl. 30.

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Bomberjacken erkennbar. Die einzelnen Mitarbeiter waren über die subtilen Symbole und Denkweisen dieser Szene nicht ausreichend informiert. Der Großteil der vom MfS gezählten Skinheads wohnte in der Bezirksstadt Cottbus (22), in Hoyerswerda waren zwei Personen bekannt. Hingegen gab es in der Kreisstadt 11 Heavy - Metal - Anhänger, in Cottbus 10.120 In Hoyerswerda wurden als bevorzugte Treffpunkte der angeblich »negativ - dekadenten Jugendlichen« der Jugendclub »Nicolai Ostrowski« und die Gaststätten »Kastanienhof« sowie »Am Adler« ermittelt. Das letztgenannte Lokal sei durch häufige Tumulte und Alkoholexzesse aufgefallen.121 Im Jugendclub trafen sich Jugendliche mit »nazistischen Körpertätowierungen« und Haftentlassene.122 Darüber hinaus fuhren die Jugendlichen auch gern zu Diskoveranstaltungen über die Kreisgrenzen hinaus.123 Für das zweite Halbjahr 1987 wurde eine Eskalation der »öffentlich [...] negative[ n ] Wirkung von Skinheads«124 notiert. Daraufhin reagierte die Staatsmacht und führte Ermittlungsverfahren gegen acht Skinheads in Cottbus im Dezember 1987 und Januar 1988 durch.125 Diese Jugendlichen wurden als »harter Kern« der Cottbusser Szene identifiziert. Die Staatssicherheit behauptete im Folgenden, die Ermittlungen hätten die übrigen Anhänger verunsichert. Im Bericht des Monats Mai 1988 heißt es noch selbstbewusst, die Skinheadgruppe sei »zersetzt«.126 In der im Mai 1988 verfassten Zusammenfassung wird vorsichtiger argumentiert : Die Jugendlichen hätten sich in der Öffentlichkeit lediglich mehr zurückgehalten. Eine ständige Kontrolle sei weiterhin vonnöten, um ein erneutes Aufleben zu verhindern.127 Die Bezirksleitung der FDJ bildete eine Jugendarbeitsgruppe, um »negativ - dekadente Jugendliche« zu beeinflussen. Darüber hinaus wurde der IM- Einsatz zur Vorbeugung von öffentlichen Auftritten solcher Jugendlicher verstärkt.128 Im Juni - Bericht 1988 notierte die Bezirksverwaltung einerseits, dass sich die Anzahl der im Vormonatsbericht angegebenen Skinheads nicht verändert habe.129 Andererseits wurden durch die Ermittlungen gegen die acht Skinheads 60 weitere Personen namentlich bekannt, die als Verbindungspersonen, Sympa120 121 122 123 124 125 126 127 128 129

Vgl. Monatlicher Bericht März, Bl. 1. Vgl. ebd., Bl. 2. Ebd. Der Kastanienhof war der Treffpunkt für Heavy - Metal - Fans. Vgl. ebd. Berichterstattung Zeitraum, Bl. 30. Vgl. ebd. Vgl. Monatlicher Bericht März, Bl. 4. Vgl. Berichterstattung Zeitraum, Bl. 30. Vgl. ebd., Bl. 4 f. Vgl. Berichterstattung über Entwicklungstendenzen unter negativ - dekadenten Jugendlichen sowie die Wirksamkeit der politisch - operativen Maßnahmen zur Zurückdrängung – Monat Juni 1988, Cottbus, 27.6.1988 ( ebd., Bl. 35). Im Folgenden zit. als Monatsbericht Juni.

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thisanten, Anhänger, Mitläufer, ehemalige Skinheads und als Umfeld von Skinheads klassifiziert wurden. Neue Erkenntnisse über Aktivitäten von Skinheads gab es hingegen nicht. Der Schwerpunkt der bekannt gewordenen Jugendlichen lag in Cottbus (50 Personen ), in Hoyerswerda wohnten fünf Personen.130 Der Bericht nimmt aber auch kritisch Stellung zu den Folgen der DDR - Deutschlandpolitik. Im Zuge erleichterter Zollbestimmungen habe die Einfuhr von Literatur und Musik stark zugenommen, sodass sich der westliche Einfluss auf die ostdeutsche Jugend verstärkt habe. Allerdings wird hier nicht auf rechtsextreme Literatur Bezug genommen, sondern es werden Jugendzeitschriften, die die Mode - , Filmund Musikszene thematisieren, erwähnt.131 Diese seien dennoch gefährlich gewesen, förderten sie doch eine prowestliche Haltung, die Herausbildung von »sozialismusfremde[ r ] bis hin zu negativ - dekadente[ r ] Verhaltensweisen« und hätten zu »feindlich - negativen Aktivitäten, nach dem Vorbild westlicher Gruppen und Erscheinungen, [...] wie es sich bei den Punks, Skinheads usw. zeigt« angeleitet.132 Diese Einschätzung, wonach das Studium von Jugendmagazinen eine Gefahr für den Sozialismus berge, zeigt erneut die ideologische Sichtweise des MfS auf die Subkulturen. Die gesamte sich an westlichen Subkulturen orientierende Jugend wurde als Gefahr für den Sozialismus wahrgenommen. Die Skinheads waren in dieser Sicht nur eine Gruppierung von vielen, wenn auch die auffälligste. In den Akten der Staatssicherheit wurden auch einige Kopien von Berichten der Volkspolizei über normabweichende Jugendliche abgeheftet. Aufschlussreich ist ein Bericht der Kreisdienststelle Hoyerswerda vom 31. Januar 1989. Darin werden die im Kreis aktuellen und am häufigsten verbreiteten Moderichtungen unter Jugendlichen erörtert.133 Als wichtigste Gruppen galten die Punker und Heavy - Metals. Die Popper hätten einen geringeren zahlenmäßigen Umfang gehabt. Skinheads sind in diesem Kurzbericht nicht erwähnt.134 Entweder wurden diese von der Kriminalpolizei nicht als Moderichtung bewertet, oder ihre Zahl war im Kreis Anfang 1989 nicht nennenswert. Der Monatsbericht März des Jahres vermerkte lediglich, dass es »keine Informationen über zahlenmäßige Veränderungen unter Skinheads und anderen negativ - dekadenten Jugendlichen«135 gab. Die Kreisdienststelle Hoyerswerda des 130 131 132 133

Vgl. ebd. Vgl. ebd., Bl. 39. Ebd. Vgl. Bericht über neue Mode - u. Erscheinungsformen in der allgemeinen Jugendszene, speziell im Kreis Hoyerswerda, Hoyerswerda, 31.1.1989 ( BStU, MfS, BV Cottbus, KD Hoyerswerda, Nr. 4189, Bl. 9). 134 Vgl. ebd. 135 Anlage. Berichterstattung über Entwicklungstendenzen unter negativ - dekadenten Jugendlichen sowie die Wirksamkeit der politisch - operativen Maßnahmen – Monat März 1989, Cottbus, 27.3.1989 ( BStU, MfS, HA XX / AKG, Nr. 5940, Bl. 55).

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MfS hatte die operative Personenkontrolle ( OPK ) »Spinner« eingeleitet. Ihre männliche Zielperson, von der BStU als Jm14 pseudonymisiert, wurde als negativ - dekadent bewertet, denn »sein Auftreten entspricht nicht den Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens«.136 Ein Jahr zuvor habe er versucht, rechtsextreme Literatur aus Polen einzuführen. Das MfS kategorisierte ihn als Sympathisanten der Skinheads.137 Unter Punkt 5 des Berichtes (»Vorkommnisse mit Skinheads und anderen negativ - dekadenten Jugendlichen«138) wurde sehr detailliert von einer Schmiererei in Hoyerswerda berichtet. In der Nacht vom 18. auf den 19. März wurde auf ein Fahrzeug ein Hakenkreuz in der Größe 40 x 40 Zentimeter und der Text : »A. Hitler, Skinheads«139 geschmiert. Weitere Hakenkreuze der Größe 60 x 60 Zentimeter wurden auf einer Schaufensterscheibe und einem Hausgiebel hinterlassen. Alle drei Schmierereien hatten die gleiche Farbe, sodass von einer einheitlichen Täterschaft ausgegangen wurde. Es wurden vier Verdächtige ermittelt. Einer von ihnen, Jm17, nahm an den Ausschreitungen im September 1991 teil. Im Jahr 1989 waren die vier Jugendlichen Schüler einer zehnten Klasse.140 Eine weitere Schmiererei im Monat März fand keinen Eingang in diesen Bericht. Bereits am 8. März wurde auf einem Fußweg im WK VIII eine 1 x 0,5 Meter große SS - Rune entdeckt. Erste Untersuchungen ergaben, dass diese Tat wahrscheinlich nicht unter Alkoholeinfluss durchgeführt wurde.141 Dieser Hinweis erschien dem Berichterstatter offenbar besonders wichtig. Hinweise auf die Täter konnten nicht ermittelt werden.142 Es bleibt festzuhalten, dass im Frühjahr 1989 einige NS - verherrlichende Schmierereien in Hoyerswerda angebracht wurden. Im April 1989 wurden mehrere Auseinandersetzungen mit Ausländern im Kreis Hoyerswerda registriert. Am 8. April kam es gegen 23 Uhr zu einer Schlägerei zwischen deutschen und vietnamesischen Diskobesuchern in Litschen. Die Feier in der örtlichen Gaststätte wurde von circa 190 Personen besucht. Zunächst verlief sie friedlich. Gegen 22 Uhr kamen sechs Vietnamesen hinzu, wovon zwei die Gaststätte betraten. Vor dem Eingang begann indes ein Streit zwischen je zwei Vietnamesen und Deutschen. In diese Auseinandersetzung mischte sich Jm16 »grundlos« ein und beschimpfte die Vietnamesen mit den Worten : »Arschlöcher,

136 137 138 139 140 141

Ebd., Bl. 56. Vgl. ebd. Ebd., Bl. 56. Ebd. Vgl. ebd., Bl. 56 f. Vgl. Bericht zum Sachverhalt, Hoyerswerda, 8. 3. 1989 ( BStU, MfS, BV Cottbus, KD Hoyerswerda, Nr. 4189, Bl. 10). 142 Vgl. ebd.

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jämmerliche Schweine, Idioten, ihr verfluchten Fidschis«.143 Einer der Beleidigten verlor daraufhin die Fassung und schlug Jm16 einen Motoradhelm auf den Kopf, woraufhin dieser den angreifenden Vietnamesen schlug. Verletzungen erlitt keiner von beiden. Wenig später kam der Vietnamese A8 aus der Diskothek. Noch im Eingangsbereich wurde er von einem Unbekannten angegriffen und erhielt »grundlos drei Faustschläge ins Gesicht, wodurch er zu Boden fiel. Am Boden liegend erhielt er noch einen Fußtritt in die Nierengegend«.144 Durch dieses brutale Vorgehen erlitt das Opfer eine aufgeplatzte Lippe und ein Hämatom an der Stirn und blieb bewusstlos liegen. Die anderen Vietnamesen hielten ihn für tot und liefen, «in Befürchtung weiterer Tätlichkeiten«, in die Unterkunft der vietnamesischen Arbeiter im nahen Lohsa.145 Nun eskalierte die Situation. 15 bis 20 Vietnamesen kamen aus dem Wohnheim zur Gaststätte. Dabei hatten sich fünf von ihnen mit Holzlatten bewaffnet. Ihnen standen 50 bis 60 DDR - Bürger vor der Gaststätte gegenüber. Die Vietnamesen stellten zwar fest, dass ihr Freund A8 wieder stand. Dennoch entbrannte ein Streit zwischen ihnen und einigen Deutschen. Währenddessen hatten sich ebenfalls fünf Deutsche mit Zaunlatten bewaffnet. In der Folge versuchten einige Personen beider Parteien, sich mit den Latten zu schlagen. Die Volkspolizei wertete das nicht als Tätlichkeit, »da niemand getroffen und auch nicht verletzt worden ist. Die diesbezüglich geführten Ermittlungen erbrachten dass beide beteiligte Personengruppen spontan handelten.«146 Nach diesen Auseinandersetzungen kehrten die Vietnamesen in ihre Unterkünfte zurück. Doch Ruhe kehrte nicht ein. Nach ungefähr einer halben Stunde warfen Unbekannte Steine in zwei Fenster im Erdgeschoss des Wohnheimes.147 Auf dem Weg zum Bahnhof Lohsa randalierten Jugendliche aus Hoyerswerda und Lohsa. Sie beschädigten ein Bushäuschen, rissen Verkehrsschilder herunter und warfen Straßenbegrenzungen um.148 Es scheint sich um eine in DDR - Diskotheken »typische« Streitigkeit gehandelt zu haben : Ausgelassene, aber friedlich feiernde Deutsche wurden spontan aggressiv, als ausländische Diskobesucher mitfeiern wollten. Diese wurden grundlos angepöbelt, beleidigt und angegriffen. Die deutschen Jugendlichen wollten »ihre« Disko verteidigen. Der Streit eskalierte und es kam zu einer Prügelei, bei der die 143 Fernschreiben VPKA Hoyerswerda an BDVP Cottbus, betr. 1. Ergänzungsmeldung zum fs nr. 133 vom 13. 4. 89. Vorkommnis mit Ausländern im Kreis Hoyerswerda, 14. 4. 1989 ( ebd., Bl. 13). 144 Ebd. 145 Ebd. 146 Ebd., Bl. 13 f. 147 Vgl. ebd., Bl. 14. 148 Vgl. VPKA Hoyerswerda – Kriminalpolizei, Ermittlungsbericht zum Vorkommnis während der Jugendtanzveranstaltung am 8. 4. 89 gegen 23.00 Uhr in und vor der Gaststätte »Marko« in Litschen zwischen Jungerwachsenen DDR - Bürgern und vietnamesischen Bürgern des StFWB Wohnlagen Lohsa, Hoyerswerda, 13. 4. 1989 ( BStU, MfS, BV Cottbus, KD Hoyerswerda, Nr. 4183, Bl. 10).

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Ausländer zahlenmäßig unterlegen waren und flohen. Besonders dramatisch an diesem Fall war die Bewaffnung mit Holzlatten. Dadurch hätten die Auseinandersetzungen durchaus mit schweren Verletzungen enden können. Der Vorfall zeigt, wie tief die Gräben zwischen deutschen und ausländischen Jugendlichen Ende der 1980er Jahre in der DDR waren. Die Vertragsarbeiter suchten gesellschaftliche Teilhabe und Kontakt zu Einheimischen. Doch ihre Versuche wurden schroff abgelehnt. Einige deutsche Jugendliche wollten keine ausländischen Gäste in »ihren« Diskotheken. Der Vorfall zeigt, mit welcher Vehemenz Ausländer ausgegrenzt wurden. Wie reagierten die politischen Verantwortlichen auf diese Eskalation ? Der Bürgermeister von Lohsa gab an, die Bewohner von Lohsa und Litschen seien »sehr beunruhigt« und forderten »eine Klärung durch die staatlichen Organe und Bestrafung der Täter«.149 Der Bürgermeister selbst machte sich mehr Sorgen um die Durchführung der Kommunalwahlen einen Monat später. Die Bürgermeisterin von Litschen gab die Schuld für die Eskalation dem Gaststättenbetreiber. Er habe übermäßig Alkohol ausgegeben. Zudem sei das Lokal in einem äußerst schlechten Zustand gewesen. Sie befürwortete die Prüfung eines Verbotes von »Jugendtanzveranstaltungen« an diesem Ort. Der Gaststättenleiter indes wollte allen Vietnamesen den Zutritt zu seinem Lokal verbieten. Ebenso versuchte er bei den Behörden hartnäckig, eine erneute Zulassung zur Durchführung einer Feier zu erwirken. Zunächst beantragte er eine Jugendtanzveranstaltung. Als diese abgelehnt wurde, eine Familientanzveranstaltung.150 Eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Ursachen der Prügelei fand demnach nicht statt. Ein Gespräch mit den Vietnamesen wurde anscheinend nicht gesucht, eine Aussöhnung beider Gruppen nicht ins Auge gefasst. Den Verantwortlichen ging es einzig darum, den Vorfall recht schnell ad acta zu legen und zur Tagesordnung überzugehen. Wenige Tage später, am 15. April, wurde ein weiteres Vorkommnis registriert. An diesem Abend besuchten zwei Mosambikaner die Diskothek der Gaststätte »Pötschick« in Schwarzkollm, einem Dorf bei Hoyerswerda. Gegen 23.45 Uhr wollten sie nach ihren Fahrrädern sehen, die sie vor der Gaststätte angeschlossen hatten. Sie stellten fest, dass ihre Räder beschädigt waren. In der Nähe standen sechs deutsche Jugendliche. Aus dieser Gruppe löste sich eine Person und trat einem der Mosambikaner gegen das Knie. Dadurch wurde er so schwer verletzt, dass er für einige Tage krankgeschrieben wurde.151 Zunächst waren sich die Polizisten über das Motiv im Unklaren. Doch am Ende des Fernschreibens befindet sich eine handschriftliche Notiz : »Das Problem dieses Vorkommnisses wurde 149 Ebd. 150 Vgl. ebd., Bl. 10 f. 151 Vgl. Fernschreiben VPKA Hoyerswerda an BDVP Cottbus, Sofortmeldung gem. nr. 10. 5. (5). Vorkommnis mit Ausländern im Kreis Hoyerswerda, Hoyerswerda, 17.4.1989 ( ebd., Bl. 18).

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durch den OdH vollkommen unterschätzt.«152 An höherer Stelle hatte man die Brisanz der Auseinandersetzung erkannt. Die Kriminalpolizei begann die Ermittlungen wegen »Rowdytums«.153 Wieder werden die engen Bahnen sichtbar, in denen die Ermittlungsbehörden Gewalt gegen Ausländer und rechtsextremes Gedankengut einordneten. Am selben Abend, dem 15. April, ereignete sich in der Kreisstadt Hoyerswerda selbst eine weitere Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Ausländern. Streitthema war diesmal das neu eingeführte kommunale Ausländerwahlrecht.154 Aufgrund einiger Zeugenaussagen lässt sich der Ablauf des Abends gut nachvollziehen, die eigentliche Täterschaft bleibt aber unklar. Als Tatverdächtiger wurde die Person Jm5 von der Polizei mehrfach verhört. Vor der Gaststätte »Zum Wassermann« hörte Jm5, dass es im nahegelegenen Park »eine Auseinandersetzung zwischen Negern und Deutschen« gebe.155 Zusammen mit seinem Bekannten ging er in diese Richtung. Hinter dem Park angekommen, sah er eine Gruppe von 20 bis 30 Personen. Drei von ihnen fielen Jm5 wegen ihrer »dunkle[ n ] Hautfarbe« auf.156 Die Personen waren in zwei Gruppen getrennt : Die eine Gruppe bezeichnete er als Deutsche, in der anderen hätten sich 2 oder 3 Afrikaner und ungefähr 10 Kubaner befunden. Von den Deutschen fielen Beschimpfungen. Unter anderem hörte Jm5 : »Ausländer raus«. Die Ausländer antworteten: »Nazischweine«. Tätliche Auseinandersetzungen habe er aber nicht bemerkt. Auffällig ist, dass Jm5 beide Beschimpfungen als Beleidigungen erkannte, seine eigene in der Befragung getätigte Wortwahl »Neger« in Bezug auf die zwei bzw. drei Dunkelhäutigen schien ihm aber nicht unpassend zu sein. Beide Gruppen zogen in der Folge im Abstand von fünf Metern zueinander über den Platz vor dem »Haus der Berg - und Energiearbeiter« ( HBE ), während sie sich gegenseitig weiterhin beleidigten. Erst in der Nähe eines Streifenwagens zerstreuten sich die Gruppen. Jm5 seinerseits ging zu diesem Wagen. Die Polizisten nahmen seine Personalien auf. Befragt, warum er sich an den Beleidigungen beteiligt hatte, sagte er : »Ich habe mich daran mehr aus Neugier beteiligt, weil ich sehen wollte, was nun noch wird.« Er habe keine Beleidigungen gerufen, sondern diese lediglich von anderen gehört. Erinnern könne er sich vor allem an »Ausländer raus !« Rufe. Andere Parolen konnte er nicht mehr wiedergeben, sie hätten aber »auf alle

152 Ebd., Bl. 19. 153 VPKA Hoyerswerda – ODH, Rapport Nr. 64, Vorkommnis mit Ausländern in Schwarzkollm, Hoyerswerda, 18.4.1989 ( ebd., Bl. 21). 154 Vgl. Information über eine Konfrontation zwischen jugendlichen DDR - Bürgern und Ausländern am 15.4.1989 in der Kreisstadt Hoyerswerda, Cottbus, 18.4.1989 ( BStU, MfS, BV Cottbus, AKG, Nr. 1512, Bl. 4 ff.). 155 VPKA Hoyerswerda – Kriminalpolizei, Befragungsprotokoll gem. §95 (2) StGB, Hoyerswerda, 16.4.1989 ( BStU, MfS, BV Cottbus, KD Hoyerswerda, Nr. 3100, Bl. 3). 156 Ebd., Bl. 4.

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Fälle mit dem Rassenhass zu tun gehabt«. Die Personen, die solche Beleidigungen gerufen hätten, kannte er nicht. Es seien aber zwei oder drei gewesen, wobei er einen als »Stimmungsmacher« charakterisierte.157 Obwohl Jm5 vehement die Beteiligung an den fremdenfeindlichen Parolen abstritt, galt er als tatverdächtig. Der Zeuge Pm13, in einem anderen Dokument als Schutzpolizist identifiziert,158 will ihn in einer Gegenüberstellung eindeutig wiedererkannt haben.159 Dieser Zeuge konnte darüber hinaus weitere Details zum Vorgang beitragen. Er hatte in der Nähe des Ehrendenkmales die Aufforderung an deutsche Bürger gehört, »mitzukommen, um mit den Ausländern abzurechnen«.160 Als Polizist dadurch alarmiert, eilte er zum betreffenden Ort. Dort sah er erstmals Jm5 und hörte auch seine Stimme. Daher konnte er die Gewaltaufforderung dieser Person zuordnen. Er sah und hörte weiterhin, wie Jm5 »Ausländer raus !« rief.161 Im direkten Gespräch während des Vorfalles fragte Jm5 den Zeugen, warum »bei uns Schwarze wählen dürfen«. Damit in der Gegenüberstellung konfrontiert, erklärte Jm5, er sei der »Überzeugung [...], dass die anderen Jugendlichen mit dem Wahlrecht der Ausländer nicht einverstanden sind und dass es deshalb zu den Beleidigungen der Ausländer kam«.162 In einer zweiten Befragung wurde er konkreter. Er habe den Polizisten aus reinem Interesse über das veränderte Wahlrecht befragt. Gegen Ausländer und deren aktive wie passive Wahlbeteiligung habe er nichts. Trotzdem war er der Meinung, »das jeder in seinem eigenen Land wählen gehen sollte, und auch dort regiert« werden sollte.163 Unabhängig von seiner tatsächlichen Beteiligung machte Jm5 deutlich, dass diese spontane Auseinandersetzung im Zusammenhang mit dem neu eingeführten kommunalen Ausländerwahlrecht stand. Das Urteil Kaspers, die Einführung dieses Wahlrechts habe die Spannungen zwischen Deutschen und Ausländern verstärkt, kann hier bestätigt werden.164 Besonders unter den Jugendlichen in Hoyerswerda kam es im April 1989 gehäuft zu fremdenfeindlichen Aktionen. Dabei kam es zu gefährlichen Drohungen : Am 17. April um 9.10 Uhr rief ein Unbekannter die Polizei - Notrufnummer an und erklärte : »Heute fließt das erste Ausländerblut«.165 157 Ebd. 158 Vgl. ebd. 159 Vgl. VPKA Hoyerswerda, Kriminalpolizei, Gegenüberstellungsprotokoll, Hoyerswerda, 16.4.1989 ( ebd., Bl. 1). 160 Zit. nach ebd. 161 Ebd. 162 Ebd., Bl. 2. 163 VPKA Hoyerswerda, Kriminalpolizei, Befragung des Bürgers, Hoyerswerda, 16. 4. 1989 ( ebd., Bl. 7). 164 Vgl. Kasper, Kommunales Wahlrecht, S. 143 ff. 165 Zit. nach Anonymer Anruf vom 17.4.89, 9.10 Uhr ( Ruf 110) ODH VPKA Hoyerswerda / männl. Anrufer, Cottbus, 10.4.1989 ( BStU, MfS, BV Cottbus, KD Hoyerswerda, Nr. 4189, Bl. 25).

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Die Bezirksverwaltung des MfS verzeichnete in ihrem Monatsbericht für April 1989 mehrere Vorbereitungen zu Feiern anlässlich des 100. Geburtstages von Adolf Hitler. In einer Gaststätte in Hoyerswerda war eine solche Feier von sieben bekannten Neonationalsozialisten geplant. Da dieses Vorhaben frühzeitig bekannt wurde, traf der Staat Vorsorge. Die Volkspolizei belehrte und verwarnte diese Personen und informierte den Ersten Sekretär der SED - Kreisleitung. Der Staatssicherheit lagen schließlich keine Hinweise vor, ob die Feier durchgeführt wurde.166 Ein weiteres Hitlergedenken beabsichtigten Schüler einer 9. Klasse der POS XX in Hoyerswerda. Hier waren einige der Beteiligten bereits durch antisemitische und neonazistische Parolen aufgefallen. Unter anderem forderten sie »Juden raus zur Judenverbrennung«167 und schrieben Zettel mit der Losung »Unserem Führer herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«. Von den Schülern trat besonders K7 hervor, zu diesem Zeitpunkt erst 15 Jahre alt. Er sympathisierte offen mit dem »Rechtsradikalismus in der BRD / WB« und mit den Skinheads. »Außerdem soll er als Schmierer von Hakenkreuzsymbolen im Stadtgebiet angefallen sein«. Der Schüler K7 scheint trotz seines jungen Alters ein rechtsextremes Weltbild verfestigt zu haben. Auch in diesem Fall schritt das MfS ein : Die Schüler wurden in sog. »Vorbeugungsgesprächen« ermahnt. Um eine Wiederholung zu vermeiden, wurden längerfristige Maßnahmen getroffen. Der Vorfall sollte im »Leitungskollektiv« ausgewertet werden. Dort sollten erzieherischen Maßnahmen durch das »Elternaktiv, das Klassenkollektiv« und die FDJ festgelegt werden. Ferner sollten die Eltern informiert und sowohl die »politisch - ideologische« als auch die »kulturell - sportliche« Arbeit verstärkt werden. Schließlich referierte der Kreisschulrat vor der Direktorenkonferenz über »negative Erscheinungsformen unter der Schuljugend und zu Einflüssen der westlichen Massenmedien auf die Schüler«.168 Die Staatssicherheit identifizierte im April 1989 sieben »Anhänger der Faschos«.169 In einem detaillierteren Informationsbericht wurden für den gesamten Bezirk circa 80 Skinheads und Sympathisanten und ungefähr 10 sog. »Faschos« registriert.170 Das würde bedeuten, der Schwerpunkt der als »Faschos« bezeichneten Jugendszene des Bezirkes Cottbus wäre der Kreis Hoyerswerda gewesen. Dem entgegen steht zum einen die Aussage, die Zahl der Skinheads sei,

166 Vgl. Berichterstattung über Entwicklungstendenzen unter negativ - dekadenten Jugendlichen sowie die Wirksamkeit der politisch - operativen Maßnahmen – Monat April 1989 ( BStU, MfS, HA XX / AKG, Nr. 5940, Bl. 60). Im Folgenden zit. als Bericht April 1989. 167 Zit. nach ebd., Bl. 61. 168 Ebd., Bl. 61. 169 Ebd., Bl. 58. 170 Vgl. Information über aktuelle Erscheinungsformen unter negativ - dekadenten J ugendlichen im Bezirk Cottbus, Cottbus, 10.4.1989 ( BStU, MfS, HA XX, Nr. 5150, Bl. 25). Im Folgenden zit. als Informationsbericht April 1989.

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wie die der Punks, stagnierend, und nur bei den »Faschos« habe sich eine »leicht steigende Tendenz«171 abgezeichnet. Zum anderen habe sich die Mehrheit der Skinheads und »Faschos« in der Bezirksstadt versammelt, in den Kreisstädten habe es nur Einzelpersonen gegeben.172 Es zeigt sich, dass innerhalb der Hauptabteilung XX für verschiedene Berichte scheinbar divergierende Kriterien zu Grunde gelegt wurden. Gab es nun 10 »Faschos« im gesamten Bezirk mit dem Schwerpunkt in Cottbus oder allein in Hoyerswerda sieben Anhänger dieser Richtung ? Zu klären wird diese Zahl letztlich nicht sein. Es kann aber angenommen werden, dass die Konzentration solcher Jugendlicher in der größeren Bezirkshauptstadt lag und mit »Anhängern« Sympathisanten der Szene gemeint waren. Die Gruppen hätten sich weiterhin »nicht auf Grundlage einheitlicher Regeln organisiert«.173 Es waren eher lose Verbindungen zum Zwecke der gemeinsamen Freizeitgestaltung. Wichtig dabei waren Konzertbesuche von Szenebands.174 Die rechtsradikalen Jugendlichen seien bestrebt gewesen, überörtliche Kontakte aufzubauen. Ein beliebtes Mittel hierfür waren Wochenendfahrten nach Berlin, um dort Gleichgesinnte zu treffen.175 Verbindungen in die Bundesrepublik bzw. nach Westberlin wurden aber für solche Jugendliche aus Hoyerswerda nicht festgestellt.176 In beiden Berichten wird über die Zurückhaltung der Skinheads in ihrer Kleiderwahl geschrieben.177 Sie versuchten, sich durch »normale Arbeitsbekleidung gegenüber der Öffentlichkeit bzw. den Sicherheitskräften zu tarnen«.178 Mit Besorgnis bemerkte das MfS eine zunehmende Aggressivität im Verhalten und Auftreten »negativ - dekadenter Jugendlicher«, die folgenden Zielen diente : »das gesellschaftliche Zusammenleben zu stören, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu untergraben, bestimmte Bevölkerungsschichten zu verunsichern, wobei es sich auch insbesondere gegen Ausländer richtet«.179 Für den weiteren Zeitraum bis zur Friedlichen Revolution sind lediglich Berichte der Monate Juli, August und September des Jahres 1989 überliefert. Der Juli - Bericht enthält eine Übersicht über die »im 1. Halbjahr 1989 erstmals angefallenen negativ - dekadenten Jugendlichen« im Bezirk.180 Von 74 so bewerteten 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180

Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Bl. 26. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Bl. 31. Vgl. ebd., Bl. 26. Vgl. ebd., Bl. 26; Bericht April 1989, Bl. 58. Bericht April 1989, Bl. 58. Informationsbericht April 1989, Bl. 28. Berichterstattung über Entwicklungstendenzen unter negativ - dekadenten Jugendlichen sowie die Wirksamkeit der politisch - operativen Maßnahmen – Monat Juli 1989, o. O., 31. 7. 1989 (BStU, MfS, HA XX / AKG, Nr. 5940, Bl. 74).

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Jugendlichen wurden 43, also mehr als die Hälfte, als Skinheads und »Faschos« kategorisiert. Das heißt aber nicht, dass sich in den ersten sechs Monaten des Jahres diese Anzahl Jugendlicher den Skinheads bzw. »Faschos« anschlossen, sondern lediglich, dass die Staatssicherheit in den ersten sechs Monaten des Jahres erstmals diese Jugendlichen identifizierte. Im Bericht heißt es dann auch, dass trotz der Zahl neu erfasster Jugendlicher davon ausgegangen werde, »dass insgesamt kein bedeutender zahlenmäßiger Anstieg unter diesen Personenkreisen zu verzeichnen ist«.181 Ebenso wurden Ausstiege aus der Szene aus unterschiedlichsten Gründen ( Übersiedlung in die BRD, Altersgründe, Familiengründungen, Ablehnung weiterer Identifizierung mit den jeweiligen Gruppen ) verzeichnet. Allein in Hoyerswerda wurden für 32 Personen, die noch 1988 als Skinheads, Punks, Gruftis o. Ä. auffielen, keine weiteren Hinweise mehr erarbeitet. Darunter waren auch 20 Skinheads.182 Selbstkritisch vermerkte die Staatssicherheit ein weiteres Manko : Aufgrund unzureichender Inoffizieller Mitarbeiter unter solchen Jugendlichen konnte der Bericht über die zahlenmäßige Entwicklung nur tendenziös sein.183 Nach wie vor lag der Schwerpunkt in Cottbus und daneben in Hoyerswerda. Aber eine feste Organisation konnte die Bezirksverwaltung nicht erkennen. Vielmehr handelte »es sich um zeitlich begrenzte lose Gruppierungen, deren Mitgliederbestand häufig« wechselte.184 Die Berichte für die Monate August und September 1989 enthielten den Hinweis, dass keine zahlenmäßigen Veränderungen unter »negativ - dekadenten« Jugendlichen im Allgemeinen sowie Skinheads im Besonderen festzustellen waren. Auch sonst wurden für Hoyerswerda keine fremdenfeindlichen oder rechtsextremen Vorkommnisse registriert.185 Einen Einblick in die Skinheadszene in Hoyerswerda liefern Verhörprotokolle zweier Befragungen, die die Volkspolizei 1989 durchgeführt hatte. Im April 1989 sagte der Jugendliche Jm24, zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt, aus. Bei der Befragung stand er unter erheblichem Druck, denn es gebe »harte Gesetze [...] falls einer aus der Gruppe aussteigt bzw. Verrat übt«. Laut seiner Aussage nahm unter den 15 - bis 20 - Jährigen der Stadt »die neofaschistische Welle« zu. Er selbst gehörte einer Gruppe um den 17 - jährigen Lehrling Jm6 an, der »eine echte Führungsrolle unter den anderen« ausübte. »Diese beruht auf seiner Brutalität sowie sein Durchsetzungsvermögen.« Ähnlich verhalte Jm6 sich gegenüber sei181 182 183 184 185

Ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd., Bl. 75. Ebd., Bl. 74. Vgl. Berichterstattung über Entwicklungstendenzen unter negativ - dekadenten Jugendlichen sowie die Wirksamkeit der politisch - operativen Maßnahmen – Monat August 1989 ( ebd., Bl. 78–81); Berichterstattung über Entwicklungstendenzen unter negativ - dekadenten Jugendlichen sowie die Wirksamkeit der politisch - operativen Maßnahmen – Monat September 1989 ( ebd., Bl. 82–84).

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ner alleinerziehenden Mutter, mit der er »macht was er will«. Zur Gruppe gehörten mindestens neun weitere Jugendliche im Alter zwischen 16 und 19 Jahren.186 Bei den Gruppentreffen kam es oft zu Schlägereien, wobei sich die Mitglieder auch untereinander prügelten. »Damit will man sich aufputschen und seine Brutalität zu erkennen geben.« Während der Schlägereien beleidigten sich die Beteiligten als »Idiot«, »Nazi« oder »Faschist«. Unter Alkoholeinfluss steigerten sich diese Äußerungen und man grüßte sich mit dem Hitlergruß. Den bevorstehenden 100. Geburtstag Hitlers wollte die Gruppe in einer Gaststätte »begießen«. Von den Mitgliedern der Gruppe seien die »eingefleischtesten« Jm6, Jm88 und Jm92. »Diese drei sind seiner Meinung [ gemeint ist Jm24] nach unverbesserlich und werden sich auch in Zukunft steigern.« Die Prognose traf mindestens auf Jm6 zu, der sich an den Ausschreitungen 1991 beteiligte. Der Hass gegen Ausländer, besonders auf Afrikaner, war bereits 1989 bei allen angelegt. Treffpunkte der Gruppe um Jm6 waren die Gaststätten »Ratskeller« und »Zur Post« in der Altstadt, das Jugendklubhaus im WK I und die Bierstube »Wassermann« in der Neustadt. Darüber hinaus fuhr die Gruppe in die Diskothek nach Spremberg ( Kreis Spremberg ) oder traf sich am Gondelteich in Hoyerswerda. Neben dieser Gruppe war Jm24 eine weitere im WK VIII bekannt, welche sich um den Jm10 versammelte.187 Über diese Gruppe sagte im September der 17 - Jährige Jm15 aus. Er lernte im selben Betrieb wie Jm10 und beide verbrachten auch die Freizeit zusammen. Jm15 gab an, dass sich »erneut unter Jugendlichen der Altersgruppe 16 bis 18 Jahre neofaschistische Tendenzen breit machen«. Als Triebkraft dahinter stand Jm10, der in verschiedenen WKs aktiv war. Laut Jm15 war er zuvor inhaftiert gewesen. Nach seiner Haftentlassung sei er »ruhiger geworden«, aber seine Gesinnung habe sich nicht geändert. Zusammen mit ?m19 waren beide im Jugendklub im WK II (»Einsteinklub«). Dort trat ?m19 mit einem braunen Stoffhemd, braunen Schulterriemen und einer kniekurzen grünen Hose auf. Diese Kleidung erregte positives Aufsehen unter den anderen Gästen. ?m9 »gab daraufhin mehrfach zu verstehen, dass er die HJ verkörpert«. Im Einsteinklub verkehrten noch weitere Gleichgesinnte. Dabei wollte jeder »den anderen in dieser Art irgend wie übertreffen, sich wichtig tun, oder etwas besonderes darstellen und fetzen«. Die Jugendlichen stachelten sich demnach gegenseitig zu rechtsextremen Äußerungen und Handlungen an. So schrieb Jm15 an die Wandzeitung dieses Klubs »Ich bin stolz drauf Deutsch zu sein, denn für Deutschland steh ich ein«. Dafür bekam er von anderen Jugendlichen Beifall gespendet.188 Die Jugendlichen hatten den Eindruck, die Klubleitung ließe sie gewähren.189 186 VPKA Hoyerswerda, Komm. I., Befragungsprotokoll, Hoyerswerda, 11.4.1989 ( BStU, MfS, BV Cottbus, KD Hoyerswerda, Nr. 2947, Bl. 7). 187 Ebd., Bl. 8. 188 Ebd., Bl. 1. 189 Vgl. ebd.

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Zwei der bisher genannten Personen, Jm6 und Jm15, waren auch an den Ausschreitungen 1991 beteiligt. Dies konnte nachgewiesen werden, indem der BStU die bekannten Namen der 1991 Festgenommenen zur Prüfung weitergeleitet wurden. Gab es eine Übereinstimmung mit den in den Akten des MfS genannten Personen, wurde das entsprechende BStU - Pseudonym mit einem Sternchen versehen. Unklar bleibt jedoch, welcher der Täter von 1991 bereits in der DDR radikalisiert war. Mit dieser Methode konnte nachgewiesen werden, dass es eine personelle Kontinuität gab. Dieser Umstand traf, neben Jm6 und Jm15, für mindestens fünf Personen zu. In Guben brachte 1984 Jm30 zusammen mit zwei Komplizen an einen Garagenkomplex die Parole »Deutschland wir werden dich retten« an.190 Ein Jahr darauf musste er eine Stellungnahme schreiben. Er hatte im Geschichtsunterricht bezüglich des kurz zuvor verstorbenen Ministers für Nationale Verteidigung, Heinz Hoffmann, geäußert : »Wieder ein rotes Schwein weniger«. Damit habe er, so Jm30 in seiner Stellungnahme, diesen nicht beleidigen wollen, sondern seinen Unmut über die Trauerfeierlichkeiten für hohe SED Funktionäre ausdrücken wollen, die er als übertrieben empfand.191 Im Jahr 1987 zeigte der stark alkoholisierte Pm16 am frühen Abend gegen 18.15 Uhr auf dem Bahnhofsvorplatz in Hoyerswerda »den faschistischen Gruß« und beleidigte SED- Mitglieder. »Außerdem machte er rassistische Äußerungen gegenüber Fahrgästen in einem Bus.« Der zum Tatzeitpunkt 22 - jährige Pm16 war mehrfach vorbestraft, unter anderem wegen Körperverletzung und Erpressung.192 Im selben Jahr wurde ein Ermittlungsbericht über den 18 - jährigen Jm93 verfasst. Der Grund dafür bleibt unklar. Der Bericht enthält keine negativen Erkenntnisse über ihn. Vielmehr gehörte er »zum positiven Kern seines Klassenkollektives«, er zeigte eine »gesunde [...] Haltung zu unserer soz. Gesellschaft« und vertrat einen »klaren Klassenstandpunkt«. Auch von seinen Nachbarn wurde er positiv beurteilt. Zu ihm »lagen im Wohngebiet keine negativen Hinweise vor«.193 Im Jahr 1988 fiel Jm11 zusammen mit zwei Freunden negativ auf, als sie im angetrunkenen Zustand im Park am Ehrenhain »Soldatenlieder, die den Faschismus verherrlichen lautstark gegröhlt [ sic !]« hatten. Sie sangen »Deutsche Panzer ziehen nach Afrika«, »Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt« sowie »Einigkeit und Freiheit für das Deutsche Vaterland, danach lasst uns alle streben, sind des Glückes Unterpfand, Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt«.194 190 Ergänzung zur Meldung der Schmiererei vom 6. [.] 1984 in Guben ( BStU, MfS, BV Cottbus, KD Guben, Nr. 010, Bl. 4). 191 Stellungnahme vom 4.12.1985 ( ebd., Bl. 5). 192 VPKA Hoyerswerda 1987, Beurteilungsbogen ( BStU, MfS, HA IX, Nr. 18886, Bl. 169 f.). 193 Ermittlungsbericht ( BStU, MfS, BV Cottbus, KD Hoyerswerda, Nr. 424, Bl. 1 ff.). 194 VPKA Hoyerswerda vom 19.8.1988, Tagebucheintrag ( BStU, MfS, BV Cottbus, KD Hoyerswerda, Nr. 3096, Bl. 1).

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Die Berichte der Staatssicherheit spiegeln zwar nicht die Realität wieder, sondern nur eine ideologisch geprägte Sicht auf fremdenfeindliche Vorkommnisse und die Entstehung einer rechtsextremen Skinheadszene. Dennoch wird deutlich, dass es in den späten 1980er Jahren eine zunehmende Aggression unter den Jugendlichen Hoyerswerdas gab. Es bildeten sich verschiedene Subkulturen wie Punker oder Heavy Metals heraus. Vor allen die Skinheads waren zu diesem Zeitpunkt politisch radikalisiert. Sie bezogen sich positiv auf den historischen Nationalsozialismus, verehrten Hitler, fertigten Uniformen an und bezeichneten sich als »Nazi«. Ihre Aggressionen richteten sie auf Ausländer, insbesondere auf Afrikaner. Zwar war die Zahl der Skinheads verglichen mit den Mitgliedern anderer Subkulturen vergleichsweise klein. Doch schien sich ihr Weltbild 1989 unter den 15 - bis 20 - Jährigen zu verbreiten, wie bspw. die Vorbereitung einer Hitler- Feier durch einen 15 - jährigen Schüler zeigte. Die aggressive Fremdenfeindlichkeit schien vielen Heranwachsenden zunehmend attraktiv. Gewalttätige Auseinandersetzungen mit Ausländern gingen nicht nur von Skinheads, sondern auch von scheinbar »normalen« Jugendlichen aus. Im Frühjahr 1989 häuften sich derartige Zusammenstöße. Die Fremdenfeindlichkeit wurde durch die große Zahl Jugendlicher, die sich an solchen Auseinandersetzungen beteiligten, zunehmend öffentlicher. Bereits vor der Wiedervereinigung nahmen die Spannungen zwischen Deutschen und Ausländern zu. 3.2 Fremdenfeindliche Vorfälle im Vorfeld der Ausschreitungen 1991

Die Friedliche Revolution im Herbst 1989 führte zum Kontrollverlust der SED. Das MfS verlor seine Macht, die Bürger der DDR erkämpften sich ihre Freiheit und die Presse begann, unabhängig zu berichten. Sichtbarstes Zeichen für die Öffnung des Landes war der Fall der Berliner Mauer am 9. November. Es stellt sich die Frage, wie sich die Fremdenfeindlichkeit und der Rechtsextremismus in dieser Zeit unter den neuen, freien Verhältnissen entwickelt hatten. Durch die Ausreise von Skinheads ( durch Flucht, Ausreiseantrag oder Häftlingsfreikauf ) waren bereits vor 1989 Kontakte zur westdeutschen rechtsextremen Szene geknüpft worden. Dadurch entstanden Netzwerke, die eine gute Ausgangsbasis für die Etablierung verschiedenster rechtsextremer Organisationen und Parteien in der DDR nach dem Mauerfall bereiteten.195 So erklärte der Vorsitzende der Republikaner, Franz Schönhuber, bereits am 16. November 1989, dass es sehr bald zu Gründungen von Republikaner - Gruppen in Ostdeutschland kommen werde. Auch unter die Leipziger Montagsdemonstrationen mischten sich sehr schnell Rechtsextreme, die Werbematerial der Republikaner, der NPD,

195 Vgl. Neubacher, Jugend und Rechtsextremismus, S. 35.

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DVU oder FAP verteilten.196 Im Laufe des Jahres 1990 wurden erste Ortsgruppen und Kreisverbände westdeutscher rechtsextremer Parteien gegründet.197 Allerdings konnten diese Parteien keine Wahlerfolge erringen. Besonders die Republikaner, die erst 1989 Wahlerfolge in Berlin und für das Europäische Parlament erzielt hatten, wurden in ihrer Hoffnung auf hohen Wählerzuspruch enttäuscht und zogen in keines der neuen Länderparlamente ein.198 Zwar konnten rechtsextreme Parteien keine Wahlerfolge verbuchen. Dennoch nahm die Fremdenfeindlichkeit gerade unter jungen Menschen zu. Aufgrund einiger Umfragen aus dieser Zeit ist das Einstellungspotential der jungen Menschen in der Noch - DDR gut erfasst. Im Oktober 1989 bekundeten demnach 32 Prozent von 350 befragten Schülern der Klassenstufe 8, Ausländer würden sie stören.199 Bei einer deutsch - deutschen Schülerbefragung der Klassenstufe 9 im Sommer 1990 äußerten 42 Prozent Zustimmung zu dieser Aussage.200 Bei den ostdeutschen Jugendlichen stimmten 35 Prozent weibliche und 48 Prozent männliche Befragte zu ( im Vergleich zu 19 Prozent bzw. 32 Prozent in Westdeutschland ). Am Ende des Jahres meinten sogar 37 Prozent der befragten ostdeutschen Jugendlichen, es gäbe zu viele Ausländer in der DDR, und 12 Prozent waren der Ansicht, jeder Ausländer sei einer zu viel. Eine Reduzierung des Ausländeranteils forderten 55 Prozent der Befragten.201 Im Bewusstsein, dass zu diesem Zeitpunkt ca. 191 000 Ausländer in Ostdeutschland lebten, was ungefähr 1 Prozent der Wohnbevölkerung entsprach, kann Neubachers Feststellung zugestimmt werden, dass es eine »Ausländerfeindlichkeit ohne Ausländer«202 gab. Die Ursache hierfür lag u. a. in der Segregationspolitik der DDR, die Unwissenheit und Vorurteile gegenüber Ausländern entstehen ließ. So gaben nur 23 Prozent der befragten Jugendlichen an, sich gut über Ausländer informiert zu fühlen. Lediglich 11 Prozent bezogen ihr Wissen aus einem direkten Kontakt mit Ausländern. Der Großteil bezog seine Informationen aus Gesprächen im Freundeskreis (61 Prozent), in der Familie (53 Prozent) oder aus den Medien (45 Prozent).203 Die Isolation der ausländischen Arbeiter erzeugte Gerüchte und Vorurteile. Diese manifestierten sich gerade bei den Jugendlichen mit dem Wegfall der staatlichen Autorität in Fremdenfeindlichkeit.

196 Vgl. Madloch, Entwicklung des Rechtsextremismus, S. 58. 197 Vgl. Ködderitzsch, Rechtsextremismus in der ehemaligen DDR, S. 31 f.; Korfes, Entwicklung des Rechtsextremismus, S. 58; Madloch, Entwicklung des Rechtsextremismus, S. 59. 198 Vgl. Backes / Moreau, extreme Rechte, S. 55 f.; Kailitz, Die »Republikaner«, S. 141. 199 Vgl. Schubarth, Rechtsextremismus, S. 83. 200 Vgl. ebd., S. 84. 201 Zahlen bei Neubacher, Jugend und Rechtsextremismus, S. 86 f. 202 Ebd., S. 88. 203 Vgl. ebd.

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Mit der steigenden Aversion gegen Ausländer nahmen auch nationalistische Einstellungen zu. Der Anteil von Schülern und Lehrlingen, die die Auffassung von einer besonderen Rolle der Deutschen in der Geschichte vertraten, stieg im Zeitraum 1988 bis 1990 von 10 bis 15 Prozent auf 20 bis 25 Prozent. Etwa jeder zehnte Jugendliche forderte 1990 ein Deutschland in den Grenzen von 1937.204 Bei einem deutsch - deutschen Vergleich kommt Schubarth letztlich zu der Feststellung, »dass zwischen ost - und westdeutschen Jugendlichen größere Differenzen bestehen hinsichtlich der Intoleranz gegenüber Ausländern, bei nationalistischen, ethnozentrischen und autoritären Einstellungen. Dagegen sind kaum Differenzen im Hinblick auf Antisemitismus und die Haltung zur NS - Zeit erkennbar. Ebenso ist der Anteil der Jugendlichen, die sich in rechtsextremen Organisationen betätigen bzw. mit ihnen sympathisieren, gegenwärtig gleich groß.«205 Die Verbundenheit mit rechtsextremen Organisationen war insgesamt recht gering. Als Anhänger der Republikaner bekannten sich 3 Prozent der Lehrlinge und 1 Prozent der Schüler; als Skinheads, Faschos oder Hooligans bezeichneten sich jeweils 2 Prozent der Lehrlinge und 1 Prozent der Schüler.206 Obwohl die Fremdenfeindlichkeit unter den Jugendlichen in den neuen Bundesländern sehr hoch war, war der Zulauf zu rechtsextremen Organisationen sehr gering. Wenn 30 bis 50 Prozent der befragten Jugendlichen fremdenfeindliche Ansichten vertraten, bedeutet dies, Fremdenfeindlichkeit war eine gewöhnliche Einstellung, keine Besonderheit. Des Beitritts zu einer rechtsextremen Partei oder der Zugehörigkeit zu den Skinheads bedurfte es offenbar nicht, um fremdenfeindliche Einstellungen zu hegen. In Hoyerswerda nahmen die Spannungen zwischen deutschen und ausländischen Einwohnern nach der Friedlichen Revolution ebenfalls zu. Das wurde schon an Alltäglichkeiten deutlich. Bereits im November 1989 äußerte sich die »Lausitzer Rundschau« besorgt über das Zusammenleben von deutschen und ausländischen Bürgern. Anlass für einen Kommentar war der Anruf einer Leserin, in dem sie sich über eine selbsterlebte Szene in einem Geschäft der Exquisit Kette beklagte. Sie habe beobachtet, wie sich ein polnischer Bürger zwei Schuhkartons anschaute und dann »unbesehen sieben Paar Schuhe« kaufte. Dem Leser musste die Szene nicht weiter interpretiert werden. Es ging dabei um den Vorwurf des spekulativen Weiterverkaufs dieser Ware. Zwar seien Erwachsenenschuhe nicht preisgestützt, dennoch forderte der Autor »bald eindeutige Regelungen«. Er habe »Angst, dass es eines Tages nicht bei empörten Worten gegenüber

204 Vgl. Schubarth, Rechtsextremismus, S. 84. 205 Ebd., S. 85. 206 Vgl. ebd., S. 88.

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unseren Gästen, die sich auch als solche benehmen sollten, bleibt«.207 Aufschlussreich ist, dass der Journalist die Szene offensichtlich nicht nachrecherchiert hatte. Woher wusste die Anruferin, dass es sich bei dem Schuhkäufer um einen polnischen Bürger handelte ? Vielmehr schien dem Reporter die Szene so alltäglich und vertraut, dass er hier in Verbindung mit der Mangelwirtschaft verstärkte Ressentiments gegenüber ausländischen Konsumkonkurrenten prophezeite. Die Spannungen nahmen in den nächsten Monaten gewalttätige Formen an. Die Journalisten Kurt Hirsch und Peter Heim schrieben, dass die Polizei allein im April 1990 zu 14 Einsätzen in Hoyerswerda gerufen wurde, »weil ausländische Mitbürger von Rechtsradikalen angepöbelt und angegriffen werden«.208 Am 1. Mai des Jahres kam es zu einer Massenprügelei. An diesem Tag fanden auf dem Rummelplatz die Feierlichkeiten zum »Tag der Arbeit« statt. Laut Borchers zog »eine Horde Jugendlicher in Springerstiefel und Bomberjacken« am Nachmittag auf den Rummelplatz, um ihn ›negerfrei‹ zu machen«.209 Laut Siegler hatten vier Jugendliche einen Mosambikaner in der Ernst - Thälmann - Straße verprügelt, »der blutüberströmt auf der Straße« liegenblieb.210 Bei Hirsch / Heim heißt es, Rechtsradikale hätten sich zum »Neger klatschen« auf dem Rummelplatz versammelt.211 Vier dieser Jugendlichen schlugen mehrmals auf den Kopf eines Mosambikaners ein, sodass er ins Krankenhaus eingeliefert wurde.212 Da das nicht der erste Übergriff in diesem Jahr war, »beschlossen die Mosambikaner sich zu wehren«.213 Ungefähr 50 Mosambikaner bewaffneten sich mit Stöcken und eilten zum Rummelplatz. Dort kam es zu einer Schlägerei mit circa 200 Deutschen.214 Entweder, weil sie unterlegen waren215 oder weil sie von ihrer Betreuerin gedrängt worden waren,216 flüchteten die Mosambikaner in ihr Wohnheim und verbarrikadierten sich dort. Ihre Verfolger umstanden dieses Haus und vorwiegend Jugendliche bewarfen es mit Steinen, sodass mindestens 30 Scheiben zu Bruch gingen. Dabei wurden sie von circa 1 000 Schaulustigen angefeuert.217 Es fielen Worte wie : »Macht sie fertig, die schwarzen Säue !«218 Schließlich traf die Polizei, ausgerüstet mit Schlagstöcken, Helmen und Schildern

207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218

Manfred Kraszon, Böses Blut ? In : Lausitzer Rundschau vom 23.11.1989. Hirsch / Heim, Von links nach rechts, S. 114; vgl. ebenso Borchers, Neue Nazis, S. 32. Borchers, Neue Nazis, S. 32. Siegler, Auferstanden, S. 37. Vgl. Hirsch / Heim, Von links nach rechts, S. 117. Vgl. ebd. Bredel, Gefahr von rechts ?, S. 136. Vgl. Borchers, Neue Nazis, S. 32; Bredel, Gefahr von rechts ?, S. 136; Hirsch / Heim, Von links nach rechts, S. 117. Vgl. Borchers, Neue Nazis, S. 32; Bredel, Gefahr von rechts ?, S. 136. Vgl. Hirsch / Heim, Von links nach rechts, S. 117. Vgl. Bredel, Gefahr von rechts ?, S. 136; Hirsch / Heim, Von links nach rechts, S. 117. Zit. nach Borchers, Neue Nazis, S. 32.

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und von Hunden unterstützt, ein, sodass sich die Menge zerstreute.219 Am nächsten Tag erklärte der Polizeisprecher Bergmann, er gehe davon aus, »dass es solche Vorkommnisse verstärkt geben wird«.220 Wenige Tage später resümierte die Polizei das Geschehen in der »Lausitzer Rundschau« und stellte fest, dass das entschlossene Handeln der Ordnungshüter zur Befriedung geführt hatte.221 Die Polizei wollte mit dieser Stellungnahme Stärke signalisieren, die Bürger beruhigen und potentielle Randalierer abschrecken. Ganz anders bewertete die »Lausitzer Rundschau« die Ausschreitungen. Sie bedauerte, dass die erst kürzlich erfolgten Rufe nach Demokratie und Toleranz allem Anschein nach Ausländer nicht mit einschlossen. Gegen diese gärten die Vorbehalte seit Längerem : »Langsam, doch unaufhaltsam keimte er auf, der Hass gegen Mocambiquaner, Vietnamesen, Polen oder Algerier. Wurden anfangs nur diskriminierende Parolen verbreitet, begann man später die Bedienung in Gaststätten, den Eintritt in Diskotheken oder das Benutzen von Freizeiteinrichtungen zu verweigern.«222 Der Gipfel dieser Ausgrenzung seien schließlich die Auseinandersetzungen auf dem Rummelplatz und vor dem Wohnheim gewesen, weil »die Mocambiquaner einfach nicht ›begreifen‹ wollten, auf dem Rummelplatz unerwünschte Gäste zu sein«. Der Autor spekuliert weiterhin über die Ursachen dieses Hasses und sieht sie in Sozialneid aufgrund von Unwissenheit und Vorurteilen : »Warum ist da diese Feindseligkeit gegen Ausländer ? Vielleicht, weil sie für nur 200 bis 500 auf die Hand gezahlte Mark billige Arbeitskräfte sind, sie zu sechst oder siebent in Dreiraumwohnungen hausend ›zuviel‹ Wohnraum wegnehmen könnten oder sie bis zu fünf Jahre von der Heimat getrennt ( auch für uns !) hier arbeiten müssen ?«223 Er erinnerte an den Grund für die Gegenwart der ausländischen Arbeiter und ihre schlechten Lebensbedingungen. Letztlich bedauert er die fehlende Toleranz, nicht nur gegenüber Ausländern : »Wo ist sie denn hin, die Toleranz ? Bei uns sicherlich nicht. Und wenn sie die Ausländer gleichfalls verlieren, könnte es ziemlich schlecht um das Zusammenleben stehen.«224 Der Autor mahnte, Intoleranz gegenüber Ausländern könne Intoleranz gegen »Fremde« im Allgemeinen folgen. Fremdenfeindlichkeit wird hier als Symptom für die desintegrierte, unsolidarische Gesellschaft verstanden. Der Kommentar machte deutlich, dass die Fremdenfeindlichkeit in Hoyerswerda nicht erst nach dem Mauerfall entstand,

219 220 221 222 223 224

Vgl. Bredel, Gefahr von rechts ?, S. 136; Hirsch / Heim, Von links nach rechts, S. 118. Zit. nach Borchers, Neue Nazis, S. 32. Vgl. Die Volkspolizei hat das Wort. In : Rundschau für Nordsachsen vom 8.5.1990. M. Schiemenz, Erst harmlos, dann mit Fäusten. In : Rundschau für Nordsachsen vom 5.5.1990. Ebd. Ebd.

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sondern weit in die Zeit der DDR zurückging. Die Ausschreitungen am 1. Mai 1990 offenbarten lediglich die lange Zeit versteckten Einstellungen. Die Mahnung des Autors zu mehr Toleranz lief jedoch ins Leere. In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 kam es erneut zu heftigen Ausschreitungen. Diese kündigten sich bereits einige Tage vorher an. Bei der Polizei wurden anonyme Drohungen bekannt, dass die mit dem Berufsverkehr aus Schwarze Pumpe eintreffenden Mosambikaner an einer Haltestelle in Hoyerswerda abgefangen und verprügelt werden sollten. Die Werksleitung verhinderte dies jedoch mit der Bereitstellung von eigenen Transportfahrzeugen. Daraufhin richteten sich die Drohungen gegen Jugendklubs, das Umweltzentrum und die beiden Ausländerwohnheime.225 Am Abend des 2. Oktober fuhren um 18 Uhr vier vollbesetzte PKW beim Ausländerwohnheim in der Clara - Zetkin - Straße vor und bewarfen es mit Flaschen. Die Eingangstür und einige Fenster wurden eingeschlagen. Beim Eintreffen der Polizei waren die Täter verschwunden.226 Später an diesem Abend wurde im HBE die Nacht der Wiedervereinigung gefeiert. Gegen 0.15 Uhr kamen circa 200 Personen aus dem HBE und versammelten sich auf dem »Platz des 7. Oktober«. Bis auf ungefähr 50 Personen gingen aber alle Gäste nach kurzer Zeit wieder zurück in das HBE. Die 50 Personen formierten sich jedoch in einem »lockeren Marschzug«,227 so der für die Zusatzkräfte zuständige Polizist. Die Menge bewegte sich in Richtung des Wohnheims in der Zetkin - Straße. Während die Polizei dorthin eilte, hörte sie Scheiben klirren. Am Ort waren bereits 20 bis 30 Personen versammelt.228 Ein weiterer Polizist gab an, aus dem Zug seien Parolen wie »Ausländer raus«, »Schwarze Schweine«, »Deutschland den Deutschen«, »Ausland den Ausländern«229 gerufen worden. Vier Personen trugen ein circa fünf Meter breites Stofftransparent. Allerdings konnte der Polizist den Inhalt dieses Transparentes in seiner Aussage nicht wiedergeben.230 Aus der Menge vor dem Wohnheim wurden Steine geworfen, sodass Scheiben zu Bruch gingen.231 Bei Ankunft der Polizei löste sich die Ansammlung auf. Jedoch trennten sich 10 Personen ab und zogen in die John - Schehr - Straße vor das Polizeirevier. Dieses wurde von der Polizei mithilfe von Diensthunden geschützt.232 Doch die Menge beruhigte sich nicht und randalierte weiter. Unter anderem wurde eine Sektflasche gezielt auf einen Funkstreifenwagen geworfen, wobei ein

225 Vgl. Gewalt – Zur Feier des Tages ? In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 5.10.1990. 226 Vgl. ebd. 227 Aussageprotokoll Willfried N.; Kreiskriminalamt Hoyerswerda, 3.11.1991 ( Sächs. HSTA Dresden : 13363 StAW Dresden, Nr. 1267, Bl. 26). 228 Vgl. ebd. 229 Vernehmungsprotokoll Egbert R., Kreiskriminalamt Hoyerswerda, 14.11.1990 ( ebd., Bl. 25). 230 Vgl. ebd. 231 Vgl. Anzeige ( ebd., Bl. 14). 232 Vgl. Aussageprotokoll Bernd O. ( ebd., Bl. 21).

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Polizist getroffen, aber nicht verletzt wurde.233 Auch die Polizeihunde wurden mit Knallkörpern attackiert.234 Die Beamten wurden nicht mehr als Ordnungsmacht, sondern als Gegner gesehen : Sie schützten die Ausländer und verhafteten Deutsche. Letztlich gelang es der Polizei, den Platz vor ihrem Revier zu sichern und zu räumen. Insgesamt wurden an diesem Abend 15 Jugendliche festgenommen. Die älteste Person war zu diesem Zeitpunkt 30 Jahre alt, die jüngste 16. Aus den Vernehmungsprotokollen können die Motive für die Ausschreitungen weitaus besser nachvollzogen werden als aus den nüchtern verfassten Polizeiberichten. Offenbar hatte es an verschiedenen Orten Gerüchte über die Wiedervereinigungsfeier vor dem HBE gegeben. Thomas K. beispielsweise hörte davon in einer Diskothek,235 Rene J. kam hingegen durch Zufall bei der Menge vorbei und schloss sich an.236 Die Ansammlung vor dem HBE hatte demnach einen spontanen Charakter. Auch der Marschzug zum Wohnheim in der Zetkinstraße war nicht geplant. Gegen 00.30 Uhr hörte Steven F., wie von einer Gruppe Jugendlicher die »Aufforderung ausgesprochen wurde, dass man sich zum ›Negerhaus‹ begeben wolle, um dies zu stürmen. Die Formulierung ›es stürmen zu wollen‹ wurde durch mich sinngemäß wiedergegeben. Für mich selbst war damit klar, dass man offensichtlich die Neger provozieren wolle, wobei sicherlich auch direkte Auseinandersetzungen zu erwarten waren. Meine beiden benannten Freunde, sowie ich selbst schlossen uns der Aufforderung an.«237 Der Zug zum Wohnheim erfolgte zwar spontan, jedoch waren sich alle Beteiligten in der fremdenfeindlichen Zielstellung einig. In fast allen dokumentierten Aussagen wird von einer deutlichen Abneigung gegen Ausländer gesprochen. Auf die Frage, warum er sich dem Zug zum Ausländerwohnheim angeschlossen habe, obwohl er dort Ausschreitungen erwartete, antwortete Steven F. : »Zur Beantwortung dieser Frage möchte ich sagen, dass ich mich zu den ›Republikanern‹ bekenne. Ich mache auch kein Geheimnis daraus und sage in der Vernehmung freimütig, dass ich auch Mitglied dieser Partei bin. Dementsprechend resultiert auch meine negative Einstellung zu Ausländern im Allgemeinen und zu den hier in Hoyerswerda lebenden ›Schwarzen‹ im Speziellen. Mit meiner Teilnahme wollte ich somit meine Einstellung dokumentieren. Aus meiner heutigen Sicht muss ich selbstkritisch einschätzen, dass es sicherlich falsch war, dass ich mich an den Gewalttätigkeiten beteiligt habe. Bestehende Probleme könnte man sicherlich auch auf eine ›friedlichere Art und Weise‹ lösen. Zum damaligen Zeitpunkt war es mir aber egal und ich beteiligte mich eben daran. Bis zu der Teilnahme an Gewalttätigkeiten trank ich ca. 3 bis 4 Liter Bier, eine halbe Flasche Sekt, eine Fl. Weißwein und ca. 3 bis 5 doppelte Weinbrand. Dies trank ich im Zeitraum von 19.00 bis gegen 00.45 Uhr. Ich war zwar ganz schön angetrunken wusste jedoch noch, was ich tat und was um mich herum geschah.« 233 234 235 236 237

Vgl. Anzeige ( ebd., Bl. 14). Vgl. Aussageprotokoll Wilfried N. Vgl. Vernehmungsprotokoll Thomas K. ( ebd., Bl. 35). Vgl. Vernehmungsprotokoll Rene J. ( ebd., Bl. 47). Vernehmungsprotokoll Steven F. ( ebd., Bl. 43).

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Steven F. machte somit aus seiner Gesinnung auch vor der Polizei keinen Hehl. Selbst seinen stark alkoholisierten Zustand führt er nicht als Entschuldigung für seine Beteiligung an. Ihm kam es darauf an, die Tat in vollem Bewusstsein getan zu haben, um so seiner Gesinnung Nachdruck zu verleihen. Daniel R. wollte ebenfalls seine fremdenfeindliche Haltung durch Gewalt ausdrücken : »Ich selbst habe etwas gegen die Ausländer, vor allem gegen die mit der Hautfarbe schwarz. Ich hatte eigentlich die Absicht mich auch an den Auseinandersetzungen durch Werfen von Gegenständen gegen die Wohnunterkunft zu beteiligen. Dadurch, dass mir der P [...] seine Jacke übergab, war ich jedoch gebunden und konnte mich nicht aktiv daran beteiligen. Zum Anderen war mir die ganze Situation durch das Werfen von Gegenständen zu unübersichtlich und ich wollte ja selbst nicht durch Gegenstände verletzt werden.«238 Auch der angesprochene Karsten P. wollte keine Ausländer in Hoyerswerda : »Ich konnte noch nie Ausländer leiden insbesondere die ›Schwarzen‹ hier in Hoyerswerda. Auch ich vertrete die Meinung, dass sie hier nichts zu suchen haben und wollte mit meiner Beteiligung meine Einstellung dokumentieren. Das ist der Grund, weshalb ich mich daran [ an den Ausschreitungen – Anm. d. Verf.] beteiligte.«239 Einzig Rene J. gab bei der Polizei an, keinen Hass auf Ausländer zu haben, hegte aber dennoch Vorurteile : »Frage : Wie ist Ihre Meinung bzw. Ihr Verhältnis zu den in Hoyerswerda lebenden Ausländer und wie stehen Sie selbst zur Polizei ? Antwort : Ich selbst habe eigentlich nichts gegen die Ausländer und verspüre somit auch keinen Hass gegen sie. Ich finde aber, dass die Wohnungen und Arbeitsplätze die durch sie besetzt werden durch unsere Bürger benötigt werden. Mit der Polizei hatte ich noch nichts zu tun und würde schon meinen, dass sie mehr denn je erforderlich ist. Aus meiner eigenen Sicht war auch der Einsatz der Polizeikräfte in jener Nacht des 3.10.90 erforderlich, da ansonsten die Situation speziell vor der Wohnunterkunft der Zetkinstraße sich möglicherweise noch zugespitzt hätte. Frage : Aus welchem Grund beteiligten Sie sich an der Marschkolonne, welche zum ›Negerviertel‹ lief, obwohl Sie wussten, dass es dort zu Ausschreitungen kommen würde ? Antwort : Auf dem Platz des HBE habe ich mit einer Reihe von Jugendlichen gesprochen, die ich jedoch namentlich nicht kannte. Es ging dabei vorrangig um die Ausländer und das sie raus müssten. Um nicht als ›Pfeife‹ vor diesen Jugendlichen dazustehen lief ich auch mit, schrie auch die besagten Parolen und beteiligte mich auch aktiv durch Eintreten der besagten Türscheibe an den ›Randalen‹. An dieser Stelle möchte ich einfügen, dass ich mich weder zu den links noch zu den rechts orientierten Gruppierungen hingezogen fühle.«240

Rene J. versuchte, sich als gesetzestreuen Bürger darzustellen, dem es lediglich an Zivilcourage mangelte. Er behauptete, sich aus Gruppenzwang an dem Protest238 Vernehmungsprotokoll Daniel R. ( ebd., Bl. 52). 239 Vernehmungsprotokoll Karsten P. ( ebd., Bl. 57). 240 Vernehmungsprotokoll Rene J. ( ebd., Bl. 48).

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marsch beteiligt zu haben. Rene J. stufte sich selbst als Mitläufer ein. Der Großteil der Vernommenen bezeichnete sich hingegen freimütig als Rechtsradikale und fremdenfeindlich. Dementsprechend wurden auf dem Weg zum Wohnheim entsprechende Parolen skandiert. Steven F. erinnerte sich an folgende : »Auf dem Weg zum ›Negerhaus‹ wurden solche Parolen wie : ›Ausländer raus‹, ›Bambule, Randale, Rechtsradikale‹, ›Oi ( Grußwort der Rechtsradikalen )‹, geäußert. Der Weg zum ›Negerhaus‹ war recht lustig und die Stimmung war angeheizt. [...] Wie auf dem ganzen Weg wurden nun auch vor dem ›Negerhaus‹ lautstark die besagten Parolen gekrölt [ sic !]. Nun flogen auch schon 1. Gegenstände von Jugendlichen geworfen in Richtung des ›Negerhauses‹, wobei auch Scheibenklirrgeräusche hörbar waren. Als Wurfgegenstände wurden Steine und Flaschen vorrangig benutzt.«241 Die Aussage machte deutlich, dass die Jugendlichen in dieser Nacht aufgeputscht waren. Es herrschte eine Art »Volksfeststimmung«. Der Angriff auf das Wohnheim wurde belustigt und in Feierlaune begangen. Die Menge tobte sich regelrecht aus. Die Fremdenfeindlichkeit wurde zum »Event«. Auffällig ist die in verschiedenen Aussagen benutzte Bezeichnung »Negerhaus« für das Ausländerwohnheim. Der Name schien die übliche Benennung für das Haus gewesen zu sein und belegt die verbreiteten Aversionen gegen ihre Bewohner : Obwohl sich die beteiligten Personen vor den Ausschreitungen nicht kannten, nannten alle das Wohnheim mit der gleichen Bezeichnung. Bei den geschilderten Ausschreitungen handelte es sich um eine spontane Protestkundgebung gegen die Anwesenheit von Ausländern in der Stadt. Die Ausschreitungen waren nicht geplant, sondern erfolgten im Anschluss an die Wiedervereinigungsfeiern. Die Beteiligten waren alkoholisiert und aufgeputscht. Während des Zuges durch die Stadt wurden die Forderungen lautstark gegrölt. Dass es am Zielort des Protestes, dem Wohnheim für Ausländer, zu Gewalt kommen würde, war den meisten Beteiligten und der Polizei recht früh bewusst. Die Jugendlichen wollten es nicht nur bei ihren Forderungen belassen, sondern diesen durch Steinwürfe und Attacken auf das Heim und seine Bewohner Nachdruck verleihen. Dennoch behauptete die Polizei öffentlich, diese Jugendlichen seien »keiner links - oder rechtsorientierten militanten Bewegung zuzuordnen«. Vielmehr verharmloste man sie, indem man behauptete, sie seien »gerade dem Kindesalter entwachsen und standen zum Teil unter starkem Einfluss von Alkohol«.242 Dass diese Einschätzung der Polizei getrogen hatte, zeigte sich im Herbst 1991. Von den 16 Jugendlichen, die am 3. Oktober 1990 festgenommen wurden, waren 241 Vernehmungsprotokoll Steven F., a. a. O. 242 Bergmann, Polizeihauptkommissar : Keine militante Szene festgestellt. In : Rundschau für Nordsachsen vom 10.10.1990.

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mindestens zwei auch an den Gewalttaten 1991 beteiligt. Der 19 - jährige Steven F. hatte bereits 1990 eine festgefügte rechtsextreme Einstellung. Er bezeichnete sich als Mitglied der Republikaner und lehnte Ausländer, besonders Dunkelhäutige, ab. In der Vernehmung im Juli 1991 bekannte er zwar, »dass es sicherlich falsch war, dass ich mich an den Gewalttätigkeiten beteiligt habe. Bestehende Probleme könnte man sicherlich auch auf eine ›friedlichere Art und Weise‹ lösen«.243 Dennoch wurde er im Herbst 1991 erneut wegen fremdenfeindlicher Gewalt festgenommen. Auch Silvio P. war sowohl 1990 als auch 1991 an den Ausschreitungen beteiligt.244 Ein Vernehmungsprotokoll für die Tat in der Wiedervereinigungsnacht konnte jedoch nicht gefunden werden. Auch im Frühjahr 1991 kam es zu Gewalttaten aus der rechtsextremistischen Szene. Im Vorfeld des 20. April ( ein Samstag ), des Geburtstags Adolf Hitlers, hatte es laut »Lausitzer Rundschau« Ankündigungen von Skinheads gegeben, Jugendklubs zu überfallen. Dementsprechend besorgt erwartete die Bevölkerung das symbolträchtige Wochenende. Am Freitag besprühten rechtsorientierte Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren diverse Gebäude im Stadtzentrum. Gegen 21 Uhr wurde eine Punkband angegriffen. Diese sollte im Jugendklubhaus spielen, verfuhr sich jedoch und landete vor dem »Einsteinklub«. Als die Band anfing, ihre Instrumente abzuladen, wurde sie von anwesenden rechtsorientierten Jugendlichen angegriffen. Die Anlage wurde beschädigt, doch gelang den Musikern die Flucht. Am CENTRUM - Warenhaus holte sie eine Gruppe von 15 bis 12 »Rechtsgerichteten« wieder ein. Die Scheiben ihres Fahrzeuges wurden eingeworfen, die Reifen zerschnitten und es wurde sogar versucht, das Auto in Brand zu setzen. Doch 40 Polizisten verhinderten weitere Ausschreitungen. Obwohl tags darauf »Spannung in der Luft« gelegen habe, blieb es ruhig. Eine abendliche Tanzveranstaltung im Jugendklubhaus wurde von einem privaten Sicherheitsdienst abgesichert. An diesem Tag kam es wider Erwarten zu keinen Zwischenfällen.245

4. Zusammenfassung Ein umfassender, detaillierter Blick auf die Jugendszene in Hoyerswerda vor 1989 ist nicht möglich. Lediglich aus den Berichten der Staatssicherheit lassen sich Erkenntnisse gewinnen. Dabei muss beachtet werden, dass MfS - Berichte über Skinheads durch eine ideologische Sicht vorgeprägt sind. Dennoch lassen sich Rückschlüsse ziehen. 243 Kreiskriminalamt Hoyerswerda vom 3. 7. 1991, Beschuldigtenvernehmung Steven F. (13363 StAW Dresden, Nr. 1267, Bl. 43 ff.). 244 Vgl. ebd. Zuführungsbericht ( ebd., Bl. 16). 245 Randale ließen Konzert platzen. In : Rundschau für Nordsachsen vom 22.4.1991.

Zusammenfassung

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In Hoyerswerda entwickelte sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre eine Skinheadszene. Diese war, gemessen an der Wohnbevölkerung, relativ klein. Zudem schwankte die Größe der Gruppen sehr. Die Mitglieder wiesen jedoch eine zunehmende politische Radikalisierung auf. Die Kernelemente ihres Weltbildes waren der positive Bezug auf den historischen Nationalsozialismus und die aggressive Ablehnung von Ausländern. Im Jahr 1989 sympathisierten zunehmend mehr Jugendliche im Alter zwischen 15 und 20 Jahren mit den Skinheads und ihren Parolen. Es bildeten sich in diesem Jahr zwei Skinheadgruppen heraus, die sich um jeweils zwei bis drei Wortführer gruppierten. Der aggressive Habitus und die radikale246 Opposition zum sich als »antifaschistisch« bezeichnenden Staat, die die Skinheads zeigten, schien auf viele Heranwachsende anziehend zu wirken. Zudem vertraten auch Jugendliche, die keine Skinheads waren, fremdenfeindliche, antisemitische und / oder neonazistische Einstellungen. Hakenkreuzschmierereien und ähnliche Symbole und Parolen wurden häufig entdeckt. Bei zwei Auseinandersetzungen mit Ausländern im April 1989 in Litschen und in der Hoyerswerdaer Innenstadt fielen nicht Skinheads, sondern gewöhnlich aussehende Jugendliche mit ihrer gewaltbereiten Fremdenfeindlichkeit auf. Bereits vor der Friedlichen Revolution gab es eine zunehmende Aggressivität besonders unter jungen Einwohnern. Gewaltakte gegen Ausländer waren keine Seltenheit, sondern nahezu alltäglich. Wie verbreitet die Fremdenfeindlichkeit war, zeigte sich mit der Öffnung der DDR. Im Jahr 1990 wurden zweimal Wohnheime ausländischer Bürger von Hoyerswerdaern attackiert. Am 1. Mai. sahen circa 1 000 Menschen zu, wie man Mosambikaner verprügelte und ihr Wohnheim mit Steinen bewarf. Fremdenfeindlichkeit war eine verbreitete Einstellung. Niemand störte sich an den Gewalttaten gegen die Ausländer. Stattdessen wurden die Täter von der Menge nicht nur nicht von ihrem Tun abgebracht, sondern vielmehr durch Beifall darin bestärkt. Die Applaudierenden befürworteten die Gewalt gegen andere Menschen. Die Ausschreitungen wurden dadurch zum »Event«, ein aus dem Alltag herausragendes Erlebnis. Der Verlauf der Angriffe auf das Wohnheim in der Zetkin - Straße am 3. Oktober zeigte, dass die Polizei von einigen Jugendlichen nicht mehr als Autorität anerkannt, sondern selbst Angriffsziel der Gewalttäter wurde. Offenbar verstanden die Täter ihre Freiheit als unbegrenzt. Ihnen schien es legitim, gegen Polizisten vorzugehen. Die ehemaligen Volkspolizisten wurden in den Monaten zuvor heftig als Teil des untergegangenen Machtapparates kritisiert. Spätestens in dieser Zeit des Umbruchs hatten somit die Polizisten ihr Ansehen in der Bevölkerung verloren. Aus diesem Grund und weil sie sich in der Nacht der Wiedervereinigung den fremdenfeindlichen Zielen der Jugendlichen entgegen stellten, 246 Hier im Wortsinn verstanden als »an die Wurzel gehen«.

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Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus vor 1991

wurden die Polizisten von den Gewalttätern angegriffen. Die Polizei stellte keine Autorität dar. Die gewaltsamen, fremdenfeindlichen Ausschreitungen wiesen auf die krisenhafte Situation Hoyerswerdas hin. Fremde, insbesondere Ausländer, waren ausgegrenzt. Die Gewalt gegen sie wurde von vielen begrüßt und gefeiert. Kein Bürger gebot Einhalt, niemand nahm sichtbar Anteil an den Opfern der Gewalt. Stattdessen schien es legitim, die Konkurrenten um Wohnung und Arbeit vertreiben zu wollen. Die Ausschreitungen drückten bereits die Probleme der Transformation aus. In diesen Monaten kurz vor der Wiedervereinigung begannen die Menschen, sich über ihre Zukunft zu sorgen. Die Betriebe, Schulen und Sozialsysteme wurden bereits umstrukturiert. Die vertrauten Lebensumstände gab es nicht mehr. Die Zukunft blieb offen und damit unsicher. Insofern wiesen die Ausschreitungen 1990 dieselben Ursachen auf wie die Gewaltausbrüche ein Jahr darauf, doch mit dem Unterschied, dass 1990 noch keine Asylbewerber in Hoyerswerda lebten. In den ersten Monaten 1991 wurden in diese Stadt zusätzlich zu den ehemaligen Vertragsarbeitern Asylbewerber aus über 20 Nationen untergebracht. Vor dem Hintergrund der bestehenden sozialen Belastungen und der offenen und gewaltförmigen Fremdenfeindlichkeit vieler Einwohner der Stadt bleibt dieser Beschluss unverständlich.

V. Die Ausschreitungen im September 1991

1. Zeitlicher Ablauf der Ausschreitungen Die mehrtägigen Angriffe auf die beiden Ausländerwohnheime der Stadt lassen sich in vier Phasen einteilen. Am 17. September entzündeten sich die Ausschreitungen an einer Auseinandersetzung jugendlicher Skinheads mit vietnamesischen Händlern ( Phase Eins ). Vom 18. bis zum 20. September wurde täglich das Wohnheim der ehemaligen Vertragsarbeiter in der Albert - Schweitzer - Straße angegriffen. Diese ritualisierte Gewalt markiert Phase Zwei. Am Wochenende, dem 21. und 22. September, verlagerte sich die Gewalt und das Asylbewerberheim in der Thomas - Müntzer - Straße wurde angegriffen ( Phase Drei ). Die Ausschreitungen endeten mit der Evakuierung der Asylbewerber am 23. September (Phase Vier ). Im Nachklang kann die Gegendemonstration am 29. September 1991 als Epilog der mehrtägigen Ausschreitungen gewertet werden. 1.1 Phase Eins : Der Beginn der Ausschreitungen

Am Dienstag, dem 17. September 1991 hielten sich gegen 14 Uhr mehrere Jugendliche vor der Kaufhalle im Stadtzentrum auf. Zunächst hieß es, vier bis fünf Personen würden dort »faschistische Parolen brüllen und Leute belästigen«.1 Aufgrund dieser Meldung wurde ein Streifenwagen mit zwei Polizisten zum Ort des Geschehens beordert. Die Polizisten stellten fest, dass sich dort circa zwölf Jugendliche aufhielten. Sie saßen auf Bänken oder standen vor der Kaufhalle, tranken Bier »und verhielten sich ruhig«. Die Polizisten identifizierten zwei der Jugendlichen, einen als Hans - Michael P. und den anderen als Peter A.2 Zur Verstärkung der beiden Polizisten wurde ein zweiter Streifenwagen gesandt. Dieser traf wenige Minuten später ein. Der Fahrer berichtete in seiner Zeugenaussage, lediglich sieben Personen angetroffen zu haben. Bei diesen handelte es 1 2

KAst Hoyerswerda vom 17. 9. 1991, Zeugenvernehmung Steffen M. ( SächsHStA, 13363 StAW Dresden, Nr. 1266, Bl. 17). Vgl. ebd.

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Die Ausschreitungen im September 1991

sich »überwiegend [ um ] Glatzköpfige«. Auf später vorgelegten Fotos konnte der Polizist Hans - Michael P., Heiko W. und Ronny H. wieder erkennen.3 Neben den Genannten stellte die Urteilsschrift gegen Peter A. die Anwesenheit von diesem sowie von Rene W. und Jörg Pf. fest.4 Die Jugendlichen tranken vor der Kaufhalle Bier und Schnaps und hörten »Skinhead - Melodien«5 bzw. »Neonazi - Musik«.6 Ein ordnungswidriges Verhalten sahen die Polizisten darin nicht : »Sie [ die Jugendlichen – Anm. d. Verf.] haben gesungen, aber sich nicht laut und störend verhalten, so dass es für uns keinen Grund zum Einschreiten gab und wir mit beiden Funkstreifenwagen wieder wegfuhren.«7 Nach wenigen Stunden beschloss die Gruppe, einen Bekannten im Krankenhaus zu besuchen. Dafür musste sie den Lausitzer Platz überqueren. Laut Augenzeugen, die dem »Hoyerswerdaer Wochenblatt« die Szene schilderten, begannen die Jugendlichen, Kunden wie Verkäufer des dortigen Wochenmarktes zu belästigen und tätlich anzugehen. Dabei benahmen sie sich so grob, dass einige Kunden verängstigt flüchteten bzw. Verkäuferinnen ihre Läden schlossen.8 Schließlich entdeckten die Skinheads vietnamesische Zigarettenhändler und bestahlen diese.9 Der Anlass hierfür war banal : Die Jugendlichen hatten selbst keine Zigaretten mehr. Der Überfall auf die vietnamesischen Händler erschien ihnen dabei legitim. Sie waren laut dem Beteiligten Heiko W. »der Meinung [...], dass die Vietnamesen nur schachern und diese Zigaretten nicht ohne Lizenz verkaufen dürfen. Die deutschen Händler auf dem Lausitzer haben sich meines Erachtens nach auch schon darüber beschwert, weil sie ihre Zigaretten nicht mehr loskriegen. Was die Vietnamesen betreiben ist Schwarzhandel.«10 Heiko W. stilisierte die Jugendgruppe als Ordnungsmacht, die lediglich die Interessen deutscher Händler gegenüber ihrer vermeintlich illegalen Konkurrenz durchsetzen wollte. Das Vorurteil der »schachernden«, die deutschen Händler übervorteilenden Vietnamesen galt ihnen als ausreichende Legitimation, um sie auszurauben. Gegen 17 Uhr teilten Bürger der Polizei mit, dass Jugendliche auf ihrem Weg Richtung WK III vor dem Karstadt - Kaufhaus am Lausitzer Platz Fahrräder beschädigten. Ein Funkstreifenwagen wurde dorthin beordert. Die Polizisten trafen auf die siebenköpfige Gruppe um Peter A., Rene W., Jörg Pf. und Heiko W. 3 4 5 6 7 8 9 10

KAst Hoyerswerda vom 17.9.1991 : Zeugenvernehmung Detlef H. ( ebd., Bl. 13). Vgl. Kreisgericht Bautzen vom 29.9.1992, Urteil in der Strafsache gegen Peter A. ( ebd., Nr. 961, Bl. 110). Ebd. Kriminalpolizei Hoyerswerda, Soko - Rex Asta, LKA, 2. Beschuldigten - Vernehmung Heiko W., Görlitz 10.10.1991 ( ebd., Bl. 9). Zeugenvernehmung Detlef H. ( Bl. 13). Vgl. Siegbert Matsch, Menschenjagd vorm HABE. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 20.9.1991. Vgl. 2. Beschuldigtenvernehmung Heiko W. ( Bl. 10). Ebd. ( Bl. 14 f.).

Zeitlicher Ablauf der Ausschreitungen

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vor der Kaufhalle im WK II. Sie standen auf einer Wiese, sangen »Lieder mit teilweise faschistischem Inhalt und erhoben die Hand zum Hitlergruß«. Die Polizisten forderten die Gruppe auf, die Musik leiser zu drehen. Der Alkohol und die rechtsextreme Musik hatten die Hemmschwelle gesenkt, sodass die Jugendlichen in Konfrontation mit den Polizisten gerieten. Peter A. drohte, den Polizisten B. umzubringen : »Weiterhin sagte er zu ihm ›Du Kommunistenschwein, Du hast mich damals in den Knast gebracht [...]‹. Das sagte er so ungefähr, auch sagte er zum B[...] sinngemäß : ›komm her, ich mach dich kalt.‹ Zwei von diesen Jugendlichen hielten ihn aber zurück, so dass es zu keinen Tätlichkeiten gekommen ist. Der A[...] spuckte dann auch noch den B[...] von hinten an. Ein mir nicht bekannter Jugendlicher dieser Gruppe sagte dann auch noch zum B[...], dass Er ihn kaltmachen will, wenn er seinen Freund ( gemeint A[...]) in den Knast bringt.«11 Bei dem Vorfall erschien Peter A. den Polizisten stärker alkoholisiert als die übrigen Beteiligten, denn er stand nicht sicher und konnte keine längeren zusammenhängenden Antworten geben.12 Laut Gutachten des Gerichtsmediziners hatte er 4,84 Promille Alkohol im Blut und damit einen Vollrausch.13 Aber auch Heiko W. widersetzte sich der Aufforderung der Polizisten. Er antwortete sinngemäß : »Mach mich an, haue mir was mit dem Knüppel rüber damit alle sehen, wie Du einen Deutschen verprügelst.«14 Die Polizisten symbolisierten für die Jugendlichen nicht mehr die staatliche Autorität. Im Gegenteil, sie wirkten ziemlich hilflos. Offen bleibt die Frage, warum der stark alkoholisierte Peter A. nicht festgenommen wurde, als er einen Polizisten bedrohte. Zwischenzeitlich war der zweite Streifenwagen erneut zur Unterstützung eingetroffen. Die hinzugekommenen Polizisten sahen, wie einer der Jugendlichen einen Polizeibeamten beschimpfte. »Nach einigen Minuten kamen zwei weitere Kahlköpfige aus Richtung Kaufhalle WK II gerannt und riefen die anderen Personen zu ›die haben den Hund tot gemacht‹. Daraufhin rannten alle Personen in Richtung Centrum - Markt – HBE – weg.«15 Laut Ronny H., einem der Jugendlichen, führte einer der Beteiligten einen Rottweiler ohne Hundeleine mit sich. Dieser Hund wurde plötzlich vermisst. Der Besitzer »sagte dann in die Masse hinein, dass die Vietnamesen seinen Hund erschlagen oder abgestochen hätten«.16 Daraufhin eilte die Gruppe zurück zum Markt. »Dort haben wir dann die

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Zeugenvernehmung Steffen M. ( Bl. 17). Vgl. Urteil gegen Peter A. ( Bl. 111). Vgl. Kreisgericht Bautzen vom 21.9.1992, Protokoll über die Hauptverhandlung gegen Peter A. in öffentlicher Sitzung ( ebd., Bl. 105). Zit. in Zeugenvernehmung Steffen M. ( Bl. 18). Zeugenvernehmung Detlef H., Bl. 13. KAst Hoyerswerda vom 17. 9. 1991, Beschuldigtenvernehmung Ronny H ( ebd., Nr. 1341, Band 1, Bl. 23).

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Vietnamesen wieder gesehen. Diese waren mit Zaunlatten bewaffnet. Wir bewaffneten uns auch mit Tischbeinen, von einem Tisch welcher dort auf dem Markt irgendwo gestanden hatte.« Die Händler flohen und die Jugendlichen verfolgten sie : »Wir liefen zu den Vietnamesen, welche aber vor uns in Richtung Albert - Schweitzer - Straße flüchteten. Wir verfolgten sie bis in die Höhe des sogenannten ›Polenhauses‹. Wir nahmen an, dass die Vietnamesen dort wohnen würden. Ich muss mich hier berichtigen, dass haben wir gewusst.«17 Die Jugendlichen hielten die vietnamesischen Zigarettenhändler für die Täter und wollten diese zur Rechenschaft ziehen. Dass der Hund noch lebte, stellte sich erst später heraus.18 Aus der Rückschau wird deutlich, dass die Verwirrung um den verschwundenen Hund der Protestauslöser war. Nachdem das Gerücht kursierte, die Vietnamesen hätten den Hund getötet, eskalierte die Gewalt zwischen den Jugendlichen und den vietnamesischen Händlern. Die Jugendlichen wollten sich rächen und jagten letztere bis zum Ausländerwohnheim in der Albert Schweitzer- Straße. Der Beteiligte Heiko W. sagte aus, dass die Vietnamesen vor den heranstürmenden Jugendlichen in Richtung des Ausländerwohnheims in der Schweitzer Straße flohen. Er selbst war schneller als seine Freunde und stand den Verfolgten bald allein gegenüber. In einem Fußgängertunnel zur Schweitzer - Straße traf er auf vier Vietnamesen, die mit Holzleisten bewaffnet waren, die mit Nägeln bespickt waren. Sie schlugen um sich und verletzten Heiko W. am Unterarm, an der Brust und im Schulterbereich.19 Die Szene beobachtete der von einer Kneipe kommende Karsten Ralf P. Er sah, wie Heiko W. von vier bis fünf Vietnamesen verfolgt wurde. Das war für ihn der Grund, sich vor das Ausländerwohnheim zu begeben.20 Laut Pollack zogen gegen 18.40 Uhr »15 aktive Skins und 20 bis 25 teilweise aktive, meist inaktive Bürger in Richtung Albert - Schweitzer - Straße vor das Ausländerwohnheim«.21 Einer davon war Daniel B., der sich der Gruppe anschloss, weil diese zum Ausländerwohnheim unterwegs war.22 Die Polizisten fuhren den Jugendlichen mit beiden Streifenwagen hinterher, da »diese Personen einen sehr aufgebrachten Eindruck machten, auch den Eindruck hinterließen Alkohol getrunken zu haben und sich auf irgendeine Weise abreagieren wollten«.23 Um mit ihren Streifenwagen zum Wohnheim zu gelangen, mussten die Polizisten jedoch einen Umweg fahren.24 17 18 19 20 21 22 23 24

Ebd. Vgl. 2. Beschuldigtenvernehmung Heiko W. ( Bl. 10); Urteil gegen Peter A. ( Bl. 108). Vgl. 2. Beschuldigtenvernehmung Heiko W. ( Bl. 11). Vgl. KAst Hoyerswerda vom 18.9.1991, Beschuldigtenvernehmung Karsten Ralf P. ( SächsHStA, 13363 StAW Dresden Nr. 961, Bl. 4). Pollack, Ausschreitungen, S. 23. Vgl. Beschuldigtenvernehmung Daniel B. ( Bl. 3). Zeugenvernehmung Detlef H. ( Bl. 13). Vgl. Urteil gegen Peter A. ( Bl. 108).

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Als die Jugendlichen am Wohnheim ankamen, stellten sie sich vor den Hauseingang und riefen »laut nach den Vietnamesen [...], damit sie runterkommen«. Sie riefen Parolen wie : »Ausländer raus ! Deutschland den Deutschen ! Kanakenviezeug ! [ sic !] Wichser !«25 Anfangs konzentrierten sie sich darauf, die Vietnamesen zu provozieren, um sie aus dem Haus zu locken. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich afrikanische Bürger vor dem Wohnheim auf. Sie wurden von den Jugendlichen zunächst nicht behelligt. Erst die Polizisten, die wegen des Umwegs verspätet eintrafen, forderten vier Mosambikaner auf, ins Haus zu gehen. Andere Mosambikaner schauten aus Fenstern heraus.26 Die Polizisten zählten bei ihrem Eintreffen am Ort des Geschehens circa acht bis neun »Kahlköpfige«.27 Peter A. warf bereits Steine in Richtung Haus. Nach der Ankunft der Polizisten teilte Heiko W. einem Polizisten mit, dass sie aus Rache für den angeblich erstochenen Hund »die ›Nigger‹ jetzt kaltmachen wollen«.28 Die Polizisten sperrten den Hauseingang ab und konnten so die Jugendlichen von der Stürmung des Hauses abhalten.29 Die Gruppe begann daraufhin, das Wohnheim zu belagern. Dabei riefen sie zunächst Parolen wie : »›Kanacken, macht Euch nach Hause‹ ›Drecksäcke‹ ›Ausländer raus, Deutschland den Deutschen‹«30 oder »Neger raus, Deutschland den Deutschen, Kommt raus aus eurem Laden, wir klatschen Euch auf und ähnliches mehr«.31 Den Jugendlichen ging es zunächst darum, die Heimbewohner mit den fremdenfeindlichen Sprüchen zu provozieren. Sie wollten eine Schlägerei mit ihnen : »Vor dem Heim ( Hausaufgang Nr. 20) sangen wir dann zuerst unsere Lieder wie ›Deutschland den Deutschen, Ausländer raus !‹ und ›Bambule – Randale Rechtsradikale !‹ Wir wollten die Ausländer damit provozieren. Wir forderten sie dann auch lautstark auf, rauszukommen und sich mit uns zu schlagen, ansonsten würden wir den Hausaufgang stürmen.«32 Dabei richteten sich die Aggressionen nicht mehr nur gegen die vietnamesischen Händler, sondern gegen alle ausländischen Bewohner. Warum sich die Aggressionen plötzlich gegen die afrikanischen Bewohner richteten, ist nicht sicher zu klären. Heiko W. fühlte sich anscheinend von den aus dem Haus schauenden »Mohrenköpfen« provoziert.33 Daher schrie er die Parolen nach oben. Die 25 26 27 28 29 30 31 32 33

Vgl. KAst Hoyerswerda vom 17. 9. 1991, Beschuldigtenvernehmung Ronny H ( ebd., Nr. 1341, Band 1, Bl. 23). Vgl. Zeugenaussage Detlef H. ( Bl. 14). Zeugenvernehmung Detlef H. ( Bl. 14). Zeugenaussage Steffen M. ( Bl. 18). Vgl. Zeugenvernehmung Steffen M. ( Bl. 19). 2. Beschuldigtenvernehmung Heiko W. ( Bl. 11). Zeugenvernehmung Detlef H. ( Bl. 14). KAst Hoyerswerda vom 17. 9. 1991 : Beschuldigtenvernehmung Daniel B. ( ebd., Nr. 1266, Band 1, Bl. 4). 2. Beschuldigtenvernehmung Heiko W. ( Bl. 11).

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vietnamesischen Bewohner waren nicht mehr zu sehen. Stattdessen waren die Mosambikaner sichtbar und boten dadurch die Zielscheibe für die Angriffe der Skinheads. Die Vergeltung für den vermeintlichen Tod des Hundes hatte ab diesem Zeitpunkt an Bedeutung verloren. Vielmehr waren die Jugendlichen von Alkohol und fremdenfeindlicher Musik sowie durch die Situation berauscht. Sie hatten Spaß daran, Ausländer zu beleidigen. Ihr eigentliches Ziel war weiterhin, eine Schlägerei zu provozieren. Allerdings war der Hauseingang von den Polizisten abgeriegelt. Die Ausländer reagierten jedoch nicht auf die verbalen Provokationen. Daher beließen es die Angreifer nicht bei den fremdenfeindlichen Parolen : »Um die Ausländer weiter zu provozieren, um eine Schlägerei mit ihnen anzufangen, begannen wir den Hausaufgang und die Fenster, wo die Ausländer heraus sahen, mit Steinen zu bewerfen.«34 Über den Grund für die Steinwürfe gibt es unterschiedliche Angaben. Der beteiligte Ronny H. gab an, dass zuerst aus dem Haus Flaschen und Bretter geworfen wurden. Diese Gegenstände hätten mehrere Umstehende verletzt. Das habe man sich »nicht bieten lassen« wollen und zurückgeschossen.35 Der ebenfalls Tatbeteiligte Daniel B. schilderte aber den zuvor genannten Ablauf. Dieser deckt sich zudem mit den Aussagen der Polizisten. Nach ihrem Bericht warfen zunächst die Jugendlichen Steine auf das Haus. »Dann kamen von den Fenstern des Hauses leere Flaschen herunter geflogen, dann wurden es auch volle Flaschen und Bretter. Dabei handelte es sich vermutlich um ganze Schrankteile.« Diese fielen auf die Straße, den Bürgersteig und umstehende Autos. Dadurch wurden ein Polizist und eine unbeteiligte Frau verletzt.36 Daher kann vermutet werden, dass es zu Ronny H.s Verteidigungsstrategie gehörte, in der Vernehmung eine Notwehrsituation zu konstruieren. Zwischenzeitlich war die Ansammlung vor dem Wohnheim angewachsen. Denn »seit dem WK II waren auch eine Menge Schaulustige den Personen gefolgt und beteiligte sich in unterschiedlichen Formen, indem sie die Handlungen ablehnten oder begrüßten. Nach meinen Schätzungen haben sich in der Folge ca. 15 Schaulustige aktiv beteiligt, indem sie auch Steine in Richtung Fensterscheiben der ausländischen Wohnunterkunft warfen.«37 Neben diesen 15 Schaulustigen riefen circa zehn »Kahlköpfige« fremdenfeindliche Parolen und warfen Steine. Die Menge wuchs schließlich auf etwa 200 schaulustige Männer und Frauen an.38 Die jugendlichen Gewalttäter wurden von

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Beschuldigtenvernehmung Daniel B. ( Bl. 4). Vgl. Beschuldigtenvernehmung Ronny H. ( Bl. 23 f.). Zeugenvernehmung Steffen M. ( Bl. 20); vgl. ebenso Zeugenaussage Detlef H. ( Bl. 14). Bei der Verletzten handelt es sich um eine engagierte Bürgerin, die laut eigenem Bekunden die Polizei moralisch unterstützen wollte und sich daher zu den Polizisten stellte; vgl. KAst Hoyerswerda vom 17.9.1991 : Zeugenvernehmung Katja B. ( ebd., Nr. 1265, Bl. 7 f.). Zeugenaussage Detlef H. ( Bl. 14 f.); vgl. auch Urteil gegen Peter A. ( Bl. 108). Zeugenaussage Detlef H. ( Bl. 14 f.); vgl. auch Urteil gegen Peter A. ( Bl. 108).

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den Schaulustigen regelrecht angefeuert. Bürger riefen : »Am besten ein paar Mann dort hoch schikken [ sic !], drei Schwarze aus dem Fenster geworfen, dann wird Ruhe sein«.39 Darüber hinaus haben sich ca. 15 Schaulustige an den Steinwürfen beteiligt. Die Grenze zwischen Zuschauern und aktiv Handelnden war somit fließend. Die Gewalt eskalierte im Laufe des frühen Abends weiter. Einer der Jugendlichen warf drei Müllcontainer um und schlug die Scheiben eines parkenden PKW Trabant ein.40 Der Trabant wurde von zwei Jugendlichen vor das Haus geschoben, damit sie geschützt vor den herabfallenden Gegenständen an das Wohnheim gelangen konnten.41 Es flogen aber nicht nur Steine gegen das Wohnheim, sondern auch gegen die Polizei.42 Die Polizisten bekamen Verstärkung aus umliegenden Ortschaften. Zunächst traf ein dritter Funkstreifenwagen ein, der aus der Nachbarstadt Lauta kam.43 Dennoch waren die »vorhandenen Polizeikräfte bei dem Ausmaß der Gewalttätigkeiten nicht in der Lage, diese wirkungsvoll zu unterbinden und die öffentliche Sicherheit damit zu gewährleisten«,44 attestierte die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift gegen Daniel B. Die Polizisten konnten lediglich den Hauseingang absperren, um die Ausländer von der aufgebrachten Menge zu trennen und Schlimmeres zu verhindern.45 Dadurch gerieten sie zwischen die Fronten. Ein Polizist wurde von einem herab geworfenen Gegenstand verletzt.46 Auch von den Skinheads wurden die Polizisten beschimpft. Ronny H. beleidigte sie als »Bullenschweine, weil [ er ] den Eindruck hatte, dass die Polizei diese Ausländer beschützt, wo sie doch zu ihren Landsleuten halten müssten«.47 Erst als gegen 19.20 Uhr weitere Polizeieinheiten aus Bautzen, Kamenz und Görlitz eintrafen, konnten die Ordnungskräfte den Platz vor dem Wohnheim räumen. Die Menge zerstreute sich. Die Schaulustigen, die zuvor die Gewalttäter angefeuert hatten, zeigten nun ihr Unverständnis über die Räumung. Aus der Menge kamen Stimmen wie »Die Polizei soll die Deutschen in Ruhe lassen«, oder »Die sollen lieber bei den Schwarzen für Ordnung sorgen, die weißen Huren dort rausprügeln.«48 Die Zuschauerinnen und Zuschauer solidarisierten sich mehrheitlich mit den Angreifern gegen die ausländischen Betroffenen und die Polizisten. Letztlich verhaftete die Polizei zwölf 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48

Zit. nach Rassenhaß eskalierte. In : Rundschau für Nordsachsen vom 19.9.1991. Vgl. ebd. ( Bl. 20). Vgl. Urteil gegen Peter A. ( Bl. 108). Vgl. Beschuldigtenvernehmung Daniel B. ( Bl. 4). Vgl. Zeugenaussage Detlef H. ( Bl. 14). Staatsanwaltschaft Dresden vom 14. 11. 1991, Anklageschrift gegen Daniel B. (13363 StAW Dresden, Nr. 1266, Band 1, Bl. 23). Vgl. Zeugenaussage Detlef H. ( Bl. 14);Zeugenaussage Steffen M. ( Bl. 19). Vgl. Zeugenaussage Steffen M. ( Bl. 19). Beschuldigtenvernehmung Ronny H. ( Bl. 24). Zit. nach Rassenhaß eskalierte.

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Jugendliche, von denen vier leicht verletzt waren. Gegen 20.30 Uhr war die Lage unter Kontrolle.49 Die Ausschreitungen waren nicht geplant. Sie entstanden spontan als Folge einer fremdenfeindlichen Auseinandersetzung zwischen einigen Jugendlichen und vietnamesischen Zigarettenhändlern. Doch die Verfolgung der Ausländer und die Belagerung des Wohnheimes durch die Skinheads zogen mehr und mehr neugierige Passanten an. Diese zeigten offen ihre Sympathie für die fremdenfeindliche Gewalt. Anstatt die jugendlichen Täter von ihrem Tun abzuhalten, ermunterten »normale« Bürgerinnen und Bürger die Skinheads. Dadurch eskalierte der Konflikt immer weiter. Eine fremdenfeindliche Auseinandersetzung rechtsextremer Jugendlicher mit ausländischen Händlern entwickelte sich zu einem Spektakel, welches Aufsehen erregte. Die Beifallsbekundungen mehrerer hundert Bürger haben in Verbindung mit dem zögerlichen, nahezu ängstlichen Agieren der überforderten Polizisten gegenüber einigen wenigen alkoholisierten rechtsextremen Jugendlichen wesentlich zur Eskalation der Gewalt und zur Wiederholung der Ausschreitungen an den folgenden Tagen geführt. 1.2 Phase Zwei : Gewalt als tägliches Ritual

Am Mittwoch, dem 18. September, versammelten sich gegen 17.10 Uhr 100 Jugendliche vor dem Ausländerwohnheim.50 »Die Jugendlichen riefen ausländerfeindliche Losungen und forderten die sofortige Abschiebung der ausländischen Bürger.«51 Gegen 18 Uhr war die Menge bereits auf 150 Menschen angewachsen, von denen »40–50 [...] von der Polizei als ›harter Kern‹ ausgemacht« wurden.52 Es handelte sich offenbar »nicht nur um Jugendliche, sondern auch um Anwohner aus dem umliegenden Gebiet des Wohnheimes [...], die ihren Protest gegen Ausländer mit Parolen zum Ausdruck brachten.«53 Ab diesem Zeitpunkt kam es zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den Heimbewohnern und den Umstehenden. Daraufhin forderte die Polizei die Bewohner des Wohnheimes auf, sich in das Haus zu begeben. Anschließend wurde der Zutritt zum Heim von 57 Polizisten gesichert.54 Pollack ergänzt, dass bereits zu diesem Zeitpunkt Steine von Jugendlichen geworfen wurden. Dies wurde von umstehenden 49 50

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Vgl. Pollack, Ausschreitungen, S. 23. Vgl. We - Meldung, Erscheinung des politischen Extremismus ( im Folgenden zit. als We - Meldung vom 18. 9. 1991) ( SächsHStA, 12989 SMI, Nr. 102, unpag. ); Pollack, Ausschreitungen, S. 24. Landespolizeipräsidium Lagezentrum Dresden vom 20.9.1991, Vorkommnisse am Ausländerwohnheim in Hoyerswerda. Auszug aus den Lageberichten der Vortage, S. 1 ( SächsHStA 12989 SMI, Nr. 102, unpag. ). Im Folgenden zit. als Lagezentrum Dresden vom 20.9.1991. Pollack, Ausschreitungen, S. 24. Weitere Randale vor Ausländerwohnheim. In : Rundschau für Nordsachsen vom 20. 9. 1991. Vgl. Lagenzentrum Dresden vom 20.9.1991.

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älteren Bürgern mit Beifall begrüßt. Die Randalierer konnten somit wiederum mit der Sympathie bei den Einwohnern rechnen.55 Gegen 18.45 Uhr warfen circa 10 bis 12 Heimbewohner vom Dach des Hauses Steine und Flaschen auf die Menge. Drei Personen wurden verletzt und ein PKW beschädigt. Schließlich konnte die Polizei diese Würfe unterbinden.56 Vor dem Haus war die Stimmung weiterhin angeheizt. Es fielen »Äußerungen Ausländer raus, sonst werden wir die Aktivitäten solange fortsetzen, bis die Ausländer wirklich raus sind, oder das gesamte Haus wird angezündet.«57 Für Andreas, einen der mosambikanischen Heimbewohner, war der »schlimmste Tag [...] Mittwoch, der 18. 9. , als auch Bürger von Hoyerswerda vor dem Wohnheim standen«.58 Ab 19.30 Uhr begann die Polizei, die Gruppen zu trennen. Auch Vertreter der Ausländerbehörde, Landrat Schmitz und Pfarrer Hoffmann versuchten durch Gespräche mit den Gewalttätern, deeskalierend einzuwirken.59 Gegen 21 Uhr war die Situation unter Kontrolle. Zu diesem Zeitpunkt waren ca. 200 Personen vor Ort, doch die Ansammlung löste sich bald auf.60 Landrat Wolfgang Schmitz diskutierte im Anschluss mit den letzten 25 Verbliebenen.61 Dennoch blieb die Androhung weiterer »Aktivitäten [...], falls die Ausländer die Stadt nicht verlassen sollten«.62 An diesem Tag gab es drei Verletzte und einen beschädigten PKW. Verhaftet wurde niemand.63 Am Donnerstag, dem 19. September, begannen die Ausschreitungen ähnlich wie am Vortag. Gegen 16.50 Uhr versammelten sich ungefähr 30 Jugendliche vor dem Wohnheim. Nur 40 Minuten später waren es bereits 200 Personen. Dabei machte die Polizei 30 Personen als »harten Kern« aus.64 In den Abendstunden waren schließlich 500 Personen vor dem Wohnheim.65 Gegen 17.45 Uhr wurden die ersten Brandflaschen ( Molotowcocktails ) gebaut. Dies schien eine improvisierte Tat zu sein, denn keiner aus der Menge hatte sich dafür präpariert. Stattdessen wurde auf einen dort stehenden, bereits am Dienstag beschädigten PKW zurückgegriffen. Aus diesem wurde der Tank gerissen und mit dem Benzin

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Vgl. Pollack, Ausschreitungen, S. 24. Vgl. ebd.; Lagenzentrum Dresden vom 20.9.1991, S. 1. Vgl. LR vom 20.9.1991 ( Hervorhebung im Original ). Gesprächsprotokoll Waltraud Spill am 18. Oktober 1991 ( Privatarchiv Waltraud Spill ). Vgl. Lagezentrum Dresden vom 20. 9. 1991, S. 1; Pollack, Ausschreitungen, S. 24; Bremer, Ausländer in Hoyerswerda, S. 32. Vgl. Lagezentrum Dresden vom 20.9.1991, S. 1; We - Meldung vom 18.9.1991; Aufbaustab LKA Sachsen, SOKO »REX« vom 25. 9. 1991, Aktuelles Lagebild mit schwerpunktmäßiger Darstellung der Ereignisse in Hoyerswerda, S. 5 ( SächsHStA 12989 SMI, Nr. 309, unpag. ). Vgl. Pollack, Ausschreitungen, S. 24. Lagenzentrum Dresden vom 20.9.1991, S. 1. Vgl. SOKO Rex, S. 5. We - Meldung vom 19.9.1991. Vgl. Pollack, Ausschreitungen, S. 25. Vgl. Lagezentrum Dresden vom 20.9.1991, S. 2.

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Bild 1 : Blick auf die Menge in der Albert - Schweitzer - Straße.66

wurden Flaschen gefüllt.67 Ein Zeuge berichtete, dass die Herstellung der Brandflaschen von »Jugendliche[ n ], höchstens 14 Jahre alt« vorgenommen wurde.68 Die Polizei sperrte daraufhin den Eingangsbereich des Wohnheimes ab, »so dass kaum noch jemand an das Wohnheim herankommen« konnte.69 »In den abgesperrten Raum wurden Brand - und andere Flaschen vom Dach der angrenzenden Gebäude sowie der anderen Straßenseite geworfen.«70 An diesem knappen Satz wird die Brisanz der Ereignisse deutlich : Die Angreifer standen nicht nur vor dem Ausländerwohnheim, sondern befanden sich außerdem auf den umliegenden Gebäuden. Von diesen Positionen aus konnten sie die Polizei in ein Kreuzfeuer mittels Molotowcocktails nehmen. Ein Zeuge meinte in den Brandflaschenwerfern »vermummte Skins zu erkennen«. Diese hätten circa zehn Minuten ihre Brandsätze geworfen und seien anschließend vor der herbeieilenden Polizei

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Foto : Wolfgang Moose. In : Sächsische Zeitung vom 19.9.1991. Vgl. ebd.; We - Meldung vom 19.9.1991. KAst Hoyerswerda vom 2. 10. 1991, Beschuldigtenvernehmung Silvio P. ( SächsHStA 13363 StAW Dresden, Nr. 964, Bl. 5). Pollack, Ausschreitungen, S. 25. Lagezentrum Dresden vom 20.9.1991, S. 2.

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davongelaufen.71 Neben Molotowcocktails wurde das Wohnheim auch mit Steinen und Stahlkugeln beworfen.72 Doch nicht nur die Ausländer, auch die Polizisten wurden an diesem Tag erstmals tätlich angegriffen.73 Gegen 22 Uhr konnte die Menge schließlich durch den Einsatz weiterer Polizeikräfte und Diensthunde aufgelöst werden. Die Räumung des Geländes war nach einer Stunde abgeschlossen und die Polizei begann das Wohnheim zu sichern.74 »Trotzdem bildeten sich erneut kleinere Personengruppen, die sofort aufgelöst wurden.« Der Einsatz wurde schließlich gegen 23 Uhr beendet.75 Im Laufe des Tages wurden 17 Menschen verletzt, drei davon mussten stationär behandelt werden, 14 ambulant. Darunter war ein Polizist, der von einer Flasche am Kopf getroffen worden war. Eine Passantin wurde von einem Mann gepackt, dann legte er sie über seine Schulter und warf sie auf die Absperrkette der Polizei. Der Täter warf die Frau dabei absichtlich auf einen Diensthund, von dem sie gebissen wurde.76 Weitere 14 Personen erlitten leichte Verletzungen. Die Polizei nahm 55 Personen vorläufig fest.77 Am Freitag, dem 20. September, begannen die Ausschreitungen wiederum am Nachmittag. Gegen 17.30 Uhr versammelten sich circa zwölf Jugendliche vor dem Wohnheim und warfen mit Steinen Fenster ein.78 Nachdem die Polizei gegen 18 Uhr eingetroffen war, löste sich diese Gruppe auf.79 Laut Pollack trafen sich gegen 19.40 Uhr 15 Jugendliche auf einem nur 50 Meter vom Wohnheim entfernten Parkplatz. Diese Gruppe wurde aber schnell von der Polizei aufgelöst.80 Spätestens um 20.25 Uhr sammelten sich erneut Personen vor dem Wohnheim. Zunächst waren es 21, um 21.05 Uhr bereits 120 Menschen. Aus dieser Gruppe wurden sowohl das Wohnheim als auch die Polizisten mit Molotowcocktails und Steinen beworfen.81 Um 21.30 Uhr begannen drei Hundertschaften der sächsischen Bereitschaftspolizei, den Platz zu räumen. Dabei wurden drei Personen vorläufig festgenommen.82 »An das Ausländerwohnheim kommen

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KAst Hoyerswerda vom 19.9.1991, Beschuldigtenvernehmung Marinko G. ( SächsHStA 13363 StAW Dresden, Nr. 963, Bl. 3). Vgl. SOKO REX, S. 5. Vgl. Lagezentrum Dresden vom 20.9.1991, S. 2; We - Meldung vom 19.9.1991. Vgl. ebd. Lagezentrum Dresden vom 20.9.1991, S. 2. Vgl. SOKO REX, S. 6; We - Meldung vom 19.9.1991. Vgl. SOKO REX, S. 6. Vgl. Lagezentrum Dresden vom 23. 9. 1991, S. 2; We - Meldung vom 20. 9. 1991. Pollack, Ausschreitungen, S. 25 berichtet, nach zehn Minuten habe sich die Menge auf 120 Jugendlichen verstärkt. Diese Angabe kann jedoch mit den vorliegenden Polizeiberichten nicht bestätigt werden. Vgl. We - Meldung vom 20.9.1991. Vgl. Pollack, Ausschreitungen, S. 25. Vgl. ebd., Lagezentrum Dresden vom 23.9.1991, S. 2; We - Meldung vom 20.9.1991. Vgl. Lagezentrum Dresden vom 23.9.1991; We - Meldung vom 20.9.1991.

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Störwillige nunmehr nicht mehr heran«, resümiert Pollack.83 Doch die Ausschreitungen waren damit an diesem Tag noch nicht vorbei. Gegen 22.45 Uhr wurde der Polizei bekannt, dass 14 »skintypisch gekleidet[ e ]« Jugendliche auf dem Weg zum Asylbewerberheim in der Thomas - Müntzer - Straße waren.84 Gegen 23 Uhr hieß es, dass ungefähr 40 Personen, die der Skinheadszene zugeordnet wurden, Fensterscheiben des Asylbewerberheimes einwarfen. Der Ortswechsel war nicht geplant. Dennis M., der zunächst mit seinem Vater den Ausschreitungen in der Schweitzer - Straße zusah, traf nach der Auflösung der Ansammlung auf einen Bekannten. Bei ihm handelte es sich um einen »ambulante[ n ] Händler aus Augsburg«, genannt der »Dicke«. Bei ihnen standen weitere Personen, »vorwiegend Glatzen«. »Einer sagte dann wohl, dass jetzt auch im WK IX etwas los sei – gemeint war das Asylantenheim Thomas - Müntzer - Str. Der ›Dicke‹ sagte dann sinngemäß : Na, fahren wir doch mal hin. Der Dicke selbst hatte meiner Meinung nach nicht vor, sich selbst an der Randale zu beteiligen, jedoch war er sehr neugierig.«85 Vor dem Asylbewerberheim waren bei Eintreffen dieser Gruppe bereits 10 bis 15 Personen anwesend, in den nächsten Stunden kamen weitere Täter dazu. Dies zeigt, dass die Verlegung der Ausschreitungen zwar spontan, aber nach Absprache erfolgte. Der Ortswechsel in die Thomas - Müntzer - Straße erfolgte wegen des zu hohen Polizeiaufgebotes in der Schweitzer - Straße.86 Die Täter bauten auch vor dem Asylbewerberheim, wie schon zuvor bei den Angriffen auf das Ausländerwohnheim in der Albert - Schweitzer - Straße, Molotowcocktails. Dabei wurden die Jugendlichen von Anwohnern unterstützt. Ein Beschuldigter sagte aus : »Später kam noch eine blonde Frau, die vermutlich im Nachbaraufgang vom Asylantenwohnheim wohnt, und brachte Lappen und Benzin zum bauen von Brandflaschen. Sie sagte den Leuten noch, in welche Fenster sie was werfen sollten und in welche nicht.«87 Allerdings gab es auch couragierte Personen. Ein Mann versuchte mehrmals, die Angreifer am Werfen der Brandflaschen zu hindern.88 Bereits nach 15 Minuten trafen ein Polizeieinsatzzug und 25 Polizisten des Sondereinsatzkommandos Sachsen »zur Beseitigung der Störung« ein.89 Kurz nach Mitternacht traten circa 70 Bewohner vor das Heim

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Pollack, Ausschreitungen, S. 25. We - Meldung vom 20.9.1991. KAst Hoyerswerda am 9. 10. 1991, Beschuldigtenvernehmung Dennis M. ( SächsHStA 13363 StAW Dresden, Nr. 1263, Bl. 7 f.). Vgl. Pollack, Ausschreitungen, S. 26. KAst Hoyerswerda vom 15. 10. 1991, Beschuldigtenvernehmung Alexander K. ( SächsHStA 13363 StAW Dresden, Nr. 1263, Bl. 19). Vgl. KAst Hoyerswerda vom 15.10.1991, Beschuldigtenvernehmung Dennis M. ( ebd., Bl. 20 f.). Lagezentrum Dresden vom 23.9.1991, S. 2.

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und verlangten ihre sofortige Verlegung nach Berlin.90 Die Räumung des Platzes dauerte indes bis 1.40 Uhr.91 Die Ausschreitungen am Mittwoch, Donnerstag und Freitag ( vom 18. bis 20. September ) wiesen deutliche Gemeinsamkeiten auf. Jeweils gegen 17 Uhr versammelten sich Jugendliche vor dem Wohnheim in der Albert - Schweitzer Straße: am Mittwoch 100, am Donnerstag 30 und am Freitag zwölf. Doch innerhalb einer Stunde wuchs die Menge auf mehrere hundert Personen an.92 Anscheinend waren die Ausschreitungen eine beliebte Feierabendbeschäftigung. Nach der Arbeit bzw. Schule strömten mehrere hundert Schaulustige zum Ausländerwohnheim, in der Erwartung, einem besonderen Ereignis beiwohnen zu können. Die erwartete Gewalt war eine Sensation, die die Schaulustigen nicht verpassen wollten, und versprach eine Unterbrechung des Alltags. Dadurch wurden die Ausschreitungen zum täglichen Ritual. Die Gewaltausbrüche erfolgten nicht mehr, wie am 17. September, spontan, sondern eskalierten jeden Tag auf nahezu identische Weise. Zugleich wurden die Angriffe zunehmend brutaler, die Gewalt steigerte sich von Tag zu Tag. Am Dienstag und Mittwoch warfen die Täter Steine auf das Ausländerwohnheim, am Donnerstag wurden Steine, Stahlkugeln und sogar Molotowcocktails geworfen.93 Die Gewalttäter zielten mit ihren Geschossen nunmehr auch auf die Polizisten, die den Zugang zum Wohnheim abgesperrt hatten.94 Ein Täter warf ein junges Mädchen gezielt vor die Polizeihunde.95 Durch die Ritualisierung der Angriffe und des Beifalls erhöhte die Menge den Druck auf die Ausländer, die Polizei und die politischen Entscheidungsträger. Die Menge wollte ihr Ziel, dass die Ausländer Hoyerswerda verlassen, um jeden Preis durchsetzen. 1.3 Phase Drei : Verlagerung der Ausschreitungen

Am Samstag, dem 21. September, wurde deutlich, dass sich die Ausschreitungen vollends von der Albert - Schweitzer - Straße zum Asylbewerberheim in der Thomas - Müntzer - Straße verlagert hatten. In der Albert - Schweitzer - Straße begann gegen 13.50 Uhr die, laut Pollack, »seit Wochen geplante« Rückführung von 60 Bewohnern des Vertragsarbeiterwohnheims in ihre Heimatländer.96 Diese Abreise konnte aber genauso gut als erster Erfolg der Gewaltwelle der vorange-

90 91 92 93 94 95 96

Vgl. We - Meldung vom 20.9.1991. Vgl. Lagezentrum Dresden vom 23.9.1991, S. 2. Vgl. Pollack, Ausschreitungen, S. 24 f. Vgl. SOKO REX, S. 5. Vgl. SOKO REX, S. 5. Vgl. ebd., S. 6. Pollack, Ausschreitungen, S. 26.

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gangenen Tage verstanden werden. Einige Bürger interpretierten die Abreise als ein Weichen aus »Angst und Sorge um [...] Sicherheit« und drückten ihre Scham und Solidarität mit den abreisenden Ausländern mit Tränen und Blumen aus.97 Es ist nicht auszuschließen, dass auch die fremdenfeindlich eingestellten Einwohner die Abreise als Evakuierung und damit als ihren ersten Erfolg interpretiert haben. Fest steht, dass sich die Ausschreitungen vor dem Asylbewerberheim fortsetzten. An diesem Tag war Superintendent Vogel vor Ort. Sein Anliegen war es, die Frauen und Kinder aus dem Wohnheim in kircheneigene Heime in Sicherheit zu bringen. Dabei war er Zeuge der gespannten Situation gegen 14 Uhr. »Es lag Etwas in der Luft, aber die Straße war noch leer«, erinnert er sich. Durch die Straße »rasten Moped - und Motorradfahrer [...] Sie heizten mit ihren Hupen die Stimmung ständig weiter an und hielten sie so latent auf dem Siedepunkt«.98 Schließlich warfen die Mopedfahrer Feuerwerkskörper. Da die Polizei nicht zu sehen gewesen sei, verbarrikadierten die Asylbewerber gegen 15 Uhr die Müntzer - Straße mit Rollcontainern. Diese Ereignisse zogen ungefähr 150 Schaulustige an. Die Polizei rüstete sich. »Wasserwerfer sind frühzeitig in Stellung gebracht, die Sicherheitskräfte mit Helmen, Schlagstöcken und Schutzschilden gewappnet« worden.99 Einem Zug der Bereitschaftspolizei gelang es, die Situation gewaltlos zu entschärfen.100 Unter die Schaulustigen in der Thomas - Müntzer Straße mischten sich in den nächsten Stunden »ca. 30 aktive [...] Störer«.101 Gegen 18.45 Uhr eskalierte die Situation durch das »Auftreten von vermummten, angetrunkenen Personen«.102 Die 30 »Störer« bewarfen die Polizisten mit Stahlkugeln und Brandflaschen und hinderten sie auf diese Weise an der Sicherung des Wohnheims.103 Zeitgleich stiegen die Heimbewohner auf das Dach des Hauses, »um Geschosse und andere Gegenstände herunterzuwerfen«. Das Dach konnte jedoch gewaltfrei geräumt werden.104 Die Situation blieb am frühen Abend angespannt. Der stellvertretende Bürgermeister Klaus Naumann sprach zur Menge und forderte »zum Auseinandergehen und zum Fair - Play zu den aus-

97 Gunnar Saft / Holger Ostermeyer, Ein Tag in Hoyerswerda. In : Sächsische Zeitung vom 23.9.1991. 98 Zeitzeugengespräch mit Friedhart Vogel am 31.5.2011. 99 Wolfgang Swat, Gewalt eskaliert, wo Politik und Toleranz versagen. In : Rundschau für Nordsachsen vom 23.9.1991. 100 Vgl. We - Meldung vom 21. 9. 1991; Presseinformation zu den Ereignissen am 21. September 1991 in Hoyerswerda ( SächsHStA 12989 SMI, Nr. 102, unpag. ). Im Folgenden : Presseinformation 21.9.91. 101 Lagezentrum Dresden vom 23. 9. 1991, S. 2. Vgl. auch We - Meldung vom 22. 9. 1991; Pollack, Ausschreitungen, S. 26. 102 We - Meldung vom 22.9.1991. 103 Vgl. SOKO REX, S. 7; Lagezentrum Dresden vom 23.9.1991, S. 2. 104 Pollack, Ausschreitungen, S. 26. Vgl. ebenso We - Meldung vom 22. 9. 1991 und Presseinformation.

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ländischen Mitbürgern« auf. Auf seine Worte folgte »ein regelrechter Flaschen Hagel«.105 Als die Polizisten gegen 20 Uhr schließlich mit Glasflaschen, die aus Müllcontainern stammten, beworfen wurden, begannen sie die Räumung der Straße mithilfe von Wasserwerfern, Hunden und Schlagstöcken. Dabei wurden die Polizisten mit Brandflaschen beworfen. Die Räumung war gegen 21. 20 Uhr abgeschlossen.106 Die Menge wurde im weiteren Verlauf in die umliegenden Straßen abgedrängt. In einer Art Rückzugsgefecht flogen weiterhin Stahlkugeln und andere Wurfgeschosse in Richtung Polizei.107 Gegen 21. 20 Uhr griffen erneut 100 Personen die Einsatzkräfte mit Stahlkugeln an. Diese Gruppe konnte bis 23 Uhr zerstreut werden. Damit war die Sicherheit vor dem Wohnheim hergestellt. Einzelne »Restansammlungen von Störern« lösten sich bis 2 Uhr auf.108 Im Laufe des Tages wurden 16 Personen vorläufig festgesetzt, wovon eine dem Haftrichter vorgeführt wurde. Fünf Störer und ein Reporter wurden verletzt.109 Mindestens ein auswärtiger Rechtsextremer wurde an diesem Tag identifiziert. Ein Polizist erkannte in der Menge Michal V. Dieser war ihm »als einer der Führer der rechtsgerichteten Gruppen um den ermordeten Rainer Sonntag in Dresden bekannt«.110 Am Sonntag, dem 22. September, richteten sich die Angriffe nicht mehr primär gegen Ausländer. Die letzten in der Albert - Schweitzer - Straße verbliebenen Ausländer wurden nicht attackiert. »Auch die gewalttätigen Ausschreitungen in der Thomas - Müntzer - Straße überschritten ein bestimmtes Maß nicht.«111 An diesem Tag eskalierte die Gewalt stattdessen zwischen verfeindeten politischen Lagern.112 Dabei traten erstmals auswärtige Personen in großer Zahl in Erscheinung. In Berlin startete kurz nach 10.30 Uhr ein Konvoi mit 50 PKW und 200 Personen in Richtung Hoyerswerda.113 Um 14.30 Uhr erfuhr die Landespolizeidirektion in Dresden, es seien 70 PKW mit Berliner Kennzeichen in Richtung Hoyerswerda unterwegs. Die Polizei brachte diese Information in Zusammenhang mit einem Hinweis auf Berliner Skinheads und löste im Regierungsbezirk Dresden Polizeialarm aus. Die bereits in Hoyerswerda befind-

105 Saft / Ostermeyer, Ein Tag in Hoyerswerda. 106 Vgl. Presseinformation; Lagezentrum Dresden vom 23. 9. 1991, S. 2; SOKO REX, S. 7; We Meldung vom 22.9.1991. 107 Vgl. Presseinformation. 108 Lagezentrum Dresden vom 23.9.1991, S. 3. 109 Soko REX, S. 7. 110 KAst Hoyerswerda, Zeugenaussage Steffen S. vom 22.9.1991 ( SächsHStA 13363 StAW Dresden, Nr. 2836, unpag. ). 111 Pollack, Ausschreitungen, S. 28. 112 Vgl. ebd., S. 27. 113 LPD Dresden vom 23. 9. 1991, Lagefilm zu Vorkommnissen am Ausländerwohnheim Hoyerswerda, 22.9.1991 ( SächsHStA 12989 SMI, Nr. 102).

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lichen drei Hundertschaften Bereitschaftspolizei sollten verstärkt werden.114 Laut Bremer handelte es sich jedoch bei dem Konvoi der 70 PKW aus Berlin nicht um rechtsextreme Skinheads, sondern um eine Gruppe mit »Mitglieder[ n ] der Alternativen Liste, [...] SOS Racisme, Vertreter jüdischer Gruppen, Aktion Sühnezeichen, der Internationalen Liga für Menschenrechte und die Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg, Almuth Berger«.115 Aber auch um 15.30 Uhr lagen im Führungsstab der Landespolizeidirektion Dresden »verdichtete Informationen [ vor ], dass Kräfte der rechten Szene aus Berlin ( Kreuzberg ), sowie aus dem Lande Brandenburg und dem Freistaat Sachsen nach Hoyerswerda unterwegs sind«.116 Gegen 15.45 Uhr wurden sechs PKW mit »Glatzen« auf der B 6 bei Meißen in Richtung Dresden gesichtet.117 Um 15 Uhr versammelten sich friedlich 300 Personen, größtenteils Vertreter der »Liga für Menschenrechte«, in der Thomas - Müntzer - Straße. Allerdings tauchten zehn Minuten später »Gruppierungen der Linken Szene in Stärke von ca. 100 Personen, ausgerüstet mit Stahlruten und anderen Waffen sowie rechtsgerichtete Kräfte« vor dem Asylbewerberheim auf. »Dadurch eskalierte die Lage und es kam zu Auseinandersetzungen zwischen beiden Gruppierungen.«118 Zu dem Zeitpunkt waren »200 Zuschauer und 30 gewaltbereite Autonome« in der Thomas - Müntzer- Straße.119 Durch »aktives Handeln« der Polizei wurden die »Auseinandersetzungen unterbunden«.120 Gegen 16 Uhr sollte eine vom Landrat genehmigte Kundgebung der »Liga für Menschenrechte« vor dem Asylbewerberheim stattfinden. Sie konnte aber nicht durchgeführt werden.121 Die Polizei verstärkte in den Nachmittagsstunden ihre Einsatzkräfte und konnte mit Hilfe mehrerer Hubschrauber die Entwicklung im Stadtgebiet gut überblicken. Auseinandersetzungen zwischen »rechten und linken Gruppen« gab es im ganzen Stadtgebiet.122 In der Stadt kam es zu regelrechten Hetzjagden. Der Zeuge Mike R. war mit einigen Freunden aus Bautzen gekommen, um eine Bekannte im Krankenhaus zu besuchen. Als er am Stadion kurz hielt, um nach dem Weg zu fragen, tauchte plötzlich ein Transporter auf. Von dessen Ladefläche sprangen zehn vermummte Personen, attackierten den PKW von Mike R. und sprühten ein Reizgas in den Fahrgastraum. Schließ114 Vgl. LPD Dresden vom 22. 9. 1991, Gefährdungslage 22. 9. 1991, 15.30 Uhr. Lagemeldung zur Situation in Hoyerswerda im Zusammenhang mit Übergriffen auf das Wohnheim von ausländischen Bürgern ( SächsHAst 12989 SMI, Nr. 102); We - Meldung vom 22. 9. 1991 sowie Lagefilm vom 22.9.1991. 115 Bremer, Ausländer in Hoyerswerda, S. 34. 116 Gefährdungslage. 117 Lagefilm vom 22.9.1991. 118 Lagezentrum Dresden vom 23.9.1991, S. 3. 119 Pollack, Ausschreitungen, S. 27. 120 Lagezentrum Dresden vom 23.9.1991, S. 3. 121 Vgl. We - Meldung vom 23.9.1991. 122 SOKO REX, S. 7.

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lich gelang ihm die Flucht. Dabei wurde er vom Transporter hartnäckig verfolgt. Während dieser Verfolgungsjagd wurde auf den PKW, laut Mike R., eine doppelläufige Waffe gerichtet. Nur mit Mühe konnten die Bautzener entkommen und in einen Hauseingang fliehen.123 Auch eine weitere Zeugin berichtete von randalierenden vermummten Personen in der Stadt. Diese verfolgten »vier Jugendliche, welche der rechten Szene augenscheinlich zuzuordnen waren, und schlugen mit Eisenstangen auf die Rechten ein«. Am Wagen dieser vermummten Gruppe wurde ein Berliner Kennzeichen ausgemacht.124 Der Schwerpunkt der Polizeikräfte wurde vor dem Asylbewerberheim zusammengezogen.125 Im Laufe des Nachmittags beruhigte sich dort die Situation. Gegen 17.45 Uhr saßen 200 Personen auf der Müntzer - Straße. Es gab keine Gewalttätigkeiten.126 Zu dieser Zeit besuchte der sächsische Innenminister Krause die Stadt und ordnete, laut Bremer, die Räumung des Asylbewerberheimes an.127 Um 21 Uhr eskalierte die Situation jedoch erneut. Inzwischen befanden sich »gewaltbereite Störer« auf dem Gelände des Asylbewerberheimes, warfen Flaschen und Steine und brachten »Reizgas in Anwendung«.128 Unklar ist, ob diese Störer das Wohnheim oder die Polizisten angriffen. Die Polizei forderte daraufhin die Menge mehrfach zum Verlassen des Platzes vor dem Wohnheim auf. Als dieser Aufforderung nicht Folge geleistet wurde, räumten die Ordnungskräfte gegen 21.30 Uhr den Platz mit Unterstützung von Wasserwerfern und Diensthunden. Eine Stunde später waren die Ansammlungen aufgelöst und die Lage beruhigt.129 Insgesamt waren an diesem Tag sechs Einsatzhundertschaften der Bereitschaftspolizei, zwei Wasserwerfer, ein mobiles Einsatzkommando, ein Spezialkommando, zwölf Diensthundeführer, das Bildübertragungssystem und zwei Bedo - Trupps im Einsatz.130 Es gab zwei schwer und vier leicht verletzte Menschen und 32 Personen wurden vorläufig festgenommen. Die Polizei stellte fünf Schreckschusspistolen, eine Luftdruckpistole, vier Stichwaffen, eine Stahlkugelschleuder und drei Totschläger sicher.131 An diesem Sonntag kam es zu den wohl schwersten Ausschreitungen der gesamten Woche. Dabei gab es Gewalt zwischen rechts - und linksextremen Gewalttätern. Als diese von der Polizei 123 Kriminalinspektion Bautzen vom 22.9.1991, Geschädigtenaussage Mike R. ( SächsHStA 12996 StAW Bautzen, Nr. 31, Bl. 2 ff.). 124 KAst Hoyerswerda vom 25.9.1991, Zeugenaussage Annelise H. ( ebd., Bl. 5). 125 Vgl. Lagezentrum Dresden vom 23.9.1991. 126 Vgl. Pollack, Ausschreitungen, S. 27. 127 Vgl. Bremer, Ausländer in Hoyerswerda, S. 34. Dagegen legte Landrat Schmitz im Zeitzeugengespräch Wert darauf, dass er die Entscheidung zur Räumung des Asylbewerberheims getroffen habe ( Zeitzeugengespräch mit Wolfgang Schmitz am 30.6.2011). 128 Lagezentrum Dresden vom 23.9.1991, S. 4. 129 Vgl. ebd. 130 Vgl. ebd. 131 Vgl. SOKO REX, S. 7 f.

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getrennt wurden, richteten sich die Angriffe beider Gruppen, unterstützt von der zuschauenden Menge, gegen die Polizei.132 Das ursprüngliche Ziel, dass die Ausländer die Stadt verlassen sollten, war in den Hintergrund getreten. Es bildete lediglich die Folie, die Begründung für die Gewalt gegen die Polizei und politisch Andersdenkende. Mit der Verlegung der Ausschreitungen vom Wohnheim der ehemaligen Vertragsarbeiter hin zum Asylbewerberheim bewiesen die Täter, wie ernst es ihnen mit der Gewalt gegen die Ausländer war. Weil die Polizei die Albert Schweitzer - Straße von Tag zu Tag besser unter Kontrolle hatte und die Täter dadurch nicht an das Wohnheim herankamen, wurden die ungeschützten Asylbewerber zum neuen Ziel der Gewalt. Diese wurde mit der gleichen Vehemenz ausgeübt wie zuvor in der Schweitzer - Straße. Die Ausschreitungen waren zu einem »Kampf [ geworden ], den man für sich entscheiden wollte«.133 Die Ausschreitungen am Sonntag, dem 22. September, brachten hingegen eine neue Qualität der Gewalt. Nicht mehr Ausländer wurden angegriffen, sondern gewaltbereite Akteure vom linken und rechten politischen Rand attackierten sich gegenseitig und die Polizei. Die Mehrzahl der Täter kam auch nicht mehr aus Hoyerswerda, sondern in großer Zahl aus Sachsen, Berlin, Brandenburg und Hamburg. Diese Entwicklung zeigt, dass sich die Gewalt an diesem Tag losgelöst hatte von den lokalen sozialen Problemen und dem fremdenfeindlichen Konflikt. Stattdessen war Hoyerswerda an diesem Tag zu einem Schauplatz für rivalisierende extremistische Gewalt geworden. 1.4 Phase Vier : Evakuierung der Asylbewerber und ( vorläufiges ) Ende der Gewalt

Am Montag, dem 23. September, wurde zwischen 17.30 Uhr und 22 Uhr das Asylbewerberheim geräumt. Die Betroffenen selbst hatten angesichts der Gewalt am Wochenende ihre Evakuierung aus Hoyerswerda wiederholt gefordert. Vor dem Wohnheim brachten sie ein Plakat an mit der Aufschrift : »Warum hassen Sie uns ? SOS ! Wir Leben seid viele tagen in Angst. Wir wollen Rückkehr West Deutschland. Nur West Deutschland.«134 Stattdessen wurden sie mit Bussen an andere Orte in Sachsen gebracht, u. a. nach Meißen und Pirna. Laut Bremer war den Busfahrern das jeweilige Ziel ihrer Fahrt nicht genannt worden. Um 18.14 Uhr begann die Verlegung von 50 Asylbewerberinnen und - bewerbern : drei Busse und ein Zug Polizeibegleitschutz brachten sie nach Meißen. Eine

132 Vgl. Pollack, Ausschreitungen, S. 27 f. 133 Ebd., S. 26. 134 Zit. in Ausbruch des Ausländerhasses hat die Politiker aufgeschreckt. In : Sächsische Zeitung vom 24.9.1991.

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Stunde später stand fest, dass weitere 110 Asylbewerber mit drei Bussen in den »Raum Pirna« und 13 Asylbewerber in ein Kirchenobjekt in Schwarzkollm ( bei Hoyerswerda ) verlegt werden sollten. Laut Polizeibericht schauten am 23. September gegen 19.15 Uhr circa 1 000 Schaulustige und circa 100 vermeintlich »Rechtsradikale« der Verlegung zu. »Mehrere Feuerwerkskörper wurden auf das Asylantenheim abgeschossen«.135 Ein Bus wurde gegen 19.30 Uhr aus der Menge heraus mit einem Stein beworfen. Dadurch zerbarst eine Scheibe und verletzte den 21 - jährigen Tam Le Thanh.136 Dennoch schätzte die Polizei später die Stimmung als »sachlich« ein. »Hetzversuche von rechten Gruppierungen [ blieben ] erfolglos«.137 Funkstreifenwagen begleiteten die jeweiligen Buskolonnen. Laut Bremer hatten die Busse einen zeitlichen Vorsprung, um eine Verfolgung zu erschweren. Nach ihrer Abfahrt wurden die Straßen abgeriegelt.138 Der Presse gelang dennoch die Verfolgung. An der Kreisgrenze fingen sie einige Busse ab. Ein Pressevertreter konnte sogar in einen Bus gelangen.139 Auch Rechtsextremisten versuchten, die Verfolgung aufzunehmen. Dem Polizeirevier Kamenz wurde gegen 23 Uhr bekannt, dass »rechtsextreme Kräfte« zur Bundeswehrkaserne unterwegs seien, »da diese dort die Ankunft der Asylanten vermuten«.140 Die Asylbewerber waren in ihren neuen Unterkünften verunsichert. Einige Asylbewerber versuchten, ihrer Forderung nach Verbringung in die alten Bundesländer Nachdruck zu verleihen. In Meißen weigerten sich 15 Asylsuchende, aus dem Bus zu steigen. Sie verlangten eine Verlegung in die alten Bundesländer.141 Auch in Pirna waren 15 bis 30 Asylbewerber unzufrieden mit ihrer neuen Unterkunft. Sie wollten noch in der Nacht zu Fuß nach Chemnitz aufbrechen. Diesen Plan setzten sie jedoch letztlich nicht um, sondern wurden in eine andere Unterkunft gebracht. Ebenso mussten in Rosenthal die Menschen erst zum Aussteigen überredet werden. Die 13 nach Schwarzkollm gebrachten Asylbewerber wurden gegen 0.15 Uhr aus dem dortigen Wohnheim verlegt. Vor dem Haus hatte sich eine Menschenmenge versammelt.142 In Hoyerswerda entspannte sich an diesem Tag die Situation. Dies sei, so die Polizei, zum einen auf nicht näher beschriebene »politische Aktivitäten«, zum anderen aber auf die Verlegung der Asylbewerber zurückzuführen.143

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Lagefilm vom 23.9.1991. Vgl. ebd., SOKO REX, S. 8; Matussek, Jagdzeit in Sachsen, S. 41 f. Zit. in Pollack, Ausschreitungen, S. 28. Vgl. Bremer, Ausländer in Hoyerswerda, S. 34. Vgl. Pollack, Ausschreitungen, S. 28. Lagefilm vom 23.9.1991. Vgl. Teletex, Lagefortschreibung Berichtzeitraum 23. 9. 1991 5.30 Uhr bis 24 Uhr (12989 SMI, Nr. 102). 142 Vgl. Lagefilm am 23.9.1991. 143 Vgl. Lagefortschreibung.

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Die von der Polizei konstatierte Beruhigung der Situation nach der Räumung der Ausländerunterkünfte währte jedoch nur kurz. Am Mittwochabend, dem 25. September, fand auf dem Marktplatz in der Altstadt die Sendung »ARD Brennpunkt« statt. Als Gäste waren der sächsische Innenminister Rudolf Krause ( CDU ) sowie der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine ( SPD ) geladen.144 Circa 250 Zuschauer wollten sich den Fernsehbericht ansehen.145 Die Diskussion beschränkte sich aber nicht auf die bekannten Politiker. Auch an das Publikum wurden Fragen gerichtet. Es »konnte sprechen, wer wollte, u. a. ja auch der Superintendent Friedhart Vogel und Landrat Wolfgang Schmitz«.146 Die Stimmen aus dem Publikum brachten »Beschämung wie Triumph über das in Hoyerswerda geschehene [...] über die Lautsprecher zum Ausdruck«.147 Doch solche Meinungen teilten nicht alle Zuschauer : »Der Bürger, der den Mut fand, seinen Abscheu über die Ereignisse auszudrücken, wurde ausgepfiffen, die ehemalige Ausländerbeauftragte des Berliner Runden Tisches, Frau Kahane, wurde regelrecht niedergebrüllt.«148 Besonders negativ fielen »ca. 15 Anhänger der rechten Szene« auf, die von mehreren Sympathisanten unterstützt wurden.149 Unter ihnen waren Jens P., der an den Ausschreitungen am 3. Oktober 1990 teilgenommen hatte, und Peter A., der am 17. September 1991 vorübergehend festgenommen worden war. Die Jugendlichen waren angetrunken und störten die Sendung durch Rufe wie »Sieg Heil !« und »Lasst Hansi frei !«, womit der am 17. September festgenommene Hans - Michael P. gemeint war.150 Ein mit diesen Jugendlichen sympathisierendes Mädchen wollte sich am Mikrofon äußern, wurde jedoch daran gehindert. Dies brachte die Gruppe auf. Sven B. verdeckte daraufhin sein Gesicht mit einem Tuch und zeigte die »Kriegsreichsdienstflagge vor 1933«, wie Sven B. die Reichskriegsflagge nannte.151 Die Polizei nahm schließlich 16 Personen dieser Gruppe fest. Sie stellte eine veränderte Gasdruckpistole, zwei Gaspistolen, Stahlkugeln, einen Totschläger, Gaswurfkörper und ein verbotenes Messer sicher.152

144 Vgl. Peter Blochwitz, Was hat’s gebracht. In : Rundschau für Nordsachsen vom 27.9.1991. 145 Vgl. Lagebericht zum Einsatz Marktplatz Hoyerswerda am 25. 9. 1991 zur Live - Sendung »Brennpunkt« ( SächsHStA 12989 SMI, Nr. 102). 146 Blochwitz, Was hat’s gebracht. 147 Ebd. 148 Jörg Mattern, ... wo sind sie geblieben. In : Sächsische Zeitung vom 27.9.1991. 149 Lagebericht vom 25.9.1991. 150 We - Meldung vom 25.9.1991 ( SächsHStA 12989 SMI, Nr. 102); vgl. Lagebericht vom 25.9.1991. 151 Zit. in KAst Hoyerswerda vom 25. 9. 1991, Beschuldigtenvernehmung Sven B. ( SächsHStA 13363 StAW Dresden, Nr. 1339, Band 1, Bl. 6). 152 Vgl. Lagebericht vom 25.9.1991.

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1.5 Epilog : Gewalttätiger Gegenprotest am 29. September 1991

Gruppierungen der linksradikalen Szene der Bundesrepublik bereiteten nach den schweren Ausschreitungen vom 22. September zwischen linken und rechten Gruppen sowie nach der Evakuierung der Asylbewerber aus Hoyerswerda eine Gegendemonstration vor. Die »taz« berichtete am 26. September von einem Vorbereitungstreffen für eine Demonstration in Hoyerswerda im besetzten Haus »Rote Flora« in Hamburg. Weitere Treffen fanden in Freiburg und Hannover statt.153 Auch in der Berliner autonomen Szene wurde über eine Demonstration diskutiert. Laut Polizeiinformationen war vor allem »das militante Potential« unzufrieden mit den »Aktionen in Hoyerswerda« am 22. September. Aus diesem Grund wurde für den 29. September eine Demonstration am Ausländerwohnheim in Hoyerswerda geplant. Dafür sollten sich in Berlin - Neukölln circa 200 Autonome treffen, um mit drei Bussen, PKW und Krädern nach Hoyerswerda zu fahren. Die Beteiligten wollten unter allen Umständen durchsetzen, dass ihrer Demonstration in der Nähe des Ausländerwohnheimes endete. »Weiterhin werde man sich einer einschließenden Begleitung durch Polizeikräfte entschieden widersetzen sowie erkannte Neonazis und Rechtsradikale an Ort und Stelle ›bestrafen‹.«154 Unterstützung erwarteten die Berliner unter anderem aus Bremen und Hamburg. Die Polizei ging aufgrund dieser Informationen von einer »Entschlossenheit zu Ausschreitungen sowie Vermummung des militanten Potentials der Teilnehmer« aus.155 Die Situation war daher am Tag der Demonstration, dem 29. September, angespannt. Gegen 12 Uhr waren Demonstranten mit bis zu 200 PKW, sechs Bussen und vielen Krädern in Hoyerswerda eingetroffen.156 Die Polizei schätzte, dass circa 3 000 Teilnehmer zur Veranstaltung unter dem Motto »Rassismus und Ausländerfeindlichkeit« angereist waren. Diese wurden »durchgängig der linken Szene zugeordnet«.157 Die Demonstration sollte um 14 Uhr in der Thomas - Müntzer - Straße beginnen. Hier wurde der Zug aber vom Bundesgrenzschutz abgeriegelt und der Start verzögert. Der Grund war die Weigerung des Veranstalters, den Demonstrationszug von der Polizei begleiten zu lassen. Diese beharrte aber auf ihrem Sicherheitskonzept. Die Polizei befürchtete wegen mitgeführter Gegenstände wie Stöcken, Signalpistolen, Steinen und Knallkörpern sowie wegen der Vermummung von circa 50 bis 70 Teilnehmern

153 Vgl. Fernschreiben BD P Dresden vom 27.9.1991, antifaschismus - demonstration am 29.9.1991 ( SächsHStA 12989 SMI, Nr. 102). 154 Fernschreiben BD P Dresden vom 28. 9. 1991, Geplante Aktion der Autonomen Szene in Hoyerswerda ( ebd.). 155 Ebd. 156 Vgl. Lagebericht zum Einsatz in Hoyerswerda am 29.9.1991 ( ebd.). 157 Fernschreiben LPD Leipzig vom 30.9.1991, Schlußmeldung zur Demonstration gegen »Rassismus und Ausländerfeindlichkeit« am 29.9.1991 in Hoyerswerda ( ebd.).

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ein »erhebliches Gewaltpotential«.158 Damit habe der Veranstalter gegen den mit dem Landrat abgeschlossenen Vertrag verstoßen, in dem er sich unter anderem dazu verpflichtet hatte, keine Vermummung und Waffen zuzulassen.159 Der Beginn der Demonstration wurde daraufhin um mindestens 40 Minuten verzögert.160 Dies führte zu Unmut bei einigen Teilnehmern. Die Demonstranten »putschten sich [...] gegenseitig auf«. Sie rissen Platten aus dem Bürgersteig heraus, um sich so mit Steinen zu bewaffnen. Auf Personen, die zur Besonnenheit aufriefen, »wurde brutal eingedroschen«.161 In dieser Situation verhandelte der Kaplan der Nachbarstadt Wittichenau, Peter - Paul Gregor, mit den Organisatoren der Demonstration und den Verantwortlichen von Polizei und BGS. Eine Gewalteskalation konnte dadurch verhindert werden.162 Die Organisatoren versuchten nach 40 Minuten die Demonstration zur Albert - Schweitzer - Straße zu führen, trafen aber auf eine weitere Straßensperrung der Bereitschaftspolizei. Erneut forderte die Polizei die Auflösung des Zuges.163 »Als Antwort [ flogen ] Steine, [ wurden ] Leuchtraketen und Schreckschussmunition abgefeuert.«164 Die Angriffe auf die Polizei wurden von circa 300 Personen begangen. Die Polizei reagierte mit dem Einsatz von Wasserwerfern.165 Bei der folgenden Auseinandersetzung kam es zu erheblichen Sachbeschädigungen. So flog bspw. eine Rakete über den Balkon in eine Wohnung.166 In der angespannten Situation verhandelten die Veranstalter und die Polizei erneut. Diese Gespräche zogen sich über zwei Stunden hin. Währenddessen solidarisierten sich einige Bürger Hoyerswerdas mit den Demonstranten und reichten ihnen Getränke. Andere forderten ein härteres Eingreifen der Polizeikräfte. »Allgemein überwiegt das Entsetzen. Die Bürger wollen endlich Ruhe«, gab die »Lausitzer Rundschau« die Stimmung wieder.167 Wiederum rief Kaplan Gregor die Menge immer wieder »über Lautsprecherwagen zur Vernunft und Gewaltlosigkeit« auf. Für seinen engagierten Einsatz an diesem Tag wurde er von der »Sächsischen Zeitung« als Held gefeiert.168 Gegen 17 Uhr war ein Kompromiss gefunden. Der örtliche Einsatzleiter 158 Lagebericht vom 29.9.1991; vgl. ebenso Fernschreiben BDP Dresden vom 20.9.1991, 15.40 Uhr, Zwischeninformation zur Lage in Hoyerswerda am 29. 9. 1991, Stand 14.30 Uhr ( ebd.); Sandra Daßler / Wolfgang Swat, Warum erneut Konfrontation ? In : Lausitzer Rundschau vom 30.9.1991. 159 Vgl. Jörg Mattern, Die Stadt kommt nicht aus den Schlagzeilen. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 1. 10. 1991. 160 Vgl. Lagebericht am 29.9.1991. 161 Mattern, Die Stadt kommt nicht aus den Schlagzeilen. 162 Zeitzeugengespräch mit Pfarrer Gregor am 2.8.2011. 163 Vgl. ebd.; Daßler / Swat, Warum erneut Konfrontation ? 164 Daßler / Swat, Warum erneut Konfrontation ? 165 Vgl. Lagebericht am 29.9.1991; Fernschreiben LPD Leipzig vom 30.9.1991. 166 Vgl. Daßler / Swat, Warum erneut Konfrontation ? 167 Ebd. 168 Sandra Daßler, Eskalation der Gewalt und wirkliche »Helden«. In : Lausitzer Rundschau vom 1.10.1991.

Zeitlicher Ablauf der Ausschreitungen

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der Polizei war nach Absprache mit dem Bürgermeister und entgegen dem Rat des Leiters der bayerischen Bundesgrenzschutz - Hundertschaften für eine Fortführung der Demonstration.169 An der Spitze des Zuges marschierten drei Pfarrer aus Hoyerswerda zum Ausländerwohnheim in der Albert - Schweitzer Straße. Um 17.20 Uhr zogen die Wasserwerfer ab und die Sperrkette der Polizei wurde geöffnet.170 Am Endpunkt der Demonstration kam es aber erneut zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und den Bereitschaftspolizisten. Die Demonstranten überrannten die Absperrzäune, bewarfen die Polizisten mit Steinen und schossen Leuchtraketen ab. Ein Gruppenfahrzeug der Polizei wurde bei den Auseinandersetzungen so schwer beschädigt, dass es abgeschleppt werden musste. Nachdem die Polizei zur Räumung des Platzes aufgefordert und den Einsatz von Wasserwerfern angekündigt hatte, zog sich die Menge langsam zu ihren PKW und Bussen zurück. »Gegen 19.30 [ Uhr ] verließen die Fahrzeuge die Stadt Hoyerswerda und wurden durch Zivilaufklärer begleitet.«171 Nach der Demonstration zog die Polizei Bilanz. So wurden »im Bereich der Demonstrationsstrecke umfangreiche Schmierereien an Balkonen und Werbeaufstellern sowie Verkehrsleiteinrichtungen festgestellt«. Im Laufe des Tages wurden über 50 Fahrzeuge und Fensterscheiben zweier Wohnungen beschädigt. Insgesamt waren 690 Polizisten im Einsatz, von denen 15 leichte Verletzungen erlitten. Daneben wurden ein »Kameramann des ZDF und ein weiterer Mitarbeiter des Teams sowie eine Passantin [...] durch gewaltsame Demonstranten verletzt«.172 Der Sachschaden wurde auf 250 000 DM geschätzt.173 Neun Personen wurden vorläufig festgenommen.174 Neben der Demonstration kontrollierte die Polizei auch vereinzelte Gruppen im Stadtgebiet, die möglicherweise zur rechten Szene gehörten.175 Eine konkrete Gefahrenlage ging von diesen jedoch nicht aus. Lediglich von einer Person ist Näheres bekannt : Peter A. hörte von der »Demonstration der ›Linken‹ [...]. Er bewaffnete sich daher mit einem Spatenstiel und begab sich gegen 14.00 Uhr durch die Thomas - Müntzer - Str. in Richtung der erwarteten und genehmigten Versammlung, um für evtl. Auseinandersetzungen gerüstet zu sein«.176

169 170 171 172 173

Vgl. ebd. Der Einsatzleiter wurde als der zweite Held des Tages genannt. Vgl. Daßler / Swat, Warum erneut Konfrontation ? Lagebericht vom 29.9.1991. Ebd. Vgl. 250 000 Mark Schaden – Bilanz des Wochenendes. In : Rundschau für Nordsachsen vom 4.10.1991. 174 Vgl. Fernschreiben LPD Leipzig vom 30.9.1991. 175 Vgl. Fernschreiben BD P Dresden vom 29.9.1991 um 15.40 Uhr. 176 Urteil gegen Peter A., Bl. 111.

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Die Ausschreitungen im September 1991

2. Die Ausschreitungen als sozialer Protest In Kapitel I wurde sozialer Protest als eine öffentliche, kollektive Aktion aufgrund sozialer Veränderungen mit normverletzendem Konfliktcharakter definiert. Diese Merkmale konnten bei den Ausschreitungen in Hoyerswerda eindeutig beobachtet werden. Wie der zeitgenössischen Berichterstattung zu entnehmen ist, waren die Angriffe auf die Wohnheime durch eine große Öffentlichkeit u. a. in Gestalt applaudierender Nachbarn begleitet. Diese Öffentlichkeit wurde durch die Medien verstärkt. Des Weiteren beteiligten sich an allen Tagen mehrere hundert Bürgerinnen und Bürger an den Ausschreitungen. Die Beteiligten handelten zum Teil aktiv, indem sie Geschosse warfen, zum Teil passiv, wobei sie die Gewalt durch Sympathiebekundungen unterstützten. Die Ausschreitungen waren von einem hohen Gewaltpotential geprägt. Ausländische Bürger wie auch Polizisten wurden mit Steinen, Stahlkugeln und Brandflaschen beworfen. Der Konflikt wurde somit nicht friedlich und auf normgerechtem Weg, sondern mit gewalttätigen Attacken ausgetragen. Die Protestakteure wollten ihre eigenen Vorstellungen vom Zusammenleben mit Ausländern durchsetzen. Wie noch genauer zu zeigen sein wird, wehrten sie sich gegen eine vermeintliche Bevorzugung von Ausländern durch die staatlichen Sozialsysteme. Die Ausschreitungen in Hoyerswerda vom 17. bis 23. September 1991 können somit eindeutig als sozialer Protest bezeichnet werden. 2.1 Entstehungsbedingungen

Ein Protest fördert explosiv Konflikte an die Oberfläche, die unterschwellig seit langer Zeit schwelten. So auch in Hoyerswerda. Wie in den Kapiteln II bis IV erörtert, gab es in Hoyerswerda wirtschaftliche, soziale und politische Probleme. Hinzu kam die fremdenfeindliche Einstellung bei vielen Einwohnern. Die Entwicklung dieses Problembündels muss jedoch in langfristig wirkende Ursachen und in kurzfristig wirkende Protestbedingungen ( Manifestationsbedingungen ) unterschieden werden. Letztere verschärften durch den Umbruch 1989/90 die langfristigen Ursachen. In Hoyerswerda entwickelte sich eine Gemengelage vielfältiger Probleme, die sich 1991 zu einer Situation verschärfte, die verschiedene Verantwortliche der Stadt als »Pulverfass« beschrieben. Um diese explosive Stimmung nachvollziehen zu können, gilt es, die Ursachen und Manifestationsbedingungen zusammenzutragen sowie auf die Wirkung von Gerüchten und Vorurteilen einzugehen.

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2.1.1 Langfristig wirkende Ursachen

Die langfristig wirkenden Ursachenfaktoren für die Ausschreitungen 1991 reichen bis zu dem Aufbau der Hoyerswerdaer Neustadt in den 1950er Jahren zurück. Innerhalb zweier Jahrzehnte wuchs die Bevölkerung um das Zehnfache an. Trotz der Beliebtheit Hoyerswerdas wegen seiner neuen, relativ komfortablen Wohnungen und der guten Arbeitsplätze in der Energieindustrie war die Stadt sehr bald als »Schlafstadt« verschrien. Es fehlte an kulturellen Einrichtungen und zentralen Kommunikationsorten. Die einzelnen Wohngebiete waren gleichförmig ausgestattet. Da die meisten neuen Bürger junge Menschen aus verschiedensten Regionen waren, gab es keine gemeinsamen Traditionen und Wertvorstellungen. Das Fehlen eines Stadtzentrum verhinderte die Integration der Bewohner der verschiedenen Wohnkomplexe. Stattdessen wurden die Kollegen am Arbeitsplatz zum wichtigsten sozialen Bezugssystem. Diese sah man jeden Tag, man fuhr gemeinsam im Schichtbus zur Arbeit bzw. wieder zurück. Mitunter verbrachte man seine Freizeit mit seinen Kollegen. Die Brigade hatte in der DDR einen hohen sozialen Stellenwert. Sie erzeugte ein Gefühl der Gemeinschaft. Die neuen Bürger der Stadt identifizierten sich weniger als Hoyerswerdaer denn als die »Pumpschen«. Für diese starke soziale Bindung an den engeren Kollegenkreis sollte sich ab 1990 problematisch erweisen, dass die Region um Hoyerswerda auf eine Monowirtschaft ausgelegt war. Die Hoyerswerdaer waren vom Politbüro dafür auserkoren, in der Mehrzahl im Braunkohletagebau und in der Energiewirtschaft zu arbeiten. Eine diversifizierte Industrie - und Gewerbelandschaft wurde nicht aufgebaut. Eine weitere, zentrale Ursache für die Ausschreitungen lag in den tradierten Beziehungen der Einwohner zu Ausländern. Die ausländischen Arbeiter, die seit den 1970er Jahren in Hoyerswerda lebten, wurden doppelt diskriminiert : zum einen durch Regierungsabkommen, die das gesamte Leben der Ausländer restriktiven Regeln unterwarfen, und zum anderen durch deutsche Kollegen und Nachbarn. Private Beziehungen zwischen Deutschen und Ausländern über den Arbeitskontakt hinaus waren von den beteiligten Regierungen nicht gewollt. Nach vier oder fünf Jahren kehrten die Ausländer in ihre Heimat zurück. Die ausländischen Arbeiter sollten nicht in die DDR - Gesellschaft integriert werden und wurden daher segregiert. Die in den Regierungsabkommen vorgesehene Abschottung wurde von den Bürgern nur in Ausnahmefällen durchbrochen. In der Mehrheit lebten Deutsche und Ausländer ohne wechselseitigen Kontakt nebeneinander her. Deutsche, die an ihrem Arbeitsplatz mit ausländischen Kollegen arbeiteten, bauten keine privaten Beziehungen zu diesen auf. Im Gegenteil : Häufig ignorierte man die ausländischen Kollegen, wenn man ihnen zufällig in der Freizeit begegnete. Da sich Hoyerswerdaer und Ausländer immer fremd blieben, kursierten Gerüchte und Vorurteile über Ausländer unter den Einwohnern.

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Spätestens in den 1980er Jahren, als die Krisensituation der DDR deutlicher wurde und gleichzeitig ein regierungsamtlicher Wandel im Umgang mit den ausländischen Arbeitern einsetzte ( Verzicht auf Qualifikation, Einsatz als Hilfsarbeiter ), entwickelten sich die vorhandenen Vorurteile zu fremdenfeindlichen Einstellungen, besonders unter jungen Menschen. Für das Jahr 1989 sind mehrere tätliche Auseinandersetzungen zwischen deutschen Jugendlichen und ausländischen Arbeitern nachgewiesen. Die fremdenfeindliche Gewalt ging dabei nicht nur von Skinheads aus. An allen Vorfällen waren auch scheinbar »normale« Bürger beteiligt, die ihre fremdenfeindliche Einstellung nicht wie die Skinheads ideologisch zu untermauern versuchten. Die Ablehnung von Ausländern, die Abgrenzung der eigenen Lebenswelt von den »Fremden«, kurz : fremdenfeindliche Einstellungen, waren bei vielen Hoyerswerdaern eine althergebrachte Grundüberzeugung. Neu an den Vorfällen 1989 war, dass diese Einstellungen offen und gewaltförmig ausgetragen wurden. 2.1.2 Manifestationsbedingungen

Die latenten fremdenfeindlichen Spannungen in Hoyerswerda wurden in den Jahren der DDR von der Staatsgewalt unterdrückt, etwaige Vorkommnisse nicht öffentlich bekannt. Durch den Machtverlust der SED und ihrer Sicherheitsorgane traten die Spannungen jedoch offen zu Tage. Während die alten politischen Eliten abgelöst wurden, verlor die Polizei ihre Autorität. Den Bürgern Hoyerswerdas erschien es, als ob die Polizei nicht mehr handlungsfähig sei. Sie fürchteten sich vor einer Kriminalitätszunahme und fühlten sich von der Polizei, die sich in einer Phase der Umstrukturierung und des Personalabbaus befand, nicht mehr geschützt. Aus diesem Grund gründeten einige Einwohner 1990 eine Bürgerwehr mit dem Namen »Neue Deutsche Ordnung« ( NDO ). Da die Polizei nicht mehr in der Lage sei, ihren Aufgaben nachzukommen, so die Argumentation der NDO, müssten die Bürger selbst für Recht und Ordnung sorgen. Die Existenz der NDO war ein Symptom für die weit verbreitete Angst der Menschen, für den Ansehensverlust der Polizei und für die Tendenz bei einigen Einwohnern, das »Recht« ( oder vielmehr das, was man dafür hielt ) in die eigene Hand zu nehmen. Der Wegfall der alten Staatsmacht führte nicht nur zu einer politischen, sondern auch zu einer wirtschaftlichen und sozialen Krise. Die Wiedervereinigung zeigte, wie marode die Wirtschaft der DDR war. Der Umbau des Wirtschaftssystems brachte den ehemaligen DDR - Bürgern das neue Phänomen »Arbeitslosigkeit«, das bereits viele Menschen getroffen hatte und in den nächsten Jahren potentiell jeden treffen konnte. Dadurch zerfielen die wichtigen sozialen Beziehungssysteme im Betrieb. Die Menschen waren verunsichert und verängstigt. In dieser Situation wurde offenbar, wie fragil das Gemeinwesen der Hoyerswerdaer war. Viele Einwohner

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zogen aus Hoyerswerda fort, andere zogen sich mit ihren Sorgen zurück. Da in den vorangegangenen Jahrzehnten kein tragfähiges städtisches Gemeinwesen entstanden war, konnten die verunsicherten Bürger in den Zeiten der Krise auf kein solides Netzwerk zurückgreifen. Wie gleichgültig die Verzweiflung Einzelner aufgenommen wurde, bewies das »Spektakel« des Suizidversuchs. Der Epochenwandel 1989/90 gefährdete die althergebrachte Ordnung auf dreifache Weise, in politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht. Die althergebrachte soziale Logik der Menschen war zutiefst verletzt. Allerdings schienen die tieferen Ursachen für die Probleme, die verfehlte Wirtschafts - und Sozialpolitik der DDR, als zu komplex. Die Menschen sahen nicht, dass ihre aktuellen Schwierigkeiten in Entscheidungen wurzelten, die vor vielen Jahren von einem intransparenten Regime gefällt worden waren. Stattdessen wurden die Probleme personalisiert und dadurch erklärbar gemacht. In Krisensituationen suchen Gesellschaften häufig Schuldige, um die Ursachen der Misere zu finden. Die Identifikation der Sündenböcke bedeutet, »einen ersten Schritt zu tun, um die Krise zu überwinden«.177 Sündenböcke sind zumeist die »Fremden«, die völlig außerhalb der Gemeinschaft stehen. In Hoyerswerda waren dies die Ausländer. Die Gewalt gegen Fremde, die seit 1990 offen ausgetragen wurde, war die Bruchstelle, an der der Zerfall der sozialen Ordnung sichtbar wurde. Die Ausländer unterlagen in Hoyerswerda seit jeher einer doppelten Desintegration. Doch die Jahre 1989/90 änderten auch die Ausländerpolitik. Statt als billige Arbeitskräfte kamen nun Ausländer als Asylsuchende in die Stadt. Diesen Wandel hatten die Einwohner mental nicht nachvollzogen. Bisher verließen die Ausländer nach vier oder fünf Jahren Arbeit das Land. Nun kamen mit den Asylbewerbern schutzbedürftige Ausländer in die Stadt. Wie lange sie bleiben sollten, war unklar. Gewohnheitsmäßig waren Ausländer Fremde, Gäste auf Zeit, als Hilfsarbeiter in das Land geholt. Nun sollten die Bürger Hoyerswerdas, die selbst in einer tiefen Krise steckten, Fremde aufnehmen und unterstützen. Einige Hoyerswerdaer meinten, mit den Ausländern um die knappen Ressourcen Wohnung und Arbeit konkurrieren zu müssen. Dies verletzte ihre Vorstellung vom »guten Recht«, wonach zuerst die Einheimischen sozial versorgt sein sollten, bevor man Auswärtige, zumal Ausländer, aufnehmen könne. Diese Legitimationsvorstellungen sind eindeutig fremdenfeindlich und zurückzuführen auf den Umgang der DDR mit den ausländischen Vertragsarbeitern. Die Aufnahme der Asylbewerber widersprach dem gewohnten Umgang mit Fremden und verletzte so die soziale Logik vollends. Ähnlich sieht es Werner Bergmann. Als Ursache für die relative Deprivation ostdeutscher Bürger nennt er die »Enttäuschung der durch die Wiedervereinigung drastisch gestiegenen Erwartungen und der von der Politik nicht

177 Kapfer, Gerüchte, S. 152.

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eingehaltenen Versprechungen«.178 Hinzu sei die angespannte Situation mit Ausländern und Asylbewerbern gekommen, die öffentlich debattiert wurde. Dies ermöglichte Rechtsextremisten, beide Themen miteinander zu verknüpfen.179 Die »Ausländerfrage« sei, so Bergmann, »als Kernproblem oder ›master frame‹ definiert [ worden ], dessen Lösung zugleich die Lösung einer ganzen Reihe anderer drängender sozialer Probleme wie Kriminalität, Wohnungsnot, Drogenhandel, Arbeitslosigkeit usw. versprach. Die ›Ausländerfrage‹ erfüllt damit die Funktion, die eine erfolgreiche ›Rahmung‹ erfüllen muss : Sie liefert eine für weitere Bevölkerungskreise glaubhafte Diagnose der Situation, sie enthält eine Handlungsmotivation und deutet eine mögliche Lösung oder Prognose an.«180 In ihrer Situationsdiagnose verbanden die enttäuschten ostdeutschen Bürger die sozialen Probleme in den neuen Bundesländern mit der Aufnahme der Asylbewerber. Dies habe der Annahme widersprochen, dass nach der Wiedervereinigung die bisherigen ausländischen Vertragsarbeiter das Land verlassen würden. Die neue Ausländergruppe der Asylbewerber stieß so »auf massive Ablehnung, weil ihre sozialstaatliche Versorgung ohne entsprechende Vorleistungen als Verletzung elementarer Gerechtigkeitsnormen empfunden wurde«.181 Die Unterbringung der Asylbewerber bei gleichzeitig empfundener Wohnungsnot in Hoyerswerda sowie deren finanzielle Unterstützung durch ein ohnehin krisenbelastetes Gemeinwesen verstieß gegen die Vorstellung des »guten Rechtes« im Sinne Thompsons. In dieser zugespitzten Situation erschien die staatliche Autorität – die Lokalpolitiker und die Polizei – als schwach und mit der Bewältigung der Probleme völlig überfordert. Hoyerswerda war hier keine Ausnahme. Deutschlandweit lag die »Hauptlast der finanziellen, wohnungspolitischen und sozialen Bewältigung der Aufnahme [ von Asylbewerbern ] bei den Kommunen«.182 Dies führte zu einer Überlastung der Kommunen. In anderen Städten fühlten sich die Anwohner von Asylbewerberheimen, weil man sie an der Entscheidungsfindung oft nicht beteiligte, durch die Anwesenheit der neuen Nachbarn ebenfalls düpiert. Das Zusammenleben war folglich von vornherein durch Spannungen und Ablehnung geprägt.183 Die Klagen der Anwohner über die Vertragsarbeiter sowie die Asylbewerber machten es den rechtsextremen Jugendlichen leichter, ihre Fremdenfeindlichkeit als legitim zu betrachten.184 Die Rechtsextremisten boten der Bevölkerung mit ihren Parolen »Ausländer raus !«

178 179 180 181 182 183 184

Bergmann, Rechte als soziale Bewegung, S. 189. Vgl. ebd., S 189 f. Ebd., S. 193 f. Hervorhebung im Original. Ebd. Willems, Kollektive Gewalt, S. 216. Vgl. ebd., S. 217. Vgl. Willems, Fremdenfeindliche Gewalt, S. 189.

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eine Lösung, ein »prognostic frame«,185 an : Wenn es in Hoyerswerda keine Ausländer mehr gäbe, könnten die ihnen bis dahin zugewiesenen Sozialleistungen auf Deutsche verteilt werden. Der fremdenfeindliche Impetus der Gewalt war somit ein Symptom für die Unsicherheit. Die Ausschreitungen waren Symbol für die fragilen sozialen Bindungen in Hoyerswerda. Sie waren von einer »sozialen Logik« im Sinne Thompsons geleitet und verwiesen auf die mehrfache Verletzung der althergebrachten Ordnung. Die Anwesenheit der Asylbewerber wurde zum zentralen Symbol für die Krise der gewohnten Welt. Dies wird in der Aufnahme von fremdenfeindlichen Gerüchten deutlich. 2.1.3 Gerüchte und Vorurteile

Gerüchte und Vorurteile über Ausländer gab es in Hoyerswerda mindestens seit dem Zeitpunkt, ab dem Ausländer in der Stadt lebten. Polen und Vietnamesen unterstellte man, massenhaft Konsumgüter aufzukaufen. Algeriern und Mosambikanern wurden sexuelle Übergriffe auf deutsche Frauen vorgeworfen. Solche Vorurteile waren in der DDR weit verbreitet. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt ist die Existenz solcher Gerüchte bedeutsam, denn sie zeigen, dass die Einwohner bereit waren, solchen Angaben Glauben zu schenken. Man traute Ausländern diese Verhaltensweisen zu. In den Krisenjahren ab 1989 gewannen derartige Gerüchte und Vorurteile an Brisanz. Obwohl die Asylbewerber 1991 nur für wenige Monate in Hoyerswerda lebten, verbreiteten sich sehr schnell Gerüchte, sie würden nachts Autorallyes veranstalten und regelmäßig auf der Wiese vor dem Wohnheim Tiere schächten.186 Die Bereitschaft der Bürger, solchen Gerüchten ungeprüft zu glauben, deckt die Ängste der »Glaubensgemeinschaft«187 auf : Die Jahre, in denen sich die Welt fundamental zu verändern schien, in denen die erworbenen Erfahrungen keine Antworten für die neuen Herausforderungen boten, müssen von vielen Menschen als Chaos wahrgenommen worden sein. Die Kriminalität nahm zu, der Arbeitsplatz, die ganze Zukunft war unsicher. Die Welt war in Unordnung. Doch die Einwohner sehnten sich nach einem festen, geordneten Leben. Unter anderem deswegen wurde die Bürgerwehr gegründet. Der Name »Neue Deutsche Ordnung« verweist auf diese Sehnsucht. In diesem Spannungsfeld zwischen der mentalen Prägung und der täglich erfahrenen Unsicherheit wurden die Asylbewerber betrachtet. Der Status von Ausländern als Hilfesuchende entsprach nicht dem gewohnten Umgang mit

185 Bergmann, Rechte als soziale Bewegung, S. 196. 186 Vgl. Zeitzeugengespräch mit Friedhart Vogel am 31. 5. 2011. Vogel weist im Interview darauf hin, dass es sich womöglich um eine einmalige Schächtung gehandelt haben könnte. 187 Gailus, Straße und Brot, S. 462.

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Ausländern, sondern widersprach den Vorstellungen einer geordneten Welt. Sie symbolisierten die neuen, chaotischen Verhältnisse. Dementsprechend waren Gerüchte über deren schmutzigen, unordentlichen Lebensstil glaubhaft. Um es mit den Worten von Manfred Gailus zu sagen : »›Erfolgreiche‹ Gerüchte, d. h. solche, die zu kollektiven Angstphantasien taugten, qualifizierten sich dadurch, dass sie genau eingepasst waren zwischen den Mentalitäten potentieller Trägerschichten und ihrer wirklichen, erfahrenen und erlebten Welt.«188 Die komplexen Veränderungen der Lebenswelt der Ostdeutschen wurden von den Einwohnern personalisiert. Indem man die Asylbewerber für die Unordnung verantwortlich machte, wurde die eigene Unsicherheit verstehbar. Gegen die Veränderung der Welt konnte man nicht vorgehen, aber gegen die vermeintlich Verantwortlichen, gegen die Ausländer. In diesem Zusammenhang müssen die beiden für die Ausschreitungen 1991 zentralen Gerüchte gesehen werden, das Gerücht über den getöteten Hund der Skinheads sowie der Vorwurf, Ausländer würden den Deutschen Arbeit und Wohnung wegnehmen. Zum ersten Vorwurf : Wie oben geschildert, war der Auslöser für die Gewalt am 17. September das Gerücht, vietnamesische Händler hätten aus Revanche für den vorangegangenen Zigarettendiebstahl den Hund eines der beteiligten Skinheads getötet. Tatsächlich war der Rottweiler »Dixi« lediglich entlaufen, da er vom Besitzer ohne Leine geführt wurde. Doch die Jugendlichen kamen nicht auf diese naheliegende Erklärung. Vielmehr wurde zwei heraneilenden Bekannten geglaubt, die behaupteten, die Vietnamesen hätten sich am Hund vergriffen. Den Jugendlichen, die ohnehin durch Alkohol, fremdenfeindliche Musik und den eben erst begangenen Überfall auf die vietnamesischen Händler aufgeputscht waren, erschien diese Behauptung sofort glaubhaft. Das Gerücht hatte, unabhängig vom Wahrheitsgehalt, eine aktionsfördernde Funktion. Weil ein solcher Vorwurf der Tiertötung bei den fremdenfeindlichen Jugendlichen auf Aufnahmebereitschaft traf, setzte das Gerücht eine Handlung in Gang. In diesem Fall bestand die Reaktion darin, sich an den Vietnamesen zu rächen. Der Vorwurf der Wohnungs - und Arbeitsplatzwegnahme war das zentrale Legitimationsmuster, das von der Beifall klatschenden Menge währen der Ausschreitungswoche vorgebracht wurde. So behauptete Torsten J., die Ausländer »ramschten, hatten viele Fernsehs [ sic !] in ihre Zimmer stehen, 3 Anlagen in einem Zimmer haben sie, das ist doch nicht normal«.189 Frank D. war gegen Ausländer, weil diese »uns die Arbeit weg [ nehmen ] und schieben und schachern«. Er gab offen zu : »Ich bin ausländerfeindlich und somit war es für mich 188 Ebd., S. 470. 189 Kreisgericht Hoyerswerda am 10. 12. 1991, Protokoll der Hauptverhandlung gegen Torsten J. (SächsHStA 13363, Nr. 959, Band 1, Bl. 22).

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selbstverständlich, mich an diesen Aktionen zu beteiligen.«190 Am Samstagnachmittag, dem 21. September, versuchte ein Reporter die Stimmung auf dem Platz vor dem Asylbewerberheim einzufangen. Er konnte viel Verständnis für die Auseinandersetzungen feststellen. Ein Mann meinte, die Sicherheit der Anwohner sei nicht mehr gewährleistet gewesen, und kritisierte die mangelnde Ordnung und Sauberkeit der Ausländer. Generell äußerte er Unverständnis für die Aufnahme von Asylbewerbern : »Warum müssen wir in den neuen Bundesländern die Asylanten aufnehmen ? Sie fahren dicke Autos auf Kosten unserer Steuergroschen. Wir haben doch selbst Probleme genug.«191 Jugendliche einer neunten Klasse waren »nur aus Sensationslust« vor Ort, äußerten jedoch auch : »Die Ausländer müssen raus, die nehmen uns die Arbeit und Wohnungen weg. Außerdem klauen sie. Das hab ich in der Zeitung gelesen.«192 Auf die Rückfrage des Reporters antwortete der Befragte, seine Eltern hätten beide eine Anstellung und seine Familie wohne in einer Vier - Zimmer - Wohnung. Die Vorurteile, die dieser Junge Ausländern entgegenbrachte, wurden durch die mangelhafte Presseberichterstattung über die Gründe der Asylbewerberaufnahme begünstigt. Da die Presse Ausländer nur im Polizeibericht erwähnt hatte, gelangte der Jugendliche zu dem Schluss, Ausländer seien kriminell. Obendrein erhob er den Vorwurf, Ausländer hätten den Deutschen Wohnungen und Arbeitsplätze weggenommen. Er selbst war jedoch kein Betroffener dieser scheinbaren Zurücksetzung. Seine Familie lebte relativ komfortabel. Die »Lausitzer Rundschau« entlarvte mit der kritischen Befragung des Jugendlichen die Haltlosigkeit des Gerüchtes von dem Wohnungs- und Arbeitsplatzdiebstahl. Generell ist festzuhalten, dass die ehemaligen Vertragsarbeiter, die in der Albert - Schweitzer - Straße lebten, keine Arbeit hatten und auf ihre Heimreise warteten. Die Asylbewerber in der Thomas - Müntzer - Straße lebten in überfüllten Wohnungen und hatten keine Arbeitserlaubnis. Kein Ausländer in Hoyerswerda konkurrierte mit den Einwohnern um begehrte Güter ( Wohnungen, Arbeitsplätze, Konsumgüter ). Doch es geht »nicht um Wahrheitsgehalt oder Unsinnigkeit der Gerüchte, sondern in erster Linie um die Frage, ob sie auf Aufnahmebereitschaft ( Glaubensgemeinschaft ) bei größeren Menschengruppen stießen und damit Verhaltensweisen und Handlungen in Gang setzten«.193 Die Vorurteile waren weit verbreitet und verantwortlich dafür, dass viele Bürger der Stadt sich jeden Tag passiv oder aktiv an den Ausschreitungen beteiligten. Hier zeigt sich wiederum die aktionsfördernde Wirkung des Gerüchtes. 190 KAst Hoyerswerda am 19.9.1991, Beschuldigtenvernehmung Frank D. ( ebd., Nr. 1035, Band 1, Bl. 3 f.). 191 Zit. in Wolfgang Swat, Gewalt eskaliert, wo Politik und Toleranz versagen. In : Rundschau für Nordsachsen vom 23.9.1991. 192 Ebd. 193 Gailus, Straße und Brot, S. 462.

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2.2 Protestparteien

Um die Eskalationsdynamik des Protestes zu verstehen, ist es notwendig, das Handeln der Akteure genauer zu betrachten. Aus der Schilderung des Ablaufs der Ereignisse lassen sich fünf beteiligte Gruppen erkennen : 1. Skinheads und andere gewalttätige Jugendliche, 2. die Menge der Schaulustigen, 3. die Behörden, womit die Polizeikräfte sowie die politischen Verantwortlichen gemeint sind, 4. die angegriffenen Ausländer und 5. die Gegendemonstranten, die am 22. und 29. September sowohl friedlich als auch zum Teil gewalttätig in Erscheinung traten. Aufgrund der Quellenlage können lediglich für die Gruppe der Skinheads, deren Angriffe am 17. September begannen, genauere Aussagen getroffen werden. Die Polizei nahm viele von ihnen fest und verhörte sie, sodass die innere Struktur und das Weltbild dieser jungen Menschen gut analysiert werden kann. Alle anderen beteiligten Gruppen erscheinen in den Quellen lediglich als unüberschaubare Menge. Nur vereinzelt wurden Gewalttätige der Tage nach dem 17. September oder Personen aus der Gruppe der Schaulustigen verhört. Diese Aussagen geben kleine Einblicke in die Motive der passiven oder aktiven Tatbeteiligung. Für die Handlungsmuster der übrigen Gruppen wird auf die Polizeiberichte zurückgegriffen. 2.2.1 Skinheads und andere gewalttätige Jugendliche

Die Gewalt ging am 17. September von einer Gruppe Jugendlicher aus, die sich selbst als Skinheads bezeichneten.194 Die Polizisten beschrieben die äußeren Merkmale der Jugendlichen wie folgt : »Sie trugen kahlgeschorene Köpfe, hatten zum Teil Lederjacken, braune Schnürstiefel und enge dunkle Hosen an.«195 Aus ihrem Kassettenradio hörten sie rechtsextreme Lieder, die die Polizisten als »Skinhead - Melodien«196 und »Neonazi - Musik«197 erkannten. Anhand der Selbstbezeichnung, der charakteristischen Kleidung und der Vorliebe für rechtsextreme Musik können die Jugendlichen als rechtsextreme Skinheads bezeichnet werden. Eine feste Gruppenstruktur hatten sie nicht entwickelt. Daniel B., der erst in der Schweitzer - Straße zur Gruppe stieß und sich selbst als »Rechtsradikalen« bezeichnete, kannte die übrigen »vom Sehen her«. Normalerweise »verkehre [ er ] nicht mit anderen Rechtsradikalen«. Er sei ein Einzelgänger.198 Auch 194 Vgl. 2. Beschuldigtenvernehmung Heiko W., Bl. 3; Jugendschöffengericht beim Kreisgericht Hoyerswerda vom 7. 5. 1992, Protokoll der Hauptverhandlung gegen Ronny H. ( SächsHStA 13363 StAW Dresden, Nr. 1341, Band 1, Bl. 62). 195 KAst Hoyerswerda vom 17.9.1991, Zeugenaussage Volker Z. ( ebd., Bl. 9). 196 Urteil gegen Peter A., Bl. 107. 197 Kriminalpolizei Hoyerswerda, Soko - Rex Asta. LKA, 2. Beschuldigten - Vernehmung Heiko W., Görlitz 10.10.1991 ( ebd., Bl. 9). 198 Beschuldigtenvernehmung Daniel B., Bl. 3.

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Ronny H. kannte nicht alle Beteiligten aus der Gruppe mit Namen. Er bezeichnete aber alle als seine »Kumpel«.199 Die Gruppe war demnach nicht hierarchisch strukturiert. Einen Anführer gab es nicht. Vielmehr handelte es sich um einen Freundeskreis mit einem harten Kern, um den sich sympathisierende Jugendliche gruppierten. Die offen zur Schau gestellte Fremdenfeindlichkeit war das verbindende Erkennungsmerkmal, wie Daniel B. aussagte : »Wenn ich gefragt werde, warum ich mich an dieser Aktion gegen die Ausländer beteiligte, so kann ich nur dazu sagen, dass ich keine Ausländer leiden kann und dafür bin, dass sie aus Deutschland verschwinden. Ich bin kein Ausländer, sondern Deutscher. Die anderen denken genauso, deshalb habe ich mich ihnen angeschlossen, obwohl ich sie nicht einmal namentlich bis auf P. kenne und mit ihnen zusammen bin. Ich stehe dazu, was ich gemacht habe.«200 Heiko W. meinte : »Es kann doch nicht sein [...] dass die Ausländer sich bei uns benehmen wie Vandalen bzw. kulturlos.«201 Ronny H. bekannte sich in seiner Hauptverhandlung ebenfalls als Skinhead. Diese zeichneten sich seiner Meinung nach dadurch aus, dass sie »erreichen [ wollten ], dass die Ausländer aus Hoyerswerda raus kommen«.202 Auch während der Ausschreitungen kam ihre politische Haltung zum Ausdruck. So riefen sie ausländerfeindliche Parolen, sangen Lieder wie : »Hisst die rote Flagge mit dem Hakenkreuz« und zeigten den Hitlergruß.203 Der Bezug zur NS - Symbolik weist auf eine Affinitäten zum historischen Nationalsozialismus hin. Doch zeigen die Aussagen der Jugendlichen, dass sie über kein geschlossenes rechtsextremes Weltbild verfügten. So wusste Ronny H. vor Gericht nicht so recht, warum er ein Skinhead wurde : »Warum wird man SkinheadS [ sic !] ? Ich weiß es nicht was ich dazu sagen soll. Ich mache es, weil es die anderen auch machen. Die Ausländer machten nur Dreck hier. Keiner will sie doch haben. Ohne Gewalt gehen sie doch nicht in ihr Land zurück.«204 Er sah sich als Mitläufer und Vertreter einer angeblichen Mehrheitsmeinung (»keiner will sie haben«). Den Skinhead - Kult verstand er als gewalttätige Form von Fremdenfeindlichkeit. Daniel B. reduziert die Merkmale des Rechtsextremismus ebenfalls auf den Aspekt der Fremdenfeindlichkeit, wenn er meint : »Ich fühle mich als Rechtsradikaler. Ich bin es, weil ich gegen die Ausländer bin«. Daniel B. hatte sich keine durchdachte rechtsextreme Ideologie erarbeitet. Vielmehr fühlte er sich Ausländern gegenüber benachteiligt. In seiner Wahrnehmung versprach einzig der »Rechtsradikalismus« diese Zurücksetzung zu 199 Vgl. KAst Hoyerswerda vom 17. 9. 1991, Beschuldigtenvernehmung Ronny H. ( SächsHStA 13363 StAW Dresden, Nr. 1341, Band 1, Bl. 22). 200 Beschuldigtenvernehmung Daniel B., Bl. 5. 201 2. Beschuldigtenvernehmung Heiko W., Bl. 13. 202 Protokoll der Hauptverhandlung gegen Ronny H., Bl. 62. 203 Zeugenaussage Steffen M., Bl. 19. 204 Protokoll der Hauptverhandlung gegen Ronny H., Bl. 67.

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bekämpfen. Daniel B. war kein ideologisch gefestigter Rechtsextremist. Es handelte sich vielmehr um einen »gefühlten« Rechtsextremismus. Die Gerichtshilfe stellte ebenfalls fest, dass er über kein durchdachtes Weltbild verfügte. Sie bescheinigte ihm eine »mäßig intelligente Persönlichkeit«.205 Er sei »kein politisch denkender Mensch, sondern eine leicht beeinflussbare Persönlichkeit, die unkritisch auf Beeinflussung reagiert«.206 Ähnlich heißt es über Torsten J. Die Jugendgerichtshilfe schätzte ein, er »sei noch auf dem Weg der Selbstfindung und lässt sich im Moment mehr von Emotionen als von der Vernunft leiten. Sein Verhalten zur Straftat [ sei ] aus der Sicht der Desorientierung und der daraus resultierenden Bereitschaft zur Gewalt zu betrachten.«207 Die Zitate belegen, dass die rechtsextremen Jugendlichen nur diffuse ideologische Vorstellungen hatten, die im Wesentlichen auf Ressentiments gegen Ausländer beruhten. Die Fremdenfeindlichkeit beruhte auf der vermeintlichen Benachteiligung Deutscher gegenüber Ausländern. So gab Ronny H. als Grund für seine Fremdenfeindlichkeit an : »Wegen d. Ausländer – haben wir keine Arbeit, und die kriegen gleich Wohnung. Nach der Wende ging ja erst alles richtig los. Viele wurden arbeitslos.«208 Ronny H. fühlte sich gegenüber Ausländern zurückgesetzt. In seiner Wahrnehmung hatten viele Deutsche nach 1989/90 ihre Arbeit verloren, während Ausländern Wohnungen und Arbeitsplätze zur Verfügung gestellt worden seien. Die Jugendgerichtshilfe fasste Ronny H.s Standpunkt zusammen, er habe einen Widerspruch empfunden »zwischen der Fürsorge über den ausländischen Bürgern und dem plötzlichen Fallenlassen seiner Person«.209 Demnach war Ronny H. wütend über eine Verschiebung im Statusgefüge sozialer Gruppen : Sein Status als Einheimischer wurde durch die staatliche Unterstützung der »Fremden« bedroht. Daniel B.s Fremdenfeindlichkeit fußte ebenso auf einer gefühlten Deprivation. Er bekundete : »Ich fühle mich als Rechtsradikaler. Ich bin es, weil ich gegen die Ausländer bin, die uns die Arbeitsplätze wegnehmen. Ich selbst war auch arbeitslos. Solange die Ausländer in Deutschland bleiben, solange werde ich auch ein Rechtsradikaler bleiben und dagegen ankämpfen.«210 205 206 207 208 209 210

Beschuldigtenvernehmung Daniel B., Bl. 3. Gerichtshilfebericht über Daniel B., Bl. 33. Jugendgerichtshilfebericht für Torsten J., o. O., o.D. ( ebd., Nr. 959, Band 1, Bl. 17). Protokoll der Hauptverhandlung gegen Ronny H., Bl. 62. Jugendgerichtshilfebericht über Ronny H., Hoyerswerda am 5.5.1992 ( ebd., Bl. 50). Beschuldigtenvernehmung Daniel B., Bl. 3. In der Gerichtsverhandlung versuchte die Gerichtshilfe, den ausländerfeindlichen Hintergrund der Tatbeteiligung B.’s in den Hintergrund treten zu lassen. Demnach hatte er keine Aversionen gegen Ausländer, sondern habe sich sogar mit einem »Schwarzen« während einer Arbeitsmaßnahme gut verstanden. Er habe sich an den Ausschreitungen nur beteiligt, da er sehr tierlieb sei und ihm die Nachricht des getöteten Hundes »sehr nahe gegangen« sei. Staatsanwaltschaft Dresden, Gerichtshilfe am 25. 2. 1992, Bericht über Daniel B. ( SächsHStA 13363 StAW Dresden, Nr. 1266, Band 1, Bl. 32).

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Die Arbeitslosigkeit war vielen der beteiligten Jugendlichen aus eigener Erfahrung bekannt. Der zur Tatzeit 28 - jährige Karsten Ralf P. ging seit 1986 keiner geregelten Arbeit mehr nach.211 Peter A., im September 1991 21 Jahre alt, war seit Januar 1991 ohne Arbeit und feste Unterkunft.212 Ronny H., 18 Jahre alt, hatte seine Lehre im September 1989 abgebrochen.213 In seiner früheren Jugend wurde er wegen vermeintlich schlechtem Verhalten, Disziplinlosigkeit in der Freizeit und in der Schule in einen Jugendwerkhof eingewiesen. Im Herbst 1989 floh er über die Prager Botschaft in die Bundesrepublik.214 Eine schwierige Jugend hatte auch der 28 - jährige Daniel B. Seit seiner Kindheit wechselte sein Aufenthaltsort dauernd. Zunächst lebte er mit vier Halbgeschwistern bei seiner Mutter. Später kam er in ein Kinderheim in Berlin und von dort zu seiner Tante. Zwischen seinem 15. und 18. Lebensjahr lebte er im Jugendwerkhof Friedrichswerth. Anschließend lebte er bei seiner Mutter und seinem Stiefvater. Seit März 1991 hatte er eine eigene Wohnung. Seine Schulausbildung erhielt er auf einer Sonderschule. Zu seiner Mutter hatte er ein gutes Verhältnis. Während er bei seiner Tante lebte, fiel er negativ auf, blieb der Schule fern, trank Alkohol und besuchte Kneipen. Schließlich wurde er in einen Jugendwerkhof eingewiesen. Er begann eine Lehre, doch wurde ihm wegen Alkoholmissbrauchs gekündigt.215 Nach neun Monaten Arbeitslosigkeit bekam er eine ABM - Stelle als Betonarbeiter beim katholischen Pfarramt in Hoyerswerda. Hier half er auf der Baustelle der Caritas - Sozialstation.216 Diese Biographien zeigen, dass die sozialen Probleme der rechtsextremen Jugendlichen keineswegs eine Folge der Transformation waren, sondern lange vor der Wiedervereinigung begannen. Dennoch machten sie Ausländer für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich. Sie waren die »Sündenböcke« für die Misere der Jugendlichen, an ihnen ließen sie ihre Wut aus. In dem Jugendhilfebericht über Ronny H. heißt es, das Gerücht über den getöteten Hund habe ihm zum Anlass gedient, »seinen Frust über seine Nutzlosigkeit in Hoyerswerda zum Ausdruck zu bringen«.217 Die fremdenfeindliche Einstellung der Skinheads war primär aktionsorientiert. Ihr Weltbild diente ihnen als Legitimation für ihre explosionsartigen Gewalttaten, um ihren Frust abzubauen. Die alltägliche Wut über die eigene

211 Vgl. KAst Hoyerswerda vom 18.9.1991, Beschuldigtenvernehmung Karsten Ralf P. ( SächsHStA 13363 StAW Dresden, Nr. 961, Band 1, Bl. 4). 212 Vgl. Urteil gegen Peter A., Bl. 107. 213 Vgl. KAst Hoyerswerda vom 17. 9. 1991, Beschuldigtenvernehmung Ronny H. ( SächsHStA 13363 StAW Dresden, Nr. 1341, Band 1, Bl. 2 f.). 214 Vgl. Jugendgerichtshilfebericht Hoyerswerda vom 5.5.1992 über Ronny H. ( ebd., Bl. 49). 215 Vgl. Gerichtshilfebericht Daniel B., Bl. 29 f. 216 Vgl. Beschuldigtenvernehmung Daniel B., Bl. 2 f. 217 Jugendgerichtshilfebericht Ronny H., Bl. 50.

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Perspektivlosigkeit verwandelte sich während der Ausschreitungen in Spaß. Die Jugendgerichtshilfe stellte fest : »Für Ronny war es eine Situation, die ihm irgendwie Spaß machte und [ in der ] er ein Abenteuer erleben konnte.«218 Die Ausschreitungen waren »Spaß« und »Abenteuer« für die Jugendlichen. Es war zunächst der Erlebnischarakter der Gewalt, der in Zusammenhang mit der Fremdenfeindlichkeit die Ausschreitungen immer weiter eskalieren ließ. Dementsprechend waren es nicht nur gewaltbereite, rechtsextrem orientierte Skinheads, die die Ausländerwohnheime angriffen. Auch scheinbar »normale« Jugendliche und Erwachsene warfen Steine, Stahlkugeln und Brandflaschen. So zählte der Polizist Detlef H. bereits am ersten Tag der Ausschreitungen, dass neben 10 »Kahlköpfigen« auch sechs weitere Personen Scheiben des Ausländerwohnheimes einwarfen.219 Der Polizist Jürgen B. wies in seiner Aussage darauf hin, dass sich am 17. September nicht nur Jugendliche, sondern auch »erwachsene Randalierer« mit Steinwürfen hervortaten.220 Über die einzelnen Beweggründe solcher scheinbar »normalen« Bürger, die sich nicht in der Skinheadszene verorteten oder als »Rechtsradikale« bezeichneten, lässt sich aufgrund der Quellenlage wenig ermitteln. Die meisten aufgefundenen Aussagen aktiver Täter stammen von Jugendlichen, die sich als »Skinheads« bezeichneten und am 17. September die Gewalt begannen. Einzig das Verhörprotokoll von Roco B. gibt einen Hinweis auf die Dynamik der Gewalt. Der zum Tatzeitpunkt 25 Jahre alte Roco B. wurde am 21. September festgenommen. Er wohnte im Dorf Weißkollm bei Hoyerswerda, hielt sich aber an diesem Tag in der Stadt auf. Hier, so B. in seinem Verhör, habe er gehört, dass »vor dem Asylantenheim etwas los sein soll«.221 Um sich anzusehen, was genau passierte, ging er zusammen mit zwei Freunden gegen 21 Uhr in die Thomas - Müntzer - Straße. In der Menschenmenge vor dem Wohnheim verlor er seine Freunde. Nach einigen Minuten forderten einige Personen aus der Menge dazu auf, Mülltonen umzuwerfen. Dieser Aufforderung kamen Roco B. sowie andere Personen umgehend nach. Zusätzlich warf er einen Stein und einen Motorradhelm auf eine Polizeikette, die das Asylbewerberheim schützte.222 Wenige Stunden nach der Tat, im Verhör auf dem Polizeirevier, konnte sich Roco B. diese Aktion jedoch nicht mehr erklären. Er gab an : »Das was ich getan habe kann ich mir jetzt gar nicht richtig erklären. Ich habe mich von den Massen beeinflussen lassen und habe einfach das mitgemacht was auch

218 Ebd. 219 Vgl. Zeugenaussage Deltef H., Bl. 15. 220 KAst Hoyerswerda vom 17. 9. 1991, Zeugenvernehmung Jürgen B. ( SächsHStA, 13363 StAW Dresden, Nr. 961, Band 1, Bl. 23). 221 KAst Hoyerswerda am 21.9.1991, Beschuldigtenvernehmung Roco B. ( SächsHStA 13363 StAW Dresden, Nr. 1253, Bl. 16). 222 Vgl. ebd., Bl. 16 f.

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andere Personen taten. Ich bin nicht mit dem Ziel dort hingegangen um gegen die Polizei etwas zu unternehmen. Ich wollte mir alles nur ansehen.«223 Offenbar wurde Roco B. von der angeheizten Atmosphäre aufgeputscht. Ihm waren zum Tatzeitpunkt die Folgen seines Tuns nicht ersichtlich. Er ließ sich von der aufgebrachten Menge mitreißen, wie er bei einer zweiten Vernehmung erklärte : »Ich bin mir darüber im Klaren, dass sich diese Aktionen gegen die Ausländer richten. Warum ich daran teilnahm, kann ich einfach nicht sagen. Ich habe nichts gegen Ausländer. Ich fühle mich zu keinem politischen Spektrum hingezogen. Ich bin kein ›Rechter‹. Ursprünglich wollte ich nur zuschauen. Durch die angeheizte Atmosphäre wurde ich angesteckt und beging diese Handlungen.«224 Somit lassen sich drei Kategorien von aktiven Tätern unterscheiden : Erstens die rechtsextrem orientierten Jugendlichen, die die Gewalt am 17. September begannen. Zwar verfügten sie über kein gefestigtes rechtsextremes Weltbild. Allerdings orientierten sie sich am historischen Nationalsozialismus und hatten eine gewaltbereite fremdenfeindliche Einstellung. Gewalt gegen Ausländer erschien ihnen legitim. Für einige von ihnen waren die Ausschreitungen im September 1991 nicht die erste fremdenfeindliche Tat. Als zweite Tätergruppe können scheinbar »normale« Hoyerswerdaer gelten, die zwar ebenfalls über eine fremdenfeindliche Einstellung verfügten, sich aber nicht zum Rechtsextremismus bekannten und Gewalt nur im Schutz der Menge ausübten. Unter die dritte Gruppe fallen schließlich Personen wie Roco B., die sich nicht zu einem rechtsexremen und / oder fremdenfeindlichen Weltbild bekannten. Sie waren als Schaulustige vor Ort und wurden von der angeheizten Situation in einen Rauschzustand versetzt. In diesem Zustand begingen sie Taten, die sie sich im Nachhinein nicht erklären konnten. Da die Täter der Gruppen zwei und drei aus einer großen Menge Schaulustiger heraus agierten, ist eine klare Unterscheidung einzelner Personen nahezu unmöglich. Die Grenze zwischen passiven Zuschauern und aktiv Handelnden war fließend. Allen drei Gruppen war jedoch gemein, dass sie die Gewalt als aufregendes Spektakel erlebten. Dieser »Eventcharakter« der Ausschreitungen hat die Eskalation maßgeblich gefördert. Wie sehr die Angriffe auf die Ausländerwohnheime als sich aus dem Alltag heraushebendes Ereignis erlebt wurden, zeigt ein Blick auf die Menge der Schaulustigen. 2.2.2 Die Beifall klatschende Menge

Die Gewalt gegen die Ausländer in Hoyerswerda wurde zwar von jugendlichen Skinheads begonnen, doch von einer großen Menge scheinbar »normaler« Bür223 Ebd. ( Bl. 17). 224 2. Beschuldigtenvernehmung Roco B. am 10.10.1991 ( ebd., Bl. 23).

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ger mitgetragen. Bereits von dem Moment an, als die Skinheads am 17. September zum Ausländerwohnheim zogen, wurden sie von Passanten begleitet. Bis zur Auflösung durch die Polizei am ersten Tag der Ausschreitungen wuchs die Menge auf 200 Personen an. Eine Differenzierung dieser großen Gruppe ist schwierig. Es gab verschiedene, sogar gegensätzliche Reaktionen von Personen aus dieser Menge. Einige Passanten protestierten gegen die fremdenfeindliche Gewalt. Katja B. wollte die Polizisten moralisch unterstützen und stellte sich zu ihnen.225 Die meisten anderen Personen beklatschten jedoch den Angriff auf das Wohnheim.226 Unter den Schaulustigen waren auch »Eltern mit ihren halbwüchsigen Kindern, die fleißig bei der Zerstörung Hand anlegten und Beifall heischend zusahen, wie Scheiben zu Bruch gingen, immer wieder wurden die Steinwerfer aus der Menge angefeuert«.227 Für die umstehenden Bürger waren die Ausschreitungen ein Spektakel, ein aus dem Alltag herausragendes Ereignis. Die Skinheads fühlten sich von den Anwesenden unterstützt. Die Sympathiebekundungen von so vielen Bürgern war für die Jugendlichen eine Legitimationsbestätigung. Doch der Beifall der Menge legitimierte nicht nur die Gewalt, sondern ließ diese immer weiter eskalieren. Durch die Sympathiebekundungen entstand eine Art »Volksfestatmosphäre«. Der Angriff auf die Ausländer wurde enthusiastisch gefeiert. Es wurden »ein Radio angemacht und laut Lieder faschistischen Inhalts abgespielt. Diese Gruppe sang dann auch Lieder wie : ›Hisst die rote Flagge mit dem Hakenkreuz‹, ›Es ist noch Suppe da es ist noch Suppe da, aber nicht für die aus Afrika‹ ›Juden, Juden‹. Des Weiteren wurde der Hitlergruß von dieser Gruppe getätigt.«228 Die Schaulustigen berauschten sich an der Gewalt gegen Ausländer. Umgekehrt sorgten sie mit ihrem Beifall für eine Fortsetzung der Angriffe. Somit bedingten sich die direkten Gewalttaten und die Sympathiebekundungen wechselseitig. Dadurch entstand eine rauschhafte Atmosphäre, in der die Täter völlig entgrenzt handelten. Die durch die Schaulustigen hergestellte Öffentlichkeit führte dazu, dass in den nächsten Tagen weitere Bürgerinnen und Bürger informiert und so zum Ort des Geschehens gelockt wurden. Bemerkenswerterweise begannen die Ausschreitungen in den Tagen vom 18. bis 20. September ( Mittwoch bis Freitag ) immer zur annähernd selben Zeit. Jeweils gegen 17 Uhr, also nach der Arbeit bzw. der Schule, versammelten sich Jugendliche vor dem Wohnheim in der Albert Schweitzer - Straße : am Mittwoch 100, am Donnerstag 30 und am Freitag zwölf. Innerhalb einer Stunde wuchs die Menge auf mehrere Hundert.229 Die Menschen zog es in ihrer Freizeit aus Neugierde vor das Ausländerwohnheim. So war in den 225 226 227 228 229

Zeugenvernehmung Katja B. Vgl. Urteil gegen Peter A., Bl. 111. Erschreckende Gewalt. In : Rundschau für Nordsachsen vom 20.9.1991. Zeugenvernehmung Steffen M., Bl. 19. Vgl. Pollack, Ausschreitungen, S. 24 f.

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Schulen bekannt, dass in der »Vergangenheit Aktionen gegen Ausländer im Stadtzentrum erfolgt sind«.230 Andere hörten bei der Arbeit vom Geschehenen.231 In den Jugendklubs unterhielt man sich ebenso über die Ausschreitungen und beschloss, aus Neugier zum Wohnheim zu gehen.232 Dabei war der Jugendklub im HBE von großer Bedeutung, denn er galt unter Jugendlichen als »Treffpunkt für Skins«.233 Steven F. erfuhr in der Gaststätte »Freundschaft« im WK III, »dass am ›Polenhaus‹ in der Schweitzer - Straße etwas los gehen sollte«.234 Andere Personen wurden von der Menschenmenge angezogen, als sie sich zufällig in der Nähe aufhielten235 oder weil sie als Anwohner den Tumult bemerkten.236 Ronny H., der sich bereits am 17. September aktiv an den Ausschreitungen beteiligte, wollte am 19. September »nur sehen, was dort ›losgeht‹ ohne dabei aktiv zu werden«.237 Silvio P. war ebenfalls an mehreren Tagen bei den Angriffen dabei. Er sah am 18. September der Gewalt ein erstes Mal zu. Er erfuhr von einem Arbeitskollegen in der Berufsschule in Schwarze Pumpe, dass am 17. September das Ausländerwohnheim angegriffen worden war. Aus Neugier sowie aufgrund seiner Ablehnung von Ausländern begab er sich am 18. September in die Albert - Schweitzer - Straße.238 Aufgrund seiner Kenntnis von den bisherigen Ausschreitungen sei ihm auch am folgenden Tag (19. September ) klar gewesen, dass »wieder was passieren wird [...] dass gegen die Ausländer vorgegangen wird«.239 Am 19. September besuchte er am Nachmittag zunächst den Jugendklub im HBE. Hier unterhielt er sich mit Freunden über die Ereignisse der vorangegangenen Tage. Aus Neugier zogen sie gemeinsam gegen 18 Uhr in die Albert Schweitzer - Straße und sahen den Ausschreitungen zu.240 Die Aussagen zeigen, dass in der Stadt Gerüchte über die Ausschreitungen vom Dienstag im Umlauf waren. Pollack verweist darüber hinaus auf erste Medienberichte. Die ARD berichtete bereits am Mittwoch, dem 18. September, von den Ausschreitungen.241 230 KAst Hoyerswerda am 19. 9. 1991, Beschuldigtenvernehmung Martin Horst K. ( SächsHStA 13363 StAW Dresden, Nr. 958, Bl. 3). 231 Vgl. KAst Hoyerswerda am 19.9.1991, Beschuldigtenvernehmung Leif P. ( ebd., Nr. 982, Bl. 5). 232 Vgl. KAst Hoyerswerda am 2.10.1991, Beschuldigtenvernehmung Silvio P. ( ebd., Nr. 964, Bl. 4). 233 KAst Hoyerswerda am 11.10.1991, Beschuldigtenvernehmung Dennis M. ( ebd., Nr. 1263, Bl. 7). 234 KAst Hoyerswerda am 19.9.1991, Beschuldigtenvernehmung Steven F. ( ebd., Nr. 1934, Band 1, Bl. 5). 235 Vgl. KAst Hoyerswerda am 2.10.1991, Beschuldigtenvernehmung Maik G. ( ebd., Nr. 960, Bl. 3); KAst Hoyerswerda am 19.9.1991, Beschuldigtenvernehmung Marinko G. ( ebd., Nr. 963, Bl. 3). 236 Vgl. KAst Hoyerswerda am 19. 9. 1991, Beschuldigtenvernehmung Bernd G. ( ebd., Nr. 974, Bl. 3); KAst Hoyerswerda am 19.9.1991, Beschuldigtenvernehmung Hans - Joachim F. ( ebd., Nr. 972, Bl. 2). 237 KAst Hoyerswerda am 19.9.1991, Beschuldigtenvernehmung Ronny H. ( ebd., Nr. 962, Bl. 3). 238 Vgl. Beschuldigtenvernehmunt Silvio P., Bl. 5. 239 Ebd., Bl. 4. 240 Vgl. ebd., Bl. 4 f. 241 Vgl. Pollack, Ausschreitungen, S. 31, Fußnote 10.

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Bild 2 : Schaulustige in der Albert - Schweitzer - Straße.242

Die Regionalzeitungen widmeten sich in ihren Ausgaben vom 19. September den Krawallen vom Dienstagnachmittag.243 Viele der Schaulustigen wurden demnach aus Neugier und Sensationslust angetrieben. Die fremdenfeindliche Gewalt war ein beliebtes Freizeitereignis. Man wollte »sehen, was los ist.« Martin Horst K. wartete beispielsweise darauf, »dass Scheiben eingeschmissen und Molotowcocktails geworfen werden«. Er hatte nach eigenen Angaben keine Parolen gerufen und teilte auch nicht die Ansichten der Skinheads, sondern wollte lediglich die Eskalation der Gewalt sehen.244 Ihm ging es demnach lediglich darum, sich an der Gewalt zu ergötzen. Die Ausschreitungen waren somit zu einem Ereignis, einem Event geworden, das man nicht verpassen wollte. Die erwartete Gewalt versprach eine Unterbrechung des monotonen Alltags. Einige der Zuschauer kamen aus fremdenfeindlichen Motiven in die Schweitzer - Straße. Silvio P. bekannte : »Ich selbst vertrete den Standpunkt, dass die Ausländer hier raus sollen. Ich habe für die nichts übrig. In Deutschland gibt es schon genug Arbeitslose, sie schleppen Drogen ins Land, deshalb sollen sie dort242 Foto : Wolfgang Moose. In : Sächsische Zeitung vom 19. 9. 1991. 243 Vgl. Lausitzer Rundschau vom 19.9.1991; Sächsische Zeitung vom 19.9.1991. 244 Beschuldigtenvernehmung Martin Horst K., Bl. 3 ff.

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hin, wo sie hergekommen sind.«245 Vor Gericht wollte er sich aber lediglich als Rechter, nicht als Rechtsextremer verstanden wissen. Dennoch wich er in der Verhandlung nicht von seinen fremdenfeindlichen Vorurteilen ab. So hätten Ausländer Arbeitsplätze weggenommen und Grundstücke weggekauft.246 Auch Torsten J. nannte persönliche Vorbehalte und schlechte Erfahrungen mit Ausländern als Grund für seine Teilnahme an den Ausschreitungen : »Ich habe nichts gegen die Ausländer, aber die meisten können sich nicht benehmen. Es hat sich zu viel hier angesammelt. Die Ausländer sollen raus hier. Ich wurde persönlich auch schon von Negern angepöpelt [ sic !]. Aus diesem Grund nehme ich an so etwas teil.«247 In seiner Verhandlung unterstellte er Ausländern eine materielle Besserstellung durch illegale Geschäfte : Sie »ramschten, hatten viele Fernsehs [sic!] in ihre Zimmer stehen, 3 Anlagen in einem Zimmer haben sie, das ist doch nicht normal«.248 Frank D. war gegen Ausländer, weil diese »uns die Arbeit weg[nehmen ] und schieben und schachern«. Er gab offen zu : »Ich bin ausländerfeindlich und somit war es für mich selbstverständlich, mich an diesen Aktionen zu beteiligen.«249 Steven F. meinte : »Ich habe Nationalstolz und bin gegen Ausländer. Ich bin dagegen, dass sich diese Leute hier einnisten. Meine Meinung ist, dass diese Leute raus müssen und das Deutschland sauber werden soll. Diese Aktionen in der Schweitzer Straße befürworte ich auf einer Seite, da solche Aktionen einiges beschleunigen. Andererseits werden Leben gefährdet, was mir nicht gefällt. Deshalb beteilige ich mich nicht aktiv.«250 Für Schaulustige mit einer solchen fremdenfeindlichen Einstellung war es »selbstverständlich«, die Ausschreitungen mit Parolen wie »Ausländer raus« und »Deutschland den Deutschen« zu unterstützen.251 Die Menschen, die sich vor dem Wohnheim an diesen Tagen versammelten, kamen teilweise aus reiner Sensationslust, teilweise aus fremdenfeindlichen Motiven. Die Grenzen waren fließend. Vom kollektiven Rausch angesteckt, wurden aus neutralen Schaulustigen aktiv Handelnde. Sie ließen sich durch die Menge zu fremdenfeindlichen Parolen hinreißen, wobei Alkohol enthemmend wirkte.252 245 Beschuldigtenvernehmung Silvio P. ( Bl. 4). 246 Kreisgericht Hoyerswerda vom 25. 11. 1991, Protokoll der Hauptverhandlung gegen Silvio P. (SächsHStA 13363, Nr. 964, Bl. 18). 247 KAst Hoyerswerda am 19.9.1991, Beschuldigtenvernehmung Torsten J. ( ebd., Nr. 959, Band 1, Bl. 4). 248 Kreisgericht Hoyerswerda am 10. 12. 1991, Protokoll der Hauptverhandlung gegen Torsten J. (ebd., Bl. 22). 249 KAst Hoyerswerda am 19.9.1991, Beschuldigtenvernehmung Frank D. ( ebd., Nr. 1035, Band 1, Bl. 3 f.). 250 Beschuldigtenvernehmung Steven F., Bl. 6. 251 Hier zit. aus Beschuldigtenvernehmung Frank D., Bl. 4. 252 Vgl. Beschuldigtenvernehmung Bernd G., Bl. 3. Vgl. auch Beschuldigtenvernehmung Falko P., Bl. 5, der mehrmals Polizisten als »Bullenschweine« beleidigt hatte, in der Vernehmung aber keinen Grund dafür nennen konnte.

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Bild 3 : Schaulustige in der Albert - Schweitzer - Straße.253

Eine klare Trennung zwischen fremdenfeindlichen und neutralen Personen unter den Zuschauern ist daher nicht möglich. Insgesamt haben sie die Gewalt vehement unterstützt, weil sie ihre Sympathie für deren Anwendung deutlich erkennbar bekundeten. Durch das sensationsheischende Freizeitvergnügen, zum Ausländerwohnheim zu gehen und abzuwarten, was dort passiert, wurde die tägliche Neuaufnahme der Gewalt mit bedingt. Nur weil mehrere hundert Bürgerinnen und Bürger erwarteten, dass jeden Tag aufs Neue Jugendliche das Ausländerwohnheim angriffen, fühlten diese sich in ihrem Tun bestärkt. Die Sensationsgier und der Beifall der Schaulustigen hat die Gewalt jeden Tag angeheizt. 2.2.3 Die Behörden

Die Vertreter des Staates, seien es die Polizisten, seien es die Lokalpolitiker, waren an allen Tagen der Ausschreitungen mit der Situation völlig überfordert. Dies zeigte bereits das Auftreten der Polizisten am ersten Tag der Angriffe, dem 17. September. Über mehrere Stunden standen lediglich vier Polizisten einem Dutzend betrunkener Skinheads gegenüber, die sie zu keinem Zeitpunkt unter Kontrolle 253 Foto : Wolfgang Moose. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 20.9.1991.

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hatten. Im Gegenteil : Die Skinheads spürten die Unsicherheit seitens der Ordnungshüter. Sie hatten keinerlei Respekt vor diesen und bedrohten sie sogar. Während der folgenden Tage waren immer mehr Einsatzkräfte in Hoyerswerda präsent. Am 18. September waren insgesamt 62 Polizisten vor dem Wohnheim in der Albert - Schweitzer - Straße eingesetzt.254 Für den 20. September wurden insgesamt 77 Polizeibedienstete, darunter sechs Hundeführer, aus dem gesamten Bereich der Landespolizeidirektion Dresden zur Unterstützung der bereits in Hoyerswerda befindlichen Beamten der Polizeidirektion Bautzen beordert. Zusätzlich sollten eine Einsatzhundertschaft der Bereitschaftspolizei, zwei Wasserwerfereinheiten, »Kräfte der operativen Bildübertragung«, zwei »Bedo« Trupps,255 Polizeihubschrauber und Einsatzkräfte des SEK Sachsen in Hoyerswerda bereitstehen.256 Tatsächlich waren am 20. September zur Räumung des Platzes vor dem Wohnheim in der Albert - Schweizer - Straße sogar drei Einsatzhundertschaften Bereitschaftspolizei im Einsatz. Bis zum Sonntag, dem 22. September, erhöhte sich die Anzahl der in Hoyerswerda bereitgestellten Polizeikräfte weiter. An diesem Tag waren letztlich »sechs Einsatzhundertschaften, zwei Wasserwerfer, ein mobiles Einsatzkommando, ein Spezialeinsatzkommando, zwei Bedo - Trupps, das Bildübertragungssystem sowie 12 Diensthundeführer eingesetzt«.257 Mit jedem Tag waren somit mehr Einsatzkräfte vor Ort, schließlich mehrere Hundert Polizisten. Dennoch war es ihnen offensichtlich nicht möglich, die Täter an der Ausübung von Gewalt zu hindern. Vielmehr wurden die Polizisten selbst zum Angriffsziel. Bereits am ersten Tag der Ausschreitungen wurden die vier Ordnungshüter, die das Wohnheim in der Albert - Schweitzer - Straße zu sichern versuchten, von den Jugendlichen verbal angegriffen. Den Jugendlichen war völlig unverständlich, wieso die Polizisten die Skinheads davon abhielten, das Ausländerwohnheim zu stürmen. Der Polizist Volker Z. wurde von einem unbenannten Jugendlichen mit den Worten beleidigt : »›Ihr Schweine, Ihr seid doch keine Deutschen.‹ Gleichzeitig zeigte er den Mittelfinger, wo er offensichtlich zum Ausdruck brachte, dass wir Arschlöcher sind. [...] Er kam auch auf uns zu und verlangte Zutritt. Er forderte uns auf ›Lasst uns durch, wir wollen hier rein‹. Durch uns wurde er abgedrängt, so dass er keinen Zutritt erlangen konnte. Ich möchte aber sagen, dass er uns gegenüber nicht handgreiflich wurde. Er beschimpfte uns lediglich mit Worten ›Die stehen immer noch mit der grünen

254 255 256 257

Vgl. Lagenzentrum Dresden vom 20.9.1991, S. 1. Bedo : Abkürzung für »Beweissicherung und Dokumentation«. Lagenzentrum Dresden vom 20.9.1991, S. 2. Landespolizeipräsidium Lagezentrum Dresden vom 23.9.1991, Vorkommnisse am Ausländerwohnheim in Hoyerswerda. Auszug aus den Lageberichten der Vortage, S. 1 ( SächsHStA 12989 SMI, Nr. 102). Im Folgenden zit. als Lagezentrum Dresden vom 23.9.1991.

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Uniform da, Ihr beschützt ja die Ausländer‹ und in anderer Form, die ich nicht mehr wiedergeben kann.«258 Ronny H. verstand das polizeiliche Handeln ebenso wenig : »Ich habe gegen die Polizeibeamten keinen aktiven Widerstand geleistet, habe sie aber mit Worten wie ›Bullenschweine‹ beschimpft. Das habe ich deshalb getan, weil ich den Eindruck hatte, das die Polizei diese Ausländer beschützt, wo sie doch zu ihren Landsleuten halten müssten.«259 Auch für Heiko W.s Empfinden hätte die Polizei die Skinheads gewähren lassen sollen. Er fragte einen Beamten, »auf wessen Seite er stehe«. Allerdings habe es sich seine Gruppe »zum Prinzip gemacht, nicht gegen die Staatsgewalt vorzugehen und mit der Polizei zu eskalieren«.260 Anhand dieser Aussagen wird die dichotomische Sichtweise der Täter deutlich. Sie unterteilten die Welt in Freund oder Feind. Die Skinheads sahen die Polizisten nicht als neutrale Ordnungsmacht. Sie hätten sich stattdessen mit ihren »Landsleuten« gegen die Ausländer verbinden sollen. Weil die Polizisten aber die Ausländer vor der Gewalt schützten, verstießen sie gegen die Rechtsvorstellung der Täter. In den Augen der Skinheads hielten die Ordnungshüter zu den Ausländern und stellten sich somit gegen ihre »Landsleute«. Die Polizisten wurden von den Jugendlichen nicht als neutrale Autorität, sondern als Feinde wahrgenommen. Diese dichotomische Sichtweise übernahmen im Laufe der Ausschreitungen auch »einfache« Bürger, die nicht der Skinheadszene anhingen. So sagte Torsten J. während der Ausschreitungen am 19. September zu seinen Bekannten : »Die [ Polizisten ]261 sollten lieber zur Seite gehen und uns gegen die Neger lassen.«262 Frank D. wurde befragt: »Warum warfen Sie einen Stein in Richtung der Polizisten ? Antwort : [...] Als nun die Polizei die Ausländer schützen wollte, packte mich die Wut und ich warf den Stein in Richtung der Polizisten. Ich machte mir in diesem Augenblick keine Gedanken darüber, dass ich mit dem Stein einen Menschen verletzen könnte, ich war in dieser Situation sehr erregt.«263 Die anfänglich verbalen Proteste und Beleidigungen der Polizisten durch die Menge schlugen am Donnerstag, dem 19. September, in offene Gewalt um. Im Bericht zu diesem Tag stellte die Polizei fest, »dass sich die Angriffe nicht mehr gegen die Ausländer, sondern verstärkt gegen die eingesetzten Vollzugsbeamten richteten«.264 Am Samstag, dem 21. September, riefen die Angreifer sogar die Parole »Wir sind das Volk !« in die Richtung der Polizisten. Damit sollte ihr 258 259 260 261 262 263 264

Zit. aus KAst Hoyerswerda vom 17.9.1991 : Zeugenaussage Volker Z., Bl. 10 f. Beschuldigtenvernehmung Ronny H., Bl. 24. 2. Beschuldigtenvernehmung Heiko W., Bl. 12 f. Zuvor von ihm »Bullen« tituliert. Beschuldigtenvernehmung Torsten J., Bl. 3. Beschuldigtenvernehmung Frank D., Bl. 3. Lagezentrum Dresden vom 20.9.1991, S. 2.

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»Kampf gegen die Staatsgewalt« legitimiert werden. Die Verwendung dieser Parole gegenüber den Polizisten bedeutete, »dass damit der neue Rechtsstaat mit dem diktatorischen System der DDR gleichgesetzt wurde«.265 Darüber hinaus verdeutlicht der Verweis auf den »Volkswillen«, dass die gewaltbereiten, fremdenfeindlichen Bürger sich als Organ des gesamten Volkes sahen. Mit der Parole legitimierten sie die Gewalt gegen die Ausländer. Sie missbrauchten die zentrale Losung der Bürgerbewegung der DDR, um ihrem fremdenfeindlichen Anliegen das Signum des Gemeinwohls und des Bürgerwillens zu verleihen. Weil sich die Polizisten jedoch mit dem Schutz der Ausländerwohnheime gegen den vermeintlichen Volkswillen stellten, wurden sie ebenfalls zu Angriffszielen. Neben dieser Gewaltlegitimation führte auch die Unsicherheit der Polizisten zur Gewalteskalation. Bei Pollack heißt es : »Nach Auskunft eines Polizisten testeten die Jugendlichen aus, wie weit sie ihr gegenüber gehen können, während die Polizisten nach wie vor verunsichert waren, da sie sich über die ihnen zustehenden Rechte nicht im klaren waren und weitgehend ohne Führung handeln mussten.«266 Für die beteiligten Einsatzkräfte war diese Situation, von mehreren hundert Bürgern verbal und tätlich angegriffen zu werden, neu. Sie wussten nicht, wie sie reagieren sollten. Ihr ohnmächtiges Ausharren stachelte die Menge noch mehr zu Gewalt an. Die tägliche Ohnmachtserfahrung der Ordnungshüter steigerte deren Frust. Als am Samstag, dem 22. September, die Thomas - Müntzer - Straße von der Polizei geräumt wurde, gingen die Einsatzkräfte offenbar zu hart vor, was der Leiter der Einsatzgruppe später mit den besonderen psychischen Belastungen seit dem 17. September erklärte.267 Diese Argumentationslinie zur Rechtfertigung des eigenen Vorgehens verdeutlichte, wie sehr die Polizisten mit den Ausschreitungen überfordert waren. Nachdem sie tagelang hilflos der wütenden Menge gegenüberstanden, nachdem sie von den Bürgern beschimpft und beleidigt wurden und nachdem sich die Gewalt seit dem 19. September verstärkt gegen die Einsatzkräfte selbst gerichtet hatte, reagierten sie ihren hilflosen Frust an den Tätern ab. Nicht nur die Polizisten, auch die kommunalen Verantwortlichen standen den Ausschreitungen hilflos gegenüber. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Lokalpolitiker erst seit den Kommunalwahlen im Juni 1990 politische Erfahrungen sammeln konnten. Landrat Wolfgang Schmitz war zwar seit 1966 Mitglied der CDU, doch erst seit der Friedlichen Revolution politisch aktiv. Klaus Naumann (SPD ), stellvertretender Bürgermeister und Dezernent für Recht, Ordnung und Sicherheit, ging ebenfalls erst 1990 in die Kommunalpolitik.268 Bürgermeister

265 266 267 268

Pollack, Ausschreitungen, S. 28. Ebd., S. 24. Vgl. Saft / Ostermeyer, Ein Tag in Hoyerswerda. Zeitzeugengespräch mit Klaus Naumann am 11.7.2011.

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Armin Ahrendt ( CDU ) war sogar erst seit Anfang September 1991 im Amt. Zuvor war er leitender Verwaltungsbeamter in Bad Münstereifel gewesen, kannte die Stadt Hoyerswerda also nicht.269 Obwohl weitsichtige Stadtverantwortliche bereits 1990 vor dem »Pulverfass« Hoyerswerda warnten, waren die Politiker mit der Situation völlig überfordert. Keiner von ihnen hatte ausreichend politische Erfahrung gesammelt, um zu wissen, wie man mit einer solchen Gewalteskalation umgehen sollte. Zudem befanden sich Schmitz und Naumann bei Beginn der Ausschreitungen nicht in der Stadt. Schmitz kam in den Abendstunden des 18. September von einer Dienstreise, als er einen Anruf von der Polizei bekam. Er wurde gebeten, in die Albert - Schweitzer - Straße zu kommen, da es dort Ausschreitungen von 30 bis 40 Personen gäbe.270 Klaus Naumann erlebte die Angriffe sogar erst ab dem Wochenende (21./22. September ). Als diese beiden Kommunalvertreter von den Ausschreitungen erfuhren, versuchten sie umgehend, deeskalierend auf die Menge zu wirken. So versuchte Landrat Schmitz am 18. September, nachdem der Platz vor dem Wohnheim geräumt worden war, mit einigen Jugendlichen zu diskutieren.271 Am Sonnabend, dem 21. September, bemühte sich der stellvertretende Bürgermeister Klaus Naumann (SPD), die Menge in der Thomas-MüntzerStraße zu beruhigen.272 Zusätzlich bemühten sich auch Kirchenvertreter, die Situation zu beschwichtigen. Am 18. September sprach der katholische Pfarrer Hoffmann mit der aufgebrachten Menge in der Albert - Schweitzer - Straße.273 Der evangelische Superintendent des Kirchenkreises Hoyerswerda, Friedhart Vogel, war nach eigenen Angaben oft mit Bürgermeister Ahrendt am Ort des Geschehens. Da Ahrendt jedoch recht neu in der Stadt gewesen sei, wurde er von den Menschen nicht erkannt. Daher sei, so Vogel, das Gerücht zu erklären, Ahrendt sei nicht vor Ort gewesen.274 Doch die Deeskalationsbemühungen waren wirkungslos. Die aufgebrachte Menge war an einer friedlichen Deeskalation nicht interessiert. Am Samstagabend sprach der stellvertretende Bürgermeister Klaus Naumann zu ihr und forderte »zum Auseinandergehen und zum Fair - Play zu den ausländischen Mitbürgern« auf. Seinen Worten folgte »ein regelrechter Flaschen - Hagel«.275 Ähnlich wie die Polizisten litten die politischen Verantwortlichen unter einem Autoritätsverlust. Da sie die fremdenfeindliche Gewalt eindämmen wollten, stellten sie sich in den Augen der Täter auf die Seite der Ausländer. Aus diesem Grund wurde 269 270 271 272 273 274 275

Vgl. Der Neue kommt. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 30. 8. 1991. Vgl. Zeitzeugengespräch mit Wolfgang Schmitz am 30.6.2011. Vgl. Pollack, Ausschreitungen, S. 24. Vgl. ebd., S. 27. Zeitzeugengespräch mit Wolfgang Schmitz am 30.6.2011. Zeitzeugengespräch mit Friedhart Vogel am 31.5.2011. Saft / Ostermeyer, Ein Tag in Hoyerswerda.

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Naumann mit Flaschen beworfen. Auch am Sonntag, dem 22. September, versuchten Lokalpolitiker deeskalierend auf die Menge einzuwirken, konnten sie aber nicht beruhigen. »Die Menschen waren aufgewühlt, ließen ihrer Aggression freien Lauf und wollten auf rationale Argumente nicht hören. Sie wollten die Ausländer raus haben, da diese ihnen die Arbeitsplätze und Wohnungen wegnehmen würden«.276 In dieser angespannten Situation wussten weder die Politiker noch die Polizisten Rat. Am 19. September trafen sich daher Vertreter des Kreises, der Stadt und der Polizei um 12 Uhr zu einer Krisensitzung im Landratsamt. Alle Beteiligten waren sich einig, dass eine endgültige Befriedung in der Stadt nur dadurch zu erreichen sei, dass die Ausländer ausreisen würden. Denn die Polizei könnte lediglich die akuten Gefahren eindämmen, aber nicht für eine endgültige Lösung sorgen.277 Diese Forderung erhoben die Teilnehmer wohlgemerkt, bevor sich die Ausschreitungen zum Asylbewerberheim verlagerten. Doch bereits in dieser Situation sahen die Teilnehmer der Krisensitzung, dass die Anwohner des Ausländerwohnheims in der Albert - Schweitzer - Straße die Gewalttäter so lange unterstützen würden, bis sie ihr Ziel, die Ausländer aus der Stadt zu bekommen, erreicht hätten. Die Anwendung von Gewalt, auch gegen Polizisten, war den Anwohnern dabei ein legitimes Mittel; so nahmen es die Verantwortlichen wahr. Daher erwarteten sie für die folgenden Tage weitere Ausschreitungen, wobei der Samstag (21. September ) als wahrscheinlicher Höhepunkt der Gewalteskalation gefürchtet wurde.278 Vor diesem Hintergrund waren die Entscheidungsträger schon am 19. September bereit, Ausländer aus Hoyerswerda zu bringen, um Ordnung und Sicherheit in der Stadt wiederherzustellen. Aus dem Bericht zur Krisensitzung geht jedoch nicht hervor, ob damit ebenfalls die Asylbewerber gemeint waren. Fest steht, dass am Samstag, dem 21. September, 60 ehemalige Vertragsarbeiter aus dem Wohnheim in der Schweitzer - Straße auszogen, um ihre Heimreise anzutreten. Laut Pollack war diese Aktion »seit Wochen geplant«.279 Vor dem Hintergrund des Krisentreffens muss diese Feststellung jedoch in Frage gestellt werden. Anhand der Quellen kann nicht belegt werden, ob es sich bei dem Auszug der Ausländer um eine seit langem vorgesehene Heimreise oder um eine Evakuierung angesichts der Ausschreitungen gehandelt hat. Die Zusammenarbeit zwischen den Führungskräften der Polizei und den Lokalpolitikern war indessen nicht konfliktfrei. Der ehemalige Landrat Schmitz erinnert sich zwar, dass die Zusammenarbeit mit der Polizei gut funktioniert habe.280 Laut Vogel habe Schmitz jedoch einen Konflikt mit dem verantwortli276 277 278 279 280

Pollack, Ausschreitungen, S. 27 f. Vgl. We - Meldung vom 19.9.1991. Vgl. ebd. Pollack, Ausschreitungen, S. 26. Zeitzeugengespräch mit Wolfgang Schmitz am 30.6.2011.

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chen Polizisten gehabt, sodass er, Vogel, zum Ansprechpartner der Polizei geworden sei.281 Die Polizei beklagte öffentlich, dass die Zusammenarbeit mit den kommunalen Stellen unbefriedigend gewesen sei. Am Sonntag, dem 22. September, kritisierte der Polizeisprecher Kießling während einer Pressekonferenz, dass der Bürgermeister, sein Stellvertreter und der Landrat erst an diesem Tag das Gespräch mit der Polizei gesucht hätten. Auf diese Vorwürfe reagierten die Angegriffenen am 24. September mit einer Pressemitteilung. Darin stellten sie klar, dass der Landrat seit Mittwoch, dem 18. September, mit den zuständigen Polizeistellen und dem Innenministerium in Kontakt gestanden habe. Auch Bürgermeister Ahrendt sei am 20. und 21. September vor Ort gewesen.282 Dieser öffentlich geführte Streit offenbarte, wie überfordert die Polizisten und Politiker in dieser Situation waren. Offenbar gab es zwischen den politischen Entscheidungsträgern vor Ort und den zuständigen Polizeikräften erhebliche Kommunikationsprobleme. In dieser Situation war es Superintendent Vogel, der, so seine Erinnerung, seit dem 21. September zwischen der Polizei, dem Landrat, der Leitung des Asylbewerberheimes und der fremdenfeindlichen Menge vermittelte. Ihm sei es zunächst darum gegangen, die Situation vor dem Wohnheim zu entschärfen. Doch da dies nicht möglich gewesen sei, bemühte er sich um den Schutz der Betroffenen. Er fürchtete dabei besonders den Samstag, da an diesem arbeitsfreien Tag besonders schwere Ausschreitungen erwartet wurden. Aus diesem Grund bemühte er sich, Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen. Hierfür wurden zwei Kirchenheime der Evangelischen Kirche bereitgestellt. Vogel war es ebenfalls, der in seiner Funktion als Superintendent des evangelischen Kirchenkreises Hoyerswerda geeignete Ausweichunterkünfte für die am 23. September evakuierten Asylbewerber vermittelte.283 Letztlich muss festgestellt werden, dass die Unsicherheit der Polizisten und die Unerfahrenheit der Lokalpolitiker wesentlich dazu beitrugen, dass sich die Gewalt täglich wiederholte. Ein energisches Eingreifen einer ausreichenden Anzahl von Polizisten am 17. September hätte womöglich die Ausschreitungen in der Entstehungsphase verhindern können. Doch da die Behörden keine Autorität ausstrahlten, ließen sie eine Lücke entstehen, in der die Täter ihre Gewalt ausüben konnten. Es waren vor allem Kirchenvertreter, allen voran Superintendent Vogel, die zu einer Lösung der Situation beitrugen. Die Kirche, nicht der Landkreis oder die Stadt, fand geeignete Unterkünfte für die betroffenen Ausländer.

281 Zeitzeugengespräch mit Friedhart Vogel am 31.5.2011. 282 Vgl. Landespolizeidirektion Dresden vom 24. September 1991, Pressemitteilung ( SächsHStA 12989 SMI, Nr. 309, unpag. ). 283 Vgl. Zeitzeugengespräch mit Friedhart Vogel am 31.5.2011.

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2.2.4 Die Ausländer

Die Ausschreitungen richteten sich gegen die beiden in Hoyerswerda ansässigen Ausländergruppen : Vom 17. bis 20. September wurde das Wohnheim der ehemaligen Vertragsarbeiter, vom 20. bis 22. September das Asylbewerberheim angegriffen. In den Quellen erscheinen die Betroffenen jedoch lediglich am Rande. Die Verhöre der Polizei sowie die Gerichtsverhandlungen konzentrierten sich auf die »Störer« der Ordnung, die Gewalttäter. Doch anhand einiger weniger Angaben kann die Rolle der Ausländer während der Ausschreitungen nachgezeichnet werden. Am 17. September richtete sich die Gewalt zunächst gegen vietnamesische Zigarettenhändler. Vor dem Wohnheim begannen die Skinheads die in das Haus geflüchteten Vietnamesen verbal zu provozieren. Die sich vor dem Haus aufhaltenden vier afrikanischen Bürger wurden von den Jugendlichen ignoriert. Erst die ankommenden Polizisten forderten die Afrikaner auf, sich ins Haus in Sicherheit zu begeben.284 In der Folge sahen die Bewohner aus den Fenstern heraus. Dadurch fühlten sich die Skinheads provoziert und sie fingen an, auch die aus den Fenstern schauenden Mosambikaner zu beleidigen und letztlich alle ausländischen Bewohner mit Steinen zu bewerfen. Dabei kamen die Täter sehr dicht an das Wohnheim heran. Die Ausländer warfen ihrerseits Schrankteile auf die Menge, offenbar um sich zu verteidigen. Durch herabfallende Gegenstände wurden jedoch eine Frau, die die Jugendlichen beschwichtigen wollte, und ein Polizist verletzt. Auch am folgenden Tag schlossen sich die Bewohner nicht von Beginn an ein. Am Nachmittag des 18. Septembers hielten sich Ausländer vor dem Wohnheim auf. Erst nachdem Auseinandersetzungen mit Skinheads und neugierigen Bürgern begannen, forderten Polizisten die Ausländer auf, sich in ihre Unterkunft zu begeben.285 Als die Jugendlichen das Wohnheim wiederum mit Steinen bewarfen, indem sie Steine und Flaschen vom Hausdach auf die belagernde Menge warfen, es entwickelte sich eine regelrechte Schlacht zwischen den Akteuren vor dem Haus und den Ausländern auf dem Dach. Dazwischen standen die Polizisten. Diesen gelang es jedoch, die Ausländer nach kurzer Zeit vom Dach zu bringen, um dadurch die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen. Die Mosambikaner empfanden die Ausschreitungen an diesem Tag als die schlimmsten.286 Weitere Informationen über die ehemaligen Vertragsarbeiter gibt es nicht. Doch es wird deutlich, dass sich die Gewalt an den beiden hier betrachteten Tagen, dem 17. und 18. September, spiralförmig steigerte. An beiden Tagen befanden sich zunächst Ausländer zusammen mit den Skinheads vor dem Haus. Die ehemaligen Vertragsarbeiter schienen in dieser Situation keine besondere 284 Vgl. Zeugenaussage Detlef H., Bl. 14. 285 Vgl. Lagenzentrum Dresden vom 20.9.1991, S. 1. 286 Vgl. Gesprächsprotokoll Waltraud Spill am 18. 10. 1991 ( Privatarchiv Waltraud Spill ).

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Angst vor den Jugendlichen verspürt zu haben. Sie flüchteten nicht vor letzteren ins Heim. Erst die Polizisten forderten die Ausländer auf, sich in ihrem Wohnheim in Sicherheit zu bringen. Dadurch waren die ausländischen Bürger für die fremdenfeindlichen Jugendlichen nicht mehr direkt zu erreichen. Also begannen diese, das Wohnheim anzugreifen. Die Steinwürfe auf das Haus verängstigten deren Bewohner immer mehr, sodass einige wenige Ausländer sich zu wehren versuchten, indem sie Schrankteile vom Dach warfen. Sie reagierte damit lediglich auf die Angriffe der Jugendlichen. Doch zugleich wurden die Polizisten, die den Hauseingang vor der Erstürmung durch die Skinheads sicherten, von den herabfallenden Gegenständen getroffen. Den Polizisten gelang es jedoch ziemlich schnell, diese Aktion zu unterbinden. Eine weitergehende Analyse, inwieweit die ehemaligen Vertragsarbeiter während der Ausschreitungen aktiv wurden, kann aufgrund der Quellenlage nicht erfolgen. Am Samstag, dem 21. September, traten 60 Bewohner des Wohnheims in der Albert - Schweitzer - Straße ihre geplante Heimreise an. Allerdings wohnten weiterhin noch 39 Mosambikaner und 31 Vietnamesen im Wohnheim in der Schweitzer - Straße. Deren Arbeitsverträge liefen am 30. September aus.287 Die Gewalt hatte sich unterdessen in die Thomas - Müntzer - Straße verlagert. Die Asylbewerber, die seit den späten Nachtstunden des 20. Septembers attackiert wurden, reagierten ähnlich wie die Vertragsarbeiter in den Tagen zuvor. Auch sie waren durch die Gewalttaten verständlicherweise eingeschüchtert und verängstigt. Noch in der Nacht des ersten Angriffs auf das Asylbewerberheim traten circa 70 Bewohner vor das Heim und verlangten ihre sofortige Verlegung nach Berlin.288 Am folgenden Tag, dem 21. September, verbarrikadierten sich die Asylbewerber in ihrem Wohnheim und errichteten Straßensperren, um den Tätern den Zugang zum Haus zu erschweren. Als wenige Stunden später Gewalttäter das Asylbewerberheim mit Steinen und Brandflaschen angriffen, warfen einige Asylbewerber Gegenstände auf die angreifende Menge, um sich zu verteidigen. Die Polizei konnte die Menschen jedoch nach wenigen Minuten friedlich vom Dach holen.289 Wegen der schweren Angriffe auf das Wohnheim waren die Asylbewerber verängstigt. Sie vertrauten keinem Deutschen mehr. Superintendent Vogel, der die Frauen und Kinder am 21. September aus dem Haus in Sicherheit bringen wollte, musste die Betroffenen lange zu dieser Sicherheitsmaßnahme überreden.290 Letztlich sahen die Ausländer keinen anderen Ausweg mehr, als aus Hoyerswerda

287 288 289 290

Ulrike Elsner, Hoyerswerda atmet auf. In : Rundschau für Nordsachsen vom 26.9.1991. Vgl. We - Meldung vom 20.9.1991. Vgl. Pollack, Ausschreitungen, S. 26; We - Meldung vom 22.9.1991; Presseinformation. Zeitzeugengespräch mit Friedhart Vogel am 31.5.2011.

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gebracht zu werden. Während der Ausschreitungen am Wochenende des 21. und 22. September forderten sie wiederholt ihre Evakuierung. Vor dem Wohnheim brachten sie ein Plakat an mit der Aufschrift : »Warum hassen Sie uns ? SOS ! Wir Leben seid viele tagen [ sic !] in Angst. Wir wollen Rückkehr West Deutschland. Nur West Deutschland.«291 Zwar wurden sie am 23. September tatsächlich aus Hoyerswerda evakuiert. Statt wie erhofft nach Westdeutschland wurden sie jedoch an andere Orte in Sachsen gebracht. Sicher fühlten sie sich dort nicht. Daher versuchten einige Asylbewerber, ihrer Forderung nach Verbringung in die alten Bundesländer Nachdruck zu verleihen, indem sie zu Fuß weiterziehen wollten oder den Ausstieg aus den Bussen verweigerten. Es ist für Außenstehende nur schwer nachzuempfinden, wie groß die Angst der angegriffenen Ausländer gewesen sein muss. Doch ihr Handeln ist ein Indiz, wie sehr sie um ihr Leben fürchteten. Sie fühlten sich in Hoyerswerda nicht mehr sicher und von den Behörden nicht ausreichend geschützt. Deswegen versuchten sie sich gegen die Angreifer zu wehren, indem sie von den Dächern der Wohnheime Gegenstände warfen. Letztlich drängten gerade die Asylbewerber auf eine Evakuierung in die westlichen Bundesländer. Ostdeutschland schien ihnen aufgrund der Erfahrungen in Hoyerswerda als Hort der Fremdenfeindlichkeit. 2.2.5 Die Gegendemonstranten

Am 22. sowie am 29. September demonstrierten Vertreter verschiedenster linker Gruppierungen in Hoyerswerda gegen fremdenfeindliche Gewalt. An beiden Tagen eskalierten jedoch die als friedlich geplanten Gegendemonstrationen, da sich unter den Demonstranten gewaltbereite, militante Aktivisten befanden. So mischten sich am 22. September unter die 300 friedlichen Vertreterinnen und Vertreter der Aktion Sühnezeichen, der Liga für Menschenrechte und anderer Gruppen 100 mit Stahlruten bewaffnete Personen. Diese gingen sofort gewaltsam gegen Personen aus dem rechtsextremen Spektrum vor. Aufgrund der nun eskalierenden Gewalt wurde die geplante friedliche Gegendemonstration der Liga für Menschenrechte verhindert. Den linken Gewalttätern ging es nicht um eine friedliche Darlegung ihrer Ansichten, sondern um einen Kampf mit Rechtsextremen und der Polizei. Das zeigt sich ebenfalls an den »Patrouillen«. Mehrere Zeugen berichteten, wie vermummte Personen am 22. September durch die Stadt fuhren und als »rechts« eingeschätzte Personen verprügelten. Der Missbrauch der friedlichen Gegendemonstration durch einige linksextreme Personen, der sich am 22. September bereits andeutete, wurde eine Woche später noch deutlicher. Bereits im Vorfeld der Demonstration vom

291 Zit. in Ausbruch des Ausländerhasses.

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29. September unter dem Motto »Rassismus und Ausländerfeindlichkeit« wurde in der Berliner autonomen Szene besprochen, während der Demonstration die Polizeiketten zu durchbrechen, um tatsächliche oder vermeintliche Rechtsextreme zu »bestrafen«. Daher reisten mindestens 50 bis 70 Demonstranten vermummt und bewaffnet an. Ihnen war lediglich an einer Gewalteskalation gelegen. Der tatsächliche Ablauf dieser Gegendemonstration spaltete jedoch teilnehmende linksextreme Personen. In Berlin trafen sich am 30. September circa 200 Personen der autonomen Szene zu einem Nachbereitungstreffen, »darunter zahlreiche Autonome und Angehörige des Berliner RAF - Umfeldes«.292 Dabei gab es Streitigkeiten zwischen RIM - Anhängern293 und dem »Großteil der Autonomen«. Der RIM und der Gruppe »Antifasist Genclik«294 wurde vorgeworfen, »›die eigenen Leute‹ angegriffen und verletzt und damit die Demonstration insgesamt gefährdet zu haben«. Die RIM - Anhänger wehrten sich gegen diese Vorwürfe und bezeichneten sich als »Opfer einer Denunziationskampagne«. Sie »hätten in Hoyerswerda nichts weiter als einen militant - antifaschistischen Kampf führen wollen, denn nur so könne antifaschistische Arbeit geleistet werden und nicht wie von einem Großteil der Autonomen mit legalen Mitteln. Im Übrigen hätten die Lautsprecherdurchsagen dazu geführt, dass es zu Angriffen gekommen sei.«295 Brigitte A. aus dem Berliner RAF - Umfeld versuchte im Streit zu vermitteln. Sie bekannte, »dass die lautsprecherdurchsage, keine Steine auszubuddeln, ein Fehler gewesen sei, richtig sei es hingegen gewesen, die Polizeikette nicht zu durchbrechen«. Als Erfolg wertete sie, dass es gelungen sei, die Demonstration überhaupt durchzusetzen. Während des Treffens wurde weiterhin das Unterstützungsgesuch eines Hoyerswerdaer Jugendclubs bekannt, der für eine am 3. Oktober geplante Veranstaltung einen »Überfall von ›Faschos‹ befürchtet[ e ]«. Für diesen Tag war eine Demonstration unter dem Motto »Keine weiteren Pogrome« geplant. Man erwartete zwar einen ruhigen Verlauf, »es sei aber damit zu rechnen, dass davor oder danach ›etwas passieren‹« könnte. Besonders radikal traten dabei die Gruppe »Antifasist Genclik«, RIM - Anhänger und »sog. Jugend292 Tagesmeldung Nr. 155 für den 1. 10. 1991, Beteiligung Autonomer an der bundesweiten Demonstration in Hoyerswerda am 29. September 1991 und Aktionen anläßlich des 3. Oktober 1991 ( SächsHStA 12989 SMI, Nr. 102). Im Folgenden zit. als Tagesmeldung Nr. 155. 293 Die RIM wird in demselben Bericht wie folgt charakterisiert : »Bei der ›Revolutionären Internationalistischen Bewegung ( RIM )‹ handelt es sich um einen 1984 entstandenen Dachverband mit Sitz in London, in dem sich etwa 20 maoistische Parteien und Zusammenschlüsse, darunter die unter Berufung auf das Maoistische Konzept des revolutionären Volkskrieges mit terroristischen Methoden arbeitende peruanische Organisation ›Sendero Luminoso‹, zusammengefunden haben. In der Bundesrepublik Deutschland treten deren Anhänger unter der Bezeichnung ›Revolutionäre Kommunisten ( BRD )‹ auf, die u. a. auch von Anhängern der TKP / M - L unterstützt werden.« 294 Über diese Gruppe heißt es ebd. : »Die türckische Gruppe ›Antifasist Genclik‹ wird dem autonomen Spektrum der sog. Antifabewegung zugerechnet.« 295 Tagesmeldung Nr. 155.

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gangs« hervor, welche den anderen »unbedingt zeigen wollten, was machbar« war. »RIM - Anhänger äußerten in diesem Zusammenhang, dass es zu schweren Auseinandersetzungen kommen könnte, denn nicht nur ›Skins und Neu - Nazis sind Faschisten, sondern auch die Polizei‹«.296 Ob die Demonstration »Keine weiteren Pogrome« in Hoyerswerda stattfinden sollte und damit die Veranstaltung des Jugendklubs gemeint war, geht nicht eindeutig aus den Aussagen hervor. Möglich ist, dass diese Demonstration an einem anderen Ort stattfand oder ausfiel. Die Polizei erhielt auch Informationen über eine Demonstration der rechten Szene an diesem Tag in Hoyerswerda. Eine Anmeldung hierfür lag aber nicht vor.297 Für Hoyerswerda sind für den 3. Oktober 1991 weder in den Zeitungen noch in den Polizeiberichten größere Aktionen belegt. Die Ausführungen der RIM und der Gruppe »Antifasist Genclik« zeigen, dass diesen Personen nur vordergründig an Demonstrationen gegen Fremdenfeindlichkeit gelegen war. Vielmehr missbrauchten sie, wie auch die weiteren Gewalttäter vom 22. und 29. September, diese Gegendemonstrationen, um ihre Vorstellungen eines »militant - antifaschistischen Kampfes« durchzusetzen. 2.3 Exkurs : Protest oder Pogrom ?

Im Jahr 2011, 20 Jahre nach den Ausschreitungen, gründete sich in Hoyerswerda eine »Initiative Pogrom91«. Ihr erklärtes Ziel ist es, für die Ausschreitungen die Bezeichnung als »ein rassistisches Pogrom, wie es bis dahin nach dem zweiten Weltkrieg auf deutschem Boden kein Zweites gegeben hat«298 im kommunalen öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Eine Definition des Pogrombegriffs wird jedoch nicht gegeben. Die Initiatoren verweisen auf ihrer homepage lediglich darauf, dass sich an den Ausschreitungen sowohl extreme Rechte als auch »ein rechter BürgerInnenmob, bestehend aus Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft«299 beteiligt habe. Um die Aufarbeitung und das Gedenken an die Ausschreitungen 1991 voranzutreiben, forderte die Initiative anlässlich des 20. Jahrestages ein Denkmal zur Erinnerung an das angebliche Pogrom. Spätestens seit diesem Aufruf wurde in der Stadt die Frage diskutiert, ob es sich bei den Ausschreitungen tatsächlich um ein Pogrom handelte. Da die »Initiative Pogrom91« von linken Organisationen von den Jusos über diverse Vertreter der »Linken« bis hin zu zahlreichen Antifa - Gruppierungen unterstützt wird, wurde diese Diskussion mit einem politischen, nicht wissenschaftlichen Vorzeichen aus296 Ebd. 297 Vgl. Informationsaustausch / Erkenntnisanfrage im Zusammenhang mit Aufruf zur bundesweiten Demonstration durch die rechte Szene am 3.10.91 in Hoyerswerda ( SächsHStA 12989 SMI, Nr. 102). 298 http ://www.pogrom91.tumblr.com / about; 25.3.2013. 299 Ebd.

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getragen. Daher wird an dieser Stelle kurz auf den Pogrombegriff und seine Anwendbarkeit auf Hoyerswerda eingegangen. Der russische Begriff »Pogrom« ( Verwüstung ) wurde ab den 1880er Jahren für antijüdische Ausschreitungen im Zarenreich verwendet. In der Forschung wurden Pogrome lange Zeit mit antijüdischer Gewalt in Verbindung gebracht. Doch seit einigen Jahrzehnten wird diese Definition auf ethnische Opfergruppen im Allgemeinen ausgedehnt.300 So definiert Werner Bergmann Pogrome als »einseitige, nicht staatliche ( nongouvernementale ) Form kollektiver sozialer Kontrolle, als ›self - help by a group‹, die dann einsetzt, wenn die ethnische Mehrheit von Seiten des Staates keine Abhilfe gegen die Bedrohung durch eine andere ethnische Gruppe erwartet«301 Die Bedingungen für die fremdenfeindliche Gewalt in Hoyerswerda können den von Bergmann herausgearbeiteten Entstehungsbedingungen von Pogromen zugeordnet werden. Pogrome resultierten demnach aus einer veränderten Machtbalance zuungunsten der ethnischen Mehrheit ( Ingroup ). Diese Verschiebung wird von der Mehrheit als kollektive Bedrohung ihres Status wahrgenommen. Bergmann hält fest, dass Pogrome fast immer mit sozialen Krisenzeiten zusammenfallen.302 Die Minderheit ( Outgroup ) ist im Vorfeld von Pogromen häufig traditionell von der Ingroup abgegrenzt. In Krisenzeiten vertieft sich die Kluft, angeheizt durch Gerüchte über die Outgroup. Hoyerswerda durchlebte nach 1990 eine solche tiefgreifende Krise. Die deutschen Einwohner fürchteten um ihre Arbeitsplätze und sahen gleichzeitig missgünstig auf die vermeintlichen sozialen Vergünstigungen, die ehemaligen Vertragsarbeitern und Asylbewerbern zugewiesen worden seien. Diese Vorurteile wurden durch Gerüchte verbreitet und dadurch zum kollektiven Wissen umgeformt. Die Ausländer gerieten deswegen in den Fokus der Hoyerswerdaer, weil sie seit Jahrzehnten ausgegrenzt waren. In dieser Spannungssituation ist, laut Bergmann, das Handeln des Staates zum Zeitpunkt der Gewalt wichtig. Die Mehrheit fühlt sich in der Bedrohungssituation durch die Minderheit vom Staat nicht unterstützt. Da sich die Gewalttäter jedoch als Vertreter der Mehrheit verstehen, handeln sie ihrem Verständnis nach stellvertretend für den inaktiven Staat. Schreitet der Staat bei einem Pogrom zugunsten Minderheit ein, weichen die Gewalttäter typischerweise zurück ( als Ausnahme verweist Bergmann auf das Pogrom in Konitz 1900). Bei anderen Arten kollektiver Gewalt, wie bspw. Protestbewegungen, stellt Bergmann eine Gewalteskalation bei Eingreifen des Staates fest.303

300 301 302 303

Vgl. Bergmann, Pogrome, S. 441 f. Ders., Form kollektiver Gewalt, S. 647. Vgl. ebd., S. 649. Vgl. ebd., S. 651.

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In Hoyerswerda haben sich die Gewalttäter zunächst ebenfalls als vermeintliche Vertreter einer Mehrheit verstanden. Doch mit dem Einschreiten des Staates wichen die Täter nicht etwa zurück, sondern die Gewalt nahm zu und wurde nun auch gegen die Polizei gerichtet. Handelt es sich hier nun um eine Ausnahme wie in Konitz ? Oder war Hoyerswerda ein Protest und kein Pogrom ? Die Bedingungen für die Gewalt in Hoyerswerda können in der Summe eindeutig in das Bergmann’sche Pogromschema eingeordnet werden. Die Ausschreitungen 1991 können daher durchaus als Pogrome bezeichnet werden. Worin besteht jedoch der Unterschied zu Protesten ? Auffällig ist, dass Bergmann an keiner Stelle Pogrome von Protesten, sondern lediglich von Protestbewegungen bzw. sozialen Bewegungen unterscheidet. Vielmehr werden Pogrome als eine spezifische Art von Protesten verstanden, mit der sich die historische Protestforschung zu beschäftigen hat.304 Bergmann grenzt Pogrome von anderen Formen kollektiver Gewalt durch den exklusiven Charakter des Pogroms ab. Pogrome würden demnach eine bestimmte Gruppe aus der Gesellschaft ausschließen, während bspw. soziale Bewegungen die Inklusion einer benachteiligten Minderheit anstrebten.305 Er unterscheidet Formen kollektiver Gewalt in erster Linie nach dem Ziel der Gewalt : Sollen bestehende Verhältnisse gewahrt und Minderheiten ausgeschlossen werden ( Pogrom ) ? Oder wollen die Akteure die Gesellschaft verändern und Minderheiten integrieren (soziale Bewegung ) ? Auch wenn die Ausschreitungen in Hoyerswerda nach der Bergmann’schen Definition als Pogrom bezeichnet werden können, wird für diese Arbeit weiterhin der Begriff des sozialen Protests bevorzugt, um auf die soziale Dimension als wesentliche Ursache der Ausschreitungen hinzuweisen. Der Pogrombegriff betont hingegen die ethnischen Differenzen als ursächlich für den Konflikt. Zwar gab es eine manifeste Fremdenfeindlichkeit in Hoyerswerda. Das eigentliche Motiv für die Gewalt lag jedoch in der zunehmenden Unsicherheit der Einwohner aufgrund des radikalen Wandels des Soziallebens nach 1990. Die Fremdenfeindlichkeit war insofern wesentlich, als dadurch Ausländer leicht die Funktion der »Sündenböcke« zugeschrieben bekamen. Die ethnischen Differenzen waren nicht die Ursache der Ausschreitungen, sondern wiesen das Ziel der Gewalt und gaben ihr dadurch eine scheinbare Legitimation.

304 Vgl. ebd., S. 644 und 651; ders., Pogrome, S. 450. 305 Bergmann, Form kollektiver Gewalt, S. 647.

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Die Ausschreitungen im September 1991

3. Zusammenfassung Es waren vor allem zwei entscheidende Faktoren, die die Gewalt im September 1991 in Hoyerswerda eskalieren und zum täglichen Ritual werden ließen : die Schwäche der staatlichen Vertreter zum einen, der gewaltunterstützende Applaus der Bürger zum anderen. Bereits am Beginn der Ausschreitungen sahen vier Polizisten ohnmächtig zu, wie Skinheads Vietnamesen verfolgten und das Ausländerwohnheim in der Albert - Schweitzer - Straße zu belagern begannen. Die Polizisten waren zahlenmäßig zu schwach, um die schnell anwachsende Menge zu befrieden. Ihre schnelle Absperrung des Zugangs zum Heim mag aber Schlimmeres verhindert haben. Für die Eskalation der Gewalt war das ausgebliebene aktive Handeln der Polizei aufgrund eigener Verunsicherung und mangelnder Ausrüstung wesentlich. Auf diese Weise wurde die Gewalt gegen die Ausländer risikofrei. Die Gewalttäter gingen kaum persönliche Risiken ein. Stattdessen hatten sie einen »euphorisch erlebten Machtgewinn«.306 Dafür sorgte die Unterstützung mehrerer Hundert Anwohner. Sie hießen das Tun der Skinheads lautstark gut und unterstützten sie. Da sich die Sympathiebekundungen täglich wiederholten, mussten die Gewalttäter das Gefühl bekommen, im Recht zu handeln. Die Polizisten wurden andererseits sukzessive zu Verhinderern bei der Durchsetzung des »guten Rechtes« und des vermeintlichen Volkswillens. In ihrer Funktion als Ordnungsmacht versuchten sie, die Bewohner in den Wohnheimen wenigstens vor den Stein - und Brandflaschenwürfen zu schützen. Die johlende Menge sah darin jedoch einen Verstoß gegen ihre »Rechtsvorstellung«. Deutlich wurde das in der Benutzung der Parole der Friedlichen Revolution : »Wir sind das Volk !«, mit der die Gewalttäter Zugriff auf die Asylbewerber verlangten. Die Ausrichtung der Gewalt auf die schützenden Polizisten sollte damit legitimiert werden – die Gewalt gegen die Ausländer war bereits als legitim anerkannt. Die Unfähigkeit des Staates, der Gewalt Herr zu werden, wurde am 23. September mit der Verlegung der Asylbewerber vor den Augen der Weltöffentlichkeit deutlich. Es schien, als hätten die Verantwortlichen den Forderungen der Menge nachgegeben. Doch stattdessen hatte sich die Ansicht durchgesetzt, die Sicherheit der Ausländer auf Dauer nicht mehr gewährleisten zu können. Das vorangegangene Wochenende hatte gezeigt, dass »Hoyerswerda« als Ereignis Gewaltbereite aus der ganzen Bundesrepublik angezogen hatte. Am 21. und 22. September ereigneten sich die Gewalthöhepunkte. Die Asylbewerber waren verängstigt und forderten ihre Evakuierung. Aus dieser Perspektive ist der Entschluss zur Verlegung nachzuvollziehen. In der Öffentlichkeit entstand allerdings das Bild der »ausländerfreien« Stadt.

306 Willems, Kollektive Gewalt, S. 219.

VI. Konsequenzen

1. Strafverfolgung Während der siebentägigen Ausschreitungen vom 17. bis 23. September 1991 wurden insgesamt 124 Personen vorläufig festgenommen. Gegen 82 Beschuldigte wurden 85 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Ermittelt wurde unter anderem wegen Landfriedensbruch, Verstoß gegen das Waffengesetz, Widerstand gegen Vollzugsbeamte, Volksverhetzung, Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen sowie Verstoß gegen das Versammlungsgesetz.1 Da nicht alle Verfahren hier geschildert werden können, sollen ausgewählte Beispiele einen Eindruck von der Höhe der Strafen vermitteln. Aufgrund seiner Beteiligung an den Ausschreitungen wurde Daniel B. zu acht Monaten Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurden, sowie zu einer Zahlung von 2 400 DM an die Organisation »terre des hommes« verurteilt.2 Peter A., der am 17. September 1991 als einer der Rädelsführer der Skinheads in Erscheinung trat, wurde im November 1991 von der Staatsanwaltschaft wegen dreier Handlungen angeklagt : wegen »Beleidigung, Bedrohung eines anderen mit Verbrechen gegen diesen«; »Teilnahme an Gewalt gegen Menschen oder Sachen« sowie weil er ohne Genehmigung »Gegenständen die zur Verletzung von Personen geeignet sind« mitgeführt habe.3 Die ersten beiden Vorwürfe betrafen seine Taten am 17. September 1991, als er Polizisten beleidigt und bedroht sowie die vietnamesischen Zigarettenhändler zum Ausländerwohnheim verfolgt hatte. Der dritte Anklagepunkt bezog sich auf den 22. September 1991, als in Hoyerswerda die Demonstration gegen Fremdenfeindlichkeit stattfand. Aus Angst vor »Linken« bewaffnete sich A. mit einem Spatenstiel, um in der Thomas - Müntzer -

1 2 3

Vgl. LKA Sachsen, Dokumentation Rechtsorientierte / fremdenfeindliche Straftaten im Freistaat Sachsen 1991/1992, S. 18 ( SächsHStA 12989 SMI, Nr. 1157). Vgl. Protokoll der Hauptverhandlung vor dem Kreisgericht Hoyerswerda vom 15. Mai 1992 (SächsHstA 13363 StAW Dresden, Nr. 1266, Band 1, Bl. 52). Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Dresden vom 14. 11. 1991 ( SächsHstA 13363 StAW Dresden Nr. 961, Band 1, Bl. 36 f.).

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Konsequenzen

Straße für einen möglichen Streit mit Gegendemonstranten gerüstet zu sein.4 Der Gerichtsmediziner stellte im Laufe der Verhandlung fest, dass er am 17. September 1991 4,84 Promille Alkohol im Blut hatte. Damit sei seine Steuerungs - und Einsichtsfähigkeit nicht gewährleistet gewesen.5 Aufgrund dieses Befundes wurde A. wegen vorsätzlichen Vollrausches und des unerlaubten Führens von Waffen auf dem Weg zu einer öffentlichen Versammlung für schuldig befunden. Er erhielt eine Strafe von einem Jahr und drei Monaten Freiheitsentzug, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zwar habe er im Vollrausch Taten begangen, die als Landfriedensbruch zu bewerten seien, so das Kreisgericht Bautzen. Doch aufgrund des stark alkoholisierten Zustands war er in diesem Punkt schuldunfähig.6 Die ebenfalls an den Ausschreitungen am 17. September 1991 beteiligten Hans Michael P., Heiko W. und Karsten P. wurden zu je 18 Monaten Haft, ausgesetzt zu drei Jahren Bewährung, und zur Leistung von 120 Sozialstunden verurteilt.7 Ein weiteres Urteil wurde gegen Ronny H. gefällt. Er war ebenfalls am 17. September 1991 aktiv beteiligt. Allerdings erschien er an zwei angesetzten Verhandlungsterminen nicht vor dem Jugendschöffengericht beim Kreisgericht Hoyerswerda. Offenbar arbeitete er im Frühjahr 1992 in München.8 Einen dritten angesetzten Termin nahm H. schließlich wahr und wurde wegen schweren Landfriedensbruchs und Volksverhetzung zu einer Jugendstrafe von neun Monaten, ausgesetzt auf Bewährung, verurteilt.9 Schon wenige Monate später soll er sich an einem Überfall auf eine Pizzeria in Bautzen beteiligt haben.10 Viele im Laufe der Ausschreitungen Festgenommene wurden jedoch nicht verurteilt. Beispielsweise wurde das Verfahren gegen Bernd G. wegen Landfriedensbruchs eingestellt, da ihm keine Straftat nachgewiesen werden konnte. G. wohnte in der Albert - Schweitzer - Straße. Am 19. September verließen er und seine Frau gegen 15 Uhr ihre Wohnung und stellten sich vor das Wohnhaus. In der Straße vergrößerte sich derweil eine Menschenmenge vor dem Ausländerwohnheim. Der laut eigener Aussage an diesem Tag stark alkoholisierte G. ließ sich von der Stimmung mitreißen und rief fremdenfeindliche Parolen. In seiner

4 5 6 7 8 9 10

Vgl. Kreisgericht Bautzen vom 29. September 1992, Urteil im Namen des Volkes in der Strafsache gegen Peter A. ( ebd., Bl. 111). Protokoll der Hauptverhandlung vor dem Kreisgericht Bautzen vom 21. September 1992 ( ebd., Bl. 105). Vgl. Kreisgericht Bautzen vom 29. September 1992, Urteil im Namen des Volkes in der Strafsache gegen Peter A. ( ebd., Nr. 961, Band 1, Bl. 110; 112). Vgl. Einen Urteilsspruch über drei Hoyerswerdaer Skinheads gefällt. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 28.2.1992. Vgl. Protokolle der Hauptverhandlungen vor dem Jugendschöffengericht beim Kreisgericht Hoyerswerda vom 2. April 1992 und vom 7. Mai 1992 ( ebd., Nr. 1341, Band 1, Bl. 43; 50). Vgl. Urteil des Schöffengerichts beim Kreisgericht Hoyerswerda vom 17. Juni 1992 ( ebd., Bl. 69 ff.). Vgl. Staatsanwaltschaft Bautzen; Anklageschrift vom 15. März 1993 ( ebd., Band 2).

Politische Reaktionen

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Vernehmung bestritt er jedoch, Gegenstände geworfen zu haben. Da es offenbar keine Beweise für Landfriedensbruch gegen ihn gab, wurde er entlassen.11 Auch Enrico S. konnte der Vorwurf des Verstoßes gegen das Waffentrageverbot bei öffentlichen Veranstaltungen nicht bewiesen werden. Er wurde zwar am 19. September 1991 mit einem Stein in seiner Hand festgenommen. Doch schien seine Erklärung, den Stein zur eigenen Verteidigung im Angriffsfall aufgenommen zu haben, glaubhaft. Eine Straftat konnte ihm jedenfalls nicht nachgewiesen werden, sodass kein Verfahren eingeleitet wurde.12 Letztlich wurden 27 Verfahren eingestellt, acht Strafbefehle erlassen und 50 Anklagen erhoben. Daraus resultierten 20 Verurteilungen Das Strafmaß reichte von 20 Stunden gemeinnützigen Arbeitsleistungen bis zu 24 Monaten Freiheitsentzug auf Bewährung.13 Der Präsident der Polizeidirektion Dresden stellte abschließend fest, dass von den 82 Personen, die in den Tagen der Ausschreitungen festgenommen wurden, 77 Personen aus Hoyerswerda kamen. Die »Lausitzer Rundschau« zog daraus das Fazit : »Die immer wieder verlautbarten Vermutungen, es handle sich um eine von rechtsradikalen Organisationen in Westdeutschland gelenkte Aktion, hält Nachforschungen nicht stand.«14 Dennoch behauptete der Oberbürgermeister von Hoyerswerda, Horst - Dieter Brähmig ( Linkspartei PDS ) im Jahr 2006, »Leute von außerhalb« hätten sich »Hoyerswerda ausgesucht [...] um das hier zu organisieren«.15 Damit unterstützte Brähmig die Deutung, Hoyerswerda und seine Bürger seien für die Ausschreitungen nicht verantwortlich, sondern selbst Opfer von auswärtigen Gewalttätern. Doch indem er sich als Oberbürgermeister derart schützend vor seine Kommune stellte, erschwerte er eine umfassende Aufarbeitung der Ereignisse.

2. Politische Reaktionen 2.1 Die Bundesebene – Asyldebatte und Asylkompromiss

Die Anschläge auf Wohnheime für Ausländer in Hoyerswerda, Saarlouis und anderen Orten waren für Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble »Anlass zur Sorge und Scham«.16 Er verurteilte diese Ausschreitungen, meinte jedoch auch, 11 12 13 14 15 16

Vgl. Kriminalpolizeiinspektion Bautzen, Außenstelle Hoyerswerda vom 19. September 1991 (ebd., Nr. 974, Bl. 1 ff.). Vgl. ebd. vom 2. Oktober 1991 ( ebd., Nr. 971, Bl. 1 ff.). Vgl. LKA Sachsen, Dokumentation Rechtsorientierte / fremdenfeindliche Straftaten im Freistaat Sachsen 1991/1992. Randale hausgemacht. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 9.4.1992. Zit. in Simone Wendler, »Wir waren darauf nicht vorbereitet«. In : Lausitzer Rundschau vom 7.9.2006. Zit. in Besorgt über Überfälle. In : Lausitzer Rundschau vom 26.9.1991.

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Konsequenzen

wolle Deutschland ein »ausländerfreundliches Land«17 bleiben, müssten die »Sorgen in der Bevölkerung über den Missbrauch des Asylrechts ernst genommen werden«.18 Der SPD - Vorsitzende Björn Engholm kritisierte die Haltung der Unionsparteien in der Asyldebatte, die Rechtsextremen nütze.19 Ähnlich sahen dies die Grünen. Sie vertraten den Standpunkt, von einer Asylrechtsänderung würden nur Rechtsextreme profitieren.20 Auch Bundespräsident von Weizsäcker sah einen Zusammenhang zwischen den Ausschreitungen und der Asyldebatte. Er verurteilte die fremdenfeindliche Gewalt als »erschreckend und beschämend«. Gleichzeitig kritisierte er die Parteien der Regierungskoalition wie der Opposition, durch Unterlassungen in der Ausländer - und Asylpolitik Verunsicherung in der Bevölkerung hervorgerufen zu haben.21 Die beiden Bundestagsabgeordneten aus Hoyerswerda, Ulrich Klinkert ( CDU ) und Dietmar Matterne (SPD), sahen die Ursachen für die Ausschreitungen in den sozialen Problemen der Region.22 In einer Rede vor dem Bundestag, die die »Sächsische Zeitung« in Teilen wiedergab, versuchte sich Klinkert in einer Ursachenanalyse. Demnach sei Hoyerswerda weder eine rechtsradikale noch eine gewalttätige Stadt. Die Ausschreitungen waren für ihn eine Folge des »sogenannten real existierenden Sozialismus«. Die Jugendlichen lebten in »tristen Wohnungen« und hätten kaum Freizeiteinrichtungen. »Die Clique wird zum Familienersatz, und weil nichts passiert, wird Streit angezettelt.« Das Zusammenleben von Ausländern und Deutschen auf engstem Raum in »seelenlosen Betonbunkern« habe zu Spannungen geführt. Zu Unrecht seien die Kommunalpolitiker von den Medien kritisiert worden. Sie hätten tatsächlich »rund um die Uhr« nach Lösungen gesucht. Als politische Schlussfolgerung forderte er weniger Asylbewerber für die neuen Bundesländer. Erst müssten die infrastrukturellen Voraussetzungen geschaffen werden. Weiterhin forderte er eine bessere Betreuung der Jugendlichen.23 Es wird deutlich, dass die Bundespolitik die Gewalt gegen Ausländer in Hoyerswerda in die schwelende Asyldebatte einbettete. Daher ist die 1993 vorgenommene Änderung des Artikels 16 des Grundgesetzes als eine langfristige Folge der fremdenfeindlichen Ausschreitungen zu sehen. Zwar wurde bereits seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik eine Diskussion um sogenannte »Schein-

17 18 19 20 21 22 23

Zit. in ebd. Ebd. Vgl. Politiker verurteilen Gewalttaten in Hoyerswerda. In : FAZ vom 24.9.1991. Vgl. Bonn verurteilt die schweren Ausschreitungen gegen Ausländer. In : Frankfurter Rundschau vom 24.9.1991. Deutliche Mahnung Weizsäckers in der Ausländerpolitik. In : FAZ vom 30.9.1991. Vgl. Besorgt über Überfälle. Ulrich Klinkertt, Ulrich, Hoyerswerda ist keine rechtsradikale Stadt. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 8.10.1991.

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asylanten« und deren gesetzliche Gegenwirkung geführt,24 doch vor dem Hintergrund der ansteigenden Asylbewerberzahlen25 sowie der Anschläge auf Asylheime u. a. in Hoyerswerda und Rostock nahm die ablehnende Haltung der SPD und in der FDP bezüglich einer Grundgesetzänderung immer mehr ab.26 Zuvor hatte die SPD versucht, eine Verfassungsänderung zu umgehen, und erreichte 1992 eine gesetzliche Neuregelung des Asylverfahrens. Das Gesetz sah eine Beschleunigung des Asylverfahrens vor. Asylbewerber, »deren Anträge offensichtlich unbegründet sind«, sollten »innerhalb von sechs Wochen Deutschland wieder verlassen«. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden »wesentliche Kompetenzen im Asylverfahren beim Bundeskanzleramt konzentriert«.27 SPD und FDP werteten dies als Alternative zu einer Grundgesetzänderung. Auf dieser beharrte die Union jedoch weiterhin.28 Schließlich einigten sich die beteiligten Parteien in der Nacht vom 6. auf den 7. Dezember 1992 auf den sog. »Asylkompromiss«. Im Kern wurden zwei Änderungen des grundgesetzlich verankerten Asylrechtes vereinbart : Asylsuchende, »die entweder aus EG - Ländern oder aus anderen als verfolgungssicher eingestuften Drittstaaten einreisen«, sollten vom Asylverfahren ausgeschlossen werden. Daneben wurde eine Liste solcher Staaten erstellt, bei denen es keine Verfolgung gebe und deren Bürger daher nicht asylberechtigt seien.29 Einen entsprechenden Gesetzesantrag nahmen Bundestag und Bundesrat im Mai 1993 an, sodass die Grundgesetzänderung mit dem 1. Juli 1993 in Kraft trat.30 2.2 Die Landesebene – Forderung nach weniger Asylbewerbern für Sachsen

Ministerpräsident Kurt Biedenkopf ( CDU ) nahm die Ausschreitungen zum Anlass, die im Einigungsvertrag festgelegte Quotierung der Asylaufnahme in Frage zu stellen. Diese hätte nicht die besonderen wirtschaftlichen und sozialen Probleme der neuen Bundesländer beachtet.31 Ähnlich sah dies der sächsische Innenminister Krause ( CDU ). Da die alten Bundesländer »die Frage des Asylrechts noch nicht gelöst haben«, müssten nun auch die neuen Länder das Pro24 25 26 27 28 29 30 31

Eine Zusammenfassung dieser Diskussion findet sich bei Münch, S. 180 ff. Im Jahr 1991 kamen 256 112, 1992 43 8191 Asylbewerber in die Bundesrepublik Deutschland, vgl. Bade, Ausländer, S. 98. Vgl. Münch, Asylpolitik, S. 116 f. Ebd., S. 125. Vgl. ebd., S. 124. Bade datiert den Gesetzesbeschluss auf den 5. Juni, vgl. Bade, Ausländer, S. 115. Münch, Asylpolitik, S. 148. Genauer zum Asylkompromiss vgl. ebd., S. 148 f.; Bade, Ausländer, S. 122 ff. Vgl. Bade, Ausländer, S. 125. Vgl. Inga Michler / Thomas Schade, Grenze politischer Belastbarkeit in den neuen Bundesländern erreicht. In : Sächsische Zeitung vom 28./29.9.1991.

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blem mit tragen. Dabei hätten die Menschen in Ostdeutschland »in der Vergangenheit nie geübt [...], mit Ausländern umzugehen«. Den Vorwurf, die Polizei sei überfordert und unterpräsentiert gewesen und habe nicht rechtzeitig und energisch genug die Ausschreitungen unterbunden, wies Krause zurück. Als Innenminister verteidigte er seine Polizisten und verwies auf die Schwierigkeit der Dokumentation einzelner Straftaten bei den Ausschreitungen. Eine »totale Sicherheit« könne es nicht geben.32 Krauses Krisenmanagement während der Ausschreitungen führte schließlich zur Beschleunigung seines Rücktrittes Ende September 1991. Zwar lag der Grund für sein Rücktrittsgesuch in neuen Erkenntnissen über seine Stasi - Verstrickung. Doch die wachsende Kritik, der Innenminister habe zu zögerlich auf die sozialen Probleme Hoyerswerdas reagiert, bewegte laut FAZ Ministerpräsident Biedenkopf dazu, Krauses Angebot rascher anzunehmen. Krause wurde zur Last gelegt, die Warnungen des Landrates nicht gehört und damit nicht ausreichend Polizeikräfte in der Stadt stationiert zu haben.33 Nach Krauses Rücktritt besuchte sein Nachfolger Eggert ( CDU ) Hoyerswerda im Oktober 1991. Anlass war eine von der Jungen Union Dresden in Hoyerswerda initiierte Gesprächsrunde über die Ausschreitungen, an der auch Politiker von SPD und PDS teilnahmen. Im Anschluss daran fuhr Eggert zum Wohnheim in der Schweitzer - Straße und sprach mit einigen Mosambikanern und Vietnamesen. Eggert entschuldigte sich bei ihnen für die Gewalt.34 Nachdem der Landrat und der Bürgermeister von Hoyerswerda mit dem »obersten Polizeichef des Regierungspräsidiums Dresden« verhandelt hatten, wurde die Polizei in Hoyerswerda noch im November 1991 moderner ausgerüstet. Neben neuen, zusätzlichen Funkstreifenwagen wurde eine ständige Sonder Einsatzgruppe in der Stadt stationiert, die ebenfalls Streife fuhr. Über das konkrete Aufgabenfeld dieser Sondereinheit war aus der »Lausitzer Rundschau« nichts zu erfahren.35 Die Landesregierung zog drei wesentliche Konsequenzen aus den Ausschreitungen : Erstens übernahm Innenminister Krause die politische Verantwortung und trat zurück; zweitens drängte die sächsische Regierung die Bundesregierung, die Quoten zur Aufnahme von Asylbewerbern gerade für die neuen Bundesländer zu verringern; drittens wurden die Polizeikräfte in Hoyerswerda verstärkt. Eine Ursachenforschung, die auch nach den historischen und sozialen Gründen für die Ausschreitungen gefragt hätte, fand jedoch nicht statt. Vielmehr wurden 32 33 34 35

Peter Blockwitz, Polizei allein hilft nicht. In : Lausitzer Rundschau vom 27.9.1991. Vgl. Johann Michael Möller, Sachsens Innenminister Krause von seiner Vergangenheit eingeholt. In : FAZ vom 1.10.1991. Vgl. Ein Vergessen gibt es nicht. In : Rundschau für Nordsachsen vom 7.10.1991. Vgl. Rudi Fritz, Unterstützung für die Kirchengemeinde in Dahlem. In : Rundschau für Nordsachsen vom 13.11.1991.

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die Ausschreitungen in Hoyerswerda für die tagespolitische Diskussion ( Asyldebatte ) benutzt. 2.3 Die Kommunalpolitik – Imagesorgen und Jugendarbeit

Eine Woche nachdem die Asylbewerber aus Hoyerswerda gebracht worden waren, beschlossen alle Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung36 eine gemeinsame Presseerklärung »zu den Ausschreitungen rechtsradikaler Gruppen gegenüber Ausländern und Asylbewerbern in Hoyerswerda«. Im ersten Satz der Erklärung drückten die Abgeordneten ihr tiefes Bedauern darüber aus, dass die »Stadt durch die Ereignisse der zurückliegenden Tage in negativer Weise in die Schlagzeilen und Sensationsberichterstattung der Medien geriet«. Damit war die Botschaft der Presseerklärung ausgedrückt : Die Lokalpolitiker sorgten sich um das Image der Kommune. Die Ausschreitungen wurden in der Erklärung zu den Taten »rechtsradikaler Gruppen«. Die Beteiligung mehrerer hundert »normaler« Bürgerinnen und Bürger wurde verschwiegen. Stattdessen waren die Stadtverordneten überzeugt, dass die »bedauerlichen Vorfälle von der Mehrheit der Bürger [...] abgelehnt werden«. Die Abgeordneten selbst fühlten sich »Wertvorstellungen wie Menschenwürde, Toleranz und Gewaltlosigkeit« verpflichtet, mit deren Hilfe sie »eine neue humanistische und demokratische Gesellschaft« aufbauen wollten. Weiterhin verteidigten die Fraktionen die Entscheidung, dass die Ausländer »in Sicherheit« gebracht worden waren. Dies sei kein »Nachgeben gegenüber rechtsradikale[ n ] Gruppierungen oder gar ein Sieg der Gewalt«. Diese Maßnahme sollte eine weitere Eskalation vermeiden und Ruhe herstellen. Der Bund wurde in die Verantwortung genommen, »eine Wiederholung dieser Ereignisse hier oder anderswo auszuschließen«. Abschließend appellierten die Abgeordneten an ihre Bürger, trotz aller persönlichen Probleme »Toleranz zu üben und friedvoll miteinander umzugehen«.37 Diese Presseerklärung war eine reine Verteidigungsschrift. Die Mehrheit der Bürger von Hoyerswerda sowie deren Abgeordnete sollten gegenüber der »Sensationsberichterstattung« in Schutz genommen werden. Daher entwarf man das Bild der moralisch guten Mehrheit. Eine Entschuldigung oder ein Wort des Bedauerns über die Ausschreitungen an die Adresse der betroffenen Ausländer war nicht zu finden. Die Mitglieder des SPD - Ortsvereines vertraten einen differenzierteren Standpunkt. Sie zeigten Verständnis dafür, dass es »nicht jedermanns Sache [ sei ], ein Held zu sein und sich schützend vor die Menschen zu stellen, die aus anderen

36 37

Vertreten waren folgende Fraktionen : CDU / DSU, PDS, SPD, FDP, Grüne / fdj / DFD. Alle Zitate aus : Gemeinsame Presseerklärung aller Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung zu den Ausschreitungen rechtsradikaler Gruppen gegenüber Ausländern und Asylbewerbern in Hoyerswerda. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 27.9.1991.

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Ländern zu uns kommen«. Doch keiner dürfe sich wie ein Unbeteiligter verhalten »und damit den Angreifern moralisch den Rücken« stärken. Gleichsam appellierten sie sowohl an die Einwohner, bei allen Problemen mit Ausländern diese nicht anzugreifen, als auch an die Ausländer, sich als Gäste mit den Lebensgewohnheiten vor Ort vertraut zu machen. Zur gegenseitigen Akzeptanz gehöre auch der Verzicht auf ruhestörenden Lärm.38 Deutlich verurteilte der Kreisvorstand der PDS die »Eskalation von Rassismus und Ausländerhass, von Zerstörung, Gewalt und Gegengewalt«. Für die »latente Ausländerfeindlichkeit« in den neuen Bundesländern wurden sowohl die verfehlte Asylpolitik als auch die »Sklavenhaltermentalität der ehemaligen DDR Regierung« verantwortlich gemacht. Dabei übernahm die PDS selbst Verantwortung, da sie »zu spät auf den aufkommenden Rassenhass und die sich organisierende Gewalt reagiert« habe. Als Hauptursache für die Fremdenfeindlichkeit wurde »die sich verschärfende soziale Lage« identifiziert. Ausländer seien von Menschen mit sozialen Problemen als »Sündenböcke« gesucht worden. Als Gegenmaßnahme forderte die PDS eine »Liberalisierung der Asylanten - und Flüchtlingsgesetzgebung der Bundesrepublik Deutschland«. Wichtig sei auch die »Auseinandersetzung über das Problem des Rechts - und Linksradikalismus«.39 Landrat Schmitz veröffentlichte eine Erklärung, die er explizit an die Einwohner des Landkreises richtete. Die Ausschreitungen hätten gezeigt, »dass 40 Jahre Vakuum in der Erziehung zu Toleranz, Gerechtigkeit und Rechtsempfinden die schwerste Bürde sind«, die man gemeinsam zu tragen habe. Auch er kritisierte die vorschnelle Verurteilung der Stadt und ihrer Bürger durch überregionale Medien, ohne dass Hintergründe beleuchtet worden seien. Sein eigentliches Anliegen galt aber mehr dem Appell an die Bürger zu mehr Engagement. Da »Resignation [...] kein guter Berater in ungewohnten Situationen« sei, könnten die anstehenden Probleme nur bewältigt werden, wenn die Bürger zusammen mit den Politikern Lösungswege suchten.40 Einen Monat nach den Ausschreitungen sprach der neue Bürgermeister Ahrendt vor der Stadtverordnetenversammlung in einer Sondersitzung zum Thema »Ausländerproblematik«. Er beklagte ebenfalls die Beschädigung des Rufes der Stadt. Doch die Ursache habe in erster Linie darin gelegen, »dass Menschen in dieser Stadt das Gastrecht genommen [ wurde ] und sie verängstigt wurden«. Trotzdem beklagte er das Verhalten der »Sensationspresse«, die Hoyerswerda »zur ausländerfeindlichen, schließlich gar zur ausländerfreien Stadt denunziert« habe.41 Dabei sei übersehen worden, dass noch immer rund 38 39 40 41

Kein Recht zur Gewalt. In : Rundschau für Nordsachsen vom 26.9.1991. Kreisvorstand PDS Hoyerswerda »Verschärfte soziale Lage ist die Hauptursache«. In : Rundschau für Nordsachsen vom 10.10. 1991. Wolfgang Schmitz, Gedanken des Landrats. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 4.10.1991. Lausitzer Rundschau vom 24.10.1991.

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1 200 Ausländer im Kreis und 500 in der Stadt lebten. Ebenso seien diejenigen in der Presse unerwähnt geblieben, die sich gegen die Ausschreitungen gestellt hatten. Die Ausschreitungen hätten bereits innerhalb eines Monats zu ersten wirtschaftlichen Problemen geführt. So musste eine für den Oktober geplante Herbstmesse abgesagt werden, weil viele Unternehmen aus den alten Bundesländern ihre Anmeldung storniert hatten. Ein englischer Investor fror fortgeschrittene Verhandlungen mit der Stadt nach den Ausschreitungen ein. Als »nachträgliche Geste der Solidarität« bat er die Stadtverordneten um Unterstützung für die Kirchengemeinde Berlin - Dahlem. Diese hatte 48 Asylbewerber aus Hoyerswerda aufgenommen und war damit an die Grenzen ihrer Ressourcen gestoßen. Weiterhin plädierte Ahrendt für eine Neuordnung der Jugendarbeit. Allerdings dürfe nicht der Eindruck entstehen, diese Maßnahme sei eine Belohnung für die Ausschreitungen. Vielmehr solle die neugeordnete Jugendarbeit die allgemeine Lebensqualität verbessern. Einer weiteren Aufnahme von Asylbewerbern verweigerte sich Ahrendt nicht, doch bat er beim Ministerpräsidenten um eine Pause, damit die Probleme der Stadt aufgearbeitet werden könnten.42 In der nachfolgenden Debatte brachten die Redner aller Fraktionen »Scham und Betroffenheit zum Ausdruck«. Fraktionsübergreifend war man sich einig, der Jugend größere Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Alle Abgeordneten äußerten den Wunsch, Hoyerswerda für Ausländer offen zu gestalten.43 Dem Appell Ahrendts zur Unterstützung der Kirchengemeinde Berlin - Dahlem folgten bald Taten. Der Bürgermeister organisierte eine Spende von 1 000 DM. Auch der Landkreis und die SPD - Stadtratsfraktion stellten finanzielle Hilfen bereit.44 Bereits im Oktober bildete Bürgermeister Ahrendt ein Jugendreferat als »eine klare Reaktion auf die Ereignisse im September«.45 Der erste Jugendreferent Hans- Joachim Donath bemühte sich vor allem um die Verbesserung der Jugendklubsituation. Mittelfristig verfolgte er drei Ziele : die Erhaltung der drei Jugendklubs und des Jugendklubhauses, die Entwicklung neuer Angebote in Zusammenarbeit mit freien Trägern sowie die Unterstützung von Vereinen. Trotz knapper städtischer Finanzen sah er für seine Aufgaben eine Chance. Mit Blick auf die von der Bundesrepublik für die neuen Bundesländer bereitgestellten 20 Millionen DM Fördermittel für das Arbeitsfeld »Jugend und Gewalt« hoffte er auf Mittel zur Einrichtung einer mobilen Jugendarbeit. Die Stadt plante, ab Januar 1992 zwei Sozialarbeiter einzustellen. Diese sollten mit den »Jugendliche[ n ]

42 43 44 45

Vgl. ebd. Auszüge der Debatte wiedergegeben bei Rudi Fritz, Ausländer sollen bald wieder nach Hoyerswerda können. In : Rundschau für Nordsachsen vom 24.10.1991. Vgl. Rudi Fritz, Unterstützung für die Kirchengemeinde in Dahlem. In : Rundschau für Nordsachsen vom 13.11.1991. Frank Treue, »Noch bin ich allein«. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 22.11.1991.

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auf der Straße« arbeiten.46 Auch der Dezernent für Kultur, Bildung und Soziales, Martin Schmidt, entwickelte Pläne zur Jugendarbeit, die er im Oktober der Stadtverordnetenversammlung vorstellte. So sollte die Oberlausitzer Bildungsakademie die 500 bis 600 Erzieherinnen der Stadt weiterbilden. Letztlich sollten sie eine staatliche Anerkennung für die Arbeit mit Kindern erwerben. Für November 1991 plante Schmidt »ein Seminar für Multiplikatoren der Ausländer - und Asylarbeit«. Weiterhin war eine neue Jugendbegegnungsstätte vorgesehen, die in freier Trägerschaft arbeiten sollte. Die bestehenden Jugendklubs wollte man per Beschluss für alle Jugendlichen öffnen. Damit sollte der politischen Vereinnahmung einzelner Klubs entgegengewirkt werden. Die Jugendklubs sollten stattdessen »Gesprächszentren der Jugend« werden, »um Konflikte abzubauen und nicht um Konflikte zu schaffen«.47 Die Multiplikatorenveranstaltung fand vom 1. bis 4. November statt. Mitarbeiter der Diakonischen Werke Oldenburg, Stuttgart und Görlitz, Studenten der Evangelischen Fachhochschule Dresden sowie viele Bürger aus Hoyerswerda, die im sozialen Bereich arbeiteten, besuchten das Seminar. Nachdem sich die Teilnehmer mit der Stadt vertraut gemacht hatten, teilten sie die Meinung, dass fehlende Jugendangebote zu Gewalt führten : »Aus Langeweile freut man sich über jede Randale. Die Ausländer sind dabei eigentlich Nebensache.« Als Fazit des Seminars stand schließlich die Forderung nach einer besseren und offeneren Jugendarbeit.48 Ein Grundsatzpapier zur städtischen Jugendarbeit sah im Januar 1992 zwei wichtige Punkte vor : Zum einen verpflichtete sich die Stadt, weiterhin Träger der Jugendklubs zu bleiben, allerdings nur bis sich freie Träger gefunden hätten. Zum anderen sollte die mobile Jugendarbeit entwickelt werden, bei der Sozialarbeiter direkt im Lebensumfeld der Jugendlichen tätig sind, um als Mittler zwischen den jungen Menschen, deren Eltern und der Schule aufzutreten.49 Die Stadtverordnetenversammlung beschloss daher in ihrer Sitzung vom 17. März 1992, dass sich Hoyerswerda an der »Gesellschaft für mobile Jugendarbeit Hoyerswerda« beteiligt. Den Rahmen für die mobile Jugendarbeit bildete ein Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG) des Bundesministeriums für Frauen und Jugend. Dadurch wurden die Kosten für die Sozialarbeiter vom Bund übernommen.50 An der »Gesellschaft für mobile Jugendarbeit Hoyerswerda« beteiligten sich insgesamt neun Träger, darunter kommunale Institutionen wie die Stadt und der Landkreis, freie Träger 46 47 48 49

50

Ebd. Martin Schmidt, Ziel : Offenheit und Angebote für ALLE. In : Rundschau für Nordsachsen vom 29.10.1991. Nachdenken in und über Hoyerswerda. In : Rundschau für Nordsachsen vom 12.11.1991. Vgl. Jörg Mattern, Konzeption zur städtischen Jugendarbeit nimmt Formen an. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 16. 1. 1992; »Gesellschaft für mobile Jugendarbeit Hoyerswerda«. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 30.11992. Vgl. Jörg Mattern, Verstärkte Sozialarbeit gegen Extremismus. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 18.3.1992.

Politische Reaktionen

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wie bspw. die Arbeiterwohlfahrt und verschiedene kirchengebundene Sozialträger.51 Aufgrund des organisatorischen Vorlaufes konnte die tatsächliche Jugendarbeit allerdings erst 1993 aufgenommen werden.52 In diesem Zusammenhang wurde weiterhin eine Sozialstudie des Diakonischen Werkes über Hoyerswerda unter Leitung von Dr. Walter Specht präsentiert. Specht erforschte seit November 1991 die Ursachen für den jugendlichen Extremismus und entwickelte darauf aufbauend Vorschläge zur verbesserten Sozialarbeit. Eine seiner Anregungen war die Beteiligung an der Gesellschaft für mobile Jugendarbeit.53 In den Jahren nach den Ausschreitungen war die Stad Hoyerswerda bemüht, diese aufzuarbeiten. Zu den Jahrestagen fanden bspw. 2001 und 2006 Gedenkwochen statt. Während der Aktionswochen fanden zahlreiche Veranstaltungen zu den Themen Rechtsextremismus und Toleranz statt.54 Damit wollte die Stadt zum einen der Gewalttaten gedenken. Zum anderen versuchte sie, durch einen offensiven Umgang mit diesem sensiblen Thema das Image der Stadt zu verbessern.55 Allerdings stellte die »Lausitzer Rundschau« 2001 fest, dass die Aktionswoche von den Hoyerswerdaern unterschiedlich aufgenommen werde. Einige der befragten Einwohner unterstützten die Aktionen. Andere nahmen sie gar nicht wahr. Eine dritte Gruppe verstand die Erinnerung an die Ausschreitungen nicht. Dieses »Kapitel« sei »abgehakt [ sic !]«. Hoyerswerda brauche Arbeit und nicht das »Aufwärmen von altem Kaffee«.56 Solche Äußerungen zeigen, dass die Lösungsansätze, die die Kommunalpolitiker nach den Ausschreitungen entwarfen, nicht bei allen Einwohnern zum gewünschten Erfolg führten. Nachdem die Ausschreitungen 20 Jahre zurücklagen, initiierte Oberbürgermeister Skora im Juli 2012 einen Wettbewerb zur Gestaltung eines Denkmals, das an die Gewalt erinnern sollte. Die Entwürfe sollten unter dem Motto »Hoyerswerda vergisst nicht – wir erinnern« entstehen. Im Januar 2013 wurde eine Jury, bestehend aus den Vorsitzenden der Stadtratsfraktionen, dem Ehrenbürger Friedhart Vogel, der Geschäftsführerin der »Zoo - , Kultur und Bildung Hoyerswerda GmbH« sowie eines Vertreters des Jugendstadtrates eingesetzt.57 Diese entschied sich für einen Entwurf der in Hoyerswerda lebenden Künstlerin Rohrmoser - Müller. Demnach soll aus Basalt ein Tor entstehen, welches einen 51 52 53

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Donath, mobile Jugendarbeit, S. 4. Projektgruppe Mobile Jugendarbeit, S. 3. Vgl. Verstärkte Sozialarbeit gegen Extremismus. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 18. 3. 1992. Über den Inhalt der Studie vgl. auch Studie über Hoyerswerda. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 20.3.1992. Vgl. Lausitzer Rundschau vom 17.9.2001; Sächsische Zeitung vom 6.9.2006. Vgl. Thomas Milke, Braunes Image ausmerzen. In : Sächsische Zeitung vom 12.9.2001. Zit. in Rüdiger Hofmann, »Das Kapitel ist abgehakt !« In : Rundschau für Hoyerswerda vom 22.9.2001. Vgl. http ://www.hoyerswerda.de / index.php ?m=2&n=13&o=&s=&d=50#499; 21.5.2013.

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Konsequenzen

Regenbogen trägt. Mittels eines QR - Codes können Besucher Informationen über die Ausschreitungen von ihrem Handy abrufen.58 Allerdings wurde kritisiert, dass diese Entscheidung ohne Beteiligung der Bürger getroffen wurde. Der Stadtverwaltung wurde zudem vorgeworfen, die anderen Entwürfe nicht veröffentlichen zu wollen.59 Nachdem die Stadtverwaltung mehr als 20 Jahre nach den Ausschreitungen eine Gedenkkultur initiiert hatte, wurde nun über die richtige Art des Gedenkens gestritten.

3. Ausländer in Hoyerswerda Nach der Evakuierung der Asylbewerber aus Hoyerswerda am 23. September 1991 galt Hoyerswerda als eine »ausländerfreie Stadt«. Doch tatsächlich lebten auch nach den Ausschreitungen Ausländer in der Stadt und im Landkreis. So wohnten noch einige ehemalige Vertragsarbeiter in Hoyerswerda, die aber aufgrund auslaufender Verträge in ihre Heimatländer zurückkehrten. Die letzten 17 Vietnamesen, die in der Albert - Schweitzer - Straße 20 lebten, traten in der Nacht vom 9. auf den 10. Oktober 1991 ihre Heimreise an. Die Ausreise aus der Stadt wurde geheim gehalten. Verabschiedet worden seien sie, nach Angaben des »Hoyerswerdaer Wochenblattes«, lediglich von ihren mosambikanischen Mitbewohnern und einem deutschen Ehepaar.60 Am 20. Oktober 1991, einem Sonntag, wurden gegen fünf Uhr früh einige Mosambikaner verabschiedet, die ihre Heimreise antraten. Unter den wenigen Deutschen erschien auch Landrat Schmitz und überreichte Blumen. Einer der Mosambikaner fand zum Abschied in Bezug auf die Ausschreitungen versöhnliche Worte : »Wir wissen inzwischen, dass viele Hoyerswerdaer unsere Freunde sind. Dafür danken wir ihnen.«61 Im Juni 1992 unterschrieben 100 Einwohner eine Resolution der »Initiativ - Gruppe Mocambique« ( IGMO ). Die Initiative forderte von der Bundesregierung ein Bleiberecht für die 800 in den neuen Bundesländern verbliebenen ehemaligen mosambikanischen Vertragsarbeiter. Zu diesem Zeitpunkt gab es im Kreis noch einige wenige vormalige Vertragsarbeiter aus Mosambik, von denen drei mit deutschen Frauen verheiratet waren. Allerdings waren sie nicht im Besitz einer Arbeitserlaubnis, da sie lediglich eine Aufenthaltsbewilligung, keine Aufenthaltsgenehmigung hatten.62 58 59 60 61 62

Vgl. ebd. Vgl. Henry Gburek, »Denk - mal« kurz darüber nach, Hoyerswerda ! In : Hoyerswerdaer Wochenkurier vom 20.3.2013. Vgl. Abschied für immer. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 11.10.1991. Zurück in die Heimat, jedoch ins Ungewisse. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 21.10.1991. Vgl. Elmi Junge, Mocambiquaner sollen das Bleiberecht erhalten. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 30.6.1992.

Ausländer in Hoyerswerda

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Trotz der Ausschreitungen sollte Hoyerswerda weiterhin Asylbewerber aufnehmen. Seit September 1991 suchte die Kreisverwaltung daher nach geeigneten Wohnunterkünften, wofür das Land zunächst eine Frist bis Ende Januar 1992 einräumte. Diese fanden sich zunächst in Laubusch und Lauta. Doch deren Besitzer, die LAUBAG in Laubusch und die Stadt Lauta, verhinderten die nötigen Umbauten mit der Begründung, dass sie selbst an der Nutzung interessiert seien bzw. die Treuhand zuständig sei. Vorausgegangen waren in Lauta heftige Proteste. Als im Januar 1992 die Entscheidung, 70 Asylbewerber in Lauta aufzunehmen, verkündet wurde, kam es bei einer Bürgerversammlung am 23. Januar zu tumultartigen Szenen. Da von den 8 000 Einwohnern 1 200 arbeitslos waren, fühlten sich die Bürger mit der Aufnahme neuer Hilfsbedürftiger überfordert. Der Frust war so groß, dass einige Jugendliche dem Bürgermeister mit Gewalt drohten. Sie brachten deutlich zum Ausdruck, dass sie in Lauta keine Ausländer haben wollten.63 Auch die Laubuscher Bürger brachten ihre Sorge zum Ausdruck. Bei einer Bürgerversammlung am 4. Februar 1992 teilte ihnen Landrat Schmitz mit, in naher Zukunft 70 Asylbewerber aufnehmen zu müssen. Zwar kam es an diesem Abend zu keinen fremdenfeindlichen Äußerungen. Doch brachten die Einwohner die Sprache auf eine mögliche Schließung der örtlichen Brikettfabrik und ihre damit zusammenhängenden Zukunftsängste. Eher enttäuscht nahm man daher die Bekanntmachung der Unterbringung der Asylbewerber auf.64 Bis Juni 1992 war aber eine generelle Lösung noch nicht gefunden.65 Im August 1992 standen in Hoyerswerda acht Wohnungen für 20 bis 30 Flüchtlinge zur Verfügung. Doch handelte es sich bei diesen nicht, wie ursprünglich geplant, um Asylsuchende, sondern um Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsgebiet Jugoslawien.66 Im September kündigte Landrat Schmitz an, dass, falls keine geeigneten Objekte gefunden würden, die zu erwartenden Asylsuchenden in Turnhallen untergebracht werden müssten.67 Der Landrat rechnete mit 50 Asylbewerbern und 50 Aussiedlern, die dem Kreis zugewiesen werden würden. Doch aus der ersten Aufnahme von Asylbewerbern, die im Jahr zuvor zu den Ausschreitungen geführt hätte, habe er gelernt. Nun sollten die Ausländer nicht mehr konzentriert untergebracht werden und es sollte im Vorfeld mit den Anwohnern gesprochen

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Vgl. Ralph Haferkorn, Angeheizte Stimmung, Gewalt und viele offene Fragen. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 25./26.1.1992; sowie Frank Hilbert, Kontroverse Debatte zur Aufnahme von Ausländern in der Stadt. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 25.1.1992. Vgl. Frank Hilbert, »HY« wird noch scheel angesehen. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 6.2.1992. Vgl. Kein Heim für Asylbewerber, In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 5.6.1992. Vgl. Flüchtlinge kommen nächste Woche nach Hoyerswerda. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 7. 8. 1992; Jörg MatternVorübergehend neue Heimat für Jugoslawische Flüchtlinge. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 6.8.1992. Extremfall ausschließen. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 4.9.1992.

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Konsequenzen

werden.68 Wegen dieser angespannten Diskussion um die bevorstehende Aufnahme neuer Asylbewerber im Landkreis versuchte der sächsische Innenminister Eggert am 30. September 1992, die Stellung der Regierung vor Ort zu erklären. Auf einer Podiumsdiskussion im Hoyerswerdaer Landratsamt kündigte er für den Kreis 75 Asylbewerber an. Dies waren deutlich weniger als die zunächst genannte Zahl von 650 Asylsuchenden. Die Zahl sei geringer, da Sachsen 30 000 Asylsuchende zugewiesen bekommen habe. Von diesen sollten 2,2 Prozent im Kreis Hoyerswerda untergebracht werden. Allerdings hielten sich zum Zeitpunkt der Rede nur circa 12 500 Asylbewerber in Sachsen auf. Daher würden folglich Hoyerswerda weniger Hilfebedürftige zugeteilt werden. Zunächst sollten diese in Laubusch untergebracht, doch gleichzeitig in anderen Gemeinden des Kreises Möglichkeiten geprüft werden.69 Im Verlauf der Podiumsdiskussion kam es zu einem heftigen Streit zwischen dem Innenminister und dem Bürgermeister von Laubusch, Goerke. Letzterer hob die sozialen Probleme seiner Gemeinde hervor. Schließlich monierte er, die Asylbewerber könnten von ihrem neuen Heim direkt auf die örtliche Sparkasse blicken. Die indirekt unterstellten kriminellen Absichten wies Eggert als Provokation zu fremdenfeindlicher Gewalt energisch zurück.70 Aufgrund der heftigen Reaktion der Gemeinde, die weitere Probleme aufgrund der bevorstehenden Schließung einer Brikettfabrik befürchtete, wurden in Laubusch schließlich keine Asylbewerber untergebracht, dafür aber 50 Aussiedler.71

4. Zivilgesellschaftliche Gegenmaßnahmen Von den schweren Gewalttaten, die in ihrer Stadt mehrere Tage andauerten, fühlten sich viele Bürger betroffen. In der Folge gründeten sich verschiedene Initiativen, um weiterer Gewalt vorzubeugen und Toleranz zu fördern. Zunächst zeigte sich der SPD - Stadtverordnete Dr. Reinheckel in einem langen Beitrag, den die »Sächsische Zeitung« vollständig abdruckte, betroffen von den fremdenfeindlichen Ausschreitungen. In seinen Ausführungen versuchte er, das Geschehene zu verarbeiten und nach Ursachen zu forschen. Seiner Meinung nach steuere die deutsche Gesellschaft genauso wie die westeuropäische auf ein

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Vgl. Sven Geisler, Hat der Kreis ein Konzept zur Unterbringung von Asylbewerbern ? In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 23.10.1992. Vgl. Mehrere Objekte für neue Asylbewerber. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 2.10.1992; Rudi Fritz, Als erstes also : Laubusch und Lauta. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 2./3.10.1992. Vgl. ebd.; Thomas Bärsch, Asylbewerber : Goerke streitet sich mit Innenminister Eggert. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 2.10.1992. Vgl. Dieter Hanke, Keine Asylbewerber nach Laubusch, dafür Aussiedler. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 29.10.1992.

Zivilgesellschaftliche Gegenmaßnahmen

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multikulturelles Zusammenleben zu. Daher müssten vor allem Jugendliche Erfahrungen mit Ausländern sammeln. Den Zweck seiner öffentlichen Überlegungen stellte er am Ende seines Beitrages dar. Er hoffte auf die Gründung einer Bürgergesellschaft »Dem Hass keine Chance !«, um damit ein »Gegengewicht [zu] bilden zu der Meinung, die viel beschämendes über unsere Stadt gebracht hat«.72 Diese Bürgerinitiative gründete sich bereits am 27. November 1991. Obwohl die Stadtverordnetenversammlung Reinheckel in seiner Idee unterstützte, kamen zur Gründungsveranstaltung lediglich 25 Bürger »und ein paar Leute mehr aus der Antifa«.73 Das Ziel der Initiative war es, den zwischenmenschlichen Hass durch persönliche Gespräche zu beschwichtigen. Als erste Aktion plante die junge Initiative für den vierten Advent (21. Dezember 1991) eine Lichterkette durch die Stadt. An dieser beteiligten sich 1 000 Bürger. Damit wollten sie zeigen, dass Hoyerswerda besser sei als sein Ruf, so die »Sächsische Zeitung«.74 Die »Lausitzer Rundschau« berichtete ebenfalls von der Lichterkette. Sie zitierte einige Teilnehmer, die sich ausländerfreundlich äußerten. Die Zitierten brachten zum Ausdruck, dass Ausländer in Hoyerswerda erwünscht seien und in Ruhe leben könnten.75 Um die Mitbürgerinnen und Mitbürger für weiterhin zu erwartende Asylbewerber und Aussiedler zu sensibilisieren, stellte die Initiative in den öffentlichen Bibliotheken Bücher zum Thema Ausländerpolitik zur Verfügung. An Schulen wurden entsprechende Informationsvideos verteilt.76 Im Jahr 1992 organisierte die Initiative für den 9. November wieder eine Lichterkette. Der Aufruf hierfür wurde von vielen gesellschaftlichen und politischen Organisationen unterstützt, so u. a. von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft,77 dem Bürgermeister, der FDP78 sowie von CDU und SPD.79 Über 2 000 Bürger folgten dem Aufruf und beteiligten sich an der Lichterkette.80

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Dr. Wolfgang Reinheckel, Eine Stadt auf dem Weg nach Europa. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 9./10.11.1991. Gründungsveranstaltung der Bürgerinitiative »Gegen den Hass«. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 29.11.1991. Vgl. Jörg Mattern, Der vierte Advent gab Mut und Bestätigung zugleich ! In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 23.12.1991. Vgl. Dem Hass keine Chance. In : Rundschau für Nordsachsen vom 23.12.1991. Vgl. Waltraud Spill, Literatur und Videos zu Ausländern. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 31.1.1992. Vgl. Niemand darf mehr Schweigen. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 4. 11. 1992; GEW unterstützt Aktion »Dem Hass keine Chance !« In : Rundschau für Hoyerswerda vom 3.11.1992. Vgl. Weitere Zusagen für den 9. November. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 5.11.1992. Vgl. Die Gewaltlosigkeit soll weiterleben. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 7./8. 11. 1992; CDU unterbricht Sitzung für die »Lichterkette«. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 6.11.1992. Vgl. Thomas Bärsch, »Fremde hassen, weil wir Bundesbürger sind ?« In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 10.11.1992; Rudi Fritz, Rund 2 000 Menschen ließen ihr Licht leuchten. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 11.11.1992.

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Konsequenzen

Die Evangelische Kirche reagierte auf die Ausschreitungen, indem sie zu Beginn des Jahres 1992 der Stadt Hoyerswerda anbot, ein Gymnasium in kirchlicher Trägerschaft einzurichten.81 Die Idee, die Bildungsarbeit in der Stadt zu verbessern, war bereits im Umfeld der Ausschreitungen im September 1991 im Gespräch zwischen Superintendent Vogel und Bürgermeister Ahrendt entstanden. Vogel setzte sich 1992 im evangelischen Kirchenkonvent dafür ein, ein kirchliches Gymnasium in Hoyerswerda zu gründen.82 In der Bevölkerung warb er mit Pressebeiträgen für seine Idee. Darin erklärte er, die neue Schule setze sich zum Ziel, den Schülern Toleranz »im Zusammenleben mit Menschen verschiedener Herkunft, Religion, Sprache und Kultur« zu vermitteln. Die Schülerinnen und Schüler müssten keine Christen sein und würden auch nicht zu solchen erzogen, sondern nach christlichen Grundsätzen ausgebildet. Mit dem Schuljahr 1992/93 sollte der Schulbetrieb aufgenommen werden.83 Als Grundlage stellte die Stadt noch im Mai geeignete Räume zur Verfügung. Zu diesem Zeitpunkt, Anfang Mai, lagen bereits 91 Anmeldungen vor.84 Bereits zwei Wochen später wurden 120 Schülerbewerbungen verzeichnet.85 Im August konnte die neue Schule mit einem Gottesdienst feierlich eröffnet werden. Dazu war u. a. der sächsische Landtagspräsident Iltgen angereist. Oberkonsistorialrat Dr. Kühne hob in seiner Rede den Zweck der neuen Schule hervor. Sie möge mit dazu beitragen, dass »Hoyerswerda in Deutschland nicht mehr als Synonym für Gewalt und Ausländerfeindlichkeit« gebraucht werde.86 Das Ziel der neuen Schule bestand darin, Schüler mit unterschiedlichem konfessionellen Hintergrund zusammenzubringen, um den Heranwachsenden dadurch Toleranz zu lehren. Die Erziehung nach christlichen Grundsätzen sollte die Schüler zu verantwortungsbewussten Menschen bilden, die für ihre Mitmenschen einstehen. Das christliche Gymnasium will somit die Fremdenfeindlichkeit mittels Bildung präventiv bekämpfen. Ein weiteres, als Reaktion auf die Ausschreitungen in Hoyerswerda initiiertes Projekt war die »Regionale Arbeitsstelle für Ausländerfragen, Jugend und Schule ( RAA )«. Die ehemalige Lehrerin Helga Nickich begann 1993 mit dem Aufbau dieser Arbeitsstelle. Konkret arbeitet die RAA mit Kindern und Jugendlichen, um 81 82 83

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Vgl. Margit Mantei, Evangelisches Gymnasium für Hoyerswerda. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 1.4.1992. Gespräch mit Friedhart Vogel am 30.5.2011. Friedhart Vogel, Noch einmal zum Angebot eines Kirchlichen Gymnasiums. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 8. 5. 1992; Hoyerswerdaer Zeitung vom 7. 5. 1992; Rundschau für Hoyerswerda vom 7.5.1992. Vgl. Evangelisches Gymnasium. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 15.5.1992. Vgl. Ralph Haferkorn, Ein Farbtupfer mehr in Hoywoys Schullandschaft. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 19.5.1992. Zit. in Thomas Bärsch, Neue Schule soll Humanismus als Lebenshaltung lehren. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 24.8.1992.

Die Entwicklung der rechtsextremen Szene

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ihnen diese Werte zu vermitteln. Der Verein betrieb dafür einen Jugendklub, arbeitete in der politischen Bildung und der Suchtprävention. Unter anderem organisiert er jährliche Ferienlager in der Tschechischen Republik. Bis zum Jahr 2006 hatten bereits über 10 000 Kinder an dieser Fahrt teilgenommen.87

5. Die Entwicklung der rechtsextremen Szene Bei den Ausschreitungen war unübersehbar, dass es in Hoyerswerda eine rechtsextreme Skinheadszene gab. Die Lokalpolitiker machten diese Jugendlichen allein für die Gewalt verantwortlich und übersahen die Beteiligung der »normalen« Bürger. Sie gingen davon aus, dass die Skinheads sich von der Mehrheitsgesellschaft abgekoppelt hätten. Um diese Gräben zu überwinden, lud die Stadtverwaltung Skinheads und »normale« Bürger am 18. Oktober 1991 zu einem Annäherungsgespräch in den Klub »Olympia« ein. Die gegenseitigen Überzeugungen wurden vorgetragen, ohne verurteilt zu werden. Was bedeutet, die Skinheads konnten ihr rechtsextremes Weltbild ohne Einspruch äußern. Die Stadtverwaltung bot den rechtsextremen Jugendlichen schließlich Hilfe bei der Wohnungssuche und der Freizeitgestaltung an. An diesem Abend sei es, so die »Sächsische Zeitung«, nicht um Ergebnisse gegangen, sondern um die Schaffung einer Vertrauensbasis. Wichtig sei gewesen, miteinander ins Gespräch zu kommen.88 Da viele der jungen Menschen bei der Veranstaltung die Freizeitmöglichkeiten moniert hatten, versprachen die Vertreter der Stadt und des Landratsamtes, auch für die Skinheads einen Klub einzurichten.89 Dessen ungeachtet verhinderte dieser erste Annäherungsversuch nicht, dass am frühen Sonntagmorgen, dem 3. November gegen 1 Uhr 15 Jugendliche den als links geltenden Klub »Der Laden« überfielen. Mit den Parolen »Sieg Heil« und »Ausländer raus« prügelten sie auf die anwesenden Konzertbesucher ein.90 Schon einen Monat später trafen sich Vertreter beider politischer Szenen auf Einladung der Antifa im Klub »Linksabbieger«. Bei diesem Gespräch ging es erneut um einen Meinungsaustausch und den »Abbau stereotyper Feindbilder«.91 Trotz der Strategie der Stadt, die Sorgen der Skinheads ernst zu nehmen, um sie dadurch abzuhalten, ihren Frust gewalttätig abzubauen, kam es immer wieder 87

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Vgl. Simone Wendler, Unglück und Chance zugleich. In : Lausitzer Rundschau vom 7. 9. 2006; Thomas Schade, Der lange Weg aus dem Schatten von ’91. In : Sächsische Zeitung vom 18.9.2001. Elmi Junge, Hoffnungen. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 21.10.1991. Vgl. Hoywoy ist keine Hochburg von gewalttätigen Skinheads. In : Rundschau für Nordsachsen vom 22.10.1991. Vgl. Jörg Mattern, Alarmierend : Gewaltausbrüche Jugendlicher nehmen weiter zu. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 5.11.1991. Miteinander im Gespräch. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 20.12.1991.

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Konsequenzen

zu Gewalt gegen Ausländer. Auf dem Wochenmarkt in Hoyerswerda versuchten im November 1991 zwei Skinheads, Schutzgeld von einem vietnamesischen Bürger zu erpressen. Als dieser sich weigerte zu zahlen, stahlen die Jugendlichen seine Tageskasse.92 Im Februar 1992 wurde das Lehrlingswohnheim in der Thomas - Müntzer - Straße, in dem ausländische Lehrlinge wohnten, von circa 20 Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren mit Steinen und Flaschen beworfen. Als die Polizei mit drei Streifenwagen eintraf, flüchteten die Täter.93 Im Juni 1992 verfolgten drei jugendliche Skinheads mit einem Hund einen vietnamesischen Händler über den Marktplatz. Da keine Kräfte zur Verfügung standen, schritt die Polizei nicht ein.94 Doch trotz dieser wiederholten Gewalttaten suchten Verantwortliche der Stadt immer wieder das Gespräch mit den rechtsextremen Jugendlichen. Die Verantwortlichen waren weiterhin der Ansicht, mit vertrauensvollen Gesprächen die gewalttätigen Jugendlichen von ihrer Gesinnung abbringen zu können. Dieser Ansatz erscheint aus der Rückschau naiv, da die Jugendlichen nach wie vor Ausländer überfielen. Vielmehr scheint es, als ob die Skinheads Gewalttaten begingen, um damit den Verantwortlichen der Stadt Zugeständnisse abzupressen. Dies zeigte sich besonders während der Auseinandersetzungen um einen eigenen Jugendklub. Dieser war den Jugendlichen nach den Ausschreitungen von Seiten der Kirche als auch der Stadtverwaltung zugesagt worden. In den ersten Monaten des Jahres 1992 fühlten sich die Jugendlichen zweimal um bereits zugesagte Räume betrogen. Daraufhin drohten sie am 6. April das Rathaus zu besetzen, käme eine Einigung nicht zustande. Derart unter Druck gesetzt, stimmte der Stadtrat zu, den Jugendlichen das »Café Oben«, das sich im Jugendklub im WK X befand, zur Nutzung zu überlassen. Die ersten Wochen der neuen Nutzung verliefen ereignislos. Doch in der Nacht vom 18. auf den 19. April, zum Ostersonntag, wurden diese Räume von den Jugendlichen besetzt. Anlass war, dass sie den ihnen zugesagten Raum verschlossen vorfanden, als sie spät nachts von einem Diskobesuch kamen. Die Schlösser waren zuvor ausgetauscht worden. Daraufhin traten die Jugendlichen die Tür ein, bedrohten das Personal der im selben Haus befindlichen Diskothek und plünderten deren Vorräte im Wert von 6 000 DM. Am nächsten Tag wehte die Reichskriegsflagge über dem Haus; ein »Besetzt« - Schild wies auf die Aktion hin. Während der Besetzung warfen die Jugendlichen Molotow - Cocktails vom Dach auf den Rasen. Die 50 Besetzer forderten mit ihrer Aktion einen eigenen Klub. In diesem sei, so versprachen die Skinheads, jeder willkommen, auch »Linke«. Jedoch solle die 92 93

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Vgl. Skandal : Skinheads kassieren Schutzgelder ! In : Rundschau für Nordsachsen vom 22.11.1992. Vgl. Polizeireport : Ein ruhiges Wochenende von Randalen überschattet. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 10. 2. 1992; »Rechtsradikale Szene« oder nur Dummköpfe ? In : Rundschau für Hoyerswerda vom 11.2.1992. Vgl. Neue Randale schon vorprogrammiert ? In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 5.6.1992.

Die Entwicklung der rechtsextremen Szene

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Leitung bei den »Rechten« bleiben. Da Bürgermeister Ahrendt im Urlaub war, verhandelte sein Stellvertreter Naumann mit den Besetzern und lud sie für den folgenden Dienstag zum Gespräch ins Rathaus ein. Im Ergebnis hatten die Besetzer das Café bis 20 Uhr desselben Tages zu räumen. Nach einem weiteren Gespräch unter Beteiligung eines Pfarrers hoben die Jugendlichen die Besetzung auf.95 Die Gaststättenleiterin war im Anschluss schockiert über die Verwüstungen und meinte, die Jugendlichen hätten »wie Vandalen gehaust«.96 Die Jugendlichen waren jedoch um Versöhnung bemüht. Um mit den Anwohnern des Klubs ins Gespräch zu kommen und sich ihnen vorzustellen, veranstalteten sie wenige Tage nach der Besetzung des Jugendklubs am Ort ein Kinder und Familienfest. Damit wollten sie, so hieß es in der »Lausitzer Rundschau«, zeigen, »im Einvernehmen mit den Leuten im Wohngebiet auszukommen«.97 Dieses »Versöhnungsfest« war jedoch nichts anderes als eine Inszenierung. Nachdem die Skinheads mit ihrer Besetzung der Öffentlichkeit ein negatives Bild von sich geboten hatten, bemühten sie sich, ihr Image aufzubessern. Sie wollten sich als im Grunde gute, nette Nachbarn darstellen, die sich um die Kinder des Viertels kümmern. Schließlich wurde den »rechtsorientierten Jugendlichen« vom Kulturdezernenten Schmidt für den 1. August 1992 zugesagt, den Jugendklub »WeKaZehn« ab diesem Zeitpunkt nutzen zu dürfen. Somit standen diesen Jugendlichen Räume zur Freizeitgestaltung zur Verfügung. Hier probte u. a. die Band »Bollwerk« um Peter A.98 Zur Erinnerung : Peter A. war einer der Haupttäter am 17. September 1991, der offen sein fremdenfeindliches und rechtsextremes Weltbild ausgedrückt hatte. Ihm und seiner Band war es 1992 also gestattet, in einem städtischen Klub zu proben. Der Stadt war jedoch nicht daran gelegen, die rechtsextremen Jugendlichen zu fördern, vielmehr wollte sie im Gegenteil mit betreuerischen Maßnahmen mäßigend auf sie einwirken. Daher betreuten drei Sozialarbeiter ab dem 5. August die Jugendlichen im Klub. Die Zeitzeugin Heike K. gehörte zu diesen Betreuern. Laut ihren Erinnerungen bestand die rechtsextreme

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Vgl. Heike - Jana Kotta / Uwe Schulz, Von welcher Seite kommt denn nun der Druck ? In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 24.4.1992; Dieter Hanke, Reichskriegsflagge wurde wieder eingeholt. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 23. 4. 1992. Das Interview mit den Besetzern auch in Dieter Hanke, »In Hoyerswerda ein Zeichen gesetzt, dass wir noch da sind !« In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 24.4.1992. Zit. in Dieter Hanke, »Sie haben im Klub wie Vandalen gehaust«. In : Hoyerswerdaer Zeitung vom 23. 4. 1992; vgl. ebenso Ralf Grunert, Ultimatum für Besetzer des WK X - Klubs lief ab. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 22.4.1992; ders.; Klub - Besetzer gingen auf Angebot der Stadt ein und zogen sich zurück. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 23.4.1992. Ralf Grunert, Ex - Klub - Besetzer zeigten Anwohnern ein völlig neues, freundliches Gesicht. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 28.4.1992. Thomas Matthess, Räume für Rechtsorientierte »termingerecht« vergeben. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 15.7.1992.

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Konsequenzen

Jugendszene aus einem harten Kern von circa 40 bis 50 Personen.99 Martin Schmidt schätzt die Zahl der Sympathisanten um diesen harten Kern auf circa 300 Personen.100 Auch wenn die erinnerten Zahlen durch schriftliche Quellen nicht überprüft werden können, weist doch die Höhe der Angaben darauf hin, dass die rechtsextreme Jugendszene in Hoyerswerda zumindest nach den Ausschreitungen relativ groß war. Die Skinheads waren keine kleine Minderheit, wie es die Stadtverantwortlichen gerne sahen, sondern hatten einen mehrere hundert Personen umfassenden Anhang. Die Wortführer seien, so Frau K., zwischen 20 und 28 Jahren gewesen, die Mitläufer im Alter von 15/16 Jahren. Dabei bildeten sich innerhalb der Szene keine festen Strukturen heraus. Einzig Hans - Michael P. sei wegen seiner vielen Verhaftungen als »Held« verehrt worden.101 Alle befragten Zeitzeugen, die in den Jahren nach 1991 mit den Skinheads im Gespräch standen, schätzten diese Jugendlichen aber nicht als in erster Linie überzeugte »Neonazis« mit einem festen Weltbild ein. Vielmehr hätten sie das Mittel der Gewalt gesucht, um sich Gehör zu verschaffen.102 Oft stammten die Jugendlichen aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Frau K. hörte von Erfahrungen mit häuslicher Gewalt, abgebrochenen Ausbildungen und Wohnungslosigkeit. Hier setzte die Sozialarbeit der Stadt an. Frau K. unterstützte die Jugendlichen bei ihren Problemen. Je nach Bedarf half sie, den Tagesablauf zu strukturieren, bei Ausbildungs - und Wohnungssuche oder bei Problemen auf der Arbeitsstelle. Durch diese individuelle Betreuung hätten sich die Jugendlichen mit ihren Sorgen ernst genommen gefühlt.103 Ein Argument für die Bereitstellung des Jugendklubs war deshalb für die Stadt auch, dass die Jugendlichen dort gleichzeitig betreut werden konnten. Ein zweites war die Überlegung, die Jugendlichen an ihrem festen Ort besser überblicken und einschätzen zu können.104 Um den Imageschaden bei den Anwohnern durch die Klubbesetzung zu bereinigen, organisierten die Jugendlichen Anfang September ein Kinderfest in ihrem neuen Jugendklub. Vorausgegangen war eine Sammelaktion für Kinder aus Tschernobyl und aus Kriegsgebieten. Die rechtsorientierten Jugendlichen spendeten Kuscheltiere und riefen die Bürger ebenfalls zu Spenden auf.105 Zum Fest am 11. September luden sie ausdrücklich auch die 130 Kinder aus Tschernobyl

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Zeitzeugengespräch mit Heike K. am 18.7.2011. Zeitzeugengespräch mit Martin Schmidt am 19.7.2011. Zeitzeugengespräch mit Heike K. am 18.7.2011. Zeitzeugengespräch mit Heike K. am 18. 7. 2011; Zeitzeugengespräch mit Martin Schmidt am 19.7.2011; Zeitzeugengespräch mit Klaus Naumann am 11.7.2011. 103 Zeitzeugengespräch mit Heike K. am 18.7.2011. Ähnlich auch Martin Schmidt am 19.7.2011. 104 Zeitzeugengespräch mit Klaus Naumann am 11.7.2011 und mit Martin Schmidt am 19.7.2011. 105 Vgl. Eine Spielzeugsammlung für ausländische Kinder. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 26.8.1992.

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ein, die sich zu dem Zeitpunkt zur Erholung in Lauta und Senftenberg aufhielten. Ebenso wurden vier Kinder zweier Flüchtlingsfamilien aus Bosnien - Herzegowina eingeladen.106 Allerdings erschienen die Kinder aus der Senftenberger Unterkunft nicht.107 Dennoch werteten die Organisatoren das Fest als einen Erfolg. Insgesamt 300 Kinder hatten es besucht, darunter die 30 Kinder aus Lauta.108 Die Skinheads inszenierten sich wiederum, wie bei dem Kinderfest im April 1992, als harmlose, verantwortungsbewusste Jugendliche, um so Vertrauen bei den Anwohnern zu gewinnen. Doch tatsächlich führte ein eigener Klub nicht zur Entradikalisierung der Jugendlichen. Vielmehr wurden die Klubräume, wie sich Ende 1992 zeigte, für Treffen der örtlichen Gruppe der »Deutschen Alternative« genutzt. Dies stellte sich heraus, als im Zusammenhang mit dem Verbot dieser Vereinigung durch den Bundesinnenminister im Dezember 1992 auch Wohnungen in Hoyerswerda durchsucht wurden. Darunter fiel die Wohnung des Landesvorsitzenden der »Deutschen Alternative« in Sachsen, Roman D. Zwar konnte dieser nicht festgenommen werden, da er sich in Bayern aufhielt. Doch gegen zwei weitere Mitglieder, deren Wohnungen ebenfalls durchsucht wurden, lagen Haftbefehle vor. Sie standen im Verdacht, am Überfall auf eine Pizzeria in Bautzen beteiligt gewesen zu sein. Eine Beteiligung der beiden an den Ausschreitungen im September 1991 wurde nicht ausgeschlossen.109 Aus dem betreffenden Einsatzbefehl der »SokoRex« geht hervor, dass mit Heiko W. und Michael F. zwei im September 1991 kurzzeitig Festgenommene am Überfall auf die Pizzeria beteiligt waren. Ebenso zählte auch Michael G. zu den Verdächtigen, der vormalige Anführer der NDO. Die Wohnungen und Autos dieser Personen wurden aber lediglich im Zusammenhang mit dem Pizzeria - Überfall durchsucht.110 Hingegen erging ein Durchsuchungsbefehl für die Wohnungen, Autos und Postfächer von Roman D., Michael B. und Mike ( Maik ) H. anlässlich des Verbotes der »Deutschen Alternative«.111 In letzteren Wohnungen wurde zahlreiches Propagandamaterial sichergestellt. Das Konto des sächsischen Verbandes der »Deutschen Alternative« wurde ebenfalls beschlagnahmt. Nach Erkenntnissen des Innenministeriums 106 Vgl. Rechtsorientierte feiern mit ausländischen Kindern. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 3.9.1992. 107 Vgl. Hoyerswerda und der Rest der Welt. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 12./13.9.1992. 108 Vgl. Ein Kinderfest. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 15.9.1992. 109 Vgl. Sven Geisler, Hoyerswerda war Schwerpunkt der Polizeiaktion in Sachsen. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 11.12.1992. 110 Landeskriminalamt Sachsen, Soko »REX«, Dresden am 23. November 1992 : Einsatzbefehl zur Durchführung von Exekutivmaßnahmen am 25.11.1992 gegen rechtsextremistisch orientierte Täter in Hoyerswerda und Bautzen, S. 2 ( SächsHStA, 13460 LKA Sachsen, Nr. 5.161). 111 Landeskriminalamt Sachsen, Soko »REX«, Dresden am 9. Dezember 1992, Einsatzbefehl zur Durchführung von Exekutivmaßnahmen in Hoyerswerda anlässlich des Verbotes der »Deutschen Alternative« ( DA ) am Donnerstag, 10.12.1992 ( ebd.).

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hatte die »Deutsche Alternative« in Hoyerswerda circa 15 Mitglieder, in Sachsen zwischen 30 und 50.112 Damit lag der sächsische Schwerpunkt dieser rechtsextremen Partei in Hoyerswerda. Dabei fanden, laut »SokoRex«, im Jugendklub »WeKaZehn« wahrscheinlich bis Mitte November regelmäßige »Kameradschaftstreffen« statt. Doch diese wurden, wie die generelle Aktivität der Hoyerswerdaer Mitglieder, bereits im November 1992 eingestellt. Da die Treffen Wochen vor den Hausdurchsuchungen eingestellt worden waren, sah der zuständige Dezernent Schmidt keine Veranlassung, den Nutzungsvertrag mit den Jugendlichen zu kündigen. Stattdessen wurde ein neues Programm in Zusammenarbeit mit der mobilen Jugendarbeit entworfen.113 Im Gegenteil, man wertete die bisherige Jugendarbeit der Stadt als Erfolg. Denn da man versucht habe, die Jugendlichen in ihren jeweiligen Problemlagen ernst zu nehmen und zu unterstützen, hätten überregionale rechtsextreme Organisationen auf die Szene in Hoyerswerda keinen Einfluss gewinnen können.114 Hans - Joachim Donath schätzt den Einfluss der »Deutschen Alternative« hingegen höher ein. Das Ziel der Organisation war es, in den Stadtrat gewählt zu werden. Deren Vertreter waren im Klub immer präsent. »Wenn das Verbot nicht gekommen wäre, hätten wir mit der ›Deutschen Alternative‹ große Probleme bekommen«, urteilt Donath im Zeitzeugengespräch.115 Martin Schmidt meint andererseits, die Vertreter der Stadt seien vielmehr zu Vertrauenspersonen geworden. So schilderte er eine Begebenheit im Sommer 1992. Zu der Zeit fanden die Ausschreitungen in Rostock statt. In diesen Tagen suchten einzelne rechtsextreme Jugendliche seinen Rat. Sie seien von Medien angefragt worden, ob sie für 50 DM nach Rostock fahren würden, um dort ein Transparent mit der Aufschrift : »Hoyerswerda grüßt Rostock« zu entfalten. Schmidt habe die Fahrt den Jugendlichen nicht direkt untersagt. Stattdessen forderte er sie zur eigenen Reflexion auf, indem er nach der Sinnhaftigkeit dieser Fahrt fragte. Letztlich entschlossen sich die Jugendlichen, nicht nach Rostock zu fahren.116 Nach den Ausschreitungen vom September 1991 zeigte sich, dass die politischen und gesellschaftlichen Verantwortungsträger auf die rechtsextremen Jugendlichen zugingen. Sie suchten das Gespräch, versuchten ihre Standpunkte zu verstehen und kamen ihnen mit einem Jugendklub entgegen. Andererseits erhöhten die Jugendlichen immer dann den Druck, wenn die Stadtverwaltung ihnen ihrer Meinung nach nicht weit genug entgegenkam. Immer wieder kam es daher zu Überfällen auf Ausländer und politisch linksorientierte Jugendliche. Den Höhepunkt dieser Vorfälle bildete die Besetzung eines Jugendklubs zu Ostern 1992. Dabei war es die Taktik der Skinheads, durch öffentlichkeitswirk112 113 114 115 116

Vgl. Geisler, Hoyerswerda war Schwerpunkt. Vgl. DA - Treff im WK - X - Klub ? In : Rundschau für Hoyerswerda vom 12.12.1992. Zeitzeugengespräch mit Heike K. am 18.7.2011. Zeitzeugengespräch mit Hans - Joachim Donath am 4.8.2011. Zeitzeugengespräch mit Martin Schmidt am 19.7.2011.

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same Auftritte ein Entgegenkommen der Verwaltung und der Gesellschaft zu erreichen. Die »Lausitzer Rundschau« gab bereits im Dezember 1990 ( !) ein Gespräch mit einem Vertreter der Skinheadszene wieder, der Herausgeber eines Info - Heftes mit dem Titel »Noies Doitschland« war. Der lediglich mit den Initialen J. B. in Erscheinung tretende Skinhead meinte in Bezug auf Gewalt : »Dass wir in der Beliebtheitsskala ganz weit unten stehen, wissen wir. Wir legen aber auch keinen großen Wert darauf, salonfähig zu werden. Dann könnten wir gleich einpacken. Im neuesten Modetrend von ›Quelle‹ würde kein Mensch mehr von uns Notiz nehmen. Aber, wir fallen auf, es gibt Ärger. Und siehe da, man interessiert sich für uns. Da will mal der Kulturdezernent der Stadt mit uns reden. Da wollen ganz normale Bürger unsere ›Lokalpresse‹ lesen. Da möchte die LR mal ein Gespräch mit uns machen.«117 Mit dieser Taktik hatten die Jugendlichen Erfolg. Die Stadtverwaltung, namentlich Kulturdezernent Schmidt sowie Sicherheitsdezernent Naumann, verfolgte das Ziel, die Jugendlichen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Dadurch erhofften sie sich eine Entradikalisierung. Erst im Abstand von zehn Jahren wurde dieser »weiche« Kurs als Fehlentscheidung betrachtet. In der »Lausitzer Rundschau« bewertete es Naumann 2001 als Fehler, den Klubraum zur Verfügung gestellt zu haben. Denn dieser habe als Treffpunkt regionaler Szenevertreter sowie als Ausgangspunkt für Gewalttaten gedient.118 Das Scheitern des sozialfürsorglichen Kurses wurde spätestens bei einem ernsten Vorfall im Jahr 1993 deutlich. Am Samstag, dem 20. Februar 1993, spielte im Klub »Nachtasyl« in Hoyerswerda eine Heavy - Metal - Band. Dieses Konzert wurde überwiegend von linksorientierten Jugendlichen besucht. Im Anschluss an den Auftritt überfielen rechtsextreme Jugendliche den Klub. Sämtliche Besucher des Konzertes wurden von den Skinheads ohne Vorwarnung verprügelt. Selbst junge Frauen schlugen sie mit Biergläsern auf den Kopf.119 Auf dem Parkplatz des Klubs kam es zu Auseinandersetzungen zwischen beiden Lagern. In der Folge wurde das Bandmitglied Mike Z. »mit Schlägen und Fußtritten misshandelt und kam dabei zu Sturz, so dass er teilweise unter dem von rechten Jugendlichen umgestürzten Fahrzeug zu liegen kam«.120 Dabei wurde er lebensgefährlich verletzt. Im Krankenhaus Hoyerswerda erlag er am 26. Februar seinen Verletzungen. Noch in der Tatnacht wurden vier Tatverdächtige festgenommen. Einer von

117 »Wir sind keine hirnlosen Schläger !« In : Rundschau für Nordsachsen vom 14.12.1990. 118 Vgl. Michael Hanschke, »Über Nacht wurden wir zum Skinhead - Klub«. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 17.9.2001. 119 Vgl. Zeitzeugengespräch mit Frau G. am 13.10.2011. 120 Schreiben Landespolizeidirektion Dresden an das Staatsministerium des Inneren, Landespolizeipräsidium vom 22. September 1993, S. 3 ( SächsHStA, 13363 Polizeipräsidium Dresden, Nr. 51).

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ihnen, Peter A., erhängte sich in derselben Nacht in seiner Zelle.121 Insgesamt wurden elf Tatverdächtige ermittelt, darunter auch Hans - Michael P. und Steven F.,122 die beide im September 1991 mit fremdenfeindlichen Gewalttaten aufgefallen waren. Infolge der Todesfälle spitzte sich die Lage zwischen den politischen Lagern in der Stadt erneut zu. Die örtliche Antifa, die 150 Mitglieder zählte, drohte mit Gegenaktionen bei weiteren Angriffen von Rechtsextremisten. Die rechtsextreme Szene plante ihrerseits für den 26. Februar einen unangemeldeten Trauermarsch für Peter A. Ebenso sollten die Bands »Neue Werte« aus Stuttgart sowie »Bollwerk« aus Hoyerswerda in der Nachbarstadt Bernsdorf ein Konzert geben.123 Tatsächlich versammelten sich am 27. oder 28. Februar circa 50 Rechtsextreme aus Hoyerswerda und Cottbus vor dem Hoyerswerdaer Polizeirevier. Den Trauermarsch für Peter A. meldete jedoch Michael B. für den 16./17. März an. Er galt bei der Polizei als führender Kader in der Region.124 Zuvor fand am Samstag, dem 6. März, ein unangemeldeter Trauermarsch für Mike Z. statt. Dafür versammelten sich gegen 17 Uhr zwischen 50 und 100 Jugendliche auf der Spremberger Brücke in der Neustadt. Der Trauermarsch zog bis zum Rathaus auf dem Markt in der Altstadt.125 Die »Lausitzer Rundschau« urteilte über die Trauerkundgebung : »Was als Trauermarsch proklamiert war, wurde schnell zu einem Feldzug von Angehörigen der autonomen Szene, die vornehmlich aus Bautzen, Spremberg, Cottbus, Senftenberg, Großenhain, Pirna und Gera angereist waren, gegen öffentliche Einrichtungen und Polizei der Stadt.«126 Besonders das Rathaus und drei Polizisten, die dieses schützten, wurden mit Steinen beworfen. Auf dem weiteren Weg fielen 20 Personen durch weitere Gewalttätigkeiten auf. Daraufhin forderten die stellvertretende Landrätin Kockert und der stellvertretende Bürgermeister Naumann die Demonstranten zur Auflösung des Zuges auf. Diese Aufforderungen wurden jedoch ignoriert. Gegen 18.50 Uhr löste die Polizei den »Trauermarsch« wegen der fortgesetzten Gewalt auf. Parallel zu diesen Ereignissen überfielen 20 vermummte Personen das Jugendklubhaus, in dem eine Tanzveranstaltung stattfand. Scheiben wurden eingeworfen und Leuchtspurgeschosse in den vollen Saal abgefeuert. Dabei wurde ein Jugendlicher am Kopf verletzt. Den Tätern gelang die Flucht, sodass ihre 121 Ebd. 122 Vgl. Fernschreiben LPD Dresden vom 3. März 1993 ( SächsHStA, 13363 Polizeipräsidium Dresden, Nr. 702, unpag. ). 123 Vgl. »Wir distanzieren uns von diesen Chaoten«. In : Hoyerswerdaer Tageblatt vom 8.3.1993. 124 Vgl. Polizeipräsidium Dresden o. Datum, Bericht Zeitraum 20. Februar bis 20. März 1993 (SächsHStA, 13365 : Polizeipräsidium Dresden, lfd. Nr. 25, unpag. ). 125 Vgl. Autonomer Mob randalierte in Hoyerswerda. In : Rundschau für Hoyerswerda vom 8. 3. 1993; S. Gröpler, Von »Trauermarsch« keine Spur. In : Hoyerswerdaer Tageblatt vom 8.3.1993. 126 Autonomer Mob randalierte in Hoyerswerda. In : Lausitzer Rundschau vom 8.3.1993.

Zusammenfassung

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Zugehörigkeit zu den politischen Lagern unklar blieb. Gegen 19.30 Uhr normalisierte sich die Lage in der Stadt.127 Die Mehrzahl der Gewalttäter dieses Tages kam aus anderen Städten. Daher distanzierte sich die lokale Antifa sofort von der Gewalt. Sie kündigte an, solche Mitglieder auszuschließen, die sich an den Ausschreitungen beteiligt hatten.128 An dem Marsch der Rechtsextremen am 16. oder 17. März beteiligten sich 300 Personen. Dieser verlief ohne besondere Vorkommnisse.129 Als Reaktion auf die erneute Gewalt wurde ein weiteres Mal das Gespräch über die Lagergrenzen hinweg gesucht. Konkret luden das Jugendklubhaus und die Kirchen für den 11. März zu einem Runden Tisch für Gewaltlosigkeit ein, der von Kaplan Gregor moderiert wurde. Neben Vertretern des »rechten und linken Spektrums« kamen auch Stadtverordnete und einfache Bürger, insgesamt über 100 Interessierte. Die »Lausitzer Rundschau« hielt als wichtigstes Ergebnis die Tatsache fest, »dass die Hoyerswerdaer wieder einmal miteinander ins Gespräch gekommen sind«. Die Bürger äußerten ihre Angst vor der andauernden Gewalt. Die verfeindeten Lager kamen sich aber nicht näher. Vielmehr wurden die jeweiligen Meinungen lautstark vertreten. Am Ende des Treffens gingen die Gesprächsteilnehmer ohne Lösung auseinander.130 Die Ereignisse im Frühjahr 1993, sowohl der brutale Überfall Rechtsextremer auf linke Jugendliche, die anschließenden gewalttätigen »Trauermärsche«, die zu neuerlicher Gewalt zwischen den verfeindeten Lagern führte, als auch der enttäuschende Ausgang des Runden Tisches für Gewaltlosigkeit zeigten, dass sich seit den fremdenfeindlichen Ausschreitungen 1991 die Situation unter den Jugendlichen nicht verbessert hatte. Trotz der sozialfürsorglichen Maßnahmen der Stadt blieben die rechtsextremen Skinheads bei ihrem Weltbild und ihrer Gewaltbereitschaft. Trotz der regelmäßig angesetzten Gesprächsrunden zur Gewaltlosigkeit blieben die politischen Jugendszenen am rechten und linken Rand polarisiert.

6. Zusammenfassung Die Bundes - und Landespolitik hielt sich nicht lang mit den Ausschreitungen in Hoyerswerda auf. Vielmehr wurde die Gewalt gegen Ausländer benutzt, um den jeweiligen Standpunkt in der bundesdeutschen Asyldebatte zu untermauern. Dementsprechend wurden die Ausschreitungen einseitig auf die Gewalt gegen 127 Vgl. Autonomer Mob randalierte in Hoyerswerda. In : Lausitzer Rundschau vom 8.3.1993; Von »Trauermarsch« keine Spur. 128 Vgl. »Wir distanzieren uns von diesen Chaoten«. In : Hoyerswerdaer Tageblatt vom 8.3.1993. 129 Vgl. Polizeipräsidium Dresden o. Datum, Bericht Zeitraum 20. Februar bis 20. März 1993 (SächsHStA, 13365 : Polizeipräsidium Dresden, lfd. Nr. 25, unpag. ). 130 Vgl. Eine Stadt im »Verteidigungszustand« ? In : Rundschau für Hoyerswerda vom 13.3.1993.

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das Asylbewerberheim fokussiert. Über die tatsächlichen Ursachen wurde kaum nachgedacht. Dies versuchten die Lokalpolitiker. Zwar war die erste Reaktion der Stadtverordnetenversammlung, sich über das schlechte Image der Stadt zu beklagen. Um diesem Bild entgegenzuwirken, wurde wenige Wochen später mithilfe von Spenden an die Kirchengemeinde Berlin - Dahlem eine Geste der Entschuldigung versucht. Ebenso wurde eine neuerliche Aufnahme von Asylbewerbern durch die Stadt und den Landrat gesucht. Dadurch sollte Hoyerswerda vom Image der fremdenfeindlichen Stadt loskommen. Problematisch war der Lösungsansatz der Stadt, lediglich die schlechten Jugendbetreuungseinrichtungen als Kernproblem und Hauptursache für die fremdenfeindlichen Ausschreitungen zu betrachten. Diese Sichtweise übersah, dass auch viele hundert Erwachsene an den Gewalttaten teilnahmen. Doch nachdem die Kommune dieses ihrer Meinung nach größte Problem der Stadt identifiziert hatte, begann sie, diesen Missstand bestmöglich zu lösen. Dabei legten die zuständigen Verantwortlichen der Stadt großen Wert auf die Integration der rechtsorientierten Jugendlichen. Dieses Bemühen ging soweit, dass man sich von diesen durch neuerliche illegale Aktionen erpressen ließ. Schließlich bekamen diese Jugendlichen einen eigenen Klub. Öffentlich bemühten sich die rechtsextremen Jugendlichen daraufhin um eine Verständigung mit den Nachbarn und der Bevölkerung. Tatsächlich wurden die Räume als Vorbereitungsorte für weitere Gewalttaten benutzt. Der tragische Höhepunkt war 1993 erreicht. Bei einem in diesem Klub vorbereiteten Überfall auf eine Musikgruppe kam ein Bandmitglied zu Tode. Einer der Gewalttäter, der bereits bei den Ausschreitungen 1991 aufgefallene Peter A., nahm sich daraufhin das Leben. Zum ersten Mal forderte die Radikalisierung der Jugendlichen Todesopfer. Auch zwei Jahre nach den Ausschreitungen gab es demnach in Hoyerswerda eine starke politische Polarisierung und vor allem eine gewaltbereite rechtsextreme Jugendszene, die nach wie vor gegen alle als fremd wahrgenommenen Menschen vorging.

VII. Schluss

Das Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, die mehrtägigen Ausschreitungen im September 1991 in Hoyerswerda zu erklären. Es ging zunächst darum, eine Forschungslücke zu füllen und den genauen Ablauf der Ereignisse nachzuzeichnen. Die Ausschreitungen entzündeten sich an einer Auseinandersetzung zwischen alkoholisierten Skinheads und vietnamesischen Zigarettenhändlern. Den rechtsextremen Jugendlichen schien es glaubhaft, dass die Vietnamesen aus Rache über einen Zigarettenraub einen Hund der Skinheads getötet hatten. Die anwesenden Polizisten waren personell unterbesetzt und zugleich über ihre neuen Kompetenzen verunsichert und konnten daher die folgende Jagd der Skinheads auf die Vietnamesen nicht verhindern. Die Schwäche der Polizei war ein wesentlicher Faktor, weshalb die Gewalt weiter eskalierte und sich jeden Tag aufs Neue wiederholte. Der zweite Faktor war der Applaus der fremdenfeindlichen, gewaltunterstützenden Menge. Beide Faktoren führten dazu, dass sich die Gewalttäter im Recht fühlten. Sie meinten, Volkes Wille zu vollziehen. Dadurch wurden die Angriffe auf das Wohnheim der ehemaligen Vertragsarbeiter in der Albert - Schweitzer - Straße zum täglichen Ritual. Jeweils in der Feierabendzeit ab 17 Uhr versammelten sich mehrere hundert Bürgerinnen und Bürger – Jugendliche wie Erwachsene. Die Ausschreitungen waren ein Spektakel, das man sich nicht entgehen lassen wollte. Nach wenigen Minuten begannen Jugendliche, Steine auf das Wohnheim zu werfen. Später wurden die Bewohner des Hauses zudem mit Stahlkugeln und sogar Molotowcocktails angegriffen. Durch den einsetzenden Beifall und Sympathiebekundungen der umstehenden Menge entstand eine rauschhafte Situation, in der die Grenze zwischen Schaulustigen, Beifallklatschenden und aktiv Handelnden verschwamm. Schließlich wurden die Polizisten, welche die Gewalt unterbinden wollten, ebenfalls angegriffen. Denn mit ihrer Verteidigung der Ausländer stellten sie sich aus Sicht der Täter gegen den vermeintlichen Volkswillen. Die Polizei besaß keine Autorität mehr, was zur Folge hatte, dass die Menge sie attackierte. Die Täter wollten mit allen Mitteln ihr Ziel, die Ausländer aus der Stadt zu bringen, durchsetzen. Aus diesem Grund verlagerte sich die Gewalt am 21. September zum Asylbewerberheim in der ThomasMüntzer - Straße, nachdem das Wohnheim der Vertragsarbeiter von der Polizei

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Schluss

abgesichert worden war. Diese mehrtägigen Ausschreitungen führten am 22. September dazu, dass schockierte Bürgerinnen und Bürger aus anderen Bundesländern nach Hoyerswerda reisten, um gegen fremdenfeindliche Gewalt zu demonstrieren. Das Ansinnen einiger hundert friedlicher Demonstranten wurde von 100 gewaltbereiten Linksextremen missbraucht, welche die offene Konfrontation mit Rechtextremen und der Polizei suchten. Die örtlichen Behörden wussten nicht, wie sie die mehrtägige Gewalt unter Kontrolle bringen konnten. Weil sie eine andauernde Gewaltwelle befürchteten und die Asylbewerber ihre Evakuierung forderten, entschlossen sich die Verantwortlichen, am 23. September alle Asylbewerber aus Hoyerswerda in Sicherheit zu bringen. In der Folge hörte die fremdenfeindliche Gewalt tatsächlich auf. Lediglich am 29. September kam es erneut zu schweren Zusammenstößen zwischen Linksextremen und der Polizei. »Hoyerswerda« wurde zum Symbol für Fremdenfeindlichkeit einerseits, weil viele Einwohner die fremdenfeindlichen Ausschreitungen unterstützten, andererseits aufgrund der Evakuierung der Asylbewerber, die als Zurückweichen vor dem fremdenfeindlichen Druck interpretiert wurde. Doch eine geschichtswissenschaftliche Arbeit kann bei einer deskriptiven Nacherzählung von Geschehnissen nicht stehenbleiben. Vielmehr kommt es darauf an zu verstehen, wie es zu den Gewalttaten kommen konnte. Dementsprechend wurde die jüngere Stadtgeschichte Hoyerswerdas in die Untersuchung einbezogen. Der rasante Bevölkerungszuwachs zwischen 1955 und 1980 führte zu städtebaulichen Vernachlässigungen. Die Menschen lebten in gleichförmigen Reihenhäusern in gleichförmigen Wohngebieten. Zentrale Kommunikationsplätze, die eine Integration der vielen neuen Bürger erleichtert hätten, waren für die Erbauer der Stadt zweitrangig. Zudem wurde die Stadt von den Planwirtschaftlern im Politbüro in eine monowirtschaftliche Abhängigkeit vom Braunkohletagebau und von der Energieindustrie gedrängt. In der DDR - Zeit war ein Arbeitsplatz »in der Kohle« sehr begehrt, versprach er doch guten Lohn. Die Arbeit wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt im Sozialleben der Hoyerswerdaer. Solange diese Monowirtschaft von der DDR gefördert wurde, erschien die Abhängigkeit Hoyerswerdas von der Braunkohleindustrie unproblematisch. Erst die veränderte Wirtschaftslage ab 1990 zeigte die Krisenanfälligkeit einer solchen Abhängigkeit. Nicht nur, dass die Arbeitslosigkeit anstieg : Ganze Lebensentwürfe und soziale Beziehungen zerbrachen mit dem Wegfall der Arbeit. Die Arbeitslosigkeit und die Angst davor zeigten die Zerbrechlichkeit des künstlichen Gemeinwesens. Die Wiedervereinigung brachte nicht nur neue Freiheiten und Chancen, sondern ebenso Herausforderungen und Ängste. In dieser Zeit der Verunsicherung und der Furcht vor dem sozialen Abstieg wurden Ausländer, speziell die Asylbewerber, zunehmend als Konkurrenten um soziale Fürsorge empfunden. In der Wahrnehmung der Einwohner wurden Ausländer, Fremde, vom deutschen Staat vor den Einheimischen bevorzugt. Die Aufnahme der Asyl-

Schluss

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bewerber verstärkte die Angst um den Statusverlust. Die 1990 offen zu Tage tretende Fremdenfeindlichkeit fußte jedoch auf älteren Vorurteilen gegenüber Ausländern. Mindestens seit den 1970er Jahren, als ausländische Vertragsarbeiter in Hoyerswerda untergebracht wurden, sind fremdenfeindliche Stereotype in den Quellen dokumentiert. Von den DDR - Verantwortlichen wurden die ausländischen Arbeitskräfte von den Einwohnern segregiert und isoliert. Diese Politik förderte das Entstehen von Gerüchten und Vorurteilen bei Deutschen. Ausländer waren somit bereits vor 1990 in Hoyerswerda als Fremde markiert. Denn Ausländer waren in Hoyerswerda nie integriert. Sie galten immer als Fremde, die in speziellen Wohnheimen getrennt von Deutschen lebten. Bis auf die Arbeit gab es nahezu keine Kontakte zwischen Einwohnern und ausländischen Arbeitern. Vielmehr wurden letztere in ihrer Freizeit diskriminiert und offen angefeindet. Durch die sozialen Verwerfungen einerseits und den Wegfall staatlicher Repressionen andererseits wurden die fremdenfeindlichen Einstellungen verhärtet und radikalisiert. Gewalt gegen Ausländer gab es seit den späten 1980er Jahren. Doch nach dem Wegfall der staatlichen Autorität kam es in Hoyerswerda ab Mai 1990 zu offenen Angriffen auf Ausländerwohnheime, die von ganz »gewöhnlichen« Bürgern begrüßt wurden. Die tieferen Ursachen für die nach 1989/90 ausbrechende Fremdenfeindlichkeit sind also in der Angst vor der ungewissen Zukunft der Einwohner zu suchen. Demzufolge können die Ausschreitungen als sozialer Protest verstanden werden. Die Menschen waren frustriert über den Wegfall all ihrer bisher bekannten Sicherheiten und Gewohnheiten. Die verunsicherten Menschen sahen in den »Fremden« die Sündenböcke für ihre eigenen Statusprobleme. Ausländer schienen jene Unterstützung zu bekommen, die Deutschen zugestanden hätte, sie okkupierten Arbeitsplätze, während Deutsche arbeitslos würden, und hätten eine Wohnung, während Deutsche unter Wohnungsnot litten. Diese Themen waren es, die während der Ausschreitungen von den Sympathisanten der Gewalt zur Sprache gebracht wurden. Die fremdenfeindliche Gewalt war ein Ausdruck der sozialen Probleme und Ängste. Die Menschen suchten eine Lösung für ihre Sorgen. Der Hass auf Ausländer erschien ihnen dabei als naheliegende Antwort. Damit soll die fremdenfeindliche Gewalt keinesfalls entschuldigt werden. Eine Analyse bliebe jedoch oberflächlich, würde man allen Einwohnern der Stadt per se Fremdenfeindlichkeit unterstellen, ohne nach den tieferliegenden Motiven zu fragen. Somit war »Hoyerswerda« kein good protest. Dieser Protest war nicht »emanzipatorisch« und atmete nicht »den Geist der ›Befreiung‹«.1 Vielmehr müssen die fremdenfeindlichen Ausschreitungen als bad protest eingeordnet werden.

1

Gailus, Protestforschung, S. 134.

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Damit ist die Arbeit ein zeithistorischer Beitrag zur Protestforschung. Die Erforschung von Protesten in der Bundesrepublik konzentrierte sich bislang vorwiegend auf »sympathische« Protestthemen wie Frieden, Umwelt und Bürgerrechte.2 Die fremdenfeindlichen Ausschreitungen zu Beginn der 1990er Jahre wurden nicht als Ausdruck eines Protestverhaltens verstanden. Dabei waren sie eine Begleiterscheinung der krisengeplagten Transformationsjahre. Sie sind ein Ausdruck dafür, in welche Krise eine aus dem Totalitarismus aufbrechende Gesellschaft geraten kann. Der Untergang der sozialistischen Diktaturen Osteuropas und ihrer systemimmanenten allgegenwärtigen Regulierung sämtlicher Lebensbereiche brachte den Menschen nicht nur persönliche Freiheiten, sondern zugleich Verunsicherung. Die Grenzen der Freiheit mussten erst mühsam gesetzt werden. Freiheit erschien vielen dadurch als Unordnung und Chaos. Die an ein durchreguliertes Leben gewöhnten Menschen waren von den scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten und Herausforderungen verunsichert. Zugleich ermöglichten die Meinungs -, Rede - und Pressefreiheit, lang unterdrückte nationalistische, extremistische und fremdenfeindliche Einstellungen zu verbreiten. Denn wenn lange verbotene Parolen, wie bspw. »Die Mauer muss weg«, durch die politische Entwicklung überholt wurden, warum sollten nicht ebenso andere, von den ehemaligen sozialistischen Machthabern als nationalistisch eingestufte und daher verbotene Äußerungen nun ihre Gültigkeit verloren haben ? Vielmehr boten rechtsextreme Organisationen und Szenen neuen Halt, versprachen sie doch die Errichtung einer neuen kollektivistischen Ordnung. Gerade orientierungslose Jugendliche in den neuen Bundesländern wurden von der Skinheadszene angezogen und in dieser politisiert und mit rechtsextremistischem Gedankengut vertraut gemacht. So wuchsen bspw. die Mitglieder des selbsternannten »Nationalsozialistischen Untergrunds« in Jena - Winzerla, einer Plattenbausiedlung der DDR, auf. Der als Kopf dieses Trios geltende Uwe Mundlos verlor achtzehnjährig in der Phase der Wiedervereinigung seine Ausbildung bei »Carl Zeiss«. Sein Vater erinnert sich, dass in dem Stadtteil in diesen Jahren viele Jugendliche lebten, »die nicht wussten, was ihnen die Zukunft bringen würde«.3 Ähnlich wie in Hoyerswerda zur selben Zeit verloren auch in Jena alte Autoritäten wir Lehrer und Polizisten ihre Glaubwürdigkeit und Anerkennung unter den Heranwachsenden. Günter Platzdasch, der 1990 als Sozialarbeiter in die Plattenbausiedlung Jena - Winzerla zog, erinnerte sich in der FAZ ebenfalls an Jugendliche, die sich durch den Wegfall der vertrauten Ordnung allein und orientierungslos fühlten und in der Skinheadszene neuen Anschluss fanden.4 In die-

2 3 4

Vgl. ebd., S. 148 f. Christoph Scheuermann, Der braune Virus. In : Der Spiegel vom 17.12.2011, S. 62–66, hier 63. Vgl. Günter Platzdasch, Wo alles begann ( http ://www.faz.net / aktuell / feuilleton / rechtsterrorismus - wo - alles - begann - 11541285.html; 26.11.2011).

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ser Zeit wandte sich Uwe Mundlos der Skinheadszene zu, schor sich die Haare und bezeichnete sich als »national«. Allerdings war er ( noch ) kein gefestigter Rechtsextremist. Erst in den folgenden Jahren radikalisierte sich sein Weltbild, bis er zusammen mit Beate Zschäpe und Uwe Böhnhardt in den Untergrund ging und mutmaßlich zehn Morde beging.5 Eine detaillierte Biographie der Täter steht derzeit noch aus. Es bleibt zu fragen, wie sehr sich die Jahre der Transformation tatsächlich auf die Radikalisierung der Mitglieder der NSU ausgewirkt haben oder ob ihre Hinwendung zum Rechtsextremismus nicht gänzlich andere Ursachen hat. Fest steht aber, dass »Hoyerswerda«, hier verstanden als Chiffre für fremdenfeindliche Gewalt zu Beginn der 1990er Jahre, kein Einzelfall war. Im Gegenteil waren die Ausschreitungen die ersten medial bekannten in einer Reihe fremdenfeindlicher Gewalttaten zu Beginn der 1990er Jahre. Richard Stöss schreibt, vor dem Hintergrund relativ verhaltener Zahlen rechtsextremer Gewalt in den alten Bundesländern bis 1990, von einem »vulkanartige[ n ] Ausbruch zumeist rassistischer Gewalt zwischen 1991 und 1994«. Das Jahr 1992 brachte mit 2 600 Gewalttaten, 865 davon in den neuen Bundesländern, den Höhepunkt der Gewaltwelle.6 Besonders die Ausschreitungen in Rostock - Lichtenhagen vom 22. bis 28. August 1992, als 1 200 Gewalttäter unter den Augen von bis zu 3 000 Sympathisanten die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber angriffen, ragt aus den fremdenfeindlichen Angriffen dieser Jahre heraus.7 Die fremdenfeindliche Gewaltwelle wenige Jahre nach der Wiedervereinigung spricht für die These, diese sei ein Ausdruck der Transformation. Demgegenüber steht die Tatsache, dass solche Gewalttaten nicht nur in Ost - , sondern auch in Westdeutschland ausgeübt wurden. Denn neben Hoyerswerda und Rostock - Lichtenhagen sind es vor allem die Brandanschläge in Mölln (23. November 1992) und Solingen (29. Mai 1993), die im kollektiven Gedächtnis haften. Dabei fallen allerdings gewichtige Unterschiede auf : Die fremdenfeindlichen Gewalttaten in den beiden ostdeutschen Städten Hoyerswerda und Rostock erstreckten sich über mehrere Tage und fanden unter lautstarkem Beifall von »normalen« Bürgerinnen und Bürgern statt. Bei den fremdenfeindlichen Akten in den westdeutschen Städten Mölln und Solingen handelte es sich um Brandanschläge auf von türkischen Familien bewohnte Häuser. Sie wurden nachts, unter Ausschluss der Öffentlichkeit verübt. Bei beiden Brandanschlägen sind jeweils fünf Menschen ums Leben gekommen. Das heißt, in Ostdeutschland gab es offene, in Westdeutschland heimlich verübte fremdenfeindliche Gewalt. Bei der unterschiedlichen Art der Gewaltausübung stellt sich die Frage, ob die Ursachen für 5 6 7

Vgl. Scheuermann, Der braune Virus. Stöss, Rechtsextremismus im vereinten Deutschland, S. 154. Vgl. ebd., S. 154 ff.

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Schluss

Fremdenfeindlichkeit in Ost und West unterschiedlich waren. Oder nahmen die Täter in Mölln und Solingen an, für die Anschläge nicht den unterstützenden gesellschaftlichen Widerhall zu bekommen wie die Täter von Hoyerswerda und Rostock ? Tatsächlich formierten sich nach den tödlichen Brandanschlägen bundesweit Lichterketten. Tausende Bürger brachten damit ihre Fassungslosigkeit über die Taten zum Ausdruck. Zugleich fällt die Tatsache der unterschiedlichen öffentlichen Reaktion auf : In den ostdeutschen Kommunen wurden Angriffe auf Wohnheime für Ausländer mit Beifall begrüßt, in Westdeutschland lösten die Brandanschläge Entsetzen aus. Die vorliegende Untersuchung eignet sich daher nicht, um Erklärungsansätze für die anderen drei herausragenden Ereignisse zu liefern. Vielmehr versteht sie sich als Fallstudie fremdenfeindlicher Gewalt am Beispiel Hoyerswerdas. Um allgemeinere Aussagen treffen zu können, ist es unablässig, auch für Rostock, Mölln und Solingen dichte Beschreibungen zu erstellen. Es wäre zu rekonstruieren, in welcher lokalen Situation die Gewaltakte erfolgten. Gab es in den anderen drei Städten ähnliche soziale Spannungen wie in Hoyerswerda? Wie sahen die bisherigen Erfahrungen mit Ausländern in diesen Städten aus ? Gab es Ansätze einer Integration ? Kurz : Eine Analyse der Ereignisse in Rostock, Mölln und Solingen, welche die jeweiligen Gewalttaten in die lokale Stadt- und Mentalitätsgeschichte einbettet, steht noch aus. Gerade in Zeiten einer erneuten Zunahme Asylsuchender, in der Rechtsextreme und Rechtspopulisten die steigenden Flüchtlingszahlen für ihre Zwecke missbrauchen und Ängste unter den Einwohnern schüren, können solche Fallstudien helfen, die Dynamik fremdenfeindlichen Protestverhaltens zu verstehen und erneute Gewaltausbrüche möglicherweise zu verhindern.

VIII. Anhang

1. Quellenverzeichnis Nachfolgend sind die Bestandsgruppen angegeben, die in den jeweiligen Archiven eingesehen und für die Arbeit verwendet wurden.

Bundesagentur für Arbeit Bundesagentur für Arbeit, Statistik. Absolute Arbeitslosenzahlen im Kreis Hoyerswerda vom September 1990 bis Dezember 1991. ( Für den Verfasser erstellte Statistik der Bundesagentur mit speziellen Zahlen für Hoyerswerda.)

Bundesarchiv ( BArch ) DE 2/21035. DE 2/21002, Nr. 0014408/00. DE 2/21002, Nr. 0014408/00. DE 2/30829. DE 2/ 30830. DO 5/124.

Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ( BStU ) Bestand : MfS, HA IX Nr. 748, Nr. 8819, Nr. 18886. Bestand : MfS, HA XX Nr. 5150. Bestand : MfS, BV Cottbus, AKG Nr. 892, Nr. 1512. Bestand : MfS, BV Cottbus, Abt. XX Nr. 6046. Bestand : MfS, BV Cottbus, HA I, AOP – archivierter operativer Vorgang Nr.1779/88, Band 1. Bestand : MfS, BV Cottbus, HA XX / AKG Nr. 5940. Bestand : MfS, BV Cottbus, KD Guben

250

Anhang

Nr. 010. Bestand : MfS, BV Cottbus, KD Hoyerswerda Nr. 424, Nr. 2947, Nr. 3096, Nr. 3100, Nr. 4189.

Kreisarchiv Bautzen ( KA BZ ) Bestand 13000 ( statistische Veröffentlichungen DDR ) Nr. 844, Nr. 876, Nr. 915; Nr. 920; Nr. 921, Nr. 997; Nr. 10466, Nr. 16865. Bestand Landratsamt Bautzen : Nr. 19800.

Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam ( BLHA Potsdam ) Abschlussarbeit : Birnbaum, Norbert : Die Entwicklung des Bauwesens in der Zeit nach dem VIII. Parteitag der SED am Beispiel der Stadt Hoyerswerda. Abschlussbeleg zum Doktorandenseminar vorgelegt dem Institut für Marxismus - Leninismus der Ingenieurhochschule Cottbus und dem Kreismuseum der Stadt Hoyerswerda, Cottbus 31. 7. 1988 ( BLHA, SED - Bezirksleitung Cottbus, Rep. 930, Nr. 4250). Dokumente : Bestand : Rep. 872/17.1 VPKA Hoyerswerda Nr. 288, Nr. 289; Nr. 292.

Privatarchiv Waltraud Spill Gesprächsprotokolle vom 15./18. Oktober 1991 mit den ehemaligen mosambikanischen Vertragsarbeitern Andreas, Antonio, Victor Jone und Joaquim.

Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden ( SächsHStA ) Bestand : 12989 Sächsisches Staatsministerium des Inneren Nr. 102, Nr. 309, Nr. 1157. Bestand : 12996 StAW Bautzen Nr. 31. Bestand : 13363 Staatsanwaltschaft Dresden Nr. 51; Nr. 958; Nr. 959 Band 1, Nr. 960, Nr. 961, Nr. 962, Nr. 963, Nr. 964, Nr. 972, Nr. 974, Nr. 982, Nr. 1035 Band 1, Nr. 1253, Nr. 1263, Nr. 1265, Nr. 1266, Nr. 1267, Nr. 1934 Band 1, Nr. 1339, Nr. 1341 Band 1, Nr. 2836. Bestand :13365 : Polizeipräsidium Dresden Nr. 25. Bestand : 13460 Landeskriminalamt Sachsen Nr. 5.161.

Verzeichnis der Interviews

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Stadtarchiv Hoyerswerda Diplomarbeiten : Michel, Gerd : Aufbau und Entwicklung Hoyerswerdas als zweite sozialistische Wohnstadt der DDR – Ausdruck der Bündnispolitik der Partei der Arbeiterklasse ( von der Mitte der 50er Jahre bis zum Beginn der 60er Jahre ). Diplomarbeit an der Humboldt - Universität zu Berlin, Sektion Geschichte, Abteilung Fernstudium Geschichte, Schwarze Pumpe 1986 ( Stadtarchiv Hoyerswerda, Nr. 4150). Stampe, Heinz : Untersuchen Sie die Befriedigung der ständig wachsenden Bedürfnisse der Bevölkerung an Reparaturen und Dienstleistungen im Bereich der Stadt Hoyerswerda unter besonderer Beachtung der Arbeit der örtlichen Staatsorgane. Hausarbeit an der Fachschule für Industrieökonomik Plauen, Fachrichtung Planung und Statistik, Plauen, 15. 2. 1962 (Stadtarchiv Hoyerswerda Nr. 3181). Dokumente : Staatliche Zentralverwaltung für Statistik beim Ministerrat : Ergebnis der Volks - und Berufszählung 1964 der Stadt Hoyerswerda ( Stadtarchiv Hoyerswerda, Nr. 1890, n. pag.). Zentralarchiv Vattenfall Europe Mining & Generation : Nr. 35868, Nr. 38447, Nr. 41502, Nr. 43075, Nr. 44731, Nr. 44825, Nr. 45664, Nr. 48021, Nr. 48282, Nr. 49417, Nr. 49787.

2. Verzeichnis der Interviews Pfarrer Peter Paul Gregor ( persönliches Gespräch des Verfassers am 1. August 2011) war im Jahr 1991 als katholischer Jugendseelsorger in der Stadt Wittichenau tätig. Diese Kleinstadt liegt in unmittelbarer Nähe zu Hoyerswerda, soass er während der Ausschreitungen vor Ort war. Frau G. ( persönliches Gespräch mit dem Verfasser am 13. Oktober 2011) gehörte zur Gruppe Jugendlicher, die 1990 den Einstein - Jugendklub besetzt haben. Als rechtsextreme Jugendliche 1993 den als links geltenden Jugendklub überfielen, war sie unter den betroffenen Besuchern. Frau G. bat darum, nicht mit vollem Namen genannt zu werden. Frau Heike K. ( persönliches Gespräch mit dem Verfasser am 18. Juli 2011) arbeitete 1991 im Jugendklub Nicolai Ostrowski. In den Jahren 1992/93 war sie als Sozialbetreuerin und Jugendarbeiterin in Hoyerswerda tätig. Frau Heike K. bat, nicht mit ihrem vollständigen Namen genannt zu werden. Klaus Naumann ( persönliches Gespräch mit dem Verfasser am 11. Juli 2011) ( SPD ) war 1991 Dezernent für Recht, Ordnung und Sicherheit. Martin Schmidt ( persönliches Gespräch mit dem Verfasser am 19. Juli 2011) ( CDU ) war zusammen mit seiner Frau Helene Mitbegründer eines privaten Kulturzirkels in Hoyerswerda. Im Jahr 1991 trug er als Dezernent für Schule, Kultur, Sport, Jugend und Soziales kommunalpolitische Verantwortung. Landrat a. D. Wolfgang Schmitz ( persönliches Gespräch mit dem Verfasser am 30. Juni 2011) (CDU ) war 1991 Landrat des Kreises Hoyerswerda.

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Anhang

Stefan Skora ( persönliches Gespräch mit dem Verfasser am 23. Juni 2011) ( CDU ) war 1991 parteiloser Büroleiter des Landrates. Zur Zeit des Gesprächs war er seit 2006 Oberbürgermeister der Stadt Hoyerswerda. Herr S. ( persönliches Gespräch am 30. Mai 2011) war in den Jahren der DDR als Ausbilder mosambikanischer Vertragsarbeiter tätig. Superintendent i. R. Friedhart Vogel ( persönliche Gespräche mit dem Verfasser am 18. und 31. Mai 2011) war im Jahr 1991 Superintendent des Kirchenkreises Hoyerswerda.

3. Literaturverzeichnis Anspruch und Wirklichkeit. 40 Jahre Hoyerswerda - Neustadt 1955–1995. In : Gesellschaft für Heimatkunde e. V. ( Hg.), o. O., o. J. Backes, Uwe : »Rechtsextremismus« – Konzeption und Kontroversen. In : ders. ( Hg.) : Rechtsextreme Ideologien in Geschichte und Gegenwart, Köln 2003, S. 15–52. –/ Moreau, Patrik : Die extreme Rechte in Deutschland. Geschichte – gegenwärtige Gefahren – Ursachen – Gegenmaßnahmen, München 1993. Bade, Klaus : Ausländer – Aussiedler – Asyl. Eine Bestandsaufnahme, München 1994. Bauerkämpfer, Arnd : Die Sozialgeschichte der DDR, München 2005. Bayerl, Günter : Werk+Geschichte. In : Schwarze Pumpe, S. 30–51. Behrends, Jan C./ Lindenberger, Thomas / Poutrus Patrice G.: Fremde und Fremd - Sein in der DDR. Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland, Berlin 2002. – : Fremde und Fremd - Sein in der DDR. Zur Einführung. In : Behrends / Lindenberger / Poutrus ( Hg.) : Fremde und Fremd - Sein, S. 9–22. Bergmann, Werner : Ein Versuch, die extreme Rechte als soziale Bewegung zu beschreiben. In : ders./ Erb, Rainer ( Hg.) : Neonazismus und rechte Subkultur, Berlin 1994, S. 183–207. –: Pogrome. Eine spezifische Form kollektiver Gewalt. In : Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50 (1998), S. 644–665. – : Pogrome. In : Heitmeyer, Wilhelm / Hagan, John ( Hg.) : Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 441–461. Bessel, Richard / Jessen, Ralph ( Hg.) : Die Grenzen der Diktatur. Staat und Gesellschaft in der DDR, Göttingen 1996. Beyer, Heidemarie : Entwicklung des Ausländerrechts in der DDR. In : Heßler ( Hg.) : Zwischen Nationalstaat und multikultureller Gesellschaft, S. 211–227. Biernath, Peter : Hoyerswerda–architektour. Stadt–Bau–Kunst, Hoyerswerda 2005. Borchers, Andreas : Neue Nazis im Osten. Hintergründe und Fakten, Weinheim 1992. Bredel, Holger : Skinheads – Gefahr von rechts ? Berlin 2002. Burgheim, Joachim / Sterbling, Anton : Kriminalitätswahrnehmung und Lebenszufriedenheit. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in Hoyerswerda, Rothenburg / OL 1999. Busche - Baumann, Maria : Rechtsextremismus und die Presse. Eine inhaltsanalytische Untersuchung der Berichterstattung über den ostdeutschen Rechtsextremismus in den Tageszeitungen Berliner Zeitung und Sächsische Zeitung, Hildesheim 1994. Butterwegge, Christoph : Rechtsextremismus, Rassismus und Gewalt. Erklärungsmodelle in der Diskussion, Darmstadt 1996.

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Kartenverzeichnis

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4. Verzeichnis der Diagramme Diagramm 1 : Bevölkerungsentwicklung Stadt Hoyerswerda 1955–1990 Diagramm 2 : Absolute Arbeitslosenzahlen Kreis Hoyerswerda Sept. 1990–Dez. 1991

Seite 42 54

5. Abbildungsverzeichnis Seite Bild 1 : Bild 2 : Bild 3 :

Blick auf die Menge in der Albert - Schweitzer - Straße. Wolfgang Moose. In : Sächsische Zeitung vom 19.9.1991 Schaulustige in der Albert - Schweitzer - Straße. Wolfgang Moose. In : Sächsische Zeitung vom 19.9.1991 Schaulustige in der Albert - Schweitzer - Straße. Wolfgang Moose. In : Hoyerswerdaer Wochenblatt vom 20.9.1991

170 200 202

6. Kartenverzeichnis Seite Karte 1 : Stadtgebiet Hoyerswerdas 1954 (dunkle Fläche : Die Altstadt von Hoyerswerda, unausgefüllte Umrisse : Klein - Neida, ein Ort, der 1959 zu Hoyerswerda eingemeindet wurde.) Vom Verfasser überarbeitete Karte, Original in : Biernath, Peter ( Hg.) : architektour. Stadt – Bau – Kunst, Hoyerswerda 2005, S. 6 Karte 2 : Erweitertes Stadtgebiet nach dem Bebauungsplan 1957 Biernath, Peter ( Hg.) : architektour. Stadt – Bau – Kunst, Hoyerswerda 2005, S. 6 Karte 3 : Erweitertes Stadtgebiet nach dem Bebauungsplan 1957 Biernath, Peter ( Hg.) : architektour. Stadt – Bau – Kunst, Hoyerswerda 2005, S. 18 Karte 4 : Die Hoyerswerdaer Wohngebiete um 1990 Vom Verfasser überarbeitete Karte, Original in : Biernath, Peter ( Hg.) : architektour. Stadt – Bau – Kunst, Hoyerswerda 2005, S. 5

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Anhang

7. Abkürzungsverzeichnis ABM ABV AfNS AG APuZ AWH BBS BGB BGS BKW BRD BStU CDU ČSSR DA DDR DVP DVU ESPAG FAP FAZ FDJ FDP FKO GMS GSP HBE HJ IM IMS IWK KPD KSP KZ LR MfS NDO NF NPD NSDAP NSW

Arbeitsbeschaffungsmaßnahme Abschnittsbevollmächtigter Amt für Nationale Sicherheit Arbeitsgemeinschaft Aus Politik und Zeitgeschichte Arbeiterwohnheim Betriebsberufsschule Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgrenzschutz Braunkohlewerk Bundesrepublik Deutschland Bundesbeauftragte / r für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Christlich Demokratische Union Deutschlands Tschechoslowakische Sozialistische Republik Deutschland Archiv Deutsche Demokratische Republik Deutsche Volkspolizei Deutsche Volksunion Energiewerke Schwarze Pumpe Aktiengesellschaft Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Deutsche Jugend Freie Demokratische Partei der Bundesrepublik Deutschland Freizeit - Komplex - Ost Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit Gaskombinat Schwarze Pumpe Haus der Berg - und Energiearbeiter Hitler - Jugend Inoffizieller Mitarbeiter Inoffizieller Mitarbeiter zur Sicherung und Durchdringung eines Verantwortungsbereiches Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz der Arbeiterbewegung Kommunistische Partei Deutschlands Kombinat Schwarze Pumpe Konzentrationslager Lausitzer Rundschau Ministerium für Staatssicherheit Neue Deutsche Ordnung National Front Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nicht - Sozialistisches Wirtschaftsgebiet

Personenverzeichnis

ONAMO PDS POS RAA RAF RGW RIM SA SED SHARP SPD SZ taz VR WBK WK WT

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Office National Algérien de Main d’Œuvre Partei des Demokratischen Sozialismus Polytechnische Oberschule Regionale Arbeitsstelle für Ausländerfragen, Jugend und Schule Rote Armee Fraktion Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe Revolutionäre Internationalistische Bewegung Sturm - Abteilung Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Skinheads Against Racial Prejudice ( Skinheads gegen rassistische Vorurteile ) Sozialdemokratische Partei Deutschlands Sächsische Zeitung Die Tageszeitung Volksrepublik Wohnungsbaukombinat Wohnkomplex Werktätiger