Was ist Behinderung?: Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen vom Mittelalter bis zur Postmoderne 9783839453339

The concept of disability does not adequately reflect human diversity, but conveys the image of an apparently homogeneou

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German Pages 270 Year 2020

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Inhalt
Danksagung
Vorwort
Einleitung und Gliederung
1. Modelle von Behinderung
1.1 Medizinisches Modell von Behinderung
1.2 Soziales Modell von Behinderung
1.3 Kulturelles Modell von Behinderung
1.4 WHO-Modell von Behinderung (ICF-Modell)
2. Der deutsche Behinderungsbegriff
2.1 Juristische Definition und Etymologie
2.2 Entwicklung des Begriffs der körperlichen Behinderung
2.3 Entwicklung des Begriffs der geistigen Behinderung
2.4 Weitere Begriffsentwicklung in der Nachkriegszeit
2.5 Gesellschaftliche Implikationen der Begriffsentwicklung
2.6 Zur Vielschichtigkeit des deutschen Behinderungsbegriffsund Festlegung des Behinderungsverständnisses dieser Arbeit
3. Konzeptualisierung und methodische Vorgehensweise
3.1 Gegenstand der Untersuchung
3.2 Definition von Behinderungsprozessen
3.3 Konzeptualisierung von Behinderungsprozessen
3.4 Fragestellungen
3.5 Theoretisches Konzept
4. Menschen mit Funktionseinschränkungenim Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert
4.1 Mittelalterliche Gesellschaftsstruktur und Mentalitäten
4.2 Wahrnehmung von Devianz und körperlicher Differenz
4.3 Religiöse und medizinische Vorstellungen bezüglich Krankheitund Funktionseinschränkung
4.4 Institutionalisierte Reaktionen auf kranke und funktionseingeschränkte Menschen
4.5 Zusammenfassung und weiterführende Reflexionen
5. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Moderne (18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts)
5.1 Entwicklung moderner Gesellschaftsstrukturen und Mentalitäten
5.2 Wahrnehmung von Devianz und körperlicher Differenz
5.3 Naturwissenschaftliche Vorstellungen bezüglich Krankheitund Funktionseinschränkung
5.4 Institutionalisierte Reaktionen auf kranke und funktionseingeschränkte Menschen
5.5 Zusammenfassung und weiterführende Reflexionen
6. Gesellschaftliche Konstruktion von Normalität und Abweichung
7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)
7.1 Postbürgerliche Gesellschaftsstrukturen und Mentalitäten
7.2 Wahrnehmung von Devianz und körperlicher Differenz
7.3 Bewertung von Menschen mit Funktionseinschränkungenals Rechtssubjekte
7.4 Institutionalisierte Reaktionen auf (potenziell) krankeund funktionseingeschränkte Menschen
7.5 Zusammenfassung und weiterführende Reflexionen
8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungenund persönliche Reflexionen
8.1 Bestimmung der Richtung von Behinderungsprozessen
8.2 Exkurs: »Apokryphen« des wissenschaftlichen Methodenkanonsund Reflexion des eigenen Involvierungsgrads
8.3 Die Modelle von Behinderung und der Behinderungsbegriffin der Retrospektive
8.4 Ein prospektiver Blick
Literatur- und Quellenverzeichnis
Anhang
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Was ist Behinderung?: Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen vom Mittelalter bis zur Postmoderne
 9783839453339

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Christoph Egen Was ist Behinderung?

Medical Humanities  | Band 7

Für meinen Bruder Markus, dessen Unfall sein und mein Leben veränderte und letztendlich zu dieser Veröffentlichung geführt hat.

Christoph Egen (Dipl.-Soz.-Wiss. und Dipl.-Päd.) arbeitet als Klinikmanager und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Klinik für Rehabilitationsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover sowie als Lehrbeauftragter des Instituts für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover. Im Jahr 2017 erhielt er im Rahmen seiner soziologischen Promotion ein Norbert-Elias-Stipendium zur Recherche in unveröffentlichten Werken von Norbert Elias im Deutschen Literaturarchiv in Marbach.

Christoph Egen

Was ist Behinderung? Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen vom Mittelalter bis zur Postmoderne

Zugl.: Dissertation, Leibniz Universität Hannover, 2020 Originaltitel der Dissertation: »Zur Sozio- und Psychogenese von Behinderungsprozessen vom Mittelalter bis zur Postmoderne. Menschen im Spannungsfeld zwischen Normalität und Abweichung«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Marion Wolters-Kreth, Salzhemmendorf-Osterwald Lektorat: Gunnar Kutsche, Hannover Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5333-5 PDF-ISBN 978-3-8394-5333-9 https://doi.org/10.14361/9783839453339 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download

Inhalt

Danksagung .............................................................................. 9 Vorwort ..................................................................................13 Einleitung und Gliederung ................................................................ 17 1. 1.1 1.2 1.3 1.4

Modelle von Behinderung .......................................................... 23 Medizinisches Modell von Behinderung .............................................................. 23 Soziales Modell von Behinderung.......................................................................26 Kulturelles Modell von Behinderung................................................................... 32 WHO-Modell von Behinderung (ICF-Modell) .......................................................... 35

2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

Der deutsche Behinderungsbegriff................................................. 43 Juristische Definition und Etymologie ............................................................... 43 Entwicklung des Begriffs der körperlichen Behinderung ........................................45 Entwicklung des Begriffs der geistigen Behinderung ............................................. 49 Weitere Begriffsentwicklung in der Nachkriegszeit ...............................................52 Gesellschaftliche Implikationen der Begriffsentwicklung....................................... 53 Zur Vielschichtigkeit des deutschen Behinderungsbegriffs und Festlegung des Behinderungsverständnisses dieser Arbeit ...............................54

3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5

Konzeptualisierung und methodische Vorgehensweise ............................ 59 Gegenstand der Untersuchung..........................................................................59 Definition von Behinderungsprozessen ...............................................................60 Konzeptualisierung von Behinderungsprozessen ..................................................62 Fragestellungen ............................................................................................ 68 Theoretisches Konzept....................................................................................69

4.

Menschen mit Funktionseinschränkungen im Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert ............................................. 77 Mittelalterliche Gesellschaftsstruktur und Mentalitäten .......................................... 77

4.1

4.2 Wahrnehmung von Devianz und körperlicher Differenz ......................................... 80 4.3 Religiöse und medizinische Vorstellungen bezüglich Krankheit und Funktionseinschränkung........................................................................... 85 4.4 Institutionalisierte Reaktionen auf kranke und funktionseingeschränkte Menschen.... 93 4.5 Zusammenfassung und weiterführende Reflexionen............................................ 103 5.

5.4 5.5

Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Moderne (18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts) .............................................. 109 Entwicklung moderner Gesellschaftsstrukturen und Mentalitäten............................109 Wahrnehmung von Devianz und körperlicher Differenz ......................................... 117 Naturwissenschaftliche Vorstellungen bezüglich Krankheit und Funktionseinschränkung...........................................................................128 Institutionalisierte Reaktionen auf kranke und funktionseingeschränkte Menschen.... 146 Zusammenfassung und weiterführende Reflexionen............................................. 154

6.

Gesellschaftliche Konstruktion von Normalität und Abweichung .................. 165

5.1 5.2 5.3

7.

Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart).................................................... 171 7.1 Postbürgerliche Gesellschaftsstrukturen und Mentalitäten .................................... 171 7.2 Wahrnehmung von Devianz und körperlicher Differenz ......................................... 177 7.3 Bewertung von Menschen mit Funktionseinschränkungen als Rechtssubjekte .......................................................................................185 7.4 Institutionalisierte Reaktionen auf (potenziell) kranke und funktionseingeschränkte Menschen ............................................................ 191 7.5 Zusammenfassung und weiterführende Reflexionen............................................ 202 8.

Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen ...................................................... 209 8.1 Bestimmung der Richtung von Behinderungsprozessen ........................................ 210 8.2 Exkurs: »Apokryphen« des wissenschaftlichen Methodenkanons und Reflexion des eigenen Involvierungsgrads ................................................... 223 8.3 Die Modelle von Behinderung und der Behinderungsbegriff in der Retrospektive ..................................................................................... 232 8.4 Ein prospektiver Blick ................................................................................... 235 Literatur- und Quellenverzeichnis ...................................................... 239 Anhang ................................................................................. 267

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildung 1 : Krankheitsfolgemodell der ICIDH...............................................................25 Abbildung 2: Anknüpfungspunkt des Medizinischen und des Sozialen Modells ..................... 29 Abbildung 3: ICF-Modell .......................................................................................... 38 Abbildung 4: Achse der Funktionsfähigkeit und Behinderung...........................................39 Abbildung 5: Konzeptualisierung von Be- und Enthinderungsprozessen ............................. 68 Abbildung 6: Darstellung einer Krankenstation im Hôtel-Dieu (16. Jahrhundert) ................... 94 Abbildung 7: Allegorische Darstellung der Ständeordnung in Deutschland im 17. Jahrhundert von Gerhard Altzenbach .........................................................102 Tabelle 1: Gegenüberstellung der Behinderungsmodelle ................................................ 35 Tabelle 2: Terminologie der ICF ................................................................................ 37 Tabelle 3: Auszählung der Begrifflichkeiten mit denen in der Bibel Menschen mit Funktionsonseinschränkungen bezeichnet werden .......................................... 267

»Die soziale Existenz von Menschen ist nicht zuletzt auch abhängig von dem Bild, das Menschen voneinander haben, von dem Sinn und Wert, den sie einander zuschreiben« Norbert Elias

Danksagung

Eine Danksagung ist immer mit der Schwierigkeit verbunden, einen Anfang und ein Ende zu finden. So ist die Reihenfolge der Auflistung nicht als Bewertung zu lesen, sondern sie orientiert sich eher (aber nicht immer) an der zeitliche Abfolge der Unterstützungen. Der Deutschen Schillergesellschaft (Marbach am Neckar) und der NorbertElias-Stiftung (Amsterdam) danke ich für ein zweimonatiges Stipendium mit einem fruchtbaren Aufenthalt im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar. Hier gilt mein Dank vor allem Herrn PD Dr. Marcel Lepper sowie Frau Gerhild Kölling für die sehr gute und freundliche Betreuung vor Ort. Zwar konnte ich zu meinem Leidwesen sowohl in den Veröffentlichungen als auch im unveröffentlichten Nachlass von Norbert Elias kaum explizite Hinweise zu meinem Thema finden, dennoch war das Lesen der Manuskripte für meine Arbeit sehr bereichernd. Die Zeit, die mir in Marbach zur Verfügung gestellt wurde, hatte für mich eine Impulswirkung – ohne die ich meine Promotion nicht beendet hätte. Generell ist Reflexionszeit ein äußerst kostbares Gut, das in heutigen Strukturen von Studiengängen und auch im Wissenschaftsbetrieb kaum angemessene Berücksichtigung findet. Eine der wenigen direkten und persönlichen Äußerungen von Elias zum Thema »Behinderung« verdanke ich Herrn Dr. Adrian Jitschin von der Norbert-EliasStiftung. Am 01.02.1989 schrieb Elias in einem Brief an einen Freund, der ihm zuvor die Intensivität der Betreuung seines behinderten Sohns schilderte: »Carl macht Ihnen sicherlich viel Sorgen und Mühen, aber die Natur ist eine mitleidlose Dame«. Dieser Satz zeigt sehr deutlich, wie hilflos sich Elias gegenüber dem Phänomen der Behinderung positionierte. Behinderung war für ihn scheinbar eine Widrigkeit der Natur, mit der man sich eben arrangieren muss. Ansonsten scheint Elias das Thema mehr oder weniger ausgeklammert zu haben, allerdings können seine Ansichten und seine Denkweise anregend auf das Thema wirken – wie die folgende Arbeit hoffentlich zeigt. Herrn Dr. Adrian Jitschin danke ich zudem für seine zahlreichen konstruktiven Verbesserungsvorschläge und Anmerkungen vor allem hinsichtlich der Beschrei-

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Was ist Behinderung?

bung der Methodik von Norbert Elias – zu der bislang kein expliziter Fachartikel oder eigenes Buchkapitel existiert. Danken möchte ich auch meinem Betreuer, Herrn Professor Dr. Hans-Peter Waldhoff, für seine wertvollen und weiterführenden Hinweise, meinem Arbeitgeber, der Klinik für Rehabilitationsmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover, und vor allem meinem Vorgesetzten, Herrn Professor Dr. Christoph Gutenbrunner, dafür, dass ich im Rahmen der zweimonatigen Auszeit in Marbach sowie einer sechsmonatigen Stellenreduktion intensiv an meiner Promotion arbeiten konnte, gleichwohl ich damit meinen Kolleg*innen eine deutliche Mehrbelastung aufgebürdet habe. Frau Professorin Dr. Bettina Lindmeier gilt mein besonderer Dank für ihre außerordentlich vielfältigen, fundierten und detaillierten Anmerkungen und Gedankenanregungen sowie für ihre tatkräftige und spontane Unterstützung auch bei der Erfüllung administrativer Vorgaben im heutigen Universitätsbetrieb. Ohne Ihre Hilfe, wäre die Arbeit – wenn überhaupt – nur mit sehr großer Verzögerung zum Abschluss gekommen. Mein herzlicher Dank gilt Frau Christina Hage, die mich in vielen Diskussionen und besonders in Momenten der Ratlosigkeit und Niedergeschlagenheit wieder aufbaute und die mit ihren Korrekturvorschlägen und Hinweisen meinen manchmal diffusen Gedankengängen wieder eine Zielrichtung gab. Auch mein Hang zur kreativen Rechtschreibung erhielt dankenswerter Weise durch sie eine für den Leser fruchtbare Zensur, die durch meinen Lektor, Herrn Gunnar Kutsche, noch im kleinsten Detail korrigiert wurde – auch bei ihm bedanke ich mich recht herzlich. Eine weitere treue Leserin der ersten Stunde war Frau Hana Bezouska, der ich ebenfalls an dieser Stelle für Ihre stets aufbauenden Worte danken möchte. »Meiner« sozialwissenschaftlichen Bibliothek (Theodor-Lessing-Haus) der Leibniz Universität Hannover möchte ich für die sehr angenehme Arbeitsatmosphäre und die schnelle Anschaffung von Literatur ganz herzlich danken. Leider ist hier ein sukzessiver Verfall der Bausubstanz seit den Anfängen meiner Studienzeit 2003 nicht zu leugnen. Auch ist die Möblierung ergonomisch für eine moderne Bibliothek kaum mehr angemessen, so dass mir eine Investition in die Infrastruktur als dringend geboten erscheint, nicht zuletzt zugunsten der wachsenden Bedeutung der Sozialwissenschaften. Meinen Eltern danke ich dafür, dass sie mir mein Studium ermöglichten und mir vertrauten, dass ich einen für mich richtigen Weg einschlagen würde. Meiner Nachbarin Frau Marion Wolters-Kreth danke ich für das wundervolle Titelbild, das sie genauso entwarf, wie ich es bereits während des Schreibprozesses vor meinem geistigen Auge gesehen hatte. Das Originalbild findet sich in dem Buch »Orthopädie oder die Kunst, bey den Kindern die Ungestaltheit des Leibes zu verhüten und zu verbessern: Alles durch solche Mittel, welche in der Vater und Mutter, und aller der Personen Vermögen sind, welche Kinder zu erziehen haben«

Danksagung

des französischen Mediziners Nicolas Andry de Boisregard von 1741 und wurde hier wenig, aber an entscheidender Stelle verändert. Die Bedeutung des veränderten Bildes überlasse ich der Interpretations- und Reflexionsfähigkeit des Betrachters.

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Vorwort

Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen beschreibt Menschen mit Behinderungen als »Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können« (UN-BRK 2006), und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert »Behinderung als Oberbegriff für Schädigungen, Beeinträchtigungen der Aktivität und Beeinträchtigung der Partizipation (Teilhabe)« (WHO 2001). Im World Report on Disability der WHO wurde der Behinderungsbegriff wie folgt beschrieben: »Disability is the umbrella term for impairments, activity limitations and participation restrictions, referring to the negative aspects of the interaction between an individual (with a health condition) and that individual’s contextual factors (environmental and personal factors)« (WHO 2011). Ist damit alles gesagt? Bei weitem nicht! In der Gesellschaft und insbesondere im pädagogischen und medizinischen Bereich finden nach wie vor intensive und teilweise sehr kontroverse Diskussionen darüber statt, was Behinderung ist und wie mit diesem »Phänomen« (Lindmeier 1993) umzugehen sei. Diskutiert werden – meistens fachspezifisch – unter anderem folgende Fragestellungen: • • • • •

Wie sind Menschen mit Behinderungen von Menschen ohne Behinderungen zu differenzieren? Wer entscheidet hierüber? Wie wird innerhalb dieser machtvollen Normierungsprozesse Behinderung hergestellt? Stellt die Rehabilitation eine passende Gesundheitsstrategie oder Maßnahme dar, um Behinderung zu reduzieren und die Funktionsfähigkeit zu erhöhen? In welchem Zusammenhang stehen Behinderung und Identität? Wie kann die von in der UN-Behindertenrechtskonvention geforderte Inklusion operationalisiert werden?

Bei näherer Betrachtung dieser und weiterer Fragestellungen kristallisiert sich das Phänomen der Behinderung deutlich als ein interdisziplinäres Querschnittthema

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Was ist Behinderung?

mit hoher gesellschaftlicher Relevanz heraus. Dabei hängt die Frage, was unter Behinderung konkret verstanden wird, entscheidend von der fachlichen Sichtweise ab. Christoph Egen spricht von Behinderung, wenn Menschen aufgrund einer Funktionseinschränkung abgewertet und/oder ausgegrenzt werden. Es geht ihm um soziale Prozesse der Abwertung und Ausgrenzung, also um Behinderungsprozesse, nicht um die äußerst vielfältigen körperlichen und/oder geistigen Funktionseinschränkungen als solche. Christoph Egen analysiert dementsprechend unter inhaltlicher und methodischer Bezugnahme auf Norbert Elias, wie sich soziale und in Verschränkung damit auch psychische Konstitution von Behinderung über eine längere Zeitspanne der mitteleuropäischen Geschichte hinweg vollziehen. Die soziologische Prozesstheorie von Elias ist ausgezeichnet dafür geeignet, miteinander verschränkte Entwicklungen sozialer Strukturen, Machtverhältnisse und Verhaltensformen über einen längeren Zeitraum zu analysieren und lässt sich für ein tiefergehendes Verständnis von Behinderungsprozessen besonders fruchtbar anwenden, da diese in komplexer Form »biopsychosozial« (WHO 2001) angelegt sind: Nicht nur sind die Denkund Verhaltensmuster als psychische Prozesse, mit denen Menschen verschiedener Epochen auf Erkrankungen und daraus folgende Schädigungen bzw. Funktionseinschränkungen reagieren, mit den sozialen Entwicklungen verbunden – bereits die Wahrnehmung als Abweichung kann sich über längere Zeitspannen hinweg deutlich verändern. Zivilisationsgeschichtlich lassen sich so unterschiedliche Formen der Wahrnehmung und Erklärung ebenso wie der medizinischen und sozialen Behandlung und von Zugehörigkeits- und Ausgrenzungspraktiken erkennen. Dem Elias’schen Modell der Sozio- und Psychogenese folgend analysiert Christoph Egen, wie von gesellschaftlichen Strömungen, beispielsweise der eugenischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts, innerhalb eines kurzen Zeitraums behindertenfeindliche Verhaltensweisen einzelner Personen bzw. Personengruppen in Erscheinung traten und vernichtende Züge annahmen. Diese Behindertenfeindlichkeit ist im Menschenbild der Moderne tief verwurzelt – genährt auch oder vor allem durch eine scheinbar wertfreie Wissenschaft. Aus den damals verwendeten und scheinbar kaum kritisierten Begrifflichkeiten wie »leere Menschenhüllen« oder »Ballastexistenzen« leitet Christoph Egen eine deutliche soziologische Warnung ab, wenn er schreibt: »Aus der Analyse der Vergangenheit ist zu erkennen, dass dramatischen sozio-kulturellen Veränderungen scheinbar immer sprachlichbegriffliche Änderungsprozesse vorausgehen, so geht auch hier mit den trennenden Begrifflichkeiten eine topographisch-reale soziale Ausgrenzung der mit diesen neuen Begriffen bezeichneten Menschen einher«. Eine weitere Erkenntnis des Buches ist, dass die Fragilität und Unkontrollierbarkeit menschlichen Lebens prinzipiell Ohnmachtsgefühle provoziert, die in der Moderne mit gesellschaftlichen Kontroll- und Allmachtsphantasien bekämpft wurden und zum Teil noch werden: zunächst durch Kasernierung (Absonderung), dann

Vorwort

durch staatlich angeordnete Sterilisierung und Euthanasie (Tötung) und in der Postmoderne durch privatisierte Anwendung pränataler biomedizinischer Selektionsmöglichkeiten. Die Arbeit könnte für manche Leserinnen und Leser provozierend wirken, da sie der gängigen Annahme des gesellschaftlichen Fortschrittes ebenso zuwiderläuft wie der oberflächlichen Forderung nach der »Wertschätzung von Vielfalt«. Diese Arbeit setzt solchem Denken eine Analyse entgegen, die zeigt, dass Abwertungsprozesse tief in soziale und psychische Strukturen eingelagert sind. Sie lädt allerdings ebenfalls zu einer Auseinandersetzung darüber ein, dass Leben immer Risiko bedeutet und wir mit den damit verbundenen Ohnmachtsgefühlen umzugehen lernen müssen. Aus dieser historisch-sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise ergeben sich somit wichtige Erkenntnisse, aber auch neue weiterführende Fragen: •



Ist es richtig nach einem allgemeingültigen Begriff der Behinderung zu suchen, oder ist es vielmehr notwendig, Behinderung in verschiedenen Kontexten, wie z.B. in der Medizin, im Rechtssystem, in der Pädagogik oder im Sozialsystem differenziert zu beschreiben? Ist es adäquat, sich vertiefend ausschließlich mit Faktoren, die zu Behinderung führen oder diese verstärken, zu beschäftigen, oder müsste nicht vielmehr nach Faktoren gesucht werden, die Behinderung minimieren und »Enthinderungsprozesse« in Gang setzen können?

Das vorliegende Buch liefert einen wichtigen Beitrag zu einer historisch bewussten weiterführenden Reflexion des Behinderungsbegriffs und den Umgang mit dem »Phänomen« der Behinderung aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Professorin Dr. phil. Bettina Lindmeier Professor Dr. med. Christoph Gutenbrunner

Literatur Lindmeier, Christian (1993): Behinderung – Phänomen oder Faktum?, Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt. UN-BRK (2006): General Assembly. Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD). Resolution 61/106, New York. [Deutsche Übersetzung: Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Bundesgesetzblatt Jahrgang 2008 Teil II Nr. 35, ausgegeben zu Bonn am 31. Dezember 2008]. WHO (2001): International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF), Geneva: World Health Organization. WHO & World Bank (2011): World Report on Disability, Geneva: World Health Organization.

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Einleitung und Gliederung »Zur Aussetzung oder dem Aufziehen der Neugeborenen soll ein Gesetz vorschreiben, dass man kein deformiertes Kind aufziehen darf« Aristoteles   »Chancengleichheit besteht nicht darin, dass jeder einen Apfel pflücken darf, sondern dass der Zwerg eine Leiter bekommt« Reinhard Turre

Weltweit leben immer mehr Menschen mit Behinderungen und die Tendenz ist weiterhin steigend.1 Zum einen kommt es in der Folge der demographischen Entwicklung zu einem Zuwachs an älteren Menschen, die dauerhaft mit altersspezifischen Behinderungen leben (vgl. WHO & Weltbank 2011: 3), zum anderen ist die Wahrscheinlichkeit, einen schweren Unfall oder eine schwere akute Erkrankung zu überleben, aufgrund des medizinischen und technischen Fortschritts heute höher als jemals zuvor. Doch bei allem medizinischen und technischen Fortschritt bleiben viele Menschen nach einem Unfall oder einer schweren Erkrankung dauerhaft eingeschränkt und gelten – zumindest in Deutschland – nach der derzeit gültigen juristischen Definition des Sozialgesetzbuchs IX als »behindert«, auch wenn sie sich selbst vielleicht nicht mit diesem Terminus bezeichnen würden. Die Wahrscheinlichkeit, dass man früher oder später selbst vorübergehend oder dauerhaft mit einer Behinderung leben wird, ist demzufolge relativ hoch2 , und trotzdem ist 1 2

Laut WHO & Weltbank haben weltweit etwa 15,6 % der Menschen über 15 Jahren eine Behinderung (WHO & Weltbank 2011: 44). Insbesondere die Tatsache, dass gegenwärtig immer mehr Menschen ein hohes Alter erreichen, das häufig mit entsprechenden körperlichen und/oder geistigen Funktionseinschränkungen einhergeht, verdeutlicht vor allem für diese Menschen, wie fließend die Übergänge zwischen Gesundheit, Krankheit und/oder Behinderung sind; die amerikanische Behinderungsbewegung bezeichnet den Zustand eines »Nicht-Behinderten« daher als »temporarily abled« – also »vorübergehend fähig« bzw. »zeitweise nicht behindert« (vgl. Tervooren 2002: 5).

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Was ist Behinderung?

Behinderung ein Thema, das – wie beispielsweise auch die Auseinandersetzung mit Sterben und Tod – gern aus dem menschlichen Bewusstsein verdrängt wird und somit auch relativ wenig Raum in Öffentlichkeit und Wissenschaft einnimmt (vgl. Garland-Thomson 2003: 422; Kastl 2017: 3; Waldhoff 2019). Im wissenschaftlichen Diskurs wird das Phänomen der »Behinderung« ebenfalls als ein Randthema spezialisierter Wissenschaftszweige behandelt, obwohl es für die Gegenwart und Zukunft aller Wahrscheinlichkeit nach von erheblicher Bedeutung ist und daher stärker in den Fokus des allgemeinen wissenschaftlichen Interesses rücken sollte – was mit der zunehmenden Etablierung der Disability Studies auch allmählich geschieht. Menschen setzen sich vermutlich seit jeher mit der Frage auseinander, ob und wie Menschen mit Behinderungen unterstützt werden sollen und können. Die Frage nach der institutionalisierten Integration bzw. Inklusion von Menschen mit Behinderung in eine Gesellschaft, in der sie geboren und aufgewachsen sind, ist jedoch relativ modern und sagt etwas über die Gesellschaft aus, in der diese Frage gestellt wird: Wenn ein Prozess der Integration angestrebt wird, muss ein Prozess der Exklusion vorausgegangen sein, und hierzu ist eine Trennung von Menschen in bestimmte Gruppen notwendig. Gesellschaften ziehen häufig Grenzen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, und je nachdem auf welcher Seite dieser Grenze man steht, fallen die gesellschaftlichen Reaktionen aus. Vor allem in der Vergangenheit waren diese Reaktionen kontrovers und oftmals tödlich: Die Propheten im Alten Testament warnten vor Menschen mit Behinderungen, im »antiken Griechenland und in Rom hat man mißgestaltete Kinder umgebracht, Luther wollte ein behindertes Kind in der Mulde ertränken, im Hitlerdeutschland wurde die Vernichtung »unwerten Lebens« perfektioniert, und niemand wird ernsthaft bestreiten, daß […] behinderte Menschen auch heute noch einer manchmal erschreckenden Ablehnung und Diskriminierung durch Nichtbehinderte ausgesetzt sind.« (Cloerkes 1980: 1; Weglassung in Klammern C.E.) Gesellschaftliche Reaktionen hängen davon ab, welcher Wert Menschen, die von einer postulierten gesellschaftlichen Norm abweichen, zugesprochen wird. Verändert sich die Norm, gelangen auf einmal Menschen in den Bereich der Abweichung, die dort vor der »Normverschiebung« nicht gewesen wären. Die Beschäftigung mit dem Phänomen der »Behinderung« ist folglich ein Thema der gesellschaftlichen Grenzziehung zwischen »Normalität« und »Abweichung«

Behinderung ist so gesehen eine der universellen Erfahrungen der Mehrheit der Menschen oder, wie es ein Behindertenrechtsaktivist auf einer Tagung formulierte: »We are 500 million strong and growing. Come back in twenty years and a lot of you will be with us!« (zitiert nach Davis 1995: XV)

Einleitung und Gliederung

und – aus dieser Perspektive betrachtet – in erster Linie ein soziologisches oder kulturwissenschaftliches Thema (vgl. Waldschmidt 2004a: 154). Dennoch unterscheidet es sich sehr deutlich von anderen soziologischen Themenfeldern: Weder existiert eine allgemeingültige Definition des Behinderungsbegriffs noch eine Theorie der Behinderung. Zudem ist der Personenkreis, der unter diesem Begriff subsumiert wird, zwar juristisch klar beschrieben, soziologisch und vor allem historisch dagegen kaum oder nur sehr schwer fassbar. Aufgrund dieser Komplexität ist ein klassischer wissenschaftlicher Aufbau der Untersuchung aus Sicht des Autors kaum realisierbar, daher wird – wie in den folgenden Kapiteln erkennbar – eine alternative thematische Annäherung gewählt. Das Hauptziel der vorliegenden Untersuchung ist die Beschreibung und Erklärung von Behinderungsprozessen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, schwerpunktmäßig, wenn auch nicht ausschließlich, auf dem geographischen Gebiet der heutigen Bundesrepublik. Behinderungsprozesse werden dabei als diejenigen sozialen Prozesse begriffen, die dazu führen, Menschen aufgrund ihrer Gebrechlichkeit, Einschränkung oder Schädigung abzuwerten und auszugrenzen, und sie schließlich im Spannungsfeld zwischen Normalität und Abweichung in den Bereich der Abweichung zu »verbannen«. Ein weiteres Ziel besteht darin, ein wenig dazu beizutragen, die sozialen Prozesse, die zum Phänomen der »Behinderung« führen, besser zu verstehen, mit der Intention, einen Impuls für weitere Theorieentwicklung zu leisten. Die fehlende Theorieentwicklung ist sicher auch ein Grund dafür, Behinderung als ein Randthema im wissenschaftlichen Mainstream zu behandeln; diskutiert werden hingegen Modelle von Behinderung. Modelle müssen zwar logisch, jedoch nicht zwingend empirisch nachvollziehbar sein – sie haben in der Regel einen eher hypothetischen, häufig auch rein heuristischen Charakter (vgl. Wienold 1978: 515). Die Modellbildung ist daher nach Waldschmidt (2005) zwar »hilfreich zur Entwicklung einer eigenen Perspektive, sie kann aber Theoriebildung nicht ersetzen« (Waldschmidt 2005: 28). Modellbildung bedeutet immer eine Reduktion von Komplexität; eine theoretische Fundierung wäre aus diesem Grunde sicher hilfreich, dass komplexe Thema »Behinderung« begreifbarer zu machen.

Zur Gliederung der Arbeit Da die Auseinandersetzung der verschiedenen Fachdisziplinen mit dem Phänomen der Behinderung zu verschiedenen Modellen von Behinderung führte und diese eine besondere Bedeutung für das Verständnis des Behinderungsbegriffs der Arbeit haben, werden sie im 1. Kapitel dargestellt. Im 2. Kapitel wird auf die Geschichte des juristischen Behinderungsbegriffs in Deutschland eingegangen, die Vielschichtigkeit dieses Begriffs beleuchtet und das hier verwendete Behinderungsverständnis herausgearbeitet. Das 3. Kapitel beschäftigt sich mit den Fragestellungen und

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Was ist Behinderung?

der methodischen Vorgehensweise, die sich an der Elias’schen Prozesssoziologie orientiert. Der Weg bis zum 3. Kapitel mag für eine wissenschaftliche Arbeit auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen. Aufgrund der Komplexität des Gegenstandes soll eine ausführliche thematische Einführung dazu beitragen, das Phänomen und die damit verbundenen problematischen Aspekte zu erkennen, da sich daraus erst die Fragestellungen entwickelt haben. Die umfangreichen einleitenden Kapitel sind ebenfalls vor dem Hintergrund zu verstehen, dass der Behinderungsbegriff die Verständnisfolie der gegenwärtig lebenden Menschen bildet, von der aus das Phänomen der Behinderung betrachtet wird. Im 4. Kapitel werden Behinderungsprozesse vom Mittelalter (500 bis ca. 1500 nach Christus) bis ins 17. Jahrhundert untersucht. Dabei sei erwähnt, dass das Mittelalter keinesfalls den Nullpunkt der Entwicklung symbolisiert, doch diese Epoche als Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung auch nicht willkürlich gewählt wurde: Im Mittelalter entwickelten sich die Städte, das Bürgertum und viele institutionelle Grundlagen unseres heutigen Staates, so dass das Mittelalter mehr als jede andere Epoche als Prägestempel der Gegenwart angesehen werden kann (vgl. Le Goff & Truong 2007: 33). Zudem ist das Mittelalter im Gegensatz zur Antike hinsichtlich der Thematik bereits vergleichsweise gut erforscht. Da das Ziel dieser Arbeit nicht in der Auswertung historischer altdeutscher oder lateinischer Primärquellen liegt, wird in diesem Kapitel vor allem Bezug auf die Forschungen der Disability History, der deutschen Mentalitätsgeschichte, der französischen Annales-Schule sowie der deutschen Randgruppenforschung genommen. Das 5. Kapitel behandelt die Behinderungsprozesse in der Moderne (18. bis Mitte 20. Jahrhunderts), wobei der Schwerpunkt auf der Beschreibung der Entwicklung des Bürgertums, dessen Körper- und Verhaltensvorstellungen sowie der medizinischen und am Rande auch der pädagogischen Vorstellungen über Krankheit und Behinderung liegt. Hierzu werden Autor*innen der Prozesssoziologie3 , der deutschen Mentalitätsgeschichte, Medizingeschichte, Medizinsoziologie und Pädagogik, Neueren Geschichte sowie der Disability Studies herangezogen. Die Ausführlichkeit der Darstellung der Entwicklung des Bürgertums mag hier auf dem ersten Blick befremdlich erscheinen, allerdings sind die im Bürgertum durchgesetzten Normen

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In der gesamten Arbeit sind immer wieder Quellen aus dem unveröffentlichten Nachlass von Norbert Elias zu finden, die während eines zweimonatigen Forschungsaufenthalts im Deutschen Literaturarchiv (DLA) in Marbach am Neckar gesichtet und eingearbeitet werden konnten. Alle Zitate und Vergleiche, die mit »DLA Elias« gekennzeichnet sind, beziehen sich auf diese unveröffentlichten Manuskripte und sind sowohl von der Norbert-Elias-Stiftung in Amsterdam als auch vom Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar zur Veröffentlichung freigegeben. Weitere Angaben zu den einzelnen Quellen sind dem Literaturverzeichnis zu entnehmen.

Einleitung und Gliederung

und Werte entscheidend für die Richtung der einsetzenden Behinderungsprozesse in der Moderne. Kapitel 6 stellt eine Art Zwischenkapitel dar, in dem die vorangegangenen historischen, zum großen Teil narrativen Informationen wieder auf die theoretische Ebene zurückgeführt werden und beide zu einem gemeinsamen Strang verbindet. Kapitel 7 thematisiert die Behinderungsprozesse in der Postmoderne (ab Mitte 20. Jahrhunderts bis Gegenwart). Hierbei wird argumentativ vor allem Bezug auf die Errungenschaften der Behindertenbewegung, die rechtliche Gleichstellung sowie die aktuelle Debatte der Biomedizin genommen. Quellen bilden Fachbücher und -artikel zeitgenössischer Vertreter*innen aus Soziologie, Medizin, Ethik und Disability Studies. Kapitel 4, 5 und 7 sind jeweils so gegliedert, dass zuerst die jeweilige Gesellschaftsstruktur und -mentalität beleuchtet und dann auf die drei miteinander verbundenen Ebenen der gesellschaftlichen Wahrnehmung, Bewertung von (bzw. Vorstellungen über) und Reaktion auf Krankheit und Behinderung fokussiert wird. Auch wenn gegenwärtige Definitionen Krankheit und Behinderung strikt voneinander trennen, so lässt sich vor allem mit Blick auf die Vergangenheit eine gewisse Verbindung beider in den Diskursen nicht leugnen. Auch die gegenwärtige biomedizinische Forschung unternimmt in letzter Konsequenz kaum eine begriffliche Unterscheidung. Daher ist es für den Forschungsgegenstand wichtig, beide Bereiche thematisch zu behandeln. Generell bleibt es eine weiter zu diskutierende Frage, ob eine klare begriffliche Unterscheidung von Krankheit und Behinderung – wie von den Disability Studies proklamiert – die Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung adäquat abbildet oder man nicht deutlicher Schnittmengen benennen und wissenschaftlich behandeln müsste (vgl. Kuhlmann 2003: 157). Dies ist auch eine Frage der Definition vor allem des Behinderungsbegriffs, auf die noch näher eingegangen wird. Im 8. Kapitel fließen die Erkenntnisse aller vorangegangenen Kapitel in eine prozesssoziologische Schlussfolgerung und persönliche Reflexion unter Bezugnahme ethnopsychoanalytischer Ansätze.

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1. Modelle von Behinderung

1.1

Medizinisches Modell von Behinderung

Das Medizinische Modell von Behinderung ist kein festgeschriebenes von einer bestimmten Fachrichtung explizit definiertes und verfochtenes Modell, sondern eine von Vertreter*innen der Disability Studies, den Mediziner*innen und weiteren Gesundheitsberufen pauschal unterstellte Sichtweise auf Behinderung. Diese Unterstellung basiert allerdings auf den bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gemachten Erfahrungen von behinderten Menschen mit diesen Berufsgruppen. Seit dem Aufkommen der modernen medizinischen Klassifikationen im 18. Jahrhundert bis in die 1970er Jahre war diese Perspektive nach den Disability Studies vorherrschend und bis in die 1980er Jahre die gängige Sichtweise auf das Phänomen »Behinderung«. Im Medizinischen Modell wird Behinderung als direktes Resultat einer körperlichen oder geistigen Schädigung angesehen, die aufgrund einer Verletzung oder Krankheit entstanden ist. Nach Thomas (2002) reduziert diese Sichtweise Behinderung auf eine Schädigung beziehungsweise impliziert eine synonyme Verwendung beider Begriffe: »In this »medical model« perspective, disability continues to be equated with the impairment itself – »the disability« is the impairment.« (Thomas 2002: 40) Die Schädigung bzw. das Defizit gilt es mit entsprechenden medizinisch-therapeutischen Behandlungsmethoden und/oder pädagogischer Förderung zu beseitigen oder zumindest so weit zu verbessern, dass der betreffenden Person eine »normale« Lebensführung in der Gesellschaft möglich ist – und sie quasi als rehabilitiert bezeichnet werden kann (vgl. Llewellyn & Hogan 2000: 158; Waldschmidt 2005: 17). »Hierbei wird der vermeintlich nichtbehinderte Mensch als Norm gesetzt, an der der Erfolg und Misserfolg medizinischer Bemühungen gemessen werden.« (Hermes 2006: 16) Behinderung ist nach diesem Modell ein objektiv beschreibbares, negatives Wesensmerkmal einer Person (Stigma) – hinter dem alle weiteren Eigenschaften und Fähigkeiten verblassen. Behinderung wird als schicksalhaftes und persönliches Un-

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Was ist Behinderung?

glück angesehen, das es individuell zu bewältigen gilt, daher auch die alternative Bezeichnung Individuelles Modell von Behinderung (vgl. Rommelspacher 1999: 17). Behinderung wird mit einer Krankheit gleichgesetzt, die es zu verhüten oder zu heilen gilt. Wenn dies nicht möglich ist, sollten wenigstens die mit der Krankheit verbundenen Beschwerden gelindert werden. Damit verbunden ist häufig die stereotype Gleichsetzung von Behinderung mit Leid, was die »Lebensrealität behinderter Menschen jedoch ausblendet und ihr Leben auf einen einzigen Aspekt – das vermeintliche Leiden – reduziert« (Hermes 2006: 17). Und da »Leid« in modernen Gesellschaften nicht tolerierbar ist, gilt es, dieses mit allen Mitteln zu bekämpfen – seit einigen Jahren vor allem präventiv durch biomedizinische Interventionen (vgl. ebd.). Behinderung stellt aus dieser Perspektive betrachtet ein »Problem« dar, das einer »Lösung« bedarf (vgl. Hirschberg 2009: 112). Als Operationalisierung des Medizinischen Modells gilt das sogenannte Rehabilitationsparadigma, das den behinderten Menschen als (Dauer)Patienten medizinischer Fachberufe deklariert, die ihre Anstrengungen auf die verbliebene Leistungsfähigkeit mit dem Ziel der Rehabilitation (lat.: rehabilitatio, »Wiederherstellung«) konzentrieren. Dieses, aus Sicht der Vertreter*innen der Disability Studies zumeist utopische Ziel, verfügt über ein gewisses Enttäuschungspotenzial – zumindest bei angeborenen, aber ebenso bei zahlreichen erworbenen Behinderungen –, da einseitig auf den Körper des Individuums fokussiert wird: Eine Schädigung und erst recht eine Behinderung ist nicht heilbar; sie ist im Grunde das Resultat der abgeschlossenen Heilung einer vorausgegangenen Verletzung bzw. eines erlittenen Schadens oder eines (genetischen) Defekts (vgl. Jantzen 2018: 28; Kastl 2017: 97). Die behindernden sozialen Prozesse bleiben in diesem Modell folglich weitgehend ausgeklammert: »Die Auswirkungen der Beeinträchtigung wie schlechtere Bildung und Ausbildung, schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, reduzierte Mobilität etc. werden lediglich als quasi-natürliche Konsequenzen angesehen. Mit dem medizinischen Blick auf Behinderung sind Zuschreibungen und Bewertungen verbunden. Behinderung wird gleichgesetzt mit Abnormalität, Unfähigkeit, Abhängigkeit, Unattraktivität und Passivität und wird negativ bewertet.« (Köbsell 2010: 18) Behinderte Menschen sind nach diesem Modell abhängig von Experten sowohl aus den Bereichen der Medizin als auch der Pädagogik und angewiesen auf Sozialleistungen, deren Vergabe in der Regel an soziale Kontrolle und Disziplinierung gekoppelt ist (vgl. Waldschmidt 2010: 17). Der soziale Prozess, der zu einer Behinderung führen kann beziehungsweise Menschen überhaupt erst zu »Behinderten« im engeren Sinne macht (beispielsweise Treppen für Rollstuhlfahrer, fehlende Orientierungshilfen für Blinde, inadäquat eingerichtete Arbeitsplätze, Vorurteile und entsprechendes Verhalten gegenüber behinderten Menschen) sowie die Politik, die

1. Modelle von Behinderung

das Leben behinderter Menschen »behindert«, sind nicht Gegenstand der Betrachtung (vgl. Linton 1998: 11). Diese medizinische Sichtweise manifestierte sich 1980 in der International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (vgl. WHO 1980). Zwar unterschied die Klassifikation bereits zwischen Schädigung (impairment), Fähigkeitsstörung (disability) und sozialer Benachteiligung (handicap)1 , gleichzeitig wurden jedoch sowohl die Fähigkeitsstörung als auch die soziale Beeinträchtigung kausal auf die vorhandene Krankheit bzw. Schädigung zurückgeführt (vgl. Hirschberg 2009: 48f.). Die ICIDH wird daher auch als Krankheitsfolgemodell bezeichnet (siehe Abb. 1.).

Abbildung 1: Krankheitsfolgemodell der ICIDH

Eigene Darstellung nach WHO 1980: 30

Die formulierten Einwände gegen die ICIDH bilden einen Hauptanknüpfungspunkt des Sozialen Modells. Barnes et al. (1999) äußerten vor allem vier Kritikpunkte bezüglich der ICIDH (vgl. Barnes et al. 1999: 24ff.): 1. Es werden primär medizinische Definitionen und ein einseitiger Begriff von Normalität verwendet. Die »Norm« gilt darüber hinaus als Orientierungsmaßstab für die Feststellung von Abweichungen. 2. Die individuelle Schädigung ist alleinige Ursache sowohl für die individuelle Fähigkeitsstörung als auch für die soziale Beeinträchtigung bzw. Benachteiligung. 3. Diese Sichtweise zwingt behinderte Personen in eine von medizinischen Experten abhängige Position. 1

Der Begriff »handicap« wurde später verworfen, da er einerseits auf ein traditionelles englisches Tauschspiel »hand-in-cap« verweist, in der ein neutraler Schiedsrichter die Gleichwertigkeit zweier Tauschgegenstände feststellt bzw. herstellt, andererseits auch auf die englische Formulierung »cap in hand« (Betteln) rekurriert und somit eine eher pejorative Konnotation besaß. Auch in der ICF (WHO 2001) findet er keine Verwendung mehr (vgl. Waldschmidt 2005: 28, Fußnote; Hirschberg 2009: 214, Fußnote).

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Was ist Behinderung? 4. Diese Sichtweise fordert behinderte Personen auf, sich anzupassen beziehungsweise ihre Behinderung so gut wie möglich zu »bewältigen« und macht sie somit zum Objekt medizinischer Behandlungsmethoden (Rehabilitationsparadigma). Wesentliche Elemente eines selbstbestimmten Lebens werden ihnen so vorenthalten.

Die systeminhärenten Abwertungs- und Ausgrenzungsprozesse werden im Medizinischen Modell vollständig ausgeklammert, Behinderung auf ein körperliches Defizit reduziert und scheinobjektiv naturalisiert. Behinderung wird somit unabhängig von Kultur und Gesellschaft definiert und die medizinisch klassifizierten »Andersheiten« als Defekte oder Störungen interpretiert, die es entsprechend zu beseitigen gelte (vgl. Bösl 2010: 6). Llewellyn & Hogan (2000) fassen die Kritik am Medizinischen Modell folgendermaßen zusammen: »The overall picture is that the human being is flexible and » alterable « while society is fixed and unalterable. […] This [WHO] definition ultimatly reduced the origins of disability to individual pathology.« (Llewellyn & Hogan 2000: 158; Weglassung und Ergänzung in Klammern C.E.)

1.2

Soziales Modell von Behinderung

Unter Rückgriff auf Talcott Parsons (1951) und Erving Goffmann (1963) entwickelten britische Sozialwissenschaftler*innen zu Beginn der 1980er Jahre in Abgrenzung zum oben beschriebenen Medizinischen Modell, das sogenannte Soziale Modell von Behinderung (vgl. Oliver 1996; Barnes et al. 1999). Die Kernaussage dieses Modells lautet, dass Behinderung kein Ergebnis medizinischer Pathologie, sondern das Resultat sozialer Organisation ist. Menschen werden nicht aufgrund einer körperlichen und/oder geistigen Schädigung behindert, sondern durch das soziale System, das Teilhabehindernisse errichtet (vgl. Waldschmidt 2005: 18)2 . Dies mündete in den Slogan: »Behindert ist man nicht, behindert wird man«. »Eine Lähmung der Beine, die die Benutzung eines Rollstuhls erforderlich macht, wird zur Behinderung erst durch Bordsteine, Treppen und Trittstufen in Bussen und Bahnen. Eine kognitive Einschränkung, die das Lesen Lernen unmöglich macht, wird zur Behinderung dadurch, dass die Hilfen zur Orientierung im öffentlichen Raum – Wegweiser, Hinweisschilder, Fahrpläne – die Beherrschung eben dieser Kulturtechnik voraussetzen.« (Schmuhl 2013: 13) 2

»The inability of people with impairments to undertaken social activities is a consequence of the erection of barriers by the non-disabled majority. These social barriers – both physical and attitudinal – limit activity and constrain the lives of people with impairment.« (Thomas 2002: 38)

1. Modelle von Behinderung

Entscheidend ist, dass in dem Sozialen Modell die Lösungsstrategie nicht am Individuum, sondern an der Gesellschaft ansetzt. Behinderung (Disability) wird als sozial verursachtes Problem betrachtet, bei dem die Schädigung (Impairment) so gut wie keine Rolle spielt. »Veränderungswürdig und veränderungsfähig erscheinen aus der Perspektive der Disability Studies vielmehr gesellschaftlich-kulturelle Verhältnisse, die offen oder latent behindertenfeindliche, abwertende oder unterdrückende Lebensumstände und Handlungsweisen hervorbringen.« (Dederich 2007: 31) Behinderung beschreibt also in erster Linie eine Erfahrung eines sozialen und nicht eines körperlichen Zustandes, und diese Erfahrung ist zutiefst verknüpft mit gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Und hier entstehen schließlich die Konflikte mit der medizinischen Profession: »The problem arises when doctors try to use their knowledge and their skills to treat disability rather than illness. Disability as a long-term social state is not treatable medically and is certainly not curable. Hence many disabled people experience much medical intervention as, at best, inappropriate and, at worst, oppressive.« (Oliver 1996: 36) In diesem Modell wird zwar strikt zwischen Disability und Impairment unterschieden – beide Kategorien sind jedoch relational aufeinander bezogen. Dies wird vor allem daran deutlich, dass »Behinderung, als durch die Gesellschaft verursacht, nur Menschen mit Schädigungen und nicht alle Menschen betrifft« (Hirschberg 2009: 118). Aber Disability wird anders als im Medizinischen Modell nicht als eine natürliche Konsequenz aufgrund von Impairment angesehen. Es besteht keine kausale Beziehung zwischen beiden Begriffen (vgl. Waldschmidt 2008: 5800). Die Union of the Physically Impaired against Segregation (UPIAS) definierte bereits Mitte der 1970er Jahre den Unterschied zwischen Impairment und Disability: »Impairment: lacking part of or all of a limb, or having a defective limb, organ or mechanism of the body: and Disability: disadvantage or restriction of activity caused by a contemporary social organization which takes no or little account of people who have […] impairments and thus excludes them from the mainstream of social activities.« (UPIAS 1976: 14) Diese Definition wurde schließlich 1986 von der internationalen Organisation Disabled Peoples International (DPI) um den Bereich der geistigen Schädigung erweitert: »Impairment is the functional limitation within the individual caused by physical, mental or sensory impairment; disability is the loss or limitation of opportunities to take part in the normal life in community on an equal level with others because of physical or social barriers.« (DPI 1986 in Oliver 1998: 1447)

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Was ist Behinderung?

Das Soziale Modell wurde zeitgleich in der britischen und amerikanischen Behindertenbewegung3 populär, die mit dem Motto »Nichts über uns ohne uns« auch in der Wissenschaft durch die aufkeimenden Disability Studies4 – deren Vertreter*innen zumeist selber mit einer Behinderung leben beziehungsweise lebten oder aus Familien mit behinderten Angehörigen stammten5 – Fuß fasste bzw. dieses interdisziplinäre Fachgebiet begründeten (vgl. Waldschmidt & Schneider 2007: 13f.; Dederich 2007: 21ff.). »Im Hinblick auf Selbstverständnis und Widerstand behinderter Menschen verursachte das Soziale Modell gewissermaßen einen Quantensprung: Nicht sie waren »falsch« – sondern die Gesellschaft, in der sie lebten! Und wenn Behinderung von Menschen gemacht war, dann war sie auch überwindbar, dann konnte und musste man gegen behindernde Strukturen kämpfen.« (Köbsell 2010: 19) Eine wesentliche Intention der Disability Studies ist es, einen Gegenentwurf zur interventionistischen und praxisorientierten Behinderungsforschung der Medizin und Rehabilitation der Nachkriegszeit zu entwerfen, um so die Überwindung traditioneller Sicht- und Denkweisen über Menschen mit Behinderungen und die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen mit Behinderung voranzutreiben (vgl. Bösl 2010: 12; Hermes 2006: 15). So gesehen vollzog die Behindertenbewegung mit den Disability Studies einen großen emanzipatorischen Schritt. Jedoch bedeutet dies zugleich eine hohe Politisierung der Disability Studies, die aus diesem Grund über keinen unvoreingenommenen Blick auf ihren Untersuchungsgegenstand verfüg(t)en, sondern eher eine emische Perspektive ermöglichen. Während gesellschaftliche Barrieren und Einstellungen als Ursache für Disability sehr stark im Fokus stehen, ist die Kategorie Impairment kaum ein Thema

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In Amerika war es 1970 vor allem die Independent-Living-Bewegung, die Menschen mit Behinderungen ein neues Selbstverständnis vermittelte. Sie war das Vorbild der deutschen Bewegung für Selbstbestimmtes-Leben die ihr erstes Zentrum 1986 in Bremen gründete. Die britischen Disability Studies wurden u.a. durch den Sozialwissenschaftler Michael Oliver, den Psychologen Vic Finkelstein und den Aktivist*innen der Behindertenbewegung um Paul Hunt begründet; die amerikanischen Disability Studies wurden durch den 1994 verstorbenen Medizinsoziologen Irving Kenneth Zola ins Leben gerufen. Hervorgegangen sind also beide wissenschaftlichen Disziplinen aus den politischen Behindertenbewegungen, die bereits Anfang der 1970er Jahre ihre Rechte auf Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe einforderten (vgl. Hirschberg 2009: 114f.). Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungsgeschichte ist es nicht verwunderlich, dass die Disability Studies ähnlich wie die Gender Studies parteiisch sind. Da die Disability Studies die sozialen Konstruktionsmechanismen von Behinderung im historischen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen, psychologischen und in weiteren Kontexten untersuchen, ist ihr methodischer Ansatz entsprechend interdisziplinär ausgerichtet (vgl. Degener 2003: 450). Siehe beispielsweise: Oliver (1990; 1996); Davis (1997); Mitchell & Synder (1997); Shakespeare (1998); Barnes et al. (1999); Albrecht et al. (2001).

1. Modelle von Behinderung

innerhalb des Sozialen Modells. Allerdings existieren innerhalb des Sozialen Modells auch sozialwissenschaftliche Ansätze, die Disability zwar allein auf gesellschaftlicher Ebene, Impairment hingegen sowohl auf biologisch-individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene verorten und somit Impairment ebenfalls zum Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung machen. Thomas (2004) fordert dementsprechend: »What is required is a theoretical framework that recognizes the social influences in the science of biology and the irreducibly biological foundations of the social.« (Thomas 2004: 25) Als gesellschaftliche Ursache von Impairment gelten dabei beispielsweise Krieg, Armut, Verkehrsunfälle, Operationsfehler und schlechte Wasserversorgung. So gesehen haben das Medizinische und das Soziale Modell innerhalb der Kategorie von Impairment einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt (vgl. Hirschberg 2009: 121ff.; siehe auch Abb. 2).

Abbildung 2: Anknüpfungspunkt des Medizinischen und des Sozialen Modells

Eigene Darstellung nach Hirschberg 2009: 123f.

Die Diskussion um den »Körper« wird im Sozialen Modell – trotz der oben genannten Ausnahme – dennoch weitgehend ausgeklammert. An dieser Stelle setzt schließlich das Kulturelle Modell an. Im Vordergrund des Sozialen Modells steht die Kritik am vorherrschenden gesellschaftlichen System. Der Körper und vor allem die Vorstellung über einen »intakten« oder »vollständigen« Körper werden weiterhin im Bereich der »Natur« verortet und somit im Prinzip den medizinischen Fachrichtungen überlassen. Hughes & Paterson (1997) stellen folgerichtig fest: »The distinction between disability and impairment de-medicalises disability, but simulta-

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Was ist Behinderung?

neously leaves the impaired body in the exclusive jurisdiction of medical hermeneutics.« (Hughes & Paterson 1997: 330)6 Der Körper bzw. seine Handhabung und die Körpervorstellung sind allerdings ebenfalls in historische und gesellschaftliche Prozesse eingebettet, wie es beispielsweise Marcel Mauss 1934 in einem Vortrag vor der Société de Psychologie über »Les Techniques du Corps« eindrucksvoll beschrieben hat. Mauss versteht unter den Körpertechniken die Art und Weise, wie Menschen in unterschiedlichen Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeiten gelernt haben, ihren Körper einzusetzen. Für ihn ist der Körper das erste Werkzeug, dessen Bedienung jeder Mensch im Laufe seiner Sozialisation erlernen muss. So kommt es, dass sich Menschen in verschiedenen Kulturen beispielsweise unterschiedlich bewegen, schlafen oder schwimmen – sie alle aber davon ausgehen, dass ihre Art und Weise die »natürliche« ist (vgl. Mauss 1978: 199ff.). Auch Norbert Elias zeigt im ersten Band seines Werks »Über den Prozess der Zivilisation«, dass die vermeintlich natürlichsten körperlichen Verhaltensweisen (z.B. Essen oder Ausscheiden) gesellschaftlich beeinflusst sind und sich daher im Laufe der Geschichte wandeln (vgl. Elias 1977a; ferner auch Le Goff & Truong 2007).7 Die Vertreter*innen des Sozialen Modells können zudem nicht bestreiten, dass der »Körper« trotz aller Gegenargumentation »Behinderungen« auslösen kann, beispielsweise ist es einem Menschen ohne Arme nicht möglich, mit einem Schraubenzieher umzugehen, und somit bleibt ihm die Karriere als Handwerker versperrt – und keine noch so hoch entwickelte Prothese kann die Funktionseinschränkung bislang vollumfänglich kompensieren. Dies darf allerdings nicht automatisch mit einer gesellschaftlichen Diskriminierung gleichgesetzt werden, denn persönliche Limitationen hat jeder Mensch – nicht jeder kann jeden Beruf 6

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Die Ausklammerung des Körpers und die quasi Nichtthematisierung von Schmerz und Leid innerhalb der Disability Studies, hat auch damit zu tun, dass dadurch die Fachrichtung der Medizin weiterhin nicht in die Diskussion eingebunden werden muss, denn ansonsten, so stellen Köbsell & Strahl (2003) fest, »bleibt das Unbehagen wieder denjenigen den Ball zuzuspielen, die schon immer zu wissen glaubten, dass Behinderung vor allem Leid bedeutet und deshalb auf jeden Fall verhindert werden muss – und sei es durch Verhinderung der Leidenden, z.B. durch Pränataldiagnostik und selektive Abtreibung« (Köbsell & Strahl 2003: 125). »Der Körper ist zwar Teil der Natur und als solcher ihren Gesetzen unterworfen – er wird geboren, muss ernährt werden und schlafen, er altert und stirbt –, doch unterscheidet sich die Art und Weise, wie diese natürliche Seite des Körpers wahrgenommen, bewertet und gelebt wird, je nach Epoche, Kultur und Gesellschaft.« (Gugutzer 2004: 6; Hervorhebung im Original) Auf das Beispiel der Geschlechter angewendet: »Indem Menschen lernen, geschlechtsadäquat ihren Körper zu verwenden, werden sie von anderen als ein Geschlecht wahrgenommen – nicht umgekehrt. Männer und Frauen geben sich demnach als solche zu erkennen, indem sie ihre Körper und seine vielfältigen Dimensionen entsprechend dem lebensweltlichen Wissen über die Geschlechter einsetzen.« (Villa 2008: 209)

1. Modelle von Behinderung

ausüben. In einem Fall verwehrt die mangelhafte schulische Leistung den Berufswunsch eines Menschen ohne »Behinderung«, in einem anderen Fall ist es eben die körperliche oder kognitive Beeinträchtigung eines Menschen mit »Behinderung«. Ebenfalls können natürliche Barrieren »Behinderungen« bedingen. Beispielsweise könnten in einer Stadt für die Gruppe der Rollstuhlfahrer alle Barrieren beseitigt werden8 , dennoch würden Rollstuhlfahrer, in Wäldern oder Bergen an die Grenze des Machbaren stoßen. Sowohl gesellschaftliche als auch persönliche und natürliche Barrieren können folglich »Behinderung« verursachen. Die beiden ersteren sind tendenziell abbaubar bzw. beeinflussbar, bei natürlichen Barrieren gestaltet sich dies ungleich schwieriger (vgl. Kastl 2017: 53ff.). An diesen Beispielen erkennt man, dass es im Kern der Argumentation letzten Endes entscheidend ist, wie exakt Behinderung definiert wird. Durch die einseitige Fixierung der Vertreter*innen des Sozialen Modells auf den – absolut legitimen und wichtigen – Abbau gesellschaftlicher Barrieren wird ausgeblendet, dass in der Realität viele Menschen mit Schädigungen auf Unterstützung und manchmal auch auf Fürsorge durch andere Menschen angewiesen sind, womit nicht automatisch eine Abwertung dieser Menschen verbunden ist (vgl. Kuhlmann 2011: 39). Auch kann nicht geleugnet werden, dass häufig durch medizinische Interventionen, Rehabilitationsprogramme und technischen Fortschritt für viele Menschen mit Schädigungen eine selbstbestimmte Lebensführung erst denkbar und möglich wird (vgl. Kuhlmann 2003: 159). Die Schädigung zu ignorieren, Behinderung vollständig in den Bereich der Gesellschaft zu verorten und die Ansicht zu vertreten, mit der Beseitigung aller Barrieren wäre automatisch eine volle gesellschaftliche Teilhabe möglich, ignoriert die häufige gemeinsame »Schnittmenge« von »Behinderung« und »Krankheit«: »Nicht nur führen […] chronische Erkrankungen oft Behinderungen herbei. Umgekehrt ziehen z.B. unterschiedliche Schädigungen des Bewegungsapparates im Laufe der Zeit Symptome nach sich, die von denen chronischer Erkrankungen wohl kaum grundsätzlich zu unterscheiden sind.« (Ebd.) Wenn man die besonderen, häufig auch medizinischen Unterstützungsbedarfe systematisch aus dem akademisch-theoretischen Diskurs ausblendet, wird man folglich der Lebenserfahrung vieler Menschen mit Behinderung9 nicht gerecht. Die 8

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Hierbei muss auch bedacht werden, dass gesellschaftliche Barrieren meistens auf den »Körper« rekurrieren, so können Riffelungen in der Straße für Blinde eine Orientierung darstellen, für Rollstuhlfahrer sind sie tendenziell neue Hindernisse. Beim Abbau gesellschaftlicher Barrieren kann es sich folglich immer nur um Kompromiss- und nie um Konsenslösungen handeln (vgl. Cloerkes in Kastl 2017: 54f.). An dieser Stelle sei angemerkt, dass der deutsche Begriff »behinderter Mensch« sowohl als passives (behindert sein = Zustand) als auch als aktives Adjektiv (behindert werden = Prozess) verwendet werden kann, was in anderen Sprachen in dieser Form nicht möglich ist. Der Ausdruck »Disabled people« wird zumindest innerhalb der Disability Studies als Perfektparti-

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Was ist Behinderung?

strikte begriffliche Trennung von Behinderung und Krankheit ergibt in vielen, aber eben nicht in allen Fällen Sinn. Als begriffliches Instrument, um auf Missstände hinzuweisen, ist sie analytisch überzeugend, nicht aber zur Abbildung der Lebenswirklichkeit, der internen, häufig eben auch mit Schmerzen verbundenen Perspektive von Menschen mit Behinderungen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sowohl das Medizinische als auch das Soziale Modell »Behinderung« als ein »Problem« diskutieren, das entweder einer individuellen oder einer gesellschaftlichen »Lösung« bedarf. Beide Modelle sind in ihrem Grundverständnis folglich defizitorientiert.10 Ganz anders argumentieren dagegen die Vertreter des Kulturellen Modells, die die menschliche Vielfalt ins Zentrum ihrer Betrachtungen stellen.

1.3

Kulturelles Modell von Behinderung

Das Kulturelle Modell stellt eine Weiterentwicklung des Sozialen Modells dar und wurde in den 1990er Jahren vor allem von den amerikanischen Vertreter*innen der Disability Studies entwickelt. Diese Perspektive betrachtet weniger die Entstehung von Behinderung, sondern fragt vielmehr danach wie »Normalität« gesellschaftlich konstruiert wird. Hierbei spielt vor allem die kulturelle Relativität und Historizität von Abwertungsund Ausgrenzungsprozessen eine wichtige Rolle (vgl. Waldschmidt 2005: 25). Untersuchungsgegenstand ist folglich nicht allein der »behinderte« Mensch, sondern die »normale« Gesellschaft und deren Konstruktionsmechanismen von Normalität und Abweichung. Im Englischen hat sich daher auch die Schreibweise »dis/ability« innerhalb des Disability Studies und Disability History etabliert, um darauf hinzuweisen, dass bei der Analyse von »Behinderung« immer auch die Analyse von »Nicht-Behinderung« erfolgt (vgl. Waldschmidt 2010: 20), es sich bei »Behinderung« also um einen relationalen Begriff handelt. »Behinderung (disability) als al-

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zip einer Passivkonstruktion verwendet und folglich mit »Menschen, die behindert werden« übersetzt (vgl. Felkendorf 2003: 29). Der deutsche Behinderungsbegriff als Adjektiv bringt den relationalen Charakter besser zum Ausdruck als der englische Disability-Begriff (vgl. Kastl 2017: 5) und stellt so gesehen auch eine begriffliche Brücke zwischen dem Medizinischen und dem Sozialen Modell von Behinderung dar, während die politisch korrekte Verwendung als Substantiv (Mensch mit Behinderung) eher auf das Attribut einer Person verweist und somit tendenziell in der Tradition des Medizinische Modells steht. Vielleicht ist dies auch der Grund für die bislang fehlende Theorie der Behinderung. Vygotskij formulierte dies in Bezug auf sein Forschungsgebiet der Defektologie – die ebenfalls theorielos war – folgendermaßen: »No theory is possible if it proceeds from exclusively negative premises, just as no educational practice can be based on purely negative definitions and fundamentals.« (Vygotsky 1993: 31) Dementsprechend bietet sich am ehesten das Kulturelle Modell als Ausgangspunkt der Theorieproduktion für die Disability Studies an.

1. Modelle von Behinderung

leiniger Begriff hat keine Aussagekraft ohne konkreten Bezug zu den Vorstellungen von Normalität in einem Gesellschaftssystem – und umgekehrt.« (Waldschmidt & Bösl 2017: 41) Das Kulturelle Modell vollzieht folglich einen Perspektivwechsel von 180 Grad: Nicht die Mehrheitsgesellschaft untersucht das Phänomen »Behinderung« aus dem Blickwinkel von »Normalität«, sondern aus dem Blickwickel von »Behinderung« wird die Mehrheitsgesellschaft und deren »Normalität« zum Untersuchungsgegenstand deklariert (vgl. Waldschmidt 2003: 16), denn »behinderte und nicht behinderte Menschen sind keine binären, strikt getrennten Gruppierungen, sondern einander bedingende, interaktiv hergestellte und strukturell verankerte Komplementaritäten.« (Waldschmidt. 2005: 25) Aus diesem Perspektivwechsel können neue Erkenntnisse gewonnen werden, beispielsweise über »die Art und Weise, wie kulturelles Wissen über Körperlichkeit produziert wird, wie Normalitäten und Abweichungen konstruiert werden, wie Differenzierungskategorien entlang körperlicher Merkmale etabliert werden, wie gesellschaftliche Praktiken der Ein- und Ausschließung gestaltet sind, wie personale und soziale Identitäten geformt und neue Körperbilder und Subjektbegriffe geschaffen werden. Wer wir sind und warum wir so und nicht anders handeln.« (Waldschmidt 2003: 16f.) Die Nähe der Disability Studies zu konstruktivistischen theoretischen Ansätzen ist hier eindeutig zu erkennen. Während das Medizinische Modell Behinderung tendenziell auf Schädigung des Körpers und damit auf eine objektiv beschreibbare Gegebenheit reduziert und das Soziale Modell die Beobachterunabhängigkeit beziehungsweise Objektivität der Schädigung des Körpers ebenso wenig in Frage stellt, versteht das Kulturelle Modell nicht nur die Behinderung, sondern auch die Schädigung beziehungsweise die Vorstellung des Körpers als historisch und gesellschaftlich bedingt und in diesem Sinne als veränderbare Konstruktion (vgl. Dederich 2007: 36). Der kulturwissenschaftliche Zugang kämpft gegen die binäre Trennung zwischen »Natur« und »Kultur«11 und arbeitet die »Untrennbarkeit unseres Denkens über den Körper von ästhetischen, moralisch-normativen, sozialen und medizinischen Vorstellungen heraus, die sich historisch entwickelt haben und in unserer Kultur eingelagert sind.« (Ebd.: 58) Behinderung und Schädigung werden in diesem Modell nicht per se voneinander abgespalten. Gegenstand ist also die Generierung von Wissen über Körper, 11

»Wenn »die Natur des Menschen« untrennbar von Kultur ist, ist die Frage danach, was diese »Natur« unabhängig von der Kultur sein könnte, gar nicht zu beantworten, weil bereits die Frage aus einer bestimmten Kultur heraus gestellt wird.« (Dederich 2007: 37)

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Was ist Behinderung?

Normalität und Abweichung sowie die inkludierenden und exkludieren sozialen Prozesse. Die Erfassung der Konstruiertheit von Behinderung erfordert wiederum Wissen über den Umgang mit behinderten Menschen in früheren Epochen (vgl. Waldschmidt 2003: 18) – wodurch letztendlich die Disziplin der Disability History entstanden ist. Im Kern des Kulturellen Modells geht es darum, zu erfahren wie verschiedene Menschen in ihren individuellen Eigenarten zur gesellschaftlichen Vielfalt beitragen. Waldschmidt (2005) fasst zusammen: »Kritisiert wird eine gesellschaftliche Praxis, die damit beschäftigt ist, homogene Gruppen zu bilden und diese auf der Basis normativer Bewertungen zu hierarchisieren, anstatt die eigene Heterogenität anzuerkennen und wertzuschätzen.« (Waldschmidt 2005: 27) Die Modellentwicklung vom Medizinischen über das Soziale bis hin zum Kulturellen Modell hat folglich den Weg von der Defizit- zur Diversityorientierung vollzogen und ist damit auch Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels in diese Richtung. Eine vollständige gesellschaftliche Akzeptanz – im Sinne des Kulturellen Modells – wird jedoch erst dann möglich sein, »wenn behinderte Menschen nicht als zu integrierende Minderheit, sondern als integraler Bestandteil der Gesellschaft verstanden werden« (Waldschmidt 2005: 27). Es geht also um die Veränderung der Repräsentation von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft, damit Behinderung nicht länger als Abweichung von einem »Normalzustand«, sondern als ein Aspekt der Vielfalt des menschlichen Lebens erlebt und betrachtet wird (vgl. Lüke 2006: 136). Und dazu ist eben mehr notwendig als die Forderung nach Sozialleistungen und Bürgerrechten – wie es das Soziale Modell impliziert. Denn beide Forderungen führen zwar zur wichtigen normativen, nicht aber zur faktischen Gleichstellung. Eine Relativierung dieser Sichtweise nimmt Kuhlmann (2003) vor, in dem er – der selbst bis zu seinem Freitod mit den Auswirkungen einer spastischen Lähmung zu kämpfen hatte – vor einer »Art Romantisierung von menschlicher »Vielfalt« « (Kuhlmann 2003: 157) warnt, wonach die Vielfalt einen Wert an sich darstellt, ohne die Perspektive derjenigen Menschen mit Behinderung zu berücksichtigen, die sich eben nicht mit ihrer körperlichen, häufig selber als defizitär und schmerzhaft empfundenen Konstitution abfinden wollen (vgl. ebd.).12 Zusammenfassend können alle drei oben genannten Modelle tabellarisch folgendermaßen abgebildet werden:

12

van den Daele (2005) führt des Weiteren aus: »Im Übrigen darf man unterstellen, dass behinderte Menschen eine Behinderung, von der sie nicht betroffen sind, ebenfalls intuitiv nach dem Defizitmodell wahrnehmen. Sicher würden gehörlose Menschen eine drohende Querschnittlähmung nicht als Variante normalen Lebens einfach hinnehmen, sondern mit allen Mitteln versuchen, sie abzuwenden – wie Hörende eine beginnende Taubheit.« (van den Daele 2005: 117)

1. Modelle von Behinderung

Tabelle 1: Gegenüberstellung der Behinderungsmodelle Modelle von Behinderung Rehabilitationsparadigma

Disability Studies

Individuelles Modell

Soziales Modell

Kulturelles Modell

Theorie der »persönlichen Tragödie«

Theorie der »sozialen Unterdrückung«

Theorie der »Dekonstruktion«

Behinderung als Ergebnis von Vorurteilen

Behinderung als Ergebnis von Diskriminierung

Behinderung als Ergebnis von Stigmatisierung

Behinderung = persönliches Problem

Behinderung = soziales Problem

(Nicht-)Behinderung = kulturelles Deutungsmuster

Individuelle Identität

Kollektive Identität

Kulturelle Identität

Lösungsansatz: individuelle Behandlung

Lösungsansatz: soziale Aktion

Handlungsansatz: individuelle und gesellschaftliche Akzeptanz

Lösungsmodus: Medikalisierung

Lösungsmodus: Selbsthilfe

Handlungsmodus: Vielfalt

Professionelle Dominanz

Individuelle und kollektive Verantwortung

Individuelle und kollektive Verantwortung

Expertise der Experten als Ausgangspunkt

Erfahrung der Betroffenen als Ausgangspunkt

Erfahrung aller Mitglieder einer Kultur als Ausgangspunkt

Fürsorge (»care«) als Sozialleistung

(Bürger-)Rechte als Anspruch

Kulturelle Repräsentation als Zielsetzung

Kontrolle der Leistungsempfänger

Wahlmöglichkeiten (»choice«) der Bürger*innen

Anerkennung der Gesellschaftsmitglieder

Politikbereich (»policy«)

Politik (»politics«)

Diskurs und Praxis

Zielsetzung: Individuelle Anpassung

Zielsetzung: Sozialer Wandel

Zielsetzung: Kultureller Wandel

Darstellung nach Waldschmidt (2006): 93f.

1.4

WHO-Modell von Behinderung (ICF-Modell)

Behinderung wird – wie oben bereits erläutert – seit 1980 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gesondert klassifiziert (WHO 1980). Vor 1980 existierten medizinische Klassifikationen lediglich für die Beurteilung von Krankheiten, Verletzungen und Todesursachen (engl. International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems; aktuelle Version: ICD-10). Die Funktion von

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Was ist Behinderung?

Klassifikationen besteht in der Komplexitätsreduzierung von Phänomenen, indem diese nach gemeinsamen Charakteristika, etwa nach ihrer Entstehung oder Auswirkung geordnet und gruppiert werden, um auf dieser Grundlage beispielsweise gesundheitsfördernde und rehabilitative Maßnahmen zu entwickeln (vgl. Sartorius 1976: 24). Ferner können aufgrund international einheitlicher Klassifikationen Bevölkerungsstrukturen und Gesundheitssysteme miteinander verglichen werden, was für die Gesundheitspolitik relevant ist. In den 1970er Jahren wurde erkannt, dass Behinderungen in der medizinischen Klassifikation von Krankheiten (ICD) nicht adäquat abgebildet sind, so dass die »Internationale Klassifikation der Schädigungen, Fähigkeitsstörungen und Beeinträchtigungen« (engl. International C lassification of Impairments, Disabilities and Handicaps; IC IDH) von der WHO entwickelt wurde, die jedoch – vor allem in Deutschland – nur wenig Beachtung fand (vgl. Hirschberg 2003a: 11). Wie bereits beschrieben (siehe Abb. 1) stellt in der ICIDH eine Schädigung (Impairment) einen »beliebigen Verlust oder eine Normabweichung in der psychischen, physiologischen oder anatomischen Struktur oder Funktion dar.« (WHO 1995: 243) Eine Fähigkeitsstörung (Disability) ist »jede Einschränkung, oder jeder Verlust der Fähigkeit (als Folge einer Schädigung), Aktivitäten in der Art und Weise oder in dem Umfang auszuführen, die für einen Menschen als normal angesehen werden.« (WHO 1995: 244) Soziale Beeinträchtigung (Handicap) wird als Folge einer durch Schädigung oder Fähigkeitsstörung sich ergebenden gesellschaftlichen Benachteiligung einer betroffenen Person definiert, welche die »Erfüllung einer Rolle einschränkt oder verhindert, die (abhängig von Geschlecht, Lebensalter sowie sozialen und kulturellen Faktoren) für diese Person normal ist« (WHO 1995: 245). Bei den ersten beiden Begriffsdefinitionen (Schädigung und Fähigkeitsstörung) wird auf das Individuum fokussiert und auf eine Abweichung zur »Normalität« Bezug genommen; das Medizinische Modell ist hier folglich dominant. In der Definition von Behinderung wird das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft tendenziell mit einbezogen. Das Behinderungsverständnis ist bereits differenzierter als in früheren Begriffsverständnissen (vgl. Hirschberg 2003b: 122). Die ICIDH ist ein lineares Modell, das die Ursache von Behinderung auf die vorangegangene Krankheit bzw. Schädigung zurückführt. Auch war die Abgrenzung zwischen Krankheiten, chronischen Krankheiten und Behinderungen bei der praktischen Anwendung der ICIDH relativ schwierig, so dass es 2001 nach einem längeren Revisionsprozess zur Veröffentlichung der zweiten behinderungsspezifischen Klassifikation kam, der »Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit« (engl.: International Classification of Functioning, Disability and Health; ICF); mit Einführung der ICF wurden die ICIDH und deren Weiterentwicklung – die ICIDH-2 – abgelöst. Mit der ICF erhebt die WHO

1. Modelle von Behinderung

den Anspruch, das Medizinische und das Soziale Modell von Behinderung in einem »Biopsychosozialen Modell« zusammenzufassen. »Um die verschiedenen Perspektiven der Funktionsfähigkeit zu integrieren, wird ein »biopsychosozialer« Ansatz verwendet. Die ICF versucht eine Synthese zu erreichen, die eine kohärente Sicht der verschiedenen Perspektiven von Gesundheit auf biologischer, individueller und sozialer Ebene ermöglicht.« (WHO 2001: 25) Hier wird einerseits die medizinische Tradition von Klassifikationen aufgegriffen und diese andererseits um die Positionen der Behindertenbewegung erweitert (vgl. Hirschberg 2003a: 13). Die ICF proklamiert für sich, eine neutrale, nicht stigmatisierende Sprache zu verwenden und kulturübergreifend für alle Menschen zu gelten (vgl. WHO 2001: 13). Die international gültige, einheitliche Terminologie der ICF soll internationale Vergleichsstudien erleichtern, aber auch die Verständigung von Fachpersonal und Angehörigen unterstützen, wenn es um den Versuch geht, die Lebensumstände behinderter Menschen adäquat abzubilden. Sie soll ebenfalls als Basis für die Einleitung rehabilitativer Maßnahmen dienen (BAR 2016: 9). Die Terminologie der ICF umfasst folgende Begriffe: Tabelle 2: Terminologie der ICF Terminologie

Definition

Körperfunktionen

Physiologische Funktionen von Körpersystemen (einschließlich psychologische Funktionen)

Körperstrukturen

Anatomische Teile des Körpers, wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile

Schädigungen

Beeinträchtigungen einer Körperfunktion oder -struktur, wie z.B. eine wesentliche Abweichung oder ein Verlust

Aktivität

Durchführung einer Aufgabe oder Handlung (Aktion)

Partizipation (Teilhabe)

Einbezogensein in eine Lebenssituation

Umweltfaktoren

Materielle, soziale und einstellungsbezogene Lebensumgebung. Unterschieden wird zwischen individueller Ebene (Arbeitsplatz, Familie etc.) und gesellschaftlicher Ebene (Verkehrswesen, Gesetze, Behörden etc.)

Personbezogene Faktoren*

Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, Fitness, Lebensstil, Bildung etc.

* Die personbezogenen Faktoren sind aufgrund der weltweit großen kulturellen Unterschiede noch nicht klassifiziert. Allerdings gibt es bereits Aktivitäten für eine zukünftige Klassifizierung und einzelne Vorschläge (National: vgl. Grotkamp et al. 2010, 2012, 2014 sowie de Camargo 2016; International: vgl. Geyh et al. 2018). Eigene Darstellung nach WHO 2001: 17ff.

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Was ist Behinderung?

Das Behinderungsverständnis der WHO ist in verschiedenen Publikationen wie beispielsweise in der UN-Behindertenrechtskonvention (2006), im Weltbericht Behinderung (2011) und dem Weltweiten Aktionsplan Behinderung (2014) immer mit Bezug zur ICF beschrieben: Behinderung und Funktionsfähigkeit entstehen aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern (vgl. UN-BRK 2006; WHO 2001; 2011; 2013).13 Mit dieser Definition wurde das lineare Modell der ICIDH durch ein interaktionales Modell abgelöst. Schematisch lässt sich das ICF-Modell folgendermaßen abbilden:

Abbildung 3: ICF-Modell

Eigene Darstellung nach WHO 2001: 23

Die Begriffe »Funktionsfähigkeit«14 und »Behinderung« befinden sich auf einer Achse, wobei Funktionsfähigkeit positiv und Behinderung negativ gepolt ist, beide drücken sich in den Komponenten Körperfunktionen und -strukturen, Aktivität und Teilhabe aus (vgl. WHO 2001: 16f.): »Functioning is an umbrella term for body functions, body structures, activities and participation. It denotes the positive aspects of the interaction between an individual (with a health condition) and that individual’s contextual factors (environmental and personal factors). Disability is an umbrella term for impairments, 13 14

»Functioning and disability are results of the interaction between the health conditions of the person and their environment.« (WHO 2013: 7) Die englischen Begriffe »Functioning« und »Disability« können in dem hier verwendeten Sinne auch als Prozessbegriffe verstanden werden, da sie sich auf einen Interaktionsprozess beziehen. Die deutsche Übersetzung »Funktionsfähigkeit« macht daraus einen statischen, personenbezogenen Begriff, denn »Fähigkeit« bezieht sich immer auf die Eigenschaft einer Person.

1. Modelle von Behinderung

activity limitations and participation restrictions. It denotes the negative aspects of the interaction between an individual (with a health condition) and that individual’s contextual factors (environmental and personal factors).« (WHO 2013: 8; Hervorhebung C.E.) Ambivalent ist hierbei der Umstand, dass »Behinderung« als Oberbegriff sowohl für Schädigung als auch für Aktivitäts- und Teilhabeeinschränkungen fungiert, ausschließlich negativ beurteilt wird und das Individuum mit seinem Gesundheitszustand bzw. -problem als Bezugspunkt gewählt wird. Das Individuum wird so automatisch zum Ausgangspunkt der Beurteilung von Behinderung, gleichwohl eines der Anliegen der ICF die Integration des Individuellen und Sozialen Modells von Behinderung ist (vgl. Hirschberg 2003a: 17). Die angestrebte Integration beider Modelle erfolgt hier bislang eher zugunsten des Medizinischen Modells.

Abbildung 4: Achse der Funktionsfähigkeit und Behinderung

Eigene Darstellung

Die ICF klassifiziert einzelne Aspekte der Funktionsfähigkeit und Behinderung in den Komponenten Körperfunktionen und -strukturen, Aktivität und Partizipation eines Menschen mit einem Gesundheitsproblem15 ; sie klassifiziert jedoch keine Menschen als »normal« oder »behindert«; die Beschreibung bezieht sich explizit sowohl auf den Körper einer Person als auch auf die jeweilige Situation (z.B. Arbeitsplatz und häusliche Umgebung). Dabei setzt sie keinen Cut-Off-Wert an, von dem an der Körper als »behindert« gilt.16 Auch die aus der ICF entwickelten Core-Sets für die klinische Praxis und Forschung dienen nur der Beschreibung möglichst aller relevanten Aspekte der Funktionsfähigkeit und Behinderung für Patient*innen mit spezifischen »Gesundheitsstörungen« (Rückenschmerz, Osteoporose, COPD etc.) und verwenden daher keinen Summenwert, ab dem ein Mensch als »behindert« gilt. 15 16

»Health condition« wird in der offiziellen deutschen ICF-Version mit »Gesundheitsproblem« und nicht mit der korrekteren Bezeichnung »Gesundheitszustand« übersetzt. Wobei genau diese Cut-Off-Werte im Sozialrecht für den Leistungsbezug unabdingbar sind. Auch im klinischen Alltag werden Maßnahmen über Cut-Off-Werte gesteuert, so dass auch viele ICF-orientierte Assessmentverfahren Cut-Off-Werte generieren.

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Was ist Behinderung?

Die Beurteilung der Körperfunktionen und -strukturen erfolgt über die Ausprägung der Schädigung hinsichtlich ihrer Abweichung von der Bevölkerungsnorm (fünfstufige Skala von »Problem nicht vorhanden« bis »Problem voll ausgeprägt« bzw. »keine Schädigung« bis »volle Schädigung«) (vgl. WHO 2001: 51). Die Beurteilung der Aktivitäten und Partizipation erfolgt über die Beurteilungsmerkmale der Leistungsfähigkeit (Durchführung von Aufgaben in einer standardisierten Umwelt) und Leistung (Durchführung von Aufgaben in der gegenwärtigen, tatsächlichen Umwelt) mit oder ohne Berücksichtigung von Hilfsmitteln oder personeller Assistenz (vgl. WHO 2001: 95) über das Ausmaß oder Größe des Problems (fünfstufige Skala von »Problem nicht vorhanden« bis »Problem voll ausgeprägt« bzw. »keine Beeinträchtigung« bis »volle Beeinträchtigung«). Das Fehlen einer Behinderung wird hier als normal konstruiert, die Funktionsfähigkeit entspricht folglich der Normalität, wodurch Behinderung nicht nur gegen Funktionsfähigkeit, sondern auch gegen Normalität abgegrenzt wird (vgl. Hirschberg 2009: 301); Behinderung wird somit als Abweichung von normaler Funktionsfähigkeit beschrieben (vgl. ebd. 313). Die Beurteilung der Kontextfaktoren (vorerst nur der Umweltfaktoren) erfolgt über das Ausmaß, in dem eine Barriere oder ein Förderfaktor jeweils vorhanden ist (fünfstufige Skala von »nicht vorhanden« bis »voll ausgeprägt«). Aus Sicht der Disability Studies sind die Umweltfaktoren als maßgebliche Komponente zur Beurteilung von Behinderung anzusehen. Daher sollten die sozialen »Bedingungen […] entsprechend dieser Komponente exakt kategorisiert werden, damit die Klassifikation im Hinblick auf ihre praktische Anwendung, etwa in der Rehabilitation, verbessert werden kann.« (Hirschberg 2018: 111; Weglassung in Klammern C.E.) Dies ist eine Aufgabe, die bei einer nächsten Revision zwingend berücksichtigt werden sollte. Die ICF steckt in dem Dilemma, eine wertneutrale Sprache verwenden und Behinderung nicht als Eigenschaft einer Person entwerfen zu wollen, ohne allerdings darauf zu verzichten, Behinderung durch den Vergleich mit einer statistischen Norm oder eines Ideals17 zu klassifizieren, und dadurch Behinderung weiterhin als »individuelles Fähigkeitsdefizit zu konzipieren, das zwar nicht nur individuumsseitig zu beheben sei, aber doch eindeutig diesem zugeordnet erscheint« (Weisser 2009: 11). Hier befindet sich die ICF noch stark der Tradition der ICIDH. Auch wenn der Körper und/oder die jeweilige Situation klassifiziert wird und nicht die Person, so ist doch eine Trennung von Körper und Person lediglich als eine Hilfskonstruktion anzusehen, um die proklamierte wertneutrale Sprache zu bekräftigen.

17

Beispielsweise bei der Kategorie der Sehschärfe (b2100); hier wird auf das Ideal der vollen Sehschärfe Bezug genommen gleichwohl ab einem gewissen Alter das Tragen einer Brille statistisch gesehen die Norm wäre.

1. Modelle von Behinderung

»Ob jemand die öffentlichen Verkehrsmittel nicht benutzen kann, weil er blind ist oder weil der Führhund gerade abwesend ist – immer erscheint »er« oder »sie« als behindert.« (Ebd.). Die Operationalisierung der ICF bleibt demnach weiterhin in der medizinisch-kausalen Logik hängen. Dem Sozialen Modell folgend neu integriert wurden hingegen die Kontextfaktoren, die sich in Umweltfaktoren und Personbezogene Faktoren aufteilen. Diese werden allerdings bei der Beurteilung der individuellen Leistungsfähigkeit nicht mit einbezogen, wie beispielsweise die mögliche Nichtberücksichtigung einer vorhandenen Assistenz zeigt: »Damit wird nicht die Lebenssituation eines Menschen innerhalb gesellschaftlicher Bedingungen und dem für diese Bedingungen notwendigen Assistenzbedarf in den Mittelpunkt gestellt, sondern die Abweichung von der Leistungsfähigkeit eines Menschen ohne Assistenzbedarf.« (Hirschberg 2003a: 19) Eine weitere Ambivalenz der ICF ist der Umstand, dass der Begriff Gesundheit zwar im Titel der ICF genannt, jedoch nicht weiter definiert wird. Angedeutet wird, dass der Begriff Gesundheit mit dem der Funktionsfähigkeit gleichzusetzen ist, wodurch der Begriff Gesundheit automatisch dem Begriff Behinderung gegenübersteht – und somit auch Behinderung und Krankheit eine synonyme Bedeutung erlangen, gleichwohl sie unterschiedliche Charakteristika haben (vgl. Hirschberg 2003b: 34f.). Hirschberg (2009) kommt in ihrer Analyse der ICF zu dem Befund, dass sich »die WHO mit der ICF zunehmend von der medizinischen Interpretation von Behinderung entfernt. Allerdings vollzieht sie keinen Bruch mit dem traditionellen, defizitorientierten, auf Anpassung und Fürsorge ausgerichteten Paradigma, sondern entwickelt es durch Integration verschiedener Perspektiven und Ansätze weiter. Neben der verstärkten Beachtung der gesellschaftlichen Bedeutung von Behinderung wird das Spektrum der zu klassifizierenden Phänomene ausgeweitet.« (Hirschberg 2009: 309) Bei der Entwicklung der ICF als medizinisches Klassifikationssystem haben erstmals sowohl nicht-medizinische Professionen als auch Behindertenverbände aktiv mitgearbeitet. Ein Beleg dafür, dass das Phänomen der Behinderung inzwischen als ein Querschnittsthema vieler Professionen behandelt wird und Menschen mit Behinderungen als Experten in eigener Sache Anerkennung finden. In Deutschland bezieht sich das Sozialgesetzbuch IX (SGB IX) partiell auf die ICF, im Schwerbehindertenrecht (Teil des SGB IX) wurde sie dagegen noch nicht umfassend berücksichtigt. Die größte Verankerung weist die ICF in der Rehabilitations-Richtlinie (2004) und im Bundesteilhabegesetz (BTHG 2016) auf. Das Behinderungsverständnis der ICF findet sich auch in der UNBehindertenrechtskonvention (UN-BRK 2006) wieder. Die UN-BRK betont jedoch ungleich stärker die physischen und einstellungsbezogenen Barrieren, was damit zusammenhängt, dass die ICF in erster Linie eine medizinische Klassifikation

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Was ist Behinderung?

ist, während die UN-BRK als Menschenrechtsvertrag dagegen in erster Linie ein normatives Instrument darstellt (vgl. Hirschberg 2018: 127). Unabhängig von den aufgezeigten Ambivalenzen innerhalb der ICF kann hier bereits festgehalten werden, dass mit der Ratifizierung der UN-BRK im Jahr 2008 (in Deutschland im Jahr 2009) erreicht wurde, dass Menschen mit Behinderung die gleichen Rechte wie Menschen ohne Behinderung haben und sie somit nicht mehr länger Objekte der Fürsorge und Wohltätigkeit, sondern Subjekte mit selbstverständlichen Bürgerrechten sind (vgl. Sierck 2017: 111). Länder, die die Konvention ratifiziert haben, sind nun »gezwungen«, Schritt für Schritt Maßnahmen für mehr Gleichberechtigung (z.B. im Schulwesen) zu initiieren – gleichwohl eine Nichterfüllung der Konvention keinerlei rechtliche Konsequenzen nach sich zieht. So steht die vorgeburtliche Selektion (Präimplantationsdiagnostik) im klaren Widerspruch zur UN-Behindertenrechtskonvention, was dennoch bislang kaum ein breites Interesse weckt. Der Zwang existiert eher auf dem Papier und in der Öffentlichkeit, die einen Verstoß bzw. eine Nichterfüllung nur entsprechend medial annoncieren kann. Als Zwischenfazit bezüglich der verschiedenen oben dargestellten Modelle kann festgestellt werden, dass alle beschriebenen Modelle den Begriff der Behinderung unterschiedlich definieren und verwenden. Zudem werden sowohl in der Alltagssprache als auch in den verschiedenen Disziplinen viele weitere Begriffe im Assoziationsfeld des Behinderungsbegriffs alternativ oder synonym verwendet. Beispiele dafür sind Begriffe wie Beeinträchtigung, Handicap, Schädigung, Funktionseinschränkung, Fähigkeitsstörung, Gebrechlichkeit, Versehrtheit, Devianz, körperliche Differenz, Abweichung, verkörperte Andersartigkeit oder Anderssein. Zum besseren Verständnis dieses Sachverhalts folgt eine Auseinandersetzung mit der derzeitigen juristischen Definition der Behinderung und deren Entwicklungsgeschichte.

2. Der deutsche Behinderungsbegriff

2.1

Juristische Definition und Etymologie

Eine verbindliche, allgemeingültige Definition von Behinderung ist weder national noch international vorhanden (vgl. Brockhaus 2006a: 497). Was im juristischen Sinne »behindert« heißt, wurde in den Jahren 2001 bis 2017 im deutschen Sozialgesetzbuch (SGB) IX folgendermaßen kodifiziert: »Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.« (SGB IX, §2 Abs. 1)1 In Deutschland gelten Menschen gegenwärtig als »behindert«, wenn eine dauerhafte Abweichung von der Norm durch eine individuelle Schädigung die gesellschaftliche Teilhabe einschränkt. Da die Betonung auf der Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Teilhabe liegt, könnte man erwarten, dass für die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB)2 vor allem auf die Beeinträchtigung der gesell-

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2

Nach Entstehung dieses Kapitels wurde der Gesetzestext im Zuge des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) überarbeitet, er lautet seit 01.01.2018: »Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.« (SGB IX, §2, Abs. 1) Mit dieser Überarbeitung wurde der kausale Zusammenhang zwischen Funktionsund Teilhabeeinschränkung relativiert und der Behinderungsbegriff an die Grundsätze der UN-BRK angepasst. Hervorgegangen ist dieser Begriff aus der ursprünglichen Bezeichnung Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) – die heute nur noch bei der gesetzlichen Unfallversicherung angewendet wird. Mit der Umbenennung weist der Gesetzgeber darauf hin, dass es bei der Erfassung nicht nur um Leistungsminderungen hinsichtlich einer Erwerbsarbeit geht, sondern um

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Was ist Behinderung?

schaftlichen Teilhabe geschaut wird. Der Grad der Behinderung wird in der Praxis jedoch über medizinische Diagnosen zugewiesen. Die medizinischen Diagnosen eines Individuums sind folglich die Indikatoren für das Ausmaß der Beeinträchtigung der gesellschaftlichen Teilhabe – einer eigentlich eindeutig sozialen Kategorie. Die Teilhabeeinschränkung wird daher durch Ärzt*innen und nicht etwa durch Soziolog*innen festgestellt (vgl. Kastl 2017: 40). Somit ist die Operationalisierung der Definition eher in der Tradition des Medizinischen Modells zu verorten (vgl. Felkendorff 2003: 33). Auch wenn der Begriff der Behinderung in der deutschen Rechtssprache eine mehr oder weniger eindeutige Definition erhalten hat, mit Hilfe derer medizinische Gutachter*innen den GdB feststellen können, um so den Leistungsanspruch zu eruieren, definieren – wie man es zum Teil bereits in den oben beschriebenen Modellen erahnen kann – die verschiedenen wissenschaftlichen Fachgebiete je nach fachspezifischer Akzentuierung und Zielstellung den Begriff unterschiedlich (vgl. Tröster 1990: 13). Dies ist insofern plausibel, als jedes Fachgebiet sein eigenes Ziel verfolgt und hierzu Definitionen benötigt, um einen entsprechenden Adressatenkreis festzulegen und anzusprechen: »So wird ein Mediziner eine Behinderung auf dem Hintergrund möglicher organischer Schädigungen und ein Psychologe eine Beeinträchtigung im Hinblick auf geistige Entwicklungsrückstände beurteilen, während ein Soziologe die gesellschaftliche Konstruktion dieses Phänomens zu analysieren sucht.« (Mattner 2000: 15) Die Variabilität sowie die nicht vorhandene Trennschärfe und die unterschiedliche Nuancierung des Behinderungsbegriffs der verschiedenen wissenschaftlichen Fachdisziplinen machen es schwierig, einen adäquaten Zugang zu dem Phänomen der Behinderung zu finden.3 Da ein aktuell verwendeter Begriff in der Regel eine mehr oder weniger umfangreiche etymologische Entwicklung durchläuft, wird im Folgenden ein Blick auf die Begriffsgeschichte geworfen. Im ersten Wörterbuch der Gebrüder Grimm von 1854 ist unter dem Stichwort »Behindern« zu lesen: »verhindern: ward ich daran behindert; um uns das vorrü-

3

Einschränkungen, die alle Lebensbereiche beeinflussen. Bei dem GdB handelt es sich nicht um eine Klassifikation wie der ICF, da er weder theoretisch begründet noch hinsichtlich seiner Beurteilungsskalen transparent ist, sondern um eine sozialrechtliche Konstruktion, die der Vergabe von Sozialleistungen und Nachteilsausgleichen dient. »Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass auf ihrer Grundlage entschieden wird, welcher Grad welcher Funktionseinschränkung oder Teilhabeeinschränkung vorliegt und auf welche Hilfsmaßnahmen der oder die Betroffene Anspruch hat.« (Hirschberg 2009: 63) Man kann feststellen, dass die Vielschichtigkeit des Behinderungsbegriffs, das Nachdenken über Behinderung im wahrsten Sinne des Wortes »behindert«.

2. Der deutsche Behinderungsbegriff

cken zu behindern«. Zum Stichwort »Behinderung« ist »häusliche Behinderung« als Beispiel angegeben. Diese Herleitungen beruhen auf dem lateinischen Verb »impedire« (festhalten, aufhalten, verhindern, hemmen, abhalten) und dem Subjektiv »impedimentum« (Hindernis, Gepäck, Bagage, Tross) (vgl. Grimm & Grimm 1954: 1341). Diese Wortbedeutung verweist somit nicht auf die Eigenschaft eines Menschen, sondern auf ein außerhalb eines Menschen liegendes Hindernis. Die Verwendung des Wortes fand folglich in einem konkreten und nicht in einem übertragenen Sinne statt. Die Beschreibung einer Funktionseinschränkung eines Menschen war mit diesem Wort nicht verbunden. Menschen mit Funktionseinschränkungen wurden in dieser Zeit noch nicht als einheitliche Gruppe wahrgenommen, sondern man unterschied – ganz in der Tradition mittelalterlicher Systematik – nach den spezifischen Formen der offensichtlichen Gebrechen. Verwendete Begriffe waren beispielsweise »krüppelig«, »fußlos«, »handlos«, »blind«, »taubstumm«, »schwachsinnig« oder »besessen« (vgl. Schmuhl 2010: 11ff.). Die verschiedenen Körper- und Sinnesbehinderungen sind – mit Ausnahme des nicht so scharf abgegrenzten Begriffs des »Krüppels« – durch die jeweiligen Begriffe präzise bezeichnet. Diese Vorläufer des heutigen Behinderungsbegriffs sind bereits in der Bibel zu finden (dazu siehe auch Kapitel 4.3) und waren ambivalent besetzt: Zum einen wird die Funktionseinschränkung als Strafe oder Prüfung Gottes sowie als Mahnung der sündigen Menschheit angesehen, zum anderen werden die Betroffenen zum Gegenstand caritativer Fürsorge deklariert (vgl. Seybold & Müller 1978). Die ambivalente Einstellung gegenüber Menschen mit Funktionseinschränkungen zieht sich – zumindest kann man dies seit dem Mittelalter relativ klar erkennen – wie ein roter Faden durch die abendländische jüdisch-christliche Geschichte der Menschheit. Dass sich aus dieser Vielfalt von Vorläuferbegriffen die beiden Oberbegriffe körperliche und geistige Behinderung und schließlich ein juristischer Begriff »Behinderung« entwickelte, gründete in den Auseinandersetzungen verschiedener Gruppierungen. Keine dieser Gruppierungen hat die Entwicklung allein vorangetrieben und bestimmt, sondern erst aufgrund der Verflechtungszusammenhänge dieser Gruppierungen und der übergeordneten staatlichen Entwicklung hat sich der Begriff in eine vermutlich für alle Gruppierungen unvorhersehbare Richtung entwickelt. Diese Begriffsentwicklung schreitet weiter fort – derzeit vor allem infolge internationaler Verflechtungen.

2.2

Entwicklung des Begriffs der körperlichen Behinderung

Als eine der ersten juristischen Regelungen im Bereich der preußischen Sozialpolitik kann das »Gesetz über den Unterstützungswohnsitz« aus dem Jahr 1871 betrachtet werden kann. Dieses Gesetz verpflichtete die »Landarmenverbände« die

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Was ist Behinderung?

geschlossene Fürsorge für »Geisteskranke«, »Schwachsinnige«, »Epileptische« und »Blinde« sicherzustellen, Menschen mit »körperlichen Behinderungen« waren vom Gesetzgeber allerdings nicht berücksichtigt worden (vgl. Schmuhl 2010: 15). Diese Versorgungslücke konnte die »Innere Mission«4 der Evangelischen Kirche durch den Aufbau von »Krüppelheimen« innerhalb weniger Jahrzehnte schließen. Obwohl der Begriff »Krüppel« aufgrund seiner mittelalterlichen Bedeutung, die auf Armut, Not und Elend verweist, schon im ausgehenden 19. Jahrhundert eine abwertende Konnotation aufwies, hielten die Vertreter der Inneren Mission an ihm fest, da das »Elend« dieser Menschen ihrer Meinung nach nicht nur in der gesundheitlichen Schädigung, sondern auch in der seelischen »Verkrüppelung« bestand, die es zu benennen und zu beheben galt (vgl. ebd.: 16f.). Die Orthopädie – die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich von der Chirurgie löste – unternahm die erste Initiative, den Begriff des »Krüppels« aufzugeben, da die Patientenklientel der Orthopädie aus wohlhabenderen gesellschaftlichen Schichten bestand und dort der mit sozialer Bedürftigkeit assoziierte Krüppelbegriff auf wenig Akzeptanz stieß. Man sprach in der Orthopädie eher von »Abnormitäten der Haltung«, »Haltungs- und Formmängeln« oder »körperlicher Missgestaltung« (vgl. ebd.: 17). Lange Zeit nahm die Orthopädie die »Krüppelfürsoge und Krüppelheime« der Inneren Mission in Deutschland kaum wahr. Erst 1899 erkannten die damaligen Vertreter der Orthopädie, die Bedeutung der Krüppelheime und die Tatsache, dass auch die Orthopädie eine soziale Verantwortung trägt. Sie forderten den Ausbau der Heime, womit sich die Orthopädie nun auch den sozial Bedürftigen zuwendete (vgl. ebd.: 18ff.). Als 1906 die erste Krüppelzählung von der »Deutschen Vereinigung für Krüppelfürsorge« (heute »Deutsche Vereinigung für Rehabilitation«) mit Unterstützung der örtlichen Polizeibehörden und unter der Leitung des Orthopäden Konrad Biesalski5 im Deutschen Reich stattfand, setzte sich der Begriff des Krüppels6 endgültig sowohl als Fachbegriff in der Orthopädie als auch als »Leitbegriff 4

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Die Innere Mission wurde 1848 von Johann Hinrich Wichern auf dem ersten Wittenberger Kirchentag gegründet. Sie ist eine Initiative zur christlichen Mission innerhalb der evangelischen Kirche, die 1975 im Diakonischen Werk aufging (vgl. Das Bertelsmann Lexikon 1961: 630; Brockhaus 2006b: 761). Konrad Biesalski war ein deutscher Orthopäde und Hochschullehrer. Er gilt als Begründer der Behindertenfürsorge. In der Definition, die der Zählung zugrunde gelegt wurde, heißt es: »Ein heimbedürftiger Krüppel ist ein (infolge eines angeborenen oder erworbenen Nerven- oder Knochen- und Gelenkleidens) in dem Gebrauch seines Rumpfes oder seiner Gliedmaßen behinderter Kranker, bei welchem die Wechselwirkung zwischen dem Grad seines Gebrechens (einschließlich sonstiger Krankheiten und Fehler) und der Lebenshaltung seiner Umgebung eine so ungünstige ist, daß die ihm verbliebenen geistigen und körperlichen Kräfte zur höchstmöglichen wirtschaftlichen Selbstständigkeit nur in einer Anstalt entwickelt werden können, welche

2. Der deutsche Behinderungsbegriff

der staatlichen Sozialpolitik und der freigemeinnützigen Wohlfahrtspflege« (ebd.: 20) durch. Aus einem umgangssprachlichen Schimpfwort war laut Thomann (1992) ein sozialpolitischer Terminus geworden (vgl. Thomann 1992: 243). Als Konsequenz der Ergebnisse der Krüppelzählung und deren medialer Verbreitung erhielt die Orthopädie hohe staatliche Zuwendungen und konnte sich dementsprechend in der Krüppelfürsorge etablieren. Diese Etablierung hatte allerdings ihren Preis: Der Krüppelbegriff war nun eng mit der Orthopädie verknüpft und die immer noch abwertende Begriffskonnotation drohte auf sie abzufärben, so dass intensive Bestrebungen zur Ablösung des Krüppelbegriffs durch Einführung neuer Begrifflichkeiten (zum Beispiel »Hilfling« oder »Brestling«7 ) unternommen wurden – jedoch ohne nachhaltigen Erfolg. Die weiteren Aktivitäten der Orthopädie richteten sich schließlich darauf, die negativen Assoziationen, die mit dem Begriff des »Krüppels« verbunden waren, aufzuheben (vgl. Schmuhl 2010: 22f.). Erst in der Nachkriegszeit des Ersten Weltkriegs, als die Frage nach der Versorgung von »Kriegskrüppeln« und des Umgangs mit ihnen auf der sozialpolitischen Agenda standen, wurde auch der Begriff des »Krüppels« wieder öffentlich thematisiert. Der Gesetzgeber führte 1920 schließlich mit dem Gesetz über die »Beschäftigung Schwerbeschädigter8 « und dem »Preußischen Krüppelfürsorgesetz« eine sprachliche Dreiteilung des bislang als »Krüppel« bezeichneten Menschen ein. Es unterschied den durch Kriegs-, Arbeits- oder Unfallverletzungen versehrten »Schwerbeschädigten« von den übrigen »Krüppeln«, die wiederum in arbeitsfähige »Krüppel« und »minderwertige«, sogenannte »Siech-Krüppel« differenziert wurden. Die Krüppelfürsorge staffelte auf dieser Grundlage die medizinisch-therapeutischen und finanziellen Leistungen des Staates (vgl. ebd.: 52f.). Im Fokus stand die »Verwertbarkeit« – im Sinne der Arbeitsfähigkeit – einer Person. Vor dem Hintergrund der wirtschaftlich schlechten Lage der Weimarer Republik und der politischen Spannungen fanden eugenische Argumente9 immer mehr

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über die eigens für diesen Zweck notwendige Vielheit ärztlicher und pädagogischer Einwirkungen gleichzeitig verfügen.« (Biesalski 1926: 10, Hervorhebung C.E.) Dieser Begriff leitet sich von »bresthaft« ab, was so viel wie »mit Gebrechen behaftet« bedeutet. 1 % der Arbeitsplätze mussten fortan für schwerbeschädigte Menschen zur Verfügung gestellt werden. Als »schwerbeschädigt« galt damals jeder »Kriegsbeschädigter«, dessen Erwerbsfähigkeit um mindestens 50 % gemindert war (vgl. Schmuhl 2010: 51). Verfechter der Rassenhygiene hatten bereits nach dem Ersten Weltkrieg eine biologistische Version der Dolchstoßlegende in den Umlauf gebracht, nach der der Krieg, alle kranken und schwachen Menschen schütze – da diese nicht an die Front müssen – und es folglich zu einer Gegenauslese kommt: Die Gesunden werden in dieser Perspektive an der Front getötet, und die kranken und behinderten Menschen, können sich vermehren. Als Konsequenz wurde immer wieder die »Vernichtung lebensunwerten Lebens« (1920) diskutiert und zum Teil offen gefordert (vgl. Schmuhl 2010: 61ff.). Vertreter dieser Meinung waren unter anderem der unter dem Pseudonym Ernst Mann schreibende Gerhard Hoffmann, der dies offen in »Die

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Was ist Behinderung?

Gehör in der sozialpolitischen Diskussion, so dass sich der 1919 gegründete »Bund zur Förderung der Selbsthilfe der körperlich Behinderten« (nach einem seiner Mitbegründer auch Otto-Perl-Bund10 genannt) bemühte, durch eine semantische Distanzierung zum Begriff des »Krüppels« das Stigma der »Minderwertigkeit« abzulegen, um so aus dem Fokus des aufkeimenden eugenischen Diskurses zu gelangen (vgl. Schmuhl 2010: 65f.). Mit dem Adjektiv »körperlich« wiesen die Gründer des Perl-Bundes bereits darauf hin, dass ihren Mitgliedern nur ein »äußerliches Leiden anhaftet, sie innerlich jedoch ebenso wertvoll wie Nichtbehinderte« seien. Diese Wortwahl ermöglichte es, die »erbgesunden und wertvollen Volksgenossen« von den »Minderwertigen«, vor allem den geistig Behinderten zu trennen (vgl. Thomann 2012: 40f.). 1931 arbeiteten die Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge und die Deutsche Orthopädische Gesellschaft schließlich ein »Notprogramm für die Krüppelfürsorge« aus. Dieses sah vor, die Fürsorge ganz auf die »produktiven Krüppel« zu konzentrieren und »alte, gebrechliche Personen, […] unheilbar kranke (sieche) Erwachsene, […] bildungsunfähige Krüppel [sowie] schwach begabte Krüppel mit Körperbehinderung stärkeren Grades [auszuschließen].« (Notprogramm von 1931 zitiert nach Schmuhl 2010: 59f.; Weglassung und Ergänzung in Klammer C.E.) Der Begriff »körperlich Behinderte« fand am 3. Juli 1934 mit dem Gesetz zur »Vereinheitlichung des Gesundheitswesens« seine erstmalige juristische Kodifizierung und setzte sich anschließend sowohl in der Amts- als auch in der Alltagssprache zunehmend durch. »Im Hintergrund stand die rassenhygienisch motivierte Differenzierung zwischen »erbgesunden, körperbehinderten Volksgenossen« und »erbkranken, minderwertigen Krüppeln«.« (Schmuhl 2010: 70) Der Begriff der körperlichen Behinderung diente folglich vor allem zur Disktinktion zum eindeutig negativ besetzten Begriff des (Siech-)Krüppels. »Körperlich Behinderte« wurden – nach ihrer »Rehabilitation« – als Arbeitsmarktreserve und Produktivkräfte angesehen (vgl. ebd. 76f.). Behinderung wurde also als eindeutiger Aus- und Abgrenzungsbegriff gesetzlich verankert.

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Erlösung der Menschheit vom Elend« (1922) als notwendiges Mittel im Dienst einer »kraftvollen Entfaltung der Menschheit« deklarierte (vgl. Dörner 1967: 126). Die ca. 6.000 Mitglieder dieses Bundes verstanden sich nicht mehr als Objekte der Fürsorge, sondern als Subjekte, die aktiv Einfluss auf die Sozialgesetzgebung und die Dienstleister ausübten. Sie lebten auch bereits eine frühe Form des peer counseling – die Beratung von Menschen mit Behinderung für Menschen mit Behinderung. Der Bund musste sich 1931 aus wirtschaftlichen Gründen auflösen. Zur gleichen Zeit erfolgte die Gründung des Reichsbund der Körperbehinderten, der die Ziele des Perl-Bundes unverändert übernahm (vgl. Fuchs 2003: 437ff.).

2. Der deutsche Behinderungsbegriff

2.3

Entwicklung des Begriffs der geistigen Behinderung

Auch der juristische Begriff der geistigen Behinderung wurde im Nationalsozialismus erstmalig festgeschrieben. Zuvor machten die Begriffe (beispielsweise »Blöde«, »Blödsinnige«, »Schwachsinnige«, »Schwachbegabte«, »Narren«, »Idioten«, »Irre«), die Menschen beschrieben, die heute unter den Begriff der »geistigen Behinderung« subsumiert werden, ebenfalls einen erheblichen Bedeutungswandel durch. Dieser Bedeutungswandel »spiegelt verschiedene, miteinander korrespondierende wie konkurrierende Fachdiskurse zwischen Heilpädagogen, Theologen und Psychiatern wider, die darum wetteiferten, die Pflege, Erziehung und »Heilung« von Menschen mit geistiger Behinderung an sich zu ziehen. Begrifflichkeiten dienten dazu, das Feld zu ordnen, Kompetenzbereiche abzustecken, professionelle Ansprüche zu begründen und zu rechtfertigen.« (Ebd.: 30) Der Begriff »Idiot« beispielsweise war bis zum 19. Jahrhundert eher eine Bezeichnung für den Laien, den Ungelehrten im Gegensatz zum gelehrten Fachmann und wies noch keine negative Färbung auf. Seinem griechischen Ursprung nach bezeichnet er eine Privatperson, die sich aus politischen Angelegenheiten – der Polis – heraushielt und keine Ämter wahrnahm, auch wenn ihr das prinzipiell möglich war. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts erhielt der Begriff seine heutige, abwertende Bedeutung (vgl. Kluge 1975: 324; Kluge 2002: 432). Die Begriffsdiskussion begann Anfang des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss französischer Psychiater und vor dem Hintergrund der zunehmenden Differenzierung von Geisteskrankheiten und deren therapeutischen Heilungsversuche (vgl. Lindmeier & Lindmeier 2002: 74). Für die therapeutische Behandlung, aber auch für die Erziehung von Menschen mit aus heutiger Sicht, geistiger Behinderung entstanden im 19. Jahrhundert eine Vielzahl von Sondereinrichtungen, auf die im Kapitel 5.4. näher eingegangen wird. Deren Vertreter*innen rangen um die Definitionshoheit zur Absteckung ihres jeweiligen Arbeitsfeldes. Um das Jahr 1856 gründeten und leiteten die Reformpädagogen Jan-Daniel Georgens, Jeanne Marie von Gayette und Heinrich Marianus Deinhardt die »Levana« – eine »Heilpflege- und Erziehungsanstalt für geistes- und körperschwache Kinder« in Baden bei Wien –, in der sowohl »gesunde« Kinder aus den höheren Schichten als auch »Heilpfleglinge« aus den unteren Schichten erzogen wurden. Integrative Bestrebungen waren bei diesem Ansatz nicht intendiert, im Gegenteil, die architektonische Struktur der Anstalt grenzten den Bereich der sogenannten »geistesschwachen Kinder« hermetisch ab (vgl. Stöger 2010: 67ff.). Als »Heilpflegling« galt jemand, der sowohl »verwahrlost« als auch »idiotisch« war, wobei die »Idiotie« nicht als ein angeborener, schicksalhaft hinzunehmender Defekt, sondern als ein »Produkt einer regelwidrigen, teils zurückgehaltenen, teils beschleunigten

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Entwicklung« (Georgens & Deinhardt 1863: 28) angesehen wurde, deren Ursprung man auch in den sozialen Umständen verortete. Georgens und Deinhardt waren von der »Umbildungsfähigkeit« des »idiotischen Kindes« überzeugt, die allerdings mit zunehmendem Alter abnehmen würde. Aus diesem Grund beanspruchten sie das Feld der Kinder und Jugendlichen für die gerade entstehende »Heilpädagogik« und »überließen die erwachsenen »Idioten« der sich als medizinische Subdisziplin mühsam etablierenden Psychiatrie« (Schmuhl 2010: 31). Im Vordergrund stand zwar nicht die vollständige Heilung der Kinder, jedoch die Aussicht ein – wenn auch nicht ganz vollwertiger – Teil der Gesellschaft zu werden. Auch die kirchlichen Institutionen verfolgten mit entsprechend religiöser Färbung das Ziel, die »Idioten« in die Lage zu versetzen, eine selbstständige Lebensführung zu erlangen (vgl. ebd.: 35). Hier klingt, wie bei der Krüppelfürsorge auch, bereits das Ziel der Erwerbsbefähigung an. Obwohl es zu Beginn des 20. Jahrhunderts seitens der Psychiatrie üblich geworden war, Menschen mit geistiger Behinderung nach ihrem Grad der Intelligenzminderung zu klassifizieren – wobei die »Idiotie« als schwerer, die »Imbezillität« als mittlerer und die »Debilität« als leichter Grad von »Schwachsinnigkeit« angesehen wurde – herrschte noch lange Zeit eine heillose Begriffsverwirrung11 , da der Begriff der »Idiotie« trotz allem in den meisten Disziplinen weiter als Oberbegriff fungierte (vgl. ebd. 42f.). Anfang des 20. Jahrhunderts gingen die Definitionsversuche der Psychiatrie in eine Richtung, die später im Dritten Reich entsprechend kodifiziert wurde. Man fasste die drei Begriffe »Idiotie«, »Imbezillität« und »Debilität« unter dem Begriff der »Oligophrenie« zusammen. Die drei Formen der Oligophrenie bezeichnen nach Bleuler unterschiedliche Grade der »Armut der assoziativen Verbindungsmöglichkeiten« (Bleuler 1916: 429). Bleuler ging zum einem von einem fließenden Übergang von den »Oligophrenen« zu den »Normalen« aus, zum anderen musste sich die »Armut der assoziativen Verbindungsmöglichkeiten« nicht zwingend in einer minderen Intelligenz ausdrücken, sie konnte auch als Gefühlsarmut und als mangelnde moralische Urteilsfähigkeit in Erscheinung treten. Bleuler gelangte aufgrund seiner Annahmen konsequenterweise zum Begriff des »moralischen Schwachsinns«, der 1934 eine zentrale Rolle im »Gesetz zur Verhütung erbranken Nachwuchses« spielen sollte (vgl. Schmuhl 2010: 45ff.). Während es bei dem Begriff der körperlichen Behinderung um die Abgrenzung von arbeitsfähigen, erbgesunden Menschen einerseits und arbeitsunfähigen, erbkranken andererseits ging, drehte sich die Diskussion bei dem Begriff der geistigen

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Zu erkennen ist, dass in dem Maße, in dem sich die Institutionen »Idiotenanstalten«, »Hilfsklassen« und »Volksschulen« mit ihren jeweiligen Professionen (Pädagogik, Psychiatrie und Theologie) ausdifferenzierten, sich auch die entsprechenden Begrifflichkeiten ausdifferenzierten (vgl. Schmuhl 2010: 41f.).

2. Der deutsche Behinderungsbegriff

Behinderung überwiegend um die Differenzierung von »bildungsfähigen« und »bildungsunfähigen Idioten«. Im Reichschulpflichtgesetz von 1938 wurde schließlich die »Schulpflicht geistig und körperlich behinderter Kinder« geregelt; der Begriff der geistigen Behinderung taucht hier erstmalig in der Gesetzessprache auf (vgl. ebd. 2010: 72). Nach Schmuhl (2010) wurde die vom Staat »verordnete« Begrifflichkeit von den Körperbehinderten-Verbänden befürwortet12 – da hiermit offensichtlich eine gewisse Sicherheit für die Körperbehinderten verbunden schien. Gleichwohl trafen mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchs« (1933) Maßnahmen wie die Zwangssterilisation13 sowohl Menschen mit »schweren erblichen körperlichen Mißbildungen« als auch »Schwachbegabte«. Vernichtende Züge bekam die Erbgesundheitspolitik im Zuge des Euthanasie-Programms gegen die sogenannten »Ballastexistenzen«. Dem NS-Regime fielen in Deutschland Schätzungen zufolge etwa 216.400 Menschen mit Behinderungen zum Opfer (vgl. Faulstich 2000: 227). Viele von ihnen waren die ersten Opfer der folgenden systematischen Ermordung vor allem jüdischer und politisch andersdenkender Menschen.

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Bereits 1933 begrüßte beispielsweise der Reichsbund der Körperbehinderten (RBK) eugenische Maßnahmen und Gesetzesvorhaben. »Wie die Mehrheit der Bevölkerung unterschieden die Mitglieder des Bundes zwischen gesellschaftlich nützlichen oder brauchbaren und nutzlosen, unbrauchbaren Menschen. Aus Sicht des Bündnisses zählten Menschen mit Körperbehinderungen aufgrund intellektueller Befähigung und der Befähigung zur Arbeitsleistung zum Kreis der »wertvollen« Mitglieder der Gesellschaft. Mit dieser Auffassung verschob der Bund die Grenze zur Aussonderung bereits Anfang der 1930er Jahre: Bei der Gruppe der geistig Behinderten und seelisch Kranken hielt der Reichsbund die Anwendung eugenischer Maßnahmen für gerechtfertigt, während er Körperbehinderte davon ausgenommen wissen wollte.« (Fuchs 2003: 441f.) Im 3. Reich sah sich der Reichsbund als »Vollstrecker nationalsozialistischen Wollens auf dem Gebiet sämtlicher Körperbehindertenfragen« (ebd.: 442). Auch wenn er sich bereits zur Weimarer Zeit gegenüber den geistig behinderten Menschen abgrenzte, wurde diese Abgrenzung nun schriftlich festgehalten: »Dem R.B.K. sind alle von Geburt oder im jugendlichen Alter Körperbehinderten eingegliedert. Die Mitgliedschaft geistig Unnormaler ist ausgeschlossen […]. Dem R.B.K. obliegt die Vertretung, Betreuung und Förderung der geistig normalen und bildungsfähigen Krüppel. […] Der R.B.K. steht auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung.« (Der Körperbehinderte zitiert nach ebd.: 443) Der Selbsthilfebegriff des R.B.K. bezog sich nur noch auf wirtschaftliche Unabhängigkeit und Abkehr von der staatlichen Fürsorge: »Aus der Gemeinschaft der im RBK zusammengeschlossenen körperbehinderten Menschen hat die Lösung des Körperbehindertenproblems zu erfolgen. […] Erziehung zur Selbstbehauptung. Restlose Auswertung der eigenen Kräfte und Abkehr von der Fürsorge« (RBK Bundessatzung zitiert nach ebd.: 444) bildeten die neuen Grundsätze. Von 1934 bis 1945 wurden mindestens 350.000 Menschen zwangssterilisiert. Insgesamt sind durch Anwendung des Gesetzes schätzungsweise 6.000 Frauen und 600 Männer durch Komplikationen während der medizinischen Prozedur gestorben (vgl. Bundesdrucksache 13/9774: 8).

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Was ist Behinderung?

2.4

Weitere Begriffsentwicklung in der Nachkriegszeit

In der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs stand der Behinderungsbegriff aufgrund der Vielzahl an Kriegsversehrten und deren Eingliederung in die Gesellschaft wieder im Zentrum sozialpolitischer Aufmerksamkeit – dabei ging es weniger um den Begriff der »Behinderung« an sich, als um den darunter zu subsumierenden Personenkreis. Die damalige Regierung ersetzte schrittweise den in einigen Gesetzestexten noch vorhandenen Begriff des »Krüppels« durch den des »Körperbehinderten«, wenngleich auf Verbandsebene Tendenzen zum Festhalten an dem Begriff »Krüppel« existierten. 1957 wurde das »Preußische Krüppelfürsorgegesetz« durch das »Gesetz über die Fürsorge für Körperbehinderte und von einer Körperbehinderung bedrohte Personen (Körperbehindertengesetz)« vollständig ersetzt. Als »körperbehindert« galten nach diesem Gesetz diejenigen »Personen, die durch eine Fehlform oder Fehlfunktion des Stütz- und Bewegungssystems oder durch Spaltbildung des Gesichts oder des Rumpfes dauernd in ihrer Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt sind oder in Zukunft voraussichtlich sein werden.« (§1, Abs. 1) Hiermit hat sich der Begriff der »körperlichen Behinderung« in der Nachkriegszeit juristisch vollends durchgesetzt. Auch die »Deutsche Vereinigung für Krüppelfürsorge« änderte nach diesem Gesetz ihren Namen in »Deutsche Vereinigung zur Förderung der Körperbehindertenfürsorge« (heute: Deutsche Vereinigung für Rehabilitation; DVfR). Wie Schmuhl (2010) feststellt, ist der Begriff der geistigen Behinderung vor 1945 relativ selten gebraucht worden. Nach 1945 ist es vor allem dem 1958 gegründeten Elternverein »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind e.V.« zu verdanken, dass der Begriff in der Öffentlichkeit weitere Verbreitung fand. Aufgrund dieser Entwicklung kann es als ein sprachpolitischer Erfolg gewertet werden, dass der Gesetzgeber im Bundessozialhilfegesetz von 1961 »körperlich, geistig und seelisch Behinderte« berücksichtigte (vgl. Schmuhl 2010: 86f.). Zwar wurde der Behinderungsbegriff in der Rechtssprache als Sammelbegriff konzipiert, unter dem alle Formen von Funktionseinschränkungen subsummiert wurden, in den medizinischen und pädagogischen Fächern erfolgte dabei gleichzeitig eine kontinuierliche inhaltliche Ausdifferenzierung – vor allem hinsichtlich einer zunehmenden Differenzierung innerhalb der medizinischen Klassifikationssysteme.14 Dieser Prozess hat seine Spiegelung in den Ausgaben der Brockhaus-Lexika. Erstmalig taucht das Lemma »Körperbehinderung« 1959 auf. Dort werden Körperbehinderte als »Menschen mit schwerer Beeinträchtigung der Bewegungsmög14

Differenzierung von Behinderungsformen in Klassifikationssystemen und Homogenisierung ihrer formalen Definition gehen hier interessanterweise Hand in Hand.

2. Der deutsche Behinderungsbegriff

lichkeit oder der Körperhaltung« bezeichnet (vgl. Brockhaus 1959: 192). In den folgenden Brockhaus-Bänden wird das Stichwort »Körperbehinderung« hinsichtlich seiner Ätiologie und den institutionellen Zuständigkeiten innerhalb des Sozialsystems weiter ausdifferenziert, bis es schließlich 1978 in der 18. Auflage gemeinsam mit den geistigen Behinderungen unter dem Sammelbegriff »Behinderung« zu finden ist (vgl. Brockhaus 1978: 8). In der 19. Ausgabe (1980) ist »Behinderung« zu einem sogenannten lexikalischen Schlüsselbegriff geworden. In den Ausführungen sind bereits internationale Einflüsse (WHO-Definition) sichtbar (vgl. Brockhaus 1980: 35f.). In der 21. Auflage (2006) werden behinderte Menschen als Menschen bezeichnet, »die in ihren phys., intellektuellen und psych. Funktionsfähigkeiten nicht nur vorübergehend beeinträchtigt sind und einen individuellen spezif. Unterstützungsbedarf haben, um selbstbestimmt und gleichberechtigt am Leben der Gesellschaft teilhaben zu können.« (Brockhaus 2006a: 497ff.) Der Begriff »Behinderung« wird nicht direkt definiert – im Gegenteil, es erfolgt die Anmerkung, dass keine einheitliche und allgemeingültige Definition weder in Deutschland noch international existiert. Darüber hinaus wird das WHO-Modell (ICF) detailliert dargestellt (vgl. ebd.).

2.5

Gesellschaftliche Implikationen der Begriffsentwicklung

Den obigen Ausführungen folgend hat sich aus dem medizinisch geprägten Begriff der »körperlichen Behinderung« und dem heilpädagogisch geprägten Begriff der »geistigen Behinderung« und unter soziologischem Einfluss (Betonung der »gesellschaftliche Teilhabe«) ein juristischer Begriff der »Behinderung« entwickelt, der beide anderen Begriffe zusammen mit dem der seelischen Behinderung umfasst. Erkennbar ist, dass die Begriffsentwicklung in einen Prozess eingebunden war und ist, in dem es einerseits um die Aktivierung von Arbeitsmarktreserven und anderseits – aber damit eng verknüpft – um die Verteilung von gesellschaftlichen Ressourcen ging und auch weiterhin geht. Wann immer auf einem dieser Gebiete eine Wandlung erfolgt, so ändert sich auch der sprachliche Diskurs entsprechend, und damit schrumpft oder wächst ebenfalls die Gruppe der Menschen, die qua Definition von Behinderung erfasst wird (vgl. Metzler 2013a: 94). Dabei ist zu beachten, dass die Integrationsbemühungen von beispielsweise Menschen mit körperlichen Funktionseinschränkungen im 20. Jahrhundert immer nur diejenigen betrafen, die in ein Normalarbeitsverhältnis integrierbar erschienen. Das vergrößerte aber gleichzeitig den Abstand zu all jenen Menschen mit körperlichen Funktionseinschränkungen, die eben nicht in den Arbeitsmarkt integriert werden konnten. Hier lässt sich klar beobachten, dass Inklusions- und Exklusionsprozesse eng miteinander korrespondieren (vgl. Schmuhl 2010: 92).

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Die Begriffsentwicklung ist mehr Ausdruck als Triebfeder sich wandelnder gesellschaftlicher Strukturen und hat keinen Endpunkt. Schmuhl (2010) fasst zusammen: »Neue Begriffe oder sich wandelnde Wortbedeutungen setzen sich durch, wenn sie Strukturveränderungen treffend in Sprache fassen. Dabei beschleunigen, vertiefen, verfestigen neue Begriffe und Bedeutungen die Strukturveränderung, die sie bezeichnen. Sie können sie aber nicht herbeiführen.« (Ebd.: 93) Der Begriffswandel ist somit eine »notwendige, aber keine hinreichende Bedingung politischen und sozialen Wandels« (ebd.). Anders formuliert, ist ein Wechsel der Begrifflichkeiten nur dann sinnvoll, wenn damit eine Veränderung der mit diesen Begrifflichkeiten verbundenen Vorstellungen einher- bzw. vorausgeht. Wenn dies nicht der Fall ist, tritt nach Pinker (2003) häufig ein Mechanismus in Gang, der von Linguisten als »EuphemismusTretmühle« bezeichnet wird. Das bedeutet, dass jeder neu eingeführte Begriff irgendwann die negative Konnotation des Vorgängerausdrucks annimmt, solange sich nicht die tatsächlichen negativen Einstellungen und Assoziationen zu dem begrifflich zu erfassenden Personenkreis ändern (vgl. Pinker 2003: 299ff.). Umgekehrt kann man davon ausgehen, dass sich Begriffe für Minderheiten solange verändern werden, wie Menschen gegenüber der zu beschreibenden Minderheit negative Einstellungen aufweisen. Erst wenn sich ein Begriff, der eine Minderheit bezeichnet, nicht mehr ändert, kann davon ausgegangen werden, dass sich die gesellschaftliche Gleichberechtigung zu einer Selbstverständlichkeit entwickelt hat (vgl. ebd.: 300). Begriffe sollten aus den oben angeführten Gründen nicht als rein theoretische Konstrukte, sondern als Machtmittel verstanden werden (vgl. Hirschberg 2009: 106), denn dass die »begriffliche Abgrenzung eine Frage von höchster Brisanz ist, wird jedem deutlich, der sich die juristischen, finanziellen, sozialen und nicht zuletzt psychischen Folgen der Abgrenzung für die jeweils Betroffenen vor Augen stellt« (Szagun 1982: 16). Grundsätzlich bleibt die Frage offen, ob der derzeitige juristische Behinderungsbegriff die Wirklichkeit und die Erfahrung der Menschen adäquat abbildet.

2.6

Zur Vielschichtigkeit des deutschen Behinderungsbegriffs und Festlegung des Behinderungsverständnisses dieser Arbeit

Wie man aus den bisherigen Ausführungen erkennen kann, subsumieren der gegenwärtige juristisch festgelegte Behinderungsbegriff und das Behinderungsverständnis der dargestellten Modelle eine große Anzahl von Menschen mit ganz heterogenen Funktionseinschränkungen unter einen Terminus, der häufig eine Ho-

2. Der deutsche Behinderungsbegriff

mogenität dieser Menschen suggeriert, die de facto nicht vorhanden ist. Das einzig verbindende Element der Zugehörigkeit zu dieser scheinbar homogenen Menschengruppe ist das Kriterium der negativen Zuschreibung – die häufig erst aus der Gleichsetzung der individuellen Funktionseinschränkung und der sozialen Benachteiligung erwächst –, ein pauschal unterstelltes Leid sowie eine unterstellte Hilfsbedürftigkeit (vgl. Frohne 2013: 37; Nolte 2013: 346).15 »Behinderung« ist ein multidimensionaler Begriff, der multiprofessionell verwendet wird, und dies macht eine Auseinandersetzung mit dem Thema so unübersichtlich. Bei seiner Verwendung begibt man sich relativ schnell auf ein semantisches Minenfeld. Dem breiten Spektrum des Behinderungsbegriffes – sowohl hinsichtlich seiner sprachlichen Synonyme als auch seiner interdisziplinär unterschiedlichen Verwendung und den darunter subsumierten biologischen Phänomenen – ist eine in wissenschaftlichen Publikationen verschiedener Fachrichtungen häufig anzutreffende Unklarheit und fehlende Trennschärfe bezüglich des mit diesem Begriff bezeichneten Personenkreises zuzuschreiben. Der Begriff der Behinderung wird mit einer Selbstverständlichkeit verwendet, obwohl es tatsächlich häufig nicht ganz klar ist, wen die Autoren vor ihrem »geistigen Auge« haben, wenn sie über Behinderung schreiben. Das Phänomen16 der Behinderung ist so vielschichtig wie offenbar auch der Begriff. Die Disability Studies führten die begriffliche Unterscheidung von Schädigung und Behinderung ein und verwiesen somit die Ursache und Verantwortung von Behinderung in den Bereich der Gesellschaft. Damit wurde eine sicher unbeabsichtigte etymologische Rückkehr zu der bei den Brüdern Grimm verschrifteten Ursprungsbedeutung des Behinderungsbegriffs vollzogen, die auf ein außerhalb einer Person liegendes Hindernis hindeutet. Dieser begrifflichen Unterscheidung wird hier gefolgt, denn nur dadurch lassen sich gesellschaftliche Behinderungsprozesse im Sinne gesellschaftlicher Abwertung und Ausgrenzung beschreiben und erklären. Dies

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Jütte (2013) stellt beispielsweise die Hilfsbedürftigkeit in den Mittelpunkt, um Behinderung im Mittelalter zu konzeptualisieren: »Behindert ist derjenige, der wegen eines körperlichen oder geistigen »Gebrechens« Unterstützung sucht und dem diese von obrigkeitlicher Seite (Staat, Kirche) auch gewährt wird. Alle anderen kommen mit ihrer Beeinträchtigung (»impairment«) offenkundig zurecht.« (Jütte 2013: 336f.) Ein Phänomen ist eine »Erscheinung«, die zwar sinnlich wahrnehmbar ist und der somit der Anschein einer objektiven Realität anhaftet, die jedoch nach Platon sowie nach Kant veränderbar und dauernden Veränderungen unterworfen ist und nicht direkt mit der Wirklichkeit gleichgesetzt werden kann (vgl. Brockhaus 2006e: 359). Eine Erscheinung kann letzten Endes auch wieder verschwinden. Es ist folglich kein Zufall, dass die Vertreter*innen der Disability Studies bei der Auseinandersetzung mit dem Thema »Behinderung« häufig von einem »Phänomen« der Behinderung sprechen.

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wäre nicht möglich, wenn Behinderung mit Schädigung gleichgesetzt wird. In diesem Falle müssten beide als anthropologische Konstanten angesehen werden, bei denen gesellschaftliche Prozesse nur in Hinblick auf eine medizinische Versorgung der betreffenden Menschen relevant sind, die aber darüber hinaus keine Bedeutung für Ausgrenzungsprozesse haben; jene würden lediglich eine Art »natürliche« Konsequenz der Schädigung darstellen. Die Frage nach einer gesellschaftlichen Verantwortung zur Verbesserung von Teilhabechancen wäre demzufolge obsolet (vgl. Metzler 2013b: 80). Zu beachten ist in erster Linie nochmals die Implikation dieser rein begrifflichen Trennung: Durch eine körperliche und/oder geistige Schädigung kann man in seinen körperlichen und/oder geistigen Funktionen dauerhaft eingeschränkt bzw. beeinträchtigt sein, durch eine Behinderung ist oder wird man demgegenüber mehr oder weniger vom gesellschaftlichen Leben durch beschreibbare und erklärbare Prozesse abgewertet bzw. ausgeschlossen. Als »behindert« ist dabei aber nur diejenige Person zu bezeichnen, die aufgrund ihrer körperlichen und/oder geistigen Funktionseinschränkung abgewertet und/oder ausgeschlossen wird. Bestimmte, beispielsweise erworbene Schädigungen bzw. damit häufig verbundene Funktionseinschränkungen sind durch den Einsatz entsprechender Hilfsmittel oder medizinischer Eingriffe möglicherweise zu verringern oder gar zu beheben, systematische Abwertungs- und Ausschließungsprozesse von Menschengruppen können dagegen nur durch soziale Prozesse verringert oder im Idealfall behoben werden. Körperliche und/oder geistige Schädigungen gibt es, seit Menschen auf der Erde leben. Sie sind daher wie auch Krankheiten als anthropologische Grunderfahrung anzusehen: »Simply put, a fractured leg is a fractured leg in no matter what culture one looks at; practically every human culture would recognize the leg as ›fractured‹ and would deem that an undesirable state for a leg to be in.« (Metzler 2006: 33) Ob zu unterschiedlichen Zeiten mit einer Schädigung auch per se eine Behinderung nach dem hier zugrunde liegenden Verständnis einherging, hängt von vielen weiteren Faktoren ab.17 Der Behinderungsbegriff ist folglich relativ bezogen auf den historisch-kulturellen Kontext (also der vorherrschenden gesellschaftlichen Norm) und relational bezogen auf den persönlich-situativen Kontext (persönliche Voraussetzungen und soziale Umgebung). Wobei fließende Übergänge zwischen der Relativität und der Relationalität von Behinderung existieren. Da eine Schädigung nicht zwangsläufig eine Funktionseinschränkung zur Folge hat, allerdings in den meisten, wenn auch nicht in allen Fällen die Funktionsein-

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»Whereas impairments is a non-negotiable reality, disability, in this instance, is very much a matter of perception, both by others and by the individual concerned.« (Metzler 2006: 7)

2. Der deutsche Behinderungsbegriff

schränkung die negative soziale Reaktionen hervorruft18 , wird im Folgenden von Menschen mit Funktionseinschränkungen die Rede sein – wobei damit sowohl körperliche als auch geistige Funktionseinschränkungen gleichermaßen gemeint sind. Falls sich Aussagen allein auf eine spezifische Funktionseinschränkung beziehen, wird dies konkret benannt. Darüber hinaus hat der Begriff der Schädigung eine pejorative Bedeutung, die hier durch die Verwendung des Begriffs der Funktionseinschränkung umgangen werden soll. Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich das für diese Arbeit festgelegte soziologische Verständnis von Behinderung ableiten: Ein Mensch gilt als »behindert«, wenn er durch eine dauerhafte Funktionseinschränkung so weit von vorherrschenden Körper-, Verhaltens- und kognitiven Entwicklungsnormen, also einer vorherrschenden »Normalität«, abweicht19 , dass darauf negative Bewertungen und/oder Reaktionen20 erfolgen, durch die ihm eine gesellschaftliche Teilhabe ver18

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Menschen mit sehr auffälligen körperlichen Abweichungen oder besonders kleinwüchsige Menschen, die jedoch keinerlei körperliche und/oder geistige Funktionseinschränkung haben, sind Gegenbeispiele dafür, dass sich negative soziale Reaktionen auch auf die Abweichung an sich beziehen können. Die negative Reaktion zeigen sich beispielsweise in einer Einschränkung sozialer Funktionen (Partnerschaft, Erwerbstätigkeit etc.). »Disability presents itself to ›normal‹ people through two main modalities – function and appearance.« (Davis 1995: 11) Auch Cloerkes weist darauf hin, dass die Funktionseinschränkung sichtbar bzw. ein Wissen um sie vorhanden sein muss, damit eine entsprechende soziale Reaktion erfolgen kann (vgl. Cloerkes in Kastl & Felkendorff 2014: 123). Wie die Vertreter*innen der Disability Studies zu Recht betonen, sind gesellschaftliche Barrieren wie Treppen, komplizierte Beschilderungen, fehlende Blindenleitsysteme, Stehtische für Rollstuhlfahrer etc. Dinge, die Menschen mit Funktionseinschränkung »behindern« können und somit »Behinderung« verursachen, und dies geschieht – entgegen dieses Definitionsversuchs – weder zwingend aufgrund einer negativen sozialen Bewertung noch einer negativen Reaktion. Städte und Wohnungen können sicherlich – zumindest in der Theorie und mit entsprechenden finanziellen Ressourcen – so konstruiert oder umgebaut werden, dass sie für Menschen mit bestimmten Funktionseinschränkungen nur noch wenige Barrieren aufweisen; dies allerdings für die höchst heterogene Menschengruppe mit jedweder Funktionseinschränkung realisieren zu können, halte ich für eine Utopie. Zudem sind einige dieser Barrieren und deren Lösungen (Fahrstühle, digitale Leitsysteme etc.) relativ moderner Natur. Auch der Faktor Zeit zur Überwindung von Barrieren (z.B. Treppen für Gehbehinderte) war im Mittelalter sicher nicht von solcher Relevanz wie heute. Negative Bewertungen (z.B. Behindertenfeindlichkeit, Abscheu) oder negative Reaktionen (z.B. Wegsperren, Töten) auf die weiter unten noch detaillierter eingegangen wird, sind m.E. von weit größerer Bedeutung bei der Analyse von Behinderungsprozessen als die Fixierung auf Fragen des Städte- und Wohnungsbaus – deren Wichtigkeit für heute lebende Menschen mit Funktionseinschränkungen ich damit aber in keiner Weise absprechen möchte. Dennoch kann man zumindest konstatieren, dass sich auf diesem Gebiet – dank des Engagements der Behindertenbewegungen sowie gesetzlicher Vorgaben – bereits einiges getan hat bzw. mit entsprechendem Engagement auch umsetzen ließe. Dass dieses Engagement in manchen Fällen fehlt, kann im Einzelfall sicher wiederum mit einer mehr oder weniger bewussten negativen Bewertung

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wehrt bleibt (vgl. Kastl 2017: 87ff.; Jantzen 1992: 18). Eine »Behinderung« kann aus dieser Perspektive als eine situationsspezifische Erfahrung bezeichnet werden, die Menschen mit Funktionseinschränkungen machen, wenn ihnen die gesellschaftliche Teilhabe verwehrt wird; damit entsteht eine Art sozialer Funktionseinschränkung (vgl. Bickenbach et al. 2017).21 Vereinfacht lässt sich formulieren: Ein Mensch mit Funktionseinschränkung kann durch gesellschaftliche Prozesse »behindert« werden und durch seinen Körper oder Geist »beeinträchtigt« sein. Der Begriff der »Behinderung« verweist hier also in erster Linie auf die gesellschaftlichen Prozesse, der Begriff der »Beeinträchtigung« fokussiert dagegen auf das Individuum; und beide können sich nachteilig auf die gesellschaftliche Teilhabe der betreffenden Person auswirken. Auch dieses Begriffsverständnis offenbart die Schwierigkeit, begriffliche Grenzen innerhalb der menschlichen Diversität zu ziehen. Sozial negative Bewertungen von Abweichungen und daraus folgende negative soziale Reaktionen betrafen und betreffen viele weitere Menschengruppen: Im Mittelalter wurden beispielsweise das »fahrende Volk«, »die Juden«22 oder auch Angehörige bestimmter Berufe wie beispielsweise Scharfrichter ausgegrenzt – auch ohne entsprechende Funktionseinschränkungen. Auch in der Gegenwart gibt es immer noch Menschen, die häufig keine volle gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe erfahren, beispielsweise aufgrund einer anderen Hautfarbe, ihrer Geschlechtszugehörigkeit, einer stark abweichenden Körpergröße, eines stark abweichenden Aussehens oder schlicht aufgrund ihrer Nationalität – aber auch hier rekurriert dies nicht auf eine körperliche und/oder geistige Funktionseinschränkung.23 Anders als im Mittelalter sind diese Menschen in der Gegenwart zumindest rechtlich gleichgestellt. So gesehen, betrifft das Phänomen der »Behinderung« im weiteren Sinne deutlich mehr Menschen als unter der o.g. Definition subsumiert werden.

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von Menschen mit Funktionseinschränkungen durch diejenigen, die Entscheidungen treffen, assoziiert werden. Die Verwehrung gesellschaftlicher Teilhabe wird dabei nicht zwingend bewusst von anderen Menschen herbeigeführt, sondern äußert sich häufig auch in beispielsweise einer Kontaktvermeidung, die überwiegend durch unbewusste Prozesse gesteuert wird. Hergemöller (2001) unterscheidet im Mittelalter vier Randgruppen: Menschen mit »unehrlichen« Berufen (Schauspieler, Totengräber, Scharfrichter etc.), Menschen mit körperlichen und geistigen Auffälligkeiten (Krüppel, Narren etc.), Menschen anderer ethnisch-religiöser Zugehörigkeit (Juden, Sinti und Roma etc.) und Inquisitionsopfer (Hexen, Ketzer, Sodomiter etc.) (vgl. Hergemöller 2001: 4ff.). An dieser Stelle sei angemerkt, dass der ebenfalls sehr wichtige Themenkomplex Geschlecht und Behinderung angesichts seiner Komplexität im Rahmen dieser Arbeit nicht hinreichend bearbeitet wird. Hier und generell im Bereich der Intersektionalität offenbart sich noch immer ein weites Feld für zukünftige Forschungsarbeiten.

3. Konzeptualisierung und methodische Vorgehensweise

3.1

Gegenstand der Untersuchung

Die erste Frage, die sich für diese Untersuchung ergibt, ist die nach dem Personenkreis auf den fokussiert wird. Angesichts des breiten Feldes von Funktionseinschränkungen und je nachdem, auf welche sich der Fokus richtet, werden unterschiedliche Quellen benötigt und vermutlich unterschiedliche Ergebnisse erzielt. Den facettenreichen gesellschaftlichen Umgang mit Menschen, die unterschiedlichste Funktionseinschränkungen aufweisen, darzustellen und zu erklären, würde über den Umfang dieser Studie hinausgehen und einen eigenen Forschungsschwerpunkt darstellen. Betrachtet man die Stigmatisierung gehörloser Menschen im Mittelalter, werden andere soziale Prozesse, andere Nuancen im Umgang zu finden sein als gegenüber Menschen mit fehlenden Gliedmaßen oder blinden Menschen. Vermutlich gab es auch gegenüber Mitgliedern einer dieser »Gruppen«1 , deren Funktionseinschränkung Ähnlichkeiten aufweisen, deutliche Unterschiede in den gesellschaftlichen Reaktionen, je nach sozialem Status des Betroffenen und je nachdem ob es sich um eine angeborene oder durch Kampf, Unfall, Bestrafung oder Krankheit erworbene Funktionseinschränkung handelte. Dreht man die Frage hingegen um, also fokussiert man auf die sozialen Prozesse, die zu einer Behinderung im soziologischen Verständnis, also im Sinne gesellschaftlicher Abwertung und Ausgrenzung führen, können möglicherweise gesellschaftliche Entwicklungsrichtungen beschrieben und erklärt werden. Wenn auch der Begriff der Behinderung im Mittelalter noch nicht existierte, sondern erst in der Neuzeit seine heutige Bedeutung erlangte, so lassen sich doch Prozesse, die zur Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen aus

1

Der Begriff wird hier in Anführungszeichen gesetzt, um darauf hinzuweisen, dass es im Mittelalter nicht die Gruppe der Blinden, Tauben etc. gab, sondern nur aus heutiger Perspektive von einer »Gruppe« gesprochen werden kann (vgl. Davis 1995: 82). Die »Gruppen« wurden erst durch die Konzentrierung und Internierung der Menschen an einem Ort, also durch zunehmende Institutionalisierung erzeugt.

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Was ist Behinderung?

einer Gemeinschaft führen, schon seit der Antike nachweisen. Im Umkehrschluss lässt sich mit dem Blick auf diese Behinderungsprozesse auch der Wandel der jeweiligen gesellschaftlichen Norm beschreiben und erklären. Gegenstand der Untersuchung sind folglich Behinderungsprozesse, die ihren Niederschlag zum einen in der Gesellschaftsstruktur (Soziogenese) und zum anderen in den Persönlichkeitsstrukturen der Menschen finden, die diese Gesellschaft bilden (Psychogenese). Ziel ist die Beschreibung und Erklärung von Behinderungsprozessen, die wiederum mehr oder weniger bewusst durch Menschengruppen beeinflusst werden, die über die notwendigen Macht- und Orientierungsmittel zur Durchsetzung ihrer Vorstellungen von Normalität und Abweichung verfüg(t)en. Daher muss auch der Wandel der Machtverhältnisse zwischen den entsprechenden Definitionsmächten in die Betrachtung miteinfließen.

3.2

Definition von Behinderungsprozessen

Behinderungsprozesse werden als jene Prozesse begriffen, die dazu führen, Menschen aufgrund ihrer Gebrechen, Einschränkungen oder Schädigungen abzuwerten und auszugrenzen, sie im Spannungsfeld zwischen Normalität und Abweichung, in den Bereich der Abweichung zu »verbannen«, was sich schließlich in der modernen binären Logik2 von »behindert« und »nicht-behindert« und den damit assoziierten negativen Wertzuschreibungen der zweiten Gruppe durch die erste manifestiert. Als Gegenposition hierzu kann die Ansicht von Antonovsky (1997) bezüglich der binären Trennung von »krank« und »gesund« aufgeführt werden. Danach bewegt sich jeder Mensch auf einem Kontinuum und ist damit nicht entweder »gesund« oder »krank«, sondern immer sowohl »gesund« als auch »krank«, dies wäre ebenfalls auf die Pole »behindert« und »nicht-behindert« oder »normal« und »abweichend« übertragbar. Auch Cloerkes (2014) folgt dieser Meinung: »Behinderte und Nichtbehinderte können nicht dichotomisch voneinander unterschieden werden, […] sondern es handelt sich um ein Kontinuum; die Trennung ist daher rein analytisch.« (Cloerkes in Kastl & Felkendorff 2014: 123; Weglassung C.E.)

2

Binäre Kodes sind Orientierungsmuster, an denen Menschen ihr Verhalten und Empfinden ausrichten. Ein weiterer binärer Kode ist die immer noch weit verbreitete eindeutige Trennung der Geschlechter in Mann und Frau, gleichwohl im wissenschaftlichen Kanon bereits seit längerem die Erkenntnis existiert, dass es mehr als nur zwei Geschlechter gibt. Was auch zu gewissen Unsicherheiten und Abwehrstrategien führt, da etwas, was früher eindeutig war, nun zeitlebens zur Disposition steht, somit ein Wechsel der sexuellen Orientierung nicht kategorisch ausgeschlossen werden kann.

3. Konzeptualisierung und methodische Vorgehensweise

Behinderungsprozesse sind also Prozesse, die aus Menschen mit unterschiedlichen Funktionseinschränkungen »behinderte« Menschen im soziologischen Sinne machen. Diesem Verständnis folgend könnten Behinderungsprozesse auch als Exklusionsprozesse bezeichnet werden. Allerdings ist der Exklusionsbegriff im Alltagsverständnis der Gegenwart relativ einseitig mit dem Bildungssystem assoziiert, daher wird auf diesen Begriff weitgehend verzichtet. So wie der Begriff »Behinderungsprozesse« hier verwendetet wird, umfasst er jedoch Exklusionsprozesse. Das Verständnis von Behinderungsprozessen entspricht an diesem Punkt der Logik des Sozialen Modells von Behinderung. Behinderungsprozesse können auf der Ebene gesellschaftlicher Reaktion wie gesellschaftlicher Bewertung verortet werden. Beide Ebenen beeinflussen wiederum die gesellschaftliche Wahrnehmung von Menschen mit Funktionseinschränkungen. Die gesellschaftlichen Reaktionen sind unter anderem Prozesse der Ausgrenzung (inkl. ausgrenzende Fürsorge), des Wegsperrens (inkl. wohlmeinende Bevormundung), der Marginalisierung, des Tötens, der Korrektion oder Heilung.3 Die gesellschaftliche Bewertung besteht vor allem darin, Menschen mit Funktionseinschränkungen abzuwerten, sie als nicht vollwertige Menschen anzusehen und sie so als »abweichend« zu stigmatisieren (vgl. Goffmann 1963). Die Bewertung eines Menschen mit Funktionseinschränkung, die Vorstellung über die jeweilige Andersartigkeit, speist sich aus religiösen, medizinischen, rechtlichen, politischen und/oder wirtschaftlichen Elementen. Ihre institutionelle Resonanz finden Behinderungsprozesse im Mittalter beispielsweise in Hospitälern und »Tolltürmen«, in der Moderne eher in sozialstaatlichen Sondereinrichtungen. Es ist folglich sinnvoll, einerseits die Legitimationselemente (Bewertungsebene) und andererseits die Institutionen (Reaktionsebene) zu beleuchten. Die Entwicklung dieser Legitimationselemente und ihrer Institutionen, also der gesellschaftlichen Bewertung und Reaktion sowie die gesellschaftliche

3

Nach Lévi-Strauss (1970) können diese gesellschaftlichen Prozesse in zwei Lager geteilt werden: in anthropophage und anthropoemische Strategien. Erstere symbolisiert die Einverleibung des Anderen, also die Gleichmachung durch Heilung, Korrektion, Anpassung und Verbergen (Rehabilitation, Therapie, Schönheits-Operationen, Erziehung, Prothetik etc.), letztere verbannt beziehungsweise zerstört den »abweichenden« Menschen (Internierung in abgeschlossene Anstalten, Eugenik, Pränatal-Diagnostik) (vgl. Lévi-Strauss 1970: 355ff; vgl. Hughes 2014: 53). Beide Strategien – Heilen und Wegsperren bzw. Töten – können auch nebeneinander existieren; »sie vermitteln im Kern dieselbe kulturelle Botschaft: Behinderungen repräsentieren das, »was nicht sein darf « […].« (Hughes 2015a: 123) Bei Hughes, jedoch auch bei anderen Autoren, gewinnt man den Eindruck, dass auch das Heilen bzw. Anpassen als negative gesellschaftliche Antworten auf Behinderung betrachtet werden, gleichwohl es für die Betroffenen einen erheblichen Unterschied macht, in welche Strategien man involviert wird. Im Gegensatz zu diesen beiden Behinderungsprozessen könnten Enthinderungsprozesse als anthropophile gesellschaftliche Strategien bezeichnet werden.

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Was ist Behinderung?

Wahrnehmung kann dabei als die Soziogenese von Behinderungsprozessen bezeichnet werden. Folgt man der Logik der Elias’schen Sozio- und Psychogenese – auf die später noch detaillierter eingegangen wird –, gehen die Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster von Menschen gegenüber Menschen mit Funktionseinschränkungen, beispielsweise Gefühle des Ekels, der Feindseligkeit und Aggression, des Abscheus, der Peinlichkeit, der Angst, der Scham und des Mitleids mit der Entwicklung der Soziogenese einher. Das bedeutet, dass sich die drei Ebenen der gesellschaftlichen Wahrnehmung, Bewertung und Reaktion, in den Menschen widerspiegeln, die diese Gesellschaft miteinander bilden. Menschen entwickeln ihre Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster im Laufe ihrer Sozialisation, die, so individuell sie auch sein mag, überwiegend durch gesellschaftlich akzeptierte Normen und Werte bestimmt ist. Die mehr oder weniger individuellen Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster gegenüber Menschen mit Funktionseinschränkung, entsprechen den gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Mustern. Die Entwicklung dieser »individuellen« Muster wird als Psychogenese von Behinderungsprozessen bezeichnet.

3.3

Konzeptualisierung von Behinderungsprozessen

Wurde die Funktionseinschränkung eines Menschen, die wir heute als »abweichend« wahrnehmen, bereits im Mittelalter als »Abweichung« wahrgenommen oder war das Spektrum der »Normalität« breiter, so dass die mittelalterlichen Menschen schon allein aufgrund der Häufigkeit von beispielsweise verstümmelten Menschen eine andere Wahrnehmung von Devianz und körperlicher Differenz hatten? Und falls Menschen mit Funktionseinschränkungen als »abweichend« wahrgenommen wurden, wie sah die damit verknüpfte gesellschaftliche Bewertung und Reaktion aus? Denn auch wenn jemand als »abweichend« oder »anders« wahrgenommen und diese Abweichung zudem noch negativ »bewertet« wird, ist das Entscheidende für die betroffenen Menschen die gesellschaftliche Reaktion, erst sie produziert die soziale Funktionseinschränkung, also die »Behinderung« (vgl. Kastl & Felkendorff 2014: 123). Die Bewertung einer Funktionseinschränkung und die Reaktion auf den Menschen mit dieser Funktionseinschränkung sind jedoch nicht per se festgelegt, sie können negativ, ambivalent oder positiv (ggf. auch indifferent) sein und müssen, auch wenn sie häufig eng miteinander verzahnt sind, analytisch getrennt betrachtet werden. Blindheit wird beispielsweise negativ bewertet, faktisch sind die Reaktionen gegenüber blinden Menschen heutzutage in der Regel nicht negativ (vgl. Cloerkes 2007: 128). Zu keiner Zeit sind beispielsweise körperliche Funktionseinschränkungen ein Zustand, der wünschenswert

3. Konzeptualisierung und methodische Vorgehensweise

ist und mit Absicht herbeigeführt wird.4 Dennoch sind in Gesellschaften, in denen dem menschlichen Körper keine hohe Bedeutung zukommt, auch die Wahrnehmung und Reaktionen der Menschen auf einen versehrten Körper anders als in einer Gesellschaft in der das Ideal eines normierten Körpers täglich in den verschiedensten Medien zur Schau gestellt und zum anzustrebenden Objekt stilisiert wird. Die Reaktion auf einen Menschen mit einer spezifischen Funktionseinschränkung richtet sich folglich nicht danach, wie seine konkrete Funktionseinschränkung (z.B. Blindheit) bewertet wird, sondern nach der Bewertung als Mensch mit dieser Funktionseinschränkung (z.B. blinder Mensch), und diese Bewertung wiederum richtet sich nach den gesellschaftlichen Vorstellungen über den Wert von beispielsweise Arbeitsleistung, Körpergestalt, körperlichen und kognitiv-intellektuellen Fähigkeiten, aber auch generell nach den Vorstellungen der jeweiligen Definitionsmächte über Krankheiten und Funktionseinschränkungen (z.B. Assoziation mit Leid). Dieser Punkt ist entscheidend für das Verständnis der Struktur der folgenden Kapitel über Mittelalter, Moderne und Postmoderne. Aus den Vorstellungen über den Ursprung und die Bedeutung von Krankheiten und Funktionseinschränkungen (religiöse oder naturwissenschaftliche Deutung) generiert sich über entsprechende Definitionsmächte die gesellschaftliche Bewertung über Menschen, die Krankheiten oder Funktionseinschränkungen aufweisen. Die Wahrnehmung von Menschen mit körperlicher Differenz oder deviantem Verhalten geht immer mit einer Bewertung einher; und nach dieser Bewertung richtet sich häufig auch die entsprechende Reaktion (vgl. von Ferber 1972b: 122ff.). Wahrnehmung beschränkt sich nicht auf die Feststellung der physischen Oberfläche, sondern entschlüsselt nach der sozialisierten Bewertung die hinter dem Körperlichen liegende moralische, psychische oder charakterliche Andersartigkeit. Beispiele sind die diskriminierenden Versuche der Feststellung einer Korrelation zwischen Physiognomie und Intelligenz bzw. Charaktereigenschaften oder die Deklaration der sogenannten »Judennase« im Dritten Reich (vgl. Dederich 2007: 80f.).»Körperliche Merkmale werden also nicht nur genutzt, um etwas über das Innere des jeweiligen Individuums zu erfahren, sondern sie liefern auch Zeichen, anhand derer soziale Differenzierungen vorgenommen werden können.« (Ebd.)

4

Das postmoderne Transability-Phänomen bildet hierbei eine Ausnahme. Dieses Phänomen, das in der psychiatrischen Forschung auch als Body Integrity Identity Disorder (BIID) bezeichnet wird, prägt sich beispielsweise in dem Wunsch nach einer Amputation oder einer Querschnittlähmung aus. Diskutiert wird dieses Phänomen vor dem Hintergrund des hippokratischen Eides und dem Recht auf Selbstbestimmung.

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Was ist Behinderung?

Die Bewertung strukturiert die Wahrnehmung.5 Gleichzeitig wirken die gesellschaftlichen Bewertungen auf das Selbstbild und die Identität von Menschen mit Funktionseinschränkungen ein, wodurch häufig ein entsprechendes Verhalten des Betroffenen, aber auch eine entsprechende Reaktion der »anderen« Menschen verursacht wird (vgl. Gergen 1979: 80). Ein plakatives Beispiel hierfür ist das Wegsperren autistischer Menschen: Durch den Abbruch des Kontakts zu Menschen ohne Autismus können sich hier einerseits die Funktionseinschränkungen des Betroffenen verstärken, andererseits haben die »Anderen« nicht mehr die Chance, jene kennenzulernen, um Ängste und Vorurteile abzubauen. Durch entsprechende begriffliche negative Etikettierung (z.B. »der Irre«) werden diese Vorurteile verfestigt und eine Abwärtsspirale der Ausgrenzung in Gang gesetzt (vgl. Humphreys & Müller 1996: 63). Hergemöller (2001) vertieft diesen Gedanken, indem er in Anlehnung an Lemert (1951) zwischen primärer und sekundärer Devianz unterscheidet: Die primäre Devianz stellt die offensichtliche Funktionseinschränkung beziehungsweise die Verhaltensabweichung dar; die sekundäre Devianz bezeichnet diejenigen Verhaltensformen, die erst durch die gesellschaftliche Bewertung und Reaktion verursacht werden (vgl. Hergemöller 2001: 46f.).6 Diese Reaktionen führen dazu, dass sich die zweite Devianz zum Hauptstatusmerkmal entwickelt und die betreffende Person dann zu »dem Behinderten« oder »dem Homosexuellen« oder auf das Mittelalter übertragen zu »der Hexe«, »dem Jude« oder »dem Ketzer« gemacht wird. Diese mit negativer Wertigkeit verbundene Zuschreibung wird häufig in das Selbstbild und das Selbstwertgefühl übernommen,7 wodurch sich die betreffende Person zuneh5

6

7

»Die Art der Wahrnehmung von Welt und Selbst ebenso wie die Deutung des Wahrgenommenen sowie schließlich die Erwartungen, die auf diesen Deutungen aufbauen, sind wesentlich geprägt durch das Reservoir an plausiblen und sozial geteilten Deutungsmöglichkeiten, damit verbundenen Praktiken und Artefakten, das einer sozialen Gruppe zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung steht. Dieses Reservoir – die Kultur einer Gruppe – ist keineswegs statisch, sondern kontinuierlich im Wandel. Auch ist kein Mitglied einer sozialen Gruppe [vollständig] durch die jeweilige Kultur determiniert, vielmehr entnimmt eine konkrete Person je nach sozialer Position und biographischer Situation Elemente aus diesem Deutungsreservoir und formt sie eventuell auch kreativ um.« (Roelcke 2017: 11, Ergänzung in Klammern C.E.) »Ist das Individuum einmal als deviant stigmatisiert oder etikettiert, dann wird es durch die Reaktion der anderen, konformen Mitglieder der Gemeinschaft gezwungen, sich mit dieser Etikette auseinanderzusetzen. Eine wichtige Rolle dabei spielt deren Stereotyp von Devianz, ihre Vorstellung von dem, was Abweichung ist und wie man sich einem Abweichler gegenüber zu benehmen habe.« (Lemert zitiert nach Hergemöller 2001: 46) »Andere Gruppen als minderwertig abzustempeln, ist eine der Waffen, die überlegene Gruppen in einem Machtbalance-Kampf verwenden, zur Behauptung ihrer sozialen Überlegenheit. In dieser Situation geht das Schandmal normalerweise in das Selbstbild der machtschwächeren Gruppe ein, wodurch sie weiter geschwächt und entwaffnet wird.« (Elias & Scotson 1993: 14)

3. Konzeptualisierung und methodische Vorgehensweise

mend so verhält, wie es die Zuschreibung »fordert«8 – es kann zur selbsterfüllenden Prophezeiung9 (vgl. Merton 1995: 144ff.) kommen. Hinter diesem neuen Hauptstatusmerkmal verschwinden alle anderen Merkmale oder Rollen (wie beispielsweise der Beruf oder die Rolle als Familienvater und Nachbar) oder schlicht die Tatsache, dass es sich um einen Menschen handelt (vgl. Hergemöller 2001: 47). Auf das Phänomen der »Behinderung« übertragen, ist davon auszugehen, dass Menschen, die gegenwärtig als »behindert« bezeichnet werden, deutlich höhere Anstrengungen unternehmen müssen, damit sich dieses Hauptstatusmerkmal wieder ändert – beispielsweise über außergewöhnlich hohe berufliche Leistungen.10 Frei nach Bauman (1994) lässt sich hier anschließen: Definitionen sind angeboren, Identitäten werden gemacht (vgl. Bauman 1994: 239). Ob der Mensch mit Funktionseinschränkungen akzeptiert oder abgelehnt wird, entscheidet aber nicht er, »sondern die anderen bzw. das soziale oder das medizinische System. Daß er jedoch anders ist als die anderen, ist sowohl seine als auch die Grunderfahrung der anderen; hieraus folgt auch das Urteil der Gemeinschaft, er könne wegen seines »Anders-seins« nicht mehr erwerbs-, handlungs-, einsichts- oder schuldfähig sein.« (Seidler 1988: 3) Rentenbescheide, die beispielsweise nach Eintritt einer Querschnittlähmung oder nach einer Beinamputation bei den Betroffenen ohne eine entsprechende Antragsstellung aufgrund der Aktenlage eintreffen oder die den Betroffenen förmlich aufgedrängt werden, sind Beispiel eines institutionalisierten Ausdrucks dieses Gemeinschaftsurteils.11 Von Ferber stellte bereits 1972 fest: »Von diesen vermittelnden Einrichtungen [z.B. Rentenversicherung] ist die Aussteuerung über eine vorzeitig gewährte Invalidenrente [bzw. Erwerbsminderungsrente] vielleicht das technisch einfachste, aber für unsere Vorstellungen von der gesellschaftlichen Teilhabe aller Mitbürger sozialpolitisch das primitivste Verfahren.« (von Ferber 1972a: 39; Ergänzung in Klammern C.E.) 8 9 10 11

Außenseitergruppen neigen häufig dazu, dass was die Etabliertengruppe ihnen vorwirft, wie unter einem »traumhaften Zwang« (Elias & Scotson 1993: 203) zu reproduzieren. »Häufig ist die Prophezeiung die Hauptursache für das prophezeite Ereignis.« (Thomas Hobbes zitiert nach Watzlawick 1981: 91) Ein gutes Beispiel hierfür ist der 2018 verstorbene an ALS erkrankte Physiker Stephen Hawking. Diese Aussage beruht auf persönlichen Gesprächen, die der Autor mit beinamputierten Menschen geführt hat, deren Anträge auf Rehabilitationsmaßnahmen von den entsprechenden Trägern in Rentenbescheide geändert wurden, aber auch auf Gesprächen mit Ärzt*innen von Querschnittzentren, die es immer wieder Erleben, dass ihre Patient*innen von den Vertreter*innen entsprechender Institutionen förmlich dazu überredet werden, einen Rentenantrag zu stellen.

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Was ist Behinderung?

Bei der Analyse von Behinderungsprozessen sind zwei Elemente genauer zu betrachten: zum einen sind es diejenigen Gruppen und deren Institutionen12 , die in der Machtposition13 sind, Menschen als »abweichend« zu bewerten (Stigmatisierung) und gegebenenfalls an den Rand der Gesellschaft zu verorten (Marginalisierung), und zum anderen, wenn es durch die Bewertung zu einer binären Trennung von Menschengruppen kommt, sollte auch die Machtbeziehung zwischen den binären Menschengruppen berücksichtigt werden. Aus den Etablierten-AußenseiterUntersuchungen von Elias & Scotson (1993) wissen wir, dass je ungleicher eine Machtbalance zwischen Menschengruppen ist, die Mitglieder der unterlegenen Gruppe in ihrem Selbstbild umso eher mit dem ihnen zugeschriebenen Fremdbild übereinstimmen. Daher dringt auch häufig das Aufbegehren und das Verlangen, sich widersetzen zu können, gar nicht erst in das Bewusstsein der unterlegenen Gruppe vor (vgl. DLA Elias o.J.: 23). Der bislang skizzierten Logik entsprechend, würde mit einer Veränderung der Bewertungsebene auch eine Veränderung auf der Wahrnehmungsebene erfolgen.14 Das negative »Image« von Menschen mit Funktionseinschränkungen wird beispielsweise auch durch deutsche Märchen zementiert: Sie vermittelten bereits Kindern die Vorstellung, dass das Gute immer durch aufrechte, gerade und schöne Menschen verkörpert ist, während das Böse immer bucklig, verkrümmt oder verkrüppelt dargestellt wird. Der Teufel hat in den meisten Beschreibungen einen Hinkefuß, das Gesicht einer Hexe ist durch Warzen entstellt, und die einzig richtige Reaktion auf Hexen ist deren Verbrennung – die auch heute noch an 12

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Institutionen wie beispielsweise Schulen, Familien, Krankenhäuser und Psychiatrien sind diejenigen, die die Beziehung zwischen ungleichen Gruppen strukturieren (vgl. Rösner 2002: 379). »Die Entstehung von Randgruppen kann nur auf der Basis gesellschaftlicher Machtgruppen erfolgen, die das Interesse besitzen, Normen aufzustellen und unter Umständen auch gegen Widerstand durchzusetzen. Sobald die gesellschaftlichen Träger von Macht und Herrschaft dazu übergehen, diese für gültig zu erklärten Verhaltensanforderungen aufzustellen, konstituieren sie ipso facto die grundlegende Differenz von konformen und nonkonformen, von angepaßtem und abweichenden Verhalten. Um diese Differenz äußerlich sichtbar werden zu lassen, können sich die Machtträger einer Reihe verschiedener Definitions- und Zuschreibungsformen bedienen.« (Hergemöller 2001: 46) Wie sehr diese Ebenen miteinander verzahnt sind, erklärt uns bereits August Comte: »Denn wenn auf der einen Seite jede […] Theorie notwendigerweise auf Beobachtungen fundiert sein muß, so ist es auf der anderen Seite nicht weniger richtig, daß unser Verstand eine Theorie der einen oder anderen Art braucht, um zu beobachten. Wenn man bei der Betrachtung von Erscheinungen diese nicht unmittelbar in Beziehung zu gewissen Prinzipien setzen würde, wäre es nicht nur unmöglich für uns, diese isolierten Beobachtungen miteinander in Verbindung zu bringen […] wir würden sogar völlig unfähig sein, uns an die Tatsachen zu erinnern; man würde sie zum größten Teil nicht wahrnehmen.« (Comte zitiert nach Elias 1996: 33; Weglassung in Klammern C.E.) Ersetzt man hier den Begriff der Theorie mit dem Begriff der Bewertung, so wird dieses Zitat sehr erhellend für die Thematik.

3. Konzeptualisierung und methodische Vorgehensweise

vielen Orten in Deutschland in der Walpurgisnacht symbolisch vollzogen wird (vgl. Thomann 1995: 6; vgl. Rohrmann 2011: 303ff.; vgl. Kastl 2017: 27).15 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die gesellschaftliche Reaktion in Form von Abwertung und Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen keine notwendige Folge dieser Funktionseinschränkung, kein natürliches Phänomen, sondern das Resultat gesellschaftlicher Prozesse ist, die letztendlich dazu führen, dass die volle gesellschaftliche Teilhabe verwehrt bleibt – »Behinderung« im soziologischen Sinne existiert erst von diesem Augenblick an (vgl. Tröster 1990: 11; Jantzen 1992: 18).16 Diese gesellschaftlichen Prozesse haben jedoch häufig bereits den Charakter einer »zweiten Natur« und lösen automatisierte Reaktionen bei den »nicht-behinderten« Menschen aus, häufig ohne dass jenen die Ursache dafür bekannt ist. Begriffe, als Träger und Übermittler von Bewertungen, sollten aus diesen Gründen – wie bereits erwähnt – nicht auf rein theoretische Konstrukte reduziert, sondern als Machtinstrumente wahrgenommen und behandelt werden (vgl. Hirschberg 2009: 106). Diejenigen Menschengruppen, die die Definitionsmacht zu Bewertung anderer Menschen haben beziehungsweise soziale Normen beeinflussen können, trugen und tragen auch wesentlich zu den Behinderungsprozessen dieser Menschen bei.17 Die Metamorphose von Begriffen zeigt dabei die Richtung an, in die sich die Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster von Menschen über Generationen hinweg entwickelten. Begriffe können folglich als »Abbreviationen praktischer Verhaltensformen« (Engler 1992: 57) untersucht werden. Mit der Untersuchung von Begriffen richtet sich der Blick auf »langfristige Wandlungsprozesse im Verhalten von Menschen« (ebd.). Für Elias dienen Begriffe und ihre Genese als »Zeugen für bestimmte Struktureigentümlichkeiten von Gesellschaften« (Elias 1994: 209).

15 16

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Ein reflektierter Umgang mit deutschen Märchen durch Eltern und Lehrkräfte hätte hier sicher einen positiven Effekt. »Offensichtlich wird die Abgrenzungskategorie Behinderung in der Gegenwartsgesellschaft »gebraucht«, um kulturell vorgegebene Vorstellungen von Körperlichkeit, Subjektivität und Funktionsfähigkeit aufrechtzuerhalten, damit im Kontrast so etwas wie »Normalität« entstehen kann, kurz: zur Gewährleistung der sozialen Ordnung.« (Waldschmidt 2010: 16) Am Beispiel der Homosexualität kann ein solcher Prozess nachskizziert werden. Erst 1973 wurde die Homosexualität als psychische Krankheit aus der DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und 1991 aus der ICD (International Classification of Diseases) gestrichen. Davor wurde seitens der Medizin eine von der »Norm abweichende« geschlechtliche Orientierung als Krankheit definiert, wodurch entsprechende Reaktionen erfolgten. Auf staatlicher Seite waren diese Reaktionen beispielsweise Strafverfolgung (von der Gefängnisbis hin zur Todesstrafe), auf medizinischer Seite waren es Therapien, Hirnoperationen und chemische Kastrationen (vgl. Sigusch 2010: 3ff.). Diese Reaktionen hatten und haben vereinzelt immer noch ihr Spiegelbild in den Reaktionen einzelner Menschen; Ekel und Abscheu vor dem scheinbar Abnormalen bis hin zur offenen verbalen und/oder körperlichen Gewalt (vgl. Steffens 2010: 14ff.).

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Was ist Behinderung?

Wie sich die Behinderungsprozesse seit dem Mittelalter entwickelt haben, lässt sich über die oben eingeführten Ebenen der Wahrnehmung, Bewertung und Reaktion konzeptualisieren, die auch die Kapitel über Mittelalter, Moderne und Postmoderne strukturieren. Jedoch können diese Ebenen nur analytisch getrennt voneinander betrachtet werden, da sie ineinandergreifen und sich gegenseitig bedingen. Zugleich lassen sich alle drei Ebenen sozio- und psychogenetisch untersuchen. In diesem Kontext stellen »Enthinderungsprozesse« das Gegenteil von »Behinderungsprozessen« dar. Enthinderungsprozesse sind beispielsweise alle Prozesse die zur Anerkennung als gleichwertige Bürger*innen und zum Abbau diskriminierender Praktiken sowie jeglicher institutioneller Ausgrenzung beitragen, wodurch automatisch auch die Wahrnehmung von Menschen entsprechend beeinflusst wird. Abbildung 5 stellt die Ausführungen zu den Ebenen der Be- und Enthinderungsprozesse graphisch dar. Abbildung 5: Konzeptualisierung von Be- und Enthinderungsprozessen

Eigene Darstellung

3.4

Fragestellungen

Die folgenden Ausführungen stellen einen Versuch dar, Entwicklungslinien von Behinderungsprozessen und ihren Bedingungen vom Mittelalter über die Moderne bis in die Postmoderne zu beschreiben und zu erklären. Mit anderen Worten: In welche Richtung verlaufen die Behinderungsprozesse innerhalb der gewählten Zeiträume, gibt es für die eingeschlagenen Richtungen theoretische Erklärungen

3. Konzeptualisierung und methodische Vorgehensweise

und wie spiegeln sich diese Richtungen in den Menschen wider, die diese Gesellschaft bilden? Davon ausgehend stellen sich weitere, teilweise bereits unter 3.3 aufgeworfene Fragen: War die Spannweite dessen, was wir heute unter »Normalität« verstehen, im Mittelalter größer als zu späteren Zeiten? Waren Menschen mit Funktionseinschränkungen weniger systematischen und institutionalisierten Behinderungsprozessen ausgesetzt? Warum nahmen in der Moderne die Behinderungsprozesse mit der Tötung der als störend empfundenen Personen ihre radikalste Form an? Wie gehen die gesellschaftlichen Nachkommen in der Postmoderne mit diesem Erbe um? Wer bestimmt die Diskussion und »lenkt« die Prozesse mehr oder weniger bewusst in die eine oder andere Richtung und positioniert Menschen mit Funktionseinschränkung letzten Endes im Spannungsfeld zwischen Normalität und Abweichung? Diese Fragen sollen über die oben eingeführten ineinandergreifenden Ebenen der Wahrnehmung, Bewertung und Reaktion diskutiert und beantwortet werden. Um sich bei der Beantwortung dieser Fragen nicht in der Fülle von Einzelbeispielen der Vergangenheit zu verlieren, bedarf es eines auf langfristige Entwicklungsprozesse hin angelegten theoretischen Rahmens, dessen Fehlen, neben der Begriffsvielschichtigkeit, eines der Hauptprobleme in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der »Behinderung« darstellt.

3.5

Theoretisches Konzept

Zur Beantwortung der Fragestellungen bietet sich insbesondere die Prozesssoziologie von Elias an, da sie als eine der wenigen soziologischen Theorien auf die langfristige Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen bzw. auf die wandelnden gesellschaftlichen Machtverhältnissen (Soziogenese) fokussiert und diesen ein Entsprechungsverhältnis auf der Ebene der Persönlichkeitsstrukturen der Menschen, die diese Gesellschaft bilden, zuschreibt (Psychogenese). Diese zwei Ebenen sind dabei nicht kausal, sondern relational aufeinander bezogen. Gesellschafts- und Persönlichkeitsstruktur werden als unauflösbare Komplementärerscheinungen betrachtet – was letzten Endes dazu führt, die Prozesssoziologie als eine Synthese aus der Marx’schen Gesellschaftstheorie und der Freud’schen Psychoanalyse betrachten zu können. Nach Elias müssen prozesssoziologische Untersuchungen in der Lage sein, aus der Fülle des gesellschaftlichen Wissensfundus Modelle der Synthese zu entwickeln, die so zugeschnitten sind, dass sie jederzeit mit Hilfe von belegbaren Details entweder bestätigt, widerlegt oder korrigiert werden können (vgl. DLA Elias 1983: 1). Dabei erklärt die

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Was ist Behinderung?

»prozesssoziologische Vorgehensweise […] soziale Phänomene historisch-genetisch aus den ihnen vorangegangenen Ereignissen und deren Bedingungen sowie aus den Sinnbezügen individueller Handlungen. Die Zusammenhänge werden über Plausibilisierung von Annahmen in einem Prozess von Beschreibung und Erklärung des spezifischen sozialen Phänomens einerseits und empirischer Überprüfung des begrifflichen Instrumentariums andererseits hergestellt.« (Grigat 2014: 43; Weglassung in Klammern C.E.) Im Gegensatz zu anderen soziologischen Theorien geht es der Prozesssoziologie nicht um die Beschreibung und Erklärung eines gesellschaftlichen, zumeist als statisch wahrgenommenen Zustandes, sondern um das »Geworden-Sein« und das weitere »Werden«, um das Aufdecken von Zusammenhängen und um das Sichtbarmachen der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen sich diese Entwicklung vollzogen hat (vgl. Goudsblom 1984: 93). Die Entwicklung und Dynamik von menschlichen Figurationen stehen folglich im Vordergrund des Erkenntnisinteresses. Figurationen bzw. Interdependenzgeflechte sind dabei als sich wandelnde Muster zu verstehen, die einzelne Menschen und Menschengruppen miteinander bilden. Elias baut mit dem Begriff der Figuration eine Brücke zwischen den Begriffen »Gesellschaft« und »Individuum«, die häufig als sich polar gegenüberstehende Begriffe verwendet werden und die daher eher auf einen statischen Zustand als auf einen Prozess hinweisen. Figurationen wandeln sich durch historische, jeweils unterschiedlich dominante, soziale Prozesse. Mit anderen Worten sind unter sozialen Prozessen die kontinuierlichen, langfristigen, d.h. mindestens drei Generationen umfassenden Wandlungen der von Menschen gebildeten Figurationen zu verstehen (vgl. Elias 2003a: 270). Soziale Prozesse werden hierbei diachron, historisch-genetisch beschrieben und erklärt. Im Gegensatz zu biologischen Prozessen sind soziale Prozesse reversibel und verlaufen selten gradlinig. Sie haben keinen Anfang und kein Ende. »Nichts ist vergeblicher, wenn man es mit langfristigen gesellschaftlichen Prozessen zu tun hat, als der Versuch, einen absoluten Anfang zu bestimmen. […] Was sich dagegen recht wohl beobachten und durch Belege erhärten läßt, sind relative Anfänge, nämlich erklärbare Sprünge und Diskontinuitäten innerhalb der langfristigen, der recht oft allmählichen und immer zugleich auch kontinuierlichen Wandlung der menschlichen Gruppierungen und ihrer Produkte.« (Elias 1975: 344f.) Zur Bestimmung und Untersuchung sozialer Prozesse werden Begriffspaare wie Integration und Desintegration, Zivilisierung und Entzivilisierung, Aufstieg und Abstieg, Engagement und Distanzierung, Toleranz und Intoleranz, Exklusion und Inklusion, Normalisierung und Pathologisierung, Verringerung und Vergrößerung (z.B. von Machtdifferenzen zwischen gesellschaftlichen Gruppen), Festigung und

3. Konzeptualisierung und methodische Vorgehensweise

Auflösung (z.B. des staatlichen Gewaltmonopols oder sozialstaatlicher Leistungen) benötigt. Diese Begriffspaare zeigen die Richtung sozialer Prozesse zu einem bestimmten Zeitpunkt an (vgl. Elias 2003a: 270ff.). Dabei kann ein dominanter sozialer Prozess, der beispielsweise auf zunehmende Integration immer größerer Menschengruppen ausgerichtet ist, dennoch mit einer teilweisen Desintegration kleinerer Einheiten einhergehen. Soziale Prozesse verlaufen ungeplant, das bedeutet, sie sind mehr oder weniger unabhängig von den Handlungen einzelner Menschen, aber nicht von Menschen generell – auch wenn es für Menschen so erscheint, als wenn sie hilflos einer unbeeinflussbaren gesellschaftlichen Veränderung gegenüberstehen. Der spezifische Verflechtungszusammenhang verschiedener Menschen und Menschengruppen sowie außermenschlicher Naturabläufe führt zur relativen Autonomie sozialer Prozesse: »Aus dieser ständigen Verflechtung ergeben sich immer wieder langfristige Veränderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen, die kein Mensch geplant und wohl auch niemand vorausgesehen hat.« (Ebd.: 275) Es sei angemerkt, dass die Richtung sozialer Prozesse nicht zwangsläufig mit einem »Fortschritt« verbunden werden kann, wie es der Prozesssoziologie häufig durch Kritiker unterstellt wird. Elias betrachtet die Vorstellung eines allseitigen Fortschritts selbst als einen Mythos (vgl. ebd.: 276). Zu den Triebkräften sozialer Prozesse gehören Spannungen und Konflikte, die im Zusammenhang mit der Monopolisierung gesellschaftlicher Chancen18 , also der Veränderung in der Machtbalance zwischen Gruppen zugunsten einer von ihnen, stehen (vgl. ebd. 273). Macht ist hierbei als ein Beziehungsbegriff zu verstehen: »Macht« bildet eine Struktureigentümlichkeit jeder menschlichen Beziehung – sei es zwischen einzelnen Menschen oder zwischen Menschengruppen (vgl. Elias 1996: 77). Bei der prozesssoziologischen Bearbeitung eines Themas wird empirisch-theoretisch vorgegangen, wobei der Empirie-Begriff deutlich weiter gefasst ist, als derjenige, der beispielsweise gegenwärtig in der empirischen Sozialforschung Anwendung findet: »Empirie« verweist nach Elias – ganz nach der etymologischen Herkunft des Begriffs – auf alles, was sich auf Erfahrungen, auf beobachtbare und/oder durch verschiedene Quellen (sowohl Primär- als auch Sekundärquellen) belegbare

18

Beispiele sind die Monopolisierung von Gewalt (z.B. Staat), von Orientierungsmitteln (z.B. Religion oder Medizin), Produktionsmitteln (z.B. Maschinen oder Gewerbeflächen), Organisationsmitteln (z.B. Steuern oder Polizei) oder sozialer Sicherheit (z.B. Gesetzliche Krankenkassen). Hierbei finden Komplementärprozesse statt. So ist die Monopolisierung der staatlichen Gewalt auf Dauer nicht möglich ohne eine Monopolisierung von Steuerabgaben, beides bilden Voraussetzungen für die Entwicklung der gesellschaftlichen Persönlichkeitsstrukturen in Richtung einer wachsenden Zivilisation des Empfindens und Verhaltens, und ohne diese kann jene nicht von Dauer sein (vgl. Elias 2006a: 550).

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menschliche Beispiele (Bilder, Aussagen, Briefe, Zeitungsartikel, Bücher etc.) stützen kann. Ein wesentliches Element der empirischen Untersuchung ist demnach die Geschichte, die Elias als das »Laboratorium der Soziologie« (Elias 1985) bezeichnet. Zwischen Geschichte und Gesellschaftsentwicklung gibt es dabei einen entscheidenden Unterschied: Eine Entwicklung hat eine Struktur, die sich erklären lässt und aus der daher theoretische Modelle herausgearbeitet und empirisch überprüft werden können (vgl. DLA Elias 1971: 18).19 Die Tatsache, dass sich heutzutage der Begriff der Empirie fast ausschließlich auf statistische Arbeiten bezieht, beruht zum guten Teil auf der naturwissenschaftlichen Dominanz innerhalb der Wissenschaften. In der Soziologie haben sich weniger kumulative Erkenntnisse entwickelt als in den Naturwissenschaften. Die soziologischen Theorien sind daher häufig eher als konkurrierende und alternative Entwürfe zu verstehen, was sicher auch mit den allzu komplexen Themenbereichen, dem beschleunigten sozialen Wandel und dem starken Bezug zur Gegenwart zu tun hat (vgl. Merton 1995: 3; Hillmann 1994: 824). »Wir Soziologen von heute mögen zwar nur geistige Zwerge sein, aber anders als der allzu bescheidene Newton sind wir nicht Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen. Die kumulative Tradition ist immer noch so schwach, daß die Schultern der Riesen der soziologischen Wissenschaft keine sehr solide Grundlage abgeben, um sich auf sie zu stellen.« (Merton 1995: 3) Ein weiterer Unterschied zwischen Natur- und Menschenwissenschaftler*innen besteht in dem Involvierungsgrad des Forschers in »seinen« Untersuchungsgegenstand: »Denn während man, um die Struktur eines Moleküls zu verstehen, nicht zu wissen braucht, wie man sich als eines seiner Atome fühlt, ist es für das Verständnis der Funktionsweise menschlicher Gruppen unerläßlich, auch als Insider zu wissen, wie Menschen ihre eigene und andere Gruppen erfahren; und man kann es nicht wissen ohne aktive Beteiligung und Engagement.« (Elias 1983: 30) Für einen Erkenntnisgewinn ist daher immer das Bewusstsein über den eigenen Involvierungsgrad und schließlich ein bestimmtes Maß an Distanzierung vom eigenen Engagement notwendig (vgl. Hinz 2002: 30). Man muss sich seiner eige19

Geschichtswissenschaften und Soziologie unterscheiden sich laut Elias (1975) in ihren Vorgehensweisen: In der Geschichtswissenschaft ist ein kontinuierliches Wissen von Einzeldaten zu beobachten, aber keine Kontinuität im Wachstum des Wissens auf der Ebene der Zusammenhänge (vgl. Elias 1975: 17). Nähert man sich einem Phänomen aus einer rein traditionellen geschichtswissenschaftlichen Perspektive, fehlt es daher häufig an einer Erfassung der Zusammenhänge. Aber ohne die wichtige Detailarbeit der Historiker an den Primärquellen könnten Soziologen ihre spezifische Tätigkeit der umfassenderen Synthese – die überwiegend aus den Sekundärquellen genährt wird – kaum erfüllen (vgl. Elias 2006b: 402).

3. Konzeptualisierung und methodische Vorgehensweise

nen Eingebundenheit in gesellschaftliche Figurationen bewusst sein und darüber, dass die eigene Forschung von einem eigenen Erkenntnisinteresse geleitet wird.20 Mit diesem Bewusstsein kann eine relative Autonomie im Forschungsprozess erreicht werden.21 Naturwissenschaftler*innen haben durch ihre im Laufe der Zeit erreichten Berufsstandards bereits einen relativ hohen Grad an Autonomie gewonnen, so dass ihre Methoden das, was wir Realität nennen, praktikabel erfassen und zukünftige Ereignisse relativ sicher prognostizieren können. Als Soziologe erhebt man in der Regel keine »objektiven« Daten,22 sondern erlangt zusätzliche Informationen, die man zu deuten lernt. Darüber hinaus lässt sich in der gegenwärtigen Soziologie nach Elias eine strikte Trennung zwischen Theorie und Empirie beobachten. Auf der einen Seite findet man Theorien wie beispielsweise von Parsons oder Luhmann, die so abstrakt sind, dass sie sich kaum auf empirische Arbeiten anwenden lassen. Auf der anderen Seite steht eine Vielzahl von empirischen Arbeiten, die aber letzten Endes die Funktionen empirischer Arbeit, nämlich Theorien zu überprüfen und zugleich von Theorien23 geleitet zu werden, nicht hinreichend erfüllen (vgl. DLA Elias 1977a). Die Arbeit mit Fragebögen und Zahlen stellt zwar auch für Elias eine Art des empirischen Arbeitens dar, wichtiger ist ihm jedoch eine qualitative Beschreibung auf Grundlage möglichst unverfälschter Quellen. Bei der Beschreibung und Erklärung sozialer Prozesse ist im Zweifelsfall jenen Daten Vorrang zu geben, die eine Gesellschaft aus sich selbst heraus generiert (Wohnarchitektur, Literatur, politische Umschwünge, Heiratstraditionen, Währungseinführungen, Kriege, Gesetze etc.) und 20 21

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Zum Involvierungsgrad des Autors siehe Kapitel 8.2. »Erst wenn man größerer Distanz zu sich selbst, zu der eigenen Zivilisationsstufe fähig und des stufenspezifischen Charakters der eigenen Scham- und Peinlichkeitsschwelle gewahr ist, vermag man den Taten und Werken von Menschen anderer Stufen gerecht zu werden.« (Elias 1982: 35) Hierbei sei angemerkt, dass die Vorgabe, scheinbar objektive Daten erheben zu müssen, um sich mit den Naturwissenschaften auf Augenhöhe bewegen zu können, durch die Vormachtstellung der Naturwissenschaften gegenüber den Menschenwissenschaften bedingt ist. Elias sieht dabei die Gefahr einer Pseudo-Distanzierung des Forschers. Ein wissenschaftlich »objektives« methodisches Vorgehen diene »oft als Mittel, um Schwierigkeiten, die aus dem spezifischen Dilemma der Menschenwissenschaftler erwachsen, zu umgehen, ohne sich ihm zu stellen; in vielen Fällen schafft sie eine Fassade von Distanzierung, hinter der sich eine höchst engagierte Einstellung verbirgt.« (Elias 1983: 35) Elias beschreibt sein Theorieverständnis mit folgendem Beispiel: »Eine Theorie, um es anders auszudrücken, zeigt dem, der am Fuße eines Berges steht, Zusammenhänge, die er allenfalls aus der Vogelperspektive sehen könnte. Zusammenhänge dort aufzudecken, wo sie vorher nicht bekannt waren, ist eine Zentralaufgabe wissenschaftlicher Untersuchungen. Theoretische Modelle zeigen wie Landkarte die bisher bekannten Zusammenhänge der Ereignisse. Wie Landkarten unbekannter Gegenden zeigen sie dort, wo man die Zusammenhänge noch nicht kennt, weiße Flächen. Wie Landkarten können sie im Zuge weiterer Untersuchungen als falsch erwiesen und korrigiert werden.« (Elias 1996: 177)

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nicht den Daten, die speziell im Rahmen von Befragungen erhoben wurden. Die empirische Arbeit mit Fragebögen stellt für ihn in erster Linie ein Hilfsmittel dar, um an Informationen zu gelangen, die anderweitig nicht zu bekommen sind. Allgemein formuliert bedeutet ein empirisch-theoretisches Arbeiten die Beantwortung von Fragestellungen, die aus einer Pendelbewegung zwischen zwei Wissensebenen entstehen: der Ebene der Beobachtung und Wahrnehmung bestimmter Ereignisse sowie der Ebene der Theorien und Modelle. Die Aufgabe, die sich stellt, ist es, diese beiden Ebenen mit »Hilfe einer ununterbrochenen kritischen Konfrontation immer wieder in Übereinstimmung miteinander zu bringen« (Elias 1983: 37) und somit das menschliche Wissen nachprüfbar zu erweitern. Die prozesssoziologische Vorgehensweise kann diesen Ausführungen folgend als eine weitere bzw. dritte Methode neben den qualitativen und quantitativen Methoden der Soziologie, in denen eher Daten erhoben werden, die sich auf die Gegenwart beziehen, angesehen werden (vgl. Elias 2006b: 390). Da es mit rein qualitativen oder quantitativen Methoden kaum oder nur unzulänglich möglich ist eine gesellschaftliche Entwicklung vom Mittelalter bis zur Gegenwart zu beschreiben und zu erklären, wird hier eine prozesssoziologische Vorgehensweise gewählt. Ohne diesen theoretischen Halt wird die Möglichkeit, eine sachgerechte und weniger affektbeladene Erklärung für soziale Prozesse zu finden, erschwert, denn je nach Parteilichkeit des eigenen Empfindens würde »man dann entweder der Vergangenheit den Vorzug vor der Gegenwart oder dieser den Vorzug vor jener« (Elias 2006c: 19) geben. Daher ist zu beachten, dass die Beschreibung und Erklärung von Entwicklungsprozessen wertneutral zu erfolgen hat, vor allem, um eine chronozentristische Interpretation der Vergangenheit zu vermeiden. Eines der schwierigsten semantischen Probleme, denen die Prozesssoziologie gegenübersteht, ist die Konzeptualisierung langfristiger Entwicklungsprozesse. Andere Fachgebiete wie beispielsweise die Chemie haben sich Begriffswelten erschaffen, die zur Beschreibung unbelebter Prozesse geeignet und frei von anthropomorphen Anspielungen sind. Die Begrifflichkeiten, die in der deutschen Sprache zur Verfügung stehen, beruhen überwiegend auf einer statischen Vorstellung der Gesellschaft, wodurch es zu einer Reduktion sozialer Prozesse auf reine Zustände kommen kann, die daher häufig einen objektiven Charakter annehmen (vgl. Goudsblom 1979a: 144f.). Für die Prozesssoziologie sind sowohl Zahlen als auch Begriffe wichtig. Oftmals wird mit letzteren jedoch sorgloser umgegangen, obwohl sie zur Beschreibung sozialer Prozesse die weit größere Bedeutung haben. Mit anderen Worten: Die Aufgabe von prozesssoziologischen Untersuchungen ist es, durch Synthetisierung von Einzelbefunden und Beobachtungen eine realitätsangemessene, der Erfahrung entsprechenden Beschreibung der Entwicklung, des »Gewordenseins« sozialer Phänomene, gesellschaftlicher Konstellationen oder einzelner Menschen darzustellen und die Verflechtungszusammenhänge der involvierten Menschengruppen herauszuarbeiten (vgl. DLA Elias 1977b). Denn heutige

3. Konzeptualisierung und methodische Vorgehensweise

Probleme lassen sich nicht wirklich lösen, wenn man nicht ein reiches und wissensgesättigtes Bild der langfristigen Entwicklung hat, die zur Gegenwart hinführt (vgl. DLA Elias 1977a). Elias (2005) formuliert dies an andere Stelle folgendermaßen: »Für mich ist die Soziologie ein Unterfangen, bei dem die Hauptaufgabe darin besteht, uns zu helfen, uns in dieser unserer sozialen Welt besser zu orientieren – uns besser zu orientieren, als wir gegenwärtig dazu in der Lage sind, und dementsprechend zu helfen, auch weniger blind zu handeln. Das gilt für die empirische wie für die theoretische Ebene.« (Elias 2005a: 100) Die hier dargestellte methodische Vorgehensweise und das damit verbundene Menschenbild stellen die Grundlage der anschließenden Ausführungen über das Mittelalter, die Moderne sowie die Postmoderne dar.

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4. Menschen mit Funktionseinschränkungen im Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert

4.1

Mittelalterliche Gesellschaftsstruktur und Mentalitäten

Das Mittelalter umfasst in etwa die Zeitspanne vom Untergang des weströmischen Kaisertums bis zum Beginn des Absolutismus – also von ca. 500 bis ca. 1500 nach Christus. Diese Zeit war geprägt durch eine ständische, hierarchisch gegliederte, »von Gott gegebene« Gesellschaftsstruktur, an der in der Regel niemand zweifelte (vgl. Dinzelbacher 2008a: 20). Innerhalb dieser Hierarchie gab es nur geringe Möglichkeiten vertikaler Mobilität. Und auch wenn im Einzelfall die »Entartung der Geistlichkeit, der Verfall der Ritterlichkeit bejammert [wurde, bleibt dieses Idealbild] Grundlage und Richtschnur des gesellschaftlichen Denkens. Das mittelalterliche Bild der Gesellschaft ist statisch, nicht dynamisch.« (Huizinga 1938: 78; Ergänzung in Klammern C.E.) Der Platz des Menschen innerhalb der Stände wurde mit der Geburt festgelegt. Die Zugehörigkeit zu einem Stand äußerte sich in den entsprechenden Verhaltensweisen, Ritualen, Bräuchen und durch die Art der Kleidung, über die klar erkennbare äußere Unterschiede und scharfe Grenzen zwischen den Ständen geschaffen und aufrechterhalten wurden (vgl. ebd.: 2). Die Pyramidenform der Gesellschaft, – oben König und Adel, daneben die Geistlichkeit und darunter die Handwerker und Bauern – so sehr sie im Mittelalter durch den Willen Gottes begründet beziehungsweise als Konsequenz der Erbsünde angesehen wurden, kann letzten Endes auch als weltliche Reaktion auf die kriegerischen Auseinandersetzungen der frühmittelalterlichen Zeit interpretiert werden: »Waren im Frühmittelalter die Bauern auch gleichzeitig Krieger gewesen, war es später aufgrund der Invasoren der Araber, Normannen und Ungarn, mit denen sich das Karolingerreich und seine Nachfolger konfrontiert sahen, nötig geworden, daß immer mehr Waffenfähige sich nur dem Kriegsdienst widmen und die anderen sie ernährten.« (Dinzelbacher 2008a: 33)

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Die Mehrheit der Menschen arbeitete im Mittelalter und bis weit in das 18. Jahrhundert hinein überwiegend in der Landwirtschaft. Die Häuser – auch »Oikos« genannt – boten Schutz für alle Menschen, die im Dienste jenes Hauses standen. Die Wohnstruktur lässt darauf schließen, dass kein »Privatleben« im heutigen Sinne existierte. Das Verhalten in Bezug auf natürliche Verrichtungen wies im Mittelalter noch keine große Distanz auf – weder zu den eigenen Verrichtungen noch zu denen anderer Menschen. Im Hauptraum des Oikos wurde gekocht, geschlafen, sich gewaschen, gegessen, gestorben, gezeugt und geboren (vgl. Nave-Herz 2004: 47). So stellten Geburt und Tod öffentliche, also gesellige Ereignisse dar, oder wie es Borst (1979) ausdrückt: »Der Tod war ein Stück Miteinanderleben« (Borst 1979: 121); Menschen waren in der Regel nicht alleine, die Distanz zwischen ihnen war geringer. Blok (1979) zieht die Schlussfolgerung: »Die Art des sozialen Lebens und die damit übereinstimmenden Siedlungsformen und die Architektur der Häuser machten es den Menschen fast unmöglich, sich abzusondern.« (Blok 1979: 175) Erst an den Höfen des 17. Jahrhunderts kristallisierte sich allmählich eine Wohnstruktur heraus, die mit der gegenwärtigen annähernd vergleichbar ist, also eine allmähliche Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit erkennen lässt.1 Überwiegend waren die landwirtschaftlichen Höfe Subsistenzgemeinschaften, die im Prozess der zunehmenden Verstädterung im Spätmittelalter jedoch auch einen immer größeren Überschuss an Nahrungsmitteln für die Stadtbevölkerungen erwirtschaften mussten (vgl. Schmidt 2017: 68f.). Die mittelalterlichen Menschen unterschieden sich in vielerlei Hinsicht von uns heute Lebenden. Die Sinneswahrnehmungen waren noch nicht in dem Maße verfeinert wie heute, so dass beispielsweise Gerüche von Exkrementen und Schweiß, vermischt mit Stallgerüchen oder der Anblick abgetrennter Körperteile über dem Stadttor keine Würgreflexe oder Ekelgefühle auslösten (vgl. Febvre 1989: 15ff.). »Der Anblick verfaulender Menschenleichen war alltäglicher. Jedermann, auch die Kinder, wusste, wie das aussah; und da es jedermann wusste, sprach man auch relativ unbefangen davon, im geselligen Verkehr wie in Gedichten.« (Elias 1982: 38) Dementsprechend ist zu vermuten, dass Menschen mit körperlichen Funktionseinschränkungen und explizit mit amputierten Gliedmaßen sicher keine spezifischen, mit Abscheu oder Peinlichkeit belegten Empfindungen bei den Menschen des Mittelalters verursacht haben (vgl. Sierck 2017: 33). Die Arbeitsräume – sowohl bei den Bauern auf dem Land als auch bei den Handwerkern in der Stadt – bildeten keine von den Wohnräumen klar abgetrennte Sphäre (vgl. Kühnel 2008: 479), gleichwohl es bereits vereinzelt Erwerbsperso-

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Obwohl Ludwig XIV. bereits ein abgegrenztes Schlafzimmer besaß, erreichte es dennoch noch nicht jenen Grad an Privatheit, den heutige Schlafzimmer haben: So war zum Beispiel das morgendliche Waschen ein Staatsakt, währenddessen er Besuch empfing, und kein privates Unterfangen (vgl. Elias 1975: 126f.).

4. Menschen mit Funktionseinschränkungen im Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert

nen gab, die nicht an dem Ort wohnten, an dem sie arbeiteten (z.B. wandernde Gesellen und Kaufleute). Menschen, die keine weiten und häufigen Reisen bewältigen konnten, waren von diesen Berufen folglich ausgeschlossen (vgl. Schmidt 2017: 65f.). Aber im Allgemeinen bildete das jeweilige Dorf oder die jeweilige Stadt den Lebensmittelpunkt. Wohnen und Arbeiten stellte eine räumlich-zeitliche Einheit dar, eine separate Arbeitszeit war mehr oder weniger unbekannt (vgl. Dörner 1994: 3790). Bezüglich des Alltagslebens stellt Huizinga (1938) fest, dass die Spannungen oder Kontraste weit größer waren als heute: »Zwischen Leid und Freude, zwischen Unheil und Glück schien der Abstand größer als für uns; alles, was man erlebte, besaß noch jenen Grad von Unmittelbarkeit und Absolutheit, den Freud und Leid im Gemüte des Kindes heute noch bewahrt haben. […] Für Elend und Gebrechen gab es weniger Linderung als heutzutage, sie kamen wuchtiger und quälender. Krankheit hob sich stärker von Gesundheit ab […].« (Huizinga 1938: 2; Weglassung in Klammern C.E.). Auch zwischen Armut und Reichtum, zwischen Licht und Dunkelheit, Sommer und Winter klafften größere Gräben als in der Gegenwart. Elias (1982) skizziert folgendes Bild des mittelalterlichen Lebens: »Gewalt war alltäglicher, der Streit leidenschaftlicher, Krieg oft die Regel, Frieden eher die Ausnahme. Seuchen fegten über die Erde; Tausende starben in Qual und Schmutz ohne Hilfe und Trost. Missernten verknappten das Brot für die Armen alle paar Jahre. Haufen von Bettlern und Krüppeln gehörten zur normalen Staffage der mittelalterlichen Landschaft. Menschen waren großer Güte fähig ebenso wie nackter Grausamkeit, offener Lust an der Qual anderer und völliger Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Not. Die Kontraste waren stärker als heute – sowohl zwischen hemmungsloser Sättigung der Begierde und hemmungsloser Selbstzerknirschung, Askese unter Druck der furchtbaren Sündenangst als auch zwischen Prunk der Herren und dem Elend der Armen. Die Angst vor der Strafe nach dem Tode, die Angst um das Seelenheil, packte oft unversehens Arme und Reiche. Fürsten stifteten, um sicher zu gehen, Kirchen und Klöster; die Armen beteten und bereuten.« (Elias 1982: 27) Das Leben und Arbeiten – zumindest auf dem Land – verliefen im Rhythmus der Natur. Die Abhängigkeiten von der außermenschlichen Natur, die Zwänge, denen die Menschen ausgesetzt waren und die sie aufeinander ausübten, waren noch direkter als heute, weit weniger kontrollierbar und unterlagen noch nicht dem heutigen rationalisierten Welt- und Menschenbild. Aus diesem Grund war auch der WirBezug sehr hoch: Die Menschen begriffen sich in erster Linie als Glieder einer Gemeinschaft und nicht als Individuen. So sind aus dem Frühmittelalter keine Texte bekannt, die vom Verhalten des Einzelmenschen sprechen; erst im Hochmittelalter

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Was ist Behinderung?

entwickelte sich langsam eine zaghafte Betonung der Individualität in den oberen Gesellschaftsschichten – Einträge in den aufkommenden Tagebüchern lassen zumindest darauf schließen (vgl. Herrmann 2001: 50f.). Die verwendete Symbolik in Form von Familienwappen und Siegel stehen – neben den Heiratsstrategien – aber weiterhin deutlich für einen überwiegenden Wir-Bezug (vgl. Dinzelbacher 2008a: 27). Ein Ausstoß aus der Gemeinschaft kommt in dieser Gesellschaftsstruktur einem Todesurteil gleich (vgl. ebd.: 23). Wie in dieser Gesellschaftsstruktur Devianz und körperliche Differenz wahrgenommen wurden, wird im Folgenden eingehender beleuchtet.

4.2

Wahrnehmung von Devianz und körperlicher Differenz

Laut Dinzelbacher & Sprandel (2008) gibt es keine Epoche in der europäischen Geschichte, die die Seele mehr auf- und den Körper tiefer abgewertet hat als das Mittelalter (vgl. Dinzelbacher & Sprandel 2008: 183). Der normative Körper ist in Mittelalter – zumindest theologisch gesehen – gebrechlich, nur der himmlische Körper gilt als rein und »perfekt« (vgl. Lee 2013: 300). Der Körper wird dabei als das irdische Gefäß der Seele betrachtet – was bei genauer Betrachtung mit einer widersprüchlichen Einstellung verbunden war: Er war sowohl Triebfeder allen Lasters sowie der Erbsünde als auch Träger der Heilsgeschichte (vgl. Le Goff & Truong 2003: 40f.). Im Allgemeinen überwog jedoch die negative Einstellung zum Körper, so dass das Bild eines »Gefäßes der Seele« eher als »Gefängnis der Seele« interpretiert werden sollte, worauf auch das asketische Ideal des Benediktinerordens basierte. Durch »Verzicht auf alle Freude und Kampf gegen die Versuchung« konnte die »Befreiung der Seele vom Halseisen und von der Tyrannei des Körpers« (ebd.: 41f.) erreicht werden. Die Bestrafung des eigenen Körpers war der Weg zu Christus und zur ewigen Erlösung (Imitatio Christi) – die umfangreichen körperfeindlichen Praktiken der mittelalterlichen Bußbewegung bezogen aus dieser Hoffnung ihre Legitimation und rekrutierten ihre Anhängerschaft mit dem Versprechen auf Erlösung durch Schmerz. Die gedankliche Trennung von Körper und Seele vollzog sich erst im späten 17. Jahrhundert im Zeitalter der Aufklärung (vgl. ebd.: 40).2 Der Körper für sich existierte vorher nicht, »er war immer von der Seele durchdrungen, und ihr Heil hatte absoluten Vorrang« (ebd.: 129). Ein schönes Beispiel der spätmittelalterlichen Mentalität ist dem bekannten Ausspruch des Erasmus von Rotterdam zu entnehmen:

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Auch in Bezug auf Leben und Tod kann das Fehlen einer eindeutigen binären Trennung für das Mittelalter festgestellt werden. Lebende und tote Menschen standen in Kontakt miteinander, der Tod wurde als Übergang von der einen in die andere Welt gedeutet (vgl. Wulf 1982: 262f.).

4. Menschen mit Funktionseinschränkungen im Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert

»Die Krankheit des Körpers wird erträglicher, wenn Du bedenkst, dass sie ein Heilmittel für die Seele ist«. Eine Krankheit wurde nicht zwangsläufig mit einem körperlichen Zustand beziehungsweise mit Teilen des Leibesinneren in Verbindung gebracht, so wie es uns die zeitgenössische naturwissenschaftliche Denkstruktur automatisch aufzwingt (vgl. Szagun 1983: 52, Fußnote). Der Körper beziehungsweise seine Gestaltung spiegelte ebenfalls die hierarchische Ordnung der Gesellschaft wider. Sowohl für Außenseiter als auch für Etablierte bestand ein immanenter Zwang zur Veräußerlichung der Zugehörigkeit, der sich in entsprechender Bekleidung oder Zeichen offenbart. Für die Außenseiter waren dies beispielweise Narrenkappen, Judenhüte und Hurenmützen sowie Armbinden, Klappern und Schellen. »Man könnte auch sagen, daß im öffentlichen Leben […] ein ständiger Druck zur Demonstration von Hierarchie bestand; es um die Schaffung eines Bildes der gesellschaftlichen Ordnung ging, was seinen Ausdruck in unzähligen, seit dem 16. Jahrhundert immer differenzierter, subtiler und auch zahlreicher werdenden Regelwerken findet, in Polizeiordnungen, Kleiderordnungen, Hochzeitsordnungen, Taufordnungen und dergleichen mehr. Das Verhältnis von Schein und Sein war ein anderes: Scheinbare Äußerlichkeiten prägten in ungleich höherem Maße Vorstellungen von Wesen, vom Eigentlichen der Wirklichkeit […].« (Roeck 1993: 11; Weglassung in Klammern C.E.) Dieses Bild einer scheinbaren Ordnung in der Realität des Diesseits, kommt einer Beschwörung des Ideals der göttlichen Ordnung im Jenseits gleich. »Die Stigmatisierung des Außenseiters durch Kleidung oder Zeichen […] kann als Ausdruck des Bemühens interpretiert werden, diesem Ordnungsmodell zu entsprechen. […] Wenn man das »unordentliche« schon nicht entfernen konnte aus der kristallinen Hierarchie, dann war ihm möglichst ein Platz in einer der Nischen der Realität zuzuweisen.« (Roeck 1993: 12; Weglassung in Klammern C.E) Das Sichtbarmachen von Außenseitern ging allerdings weit über die Bekleidung hinaus – dies lässt sich durch Körperstrafen wie Verstümmelung oder Brandzeichnung belegen. Der Körper diente hierbei als eine Art »Kommunikationsplattform«: An der Verstümmelung erkannten die Mitmenschen das Vergehen des »Gezeichneten« – daher auch der Begriff der »Spiegelstrafe« (vgl. Dinzelbacher & Sprandel 2008: 186f.).3 3

Im Mittelalter existierte eine Fülle von kirchlichen und weltlichen Rechtsnormen und Rechtsvorschriften. Die meisten Belange des zwischenmenschlichen Miteinanders waren in irgendeiner Weise geregelt. Allerdings gab es keinen einheitlichen, schriftlich festgehaltenen Gesetzestext. Das Recht beruhte fast ausschließlich auf der althergebrachten Überlieferung der Vorfahren und dem mündlich überlieferten Gewohnheitsrecht. Der im 13. Jahrhundert aufgeschriebene Sachsenspiegel stellt eine der ersten schriftlich überlieferten Rechtsvorschriften

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Lee (2013) folgert daher konsequenterweise, dass im Frühmittelalter die »Behinderung« nicht die körperliche Versehrtheit darstellt, sondern das Stigma, die soziale Funktionseinschränkung, die auf und durch die Versehrtheit erfolgte (vgl. Lee 2013: 302). Dies weist Lee (2013) unter anderem durch frühmittelalterliche Gesetzestexte nach, in denen alle Schädigungen eines Körperteils (beispielsweise durch Streitigkeiten verursacht), die auf die Ehre einer Person zielen, mit deutlich höheren Strafzahlungen verbunden waren als andere Schädigungen, auch wenn diese die Person stärker in ihrem Alltag beeinträchtigten.4 Darüber hinaus gibt es Hinweise, dass in vielen angelsächsischen Rechtstexten diejenigen Taten stärker geahndet wurden, bei denen die Verletzungen nicht durch Kleidung oder Haare bedeckt werden konnten (vgl. ebd.). In welchem Umfang die in zahlreichen Rechtsvorschriften beschriebenen Strafen wie Finger- oder Handamputation bei Meineidigen, Entfernung der Zunge bei Gotteslästerern oder der Ohren bei Dieben tatsächlich vollstreckt wurden, lässt sich nicht beantworten, jedoch ist in mittelalterlichen Texten herauszulesen, dass der soziale Status, die Gruppenzugehörigkeit, das Geschlecht und das Alter einen Einfluss darauf hatten, ob der Köper tatsächlich dauerhaft geschädigt wurde (vgl. Schuster 2017: 176). Während delinquente Mitglieder der städtischen Bürgerschaft häufig »Gnade vor Recht« erfuhren, wurden an den Körpern der ohnehin am Rande der Gesellschaft lebenden oder stadtfremden Personen öffentlichkeitswirksame Exempel statuiert (vgl. Timmer et al. 2017: 316f.). Auch konnten Strafen unter Umständen in Geldbußen oder durch Zahlungen in mildere Körperbeschädigungen

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und einen Anknüpfungspunkt an das Römische Recht dar. Hier findet auch die sogenannte »spiegelnde Strafe« Erwähnung. Diese soll das begangene Verbrechen widerspiegeln oder auf gleiche Weise erwidern – gemäß dem biblischen Vorbild: »Und wer seinen Nächsten verletzt, dem soll man tun, wie er getan hat, Schade um Schade, Auge um Auge, Zahn um Zahn; wie er hat einen Menschen verletzt, so soll man ihm wieder tun« (3. Mos. 24, 19-20). Die spiegelnde Strafe fügt einem Täter denselben Schaden zu wie den, den er zugefügt hat, oder einen andersartigen Schaden, der auf seine Tat bezogen ist und deren Wiederholung dadurch unmöglich gemacht wird. Beispiele sind die Amputation der Hand bei Diebstahl oder die Entfernung der Zunge oder des Schwurfingers bei Meineid. Auch jenseits der Spiegelstrafe war das Amputieren von Gliedmaßen eine oft vollzogene Strafe, auf die auch Sprichwörter und Redewendungen wie beispielsweise etwas hat »Hand und Fuß« hinweisen. Gemeint sind hier die rechte Hand und der linke Fuß. Dies hat seinen Ursprung darin, dass man mit der rechten Hand das Schwert führt und mit dem linken Fuß auf das Pferd steigt. Verfügt man nicht mehr über diese Gliedmaßen, kann man kein kriegstüchtiger Mann mehr sein, was später dahingehend umgedeutet wurde, dass man ohne »Hand und Fuß« generell kein tüchtiger Mensch mehr sein konnte (vgl. Richter 1893: 58f.). Beispielsweise Kastration, da damit Kinderlosigkeit verbunden war – für die damalige Zeit eine wahre »Behinderung« – oder der Verlust einer Hand, was ein Zeichen für begangenen Diebstahl und somit mit Ehrlosigkeit gleichzusetzen war.

4. Menschen mit Funktionseinschränkungen im Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert

umgewandelt werden, so dass hier damals wie heute auch der soziale und ökonomische Status sowohl über die Härte des Urteils als auch über dessen Vollstreckung entschied. Der Ehrverlust eines markierten Körpers war mit hohen sozialen Einschränkungen – Berufsverbot und dauerhafte soziale Ausgrenzung – verbunden, so dass Menschen, die beispielsweise durch einen Arbeitsunfall ein Körperteil verloren hatten, Dokumente mit sich führten, die ihre Ehrbarkeit trotz des körperlichen Schadens belegten (vgl. Schuster 2017: 177). Im Allgemeinen herrscht Einigkeit darüber, dass Menschen mit Funktionseinschränkungen zum Alltagsbild im Mittelalter gehörten. Sie waren keine Personen, über die man beschämt hinwegsah oder die Peinlichkeitsgefühle auslösten (vgl. Huizinga 1938: 2; Fandrey 1990: 10; Elias 1982: 27; Sierck 2017: 33). »Wie die meisten Lebensbereiche erschienen auch Krankheit und Behinderung öffentlich sichtbar. Der Rückzug in die eigenen vier Wände, in die Privatsphäre, die Einweisung Behinderter in besondere Einrichtungen ist ein Produkt späterer, bürgerlicher Zeit. Krüppel auf ihren Krücken, Blinde mit Führer, Aussätzige mit Klappern, Taube und Stumme sah jeder überall auf den Wegen und Plätzen, in der Nachbarschaft und oft auch in der eigenen Verwandtschaft.« (Fandrey 1990: 10) Auch viele Darstellungen auf Gemälden, Reliefs und Wandteppichen aus dieser Epoche und die häufigen Erwähnungen von funktionseinschränkten Menschen in den Mirakelgeschichten deuten auf ein offensichtlich alltägliches Phänomen hin (vgl. exemplarisch Metzler 2013b: 88ff.). Als fremd oder als anders wurde eher der Mensch aus einem anderen Ort oder Land wahrgenommen und gegebenenfalls mit entsprechenden Ressentiments belegt, weit weniger hingegen der versehrte Mensch aus dem eigenen Umfeld (vgl. Muchembled 1990: 17ff.). Das bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass alle Menschen mit Funktionseinschränkungen ein Leben in der Mitte der Gesellschaft führten und es keine Randgruppen gab, die auch topographisch entsprechenden Orten zugewiesen wurden. Lepraerkrankte und Irre bilden beispielsweise zwei dieser Randgruppen. Ihr Platz lag abseits des Dorfes oder an definierten Plätzen in oder außerhalb der Stadt (vgl. Roeck 1993: 12). Allerdings muss hier differenziert werden: es gab Randgruppen wie beispielsweise Aussätzige, die man aus der Gemeinschaft ausschloss und in Leprosorien verbannte oder »Irre«, die man im äußersten Fall in »Narrenkisten« vor die Stadt oder in »Tolltürme« sperrte, allerdings erfolgte der Ausschluss zumindest bei den Narren nicht systematisch. Es hat eher den Anschein, dass diejenigen Menschen ausgesondert wurden, mit denen ein gemeinsames Leben nicht mehr möglich erschien. Der Begriff »Randgruppe« ist dabei eher analytischer Natur, da zumindest die »Irren« und »Wahnsinnigen« die in »Narrenkisten« und »Tolltür-

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men« eingesperrt wurden, aller Wahrscheinlichkeit nach kein Gruppengefühl entwickelt haben und außerdem häufig gar nicht am »Rand« der Gesellschaft lebten. Funktionseinschränkungen, die den Betroffenen nicht einer Randgruppe zuordneten, tauchen in mittelalterlichen Texten meist im Zusammenhang mit anderen Eigenschaften der betreffenden Person auf (beispielsweise »ein alter blinder Mann«). Man sprach noch nicht von »den Blinden« oder »den Tauben« als einer homogenen Menschengruppe: »Before the eighteenth century there were individual deaf people and families of the deaf, and in urban areas even loose associations of the deaf, but there was no discourse about deafness, no public policy on deafness, no educational institutions – and therefore the deaf were not constructed as a group.« (Davis 1995: 82) Spitznamen aus der Stadt Nürnberg wie der »bucklete Jackl«, der »zahnlackete Fritz« oder der »Hans mit dem bösen Fuß« weisen ebenfalls in diese Richtung (vgl. Sierck 2017: 33). Der mittelalterliche Sprachgebrauch drückt eine spezifische Wahrnehmungsperspektive aus, die sich von unserer gegenwärtigen unterscheidet: »Verwandtschaft und Hausgemeinschaft, Geburt und soziale Herkunft, weniger erworbene Bildung oder individuelles Leistungsvermögen prägen die Identität des mittelalterlichen Menschen und legen seinen künftigen Lebensweg fest. Deshalb sieht man in einem »behinderten« Menschen vor allem den Sohn oder die Tochter des benachbarten oder bekannten Bauern oder Bürgers, man sieht eine Person meist bekannter Herkunft und Stellung mit der zusätzlichen individuellen Eigenschaft, verkrüppelt, blind, einfältig oder unsinnig zu sein.« (Fandrey 1990:19) Die Herkunft war also bedeutsamer als die jeweilige Funktionseinschränkung. Menschen mit Funktionseinschränkungen traten in mittelalterlichen Texten nicht als Gruppe, sondern eher in Form von Einzelschicksalen auf, die aber mittelbar und unmittelbar von jedem erfahrbar waren (vgl. Goetz 2017a: 70). Es war nicht entscheidend, wie der Körper tatsächlich aussah, sondern dass er von der Gesellschaft als andersartig beziehungsweise defizitär wahrgenommen wurde und darauf eine soziale Funktionseinschränkung (beispielsweise schlechtere Heiratschancen) erfolgte. Diese soziale Funktionseinschränkung hatte im Mittelalter weit größerer Bedeutung als die tatsächliche körperliche Funktionseinschränkung, die eher als »normale« Lebensrealität betrachtet wurde. Frohne (2014) kommt diesbezüglich zu dem Fazit: »Der Übergang von Feld zu Feld, von »Gesundheit« zu »Krankheit«, von »Funktionsfähigkeit« zu »Untauglichkeit«, war schwer zu bestimmen: Körperliche wie

4. Menschen mit Funktionseinschränkungen im Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert

geistige Gebrechlichkeit galt als Teil der conditio humana; Leiden und Schwäche gehörten zur »normalen« Lebensrealität. […] Da keine geregelten Fürsorgestrukturen bestanden, musste der Umgang mit Erkrankungen und Gebrechen immer wieder neu bestimmt und innerhalb der jeweiligen sozialen Gruppe ausgehandelt werden.« (Frohne 2014: 384) Frohne weist darüber hinaus anhand spätmittelalterlicher Quellen der häuslichen Überlieferung nach, dass die Darstellung des kranken und gebrechlichen Körpers weniger von individuellen Klagen gekennzeichnet war als von der Ausrichtung auf die Wir-Gruppe. »Die Wiedererlangung der »Gesundheit« beziehungsweise der Fähigkeit, bestimmte Tätigkeiten nachgehen zu können, bestimmt die Darstellung« (ebd.). Dies korreliert weitgehend mit den Ergebnissen von Metzler (2006): Danach wird im Mittelalter ein kranker, gebrechlicher Körper oft nur dann als »abweichend« angesehen, wenn er aufgrund seiner Krankheit oder Beeinträchtigung die an ihn gestellten Leistungserwartungen dauerhaft nicht erfüllen und diese Einschränkungen auch nicht anderweitig aufgefangen werden konnten (vgl. Metzler 2006: 7; Kerth 2013: 191). Im Mittelalter lag die Bewertung von Devianz und körperlicher Differenz überwiegend in religiösen, aber auch in medizinischen Händen.

4.3

Religiöse und medizinische Vorstellungen bezüglich Krankheit und Funktionseinschränkung

Im Mittelalter wurden Krankheiten, chronische Krankheiten und Funktionseinschränkungen weder aufgrund ihrer Ursachen noch hinsichtlich der angewendeten therapeutischen Strategien voneinander unterschieden (vgl. Frohne 2014: 22; Riha 2009: 107 u. 117). Dies hat eine Ursache sicher auch darin, dass noch keine eindeutige Trennung zwischen Religion und Medizin bestand. Religiöse und medizinische Vorstellungen gingen von der Antike bis zur Renaissance und darüber hinaus Hand in Hand, wenn auch mit Widersprüchen und Spannungen – Krankenhäuser in kirchlicher Trägerschaft sind heute noch Zeugnisse aus jener Epoche. Religiöse Vorstellungen hatten einen hohen Einfluss auf alle Bereich des mittelalterlichen Lebens (vgl. Dinzelbacher 2008b: 136). Im Mittelalter vermischten sich zunehmend und in wechselnder Konzentration alte germanisch-magische mit neuen christlich-religiösen Vorstellungen, wie man beispielsweise anhand der Reliquienverehrungskultur feststellen kann, bei der unterschiedlichen Gegenständen übernatürliche dämonische oder heilende Kräfte zugesprochen wurden (vgl. ebd.: 138). Auch »Hexen und Heilige konnten durch bestimmte Formeln Krankheiten herbeirufen oder bannen, ähnlich wie die über- und

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unterweltlichen Mächte durch bestimmte Formeln (Gebete bzw. Beschwörungen) zum Eingreifen veranlasst werden konnten.« (Ebd.: 138f.) Bis in die frühe Neuzeit hinein bildeten sowohl die Dämonologie als auch die Religion einen Teil des Naturverständnisses der Menschen, beide boten allgemein akzeptierte Erklärungen für aus heutiger Sicht »natürliche« Phänomene an (vgl. Clark 1997). Ein Blick in die Bibel als Basistext des Christentums mag hilfreich sein, um tiefer in die religiöse Vorstellungswelt in Hinblick auf unterschiedliche Funktionseinschränkungen einzutauchen. Man findet in der Bibel im Bereich der körperlichen Funktionseinschränkungen beispielweise Eigenschaftszuschreibungen wie »stumm«, »blind«, »taub«, »lahm«, »verkrüppelt« und »verstümmeln«. Im Bereich der geistigen Funktionseinschränkungen bzw. psychischen Krankheiten werden »närrisch«, »wahnsinnig«, »verwirrt«, »wirr«, »verrückt«, »besessen« und »irr« thematisiert. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament sind von den genannten Begrifflichkeiten die Blindheit und die Lahmheit am häufigsten zu finden.5 Es sind allerdings qualitative Unterschiede zwischen dem Alten und Neuen Testament bezüglich der Themen Krankheit und Funktionseinschränkung erkennbar, auf die im Folgenden näher eingegangen wird. Im Alten Testament 6 findet sich in der Regel keine vermittelnde Instanz zwischen Mensch und Gott. Gott ist sowohl strafende als auch heilende, reinigende beziehungsweise »rehabilitierende« Instanz. »Der HERR wird dich schlagen mit Wahnsinn, Blindheit und Verwirrung des Geistes« (5.Mo 28, 28). Aber auch: »An jenem Tage wird dein Mund aufgetan werden, wenn der kommt, der entronnen ist, sodass du reden kannst und nicht mehr stumm bist; und du wirst für sie ein Wahrzeichen sein, dass sie erfahren, dass ich der HERR bin.« (Hes 24, 27) Nicht Ursache und Verlauf einer Krankheit oder Funktionseinschränkung werden im Alten Testament thematisiert, geschildert werden eher die Not, das körperliche Leiden und die sozialen Folgen, wie beispielsweise beim Aussatz7 – bei dem bereits der Begriff auf die Folgen und nicht auf die Krankheit selbst verweist (vgl. Seybold & Müller 1978: 163; Beese 2010: 2). Das 3. Buch Mose beschreibt, wie Aussatz von einem Priester erkannt und »behandelt« werden soll. Ist ein Aussatz vom Priester bestätigt, so folgt der Ausschluss aus der Gemeinschaft nach einen festgeschriebenen Prinzip: »Wer nun aussätzig ist, soll zerrissene Kleider tragen und das Haar lose und den Bart verhüllt und soll rufen: Unrein, unrein! Und solange

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Siehe Anhang: Auszählung der Begrifflichkeiten in der Online-Ausgabe der Bibel. Im Alten Testament sind alle Bücher des Tanach (der hebräischen Bibel) in einer leicht veränderten Reihenfolge kanonisiert. Der Aussatz und die Folgen werden im Alten Testament 28-mal thematisiert, was sicherlich auf eine gewisse Relevanz in der Entstehungszeit hinweist.

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die Stelle an ihm ist, soll er unrein sein, alleine wohnen, und seine Wohnung soll außerhalb des Lagers sein.« (3.Mos 13, 46f) Die sozialen Folgen, die ein erkrankter Mensch zu erleiden hat, werden auch an anderer Stelle in der Bibel eindrücklich geschildet (siehe Hiob 19, 13-22). Dem kranken Menschen widerfährt in dieser Beschreibung neben seiner Erkrankung zusätzlich noch eine soziale Ausgrenzung. Es ist zu vermuten, dass die sozialen und psychischen Folgen einer Stigmatisierung durch eine Erkrankung, die einer Sünde und somit der Unreinheit gleichgestellt wurde, stärker waren als die körperlichen Leiden. »Kranke werden – mit dem Unterton des Vorwurfs eigenen Verschuldens – auch als Tore bezeichnet (z.B. Hi 5, 2; Ps 107, 17); Krankheit gilt als Schande, derentwegen man sich öffentlich schämen muss (so z.B. 4 Mo 12, 14; Hi 19, 3); der Betroffene ist als Adressat von Ekel, Abscheu und Hohn (Hi 19, 13ff.) faktisch aus der Gesellschaft ausgeschlossen.« (Szagun 1983: 60) Dies hat auch damit zu tun, dass nach Genesis 1 (Vers 27) Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen hat. Geistig verwirrte oder körperlich deformierte Menschen entsprachen folglich nicht den theologischen Vorstellungen des göttlichen Ideals, das sich im Menschen widerspiegeln sollte (vgl. Hergemöller 2001: 6; Rohrmann 2006: 145). Menschen mit Krankheiten hatten sich in der altisraelitischen Vorstellungswelt grundsätzlich dem Totenreich genähert (vgl. Eurich 2008: 312). Krankheit wird nicht als medizinisches Problem, sondern als Strafe für Sünde und somit als ein gestörtes Verhältnis des Menschen zu Gott betrachtet.8 »Es wird dem Gerechten kein Leid geschehen; aber die Gottlosen werden voll Unglücks sein« (Spr 12, 21). Mit der Beseitigung der gestörten Gottesbeziehung widerfährt dem Menschen automatisch die Heilung seines Schadens durch Gott. Der Körper ist folglich kein Objekt, das isoliert vom Glauben geheilt werden kann. »Denn er verletzt und verbindet; er zerschlägt und seine Hand heilt.« (Hiob 5, 18) Auch im 2. Buch Mose 15, 26 wird dies deutlich: »Wirst Du der Stimme des HERRN, deines Gottes, gehorchen und tun, was Recht ist vor ihm, und merken auf seine Gebote und halten alle seine Gesetze, so will ich Dir keine der Krankheiten auferlegen, die ich den Ägyptern auferlegt habe; denn ich bin der HERR, dein Arzt.«9

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Diese Sichtweise wird auch als Iatrotheologie bezeichnet. Die Annahme eines Kausalzusammenhangs zwischen einer gottesfremden Handlung des Menschen und seiner Erkrankung scheint dem menschlichen Bedürfnis zu entspringen, nicht erklärbare Phänomene durchschaubarer und begreifbarer zu machen (vgl. Szagun 1983: 54).

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Im Gegensatz dazu werden Krankheit und Funktionseinschränkung jedoch auch als Prüfung sowie als sinnloses Phänomen einer undurchschaubaren Weltordnung thematisiert (Hiob 21, 7; 24, 1ff.). Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass im Alten Testament Funktionseinschränkungen im engeren Sinne als konkretes soziales Problem (beispielsweise Situation von Blinden, Lahmen, Taubstummen und ihrer Familien) praktisch nicht auftauchen, als theologisches Problem nur hinsichtlich der einschränkenden Bestimmungen in Bezug auf priesterliche Tätigkeiten (3. Buch Moses 21, 17ff.), als Schuld-Strafe-Äquivalenz werden sie dagegen deutlich häufiger Gegenstand der Schilderung (vgl. Szagun 1983: 71f.).Im Neuen Testament tritt Jesus als heilende beziehungsweise »rehabilitierende« Instanz zwischen Mensch und Gott in Erscheinung. »Und er nahm den Blinden bei der Hand und führte ihn hinaus vor das Dorf, tat ihm Speichel auf seine Augen, legte seine Hände auf ihn und fragte ihn: Siehst du etwas« (Mk 8, 23). Die Methode der Heilung einer Erkrankung richtete sich jeweils nach deren Ätiologie: Wurde die Erkrankung als eine Strafe Gottes angesehen, konnte die Heilung durch Vergebung der Sünden (Matthäus 9, 1-8; Markus 2, 1-12; Lukas 5, 17-26) eintreten, wurde ein böser Dämon dahinter vermutet, wurde der Exorzismus als Heilversuch angewendet (Matthäus 8, 18; Markus 1, 21-28, Lukas 4, 31-37) (vgl. Rohrmann 2011: 22). Durch die persönliche Zuwendung eines Menschen erfolgt die Heilung, und in dieser Zuwendung vollzieht sich zugleich die persönliche Zuwendung Gottes (vgl. Beese 2010: 7). Im Neuen Testament dürfen Menschen mit körperlichen Funktionseinschränkungen in den Tempel gehen, um dort Heilung zu erfahren – dies war im Alten Testament explizit untersagt. Im Neuen Testament ist eine Entwicklung von einem strafenden in Richtung eines mitfühlenden Gottes zu beobachten – mit Elias könnte man von einer Zivilisierung des Gottesbildes sprechen10 – der durch die Heilung gleichzeitig auch seine Macht demonstriert. Krankheit und Funktionseinschränkung werden nun durch den Glauben heilbar und die Nächstenliebe als christlicher

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»Die allmähliche [Zivilisation] der Götter ist in der Tat einer der eindrucksvollsten Belege für die langfristige [Zivilisation] der Menschen. Sie zeigt deren Richtung an. In früheren Zeiten waren die Götter gewöhnlich leidenschaftlicher, wilder, unberechenbarer. Sie waren heute menschenfreundlich und voller Wohlwollen, morgen grausam, voller Haß und zerstörerisch wie sehr mächtige Menschen und ungezähmte Naturgewalten. Allmählich verringerten sich dann die Ausschläge. Wie sich die unbeherrschbaren Ausschläge der Naturgewalten – gute Ernten, schlechte Ernten – und die Gefahren in diesem Bereich verringerten, so wurden auch die Götter in der Vorstellung der Menschen gleichmäßiger, weniger leidenschaftlich und berechenbarer; sie erschienen dann oft genug als gerechte, sogar moralische und selbst als gütige, immer liebende Gestalten, wie gesagt, ohne ihre Furchtbarkeit ganz zu verlieren.« (Elias 2003b: 448f.)

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Wert etabliert und so die Krankenpflege zum »Gottes-Dienst« erhoben (vgl. Schuelka 2013: 504). In der Bergpredigt schließlich sind alle Menschen Sünder und bedürfen der Umkehr, nicht nur die Verunglückten und Leidenden. Auf kranke und funktionseingeschränkte Menschen angewendet bedeutet das, dass »der Kranke oder Behinderte […] vor Gott keine andere Stellung [hat] als der Gesunde, er ist gleichwertig, seine körperlichen oder geistigen Defizite haben mit dem Gottesverhältnis nichts zu tun.« (Szagun 1983: 82; Weglassung und Ergänzung in Klammern C.E.) Eine Sinndeutung menschlichen Leidens ist im Neuen Testament kaum mehr zu finden. Leid, Krankheit und Hunger dienen nur noch selten als Strafe für begangene Sünden oder als Prüfung. Es sind Dinge, die nicht sein sollen und die durch die Zuwendung Jesu beseitigt werden können (vgl. ebd. 82; Böhncke 1995: 15f.). »Indem Krankheit und Leiden im Horizont des hereinbrechenden Reiches Gottes als zu überwindende Phänomene dargestellt werden, kommt hier eine Haltung des Widerstandes gegen körperliche Beeinträchtigungen und Leiden in den Blick. Andererseits kann an Beeinträchtigungen und Krankheiten Gottes Gnade besonders sichtbar werden, so dass ebenso das Motiv der Akzeptanz körperlicher Beeinträchtigung identifiziert werden kann.« (Eurich 2008: 319) Im Neuen Testament wiederfährt dem Kranken durch die Heilung nicht nur die Beseitigung seiner Erkrankung, sondern die Zurückführung in die Gemeinschaft. Gesundung impliziert – so gesehen – neben der körperlichen Restitution auch Resozialisation und Reintegration in die religiöse Gemeinschaft (vgl. Eurich 2008: 320). Interessanterweise nehmen die Nennungen sowohl der körperlichen als auch der geistigen Funktionseinschränkungen im Neuen Testament zu (siehe Anhang). Dies lässt vermuten, dass zu dieser Zeit ein höherer »Bedarf« an Heilung existierte als zu Zeiten des Alten Testaments – was sicher auch mit den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zusammenhing. Erkennbar wird im Neuen Testament eine gewisse Abhängigkeit des göttlichen Wirkens von Menschen mit Funktionseinschränkungen, da nur durch diese Menschen die göttlichen Wunder sichtbar werden können. In welchem Ausmaß die religiösen Texte die Einstellungen und das Verhalten der Menschen im Mittelalter tatsächlich beeinflusst haben, kann nur vermutet werden. Dass sie einen Einfluss hatten, ist anzunehmen. So war im Mittelalter die Heilung – in welcher Form auch immer – ein Feld, das in erster Linie durch religiöse Würdenträger bestellt wurde. Dies lässt sich durch entsprechende Mirakelgeschichten literarisch belegen (vgl. Metzler 2006: 126ff.) und durch die Verbreitung von Klöstern und später Hospitälern architektonisch nachskizzieren (siehe Kapitel 4.4.1). Gleichzeitig waren aber nur geistliche und vereinzelt adelige Menschen in der Lage die Bibel zu lesen und Schlüsse daraus zu ziehen.

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Trotz der christlich-religiösen Texte wurden Funktionseinschränkungen auch vor dem Hintergrund älterer magisch-religiöser Vorstellungen wahrgenommen und bewertet: Schwangere konnten sich beispielsweise vor Menschen mit Funktionseinschränkungen erschrecken (»versehen«) und deshalb ebenfalls ein Kind mit Funktionseinschränkungen gebären (vgl. Fandrey 1990: 20). Diese Einstellung hatte für die Betroffenen reale Konsequenzen, wie in der Bettelordnung des Nürnberger Stadtrats von 1478 nachzulesen ist: »Es soll auch jeder Bettler, der eine offene, schlimme Verletzung an seinem Leibe oder seinen Gliedern hat, wovon die schwangeren Frauen durch Hinsehen Schaden erleiden könnten, diese Verletzung verdecken und nicht offen zeigen oder zur Schau stellen, bei Strafe von einem Jahr Stadtverbannung.« (Nürnberger Bettelordnung 1478 zitiert nach Fandrey 1990: 20) Interessanterweise hielten sich solche Vorstellungen teilweise bis weit ins 19. Jahrhundert hinein (vgl. ebd.: 72). Der Göttinger Mediziner Karl Friedrich Heinrich Marx schrieb 1876: »Mitleid mit Krüppeln und Personen, die an ekelhaften Uebeln laborieren, hat sich darauf zu beschränken: für deren angemessenen Aufenthalt in Siechhäusern mit Gärten, die sie jedoch nie verlassen dürfen, zu sorgen. Der widrige Anblick solcher Unglücklichen muß dem öffentlichen Verkehr entzogen bleiben, denn der Eindruck auf Empfindsame, oder gar Schwangere, ist höchst bedenklich.« (Marx 1876 zitiert nach Seidler 1988: 6) Zur Zeit der Reformation (1517-1648) waren nach Martin Luther missgebildete Kinder als Werke des Teufels anzusehen. Diese Kinder – er sprach von »Wechselbälgen«11 oder »Kielkröpfen«12 – müssen seiner Ansicht nach getötet werden, da sie keine göttliche Seele haben, sondern einer reinen »Fleischmasse« (»massa carnis«) gleichzusetzen sind, deren Vernichtung ein »wohlgefälliges Werk« darstelle (vgl. Thomann 1995: 5f.; Mattner 2000: 21f.). Sicherlich hatten diese Bewertungen eine gewisse Entlastungsfunktion für die Eltern zur Folge, denn die Verantwortung konnte so auf jemand anderen – explizit auf Dämonen oder den Teufel – projiziert werden, so dass nicht mehr eine eigene Verfehlung oder Sünde als Ursache für das »missgestaltete Kind« fungierte.

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Unter einem Wechselbalg verstand man zu Zeiten Luthers ein missgestaltetes Kind, das den Eltern vom Teufel oder anderen Wesen (Zwergen, Nixen etc.) heimlich in die Wiege gelegt, also mit dem eigenen Kind vertauscht wurde (vgl. Brockhaus 2006f: 533). Der Name Kielkropf wird vom mittelhochdeutschen quil (die Quelle) abgeleitet. Man nahm an, dass diese Wesen aus Gewässern stammten und daher auch wieder dorthin zurückgeworfen werden müssen. Aufgrund ihres Äußeren wurden zumeist Kinder mit einem größeren Kopf (»Wasserkopf«) so bezeichnet (vgl. Grimm & Grimm 1873: 679f.).

4. Menschen mit Funktionseinschränkungen im Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert

Neben diesen christlich-religiösen und magisch-religiösen Sichtweisen gab es freilich auch eine medizinisch geprägte Sichtweise auf Krankheit und Funktionseinschränkung – doch war im Mittelalter ein Großteil des umfangreichen medizinischen Wissens der Antike verloren gegangen, so dass diese medizinbasierte Sichtweise im Mittelalter entsprechend selten in Erscheinung trat (vgl. Kortüm 1996: 246f.; Barwig & Schmitz 2001: 247). Das um 800 nach Christus entstandene Lorscher Arzneibuch ist ein Beispiel der Weiterführung antiker medizinischer Tradition im Mittelalter und bildet ein Grundlagenwerk der Klostermedizin. Zwar wird hier bereits eine relative Trennung der Zuständigkeitsbereiche von Religion und Medizin vorgenommen, dennoch besteht noch eine enge Verbindung zwischen beiden: »Denn aus drei Ursachen wird der Leib von Krankheit befallen: aus einer Sünde, aus einer Bewährungsprobe und aus einer Leidensanfälligkeit. Nur dieser letzteren kann menschliche Heilkunst abhelfen, jenen aber einzig und allein die Liebe der göttlichen Barmherzigkeit.« (Lorscher Arzneibuch zitiert nach Kortüm 1996: 247) Bei Hildegard von Bingen ist die Verbindung zwischen Religion und Medizin in einem der »Humorallehre« folgenden Rezept zur Behandlung der Lepra zu finden. Das Rezept endet mit dem Satz: »Der Kranke wird gesund werden, es sei denn, Gott will nicht, dass er genese« (von Bingen zitiert nach Hundeiker 2012: 123). Die auf Hippokrates und zahlreiche Schriften von Galens zurückgehende sogenannte Humoralpathologie ist teilweise bis ins 19. Jahrhundert präsent. Diese Theorie postuliert die Ausgewogenheit von vier Körpersäften (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim), die Eukrasie, als Voraussetzung von Gesundheit. Krankheiten werden demnach durch einen naturwidrigen Stoff verursacht, der das Gleichgewicht der Säfte stört oder einen der Säfte schlecht werden lässt (Dyskrasie). Die Diagnostik konnte daher beispielsweise über die Harn- oder Blutschau erfolgen (vgl. Jankrift 2017: 433). Heilung versprach die Entfernung dieses Stoffes aus dem Körper, was – neben der Verschreibung von Diäten – zum häufigen Aderlass sowie der Verabreichung von Brech- und Abführmitteln führte (vgl. Winau 1982: 287ff.). Die praktizierenden Ärzte des 6. und 7. Jahrhunderts erlernten ihr theoretisches Wissen an Höfen und Klosterschulen, daher wird diese Periode der mittelalterlichen Medizingeschichte auch als Periode der monastischen Medizin (Mönchsmedizin) bezeichnet (vgl. Ackerknecht 1992: 58). Im 2. Laterankonzil von 1139 wird die Ausbildung eines eigenen Berufsstandes der Mediziner gefordert. Im 12. Jahrhundert kam es zur weiteren Professionalisierung, Spezialisierung und Institutionalisierung der Medizin. In Salerno entstand die erste medizinische Fakultät. Darauf folgten weitere Lehrstätten in Toledo (1200) und Montpellier (1220).

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»Mit welch überraschend modern anmutenden Problemen man sich bereits im 13. Jahrhundert herumschlagen mußte, zeigen die 1231/1240 vom Stauferkaiser Friedrich II. erlassenen sog. Konstitutionen von Melfi […]. Dort finden sich […] eine ausführliche Approbationsordnung für Ärzte, eine Festlegung von Studieninhalten und Mindestkenntnissen, eine ärztliche Gebührenordnung, die Trennung von Pharmazeuten und Medizinern, der Zwang zur Fortbildung etc..« (Kortüm 1996: 250f.) Der Zeitraum seit dem 12. Jahrhundert wird als Periode der scholastischen Medizin (Schulmedizin) bezeichnet (vgl. Ackerknecht 1992: 58). Die Ärzte des Mittelalters bildeten jedoch nur einen sehr kleinen und eher theoretisch ausgerichteten Teil des »Heilpersonals«, besonders auf dem Land waren Krankheitsbehandlungen aller Art überwiegend den praktisch orientierten Barbierchirurgen, Badern, Laienheilkundigen und Hebammen überlassen (vgl. ebd.: 64). Die Medizin des Mittelalters war eher theoretisch orientiert; sie betrachtete Gesundheit und Krankheit noch nicht als zwei getrennte Pole: »Gesundheit wurde als Balance der in Makrokosmos und Mikrokosmos (Organismus) gegenwärtigen Elemente, Kräfte und Qualitäten verstanden, Krankheit als eine Störung dieses Gleichgewichts. Abweichend von der neuzeitlichen Auffassung wurde in der antiken und mittelalterlichen Medizin zwischen Gesundheit (sanitas) und Krankheit (aegritudo) noch ein mittlerer Zustand eingeordnet, der häufig mit dem normalen Leben assoziiert wurde: die neutralitas. Der Mensch wäre demnach im Allgemeinen weder vollkommen krank noch vollkommen gesund, vielmehr meistens in einem Zustand zwischen diesen beiden Polen. Prävention und Therapie werden in diesem kosmologischen Kontext verstanden, als Diätetik, das heißt im Sinne einer Lebensführung, die sich an der kosmologischen Ordnung und dem Gleichgewicht der Elemente ausrichtet.« (Roelcke 2017: 152) Aus diesem Grund beinhalten die meisten medizinischen Texte des Mittelalters auch überwiegend Anleitungen zur gesunden Lebensführung; der Adressatenkreis dieser Texte war jedoch ausschließlich Adel und Klerus, die über entsprechenden Wohlstand und Zeit für Ausschweifungen verfügten, und vor allem aber in der Lage waren, die Texte zu lesen (vgl. Goudsblom 1979b: 245f.). Im medizinischen Diskurs des Mittelalters wurde keine Unterscheidung zwischen akuten und chronischen, meist zu Funktionseinschränkung führenden Krankheiten gezogen (vgl. Riha 2009: 117). Da es viele Erkrankungen (vor allem chronische Erkrankungen) gab, bei denen die medizinische Therapie versagte, musste sich die Medizin auf Symptomkontrolle und Linderung von Schmerzen bei akuter Verschlechterung beschränken.

4. Menschen mit Funktionseinschränkungen im Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert

»So erklärt sich die große Rolle, die Amulette, Zaubersprüche und deren christliche Variante, die Heilsegen, im Alltag spielten, und deshalb spielten religiöse Bewältigungsstrategien – etwa in Form von Schutzheiligen und Wahlfahrten – eine faktisch gleichberechtigte Rolle im Krankheits- und Gesundheitsverhalten der Menschen.« (Riha 2017: 333) Der Unterschied zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Medizin lässt sich am ehesten in der Formulierung von Stephen d’Irsay ausdrücken: Die mittelalterliche medizinische Profession hatte ihren Mittelpunkt nicht in Laboratorien oder Krankenhäusern, sondern in Bibliotheken (vgl. Ackerknecht 1992: 60). Zusammenfassend wird deutlich, dass die mittelalterliche Vorstellung von Krankheit und Funktionseinschränkung ein breites und ambivalentes Spektrum an Interpretations- und Behandlungsmöglichkeiten bot, das sowohl christlichreligiöse, magisch-religiöse als auch medizinische Färbung gleichermaßen aufweist. Da für Menschen mit Funktionseinschränkung jedoch die Reaktion der Gesellschaft auf sie die wesentlich größere Bedeutung hat, wird im Folgenden ein Blick darauf geworfen.

4.4 4.4.1

Institutionalisierte Reaktionen auf kranke und funktionseingeschränkte Menschen Orte der Versorgung von kranken Menschen

Bereits 398 nach Christus verpflichtete das Konzil zu Karthago die Bischöfe in ihren Diözesen Herbergen zur Versorgung von Armen und Kranken zu errichten (vgl. Rohde 1974: 64), so dass bis zum Hochmittelalter das Armenhaus (Hospitale Pauperum) oder eine Pflegeabteilung (Infirmarium) zur Regelausstattung vieler Klöster gehörten (vgl. Simon 2013: 21). Architektonisch sind diese Einrichtungen dem Inneren einer Kirche ähnlich, so dass die »Bewohner« von ihren Betten aus den Altar sehen und den mehrmals täglich durchgeführten Messen folgen konnten (vgl. ebd.). So wie der Altar im architektonischen Zentrum des Hospitals stand, stellten geistlicher Beistand und seelische Betreuung und nicht die medizinische Versorgung des körperlichen Gebrechens den Mittelpunkt der fürsorglichen Bestrebungen dar (vgl. Vanja 2008b: 224). »Diese ersten christlichen Hospitäler waren primär nicht medizinische, sondern philanthropische Einrichtungen, in denen Alte, Krüppel und heimatlose Pilger, ob krank oder gesund »Hospitalität« fanden.« (Ackerknecht 1992: 65) Darauf weist auch der lateinische Ursprungsbegriff »hospitalium« (dt. »Gastzimmer«) sowie das Adjektiv »hospitalis« (dt. »gastfreundlich«) hin (vgl. Kluge 2002: 423).

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Abbildung 6: Darstellung einer Krankenstation im Hôtel-Dieu (16. Jahrhundert)

A hospital ward in the Hotel Dieu © Wellcome Library, London (Licensed under CC BY 4.0) https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

Die Hospitäler waren folglich in erster Linie Armenpflegehäuser, für alle diejenigen, die nicht in der Lage waren, ihren Lebensunterhalt auf den Straßen zu erbetteln (vgl. Fandrey 1990: 36f.; Fischer 1982: 30f.). Hierbei muss beachtet werden, dass der heutige Mensch beim Blick auf das Mittelalter häufig »Armut« mit »Behinderung« gleichsetzt. Zwar ist bekannt, dass viele Arme im Mittelalter auch körperlich beeinträchtigt waren, aber nicht alle Menschen mit einer Funktionseinschränkung waren damit automatisch arm (vgl. Nuckel 2017a: 190). Da aus Armut häufig Funktionseinschränkungen resultieren, wie beispielsweise durch Mangelernährung, schlechte Hygiene und mangelhafte Wundversorgung, waren viele arme Menschen auch funktionseingeschränkt, dass bedeutet im Umkehrschluss allerdings nicht, das man z.B. mit angeborenen Funktionseinschränkungen automatisch in Armut fiel. Der Zusammenhang zwischen Armut und Funktionseinschränkung ist eher ein struktureller als ein eindeutig kausaler (vgl. Boatca & Lamnek 2004: 169). Bettler wurden im mittelalterlichen Almosenwesen nach dem Ausmaß ihrer Arbeitsunfähigkeit kategorisiert. Nur wer den Nachweis erbrachte, weder durch eigene Kraft seinen Lebensunterhalt verdienen zu können noch durch familiäre Unterstützung aufgefangen zu werden, hatte ein Anrecht auf ein Bettelzeichen beziehungsweise auf städtische Almosen (vgl. Nuckel 2017b: 419).

4. Menschen mit Funktionseinschränkungen im Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert

Für wohlhabendere Stände gab es in einigen Klöstern (beispielsweise in St. Gallen) neben dem Hospitale Pauperum das sogenannte Domus Hospitum, das den Fürsten und kirchlichen Würdenträger diente (vgl. Simon 2013: 22). Befanden sich diese höheren Stände nicht auf Reisen, so ließen sie sich im Krankheitsfall an ihren Wohnorten von lokalen Ärzten und nicht in den Klostereinrichtungen behandeln, die überwiegend als »trostlose Stätten, zu deren Inanspruchnahme wirklich nur die äußerste Not und Hilflosigkeit oder (im Falle der Aussätzigen) der Isolierzwang veranlassen konnte« (Rohde 1974: 73). Neben kirchlichen Einrichtungen übernahmen zunehmend auch christliche und weltliche Orden die Aufgaben der Krankenversorgung. Als Beispiel kann der Johanniterorden angesehen werden, der seine Aktivitäten nach den Kreuzzügen und der Vertreibung aus Palästina nach Europa verlagerte, wo er zeitweilig bis zu 4.000 Ordensniederlassungen betrieb, die bereits medizinische Versorgungsaufgaben wahrnahmen (vgl. Simon 2013: 22; Ackerknecht 1992: 65). Seit dem 13. und 14. Jahrhundert entwickelten sich die Städte zunehmend als eigenständige politische Akteure, die sich den Einflusssphären von Königen und Fürsten nach und nach entzogen. In ihren Mauern entstand eine neue bürgerliche Gesellschaft, zu deren Selbstverständnis auch eine öffentliche Verantwortung für die Versorgung von Armen und Kranken gehörte. In dieser Zeit ging die Verwaltung der Hospitäler nach und nach aus den Händen der Orden in die der Stadtverwaltungen über. Städtische – teilweise von einzelnen Bürgern neu gestiftete – Spitäler und von den Städten angestellte Ärzte wurden zu Eckpfeilern der städtischen Gesundheitsversorgung (vgl. Fandrey 1990: 36; Jetter 1973). Jedoch erst im Spätmittelter und der frühen Neuzeit sind erste Belege für die Existenz von therapeutisch wirksamen Ansätzen auf fachmedizinischer Basis in den Hospitälern nachweisbar (vgl. Watzka 2005: 320ff.). Klöster und Hospitäler bildeten ebenfalls eine Anlaufstätte für Menschen mit Funktionseinschränkungen. Ulrich von Zell schilderte den Umgang seiner Zeitgenossen mit Kindern, die verschiedene Funktionseinschränkungen aufwiesen, im 11. Jahrhundert folgendermaßen: »Wenn (die Leute) ihr Haus voller Kinder haben und eines davon lahm oder verstümmelt ist, schwerhörig oder blind, höckrig oder aussätzig oder sonst mit einem Gebrechen behaftet ist, so daß es für die Welt weniger brauchbar ist, das opfern sie mit einem großen Gelübde Gott, damit es Mönch werde, obwohl sie es doch nicht wegen Gott, sondern bloß deswegen tun, um sich von der Last der Erziehung und Ernährung zu befreien, und damit für die anderen Kinder besser gesorgt sei.« (von Zell zitiert nach Seidler 1988: 5) Mit dem Anstieg der Bevölkerung in den Städten im 14. und 15. Jahrhundert nahm auch die Zahl der Bedürftigen zu.

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»Nun vollzog sich ein Wandel vom allgemeinen Spital zum speziellen Haus. In den meisten Städten wurden zusätzliche Spitäler gegründet, die spezielle Funktionen erfüllten. Zu den vorhandenen Leprahäusern kamen z.B. die Gasthäuser, Fremdenspitäler, Pilgerspitäler, Elendenherbergen, Armenspitäler, Waisenhäuser, Findelhäuser, Siechenhäuser, Beginenhäuser, Häuser für alte Handwerker und das Bürgerspital.« (Knefelkamp 2005: 177) Wer in ein Hospital aufgenommen werde wollte, musste Zeugnisse des Ortspfarrers und des Ortsvorstehers vorweisen. Erst später im 18. Jahrhundert wurden nach und nach auch Atteste von studierten Ärzten oder von Wundärzten eingefordert (vgl. Vanja 2013: 216). Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass Klöster und Hospitäler lange Zeit mehr oder weniger eine Einheit bildeten. Erst im Spätmittelalter ist der Beginn einer Trennung zu beobachten – wobei die geistliche Fürsorge immer noch vorrangig war und somit maßgeblich die medizinische Fürsorge beeinflusste.

4.4.2

Orte der Ausgrenzung von »Aussätzigen«

Lepra (ein Begriff aus dem 18. Jahrhundert) ist eine bakterielle und hochansteckende, bis ins 20. Jahrhundert unheilbare und chronisch verlaufende Infektionskrankheit mit einhergehenden körperlichen und sozialen Funktionseinschränkungen, mit denen die Betroffenen häufig Jahrzehnte lang leben mussten, bevor der Tod eintrat. Die Krankheit befällt die Haut, die Nerven sowie innere Organe und die Augen; sie verursacht eine Krümmung des Körpers, entstellt und verkrüppelt die Glieder, macht die Stimme schrill und kreischend und erzeugt Phasen fiebriger Hitze (vgl. Belker-van den Heuvel 2001: 271f.; Borst 1979: 578). Vermutlich wurde die Krankheit im Zuge der Kreuzzüge nach Europa »eingeschleppt« – zumindest begann im 12./13. Jahrhundert die Erkrankung zu einem solchen Problem zu werden, dass Papst Alexander III. während des 3. Laterankonzils im Jahr 1179 bestimmte, dass von Lepra befallene Menschen nicht mit den gesunden Menschen in den Städten zusammenleben dürften – und zementierte so für die folgenden Jahrhunderte deren Status als »Aussätzige«.13 Seit dem 16. Jahrhundert ebbte die Prävalenz wieder ab – wobei noch bis ins 19. Jahrhundert hinein vereinzelte Fälle in Europa auftraten (vgl. Hundeiker 2012: 124). Der Begriff »Aussatz« bezeichnet dabei nicht Krankheit, sondern die sozialen Folgen, die in dem Moment eintraten, indem ein Mensch als »aussätzig« klassifiziert wurde (vgl. Beese 2010: 2). Hildegard von Bingen sah drei Ursachen für die 13

Vor dem 13. Jahrhundert hausten die Erkrankten häufig in einfachen Feldhütten vor der Stadt, die nach ihrem Ableben verbrannt wurden (vgl. Belker-van den Heuvel 2001: 281). Jedoch sind zumindest in Frankreich bereits im 5. Jahrhundert vereinzelte Leprosorien nachgewiesen (vgl. Hundeiker 2012: 121).

4. Menschen mit Funktionseinschränkungen im Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert

Lepra: Völlerei, Jähzorn und Unzucht (vgl. Belker-van den Heuvel 2001: 275). Und selbst deutlich später im Feldtbuch der Wundartzney des Hans von Gerstorff (1517) wurde zwar unter Berufung auf Galen und Avicienna die Ursache in der Kochung des Bluts in der Leber beschrieben, dies wiederum wurde jedoch ebenfalls durch Jähzorn erklärt. Der medizinischen Behandlung der Symptome lag eine religiöse Diagnostik der Ursache zugrunde. Wirksame Heilmittel gegen Lepra kannte das Mittelalter nicht. Zwar sind im bereits erwähnten Lorscher Arzneibuch entsprechende Mittel zu finden, diesen lagen sogenannte simile-magische Vorstellungen zugrunde, wonach Ähnlichkeiten des Aussehens der Heilmittelträger (Pflanzen oder Tiere) Hinweise auf die Anwendungsmöglichkeiten geben: »Weil Schlangen ihre alte Haut abstreifen können, sollten Schlangengift oder Schlangenfleisch gut gegen Hautkrankheiten sein. Auch Schlangenwein wurde in verschiedenen Varianten gegen Lepra empfohlen.« (Hundeiker 2012: 122) Festgestellt wurde die Erkrankung durch die von verschiedenen Autoritäten (im Frühmittelalter waren dies die Priester, im Hochmittelalter Leprosenmeister und Wundärzte, im Spätmittelalter Ärztekommissionen) durchgeführte Lepraschau. Die Lepraschau bildete die Grundlage für die folgende soziale Absonderung: »In einem exakt durchgeführten offiziellen Akt wird der potentiell Infizierte untersucht, im Falle eines positiven Befundes mit einem Schaubrief versehen, in feierlicher und definitiver Form von der Gemeinschaft verabschiedet und als lebend Toter in eine geschlossene Anstalt jenseits der Mauern verbracht, die eine Mischung aus Kloster, Spital und Gefängnis darstellt.« (Belker-van den Heuvel 2001: 276f.) Die anschließenden Rituale wie Verabschiedungsgottesdienst, Beichte, symbolische Beerdigung, Aufstellung eines Totenkreuzes etc. unterschieden sich regional sehr stark voneinander. Die Gemeinsamkeit bestand allerdings darin, dass diese Rituale den Betroffenen auf das ihm bevorstehende klosterähnliche Leben vorbereiten sollten (vgl. ebd.: 280). Zur Aufnahme musste der Betroffene ein seinen Möglichkeiten entsprechend hohes Pfründgut einbringen, durch das sich das Leprosorium, neben Erträgen aus Verpachtungen, Vermietung, Spenden und Kapitalgeschäften, finanzierte (vgl. ebd.: 284). Dieser Umgang mit Aussätzigen lässt darauf schließen, dass sich die Maßnahmen eher gegen den »aussätzigen« Menschen richteten, als gegen die Krankheit (vgl. Goudsblom 1979b: 230).»Alles weist darauf hin, dass es sich bei der Behandlung der Aussätzigen nicht um eine ärztliche Versorgung, sondern um eine Stigmatisierung handelte, um »avoidance of defilement by an outcast.« (Ebd.: 231) Nach der Aufnahme wurde das Merkmal des »Leprosus« zum Hauptstatusmerkmal hinter dem alle früheren Titel und Qualifikationen verschwanden. Die offen sichtbaren Insignien der Aussätzigen waren Klapper, Glocke oder Horn, Mantel, Rock, Kapuze, Handschuhe, Zeigestock, Essgeschirr und Wasserflasche. Diese

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markierten die Sonderstellung des Betroffenen, sobald er sich außerhalb des Leprosoriums bewegte. Dabei dienten die Klapper, die Glocke und das Horn als Signale der Näherung des Erkrankten zum Schutze der Gesunden, das Essgeschirr und der Zeigestock sollten die Umwelt vor der direkten Berührung schützen (vgl. Belker-van den Heuvel 2001: 280). Da noch kein Wissen über die bakterielle Ursache und Übertragung der Krankheit vorhanden war, waren diese Maßnahmen in der Annahme begründet, dass die Erkrankung über miasmatische14 oder kontagiöse Ansteckung, also in diesem Fall über den Atem, durch Körperflüssigkeit (Schweiß, Speichel) sowie durch Geschlechtsverkehr verbreitet wird – nur aus diesem Grund waren die Betroffenen auf Distanz zu halten. Die Leprosorien wurden zur besseren Ver- und Entsorgungsmöglichkeit an Wegkreuzungen der Hauptverkehrsachsen und in der Nähe von Wasserläufen errichtet. Zudem befanden sie sich häufig zwischen zwei Städten, wodurch eine gemeinsame Nutzung möglich war (vgl. Jetter 1966: 39f.). Die Hausordnungen der Leprosorien unterschieden sich ebenfalls regional, ihnen gemeinsam waren jedoch die Prinzipien der Gehorsamkeit, Keuschheit und Armut (vgl. Belker-van den Heuvel 2001: 282). Der Verstoß gegen die Hausordnungen sah Strafen von Essensentzug bis hin zur Verbannung vor. Aussatz war folglich eine Krankheit, auf die eine Behinderung par excellence im soziologischen Sinne erfolgte. Die Aussätzigen waren vermutlich auch die erste Gruppe von Menschen mit Funktionseinschränkungen, die ein gewisses Gruppengefühl entwickelten. Der Ausschluss von Aussätzigen aus der Gemeinschaft ist auch archäologisch bereits mehrfach bestätigt worden (vgl. Ulrich-Bochsler 2017: 428).

4.4.3

Orte für Menschen mit geistigen Funktionseinschränkungen bzw. psychischen Erkrankungen

Die mittelalterliche Gesellschaft – vor allem im städtischen Bereich – hatte verschiedene Orte für die Ausgrenzung von Menschen mit geistigen Funktionseinschränkungen, die seit dem Spätmittelalter auch als »natürliche Narren« bezeichnet werden:15 Tolltürme, Narrenkäfige (»Dorenkisten«) bis hin zu einzelnen Zellen in Hospitälern und im Spätmittelalter sogar vereinzelt eigene Häuser (vgl. Jetter 1966: 53). Eine klare Unterscheidung zwischen psychischen Erkrankungen und 14

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Bis zu Pasteurs und Kochs Entdeckungen der Bakterien als Krankheitserreger und -überträger wurden außerhalb des Körpers gebildete Ansteckungsstoffe, insbesondere Ausdünstungen des Bodens, als Miasmen bezeichnet. Luft als Träger dieser Gerüche hatte dabei eine besondere Rolle. Die städtischen Mediziner des 18. Jahrhunderts versuchten die Miasmen über ihr Riechorgan aufzuspüren und mit Gegengerüchen zu bekämpfen. »Künstliche Narren« waren im Gegensatz dazu Menschen, die sich dumm oder tölpelhaft stellten und absichtlich Scherze trieben.

4. Menschen mit Funktionseinschränkungen im Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert

geistigen Funktionseinschränkungen kann hier nicht vollzogen werden, aber vermutlich waren die meisten Menschen, die als »natürliche Narren« bezeichnet wurden, eher psychisch krank statt geistig funktionseingeschränkt. Wenn im Folgenden von geistiger Funktionseinschränkung die Rede ist, sind damit auch immer psychische Erkrankungen eingeschlossen. Im Umgang mit Menschen mit geistigen Funktionseinschränkungen wird ein ambivalentes Spannungsverhältnis sichtbar: Einerseits wurden sie zum vorgeblichen oder wirklichen Schutz der Gemeinschaft abgesondert, andererseits wurden einige von ihnen in religiöse Rituale einbezogen oder an Herrscherhöfen als Hofnarren angestellt (vgl. Barwig & Schmitz 2001: 265). Wenn sich auch in diesen Umgangsformen sicher kein »Fortschritt« konstatieren lässt, muss man bedenken, dass anderen Orts oder zu früherer Zeiten, »Irre« oder »Wahnsinnige« »sich selbst überlassen war[en], wenn keine Familie und keine Angehörigen sich um […] [sie] kümmerten« (Jetter 1981: 13; Weglassung und Ergänzung in Klammern C.E.). Unter die geistigen Funktionsstörungen wurden im Mittelalter vor allem Störungen der Vernunft (beispielsweise Melancholie) und Erkrankungen des Gehirns (beispielsweise Besessenheit) subsumiert. Obwohl die Heilkundigen des Mittelalters die Ursachen für geistige Funktionseinschränkungen gemäß der Humoralpathologie der schwarzen Galle zuschrieben und erste Versuche der Entwicklung einer Systematik nachweisbar sind (beispielsweise die »De melancolia« des Constantinus Africanus um 1080), teilten sie dennoch nicht selten den Glauben an den außermenschlichen Einfluss von Teufeln und Dämonen – besonders bei der Besessenheit (Obsessio) – und überließen die Deutung den Theologen (vgl. Barwig & Schmitz 2001: 245). Diese bewerteten die Besessenheit – die sich in Kryptoskopie und Leviation, Sprechen mit fremden Zungen, Schreien, Wälzen und Um-SichSchlagen ausdrückte – als Strafe Gottes für zügelloses und anderes gottesfernes Verhalten (vgl. ebd.: 246). Wurden die Besessenen als Opfer dämonischer Kräfte angesehen, musste sie sich den Exorzismen unterziehen, waren sie selbst der Hexerei verdächtig, so folgten die damals üblichen Foltermaßnahmen zur Geständniserlangung und – zumindest im Spätmittelalter – das anschließende Verbrennen auf dem Scheiterhaufen. Einige Autoren gehen davon aus, dass Menschen sowohl mit geistigen als auch mit körperlichen Funktionseinschränkungen überproportional häufig der Hexenverbrennung zum Opfer fielen, da sie durch ihr abweichendes Verhalten und/oder Aussehen offensichtlich den damaligen Vorstellungen von Hexen entsprachen (vgl. Heinemann 1998: 124f.; Häßler & Häßler 2005: 32; Watzka 2005: 327). Auch wenn die von den Autoren herangezogenen historischen Quellen mit Vorsicht behandelt werden sollten, erscheint diese Folgerung zumindest in gewisser Weise plausibel. Weltliche Therapiemaßnahmen gegen geistige Funktionseinschränkungen sahen Aderlässe, Schröpfen mit Blutegeln, Verwendung von purgierenden Mitteln,

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Räucherung, Betäubung oder Schädeltrepanation vor (vgl. Barwig & Schmitz 2001: 247). Brachten diese Maßnahmen keine Heilung und war ein Zusammenleben mit dem Betroffenen nicht mehr möglich beziehungsweise konnten die Angehörigen nicht mehr für dessen Pflege und Betreuung aufkommen, so wurden die Menschen abgesondert. In den großen Städten konnten die Menschen bei der Stadtobrigkeit einen Antrag auf Aufnahme in spezielle Einrichtungen stellen. Viele Städte verfügten über Narrenkisten oder Tollhäuschen, die sich zumeist vor den Stadtmauern in der Nähe der Stadttore befanden. Einerseits konnte auf diese Art an die Barmherzigkeit und Mildtätigkeit der Vorüberziehenden appelliert werden, um mit deren Hilfe den Lebensunterhalt der Internierten zu sichern (vgl. Jetter 1966: 53), andererseits verhinderte man so unnötige Ruhestörungen durch das Geschrei der Insassen (vgl. Barwig & Schmitz 2001: 248). Aber auch Stadttürme stellten Orte der Absonderung für zumeist betuchtere »Geisteskranke« dar (vgl. ebd.: 249; vgl. Jetter 1981: 10). Belege existieren ebenfalls für die Abschiebung über die Stadtgrenzen hinaus. Für das Spätmittelalter sind vereinzelt ganze Häuser nachweisbar, in denen »Geisteskranke« untergebracht wurden. Hierzu wurden die Räumlichkeiten von Leprosorien, die durch den Rückgang der Lepraerkrankungen häufig leer standen, umfunktionalisiert, so zum Beispiel in Stuttgart (1589), Lüneburg (1576), Frankfurt (1572) und Lübeck (1602) (vgl. Barwig & Schmitz 2001: 251). Leprosorien können folglich – neben Pesthäusern, die eher abseits der Hauptstraßen standen – als Vorläufer der Irrenanstalten angesehen werden (vgl. Jetter 1981: 10f.). Leprosorien waren tendenziell für leichtere Fälle von »Irrsinn« geeignet, da sie architektonisch nicht besonders ausbruchsicher waren, in Pesthäusern waren hingegen Menschen untergebracht, die als gefährlich für die Gesellschaft eingestuft wurden (vgl. Jetter 1966: 55). Auf dem Land wurden »Geisteskranke« hingegen eher in Klöster beziehungsweise Hospitäler gebracht, wo man im 15. Jahrhundert begann, getrennte Zellen für die Unterbringung von Irren und Besessenen zu bauen (vgl. Fandrey 1990: 39). Durch architektonische Zeichnungen früherer Hospitäler und anderer Einrichtungen ist nachweisbar, dass man bereits im Mittelalter vereinzelt bestrebt war, die ruhigen von den unruhigen Irren zu trennen (vgl. Jetter 1966: 58). An den Höfen im Früh- bis zum Hochmittelalter wurden »natürliche Narren« als kostbarer »Besitz« betrachtet. Sie gehörten wie Jagdhunde, Greifvögel, dressierte Tiere, Zwerge und Monstren aller Art zur königlichen Menagerie. Sie wurden für repräsentative Zwecke eingesetzt und zur Belustigung und zum Zeitvertreib zur Schau gestellt (vgl. von Bernuth 2009: 427; Rohrmann 2011: 63). »Natürliche Narren«, die sich jenseits der Höfe frei in der Gesellschaft bewegen konnten, mussten sich entsprechend kleiden, um den Narrenstatus von weitem sichtbar zu machen. In Köln beispielsweise hatten Narren ein langes Gewand mit gezipfelten Schößen, eine Kappe mit weit herunterhängenden Ohrlappen und

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einen Schellenstab zu tragen. Letzteres lässt vermuten, dass damit von weitem das Ankommen des Narren angekündigt wurde, so dass die Menschen entsprechend ausweichen konnten (vgl. Mezger 1991: 218). Sie waren auf das Betteln und die Gabe von Almosen angewiesen. Das Betteln galt jedoch »bis zum Ende des 15. Jahrhunderts zwar als verachtete, doch akzeptierte Existenzform. Almosengeben war zu bestimmten Anlässen für die besitzende Bevölkerung religiöse Pflicht. Die Vergabe von Almosen erfolgte durch den direkten Kontakt zwischen Almosengeber und Almosenempfängern. Jeder, der bettelte, galt als legitimer Empfänger von Almosen. Eine Bedürftigkeitsprüfung, Kernstück jeder bürgerlichen Fürsorgepolitik, war dem feudalistischen Almosenwesen unbekannt.« (Rohrmann 2011: 63)16 Ob auf den Höfen, auf dem Land oder in der Stadt, Menschen mit geistigen Funktionseinschränkungen waren wohl häufig Opfer derber Späße, Verspottung, Erniedrigung und Belästigung. »Manche Geisteskranke werden öffentlich ausgepeitscht und im Laufe einer Art Spiels dann in einem vorgetäuschten Wettlauf verfolgt und mit Rutenschlägen aus der Stadt getrieben.« (Foucault 1969: 28) Die Bekleidung als Statussymbol des Narren war somit sowohl Schutz- als auch Freibrief (vgl. Häßler & Häßler 2005: 23f.). »Ab dem frühen 15. Jahrhundert wird die Trennung von natürlichen Narren, also Menschen, die von Geburt oder durch Krankheit mit Abnormitäten, Gebrechen und/oder geistigen Defekten gekennzeichnet sind und Schalksnarren [künstliche Narren], die ihren Witz und Spott im Gewand des kritischen Unterhalters der Gesellschaft vortragen, sichtbar.« (Häßler & Häßler 2005: 22; Ergänzung in Klammern C.E.) »Künstliche Narren« wurden in der Kunst oft zwergwüchsig dargestellt und sind daher eher nicht den Geisteskranken zuzurechnen. Laut Roeck (1993) rekrutierten sie sich überwiegend aus dem fahrenden Volke (vgl. Roeck 1993: 79). Orte der »künstlichen Narren« waren sowohl die Stadt (beispielsweise Till Eulenspiegel) als auch der Hof (beispielsweise Kunz von der Rose, der Lieblingshofnarr Maximilians des I.). Die Höfe hielten sich die »künstlichen Narren« im ausgehenden Hochmittelalter und im Spätmittelalter zusätzlich zu den »natürlichen Narren«. Diese »Hofnarren« besaßen neben der ursprünglichen weitere Funktionen, wie Flöger 1789 in einer der frühesten historischen Untersuchungen über Hofnarren schrieb:

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Erst am Ende des 15. Jahrhunderts, als Betteln im Zuge des Übergangs von der feudalistischen zur kapitalistischen Produktionsweise ein ernst zu nehmendes Hindernis wurde, entstanden in den Städten Bettelordnungen, die nach den Kriterien der Arbeitsfähigkeit zwischen bedürftigen und nicht bedürftigen Bettlern unterschieden (vgl. Rohrmann 2011: 63).

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der Hofnarr belustigte, er sagte die Wahrheit, gab guten Rat, verhinderte manche Torheit seines Herrschers, hemmte den Zorn und heilte Krankheiten (vgl. Flögel 1789). Seine gesonderte Stellung beziehungsweise die fehlende Bindung an gesellschaftliche Normen ermöglichte dem Narren einen besonders großen Handlungsfreiraum – da alles, was er sagte, aufgrund seines Status nicht ernst genommen wurde. Darauf begründet sich der heute noch viel verwendete Begriff der »Narrenfreiheit«, der ja auf jemanden verweist, der ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, beispielsweise Kritik an bestehenden Verhältnissen äußern kann.17

Abbildung 7: Allegorische Darstellung der Ständeordnung in Deutschland im 17 Jahrhundert von Gerhard Altzenbach

© bpk Berlin, No. 30009827

Die im 17. Jahrhundert von Altenbach entworfene Ständetreppe, die nach Mezger (1981) noch völlig dem mittelalterlichen Weltbild entspricht, stellt das Kind und den Narren abseits der Stände auf einer Ebene dar. »Gegenüber dem Kind befindet sich der Narr sogar in einer noch schlechteren Position, da das Kind in die Urteilsfähigkeit und Gotteserkenntnis hineinwächst, während diese dem Narren verschlossen bleiben.« (Mezger 1981: 264). Der Narr wird allerdings auch als vermittelnde Instanz dargestellt, nur er nimmt den Tod wahr, blickt mahnend zu den höheren Ständen und fungiert so als warnende Instanz gegenüber der eitlen Nichtigkeit menschlichen Strebens – denn der Tod macht zwischen den Ständen keinen Unterschied (vgl. ebd.: 265).

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In der Gegenwart hat wohl das politische Kabarett diese Funktion übernommen.

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Häßler & Häßler (2005) gehen davon aus, dass Menschen mit geistigen Funktionseinschränkungen auf dem Land häufiger vorkamen. Als Gründe nennen sie die schwere körperliche Belastung von Schwangeren, Mangelernährung, fehlende fachkundige Geburtshilfe und wahrscheinlichere Erbdefekte durch engere familiäre Heiratskreise sowie Infektionen bei Schwangeren und Neugeborenen (vgl. Häßler & Häßler 2005: 25f.). Als Belege dienen ihnen literarische, poetische oder künstlerische Werke, die bäuerliche Menschen überwiegend als naiv, wenig affektkontrolliert oder gar dumm darstellen (vgl. ebd.: 26). »Dieses verachtende Bild vom Bauern als Narr, Tölpel, Trottel und Außenseiter ohne Verstand wird auch bestimmt durch die im Gemeinwesen integrierten Angehörigen mit geistigen Behinderungen, die bei allgemein niedrigem Bildungsniveau weit weniger auffallen und Zielscheibe des Spottes sind als in der fremden Umgebung der Stadt.« (Ebd.).

4.5

Zusammenfassung und weiterführende Reflexionen

Erworbene Funktionseinschränkungen wurden im Mittelalter bis zu einem bestimmten Grad als gewöhnliche Begleitumstände des Lebens, als Schicksal angesehen (vgl. Metzler 2006: 26). Erst wenn dieser – in der Retrospektive nicht näher bestimmbare – Grad überschritten war, wurde der Körper als different oder das Verhalten als deviant wahrgenommen, die Betroffenen entsprechend der vorhandenen Deutungsmöglichkeiten bewertet und behandelt. Diese Deutungsmöglichkeiten basierten eher auf religiös-dämonischen als auf medizinisch-theoretischen Grundsätzen. In einer Gesellschaftsstruktur, in der die Kontrolle über die außermenschliche Natur geringer, das Zusammenleben stärker durch direkte Gewalt und festgeschriebene Standesgrenzen reguliert, das Fremdzwangsniveau höher und das Selbstzwangsniveau niedriger ausgeprägt ist, in der mehr mündlich als schriftlich kommuniziert wird, ist die Abhängigkeit des Einzelnen von weltlichen und/oder geistigen Autoritäten, die die Macht zur Interpretation unerklärbarer und unbekannter Phänomene haben, weitaus größer als heute. Der Blick des Menschen im Mittelalter war im hohen Maße auf das Jenseits gerichtet. Überall dort, wo Menschen Erklärungen benötigten, griffen sie auf die Bewertungs- und Deutungshoheit der religiösen Instanzen zurück: »They were the people who monopolized the means of orientation. They monopolized that without which human beings cannot live:18 human beings want 18

»Menschen können gesellschaftliche Sinngebungs- und Orientierungsmittel, welche Art sie auch sein mögen, ebenso wenig entbehren wie gesellschaftliche Produktionsmittel. […] Oh-

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to know why they die, what happens to them after death and to know what the sun is and the stars say. All this kind of knowledge was monopolized by the priest. They could interpret it and use it, which gave them their social function for the mass of the people at the same time as a means of following their own interests and asserting their own power.« (DLA Elias 1980: 4) Da die Bibel als christlicher Grundlagentext Krankheit und Funktionseinschränkung – die im Mittelalter noch nicht voneinander unterschieden wurden – ambivalent bewertet, ist es auch nicht verwunderlich, dass die Reaktionen auf davon Betroffene entsprechend ambivalent ausfielen: Einerseits waren Menschen mit stark von der damaligen Normvorstellung abweichenden Funktionseinschränkungen – vor allem wenn diese angeboren waren –, lebende und mahnende Beispiele für die Sünde und Verfehlungen der Eltern (Schuldzuschreibung an die Eltern) oder Beispiel für das Wirken des Teufels, der das betreffende Kind »ausgetauscht« hat (Schuldentlastung der Eltern), andererseits wiederum »benötigt« Gott kranke und funktionseingeschränkte Menschen, um Wunder vollbringen zu können und die Caritas zu legitimieren (vgl. Lee 2013: 298). Auch wenn alltägliche Gebrechen bereits medizinisch behandelt wurden und somit Tendenzen einer naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise im Mittelalter erkennbar sind, wurden stärkere Abweichungen in Gestalt oder Verhalten hingegen stets einer höheren Macht zugeschrieben. Man spricht hierbei von einem teleologischen Welt- und Menschenbild. Dabei gingen magisch-religiöse und christlichreligiöse Interpretationen Hand in Hand. Die Existenz von Hexen und Dämonen galt als ebenso selbstverständliche und auf vielfache Weise abgesicherte Tatsache, wie die Existenz von Engeln und guten Geistern (vgl. Rohrmann 2006: 140; Brockhaus 2006d: 433ff.). Hexen konnten eindeutig am satanischen Ausdruck der Augen und am teuflischen Grinsen erkannt werden (vgl. Fleck 1983b: 157). Menschen handeln immer aufgrund der Bedeutung, die Dinge für sie haben. Diese Bedeutung wird von frühester Kindheit an entsprechend dem vorhandenen gesellschaftlichen Wissensfundus durch kollektive Erfahrung und Gewohnheit tradiert. Daraus entsteht die Wahrnehmungsbereitschaft, die Dinge so zu sehen, wie das Kollektiv sie

ne sprachlich-begriffliche und andere symbolische Orientierungsmittel, mit deren Hilfe sie ihre Wahrnehmungen organisieren können, sind Menschen blind, selbst wenn sie sehen; sie sind, anders ausgedrückt, nicht in der Lage, ihre Sinneseindrücke zu organisieren, können sich also auch ohne solche Orientierungsmittel, ohne im Gehäuse der Sprache verankertes, die Sinneseindrücke organisierendes Wissen keine Nahrung verschaffen, keine Produktionsmittel herstellen. Sinngebende Orientierungsmittel ihrerseits nützen ihnen wenig, wenn sie keine Nahrung finden, keine, die Nahrungsbeschaffung erleichternden Produktionsmittel herstellen können. Beide, Orientierungs- und Produktionsmittel haben Überlebensfunktionen.« (DLA Elias 1978: 80)

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sieht. So wird Realität erzeugt und aufrechterhalten (vgl. ebd. 161). Der Begriff »Hexenschuss« ist ein sprachliches Relikt jener Zeit, das auf die damalige Wahrnehmung und Deutung hinweist. Als Ursache der Schmerzen wurde noch nicht eine Blockierung im Muskel-Skelett-System identifiziert, sondern der imaginäre Pfeilschuss einer Hexe (vgl. Röhrich 2000: 713). Aus heutiger Sicht lässt sich feststellen, dass immer dort, wo »es Menschen an sicherem, wirklichkeitsgerechtem Wissen fehlt, da sind sie selbst unsicherer; da werden sie leichter erregt, geraten schneller in Panik, sie füllen die Lücken des realistischen Wissens mit Phantasiewissen und suchen die Furcht vor unerklärlichen Gefahren durch Phantasiemittel zu beschwichtigen.« (Elias 2002: 76f.) Hierdurch erklären sich trotz bereits vorhandenen medizinischen Wissens, die verbreiteten Wallfahrten und Mirakelgeschichten, sowie der Glaube an Amulette und Reliquien. So wie wir heute versuchen, Kontrolle über Krankheiten und Funktionseinschränkungen durch medizinische Behandlung zu erlangen, versuchten es die Menschen im Mittelalter mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln – die für sie den gleichen Objektivitätscharakter hatten, den wir heute beispielsweise Laborwerten zuschreiben. Benötigten Menschen mit Funktionseinschränkungen tägliche Pflege und Betreuung, lag diese in erster Linie in den Händen der jeweiligen Familien bzw. Hausgemeinschaften, obwohl bereits rudimentäre staatliche Fürsorgestrukturen existierten. Rehabilitation war so gesehen eine Angelegenheit der Familie, der Sippe bzw. der Dorfgemeinschaft (vgl. Walter 2009: 292). Die engere Familie bildete zwar das primäre soziale Umfeld, sie stellte aber nicht die einzig mögliche Sozialform dar, die Menschen mit Funktionseinschränkungen unterstützte:»Vielfach waren auch andere Personen oder Gruppen in der Lage und dazu willens, aufwendige Hilfe und erhebliche Mittel aufzubringen, damit einer Person aus ihrem Umfeld, deren körperliche Leistungsfähigkeit eingeschränkt war, geholfen werden konnte.« (Horn 2009: 314) Erst wenn die Funktionseinschränkungen so eklatant wurden, dass ein Einkommenserwerb durch Arbeit oder Bettelei nicht mehr möglich war und es keine Angehörigen gab, die Unterstützung leisten konnten, bildeten die wenigen primär kirchlich geführten Fürsorgeeinrichtungen eine proaktiv aufzusuchende Anlaufstelle (vgl. Meyer-Schilf 2017: 168; Ritzmann 2013: 75). Armut war dabei noch nicht so negativ behaftet wie in der Gegenwart, wer bettelte, hatte eine Funktion im Gesellschaftsgefüge, in dem er für das Seelenheil des Almosengebers betete (vgl. Hughes 2014: 52). Eine systematische Aussonderung kann – vor allem im städtischen Bereich – nur bei den Fällen der »Aussätzigen« oder vereinzelt bei den »Irren« festgestellt werden. Ferner konnte bislang keine systematische topographische Ausgrenzung von

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Menschen mit auch schweren Funktionseinschränkungen auf Friedhöfen durch archäologische Grabungen zumindest bei den untersuchten Einzelfällen verifizieren werden (vgl. Ulrich-Bochsler 2009: 188; Goetz 2017b: 242). Archäologische Grabungen lassen ebenfalls darauf schließen, dass zumindest für das Frühmittelalter im angelsächsischen Bereich, auch Kinder mit schwersten Gebrechen aufgezogen, lange Zeit gepflegt, und inmitten der anderen Toten beerdigt wurden (vgl. Lee 2013: 294f.). Es gab auch noch keine einheitlich wahrgenommenen Gruppen, wie »die Tauben«, »die Blinden« oder »die Krüppel«. Mit dem Etikett der Andersartigkeit oder Fremdheit waren eher Menschen versehen, die aus einem anderen Kulturkreis, aus einer anderen Stadt oder einem anderen Land kamen (vgl. Kühnel 2008: 477ff.). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass Menschen mit Funktionseinschränkungen bis zum Zeitpunkt der faktischen Ausgrenzung zum Alltagsbild des Mittelalters gehörten, also einen integralen Bestandteil der Gesellschaft bildeten. Allein aufgrund der vielen Menschen, die durch kriegerische Auseinandersetzungen, Unfälle, Krankheitsfolgen und/oder Strafen körperlich versehrt waren, kann davon ausgegangen werden, dass es im Mittelalter im Gegensatz zu heute weit größere Variationen auffälliger körperlicher Gestalt und Verhaltensweisen gab bzw. öffentlich sichtbar, also unmittelbar erfahrbar waren. Devianz und körperliche Differenz waren unverdeckter, allgegenwärtiger und vertrauter bzw. wurden gar nicht als solche wahrgenommen. Die Spannweite dessen, was wir heute mit dem Begriff »Normalität« belegen, ist daher offenbar größer gewesen, so dass viele Menschen mit körperlichen Funktionseinschränkungen, die aus heutiger Sicht in den Bereich der »Abweichung« fallen würden, eher im Bereich der »Normalität« einzuordnen wären. Dort, wo dem Körper und seinem Erscheinungsbild im Allgemeinen keine so hohe Bedeutung zukommt, ist die Spannweite der körperlichen Normalität größer als dort, wo sie auf ein – überwiegend medial vermitteltes – Ideal rekurriert. Und dort, wo sich noch keine standesübergreifenden Verhaltensstandards durch zunehmende Verflechtung – also Angewiesenheiten und Abhängigkeiten – der Menschen durchgesetzt haben, werden auch die Variationen von Verhaltensweisen größer gewesen sein. Im Mittelalter hatte die Arbeits- und Heiratsfähigkeit bzw. die Ehrbarkeit des Menschen, eine weitaus größere Bedeutung als das Aussehen oder Verhalten (vgl. Frohne 2014: 218). Der soziale Status bzw. das Vermögen spielten damals wie heute eine große Rolle bei der »Behinderung« eines Menschen mit einer Funktionseinschränkung. Anders formuliert: »Die Frage, ob ein Gebrechen »behinderte«, hing in hohem Maße von den Mitteln ab, die eine Gemeinschaft zu investieren bereit war.« (Lee 2013: 303) Der Umgang mit funktionseingeschränkten Menschen war den Ausführungen zufolge »individueller« oder, genauer ausgedrückt, uneinheitlich, weniger festgelegt und weniger institutionalisiert als zu späteren Zeiten (vgl. Frohne 2014: 384),

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da erstens kaum einheitliche Gruppen von Menschen mit Funktionseinschränkungen in Erscheinung traten und zweitens keine festgelegten Verhaltensanweisungen zum Umgang mit ihnen und nur wenig spezielle Aufenthalts- und Versorgungsorte existierten. Das familiäre Umfeld musste den Umgang jeweils im ihm zur Verfügung stehenden Rahmen austarieren. Das deutet keinesfalls darauf hin, dass der Umgang »besser« war, sondern nur, dass er »anders« war, dass es noch keine festgelegten Verhaltensstandards und keine einheitlichen und systematischen Behinderungsprozesse gab. Es wird eine große regionale, ethnische, wirtschaftliche und standesspezifische Varianz im alltäglichen Umgang gegeben haben.19 Mit den Worten Dörners (1994): »Wenn die Tragfähigkeit am Ende war, konnte ein Behinderter auch angebunden, in den Keller gesperrt, in den Wald gejagt oder totgeschlagen werden.« (Dörner 1994: 370) Auch Irsigler (2009) kommt zu dem Schluss, dass das Wegsperren, Anbinden und Verstecken eine gängige Praxis im Umgang mit geisteskranken Menschen, die nicht mit familiärer oder nachbarschaftlicher Solidarität rechnen konnten, darstellte (vgl. Irsigler 2009: 176). Da Institutionen als Ausdruck menschlicher Bedürfnisse angesehen werden können (vgl. Gehlen 1956: 49)20 , die sich aus dem Zusammenleben, den Angewiesenheits- und Abhängigkeitsverhältnissen von Menschen ergeben, kann hier gefolgert werden, dass es im Mittelalter offensichtlich noch keinen hohen Bedarf an einer systematischen Institutionalisierung der Fürsorge gegeben hat. Und dort, wo keine systematische institutionelle Ausgrenzung vorkommt, tritt vermutlich auch keine systematische Abwertung der betreffenden Menschen in Erscheinung (vgl. Jankrift & Nolte 2009: 432). Die Entwicklung eines Staates auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik lag noch in weiter Ferne. Einzelne Höfe, Städte und Burgen bildeten den deutschen bzw. alt- bis mittelhochdeutschen Sprachraum. Die Machtverteilung und ausübung war ständisch klar verteilt. Ein Ausdruck dieser geringeren gesellschaft-

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Thomas Schweicker war ein im 16. Jahrhundert lebender armloser Kunstschreiber, der es zeitlebens geschafft hat, als Kalligraph nicht nur seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern zudem eine gewisse Berühmtheit erlangte. Er wurde als Sohn eines Bäckers und Ratsherren geboren und kam in den Genuss schulischer Bildung. Er ist ein Beispiel dafür, dass auch körperlich funktionseingeschränkte Menschen im Spätmittelalter hohes gesellschaftliches Ansehen erlangen konnte, jedoch liegt die Grundlage hierfür vermutlich vor allem in dem relativen Wohlstand der Familie und der Investition in seine Bildung. Soziale Institutionen können »als Integrations- und Kontrollinstanzen aufgefasst werden, die gleichsam als »zweite Natur« dadurch entstehen, daß die (scheinbar) immer geringere Abhängigkeit von der Natur damit einhergeht, daß Menschen abhängiger voneinander werden, daß die Interdependenzketten länger und unüberschaubarer werden, und daß damit das Problem des Zusammenlebens überhaupt in komplexen Gesellschaften immer schwieriger wird.« (Mutz 1983: 79)

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lichen Funktionsteilung ist die Tatsache, dass sich Gebräuche eher zwischen Hof und Hof oder Kloster und Kloster über eine weite Distanz ausbreiteten als zwischen einem Hof und einer Stadt in der gleichen Gegend (vgl. Elias 1977b: 357). »Zunächst […] leben die Krieger mehr oder weniger ein Leben für sich, und die Städter oder die Bauern leben das ihre. Der Graben zwischen den Ständen ist selbst bei räumlicher Nähe noch tief; Gebräuche, Gebärden, Kleider oder Vergnügungen sind hier und dort voneinander verschieden […]. Nach allen Seiten hin ist der soziale Kontrast […] oder die Buntheit des Lebens größer.« (Ebd.: 359; Weglassung in Klammern C.E.) Nur dort, wo die Funktionsteilung weiter fortgeschritten ist, diffundieren Verhaltensweisen und gleichen sich aneinander an. Und nur ein staatliches Gewaltmonopol schafft die Voraussetzung für eine funktionale Differenzierung der Gesellschaft, und nur unter dem Konkurrenzdruck in einer solchen Gesellschaftsstruktur gleichen sich Verhaltensstandards an. Das Fehlen einer solchen Gesellschaftsstruktur bildet eine mögliche Erklärung für den individuelleren – das heißt nicht unbedingt »besseren« (im Sinne von fürsorglicheren oder respektvolleren) – Umgang mit Menschen mit Funktionseinschränkungen im Mittelalter. Der Umgang mit Menschen mit Funktionseinschränkungen war also informeller Art und daher reich an Variationen. Behinderungsprozesse waren demnach nur vereinzelt institutionalisiert, sie waren eher affektiv besetzte, spontane Handlungen einzelner Menschen, die vermutlich immer dann eintraten, wenn die Möglichkeit eines Zusammenlebens nicht mehr vorhanden war, wenn die Tragfähigkeit des jeweiligen häuslichen Umfelds an ihre Grenze kam. Die Existenz von systematischen Ausgrenzungs- und Abwertungsprozessen von Menschen mit Funktionseinschränkungen, also von Behinderungsprozessen, kann für das Mittelalter im Großen und Ganzen verneint werden. Dabei ist zu beachten, dass Menschen mit schwersten körperlichen und/oder geistigen Funktionseinschränkungen im Mittelalter aufgrund fehlender medizinischer Möglichkeiten häufig nur geringe Überlebenschancen hatten – unabhängig ob diese angeboren oder durch Unfall oder Krankheit erworben waren; und vielleicht wurden auch vereinzelt Kinder mit angeborenen Funktionseinschränkung durch unterlassene Hilfeleistung ihrem Schicksal überlassen, so dass Menschen mit schwersten Funktionseinschränkungen entsprechend seltener im mittelalterlichen Alltag in Erscheinung traten.

5. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Moderne (18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts)

5.1

Entwicklung moderner Gesellschaftsstrukturen und Mentalitäten

Wann die Moderne beginnt und wann sie endet bzw. ob sie bereits beendet ist, ist in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen umstritten und kann, soll und muss auch hier nicht eindeutig beantwortet werden.1 Dennoch kann und soll die Moderne hier als diejenige Zeit charakterisiert werden, in der es zunehmend zu einer äußeren, also staatlichen Sicherheit bei gleichzeitig zunehmender innerer, also individueller Sicherheit2 kommt. Sie lässt sich als eine Zeit beschreiben, in der sich die Kontrollmöglichkeiten kontinuierlich ausweiteten, und zwar sowohl solche über die außermenschliche als auch über die zwischenmenschliche sowie menschliche Natur (vgl. Elias 1989: 47). Damit verbunden ist die Ablösung teleologischen Denkens durch naturwissenschaftliches bzw. mechanisches Denken, das beispielsweise die Deutungshoheit über Phänomene wie Krankheit und Funktionseinschränkung erlangte (vgl. Rohrmann 2006: 150). Träger und Treiber dieses neuen Denkens war die bürgerliche Gesellschaft, die sich im Zusammenhang mit der Verhöflichung der Ritter im Mittelalter – auf die im Folgenden kurz eingegangen wird – allmählich entwickeln konnte. Die Verhöflichung der vormals freien Ritter begann zwischen dem 11. und 12. Jahrhundert und fand ihren vorläufigen Abschluss zwischen dem 17. und 18. Jahrhundert (vgl. Elias 1977b: 354). In dieser Zeit wurden über verlorene Konkurrenzkämpfe um Grund und Boden die vormals freien, auf ihren eigenen Burgen lebenden Krieger sowie verarmte Ritter, die von ihren Lehen nicht mehr leben konnten, und Krieger, die von den Kreuzzügen heimkehrten und über keinerlei Grund und Boden verfügten, von den sich herausbildenden Höfen machtstärkerer Herren und 1 2

»Saubere Grenzen zwischen Epochen sind nur Projektionen unseres unnachgiebigen Dranges, das Untrennbare zu trennen und das Fließen zu ordnen.« (Bauman 1992: 427) Die Frage, was zuerst kommt, ist irrelevant, da sich Gesellschaften und Individuen nur miteinander verändern können.

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den dort vorherrschenden Bedingungen der Einkommens- und Prestigesicherung abhängig (vgl. Elias 1977b: 144ff.). Die Konkurrenzkämpfe waren einerseits durch das enorme Bevölkerungswachstum und die dadurch entstandene Bodenknappheit sowie andererseits durch die zunehmende Geldinflation aufgrund des Fernhandels mit Edelmetallen bedingt. Auf damaligem französischem Territorium konnte König Ludwig XIV. als Hauptinhaber des Steuermonopols seine Macht zunehmend durch ein stehendes Heer ausbauen, wodurch es ihm gelang, sein Gewalt- und Steuermonopol aufzubauen (vgl. Hinz 2002: 40).3 Dieses Monopol ist wiederum Garant relativer Sicherheit und Grundvoraussetzung für einen wachsenden Handel, der wiederum zu einer zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung und somit zur Entwicklung eines neuen Standes, des städtischen Bürgertums, führte: »Am Anfang des 11. Jahrhunderts gib es im wesentlichen nur zwei Klassen von Freien, die Krieger […] und die Geistlichkeit, darunter existieren nur Leibeigene, Unfreie, Halbfreie. […]. Um 1200 [entsteht] ein dritter Stand von Freien […]. Die Gesellschaft expandiert unter dem Druck von Bodensperre und Bevölkerungswachstum nicht nur in die Weite, sie expandiert gewissermaßen auch im Inneren; sie differenziert sich, sie setzt neue Zellen an, sie bildet neue Organe, die Städte.« (Elias 1977b: 60; Weglassung und Ergänzung in Klammern C.E.) Wo immer die wechselseitigen Abhängigkeiten und Angewiesenheiten der Menschen größer werden – wo also die gesellschaftliche Differenzierung voranschreitet –, verändert sich auch das Verhalten der Menschen: Es wird differenzierter, gleichmäßiger und stabiler (vgl. ebd.: 317). Die Menschen – sowohl an den Höfen als auch in den Städten – mussten lernen, die Folgen eines impulshaften Nachgebens ihrer Triebe und Affekte abzuschätzen, ihr Handeln mit dem Handeln anderer Menschen abzugleichen und auf lange Sicht zu planen (vgl. ebd.: 313). Während zu früheren Zeiten das Verhalten der Krieger zwischen den Extremen der Gewaltanwendung gegen und der Gewalterfahrung durch Andere, aber auch der größeren Freiheit im Ausleben von Affekten schwankte, muss es sich am Hof zügeln, rationalisieren, auf die Zukunft ausrichten (vgl. ebd.: 322f.). Das Gewaltmonopol bewirkt folglich die Verlagerung der Verhaltensregulierung von direkter äußerer Gewalt (Fremdzwang) zur inneren, antizipierenden Gewalt (Selbstzwang) zur Verhinderung der Überschreitung von Verhaltensvorschriften. Mit anderen Worten: öffentliche Gewalt tritt an die Stelle persönlicher Gewalt. Hinz (2002) führt dies aus: »Statt wie früher mit Waffengewalt gegeneinander zu kämpfen sind die in Konkurrenz zu aufstrebenden bürgerlichen Schichten stehenden Adligen nun aus Angst vor sozialer Degradierung dazu gezwungen, sich mittels Intrigen sowie

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Dabei sind das Gewalt- und Steuermonopol nicht voneinander zu trennen: Ohne Steuerzahler kein Militär, ohne Militär kein Steuermonopol.

5. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Moderne (18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts)

hochformalisierten, verfeinerten Verhaltens um die Gunst des Königs zu bemühen, um ihre Privilegien in Form von Pensionen oder sonstigen Vergünstigungen zu erhalten.« (Hinz 2002: 41) Mit Osterdiekhoff (2000) lässt sich ergänzen: »Gutes, distinguiertes Sprechen, perfekte Selbstdarstellung und kommunikative Kompetenz entscheiden über die Karriere am Hof. […] Zivilisiertes Verhalten [wird] zu einem Symbol des Privilegierten, zu einem Mittel, um sich von den Niederen abgrenzen zu können.« (Osterdiekhoff 2000: 40; Weglassung und Ergänzung in Klammern C.E.) Das Miteinander wird dadurch berechenbarer und sicherer, aber auch leidenschaftsloser.4 Der frühere Krieger beherrschte seine Leidenschaften in einem geringeren Maße; er war im stärkeren Maße von ihnen beherrscht (vgl. Elias 1977b: 330). »Der Kontroll- und Überwachungsapparatur in der Gesellschaft entspricht die Kontrollapparatur, die sich im Seelenaushalt des Individuums herausbildet.« (Ebd.: 327f.) Dies ist auch der Kern der Zivilisationstheorie von Elias, die im Folgenden noch weiter vertieft werden soll: Während es in früheren Zeiten noch einer starken Präsenz von Fremdzwängen (beispielsweise durch gewaltausübende Instanzen) bedurfte und spontanere Schwankungen in den Verhaltensmustern normal erschienen, übernehmen im Laufe der Gesellschaftsentwicklung die Selbstregulierungsinstanzen, der Verstand und das Gewissen (nach Freud das ICH und ÜBER-ICH), die Kontrolle und Steuerung des individuellen Verhaltens und Empfindens. Zwischen einem spontanen affektiven Impuls und der tatsächlichen Handlung tritt immer mehr ein Zurückhalten dieses Impulses und ein Überdenken der (Rück-)Wirkungen des eigenen Handelns in den Vordergrund. Bei eigener Übertretung der verinnerlichten Gebote und Verbote wirken angstbesetzte Schamgefühle auf das gewünschte Verhalten hin, bei beobachtetem Fehlverhalten übernehmen angstbesetzte Peinlichkeitsgefühle diese Kontrollfunktion. Menschen antizipieren gewissermaßen die Unlusterfahrungen, die ihnen bei einer Übertretung widerfahren würden (vgl. Wouters 1999: 19ff.). Das bedeutet andererseits auch, dass man lernt, sich immer mehr in andere Menschen hineinzuversetzen (Psychologisierung), wodurch auch der Grad der Identifizierung mit anderen Menschen größer wird: »Die Identifizierungsspannweite, deren Menschen in verschiedenen Entwicklungsphasen der menschlichen Gesellschaft fähig sind, verändert sich im Laufe 4

Zur Kompensation beginnt der Adel auf dem Wege der Verhöflichung Ritterromane zu lesen und der Bürger der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts schaut sich Gewalttaten und Liebesleidenschaft im Film an (vgl. Elias 1977b: 330).

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dieser Entwicklung und im Zusammenhang mit ihr. Man erinnert sich noch gelegentlich an die Tatsache, dass Bauern einer Region einst alle Menschen einer Nachbarregion und vielleicht sogar alle Mitglieder eines andern Dorfes als Fremde betrachteten.« (DLA Elias 1971: 10) Handelnde und Sanktionierende fallen in modernen Gesellschaften mehr oder weniger zusammen. Die Stabilität dieser Verbindung ist jedoch relativ, wie durch die Milgram-Experimente in den 1960er Jahren aufgezeigt werden konnte. Die verinnerlichten Fremdzwänge, die gesellschaftlichen Normen und Werte, die das Handeln des Einzelnen leiten, verlieren offenbar schnell an Stabilität, wenn »Menschen als Funktions- und Rollenträger in hierarchischen, arbeitsteilig-bürokratischen und technologisch vermittelten Zusammenhängen handeln und eine gewisse räumlich-psychosoziale Distanz zu den Opfern ihres gewaltsamen Handelns besteht. Diese strukturellen Bedingungen, die das Leben in den meisten westlichen Staatsgesellschaften kennzeichnen, erhöhen die Möglichkeit, dass die Gewissensfunktion an Autoritäten delegiert und durch eine funktional-instrumentelle Moral ersetzt wird.« (Hinz 2002: 318f.) Dass Menschen heutzutage immer mehr und umfangreichere Fremdzwänge verinnerlichen müssen – die gesellschaftliche Notwendigkeit einer zunehmenden Selbstregulierung – kann beispielsweise an der Verlängerung der Schul- und Lehrzeit aufgezeigt werden. Während diese im Mittelalter kaum beziehungsweise nur im Einzelfall vorhanden war und Kinder, sobald sie einfache körperliche Tätigkeiten durchführen konnten, in die Welt der Erwachsenen eintauchten, schiebt sich heute zwischen frühe Kindheit und Erwachsensein eine lang andauernde Schul- und Lehrzeit, in der nicht nur umfangreiches gesellschaftliches Wissens angeeignet wird, sondern sich ebenfalls eine höchst komplexe, variable, stabile und allseitige Selbstregulierung entwickeln muss (vgl. Elias 2006d: 339). »Bei näherem Zusehen kann man unschwer erkennen, daß Zivilisationsprozesse spezifische Wandlungen des gesellschaftlichen Verhaltens- und Empfindenskanons einer bestimmten Richtung sind. Einzelne Menschen absorbieren den Kanon ihrer Gesellschaft von Kindheit an. Er bildet gewissermaßen den gemeinsamen Mutterboden für die sich entfaltende individuelle Verschiedenheit5 der einzelnen Menschen. Ein Mensch allein kann sich nicht zivilisieren. Gruppen von 5

Ein schönes Beispiel für die individuelle Verschiedenheit eines sozialen Kanons stellt die Handschrift dar. Sie ist die individuelle Ausprägung einer gemeinsamen Schrift. Wenn aber die »individuelle Ausprägung zu weit geht, wenn die Abweichung von dem gemeinsamen Kanon zu groß ist, dann verliert die Schrift ihre Funktion als Kommunikationsmittel. Dann isoliert sich der Einzelne.« (DLA Elias 1978: 93). Anders ausgedrückt ist das »Verhalten und Empfinden des Einzelnen die individuelle Ausprägung des gemeinsamen Kanons der Vielen.« (Ebd.: 96)

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Menschen, also Gesellschaften bilden den Bezugsrahmen der Zivilisationsprozesse.« (DLA Elias 1978: 1) Höfische Verhaltensweisen – die ein zentrales Machtmittel des Königs darstellen – wurden vom aufstrebenden höfischen Bürgertum, das über Ämter und Verwaltungsposten an den Zentralherren gebunden war, übernommen und modifiziert, und diffundierten auch in die unteren Gesellschaftsschichten, die diese Verhaltensweisen zum Vorbild für ihren sozialen Aufstieg übernahmen. Der Begriff der »Höflichkeit« hat hier unzweifelhaft seine Wurzeln; er bedeutet so viel wie »dem Hofe angemessen« (vgl. Frey et al. 1982: 187). Adel und Bürgertum mussten daher fortwährend neue Verhaltensweisen zur Distinktion entwickeln, um ihren überlegenen Status zu konsolidieren und auszubauen. Je geringer Machtdifferenzen zwischen gesellschaftlichen Gruppen werden, desto eher gleichen sich die Verhaltensweisen dieser Gruppen an, wobei parallel eine gruppenspezifische Verfeinerung ebendieser Verhaltensweisen zu beobachten ist (vgl. Wouters 1999: 23).6 Dabei unterschied sich die adlige, an Luxus orientierte Persönlichkeitsstruktur von der bürgerlichen, an Arbeit orientierten Persönlichkeitsstruktur. Im »Schatten der Burg«, worauf auch der mittellateinische Begriffsursprung burgus hinweist, entwickelte sich das städtische Bürgertum allmählich als eigenständige Figuration, die sich zunehmend sowohl von Adel und Klerus als auch von Bauern sowie später im 19. Jahrhundert von den Arbeitern abgrenzte (vgl. Meier & Schreiner 2000: 23f.).7 Die Städte expandierten in der Zeit zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert durch den Zustrom unfreier Bauern, die nach einem festgelegten zeitlichen Mindestaufenthalt in der Stadt als freie Bürger galten und nach dem Bürgereid auch die vollen Bürgerrechte erhielten (vgl. Dilcher 1997: 50) – der Ausspruch »Stadtluft macht frei nach Jahr und Tag« stammt aus jener Zeit. Während auf dem Land die räumliche Distanz zwischen den Ständen relativ groß war, so bildete die Stadt einen Ort, an dem auf engstem Raum Menschen unterschiedlicher Stände, aber auch unterschiedlicher Kulturen zusammenlebten – was nur durch die Einhaltung bestimmter Regeln und Gesetze möglich war. Aus diesem Grund hat sich der Ge-

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»Zugleich nahm der Zwang, sich dennoch zu unterscheiden, in dem Maße zu, wie die sozialen Gegensätze geringer wurden, und dieser Zwang und dieser Wunsch, sich als Individuum und als Gruppe zu profilieren, brachte eine weitere Differenzierung von Verhalten und Gefühlsleben in Gang, in Richtung einer größeren Sensibilität für kleine Nuancen im Verhalten und Gemüt sowie einer Verbreitung von Verhaltensalternativen und -spielarten. Zusammengenommen handelt es sich um eine Verringerung der Kontraste und eine Vergrößerung der Spielarten.« (Wouters 1999: 23) Diese topographische »Sandwichposition« hallt noch im heutigen Begriff der Mittelschicht bzw. des Mittelstandes nach.

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danke eines öffentlichen Strafrechts in der Stadt zuerst durchgesetzt (vgl. ebd.: 42). »Mittelalterliche Bürger empfanden und erfuhren ihre Stadt als einen von der Herrschaftswelt des Landes abgesonderten Sozial- und Rechtsraum, der persönliche und korporative Freiheitsrechte garantierte.« (Kocka 1988: 45) Über ihre jeweilige Zunft oder Gaffel war es mittelalterlichen Stadtbürgern möglich, auf die Zusammensetzung des Stadtrates und dessen Politik Einfluss zu nehmen (vgl. ebd.). Nicht mehr die standesrechtliche Geburt bestimmte über das Schicksal, sondern die über den Bürgereid zu erlangende Zugehörigkeit zur Bürgerschaft und somit zur Gehorsamkeit gegenüber der städtischen Rechts- und Friedensordnung (vgl. ebd. 50). Geprägt war diese Figuration durch Arbeitsteilung, Arbeitsdisziplin und Arbeitsqualität – alles Eigenschaften, die der adligen Welt des Müßiggangs und des Heldentums fremd waren (vgl. Labisch 1989a: 28f.).8 Während auf dem Land die Zugehörigkeit zum »ganzen Haus« von entscheidender Bedeutung für das Überleben der Menschen war, so war es in der Stadt die Zugehörigkeit zu einer Zunft. Die Abhängigkeit von der Familie als Primärgruppe wurde so durch die Abhängigkeit von berufsspezifischen Gruppen gelockert. Die Zunft regelte den Markt (Festlegung der Arbeitszeit, Rechtsprechung bei Verstößen gegen die Zunftordnung etc.) und die Ausbildung, sicherte die Qualität der Arbeit, bot Schutz vor Einkommensverlust bei Krankheit, wirkte auf die sittliche Lebensführung ein und betete für das Seelenheil verstorbener Zunftmitglieder. Ohne die Zugehörigkeit zu einer Zunft war mit einem erlernten Handwerk kein Einkommen zu erzielen. Mit der sozialen Differenzierung geht eine zunehmende Institutionalisierung der verschiedenen Gesellschaftsbereiche einher. Die Machtdifferenzen zwischen den Menschen in der Stadt sind nicht mehr so groß wie auf dem Land, die Interdependenzen werden umfassender, dies erfordert verbindliche Rechtsverfahren und schriftliche festgehaltene Gesetze, die im Prinzip für alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen gelten, wofür es wiederum entsprechender Institutionen zur Aufrechterhaltung der Gesetze und Regeln bedarf (vgl. Hinz 2002: 255ff.). Aus diesem frühen städtischen Bürgertum entwickelte sich im Absolutismus das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum, das zwar nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung ausmachte9 , dessen Normen und Werte aber alsbald alle Gesellschaftsschichten durchdrang und dessen moralische und politische Gesetze spätestens nach der Französischen Revolution einen universellen Geltungsanspruch erhoben 8

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»Die Aristokratie erklärt ihren Körper in Form des Blutes, der Abstammung, der Aszendenz, der Vergangenheit also. Das Bürgertum richtet sich in die Zukunft: daraus ziehen Gesundheit und Deszendenz ihre neue Bedeutung. […] Die ständisch-feudale Gesellschaft bedeutet Verschwendung, Müßiggang und Krankheit, die bürgerliche Gesellschaft dagegen Haushaltung, Arbeit und Gesundheit.« (Labisch 1989a: 18f.; Weglassung in Klammern C.E.). In Preußen waren bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch vier Fünftel der Menschen in der Landwirtschaft tätig (vgl. Schäfers 2017: 18).

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– diese implizierten, zumindest in der Theorie, auch die Freiheit und Gleichheit aller Menschen (vgl. Gmelin 1929: 39).10 In Deutschland konnte sich die bürgerliche Gesellschaft in Gegensatz zu Frankreich und England erst nach der Revolution von 1848 allmählich durchsetzen, getrieben durch die Industrialisierung bzw. durch Unternehmerpersönlichkeiten wie Krupp, Siemens, Zeiss und Haniel (vgl. Schäfers 2017: 18). Das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum bestand zwar aus Menschengruppen, die sich deutlich voneinander unterschieden, sie verband allerdings eine »besondere Hochachtung vor individueller Leistung und sie begründeten damit ihre Ansprüche auf wirtschaftliche Belohnung, soziales Ansehen und politischen Einfluss. Damit verknüpfte sich eine positive Grundhaltung gegenüber regelmäßiger Arbeit, eine typische Neigung zu rationaler und methodischer Lebensführung. Als ausgesprochen bürgerlich gilt aus dieser Perspektive das Streben nach selbstständiger Gestaltung individueller und gemeinsamer Aufgaben, auch in Form von Vereinen und Assoziationen, Genossenschaften und Selbstverwaltung (statt durch Obrigkeit). Die Betonung von Bildung (statt von Religion) kennzeichnete das Welt- und Selbstverständnis des Bürgers.« (Kocka 1988: 27) Das Zusammenwirken von Bildungs- und Wirtschaftsbürgern brachte einerseits durch die Herauslösung der Einzelnen aus den früheren Hausgemeinschaften neue Freiheit, andererseits durch hinzukommende Pflichten auch neue Zwänge wie beispielsweise die Wehrpflicht, Schulpflicht, Steuerpflicht, Gesundheitspflicht und Leistungspflicht (vgl. Dörner 1994: 372). Dieses Bürgertum konnte sich nur durch äußere, zentralstaatliche Sicherheit entwickeln, die es ihm ermöglichte, immer größere Handelsnetze zu spinnen, wodurch immer mehr Bürger zu Reichtum gelangten, was wiederum eine größere Autonomie gegenüber dem Adel mit sich brachte (vgl. Hinz 2002: 39). Nicht umsonst deklarierten die Vertreter der »schottischen Aufklärung« die Funktion des Staates allein auf die äußere Absicherung der bürgerlichen Gesellschaft, die wiederum als natürliche, sich selbst verwaltende und regulierende Ordnung ansehen wurde (vgl. Schäfer 2009: 30). Während der Industrialisierung wurden Arbeit und Fleiß11 zum Mittel des sozialen Aufstiegs. Im Mittelalter war Arbeit noch reine Erfüllung der Frone und mit 10

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»Daß dem tatsächlich keine gesellschaftliche Gleichheit entspricht, liegt an der Anerkennung des nun einmal traditionell Gegebenen, dem Respekt vor Vorgesetzen und Autoritäten, dem Gebildeten und dem Gefüge des Staates, das zwar nicht gottgegeben ist, aber tatsächlich. Der freie Wettbewerb und die durch ihn entstehende »gerechte« Schichtung ist ebenso bürgerlich wie die grundsätzliche Gleichheit der Individuen. Weshalb die letztere als bloßer Grundsatz gegenüber der Tatsache zurückbleiben muss« (Gmelin 1929: 39). Der lateinische Begriff »Industria« bedeutet so viel wie »Fleiß« (vgl. Das Bertelsmann Lexikon 1961: 619).

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Strapazen und Mühen verbunden (vgl. Gmelin 1929: 44). Müßiggang – früher adliger Luxus – wird nun zu einem Laster erklärt, das den gesellschaftlichen Aufstieg verhindert: »Das Bildungsbürgertum in Deutschland (Schiller, Kant) und Frankreich (Rousseau) entwickelt Moral und Bildung als Kontrastprogramm gegen den Formalismus, die Oberflächlichkeit und das Unechte der höfischen Civilité. […] Das Bürgertum setzt Sittenstrenge und Prüderie gegen Frivolität und die lockere Sexualmoral des Hofes, Tugend und Ehrlichkeit gegen Verlogenheit, Arbeit und Leistung gegen Muße, Natürlichkeit gegen Etikette und Bildung gegen hohle Umgangsformen. […] Markt, Arbeitsteilung und industrielle Leistung verlangen ein Mehr an Zivilisation als die Zwänge der höfischen Etikette.« (Osterdiekhoff 2000: 44; Weglassung in Klammern C.E.) Auch die Religion »verbürgerlichte« sich mit dem sich ausbreitenden Calvinismus. Das Schicksal eines Menschen hängt Calvin zufolge von der Gnade Gottes ab, die sich wiederum am deutlichsten im beruflichen Erfolg im Diesseits offenbart. Nur wer Erfolg hat, führt ein gottesgefälliges Leben – Berufsausübung wird gleichsam zum Gottesdienst stilisiert (vgl. Gugutzer 2004: 30). In der neuen Einstellung zur Arbeit ist ebenfalls ein Gleichheitsgedanke verankert: denn jeder, ob adlig oder arm geboren, kann arbeiten. Daher verwundert es auch nicht, dass der durch die calvinistische Interpretation des Christentums unterstützte Wertewandel auch die Einstellung zur Armut seit dem 16. Jahrhundert veränderte: Betteln wird mit Arbeitsverweigerung und beinahe mit einem Verbrechen gleichgesetzt und aus diesem Grund verachtet; die vormals heiligen Almosen kommen einer Zwangsabgabe gleich, die man zu umgehen versucht (vgl. Fandrey 1990: 55). Die »Betteljagden« und »Krüppelfuhren«, die bis ins 18. Jahrhundert nachweisbar sind und denen häufig auch Menschen mit Funktionseinschränkungen zum Opfer fielen, trugen sicherlich nicht wenig dazu bei, diese Menschen zu kriminalisieren. Krüppel, Bettler und Diebe wurden in Folge dessen kaum mehr voneinander unterschieden (vgl. ebd.: 82f.). Der Glaube an die individuelle Arbeitsleistung sowie an den Fortschritt begründete die Notwendigkeit von Bildung, Erziehung und Wissenschaft – solange diese nicht den Vorstellungen der bürgerlichen Welt nach innerer Sicherheit und Kontrolle wiedersprachen.12 Die Einführung und kontinuierliche Verlängerung der allgemeinen Schulpflicht seit dem 17. Jahrhundert13 muss vor diesem Hintergrund 12 13

Die Relativitätstheorie und die Psychoanalyse sind zwei Richtungen, die es aus diesem Grund zunächst schwer hatten, im Bürgertum Fuß zu fassen (vgl. Gmelin 1929: 31). Eine allgemeine Schulpflicht für ganz Deutschland wurde erst 1919 eingeführt. Ab dem 17. Jahrhundert führten jedoch einzelne Länder auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik bereits eine allgemeine Schulpflicht ein, während es in anderen Ländern eine Bildungspflicht bzw. Unterrichtspflicht gab, in die sich der Staat jedoch nicht einmischte.

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betrachtet werden. Lehrer, Professoren und Schriftsteller waren die Produzenten, Familien und Schulen sowie Bücher, Zeitschriften und Theateraufführungen die Vermittler des bürgerglichen Wertekanons (vgl. Hahn & Hein 2005). So verwundert es auch nicht, dass mit der Entwicklung des Bürgertums auch die Interpretation unerklärlicher Phänomene ihre religiöse Färbung verlor und diese zunehmend wissenschaftlich erforscht wurde. Religion spielte zwar noch eine Rolle, aber nur in bürgerlich gelenkten Bahnen, sie ist jetzt Symbol einer Gemeinschaft und stellt keine allumfassende Interpretations- und Handlungsinstanz mehr dar. Die Religion hat sich an das Bürgertum angepasst oder wie Elias feststellt »sie ist jeweils genau so »zivilisiert«, wie die Gesellschaft oder Schicht, die sie trägt« (Elias 1977a: 277). Der Wunsch nach Sicherheit und Kontrolle ist zutiefst im Bürgertum verankert. Gmelin (1929) fasst dies in einem Satz zusammen: »Alles Ungeordnete, Wilde, Gefährliche, Vulkanische muß der Bürger von sich fernhalten.« (Gmelin 1929: 38) Es wird zunehmend Wert auf eine methodische, rational durchgeplante Lebensführung gelegt.14 Bürgerliche Tugenden bilden dementsprechend Ordnungssinn und Fleiß, Pünktlichkeit und Disziplin sowie Pflichtbewusstsein und Verlässlichkeit (vgl. Schäfers 2017: 24). Ist der mittelalterliche Mensch noch im hohen Maße durch Fremdzwänge und die Angst vor dem Jenseits gesteuert, so übernimmt beim bürgerlichen Menschen die Angst vor Kontrollverlust über die verinnerlichten Selbstzwänge im Diesseits das »Steuer«. Ein hohes Maß an Selbstkontrolle bildet die Voraussetzungen für angemessenes Benehmen und die »richtige«, rationalisierte bürgerliche Lebensführung. Dieser gesellschaftliche Wertewandel hatte enormen Einfluss auf die Wahrnehmung von Devianz und körperlicher Differenz und bildete eine der Voraussetzungen für die in der Moderne angelegte institutionalisierte Reaktion auf funktionseingeschränkte Menschen.

5.2

Wahrnehmung von Devianz und körperlicher Differenz

Während im Mittelalter der Körper von übernatürlichen Kräften umwoben und eng mit der göttlichen Natur verbunden war und Körper und Seele eine untrennbare

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»Da der Calvinist im Unterschied zum Katholiken nicht die Möglichkeit hat, durch Buße und Beichte einzelne Sünden zu »begleichen«, muss er sein gesamtes Leben dem asketischen-rationalen Ideal unterordnen. Er muss ein untadeliges, systematisches und selbstbeherrschtes Leben führen, um sündenfrei zu bleiben, Gottes Ruhm auf Erden zu mehren und so […] seiner Gnade zuteil zu werden. Wesentlicher Bestandteil dieser […] Lebensführung ist dabei die Domestizierung und Kontrolle der eigenen Bedürfnisse und Triebe.« (Gugutzer 2004: 30f.; Weglassung in Klammern C.E.)

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Einheit bildete, wurde der Körper im 17. Jahrhundert weitgehend zu einem Objekt der Medizin und wissenschaftlich von der Seele getrennt. Diese entwickelte sich zum Gegenstand der vorerst stark philosophisch geprägten Psychologie. Der Körper war nicht mehr Gottesgesetzen, sondern Naturgesetzen unterworfen, die jedoch zumindest anfänglich noch den Gottesplan enthielten (vgl. Vanja 2008a: 202ff.). Descartes hat im 17. Jahrhundert als einer der Ersten den physischen Körper von der immateriellen Seele analytisch getrennt. Er spricht von einer »KörperMaschine«, die ähnlich einer mechanischen Uhr funktioniere, jedoch von der Seele, die für ihn noch als ein unsterbliches Wesen außerhalb der physischen Welt angesehen wurde, beherrscht wird (vgl. Gugutzer 2004: 41). Die endgültige Säkularisierung der Wahrnehmung des Körpers – auch in den philosophischen Diskursen – vollzog sich erst an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (vgl. Labisch 1992: 101). Der Blick des Menschen begann sich, ausgehend von der Renaissance, auf das Diesseits und nicht mehr wie im Mittelalter auf das Jenseits zu richten, und im Diesseits wollte man so lange und so gut wie möglich leben (vgl. ebd.: 311f.; Gmelin 1929: 8). Dies war nur durch die richtige Pflege des Körpers und eine gesunde Lebensführung zu erreichen. Der Körper an sich wurde aufgewertet, was dazu führte, sich der Gefahren für den Körper bewusst zu werden und entsprechende Maßnahmen zur Kontrolle dieser Gefahren zu entwickeln. In der verbreiteten Wahrnehmung wurden diese Gefahren nicht mehr, wie im Mittelalter, von Gott gesandt und durch Gläubigkeit beeinflussbar oder vermeidbar, sondern sie wurden nun als natürliche Prozesse betrachtet, die somit durch wissenschaftliche Methoden erforschbar und kontrollierbar waren. Da beispielsweise Schmutz als eine Gefahrenquelle erkannt wurde, konnte Reinlichkeit zur Gefahrenabwehr »verordnet« werden (vgl. Frey 1997: 43), wobei sich diese Reinlichkeit mit Rückgriff auf die humoralpathologischen Gefahrenkonzepte des Mittelalters vorerst auf innere Reinlichkeit im Sinne regelmäßiger Leerung des Darms und regelmäßigen Ausspuckens von Speichel sowie Einhaltung von Mäßigkeit, Ruhe und Erfüllung des Gotteswillens bezog. Wasser war aus diesem Grund höchstens in warmer Form als Teil- oder Vollbad dazu geeignet, die innere Reinigung durch das Ausschwitzen schädlicher Stoffe vorzunehmen oder die Verdauung anzuregen – eine Hautreinigung wurde damit von den adligen und bürgerlichen Gesellschaftsschichten noch nicht assoziiert (vgl. Frey 1997: 44). Entscheidend war die Fernhaltung jeglichen inneren und äußeren Schmutzes vom Körper – also auch von Wasser und Luft, die als Träger von Schmutz angesehen wurden. Man empfahl eher die Anwendung gut riechender Salben, Puder und Parfüms. Und wenn dies den Körpergeruch nicht überdeckte, stellte Schnupftabak ein wirksames Mittel dar. Die unsichtbaren, aber riechbaren Gefahren wurden so olfaktorisch der Kontrolle unterworfen. Hierbei gab es standes- und später schichtspezifische Unterschiede: Während bei den Unterschichten keine Distanz zwischen Körper, Schmutz und Wasser aufgrund der handwerklichen Berufe wie beispielsweise Gerber, Seifensieder und Bader einge-

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halten werden konnte, war der Gebrauch von Wasser beim Adel unüblich; es galt nicht nur als Reinigungsmittel der armen Leute, sondern auch als schädlich für die Haut. Die soziale Distinktion des Adels sollte nicht nur riechbar, sondern durch eine besonders weiße Haut auch sichtbar sein – Licht und Wasser waren daher verpönt und wurden gemieden (vgl. Frey 1997: 63ff.). Das Bürgertum des 18. Jahrhunderts bezog den Begriff der Reinlichkeit dann zunehmend auch auf die äußere Erscheinung und entdeckte Wasser und Luft – vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Erkenntnisse – zur Reinigung der Haut. »Das aristokratische System »Rouge et Blanc« wurde durch Wasser als Mittel der Desodorierung des Körpers ersetzt« (ebd.: 328). Reinlichkeit wurde mit Sittlichkeit gleichgesetzt und Sittlichkeit bedeutete Moral und Verantwortungsbewusstsein (vgl. Labisch 1989a: 22). Auch bei den Körperstrafen lässt sich seit dem Mittelalter eine veränderte Einstellung zum Körper und seiner Wahrnehmung beobachten: Bei Hinrichtungen vom einem ehemals öffentlichen »Spektakel« am Körper des Hinzurichtenden hin zu einer Art »Verwaltungsakt« hinter verschlossenen Mauern.15 Aber nicht nur der verurteilte Körper verschwand aus der Öffentlichkeit, in der bürgerlichen Gesellschaft entwickelte sich eine generelle »soziale Tabuisierung des Körpers« (Gugutzer 2004: 11). »Die Tabuisierung von Affekten, Trieben und körperlichen Bedürfnissen äußerte sich dabei nicht nur darin, dass der Körper und die Affekte aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt sowie körperliche Verhaltensweisen zivilisiert wur15

Waren bis in das 18. Jahrhundert Folter und Körperverstümmelungen in jeder nur erdenklichen Form staatlich legitimierte Bestrafungsformen, die öffentlich als »Spektakel« durchgeführt wurden und so auch als abschreckende Warnung und Mahnung für alle Zuschauer galten, verschob sich ab dem Ende des 18. Jahrhunderts der Fokus der Bestrafungsformen vom Körper auf die Seele. Ziel war nicht mehr die Erlösung der Seele durch die Züchtigung des Körpers, sondern die Erlösung der Seele durch Umerziehung und Heilung. Die Etappen dorthin waren gekennzeichnet durch eine größer werdende Distanz des Scharfrichters vom Körper des Verurteilten bis hin zur Ablösung des Scharfrichters durch die Einsetzung von Zellen. Waren im Mittelalter die Bestrafungs- und Tötungsaktionen »Handarbeit«, so kam es später zur Benutzung der Falltür unter dem Galgen, so dass die einzige körperliche Berührung in der Handlung des »Stricks um den Hals legen« bestand. Als 1792 in Frankreich die Guillotine eingeführt wurde, war ein nächster Distanzierungsschritt vollzogen, mit dem auch die Standesunterschiede hinsichtlich der durchgeführten Todesstrafe verschwanden (Verwirklichung der Forderung nach »Egalité«). Die Guillotine wurde anfänglich auf erhöhten Bühnen platziert, später ebenerdig aufgestellt, dann in die Innenhöfe und schließlich in die Innenräume der Gefängnisse verlagert. Die Durchführung der Enthauptung war somit dem öffentlichen Blick entzogen. Generell verschwand Ende des 18. bis Anfang des 19. Jahrhunderts das »Strafschauspiel« aus der Öffentlichkeit. Das Urteil wurde und wird noch in der Öffentlichkeit verkündet, die Vollstreckung jedoch hat sich zu einem »Verwaltungsakt« entwickelt, der hinter der »Kulisse des gesellschaftlichen Lebens« ausgeführt wird (vgl. Foucault 1992).

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den, sondern auch darin, dass über körperliche Phänomene nicht gesprochen wurde.« (Ebd.) In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden die menschlichen Verrichtungen wie Urinieren und Defäzieren zunehmend in das Innere der Häuser, in separate Zimmer und hinter verschlossene Türen verlagert, sowohl visuell als auch akustisch und olfaktorisch versteckt; bereits ein Sprechen darüber verursachte Schamgefühle, das Wahrnehmen dieser Verrichtungen bei anderen Menschen Peinlichkeitsgefühle. Gleichmann (1979) spricht hierbei von der »Verhäuslichung der natürlichen Bedürfnisse«, die er anhand der Entwicklung von Wohnarchitektur und dem Ausbau von Kanalisationssystemen nachskizziert (vgl. Gleichmann 1979: 254ff.). Rutschky (1977) erklärt diesen Prozess mit einem zunehmenden und durch neue Regeln des Miteinanders auferlegten Selbstzwang: »Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein spielen »rationale« Begründungen keine oder eine nur sehr untergeordnete Rolle. Man defäziert einfach deshalb nicht vor Türen oder Fenstern, weil es nicht »ehrbar« ist, oder der »Respekt« vor den anderen verlangt, daß man sich einen Zwang auferlegt. Hygienische und medizinische Begründungen, die heute so geläufig zur Legitimierung von Verhaltensregulierungen herangezogen werden, tauchen spät auf – in vielen Fällen aber immer noch früher als die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die sie erst eigentlich zu mehr als »Rationalisierungen« im psychoanalytischen Sinn des Worts machen können.« (Rutschky 1977: XXXVIII) In diesem sozialen Kontext widersprachen auch abweichendes Verhalten und körperliche Differenz den bürgerlichen Moralvorstellungen und wurden entsprechend verurteilt. Die bürgerliche Moralvorstellung äußerte sich unter anderem in der optischen Erscheinung (Reinlichkeit, Ordentlichkeit und entsprechende Bekleidung) und in der Etikette entsprechenden Verhaltensweisen (kultivierte Umgangsformen wie Tischsitten, Anredeformen, Manieren im Umgang mit dem anderen Geschlecht, Triebmäßigung und Triebkontrolle) sowie im Glauben an individuelle Leistungsfähigkeit und beruflichen Erfolg durch eine rationalisierte, auf lange Sicht angelegte Lebensführung. Die vielfältigen und weit verbreiteten Manieren-Bücher sind eindrucksvolle schriftliche Relikte der Bemühungen der Menschen, den Verhaltensanforderungen der höfischen oder bürgerlichen Gesellschaft – je nach Zugehörigkeit – zu entsprechen. Hier wurde klar beschrieben, wie Mann oder Frau sich zu kleiden und zu verhalten hatten und welche Sitten beim Essen eingehalten werden müssen, um in den »guten« Kreisen verkehren zu können (vgl. Elias 1977a). Durch Vernunft, rationale Lebensführung und Kontrolle von Trieben und Affekten war das Bürgertum so erfolgreich. Ein Kontrollverlust stellte eine Regression ins Animalische dar und gefährdete den persönlichen Erfolg. An der beliebten

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»Salon- und Festkultur [durfte] nur teilnehmen, wer ein bestimmtes Erscheinungsbild, in Bezug auf Kleidung, Frisur und Körperhaltung besaß, sich gewählt auszudrücken und Gespräche über gesellschaftlich relevante Themen zu führen wusste. […] Dies setzte wieder eine gewisse Allgemeinbildung voraus, die nur eine Minderheit der Gesellschaft von Haus aus mitbrachte.« (Thielen 2011: 73f.; Weglassung und Ergänzung in Klammer C.E.) Diese formalisierten bürgerlichen Umgangsformen wirkten identitätsstiftend nach Innen und ausgrenzend nach Außen; wer sie nicht beherrschte, wurde aufgrund dieser Nichtbeherrschung ausgeschlossen (vgl. ebd.). Eine zeitgenössische Darstellung der wünschenswerten bürgerlichen Verhaltensweisen findet sich in dem soziologischen Werk vom Adolph Knigge »Über den Umgang des Menschen«16 (1788) oder auch in Adam Smiths »Theorie der ethischen Gefühle« (1759). Waldhoff (1995) fasst mit Rückgriff auf Elias zusammen: »Jeder Bezug auf Körperliches, der den neuen, im Prozeß sozialer Institutionalisierung und zunehmend auch psychischer Verinnerlichung begriffenen disziplinierteren und distanzierteren Verhaltensstandards zuwiderläuft, bildet nun »eine seelische Spannungs- und Gefahrenzone hohen Grades«. In diese geraten nun auch Repräsentanten von als gröber erlebten Verhaltensstandards. Verletzungen der neueren Empfindenskanons lösen Aggressionen aus, Gefühle der Scham, wenn sie sich auf die Beziehung zur eigenen Person richten, Gefühle der Peinlichkeit, wenn sie von anderen ausgehen.« (Waldhoff 1995: 80) Mit Hughes (2015) lässt sich hier anschließen: »Die Verfeinerung von Moral und Sitten, die den Zivilisationsprozess kennzeichnet, blieb […] nicht ohne barbarische Konsequenzen. Anstand und Zivilität trennen; sie schaffen eine soziale Distanz zwischen denen, die die Verbesserung verkörpern und denen, die das nicht tun.« (Hughes 2015a: 125; Weglassung in Klammern C.E.) Zweitere stellten eine Gefahr für Erstere dar und mussten aus diesem Grund der sozialen Kontrolle unterworfen werden. Der Begriff der sozialen Kontrolle bezeichnet hierbei nach Mutz (1983) eine 16

Dadurch, dass dieses Buch kontinuierlich umgeschrieben und neu publiziert wurde, steht der Name »Knigge« heutzutage gleichbedeutend für »gutes Benehmen«, obwohl Knigge in seinem Buch keine Umgangsformen wie Tischsitten, Anordnung des Bestecks oder Kleiderregeln beschrieb, sondern Antworten darauf suchte, wie man sein Leben glücklich und sinnerfüllend nach den Idealen der Aufklärung gestalten kann. Dabei spielten für ihn Toleranz und Rücksichtnahme auf andere eine wesentliche Rolle. Es ist daher eher als ein soziologisches Buch anzusehen.

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»spezifisch gesellschaftliche Konstellation menschlicher Beziehungsgeflechte, die durch die reale Existenz von Machtungleichgewichten eine oder mehrere Personen, Gruppen und Institutionen in die Lage versetzt, ihre Position dahingehend zu benutzen, das Handeln, Denken und Fühlen andere Menschen in- und außerhalb dieser Konstellation maßgeblich zu beeinflussen.« (Mutz 1983: 90) Anders ausgedrückt: Wer über soziale Kontrolle verfügt, hat Einfluss darauf zu bestimmen, was oder wer »abnormal« ist und aus diesem Grund entweder behandlungsbedürftig wird bzw. ausgesondert werden soll. Soziale Kontrolle bedeutet daher immer auch ein mehr an Macht. Die institutionalisierte gesellschaftliche Reaktion auf diese oben beschriebenen Prozesse stellt das Auftauchen der »Totalen Institutionen« (Goffmann 1973) wie der Zucht- und Arbeitshäuser17 – deren Entstehung zeitlich im Absolutismus zu verorten ist – und der später daraus entstehenden differenzierteren sozialstaatlichen Sondereinrichtungen dar (siehe hierzu ausführlicher Kapitel 5.5), eine weitere Reaktion markieren die aus England sich langsam auch auf dem Kontinent verbreitenden sogenannten »Freak-Shows«. Auf deutschem Gebiet konnte sich das städtisch-bürgerliche Publikum des 19. Jahrhunderts in Käfigen öffentlich vorgeführte »Monster« und in Irrenanstalten »Irre« anschauen, die das Animalische, das Wilde im Menschen verkörperten, das nur hinter Gittern der sozialen Kontrolle unterlag (vgl. Fandrey 1990: 76).18 Während sich im Mittelalter nur die adligen Gesellschaftsschichten »natürliche« Narren und stark von der damaligen Norm abweichende Menschen zur Belustigung »hielten«, tauchten seit dem 16. Jahrhundert allmählich »ungewöhnliche Erscheinungen« als Jahrmarktsattraktion auf (vgl. Hagner 2003: 48). Ab dem 19. Jahrhundert war das öffentliche Interesse an den sogenannten »Monstern« oder »Freaks19 of Nature« so groß, dass Freak-Shows, Begehungen von Irrenanstalten, Kuriositätensammlungen und »Völker-Schauen«20 regelrecht in Mode kamen.

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Diese Zucht- und Arbeitshäuser vermittelten nicht nur den Insassen die für eine frühkapitalistische Produktionsweise so wichtigen Verhaltensweisen wie Gehorsamkeit, Fleiß, Pünktlichkeit, Disziplin und Ordnung, sondern führten damit auch der übrigen Gesellschaft vor Augen, was passiert, wenn sie sich nicht freiwillig den herrschenden Arbeitsbedingungen unterordneten (vgl. Mutz 1983: 134). Der häufigste Grund für die Einlieferung in diese Anstalten war dementsprechend die »Störung der Ordnung«. Entlassen wurden die Insassen erst, wenn die Erziehung zu einem angepassten Verhalten als »gelungen« betrachtet werden konnte (vgl. Sierck 2017: 36). Ob die Käfige nur zur Verstärkung des Gruseleffekts dienten oder tatsächlich zum Schutz der Zuschauer, ist dabei weniger bedeutsam. Im Brockhaus (2006c) wird als »Freak« interessanterweise jemand bezeichnet, der sich »nicht ins bürgerliche Leben einordnet« (vgl. Brockhaus 2006c: 693). »Das große Interesse an diesen Fremden war z.T. durch die imperialistische Ideologie gespeist, z.T. durch das Bedürfnis, die eigene Kulturüberlegenheit bestätigt zu bekommen, z.T.

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In den »Freak-Shows« wurden beispielsweise Löwen- bzw. Haarmenschen, extrem klein- oder großwüchsige sowie extrem dünne oder kräftige Menschen, siamesische Zwillinge, bein- und/oder armlose Menschen sowie Menschen mit »Knochenmissbildungen« der Öffentlichkeit präsentiert – sowohl in Käfigen als auch auf Bühnen, mitunter auch eingebunden in einer Art Theateraufführung bzw. entsprechenden Show-Einlagen. Auch wenn sich unter diesen Freaks ein hoher Anteil von Menschen ohne Funktionseinschränkung befand (kleinwüchsige Menschen, Haarmenschen, farbige Menschen etc.), so lässt sich dennoch an diesem Phänomen die veränderte Wahrnehmung des Körpers, der Gestalt und des Verhaltens von Menschen aufzeigen. Diese Menschen erzeugten auch deshalb eine gewisse Faszination, weil sie in der Öffentlichkeit nicht mehr in dem Ausmaß wie im Mittelalter präsent waren. Zugleich versicherten sich die Betrachter so ihrer eigenen »Normalität« (vgl. Sierck 2017: 58). In diesem Zusammenhang ist es kein Zufall, dass zur selben Zeit sowohl »Freaks« als auch Menschen aus fremden Ländern das Interesse des bürgerlichen Publikums weckten, verkörperten doch beide Gruppen Menschen, die so wahrgenommen wurden, als ob sie aus einer anderen, einer fremden Welt stammen (vgl. Davis 1995: 91f.). Die Reaktion des Betrachters sowie die gesellschaftliche Reaktion auf diese als »Fremde« wahrgenommenen Menschen waren und sind häufig auch heute noch ambivalent. Das Wahrgenommene löst sowohl Faszination als auch Schrecken aus. Psychologisch gründet dies, wie Gruen (2002) ausführt, darin, dass uns am meisten dasjenige berührt, das uns sehr nah ist und ein Teil von uns selbst war, jedoch im Zuge der Sozialisation verdrängt wurde und zu einer Gefahr oder Bedrohung unserer Identität wird, wenn es wieder ins Bewusstsein vordringt. Denn das, was uns fern ist, kann uns nicht berühren, nicht provozieren.21 Das »Fremde« ist etwas ursprünglich »Eigenes«, das durch den Prozess der Verdrängung ins Unbewusste verschoben wurde und dort bei entsprechender Konfrontation unter Umständen Affekte provoziert, die verhaltenssteuernde Wirkung entfalten können (vgl. Gruen 2002: 24). Die Analogie zu Freuds psychischem Apparat des ES, ÜBER-ICH und ICH sind hier unverkennbar. Die Triebe und animalischen Bedürfnisse des ES, das dem Lustprinzip folgt, werden im Laufe der psychosozialen Entwicklung ins Unbewusste verschoben und durch das ÜBER-ICH, eine Art psychische gesellschaftlich determinierte Kontrollinstanz, im ICH reguliert. Nur gelegentlich werden sie bewusst oder vorbewusst und können entweder befriedigt, umgewandelt oder eben bekämpft werden, je nach

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aber auch durch die Tatsache, daß man im prüden Europa sonst kaum in der Öffentlichkeit halbnackte Körper zu sehen bekam.« (Classen 2008: 508f.) Hermann Hesse bringt dies in seinem Roman »Demian« treffend zur Sprache: »Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf« (Hesse 1966: 147).

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den gesellschaftlichen Anforderungen. So wird das Lustprinzip nach und nach vom Realitätsprinzip abgelöst (vgl. Freud 1970: 75ff.). Menschen sind ihrem Wesen nach immer zu dem Teil ihres Selbst hingezogen, der ihnen verloren gegangen ist (vgl. Gruen 2002: 7). Der »kleine« Zivilisationsprozess – die Sozialisation – veranlasst die Menschen sich so zu geben, zu verhalten, zu denken und zu fühlen, wie es in der Figuration, in die sie hineingeboren werden und in der sie aufwachsen, »üblich« ist.22 Aus dieser »Gewohnheit« entwickelt sich schließlich das jeweilige Verständnis von »Normalität« bzw. des »normalen« Verhaltens. Alle ursprünglichen, rohen Triebe müssen verdrängt oder zumindest soweit dem Selbstzwang unterworfen werden, dass ein Leben ohne »Anstoß« an der Etikette, an den vorherrschenden Manieren der Figuration möglich ist.23 Alles, was dem Bürger seit Beginn des 17. Jahrhunderts als wild, schmutzig, gewalttätig oder lüstern erscheint, weist er dementsprechend von sich oder sperrt es ein, um solche Versuchungen in sich selber besser kontrollieren zu können (vgl. Muchembled 1990: 13). Der Anblick von Menschen, die die Ansprüche der guten, bürgerlichen Gesellschaft nicht erfüllten – wie beispielsweise bestimmte Ausprägungen bei Menschen mit Funktionseinschränkungen –, verursachte in manchen Fällen Gefühle von Ekel und Abscheu, mobilisierte alle Kräfte zur Gefahrenabwehr; denn diese Menschen verkörperten in jenem Moment das, was man selbst einmal war (ein triebgesteuertes, unsauberes Wesen mit unkontrollierter Bedürfnisbefriedigung) und etwas, zu dem man immer wieder werden kann – entweder durch den natürlichen Prozess des Alterns oder durch einen Unfall oder eine Erkrankung. Der empfundene Ekel und Abscheu ist somit immer auch ein Gefühl, das sich gegen die eigene Körperlichkeit richtet – eine Angst vor Kontrollverlust bei gleichzeitiger Sehnsucht danach.24 Der Fremde ist immer derjenige, dessen Unsauberkeit und Unreinheit eine Angst erregende, gleichzeitig aber auch eine anziehende, fast magnetische Wirkung erzeugt (vgl. Gruen 2002: 22; Waldhoff 1995: 72). Oder wie der frühe-

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Erdheim (1996) beschreibt bezüglich der Angst und der Neugier von Kindern gegenüber fremden Menschen oder Dingen, dass die jeweilige Kultur darüber entscheidet, ob die ängstlich-negative oder die positiv-faszinierende Reaktion auf etwas Fremdes sozial erwünscht ist. Generell ist aber durch die Ambivalenz (Faszination und Schrecken) gegenüber allem Fremden auch die Chance zur Überwindung der Angst angelegt, denn durch die Möglichkeit der faszinierenden Anziehung des Fremden kann ein Schritt darauf zugegangen werden (vgl. Erdheim 1996: 176f.). »Der gesellschaftliche Kanon wird von dem einzelnen Mitglied einer Gruppe absorbiert und verwandelt sich in einen Aspekt seines individuellen Gewissens. Auf diese Weise wird er unentrinnbar.« (DLA Elias 1978: 10) Alkohol- und Drogenexzesse könnten aus dieser Perspektive heraus vielleicht als eine Form dieser Sehnsucht interpretiert werden.

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re Volksmund sagte: »Sperrt die dreckigen, stinkenden, klauenden Zigeuner ein – wenn ich schon nicht mit ihnen ziehen kann«. Ein Beispiel dafür, wie ambivalent Fremdheitsgefühle sind, zeigt die Nähe zwischen Romantisierung und Vernichtung von Zigeunern in der Moderne (vgl. Waldhoff 1995: 73): Der Begriff »Zigeunerromantik« verweist noch auf die Sehnsucht nach einem scheinbar unbeschwerten Leben im Einklang der Natur ohne zivilisatorische Zwänge; was die Vertreter der Rassenhygiene wiederum in das zu bekämpfende »Animalische« schoben: »Im übrigen werden sie [die Zigeuner] geleitet durch urtümlich ererbte Instinkte, beherrscht werden sie von ihren Trieben, und gehemmt werden sie durch Angst und unmittelbaren Zwang« (Ritter 1940 zitiert nach Waldhoff 1995: 73; Ergänzung in Klammern C.E.). Die Bekämpfung endete schließlich in der systematischen Ermordung von Zigeunern in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. Psychoanalytisch lässt sich dieser Kampf folgendermaßen interpretieren: Der innere Kampf gegen eigene »fremde« Anteile wird nach außen verlagert und materialisiert sich im Kampf gegen die fremde Gruppen. Im Eigentlichen handelt es sich um einen Stellvertreterkampf. Um sich der eigenen (häufig brüchigen) Identität zu versichern, hat ein distanzierter, oftmals verachtender Blick auf das »Fremde« eine stabilisierende Wirkung auf das ICH. Die Freak-Shows markierten so die Differenz zwischen den Bürgern bzw. dem Publikum und den Ausstellungsstücken bzw. Freaks und »verschoben den Status von Behinderung zum Tierischen bzw. Animalischen, denn es sind ebendiese Triebe des Körpers und der niederen Impulse der Natur, die der Zivilisationsprozess einzudämmen versucht« (Hughes 2015a: 127). Die Naturwissenschaft objektivierte den Status des Animalischen bei den Freaks, so wurden Haarmenschen als das fehlende Bindeglied in der Entwicklungskette vom Tier zum Menschen – als Missing Link – angesehen und entsprechend von damaligen medizinischen Autoritäten wie beispielsweise Rudolf von Virchow untersucht (vgl. Kastl 2017: 283f.; Nestawal 2010: 152). Die Menschen, die in diesen Freak-Shows auftraten, dürfen jedoch nicht ausschließlich als Opfer diskriminierender Praktiken angesehen werden. Zumindest diejenigen mit rein körperlichen Funktionseinschränkungen hatten durchaus auch Einfluss auf die Shows und gelangten zum Teil zu einer gewissen Berühmtheit und manche von ihnen zu Reichtum und konnten sich aufgrund der Freak-Shows ein bürgerliches Leben leisten, sie waren verheiratet, hatten Kinder und besaßen ein eigenes Haus (beispielsweise Lavinia Warren, Charles Stratton und Prince Randian). Ein Verbot bzw. die Abnahme des Interesses an diesen Shows bedeutete für die dort »beschäftigten« Menschen häufig den sicheren Weg in die Arbeitslosigkeit (vgl. Sierck 2017: 59). Die Freak-Shows wurden in den USA noch bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus besucht, während in Deutschland aufgrund der vielen Kriegsver-

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sehrten nach dem 1. Weltkrieg das Interesse der Öffentlichkeit abnahm und sie schließlich im Dritten Reich offiziell verboten wurden (vgl. Dederich 2007: 103).25 Seine wissenschaftliche Analogie fand das bürgerliche Interesse an Missbildungen ab 1780 in der Teratologie, die allerdings erst im Jahr 1832 von Etienne Geoffroy Saint-Hilaire mit diesem Terminus bezeichnet wurde (vgl. Zürcher 2004: 12). Die wissenschaftliche Beschäftigung mit »Missbildungen« führte dazu, diese nicht mehr als widernatürlich, als Resultat moralischer oder religiöser Verfehlungen zu interpretieren, sondern als natürliche Erscheinungen zu begreifen, in denen die noch »ungehobenen Gesetze der Natur« entschlüsselt werden können (vgl. Zürcher 2004: 63; Hagner 2003: 45). Bereits im 16. Jahrhundert hat Michel de Montaigne diesen Gedanken in seinem Essay »Von einer Missgeburt« formuliert: »Wir nennen das wider die Natur, was doch nur wider die Gewohnheit ist. Alles, es mag auch seyn was es will, ist natürlich. Dieser natürliche und allgemeine Grundsatz, sollte billig alles Erstaunen und allen Irrthum, den eine Neuigkeit bey uns verursacht, vertreiben.« (Montaigne 1996: 594f.) Für die Teratologen sind die »Freaks« kein »Zufall der Biologie« oder »Laune der Natur«, sondern der Ausdruck einer natürlichen Logik der Abweichungen: »Missbildungen sind Ausdruck grundlegender embryogenetischer Entwicklungen, die sowohl onto- wie phylogenetisch auf das schier unendliche Potenzial der Zeit hinweisen. Nichts war und bleibt, wie es ist, alles hat sich entwickelt und kann sich entwickeln.« (Zürcher 2004: 87f.) Mit der Entschlüsselung der Logik der Abweichung geht zugleich der Anspruch nach einer Kontrolle darüber einher, also die Möglichkeit in diese Entwicklung korrigierend eingreifen zu können. Die Menschen wurden nicht mehr – wie im Mittelalter – als Sohn oder Tochter des Schmieds, der oder die beispielsweise blind zur Welt kam, wahrgenommen, sondern zunehmend als blindes Individuum. Die Standes- oder Familienzugehörigkeit rückte nach und nach in den Hintergrund, während die Erkrankung bzw. Funktionseinschränkung in den Vordergrund der analytischen Wahrnehmung trat (vgl. Fandrey 1990: 114). Und die Erkrankungen bzw. Funktionseinschränkungen wurden durch die Naturwissenschaft ihrer religiösen Deutung entzogen bzw. entmystifiziert, aber gleichzeitig als etwas stigmatisiert, das nicht sein darf, das nach abschließender Ursachenforschung einer entsprechenden Korrektur unterzogen werden muss, denn der Kapitalismus der Industrialisierung brauchte vor allem intakte Körper zur Aufrechterhaltung der ge-

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In einem Zeitungsartikel vom 3.2.1938 ist über das Verbot unter der Zwischenüberschrift »Widerliche Auswüchse« zu lesen: »Diese Maßnahme ist durchaus zu begrüßen. Schaustellungen also, die das gesunde Volksempfinden verletzten oder den Bestrebungen des nationalsozialistischen Staates widersprechen, werden unterbunden. […] Hierzu gehören einmal Schaustellungen von ekelerregenden menschlichen Abnormitäten und erbkranken Krüppeln […].« (zitiert nach Kastl 2017: 296; Weglassung in Klammern C.E.)

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forderten Verhaltensdisziplin im Rahmen der industriellen Lohnarbeit (vgl. Foucault 1977: 168). »Seit der Entstehung des industriellen Kapitalismus wurde der Standardkörper erforderlich für die Fließbandproduktion der Fabriken, abweichende Körper wurden dagegen in Wohlfahrtseinrichtungen verwiesen.« (Hirschberg 2009: 115; Hervorhebung i.O.) Gleichzeitig nahmen Funktionseinschränkungen als Folge von Erkrankungen aufgrund der industriellen Produktion (z.B. Lähmungen durch Blei- und Quecksilbervergiftungen) signifikant zu und prägten das Bild der Städte. Von einem Arzt der damaligen Zeit ist zu lesen: »Wenn man in einer Fabrikstadt […] den Strom der Arbeiterbevölkerung an sich vorbeiziehen läßt und dabei die Scharen aufmerksam auf ihr Äußeres mustert, so wird man sofort bemerken, welche auffällig große Zahl von bleichen hohlwangigen Gesichtern, von gebückten, kraftlosen, ausgezehrten Gestalten, von Verkrüppelungen und Verkrümmungen, von siechen und vorzeitig gealterten Körpern sich darunter befinden.« (Zeuner 1894: 1) Während sich die mittelalterliche Stadt auf einen stetigen Menschenzuzug aus dem Umland verlassen konnte, verschliss die frühindustrielle Stadt ihre Arbeiterschaft, die sich aus einer offenbar unendlichen, »niederen« Menschenmasse rekrutierte. Die hochindustrialisierte Stadt dagegen bedurfte stetig »verwendbarer« und qualifizierter Arbeitskräfte für die komplexer werdenden Maschinen und Arbeitsprozesse, wodurch der Körper und seine Gesundheit eine gewisse wirtschaftliche und somit auch politische Bedeutung erlangten (vgl. Labisch 1989a: 26). Zusammenfassend kann davon ausgegangen werden, dass sich die Wahrnehmung von Devianz und körperlicher Differenz in dem Maße sensibilisierte, in dem der Körper und sein Verhalten hinsichtlich der Einhaltung von bürgerlichen Einstellungs- und Verhaltensstandards und der damit verbundenen »Reputation« im Diesseits an Bedeutung gewann. Die bürgerlichen Normen und Werte spiegelten sich auch in der veränderten Einstellung zur Arbeit mit der Hinwendung zur Leistungsorientierung und in den veränderten Produktionsprozessen der Industrialisierung wider. Unter anderem aus diesem Grund wurden Gesundheit und Erziehung zum Gegenstand staatlicher Politik und Kontrolle, deren wissenschaftliche Legitimationsbasis die sich gegenseitig beeinflussende Medizin und Pädagogik darstellten, deren Positionen wiederum die Wahrnehmung der Menschen veränderte.

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Naturwissenschaftliche Vorstellungen bezüglich Krankheit und Funktionseinschränkung

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Verschiebung der Definitions- und Deutungsmacht von Religion zur Medizin

Während im Mittelalter in erster Linie religiöse Instanzen für die Interpretation und Behandlung von Krankheiten und Funktionseinschränkungen zuständig waren, verschob sich der Verantwortungsbereich im Laufe der Moderne zunehmend zur Medizin, vor allem, nachdem sie sich von einer »Kunst« zu einer Naturwissenschaft entwickelte. Die Naturwissenschaftler der Moderne begannen mit der systematischen Erforschung, Vermessung und Ordnung der Welt. Längeneinheiten wurden standardisiert, bislang unbekannte Länder entdeckt und kartographiert, Bevölkerungsstatistiken für die Politik eingeführt und mit der Entwicklung der Medizin, Krankheiten systematisch geordnet. Der Fortschritt gegenüber der mittelalterlichen Sichtweise lag darin, dass Naturvorgänge nicht mehr philosophisch oder theologisch erklärt, sondern ganz in der Tradition von Galileo Galilei aus der empirischen Naturbeobachtung hergeleitet wurden (vgl. Weiß 2005: 5). Max Weber sprach 1919 zur Beschreibung dieses gesellschaftlichen Rationalisierungsschubs von der »Entzauberung der Welt« (Weber 1959: 17).26 Bereits Mitte des 17. Jahrhunderts vertrat Thomas Sydenham die Ansicht, dass man kranken Menschen nur durch die Lokalisierung und Bestimmung der Krankheit helfen kann (vgl. Canguilhem 1974: 21). Krankheit wird dabei gleichsam als Defekt einer Maschine interpretiert, der entsprechend repariert bzw. korrigiert werden muss. Der Körper reduzierte sich dabei auf ein technisch funktionierendes Gebilde von Einzelteilen und da das »Funktionieren dieser Einzelteile kompliziert ist und zu ihrer Reparatur immer größeres Detailwissen gehört, gibt es für jedes

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»Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss man zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.« (Weber 1959: 17)

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Einzelteil einen Spezialisten, der freilich die gesamte Maschine Mensch gar nicht mehr kennt.« (Winau 1982: 296f.)27 Mit der organischen und später gewebe- und schließlich zellularpathologischen Lokalisierung von Krankheiten wurde nicht nur die mittelalterliche Humoralpathologie abgelöst, sondern es veränderte sich auch der ärztliche Blick auf den kranken Menschen als Einheit. Krank wird nicht mehr der Körper, sondern das einzelne Organ bzw. das Gewebe – bis letzten Endes die Zelle als Krankheitsträger identifiziert wurde. Auf eine Lokalpathologie muss der Logik nach eine Lokaltherapie folgen. Nur wenn eine eindeutige Ursache gefunden ist, kann auch eine adäquate Therapie der Erkrankung erfolgen. Die eindeutige Grenzziehung zwischen gesund und krank war Bedingung und Voraussetzung des Erfolges und der Etablierung der Medizin. Der restliche, gesunde Körper bzw. der Körper als Ganzes verschwand aus dem medizinischen Blickfeld. Aus der früheren Krankengeschichte wurde eine Krankheitsgeschichte (vgl. Vanja 2008c: 231; Winau 1983: 221ff.). Diese Sichtweise führte zwangsläufig zu einer Spezialisierung der Medizin und bildet bis zur Gegenwart das Fundament der Schulmedizin, seit einiger Zeit allerdings vermehrt mit entsprechend gegenläufigen Tendenzen wie beispielsweise der psychosomatischen und der anthroposophischen Medizin sowie den Naturheilverfahren.28 Die veränderte wirtschaftliche Produktion in der Moderne spiegelte sich auch – wie Vanja (2008) ausführt – im Umgang mit kranken Menschen wider: »Der Kranke, der in der alten Welt für seine Mitmenschen eine sinngebende Bedeutung besitzen konnte, hatte in dieser bürgerlichen Arbeitswelt keinen Platz. Der objektivierte Körper wurde gleichsam zur Maschine, deren Pflege und Instandhaltung als bürgerliche Pflicht begriffen wurde.« (Vanja 2008c: 228f.) Während der Adel seine Legitimation mit dem Blick in die Vergangenheit, durch Blut und Abstammung erklärte, definierte sich das Bürgertum mit dem Blick in

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Dieser rein mechanische, rationale, naturwissenschaftliche Umgang mit dem Körper und der Seele löste immer wieder bis in die heutige Zeit hinein mehr oder weniger esoterische Gegenbewegungen aus (vgl. Vanja 2008a: 208f.). Elias stellte 1983 fest: »Die medizinischen Maßnahmen der Gegenwart beziehen sich vorwiegend auf Einzelheiten des physiologischen Funktionierens eines Menschen – auf das Herz, die Blase, die Arterien und dergleichen –, und solange es sich um Einzelheiten handelt, ist heute die medizinische Technik der Lebenserhaltung und Lebensverlängerung ganz gewiß weiter fortgeschritten als je zuvor. Aber sich darum zu bemühen, schlechter und schlechter funktionierende einzelne Organe oder Organbereiche medizinisch zu korrigieren, lohnt sich eigentlich nur um der Person willen, in der alle diese Teilprozesse integriert sind. Und wenn man über den Problemen der einzelnen Teilprozesse die Probleme der integrierenden Person vergißt, dann entwertet man im Grunde auch das, was man für diese Teilprozesse tut.« (Elias 2002: 89)

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die Zukunft, durch Arbeit und Leistung, wozu ein gesunder Körper und eine gute Erziehung unabdingbar waren.29 Gesundheit und physische und moralische Gestaltung des Körpers dienten folglich der individuellen wie kollektiven Distinktion des Bürgers sowohl vom Adel als auch vom Bauern und später vom Proletariat (vgl. Labisch 1992: 112), wobei Krankheit und Funktionseinschränkung anfänglich noch durch eine moralische Brille betrachtet wurden: Sie werden nicht mehr durch Gott, Teufel oder Dämonen gesandt, sondern sind auf Fehlleistungen der Menschen30 – beispielsweise auf moralische Nachlässigkeiten – zurückzuführen, demgegenüber wird postuliert, dass richtiges soziales und moralisches Verhalten mit entsprechenden Maßnahmen (z.B. Erziehungsmaßnahmen oder Verhaltensanweisungen) zu kontrollieren sei (vgl. Fandrey 1990: 76). Diese Maßnahmen beziehen sich sowohl auf den individuellen als auch auf den sozialen Körper. Johann Peter Frank lieferte mit seinem »System einer vollständigen Medicinischen Polizey« bereits 177931 eine weit über das rein medizinische Fachwissen hinausgehende theoretische Grundlage dafür, das gesamte öffentliche und private Leben von der Zeugung über die Geburt bis zum Tod nach medizinischen Vorschriften zu regeln (vgl. Labisch 1989a: 19). »Zeitgleich mit diesen sozialdisziplinierenden Maßnahmen spätabsolutistischer Polizeiwissenschaft wird die Sorge um die Gesundheit in der bürgerlichen Gesellschaft zum wichtigsten Element aufgeklärt-rationaler Lebensführung, mit dem sich das politisch machtlose Bildungsbürgertum vom Adel absetzt und zeitgleich weitere Gesellschaftsschichten in die bürgerliche Gesellschaft integriert.« (Welsh 2016: 224) Den Bürgern wurde in den sozialstaatlichen Diskussionen dieser Zeit ein Recht auf Gesundheit zugesprochen, aber sie erhielten auch eine Pflicht zur Gesunderhaltung gegenüber der Allgemeinheit im Sinne der Einhaltung einer entsprechenden 29

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Bahrdt führt in seinem »Handbuch der Moral für den Bürgerstand« eine Rangordnung zur wirtschaftlichen Verwendung des Haus-Etats an: »Zuerst kommet euer und eurer Hausgenossen Leben und Gesundheit. […] Dann folgt die nothdürftige Bedeckung durch Kleider, und Schutz vor Wind und Wetter durch Wohnung. Dann, was zur Erziehung der Kinder ganz unentbehrlich ist. […] Das allerwichtigste, insbesondere für den Bürgerstand ist Vermeidung von Luxus.« (Bahrdt 1789 zitiert nach Münch 1984: 274f.; Hervorhebung i.O., Weglassung in Klammer C.E.) »Im Wahnsinnigen sieht der aufgeklärte Bürger weniger den Teufel als vielmehr das ungebändigte Tierische im Menschen wüten. Wahnsinn wird als Verlust der Vernunft, der Moralität und der Selbstkontrolle empfunden, als gefährlicher Rückfall in die ungezähmte Animalität.« (Fandrey 1990: 75f.) Bereits Gottfried Wilhelm Leibniz schlug die Gründung einer Medizinal-Behörde vor. Gemäß seiner Vorstellung sollten Ärzte nicht nur Patient*innen versorgen, sondern den Staat über die Gesundheit der Bevölkerung und über die hygienischen Lebensbedingungen unterrichten, damit dieser entsprechende Maßnahmen planen konnte (vgl. Labisch 1992: 78).

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Lebensführung (vgl. Roelcke 2017: 154). Krankheit wurde zuweilen mit einer moralisch verwerflichen Verfehlung gleichgesetzt: »Der Bürger muß gesund und arbeitsfähig seyn, um das Seine zur Erhaltung des Ganzen beitragen zu können. Ist er es nicht, so fällt er dem Staate zur Last und ist schlimmer, als ein todtes Mitglied.« (Röber 1806 zitiert nach Frevert 1984: 32) Krankheit und Funktionseinschränkung waren Negationen der Moral (vgl. Hughes 2002: 574). Die aufgeklärt-rationale Lebensführung mit ihren Hygienevorschriften (z.B. »Sauberkeit ist Sittlichkeit«) stellte daher eher eine mit Religion, Moral, Erziehung und Regierungskunst verbundene Philosophie dar und erfuhr erst später eine naturwissenschaftliche Rechtfertigung auf der Basis von Physiologie und der Entdeckungen der Parasitologie, Bakteriologie und Immunologie als Ergänzung (vgl. Labisch 1989a: 23). Die Profession der Medizin erhielt ihr Definitions- und Deutungsmonopol lange bevor sie mit therapeutischen Erfolgen aufwarten konnte, sie war Teil der »Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und Kultur mit ihrer Hochschätzung rationaler Lebensführung« (Roelcke 2017: 155). Waren zuvor Theologen für die Interpretation von Krankheiten und deren Einordnung in das kosmische Gefüge zuständig, so übernahmen nun sukzessiv Mediziner die Kontrolle darüber, entschieden über Gesundheit und Krankheit, und damit auch über die Berechtigung eines Hilfeanspruchs (vgl. Labisch 1989b: 120). Auch die Disziplinierung betraf in erster Linie den Körper bzw. die Gesundheit: So unternahmen die Pädagogen des 18. und 19. Jahrhunderts32 , unterstützt durch medizinisch-moralische Erkenntnisse, viele Anstrengungen, um Schädigungen des Körpers durch vermeintlich falsche Lebensführung so früh wie möglich zu unterbinden. Den Kulminationspunkt erreichte diese Pädagogik in den drastischen Maßnahmen zur Verhinderung der Onanie, die von den Medizinern jener Zeit als Ursache beispielsweise des Schwachsinns angesehen wurde.33 Gesundheit geriet über die notwendige Seuchenbekämpfung aufgrund des Bevölkerungswachstums in den Städten zunehmend ins Visier der staatlichen Behörden. Max von Pettenkofer erkannte als einer der Ersten Mitte des 19. Jahrhunderts

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Generell hatte sich die sogenannte philanthropische Bewegung zum Ziel gesetzt, den bislang eher religiös geprägten Schulunterricht durch lebenspraktisch orientierte Inhalte (moderne Sprachen, Naturwissenschaften, Handarbeitsunterricht etc.) zu ersetzen und die Kinder auf ein vernunftbasiertes bürgerliches Leben vorzubereiten. Villaume schrieb 1787 in seiner pädagogischen Schrift »Die physiologische Theorie der Selbstbefleckung«: »Der Samen ist, nach der Lehre aller geschicktesten Ärzte, ein Auszug aus den feinsten und nötigsten Säften in dem ganzen Körper und vornehmlich aus dem Gehirn und Rückenmark. Daraus sind die Rückenschmerzen, die Rückenauszehrung und die Dummheit, welche auf die Unzuchtsünde folgen, erklärbar.« (Villaume zitiert nach Rutschky 1977: 301)

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den Zusammenhang zwischen schlechten hygienischen Bedingungen und der Ausbreitung von Seuchen und begründete die experimentelle Hygiene, die sich mit dem Aufspüren von Miasmen in der Umwelt befasste. Die Miasmen entstanden der Theorie nach durch Zersetzung und Fäulnis im feuchten Boden und galten beispielsweise als Ursachen von Cholera und Typhus. Aufgrund seiner Erkenntnisse wurden in vielen Städten Kanalisationssysteme eingeführt, über die der Grundwasserspiegel reguliert, der Boden entfeuchtet und so die Verbreitung der Seuchen bekämpfen werden konnte. Im Fokus der experimentellen Hygiene standen Maßnahmen, die auf Gesundheitssicherung durch Veränderung der Umweltbedingungen setzte, eine Isolierung von Kranken wurde daher als nicht notwendig erachtet (vgl. Fangerau & Vögele 2004: 38f.). Die Bakteriologie löste in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die experimentelle Hygiene ab. Mit ihr konnte die Krankheitsursache eindeutig und objektiv am Individuum – durch nachweisbare Keime – lokalisiert und medizinisch behandelt werden. Das bürgerliche Gesundheitskonzept befreite sich dadurch weitgehend von dem moralischen Deckmantel, der dieses Konzept noch im 18. Jahrhundert umhüllte. Ab 1840 ist daher in der Literatur allmählich zu erkennen, dass die Medizin immer häufiger als eine Wissenschaft bezeichnet wird. Bereits Francis Bacon betrachtete zwar die Beobachtung und das Experiment als einzig sichere Wissensquellen, für die naturwissenschaftlich orientierten Mediziner des 19. Jahrhunderts wurde das Experiment, also die aktive Beobachtung des Untersuchungsobjekts durch den Forschenden unter kontrollierten Versuchsbedingungen schließlich von einer möglichen zur maßgeblichen Methode des Erkenntnisgewinns und das Labor zum wichtigsten Ort der Wissensproduktion. Die Kehrseite der Medaille war die damit einhergehende Entwertung der Arzt-PatientInteraktion als Quelle des Erkenntnisgewinns (vgl. Roelcke 2017: 156). Virchow erkannte um 1848 den engen Zusammenhang zwischen Lebenssituation und Gesundheit bzw. Gesundheit und Bildung, und beschreibt die Gewährleistung beider als eine staatliche Aufgabe (vgl. Virchow 1879: 15f.): »Die Medicin ist eine sociale Wissenschaft und die Politik ist weiter nichts als die Medicin im Grossen.« (Virchow 1879: 34) Dies blieb zwar – vor allem nach dem Scheitern der Revolution von 1848 – eine Utopie, dennoch wurden hier bereits Grundprinzipien zukünftiger Sozialpolitik formuliert. Das Krankheitsrisiko wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sozialpolitisch kanalisiert und die Bekämpfung schließlich 1883 durch die Einführung der Krankenversicherung in Deutschland endgültig monopolisiert, wobei der Kreis der Versicherten zunächst nur aus Personen bestand, die über einen Arbeitsvertrag verfügten, womit der Staat implizit anerkannte, dass die industriellen Produktionsverhältnisse einen Einfluss auf die Gesundheit der Menschen haben – also auch eine soziale Dimension von Krankheit existierte und ein öffentliches Interesse an der Erhaltung der Gesundheit bzw. Erwerbsfähigkeit besteht. Der Körper bzw.

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die Gesundheit war somit keine rein individuelle, sondern auch eine soziale Angelegenheit (»Volkskrankheiten«), die zunehmend bürokratisch verwaltet und von Medizinern kontrolliert wurde (vgl. Mutz 1983: 204ff.). Da jedoch mit dem neuen »medizinischen Blick« (Foucault), vor allem der Bakteriologie, der Körper des kranken Individuums losgelöst von der Gesellschaft betrachtet und therapiert wurde, konnte gleichzeitig die soziale Dimension von Krankheit wieder negiert werden, womit es sich vorerst erübrigte, die sozialen Verhältnisse zur Disposition zu stellen (vgl. ebd.: 206). Alfred Grotjahn verband schließlich die Erkenntnisse der experimentellen Hygiene und Bakteriologie mit einem sozialwissenschaftlichen Ansatz und begründete die Sozialhygiene. Sie kann als die Wissenschaft der Wechselwirkungen zwischen der Gesundheit von Bevölkerungsgruppen und ihrer gesellschaftlichen Umwelt angesehen werden. Das praktische Augenmerk lag nicht auf einzelnen Krankheiten, sondern auf der Häufung von Krankheiten innerhalb einzelner Gruppen (Mütter, Säuglinge, Alte, Alkoholiker, Angehörige bestimmter Berufe etc.). In der Konsequenz wurde die Gesundheitsfürsorge zur staatlichen Aufgabe erklärt, Gesundheitsämter gegründet und umfassende Programme der Gesundheitserziehung ausgearbeitet, die nicht mehr nur an der Umgebung oder nur am Individuum, sondern an der jeweils betroffenen Gruppe ansetzte – es ging darum, auch die ärmsten Bevölkerungsgruppen hinsichtlich einer hygienischen Lebensführung über die Gesundheitserziehung zu »missionieren« und diese Lebensführung psychogenetisch zu manifestieren, also Verhaltensweisen zu modellieren; das Proletariat zu verbürgerlichen, um sie industriell auch dauerhaft »verwerten« zu können (vgl. Labisch 1989b: 123ff.). Im Allgemeinen kann dem 19. Jahrhundert eine gewisse Neigung unterstellt werden, »alle möglichen Verhaltensstandards rational oder rationalisierend auf »hygienische« Erfordernisse zurückzuführen« (Schröter 1997: 43), gleichwohl sie in erster Linie auf Wandlungen der menschlichen Beziehungen zurückzuführen sind, und erst in zweiter Linie kausal und rationalitätsadäquat erklärt werden konnten, wodurch sie sich gemäß der eingeschlagenen Richtung weiterentwickelten und/oder verfestigten (vgl. Elias 1977a: 155). Während bereits die experimentelle Hygiene Gesundheit und Krankheit wissenschaftlich erklärte, wurden sie nun auf individueller Ebene durch die Bakteriologie und auf sozialer Ebene durch die Sozialhygiene wissenschaftlich auch stichhaltig

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bewiesen (vgl. Labisch 1989b: 123). Mit dem sogenannten Homo hygienicus34 , stand nun eine wissenschaftlich wertfreie »Stützkonzeption« zur Verfügung, die später aus eben diesem Grund auch die Arbeiterschaft miteinbeziehen konnte (vgl. Labisch 1989a: 24).35 Die Sozialhygiene wurde zur Moral moderner Industriearbeiter bzw. der Massengesellschaft erklärt (vgl. Labisch 1989b: 123). Verbunden mit der vollständigen und systematischen Zuweisung kranker Menschen an die medizinische Profession war eine Entlastung der Herkunftsfamilie bzw. Gemeinschaft, die sich früher um sie gekümmert hatte und nun weiterhin produktiv sein konnte. Der Umgang mit kranken und funktionseinschränkten Menschen war jetzt mehr oder weniger institutionalisiert (vgl. Labisch 1989a: 28f.). »An die Stelle moralisch werthafter Einordnung von Krankheit, an die Stelle persönlicher Auseinandersetzung mit helfenden Angehörigen oder – wie in den berufsständischen Hilfskassen – mit Arbeitskollegen trat der scheinbar neutrale Fall und die scheinbar neutrale und objektive Hilfe und Kontrolle durch die medizinische Profession.« (Ebd.: 29) Die Naturwissenschaft – allen voran die Entdeckungen von Louis Pasteur, Rudolf Virchow und Robert Koch – lieferte also erst im Nachgang die »objektive« Legitimierung oder auch Revidierung vieler hygienischer Verhaltensanweisungen der vorherigen Jahrzehnte. Der Medizin wird – nachdem sie sich der Naturwissenschaft als Bezugswissenschaft zugewendet hat – endgültig die alleinige Definitionsund Deutungsmacht über den Körper und seine Gesundheit zugesprochen (vgl. Labisch 1992: 319). »Indem Krankheit als ein soziales Problem definiert und Gesundheit zu einer gesellschaftlich notwendigen Norm [erhoben] wird, […] die durch staatliche Sozialpolitik zu gewährleisten ist, werden gesellschaftliche Zugriffe auf die Körper

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Den modernen Menschen, der Gesundheit nun als höchsten Wert und oberstes Lebensziel betrachtet, bezeichnete Labisch (1989b) als Homo hygienicus: »Der Homo hygienicus, als Mensch, der Gesundheit als oberstes Lebensziel ansieht und seine Lebensführung völlig gesundheitlichen, aus der Medizin abgeleiteten Prinzipien unterwirft, wird zunächst als wissenschaftlich konzipierte Sinnwelt des im Zivilisations- und Rationalisierungsprozeß fortgeschrittenen Bürgertums geschaffen.« (Labisch 1989b: 116; Hervorhebung i.O.) Die Arbeiterschaft verfügte anfänglich noch nicht über eine rationalisierte Lebensweise, über das notwendig gewordene höhere Selbstzwangsniveau, daher erschien sie aus bürgerlichem Blickwinkel häufig als trinksüchtig und ausschweifend. Aus diesem Grund entstand für kurze Zeit der Beruf des »Krankenbesuchers«, der die Kranken zu Hause aufsuchte und kontrollierte, ob die ärztlichen Anweisungen befolgt und beispielsweise die Medikamente auch wirklich eingenommen wurden, wozu die Kassenmitglieder per Kassenstatut verpflichtet waren (vgl. Labisch 1989b: 126f.). Dagegen war der psychogenetisch verbürgerlichte, »demütige, fleißige, ordentliche, reinliche und »gesunde« Proletarier […] der bürgerlichen Gesellschaft nicht mehr gefährlich.« (Labisch 1987/88: 440; Weglassung in Klammern C.E.)

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der Menschen möglich und damit auch deren gesellschaftliche Kontrolle.« (Mutz 1983: 206; Weglassung und Ergänzung in Klammern C.E.)36 Die Sozialversicherung stellte dabei ein geeignetes Instrument sowohl zur Sicherung der Reproduktion der Arbeitsbevölkerung als auch zur Loyalitätsbindung der Arbeiter an den Nationalstaat über die Zielsetzung der Gesunderhaltung dar und bediente damit sowohl Wirtschafts- als auch Staatsinteressen; mit ihr konnten Normalitätsstandards durchgesetzt werden (vgl. Labisch 1989b: 118): »Hatte die Kirche ihre Macht zum Teil darauf begründet, die Vorstellungen vom Jenseits zu kontrollieren, so gewinnt der moderne Staat seine Macht dadurch, daß er das zum Überleben gewordene Leben schützt. Indem der Staat die Vorstellung aufrecht erhält, das Leben seiner Bürger – z.B. durch Kranken- und Altersversicherung und andere Formen der Vorausplanung und Vorsorge37 – zu schützen, stellt er die Loyalität seiner Bürger her. Mit ihrer Hilfe erfolgt eine Kontrolle und Unterwerfung der Menschen unter die Macht.« (Wulf 1982: 266f.) Durch den Sozialstaat wurde ein Rechtsanspruch von erwerbstätigen Personen auf das kollektive Eigentum geschaffen (Krankenversicherungen, Rentenversicherungen, Arbeitslosenversicherungen etc.). Dies ermöglichte eine Diffusion bürgerlicher Denk- und Lebensweise in die Arbeiterschaft. Während die bürgerliche Gesellschaft der Moderne ihre Rationalisierungsansprüche durch einen Rechtsstaat realisieren konnte, der ihr Privateigentum schützte, so wurden die Arbeiter mit der Einführung von Sozialversicherungssystemen und schlussendlich in der Nachkriegszeit durch ihren Anteil am kollektiven Eigentum ebenfalls »verbürgerlicht« und rationalisierten ihre Lebensweise entsprechend (vgl. Castel 2005: 40f.). Durch die naturwissenschaftliche Deutung von Gesundheit und Krankheit waren die staatlichen und individuellen Gesundheitsmaßnahmen scheinbar wertund klassenneutral (vgl. Labisch 1992: 315). Da jedoch in die Wahrnehmung und Gestaltung menschlicher Körper unweigerlich gesellschaftliche Wertvorstellungen einfließen, lassen sich Gesundheit und Krankheit nicht wertfrei definieren. Es gibt keine »natürliche« Wahrnehmung des menschlichen Körpers, sie ist immer sozial, und richtet sich daher nach den gerade vorherrschenden gesellschaftlichen

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Damit ist nicht gesagt, dass in der mittelalterlichen Gesellschaft Krankheiten nicht auch ein öffentliches Problem darstellten, dem durch Heilung – in welcher Form auch immer – begegnet wurde. Was sich hingegen verändert hat, ist die Entwicklung der Gesundheit zu einer spezifischen Norm (bezogen auf Arbeitsfähigkeit) und die staatlich institutionalisierte Bekämpfung von Krankheiten, die als individuelle Abweichung von der Norm betrachtet werden (vgl. Mutz 1983: 206). Die Rationalisierung, also das Planen der Konsequenzen des eigenen Handels über einen längeren Zeitraum hinweg, findet in den zahlreichen Versicherungen, die in der Moderne entstehen, ihr institutionalisiertes Echo.

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Wertvorstellungen. Der Körper des Menschen ist zwar biologisch und demnach natürlichen Prozessen unterworfen, er ist aber im selben Maße auch sozial (vgl. Douglas 1981: 99ff.). Gesundheit und Krankheit beziehen sich immer auf einen konkreten Menschen innerhalb einer Figuration von anderen Menschen. Gesundheit und Krankheit eröffnen oder verschließen Lebens- und Handlungschancen. Je mehr Deutungsmacht der medizinischen Profession über Krankheit und Gesundheit zugeschrieben wurde, desto mehr drang sie in darüber hinausgehende Lebensbereiche ein: Nicht nur Arbeits-, Erwerbs- und Berufsunfähigkeit wurden medizinisch festgestellt, sondern ebenfalls bestehende Ungleichheiten rationalitätsadäquat erklärt, wie beispielsweise die Festlegung der »natürlichen« Rolle der Frau. Auch die Anleitung zum »richtigen« Umgang mit Kindern oder die Festlegung der »normalen« kindlichen Entwicklung erfuhren eine medizinische Begründung (vgl. Labisch 1989a: 29; Labisch 1992: 317). Im 19. Jahrhundert wird der Begriff der »Gesundheit« allmählich mit dem der »Normalität« gleichgesetzt und dieser »beginnt sich aus dem medizinischen Kontext herauszulösen, um in die unterschiedlichsten Lebenssphären der Gesellschaft vorzudringen. Dort verbreitet er innerhalb unterschiedlicher Normalitäts-Zonen bis heute immer neue Schatten der Andersartigkeit und Fremdheit um sich.« (Rösner 2002: 224) Die Deutungsmacht von »richtiger« und »falscher« Lebensführung – früher eher eine theologische Angelegenheit – lag nun ebenfalls in den Händen der Mediziner. Dieser Machtzuwachs führte dazu, dass rivalisierende Berufsgruppen wie Handwerkschirurgen oder Hebammen im Laufe der Moderne verdrängt oder der Deutungs- und Handlungskompetenz der Mediziner untergeordnet wurden (vgl. Roelcke 2017: 155). »Die Deutungsmacht der Medizin wirkt über die medizinischen Organisationen hinaus in die Gesellschaft hinein: die Aussonderung von Gruppen, die Formulierung sozialer Rollen, die Formulierung und Rechtfertigung sozialen und politischen Handelns stellt gleichsam die bewegliche Grenze einer medizinisch definierten Körperlichkeit dar. Mit diesen Aufgaben der Medizin ist zwingend verbunden, andere Sichtweisen und Umgangsformen mit Geburt, Krankheit, Alter und Tod zu bekämpfen, an den Rand zu drängen, zu vernichten. Diese »Nihilierung alternierender Sinnwelten« […] dient dazu, zivilisatorisch nicht mehr angemessene körperliche Verhaltensweisen abzuwerten und durch neue zu ersetzen.« (Labisch 1992: 317; Weglassung in Klammern C.E.) Auch die Erb- und Rassenhygiene Anfang des 20. Jahrhunderts wurde maßgeblich durch die Medizin begründet und mitgetragen (vgl. Labisch 1989a: 29): Wenn die Medizin schon über kein Mittel verfügt, die scheinbar leidenden Menschen mit Funktionseinschränkungen zu heilen, so konnte sie mit dem theoretischen Rü-

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ckenwind des Sozialdarwinismus zumindest präventiv den »Volkskörper« von den »Leidenden« befreien – über Zwangssterilisation und Euthanasie (vgl. Rösner 2014: 105). Die Ambivalenz der Moderne wird in der Deutungsmacht der Medizin besonders offenbar: Der Medizin oblag die naturwissenschaftliche, scheinbar wertfreie Deutung von Krankheit und Gesundheit, gleichzeitig wurde ihr die Kompetenz zugesprochen, individuelle und soziale Körper auch sinn- und werthaft zu orientieren – obwohl Wissenschaft per se nicht in der Lage ist, Werte zu setzen und dem menschlichen Handeln in der Welt einen Sinn zu geben (vgl. Labisch 1992: 319; Weiß 1993: 26).38 Eine Wissenschaft, die versucht, in den Naturgesetzen einen Sinn oder Wert zu entdecken, verkennt, dass die Natur keine Absicht verfolgt, keine Zwecke kennt. »Die einzigen Naturgeschöpfe in dieser Welt, die Ziele setzen, die Sinn schaffen und geben können, sind die Menschen selber.« (Elias 2002: 80) Werte ergeben und verändern sich aufgrund der Verflechtungszusammenhänge von Menschen und Menschengruppen, und die machtstärkere Gruppe verfügt im Allgemeinen über höhere Chancen zur Beeinflussung von Wertsetzungen in einer Gesellschaft. Die vielen »Warum«-Fragen, die im Zusammenhang von Krankheit und Funktionseinschränkung häufig gestellt werden, kann die Medizin nicht hinreichend beantworten: »Die immanenten Grenzen der Deutungsmacht der Medizin liegen damit in der nach wie vor für die Menschen existentiellen Erklärungsbedürftigkeit des Leibes, der Gesundheit, der Behinderung, der Krankheit, des Leidens und des Todes« (Labisch 1992: 320). Durch das Erlangen der Definitions- und Deutungsmacht über den menschlichen Körper, über Krankheit, Gesundheit und Funktionseinschränkung hatte sich die Medizin zu einer Profession entwickelt, die weit über das rein medizinische Gebiet hinaus Einfluss auf die Menschen nahm. Die naturwissenschaftliche Herangehensweise bei der Entschlüsselung des menschlichen Körpers hatte weitreichende Konsequenzen für das Menschenbild, auf die im Folgenden eingegangen wird.

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Die empirische Sozialwissenschaft kann die empirische Realität zwar aufzeigen und erklären, jedoch keine Normen und Werte produzieren (vgl. Weiß 1993: 35). Soll Wissenschaft nicht der völligen Sinnlosigkeit anheimfallen, muss sie sich selbst eine ethische Selbstbesinnung auferlegen: »Diese Selbstbesinnung muss rational sein, um den Rationalitätsanspruch der Wissenschaft angemessen und kritisch begegnen zu können; sie muss subjektiv (oder individuell) sein, weil die »Entzauberung der Welt« das Subjekt bei seiner Suche nach Sinngebung und Wertsetzung auf es selbst in seiner Endlichkeit […] und auf seine unveräußerliche Verantwortung zurückwirft; sie muß inter-subjektiv sein, weil sich dies aus ihrem eigenen Rationalitätsanspruch ergibt und weil Wissenschaft und Technik ihrerseits zu einer gesellschaftlichen und politischen Macht ersten Ranges geworden ist« (Weiß 1993: 45; Hervorhebungen i.O.; Weglassung in Klammern C.E.).

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5.3.2

Konsequenzen des naturwissenschaftlichen Denkens für das Menschenbild

Mit der Lokalisierung von Krankheiten, also der Anerkennung der Krankheit als eigenständiges »Wesen«, war die Grundvoraussetzung geschaffen, Krankheiten zu ordnen, zu klassifizieren und ein nosologisches Ordnungssystem aufzubauen. Denn erst »Krankheitseinheiten als zählbare Objekte, als statistische Elemente, lassen sich ohne weiteres klassifizieren und in relativen Häufigkeiten darstellen.« (Seydel 1976: 60) Dahinter stand – wie bereits beschrieben – die Intention, mit naturwissenschaftlichen Methoden die Naturgesetze des menschlichen Körpers und Geistes zu entschlüsseln, um entsprechend bei Fehlentwicklungen korrigierend Einfluss darauf nehmen zu können. Boissier de Sauvages de Lacroix versuchte als einer der ersten, Krankheiten nach Klassen und Gattungen so zu gruppieren, wie man es für Tiere und Pflanzen bereits zuvor getan hatte. Zwar enthielt diese erste Klassifikation noch keinen expliziten Hinweis auf Funktionseinschränkungen, allerdings wurden bereits chronische von akuten Erkrankungen unterschieden (vgl. Hirschberg 2009: 30f.). 1731 umfasste seine Klassifikation über 300 Klassen und unzählige Arten von Krankheiten (vgl. Seydel 1976: 59). Klassifikationen dienen einerseits der epidemiologischen Erkenntnis, wobei die Kategorien nicht zu kleinteilig sein dürfen, und andererseits der klinischen Anwendung, wozu es wiederum eher kleinteiliger Kategorien bedarf. Klassifikationssysteme müssen folglich so aufgebaut werden, dass sie sowohl für die Epidemiologie als auch den klinischen Alltag nützlich sind. Trennung und Unterscheidung sind bis heute die entscheidenden Prinzipien ärztlicher Diagnostik, Therapieentscheidung und -prognose – und generell der menschlichen Wahrnehmung. Negative Konsequenzen entstehen erst aus der Tatsache, dass Klassifikationen, die kategoriale Unterscheidungen artikulieren, über Personen oder Gruppen immer auch qualitative Urteile der Andersartigkeit fällen (vgl. Neckel 2003: 163). Rosenhan (1981) schildert dies in Hinblick auf psychiatrische Patient*innen der Postmoderne folgendermaßen: »Sobald eine Person als abnorm gekennzeichnet ist, werden ihre ganzen übrigen Verhaltensweisen und Charakterzüge durch diese Klassifizierung gefärbt.« (Rosenhan 1981: 119) Auch wenn Klassifikationen, die Intention verfolgen, Menschen, die ein oder mehrere der klassifizierten Krankheiten (oder Funktionseinschränkungen) haben, besser medizinisch und/oder therapeutisch behandeln zu können, so schwingt mit der Klassifizierung auch immer ein wertendes Urteil über die klassifizierte Person

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mit.39 So stellt Lemke (2004) fest, dass die Identifikation von Krankheiten kein rein deskriptiv-wissenschaftlicher Vorgang ist, sondern immer auch ein normatives Urteil über die Veränderungsbedürftigkeit von Zuständen impliziert (vgl. Lemke 2004: 93). Dies stellt ein schwer bzw. kaum auflösbares Dilemma dar. Ein Nutzen von einheitlichen Klassifikationssystemen entsteht aus der statistischen Vergleichbarkeit. Im 19. Jahrhundert existierte weltweit eine Vielzahl von medizinischen Klassifikationssystemen mit unterschiedlichen Terminologien, so dass es keine international vergleichbaren Statistiken gab. 1891 wurde daher Jaques Bertillon vom Internationalen Statistischen Institut beauftragt, eine »dauerhafte« und einheitliche Klassifikation zu entwickeln. Sie sollte den unterschiedlichen internationalen Statistiken von Todesursachen und Krankheiten eine einheitliche Grundlage geben, um diese vergleichbar zu machen (vgl. Seydel 1976: 63). Klassifikationen können als Wegbereiter der medizinischen Statistik angesehen werden. Denn um zu klassifizieren, wird ein Vergleichsmaßstab benötigt, beispielsweise ein festgelegter Normalwert sowie entsprechende Grenzwerte. Diese müssen wiederum über Messungen ermittelt werden, was erst durch die Einführung von statistischen Methoden in der Medizin möglich wurde. Diese neue Art der Herangehensweise zur Entschlüsselung der menschlichen Naturgesetze hatte einen erheblichen Einfluss auf das Menschenbild der Moderne. Drei Arten von Statistik beeinflussten dabei die Medizin: die Wahrscheinlichkeitsrechnung (Probabilistik), die Bevölkerungsstatistik und die Moralstatistik, die nun im Einzelnen erläutert werden. Pierre Simon Laplace stellte vermutlich als erster eine Verbindung zwischen Wahrscheinlichkeitsrechnung und Medizin her. Er schrieb in seinem 1814 erschienenen Werk »Essai philosophique sur les probabilitiés«: »Die Wahrscheinlichkeitsrechnung kann dienen, um die Vorteile und Nachteile der in den konjekturalistischen Wissenschaften gebrauchten Methoden zu bestimmen. So reicht es hin, um die beste unter den gebräuchlichen Behandlungsarten bei der Heilung einer Krankheit kennen zu lernen, jede von ihnen an einer gleichen Anzahl von Kranken unter vollkommen ähnlichen Umständen zu versuchen, dann wird sich der Vorzug der vorteilhaftesten Behandlung um desto mehr zeigen, je größer die Anzahl ist, und durch Rechnung wird sich die entsprechende Wahrscheinlichkeit ihres Vorteils und des Verhältnisses, in welchem sie die anderen übertrifft, darthun lassen.« (Laplace 1814 zitiert nach Seydel 1976: 34) Damit war das Fundament einer neuen medizinischen Disziplin – der Therapeutik – gelegt, wobei sich diese nicht ohne Widerstände etablierte. Die Mediziner jener 39

Besonders dramatisch fielen diese Werturteile gegen Ende 19. Jahrhunderts aus, als Menschen, die von der Norm abwichen, nicht nur als »anders« oder »abnormal«, sondern gleichzeitig als »minderwertig« oder »abscheulich« bezeichnet wurden.

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Zeit waren vorerst skeptisch gegenüber diesem Ansatz, da für sie bislang der einzelne Mensch im Vordergrund stand und nicht die quantifizierten Erfahrungswerte; die praktische Medizin wurde zum Teil immer noch als Kunst und nicht als Wissenschaft begriffen. Für die Skeptiker war es nachteilig, dass sie Patient*innen mit der neuen mathematischen Methode nur Wahrscheinlichkeit und keine Gewissheit bieten konnten; ein kranker Mensch möchte schließlich wissen, ob sie oder er die Krankheit überlebt und nicht, dass 80 % der vergleichbaren Erkrankten überlebten (vgl. Weiß 2005: 7).40 Es war ein radikales Umdenken notwendig: weg von der Interpretation qualitativer Befunde hin zur Interpretation quantitativer Befunde (vgl. Martin & Fangenau 2010: 858). Aufgrund des Fehlens eines Standardwerkes mathematisch-statistisch begründeter Therapeutik wurden in ihrer Anfangszeit für die Interpretation von Therapieerfolgen und -misserfolgen sehr häufig zu kleine Zahlen verwendet – vor allem, da die Mediziner zu dieser Zeit kaum die Grundsätze der Statistik beherrschten. Dieses Defizit wurde schließlich 1840 durch das Werk »Prinzipes Généreaux de Statistiques médicales« von Jules Gavarret beseitigt (vgl. Seydel 1976: 75). Die Bevölkerungsstatistik versuchte über die Erfassung von Todesursachen, Geburtenraten und durchschnittliche Lebensdauer ein biologisches Naturgesetz zu entschlüsseln, das menschliche Gesellschaften reguliert. Als Anfangspunkt kann zwar bereits die »Bill of Mortality« von 1662 angesehen werden – und auch vorher sind vereinzelt Tabellen zu Todesursachen zu finden (vgl. ebd.: 11ff.) – aber erst die sich formierenden Nationalstaaten im 19. Jahrhundert lieferten sich regelrechte »Konkurrenzkämpfe« mittels umfassender Statistiken41 und sorgten so für die vielfältige Verbreitung der Methode. Die statistischen Modelle (wie beispielsweise die Gaußkurve) wurden zunehmend in zahlreichen Disziplinen beispielsweise für die Demographie und staatliche Planung sowie in der Versicherungsbranche eingesetzt (vgl. Martin & Fangerau 2010: 855).42 Mit dem 1872 gegründeten Kaiserlichen Statistischen Amt war eine erste Zentralinstanz entstanden, die für das gesamte Deutsche Reich zuständig war und aus der später das Statistische Bundesamt hervorging (vgl. Weiß 2005: 3). »Zielrichtung dieser Bestrebungen waren Aufklärung und Überwachung der Bevölkerung, Verbesserung der hygienischen Situation

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In der Einleitung zu seinem Werk »Clinique médicale de l’Hôtel-Dieu de Paris« schrieb der Pariser Kliniker Armand Trousseau (1801-1867): »Diese Methode ist die Geißel der Intelligenz […] sie degradiert den Arzt zum Buchhalter.« (Trousseau zitiert nach Weiß 2005: 7) Der Begriff der Statistik entspringt der gleichen latinischen Wurzel (»status«) wie der des Staates. Es verwundert folglich nicht, dass in der Anfangszeit der Begriffseinführung im 18. Jahrhundert in Deutschland »Statistik« gleichbedeutend mit »Staatsbeschreibung« verwendet wurde (vgl. Weiß 2005: 3). Dies führte teilweise zu aus heutiger Sicht amüsanten Versuchen, wie beispielsweise die Analyse des europäischen Durchschnittharns durch Probenentnahmen in einer Bahnhofstoilette (vgl. Martin & Fangerau 2010: 858).

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insbesondere in den Städten sowie Prophylaxe gegenüber Epidemien« (Martin & Fangerau 2010: 855). Der Begründer der Statistik als Wissenschaft, Gottfried Achenwall, sah in der Bevölkerungsstatistik ein entscheidendes Instrument, um Politiker in die Lage zu versetzen, Staatsvorkommnisse richtig zu deuten und auf dieser Grundlage adäquate Entscheidungen treffen zu können (vgl. Seydel 1976: 46). Adolphe Quetelet versuchte ebenfalls mit seiner Moralstatistik aus statistischen Zusammenhängen die Naturgesetze des menschlichen Lebens zu entschlüsseln. Das Ergebnis seiner Arbeit war der »homme moyen« – der Durchschnittsmensch. Dieser entsteht aus der statistischen Normalverteilung von biologischen, moralischen und geistigen Eigenschaften eines Menschen (vgl. ebd.: 56). Zwar wurden seine Ansichten bereits von Zeitgenossen kritisch beäugt und von Anthropologen widerlegt, dennoch wurde damit ein entscheidendes Denkmuster der modernen Medizin etabliert: Bis heute bilden Abweichungen von Mittelwerten über einen gewissen Schwellenwert hinaus ein, wenn nicht gar das entscheidende Kriterium für die Charakterisierung des Pathologischen (vgl. ebd.: 57). Es ist folglich zwingend notwendig, nicht nur Mittelwerte zu eruieren, sondern auch Grenzwerte festzulegen, also Bereiche zu definieren, in denen ein gemessener Wert als pathologisch angesehen werden kann (Blutwerte, durchschnittlicher Intelligenzquotient, Cholesterinwert, BMI etc.) (vgl. Canguilhem 1974: 102). Über die Festlegung von Grenzwerten wurde in Fachkreisen lange diskutiert, bis man sich auf die von Pearson 1894 in seinen »Mathematischen Beiträgen zur Evolutionstheorie« eingeführte »Standardabweichung«43 einigte, gleichwohl die Meinung vorherrschte, dass es sich logisch nicht nachvollziehen lässt, dass diese Standardabweichung automatisch die Grenze des Normalen darstellt (vgl. Büttner 1997: 30). Auch wurde häufig übersehen, dass die Grenzen zwischen dem normalen und dem pathologischen Zustand nicht ein für alle Mal fixiert sind, sondern dass sie den gültigen medizinischen Modellen oder Theorien entsprechen. Mit anderen Worten: »›Clinical observations‹ like all other observations are interpretations in the light of theories.« (Popper 1963: 39 Fußnote; Hervorhebung i.O.) Auch die Art und Weise der Erhebung der Normwerte ist von Bedeutung. Mit Canguilhem (1974) lässt sich im Hinblick auf die Entschlüsselung von biologischen Normen durch Laborversuche anmerken: Wer »das Anormale oder Pathologische als statistische Abweichung oder Absonderlichkeit definiert, der muß sich darauf hinweisen lassen, daß die Bedingungen der Laboruntersuchungen das Lebewesen in eine pathologische Situation ver-

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Die Standardabweichung von Pearson entspricht dem bereits von Gauß eingeführten »mittleren quadratischen Fehler«.

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setzt, aus der paradoxerweise Schlußfolgerungen mit der Geltung einer Norm gezogen werden können.« (Canguilhem 1974: 97) Andere Bedingungen führen folglich zu anderen Normen. Ein praktisches Beispiel hierfür ist die Festlegung der normalen bzw. durchschnittlichen Sehschärfe aufgrund der Messungen des niederländischen Augenarztes Herman Snellen 1868 an einer kleinen Zahl seiner Patient*innen. Im Ergebnis wurde die normale Sehstärke auf 20/20 (Snellen-Index) bzw. 1,0 (Visus) normiert, obwohl nur ein Bruchteil derer, die keine nachweisbaren Augenschäden haben, über diese Sehschärfe verfügt (vgl. Devereux 1984: 198).44 Für die Nachkriegszeit stellt Devereux (1984) fest: »Da dieser Standard mittlerweile zu einer ewigen Wahrheit geworden ist, werden Telefonbücher, Zeitungen und Fußnoten in einer so kleinen Schrift gedruckt, daß nur wenige sie ohne Mühe lesen können.« (Ebd.) Kotelmann untersuchte im Jahr 1884 22 Angehörige des westmongolischen Volksstammes der Kalmücken auf ihre Sehschärfe. Der Visus lag im Durchschnitt bei 2,7, wobei der höchste Wert 6,7 betrug – anscheinend der höchste jemals gemessene Wert. Begründet wurde die deutlich bessere Sehschärfe mit den Lebensbedingungen in der Weite der Steppe, die das »Fern-Sehen« begünstigen (vgl. Kotelmann 1884: 80). Die Vorstellung, dass ein einmal – vielleicht sogar unter ungünstigen Bedingungen – erhobener statistischer Durchschnittswert mit Gesundheit bzw. Normalität gleichzusetzen sei, sollte folglich immer wieder hinterfragt werden (vgl. Devereux 1984: 199). Durch solche Erkenntnisse wurde in der Medizin der umstrittene Begriff des Normalwertes in den 1980er Jahren durch den der Referenzwerte ersetzt (vgl. Hess 1997: 11). Diese Referenzwerte werden in der Gegenwart in vielen Fällen durch kontinuierliches Messen immer wieder revidiert. Verließen sich die Mediziner des Mittelalters noch ganz auf ihre fünf subjektiven Sinneseindrücke (Sehen, Riechen, Hören, Schmecken, Tasten), so traten in der Moderne zunehmend »objektive« Messwerte an deren Stelle (vgl. Weiß 2005: 2). Anders ausgedrückt, erlangte das Abstrakte allmählich hegemoniale Macht über das Sinnliche. Mit dem besseren Verständnis der menschlichen Körperfunktionen wurden technische Instrumente entwickelt, die eine exakte Messung festgelegter physiologischer Parameter ermöglichten (vgl. ebd.: 5). Fieberthermometer, Stethoskope, Waagen, Mikroskope und immer mehr spezifische Messinstrumente gehörten allmählich zum Standardinventar der Mediziner und der ab den 1840er Jahren entstehenden Laboratorien in den medizinischen Fakultäten (vgl. Martin & Fangerau 2006: 743). Kranksein konnte nun mit Hilfe messender Methoden naturwissenschaftlich objektiviert werden.

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Wobei bereits damals fachlich bezweifelt wurde, ob für die Sehschärfe überhaupt eine Norm aufgestellt werden kann, die ein Auge erreichen muss, um nicht als pathologisch zu erscheinen (vgl. Buck 2002: 106).

5. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Moderne (18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts)

Naturwissenschaftler der Moderne versuchten neben der Erforschung der biologischen Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Lebens darüber hinaus, durch die Vermessung des Körpers oder einzelner Körperteile auf das Innere des Menschen, seinen Charakter und seinen Wert zu schließen. Es wurde intensiv daran gearbeitet, quantitative Messergebnisse mit qualitativen Werturteilen zu verbinden. Vor allem die Lehren der Physiognomie45 , Phrenologie46 und Biometrie47 hatten sich dies zum Ziel gesetzt und schufen damit in Verbindung mit dem Sozialdarwinismus die Grundlage der Eugenik und ihrer radikaleren Variante, der Rassenhygiene. Johann Caspar Lavater legte mit seinem Werk »Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und der Menschenliebe« (1775) eine erste ausführliche Beschreibung der Physiognomik vor. Über die Mimik und Profilbilder identifizierte er in diesem Werk 12 Profile von »Schwachsinnigen«. Seine Erkenntnis über die Verbindung von Aussehen und Persönlichkeitsmerkmal lässt sich durch das Zitat aus seinem Buch »je moralisch besser; desto schöner. Je moralisch schlimmer; desto hässlicher« (Lavater 1984: 53) zusammenfassen. Sein Zeitgenosse Franz Joseph Gall versuchte die Ansätze der Physiognomik in seiner Phrenologie auf eine naturwissenschaftliche Grundlage zu stellen, indem er die Schädelform bzw. die jeweilige Ausprägung der Gehirnareale, die sich in der Schädelform widerspiegeln, als eine mögliche Ursache für Persönlichkeitsstrukturen in den Vordergrund seiner Analysen stellte. Er entwickelte eine erste Methodik der Schädelvermessung. Jedoch war für ihn die Schädelform nicht automatisch die Basis zur Deutung der Persönlichkeit, sondern sie gab lediglich Hinweise darauf. Dennoch wurde seine Lehre im Nationalsozialismus als wissenschaftliche Grundlage der Rassenlehre herangezogen bzw. diente unter anderem zur Begründung der Überlegenheit der »nordischen Rasse« gegenüber anderen Menschengruppen (vgl. Kanning 2010: 17f.). Cesare Lombroso stellte schließlich eine Verbindung zwischen Kopfform und Kriminalität her. Er blieb mit seinem Ansatz der reinen Interpretation von Ähnlichkeiten allerdings deutlich hinter dem Ansatz von Gall zurück (vgl. ebd.: 20). Die Biometrie bzw. Anthropometrie48 als Nachfolgelehre der Physiognomie bzw. Phrenologie war es letzten Endes, die aus quantitativ gesammelten Messdaten objektive Erkenntnisse über den Zusammenhang von äußerem Erscheinungsbild und intellektueller Fähigkeit herauszufinden glaubte. Die quantitativ erhobenen

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Physiognomie ist eine Lehre, die versuchte aufgrund der äußeren Erscheinung auf die seelischen Eigenschaften der Person zu schließen. Phrenologie ist die Lehre der Topographie der Seele bzw. des Geistes. Die Biometrie wird als ein Zweig der Statistik verstanden, der sich mit der Anwendung mathematisch-statistischer Methoden auf die belebte Natur befasst (vgl. Wichum 2017: 7). Anthropometrie ist eine Lehre der Ermittlung und Anwendung der Maße des menschlichen Körpers.

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Daten wurden schließlich zu einer Qualifizierung im Sinne der Über- oder Unterlegenheit einer bestimmten »Menschenrasse« herangezogen. So zersägte der holländische Mediziner Peter Camper – der als einer der frühesten Vertreter der Biometrie gilt – bereits im 18. Jahrhundert Schädel von Menschen und Tieren, um anhand der Winkelmaße des Gesichts die Entwicklungsstufen des Menschen nachzuweisen (vgl. Schmidt 2003: 21f.).49 Dieses neue Menschenbild, das den Menschen als eine Art Maschine darstellte, die nach naturwissenschaftlichen und somit objektiven Prinzipien funktioniert und Menschengruppen in eine hierarchisch qualifizierende Rangfolge einzuordnen suchte, führte in Kombination mit der Fehlinterpretation der Theorie Charles Darwins, dem Sozialdarwinismus, zu vernichtenden Konsequenzen für all diejenigen, die in dieser Rangfolge nicht hoch genug eingeordnet waren (vgl. ConradMartius 1955). Dabei beruhte der Sozialdarwinismus im Wesentlichen auf der Falschübersetzung der Thesen der biologischen Evolutionstheorie und deren Übertragung auf menschliche Gesellschaften, so wurde »Survival of the Fittest« mit »Überleben des Stärkeren« statt »Überleben des Bestangepassten« oder »Struggle for Existence« mit »Kampf ums Dasein« anstelle »Ringen ums Überleben« übersetzt. Die wissenschaftliche Abhandlungen des Arztes Alfred Ploetz »Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen« (1895) sowie Karl Bindings und Alfred Hoches »Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form« (1920) bildeten schließlich die wissenschaftliche Legitimationsbasis der massenhaften Zwangssterilisation von Menschen vor allem mit geistigen Funktionseinschränkungen, der Internierung und des Missbrauchs von Menschen mit Funktionseinschränkungen als Versuchspersonen in Konzentrationslagern sowie der sogenannten T4-Aktion (ausführliche Beschreibung siehe Mitscherlich & Mielke 1960). Dass diese Menschen bereits in zumeist geschlossenen Sondereinrichtungen untergebracht waren, erleichterte den staatlichen Zugriff auf sie. Zusammenfassend wird deutlich, dass die empirischen Werkzeuge der Naturwissenschaften – Zahlen und Statistiken – in der Moderne eine vergleichbare Macht über das Verhalten der Menschen erlangten wie im Mittelalter das Wort Gottes (vgl. Depenheuer 2013: 39). Die mathematische Wahrheit tritt allmählich an die Stelle der religiösen Wahrheit. »Es kommt zur Produktion »verlässlicher« Daten, auf deren Grundlage Schlussfolgerungen gezogen werden, die oftmals von vorgefassten Meinungen diktiert werden.« (Nestawal 2010: 87) Der Einfluss von Zahlen und Statistiken auf den Umgang mit Menschen mit Funktionseinschränkungen ist allerdings ambivalent: Einerseits helfen statistische

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Es sei daran erinnert, dass bereits Leonardo Da Vinci im 15. Jahrhundert exakte Vermessungen des menschlichen Körpers vorgenommen hat. Zu der wohl bekanntesten geometrische Zeichnung zählt »Der vitruvianische Mensch«.

5. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Moderne (18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts)

Methoden soziale Probleme offenzulegen und ermöglichen die Entwicklung wirksamer Therapien für akute medizinische Probleme von Menschen mit Funktionseinschränkungen bzw. für alle Menschen, andererseits wiederum können Messung und Klassifikation von Einschränkungen auch zur negativen Etikettierung und einfachen staatlichen Zugriffen führen – wie uns die Vergangenheit lehrt. Klassifikationen ordnen und bestimmen Normalität – wobei sie diese zum Teil erst erschaffen: Dadurch, dass Menschen als »anders« definiert und entsprechend an die Ränder der Gesellschaft in entsprechende Einrichtungen gedrängt wurden, verschwanden sie aus dem Sichtfeld der Öffentlichkeit, wodurch einzelne, die »anders« sind, in einer immer homogener werdenden Umgebung automatisch stärker auffallen. Mit Bauman (1992) lässt sich anschließen: »Klassifizieren heißt, der Welt eine Struktur zu geben« (Bauman 1992: 12) und nicht eine »natürliche« Struktur der Welt abzubilden. Das Bestreben der Mediziner des 18. und 19. Jahrhunderts war es zunächst, die Naturgesetze des menschlichen Körpers zu entschlüsseln, und doch trugen sie nicht unwesentlich dazu bei, über die Gleichsetzung von »Normalität« und »statistischem Durchschnitt« eine eigene Wirklichkeit zu erzeugen, die alles andere als »natürlich« ist. Die vermeintliche »Natur« wiederum hat keine ursprüngliche Bedeutung, aus der sich ableiten lässt, was unter »Normalität« zu verstehen ist; Sowohl »Natur« als auch »Normalität« können niemals außerhalb normativer Wertungen wahrgenommen werden (vgl. Rösner 2014: 117ff.). Diese Wertungen sind gesellschaftlicher Natur. »Jeder Blick durch ein Mikroskop, jede Messung an einem Körper, jede chemische Untersuchung ist soziale Praxis, kein objektives Bild einer unberührten Natur. Jegliches (natur)wissenschaftliches Wissen ist ein von Menschen erzeugtes Wissen.« (Villa 2008: 211) Mit Heinz von Foerster (1989) lässt sich weiterführend anschließen: »Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden. Die Berufung auf Objektivität ist die Verweigerung der Verantwortung – daher auch ihre Beliebtheit.« (von Foerster 1989: 154) Die Frage also, mit welchen technischen und medizinischen Mitteln, also mit welcher Diagnostik und Therapie Funktionseinschränkungen »behandelt« werden sollen, lässt sich nicht mit einem wertfreien Begriff von »Natur« beantworten. Mit dem Argument, geschädigte Körper seien »natürlich« und daher »normal«, sind leicht gravierende Konsequenzen zu übersehen: Mit dem Rückgriff auf einen gesellschaftlich unbelasteten Naturbegriff müsste allen diagnostischen und therapeutischen Heilungs- und Rehabilitationsversuchen die Legitimation abgesprochen werden (vgl. Rösner 2014: 118). Und sobald man argumentiert, die »Natur« mache Fehler, begibt man sich in die Position, auch die Grenzen benennen zu müssen, wann der »Natur« ein zu korrigierender Fehler unterlaufen ist und wie die »Korrektur« aussehen soll. Schnell befindet man sich dann auf dem Feld der präventiven Eugenik. Hierbei kann nur eine ethische Grenzziehung helfen.

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Die Antwort darauf, was unter Normalität zu verstehen ist, kann dementsprechend nicht in der Natur gefunden werden. Normalität wird gesellschaftlich konstruiert und stabilisiert sich durch die menschlichen Handlungen relativ selbstständig: Vom ausgehenden 18. Jahrhundert an werden sowohl Produkte als auch Verwaltungsprozesse, Schul- und Berufsausbildung im Rahmen einer gleichfalls homogenisierenden Regierungsmacht – vom Absolutismus bis zum Nationalstaat – zunehmend vereinheitlicht.50 Die Standardisierungswelle reichte von Gewehrund Kanonenläufen sowie entsprechend normierter Munition bis zur Lehrer- und Medizinerausbildung. Durch standardisierte schulische Institutionen kann Normalität reproduziert (z.B. durch Fokussierung auf Pünktlichkeit, Fleiß und Disziplin) und wiederum als ein Effekt institutionalisierter Praktiken verstanden werden (vgl. Sohn 1999: 9ff.). Alles, was datenmäßig erfasst und verwaltet werden kann, wird rasch als »natürlich« wahrgenommen und ist Voraussetzung für stabile Institutionalisierungen: »Schließlich ist in einer datenmäßigen Abbildung immer ein technisch objektivierter Entscheidungsmechanismus möglich, man muss nur den Grenzwert festlegen« (Mehrtens 1999: 60). Verwaltungsprozesse benötigen zwingend Standardisierung, denn erst Standardisierung und Normierung ermöglichen es, Menschen als Objekte in verwaltungstechnischen Zusammenhängen zu erfassen und zu »bearbeiten«. Foucault (1977) charakterisiert die modernen Gesellschaften der letzten 200 Jahre – je nach Übersetzung – als »Normierungsgesellschaft« oder »Normalisierungsgesellschaft«, in der sich nicht nur Normen und Normalitäten herausgebildet haben, sondern eben auch Abweichungen und Abnormitäten – deren Korrektur und Kontrolle in den entsprechenden sozialstaatlichen Sondereinrichtungen erfolgte. Diese Einrichtungen stellen institutionelle Reaktionen auf den beschriebenen sozialen Wandel dar.

5.4

Institutionalisierte Reaktionen auf kranke und funktionseingeschränkte Menschen

Im 18./19. Jahrhundert traten immer mehr Menschen in Erscheinung, die den bürgerlichen Verhaltensanforderungen, den ästhetischen Ansprüchen oder den erhöhten Leistungsanforderungen der Industrie nicht gewachsen waren und die in der bürgerlichen Familienstruktur nicht mehr aufgefangen werden konnten (vgl. Schmuhl 2010: 15). Gleichzeitig fielen erst mit dem erhöhten Bildungsanspruch des

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Interessant dabei ist die Beobachtung, dass mit einer zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung (z.B. der Berufe) eine Homogenisierung ebendieser einhergeht.

5. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Moderne (18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts)

Bürgertums und der notwendigen Lernphase, die sich zwischen Kindheit und Erwachsenendasein schob, erstmalig Formen von geistigen Funktionseinschränkung auf, die im Mittelalter kaum jemand bemerkt oder als »störend« empfunden hätte. Ferner »produzierte« das kapitalistische Wirtschaftssystem der Moderne kontinuierlich Menschen mit Funktionseinschränkungen durch Verletzungen und Krankheiten, die durch den Umgang mit Maschinen oder gesundheitsschädlichen Stoffen (z.B. in der chemischen Industrie und im Bergbau) bzw. durch mangelhaften Arbeitsschutz entstanden. Fandrey (1990) beschreibt den Prozess folgendermaßen: »Die vordringende industrielle Produktion löst die gewerbliche Heimarbeit ab und mindert die Bedeutung der Landwirtschaft; die Zahl selbstständig wirtschaftender Produktionsfamilien verringert sich. Wohnort und Arbeitsort sind räumlich voneinander getrennt; behinderte Familienmitglieder können nicht mehr nebenbei zu Hause betreut werden. Wenn früher ein Behinderter ganz selbstverständlich in seiner Familie mitarbeitete, muß er jetzt einen Arbeitgeber finden, der ihn trotz eingeschränkter Leistungsfähigkeit als Lohnarbeiter einstellt. Die moderne sozialökonomische Entwicklung entläßt also die behinderten Menschen aus ihren traditionellen sozialen Bindungen. Damit fallen sie in der Öffentlichkeit zunehmend auf, erscheinen als öffentliches Problem.« (Fandrey 1990: 114f.) Die gesellschaftliche Antwort auf dieses Problem war in allen europäischen Ländern die massenhafte Gründung sozialstaatlicher Sondereinrichtungen, also beispielsweise von Irrenanstalten, Krüppelheimen, Taubstummenanstalten, Blindenanstalten, Idiotenanstalten, Hilfsschulen, Altenheimen und Waisenhäusern. Die gesellschaftliche Differenzierung, die Arbeitsteilung in den Fabriken, die Auflösung sozialer Bindungen und die Zunahme des analytischen Denkens in der Wissenschaft, bewirkten eine Veränderung der Wahrnehmung der Menschen auf Menschen mit Funktionseinschränkungen. Die Differenzierung der Wahrnehmung, der Diagnostik und der Sondereinrichtungen stellten parallele Prozesse dar. In den Sondereinrichtungen herrschte vor dem geistesgeschichtlichen Hintergrund des Menschenbildes der Aufklärung, des vernunftbegabten Menschen, vorerst ein absoluter Heilungs- und Erziehungsoptimismus. Es wurde angenommen, dass sich grundsätzlich jeder Mensch durch geeignete medizinische und/oder pädagogische Methoden heilen bzw. bilden ließe – was sich jedoch so nicht bewahrheitete (vgl. Fandrey 1990: 113f.). Im Folgenden wird auf die einzelnen Sondereinrichtungen detaillierter eingegangen.  Irrenanstalten: Den höchsten Grad an institutionalisierter Ausgrenzung wiesen die am Anfang des 19. Jahrhunderts durch die allmähliche Auflösung der Arbeitsund Zuchthäuser entstandenen Irrenanstalten auf. Weitere Orte, in denen die »Irren« interniert wurden, waren ehemalige Klöster, Schlösser und Festungen (vgl.

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ebd.: 117). Neue Anstalten wurden weitab der Städte gebaut, um erstens die Gesellschaft vor den »Irren« zu schützen und zweitens, um ihre Heilung durch die Abgeschiedenheit von der Hektik des städtischen Lebens zu ermöglichen (vgl. ebd.: 117). Während im Mittelalter der Wahnsinn als Ausdruck ungebändigter Animalität angesehen wurde, wurde jetzt nicht ein Zuviel, sondern ein Zuwenig an Natur als Ursache des Wahnsinns proklamiert. Dieser Perspektivwandel folgte der romantischen Kulturkritik, die in der Reizüberflutung der Städte, in der Hektik des modernen Lebens, den Hauptgrund für die Entfremdung des Menschen sah (vgl. ebd.: 118). Der Schutz der Gesellschaft vor den »Irren« scheint mit Blick auf die architektonische Struktur der Einrichtungen jedoch ganz offensichtlich im Vordergrund gestanden zu haben: Das Gelände war von dicken Mauern umgeben, die Zellen nur mit kleinen, vergitterten Fenstern versehen – beides erleichterte eine totale Isolation – und die an den Türen angebrachten Schauklappen sorgten für eine leichte Überwachung der Insassen. Die Neubauten um 1830 ähnelten daher eher einem Gefängnis als einem Sanatorium (vgl. ebd.). Neben den Irrenanstalten existierten jeweils assoziierte Pflegeanstalten in denen man diejenigen Personen internierte oder umsiedelte, bei denen man keine Heilung erwartete. »So wie einst »die Unvernunft weggeschlossen«, verwahrt und versorgt wurde, so wie einst der Narr aus der Gemeinschaft der Normalen verschwand, so wurde nun der chronisch Kranke aus dem Kreis der möglicherweise Heilbaren verjagt« (Jetter 1981: 36). Diese strikte Aufteilung in Irrenanstalt und Pflegeanstalt wurde erst in den 1840er Jahren allmählich wieder aufgelöst bzw. architektonisch zusammengelegt, die häufig anzutreffende Bezeichnung der »relativ verbundenen Heil- und Pflegeanstalt« ist ein Zeugnis jener Zeit (vgl. ebd.: 37). Dennoch verbesserte sich die Lage der Insassen der Irrenanstalten im Vergleich zu den Arbeits- und Zuchthäusern im Absolutismus. Sie galten nun als »kranke« Menschen, die »geheilt« werden konnten. Folglich ging es nicht mehr um bloße Verwahrung durch Wegsperren und Anketten, sondern um gezielte Heilung durch die Anwendung medizinischer Behandlungsmethoden durch die sich bereits im 18. Jahrhundert allmählich etablierende Berufsgruppe der Psychiater (vgl. Ackerknecht 1967: 34ff.). Die früheren rein mechanischen Zwangsmaßnahmen wurden dem Zeitgeist entsprechend durch pädagogisch-moralische Zwangsmaßnahmen ersetzt. Dazu gehörte der ständiger Appell an Vernunft und Sittsamkeit, Durchführung von Arbeitsmaßnahmen zum Selbstzweck (Ausheben von Gräben, die anschließend wieder zugeschüttet wurden) sowie die Einübung militärischer Disziplin durch Exerzieren mit Holzgewehren, um den Insassen preußische Pflichterfüllung beizubringen (vgl. Fandrey 1990: 119).

5. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Moderne (18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts)

Die ausbleibenden Erfolge der angewendeten therapeutischen Methoden wie das Überschütten mit Eiswasser sowohl zur Beruhigung von Rasenden als auch zur Stimulation von Ruhigen, das Sitzen auf einen Drehstuhl (Darwinscher Stuhl51 ), die Anwendung von Brech- und Abführmitteln oder der Einsatz von Strom ernüchterten bald den Heilungsoptimismus. Auch wenn alle Maßnahmen theoretisch fundiert waren, konnten sie ganz offensichtlich keine praktische Heilung erzielen. Es verwundert daher nicht, dass sich ab den 1850er Jahren die englische »NonRestraint«-Bewegung relativ schnell etablieren konnte. Mit ihr waren ein Verzicht auf jede Form mechanischer Zwangsmaßnahmen sowie eine Erweiterung der Bewegungsfreiheit der Insassen innerhalb der Anstaltsmauern verbunden. Theoretisch begründet wurde diese neue Behandlungsmethode dadurch, dass man die Ursache von Geisteskrankheiten nun im somatischen vermutete: »Nicht mehr Leidenschaft, mangelnde Vernunft oder mangelnde Disziplin sind für das Irresein verantwortlich (und erfordern daher den Einsatz entsprechend drastischer pädagogischer Mittel), sondern Geisteskrankheiten werden als Ausdruck krankhafter hirnorganischer Prozesse oder Zustände begriffen« (Fandrey 1990: 125f.). Mit den Worten Griesingers ausgedrückt: »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten« (Griesinger zitiert nach Ackerknecht 1967: 63). Durch diesen Ursachenwandel erlangte die Untersuchung des Gehirns einen hohen Stellenwert, was zur Etablierung der Universitätspsychiatrie mit entsprechenden Lehrstühlen führte. Aber auch die Erkenntnisse, die aus den sezierten Hirnpräparaten mit Hilfe von Mikroskopen gewonnen wurden, hatten so gut wie keinen Einfluss auf die diagnostische und therapeutische Praxis (vgl. Fandrey 1990: 126). 1835 lebten auf deutschsprachigem Gebiet schätzungsweise 4.000 Menschen in Irrenanstalten, 1911 waren es bereits 143.000 (vgl. ebd.: 126f.). Die Anzahl der Einrichtungen stieg kontinuierlich an und die vorhandenen Einrichtungen erhöhten ihre Kapazitäten. Immer öfter wurden Menschen, die Verhaltensauffälligkeiten zeigten, in Irrenanstalten eingewiesen. Gleichzeitig belegten Psychiater immer mehr Verhaltensabweichungen oder Leistungsminderungen mit psychiatrischen Begriffen (z.B. »psychopatische Minderwertigkeit«, »sexuelle Perversion«, »reizbarer Schwachsinn«), wodurch immer mehr Menschen psychiatrisiert werden konnten. Die Definition von »geisteskrank« und »anstaltsbedürftig« wurde im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum 1. Weltkrieg stark erweitert (vgl. ebd.: 127).52

51 52

Erfunden durch den Arzt Erasmus Darwin, dem Großvater von Charles Darwin.. Dieser Erweiterungsprozess ist auch in der aktuellen Entwicklung des »Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders« klar zu erkennen, mit folgenden Konsequenzen: Die immer feineren Kategorien der Klassifizierung von psychischen Erkrankungen erhöhen gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit für jeden Menschen, irgendwann selbst eine psychiatrische Diagnose

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Vor dem Hintergrund der Vererbungslehre vermutete man Ende des 19. Jahrhunderts, dass man den Verlauf von Geisteskrankheiten nicht beeinflussen könne, was zur Einführung der »Bettbehandlung« führte. Die Insassen mussten sich demnach tagsüber dauerhaft oder temporär ins Bett legen, womit nicht nur die Überwachung erleichtert, sondern auch der Personalmangel der Anstalten kompensiert werden konnte. Ergänzt wurde diese Methode durch warme Bäder sowie Schlafund Beruhigungsmittel, wodurch die chemische Industrie in den Irrenanstalten einen expandierenden Absatzmarkt fand bzw. diesen auch aktiv förderte. Trotz des enormen Anstiegs an Insassen und der intensiven Ursachenforschung des Wahnsinns konnte die Medizin am Ende des 19. Jahrhunderts keine Antworten auf die Probleme der Geisteskranken, die inzwischen »psychisch Kranke« genannt wurden, geben. Die Irrenanstalten entwickelten sich von Umerziehungs- und Heilanstalten hin zu Pflege- und Verwahrungsanstalten, die architektonisch immer mehr der Institution des Krankenhauses ähnelten (vgl. ebd.: 131ff.). »Damit haben sich die Psychiater angesichts der völligen Unkenntnis der Ursachen psychischer Krankheiten und angesichts faktischer Wirkungslosigkeit ihrer medizinischen Behandlungen wenigstens ein respektables äußeres Erscheinungsbild aufgebaut« (ebd.: 135f.). Ein Arzt der damaligen Zeit hält seine Beobachtung in einem Buch fest und schreibt: »Die Irrenhäuser sind jetzt noch immer furchtbare Zwangsanstalten, die den Namen Heilanstalt zu Unrecht führen.« (Zeuner 1894: 39)  Taubstummenanstalten: Die Annahme der institutionalisierten und immer differenzierteren Ausgrenzung in der Moderne bestätigt sich unter anderem auch in den ab 1778 in Erscheinung tretenden Taubstummenanstalten, die sich rasch auf deutschsprachigem Gebiet verbreiteten. Gab es 1830 48 Einrichtungen mit insgesamt 800 Schüler*innen (16 Schüler*innen pro Einrichtung), waren es 1891 bereits 95 Einrichtungen mit insgesamt 6.000 Schüler*innen (63 Schüler*innen pro Einrichtung) (vgl. Fandrey 1990: 136). Die Aufnahme in einer solchen meist als Internat geführten Anstalt war mit hohen Kosten verbunden, die für Angehörige ärmerer Gesellschaftsschichten im Allgemeinen nicht aufzubringen waren. Darüber hinaus musste zur Aufnahme ein ärztliches Zeugnis vorliegen, dass den jungen Patient*innen bescheinigte, keine weiteren Einschränkungen wie beispielsweise Blödsinnigkeit zu haben. Das Aufnahmealter lag zwischen 8 und 15 Jahren. Auf dem pädagogischen Lehrplan standen beispielsweise Schreiben, Rechnen, Erdkunde und Sport. Ziel war es, den Taubstummen berufliche Chancen zu eröffnen. 1880 hatten daher 44 Prozent der Taubstummen in Preußen eine Beschäftigung, 1900 waren es bereits 70 Prozent zu erhalten, wobei das die Frage aufwirft, ob die eine oder andere Diagnose rein statistisch betrachtet, mittelfristig in den Bereich der »Normalität« rückt?

5. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Moderne (18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts)

(vgl. ebd.: 136f.). Folglich war diese Gruppe von Menschen gegenüber anderen Menschen mit Funktionseinschränkung relativ gut in den damaligen Arbeitsmarkt integrierbar.  Blindenanstalten: Auch blinde Menschen konnten in der bürgerlichen Gesellschaft nicht die volle gesellschaftliche Teilhabe genießen. Die erste Blindenanstalt wurde 1806 in Berlin gegründet. Dort wurden Blinde im Alter zwischen 9 und 17 Jahren aufgenommen. Ziel dieser zunächst zivil gegründeten Einrichtungen stellte ebenfalls die berufliche Integration der blinden Menschen dar. Allerdings wurde dieses Ziel in den meisten Fällen nicht erreicht, so dass es zur Gründung von Werkstätten und Wohnheimen für blinde Menschen kam. Dies schaffte für die Blinden zwar einen Zugewinn sozialer Sicherheit, machte sie jedoch auch bis zum Lebensende abhängig von dieser Institution. Typische Ausbildungsberufe für Blinde waren Bürstenmacher, Korbmacher, Seiler und Strohflechter. Die Werkstätten richteten daher entsprechende Produktionsprogramme ein. Finanziert wurden diese Einrichtungen teilweise durch Spenden. »Die Blinden bleiben indirekt immer noch Almosenempfänger – zwischen die Geber und die Empfänger schieben sich jetzt die Wohltätigkeitsinstitutionen.« (Ebd.: 139) Obwohl die Blindenschrift bereits 1825 von Louis Braille entwickelt wurde, stand diese nicht auf dem Lehrplan der Einrichtungen. Die Blindenpädagogen entwarfen ein Bild des Blinden, das die bevormundende Betreuung rechtfertigte. Allerdings gab es zunehmend Widerstände der Bewohner gegen die entmündigenden Einrichtungen, so dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts die geschlossenen Anstalten aufgegeben wurden und sich der Fokus stärker auf die Errichtung von Werkstätten verschob. Die Schulbildung verfolgte von diesem Zeitpunkt an immer mehr das Ziel einer zweckmäßigen Vorbereitung auf ein bürgerliches Leben (vgl. ebd.: 140f.). Als weitere Reaktion auf die Bevormundung kam es 1872 zur Gründung der ersten Blindengenossenschaft in Hamburg und 1874 zur Gründung des Allgemeinen Blindenverbandes. Weitere örtliche, regionale und überregionale Vereine gründeten sich in der Folgezeit. 1908 fanden der erste Blindenkongress und ein Jahr später der 1. Deutsche Blindentag statt, auf dem beispielsweise die Forderung nach einer gesetzlichen Schulpflicht für blinde Kinder laut wurde. Auch wenn der preußische Staat und die Wohlfahrtsverbände den eher sozialistisch orientierten Verbänden vorerst skeptisch gegenüberstanden, konnten sie diese nicht einfach ignorieren, so dass sie allmählich als legitime Interessensverbände wahrgenommen und akzeptiert wurden. Die Blinden gründeten folglich die ersten Selbsthilfeorganisationen, in denen Menschen mit körperlichen Funktionseinschränkungen sich gegen Bevormundung und für mehr Gleichberechtigung zusammenschlossen (vgl. ebd.: 142). 

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Krüppelanstalten: Eine weitere institutionelle Reaktion auf beispielsweise »verkrüppelte« Menschen stellten die ab ca. 1832 entstehenden Krüppelanstalten53 dar. Ziel dieser zumeist als Internate geführten Einrichtungen war es, verkrüppelte Kinder, die keine beruflichen Perspektiven hatten, durch mechanische Übungen in die Lage zu versetzen, entweder eine einfache Tätigkeit in einer Fabrik ausführen zu können oder aber innerhalb der Anstalt einer Arbeit nach gehen zu können, um so keinem Müßiggang oder Laster zu verfallen. Typische Berufe waren Schuhmacher, Korb- und Stuhlflechter oder Schneider. Träger der Einrichtungen war zumeist die evangelische Innere Mission. Die Gründungswelle erfolgte um die Jahrhundertwende: 1896 gab es 10, 1909 bereits 39 Krüppelanstalten (vgl. ebd. 1990: 143).  Idiotenanstalten: Als letzte Sondereinrichtungen entstehen ab Mitte des 19. Jahrhunderts spezielle Anstalten für Menschen mit geistigen Funktionseinschränkungen. Erst seit diesem Zeitpunkt nahm man diese Menschen als eine gesonderte Gruppe mit eigenen Bedürfnissen wahr. Vorher lebten sie in Hospitälern, Irrenoder Taubstummenanstalten, Arbeits- und Zuchthäusern oder Armenhäusern. Die ersten Idiotenanstalten wurden auf Initiative von Taubstummenlehrern gegründet, die für Kinder aus wohlhabenderen Familien, die in Taubstummeneinrichtungen keine adäquate Betreuung erhielten, spezielle Einrichtungen forderten (vgl. ebd.: 144ff.). Etliche der Idiotenanstalten gehen jedoch auch aus den Bewahr- und Rettungshäusern für verwahrloste Kinder hervor, indem diese eine kontinuierlich wachsende Anzahl von Kindern mit geistigen Funktionseinschränkungen aufnahmen. »Die Notwendigkeit solcher neuen Anstalten begründete man mit den miserablen Lebensverhältnissen geistig behinderter Menschen: Viele leben am Rand der Gesellschaft, verwahrlost und in Schmutz und Elend. Oft könnten die Eltern ihre behinderten Kinder nicht richtig fördern, weil sie kein Geld, keine Zeit, keine Geduld oder kein Geschick dazu hätten. Ärzte und Pädagogen beklagen meist die physische und geistige, Pastoren mehr die sittliche und seelische Verwahrlosung.« (Ebd.: 145) Die Anmeldezahlen überstiegen bald die vorhandenen Plätze um ein vielfaches, was auf einen hohen gesellschaftlichen Bedarf verweist. Der Staat übertrug zwar die gesetzliche Fürsorge den Landes- bzw. Ortsarmenverbänden, investierte aber darüber hinaus keine finanziellen Mittel in die Einrichtungen, so dass sie sich größtenteils in caritativer Trägerschaft befanden. Die Einrichtungen sorgten auch selbst für eine wachsende Nachfrage, da sie erstens aktiv Einfluss auf beispielsweise Pastoren nahmen, »schwachsinnige« Kinder zu melden und zweitens Eltern 53

Hierzu siehe auch ferner Kapitel 2.2.

5. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Moderne (18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts)

darüber informierten, dass gesunde Kinder durch »schwachsinnige« Kinder angesteckt werden könnten (vgl. ebd.: 146). Auch wurde die Angst der Bevölkerung vor »blödsinnigen« Menschen geschürt, da sie scheinbar boshaft, zornig, rachsüchtig und überdurchschnittlich kriminell waren (vgl. ebd.). Die meisten Einrichtungen begannen als »Heilanstalt für Schwachsinnige und Idioten«. Jedoch zeigte sich auch hier sehr bald, dass eine »Heilung« nur in seltensten Fällen eintrat, so dass die heranwachsenden Insassen häufig aus Kostengründen in die billigeren Armen- und Arbeitshäuser oder Irrenhäuser überwiesen wurden bzw. sich sukzessive reine Pflegeeinrichtungen gründeten (vgl. ebd.: 147). 1862 gab es in Deutschland 12 dieser Anstalten mit 350 Insassen (29 pro Einrichtung). 1904 waren es bereits 100 Anstalten mit insgesamt 23.000 Insassen (230 pro Einrichtung) (vgl. ebd.: 148). Dieser rapide Anstieg blieb nicht ohne Folgen für die architektonische Struktur: Die großen Einrichtungen waren kasernenartig gebaut. Die personelle Struktur musste sich ebenfalls den Größenverhältnissen anpassen. An die Stelle der früheren persönlichen Beziehung des Anstaltsleiters zu seinen etwa 20-30 Insassen tritt nun »die notwendig feste Organisation, Verwaltung und Überwachung von Hunderten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durch angestellte Wärter« (ebd.: 149). Die Menschen mit geistigen Funktionseinschränkungen wurden zum Objekt eines großen Betriebes. In der Theorie versuchte man durch die Großeinrichtungen, den Einzelnen nach Alter, Geschlecht und Krankheitsbild zwar individuelle Fürsorge zukommen zu lassen, in der Praxis – vor allem aufgrund des geringen Sozialprestige des Pflegeberufes – wendete man in diesen Einrichtungen häufig drastische Züchtigungsmethoden (beispielsweise Zwangsjacke) an, die zur selben Zeit in der Psychiatrie bereits größtenteils abgelehnt wurde bzw. nur noch selten zum Einsatz kam (vgl. ebd.: 153). Die Heil- und Pflegeanstalten wurden immer mehr zu Bewahranstalten, in denen eine relativ hohe Sterblichkeitsrate durch Tuberkulose zu verzeichnen war. Zwei Jahrzehnte nach der ersten Gründungswelle mussten die Behindertenpädagogen feststellen, dass der Ruf der Einrichtungen in der Öffentlichkeit äußerst schlecht war, der Idiotismus als Übel und die Insassen als ansteckend betrachtet wurden, was wiederum auch dem Ansehen der Profession schadete (vgl. ebd.).  Zusammenfassung: Insgesamt kann festgestellt werden, dass ab dem 19. Jahrhundert Menschen, die sich außerhalb des zunehmend enger werdenden Bereichs der gesellschaftlichen Normalität befanden, in differenzierten Sondereinrichtungen untergebracht und somit dem Blickfeld der Öffentlichkeit entzogen wurden. Die Grenzen, die den Übergang von Normalität und Abweichung markieren, wurden durch medizinische und pädagogische Professionen »kontrolliert« und anhand naturwissenschaftlicher Methoden objektiv legitimiert.

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Was ist Behinderung?

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Zusammenfassung und weiterführende Reflexionen

In der Moderne änderte sich der Blickwinkel auf den Menschen: Der Körper und seine Gesundheit gewannen gegenüber der Seele und damit auch das Leben im Diesseits gegenüber dem im Jenseits sukzessive an Bedeutung. Während man im Mittelalter die Ursache von Krankheiten und Funktionseinschränkungen größtenteils im Wirken göttlicher oder dämonischer Macht54 vermutete, suchte man in der Moderne immer mehr nach naturwissenschaftlichen Erklärungen (vgl. Hagner 2003: 45). Die Deutungshoheit über unerklärliche Phänomene bezüglich Krankheiten und Funktionseinschränkungen ging von den Händen der Theologen in die der Mediziner über, die, nachdem sie sich der Naturwissenschaft zugewendet hatten, auch immer größere Heilungserfolge zumindest bei Krankheiten erzielen konnten, wobei hier zu vermerken ist, dass sie diese Deutungsmacht bereits lange Zeit vorher durch die Nähe zum Bürgertum, durch moralische Argumentationen und Rechtfertigungen erhalten hatten (vgl. Roelke 2017: 155). »Erst als die Naturwissenschaft Bezugswissenschaft auch der Medizin wird, werden Subjekt und Moral verdrängt, die Gesundheitslehre der Vorepoche ins Reich der Spekulation verwiesen: Die objektive Methode der Naturwissenschaft wird zur Wahrheit schlechthin, Gesundheit/Krankheit als Erscheinungsform des Lebens zu statistischen und physisch-chemischen Normen und Gesetzen in »Maß, Zahl und Gewicht«.« (Labisch 1987/88: 437) Der Drang, alles zu vermessen, ist ein wesentliches Charakteristikum der Moderne, da damit immer der Schein der Objektivität einhergeht, die zum Maß aller Dinge geworden ist.55 Die Kontrolle über die menschliche Natur stieg dadurch kontinuierlich an. Die Monopolisierung der sozialen Sicherheit beispielsweise durch die Einführung der Krankenkassen war hierbei von besonderer Bedeutung, denn erst damit wurde die Verantwortung über den Körper und seine Gesundheit auch gesetzlich vollständig der Medizin zugeschrieben (vgl. Labisch 1989a: 27). Die Körperhygiene wurde zur Staatshygiene, und Hygiene bedeutete hier in letzter Kon-

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Für das Mittelalter sind Menschen, die stark vom Erscheinungsbild der damaligen Mitmenschen abwichen, in dem 1557 erschienenen Buch »Wunderwerck oder Gottes unergründtliches Vorbilden« von Conrad Lycosthenes bildlich eindrucksvoll dargestellt. Als Ursache für diese »Wunderwercke« galt beispielsweise eine sodomitische Verbindung der Eltern. »Dieses analytische Denken der bürgerlichen Gesellschaft verändert nicht nur das Bild von der Natur und von der Gesellschaft, sondern auch das Bild vom Menschen: Der einzelne Mensch wird als Persönlichkeit weniger durch seine verwandtschaftlichen Bindungen und seine Standeszugehörigkeit definiert, sondern eher als autonomes »Individuum« wahrgenommen. Und erlebt sich auch selbst so – die Entstehung der Autobiographie als Literaturgattung bezeugt diesen Prozeß.« (Fandrey 1990: 114)

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sequenz auch die »Säuberung« des Staatskörpers von den ihn bedrohenden gesellschaftlichen Elementen. Die »Logik der Trennung« – das entscheidende Prinzip der Moderne und vor allem der Naturwissenschaften – führte dazu, dass sich die medizinische Versorgung immer weiter verbesserte und immer mehr Menschen schwere Unfälle oder komplikationsreiche Schwangerschaften und Geburten überlebten – häufig mit entsprechenden bleibenden Funktionseinschränkungen. Die einzelnen Krankheiten und Funktionseinschränkungen rückten immer mehr zuungunsten des kranken Menschen als Einheit in den Vordergrund der Wahrnehmung. Laborwerte bzw. Durchschnitts- und Grenzwerte lösten das teleologische Denken endgültig ab. Der naturwissenschaftliche Blick führte jedoch gleichzeitig zu einer Reduktion des Menschen auf physikalische und chemische Naturgesetze (vgl. Dörner 2004: 156). Dieser Blick war eine der Voraussetzungen für den an Vernunft und Leistung orientierten bürgerlichen Wertekanon, als dessen Kontrast diejenigen Menschen in Erscheinung traten, die diesem Kanon nicht entsprachen und daher den jeweiligen Institutionen und Professionen zugeführt wurden (vgl. ebd.). Die Kontrolle über die außermenschliche Natur erhöhte sich durch das naturwissenschaftliche Wissen, also mit der Erkenntnis, dass die Natur zwar blind, ziellos und zwecklos ist, aber nach bestimmten erklärbaren Gesetzmäßigkeiten funktioniert. Dadurch verringerte sich auf der einen Seite die Abhängigkeit von der außermenschlichen Natur, auf der anderen Seite allerdings erhöhte sich mit der dadurch angestoßenen Veränderung der Arbeitswelt (z.B. zunehmender Handel) die Abhängigkeit von anderen Menschen.56 Veränderungen der Umgangsformen sind nach Wouters (1999) zuerst Indizien für die Veränderungen der Machtverhältnisse, also Angewiesenheits- und Abhängigkeitsverhältnisse von Menschen, zweitens sind sie Anzeiger für die Veränderung der Selbstregulierung, mit denen Menschen auf die Anforderungen der Veränderung der Machtverhältnisse reagieren (vgl. Wouters 1999: 17f.). Die Veränderung des Produktionsprozesses und die damit verbundene Verlängerung der Interde-

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»Der gleiche Prozeß, der die Abhängigkeit der Menschen von den unkontrollierbaren Launen der Natur vermindert, verstärkt ihre Abhängigkeiten voneinander. Die gleichen Wandlungen, die den Menschen in Bezug auf nicht-menschliche Kräfte größere Macht und Sicherheit geben, öffnen neuen Quellen der Unsicherheit in ihrem Zusammenleben miteinander. Ähnlich wie früher in ihrem Umgang mit nicht-menschlichen Kräften sehen sich Menschen in ihren Beziehungen zueinander mehr und mehr vor Ereignisse, vor Probleme gestellt, die sich bei dem gegebenen Stand ihrer Orientierungsmittel immer noch ihrer Kontrolle entziehen. Ohne die Eigenart der Veränderungen zu begreifen, die zwar von Menschen herbeigeführt, aber nicht von ihnen beabsichtigt sind, werden sie unaufhörlich genötigt, sich an sie anzupassen und mit den Problemen, die aus ihnen erwachsen, recht und schlecht fertig zu werden.« (Elias 1983: 21f.)

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pendenzketten verändern die Machtverhältnisse und damit das Verhalten der Menschen. Verhaltensweisen und Sitten verfeinerten sich an den europäischen Höfen und in der Folge – wenn auch in anderer Form – in der städtischen bürgerlichen Gesellschaft. Die bürgerlichen Verhaltensweisen rationalisierten sich, wurden homogener und stabiler, was dazu führte, dass jeder, der den steigenden Ansprüchen an die Selbstkontrolle nicht Folge leisten konnte, stärker auffiel als noch im Mittelalter, als Affekte noch spontaner gezeigt und ausgelebt werden konnten. Triebe und Affekte waren aus bürgerlicher Perspektive animalischen Ursprungs und nicht (mehr) kompatibel mit den Ansprüchen an die Vernunft der Individuen der Aufklärung. So erklärt sich, dass diejenigen Menschen, die im Vergleich zum Durchschnittsbürger sehr große Abweichungen aufwiesen, in den Zirkussen und Jahrmärkten des 19. Jahrhunderts wie Tiere vorgeführt wurden; Ihnen wurde der Status als Mensch aberkannt. Dass die Freak-Shows genau in der Zeit auftauchten, in der die medizinische Statistik in Mode kam und damit zusammenhängend sich das Konzept der Norm und des Durchschnitts verbreitete, eugenische Diskurse begannen und Menschen mit Funktionseinschränkungen zunehmend in Sondereinrichtungen interniert wurden, deutet auf eine Veränderung in der Art und Weise hin, wie Menschen über das körperliche Anderssein dachten – Anderssein war nicht (mehr) »normal« (vgl. Davis 1995: 91); es ist aber auch Kennzeichen eines anderen Verhaltensstandards. Bei Betrachtung der »Freaks« konnten Bürger sehen, was die »animalischen unkontrollierten Triebe« aus Menschen machen und sich gleichzeitig ihrer eigenen Normalität versichern (vgl. Hughes 2015a: 127). Generell ist erkennbar, dass der gesamte Bereich des Körperlichen mit Tabus belegt wurde. Der Körper war per se etwas, das an die animalische Herkunft des Menschen erinnert, und durch die Vernunft gesteuert werden musste. Beispielsweise wurde schon allein das Reden über sexuelle Vorgänge als anstößig empfunden. So verbot die bürgerliche Moral zwar keineswegs die Ausübung der Sexualität, forderte jedoch – wie Zweig rückblickend im Jahr 1941 treffend beschreibt – eine heimliche Ausübung: »War die Sexualität schon nicht aus der Welt zu schaffen, so sollte sie wenigstens innerhalb ihrer Welt der Sitte nicht sichtbar sein. Es wurde also stillschweigende Vereinbarung getroffen, den ganzen ärgerlichen Komplex weder in der Schule, noch in der Familie, noch in der Öffentlichkeit zu erörtern und alles zu unterdrücken, was an sein Vorhandensein erinnern könnte.« (Zweig 2006: 88) In der Konsequenz der Tabuisierung des Körpers verursachte bereits das Denken über verschiedene Körpervorgänge Schamgefühle und das Beobachten dieser bei Mitmenschen Peinlichkeitsempfindungen (vgl. Elias 1977b: 403f.). Für das Bürgertum bedeutete die Rationalisierung des Verhaltens nicht nur ein Planen auf lange Sicht, sondern basierend auf einem gemeinsamen Wertekanon,

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der sich gegenüber anderen Gesellschaftsschichten abgrenzte, die Aneignung eines »guten Benehmens« und gepflegter Umgangsformen sowie eines entsprechenden äußeren Erscheinungsbilds und guter Bildung – wodurch eine immer länger werdende Schul- und Lehrzeit57 der Kinder notwendig wurde. Dieser bürgerliche Wertekanon hatte Vorbildfunktion für die unteren Gesellschaftsschichten, von denen er allmählich modifiziert übernommen wurde. Generell stiegen die körperlichen und kognitiven Ansprüche im Zuge der Moderne schicht- bzw. klassenspezifisch an. Während bei den Industriearbeitern eher die physischen Anforderungen wuchsen, waren es bei den Angestellten bzw. den Angehörigen des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums die kognitiven Anforderungen. All diejenigen, die diesen Ansprüchen nicht genügten, fielen negativ auf und benötigten »Korrekturmaßnahmen«. Die Behandlung körperlicher Funktionseinschränkungen lag in den Händen der Medizin, bei geistigen Funktionseinschränkungen, je nach Art, in den Händen der Psychiatrie oder der Pädagogik. Die Medizin entwickelte sich in dieser Zeit, wie Irving Kenneth Zola 1972 feststellte, zu einer »Institution sozialer Kontrolle« (Zola 1972: 487ff.) und hatte somit über die reine Krankenbehandlung hinaus Kompetenzen zugesprochen bekommen, die der Stabilisierung bürgerlicher Wertvorstellungen dienten und sich u.a. in den Institutionen des sozialen Ausschlusses manifestierten: »Insbesondere die Verwendung der leerstehenden Leprosorien als Zuchtanstalten gibt Aufschluß über den Sinn und die gesellschaftliche Funktion der Internierungspraxis, die nun nicht mehr nur die Personen erfaßt, die die Gesellschaft durch ihre Krankheit gefährden, sondern auch solche, die als kranke Elemente der bürgerlichen Gesellschaft auszuschließen sind: der soziale Ausschluß erhält durch die Verknüpfung mit den bürgerlichen Norm- und Wertvorstellungen eine wesentlich größere Dimension, da nun mit anderen Zielvorstellungen zwischen gesellschaftlicher Norm und Abweichung differenziert wird, und damit einhergehend auch mit einer anderen Auffassung von dem, was als gesellschaftliche Abweichung zu bezeichnen ist.« (Mutz 1983: 132)

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»Bei der Entwicklung der individuellen Selbststeuerung, bei der Zivilisation der einzelnen Menschen, schiebt sich gegenwärtig zwischen Kindheit und soziales Erwachsensein eine zehn- bis zwanzigjährige Zwischenstufe, eine ungewöhnlich lange Schul- und Lehrzeit. Die Verlängerung dieser Zwischenstufe hat unter anderem das Auseinanderfallen von biologischer Reife und sozialem Erwachsensein zur Folge. Formell dient diese Zwischenstufe der Aneignung des umfangreichen Spezialwissens, das ein Mensch braucht, um in diesen Gesellschaften die Funktion eines normalen Erwachsenen ausfüllen zu können. Weniger formell betrachtet zeigt sich, daß diese lange Schul- und Lernzeit jedes einzelnen Menschen die Entwicklung einer Selbststeuerung mit sich bringt, die höchst komplex, variabel, stabil und allseitig ist.« (Elias 2006d: 339)

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Der systematische Ausschluss von einzelnen Menschengruppen mit Funktionseinschränkungen ist jedoch nur ein Teilprozess eines umfassenderen gesellschaftlichen Prozesses der Pathologisierung und Normalisierung, der wiederum eng mit industriellen Entwicklungen korrespondierte. Es ist daher sicher kein Zufall, dass die Begriffe »Normal«, »Norm« und »Normalität« erst in der Zeit der Industrialisierung in den englischen Wörterbüchern auftauchten (etwa ab 1840), sie dienten eben auch der ideologischen Konsolidierung des Bürgertums (vgl. Davis 1995: 24 u. 49). Wohn- und Arbeitsort trennten sich im Zuge der Industrialisierung voneinander, wodurch die im Mittelalter vorhandene Integration von produktiver und sozialer Arbeit in zwei Sphären zerfiel: Erstere hatte nun ihren Platz in der Fabrik, letztere in den Sondereinrichtungen – auch dies ein Aspekt der »Logik der Trennung«. Durch diese gesellschaftlichen Entwicklungen wurden Menschen mit Funktionseinschränkungen zu »Störfaktoren« bzw. versorgungsbedürftig. Einerseits wurden viele von ihnen aus dem normierten neuen industriellen Produktionsprozess durch Zeittaktungen oder durch der durchschnittlichen Körpergestalt angepasster Maschinen und Werkzeuge ausgeschlossen58 , andererseits verfügten die Angehörigen – die nun in Kleinfamilien und nicht mehr in erweiterten Hausgemeinschaften lebten – nicht mehr über genügend zeitliche Ressourcen für eine notwendige Betreuung. Die Funktion der Familie reduzierte sich zunehmend auf Zweisamkeit und Reproduktion mit der entsprechenden Arbeitsteilung zwischen Mann (außer Haus) und Frau (im Haus) – womit der Grundstein zur Polarisierung der Geschlechter gelegt war, die es in dieser Form im Mittelalter nicht gegeben hatte (vgl. Dörner 1994: 375f.). Gleichzeitig wurden durch den industriellen Produktionsprozess aufgrund der Arbeit an schweren Maschinen wie durch mangelnden Arbeitsschutz und Umgang mit schädlichen Stoffen, immer mehr Arbeiter dauerhaft körperlich und/oder geistig eingeschränkt. Auf diese sozialen Probleme reagierte die Gesellschaft durch die Schaffung von Sondereinrichtungen. Während Menschen mit Funktionseinschränkungen im Mittelalter noch im Rahmen ihrer Möglichkeiten in Arbeitsprozesse eingebunden waren, wurden sie in den Sondereinrichtungen grundsätzlich von der Möglichkeit abgeschnitten, sich durch Arbeit zum Nutzen anderer Menschen als Menschen zu verwirklichen (vgl. ebd.: 374). Die Ideale der bürgerlichen Bewegung umfassten eben nur diejenigen, die die bürgerlichen Anforderungen erfüllen konnten.

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»The speed of factory work, the enforced discipline, the time-keeping and production norms – all these were a highly unfavorable change from slower, more self-determined and flexible methods of work into which many handicapped people had been integrated.« (Ryan & Thomas zitiert nach Davis 1995: 130)

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»Waren Freiheit und Gleichheit die Ideale, die von der bürgerlichen Bewegung hervorgebracht und getragen wurde, wußte dieselbe, sich befreiende Gesellschaft mit […] Abweichung nicht anders umzugehen, als diese Menschen als Ungleiche […] in Unfreiheit zu behandeln und zu verwalten« (Mutz 1983: 338; Weglassung in Klammern C.E.). In den Sondereinrichtungen wurden Menschen mit Funktionseinschränkungen – wenn auch anfänglich durch das aufklärerische Menschenbild ein gewisser Heilungs- und Bildungsoptimismus vorherrschte – doch relativ bald von Subjekten zu Objekten der Betreuung, Therapie, Korrektur, Pflege, Verwaltung und Verwissenschaftlichung, auch wenn dies häufig mit der vordergründigen Intention der Fürsorge einherging. Die Versorgung dieser wachsenden Menschengruppe wurde professionalisiert, entsprechende Berufe differenzierten sich immer weiter aus. Ziel war es, abweichende Menschen auf den »Pfad der Normalität« zu bringen (vgl. Keupp 2007: 1). Durch die nach der speziellen Funktionseinschränkung ausgerichtete Internierung dieser Menschen an einem Ort wurde zumindest bei einigen dieser so erzeugten Gruppen die Voraussetzung zu einer gemeinschaftlichen Ablehnung der Bevormundung – wie beispielsweise bei den blinden Menschen – angelegt. Die Internierung hat ebenfalls Konsequenzen für die Mitmenschen: Da die Menschen mit Funktionseinschränkungen in den Sondereinrichtungen dem Blickfeld der Öffentlichkeit entzogen und die Kontaktmöglichkeiten in der Öffentlichkeit auf ein Minimum reduziert sind, nimmt zugleich die Fähigkeit der anderen Menschen, mit jenen zu kommunizieren und ggf. zu helfen, ab. Oder wie es Dörner (1994) formuliert: »Die Menschen werden mangels Übung unsozial, […] verlieren etwas von ihrem Menschsein.« (Dörner 1994: 377) Die Vergrößerung der räumlichen Distanz zwischen der »normalen« Bevölkerung und den »anderen« Menschen findet ihre Äquivalenz auch innerpsychisch. Die topographischen Grenzen markieren häufig auch die psychischen Grenzen: Indem man sich von jenen »anderen« Menschen distanziert, distanziert man sich gleichzeitig von seinen eigenen unerwünschten Anteilen, von den Ängsten vor der eigenen »Verletzbarkeit« und der eigenen »Abnormalität«. Dies wiederum kann bis zur offenen Diskriminierung und Aggression gegenüber den »Anderen« führen (vgl. Rommelspacher 1999: 14). Diese Angst kann auch bei den Begründern der Eugenik festgestellt werden. So schreibt Francis Galton: »Ich habe oft das Gefühl, daß das feste Plateau der Vernunft (the table of sanity), auf dem die meisten von uns wohnen, von enger Ausdehnung und von steilen Abgründen ohne Geländer auf allen Seiten umgeben ist, wo wir an jeder Stelle herabstürzen können« (Galton 1908: 38). Der beschriebene Absturz bedeutet hier einen Sturz in das »Inferno der Abnormalität«, der jedem von uns widerfahren kann (vgl. Link 1996: 140).

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In der Moderne richtete sich der Wert eines Menschen tendenziell immer mehr nach seiner Arbeitsleistung, nach seiner Leistungsfähigkeit und seinem wirtschaftlichen Erfolg in der Gesellschaft – also nach etwas quantitativ Messbarem –, so dass alle, die diesen Erfolg nicht vorweisen konnten und beispielsweise von sozialstaatlichen Maßnahmen lebten, als Kostenfaktor in eine Spirale der Abwertung gerieten (vgl. Jantzen 2018: 159).59 Funktionseinschränkungen wurden so zu einem persönlichen »Mangel« (vgl. Hughes 2014: 55). Begleitet von einem scheinobjektiven wissenschaftlichen Diskurs des Sozialdarwinismus und der Rassenhygiene konnten Staats-, Rechts- und Naturwissenschaftler immer mehr Begrifflichkeiten wie »Minderwertige«, »Ballastexistenzen«, »lebensunwertes Leben«, »leere Menschenhülsen«, »geistige Tote« in der Öffentlichkeit verwenden, ohne dass dies eine relevante gesellschaftliche Empörung hervorrief. Aus der soziologischen Analyse der Vergangenheit ist zu erkennen, dass dramatischen soziokulturellen Veränderungen immer sprachlich-begriffliche Änderungsprozesse vorausgehen, so geht auch in diesem Kontext mit den trennenden Begrifflichkeiten eine topographisch-reale soziale Ausgrenzung der mit den neuen Begriffen bezeichneten Menschen einher.60 Die soziale Frage, auf die die Rassenhygiene schließlich der Ansicht war eine Antwort zu geben, lautete: Was machen wir normalen Bürger mit denjenigen Menschen, die nicht so sind wie wir, deren Leistungswert sie industriell unbrauchbar macht; wofür sind sie da, wie gehen wir mit ihnen um und wieviel dürfen sie kosten? (vgl. Dörner 1989: 8; Dörner 1994: 374).61 Dieser Frage wurde vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise während der Weimarer Zeit gesellschaftspolitisch große Aufmerksamkeit gewidmet.62 Aber 59

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Für Menschen, auch ohne Funktionseinschränkung gilt, je höher der Wert der Arbeit gegen Entgelt in einer Gesellschaft für den Einzelnen ist, desto größer ist auch die Sinnentleerung und -entwertung der sozialen Existenz, wenn er oder sie keine Arbeit findet bzw. diese verliert. Mit den bekannten Worten des deutschen Romanisten Victor Klemperer aus seinem 1947 erstmals erschienen Werk »LTI – Notizbuch eines Philologen«, in dem er sich mit der Sprache des Nationalsozialismus auseinandersetzt, wird dieser Prozess folgendermaßen beschrieben: »Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.« (Klemperer 1975: 27) Gewisse Parallelen zur Diskussion über die Möglichkeiten der Biomedizin sind hier unverkennbar. Generell ist festzustellen, dass bei allen Massenmorden – beispielsweise bei den mittelalterlichen Judenpogromen, aber auch dem neuzeitlichen Holocaust – neben theologischen Machtkämpfen und anderen Faktoren (z.B. Schuldzuweisungen für Krankheiten) auch immer eine enge Verknüpfung zu ökonomischen Interessen bestand (z.B. Verbrennung von Schuldscheinen, Einziehung des Vermögens etc.) (dazu ferner Aly 2005). Selbst innerhalb der Gruppen von Menschen mit Funktionseinschränkungen setzte sich hier die »Logik der Trennung« durch, so dass die etwas weniger eingeschränkten darum kämpften, ein wertvollerer Teil der Gesellschaft zu sein und die »Anderen« auf möglichst weite Distanz zu halten (siehe Kapitel 2.1.).

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erst mit einem objektivierten, distanzierten und wissenschaftlichen Blick auf Menschen mit Funktionseinschränkungen wurden diese Menschen in der Folge entpersonalisiert, ihrer Würde und ihres Wertes beraubt, zu »bloßem Leben« reduziert und konnten erst dadurch entsprechend der rassenhygienischen Lösung von anderen Menschen in die Vernichtung geschickt werden (vgl. Hughes 2015b: 107). Diese Menschen wurden nur noch als Angehörige einer Gruppe wahrgenommen, die unterhalb des Menschlichen lag, und nicht mehr als Individuen: »Dabei verlagert sich die Wahrnehmung auf eine abstrakte Ebene. Der andere wird nicht mehr in seiner individuellen Menschlichkeit gesehen. Er ist nur noch Bestandteil einer Gruppe. Seine konkreten Gefühle, Einstellungen und Verhaltensweisen verschwinden aus dem Blickfeld, stattdessen wird seine Persönlichkeit auf eine einzige Eigenschaft reduziert: Die Zugehörigkeit zur Gruppe. Diese Abstrahierung macht ein empathisches Erleben des anderen unmöglich. […] [Sie wird jedoch] zur Basis unserer Beziehung.« (Gruen 2002: 20; Weglassung und Ergänzung in Klammern C.E.) Während menschliches Leiden im Mittelalter mit Blick auf das Jenseits noch einen gewissen religiösen Sinn, nämlich den der Läuterung, Reinigung und Besinnung des Menschen erfüllte, wurde in der säkularisierten Moderne das Leid eines Menschen zu etwas, das nicht sein durfte, und der leidende Körper zum abstoßenden Objekt erklärt.63 Da man Funktionseinschränkungen – im Gegensatz zu möglichen Begleiterkrankungen – nicht kurativ behandeln kann (vgl. Oliver 1996: 36)64 , wird mit der eugenischen Argumentation eine Legitimationsbasis geschaffen, mit der zumindest präventiv auf eine zukünftige »leidensfreie« Gesellschaft eingewirkt werden konnten: Die Euthanasie wird von den Ideologen der Rassenhygiene als ein »Gnadenakt« aufgefasst, der Menschen mit Funktionseinschränkungen von ihrem ihnen unterstellten Leiden erlöst. Sie stellt folglich eine von Mitleid geprägte Art gesellschaftlicher Heilbehandlung dar – die auch als »tödliches Mitleid« bezeichnet wird (vgl. Dörner 1989; Zimmermann 2014: 39). Mit Cloerkes (1980) lässt sich hier

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»Sicherlich haben die Menschen auch in früheren Jahrhunderten gehofft, gesund zu sein und ohne Schmerzen zu leben. Doch war damals ihr Sinnhorizont stark bestimmt von der Religion, die ein Leben nach dem Tod und Erlösung von Leiden verhieß. Das irdische Leben wurde stets vor dem Horizont des ewigen gesehen, war daran gemessen weniger wichtig. Ob man nun zwei Jahre lebte oder zwanzig oder siebzig, was machte das schon, wenn danach die Ewigkeit kam?« (Beck-Gernsheim 1994: 318) In gewisser Weise ist die Funktionseinschränkung in vielen Fällen bereits das Resultat einer Heilung. So setzt beispielweise die Funktionseinschränkung als Folge einer Beinamputation die Heilung der Verletzung und des damit verbundenen pathologischen Prozesses (Bluten, Infektionen, Wundstörungen) voraus (vgl. Kastl 2017: 97).

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anschließen: »Mitleid ist in eine sozial akzeptierte Form überführter Hass und Aggression.« (Cloerkes 1980: 458ff.)65 Dieses Mitleid stellt allerdings ebenfalls eine Art »Selbst-Mitleid« dar. Das Hinnehmen von »Leiden« wird als Kränkung empfunden, was die Unverwundbarkeit im eigenen Selbstbild verletzt und entsprechend abgewehrt werden muss (vgl. Dörner 1989: 90). Kastl und Felkendorf (2014) führen dies weiter aus: »Die scheinbare humane Geste des Bedauerns über ein unterstelltes Leidens schlägt buchstäblich in ein Existenz-Urteil um, beansprucht ein Außenkriterium darüber, ob ein Leben lebenswert sei oder nicht. Im Akt der Einfühlung lauert so der nur versteckte Vernichtungsimpuls.« (Kastl & Felkendorff 2014: 38) Das Ziel des Nationalsozialismus, zur territorialen Weltmacht aufzusteigen, konnte gemäß der Theorie der Rassenhygiene nur mit dem reinrassigen »Übermenschen« gelingen. Nietzsche mahnte bereits 1893 »Nicht fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf!« (Nietzsche 1984: 68). Hierfür mussten alle »Schwachen« ausgemerzt, die »entarteten«, »genetisch degenerierten« Teile der Gesellschaft »ausgesiebt« – vor allem, da ihre Versorgung unnötig viel Geld kostete –, und die Reproduktionsraten erbgesunder Bevölkerungsteile entsprechend gefördert werden. Eine Gesellschaft, die sich ihres sogenannten »sozialen Ballastes« entledigt, war nach nationalsozialistischer Weltansicht wirtschaftlich und militärisch unschlagbar (vgl. Dörner 1989: 10). In Verbindung mit der Ausbreitung des ökonomischen Denkens auf Bereiche der menschlichen Fürsorge hat der Nationalsozialsozialismus mit der praktischen Durchführung der »Vernichtung lebensunwerten Lebens« einen letzten und absehbaren Schritt vollzogen, dessen Richtung zuvor von (natur)wissenschaftlichen

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Mit Rommelspacher (1999) ist hier etwas abgeschwächter zu ergänzen: »Mitleid fordert in der Regel vom Behinderten Dankbarkeit und Anpassung an die erwartete Rolle und gibt dabei den Nichtbehinderten das Gefühl von Überlegenheit, so daß sie vielfach glauben, sie könnten ihnen ohne weiteres nahetreten, sie betasten, befragen und sie auf vertrauliche Weise ansprechen. Der Anspruch auf Schutz der Persönlichkeit und der Privatsphäre wird oft bedenkenlos suspendiert« (Rommelspacher 1999: 10). Rommelspacher (1999) zieht hieraus den folgerichtigen Schluss, dass Menschen mit Funktionseinschränkungen über Mitleid als ernstzunehmendes Gegenüber entwertet werden (vgl. Rommelspacher 1999: 15). Der Schlachtruf »Piss on Pity« der Behindertenbewegung zielt genau darauf ab. Mitleid ist in der christlichen Tradition aber auch ein zutiefst menschliches Gefühl, durch das wir uns in andere Menschen hineinversetzen können (aus der Gehirnforschung ist bekannt, dass dies durch sogenannte Spiegelneuronen verursacht wird), das erst eine Identifikation mit dem »leidenden« Anderen ermöglicht und so die Grundlage der Caritas bildet. Dennoch wird dieses Leid häufig einfach unterstellt – gerade wenn die betreffende Person über keine entsprechenden Ausdrucksmöglichkeiten verfügt.

5. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Moderne (18. bis Mitte des 20. Jahrhunderts)

Disziplinen theoretisch legitimiert und später durch Mediziner – trotz ihres hippokratischen Eides – praktisch durchgeführt wurde.66 »Zerstörerisch wurde und wird die Wahrheitssuche in der Medizin dann, wenn sie ihr eigenes Ziel, die Heilung des einzelnen Kranken, die Linderung seiner Leiden, das nil nocere aus dem Auge verliert, wenn sie zum Selbstzweck wird und sich »übergeordneten« Zielen verschreibt.« (Pross & Aly 1989: 12) Wenn Menschen nur noch als »Dinge« bezeichnet und wahrgenommen werden, nutzt auch kein hippokratischer Eid. Hier zeigt sich offen, in welche Richtung sich eine der Objektivität verschriebene Wissenschaft entwickeln kann, wenn ihr keine Grenzen durch entsprechende ethisch-rechtliche Grundlagen gesetzt werden. Wissenschaft selbst bringt per definitionem keine ethischen Grundlagen hervor; ihre Aufgabe ist es, zu machen, was möglich ist, und der völligen Entgrenzung aller Möglichkeiten müssen ihr durch soziale Instanzen – durch Recht und Ethik – Grenzen gesetzt werden. Die Beseitigung des »sozialen Ballasts« löste in der Bevölkerung nur vereinzelt Widerstand aus – zumeist von Familienangehörigen, Pfarrern oder mitunter von Leitungen der Sondereinrichtungen (vgl. Rommelspacher 1999: 26).67 Den Angehörigen wurde mitgeteilt, dass die Patient*innen neuartige medizinische Behandlungen in anderen Einrichtungen erhalten und daher verlegt werden müssten. Nach der Tötung erhielten die Angehörigen amtliche Briefe, in denen der Tod aufgrund akuter Erkrankungen oder Komplikationen nach medizinischen Behandlungen mitgeteilt wurde (vgl. Mitscherlich & Mielke 1960). Nach offiziellem Stopp der Mordaktion am 23.08.1941 arbeiteten viele der Anstaltsärzte allerdings »in eigener Regie [weiter] und töteten statt durch Gas durch Injektionen und Vergiftungen oder ließen die Patienten mittels drastischer Kostreduktion verhungern« (Payk 2003: 13f.; Ergänzung in Klammern C.E.). Die eugenischen Diskussionen sowie die daraus gezogenen praktischen Konsequenzen mussten folglich auf eine vorhandene gesellschaftliche Grundhaltung treffen, in der alles »Andere« als eine Bedrohung und/oder ein zu beseitigendes Elend empfunden wurde (Hughes 2014: 52). »Der Zivilisationsprozess mobilisiert Ekel und Verachtung gegenüber körperlicher Differenz und Beeinträchtigung und rechtfertigt damit die Etikette der Ausschließung und Abscheu« (ebd.: 56). In der Moderne verwandelten sich biologische Differenzen, also Abweichungen von der Norm, in sozio-moralische Kategorien, wodurch sich die psychologische

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»Man könnte gut argumentieren, daß die Nazis, genaugenommen, nicht die Resultate der Wissenschaft mißbrauchten, sondern eher das in die Tat umsetzten, was Doktoren und Wissenschaftler selbst schon in Gang gesetzt hatten.« (Proctor zitiert nach Bauman 1992: 77) Allerdings war dieser Widerstand von denjenigen, die in naher Beziehung zu jenen Menschen standen, immerhin so stark, dass die offizielle Aktion gestoppt wurde.

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und soziale Distanz zwischen Menschen mit und ohne Funktionseinschränkungen kontinuierlich erweiterte (vgl. Hughes 2015a: 131). Die Empfindung der Bedrohung durch die »Anderen« und das »Abstoßen« ebendieser manifestiert sich »in unserem kulturellen Hang zur Normalität durch Korrektion, zur Homogenität durch Abwertung von Differenz« (ebd.). Die Sozio- und Psychogenese der Behinderungsprozesse äußert sich in der Formalisierung der Bewertungen von und Reaktionen auf Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Moderne. Je größer und umfassender die menschlichen Figurationen wurden, desto mehr werden Menschen, die sich bereits am unteren Rand der Gesellschaft befanden, systematisch aus ihr entfernt, um die proklamierte »natürliche Ordnung« im äußeren und inneren nicht zu gefährden. Die Ausrichtung der Gesellschaft auf durch Medizin und industrielle Produktionsanforderungen postulierte Durchschnittsmenschen, die Ausrichtung an einer statistischen »Normalität« in Verbindung mit Veränderungen von Familienstrukturen aufgrund der kapitalistischen Arbeitsweise führte direkt zur »sozialen Frage«, deren gesellschaftliche Antwort in der institutionellen Ausgrenzung bestand. Verändert sich die Art und Weise des Zusammenlebens der Menschen, verändern sich auch Einstellungen, Bewusstsein und Verhalten der Menschen und daher verändern sich ebenso die von Menschen geschaffenen Institutionen, die alsbald auf die Gesellschaft zurückwirken und »Normalität« in verwaltungstechnischen Zusammenhängen stabilisieren (vgl. Elias 1977b: 377). Aber die »«Umstände«, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von »außen« an die Menschen herankommt; die »Umstände«, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.« (Ebd.) Und innerhalb der Beziehung der Menschen untereinander haben sich die Wertmaßstäbe menschlichen Lebens aufgrund einer marktwirtschaftlich orientierten Ethik verschoben. Die »Normalität« wurde in der Moderne enger, die Ränder der »Abweichung« hingegen breiter, und alle Menschen, die sich darin befanden, wurden als unerwünschte, die soziale Ordnung destabilisierende Personen bewertet, in verwaltungstechnische Zusammenhänge gefasst und im Extremfall der NS-Morde als Objekte einer »Endlösung« zugeführt.

6. Gesellschaftliche Konstruktion von Normalität und Abweichung

Ein Blick in soziologische Untersuchungen mag helfen, zu einem besseren Verständnis von Normalität und Abweichung zu gelangen: Der Mensch als instinktarmes »Mängelwesen« (Gehlen 1940) benötigt soziale Normen zur Orientierung. Dabei sind Normen und Normativität als deren abstraktes Konzept als explizite oder implizite Handlungsanweisungen zu verstehen, die bereits vor dem eigentlichen Handeln bekannt sind; sie sind prä-existent und wirken durch ihre Verinnerlichung im Laufe der Sozialisation komplexitätsreduzierend und verhaltensregulierend, da sie die Möglichkeiten individuellen Verhaltens einschränken. Erst eine Abweichung von der gesellschaftlichen Norm ruft den Menschen die Gültigkeit dieser Norm in Erinnerung (vgl. Link 1998: 254). Es geht hier folglich um »juristische Regeln, um Gesetze und ihre Auslegung, und darüber hinaus auch um ethische Normen, um Ge- und Verbote.« (Link 2004: 132) Waldschmidt (2004a) trennt gemäß dem Ansatz von Link (1996) die normative von der normalistischen Norm. Im ersten Falle führt eine von außen gesetzte Norm oder Regel zum Verhalten vieler Menschen, im zweiten Falle führt das Verhalten vieler Menschen zur normalistischen Norm. Die normalistische Norm ist daher mit »Normalität« gleichzusetzen und entsteht durch den statistischen Abgleich mit den Anderen, sie ist daher auch flexibler und wandelt sich schneller als die normative Norm oder Normativität, die starrer und auf Stabilität ausgerichtet ist (vgl. Waldschmidt 2004a: 149ff.).1 Auch die normalistische Norm hat eine Orientierungsfunktion, nur ist diese subtiler als bei der normativen Norm. »Ganz freiwillig, im Zeichen von Autonomie und Selbstbestimmung, orientieren wir uns

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Durkheim beispielsweise bezeichnet all diejenigen Phänomene als normal, die allgemein in einer Gesellschaft vorkommen. »Folglich sind auch abweichende Verhaltensweisen als normal anzusehen. Den entscheidenden Indikator, ob eine bestimmte Abweichung als normal oder pathologisch anzusehen ist, stellt ihr jeweiliger prozentualer Anteil am sozialen Gesamtgeschehen dar. Erst wenn beispielsweise die Anzahl der Verbrechen das übliche Maß übersteigt, ist eine Kriminalitätsrate als unnormal einzuordnen.« (Waldschmidt 2004a: 143f.)

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an der Mitte der Gesellschaft, an den Durchschnittsnormen. Wir wollen so leben wie andere auch; wir wollen vor allem »normal« sein. (Waldschmidt 2004a: 150) Ob ein Verhalten als »normal« anzusehen ist, kann erst im Nachhinein durch die Positionierung des Verhaltens in der konkret-empirischen Verteilungskurve festgestellt werden, Normalität ist daher post-existent (vgl. Link 1998: 255.). »Während [normative] Normen äußerlich gesetzt sind – den Individuen also beispielsweise in Form ethischer, rechtlicher oder sozialer Vorschriften vorgegeben werden, deren Einhaltung in der Regel sanktioniert wird –, basiert Normalität wesentlich auf Vergleichen. Normalität ist das, was in der Gauß’schen Normalverteilung in den mittleren, durchschnittlichen Bereich fällt.« (Dederich 2007: 134; Ergänzung in Klammern C.E.)2 Normalität benötigt zwingend Ränder, um statistisch in der graphischen Darstellung überhaupt als Glockenkurve in Erscheinung zu treten. Wenn es beispielsweise keine unteren Ränder (Extremwerte) gäbe, liefe die Mehrheit der Bevölkerung Gefahr, selbst Randgruppe zu werden (vgl. Rommelspacher 1999: 30). Der Begriff der Normalität kann aus diesen Gründen nur auf und in verdateten Gesellschaften – also auf Bevölkerungen, die sich in statistischen Verwaltungszusammenhängen befinden – angewendet werden. Mit den Worte Links (2004): »Während alle menschlichen Gesellschaften Normativität kennen, gibt es Normalität erst, seit es verdatete Gesellschaften gibt, das heißt erst seit dem 18. Jahrhundert in Europa und Nordamerika.« (Link 2004: 133) Daraus lässt sich schlussfolgern, dass man in Bezug auf das Mittelalter eher von einer Alltagserfahrung anstelle einer Normalitätserfahrung sprechen sollte: Wie viele Schläge im Mittelalter beispielsweise ein Knecht in Nürnberg durchschnittlich im Jahr erhielt und welche Anzahl man als »normal« betrachten konnte, gehörte nicht zum Wissensfundus der handelnden Person (vgl. Link 1998: 256). Selbstverständlich konnte diese Person sich und ihr Handeln mit dem Handeln der sie umgebenden Personen vergleichen, doch erstens war dieser Radius im Gegensatz zu dem eines Menschen der Moderne relativ gering, und zweitens standen ihr noch keine Statistiken als Wissensquelle zur Verfügung. Waldschmidt (1998) folgert daraus: »Normalität ist das Ergebnis eines modernen Dispositivs, das die Subjekte in der Ausrichtung ihres Verhaltens beeinflußt und zugleich von ihnen konstituiert wird. Als ihr Gegenpol wird mittels diskursiver und operativer Strategien »Abweichung« konstituiert« (Waldschmidt 1998: 11). Und da für die Wahrnehmung von Menschen mit Funktionseinschränkungen keine »Baseline«, kein absoluter Nullpunkt für »normales« Aussehen und/oder Ver2

»Normalität ist also keine natural gegebene und nachwachsende Ressource, sondern stets Produkt von Normalisierung, d.h. von Normalisierungs-Dispositiven und demnach exklusives Produkt moderner Gesellschaften.« (Link 1996: 425; Hervorhebung i.O.)

6. Gesellschaftliche Konstruktion von Normalität und Abweichung

halten existiert, ist diese Wahrnehmung der Abweichung im hohem Maße historisch bedingt und kontextabhängig. In der Regel schließen Menschen vom Gewohnten auf das Gewünschte, so dass die Grenzen zwischen Normalität und Normativität häufig fließend sind. Anders formuliert: wenn von normalen Verhaltensweisen oder einem normalen Aussehen die Rede ist, schwingt auch immer ein großer Anteil Wünschenswertes oder Gefordertes, also Normatives mit (vgl. Schulze 2011: 104ff.). Das »Gewünschte« wird vor allem geprägt von denjenigen Autoritäten, die über normative Macht verfügen; und das Durchschnittliche bzw. das Normale wird durch statistische Methoden eruiert, festgelegt und beispielsweise in Klassifikationssystemen angewendet (Medizin) und wirkt so wieder auf die Wahrnehmung des Einzelnen zurück. Dabei sind Klassifikationssysteme ebenfalls menschliche Konstrukte, die soziale und ideologische Strukturen der jeweiligen Gesellschaft widerspiegeln, die sie hervorgebracht hat, und kein Abbild einer ontologischen Wirklichkeit (vgl. Nestawal 2010: 87). Indem etwa diejenigen Personen, die von der Norm abweichen, in Sondereinrichtungen »behandelt« werden und daher aus dem Blickfeld der Gesellschaft verschwinden, werden diese Personen in der Öffentlichkeit zunehmend auch als deviant wahrgenommen – und so im Umkehrschluss eine bestimmte Form der Normalität konstruiert. Mit den Worten Foucaults (1976): »Das, wodurch die Macht im 19. Jahrhundert wirkt, ist die Gewohnheit, die bestimmten Gruppen auferlegt wurde. Die Macht kann ihren Aufwand von früher aufgeben. Sie nimmt die hinterlistige, alltägliche Form der Norm an, so verbirgt sie sich als Macht und wird sich als Gesellschaft geben.« (Foucault 1976: 123) Diese strukturelle Machtverschiebung – also von ehemals starker äußerer Gewalteinwirkung bei Übertretungen von Regeln (Fremdzwang) zur einer von innen heraus wirkenden Selbstregulierung (Selbstzwang) –, wird durch institutionelle Verankerung gefestigt bzw. durch schulische, medizinische, juristische und psychologische Instanzen kontrolliert und so wird eine bestimmte Form von Normalität geschaffen und aufrechterhalten. Umgekehrt führt eine geänderte Normalität häufig zu entsprechenden Gesetzesänderungen, also einer geänderten Normativität, wodurch wiederum Normalität gefestigt wird (vgl. Link 2004: 134). Für Menschen mit Funktionseinschränkung sind vor allem die gesellschaftlichen Grenzen zwischen Normalität und Abweichung von zentraler Bedeutung. Hierbei muss bedacht werden, dass die Bereiche von Normalität und Abweichung nicht dichotom voneinander getrennt sind, sondern sich auf einer Achse befinden, auf der sich die Grenzen verschieben können. Link (1996) unterscheidet zwei komplementäre gesellschaftliche Strategien zur Grenzziehung bzw. -verschiebung: Die protonormalistische Strategie und die flexible Normalisierungsstrategie. Die protonormalistische Strategie baut strikt auf dichotome und undurchlässige Trennung zwischen Normalem und Pathologischem, auf Ausgrenzung der Abwei-

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chenden (beispielsweise Anstaltsverwahrung von psychisch kranken Menschen). Die Normalitätsgrenzen sind relativ starr und häufig kaum überwindbar (vgl. Link 2004: 135). Die flexible Normalisierungsstrategie dagegen geht von dem Ideal einer variablen Verteilung der Menschen in der Gesellschaft aus, die immer auch wieder veränderbar sind. Die inzwischen weitgehend aufgehobene Ausgrenzung von Homosexuellen in nord- und westeuropäischen Gesellschaften wäre hierfür ein Beispiel: Erst durch die gestiegene Toleranz in der Gesellschaft gegenüber scheinbaren Abweichungen von einer angenommenen »Normalität« haben sich die medizinische Diagnose und später die gesetzliche Norm (Strafparagraf 175 wurde 1994 abgeschafft) verändert. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Homosexualität bereits als »normal« bewertet und wahrgenommen wird, es gibt immer noch gesellschaftliche Stigmatisierung und strukturelle Diskriminierung – jedoch in einem weitaus geringeren Maße als zu früheren Zeiten. Elias würde hier von einem »Nachhink-Effekt« des menschlichen Habitus‹ sprechen. Der flexible Normalismus kann als Selbstnormalisierung, als »Selbstverdurchschnittlichung« des Individuums angesehen werden und entspricht mit Einschränkungen den von Elias beschriebenen Selbstzwängen und der Erweiterung der »Spielarten« bei gleichzeitiger Reduzierung gesellschaftlicher Kontraste (vgl. Dederich 2007: 137). Die Verbindung zwischen Protonormalismus und flexiblen Normalismus ist bildlich als ein Gummiband vorzustellen: Wird das Band zu stark in Richtung des scheinbar Abnormalen überdehnt, so dass es zur normalen Mitte reißt, erfolgt ein Umschlag zum Protonormalismus (hierfür ist die Forderung nach lebenslanger Verwahrung von Sexualstraftätern ein Beispiel). Waldschmidt (2004a) fasst die Entwicklung zusammen: »Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist in den westeuropäischen Gesellschaften der Protonormalismus, der durch die Dichotomie von normal/gesund und abnorm/krank gekennzeichnet ist und starre Ausgrenzung der Abweichenden beinhaltet, zwar nicht völlig verschwunden, so doch zumindest auf dem Rückzug. Gleichzeitig haben sich flexible-normalistische Strategien verstärkt durchgesetzt. Mit ihnen sind innerhalb der normalistischen Felder größere Normalitätsspektren und variable Grenzziehungen möglich.« (Waldschmidt 2004a: 151f.) Der Protonormalismus ist beispielsweise in den heutigen pränataldiagnostischen Maßnahmen erkennbar, auf die weiter unten noch intensiver eingegangen wird. Die flexible-normalistische Strategien äußern sich beispielsweise in Inklusionsbestrebungen des Bildungssystems, der Akzeptanz pluralistischer Lebensformen und der rechtlichen Gleichstellung der Menschen. Das bedeutet, beide Strategien wirken gleichzeitig, wenn auch mit unterschiedlicher sozialer Dominanz, in der Gesellschaft.

6. Gesellschaftliche Konstruktion von Normalität und Abweichung

Dass es in der Nachkriegszeit zu einer Ausdehnung des Normalitätsspektrums gekommen ist, hat mit der relativen Angleichung der Machtgefälle verschiedener Gesellschaftsschichten zu tun, in deren Folge sich beispielsweise auch die normative Gleichstellung vollziehen konnte. In diesem Zuge kommt es zu einer Abflachung des Formalitäts-Informalitäts-Gefälles, zu einer »Gleichzeitigkeit formeller und informeller Verhaltenssteuerung« (Elias 1989: 41). Das Verhalten von Menschen sowohl bei formellen als auch bei informellen Anlässen gleicht sich, zumindest gemessen an der der Zeit vor den 1960er Jahren, an, die Differenz ist nicht mehr so groß wie früher, die Pole nicht mehr so weit voneinander entfernt. Im Viktorianischen Zeitalter oder in der Wilhelminischen Ära war dieses Gefälle beispielsweise deutlich steiler, was sich in einer stärkeren Doppelmoral ausprägte. Die Entwicklung des Gefälles verläuft keineswegs gradlinig; was erkennbar ist, sind Schwankungen in die eine oder andere Richtung. Die Struktur dieses Gefälles wandelt sich im Laufe der Entwicklung einer Staatsgesellschaft, und die Entwicklung in eine bestimmte Richtung stellt wiederum einen Aspekt des Zivilisationsprozesses dar (vgl. ebd.: 44). In einem etwas anderen Zusammenhang beschreibt Elias diese Entwicklung mit einer Verringerung der gesellschaftlichen Kontraste bei gleichzeitiger Vergrößerung der Spielarten oder Schattierungen des Verhaltens der Einzelnen (vgl. Elias 1977b: 342ff.). Die Kontraste im Verhalten und Empfinden der Menschen haben sich in der Postmoderne angenähert, und zugleich sind die Normen, die das Verhalten und Empfinden regulieren, flexibler geworden (vgl. Wouters 1999: 53). Bis zu einem gewissen Grad gibt es immer mehr Platz für individuelle Eigenheiten im gesellschaftlichen Zusammenleben. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass die früher ausgelebten Affekte (aggressive Triebe) von Menschen in der Postmoderne nicht einfach verschwunden sind, hierfür sind spezielle Räume (Sportereignisse, Karneval etc.) entstanden, in denen ein »controlled decontrolling of emotional controls« (Elias zitiert nach Wouters 1999: 55) nicht nur möglich, sondern häufig ausdrücklich erwünscht ist. Starken ÜBER-ICH-Zwängen können heutige Menschen so temporär entfliehen und ihre aggressiven Triebe in gesellschaftlich akzeptierter Form – bis zu einem gewissen Maß – ausleben. Diese Entwicklung konnte sich allerdings nur unter Zunahme des gesellschaftlichen Zwangs zum Selbstzwang vollziehen, die größere Spielräume individueller Ausprägung zulässt. Wie die Entwicklung zukünftig verlaufen wird, bleibt abzuwarten. Das Ausmaß des Spektrums von Normalität und Abweichung hängt allerdings zweifellos mit dieser Entwicklung zusammen und beeinflusst somit auch die Dominanz der gesellschaftlichen Strategien zur Grenzziehung bzw. -verschiebung.

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7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

7.1

Postbürgerliche Gesellschaftsstrukturen und Mentalitäten

Der Begriff der Postmoderne ist nicht eindeutig definiert, jedoch weist der Begriff darauf hin, dass sich die Gesellschaft seit dem zweiten Weltkrieg in eine bestimmte Richtung verändert hat.1 Ob diese Gesellschaft eher als »Gesellschaft der Individuen« (Norbert Elias), »Erlebnisgesellschaft« (Gerald Schulze), »Postindustrielle Gesellschaft« (Daniel Bell), »Postkapitalistische Gesellschaft« (Ralph Dahrendorf), »Risikogesellschaft« und »Reflexive Moderne« (Ulrich Beck), »Postmoderne Gesellschaft« (Michel Foucault, Zygmunt Bauman) oder »Postbürgerliche Gesellschaft« bezeichnet werden kann, wird kontrovers diskutiert. Jeder Akteur setzt in dieser Diskussion andere Schwerpunkte, allerdings herrscht Einigkeit darüber, dass die Nachkriegsjahre als eine Zeit charakterisiert werden können, in der es vor dem Hintergrund staatlicher Demokratisierungs- und wirtschaftlicher Globalisierungsprozesse und in Verbindung mit einem entsprechenden Wirtschaftswachstum zu einem Individualisierungs- und Pluralisierungsprozess, also einer umfassenden Freisetzung des Individuums aus traditionellen Vorgaben bei gleichzeitiger Erweiterung der Möglichkeit zur Auslebung alternativer Lebensformen2 gekommen ist (vgl. Yildiz 1997: 17ff.). Das Umfassende daran ist, dass dieser Prozess erstmalig in der Geschichte nicht nur einen kleinen gesellschaftlichen Kreis tangiert, sondern alle zumindest in West- und Mitteleuropa lebenden Menschen – im unterschiedlich

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Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Beschreibung der sozialen Prozesse, die in einer Gesellschaft zu beobachten sind, zwar eine Richtung haben, immer aber auch Gegenströmungen existieren. Soziale Prozesse wie Demokratisierung und Pluralisierung sind seit dem Zweiten Weltkrieg dominierend gegenüber anderen Strömungen, die allerdings nicht verschwunden sind – wie der Zuwachs von Stimmenanteilen der AFD unlängst wieder deutlich gemacht hat. Empirisch kann dies sehr einfach durch die ungebremste Zunahme von Einpersonenhaushalten nachgewiesen werden.

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großen Ausmaß – einschließt, wodurch sich auch die Grenzen zwischen gesellschaftlichen Klassen und Schichten und später zwischen Mehrheiten und Minderheiten zwar nicht vollständig aufgelöst, gleichwohl aber relativiert haben.3 In diesem Prozess haben sich institutionelle Funktionen verschoben: Während im Mittelalter bis in die Moderne hinein Familien und Nachbarschaften als Solidargemeinschaft direkt und Gott als übergeordnete Instanz indirekt Schutz und Sicherheit boten, wurden diese Funktionen zum Ende der Moderne, und noch umfassender in der Postmoderne, von staatlichen Strukturen übernommen und in Verbindung mit wirtschaftlichem Aufschwung und gesetzlich verankerten Rechten (z.B. Frauenrechte, Minderheitenschutz) die Menschen aus ihren traditionellen Bezügen fast vollständig »befreit«. Das »Soziale« ist nicht mehr das schicksalhaft Gegebene, sondern kann zu großen Teilen von den Menschen selbst gewählt werden. Der individuelle Weg wird nicht durch die Stände des Mittelalters bzw. Klassen und Schichten der Moderne über die familiäre Struktur vorgegeben, sondern die von Tradition, Religion und sozialer Herkunft freigesetzten Individuen der Postmoderne müssen selbst wählen und Entscheidungen treffen. Das bedeutet nicht, dass Traditionen, Moralvorstellungen oder ethnische Einstellungen gänzlich verschwunden sind, sondern dass sie sich in der Postmoderne ins Private verschoben haben und dort modifiziert rekonstruiert werden können (vgl. Yildiz 1997: 23). Frühere Sinninstanzen verlieren an normativer Bindungskraft, und in diesem Zuge geraten alle – auch wissenschaftliche – Erkenntnisse, die früher einmal unzweifelhafte Fakten geschaffen und Realität erzeugt hatten, ins Wanken. In welchen Dimensionen sich diese Veränderungsprozesse vollziehen, verdeutlicht die Einschätzung Fischers (1992): »Die postmoderne Verrückung besteht nun aber nicht darin, daß sich nur der Fluß unseres Denkens ändert, sondern auch darin, daß das Flußbett, das Fundament selbst betroffen ist.« (Fischer 1992: 12) Naturwissenschaftliche Modelle und medizinische Erkenntnisse – in der Moderne noch Instanzen, die wie die Religion eindeutige Orientierung in der Welt boten – verlieren ihre Eindeutigkeit, werden in immer kürzeren Abständen revidiert. Yildiz (1997) betont, dass ein Wesenskern der Postmoderne das Denken im Plural gegenüber dem Singular der Moderne bildet: »In diesem Zusammenhang sprechen Konstruktivisten nicht von einer »Wahrheit« und »Normalität«, sondern von vielen Wahrheiten und Normalitäten, von multiplen Realitäten, von Mehrfach- und Bastelidentitäten, die unter den Bedingungen der Postmoderne möglich geworden sind.« (Yildiz 1997: 23f.; Hervorhebung C.E.)

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Gleichzeitig sind in der Gegenwart eine extreme Ungleichverteilung von Reichtum, eine Aushöhlung der Staatsmacht sowie eine Erosion der Demokratie und eine Tendenz zur totalen Kontrolle der Bevölkerung mittels IT-Systemen (z.B. Big Data) erkennbar.

7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

Dies alles führt zu Ambivalenzen und Ambiguitäten, zu einem Nebeneinander von gegensätzlichen Lebensentwürfen und sich widersprechenden Möglichkeiten. Die »Freisetzung des Einzelnen« eröffnet einerseits ein breites Spektrum neuer Chancen und Freiheiten (Aufstiegschancen, Entscheidungsfreiheit, Freiwilligkeit des Zusammenlebens etc.), andererseits birgt sie auch neue Risiken und Zwänge (Vorhandensein psychischer Ressourcen, um diese Chancen nutzen zu können, Zwang sich entscheiden zu müssen, immer mit dem Risiko verbunden, die falsche Entscheidung getroffen zu haben, Gefühl der Überforderung durch Wahloptionen, Unübersichtlichkeit der Welt durch Informationsüberflutung etc.). Auf den Punkt gebracht, führt Pluralismus zwar zu einer Vermehrung von Freiheiten, andererseits ebenso zu einer Vergrößerung von Unsicherheiten. Der Umgang mit den sogenannten »Riskanten Freiheiten« (Ulrich Beck) spiegelt sich auch in bestimmten politischen Bestrebungen wider, die – wie Yildiz (1997) treffend formuliert – die »»verlorenen« Werte und Normen wiederherzustellen und dadurch demokratische Strukturen zu unterminieren versuchen. […] Als Ersatz- oder Stützidentität wird nationale Identität als eine die Gesellschaft überwölbende Sinninstanz beschworen. […] Dem Einzelnen, der den Pluralismus der Welten als Überforderung wahrnimmt, soll eine »Gemeinschaft« [wieder] zur Übersicht und Orientierung verhelfen.« (Yildiz 1997: 24; Weglassung und Ergänzung in Klammern C.E.) Als Konsequenz dieser Freisetzung der Menschen aus traditionellen Bezügen verändert sich das Zusammenleben der Menschen, ein Phänomen, das auch am Beispiel von Ehe und Familie aufgezeigt werden kann: Die frühere Funktion der Familie als Institution der Existenzsicherung und Reproduktion steht nicht mehr im Mittelpunkt (vgl. Beck & Beck-Gernsheim 1994: 22).4 Die Existenzsicherung wird im Notfall vom Sozialstaat übernommen, so dass sich Partnerschaft zu einer in bewusster Entscheidung eingegangenen Wahlgemeinschaft entwickeln konnte und dadurch automatisch unter einen neuen Rechtfertigungszwang gerät: Jede dauerhafte Partnerschaft muss sich in Zeiten maximaler Möglichkeiten fortwährend als bestmöglichste Alternative herauskristallisieren; und dieser Rechtfertigungszwang treibt die Maßstäbe, an denen das persönliche Glück gemessen wird, kontinuierlich nach oben (vgl. Egen 2009: 120). Die Befriedigung des Verlangens nach Liebe, Sexualität, Intimität und Geborgenheit stellt inzwischen den einzig legitimen Grund für die Ehe dar, so dass Ehen – sobald sie diese Maßgabe nicht mehr erfüllen – wieder geschieden werden können. Dies erfordert von den Menschen

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Es gab vor der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – abgesehen von Kirche und Kloster – »keine gesicherte materielle Existenzbasis jenseits der Ehe. Diese hat ihren Grund und Kitt nicht in der Liebe, sondern in der religiösen Verbindlichkeit und materiellen Verankerung ehelicher Arbeits- und Lebensformen.« (Beck & Beck-Gernsheim 1994: 22)

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andere Fähigkeiten als in früheren Zeiten: In einer Partnerschaft auf »Augenhöhe« sind die Anforderungen an die Kommunikations- und Kompromissbildungsfähigkeit des Einzelnen deutlich höher, als in einer Partnerschaft mit unausgeglichener Machtbalance. Ein (zumeist unbewusster) Rückgriff auf die durch die elterlichen Vorbilder tradierte Weise des früheren Zusammenlebens ist dabei häufig wenig hilfreich; die notwendige Kommunikations- und Kompromissfähigkeit muss im Alltag, im konkreten Zusammenleben erlernt werden. Durch die Machtverschiebung von Herkunftsfamilie und Religion hin zu selbstbestimmten Individuen sind diese heute in der Ausformung ihrer Beziehungen und der Herstellung eines für sie adäquaten modus vivendi in weit höherem Maße als früher auf sich allein gestellt (vgl. ebd.: 129). Die Verringerung der Ungleichheiten in der Geschlechterbeziehung sowie der Fremdkontrolle durch traditionelle Instanzen geht mit einer notwendigen Vergrößerung der Selbstkontrolle einher. In der Konsequenz wird die traditionelle Familienform abgelöst und neue Formen entstehen (PatchworkFamilien, Partnerschaften gleichen Geschlechts, Fernbeziehungen etc.) – dies sind nach Beck-Gernsheim (1994) Konturen einer »postfamilialen Familie« (vgl. BeckGernsheim 1994: 135). Eine Ambivalenz der Postmoderne offenbaren sich auch in den widersprüchlichen Werten von Arbeitswelt und Familie: Das Arbeitsleben setzt ein hohes Maß an Risikobereitschaft, Kurzfristigkeit, Flexibilität und Mobilität voraus. Befristete Arbeitsverträge, unsichere Beschäftigungsverhältnisse, häufige Wechsel des Arbeitsplatzes und des Arbeitgebers sind heutzutage eher die Regel als die Ausnahme. Loyalität und Leistungsbereitschaft führten noch bis in die 1970er Jahr hinein zu einer relativ berechenbaren Erwerbsbiografie; in globalen Unternehmen, die im ständigen Wettbewerb beispielsweise ihren Eigentümer wechseln, haben sie an Bedeutung verloren (vgl. Sennett 2000: 28). Heute ist man selber seines »Glückes Schmied« und muss sich durch beispielsweise lebenslanges Lernen stets optimieren, möglichst unabhängig machen von einem einzelnen Unternehmen – selbst zu einer Art Ich-Unternehmer werden.5 Castel (2005) erläutert in diesem Zusammenhang: »Wenn man nicht gerade seinen sozialen Tod in Kauf nehmen will, mag es heutzutage notwendig sein, sich auf das Spiel des Wandels, der Mobilität, der ständigen Anpassung und Umschulung einzulassen.« (Castel 2005: 71)

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Bei Sennett (2000) klingt das so: »Soziale Bindung entsteht am elementarsten aus einem Gefühl der gegenseitigen Abhängigkeit. Nach den Losungen der neuen Ordnung ist Abhängigkeit Sünde; der Angriff auf rigide bürokratische Hierarchien soll die Menschen strukturell aus den Abhängigkeiten befreien, ihre Bereitschaft, Risiken auf sich zu nehmen, dient angeblich ihrer Selbstversicherung und tritt an die Stelle der Ergebenheit in das Unvermeidliche.« (Sennett 2000: 191)

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Doch auch die neuen Familienformen benötigen langfristige Tugenden wie Verlässlichkeit, Loyalität und Vertrauen – auch wenn sie nur auf eine mittlere Dauerhaftigkeit angelegt sein sollen (vgl. Sennett 2000: 193). Darüber hinaus werden in der Postmoderne Charakteristiken der Moderne wieder aufgehoben: Beispiele sind die tendenzielle Aufhebung der Trennung von Arbeits- und Wohnort durch moderne technische Kommunikationsmittel sowie die Revision der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit über verschiedene Kommunikationskanäle (Facebook, Twitter, Talkshows etc.). Ein entscheidender Unterschied zwischen Moderne und Postmoderne – vor allem hinsichtlich der hier zu diskutierenden Thematik – besteht in den Lösungsmechanismen bezüglich ihrer vielfältigen Ambivalenzen:6 Während in der Moderne versucht wurde, der Ambivalenz der proklamierten »natürlichen« Ordnung über wissenschaftlich fundierte und politisch legitimierte Ausschließung und Auslöschung der als störend empfundenen »Fremden« zu begegnen7 , so wird die Ambivalenz in der Postmoderne privatisiert; die Gesellschaft zerfällt und fragmentiert in eine Vielzahl individuell gewählter Lebensstile. Damit verschwindet keineswegs die Ambivalenz, sie stellt nun jedoch kein politisches, sondern ein individuell zu lösendes Problem dar (vgl. Bonacker & Römer 2008: 367f.). Am Beispiel der sexuellen Orientierung kann dies weiterführend verdeutlicht werden: Während in der Moderne eine sexuelle Orientierung jenseits der Heterosexualität eindeutig zur Perversion, Krankheit, Abnormalität erklärt und entsprechend »behandelt« wurde, ist die individuelle sexuelle Orientierung heutzutage nicht nur pluralistisch, sondern es existieren fließende Übergänge zwischen Heterosexualität, Homosexualität, Bisexualität, Intersexualität und Transsexualität. Damit kann sich auch der überzeugte »Heterosexist« seiner Heterosexualität nicht mehr ganz sicher sein, da diese eben nicht einfach »natürlich« ist, sondern sich aus dem Zusammenspiel von Konventionen, spezifischer Situation und sexueller Orientierung ergibt – also sich durchaus im Laufe des Lebens und in anderen Kontexten ändern könnte. Damit ist das früher »Abnormale« nicht mehr »draußen«, sondern potenziell im »inneren« eines jeden Menschen und kann dort Abwehrmechanismen auslösen (vgl. Rommelspacher 1999: 28f.). In der Postmoderne haben die traditionellen und religiösen Wert- und Sinninstanzen, die für objektive Wahrheit und moralische Richtigkeit standen, deutlich 6

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Unter Ambivalenzen wird die Tatsache verstanden, dass Phänomene (beispielsweise das der Behinderung) mehr als einer Kategorie zugeordnet werden können, was ein Unbehagen hervorruft, da es mehrere Lesarten der Situation gibt und zwischen alternativen Handlungsweisen gewählt werden kann bzw. muss. »Die typisch moderne Praxis, die Substanz moderner Politik, des modernen Intellekts, des modernen Lebens, ist die Anstrengung, Ambivalenz auszulöschen: eine Anstrengung, genau zu definieren – und alles zu unterdrücken oder zu eliminieren, was nicht genau definiert werden konnte oder wollte.« (Bauman 1992: 22)

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an Einfluss verloren, so dass neue gesellschaftliche Maßstäbe zur Orientierung benötigt werden. Für bestimmte gesellschaftliche Teilbereiche wurden ethische Maßstäbe kodifiziert, für alle anderen gilt das Recht auf individuelle Selbstbestimmung (vgl. Rösner 2002: 373)8 , die es den Menschen ermöglicht, sich über eine eigene »Tradition« zu definieren und ihre Handlungen darüber und nicht über einen normativen Konsens zu legitimieren. »Auch postmoderne Menschen glauben an die Notwendigkeit ihres Handelns, nur sehen sie den Grund, der sie so und nicht anders handeln lässt, nicht in einem normativen Konsens, sondern in ihrem individuellen Glücksgefühl. Dadurch werden Handlungen in einer ähnlichen Weise naturalisiert wie in der modernen Gesellschaft.« (Bonacker & Römer 2008: 368) Was für die Gesellschaft im Allgemeinen gilt, lässt sich auch in den Bereichen von Krankheit und Gesundheit beobachten: Nicht mehr nur die Mediziner*innen kontrollieren die Patient*innen hinsichtlich ihrer Gesundheit, sondern über Fitnessarmbänder, Blutdruckmessgeräte und andere Instrumente werden die Vitalwerte von den Menschen selbst erfasst. Man holt ärztliche Zweitmeinungen ein und nutzt entsprechende Informationsangebote im Internet: Der Mensch wird selbst zum Experten seiner Gesundheit und seines Lebens – jedoch immer im Abgleich mit einem mit Gesundheit assoziierten, standardisierten Körperbild, das tagtäglich über verschiedene Medien als Norm proklamiert wird. »Gesundheit ist heute schon längst nicht mehr die Abwesenheit von Krankheit, sondern etwas Herstellbares, für das Opfer erbracht werden müssen, damit Lebensglück erfahrbar wird. War die Medizin bisher eine Heilkunst, so ist sie in der heutigen Gesellschaft zu einer Ethik der Lebensführung avanciert.« (Rösner 2014: 41) Alkemeyer (2007) postuliert hierzu weiterführend: »Die treibenden Kräfte der Gestaltung, Überwachung und Produktion gesellschaftlich anerkannter wie geduldeter Körper haben sich vom Staat zum Markt verschoben.« (Alkemeyer 2007: 16) Die staatlichen Institutionen stellen dabei häufig nur noch korrigierende Akteure für die sich weitgehend selbstregulierenden, selbstkontrollierenden und selbstbestimmten Individuen dar, die sich auf dem Gesundheitsmarkt mehr oder weniger »bedienen« können. Generell ist festzustellen, dass sich die Vergesellschaftung des Menschen in der Postmoderne nicht mehr nur über die Herkunftsfamilie oder die Arbeits- und Leis-

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»Die individuelle Selbstbestimmung ist in den westlichen Demokratien zu einem unbestritten anerkannten Grundrecht geworden. […] Dem Einzelnen wird zunehmend die Aufgabe auferlegt, eine Antwort auf die Frage zu finden, wer er ist und worin der Sinn seiner Existenz liegt.« (Rösner 2002: 353; Weglassung in Klammern C.E.)

7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

tungsfähigkeit, sondern zum großen Teil über den Konsum (für den in der Regel Arbeitsfähigkeit eine Voraussetzung bildet) vollzieht, mit den entsprechenden Konsequenzen für all diejenigen, denen die Mittel hierfür fehlen (vgl. Jantzen 2002: 171f.). Wie sich diese skizzierte gesellschaftliche Entwicklung auf die Wahrnehmung von Devianz und körperlicher Differenz auswirkt, wird im folgenden Kapitel beleuchtet.

7.2

Wahrnehmung von Devianz und körperlicher Differenz

Der Körper hat in der Postmoderne weiter an Bedeutung gewonnen. In erster Linie aber liegt der Sinn der Pflege des Körpers nicht mehr allein in der Vermeidung von Krankheiten, sondern auch in der Annäherung an Körperbilder bzw. Schönheitsideale, die täglich in den Medien thematisiert und deren Gravitation durch verschiedene Industriezweige flankierend forciert wird. Die Definitionsmacht darüber, was als schön zu gelten hat, liegt nicht mehr bei den oberen Ständen oder Klassen, sondern bei den Massenmedien bzw. den freien Markt (vgl. Gugutzer 2007: 5). Das Entscheidende dabei ist, das sich der Körper von einer in erster Linie nur durch den zeitlichen Verlauf beeinflussten Gegebenheit, einem wenig beeinflussbaren Schicksal, zu einem »Projekt« entwickelt hat, das aktiv bearbeitet werden kann und soll (vgl. Giddens 1991; Hughes 2000: 560f.). Hughes (2000) schildert diese Verschiebung von einer biologischen Tatsache zu einem gestaltbaren Produkt wie folgt: »No longer is the body conceived of as a fixed, biological essence with whatever changes that effect it dependent upon physiological processes. Ageing, for example, has become something to fight, to ward off and ageism thrives in a world in which the body has become a designer accessory. As the body loses its fixed status, it becomes plastic, elastic, a lifestyle accessory, something to be moulded, shaped and sculpted through diet, exercise and cosmetic surgery.« (Hughes 2000: 561) Die Selbstoptimierung in Richtung eines medial vermittelten Körperideals – wie wir es in der Gegenwart erleben – hat eine paradoxe Seite: Wie alle Ideale büßt auch das angestrebte Körperideal in Wahrheit seine Funktion als solches ein, sobald es durch hartes Training, mit Hilfe pharmazeutischer Produkte, modischer Kleidung oder gar plastischer Chirurgie erreicht wurde. Denn die allgemeine Orientierung an eine Überdurchschnittlichkeit und die darauf ausgerichtete Selbstoptimierung, führt langfristig zu einer Verschiebung von Normalitätsgrenzen: »Was einst als »durchschnittlich attraktiv« galt, wird dann »unterdurchschnittlich « und das »Überdurchschnittliche« wird zum »Durchschnitt«.« (Ruck 2012: 94)

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Ein weiteres Paradoxon ist, dass heutzutage zwar jeder Mensch seine Individualität betonen möchte, immer aber in Blickrichtung auf Schönheitsideale, die auf dem Markt angepriesen werden. Die Betonung der Individualität wird dabei von der Werbeindustrie ökonomisch verwertet: Man erreicht die Individualität durch Konsum dieser oder jener Kosmetikprodukte, Kleidungs- oder Schmuckstücke etc., da jedoch prinzipiell – wenn einmal in Mode gekommen – eine Vielzahl von Menschen diese Produkte verwendet, benötigt man wieder Alternativen, um sich von anderen Individuen abzuheben. »Normal« bedeutet gegenwärtig vor allem, endlos optimierbar zu sein (vgl. Ruck 2012: 102). Rösner (2014) konstatiert: »Perfekt arrangierte Körper bilden das Ambiente zu Autos, Seife, Margarine, Pelz usw. Mit Schweiß und Kondition geht man neue Wege zu zeitgenössischen Formen der Körperaneignung, um mit einer neuen Ästhetik des muskulösen Outfits neue Persönlichkeitsmaßstäbe zu setzen. Stretching, Tanz- und Gymnastikformen, importierte Kampfsportarten und Meditationstechniken bieten neue Wege der Selbstfindung. Der zunehmend enthüllte Körper wird zur neuen Verkleidung, die dann präsentationswürdig ist, wenn er schlank und jugendlich erscheint.« (Rösner 2014: 40)9 Dass Körper gegenwärtig so offen und oft auch erotisch in der Öffentlichkeit gezeigt werden können, hängt vor allem mit der höheren Ausprägung des Selbstzwangsvermögens der Menschen in der Postmoderne ab. Unverhüllte Körper(teile) stellen keine psychische Gefahrenquelle mehr dar – aus diesem Grund müssen hier auch keine Fremdzwänge kontrollierend eingreifen. Die sozial akzeptierten Möglichkeiten von Körpergestaltung, Umgangsformen, Verhaltensweisen und auch Gefühlsausdrücken haben in der Postmoderne deutlich zugenommen – sie sind weniger formalisiert, stärker informalisiert (vgl. Wouters 1999). Dasjenige Verhalten, das früher einmal als deviant etikettiert war, gehört nun häufig zu den normalen Umgangsformen der Jugend. In der Konsequenz kann man postulieren, dass sich die Grenzen dessen, was als »normal« angesehen wird – aufgrund der Vielzahl von Idealen und des Selbstbestimmungsanspruchs – gegenüber der Moderne weit geöffnet haben. Dennoch standen vorerst und stehen zum Teil noch heute Menschen mit Funktionseinschränkungen jenseits dieser Grenzen, denn die Ideale orientieren sich an einer relativ normierten Leistungsfähigkeit, Gesundheit und Schönheit – wovon Menschen mit Funktionseinschränkung häufig abweichen (vgl. Rösner 2014: 36).

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Rösner (2002) kommt an anderer Stelle zu der Schlussfolgerung: »Die von Kant angestoßene Idee vom Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit erweist sich inzwischen als eigendynamischer und unkontrollierbarer Zwang zur Selbstperfektion.« (Rösner 2002: 361)

7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

Hughes (2002) konstatiert hierzu: »The post-modern celebration of difference seems to be swallowed up by the modern penchant for aesthetic normalisation and the valorisation of ideal standards of beauty.« (Hughes 2002: 580) So sehr im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmende Selbstbestimmung und größere Toleranz gegenüber körperlicher Differenz erkennbar sind, so galt diese lange Zeit vor allem nicht für Menschen mit Funktionseinschränkungen, die in Sondereinrichtungen lebten und einen gesetzlichen Vormund hatten – dementsprechend stand bis 1992 (bis zur Reformation des Betreuungsgesetz) auch immer wieder die Zwangssterilisierung vor allem von Frauen mit geistiger Funktionseinschränkung zur Debatte (vgl. Köbsell 2006: 65). Viele Menschen mit Funktionseinschränkungen wurden bis in die 1970er Jahre und teilweise darüber hinaus, zu Hause oder in Sondereinrichtungen häufig vor der Öffentlichkeit verborgen. Ein selbstbestimmtes Leben war in den Einrichtungen nicht möglich; in den Heimen herrschte überwiegend eine vollständige Fremdbestimmung (vgl. Köbsell 2018: 318). In der öffentlichen Wahrnehmung von Menschen mit Funktionseinschränkungen waren in der direkten Nachkriegszeit vor allem Kriegsversehrte omnipräsent. Bei ihnen ging es in erster Linie um die funktionale Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit, um sie in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Die Kriegsopferverbände stellten zusammen mit den Gewerkschaften die zahlenmäßig größten Verbände der jungen Bundesrepublik dar, sie waren daher auch auf allen politischen Ebenen vertreten und mit den Parteien vorzüglich vernetzt (vgl. Bösl 2009: 61f.). Bei den Kriegsversehrten herrschte noch das soldatische Männlichkeitsideal vor, das sie in ihrem Selbstbild stark von anderen Menschen mit Funktionseinschränkungen abgrenzte und auch in der Öffentlichkeit anders positionierte. Vor dem Hintergrund fehlender Arbeitskräfte rückte in der Zeit des Wirtschaftsaufschwungs zunehmend die berufliche Rehabilitation von Menschen mit vor allem körperlichen Funktionseinschränkungen in das Blickfeld von Politik und Wirtschaft. So entstanden in kurzer Zeit die Berufsförderungswerke, dann die Berufsbildungswerke und schließlich die Werkstätten für Behinderte (heute: Werkstätten für behinderte Menschen) (vgl. Köbsell 2018: 318f.). In den medizinischen Rehabilitationszentren, die sich in der Regel – auch durch ihre früheren Nutzung als Kur- oder Badeanstalten – weit außerhalb der Städte befanden, wurden Menschen mit Funktionseinschränkungen »rehabilitiert«, aber auch »unsichtbar« gemacht. Auch die neuen Rehabilitationseinrichtungen wurden meist in relativer Isolation erbaut. Die 1949 gegründete orthopädische Heil- und Lehranstalt der Inneren Mission in Hessisch Lichtenau bei Kassel kann hierfür exemplarisch genannt werden (vgl. Hug-Biegelmann 2009). Durch medizinische Eingriffe, prothetische Versorgung und berufliche Rehabilitationsmaßnahmen sollte die Erwerbsarbeit als Kompensations- und Eingliederungshilfe den Menschen mit Funktionseinschränkungen helfen, – ganz nach

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Was ist Behinderung?

dem Duktus des Medizinischen Modells – über ihr individuelles »Schicksal« »hinwegzukommen«, was vor allem bei angeborenen Funktionseinschränkungen ein gewisses Enttäuschungspotenzial implizierte (vgl. Bösl 2010: 7). Prothesen dienten dabei nicht nur der Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit, sondern verwiesen bereits vom Begriff her auf ein Defizit und verdeckten somit auch den »Makel« des fehlenden Gliedmaßes (vgl. Hughes 2015b: 111). Das Ziel der verschiedenen Maßnahmen lag darin, die Menschen mit Funktionseinschränkungen wieder der Norm anzupassen und in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Der Wert des Menschen definierte sich scheinbar allein über die Erwerbsarbeit. Die medizinische und berufliche Rehabilitation kann daher bis in die 1970er Jahre als »Kernstrategie im Umgang mit Behinderung« (Bösl 2009: 13) betrachtet werden. Behinderungen wurden monokausal dem Individuum zugesprochen, und so verwundert es auch nicht, dass alle sozialstaatlichen Problemlösungsstrategien genau dort ansetzten (vgl. ebd.: 19). In einer Definition des Bundesinnenministeriums aus dem Jahr 1958 heißt es dementsprechend: »Als behindert gilt ein Mensch, der entweder aufgrund angeborener Missbildung bzw. Beschädigung oder durch Verletzung oder Krankheit eine angemessene Tätigkeit nicht ausüben kann. Er ist mehr oder minder leistungsgestört (lebensuntüchtig).« (zitiert nach Bösl 2010: 6) Die Behindertenpolitik in der direkten Nachkriegszeit wurde vor allem von kirchlichen Stellen und Verbänden kritisiert, da hier vorwiegend dem leistungsorientierten Nützlichkeitsgedanken gefolgt wird, unter dem »die Ehrfurcht vor dem Leben und die Würde des Menschen Schaden nähmen« (Bösl 2009: 49). In der öffentlichen Wahrnehmung wurden Menschen mit Funktionseinschränkungen häufig als »armselig« und »hilfsbedürftig« betrachtet, und durch die sozialstaatlichen Vorgaben trugen sie erzwungenermaßen selbst zur Reproduktion ihres defizitorientierten Fremdbildes bei: »Um […] Ansprüche vor den Sozialleistungsträgern geltend zu machen und Nachteilsausgleiche zu erlangen, mussten sich behinderte Menschen immer wieder der Legitimationskette »behindert – arm – hilfsbedürftig« bedienen.10 Beschränkungen und »Störungen« mussten in individuellen Gutachter- und Bemessungsverfahren, aber auch von Interessensorganisationen immer wieder betont werden.« (Bösl 2010: 7; Weglassung in Klammern C.E.) Funktionseinschränkungen wurden verstärkt auch durch den Contergan-Skandal mit Leid, Qual und Belastung assoziiert, ein befriedigendes Leben schien gänzlich ausgeschlossen zu sein (vgl. Bösl 2009: 90). Daher verwundert es auch nicht, dass in dieser Zeit (ab 1964) eine Sendung mit dem Namen »Aktion Sorgenkind« 10

Psychologisch ist dies ein Problem: Der Zwang sich stets auf seine Funktionseinschränkung zu berufen, bindet den Menschen immer enger an diese.

7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

im ZDF einen Sendeplatz erhielt.11 Die Assoziation von Funktionseinschränkung bzw. Behinderung mit Leid und Qual ist auch in der Gegenwart nicht ganz verschwunden, wenn es in Zeitungsüberschriften etwa heißt »Lebensfreude trotz Behinderung« (Norddeutsche Rundschau, 29.09.2010), »Gute Arbeit trotz Handicap« (Elmshorner Nachrichten, 29.04.2011; Die Zeit, 08.08.2013) oder »Glückskind trotz Down-Syndrom« (Remscheider General-Anzeiger, 10.10.2014); schwingt in solcher Formulierung doch immer ein Gefühl des Mitleids mit. Raul Aguayo-Krauthausen – ein Menschenrechtsaktivist – verweist in seinen Vorträgen diesbezüglich darauf, das Adjektiv »trotz« durch »mit« zu ersetzen, wodurch der Titel gleich eine andere, realitätsangemessene Bedeutung erlangt.12 Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahren setzte die 1968er-Bewegung entscheidende Impulse für mehr Pluralismus und Toleranz gegenüber Minderheiten. Es kam zu Gründungen von Frauen- und Behindertenbewegungen, in deren Folge an den Universitäten Lehrstühle mit dem Schwerpunkt »Geistigbehindertenpädagogik« (Mainz) und kurz darauf »Frauen- und Geschlechterforschung« (Frankfurt a.M.) sowie »Soziologie der Behinderten« (Heidelberg) eingerichtet wurden. In dieser Zeit »kämpfte« die Behindertenbewegung auch gegen die Unterbringung und Aussonderung von Menschen mit Funktionseinschränkungen in Heimen und anderen sozialstaatlichen Institutionen. Der Kampf richtete sich in erster Linie gegen die Isolation in den Sondereinrichtungen (Sonderkindergärten, Sonderschule, Sonderarbeitsplätze, Sonderfahrdienste etc.). In zweiter Linie ging es um die Beeinflussung der negativen Einstellungen der Bevölkerung gegenüber Menschen mit Funktionseinschränkungen. Wie tief diese »Behindertenfeindlichkeit« in der deutschen Bevölkerung verwurzelt war, lässt sich exemplarisch anhand zweier Beispiele demonstrieren:13 1

1972 kündigte der Bürgermeister der Gemeinde Baindt im Kreis Ravensburg die Räume des Körperbehindertenzentrums mit der Begründung: »Wir können unseren gesunden Kindern den Anblick dieser armen Teufel nicht zumuten. So ein Heim gehört nicht mitten in den Ort.« (zitiert nach Fandrey 1990: 254)

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Die Umbenennung in »Aktion Mensch« erfolgte erst im Jahr 2000. An dieser Stelle sei auf das von Aguayo-Krauthausen bzw. dem Verein Sozialhelden initiierte Projekt www.leidmedien.de verwiesen, das Workshops für Journalisten anbietet, in denen vermittelt wird, wie eine unvoreingenommene und wertschätzende Berichterstattung über Menschen mit Funktionseinschränkungen aussehen sollte. Dort werden ferner interessante Geschichten über starke Persönlichkeiten von Menschen mit Funktionseinschränkungen vorgestellt. Generell gab es in der Bundesrepublik der 1970er Jahren große Widerstände von Bürger*innen gegen den Bau oder Umbau von Gebäuden für Menschen mit Funktionseinschränkungen, teilweise wurden die (noch leerstehenden) Gebäude angezündet, um einen Einzug zu verhindern (vgl. Fandrey 1990: 253f.; Bösl 2009: 102).

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1980 beschäftigte sich die Zivilkammer des Landgerichts in Frankfurt a.M. mit der Klage einer Rentnerin gegen ein Reiseunternehmen. Gegenstand der Klage war neben den Zuständen am Strand und im Hotel auch die Anwesenheit von jungen Menschen mit geistigen Funktionseinschränkungen, die von der Klägerin als eine Zumutung empfunden wurde. Das Amtsgericht gab ihr in erster Instanz Recht, verhandelte aber nicht das Thema der Anwesenheit der Menschen mit scheinbar geistigen Funktionseinschränkungen.14 Nach der Berufung des beklagten Reiseunternehmens entschied schließlich das Landgericht in Frankfurt nicht anders, ging jedoch in seiner Urteilsbegründung explizit auf die Anwesenheit von Menschen mit Funktionseinschränkungen ein und erlies folgendes Urteil (Auszug): »Auch die Anwesenheit einer Gruppe von jedenfalls geistig und körperlich Schwerbehinderten stellt einen zur Minderung des Reisepreises berechtigenden Mangel dar.« (Urteil des Landgerichts Frankfurt vom 25.2.1980, Az.: 2/24 F 282/79) Diese Urteilsbegründung löste bundesweit einen Sturm der Entrüstung aus, in dessen Konsequenz es zu zahlreichen Protesten und Demonstrationen mit bis zu 5.000 Teilnehmenden kam (dazu ferner Klee 1981). Heute wäre eine solche Urteilsbegründung undenkbar, aber dass sie auch damals nicht einfach akzeptiert wurde und überregionale Empörung auslöste, zeigt bereits einen gewandelten Verhaltensstandard im Vergleich zur vorhergehenden Zeit an.

1974 machte die sogenannte »Krüppelgruppe« um Ernst Klee und Gusti Steiner auf sich aufmerksam, als sie in Frankfurt a.M. im Rahmen eines VHS-Kurses mit dem Titel »Bewältigung der Umwelt« spontan eine Straßenbahn blockierte, da diese aufgrund zu schmaler Einstiege für Rollstuhlfahrer nicht nutzbar war. Rollstuhlfahrer wurden folglich durch die öffentlichen Verkehrsmittel »behindert« und nicht durch ihre Funktionseinschränkung. Diese Gruppe verlieh später auch die »Goldene Krücke« an die jeweils »größte Niete der Behindertenarbeit« (vgl. Köbsell 2018: 320f.). 1981 schließlich initiierte eine weitere Aktionsgruppe der Behindertenbewegung ein »Krüppeltribunal«, bei dem die Missstände in der Lebens- und Versorgungssituation von Menschen mit Funktionseinschränkungen öffentlich benannt und »verhandelt« wurden. An diesen Aktionen wird deutlich, dass es Menschen mit Funktionseinschränkung in jener Zeit gelungen ist, sich als Gruppe gegen Unterdrückung und paternalistische Bevormundung zur Wehr zu setzen, was in früheren Zeiten kaum möglich gewesen wäre. Der Weg in die Öffentlichkeit war darüber hinaus mit einem weiteren Ziel verbunden: Barrieren in der gebauten Umwelt können mit entsprechenden finan14

In Wirklichkeit handelte es sich um eine schwedische Reisegruppe von körperlich funktionseingeschränkten Menschen.

7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

ziellen Mitteln relativ einfach abgebaut werden, die befremdlichen Gefühle der Angst und des Unbehagens beim Anblick von Menschen mit vor allem augenfälligen Funktionseinschränkungen und die darauf folgende Unsicherheit im Verhalten ihnen gegenüber sind dagegen schwieriger zu fassen, haben aber unter Umständen eine weit größere »behindernde« Wirkung auf Menschen mit Funktionseinschränkungen. Psychologisch gründet dies auf einem inneren Konflikt zwischen normativem Anspruch auf Gleichheit und Anerkennung bei gleichzeitiger Wahrnehmung eindeutiger Differenzen, die häufig mit etwas Negativem (Böse, ansteckend, eigene unkontrollierte Körperlichkeit etc.) assoziiert sind. »Die negativen Assoziationen müssen […] abgewehrt werden, was oft in einem verkrampften oder überfreundlichem Verhalten zum Ausdruck kommt.« (Rommelspacher 1999: 14; Weglassung in Klammern C.E. Daher versuchen Menschen den Kontakt zu Menschen mit Funktionseinschränkungen eher zu vermeiden, was wiederum zu einer sozialen Isolation der Betroffenen führen kann. Eben dieser Kontaktvermeidungsstrategie wollte die Behindertenbewegung mit selbstbewussten Aktionen in der Öffentlichkeit entgegenwirken. In den Folgejahren wurden zwar weiterhin staatliche und private Sondereinrichtungen in Betrieb genommen, aber seit der Ratifizierung der UNBehindertenrechtskonvention durch die Bundesregierung im Jahr 2009 ist zu erkennen, dass immer mehr Menschen mit Funktionseinschränkungen wieder in eigenen Wohnungen bzw. Häusern leben und dort – falls notwendig – über persönliche Assistenz entsprechende Unterstützung erhalten. Sonderschulen werden teilweise aufgelöst und die Sonderpädagog*innen zur Unterstützung in Regel-Schulen versetzt. Die schulische Inklusion, die gegenwärtig vollzogen wird, ist natürlich – wie alle Veränderungsprozesse – mit Spannungen, Widerständen und Umsetzungsproblemen verbunden. Aus soziologischer Sicht kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Gesellschaft mit jedem Jahr, in dem mehr Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Öffentlichkeit, an normalen Plätzen und Orten leben und lernen, also wahrgenommen werden können, toleranter wird – da gerade Kinder (noch) keine Probleme mit »abweichenden« Körpern und »abweichendem« Verhalten haben. Die schulische Inklusion ist daher als ein Baustein zur Veränderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Devianz und körperlicher Differenz anzusehen. In der Gegenwart offenbart ein bewusster Blick auf die Menschenströme in einer beliebigen Großstadt eine hohe Präsenz von Menschen mit unterschiedlichsten Funktionseinschränkungen in der Öffentlichkeit. Auch in der Medienwelt ist dies erkennbar. Auf der einen Seite ist eine hohe Präsenz von Menschen mit Funktionseinschränkungen in Medien festzustellen, und ihre Darstellung wird in bekannten (Kino-)Filmen, wie »Ziemlich beste Freunde«, »Vincent will Meer«, »Game of Thrones« und »Schmetterling und Taucherglocke« nicht mehr nur – wie in früheren

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Filmen je nach Genre – Mitleid erregend oder Angst einflößend arrangiert. Auf der anderen Seite zeigt ein Blick in die Printmedien, dass dort auch heute noch meist über und nicht mit Menschen mit Funktionseinschränkungen gesprochen bzw. geschrieben wird. Auch dies ist ein Ausdruck für das Spannungsverhältnis von anerkannter normativer Gleichheit bei gleichzeitiger Verhaltensunsicherheit der Menschen, die sich in Kontaktvermeidung niederschlägt. Trotz erreichter normativer Gleichheit sowie einer gesteigerten Präsenz in der Öffentlichkeit bleibt die gesellschaftliche Wahrnehmung von Menschen mit Funktionseinschränkung ambivalent: Es hat den Anschein, als ob unsere gegenwärtige Gesellschaft Menschen mit Funktionseinschränkung entweder als »Superkrüppel« wie bei den Paralympischen Spielen oder als »Sorgenkind« wahrnimmt – sich aber noch schwer damit tut, sie als »normale« Mitbürger*innen anzuerkennen und zu behandeln (vgl. Aguayo-Krauthausen 2014: 247). Besondere Leistung dieser Menschen anzuerkennen oder Mitleid mit ihnen zu empfinden scheint psychologisch einfacher zu sein als sie in die Sphäre der Normalität eintreten zu lassen.15 Der übergeordnete Prozess, der zu mehr Präsenz in der Öffentlichkeit führte, kann als eine Art Etablierten-Außenseiter-Prozess betrachtet werden, in dessen Folge sich auch die Bewertung von Menschen mit Funktionseinschränkungen änderte.

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Dies hängt vielleicht damit zusammen, dass die Akzeptanz als »normale« Mitbürger ein Eingeständnis der eigenen Verletzlichkeit voraussetzt. Solange sich Menschen ihrer eigenen Verletzlichkeit, ihres fragilen Soseins im hier und jetzt nicht bewusst werden und weiterhin verdrängen, dass auch sie jederzeit – spätestens im Alter – zu jenen Menschen mit Funktionseinschränkungen gehören können, deren Nähe und Kontakt sie real oder auch nur gedanklich zu vermeiden versuchen, solange werden sich vermutlich auch die negativen Gefühle nicht ändern, die beim Anblick von Menschen mit Funktionseinschränkung mehr oder weniger großen Einfluss auf das eigene Verhalten ausüben.

7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

7.3

Bewertung von Menschen mit Funktionseinschränkungen als Rechtssubjekte16

Während in der Moderne die Vorstellungen von Krankheit und Funktionseinschränkungen in erster Linie durch die Naturwissenschaften geprägt waren, und Menschen mit Funktionseinschränkungen dem naturwissenschaftlichen Deutungshorizont entsprechend »objektiv« abgewertet wurden, verschiebt sich die Bewertungshoheit in der Postmoderne auf weitere Berufe (Gesundheitsfachberufe, Sozialwissenschaften, Sonderpädagogik etc.) und, was vor allem entscheidend ist, auf diejenigen Menschen, die mit Funktionseinschränkungen leben. Immer mehr Menschen mit Funktionseinschränkungen schreiben Bücher, stehen in der Öffentlichkeit, gestalten aktiv die Gesellschaft mit und werden als »Experten in eigener Sache« anerkannt; dies alles ist keine Selbstverständlichkeit und wurde hart erkämpft. Die Etablierung der Disability Studies in der wissenschaftlichen Community ist der beste Beweis dafür, dass sich die Deutungshoheit bezüglich der Bewertung von Menschen mit Funktionseinschränkungen verschoben hat (vgl. Bösl 2009: 339).17 Besonders erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die SelbstbestimmtLeben-Bewegung (engl. Independent living), die ihren Ursprung in den späten 1960er Jahren in den USA in der Bürgerrechtsbewegung hat und in der deutschen Behindertenbewegung in den 1970er Jahren Fuß fasste. Die SelbstbestimmtLeben-Bewegung postuliert, dass Menschen mit Funktionseinschränkungen selbst Experten für ihre eigenen Bedürfnisse sind und fordert daher eine politische Beteiligung in allen Lebensbereichen, die ihre Bedürfnisse betreffen. Weitere Ziele der Bewegung sind die Deprofessionalisierung, Deinstitutionalisierung sowie Demedikalisierung von Behinderung (vgl. Köbsell 2018: 317ff.). Sie kämpft 16

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In der Postmoderne hat sich eine relativ eindeutige Trennung von Funktionseinschränkung und Krankheit in den meisten Disziplinen vollzogen, so dass sich dieses Kapitel in Titel und Struktur von den Kapiteln 4.3 und 5.3 unterscheidet. Auch muss nicht mehr von »Vorstellungen bezüglich Funktionseinschränkung« gesprochen werden, aus denen sich die Bewertung von Menschen mit Funktionseinschränkungen tangential ableiten lässt. Die naturwissenschaftlich objektiv feststellbare Funktionseinschränkung ist nicht mehr ausschließlich Ausgangspunkt zur Bewertung von Menschen mit Funktionseinschränkung; die Naturwissenschaft hat ihre alleinige Vormachtstellung als Bewertungsmacht diesbezüglich verloren, was sich durch die Einführung behinderungsspezifischer Klassifikationen relativ eindeutig nachweisen lässt: Seit 1980 wird mit der ICIDH erstmalig Behinderung gesondert von Krankheit klassifiziert und seit 2001 mit der ICF auch das Soziale Modell mitberücksichtigt. Der Bewertungsdiskurs ist pluralistischer geworden und wird maßgeblich auch von den Menschen mitbestimmt, die dieser Diskurs betrifft. Der erste Lehrstuhl für Disability Studies in Deutschland wurde in Köln geschaffen und 2009 mit Anne Waldschmidt besetzt. Doch auch an vielen weiteren Universitäten sind entsprechende Forschungs- und Lehrtätigkeiten zu verzeichnen.

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für das Recht auf umfassende gesellschaftliche Teilhabe, wozu zwingend auch der Abbau von infrastrukturellen, institutionellen und Einstellungs-Barrieren sowie die Einführung des Universal-Design-Prinzips gehören. Dabei ist es, um als Gleiche unter Gleichen ein selbstbestimmtes Leben führen zu können, unbestritten häufig notwendig auf unterstützende Dienstleistungen (z.B. persönliche Assistenz) oder Hilfsmittel zurückzugreifen; die Mittel hierzu sollen aber in den Händen der Betroffenen verwaltet (persönliches Budget) und nicht über zentrale Stellen gewährt werden, vor denen die Betroffenen als Bitsteller erscheinen müssen (vgl. www.islev.de, zuletzt aufgerufen am 02.10.2018). In der Nachkriegszeit haben sich in Deutschland vor allem Eltern von Kindern mit Funktionseinschränkungen in Vereinen zusammengeschlossen, um eine bessere Versorgung ihrer Kinder zu realisieren (vgl. Bösl 2009: 74). Dies hängt auch damit zusammen, dass die Versorgung von Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Nachkriegszeit zunächst an die Fürsorgestrukturen der Zeit vor 1933 anschloss. So wurden Kinder mit Funktionseinschränkungen zu Hause oder in Heimen, die oft menschenunwürdig waren, so gut es ging versteckt (vgl. Schmuhl 2010: 88; Köbsell 2018: 317f.). Klee (1980) schildert seinen Eindruck von den Heimen wie folgt: »Behindertenheime sind wie Gefängnisse. Die Heimleitung regelt die Bedürfnisse genauso rigoros wie die Gefängnisleitung, sie bestimmt, was für die Bewohner gut oder schlecht ist, förderlich oder schädlich.« (Klee 1980 zitiert nach Köbsell 2018: 318) Im Zuge der 1968er Bewegung kam es zur Gründung des durch Menschen mit Funktionseinschränkung ins Leben gerufenen »Club 68«, aus dem schließlich die »Clubs Behinderter und ihrer Freunde e.V.« (CeBeeF) entstanden (vgl. ebd.: 320). Auch die oben genannte »Krüppelgruppe« hat bedeutend dazu beigetragen, die gesellschaftliche Aufmerksamkeit auf die Bedürfnisse und vor allem die Rechte von Menschen mit Funktionseinschränkung zu lenken. Ausdruck der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung sind die selbst organisierten Beratungsund Serviceeinrichtungen, die im Sinne der Peer-Beratung arbeiten. Die erste Einrichtung dieser Art wurde 1986 in Bremen eröffnet und bis heute existieren deutschlandweit etwa 20 solcher Zentren. 1990 kam es schließlich zur Gründung der Dachorganisation mit dem Namen »Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben« (ISL), die gleichzeitig der deutsche Zweig der internationalen Selbstvertretungsbewegung »Disabled Peoples’ International« ist (vgl. www.isl-ev.de, zuletzt aufgerufen am 02.10.2018). Durch das Hervortreten aus den »geschützten« Räumen war der erste Schritt weg von der paternalistischen Bevormundung hin zu mehr Selbstbestimmung gewagt, wobei Selbstbestimmung nicht gleichzusetzen ist mit der häufig utopisch anmutenden vollständigen Selbstständigkeit oder Autonomie; Selbstbestimmung bedeutet hier die »Kontrolle über das eigene Leben zu haben, basierend auf der Wahlmöglichkeit zwischen akzeptablen Alternativen, die die Abhängigkeit von den

7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

Entscheidungen anderer bei der Bewältigung des Alltags minimieren.« (DeLoach et al. 1983: 64, Übersetzung Horst Frehe) Auch die Tatsache, dass sich immer mehr Professionen und universitäre Lehrstühle damit beschäftigen, Behinderung gesellschaftlich zu verorten und so der biologistischen eine entgegengesetzte Sichtweise gegenüber zu stellen, die sich im Sozialen Modell von Behinderung (siehe Kapitel 1.2) manifestiert und weiterentwickelt (siehe Kapitel 1.3), ist ein klares Zeichen dafür, dass sich sowohl nicht-medizinische Professionen als auch Menschen mit Funktionseinschränkungen als Gruppe einen Machtzuwachs erkämpft haben. Kodifiziert hat sich dieser Machtzuwachs auf internationaler Ebene in dem erwähnten »Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen« (UN-Behindertenrechtskonvention; Abkürzung: UN-BRK), an der auch Menschen mit Funktionseinschränkungen aktiv mitgearbeitet haben. Hier wird auf völkerrechtlicher Basis die Gleichberechtigung von Menschen mit »Behinderungen« festgeschrieben. Deutschland hat diese Konvention 2009 ratifiziert, wodurch nun Bund und Länder aufgefordert sind, die Rechte von Menschen mit Funktionseinschränkungen sicherzustellen, Benachteiligungen zu verhindern und geeignete Maßnahmen zur Realisierung der Ziele der Konvention zu treffen. Das Übereinkommen hat ebenfalls die vorher rein medizinisch geprägte Definition von Behinderung abgelöst. Die Konvention verwendet das Behinderungsverständnis der ICF von 2001, der zufolge Behinderung aus der Wechselbeziehung zwischen den individuellen Voraussetzungen und den gesellschaftlichen Bedingungen entsteht. Nach Köbsell (2018) bedeutet das in der Konsequenz: »Mit der UN-BRK wird der Abbau behindernder Barrieren zur Einlösung von Menschenrechten.« (Köbsell 2018: 324) Wobei hier einschränkend zu vermerken ist, dass Menschenrechtsverstöße bislang nicht wirksam sanktioniert werden können. Auch wenn Deutschland sich verpflichtet hat, »die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern« (§4, Abs. 1 UN-BRK), bleibt bei einem registrierten Verstoß keine andere Möglichkeit, als den moralischen Zeigefinger zu heben. Auf nationaler Ebene hat sich dieser Machtzuwachs vor allem 1994 in der Änderung des deutschen Grundgesetzes (GG) durch die zusätzliche Aufnahme des Satzes »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden« (Artikel 3, Absatz 3, GG) manifestiert. Diese Änderung stellt einen Meilenstein in der Geschichte der Behindertenpolitik dar, da alle anderen Gesetze diesem Grundsatz nicht widersprechen dürfen. Zur Umsetzung für die Träger der öffentlichen Gewalt auf Bundesebene wurden 2002 das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), in dessen Folge auf Länderebene jeweils spezifische Landesgleichstellungsgesetze (LGG) erlassen. Diese Gesetze regeln vor allem die Barrierefreiheit für den öffent-

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lichen Bereich. Die größten behindernden Barrieren für Menschen mit Funktionseinschränkung sind jedoch im alltäglichen Miteinander und in der Privatwirtschaft zu finden – für diese Bereiche galt bis 2006 kein entsprechendes Recht. Da das GG nur im Bereich staatlichen Handelns seine Gültigkeit hat und daher für das Verhältnis der Bürger*innen untereinander nicht angewendet werden kann, folgte 2006 das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG), das »Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität verhindern und beseitigen« (§ 1, AGG) soll. Auch wenn diese Gesetze Ausgrenzung und Vorurteile nicht direkt verhindern, so haben Menschen mit Funktionseinschränkungen im Falle von Diskriminierung nun einen Grundsatz, auf den sie sich berufen können. Sowohl Einzelpersonen als auch Verbände – wenn auch mit deutlichen Einschränkungen – haben bei einem Diskriminierungsverdacht oder -tatbestand nun die Möglichkeit vor Gericht zu klagen (vgl. Hirschberg 2009: 317). Sofern Menschen durch Funktionseinschränkungen beeinträchtigt sind und ein entsprechender Leistungsbedarf vorliegt, greift das Wohlfahrts- bzw. Rehabilitationsrecht (SGB IX) »zur Regelung ihrer individuellen Leistungsansprüche und der Zuweisung von Leistungen bei gerechtfertigten Ansprüchen gegenüber der Solidargemeinschaft« (ebd.: 316). Während das Wohlfahrtsrecht eine negative Klassifizierung benötigt, um die individuelle Hilfsbedürftigkeit zu verifizieren, kommen die Antidiskriminierungsgesetze ohne diese aus, indem sie Behinderung als neutrale Kategorie einer gesellschaftlichen Gruppe erfassen (vgl. ebd.: 319). Dennoch verwendeten sowohl das SGB IX als auch das BGG bis Ende 2017 die in Kapitel 2.1 beschriebene juristische Definition von Behinderung, die sich eher am Medizinischen Modell orientierte, gleichwohl bereits auf die gesellschaftliche Teilhabebeeinträchtigung verwiesen wird. Dieser Behinderungsbegriff im SGB IX wurde im Zuge des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) inzwischen an die Definition der UN-BRK angeglichen. Andere deutsche Gesetzestexte verwenden weiterhin deutlich defizitäre Definitionen, so werden in der Eingliederungshilfe-Verordnung Menschen mit körperlichen Funktionseinschränkungen als »Personen mit erheblichen Spaltbildungen des Gesichts oder des Rumpfes oder mit abstoßend wirkenden Entstellungen vor allem des Gesichts« (§1, Abs. 2 der Verordnung nach §60 SGB XII) bezeichnet. Viele Sozialverbände kritisierten 2013 die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland aufgrund dieser Definitionen, aber auch aufgrund zahlreicher Defizite in anderen gesellschaftlichen Bereichen; aus diesen Gründen haben sie unter der Leitung des Deutschen Instituts für Menschenrechte einen Parallelbericht zur Umsetzung der Konvention publiziert (vgl. BRK-Allianz 2013). Die Tatsache des offenen Widerstands gegen öffentliche politische Stellungnahmen und mangelnde Umsetzung geltenden Rechts, weist deutlich auf eine

7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

Angleichung der Machtbalance zwischen Menschen mit und ohne Funktionseinschränkungen und ihren jeweiligen Stellvertretungsorganisationen hin. Mit dem bereits 2016 teilweise in Kraft getretenen »Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG)« sollen die derzeitigen rechtlichen Regelungen für Menschen mit Behinderung im Sinne der UN-BRK reformiert, aus der Eingliederungshilfe (SGB XII) herausgelöst und zu einem modernen Teilhaberecht im SGB IX weiterentwickelt werden. Ob das Ziel der besseren gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Funktionseinschränkungen mit diesem Gesetz – bei gleichzeitiger Kostenbremse – realisierbar ist, bleibt abzuwarten. Trotz aller rechtlichen Errungenschaften muss auch darauf hingewiesen werden, dass Deutschland in Vergleich zu beispielsweise Schweden und Österreich in vielen Fällen weiterhin, wie Plessner (1982) in anderem Zusammenhang feststellt, als eine »verspätete Nation« (Plessner 1982) bezeichnet werden kann. Hinsichtlich der Verschiebung der Deutungshoheit der Medizin auf andere Professionen muss der Soziologie Anerkennung gezollt werden. Bereits 1972 formulierte der Medizinsoziologe Christian von Ferber in einem von Walther Thimm herausgegebenen Sammelband mit dem Titel »Soziologie der Behinderten«: »Die Kategorie der Behinderung stellt auf gesellschaftliche Teilhabe dieser Menschen ab, sie meint ihren von Haus aus anderen Bezug zu den Formen des miteinander Handelns und miteinander Verkehrens oder – wie wir Soziologen sagen – zu den Formen der Kooperation und Kommunikation, in denen die gesellschaftliche Normalexistenz verläuft. Diese Beziehung aber ist in unserer Gesellschaft und bei dem gegenwärtigen Stand soziologischen Wissens unanschaulich, sie gestattet keine rasch zugreifende Identifizierung, weil sie – wie wir sehen werden – auf der Rückseite der normalen Vergesellschaftung liegt.« (von Ferber 1972a: 31; Hervorhebung C.E.) Obgleich die Soziologie der Behinderten in Deutschland kaum nennenswerte Beachtung fand, so hatte sie einen großen Einfluss sowohl auf die Nachbardisziplinen als auch auf die deutsche Sozialpolitik, so ist »Behinderung« als ein Phänomen gesellschaftlicher Teilhabe seit 2001 im deutschen Sozialrecht fest verankert (vgl. Kastl & Felkendorff 2014: 2): »Menschen mit Behinderungen oder von Behinderung bedrohte Menschen erhalten Leistungen nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, um ihre Selbstbestimmung und ihre volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken.« (§1, SGB IX) All dies – sowohl die Verschiebung der Deutungshoheit von der Medizin auf andere Professionen als auch auf Menschen mit Funktionseinschränkungen – ist eine Er-

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rungenschaft, die in der Moderne, mit ihren engen Normalitätsgrenzen undenkbar gewesen wäre, und ein Kennzeichen zunehmender Diversität. In der Postmoderne liegt die Bewertung von Menschen mit Funktionseinschränkungen folglich nicht mehr in naturwissenschaftlicher, sondern – nach langen Kämpfen – in juristischer Hand. Menschen mit Funktionseinschränkungen haben nun die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen auch. Sie sind in erster Linie gleichberechtigte Bürger*innen und erst in zweiter Linie wirtschaftliche Nutzer von Sozial-, Gesundheits- und Rehabilitationsmaßnahmen. Menschen mit Funktionseinschränkung erkämpften in der Postmoderne eine Statusverschiebung von zu verwahrenden Objekten der Fürsorge, Wohltätigkeit und Therapie zu selbstbestimmten Subjekten mit einem Bürgerrecht auf gesellschaftliche Teilhabe. Empfindungen und Einstellungen gegenüber jenen Menschen lassen sich jedoch nicht allein durch Gesetze steuern; sie werden sich erst ändern, wenn es auch zu einem gesellschaftlichen Wertewandel hinsichtlich der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit, kognitiver Fähigkeiten und Gesundheit kommt. Einerseits kann in unserer gegenwärtigen Gesellschaft durchaus eine Tendenz zur Anerkennung von Vielfalt und Verschiedenheit18 erkannt werden, und Bestrebungen wie die schulische Inklusion sind hier deutliche Zeichen auch einer institutionellen Verankerung, gleichzeitig kommt es im Bildungssektor beispielweise dennoch zu zunehmender Standardisierung (z.B. Credit-Points) – also dem Gegenteil von Vielfalt –, um den Anschein der vorgeblich notwendigen Vergleichbarkeit von Abschlüssen und Leistungen zu gewährleisten (vgl. Kastl & Felkendorff 2014: 165). Viel bedeutsamer für Menschen mit Funktionseinschränkungen sind jedoch die deutlich entgegengesetzten Bestrebungen wie beispielsweise die Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik, die darauf setzen, »Vielfalt« von vornherein zu verhindern. Man kann für die Postmoderne zwei sich zum Teil widersprechende Strömungen gesellschaftlicher Reaktion auf Menschen mit Funktionseinschränkungen identifizieren: eine rechtliche Gleichstellung verbunden mit einer zunehmenden öffentlichen Präsenz von Menschen mit Funktionseinschränkungen bei gleichzeitigen Bestrebungen, das Leben dieser Menschen durch biomedizinische Eingriffe pränatal abzuwenden (vgl. Köbsell 2006: 74). Hierauf wird im folgenden Kapitel vertiefend eingegangen.

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Exemplarisch hierzu der Satz, mit dem der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker 1993 die Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte e.V. eröffnete: »Es ist normal, verschieden zu sein. Es gibt keine Norm für das Menschsein. […] Dass Behinderung nur als Verschiedenheit aufgefasst wird, das ist ein Ziel, um das es uns gehen muss.« (von Weizäcker 1993; Weglassung C.E.)

7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

7.4

Institutionalisierte Reaktionen auf (potenziell) kranke und funktionseingeschränkte Menschen

Die institutionalisierten Reaktionen auf kranke und funktionseingeschränkte Menschen verändern sich in der Postmoderne. Auch die Einführung der Rehabilitation ist letzten Endes eine gesellschaftliche Reaktion auf Menschen mit Funktionseinschränkungen. Die Sondereinrichtungen der Moderne wurden zum Ende des 20. Jahrhunderts verkleinert und werden gegenwärtig teilweise vollständig aufgelöst bzw. in andere Institutionen, beispielsweise Regelschulen, integriert. Dies betrifft nicht alle Formen der Sondereinrichtungen und man muss davon ausgehen, dass es einen ständigen Bedarf an Einrichtungen, die sich vor allem um Menschen mit schwersten Funktionseinschränkungen kümmern, geben wird. So konstatiert Johannes Rau (2004): »Natürlich brauchen […] [einige der Menschen mit Funktionseinschränkungen] Zuwendung und Fürsorge; sie brauchen auch ein zuverlässiges Netz von Einrichtungen, in denen sie Betreuung, Ausbildungsmöglichkeiten und Beschäftigung finden. Heute ist aber stärker als früher die Hilfe zur Selbsthilfe im Blick.« (Rau 2004: 14; Weglassung und Ergänzung in Klammern C.E.) Die Gestaltung dieses »Netzes«, ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Alles beim Alten zu belassen ist hierbei keine Alternative. Der Weg der Inklusion ist eine gesetzliche Vorgabe. Wie der Weg verlaufen soll, wird sich in der Praxis zeigen müssen. Den inkludierenden Prozessen offensichtlich diametral entgegengesetzt ist ein Prozess erkennbar, der sich, ausgehend von den biomedizinischen Möglichkeiten der Postmoderne, weniger auf die Heilung von Krankheit oder Linderung von beispielsweise mit Funktionseinschränkung verbundenen Schmerzen konzentriert, sondern darauf, Menschen mit entsprechender genetischer Veranlagung gar nicht mehr erst »entstehen zu lassen« (vgl. Köbsell 2006: 74). Während in der Moderne der Körper und seine Pflege beispielsweise in Hinblick auf hygienische Maßnahmen zur Krankheitsvorsorge an Bedeutung gewannen, so verschieben sich in der Postmoderne die Maßnahmen zur Krankheitsvorhersage, -vorsorge und schließlich Krankheitsverhinderung aufgrund der Fortschritte biomedizinischer Prognosemöglichkeiten auf das individuelle Genom sowie auf das noch ungeborener Nachkommen. Seit Ende der 1980er Jahre ist es durch die sogenannte Pränataldiagnostik (PND) möglich, Abweichungen am Genom eines Fötus festzustellen (vgl. Stengel-Rutkowski 2002: 46). Dieses Verfahren ermöglicht es, Erbkrankheiten, erblich bedingte Funktionseinschränkungen oder pathologische Dispositionen für Erkrankungen beim ungeborenen Kind relativ sicher vorauszusagen. Bei den vergleichsweise seltenen monogenetischen Krank-

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heiten (z.B. Huntington) sind diese Wahrscheinlichkeiten in der Regel höher als bei den deutlich häufigeren, polygenetischen Krankheiten wie Krebs, Alzheimer oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen, deren Auftreten auch mit anderen Faktoren wie dem Lebensstil des Anlagenträgers zusammenhängt (vgl. Lemke 2004: 19). Bei vorgeburtlichen Untersuchungen kommen invasive PND-Verfahren wie die Plazenta- und die Fruchtwasser-Punktion zum Einsatz. Beide sind nicht völlig risikofrei. Zwar ist das Risiko einer Fehlgeburt in den ersten Schwangerschaftswochen per se höher als später, jedoch zeigen Jauniaux & Rodeck (1995) in einem Review, dass bei beiden diagnostischen Verfahren das Risiko einer Fehlgeburt leicht ansteigt – dies hängt aber vor allem mit dem relativ frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft zusammen, in dem die Punktion noch in den 1980er Jahren durchgeführt wurde: »The earlier the procedure is performed, the higher the risk of subsequent miscarriage.« (Jauniaux & Rodeck 1995: 246) Neuere Studien sehen kein signifikant höheres Risiko einer Fehlgeburt – was vermutlich damit zusammenhängt, dass die Maßnahmen heutzutage zu einem späteren Zeitpunkt der Schwangerschaft durchgeführt werden (vgl. Eddleman & Malone et al. 2006; Caughey & Hopkins et al. 2006). Mit den nicht-invasiven Verfahren wie der Ultraschalluntersuchung oder der Nackentransparenzmessung sind nach heutigem Wissensstand keine Risiken für das Ungeborene und die Mutter verbunden. Seit 2012 ermöglicht ein (selbst zu zahlender) Bluttest der schwangeren Frau die Feststellung einer genetischen Abweichung des Fötus (z.B. Trisomie 21), womit das Risiko der durch die Fruchtwasseruntersuchungen verursachten Schädigungen des Embryos oder der Mutter zunächst gänzlich vermieden wird (vgl. Uhlmann 2014). Die PND sagt in den meisten Fällen nichts oder nur sehr wenig über die Schwere der diagnostizierten genetischen Abweichung aus. Oftmals kann nur Auskunft darüber gegeben werden, dass eine Veranlagung für eine genetische Abweichung existiert – ob, wann und mit welchem Verlauf eine Krankheit und/oder Funktionsstörung auftritt, bleibt in diesen Fällen ungewiss. Es handelt sich bei dem Diagnosebefund folglich nicht um eine klinische Tatsache, sondern um eine statistische Risikokalkulation. Überspitzt formuliert: Wenn eine schwangere Frau erfahren würde, dass ihr Kind später einmal Berufspendler wird und daher das statistische Risiko, an einem Autounfall mit schwerwiegenden Folgen beteiligt zu sein, sehr hoch ist, befände sich die Frau bzw. das Paar in einer ähnlichen Situation wie mit der Aussage, dass eine genetische Krebs-Disposition vorhanden sei (vgl. Lemke 2000: 245). Hier muss allerdings einschränkend erläutert werden, dass in diesem Beispiel die Eltern vermutlich davon ausgehen, noch einen Einfluss auf die Berufswahl oder die Fahrweise ihres Kindes zu haben, also die antizipierten Kontrollchancen größer sind, als bei einer vorgeburtlichen Krebs-Disposition. Die PND gehört in Deutschland bereits zur medizinischen Vorsorgeroutine, so dass sich viele werdende Eltern keine Gedanken mehr darüber machen, ob sie

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sie überhaupt durchführen lassen oder nicht (vgl. Dederich 2007: 137f.). Das Ergebnis einer rein statistischen Auftretenswahrscheinlichkeit einer Erkrankung ist allerdings klinisch kaum relevant, da bislang keine pränatalen und nur sehr begrenzte postnatale Therapiemöglichkeiten existieren (vgl. Lemke 2000: 246), worauf Ärzt*innen vor einer Durchführung der PND hinweisen sollten. Das heißt, das Paar steht in den meisten Fälle vor der Entscheidung zu einem Schwangerschaftsabbruch. In der Konsequenz bedeutet dies die Tötung eines ungeborenen Kindes, das beispielsweise mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit Trisomie 21 hat, jedoch unter Umständen ein Leben führen könnte wie Menschen ohne Trisomie 21 (als Beispiele seien hier die Schauspielerinnen Carina Kühne oder Julia Häusermann genannt). Gegenwärtig wird davon ausgegangen, dass die Abtreibungsquote nach einer Trisomie 21-Diagnose bei ca. 67 % liegt (vgl. Deutscher Bundestag 2017: 18). Es ist weitergehend zu vermuten, dass die Paare, die sich für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden, noch nie Menschen mit Trisomie 21 kennengelernt bzw. mit ihnen gesprochen haben. Es scheint so, als ob sich in der Postmoderne das biopolitische Problem der Moderne gelöst hat, ohne auf rassistische Ideologien zurückgreifen zu müssen (vgl. Rösner 2014: 129). Der Schwangerschaftsabbruch ist unter dem Primat der Selbstbestimmung erstens zur Privatangelegenheit und zweitens zur Normalität geworden – eine staatliche Regulation hat sich erübrigt. Baureitel (2019) fasst mit Rückgriff auf Graumann zusammen: »Das Selbstbestimmungsrecht werde dabei mit größter Selbstverständlichkeit auf alle Bereiche des reproduktiven Marktes ausgedehnt. Was für frühere Zeiten einmal [als] ein Abwehrrecht gegen die Einmischung des Staates verstanden wurde, setze sich heute zunehmend durch als [ein] Anspruchsrecht auf ein gesundes Kind, mit dem Rückgriff auf alle medizinischen Möglichkeiten. Darauf zielt auch die Anbieterseite ab, wenn sie neue Verfahren etabliert und ausweitet. Es werden immer Einzelfälle, individuelle Problematiken aufgerufen, sozialethische Überlegungen, gesellschaftliche Zusammenhänge und Auswirkungen bleiben außen vor.« (Baureithel 2019: 3; Ergänzung in Klammern C.E.) Das Rationalisierungsprinzip der Moderne verlagerte sich mit der Biomedizin in der Postmoderne auf den vorgeburtlichen Zeitraum. Das Leben eines noch ungeborenen Menschen kann scheinbar vorhergesehen und im Falle einer entsprechenden Diagnose verhindert werden. Die verwendeten Begriffe rund um diese Möglichkeiten sind durchweg positiv besetzt: »Prävention«, »prophylaktische Maßnahme«, »Selbstbestimmung«, »Autonomie« und »Verantwortung«. Gleichwohl hier der Eindruck erweckt wird, es handele sich um eine vernünftige Maßnahme, be-

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deutet PND in letzter Konsequenz, sich bei einem entsprechenden Befund entscheiden zu müssen, einen Embryo – einen werdenden Menschen – abzutreiben.19 Auf der anderen Seite sollte bedacht werden, dass das Wissen darum, wahrscheinlich ein Kind mit einer Funktionseinschränkung auf die Welt zu bringen, auch eine Chance zur Vorbereitung bietet. Wenn also solche Tests verboten werden sollten, käme dies nicht allein einer Relativierung des Selbstbestimmungsrechts und damit quasi einer Entmündigung gleich, sondern würde auch die medizinische, psychische und soziale Vorbereitung auf ein solches Kind verhindern. Nach Beck-Gernsheim (1994) wird die Vermeidung der Geburt von Kindern, deren Genom Veränderungen aufweist, zur Aufgabe des mündigen Bürgers, immer zwar unter der Prämisse der Freiwilligkeit, jedoch auch der Schuldzuweisung, falls ein solcher Test nicht gemacht wird (vgl. Beck-Gernsheim 1994: 327). Da bei allen Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchungen routinemäßig nach den Befunden der PND gefragt wird, gerät die schwangere Frau, die diese nicht durchgeführt hat, unter Rechtfertigungszwang. Dieser ist vermutlich noch stärker, wenn sie sich nach einem Test bei entsprechendem Befund gegen einen Schwangerschaftsabbruch entschieden hat (vgl. Uhlmann 2014). Bei einer Umfrage zur PND stimmten 70 % der befragten Frauen der Aussage zu: »Eine Frau, die ein Kind mit einer schweren geistigen oder körperlichen Behinderung zur Welt bringt, weil sie die vorgeburtliche Diagnose nicht durchführen lassen wollte, handelt unverantwortlich.« (zitiert nach Beck-Gernsheim 1995: 125) Hieraus lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass überall dort, wo Kontrolle möglich ist, sie auch irgendwann von der Gesellschaft eingefordert und von Menschen relativ unreflektiert als »normal« betrachtet und angewendet wird.20 Schließlich hat man eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, dem Partner und vielleicht sogar gegenüber den Eltern und Großeltern, die auf ein niedliches, gesundes, vorzeigbares Enkelkind hoffen und schließlich gegenüber dem noch ungeborenen Kind, denn wer soll dafür verantwortlich werden, wenn man 19

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Es ist an dieser Stelle wichtig darauf hinzuweisen, dass man hier die elterliche Situation nicht einfach ausklammern kann. Die werdenden Eltern stehen vor einer schwierigen Entscheidung. Je nach wahrscheinlicher Schwere der Erkrankung und/oder Funktionseinschränkung des Kindes wird das bisherige Leben – wie immer, wenn Kinder hinzukommen – zukünftig vollkommen anders verlaufen. Aber in diesem Fall kommen zu den »normalen« Belastungen unter Umständen deutlich schwerwiegendere Aufgaben der Fürsorge und Förderung, eventuell sogar die Aufgabe des bisherigen Berufs und anderes mehr auf die Eltern zu. Hier helfen keine noch so starken Argumente über die Anerkennung menschlicher Vielfalt, und hier kann auch die Wissenschaft keine Hilfestellung geben. Die soziologische Warnung kann sich hier lediglich darauf beschränken, darauf hinzuweisen, was es gesellschaftlich bedeutet, wenn die Entscheidung zur selektiven Abtreibung zur »Routine« bzw. »Normalität« wird. »Niemals war so viel Macht mit so wenig Lenkung für ihren Gebrauch verbunden. Gleichwohl gibt es einen Zwang, sobald Macht erst einmal da ist, sie auf jeden Fall zu gebrauchen.« (Jonas zitiert nach Bauman 1992: 79)

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selbst nicht mehr lebt? Dies treibt die Bereitschaft voran, die angebotenen Tests zu machen (vgl. Beck-Gernsheim 1994: 328f.). Wer nicht einem sich vollziehenden Rationalisierungsschub teilnimmt, erscheint schließlich als ein irrational handelnder Mensch. Beck-Gernsheim (1994) spricht hier von einem »freiwilligen Zwang« (vgl. ebd.: 324). Die Funktionen der Verhaltenssteuerung verlagern sich durch die Möglichkeiten der Biomedizin von ehemals traditionellen Instanzen (Religion und Familien) zu selbstbestimmten Individuen, die sich »freiwillig« den vorgegebenen Maßnahmen um der Gesundheit willen unterwerfen (vgl. ebd.: 331). Lemke (2004) formuliert dies pointiert: »Wo vorher Schicksal war, muss nun entschieden werden.« (Lemke 2004: 93) Bei der PND entscheidet gegenwärtig die schwangere Frau über einen Abbruch21 ; der Schutz der Mutter hat Vorrang vor dem Recht auf Leben des ungeborenen Kindes. Aber diese individuelle Entscheidung wird immer auch vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Faktoren (wie finanzieller Absicherung, Reaktionen des direkten Umfelds, Meinung des Partners, der Eltern, medial vermitteltes Bild von Menschen mit Funktionseinschränkungen etc.) getroffen. So macht die PND aus menschlichem Leben eine Kosten-Nutzen-Analyse: die potenzielle Belastung der Mutter bzw. der Eltern wird gegen das Lebensrecht eines behinderten Kindes abgewogen (vgl. Waldschmidt 2004b: 166). Gleichzeitig weisen die Ergebnisse verschiedener Erhebungen darauf hin, dass ein nicht unerheblicher Anteil von Menschen mit Funktionseinschränkung selbst Gebrauch von der Option der PND machen würden, um die Geburt von Kindern mit Funktionseinschränkungen abzuwenden (vgl. van den Daele 2005: 117). Es geht folglich nicht um eine prinzipielle Ablehnung von Schwangerschaftsabbrüchen – dies käme einer Fremdbestimmung gleich, die gerade die Vertreter*innen der Disability Studies vehement ablehnen –, sondern darum, zu gewährleisten, dass zur Entscheidungsfindung wirklich alle Möglichkeiten aufgezeigt werden, der statistische Charakter der Diagnostik verständlich kommuniziert und kein einseitiger Druck auf die Frau bzw. das Paar ausgeübt wird. Sowohl die Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch als auch die gesetzlich vorgeschriebene Beratung findet nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum statt; Wertzuschreibungen von Leben und Nutzung der modernen medizinischen Möglichkeiten werden gesellschaftlich vermittelt. Ein Beratungsgespräch sollte das Ziel der selektiven Abreibung nicht bereits als »Lösung« vor Augen haben.

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»Entscheidung und Verantwortung werden individualisiert und auf die »Endnutzerin« verschoben, politische Weichenstellungen entpolitisiert und lediglich als Erweiterung der Wahlmöglichkeiten deklariert, immer unter Berufung auf den medizinischen Fortschritt.« (Baureithel 2019: 3)

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Kuhlmann (2011) nimmt eine deutlich gegen die Disability Studies gerichtete Position bezüglich Schwangerschaftsabbrüchen nach einer PND ein und wirft der geführten Diskussion Realitätsfremdheit vor, da die gut nachvollziehbaren Gründe die Paare dazu veranlassen, der Geburt eines schwerbehinderten Kindes vorzubeugen, einfach ignoriert werden: »Dass dieses Kind nämlich die Frau in der Lebensführung erheblich einschränken und auch für die übrige Familie eine Belastung darstellen würde; dass dieses Kind Schmerzen sowie andere Beeinträchtigungen erleiden würde, die man ihm ersparen möchte oder die mit anzusehen man sich selbst nicht zutraut; dass schließlich die bloße Vorstellung, ein schwergeschädigtes Kind zu haben, einen solchen Schock und eine solche Kränkung auslösen kann, dass es einer weiteren Begründung, warum man dieses Kind nicht zur Welt bringen will, gar nicht bedarf.« (Kuhlmann 2011: 54) Der Wunsch Leiden zu verhindern ist absolut berechtigt, allerdings sollten die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Funktionseinschränkungen tatsächlich ein Leiden darstellen, mit reflektiert werden.  Eine weitergehende Maßnahme der Biomedizin stellt die Präimplantationsdiagnostik (PID) dar. Zwar ist diese in Deutschland erst seit 2011 erlaubt, in anderen Ländern aber bereits seit den 1990er Jahren verfügbar – teilweise jedoch nur für Eltern, die Träger von definierten Erberkrankungen sind. Bei der PID werden die Gene von in-vitro gezeugten Embryonen untersucht und nur jener Embryo in die Gebärmutter eingesetzt, der über entsprechend »gesundes« Genmaterial verfügt. Durch diese Selektion ist der Körper der Frau weder diagnostisch noch therapeutisch betroffen. Zwar wurde diese Art der Diagnostik dadurch begründet, dass sie schwere Erbkrankheiten zu verhindern sucht, jedoch sind damit auch die Grenzen zwischen der Vermeidung eines erbkranken Kindes hin zu der Produktion eines Kindes mit wünschenswerten Eigenschaften (Designerbabys) offen (vgl. Lemke 2000: 249f.). »Das neue Selektionsverfahren […] vereinigt negative und positive »Eugenik«22 : Die Entscheidung, einen bestimmten Fötus nicht heranwachsen zu lassen, bedeutet nicht mehr den – vorläufigen oder endgültigen Verzicht auf Fortpflanzung, sie ist vielmehr mit der Option für ein anderes, erwünschtes Kind unmittelbar verknüpft.« (Kuhlmann 1999: 12; Hervorhebung i.O., Weglassung in Klammern C.E.) 22

Unter »negativer Eugenik« werden Maßnahmen subsumiert, die darauf abzielen Menschen mit unerwünschten genetischen Eigenschaften zu verhindern, »positive Eugenik« verweist auf Maßnahmen zur Vermehrung von Menschen mit wünschenswerten genetischen Eigenschaften.

7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

Auch Menschen mit Funktionseinschränkungen können das Verfahren in einigen Ländern zu ihren »Gunsten« nutzen: Gehörlose Eltern haben sich in England mittels PID für ein Kind entschieden, das ebenfalls gehörlos sein wird (vgl. Rösner 2014: 296). »Wünschenswert« bezieht sich vor dem Hintergrund der Individualisierung folglich nicht zwangsläufig nur auf das gesellschaftlich Wünschenswerte, auch wenn dies in der Mehrheit aller Fälle so sein wird und die Befürchtungen, dass diese Methode zur Reduktion der gesellschaftlichen Akzeptanz von Menschen mit angeborenen Funktionseinschränkungen führen wird, sicher ihre Berechtigung haben. Es ist eine Frage der Grenzziehung: Wer entscheidet darüber, was als lebenswert oder lebensunwert bezeichnet werden kann und in der Konsequenz entsprechend leben oder nichtleben soll?23 Die Eltern? Die Medizin oder das Gesetz?24 Vor allem ist es eine wichtige Frage, ob es auch Aufgabe der Medizin ist, Menschen nicht nur zu heilen, sondern auch zu »optimieren«, wozu eben auch gehört, Menschen mit Funktionseinschränkungen nicht mehr »entstehen zu lassen« (vgl. Seidler 1997: 10). Die PID entspricht historisch gesehen den Zukunftsvisionen der eugenischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts. Alfred Ploetz sah die Zukunft der Eugenik darin, die Selektion bereits an der Keimzelle anzusetzen, es würde sich dann um »ein Verschieben der Auslese und Ausjäte von den Menschen auf die Zelle, aus denen sie hervorgehen, also eine künstliche Auslese der Keimzelle« (Ploetz 1895: 231) handeln. Auch der Präsident der American Eugenics Society sprach sich 1940 für eine routinemäßige genetische Qualitätskontrolle der Nachkommenschaft aus: »Das eugenische Ideal fordert eine Gesellschaft, die so organisiert ist, dass die eugenische Selektion als selbstverständlicher und weitgehend unbewusster Prozess 23

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»Heute ist es das Down-Syndrom, morgen vielleicht Autismus, übermorgen eine hohe Wahrscheinlichkeit für Alzheimer oder Krebs? Wenn man beginnt, nach genetischen Merkmalen und gesellschaftlich abgesegnet zu selektieren, ist es dann auch irgendwann nicht mehr zuzumuten, dass eine Frau ein Kind mit hohem Krebsrisiko zur Welt bringt.« (Baureithel 2019: 3) Die szenische Lesung »Die Unmöglichen« von Paul Plamper und Julian Kamphausen behandelt literarisch die Thematik der PID und versucht die möglichen Leben von drei in-vitro gezeugter Embryonen zu skizzieren – gleichwohl klar ist, dass nur einer von ihnen tatsächlich leben wird. Hier wird sehr gut aufgezeigt, dass ein familiäres Zusammenleben mit einem sogenannten Wunschkind (das Eine verfügt über ein überdurchschnittliches Klaviertalent, dass Andere über eine überdurchschnittliche Intelligenz) nicht unbedingt das »bessere« Leben ist. Es wird deutlich, dass die Familie mit der Tochter, die mit Trisomie 21 auf die Welt kam (was ein medizinischer Unfall war), wächst und reift, während sie an den Wunschkindern zerbricht. Der Frage, »was ein Leben wertvoll« macht, wird hier eindrucksvoll nachgegangen. Am Ende des Stücks, das zeitlich auf den Anfang zurückspringt, entscheiden Mediziner anhand des Genmaterials, welcher der drei Embryonen eingesetzt wird; die Wahl fällt auf das Wunschkind mit Klaviertalent.

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stattfindet.« (Osborn 1940: 297) Dieses »Ideal« scheint mehr oder weniger erreicht zu sein. Gegenwärtig wird die PID darüber hinaus bereits in vielen Ländern »zur Selektion von genetischen Variationen eingesetzt, die entweder mit behandelbaren Krankheiten assoziiert sind und/oder lediglich mit erhöhten Krankheitsrisiken einhergehen, es also unsicher ist, ob die Betroffenen jemals an dieser Krankheit leiden werden.« (Lemke & Rüppel 2017: 69) Habermas (2001) warnt hinsichtlich der zunehmenden Verfügbarkeit und Inanspruchnahme biomedizinisch eingreifender Verfahren vor einer »liberalen Eugenik« (vgl. Habermas 2001) andere Autoren sprechen von einer »Eugenik von unten«, die im Gegensatz zu einer »Eugenik von oben« eben keine staatliche Planung oder Aufforderung mehr benötigt. Sowohl von Vertreter*innen der Behindertenbewegung als auch von der Bioethik wird die Möglichkeit der PID daher verständlicherweise als »Demütigung für Menschen mit Behinderung angesehen und als Infragestellung ihrer Existenz und Signal eines Nichtwillkommenseins und des Nichtdazugehörens empfunden« (Deutscher Ethikrat 2011: 64f.). Ebenso wird befürchtet, dass die »Bereitschaft zur solidarischen Übernahme von Therapie- und Pflegekosten, aber auch die notwendige Investition in medizinische Forschungsprojekte sinken könnte.« (Lemke & Rüppel 2017: 71) Die Befürchtung, dass mit der PID der Eugenik bereits eine Tür geöffnet wurde, die es zu verteidigen gilt, ist aus Sicht von Menschen mit Funktionseinschränkungen nicht ganz unberechtigt. Dennoch liegt für die Befürchtung einer Solidaritätsaufkündigung derzeit kein empirisches Material25 vor, im Gegenteil, alle vorhandenen Studien weisen darauf hin, dass auch nach (oder trotz) Einführung der PND und PID tendenziell eine Verbesserung der Lage von Menschen mit Funktionseinschränkungen zu verzeichnen ist, dass wer erst einmal geboren ist, uneingeschränkte rechtliche und soziale Achtung seiner Würde erfährt und nicht als Objekt einer möglichen Selektion betrachtet wird (vgl. van den Daele 2005: 106f.).26 Van den Daele (2005) spricht hier von einer »moralischen Wasserscheide« im Bewusstsein der Bevölkerung. Eine Akzeptanz vorgeburtlicher Selektion führt nicht automatisch und kausal zu einer Akzeptanz nachgeburtlicher Selektion (vgl. ebd.: 107). Vorgeburtliche Selektion und Diskriminierung lebender Menschen mit Funktionseinschränkungen sind folglich als zwei voneinander vollständig unabhängige Phänomene zu betrachten.

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»Insgesamt ergeben die verfügbaren Daten auch auf der Einstellungsebene keine Anhaltspunkte dafür, dass durch die Praxis der vorgeburtlichen Selektion die Solidarität mit behinderten Menschen untergraben und der Verbreitung von Behindertenfeindlichkeit Vorschub geleistet werden könnte.« (van den Daele 2005: 114) Was nicht kausal mit der PND oder PID zusammenhängt, sondern mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen wie weiter oben beschrieben.

7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

Allerdings besteht eine mögliche Gefahr der Ausweitung des Einsatzgebietes der PID jenseits medizinischer Logik, nämlich auf die Präselektion von Kindern hinsichtlich Geschlecht, Haar- und Augenfarbe etc. Diese mögliche Ausdehnung wird zwar derzeit noch von der Mehrheit der Bevölkerung entsprechenden Umfragen zufolge abgelehnt, gleichwohl stellt sich die Frage, wie zukünftige Generationen mit diesen Möglichkeiten verfahren werden (vgl. Lemke & Rüppel 2017: 38). Eine weitere Frage ist, wie in Ländern wie Indien oder China mit diesen biomedizinischen Möglichkeiten in Zukunft umgegangen wird. Menschen wie Stephen Hawking (Amyotrophe Lateralsklerose), Albert Einstein (Asperger-Syndrom), Isaac Newton oder Pythagoras (bei beiden wird Epilepsie vermutet) würden mit hoher Wahrscheinlichkeit längst in vielen Ländern vorgeburtlich »ausselektiert« werden. Gleichzeitig darf die engagiert geführte Diskussion über die Möglichkeiten der Biomedizin zur Vermeidung von Krankheiten und Funktionseinschränkungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die angeborenen genetisch bedingten Funktionseinschränkungen nur einen geringen Bruchteil (ca. 4 %) der Prävalenz von Funktionseinschränkungen ausmachen (vgl. Statistisches Bundesamt 2017: 15). Die meisten Funktionseinschränkungen werden im Laufe des Lebens durch Krankheiten (einschließlich Impfschäden) erworben (ca. 85 %), aber auch durch Unfälle, Kriege und Berufskrankheiten verursacht (vgl. ebd.).27 Johannes Rau (2004) stellt aus diesem Grund zu Recht fest, dass man gesellschaftlich auf eben diesen Gebieten ganz viel dafür tun könne, Funktionseinschränkungen zu vermeiden, ohne dass sich dadurch Menschen mit Funktionseinschränkungen – wie bei der biomedizinischen Debatte – in ihren Lebensweisen diskriminiert fühlen (vgl. Rau 2004: 16f.). Es bleibt zu betonen, dass es trotz aller Kontrolle und menschlichen Optimierung einer Gesellschaft nie gelingen wird, Funktionseinschränkungen komplett zu kontrollieren. Dies ist psychologisch und sozial relevant, denn auch wenn Krankheiten und Funktionsstörungen niemals etwas sind, das man sich wünscht, so erinnern sie uns doch an den Wert von Gesundheit und Funktionsfähigkeit – bzw. lassen beide erst erfahrbar werden. Sie gehören zu unserer zerbrechlichen conditio humana (vgl. Saal nach Dörner 1989: 102f.). Diese Aussage soll keine essentialistische sein, aber die gegenteilige Behauptung wäre im Bereich einer utopischen Vorstellung menschlicher Perfektibilität – wie sie die Biomedizin auf den ersten Blick durchaus suggeriert28 – zu verorten. Funktionseinschränkungen ge27

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Hier ist die Frage danach gerechtfertigt, warum so viel Energie und hohe finanzielle Mittel in die Biomedizin fließen und im Verhältnis dazu so wenig in die Verhinderung von Kriegen durch entsprechende Konfliktforschung oder in die Verbesserung der Lebenssituation lebender Menschen mit Funktionseinschränkungen investiert wird (vgl. Rommelspacher 1999:12f.). Auf den zweiten Blick macht uns die Gendiagnostik nicht immer vollkommener, sondern immer kränker. »Jeder Einzelne kann als Träger mehrerer krankmachender Dispositionen identifiziert werden, schon lange bevor irgendein Symptom zutage tritt. Verfahren zur Prävention

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hören zum menschlichen Leben und zur menschlichen Vielfalt, sie erinnern uns daran, dass wir eben keine »perfekten« Maschinen sind. Wohin der Versuch der Schaffung einer menschlichen »Monokultur« führt, wurde durch den Nationalsozialismus deutlich gezeigt und sollte als Mahnung dienen, denn was einmal geschehen ist, ist auch in Zukunft möglich. Mit den Worten Dörners (1989) und bezogen auf generelles menschliches Leiden: »Ohne Leiden als Selbstzweck masochistisch glorifizieren zu wollen, gehört es zur Wahrheit des Menschen, daß er durch Leiden und leidend geboren wird und daß er nur durch das Leiden zu seinen entscheidenden Entwicklungs- und Reifungsschritten kommt.« (Dörner 1989: 90) Natürlich ist der Einsatz genetischer Verfahren zur »Heilung« oder Therapie sinnvoll und nützlich, um beispielsweise nach einer entsprechend diagnostizierten genetischen Krebsdisposition durch eine Änderung des Lebensstils das Erkrankungsrisiko zu reduzieren. Aber gerade bei der Frage, ob Krebs bei einer entsprechenden Disposition auftritt, haben erwiesenermaßen Umweltfaktoren eine besonders hohe Bedeutung: »Statt Krebs durch eine Verringerung von Schadstoffen in Luft, Wasser und Ernährung oder die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu bekämpfen, wird er im Rahmen dieses genetischen Krankheitskonzepts zu einer individuellen Angelegenheit, deren Wurzeln in persönlichen genetischen Anfälligkeiten (»Suszeptibilität«) und Dispositionen zu suchen sei und nur durch Umstellung des eigenen Lebensstils bekämpft werden könne.« (Lemke 2004: 77) Auch wenn keine genetische Krebsdisposition vorhanden ist, bedeutet dies keinesfalls, dass man immun gegen diese Krankheit ist. Unter Umständen verursacht das Wissen um die Wahrscheinlichkeit einer künftigen Erkrankung bereits in der Gegenwart einen hohen Leidensdruck bei den Betroffenen (vgl. Schmidhuber 2016: 200). Es besteht dabei die Gefahr, dass die biologisch definierte Gesundheit zu einem »zentralen gesellschaftlichen Gut und einem das gesamte Verhalten normierenden Wert« (Roelke 2003: 122) wird. Der biomedizinische Blick generiert virtuelle Kranke, die aber mit realen »Behinderungen« im Alltag konfrontiert werden. Die möglichen Konsequenzen der Normalisierung genetischer Testverfahren für sowohl noch ungeborene wie bereits lebende Menschen können mit Blick auf die USA antizipiert werden: Dort wird Paa-

oder Heilung der entsprechenden Erkrankungen stehen bis dato meistens nicht zur Verfügung. Stattdessen gerät der Einzelne in ein immer engmaschigeres Netz der Supervision und der versuchsweisen und vorläufigen Symptomkontrolle. All das wird dazu führen, dass Abweichungen vom Normalbefund auffälliger und aufdringlicher werden – von Perfektion und Makellosigkeit als keine Spur.« (Kuhlmann 2011: 52)

7 . Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

ren mit einer Disposition für eine genetische Krankheit bereits die Adoption von Kindern untersagt. Lemke (2000) führt weiter aus: »Die »Behinderung« kann sich aber auch darin manifestieren, dass mit dem Hinweis auf eine eventuelle spätere Krankheit die Qualifikation für einen Arbeitsplatz abgesprochen und die Einstellung verweigert wird. Es kommt auch vor, dass Kranken- und Lebensversicherungen Verträge kündigen oder deren Abschluss verweigern, wenn bei ihren (potenziellen) Kunden durch Gentests eine Krankheitsdisposition festgestellt wurde.« (Lemke 2000: 246f.) In Deutschland sind bereits Fälle bekannt, in denen die Verbeamtung von Polizist*innen oder Lehrer*innen aufgrund einer familiengeschichtlich wahrscheinlichen Disposition, vor dem Erreichen des Pensionsalters an Huntington zu erkranken, amtsärztlich abgelehnt wurde. Indirekt wird auf die Bewerber*innen Druck ausgeübt, die genetische Disposition entsprechend über Genanalysen zu objektivieren (vgl. Lohkamp 2004: 176f.). Dies alles weist darauf hin, dass genetische Abweichungen, also das erhöhte zukünftige Erkrankungsrisiko, bereits eine »Behinderung« in dem hier verwendeten Begriffsverständnis auslöst: »Dies zeigt sich ironischerweise gerade darin, dass Anlageträger und Risikopersonen genetischer Krankheiten in den USA unter den Schutz des »Americans with Disabilities Act« fallen, einem Antidiskriminierungsgesetz, das die Gleichstellung von Behinderten garantieren soll. Damit wird die Stigmatisierung festgeschrieben, die durch die Einbeziehung von Anlageträgern und genetischen Risikopersonen gerade verhindert werden sollte: Diejenigen, die ein genetisches Risiko tragen, sind in gewisser Weise schon behindert, sonst gehörten sie nicht zum Kreis der Anspruchsberechtigten.« (Lemke 2004: 79) Auch auf sportliche Wettkämpfe hat der biomedizinische »Blick« längst Auswirkungen: So wurden Frauen mit genetisch männlichem Chromosomensatz von Frauenwettkämpfen ausgeschlossen. Der Umstand, dass der betreffende Mensch bis dahin als Frau gelebt, sich als solche gefühlt hat und auch entsprechend behandelt wurde, kann neben dem genetisch eindeutig bewiesenen »naturgegebenen« Geschlecht nicht bestehen (vgl. Lemke 2000: 251). Es geht hier also immer darum, wie eine Gesellschaft auf neue technische Möglichkeiten reagiert, was, zu welchem Zweck und innerhalb welcher Grenzen wünschenswert, erlaubt oder verboten sein sollte. Dabei ist gerade die Genetik eine Lehre der Variabilität des Menschen, die uns darauf hinweist, dass es die Vielfalt an Genen und deren Zusammenwirken ist, die den Menschen prägt, und dass es menschheitsgeschichtlich nur durch genetische Mutationen (also Abweichungen) möglich war, sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. Zudem unterscheidet sich das menschliche Genom zweier Individuen in ca. drei Millionen Basenpaaren, so dass die Aufstellung einer genetischen Norm bereits hinsichtlich die-

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ser Vielfalt schwer fallen dürfte. Im Zuge des Human-Genome-Projects hat sich gezeigt, dass einzelne Gene sowohl für bestimmte Krankheiten (mit)verantwortlich sein können als auch gleichzeitig der Ausbildung von Resistenzen gegen andere Krankheiten dienen. Dieses genetische »Janusgesicht« lässt die binäre Trennung von krank und gesund zumindest in einigen Fällen auch biomedizinisch obsolet werden (vgl. Dederich 2007: 184). Wie die Menschen mit dem genetischen Wissen umgehen, wird die Zukunft zeigen. Wie so viele technische und medizinische Errungenschaften ist es Fluch und Segen zugleich. Es kommt immer darauf an, was Menschen daraus machen. Dabei hilft vielleicht auch zu akzeptieren, dass eine Funktionseinschränkung in den meisten Fällen kein mit medizinischen Mitteln zu behebender Schadensfall ist und damit verbundene Schmerzen häufig ebenfalls nicht »heilbar« sind. Den betroffenen Menschen kann man aber nur dann Anerkennung und Verständnis entgegenbringen, wenn man ihre Schmerzen als menschliche Erfahrung bewertet, von der wir als nicht betroffene Menschen lernen können. Diese Sichtweise wird uns jedoch nur dann zugänglich, wenn innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses jene Menschen auch gleichberechtigt vertreten sind – dies könnte auch und vor allem für den biomedizinischen Diskurs eine Bereicherung darstellen (vgl. ebd.: 167f.).

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Zusammenfassung und weiterführende Reflexionen

In der Nachkriegszeit ist in der westlichen Welt ein umfassender Pluralisierungsprozess auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens zu beobachten: Politisch in Form zunehmender Demokratie, im Verhältnis der Menschen zueinander in Form zunehmender Gleichberechtigung, im Verhältnis des Menschen zur Gesellschaft durch Individualisierung. Möglich wurde diese Entwicklung im Laufe des 20. Jahrhunderts mit der Integration aller sozialen Schichten in die Gesellschaft, auch der unteren. Dies hat die Machtbalance zwischen den Gesellschaftsschichten zwar nicht ausgeglichen, jedoch spürbar angeglichen (vgl. Wouters 1999: 156), so auch diejenige zwischen Menschen mit und ohne Funktionseinschränkungen während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Während es in der Moderne um die Aufrechterhaltung einer gesellschaftlichen Ordnung ging, die scheinbar der natürlichen, wissenschaftlich untermauerten Logik folgte und staatlich durchgesetzt wurde, stehen die Menschen im Laufe der Postmoderne einer Vielzahl von Lebensoptionen gegenüber, unter denen sie wählen können bzw. müssen. Dieser Pluralismus löst bei vielen Menschen permanente Entscheidungsüberlastungen aus, die sich häufig in der Forderung nach einfachen Lösungen für komplexe gesellschaftliche Herausforderungen ausdrücken, wie die Flüchtlingsdebatte der Gegenwart eindringlich zeigt.

7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

Die Postmoderne ist geprägt durch rasante medizinische und technische Fortschritte, in deren Folge immer mehr Menschen schwere Unfälle, Krankheiten oder komplikationsreiche Geburten überleben, häufig jedoch mit dauerhaften Funktionseinschränkungen. Zusätzlich zu einer immer älter werdenden Bevölkerung nimmt der Anteil derer, die durch verschiedene Barrieren an der gesellschaftlichen Teilhabe gehindert werden und dadurch als »behindert« zu bezeichnen sind, kontinuierlich zu. Dieser medizinische und technische Fortschritt realisiert und unterstützt gleichzeitig auch die Selbstbestimmung (z.B. über Assistenz- und Sprachsysteme). Die Versorgungsstrukturen für Menschen mit Funktionseinschränkungen knüpften nach dem zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre, an jene der Vorkriegszeit an. Dementsprechend wurde bis dahin weiterhin das Bild von hilflosen, armen und leidenden Wesen politisch wie medial tradiert. Gegen diese Fremdzuschreibung konnten sich Betroffene bis in die 1970er Jahre hinein kaum wehren (vgl. Bösl 2009: 94f.). Die Politik konzentrierte sich in jener Zeit darauf, Rehabilitation weit ab der gesellschaftlichen Zentren als Kernstrategie zur Lösung der sozialen Frage umzusetzen: »Unter der Rehabilitation – nun endgültig die Kernstrategie im wissenschaftlichen und sozialpolitischen Umgang mit Behinderung – wurde zunächst primär die funktionale Wiederherstellung durch medizinische Rehabilitationsmaßnahmen einschließlich der Prothetik sowie die Befähigung zur Erwerbsarbeit durch berufliche Rehabilitationseinrichtungen verstanden. Wenn nur ausreichende Sozialleistungen und Therapieeinrichtungen geschaffen und effektive technische Hilfsmittel sichergestellt wurden, schien das soziale Problem Behinderung durch eine funktionale Normalisierung gelöst.« (Bösl 2009: 338) Nach der medizinischen Rehabilitation und wenig erfolgreichen beruflichen Integrationsmaßnahmen blieben oft nur die Behindertenheime als dauerhafte Bleibe. Die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen setzten bei der Funktionseinschränkung und nicht an den gesellschaftlichen Missständen an. Auch die entstehenden Förderschulen nahmen Kindern mit Funktionseinschränkungen die Möglichkeit, sich mit Kindern ohne Funktionseinschränkung auseinanderzusetzen und umgekehrt. Aber nur über direkte Kommunikation können gegenseitige Vorurteile und Ängste im gegenseitigen Erleben abgebaut werden, und nur so kann Inklusion als Prozess gelingen. Inklusion darf sich allerdings nicht nur auf den schulischen Bereich beschränken, sondern muss bereits vorher und vor allem hinterher in der Berufswelt und im Alltag realisiert werden, da anderenfalls ein hohes Enttäuschungspotenzial damit verbunden sein wird. Wenn man mit Inklusion an-

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Was ist Behinderung?

fangen möchte – und dazu hat sich Deutschland gesetzlich verpflichtet –, so bilden doch Kindergarten und Schule die besten Voraussetzungen für das Gelingen.29 Zunächst lag die Deutungshoheit für die Bewertung von Menschen mit Funktionseinschränkungen überwiegend in medizinischer und pädagogischer Hand. Erst durch Initiativen von Eltern, die durch Gründung von Selbsthilfegruppen auf die defizitäre, häufig unmenschliche Lage Betroffener aufmerksam machten, und schließlich durch die Proteste der Betroffenen selbst, kam es zu einem Umdenken dahingehend, dass auch gesellschaftliche Barrieren und nicht nur die Funktionseinschränkung »Behinderung« verursachen könnten. »Ein wirklicher Durchbruch ist jedoch darin zu sehen, dass erkannt wurde, dass sich mit dem Rehabilitationsparadigma allein Chancengleichheit und die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht verwirklichen ließen und Normalisierung nicht allein beim Individuum zu beginnen hatte.« (Ebd.: 347) Langsam setzte die Erkenntnis ein, dass auch Menschen mit Funktionseinschränkungen »durchschnittlich« und »normal« sind. Dieser Wandel lässt sich auch im Sprachgebrauch nachweisen. Vor 1969 taucht der Begriff »behinderter Mitbürger« nur ganz vereinzelt auf, in der Folgezeit ist er in politischen Zusammenhängen immer häufiger zu finden (vgl. ebd.: 116ff.). Gleichzeitig beeinflussten immer mehr nicht-medizinische Disziplinen den Diskurs rund um das Thema »Behinderung« und trugen dazu bei, die Sichtweise auf das Phänomen der »Behinderung« auszuweiten. Die Behinderungsprozesse der Postmoderne sind nicht mehr allein geprägt durch wissenschaftlich fundierte Behandlungen in Sondereinrichtungen, sondern spielen sich überwiegend vor der Geburt ab; es gibt einen Wendepunkt, an dem die gesellschaftliche Anerkennung der Vielfalt zur präventiven Verhinderung von Vielfalt umschlägt: »Dieser Wendepunkt wird durch das Kriterium definiert, ob ein Mensch mit Behinderungen schon als lebendige Person auf dieser Welt existiert oder noch nicht. Wenn Behinderte erst einmal da sind, werden sie akzeptiert und in ihrem Lebensrecht geachtet. Sie sind dann gelittene Nachbarn, akzeptierte Urlaubsgäste und auch Schulfreunde. Wenn aber, wann und wie auch immer, sich Behinderte vermeiden und verhindern lassen, dann kann und sollte es auch geschehen! […] Die negative Bewertung von Behinderungen ist ein schier unlösbares Problem, der menschliche Umgang mit Behinderten bleibt eine tagtägliche Aufga29

Dabei geht es nicht um das »Gleichmachen« offensichtlicher Differenzen, sondern um deren gleichwertige Anerkennung. Habermas (1996) spricht aus diesem Grund in Bezug auf den generellen Umgang mit Minderheiten in pluralistischen Gesellschaften von der Notwendigkeit einer »differenzempfindlichen« Inklusion, die zumindest in demokratischen Rechtsstaaten gute Chancen auf Verwirklichung hat (vgl. Habermas 1996: 172ff.).

7 . Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

be. Gegen Behindertenfeindlichkeit hilft am besten Behindertenfreundlichkeit, also alltägliche Partnerschaften, vielfältige normale Kontakte, kurz: »Leben in Nachbarschaften«.« (Wocken 2012, Weglassung in Klammern C.E.) Generell kann eine ambivalente Einstellung gegenüber Menschen mit Funktionseinschränkungen als anthropologische Konstante betrachtet werden. Seit dem Mittelalter können divergierende Wahrnehmungen und Bewertungen von Menschen mit Funktionseinschränkungen sowie entsprechende Reaktion auf sie festgestellt werden. Was sich allerdings ändert, ist einerseits die Gruppe der als von der Norm abweichend Betrachteten, andererseits die Art und Weise der gesellschaftlichen Reaktion. In der Postmoderne dominierten anfänglich die Behinderungsprozesse bis schließlich die Enthinderungsprozesse die Oberhand gewannen. Behinderungsprozesse verlagerten sich auf die vorgeburtliche Verhinderung von Menschen mit Funktionseinschränkungen, die inzwischen subtil und ohne große gesellschaftliche Resonanz zur Normalität geworden ist und den Anschein von Kontrolle über menschliches Leben suggeriert. Dabei ist die Geburt nur der Anfang des Lebens, in dessen Verlauf Krankheiten und Funktionseinschränkungen relativ unkontrolliert auftreten, aber besser kontrollierbar wären, wenn ihren gesellschaftlichen Ursachen (Autounfälle, Umweltvergiftung etc.) größere Aufmerksamkeit geschenkt würde als den individuellen genetischen Dispositionen. Hinter der Tendenz, Menschen mit Funktionseinschränkungen nicht mehr »entstehen zu lassen«, verbirgt sich die postmoderne, marktwirtschaftlich bestimmte Ethik, die den Wert eines Menschen vor allem nach seinem Nutzen, seiner wirtschaftlichen Brauchbarkeit bemisst. Nicht mehr Religion bestimmt, was lebenswert und lebensunwert ist, und auch die medizinischen Professionen ziehen sich vordergründig aus diesem Diskurs zurück, stattdessen bilden sich die Menschen selbst ihr Urteil mit Bezugnahme auf durch Medien postulierte Vorbilder: Ein wertvolles Leben führt heute scheinbar nur jemand, der erfolgreich, schön und intelligent ist. Man kann hier konstatieren, dass gegenwärtig »lebenswert« mit »ökonomisch wertvoll« verbunden wird. Wenn Krankheit oder Unfall Ursachen körperlicher oder geistiger Funktionseinschränkungen sind, erfährt der Betroffene weitgehende gesellschaftliche Akzeptanz. Wenn allerdings die Existenz eines solchen Menschen vorgeburtlich hätte verhindert werden können, so zeigt sich deutlich das rationalisierte Denken der Postmoderne, das alles einer KostenNutzen-Analyse unterwirft. Diese Analyse kann vorgeburtlich negativ ausfallen, sie ist dann auch ethisch kaum bedenklich, da Schwangerschaftsabbrüche von genetisch abweichenden Föten bereits gesellschaftlicher Mainstream sind. Der Wertediskurs betrifft dabei nicht nur den Menschen als Ganzes, sondern auch seine einzelnen körperlichen und kognitiven Funktionen. Auch hier stehen sich Vertreter*innen der Disability Studies und der Biomedizin relativ unversöhn-

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Was ist Behinderung?

lich gegenüber: Wie die Eugeniker der Moderne vertreten die Biomediziner der Postmoderne die Meinung, dass bestimmte körperliche Merkmale und Funktionen einen Wert an sich haben und, wenn diese nicht vorhanden sind, das Leben der betreffenden Personen »wertgemindert« ist und daher – quasi aus Mitleid – eugenische Maßnahmen (bei den Eugenikern gar postnatal, bei den anderen pränatal) ergriffen werden können und sollten. Die Disability Studies vertreten dagegen die konstruktivistische Sichtweise, dass der Körper, seine Gestalt und seine Handhabung gesellschaftliche Konstruktionen sind und dass es folglich die Gesellschaft ist, die körperlichen Merkmalen und Funktionen einen Wert zuschreibt. Diese Wertzuschreibungen müssen aufgedeckt und verändert werden, die Gesellschaft muss sich so weit wandeln, dass anerkannt wird, dass Menschen mit Funktionseinschränkungen mit ihren anderen, verbliebenen Funktionen dennoch ein vollwertiges Leben führen können. Hieraus lässt sich allerdings schlussfolgern, dass, wenn bestimmte Funktionen keinen Wert an sich haben oder es »scheinbar irrelevant ist, ob jemand gehen, sehen, sprechen oder komplexe Sachverhalte kognitiv erfassen kann, dann lassen sich zum Beispiel gesetzlich garantierte Nachteilsausgleiche nicht mehr zwingend begründen.« (Dederich 2007: 179) Dieser Nachteilsausgleich ist aber wiederum zur Erreichung der gesellschaftlichen Teilhabe von Menschen mit Funktionseinschränkungen unbedingt notwendig. Der Ausweg aus diesem offensichtlichen Dilemma besteht in der Anerkennung des Wertes körperlicher und geistiger Funktionen bei gleichzeitiger Akzeptanz der Tatsache, dass auch ohne bestimmte Funktionen ein erfülltes Leben möglich ist. Natürlich hat das Augenlicht einen Wert an sich, das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass das Leben von Menschen ohne Augenlicht lebensunwert ist (vgl. Kuhlmann 2011: 48f.). »Zu einem Problem wird die individuelle Beeinträchtigung [z.B. Blindheit] erst, wenn die notwendigen und möglichen Mittel zur Kompensation der Einschränkung nicht bereitgestellt werden und es zu hierarchischen Differenzkonstruktionen und Ungleichheiten, negativen Bewertungen, Benachteiligungen, vielleicht sogar zu Gefährdungen der betroffenen Menschen kommt.« (Dederich 2007: 189; Ergänzung in Klammern C.E.) Ein Mensch hat nicht nur eine Fähigkeit, so dass bei Funktionseinschränkung neben den Möglichkeiten der Kompensation die Aufmerksamkeit auf die verbliebenen Fähigkeiten gerichtet werden sollte (vgl. Dederich 2007: 181). Hierbei könnte auch die ICF eine Rolle spielen, sofern sie bei der Anwendung zukünftig die Funktionsfähigkeiten so klassifiziert, dass sie ihren Ausgangswert nicht am Durchschnitt oder Ideal ansetzt, und darüber hinaus Werte auch ins Überdurchschnittliche skaliert, so dass Kompensationsfunktionen deutlicher in den Vordergrund rücken. Mit Elias (1978) lässt sich hier anschließen: »Die soziale Existenz von Menschen ist nicht zuletzt auch abhängig von dem Bild, das Menschen voneinander haben,

7. Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Postmoderne (Nachkriegszeit bis Gegenwart)

von dem Sinn und Wert, den sie einander zuschreiben« (DLA Elias 1978: 53mm), und das »Wertempfinden der Menschen wandelt sich mit dem Wandel der Bedingungen ihres Zusammenlebens und so auch mit dem Wachstum ihres Wissens, das zu diesen Bedingungen zählt« (Elias & Scotson 1993: 277). Das Phänomen »Behinderung« ist von einem bestimmten Punkt an nicht mehr wissenschaftlich zu durchdringen, denn Wissenschaft kann keine Orientierung darüber bieten, wann ein Leben lebenswert ist und wann nicht, und ob es überhaupt lebensunwertes Leben gibt – was die PID suggeriert. Diese Fragen berühren die menschliche Suche nach dem Sinn des Lebens. Entweder hat jegliches Leben einen Wert an sich oder man muss in der Lage sein, Grenzen ziehen zu können. Diese Grenzen können nur ethischer oder auch religiöser, aber niemals wissenschaftlicher Natur sein. Die enge Korrelation dieser Behinderungsprozesse mit dem kapitalistischen Denken der Postmoderne offenbart hier ihren negativen Pol, wobei gleichzeitig erst durch kapitalistisches Denken und Handeln die vielfältigen Möglichkeiten der Medizin und Technik, der Hilfsmittel- und Rehabilitationsindustrie geschaffen wurden, Menschen nach schweren Unfällen und/oder Erkrankungen so zu behandeln und zu versorgen, dass trotz schwerer Funktionseinschränkungen eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben prinzipiell zu erreichen ist. Wenn jedoch gesellschaftliche Teilhabe überwiegend über den Erwerbsstatus definiert wird, dann beinhalten diese Möglichkeiten häufig ein hohes Enttäuschungspotenzial. Soziologisch kann hingegen festgestellt werden: je mehr das Leben durch Arbeits- und Leistungsfähigkeit definiert wird, desto mehr wird das Leben von Menschen, die diese Fähigkeiten nicht (mehr) besitzen oder prospektiv nicht besitzen werden, abgewertet und als nicht lebenswert abgestempelt. Das Wissen hierüber bietet andererseits eine Chance zur Veränderung von Handlungsabläufen; denn Wissen erhöht immer die Kontrollchancen.

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8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen

Bei der Soziologie – und dies gilt auch für die Prozesssoziologie – handelt es sich um »eine bestimmte Weise des Nachdenkens über die Welt der Menschen – über die sich im Prinzip auch auf ganz andere Weisen nachdenken läßt« (Bauman 2000: 18). Wer soziologisch denkt, bemerkt auf einmal, dass das gewöhnliche Leben nicht selbstverständlich, sondern eine Möglichkeit unter vielen ist (vgl. ebd.: 27). Soziologisch denken löst verfestigte Denkstrukturen, eröffnet alternative Sichtweisen auf Probleme und hilft zudem »andere Lebensweisen zu verstehen, die unseren direkten Erfahrungen entzogen sind und nur zu häufig den gesunden Menschenverstand lediglich als Stereotypen erreichen – als einseitige, tendenziöse Karikaturen dessen, wie andere (räumlich entfernte oder von Abneigung und Mißtrauen auf Distanz gehaltene) Menschen leben.« (Ebd.: 29f.) So gesehen bietet sich die Soziologie am ehesten an, das Phänomen der »Behinderung« zu durchdringen und begreifbar zu machen – dies war zumindest der Anspruch dieser Arbeit. Wie lassen sich nun die Fragestellungen nach der Beschreibung und Erklärung von Behinderungsprozessen zusammenfassend beantworten? Abwertungs- und Ausgrenzungsprozesse von Menschengruppen sind überall, in jeder Gesellschaft zu jeder Zeit festzustellen.1 Betreffen sie explizit Menschen mit Funktionseinschränkungen – nur dann kann von Behinderungsprozessen gesprochen werden – so sind offensichtliche Unterschiede in den hier betrachteten Epochen zu erkennen. Dabei sei darauf hingewiesen, dass der Involvierungsgrad in Behinderungsprozesse bedeutend von der Ursache, der Art (geistig oder körperlich) und der Ausprägung der jeweiligen Funktionseinschränkung abhängt – sowohl früher als auch heute; und der Betroffenheitsgrad des Einzelnen von den 1

Mit den Worten Elias (1978): »Probleme der Aufwertung und Abwertung, der Sinnerfüllung und -entleerung gehören zu den universalsten Problemen des gesellschaftlichen Daseins von Menschen.« (DLA Elias 1978: 53nn)

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Was ist Behinderung?

Behinderungsprozessen wiederum war und ist immer auch entscheidend von der sozialen Situation des funktionseingeschränkten Menschen geprägt. Dies alles zu berücksichtigen bedarf einer deutlich umfangreicheren Untersuchung als es hier möglich war. Gleichwohl ändert dies nichts an der Existenz von Behinderungsprozessen, die eine beschreibbare und theoretisch erklärbare Richtung haben, jedoch nicht alle Menschen mit Funktionseinschränkung in gleichem Maße involvieren und betreffen. Erst mit dem Erkennen der Richtung sozialer Prozesse lässt sich auch darüber nachdenken, was getan werden muss, um diese Richtung beizubehalten oder gegebenenfalls zu ändern.

8.1

Bestimmung der Richtung von Behinderungsprozessen

Behinderungsprozesse im Mittelalter: Im Mittelalter gab es – bis auf wenige Ausnahmen – keine systematische Abwertung und Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer Funktionseinschränkung. Funktionseinschränkungen stellten zwar ein individuelles Schicksal dar, jedoch wurden Menschen mit Funktionseinschränkung nicht als Gruppe vom Rest der Gesellschaft systematisch isoliert oder therapiert (vgl. Metzler 2006: 26). Die Existenz spezieller »Behandlungspfade« und Institutionen für Menschen mit Funktionseinschränkungen kann daher bis auf wenige im Kapitel 4 dargestellte Ausnahmen verneint werden. Das mittelalterliche Leben war geprägt durch eine hierarchisch geordnete Lebensführung, zu der auch das Ertragen von Leid, Schmerzen und körperlichen Gebrechen gehörte. Im Alltag galten Funktionseinschränkungen als normale Begleitumstände des Lebens, sie waren Bestandteil der conditio humana und stellten, wie Krankheit und Tod, selbstverständliche allgegenwärtige Fakten des Lebens dar, die in erster Linie hausgemeinschaftlicher Aushandlung und Kompensation bedurften und nicht an die medizinische Profession delegiert werden konnten. Weil die Gefühlswelt der Menschen generell eine höhere Affektivität aufwies, konnte sicher auch das Verhalten gegenüber Menschen mit Funktionseinschränkungen innerhalb der Hausgemeinschaft schnell von der einen in die entgegengesetzte Richtung umschlagen. Das Verhalten gegenüber Menschen mit Funktionseinschränkung war entsprechend individueller und affektiver als in der Moderne. Der Blick der Menschen im Mittelalter war eher auf das Jenseits gerichtet, der Körper und das irdische Leben wurden als Durchgangsstation zum ewigen Seelenheil betrachtet (vgl. Labisch 1989a: 16). Die omnipräsente religiöse Instanz spielte eine weit größere Rolle bei der Beantwortung der Frage nach dem Umgang mit kranken und funktionseingeschränkten Menschen und nach dem Wert bzw. Unwert des Lebens als die medizinische Profession. Krankheiten und Funktionseinschränkungen erfuhren vor dem Hintergrund des magisch-mythischen Weltbildes und der religiösen Interpretation eine ambivalente Bewertung: Einerseits wurden

8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen

angeborene Funktionseinschränkungen als Werk des Teufels oder Konsequenz der Unzucht und Sünde der Eltern und somit als Strafe Gottes angesehen, andererseits wurden kranke und funktionseingeschränkte Menschen benötigt, um Wunder vollbringen und die Caritas legitimieren zu können (vgl. Horn 2009: 304). Menschen mit aus heutiger Sicht körperlichen und/oder geistigen Differenzen waren aufgrund fehlender medizinischer und technologischer Möglichkeiten, Verstümmelungen durch Körperstrafen und kurzer entbehrungsreicher Lebensspanne mit entsprechenden Auswirkungen auf das Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit allgegenwärtig und wurden vermutlich bis zu einem retrospektiv kaum bestimmbaren Grad gar nicht als different wahrgenommen. Körperliche und geistige Gebrechen waren am eigenen Leib wie an dem anderer unmittelbar erfahrbar. Sie waren weniger verdeckt, allgegenwärtig und daher geradezu vertraut; sie verursachten keine Peinlichkeits- oder Schamgefühle oder gar Ekel und Abscheu. Der Bereich dessen, was wir heute im Hinblick auf den menschlichen Körper statistisch als »Normalität« erfassen und wahrnehmen, war folglich breiter, die Ränder der Abweichung schmaler. Für den mittelalterlichen Menschen waren Herkunft und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft von weit größerer Bedeutung als das optische Erscheinungsbild. Sie machten ein gemeinsames Überleben in einer noch wenig kontrollierbaren Natur möglich. In einer solchen Gesellschaftsstruktur hatten Geburt, Geschlecht und Status einen größeren Einfluss darauf, ob jemand im alltäglichen Leben »behindert« wurde als die tatsächliche Funktionseinschränkung (vgl. Lee 2013: 300). Die Distanz zwischen Menschen mit und ohne Funktionseinschränkungen war geringer und der Grad der Identifizierung mit der Gruppe höher – wenn es sich um Angehörige der eigenen Wir-Gruppe handelte. Daraus lässt sich keineswegs schlussfolgern, dass ein Mensch mit Funktionseinschränkungen im Mittelalter ein »besseres« Leben führen konnte; für die Linderung von auftretenden Schmerzen standen kaum wirksame Mittel zur Verfügung, und die verwendeten Hilfsmittel wiesen eine geringere Funktionalität auf, aber die Einbeziehung jener Menschen in die Gesellschaft war größer und die emotionale Distanz zu ihnen geringer als in der Moderne; das bedeutet jedoch nicht, dass der Umgang respektvoller oder fürsorglicher war. Solange das Zusammenleben für das jeweilige hausgemeinschaftliche System tragbar war, hatten jene Menschen allerdings einen selbstverständlichen Anteil am gesellschaftlichen Leben, einen Platz in der Gemeinschaft. In einer Gesellschaftsstruktur, die einen relativ geringen Grad an funktioneller Differenzierung und eine geringere geographische Mobilität aufweist, die hierarchisch klar gegliedert ist, in der keine gesetzlichen Regeln und Vorgaben zum Umgang mit Menschen mit Funktionseinschränkungen und keine entsprechenden Institutionen existieren, sind auch die Reaktionen auf jene Menschen reich an Variationen und unterscheiden sich von Stadt zu Stadt sowie von Dorf zu Dorf.

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Behinderungsprozesse im Mittelalter waren den Ausführungen folgend individueller, affektiver, unsystematischer und differenzierter als zu späteren Zeiten. Die Umgangsformen waren informeller, so dass viele Verhaltensweisen mittelalterlicher Menschen später im Bereich der Devianz zu verorten wären. Das heißt, dass jene Menschen, die sich zu späteren Zeiten die aufgrund der zunehmenden Verflechtung der Menschheit notwendig gewordenen disziplinierteren Verhaltensweisen auf den verschiedenen Ebenen des menschlichen Miteinanders nicht aneignen konnten, zunehmend negativ auffielen und zu einem sozialen Problem wurden.  Behinderungsprozesse in der Moderne: Hauptkennzeichen der Behinderungsprozesse in der Moderne ist ihre Institutionalisierung, die eng mit der Entwicklung des Nationalstaats verbunden war. Eine Voraussetzung für die Entstehung dieses Nationalstaats bildete das Bestreben zur Homogenisierung heterogener gesellschaftlicher »Elemente«2 (Sprache, Kultur, Ethnien, Lebensstile, Verhaltensweisen etc.). Die Unsicherheiten, die die Ambivalenz der Moderne durch die Auflösung traditioneller Sinnbezüge bei den Menschen verursachte, wurden über die Vorgabe eines klaren nationalstaatlichen Ziels und klarer administrativer Anweisungen durch die Staatsmacht zu minimieren und zu kontrollieren versucht. In den Lichtkegel dieser homogenisierenden Bestrebungen gerieten auch Menschen mit Funktionseinschränkungen, die den Ansprüchen des Bürgertums im Hinblick auf Ordnung, Vernunft, Fleiß, Disziplin und Verhaltenskontrolle nicht entsprachen. Sie verkörperten lauter Eigenschaften, die nicht in das Selbst- und Weltbild bürgerlicher Menschen passte und daher bekämpft werden mussten: Einschränkung, Unvernunft, Monstrosität, Kontrollverlust, Krankheit, Animalität, Triebhaftigkeit und Tod (vgl. Hughes 2015b: 108f.). Sehr deutlich wird hier das Entsprechungsverhältnis von Staats- und Persönlichkeitsentwicklung, von Sozio- und Psychogenese.3 Menschen mit Funktionseinschränkungen symbolisierten so das Antonym des bürgerlichen Selbstbildes und wurden daher in der Konsequenz hinter die »Kulisse des gesellschaftlichen Lebens« (Elias 1977b: 313) verlagert und in spezielle zu diesem Zweck errichtete Sondereinrichtungen verbannt.

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Bauman (1992) spricht von einem regelrechten Kampf um Ordnung und gegen die Ambivalenz in der Moderne in der alles Uneindeutige und Andersartige ausgeschlossen werden musste (vgl. Bauman 1992: 20ff.). Wenn die Entwicklung des diktatorischen Nationalstaates durch Homogenitätsbestrebungen charakterisiert werden kann, in denen Behinderungsprozesse eingelagert sind, so müssten im Umkehrschluss in einem demokratischen Nationalstaat, der durch Heterogenitätsbestrebungen charakterisiert wird, vor allem auch Enthinderungsprozesse vorherrschen.

8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen

»Dieses Doppelgesicht industrieller Gesellschaften gehört zu denjenigen ihrer Struktureigentümlichkeiten, die man nicht vergessen darf. Was sich vor und was sich hinter den Kulissen zivilisierter Gesellschaften abspielt, bedingt einander. Die relative Stabilität der sozialen Existenz aller derer, die vor den Kulissen leben, wird damit erkauft, daß man hinter den Kulissen eine andere Welt schafft, in der andere Spielregeln des Zusammenlebens gelten, ein anderer Kanon des Verhalten und Empfindens gilt, und in der man Menschen in sehr hohem Maße ihres Eigenwerts beraubt und der Gefahr völliger Entwertung und Sinnentleerung ihrer sozialen Existenz aussetzt.« (DLA Elias 1978: 184) Menschen mit Funktionseinschränkungen fielen in der Moderne durch zwei zusammenhängende Entwicklungen in der Öffentlichkeit zunehmend auf, wurden als störend empfunden und erschienen als Problem, das einer Lösung bedurfte: die Formalisierung des Verhaltens und die Industrialisierung der Arbeit. Die durch Handel und Arbeitsteilung zunehmend länger werdenden Interdependenzketten und die immer größeren Abhängigkeiten von immer mehr Menschen machten eine rationalisierte Lebensführung notwendig, also die Planung des eigenen Verhaltens auf seine langfristigen Konsequenzen hin. Und erst durch eine rationalisierte Lebensführung war eine Verfestigung und Verstetigung dieser Interdependenzketten möglich. Die Internalisierung von Fremdzwängen war Voraussetzung, um erfolgreichen Handel betreiben und sich in der bürgerlichen Gesellschaft über die Einhaltung formalisierter Verhaltensstandards behaupten zu können. Mit dem Anstieg der Verhaltensanforderungen traten dabei immer mehr Menschen in Erscheinung, die diesen Anforderungen des »angemessenen« Benehmens und der »richtigen« Lebensführung nicht gewachsenen waren und daher als abweichend wahrgenommen wurden.4 Damit verbreiterten sich in der Moderne die Ränder der Abweichung der Gaußschen Normalverteilungskurve – der mittlere Bereich, der Normalität symbolisiert, wurde hingegen schmaler bzw. das Spektrum tolerierter Verhaltensweisen enger. Die Notwendigkeit, das Verhalten der Mitmenschen zu beobachten und das eigene Verhalten zu kontrollieren, manifestiert sich psychogenetisch einerseits in einem Vorrücken der Schamschwelle beispielsweise hinsichtlich der Nichtbeachtung oder Nichtentsprechung der körperlichen oder geistigen Anforderungen sowie andererseits der Peinlichkeitsschwelle bezüglich der Beobachtung eines Fehlverhaltens bei anderen Menschen.5 4

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Denen, die die zivilisierte Bürgerlichkeit augenscheinlich nicht verkörperten und repräsentierten, wurde entsprechend mit Missachtung und Reserviertheit begegnet, also mit Maßnahmen gesellschaftlicher Sanktionierung (vgl. Hughes 2015a: 126). »Gesellschaftlich repräsentieren Menschen mit Behinderung diejenigen, die keine Selbstkontrolle und keinen Selbstzwang ausüben können. Mit der Erhöhung der »Peinlichkeitsschwelle« wurden sie dann zusammengetrieben und in Institutionen gehalten. Die Einsper-

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Der Prozess der Zivilisation als kontinuierliche Erweiterung der Internalisierung von Fremd- zu Selbstzwängen schaffte, so gesehen, ganz offensichtlich Gruppen von Menschen, die nicht mehr in das System der proklamierten »bürgerlichen Ordnung« der Moderne passten und dementsprechend angepasst werden mussten bzw. sollten. Das bedeutet, dass sich die soziogenetische Ausgrenzung von Menschen mit Funktionseinschränkungen in der Moderne psychogenetisch auch in der Erweiterung der Selbstkontrollapparatur erklären lässt: Nicht nur das eigene Verhalten geriet unter ihr Diktat, sondern ebenfalls das beobachtete Verhalten bei anderen; emporsteigende Gefühle wie Ekel, Peinlichkeit und Abscheu gegenüber Menschen mit Funktionseinschränkungen waren und sind Ausdruck dieser Erweiterung. Diese Gefühle sind mit Rückgriff auf Erdheim (1996) und Gruen (2002) verdrängte angstbesetzte Anteile des Beobachters, die nicht ins Bewusstsein vordringen dürfen und aus diesem Grund häufig so massiv bekämpft werden. Dieser Kampf richtet sich schließlich nach außen, was sich auf individueller Ebene als »Behindertenfeindlichkeit« und auf gesellschaftlicher Ebene in den rassenhygienischen Maßnahmen offenbarte. Eine andere Strategie, mit den verdrängten Ängsten (und frühkindlichen Erinnerungen) umzugehen, wäre das Darauf-Zugehen; denn das »Fremde«, das »Andere« löst auch eine Faszination aus und verfügt darum über eine anziehende Wirkung (vgl. Erdheim 1996: 176f.). Diese Anziehungskraft kann beispielsweise als eine der Ursachen des Interesses der Bürger*innen an den aufkommenden sogenannten Freak-Shows im 19. Jahrhundert interpretiert werden. Die Verdrängung der eigenen Unvollkommenheit, der Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens – ein Phänomen, das erst durch die verlängerte Lebenszeit im Laufe der Moderne entstanden ist – wirkt sich psychogenetisch im angstbesetzten, distanzierten Empfinden und Verhalten und soziogenetisch in der Internierung von Menschen mit Funktionseinschränkungen aus.6 »Das Leben in der Moderne wird […] von allem gestört, was uns an unsere animalischen und triebhaften Ursprünge oder Instinkte erinnert, aber auch von Objekten und Ereignissen, die Ekel und Abscheu auslösen« (Hughes 2015b: 112; Weglassung in Klammern C.E.).

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rung von Behinderung im 19. Jahrhundert markierte den Kulminationspunkt auf dem Weg zur Abschottung, der das Streben nach gesellschaftlicher Homogenität – ein Charakteristikum der Moderne – kennzeichnet« (Hughes 2015b: 108). Korrekterweise müsste Hughes von einer Senkung der Scham- und Peinlichkeitsschwelle sprechen – zumindest wenn man hier an das Bild einer zu übertretenden Türschwelle denkt. Vermutlich handelt es sich hierbei um einen Übersetzungsfehler. Elias selbst spricht immer von einem »Vorrücken« der Scham- und Peinlichkeitsschwelle (vgl. Elias 1977b: 397ff.). Die Angst vor Ansteckung durch den Kontakt mit einem Menschen mit Funktionseinschränkung ist ebenfalls als ein Phänomen der Moderne zu betrachten, das erst mit den Erkenntnissen der Bakteriologie naturwissenschaftlich untermauert werden konnte.

8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen

Der Grad der Identifikation mit jenen Menschen sank mit dem Anstieg des Anspruchs an Leistungs- und Arbeitsfähigkeit, der Verbesserung der medizinischen Behandlungsmethoden7 , der damit einhergehenden längeren Lebensdauer und der Institutionalisierung der sozialen Fürsorge. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Verletzlichkeit und Vergänglichkeit geriet aus dem Blickfeld des modernen Menschen und wurde zunehmend zu einem Tabuthema. Elias (1982) spricht hierbei von einer »hygienischen Verdrängung« (Elias 1982: 49). Die Angst vor Funktionseinschränkungen behindert die Menschen im Umgang mit Menschen mit Funktionseinschränkungen. Hier haben sicher zum guten Teil die auch in der Gegenwart zu beobachtenden Kontaktvermeidungsstrategien und Unsicherheiten gegenüber jenen Menschen ihren Ursprung. Mit der Industrialisierung traten zunehmend individuelle körperliche und kognitive Leistungen in den Vordergrund der gesellschaftlichen Verwertbarkeit. Da die Fabriken der Industrialisierung einerseits durch ihre standardisierten Abläufe und Produkte sowie ihre am Durchschnittskörper ausgerichteten Arbeitsplätzen einen eher exkludierenden Charakter für Menschen mit Funktionseinschränkungen aufwiesen und andererseits die Familienangehörigen, die sich früher um ihre funktionseingeschränkten Verwandten kümmerten, über keine zusätzlichen zeitlichen Ressourcen mehr verfügten, wurde die soziale Frage immer drängender, deren politische Bearbeitung in der Schaffung von Sondereinrichtungen lag (vgl. Schmuhl 2010: 15). Die Standardisierung aller Abläufe und Produkte hatte stets einen Normkörper zum Adressaten – als Arbeitnehmer und als Konsumenten. Man kann hier folgern, dass Standardisierung von sowohl Verhaltensweisen als auch industriellen Abläufen direkt zum Phänomen der Behinderung führte. Durch die Sondereinrichtungen wurden die Familien von der Fürsorge entbunden und die Spaltung von Wirtschafts- und Sozialsystem beschleunigt, was wiederum laut Dörner die Startbedingung der Modernisierung der Gesellschaft darstellte (vgl. Dörner 1997: 18; Dörner 2004: 156). Die Industrialisierung schaffte eine wachsende Distanz zwischen Menschen mit Funktionseinschränkungen, die nicht zur industriellen Wertschöpfung beitragen konnten und immer schwerer im Leben und im Alltag zurechtkamen, und dem Rest der Gesellschaft. Die Leistungs- bzw. Arbeitsfähigkeit eines Menschen gewann stetig an Bedeutung.8 Ein Mensch mit Funktionseinschränkungen, der nicht den

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Die Erweiterung medizinischer Möglichkeiten initiiert so gesehen eine Verschiebung der Wertzuschreibung. Diese war zwar auch im Mittelalter wichtig, jedoch konnte hier die Gemeinschaft einen Ausgleich schaffen bzw., falls die mangelnde Leistungsfähigkeit zum Problem wurde, war dies Angelegenheit der Familie bzw. der Hausgemeinschaft und nicht das Problem des Einzelnen, der am Fließband beispielsweise nicht die vorgegebene Leistung schaffte. Die Arbeitsabläufe im Mittelalter verfügten folglich über einen höheren Grad an Individualität.

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Anforderungen der industriellen Arbeit entsprach, war wirtschaftlich schlicht »unbrauchbar«. Im Zuge der Industrialisierung folgte aus diesem Grund das Absprechen des Wertes von Menschen mit Funktionseinschränkungen aufgrund mangelnder Arbeits- und Leistungsfähigkeit. Exemplarisch für diese Haltung ist ein Auszug einer Rede des Mediziners Hermann Simon, die er 1931 vor dem Kreis evangelischer Akademiker hielt: »Der Einzelne ist für die Gemeinschaft das wert, was er für sie leistet und zwar über seinen eigenen unmittelbaren Unterhalt hinaus. Gleichgültig sind für die Gemeinschaft die Zahlreichen, die gerade noch für sich selbst sorgen, der Allgemeinheit aber keinen Nutzen bringen. Ballast-Existenzen sind die »Minderwertigen« aller Art, welche die Lasten ihres Daseins mehr oder weniger der Gemeinschaft überlassen, an den Rechten der Gemeinschaften aber teilnehmen. Die Ausdrücke »Ballast-Existenzen« und »Minderwertigkeit« dürfen in diesem Zusammenhang nicht mit einem moralisierenden Beiklang gebraucht werden; sie bezeichnen nur eine objektiv vorhandene, sachliche Bewertung, gewissermaßen im kaufmännischen Sinne als »Passivum« der Gemeinschaftsbilanz zu buchen, dem ein entsprechendes »Aktivum« nicht gegenübersteht.« (Simon zitiert nach Dörner 1989: 44) In einer Gesellschaft, in der sich der Wert eines Menschen ausschließlich an seinem wirtschaftlichen Nutzen bemisst, müssen dieser Logik zufolge Menschen mit Funktionseinschränkung als Mängelwesen und als zu lösendes soziales Problem erscheinen. Die für relevante soziale Handlungen stets notwendige Legitimationsgrundlage erfolgte durch Wissenschaftler, allen voran durch medizinisch geprägte Professionen mit dem naturwissenschaftlich-analytischen Blick auf Menschen. Die gleichen wissenschaftlichen Prinzipien, die zur Kontrolle der außermenschlichen Natur erfolgreich eingesetzt wurden und zur Industrialisierung führten, wendete man nun ebenfalls zur Entschlüsselung der menschlichen Natur an. Der Körper – vor allem der abweichende Körper – wurde zum erforschbaren Objekt der Medizin. Körper und Gesundheit waren damit von der früheren überirdischen Wertorientierung entbunden, gleichzeitig für weltliche Wertorientierung und Sinnstiftung freigegeben, die vorerst noch hohe moralische Färbungen aufwies. Waren Körper und Gesundheit im Mittelalter in erster Linie Angelegenheit der Hausgemeinschaft, wurde diese Funktion nun an die Mediziner delegiert, die mit der Übernahme naturwissenschaftlicher Methoden und nach Einführung der Sozialversicherungssysteme inzwischen das Monopol über diesen Bereich besaßen und alle konkurrierenden Berufe verdrängt oder untergeordnet hatten. Die frühere Hausgemeinschaft, in der Hochindustrialisierung zur Kleinfamilie geschrumpft, wurde so entlastet, gleichzeitig verlor sie die Kontrolle über Körper und Gesundheit.

8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen

Die Entschlüsselung der menschlichen Natur führte direkt zur statistischen Konstruktion und Erfassung von Norm und Normalität, in deren Kontrast alles Abweichende in Erscheinung trat. Mit der Quantifizierung menschlicher Eigenschaften (Intelligenz, Aussehen, Charakter, Leistungsfähigkeit, Körpergröße etc.) und der Orientierung an den ermittelten Durchschnittswerten ging sowohl eine Qualifizierung derjenigen Menschen einher, die sich nicht im Normbereich befanden, als auch eine einseitige Fixierung auf gesellschaftliche Normalitätsstandards. Die wissenschaftliche Verortung einiger dieser – meist geistig funktionseingeschränkter – Menschen in den Bereich der Animalität, die Aberkennung des Menschseins, stellte schließlich die theoretische Legitimationsbasis der eugenischen praktischen Bestrebungen dar. Die moderne Sehnsucht nach Ordnung der menschlichen Vielfalt durch Differenzierung von Krankheiten und Funktionseinschränkungen beispielsweise über Klassifikationssysteme ist dabei für sich genommen nicht prinzipiell verwerflich – im Gegenteil, Trennung ist ein Grundprinzip menschlicher Wahrnehmung (vgl. Goudsblom 1979a: 86; Fleck 1983b: 148).9 Gefährlich wird diese Ordnung allerdings, wenn mit dieser Trennung eine Wertzuschreibung menschlichen Lebens verbunden ist. Wissenschaftliche Objektivität ist zwar i.d.R. immun gegen Werturteile, bietet jedoch genau aus diesem Grund auch das Fundament für zweckrationales Handeln: »Wenn das Töten von Geisteskranken ökonomisch sinnvoll und technisch machbar ist, warum um Himmels willen sollte man es nicht tun? Oder warum sollte man die Chance zur Förderung der Wissenschaft dadurch mindern, daß man sich weigert, das »Juden- und Zigeunermaterial« als Versuchstiere zu behandeln?« (Bauman 1992: 86) Die moralisch gefärbte Körperhygiene des 18. Jahrhunderts wurde im 19. Jahrhundert zur wissenschaftlich geprägten Staatshygiene, die im 20. Jahrhundert in der Säuberung des Staatskörpers von den ihn bedrohenden gesellschaftlichen Elementen mündete – nach Lévi-Strauss (1970) eine anthropoemische gesellschaftliche Strategie zur Herstellung gesellschaftlicher Homogenität (vgl. Lévi-Strauss 1970: 355ff.). Die rassenhygienischen Maßnahmen im Dritten Reich fokussierten dabei überwiegend auf Menschen mit angeborenen, vor allem geistigen Funktionseinschränkungen und weniger auf diejenigen mit körperlichen Funktionseinschränkungen.

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Goudsblom (1979a) formuliert dies mit Rückgriff auf Durkheim so: »Klassifizierung diente, indem sie die Menschen mit festen Begriffen und praktischen Vorschriften ausstattete, als mächtiges soziales Band, als Band gemeinsamer Orientierung. Ohne sie würden menschliche Wesen sich in einem ständigen Fluß unmittelbarer Sinneseindrücke verlieren.« (Goudsblom 1979a: 86)

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Was ist Behinderung?

Entscheidend war, wie weiter oben beschrieben, die Arbeits- und Leistungsfähigkeit, und dort waren in den meisten Fällen Menschen mit körperlichen Funktionseinschränkungen besser gestellt. Bis weit in die Postmoderne hinein entschied der Faktor der Leistungsund Arbeitsfähigkeit darüber, ob ein Mensch mit Funktionsfähigkeit eher in Enthinderungs- oder Behinderungsprozesse involviert wird, und hier offenbart sich das Janusgesicht dieser Prozesse: wird eine Gruppe von Menschen mit Funktionseinschränkung in Regelschule oder Erwerbstätigkeit inkludiert, verfestigt sich zugleich die Exklusionsgrenze derjenigen Menschen, die die Anforderungen nicht erfüllen können. Dieser Selektionsprozess schlägt sich auch in der Begriffsentwicklung nieder bzw. in der Tendenz, sich über Begrifflichkeiten von den Ausgegrenzten abzugrenzen, um so ins Rampenlicht der Normalität zu gelangen (vgl. Schmuhl 2010: 92). Behinderungsprozesse gingen Hand in Hand mit einer terminologischen Homogenisierung dieser heterogenen Gruppe von Menschen mit Funktionseinschränkungen, die nun als »abweichend« bewertet und binär von den »normalen« Menschen sowohl definitorisch als auch faktisch getrennt wurden. Die terminologische Gruppenbildung stellt jedoch auf der anderen Seite die Voraussetzung für die Entstehung eines Gruppengefühls dar, das emanzipatorisches Streben ermöglichte, wodurch sich die zuvor ungleiche Machtbalance in Zuge der Postmodernen allmählich angleichen konnte.  Behinderungsprozesse in der Postmoderne: In der Postmoderne haben die Enthinderungsprozesse auf soziogenetischer Ebene an Einfluss gewonnen und Behinderungsprozesse an Dominanz verloren. In der Tendenz wurden Enthinderungsprozesse institutionalisiert, Behinderungsprozesse dagegen de-institutionalisiert. Zwar ging damit nicht die Auflösung von Sondereinrichtungen einher, allerdings wandelte sich deren Funktionen gemäß den geänderten gesellschaftlichen Wertvorstellungen (z.B. stärkere Betonung der Selbstbestimmung). Durch die demokratische Entwicklung des Staates lernten die Menschen allmählich Heterogenität zu akzeptieren und Ambivalenzen auszuhalten. Wie tief dieser Lernprozess verinnerlicht ist, also wie stark die Akzeptanz bei veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen das Verhalten beeinflussen wird, kann nur schwer beantwortet werden. Da die demokratische Entwicklung historisch gesehen relativ jung ist, ist die Verankerung vermutlich auch noch relativ instabil. Auf politischer Ebene ist derzeit zu erkennen, dass Enthinderungsprozesse durch die rechtliche Gleichstellung und die Umsetzung der UN-BRK vorherrschend sind. Behinderungsprozesse haben sich dagegen überwiegend auf die individuelle Ebene zurückgezogen und richten sich gegenwärtig selten offen gegen Menschen mit Funktionseinschränkungen, sondern fokussieren sich auf das pränatale Feld,

8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen

auf dem vollständige Kontrolle über Funktionseinschränkungen vorhanden zu sein scheint. In der direkten Nachkriegszeit knüpfte die Versorgungsstruktur von Menschen mit Funktionseinschränkungen zunächst an diejenige der Weimarer Republik an. Es kam zu einem weiteren Ausbau der Sondereinrichtungen, Menschen mit Funktionseinschränkungen waren weiterhin am Rande des gesellschaftlichen Lebens platziert und lebten häufig unter menschenunwürdigen Bedingungen (vgl. Schmuhl 2010: 88; Köbsell 2018: 317f.). Das Ziel der rehabilitativen, medizinischen und pädagogischen Maßnahmen stellte die Korrektur und Anpassung des Menschen mit Funktionseinschränkung vor dem Hintergrund des Konzepts der Normalisierung dar – nach Lévi-Strauss (1970) eine anthropophage gesellschaftliche Strategie zur Herstellung gesellschaftlicher Homogenität (vgl. Lévi-Strauss 1970: 355ff.). »Wenn nur ausreichende Sozialleistungen und Therapieeinrichtungen geschaffen und effektive technische Hilfsmittel sichergestellt wurden, schien das soziale Problem Behinderung durch eine funktionale Normalisierung gelöst.« (Bösl 2009: 338) Durch den institutionalisierten Umgang mit funktionseingeschränkten Menschen, also durch die Separierung und begriffliche Benennung als eine Gruppe, war – unter postmodernen Bedingungen – aber ebenfalls die Möglichkeit angelegt, ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl zu entwickeln und sich als Gruppe gegen Ausgrenzung und Diskriminierung zur Wehr zu setzen.10 Durch ein selbstbewusstes Auftreten in der Öffentlichkeit – das durch die wachsende demokratische Ausrichtung der Gesellschaft nun möglich war – änderte sich langsam auch die Wahrnehmung in der Gesellschaft. Dadurch wurde beispielsweise die Barrierefreiheit in öffentlichen Verkehrsmitteln vorangetrieben und, flankiert durch rechtliche Errungenschaften, einige Schritte in Richtung der gesellschaftlichen Teilhabe gemacht. Die Informalisierung von Verhaltensweisen führte in der Postmoderne dazu, dass der Normalitätsbereich wieder breiter wurde – dennoch befinden sich dadurch nicht automatisch Menschen mit Funktionseinschränkungen innerhalb dieser Grenzen. Die Grenzen der Normalität – so pluralistisch diese auch gewor10

Dies folgt einer ambivalenten Logik: Während sich die Behindertenbewegung als Minderheit und unterdrückte Gruppe verstand, die aufgrund ihrer körperlichen und geistigen – gesellschaftlich konstruierten und an einer starren Durchschnittsnorm ausgerichteten – Differenzen abgewertet und ausgegrenzt wurde und dagegen ankämpfte, so bildeten diese Differenzmerkmale zugleich die Voraussetzung für die Ausbildung einer Identität als Gruppe. Wenn die Differenzmerkmale jedoch tatsächlich Konstruktionen sind, fällt »die Grundlage für die an körperlichen Merkmalen orientierte Bildung von Identitäten in sich zusammen« (Dederich 2007: 183). Wenn diese Identität allerdings aufrechterhalten wird, verfestigt sich damit nicht auch automatisch die vielfach kritisierte binäre Trennung (behindert/nicht-behindert) der Menschen?

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den sein mögen – werden durch mediale Vorbilder abgesteckt und vom Markt reguliert. Psychogenetisch stellen Menschen mit Funktionseinschränkungen immer noch das Gegenteil des Normalen dar, das, was man nicht sein möchte, das einen in seinem an Perfektion orientierten Selbstbild irritiert. Psychogenetisch hinkt der postmoderne Mensch der soziogenetischen Entwicklung der Enthinderungsprozesse folglich hinterher. Menschen mit Funktionseinschränkung haben inzwischen die gleichen Rechte wie Menschen ohne Funktionseinschränkung und werden vor dem Gesetz als gleichberechtigte Bürger*innen betrachtet. Ob der rechtlichen automatisch auch eine faktische Gleichstellung folgt, bleibt abzuwarten. Solange jedoch die Leistungs- und Arbeitsfähigkeit eines Menschen weiterhin das entscheidende Beurteilungskriterium ist, das bereits im Schulsystem vermittelt wird, und solange Inklusion nur in gesellschaftlichen Teilbereichen vorangetrieben wird, bleibt es fraglich, ob eine faktische Gleichstellung jemals erreicht werden kann. Dennoch ist für die gegenwärtige Phase die Feststellung zutreffend, dass dort, wo früher überwiegend Fremdbestimmung herrschte, nun prinzipiell Selbstbestimmung möglich ist11 – und dies ist eine eindeutig positiv zu wertende Verschiebung. Mit der weiteren Differenzierung der Wissenschaften gelang es immer mehr nicht-medizinischen Professionen das Thema »Behinderung« für sich zu besetzen, so dass sich der frühere monoprofessionelle Monolog zu einem multiprofessionellen Diskurs verwandelte – und eine relative Machtangleichung der unterschiedlichen Professionen erfolgte. In diesem Diskurs erlangte auch die Stimme derjenigen Menschen, die dieser Diskurs betraf und betrifft, immer größeres Gewicht, so dass auch hier ein Machtzuwachs zu verzeichnen ist. Generell setzt die fortschreitende Differenzierung der gesellschaftlichen Funktionen langfristig Institutionalisierungs- und Monopolisierungsprozesse in Gang, die Machtverschiebungen bewirken. Ein gesellschaftlicher Wandel, der zur Monopolisierung gesellschaftlicher Chancen führt, verändert immer auch die soziale Kontrolle der Betroffenen.12 Monopolinstitutionen wie das ausdifferenzierte Sozialsystem entlasten und sensibilisieren, schaffen aber auch ein Vakuum. Auf der ei11

12

Mit dieser Selbstbestimmung ist auch verbunden, dass die früheren fremdbestimmenden medizinischen Anweisungen bezüglich Krankheit und Funktionseinschränkungen heute nicht mehr zwingend ein Außenkriterium benötigen. Menschen überwachen nun selbst ihre Vitalwerte, ihre Ernährung, ihren Lebensstil; der frühere bürgerliche Zwang zur Gesunderhaltung hat sich zur verinnerlichten Lebensmaxime gewandelt. Der postmoderne Mensch benötigt im Gegensatz zum modernen städtischen Mensch keine Krankenbesucher mehr, die ihn dahingehend kontrollieren, ob ärztliche Anweisungen befolgt werden. Beispielsweise die familiären Veränderungen im Zuge der Industrialisierung (sozialer Wandel), die zur Veränderung der sozialen Kontrolle über Krankheit, Alter und Funktionseinschränkungen durch die Einführung der Krankenkassen (Monopolisierung) führen.

8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen

nen Seite führen sie zur Entlastung von Familien, da Funktionen wie beispielsweise die Alterssicherung oder die Fürsorge für Angehörige mit Funktionseinschränkung in die Hand gesellschaftlicher Institutionen übergehen. Zugleich sensibilisieren sie die Menschen für ihren Körper (sie setzen langfristig Standards in der Körperpflege, deren Missachtung schnell zu sozialer Ächtung der betreffenden Person führt). Auf der anderen Seite bleiben Krankheit, Alter und Funktionseinschränkung biographische Erfahrungen. Was sich mit der Monopolisierung ändert, ist die Qualität der Betroffenheit (vgl. von Ferber 1981: 357). Stellte im Mittelalter eher das direkte soziale Umfeld Kompensationsmechanismen für Menschen mit Funktionseinschränkungen dar, so sind es gegenwärtig zunehmend familienfremde Personen sowie technische Hilfsmittel; dabei findet zwar auch noch ein menschlicher Austausch statt, dieser wird allerdings über verwaltungstechnische Strukturen organisiert. Die Monopolisierung durch Institutionalisierung verweist die Betroffenen an Expert*innen, die die Probleme jedoch lediglich selektiv bearbeiten können. Von Ferber (1981) führt diesbezüglich aus: »Es gehört zu den inzwischen auch sozialpolitisch anerkannten Erfahrungen, die wir mit der gesellschaftlichen Monopolisierung der Alterssicherung und der Krankheitsbehandlung machen, daß die Pflegebedürftigkeit, die elementare Hilfsbedürftigkeit bei Eintreten der Hinfälligkeit durch soziale Institutionen, nicht oder nur unzureichend abgedeckt ist. Dort, wo die Hilfsbedürftigkeit am drückendsten erfahren wird, ist sie über die zuständigen Monopolinstitute kaum zu erlangen. […] [Sie] vermitteln das Verhältnis der Menschen zu ihrem Altwerden, zu ihren lebensbedrohenden Krankheiten und legen die Abgründigkeit ungelöster Fragen offen. […] Eine antizipierende Vergegenwärtigung der eigenen Hilflosigkeit, das Bewusstsein der eigenen latenten Gebrechlichkeit motiviert den Versuch, Verpflichtungen und Bindungen bei den Personen zu erzeugen, die sich dem Ersuchen um Hilfe durch einen Hinweis auf gesellschaftliche Institutionen entziehen können.« (von Ferber 1981: 365; Weglassung und Ergänzung in Klammern C.E.) All dies verändert das Verhältnis der Menschen zu ihren Lebensrisiken, die bis zu einem gewissen Punkt von den vielfältigen Monopolinstitutionen (Kranken- und Rentenversicherung, Berufsgenossenschaften etc.) vermittelt, verwaltet und bearbeitet werden. Wenn es allerdings um die existenziellen Fragen geht, ist von diesen Institutionen kaum eine Antwort zu erwarten. Bauman (2005) stellt diesbezüglich fest: Auch wenn heute alles getan wird – vor allem finanziell – um das biologische Leben zu sichern, bedeutet dies nicht, dass damit automatisch auch das soziale Überleben gesichert ist (vgl. Bauman 2005: 22). Und mit Elias (1983b) lässt sich anschließen: »Noch ist es vielleicht nicht ganz unnötig zu sagen, daß die Fürsorge

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Was ist Behinderung?

für die Menschen zuweilen etwas hinter der Fürsorge für die einzelnen Organe zurückbleibt.« (Elias 2002: 90) So ist vor allem für die Gegenwart zu konstatieren, dass die Naturwissenschaft der Medizin zu Höchstleistungen hinsichtlich der Rettung und Verlängerung menschlichen Lebens verholfen hat, das eigentliche ärztliche Handeln (fürsorglicher Umgang mit hilfe- und ratsuchenden Menschen) scheint allerdings mit fortschreitender Ökonomisierung der Medizin und dem damit einhergehenden Zeitmangel sukzessive in den Hintergrund zu rücken (vgl. Labisch 1992: 323f.). Die Ambivalenzen des Lebens haben sich in der Postmoderne nicht aufgelöst, geändert hat sich aber die Verarbeitung, die sich vom Staat auf das Individuum verschoben hat, dort häufig Orientierungsprobleme und Überforderungsgefühle verursacht und daher immer wieder Gegenbewegungen auslöst (Fremdenhass, Skrupellosigkeit der Wissenschaften etc.), die letzten Endes als eine Reaktion auf die Unfähigkeit angesehen werden kann, sich mit den Ambivalenzen arrangieren zu können. Das Phänomen der Behinderung wird immer eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung sein – in Zukunft vermutlich mehr denn je. Die Rechtsinstitutionen der Postmoderne haben einen der Kerngedanken der Französischen Revolution, die Chancengleichheit, gesetzlich fest verankert – die Richtung scheint vorgegeben; ob die Gesellschaft bzw. die Menschen, die diese Gesellschaft bilden, diesen Weg auch gehen wird, bleibt abzuwarten. Unterstützen kann hierbei nur die kollektive Arbeit an einer Politik der Inklusion. Inklusion bedeutet dabei nicht die Zuführung von Menschen mit Funktionseinschränkung in eine Gesellschaft, der sie vermeintlich nicht angehören, sondern die Aufrechterhaltung einer von Geburt an bestehenden Zugehörigkeit (vgl. Bösl 2010: 12). Wenn »normal« das ist, was wir gewohnt sind und wir uns gleichzeitig Gewohnheiten im Laufe der Sozialisierung aneignen, so kann durch beispielsweise inkludierende Kindergarten- und Schulsysteme langfristig ein anderes Normalitätsverständnis entstehen. Je länger Menschen mit Funktionseinschränkungen dagegen in Sondereinrichtungen in relativer Isolierung leben, desto größer wird ihr Abstand zur Mehrheitsgesellschaft. Aus historischer Perspektive muss hier allerdings der Einwand erfolgen, dass, wenn erst durch die Industrialisierung bzw. das kapitalistische Wirtschaftssystem Menschen mit Funktionseinschränkungen in Sondereinrichtungen interniert wurden, da erstens für viele von ihnen auf dem primären Arbeitsmarkt keine Verwendung zu finden war und zweitens sich die Familienangehörigen dadurch, dass sie selber ihre Arbeitskraft jeden Tag in den Fabriken oder Büros einbringen mussten, keine Zeit zur Versorgung aufbringen konnten, der Gedanke, dass sich nun allein durch

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die Auflösung dieser Einrichtungen eine Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe erreichen ließe, einer gewissen Skurrilität nicht entbehrt.13 Raul Aguayo-Krauthausen zitiert in seinen Vorträgen und Büchern seinen früheren Lehrer sinngemäß mit den Worten: »Inklusion ist kein Ziel, das man abhaken kann, sondern ein Prozess auf den Weg in eine Gesellschaft der menschlichen Vielfalt«. Ein guter Indikator für eine solche Gesellschaft wäre die Feststellung, dass Menschen mit Funktionseinschränkungen Rollen übernehmen, die mit denen aller anderen Gesellschaftsmitglieder vergleichbar sind (vgl. Groce 2006: 396). Davon sind wir gegenwärtig sicher noch eine gute Wegstrecke entfernt, und um diese Distanz zu verkürzen, sind politische Reden und Statements relativ nutzlos. Friedrich Schillers Satz: »wo die Tat nicht spricht, da wird das Wort nicht viel helfen« (Schiller 1836: 5) kann und sollte hierbei als Mahnung und Aufforderung dienen. Ein radikaler Wechsel innerhalb der Sozialpolitik scheint mir notwendig zu sein, und hierfür gibt es bereits theoretische Ansätze – wie die Diskussionen um beispielsweise das bedingungslose Grundeinkommen zeigen (vgl. Engler 2005; Werner 2016). Und hierbei sowie bei weiteren möglichen sozialstaatlichen Förderungen handelt es sich nicht um – politisch häufig kritisch betrachtete – Subventionsleistungen, sondern um Investitionen in den sozialen Frieden.

8.2

Exkurs: »Apokryphen« des wissenschaftlichen Methodenkanons und Reflexion des eigenen Involvierungsgrads

Bei wissenschaftlichen Abhandlungen kommen Methoden zum Einsatz, die hohe Objektivitätskriterien erfüllen müssen und mit denen versucht wird, jegliche Subjektivität in fachspezifische Schranken zu weisen. Fleck hat diesen Objektivitätsanspruch bereits 1935 in seiner Wissenschaftstheorie in Frage gestellt (vgl. Fleck 1983a). Er war der Ansicht, dass wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung als ein relationaler Prozess (zwischen Subjekt und Objekt) anzusehen sei und nicht einfach bei der Betrachtung eines Objekts im Subjekt – trotz noch so objektiver Methoden – ungefiltert entsteht. Neben der Annahme, dass ein Forschungsprozess immer ein Interaktionsprozess ist, führte er zwischen Subjekt und Objekt eine dritte Instanz, das »Denkkollektiv« ein, das nach seiner Meinung den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess wesentlich beeinflusst: 13

Generell ist Inklusion in kapitalistischen Gesellschaften aufgrund der Verbindung von Erwerbsarbeit und sozialen Rechten immer gefährdet, die Erwerbsarbeit als Inklusionsinstanz wird nicht über den Bürgerstatus gesichert, sondern ist abhängig von der (willkürlichen) Entscheidung der jeweiligen Unternehmen. Gleichzeitig sind die staatlichen sozialen Sicherungssysteme, die die Bürger*innen vor genau jener Abhängigkeit schützen sollen, wiederum von den Erträgen der Erwerbsarbeit abhängig, können aber die Erwerbsarbeit als soziales Recht nicht garantieren (vgl. Kronauer 2013: 23).

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»[Wissenschaftliche] Erkenntnis [muss] als eine Funktion von drei Elementen verstanden werden: Sie ist eine Relation zwischen dem individuellen Subjekt, dem bestimmten Objekt und der gegebenen Denkgemeinschaft (Denkkollektiv), in dem das Subjekt handelt; sie gelingt nur, wenn ein bestimmter Denkstil angewendet wird.« (Fleck 1983c: 177; Ergänzung in Klammern C.E.) An anderer Stelle und vor allem auf die Naturwissenschaften bezogen ergänzt Fleck: »Man muß […] erst lernen, zu schauen, um das wahrnehmen zu können, was die Grundlage der gegebenen Disziplin bildet.« (Fleck 1983a: 60) Wie im Alltagsleben die persönliche Sozialisation die Wahrnehmungsbereitschaft prägt und lenkt, so gibt es in der Wissenschaft ebenfalls eine gerichtete Wahrnehmung, die durch eine fachspezifische wissenschaftliche Sozialisation hervorgerufen wird (vgl. ebd.: 61). Diese kann in letzter Konsequenz dazu führen, dass eine Kommunikation der unterschiedlichen wissenschaftlichen Denkkollektive nur noch schwer bis gar nicht mehr möglich ist. Dieses fehlende Verständnis der anderen Perspektive wird durch die entwickelten fachspezifischen Begriffswelten weiter verstärkt (vgl. Fleck 1983b: 172).14 »Selbst wenn sie dieselben Worte benutzen, sprechen sie über etwas anderes, weil ihre Worte eine andere Bedeutung, ihre Begriffe eine andere Stilfärbung haben, ihr Schließen sich anderer Zusammenhänge bedient, Ausgangspunkt und Ziel ihres Denkens andere sind. Jeder gehörte Satz wird vom Mitglied eines fremden Kollektivs mehr oder weniger in seinen eigenen Stil umgestaltet, also sagt der Aussagende etwas anderes, als der Hörende versteht: Auf der zwischengemeinschaftlichen Wanderung unterliegt der Gedanke der Verformung, und deshalb ist es für die Mitglieder unterschiedlicher Denkkollektive unmöglich, sich zu verständigen.« (Ebd.) In diesem fehlenden Verständnis könnte ein Erklärungsansatz nicht nur für die wahrzunehmende häufig harte Frontziehung der Vertreter*innen der Disability Studies gegenüber der medizinischen Profession zu finden sein, sondern auch für die lange vorherrschenden, ignorierenden Tendenzen der medizinischen Professionen gegenüber den erfahrungsbasierten Einstellungen und Meinungen von Menschen mit Funktionseinschränkungen gegenüber medizinischen Interventionen und deren »Vollstreckern«. Ein erstarrter Wissenskanon von Denkkollektiven scheint hier eine lebendige Wissensentwicklung über Behinderung zu behindern. Aber nicht nur das Denkkollektiv beeinflusst die Interaktion zwischen forschendem Subjekt und beforschtem Objekt, Themen- und Methodenwahl sowie Interpretation der Ergebnisse gehen – unabhängig davon, welcher Methoden man

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»Wir schauen mit den eigenen Augen, aber wir sehen mit den Augen des Kollektivs.« (Fleck 1983b: 157)

8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen

sich bedient – vom forschenden Subjekt aus, das in den Menschenwissenschaften gleichzeitig ein Teil des zu beforschenden Kollektivs bildet. Häufig ist also die Betonung auf objektive Methoden eine Scheindistanzierung, eine Verleugnung des Einflusses unbewusster eigener Anteile auf das Forschungsergebnis. Der forschende Mensch betrachtet die Realität oder das, was wir unter Realität verstehen, durch individuell bzw. biographisch gefärbte Gläser einer vom Denkkollektiv designten Brille, oder, mit den Worten Devereux’: »Der Mensch konstruiert sich ein mehr oder weniger unbewußtes und teilweise idealisiertes Selbst-Modell, das ihm dann als eine Art Prüfstein, Standard oder Richtlinie für die Einschätzung anderer Lebewesen und sogar materieller Objekte dient« (Devereux 1984: 192). Devereux stellt die Interaktion im Forschungsprozess in den Vordergrund seines Interesses. Er verbindet dabei psychoanalytische mit ethnologischer Methodik, indem er davon ausgeht, dass in jedem Forschungsprozess nicht nur eine Übertragung vom Objekt auf den Forschenden, sondern auch immer eine Gegenübertragung vom Forschenden auf das Objekt stattfindet. Dieser Interaktionsprozess kann – wie Interaktionsprozesse im Allgemeinen – eine reiche Fehlerquelle bei der Beobachtung, Sammlung und Interpretation von Daten bilden, die umso größere negative Auswirkung hat, je mehr das Material im forschenden Menschen Affekte wie beispielsweise Angst oder Wut verursacht – was gerade bei Ethnologen keine Seltenheit war und ist. Die zumeist unbewusste Reaktion (Gegenübertragung) auf die übertragene Angst beeinflusst den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess, und es besteht die Gefahr, dass das methodisch »objektive« Vorgehen zum Mittel der Angstbewältigung wird, was Devereux als »methodologischen Objektivismus« bezeichnet. Devereux kommt konsequenterweise zu der Schlussfolgerung, dass die Analyse der Gegenübertragung einen größeren Erkenntnisgewinn über die Natur des Menschen hervorbringt als die Analyse der Übertragung (vgl. Devereux 1984: 17).15 Umgangssprachlich formuliert bedeutet dies, dass alles, was beobachtet wird, immer auch vom Beobachter, also der eigenen Beobachtertätigkeit und den damit verbundenen Ängsten beeinflusst ist. Und diese Ängste sind Spiegel der Affekte, die in der jeweiligen Gesellschaft ins Unbewusste verdrängt werden. Wenn man also die Gegenübertragung ins Visier der Analyse nimmt, so erfährt man etwas über die eigene Gesellschaft und die eigene Biographie, wodurch prinzipiell die Möglichkeit 15

Unter anderem ist Erdheim (1982a) bei seinen ethnographischen Untersuchungen den Forderungen von Devereux nachgekommen, in dem er die affektive Verstrickung des Forschenden mit seinem Gegenstand und seine Subjektivität selbst als Schlüssel zur Erkenntnisgewinnung des zu analysierenden Fremden und zum Begreifen von Zusammenhängen verwendete. Erst nach der Bewusstwerdung der ins Unbewusste verdrängten eigenen Anteile ist einerseits ein unvoreingenommener Blick auf den Forschungsgegenstand möglich und andererseits erhält man dadurch Erkenntnisse über das Eigene (die eigene Kultur oder die eigene Sozialisation) (vgl. Erdheim 1982a).

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entsteht zu lernen, mit den Affekten bewusster umzugehen. Der Einfluss der gesellschaftlichen Denkstruktur und der eigenen Biografie fängt bei der Themenwahl an, geht über die Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes methodisches Vorgehen bis hin zur Deutung der gewonnenen Erkenntnisse. Selbst wenn man es mit rein statistischen Material zu tun hat, kommt der forschende Mensch irgendwann zu einem Punkt, an dem die Daten bzw. die Ergebnisse gedeutet, gewichtet und interpretiert werden müssen; spätestens von diesem Zeitpunkt an befindet er sich in einem Bereich der Subjektivität, in dem er sich auch ohne vorgeschobenen methodischen Filter befinden würde (vgl. Devereux 1984: 19). Dieses subjektive Moment wird in der heutigen Wissenschaft im Allgemeinen systematisch ausgeblendet, da Subjektivität dem Anspruch an eine objektive Erkenntnisgenerierung scheinbar zuwiderläuft bzw. in entsprechenden wissenschaftlichen Denkkollektiven undenkbar ist oder zumindest starke Widerstände provoziert.16 In der traditionellen Ethnologie geht man davon aus, dass das Subjektive des forschenden Menschen durch die objektiven Methoden unter Kontrolle steht, als ob durch den Eintritt in die Feldforschung alles Menschliche abgelegt werden könnte (vgl. Erdheim 1982a: 12ff.). Eines der Gütekriterien für die Verlässlichkeit einer wissenschaftlichen Methode stellt die Reliabilität dar, die allerdings in einer Arbeit, die sich auch auf die Vergangenheit bezieht, kaum anwendbar ist, denn im »Laboratorium der Soziologie« (Elias 1985) sind Messwiederholungen unter gleichen Bedingungen prinzipiell ausgeschlossen. Hier ist nur eine tangentiale Annäherung durch Verwendung vielfältiger Quellen und Anwendung eines übergeordneten theoretischen Konzepts möglich, um die verschiedenen Stufen der menschlichen Entwicklung beschreiben und erklären zu können. Denn ein »totales Verstehen dessen, was eigentlich gewesen ist, wäre nur als ebenso totale Wiederholung zu erfüllen.« (Heintel zitiert nach Dinzelbacher 2008c: XXXIII) So kommt Elias (2003) zu der Schlussfolgerung: »Es ist die Entdeckung, die die Forschung als wissenschaftlich legitimiert, und nicht die Methode.« (Elias 2003c: 44) Die Forschung in der Gegenwart fungiert wiederum auch als eine Beschreibung der gelebten Realität, und dennoch erfolgt in der etablierten Forschung eine künstliche Trennung zwischen Objekt und Subjekt, so als ob man als forschendes Subjekt außerhalb der zu beobachtenden Realität stünde (vgl. Çil 2007: 73). Man sollte in den Menschenwissenschaften damit umgehen lernen, dass keine klare Trennlinie zwischen sozialen Prozessen bzw. Phänomenen und dem wissenschaftlichen Beobachter existiert, also zwischen Subjekt und Objekt, da das beobachtende Subjekt immer auch Teil des zu beobachtenden Objekts ist. Man ist nach Elias (1983) daher 16

In den heutigen medizinischen oder auch rehabilitationswissenschaftlichen Journalen ist die subjektive Interpretation von Ergebnissen zumindest in der Diskussion möglich bzw. auch gefordert.

8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen

gut beraten, in der theoretisch-empirischen Wissenschaft eher von »adäquaterer« und nicht von »wahrer« oder »falscher« Vorgehensweise zu sprechen (vgl. Elias 1983: 37). Devereux hingegen sieht das Subjektive nicht als Fehler-, sondern als Informationsquelle an. Die entscheidende Frage ist, ob die angstbesetzte Gegenübertragung dem Forschenden bewusst ist bzw. seinem Bewusstsein zugänglich gemacht werden kann. Zur Kontrolle bzw. Regulierung der Angst hilft dabei keine objektive Methodik, sondern nur Reflexivität. Notwendig ist eine systematische Selbstbeobachtung als reflexive methodische Strategie, um affektive Daten dem Bewusstsein zugänglich zu machen und eine neue Perspektive zu erhalten. Denn »begriffene Angst ist eine Quelle der Gelassenheit und der Kreativität und damit auch guter Wissenschaft.« (Devereux 1984: 124) Das Erkennen des eigenen Involvierungsgrads kann frei nach Freud dazu beitragen, sich weniger in der affektiv-unbewussten ÜBER-ICH-Steuerung zu verlieren, sondern eine eigene ICH-Perspektive einzunehmen, die ggf. synthetisierender17 und erkenntnisreicher ist, als diejenige etablierter Denkkollektive. Dadurch gelangt man zu einer größeren relativen Autonomie vom Denkkollektiv und ggf. zu einer ganzheitlicheren Sichtweise. »Eine solche verstärkte Ich-Steuerung eröffnet den Forschern neue Spielräume der Einfühlung und zugleich Distanzierung gegenüber sich selbst und den Forschungsobjekten – und erschließt damit der Forschungsfiguration eine reflexive Qualität, eine zweite Ebene, eine neue Etage auf der »Wendeltreppe des Bewusstseins« (Elias), von der aus der Forscher sich selbst bei der Beobachtung seines Forschungsobjekts beobachten und damit auch dessen Subjektcharakter in der Tatsache wahrnehmen kann, dass die Erforschten die Forscher gegenbeobachten können, entweder unmittelbar oder vermittelt über die direkte oder indirekte Rezeption von Forschungsresultaten.« (Waldhoff 2009: 113f.) Auf das Thema der »Behinderung« oder »Funktionseinschränkung« übertragen, heißt das, dass die Untersuchung der Abwehrmechanismen und die Art, wie Forschende auf das Thema reagiert, mehr über das Denkkollektiv des Forschers und die gesellschaftlichen Vorstellungen aussagt als die veröffentlichten Ergebnisse. Hier ist auch ein Anknüpfungspunkt zum Kulturellen Modell von Behinderung, demgemäß man bei einem Perspektivwechsel (behinderte Forscher*innen erforschen die Gesellschaft) in der Auseinandersetzung mit Behinderung oder

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Syntheseorientierte wissenschaftliche Techniken stehen »künstlerischen Arbeitsweisen näher als abstrahierende Techniken [wie sie häufig im naturwissenschaftlichen Wissenschaften Anwendung gefunden haben]; sie sind in geringer Gefahr, sich durch unbewusst abwehrende Denktechniken von ihrem Forschungsobjekten so weit zu distanzieren, sie so ins Fremde zu wenden, dass sie diese nur noch ganz entsinnlicht und ihr Verhalten sinnentleert wahrnehmen können.« (Waldhoff 2009: 96f., Fußnote; Ergänzung in Klammern C.E.)

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Abnormalität viel über die Konstruktionsmechanismen gesellschaftlicher Normalität erfährt, wodurch wiederum eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Mechanismen möglich wird. Fragen sollte sich der nach diesem Modell forschende Mensch nach den oben ausgeführten Ansätzen, ob diese Vorgehensweise nicht unter Umständen auch der Verleugnung der eigenen Funktionseinschränkung dienen könnte. Generell gilt, je mehr ein Thema das eigene Leben berührt und je affektiver es ist, umso größer und stärker sind vermutlich auch die Abwehrmechanismen bzw. Widerstände, mit denen der forschende Mensch auf das Thema reagiert. Die grundsätzliche Frage, was mit den Affekten passiert, wenn sie nicht bewusst gemacht werden, wie bzw. durch welche Methoden der Forschende die Affekte (meist unbewusst) reguliert bzw. verleugnet, scheint mir gerade bei dem Thema »Behinderung« eine hohe Legitimation zu besitzen. Die Berücksichtigung oder gar Beantwortung dieser konstituierenden Frage ist in der Forschung offenbar nicht präsent und dem Autor dieser Arbeit an keiner Stelle aufgefallen. Dies gilt sowohl für Menschen mit als auch für solche ohne Funktionseinschränkungen, die über das Thema forschen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Funktionseinschränkungen und daraus ggf. folgender Behinderung fällt vermutlich so schwer, da sie das Selbst-Modell des jeweiligen Menschen tangiert. Das Selbst-Modell gilt nach Devereux (1984) als der »stabilste Bezugsrahmen des Menschen« und die Erkenntnis, dass man »aus dem Rahmen fällt«, also krank oder funktionseingeschränkt ist oder bleibt, erfordert in der letzten Konsequenz eine »Neueinschätzung der Tauglichkeit des Selbst-Modells als Maßstab« (Devereux 1984: 193). Diese Neueinschätzung verursacht automatisierte Widerstände, sowohl für funktionseingeschränkte als auch oder besonders für nicht-funktionseingeschränkte Menschen. Und wenn diese Revidierung eine Degradierung des Selbst-Modells impliziert, reagiert der betroffene Mensch im Allgemeinen mit Widerstand und Verleugnung (vgl. ebd.). Das Selbst-Modell stellt eine mögliche Erklärung der relativ offensichtlichen Verleugnung der körperlichen Dimension der Vertreter*innen des Sozialen Modells von Behinderung dar, die die körperliche Dimension zur Erklärung von Behinderung in der Diskussion systematisch ausblenden. Diese Dimension miteinzubeziehen bedeutet auch gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst-Modell,18 was – wie oben beschrieben – entsprechende Widerstände provoziert, dies wiederum äußert sich unbewusst in einer entsprechenden NichtThematisierung bzw. Verdrängung. Aber auch bei Mediziner*innen kann dies eine

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Der forschende Mensch gleicht dabei andere Menschen – und vor allem Menschen die »anders« sind – unbewusst immer mit seinem Selbst-Modell ab und entwirft nach diesem Abgleich (übereinstimmend vs. nicht-übereinstimmend) eine Rangordnung dieser Menschen (vgl. Devereux 1984: 193).

8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen

Erklärung dafür sein, falls die Tatsache einer unwiderruflichen Funktionseinschränkung durch immer neue Korrektionsversuche nicht akzeptiert wird, denn ohne die Bewusstwerdung der Fragilität und Vulnerabilität des menschlichen Lebens als Teil des Selbst-Modells werden immer automatisierte Abwehrmechanismen ihre Wirkung entfalten. Die ablehnende Haltung vieler Vertreter*innen des Sozialen Modells von Behinderung, nicht nur im Hinblick auf die Diskussion um den Körper, sondern auch generell gegenüber dem Einfluss medizinischer Professionen, kann auch daher Ausdruck einer bislang noch ungenügenden Einbeziehung einer sich immer noch als Außenseitergruppe wahrnehmenden Community interpretiert werden. Die Ablehnung der »Anderen« ist etwas, das auch aus der Anfangsphase beispielsweise der Gender-Studies bekannt ist, was aber genau jene Grenze weiter zementiert, die im Fokus der Kritik steht. Die Reaktion von nicht-funktionseingeschränkten Menschen auf funktionseingeschränkte Menschen kann mit Devereux folgendermaßen interpretiert werden: »Eine direkte Konsequenz des menschlichen Schwankens zwischen der Überzeugung, daß nur sein Selbst-Modell universell gültig sei, und der Angst, daß dem womöglich nicht so sein könne, ist seine Neigung, Differenzen einerseits zu leugnen und andererseits zu vergrößern – letzteres meistens, um die Mißachtung und/oder Unterdrückung derer zu rechtfertigen, die sich von diesem SelbstModell unterscheiden oder sich von ihn zu unterscheiden gezwungen sind.« (Ebd.: 195f.; Hervorhebung i.O.) Die bisherigen Ausführungen lassen die Schlussfolgerung zu, dass in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit vor allem affektiven Themen – wozu das Thema Funktionseinschränkung und daraus folgender Behinderung sicher gehört – eine Selbstreflexion während des Forschungsprozesses hilfreich sein kann, um den Einfluss eigener biographischer Erfahrungen und eigener Affekte sowie sozialisierter Denkstrukturen (z.B. »Behinderung ist eine Bestrafung«) besser einschätzen und entsprechend verarbeiten zu können. Aber welche Affekte haben bei der Thematik im Allgemeinen eine Bedeutung? Sicher sind Scham und Peinlichkeit starke Affekte, die hier wirken und auf die näher eingegangen werden sollte. Scham gilt nach Elias (1977b) als eine »Angst vor der sozialen Degradierung« bzw. »vor den Überlegenheitsgesten anderer« (Elias 1977b: 397), denen der Mensch, der Scham empfindet, nichts entgegensetzen kann und denen er innerlich, zumindest mit Teilen seines ÜBER-ICHs, zustimmt (vgl. ebd.: 397f.). Scham tritt bei denjenigen Menschen auf, die etwas tun, getan haben und tun wollen, das in Widerspruch mit der Kontrollinstanz des eigenen Verhaltens – dem ÜBER-ICH – gerät (vgl. ebd.). Oder, mit den Worten Elias’:

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»Der Konflikt, der sich in Scham-Angst äußert, ist nicht nur ein Konflikt des Individuums mit der herrschenden, gesellschaftlichen Meinung, sondern ein Konflikt, in den sein Verhalten das Individuum mit dem Teil seines Selbst gebracht hat, der diese gesellschaftliche Meinung repräsentiert; es ist ein Konflikt seines eigenen Seelenhaushalts; er selbst erkennt sich als unterlegen an.« (Ebd.: 398) Je größer und umfassender die Forderungen einer Gesellschaft zur Umwandlung von Fremd- in Selbstzwänge im Laufe der Zivilisation werden, desto größer ist auch das Schamgefühl bei Übertretung der Schamschwelle bzw. desto stärker ist die Angst davor, diese zu übertreten. Das Schamgefühl ist dabei Ausdruck für eine Verringerung der direkten Ängste durch die Bedrohung durch andere Menschen (vgl. ebd.: 399). Für Menschen mit – vor allem erworbener – Funktionseinschränkung war und ist die Scham sicher ein starker Affekt, der die gesellschaftliche Teilhabe beeinflusst. Das Gegenstück zu den Schamgefühlen bilden Peinlichkeitsgefühle, die beispielsweise bei Menschen ohne Funktionseinschränkung beim Anblick von Menschen mit Funktionseinschränkungen, die optisch stark von »durchschnittlichen« Menschen abweichen, entstehen können. Elias (1977b) versteht unter Peinlichkeitsgefühlen »Unlusterregungen oder Ängste, die auftreten, wenn ein anderes Wesen die durch das Über-Ich repräsentierte Verbotsskala der Gesellschaft zu durchbrechen droht oder durchbricht.« (Elias 1977b: 404) Wie bei den Schamgefühlen werden die Peinlichkeitsgefühle ebenfalls im Zuge der Zivilisation, der zunehmenden Umwandlung von Fremd- zu Selbstzwängen, vielfältiger und umfassender. Wenn behinderte und nicht-behinderte Menschen eine Außenseiter-Etablierten-Figuration bilden oder eine lange Zeit gebildet haben, so sind oder waren es die verinnerlichten Verhaltensweisen und Körperbilder der Etablierten, die Schamgefühle bei den Außenseitern auslösen und Peinlichkeit bei den Etablierten, da beide Gruppe die gleiche gesellschaftliche Sozialisation durchlaufen und daher ähnliche Körperbilder verinnerlicht haben. Und gerade Körperbilder bilden einen wichtigen Aspekt des oben bereits im Anschluss an Devereux thematisierten Selbst-Modells. Hier wäre ein guter Anknüpfungspunkt für weitere sozialwissenschaftliche Forschung. Elias weist in seinem Werk »Engagement und Distanzierung« darauf hin, dass, je größer die Distanz, also je geringer die emotionale Involvierung zwischen Forschern und ihren »Objekten« ist, desto realitätsangemessener werden die Theorien über die »Objekte«. Dies lässt sich menschheitsgeschichtlich bei den Naturwissenschaften nachvollziehbar darstellen und hat dort auch zu immer besser »passenden« Theorien und einer erhöhten Naturkontrolle geführt; bei Menschenwissenschaften ist dies komplizierter, da die Forschenden niemals aufhören können, »an den sozialen und politischen Angelegenheiten ihrer Gruppen und ihrer Zeit teilzunehmen« (Elias 1983: 30). Oder, wie Ruhne (2008) ausführt:

8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen

»Engagierte Verhaltensweisen lassen sich in sozialwissenschaftlichen Forschungsprozessen aber nicht nur kaum vermeiden, sondern eine absolute Distanzierung ist hier auch keineswegs erstrebenswert, da die persönliche Teilnahme und das Engagement der Forschenden stets eine wesentliche Voraussetzung für das Verständnis des Gegenstandes darstellen.« (Ruhne 2008: 78) Eine absolute Distanziertheit in der Menschenwissenschaft hat – wie die historische Erfahrung lehrt – fatale Konsequenzen. Elias ersetzt dementsprechend die etablierten dichotomischen Begriffe wie »Objekt« und »Subjekt« oder »rational« und »irrational«, die im wissenschaftlichen Kanon fest verankert sind, durch die Balancebegriffe »Engagement« und »Distanzierung« (vgl. Waldhoff 2009: 25). Er fordert von einer menschenwissenschaftlichen Vorgehensweise ein kontrolliertes Engagement, denn wenn sich ein Wissenschaftler selbst nicht kontrollieren kann, dann würden bei der Forschung falsche oder verzerrte Resultate erzielt (vgl. Elias 2005b: 167). Sowohl auf die Gesellschaft als auch auf den einzelnen forschenden Menschen bezogen bedeutet dies: Je höher der Grad der Selbstkontrolle ist, desto höher ist auch der Grad der Prozesskontrolle. Über den Autor dieser Arbeit lässt sich feststellen, dass er als derzeit nichtfunktionseingeschränkter Mensch über funktionseingeschränkte Menschen schreibt und dabei Ergebnisse verschiedener sowohl funktionseingeschränkter als auch nicht-funktionseingeschränkter Menschen, die über das Thema geschrieben haben, verarbeitet. Die Prozesssoziologie diente als methodischer Rahmen; sie war allerdings sicher nicht willkürlich gewählt. Dennoch könnte man bis hierher von einem relativ geringen emotionalen Involvierungsgrad ausgehen. In Hinblick auf die eigene Biographie ändert sich dieser Grad: Die Tatsache, mit einem funktionseingeschränkten Bruder aufgewachsen zu sein, gehört ebenso in den nach den hier explizierten Kriterien geforderten Reflexionsprozess des Autors wie der Zivildienst in einem »Heim« für Menschen mit Funktionseinschränkungen, sodann die Berufswahl, die Arbeit an einer universitären Klinik der Physikalischen und Rehabilitativen Medizin (PRM), die geprägt ist vom täglichen Kontakt mit ärztlichen und therapeutischen Kolleg*innen und deren (subjektiv als positiv wahrgenommenen) Umgangsformen mit funktionseingeschränkten Menschen. Dieser persönliche Hintergrund wird nicht nur die spezifische Quellensuche und -auswahl beeinflusst haben, sondern auch das Verständnis und die Nachvollziehbarkeit bestimmter argumentativer Richtungen und entsprechende Rechtfertigungen für deren Integration in die Arbeit. Dabei wurde der eigene Involvierungsgrad jederzeit zu reflektieren versucht. Dies stellte den Autor vor allem beim Thema Abtreibung von funktionseingeschränkten Menschen vor große Herausforderungen. In jenem Kapitel wurde die eigene, zuerst starr ablehnende Haltung

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Was ist Behinderung?

durch Perspektivwechsel, kontinuierliches Umschreiben und viele Gespräche nach und nach relativiert bzw. ausbalanciert.19 Das Wissen um die Einflüsse der eigenen biographischen Erfahrungen bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mag helfen, unbewusste affektive Auswirkungen und Färbungen während des Schreibprozesses zu verhindern. Oder, wie Erdheim (1982b) es formuliert: »denn anders, als indem man das Forschungssubjekt in den Erkenntnisprozeß miteinbezieht, ist das Unbewußte nicht faßbar. Man muß sich mit denjenigen Seiten der eigenen Persönlichkeit konfrontieren, die man eigentlich nicht wahrhaben will, weil sie den Narzißmus und den in das Erwachsenenalter geretteten Größenwahn verletzen.« (Erdheim 1982b: 101)

8.3

Die Modelle von Behinderung und der Behinderungsbegriff in der Retrospektive

Das von den Disability Studies kritisierte Medizinische Modell von Behinderung wird in dieser Form aus Sicht des Autors in der heutigen Zeit in Deutschland nirgends so vertreten. Dass Mediziner*innen ihr Augenmerk auf die medizinischen Probleme von Menschen mit Funktionseinschränkungen richten, liegt in der Regel in der Tatsache begründet, dass sie dort ihre Kompetenzen haben (vgl. Kösters 2014: 148). Darüber hinaus sind es Ärzt*innen und Therapeut*innen, die Menschen mit Funktionseinschränkungen häufig erst in die Lage versetzen, ein relativ selbstbestimmtes Leben führen zu können. Damit soll nicht das Bild von hilfsbedürftigen Men19

Darüber hinaus merkt man während des langjährigen Schreibprozesses häufig eine Diskrepanz zwischen dem, was man schreibt und den Affekten, mit denen man im Alltag bei der Thematik konfrontiert wird. Ein Beispiel: Im Frühjahr 2019 kämpfte ein schwerbehinderter Mensch im Saarland darum, seine persönlichen Assistent*innen weiterhin vom Landesamt für Soziales finanziert zu bekommen, da dieses die Finanzierung der 12.800 € pro Monat für 11 Assistenten einstellen wollte. Es bestand für ihn die Gefahr, wieder in ein Heim gehen zu müssen – was im Widerspruch zur UN-BRK steht. Meine erste Reaktion war, dass dies eine Menge Geld darstellt und ob das denn wirklich notwendig sei, gleichwohl ich in meiner eigenen Arbeit das ökonomische Rationalisierungsprinzip in Bezug darauf, was Menschen wert sind, deutlich kritisiere. Während die Milliardenkosten der Finanzkrise kaum mehr affektive Reaktionen verursacht oder Steuerhinterziehung von bekannten Persönlichkeiten eher als Kavaliersdelikt belächelt werden, provozierten die 12.800 € pro Monat eine sofortige affektive Reaktion. Die verständliche Legitimation der Rettung von Banken über das Argument der Sicherung von Arbeitsplätzen kommt merkwürdigerweise bei der Assistenz-Rettung nicht sofort ins Bewusstsein, gleichwohl es hier ebenfalls um eine Sicherung von immerhin 11 Arbeitsplätzen geht. Warum werden aggressive Affekte bei dieser Problematik relativ automatisch aktiviert, während sie bei anderen, ökonomisch ganz offensichtlich relevanteren Themen kaum mehr zum Vorschein kommen?

8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen

schen mit Funktionseinschränkungen vermittelt, sondern nur darauf hingewiesen werden, dass eine einseitige Betrachtung kein adäquater Anknüpfungspunkt einer Theorie der Behinderung ist, auf die die Disability Studies hinarbeiten. Im Umkehrschluss bedeutet das nicht, dass Ärzt*innen und Therapeut*innen die soziale Dimension von Behinderung leugnen (vgl. ebd.). Aber auch unter weitgehend optimalen gesellschaftlichen und technischen Bedingungen werden Menschen, vor allem solche mit schwersten Funktionseinschränkungen, nie alle Funktionen ausüben können, die für eine volle gleichberechtigte Teilhabe notwendig wären, da beispielsweise bestimmte Sinnesorgane zumindest rudimentär vorhanden sein müssen und eine Basis für Kommunikation gegeben sein muss, um wirklich gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Sind diese Grundlagen nicht vorhanden, steigt die Abhängigkeit von anderen Menschen; dies muss nicht zwingend als Mangel angesehen werden, sondern vielmehr als eine andere Form des gesellschaftlichen Miteinanders, die nicht automatisch weniger lebenswert ist. Menschen – ob mit oder ohne Funktionseinschränkung –, sind immer abhängig von anderen Menschen. Allerdings ist der Grad der Abhängigkeit und damit auch der Grad an Fremdkontrolle höher, was wiederum gewisse Gefahren für z.B. Missbrauch in sich birgt. So wie die soziale Dimension in den medizinischen Berufen zunehmend an Einfluss gewinnt, sollten auch die Disability Studies den Aspekt der Funktionseinschränkung und der häufig damit einhergehenden gesundheitlichen Probleme, die durchaus medizinisch bzw. therapeutisch zu lindern oder zu verbessern sind, thematisieren. Die Ebene der Funktionseinschränkung einfach zu ignorieren ist kein realitätsangemessener Ansatzpunkt einer Theorie der Behinderung bzw. der gesellschaftlichen Teilhabe, die schließlich ein Ziel der Disability Studies ist. Eine Theorie der »Behinderung« muss Funktionseinschränkung zwingend mitberücksichtigen, ansonsten bleibt sie im Modellmodus stecken. Generell wird die Begründung einer Theorie aus einer rein emischen Perspektive vermutlich wenig erfolgversprechend sein. Ignoriert man die vielseitigen Nuancierungen der unterschiedlichen Modelle, so scheint doch ein weitgehender Konsens darüber zu bestehen, dass eine Theorie der gesellschaftlichen Teilhabe sowohl die individuelle als auch die soziale Dimension gleichermaßen mitberücksichtigen sollte. Hier bietet sich das ICF-Modell, das bereits Ausdruck einer Annäherung der Disziplinen ist, am ehesten an. Es sollte jedoch ein ausgewogeneres Gleichgewicht zwischen den Klassifizierungsebenen in einer nächsten Revision nicht nur theoretisch, sondern auch in der praktischen Nutzung (z.B. bei sozialmedizinischer Begutachtung) hergestellt werden. Der Begriff der »Behinderung« stellt aus Sicht des Autors die größte »Behinderung« beim Nachdenken über »Behinderung« dar: Die Einen setzen ihn mit Schädigung gleich oder sehen Behinderung als direktes Resultat einer Schädigung an. Für die Anderen ist es niemals der Körper oder der Geist, der »behindert«, sondern

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immer die Gesellschaft, und für eine dritte Gruppe kann sowohl der Körper/Geist als auch die Gesellschaft »behindern« (vgl. BMAS 2016: 34). Die UN-BRK schließt an die Gedanken der letzten Gruppe an und geht ein Stück darüber hinaus, wenn sie schreibt: »Zu den Menschen mit Behinderung zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.« (§1, Abs. 2) Damit ist die Beeinträchtigung eindeutig auf individueller Ebene verortet; und Behinderung ist als das Ergebnis der Interaktion eines Menschen mit einer Beeinträchtigung (oder eben Funktionseinschränkung) und einer Barriere (soziale oder materielle Umwelt) zu verstehen. Ohne Barriere existierte also keine Behinderung (vgl. Hirschberg 2018: 119f.); dies impliziert jedoch auch, dass bei einer potenziellen Verbesserung der Beeinträchtigung durch beispielsweise neuere rehabilitativmedizinische Maßnahmen ebenso vorhandene Barrieren besser überwunden werden könnten, was wiederum bedeutet, dass die Behinderung verschwinden würde. Die UN-BRK beschreibt in der Präambel zu Recht, dass sich das Verständnis von Behinderung »ständig weiter entwickelt« (lit. e.), vielleicht wird in Zukunft ein Begriff gefunden, der weniger »behindernde« Wirkung beim Nachdenken über diese Thematik entfaltet. Interessanterweise findet man kaum klare Definitionen von »Behinderung«, sondern nur »Verständnisse von Behinderung« oder man verhindert den Ausdruck »Behinderung ist…« und schreibt »Behinderung entsteht aus…« oder »als behindert wird bezeichnet, wer…«. Vielleicht erweist sich das gegenwärtige Entwicklungsstadium unserer sprachlichen Ausdrucksmittel als noch nicht so weit fortgeschritten, dass das Phänomen der »Behinderung« in all seinen Facetten erfasst werden kann, oder aber die im Begriff symbolisierte Homogenisierung der Menschen mit Funktionseinschränkung als Gruppe hat sich überdehnt und bildet die Realität nicht mehr kongruent bzw. viabel ab. Wenn eine Gesellschaft ein Entwicklungsstadium erreicht hat, in dem Menschen mit Funktionseinschränkungen soziogenetisch als gleichberechtigte Mitmenschen anerkannt werden und in der eine Politik der Vielfalt – wie immer man auch zu dem Begriff stehen mag – zumindest angestrebt wird, so liegt es eigentlich auf der Hand, den Begriff der Behinderung, der schließlich eine homogene Gruppe suggeriert und umgangssprachlich die pejorative Bedeutung der Vorgängerbegriffe mehr oder weniger übernommen hat, mittelfristig durch einen anderen Begriff zu ersetzen. Für die gesellschaftliche Ebene scheint mir der

8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen

Begriff »Benachteiligung« am besten geeignet zu sein.20 Diese Benachteiligung gilt es über sozialpolitische Maßnahmen zu minimieren bzw. aufzulösen. Die Begriffe »Funktionseinschränkung« und/oder »Beeinträchtigung« dagegen beschreiben am ehesten die individuelle körperliche bzw. geistige Ebene und könnten den Begriff der Schädigung ersetzen. Diese Einschränkung gilt es über therapeutische und pädagogische Maßnahmen zu minimieren, um das Empowerment der Person zu fördern. Ziel beider Interventionen ist die Flankierung gesellschaftlicher Teilhabe. Als konstituierendes Element für eine Theoriebildung bietet sich – wie gezeigt werden konnte – die Prozesssoziologie an, das sie keine politische Zielsetzung verfolgt und den Individuum-Gesellschaft-Dualismus überwindet, in dem sie die sich gegenseitig bedingte Entwicklung von Gesellschafts- und Persönlichkeitsstruktur beschreibt und erklärt und hierbei – im Gegensatz zu beispielsweise der Systemtheorie – nicht den Bezug zum Menschen verliert. Dabei deckt sie die Teilhabebedingungen unserer Gesellschaft realitätsangemessen als zwar veränderbare, aber dennoch relativ starr erscheinende Fakten auf. Behinderung als Teilhabeeinschränkung ist demnach kein Phänomen, das rein mit der jeweiligen körperlichen und/oder geistigen Funktionseinschränkung erklärt werden kann, sondern das auch durch historische und soziale Prozesse beeinflusst wird.

8.4

Ein prospektiver Blick

Die Weiterentwicklung der Biomedizin und der Hang zur Perfektibilität der Menschen sorgen dafür, dass in Zukunft immer weniger Menschen mit Funktionseinschränkungen geboren werden. Es stellt sich hierbei die Frage, ob die Investition der dort eingesetzten Mittel nicht einen höheren gesellschaftlichen Wert hätte, wenn sie in Maßnahmen zur gesellschaftlichen Teilhabe bereits lebender Menschen fließen würde. Da die Zahl von Menschen mit angeborenen Funktionseinschränkungen bereits heute kaum ins »Gewicht« fällt, wird die Zahl der Menschen mit Funktionseinschränkung auch unabhängig von biomedizinischen Verhinderungsmöglichkeiten weiterhin steigen – allein aufgrund einer immer älter werdenden Bevölkerung und einer gestiegenen bzw. steigenden Lebenserwartung. Die steigende Anzahl von Menschen mit Funktionseinschränkungen wird einerseits dazu führen, dass sie künftig zum Alltagsbild dazugehören, andererseits ist dadurch eine Überlastung der etablierten Sozialsysteme nicht unwahrscheinlich, was die Gefahr einer Reduktion von Leistungen und ein »behindertenfeindliches« Klima bewirken könnte. Neue technische Möglichkeiten, sofern sie finan20

Wobei dieser Begriff schon stark von der Armuts- und Ungleichheitsdebatte gefärbt ist, was seine Verwendung in der Disability Community vermutlich verhindern wird.

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Was ist Behinderung?

zierbar sind, könnten dagegen eine berufliche und gesellschaftliche Teilhabe verbessern und wiederum das Sozialsystem entlasten. Effektiver wäre – wie bereits weiter oben benannt – eine radikale Änderung des Sozialsystems hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen, was beispielsweise Assistenztätigkeiten attraktiver werden ließe und vielleicht langfristig zu einem Wandel der Arbeitswelt führen würde. Gleichzeitig ist heute bereits zu erkennen, dass viele technische Maßnahmen ergriffen werden, um die eingeschränkten körperlichen Funktionen von Menschen wiederherzustellen bzw. durch Orthesen, Prothesen, Exoskelette und Implantate zu kompensieren. All diese Kompensationsmaßnahmen setzen am Individuum an und haben ihre Berechtigung. Darüber hinaus darf jedoch nicht vergessen werden, dass die Abwertung von Menschen in den Köpfen beginnt und die Ursache von Ausgrenzung gesellschaftlich bedingt ist. Wenn einseitig auf individuelle Kompensationsmechanismen geschaut wird, besteht die Gefahr, dass eben dieser andere wichtige Bereich zunehmend aus dem Blickfeld gerät. Auch wenn in dieser Arbeit – aufgrund des historischen Charakters – die Barrierefreiheit nicht im Fokus stand, so sei hier dennoch erwähnt, dass eine Investition der Mittel, die heute in die individuelle Dimension gesteckt werden (inkl. Biomedizin), langfristig in der sozialen Dimension sicher eine nachhaltigere Wirkung hätten, was nicht bedeuten soll, die individuelle Dimension vollständig außer Acht zu lassen. Jede Gesellschaft strebt danach, Krankheiten und Funktionseinschränkungen einzudämmen, da beide Ohnmachtsgefühle auslösen. Um Phänomene, die ihnen undurchschaubar schienen, zu bekämpfen, griffen Menschen in der Vergangenheit auf Mittel zurück, die uns heute lächerlich erscheinen, aber im Grunde die gleiche Funktion erfüllten wie gegenwärtig eine gesunde Ernährung, die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln und die Untersuchung von Blutwerten, nämlich die Funktion, den Verlauf der menschlichen »Natur«, der Biologie, zu kontrollieren. Daher treffen die Bestrebungen der Biomedizin auf einen fruchtbaren Nährboden. Hier kann tatsächlich »Natur« kontrolliert werden – zumindest hinsichtlich der Produktion neuer Menschen. Dass über Verhaltensänderungen beispielsweise im Straßenverkehr, bei der Ernährung oder hinsichtlich des Drogenkonsums eine wirkungsvollere Verhinderung von Funktionseinschränkungen erreichbar wäre, ist ein Umstand, der gern verdrängt wird, denn bei der Selbstkontrolle fängt es an »weh zu tun«. Etwas zu kontrollieren, das noch nicht da ist (das ungeborene, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit mit einer bestimmten Funktionseinschränkung auf die Welt kommende, vermutlich viel Ressourcen benötigende Leben) fällt nicht so schwer wie die Veränderung eigener lieb gewordener Gewohnheiten, wobei dies, nüchtern betrachtet, der effizientere Weg zur Erreichung des Ziels der Verhinderung von Funktionseinschränkungen wäre. Menschen versuchen immer ihre Ohnmachtsgefühle zu bekämpfen. Den Verlauf der Natur zu beeinflussen wird dabei anscheinend als effizienter wahrgenommen als ein Überdenken und Ändern

8. Prozesssoziologische Schlussfolgerungen und persönliche Reflexionen

der eigenen Verhaltensweisen. Leben bedeutet immer Risiko, nicht alles im Verlauf eines Lebens wird jemals kontrollierbar sein (vgl. Castel 2005: 128). Mit den daraus entstehenden Ohnmachtsgefühlen leben zu lernen ist hier das Einzige, was hilft; denn wie viel schlimmer ihre Gegenspieler – die Allmachtsphantasien – sein können, zeigen die Versuche, das fehlinterpretierte Konzept Nietzsches vom »Übermenschen« (vgl. Nietzsche 1984) im 20. Jahrhundert in die Realität umzusetzen. Was daraus entstand, hat Albert Schweitzer (1966) eindrücklich beschrieben und soll hier als Schlusswort dienen: »Der Übermensch leidet […] an einer verhängnisvollen geistigen Unvollkommenheit. Er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Besitz übermenschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf. […] Die Eroberung der Luft durch den Verbrennungsmotor bedeutete eine große Errungenschaft. Alsbald wird von ihr als einer Möglichkeit zum Töten und Zerstören aus der Höhe Gebrauch gemacht. Damit wird nun vollends offenbar, […] daß der Übermensch mit Zunehmen seiner Macht zugleich immer mehr zum armseligen Menschen wird. […] Was uns eigentlich zu Bewußtsein kommen sollte und schon längst zuvor hätte kommen sollen, ist dies, daß wir als Übermenschen Unmenschen geworden sind.« (Schweitzer 1966: 119f.; Weglassung in Klammern C.E.)

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Was ist Behinderung?

sification of Impairments, Disability, and Handicaps, Berlin: Ullstein Mosby, S. 213413. WHO (2001): ICF – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, Stand Oktober 2005, Genf: Weltgesundheitsorganisation. WHO & Weltbank (2011): Weltbericht Behinderung, Genf: Weltgesundheitsorganisation. WHO (2013): How to use the ICF: A practical manual for using the International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF). Exposure draft for comment, October 2013, Geneva: World Health Organization. Wocken, Hans (2012): Der Zeitgeist: Behindertenfeindlich? Einstellungen zu Behinderten zur Jahrtausendwende, [online] https://web.archive.org/web/ 20121020055809/www.hans-wocken.de/Texte/Zeitgeist.htm [03.10.2018]. Wouters, Cas (1999): Informalisierung. Norbert Elias‹ Zivilisationstheorie und Zivilisationsprozesse im 20. Jahrhundert, Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Wulf, Christoph (1982): Körper und Tod, in: Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph (Hg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, S. 259-273. Yildiz, Erol (1997): Die halbierte Gesellschaft der Postmoderne. Probleme des Minderheitendiskurses unter Berücksichtigung alternativer Ansätze in den Niederlanden, Wiesbaden: Springer Fachmedien. Zeuner, Richard (1894): Die Not des vierten Standes von einem Arzte, Leipzig: Grunow Verlag. Zimmermann, Volker (2016): Die »Heiligkeit des Lebens« – Geschichte der Euthanasie in Grundzügen, in: Frewer, Andreas/Eickhoff, Clemens (Hg.), »Euthanasie« und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte – Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag, S. 27-45. Zola, Irving Kenneth (1972): Medicine as an Institution of Social Control, in: The Sociological Review, Jg. 20, Nr. 4, S. 487-504. Zürcher, Urs (2004): Monster oder Laune der Natur. Medizin und die Lehre von Missbildungen 1780-1914, Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag. Zweig, Stefan (2006 [1941]): Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a.M.: S. Fischer.

Anhang

Statistische Auszählung der Vorläufer des Begriffs der Behinderung Tabelle 3: Auszählung der Begrifflichkeiten mit denen in der Bibel Menschen mit Funktionseinschränkungen bezeichnet werden

Körperliche Funktionseinschränkung

Geistige Funktionseinschränkung

SUMME

Altes Testament

Neues Testament



 %

stumm

7

10

17

8,2

blind

33

29

62

30,0

taub

3

4

7

3,4

lahm

17

27

44

21,3

Krüppel, verkrüppelt

0

7

7

3,4

verstümmelt 0

10

10

4,8

Narr, närrisch

18

10

28

13,5

wahnsinnig

8

1

9

4,3

Verwirr/ wirr

0

0

0

0,0

verrückt

0

2

2

1,0

besessen

0

18

18

8,7

irr

3

0

3

1,4

89

118

207

100

Luther-Bibel (1994) unter www.bibleserver.com/ (zuletzt eingesehen am 12.12.2013)

Hinweis: Die Begriffe wurden nur gezählt, wenn sie in einem Kontext auftauchten, der auf eine Funktionseinschränkung hinweist.

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