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German Pages 354 Year 2014
Jenny Tillmanns Was heißt historische Verantwortung?
Editorial Die drei Schlüsselbegriffe Zeit, Sinn und Kultur bezeichnen ein Feld der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis, das unterschiedliche Disziplinen der Humanwissenschaften umgreift und ihnen zugleich ein thematisches Profil gibt. Es geht um Sinnbildung über Zeiterfahrung und das gesamte Spektrum ihrer theoretischen, methodischen und pragmatisch-funktionalen Ausrichtung. Im Zentrum der Reihe steht die Geschichtskultur in allen ihren Dimensionen und Ausprägungen. Dabei sollen weniger Einzelthemen der Fachdisziplinen behandelt werden als vielmehr die Grundlagen des historischen Denkens, seine Rolle in der menschlichen Lebenspraxis und seine diachron und synchron unterschiedlichen kulturellen Gestaltungen. Die Grenzen des Eurozentrismus überschreitend, können so neue Perspektiven der kulturellen Differenz wie der Interkulturalität im Bereich der Geschichtskultur eröffnet werden. Die Reihe wird herausgegeben von Egon Flaig, Daniel Fulda, Petra Gehring, Friedrich Jaeger, Jörn Rüsen und Jürgen Straub.
Jenny Tillmanns (Dr. phil.), Kulturwissenschaftlerin und Philosophin, war Visiting Research Fellow am Franz Rosenzweig Research Zentrum an der Hebräischen Universität in Jerusalem und hat als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Karman Center for Advanced Studies der Universität Bern gearbeitet. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Geschichtsphilosophie und Politische Philosophie.
Jenny Tillmanns
Was heißt historische Verantwortung? Historisches Unrecht und seine Folgen für die Gegenwart
Für Klaus und Edgar.
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Inhalt
Vorwort | 7 0
Einleitung | 13
0.1
Historische Verantwortung: Konzeptionalisierung und Begriffsbestimmung | 15 Die Leist/Löw-Beer/Wingert-Debatte | 27 Modelle historischer Verantwortung | 33 Aufbau der Modelle | 43
0.2 0.3 0.4 1
1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.2.3 1.3 1.3.1 1.3.2 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.5 1.6 2
2.1 2.2
Opferperspektive: Erinnern von Vergangenheit (1. Modell) | 55 Überblick | 55
Koordinatensystem des Erinnerns für historische Verantwortung | 59 Erinnern als Gabe, Praxis, Bestand und Ethos | 59 Anamnetische Solidarität | 66 Motiv der Zeugenschaft | 70 Walter Benjamins Vorstellung von Geschichte | 80 Die Benjamin-Horkheimer-Debatte | 80 Geschichtsphilosophische Thesen | 83 Jean Amérys Forderung einer „Aufhebung der Zeit“ | 102 Amérys „Zur Psychologie des deutschen Volkes“ (1945) | 102 Amérys „Geburt der Gegenwart“ (1961) | 106 Amérys „Ressentiments“ (1966) | 109 Johann Baptist Metz’ Plädoyer für eine „Anamnetische Kultur“ | 135 Zusammenfassung | 153 Beteiligtenperspektive: Überliefern von Vergangenheit (2. Modell) | 157 Überblick | 157
Koordinatensystem des Überlieferns für historische Verantwortung | 162 2.2.1 Historischer Zusammenhang und historische Zugehörigkeit | 162
2.2.2 2.2.3 2.3 2.4 2.5 2.6 3
3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 4
4.1 4.2 4.3
Bewahren einer Distanz | 167 Motiv der Rechenschaft | 172 Karl Jaspers’ „Zusammenhang der Überlieferung“ | 179 Jürgen Habermas’ „Filter der Kritik“ | 189 „Nutznießer dieser deutschen Kultur“ (Karl-Otto Apel) | 205 Zusammenfassung | 211 Beobachterperspektive: Erzählen von Vergangenheit (3. Modell) | 217 Überblick | 217 Geschichtsschichtigkeit | 226 Geschichtsdenken | 232
Wissenschaftsethische und moralische Verantwortung im Umgang mit Geschichte | 243 Zusammenfassung | 252 Binnenperspektive: Fragen nach der Frage von Vergangenheit (4. Modell) | 255 Überblick | 255 Leiden in der Geschichte | 259
4.7
Fassungslosigkeit als Reaktion auf historisches Unrecht | 264 „Ethos der Frage“ (Sandra Lehmann) | 277 „Hat die Geschichte einen Sinn?“ (Jan Patočka) | 279 „Humanismus als Antwort auf den Holocaust“ (Jörn Rüsen) | 289 „Der gegebene Tod“ (Jacques Derrida) | 297 Histodizee | 303 Zeit und Gott | 305 (…)-dizee-Versuche | 312 Dialektik zwischen einer Aporetik und einer Medialität von Geschichtlichkeit | 324 Zusammenfassung | 329
5
Schluss | 331
6
Bibliographie | 337
4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.5 4.5.1 4.5.2 4.6
Vorwort
Am 30.12.2008 habe ich meine Dissertation in Jerusalem auf dem Postwege an meine Gutachter in die Schweiz und nach Deutschland geschickt. Seitdem sind fast drei Jahre vergangen, und in etwa entspricht die hier vorliegende Publikation dem eingereichten Exemplar von damals. Ich möchte dieses Vorwort nutzen, um den Werdegang dieser Arbeit zu skizzieren. Aufzeigen kann ich ihn anhand von Menschen und Orten, die mich prägten. Voranstellen möchte ich aber meinen ausdrücklichen Dank an meinen Erstgutachter und Doktorvater, Professor Dr. Lukas Meier sowie Zweitgutachter, Professor Dr. Ludger Heidbrink. Professor Dr. Heinz Dieter Kittsteiner machte mich während meines Studiums an der Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder auf die Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann aufmerksam. Dieser während des Ersten Weltkriegs verfasste Stimmungsbericht Thomas Manns irritierte mich derart, dass mich Thomas Mann weiterhin beschäftigen sollte. Schließlich schrieb ich meine Diplomarbeit über den Schicksalsbegriff im Doktor Faustus, und bezeichnenderweise formulierte ich auf den ersten Seiten derselben die Frage nach der historischen Verantwortung der Nachfahren, welche Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist. Seinerzeit war ich mir der Dimension dieser Fragestellung nicht bewusst. Diverse Umstände, Umwege und Begegnungen haben Anteil an der vertieften Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung. Nach meinem Studium entschied ich mich, über das Geschichtsdenken bei Thomas Mann zu promovieren und bewarb mich u.a. für die Forschungsgruppe „Kulturen der Verantwortung“ am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Wenngleich ich die Stelle nicht be-
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kam, entstand ein – wie sich herausstellen sollte – entscheidender und inspirierender Dialog mit dem Leiter der Forschungsgruppe, Professor Ludger Heidbrink. Dieser erst schälte die subkutan bereits vorhandene Frage nach historischer Verantwortung heraus. Bevor ich dann mein erstes Stipendium am Franz Rosenzweig Minerva Zentrum an der Hebräischen Universität in Jerusalem bekam, arbeitete ich parallel zur Privatsache „Promotion“ als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Sowjetische Speziallager an der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten in Sachsenhausen und machte Führungen im gerade wieder eröffneten Olympiastadion in Berlin. Beide Arbeitsplätze bzw. Orte haben den Werdegang dieser Arbeit wesentlich geprägt: Zum Einen die Konfrontation mit der im Umgang herausfordernden doppelten Vergangenheit Deutschlands und zum Anderen mit der Vermittlung von Geschichte in Kürze an derart geschichtsträchtigem Orte. Doch zu dem Zeitpunkt war ich noch mit dem Geschichtsdenken bei Thomas Mann beschäftigt, das schließlich auch in meinem Gepäck auf meiner Reise nach Jerusalem im Januar 2005 war. Erst dort entschied ich mich nach wenigen Monaten, eine eigenständige Arbeit über historische Verantwortung zu schreiben. Das Werk Thomas Manns war für diese meine Fragestellung – so überheblich das auch klingen mag – zu klein. Am Franz Rosenzweig Minerva Zentrum fand ich eine Atmosphäre vor, die es mir erlaubte, laut zu denken. Soll heißen: ich empfand keine Hierarchien. Es war eine glückliche Fügung, dass die Fellows unseres Jahrgangs sich sehr gut ergänzten und mir einige von ihnen zu unschätzbar teuren Freunden wurden. Hervorheben möchte ich hier Irene Aue und Lutz Fiedler, die die Entwicklung dieser Arbeit bzw. meine persönliche sicherlich am unmittelbarsten begleitet haben. Die Gespräche mit Sandra Lehmann waren tiefgründig und haben mir Einblick in ein Denken gewährt, das ich bis dato nicht kannte. Professor Paul Mendes-Flohr (der damalige Direktor des Franz Rosenzweig Minerva Zentrums) war mir ein unschätzbarer Mentor, der meinen Werdegang mit Wohlwollen begleitete. Schließlich haben die gar nicht wenigen Gespräche mit Professor Gabi Motzkin auf dem Sofa im Foyer des Van Leer Instituts sowie mit Professor Irene Eber im Beit Meiersdorf auf dem Mount Scopus unschätzbar den Werdegang dieser Arbeit begleitet. Mein Aufenthalt in Israel konfrontierte mich mit der deutschen Geschichte von ganz anderer Warte. In Yad Vashem gibt es ein Familienfoto, auf dem die Familienmitglieder,
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die im Holocaust umgekommen sind, nur als Konturen zu erkennen sind. Die Erfahrung dieser Konturen war für mich in Israel allgegenwärtig und hat diese Arbeit wesentlich geprägt. Die Stadt Jerusalem machte mich einfach nur staunend. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist dort alltäglich. Tradition und Moderne sind – wenn man es nur geographisch fassen möchte – zum Teil nur eine Busstation voneinander entfernt, und die Zeit schien mir extensiv. Jerusalem hat mir für vieles die Augen geöffnet, aber einfacher ist die Betrachtung gewisser Dinge nicht geworden. Den Schluss dieser Arbeit schrieb ich während des Gaza-Kriegs im Dezember 2008, und es schien mir absurd mich derart mit einer Vergangenheit zu beschäftigen, wo doch die Gegenwart so unmittelbar nach einer Er-Lösung drängt. Der NahostKonflikt war während der meisten Zeit meines Aufenthalts in Jerusalem und meiner Arbeit zur historischen Verantwortung Deutschlands im Hintergrund geblieben. Ich wäre andernfalls schlicht überfordert gewesen. Nichtsdestotrotz ist es mir eine drängende Frage, wie ich mich als Deutsche auf diesen beziehen kann. Wenn man von einer Mit-Verantwortung Deutschlands für den Nahost-Konflikt ausgeht, wofür es gute Gründe gibt, gerät diese dann in Konflikt mit unserer historischen Verantwortung? Die Idee zu den Modellen ist mir auf einer Reise von Jerusalem nach Deutschland gekommen, wo ich im Februar 2006 zu der Tagung Was heißt historische Verantwortung? am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen als Referentin eingeladen war. Dort präsentierte ich erstmals die Idee zu den ersten drei Modellen. Seit meiner damaligen Bekanntschaft mit Jörn Rüsen ist dieser ein wichtiger Mentor meiner Arbeit, wenngleich seine Texte mich weitaus früher prägten. Der reine Schreibprozess währte in etwa ein Jahr, und bezeichnenderweise begann ich im Spätsommer 2007 mit dem Schreiben des vierten Modells in Jerusalem. Erst dann folgten das erste, zweite und dritte aufeinander, die ich in Bern schrieb. Im Herbst 2006 ging ich an die Universität Bern, wo ich in der Forschungsgruppe „Historical Justice and Historical Truth“ (unter der Leitung von Professor Marina Cataruzza und Professor Lukas Meyer) am Karman Center meine Arbeit schreiben und fertig stellen konnte. Es scheint alles andere als selbstverständlich zu sein, aber die Kooperation mit meinem Doktorvater Lukas Meyer war herausragend gut. Unsere Basis war und ist davon gekennzeichnet, sich gegenseitig vertrauen sowie sich aufeinander verlassen zu können. Ich bin ihm dank-
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bar, um die Freiheit(en), die ich hatte. Die Arbeitsgespräche haben mir den Raum gegeben, über meine Fragen und Schwierigkeiten laut nachzudenken. Die Arbeitsatmosphäre und -bedingungen waren ideal. Unschätzbar sind mir auch die Gespräche mit meiner damaligen Kollegin, PD Dr. Regula Ludi, die mir im Besonderen den schmerzhaften Abschied von Jerusalem erleichterte, da sie mir die inhaltlichen Fragen meine Arbeit betreffend, ein starkes Gegenüber gewesen ist, und wir allen voran eine Leidenschaft für unsere Arbeit teilen. Schließlich möchte ich meinen Kolleginnen vom Karman Center, Silvia Polla und Elisabeth Rinner, für ihre unermüdliche Hilfe, meine handschriftlichen Abbildungen im Computer festzuhalten sowie Lukas Grossmann für die abschließende Formatierung danken. Während meiner Zeit an der Universität Bern bin ich von diversen Stiftungen bei meiner Arbeit durch die Finanzierung von Auslandsreisen sowie der Organisation von Workshops unterstützt worden. Ich danke den Verantwortlichen der Stiftung für diese Förderung. Im Sommer 2007 organisierte ich mit KollegInnen einen internationalen und interdisziplinären Workshop zum Thema Völkermordleugnung, der von der Mittelbauvereinigung der Universität Bern (MVUB) unterstützt wurde. Im Sommer 2009 organisierte ich mit KollegInnen einen internationalen Workshop zum Thema Commitment, der von dem Schweizerischen Nationalfonds, dem Max und Elsa Beer-Brawand Fonds sowie der Mittelbauvereinigung der Universität Bern (MVUB) unterstützt wurde. Für Auslandsreisen zu Vorträgen und Forschungsaufenthalten bin ich von der UniBern Forschungsstiftung, der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) sowie dem Feldspesenfonds der Universität Bern finanziert worden. Hervorheben möchte ich hier die Reise nach Hiroshima im Sommer 2007, wo ich auf dem siebten Weltkongress der International Society for Universal Dialogue „After Hiroshima: Collective Memory, Philosophical Reflection and World Peace“ einen Vortrag zu historischer Verantwortung hielt. Ich wurde nicht nur mit einem Preis beehrt, sondern auch der Möglichkeit meinen Vortrag zu veröffentlichen: Can Historical Responsibility Strengthen Contemporary Political Culture?, in: The American Journal of Economics and Sociology, Vol. 68, No. 1, January 2009. S. 127-151. Thematic Issue: Between Global Violence and the Ethics of Peace: Philosophical Perspectives. Ed. by Edward Demenchonok.
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Ich danke dem Theodor Schenk Fonds sowie der UniBern Forschungsstiftung für den grosszügigen Druckkostenzuschuss, um meine Dissertation veröffentlichen zu können. Professor Dr. José Brunner sagte mir einmal, dass das Schreiben einer Dissertation zu einem beachtlichen Teil eine psychologische Arbeit sei. Das stimmt. Ich habe vor allem seit meiner Jerusalemer Zeit von vielen Seiten sehr viel Ermutigung und auch Anerkennung für meine Arbeit erfahren, was ich unendlich zu schätzen weiß. Sie alle hier zu nennen, würde den Rahmen sprengen. An dieser Stelle seien Steffi Grote, Mareike Gröndahl, Recha Picker und René Lanz genannt, die mir regelrechte Bojen sind. Überdies mein Vater, der immer Vertrauen in mich und meinen Werdegang hat.
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Einleitung
Haben Nachfahren eine Verantwortung für die Taten ihrer Vorfahren? Wie lässt sich eine solche Verantwortung ohne Schuldzurechnung begründen? Wie lässt sich eine solche Verantwortung gestalten angesichts des Fortlaufens der Zeit? In der vorliegenden Arbeit geht es mir darum aufzuzeigen, dass historische Verantwortung nicht eine Verantwortung für die Vergangenheit bezeichnet, sondern eine der Gegenwart mit Blick auf die Vergangenheit. Wir konstituieren die Jetztzeit in der Bezugnahme auf Vergangenheit, woran die Relevanz von Geschichte einsichtig wird. Mein Zugang zu historischer Verantwortung nimmt den Weg von den Nachfahren zurück zu ihren Vorfahren und nicht umgekehrt. Indem ich verschiedene Formen der Bezugnahme auf Vergangenheit, wie sie die von mir erarbeiteten Modelle historischer Verantwortung bezeichnen, skizziere, wird die Mehrdimensionalität dessen, was die Geschichte ist und was sie uns bedeutet, deutlich. Im Ergebnis kann dieser Mehrdimensionalität nur mit einer Mehrdimensionalität von Verantwortung entsprochen werden, welche die einzelnen Modelle zu leisten beanspruchen. Die Arbeit verfolgt einen geschichtsphilosophischen Ansatz, in dem vier Modelle historischer Verantwortung entwickelt werden, die einen universalen methodischen Zugang im Umgang mit historischem Unrecht darstellen: 1. Erinnern von Vergangenheit, 2. Überliefern von Vergangenheit, 3. Erzählen von Vergangenheit, 4. Fragen nach der Frage nach Vergangenheit (Histodizee). Die Modelle repräsentieren spezifische Perspektiven auf die Geschichte: 1. Opferperspektive, 2. „Beteiligtenperspektive“, 3. „Beobachterperspektive“, 4. Binnenper-
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spektive.1 Ich bezeichne die von mir entwickelten Modelle als einen geschichtsphilosophischen Ansatz, da ihnen das Bemühen zugrunde liegt, Geschichte in ihren mannigfaltigen Dimensionen und Bedeutungen zu erfassen. Verschiedene Formen historischen Unrechts wie bspw. der Holocaust und der Völkermord an den Armeniern sollen mit Hilfe der Modelle hinsichtlich der Frage nach historischer Verantwortung untersucht werden. Es geht weder darum, eine Vergleichbarkeit verschiedener Unrechtsformen zu konstatieren noch zu suggerieren. Doch bei aller Differenz werfen sie die gleichen Fragen von historischer Verantwortung auf. Die Frage, ob Nachfahren eine Verantwortung für die Taten ihrer Vorfahren haben, ist eine allgemeine. Doch – und das ist entscheidend – sie wird aus einem bestimmten Grund mit Bezug auf einen bestimmten historischen Kontext gestellt. Als Deutsche der dritten Generation stelle ich die Frage, ob Deutsche eine historische Verantwortung für den von Deutschen zu verantwortenden Holocaust haben. Als Deutsche, die zu sein ich weder ignorieren noch leugnen kann, bin ich mit dieser Frage konfrontiert. In der vorliegenden Arbeit wird nach der historischen Verantwortung für den Holocaust gefragt, was sich in der Auswahl der meisten von mir herangezogenen Autoren spiegelt. Es gilt hier jedoch die verschiedenen historischen Herkunftsbezüge und -prägungen der Autoren vor allem im ersten und zweiten Modell zu berücksichtigen. Während bspw. Jean Améry als Überlebender des Holocaust für die Opfer und ihre Nachfahren spricht, ist Jürgen Habermas ein Angehöriger des Täterkollektivs. Die Zugehörigkeit zum Kollektiv der Täterschaft oder der Opferschaft macht einen Unterschied, und es gilt im Sinne historischer Verantwortung diese Differenz anzuerkennen. In der vorliegenden Arbeit werden darüber hinaus keine weiteren Differenzierungen der historischen Akteure vorgenommen. Der TäterOpfer-Dualismus stellt bei der grundsätzlichen Frage, ob Nachfahren Verantwortung für die Taten ihrer Vorfahren haben, einen normativen Rahmen bereit. Die idealtypische Annäherung an die Frage historischer Verantwortung benötigt keine Abstufungen wie bspw. nach Mitläufern. Heidrun Kämper nimmt in Opfer – Täter – Nichttäter. Ein
1
Habermas (1987): Eine Art Schadensabwicklung, 144–145. Die Namensgebung des 2. und 3. Modells ist durch Habermas inspiriert. Ich werde die wiederholte Quellenangabe unterlassen.
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Wörterbuch zum Schulddiskurs 1945–1955 eine Differenzierung in Täter und Nichttäter vor, wobei letztere aber gleichsam zum Täterkollektiv gehören. Nach ihrer Definition sind Nichttäter, „diejenigen Politiker und Gesellschaftskritiker, Theologen und Juristen, Wissenschaftler und Künstler, die weder verfolgt haben noch verfolgt wurden.“2 Die Täter sind jene, denen juristisch Schuld nachzuweisen ist. In der vorliegenden Arbeit sind Opfer und Täter sowie ihre Nachfahren gemäß ihrer Zugehörigkeit zum Opfer- und Täterkollektiv definiert.
0.1 H ISTORISCHE V ERANTWORTUNG : K ONZEPTIONALISIERUNG UND B EGRIFFSBESTIMMUNG Die Hauptthese der Arbeit lautet: Wir haben eine historische Verantwortung nicht für die Taten unserer Vorfahren, sondern für unsere historische Identität (wer wir sind) und unsere historische Praxis (was wir tun). Unsere historische Identität speist sich aus unserer historischen Herkunft, so dass sich historische Verantwortung durch die geschichtliche Herkunft und Existenz des Menschen begründen lässt. Diese ist wiederum zu differenzieren entsprechend unserer Zugehörigkeit zu einem partikularen historischen Zusammenhang (2. Modell) und zur Spezies Mensch (4. Modell). Anhand dieser Ausdifferenzierung ist historische Verantwortung als eine universale und eine partikulare zu unterscheiden, auch wenn sie zwei Seiten derselben Medaille darstellen. Während sich unsere universale historische Verantwortung aus unserem universalen historischen Hintergrund (Weltgeschichte) ableitet, leitet sich unsere partikulare historische Verantwortung aus unserem partikularen historischen Hintergrund (bspw. nationale Geschichte) ab. Das diesem geschichtsphilosophischen Ansatz zugrunde liegende Verantwortungskonzept ist ein existentialistisches und orientiert sich an dem Zugang von Larry May in Metaphysical Guilt and Moral Taint und der „notion of retroactive responsibility“ von Jerzy Jedlicki in Heritage and collective responsibility.3
2
Kämper (2007): Opfer – Täter – Nichttäter, XIV.
3
Jedlicki (1990): Heritage and collective responsibility, 53.
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„The underlying principle of existentialist ethics is that one is always morally responsible for who one chooses to be, that is, for the choices of attitude, disposition and character, as well as for one’s behaviour.“4
May fragt zwar nicht explizit nach einer historischen Verantwortung, aber nach „the relationship between community membership and moral responsibility“. (239) Historische Verantwortung bezieht sich auf von unseren Vorfahren begangene Verbrechen gegen die Menschlichkeit und somit auf Taten von Mitgliedern unserer „community“. Entscheidend bei dem Ansatz von Larry May ist die Anerkennung, dass wir zwar keinen Einfluss auf unsere (historische) Zugehörigkeit, aber auf unseren Umgang in Konfrontation mit dieser haben. Auch Jedlicki hebt die Optionalität in unserem Umgang mit Geschichte hervor: „After all, we do not have the obligation to accept the entire heritage as an indivisible and integral whole. We have the right to take from it those models which are consistent with our position today. We are free: tradition is a choice and not a fatum.“ (56)
Vor allem aber leitet er die Relevanz von Geschichte aus „the sense of affiliation“ (55) und „the sense of belonging to and solidarity with“ (74) ab, d.h. aus unserer Identifikation mit unserer historischen Herkunft. Auch Bernhard Schlink betont in seinem Vortrag Recht – Schuld – Zukunft auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum im Dezember 1987 bei der Frage nach der historischen Verantwortung der Kinder der ersten Tätergeneration ihren Entscheidungsspielraum im Umgang mit ihrer Geschichte. Sie würden nicht nur „schuldlos“ sondern „auch weithin geschichtslos in die Zukunft“ entlassen werden.5 Die kommenden Generationen haben „in der Entscheidung, die eigene Identität von der Geschichte her oder ganz im Hier und Jetzt zu definieren“ „einige Freiheit“: „Soweit sie sich allerdings für die geschichtsgesättigte Identität entscheiden oder von den Angehörigen anderer Völker in ihr gehalten werden, stehen sie auch in einer gewissen Solidarität mit den vergangenen Generationen und ha-
4
May (1991): Metaphysical Guilt and Moral Taint, 243.
5
Schlink (1988): Recht – Schuld – Zukunft, 73. Siehe auch Schlink (2002): Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht.
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ben sich in gewisser Weise wieder mit deren Schuld auseinanderzusetzen, müssen sie annehmen oder sich von ihr lossagen.“
Ich nehme im dritten Modell eine Differenzierung von Geschichte als Schicksal, Herausforderung und Wahl vor. Geschichte ist erstens gegeben (Fatum), zweitens verfügbar (Challenge) und drittens machbar (Choice). Entsprechend gehe ich davon aus, dass der Mensch grundsätzlich mit der Gabe ausgestattet ist, sich zu entwickeln und aufgrund dessen in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen. Deswegen kann er in die Verantwortung genommen werden. Nur wenn ich diese Optionalität in Form von Handlungsspielräumen unterstelle, ist der Mensch ein mündiges Wesen und ein mündiger Teilhaber im sozialen und politischen Gefüge. Diese durchaus als idealistisch zu bezeichnende Position scheint mir am ehesten gegen totalisierende Vereinnahmungen des Menschen geeignet. Selbstverständlich repräsentiert die Optionalität hier einen Idealtypus, ja sogar einen Wert. Sie in Zeiten der Unfreiheit, welcher Art auch immer, zu unterstellen, ist zwar zynisch aber wiederum die unbedingte Bedingung für Veränderung. Weiterhin unterstelle ich auch unseren Vorfahren diese Optionalität. Alles andere liefe auf eine Determinierung von Geschichte und d.h. eine Entmündigung des Menschen hinaus. Diese Optionalität unserer Vorfahren erfasse ich in der vorliegenden Arbeit im historischen Konjunktiv, welcher besagt, dass die Geschichte hätte anders kommen können bzw. sie nicht so hat geschehen müssen. Dies auch mit Blick auf die Katastrophe des Holocaust anzuerkennen, ist die Grundvoraussetzung für historische Verantwortung. Denn nur der historische Konjunktiv garantiert retro- und prospektiv Kontingenz, d.h. einen Raum von Möglichkeiten gestern, heute und morgen. Historische Verantwortung im hier verstandenen Sinne bezieht sich im Wesentlichen auf unseren Umgang mit unserer Geschichte, wie es exemplarisch Richard von Weizsäcker als Präsident der Bundesrepublik Deutschland in seiner Rede vor dem Bundestag am 8. Mai 1985 anläßlich des 40. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung vom Nationalsozialismus zum Ausdruck bringt:
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„Bei uns ist eine neue Generation in die politische Verantwortung hereingewachsen. Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“6
Die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, bekennt in ihrer Rede vor dem Israelischen Parlament im März 2008 eindeutig die „immerwährende Verantwortung für die moralische Katastrophe in der deutschen Geschichte“. Eine solche bedeute nicht nur jede Form der Relativierung des Nationalsozialismus in Deutschland und in der Weltgemeinschaft zu bekämpfen, sondern gleichsam politisches Engagement für Stabilität, Sicherheit und Frieden in Europa, dem Nahen Osten und der Welt. Sie repräsentiert damit ein Verständnis von historischer Verantwortung als eine Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft mit Blick auf die Vergangenheit: „Menschlichkeit erwächst aus der Verantwortung für die Vergangenheit.“7 Es war und ist mir ein Anliegen, das geschichtspolitische Postulieren von historischer Verantwortung mit etwas Substanz auszustatten. Denn die Frage nach historischer Verantwortung weckt Emotionen, welche einen klaren Blick auf die Frage erschweren. In der Regel ist die spontane Reaktion auf die Frage nach historischer Verantwortung ein entschiedenes Nein mit der Begründung, dass die Nachfahren keine Verantwortung haben können für etwas, das sie nicht getan haben, da sie schlicht nicht am Leben waren. Oder es wird mit einem entschiedenen Ja reagiert, was aber oftmals eine fundierte Begründung und auch Reflexion, wie denn eine solche Verantwortung zu gestalten sei, schuldig bleibt. Während die, die historische Verantwortung verneinen, die Schuld, und d.h. die Tat, zum Ausgangs- und Bezugspunkt historischer Verantwortung machen und in diesem Sinne ihr Dementi durchaus berechtigt ist, mache ich in meinem Ansatz vom Standpunkt der Nachfahren aus den Tatbezug und vor allem die Bezugnahme auf
6
Gill/Steffani (Hg.) (1986): Eine Rede und ihre Wirkung, 191. Maciej Mackiewicz widmet sich in seiner Dissertation den Reden Richard von Weizsäckers, welche – so die Haupthese – „durch die Schlüsselbegriffe Verantwortung, Erinnerung, Wahrheit dermaßen tief geprägt wurden, dass sie an einzigartiger, über aktuelles Geschehen hinausgehender politisch-ethischer Stärke gewonnen haben“. Mackiewicz (2002): Verantwortung, Erinnerung, Wahrheit, 8.
7
Merkel (2008): Mit immerwährender Verantwortung und Vertrauen.
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Vergangenheit zum Ausgangs- und Bezugspunkt historischer Verantwortung. Historische Verantwortung wird hier also nicht als eine Form der Bringschuld für in der Vergangenheit begangene Verbrechen der Vorfahren verstanden, sondern primär als eine spezifische Dimension der Eigenverantwortung der Nachfahren, die die Opfer und ihre Nachfahren adressiert. Historische Verantwortung ist eine Verantwortung, die man sich selbst schuldet mit Blick auf die Opfer und ihre Nachfahren. Das Postulat historischer Verantwortung gehört spätestens mit der Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985 zum geschichtspolitischen Konsens. Seit den 90er Jahren ist die Frage historischer Verantwortung nicht nur in Deutschland von zunehmender Relevanz. Dies hat verschiedene Gründe, die hier nur skizziert werden. Zunächst kam mit der Vereinigung Deutschlands die so genannte deutsche Identität auf die geschichtspolitische Tagesordnung. Es galt sich über seine gemeinsame Vergangenheit trotz der verschiedenen Formen der Vergangenheitsbewältigung in Ost und West zu verständigen. Dabei ging es auch um den Umgang mit der deutschen historischen Schuld und somit die Frage historischer Verantwortung. Schließlich erfolgte in den 90er Jahren eine Zäsur, da das Sterben der Zeitzeugen bewusst zu werden begann. Mit ihren Augen erlischt die letzte lebende Bezugsquelle zum Nationalsozialismus, was eine Herausforderung im Umgang mit seiner Vergangenheit bedeutet. Während ich bspw. meiner Großmutter noch Fragen über die Zeit das Nationalsozialismus stellen konnte, auf die ich freilich keine Antwort bekam, werden zukünftige Generationen diesen direkten Bezug zu dieser historischen Zeit nicht haben. In den 90er Jahren vollzogen sich Transformationsprozesse bspw. in der Ex-Sowjetunion und auch Südafrika, die von globaler Relevanz und Signifikanz sind. Während in Russland kaum eine kritische Auseinandersetzung mit den Verbrechen während der Stalin-Ära (Gulag System) stattfindet, repräsentiert die in Südafrika etablierte Wahrheits- und Versöhnungskommission einen offenen und kritischen Umgang mit dem Apartheid-System. So genannte Transformationsstaaten sind mit Fragen historischer Verantwortung konfrontiert, da sie einen Umgang mit ihrem historischen Erbe wählen müssen. Entweder wird der Übergang als eine Stunde Null oder als ein Brückenschlag zwischen gestern und heute begriffen. Während im ersten Fall in der Regel zur politischen Tagesordnung übergegangen wird, findet im zweiten Fall eine kritische historische Kontextualisierung statt. Diese
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beiden Optionen im Umgang mit seiner Vergangenheit repräsentieren Extrempositionen und sollen hier lediglich die Relevanz und Brisanz der Frage historischer Verantwortung am Ausgang des 20. Jahrhunderts repräsentieren. Die Frage historischer Verantwortung hat den Umgang mit historischer Schuld zum Gegenstand, d.h. es ist die Bezugnahme auf die historische Schuld statt der historischen Schuld selbst als Tat, die im Zentrum der Frage steht, wie es Lukas Meyer anhand der „normativen Relevanz“ des historischen Unrechts hervorhebt.8 Meyer fixiert die Relevanz in der „zukunftsorientierten Interpretation der Signifikanz der Konsequenzen historischen Unrechts“ (4) und differenziert schließlich in zwei Typen von Pflichten. Zum einen bestehen unmittelbare „Pflichten historischer Gerechtigkeit gegenüber Zeitgenossen und zukünftig lebenden Menschen“ und zum anderen mittelbare „andere historische Pflichten mit Blick auf heute tote und zukünftig lebende Menschen.“ (4–5) Die „normative Bezugnahme gegenwärtig lebender Menschen auf das Handeln und Leiden früher lebender Personen“ korrespondiert mit „überlebenden Pflichten“ in Ansehung der „Ansprüche der Opfer, als sie noch lebten“. (4) Die „überlebenden Pflichten“ basieren auf spezifischen und generellen „moralischen Handlungsgründen“. Während die spezifischen aus dem „zukunftsorientierten Recht“ der Opfer resultieren, „betreffen“ die generellen „den Schutz von Werten, deren Realisierung für das gute Zusammenleben von Menschen wichtig ist“. (94) Meyer verortet die „Handlungsgründe“ zum Wahrnehmen der gegenwärtigen Handlungsspielräume (Optionalität) in den Implikationen des historischen Unrechts: „Entsprechend weist die Idee überlebender Pflichten Handlungsgründe für gegenwärtig lebende Menschen aus, die von den Pflichtverletzungen sowie generellen und besonderen zukunftsorientierten Ansprüchen früher lebender Menschen impliziert sind.“ (11)
In der vorliegenden Arbeit wird die Frage nach historischer Verantwortung vorrangig mit Blick auf die Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Vergangenheit gestellt. Während historische Verantwortung im hier verstandenen Sinne allgemein den Umgang mit seiner historischen Herkunft und seinem historischen Erbe aufgrund
8
Meyer (2005): Historische Gerechtigkeit, 1.
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einer schuldbeladenen Vergangenheit zum Gegenstand hat, ist die historische Gerechtigkeit im hier verstandenen Sinne eine an die Opfer und ihre Nachfahren gerichtete. Sie repräsentiert gewissermaßen die adressierte historische Verantwortung und in der vorliegenden Arbeit nicht nur einen sondern den herausragenden Wert historischer Verantwortung. Um jemandem oder einer Gruppe Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, erfordert es – so impliziert es bereits die Wortwahl – einen Adressaten. Das Fehlen der Reziprozität stellt einen Haupteinwand gegen historische Verantwortung dar, welche Ludger Heidbrink als „ethisches Problem“ historischer Verantwortung in Abgrenzung zum „geschichtlichen Problem“ und „praktischen Problem“ bezeichnet.9 Das „geschichtliche Problem“ bedeutet, dass wir uns über einen geschichtlichen Zusammenhang verständigen und auch auf einen solchen beziehen müssen, welcher aber keine Einheit präsentiert. Das „praktische Problem“ kreist um die Frage unserer Relevanz bzw. Motivation, indem wir uns über einen moralischen bzw. historischen Sinn verständigen. Das „ethische Problem“ ist schließlich, dass die direkten Opfer des historischen Unrechts tot sind. Sie können ausschließlich symbolisch in Form des Gedenkens ‚erreicht‘ werden. Aber, – so Meyer –: „Bleibt erneut zu betonen: Die Veränderung der Beziehung zwischen einer gegenwärtig lebenden und einer toten Person bewirkt keine tatsächliche Veränderung letzterer. Vielmehr beruht die Beziehungsveränderung auf einer tatsächlichen Veränderung der Person, die die Handlung ausführt.“10
An dieser Stelle wird die herausragende Bedeutung unseres Geschichtsverständnisses und -bewusstseins evident. Wenn wir Lebenden die Relevanz der Vergangenheit bzw. unserer Vergangenheit nicht erkennen und anerkennen, ist die Frage historischer Verantwortung hinfällig. Dies ist der Grund, warum ich die Benjamin-HorkheimerDebatte um die Un-Abgeschlossenheit der Geschichte, welche im ersten Modell vorgestellt werden wird, als herausragend für die Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung in ihren philosophi-
9
Heidbrink (1996): Am Nullpunkt historischer Verantwortung, 1585–1586.
10 Meyer (2006): Als gäbe es Ihn nicht – Pflichten mit Blick auf Verstorbene, 77.
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schen und praktischen Dimensionen erachte.11 Allerdings ist anzunehmen, „dass Menschen generell Interessen mit Blick auf posthume Zustände haben.“12 Der Anspruch der Nachfahren der Täter auf ihre Geschichte reflektiert nicht nur hinreichend die Relevanz ihrer Geschichte, sondern gleichsam die „normative Relevanz“ (Meyer) ihrer schuldbeladenen Vergangenheit. Während der Ruf nach Verantwortung die Antwort auf die Freiheit des Menschen ist, ist die Frage nach historischer Verantwortung auf den Umgang mit einer schuldhaften Vergangenheit gerichtet. Jeweils geht es um die Gestaltung von Räumen, sei es der Gegenwart oder der Vergangenheit („geschichtlicher Bedeutungsraum“13). Heidbrink hebt in Abgrenzung zu Begriffen wie „Zurechenbarkeit, Schuld, Haftung, aber auch Solidarität, Gerechtigkeit oder Anerkennung“ die „diffizile Struktur der Verantwortung“ und seine „schillernde(r) Vieldeutigkeit“ hervor.14 Die Menschen sind aufgrund der zunehmenden Freiheitspotentiale zur Verantwortung – so Heidbrink – „verurteilt“: „Wo wir unser Handeln nach eigenen Maßstäben gestalten, gibt es keinen Raum des Zufalls und der Schicksalhaftigkeit mehr.“ (179) Ob mit dem Diktat der Verantwortung gleichzeitig eine Entmächtigung vor allem aufgrund einer umfassenden Überforderung einhergeht, ist ein anderes Thema. Denn die Vielfalt der Optionen in unseren Lebensentwürfen kollidiert gleichsam mit maßgeblichen Beschränkungen, so dass die Ermündigung des Menschen zur Eigenverantwortung dann doch auch einer Entmündigung gleichkommt. Mit Blick auf historische Verant-
11 Die Auseinandersetzung um die Abgeschlossenheit oder Unabgeschlossenheit des Vergangenen zwischen Walter Benjamin und Max Horkheimer bezeichne ich im weiteren Verlauf der Arbeit als Benjamin-HorkheimerDebatte. Diese ist nachzulesen bei Peukert (1978): Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – fundamentale Theologie, 305–308. 12 Meyer (2005): Historische Gerechtigkeit, 100. 13 „Unter einen solchen Begriff von Geschichtsbewusstsein fällt die Ordnung der Geschehnisse der realen Geschichte in einem Raum von Bedeutsamkeit, einem geschichtlichen Bedeutungsraum, der mit unterschiedlichen Gewichtungen die moralische, politische, soziale, ökonomische oder kulturelle Relevanz von Ereignissen aufnimmt und platziert.“ Zimmermann (2008): Moral als Macht. Eine Philosophie der historischen Erfahrung, 179. 14 Heidbrink (2007): Handeln in der Ungewissheit, 31.
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wortung ist es vor allem unsere Geschichtlichkeit in ihrer Gleichzeitigkeit des Endlichen (unsere Sterblichkeit) und Unendlichen (unsere Vor- und Nachgeschichte), welche eine rationale Begründung historischer Verantwortung schwierig macht. Meiner Meinung nach liegt der überzeugendste Zugang zur historischen Verantwortung im Aufzeigen der Relevanz historischer Verantwortung, wie es Ludger Heidbrink aufgrund eines nicht existierenden „genuinen verantwortungsethischen Sinns für die Opfer der Geschichte“ betont. Es gilt, „das moralische Interesse an der Vergangenheit zu wecken und die Angehörigen der gegenwärtigen Generation zu motivieren, sich mit den unabgegoltenen Ansprüchen ehemals Lebender auseinanderzusetzen.“15 Aufgrund unserer Geschichtlichkeit, d.h. unserer Zugehörigkeit zur historischen Zeit (als der Spezie Mensch zugehörend, 4. Modell) und unserer geschichtlichen Zugehörigkeit zu einem partikularen historischen Zusammenhang (2. Modell) ist die/unsere Vergangenheit bzw. die/unsere historische Verantwortung von herausragender Relevanz im Hier und Heute. Auch Zimmermann plädiert entsprechend für eine Geschichtskultur: „Da man Geschichtsbewusstsein nicht verordnen kann und nicht zu erwarten ist, dass alle Deutschen den genannten Thesen zustimmen, bleibt nur die öffentliche Auseinandersetzung um ein angemessenes Geschichtsbewusstsein, das die Bedeutsamkeit von Ereignissen ordnet.“16
Die zentrale Herausforderung historischer Verantwortung stellt nach meinem Verständnis die Historisierung dar. Ich unterscheide in der vorliegenden Arbeit zwischen einer passiven und einer aktiven Historisierung. Es ist nicht zu leugnen, dass die Geschichte ihren Gang
15 Heidbrink (2003): Kritik der Verantwortung, 230–231. 16 Zimmermann (2008): Moral als Macht. Eine Philosophie der historischen Erfahrung, 185. Die Thesen lauten: „1. Das heutige demokratische Deutschland und das Deutsche Reich unter Hitler sind nicht mehr vergleichbar; 2. Es gibt eine geschichtliche Verbindung zwischen dem demokratischen Deutschland und dem Deutschen Reich unter Hitler; 3. Unsere historische und moralische Verantwortung für unsere Geschichte verbindet uns mit der Zeit des Deutschen Reichs unter Hitler; 4. Die Geschichte des Deutschen Reichs unter Hitler, unsere Verantwortung und unsere Scham sind nicht vergangen.“ (178)
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nimmt. Sie voll- und entzieht sich permanent. Ich bezeichne das schlichte Fortlaufen der Zeit als eine passive Historisierung. Nun gehen mit dem Zuwachsen der Zeit potentiell Differenzen in der Retrospektive verloren. Zum einen mit Blick auf spezifische Ereignisse oder Epochen, die in der Retrospektive in den Strom der Geschichte eingehen und zum anderen mit Blick auf die historischen Akteure. Einsichtig wird die der passiven Historisierung inhärente Problematik am konkreten historischen Unrecht wie bspw. dem Holocaust. Wird dieser in die Geschichte eingewoben, besteht grundsätzlich kein Unterschied zwischen der Reformation und dem Holocaust. Ist eine solche Indifferenz zu ignorieren oder gar zu akzeptieren? Warum aber wird die Frage nach historischer Verantwortung gestellt? Es geht um historisches Unrecht und also um Opfer und Täter bzw. „Überwältigte und Überwältiger“.17 In der Retrospektive die fundamentale Differenz zwischen den Opfern und den Tätern zu bewahren, stellt das wesentliche Kriterium historischer Verantwortung dar: „Werden Menschen auf schlimme Weise in ihren Rechten verletzt, dann hängt ihr posthumer Ruf davon ab, dass sie als Opfer dieses Unrechts Anerkennung finden und andere als Täter identifiziert werden.“18
Die passive Historisierung hat potentiell zur Folge, dass in der Retrospektive eine Nivellierung der fundamentalen Differenz zwischen Tätern und Opfern stattfindet. Um die Signifikanz und Relevanz des historischen Unrechts nicht zu nivellieren sowie die fundamentale Differenz zwischen den historischen Akteuren nicht anzugleichen, muss die passive Historisierung durch eine aktive Historisierung konterkariert werden. Diese bezeichnet die Quintessenz historischer Verantwortung, was zu belegen das Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit ist. Indem zum Beispiel die Herkunftsbezüge und -prägungen von Angehörigen des Täter- und Opferkollektivs berücksichtigt werden, wird eine historische Kontextualisierung der jeweiligen historischen Selbstverständnisse vorgenommen. Während das Opferkollektiv das historische Leiden zum Ausgangs- und Bezugspunkt des Einforderns seiner historischen Gerechtigkeit hat, bezeichnet die historische Schuld den
17 Améry (20045): Jenseits von Schuld und Sühne, 123. 18 Meyer (2005): Historische Gerechtigkeit, 100.
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Ausgangs- und Bezugspunkt der historischen Verantwortung von Seiten des Täterkollektivs. Jedes Modell bezeichnet eine spezifische aktive Historisierung bzw. eine spezifische Form der Bezugnahme auf die Vergangenheit, d.h. der Überwindung der zeitlichen und räumlichen Distanz zur Vergangenheit. Die Vergangenheit ist geschehen und insofern abwesend. Jedoch, indem wir uns auf sie beziehen, machen wir sie gewissermassen anwesend. Die „Aporie der Anwesenheit des Abwesenden” (Ricoeur), die als eine Aporie historischer Verantwortung bezeichnet werden kann, wird vor allem im dritten Modell von herausragender Bedeutung sein.19 Jede Überwindung der zeitlichen und räumlichen Distanz zur Vergangenheit ist limitiert durch den grundsätzlichen Uneinholbarkeitscharakter der Geschichte, die weder zu revidieren noch wirklich zu erfassen ist. Es wird hier die These vertreten, dass ausschliesslich die Anerkennung der grundsätzlichen Uneinholbarkeit der Geschichte eine Bagatellisierung, Relativierung und entsprechend Nivellierung der Leiden der Opfer und ihrer Nachfahren verhindert. Dies sei hier hervorgehoben, um nicht einer naiven Vorstellung von einer sogenannten Wiedergutmachung das Wort zu reden. Das historische Unrecht ist geschehen, kann nicht ungeschehen gemacht werden und verliert seine unmittelbare Relevanz für die Nachfahren. Die mittelbare Relevanz des historischen Unrechts wird hingegen durch seine Überlieferung bewahrt. Jede Überlieferung aber ist beschränkt, weil sie selektiv vorgefunden, angeeignet und angewendet wird. Jede Überlieferung ist beschränkt, da sie ausschließlich eine vermittelte ist. Es gibt keinen direkten Zugriff auf die in Rede stehende
19 Paul Ricoeur stellt die These auf, dass das Problem der Repräsentation der Vergangenheit in der Geschichtswissenschaft „nicht bei der Geschichte beginnt, sondern beim Gedächtnis“. (8) In diesem Zusammenhang spricht er von einer doppelten Aporie: „Die Aporie ist eine doppelte: Zunächst einmal ist es das Rätsel einer Vorstellung, die als im Geiste gegenwärtig und zugleich als Bild von … gegeben ist, als Bild einer abwesenden Sache.“ Und weiter schreibt er: „Also das Rätsel der Anwesenheit des Abwesenden im Vorstellungsbild. Aber das ist nur die erste Hälfte des Rätsels, soweit es der Phantasie und dem Gedächtnis gemeinsam ist. Es fehlt noch der zeitliche Index des Vorher, der das Gedächtnis auf grundsätzliche Weise von der Phantasie trennt.“ Ricoeur (2002): Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit, 9–10.
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Vergangenheit in dem Sinne, dass Zeit und Raum überwunden werden könnten. Der nachträgliche und somit indirekte Zugriff auf die historische Wirklichkeit ist herausfordernd, da wir uns auf etwas nicht mehr Existierendes und somit Abwesendes beziehen, wenngleich die historische Wirklichkeit fortwirkt. Jedes der Modelle bezeichnet eine spezifische aktive Historisierung. Nichtsdestotrotz ist das erste Modell diesbezüglich von herausragender Bedeutung. Die von Jean Améry eingeforderte „Aufhebung der Zeit“20, d.h. die Vergegenwärtigung der Vergangenheit bzw. die Historisierung der Gegenwart repräsentiert die aktive Historisierung in ihrer ursprünglichsten Form. Sie bezeichnet die Grundvoraussetzung für den aktuellen Umgang mit unserer Geschichte und somit für historische Verantwortung. Nun geht es aber über das Bewahren der Differenz zwischen den historischen Akteuren (Täter und Opfer) hinaus darum, die Differenz der historischen Bezüge (Tat- und Leidensbezug) ebenso anzuerkennen und aufrechtzuerhalten. Dies wird durch das erste und das zweite Modell gewährleistet. Während es im ersten Modell explizit um die Opferperspektive geht, geht es im zweiten Modell darum, dass die Nachfahren der Täter ihre Beteiligtenperspektive anerkennen. Während im ersten Modell das Leiden der Opfer den Ausgangs- und Bezugspunkt historischer Verantwortung bezeichnet, ist es im zweiten Modell die historische Schuld. Darüber hinaus leistet das zweite Modell eine Differenzierung hinsichtlich der Weise, in der historisches Unrecht von den Nachfahren der Täter überliefert wird. Um eine Angleichung der Wertigkeit historischer Ereignisse zu verhindern, gilt es sie in erster Linie kritisch zu überliefern anhand des Kriteriums, welches das erste Modell bereitstellt. Denn das Primat der Opferperspektive bricht per se jede Kohärenz in der Überlieferung des historischen Erbes der Nachfahren der Täter auf. Historische Verantwortung bezeichnet eine aktive Historisierung im Sinne einer kritischen Kontextualisierung, Differenzierung und entsprechenden Aktualisierung. Trotz der konstitutiven Differenz gilt es sich der gemeinsamen Geschichte der Täter und Opfer bewusst zu sein und zu bleiben. Thomas McCarthy geht in seiner Auseinandersetzung mit der Vergangenheitsbewältigung in den USA gar so weit eine politische Gemeinschaft trotz aller Differenzen als „community of fate“21 zu bezeichnen:
20 Améry (20045): Jenseits von Schuld und Sühne, 116. 21 McCarthy (2002): Vergangenheitsbewältigung in the USA, 636.
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„This is not at all to deny that Americans of diverse origins have their own politics of memory to pursue. It is merely to point out that the history of slavery and its aftermath have formed a template for those histories, that they have been shaped by it, and that their fates have been inextricably entangled in the racialized politics that is its legacy.“ (636)
Eine Schicksalsgemeinschaft zu konstatieren ist nachvollziehbar, wenn man bspw. mit Blick auf die Nachfahren der Täter und auch der Opfer berücksichtigt, dass sie gleichermaßen und doch von ungleich anderer Art mit einem historischen Erbe konfrontiert sind, das sie sich nicht ausgesucht haben. Allerdings scheint mir der Schicksalsbegriff einerseits zu vage und andererseits zu bestimmt zu sein, um ihn in diesem Zusammenhang verwenden zu wollen. Ich unterscheide in der vorliegenden Arbeit drei Dimensionen von Geschichte, die in der Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung gleichermassen berücksichtigt werden müssen. Das historische Unrecht, d.h. ein spezifisches historisches Unrecht bezeichnet den originären Ausgangspunkt historischer Verantwortung. Weiterhin gilt es, die fortwirkenden Konsequenzen des historischen Unrechts zu berücksichtigen. Das Leiden der Opfer endet nicht mit dem Ende des historischen Unrechts und wirkt in deren Nachfahren fort, was ein Indiz für die Uneinholbarkeit der Geschichte ist. Schließlich ist die Dynamik von Geschichte mitsamt ihren ethischen Implikationen von herausragender Bedeutung, was ich bereits anhand der passiven Historisierung deutlich gemacht habe.
0.2 D IE L EIST /L ÖW -B EER /W INGERT -D EBATTE Zu Beginn der 90er Jahre hat es in der Zeitschrift Babylon: Beiträge zur jüdischen Gegenwart eine herausragende weil explizite Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung gegeben. Dort geht es um die Begründung historischer Verantwortung. Anton Leist verneint bspw. die begründete Pflicht der Nachfahren der Täter zur Entschädigung der Opfer. Warum sollen die Nachfahren für etwas haften, das sie nicht zu verantworten haben? Er thematisiert diese Fragestellung vor dem Hintergrund der Zwangsarbeiterentschädigung. Schließlich führt er vertragstheoretische Argumente ins Feld und plädiert für die „Dominanz des Eigeninteresses“ im Sinne der eigentlich in der
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Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung verlustig gegangenen Reziprozität. Leist bringt den Aspekt der gegenseitigen Gegenleistung ins Spiel, dem gemäß alle, d.h. sowohl die Nachfahren der Täter als auch die der Opfer historische Verantwortung übernehmen. Soll heißen: die einen übernehmen nur historische Verantwortung, wenn die anderen im gegebenen Fall auch ihre historische Verantwortung übernehmen. Auf diese Weise hebt Leist die Asymmetrie, welche originär dem Fehlen der Reziprozität zugrunde liegt, auf: „Im Sinn der Vertragstheorie kann historische Verantwortung nur als eine erzeugte Institution aufgefasst werden, ähnlich wie bei allen politisch relevanten Normen.“22
Leist nimmt in seiner Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung die historische Schuld als Tat zum Ausgangspunkt und macht ausschließlich in der Gegenwart Kriterien für den Umgang mit historischer Schuld aus. So schlüssig seine Argumentation auch ist. Es fehlt etwas. Die Asymmetrie zwischen Tätern und Opfern sowie ihren Nachfahren bleibt bestehen, und die Frage nach historischer Verantwortung wird ja gerade wegen dieser fatalen Asymmetrie gestellt. Ob und wenn die Nachfahren der Opfer ihrerseits Schuld auf sich laden, kann bei der originären Frage, ob die Nachfahren der Täter historische Verantwortung haben, keine Rolle spielen. Martin Löw-Beer reagiert in der gleichen Ausgabe auf Leists Ausführungen zu historischer Verantwortung mit einem Plädoyer für historische Verantwortung.23 Im Gegensatz zu Leist hebt Löw-Beer das „moralische Interesse“ (63) der Nachfahren der Täter an der Entschädigung der Opfer und ihrer Nachfahren sowie historischer Verantwortung hervor. Löw-Beer betont gerade die „Verantwortung für geschichtliche Zusammenhänge“ und dechiffriert, dass die „Ansprüche der Verfolgten“ doch trotz veränderter historischer Konstellationen erhalten bleiben. Diese gilt es vorrangig anzuerkennen, d.h. vor allem indem das ihnen unschuldig widerfahrene Leiden als solches anerkannt wird. Die normative Dimension historischer Verantwortung erschließt sich entsprechend an den Ansprüchen der Opfer:
22 Leist (1990): Deutsche Geschichte und historische Verantwortung, 57-58. 23 Löw-Beer (1990): Die Verpflichtungen der unschuldigen Nachgeborenen. Zu Anton Leists Verantwortung, 61-69.
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„Ein normativer Blick auf die Geschichte hat die praktische Konsequenz, dass man die Nachteile, die die unterdrückten Gruppen erfahren haben, aufzuheben versucht. Wiedergutmachung ist zu verstehen als ein Indiz eines solchen kulturellen Wandels. Der Terminus ‚Wiedergutmachung‘ hat seine Berechtigung durch die Intentionen, für die er steht.“ (66)
Wenngleich die Nachfahren der Täter selbstverständlich keine Schuld haben, so tragen sie doch eine historische Verantwortung, die auf dem „moralischen Interesse“ gründet, „hier und jetzt gerechte Verhältnisse herzustellen“. Denn „die Verpflichtungen leiten sich aus Problemen her, die der Nationalsozialismus uns hinterlassen hat.“ (68) Die Verbindung zum historischen Zusammenhang ist schlicht durch die familiäre und generationelle Zugehörigkeit gegeben: „Geschichtliche Situationen sind generationsübergreifend.“ (68) Im Gegensatz zu Leist nimmt Löw-Beer die Bezugnahme auf die historische Schuld zum Ausgangspunkt seiner Betrachtung, da er die – zeitlosen – legitimen Ansprüche der Opfer als Kriterium für den Umgang mit historischer Schuld ausmacht. In der Folgeausgabe der Babylon reagiert Lutz Wingert auf die Kontroverse zwischen Anton Leist und Martin Löw-Beer, indem er sie erstens resümiert und zweitens kommentiert. Der Beitrag Wingerts zur Debatte ist schließlich das Angebot einer Alternative zum Verweis auf den historischen Zusammenhang. Während Leist den historischen Zusammenhang aufgrund des historischen Bruches negiert, verweist Löw-Beer explizit auf den historischen Zusammenhang in seiner Argumentation für historische Verantwortung. Kann man aber historische Verantwortung mit Verweis auf den historischen Zusammenhang begründen? Auch Wingert konstatiert eine moralische Verpflichtung der Nachfahren der Täter und bezeichnet sie als „spezielle Pflichten“.24 Diese sind „nicht direkte Verpflichtungen gegen die früheren Generationen von Opfern, sondern Pflichten in Ansehung dieser Opfer gegenüber den heute Zusammenlebenden“. (82) Auch Wingert hebt die Relevanz hervor, die letztlich historische Verantwortung zumindest plausibilisiert:
24 Wingert (1991): Haben wir moralische Verpflichtung gegenüber früheren Generationen?, 81.
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„Für die Aufgabe, in der Gegenwart zu gerechten Verhältnissen beizutragen, ist nicht jede Vergangenheit gleichermaßen wichtig. Die Spezifikation der moralischen Verpflichtungen erklärt sich aus der Relevanz, die das moralische Unrecht an bestimmten Gruppen in der Vergangenheit eines speziellen Kollektivs für die Lösung dieser Aufgabe hat.“ (82)
Das Problem bzw. Fehlen der Reziprozität hebt Wingert auf, indem er bei der Frage nach historischer Verantwortung statt primär von einem „Zusammenhang [...] zwischen uns und den Urhebern des vergangenen Unrechts“ von einer „direkten Beziehung zwischen uns und den früheren Generationen von Opfern“ ausgeht. „Die Idee dabei ist, dass die Opfer an uns als die Nachwelt den Anspruch richten, dass ihnen Recht gegeben wird.“ (83) Unsere moralische Verpflichtung erwächst aus dem Respekt vor den Opfern, und die Frage nach einer schuldhaften Verstrickung ist in diesem Punkt irrelevant. Es geht darum, dass historische Verantwortung in Form der Entschädigung, die ja in der Kontroverse zwischen Leist und Löw-Beer verhandelt wird, „zur Restitution ihres [der Opfer; JT] Status als Angehörige der moralischen Gemeinschaft“ beiträgt. (83) „Die verletzte Integrität einer moralischen Beziehung“ kann nur durch die Anerkennung der Ansprüche der Opfer wieder hergestellt werden und dies mindestens in Form des „Bedauerns“. (84) Wenn die Ansprüche der Opfer nicht anerkannt werden, bedeutet dies ein Fortsetzen des ihnen zugefügten Unrechts: „Es perpetuiert die Missachtung zum Ausschluß aus der moralischen Gemeinschaft.“ (85) In der Konfrontation mit den Opfern und ihren Nachfahren ist historische Verantwortung vorrangig eine Frage der Gerechtigkeit, die wir ihnen schulden. Die „moralische Gemeinschaft“ ist gemäß Wingert „eine in die Vergangenheit entgrenzte Gemeinschaft“, so dass „die Begründungsinstanz für moralische Urteile ‚alle‘ sind, d.h. die Lebenden und die Toten.“ (88) Wir schulden den direkten und den indirekten Opfern von von unseren Vorfahren begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit Respekt, weil sie aus der uns allen gemeinsamen Gemeinschaft ausgeschlossen wurden. Sie wieder zu integrieren bezeichnet die „spezielle Pflicht“ der Nachfahren der Täter, welche „aus dem universellen Prinzip der Solidarität“ erwächst: „Aber die singulären Akte, die es zur Geltung bringen, bestimmen sich durch die Geschichte eines speziellen Kollektivs. Nicht die Gründe der Verpflichtun-
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gen gegenüber früheren Generationen, sondern die Formen ihrer Erfüllung sind spezielle.“ (92)
Es ist der berechtigte Anspruch der Opfer, der zunächst die Relevanz historischer Verantwortung aufzeigt und schließlich Solidarität zu begründen vermag. Wingert nimmt die nie verjährenden Ansprüche der Opfer zum Ausgangspunkt seiner Betrachtung. Die Debatte über historische Verantwortung von Anton Leist, Martin Löw-Beer und Lutz Wingert ist in Deutschland die erste explizite Auseinandersetzung über die historische Verantwortung der Nachfahren für eine schuldbeladene Vergangenheit. In ihr werden zentrale Aspekte und Probleme historischer Verantwortung verhandelt, und es ist ihr Verdienst damit einen kleinen Meilenstein gesetzt zu haben. Nichtsdestotrotz ist eine weiterführende und fundierte Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung ausgeblieben. Zwar wird sie vielfach vor allem auf geschichtspolitischer Ebene bekannt, aber es besteht kein Trend zu einer engagierten Auseinandersetzung mit dieser Frage in der deutschen Öffentlichkeit. Stellt sich die dritte Generation diese Frage nicht? Warum? Werden zukünftige Generationen diese Frage stellen? Es ist in gewisser Weise verblüffend, dass diese Fragen nicht expliziter gestellt werden, da doch die Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland so präsent ist. Aber es soll hier kein falscher Eindruck vermittelt werden. Auch wenn die Frage nicht explizit gestellt wird, kann sie virulent sein und/oder indirekt in Taten zum Ausdruck gebracht werden. Hier sei nur ein Beispiel benannt: die Freiwilligen der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste sind ja durch den Anspruch einer historischen Verantwortung motiviert. Dort, wo Vergangenheitsbewältigung drauf steht, ist in der Regel auch historische Verantwortung drin. Es wäre eine Untersuchung wert, die die vorliegende Arbeit nicht zu leisten beansprucht, diesen Konnex an konkreten Beispielen der Vergangenheitsbewältigung zu erarbeiten. Allerdings behaupte ich ebenso, dass oftmals dort, wo historische Verantwortung draufsteht eine solche explizit nicht drin ist. Bei der Literaturrecherche bin ich auf vielversprechende Titel gestoßen, die allerdings entweder gar nicht oder marginal historische Verantwortung als eine geschichtsphilosophische und -politische Herausforderung im Umgang mit historischer Schuld bearbeiten. Dies disqualifiziert die hier zitierten Bücher
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nicht, sondern veranschaulicht die Attraktivität eines Begriffes, der weder hohl noch substantiell gefüllt ist.25 Einen weiteren mir bekannten Meilenstein in der expliziten Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung hat die vom Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen organisierte Tagung „Was heißt historische Verantwortung?“ im Februar 2006 gesetzt.26 Erstmals sind mit dieser expliziten Fragestellung Geistes- und Sozialwissenschaftler verschiedener Disziplinen, Angehörige verschiedender Generationen und Experten aus der kulturpolitischen Praxis zusammen gekommen. Trotz der einen Fragestellung waren die Antworten heterogen, was symptomatisch für die philosophische und praktische Herausforderung historischer Verantwortung ist. Statt eine Antwort zu erwarten, heisst es entsprechend weiter zu fragen. Vor diesem Hintergrund wird das Plädoyer Heidbrinks für eine „Ausdifferenzierung des klassischen Verantwortungsbegriffs“ evident: „Sie [eine vom historisch Anderen her konzipierte Verantwortungstheorie; JT] kommt jedoch nicht umhin, Probleme der Ausbildung kollektiver Identität, der Institutionalisierung des kulturellen Gedächtnisses und der politischen Regulierung von Schuldfragen in Hinsicht auf begangene Unrechtstaten stärker mit einzubeziehen und eine genauere Unterscheidung zwischen den Trägern, Instanzen, dem Gegenstands- und Geltungsbereich moralischen Handelns vorzunehmen.“27
25 Siehe Stiehler (1972): Geschichte und Verantwortung; Freytag/Marte/Stern (1988) (Hg.): Geschichte und Verantwortung; Czell (Hg.) (1988): Bildung als historische Verantwortung; Siegele-Wenschkewitz (Hg.) (1988): Verdrängte Vergangenheit, die uns bedrängt; Schultheiß (Hg) (1989): Vergangenheit als Verantwortung; Virt (Hg.) (1993): Historische Verantwortung vor der Gegenwart; Schäfer (Hg.) (1996): Geschichte in Verantwortung; Launer (1996): Geschichte, Verantwortung und Hoffnung; SchmiedKowarzik (1999): Denken aus geschichtlicher Verantwortung. 26 Programm bei H-Soz-u-Kult unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ termine/id=4983 (Zugang am 12. August 2011) 27 Heidbrink (2003): Kritik der Verantwortung, 232.
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0.3 M ODELLE H ISTORISCHER V ERANTWORTUNG Im Folgenden werde ich die einzelnen Modelle sowie ihre kontextuelle Einbettung anhand der von mir ausgewählten Texte skizzieren. Vor allem die Texte, die den ersten beiden Modellen zugrunde liegen, sollen einer zu grossen Abstraktheit der Modelle entgegenwirken. Die einzelnen Modelle repräsentieren spezifische Perspektiven auf das historische Unrecht. Erinnern von Vergangenheit (Opferperspektive) Erinnern von Vergangenheit bezeichnet das erste Modell und stellt eine partikulare historische Verantwortung mit Fokus auf das Leiden der Opfer und ihrer Nachfahren dar. Sie ist eine Verantwortung der Nachfahren der Täter, indem diese anerkennen, dass und wie das historische Unrecht stattgefunden hat. Die Zeugenschaft von dem historischen Unrecht ist von herausragender Bedeutung, um es nicht zu vergessen. In Form einer anamnetischen Solidarität werden das Leiden der Opfer und seine fortwirkenden Konsequenzen auf die Nachfahren anerkannt. Ein spezifisches historisches Unrecht wird erinnert, so dass den Opfern und ihren Nachfahren historische Gerechtigkeit, welche den Wert historischer Verantwortung im ersten Modell bezeichnet, widerfährt. Die historische Verantwortung kann etwa in einer aktiven Erinnerungskultur zum Ausdruck gebracht werden. Im ersten Modell ist historische Verantwortung ausschließlich an die Opfer und ihre Nachfahren adressiert. Das erste Modell orientiert sich an ausgesuchten Texten von Walter Benjamin, Jean Améry und Johann Baptist Metz. In den Geschichtsphilosophischen Thesen von 1940 widmet sich Benjamin u.a. der Vorstellung von Geschichte, welche von grundlegender Bedeutung für die Frage nach historischer Verantwortung ist. Das Plädoyer Benjamins für das „Eingedenken“ zielt auf eine anamnetische Solidarität, auf welche die Toten Anspruch haben.28 In den Ressentiments von 1966 fordert Améry als Überlebender und somit Zeuge des Holocaust die „Aufhebung der Zeit“ im Sinne historischer Gerechtigkeit und d.h.
28 Walter Benjamin, Passagen, Konvolut N, Bl. 8, unv. Ms., zitiert nach: Peukert (1978): Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – fundamentale Theologie, 307.
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historische Verantwortung.29 Die historische Tat und das Täterkollektiv müssen gemäß Améry eine Tateinheit bleiben. Die historische Tat soll weder in den Strom der Geschichte eingehen noch soll sich das Täterkollektiv beliebig seiner historischen Herkunft bedienen. In Kirche nach Auschwitz von 1993 hält Metz ein Plädoyer für eine „anamnetische Kultur“, die als eine Form historischer Verantwortung verstanden werden kann. Sie kennzeichnet eine „Spuren- und Identitätssicherung“, womit Gegenwartsbezug und -relevanz historischer Verantwortung pointiert erfasst sind.30 Benjamin, Améry und Metz repräsentieren die Gewährsmänner des ersten Modells, da sie erstens für das Primat der Opferperspektive plädieren und zweitens den Zeitindex thematisieren, mittels welchem ausschließlich eine Einebnung von Geschichte in indifferente Geschichten vermieden werden kann. Der Zeitindex fixiert den Bruch, d.h. das historische Leiden und verhindert sein Vergessen. Überliefern von Vergangenheit (Beteiligtenperspektive) Überliefern von Vergangenheit bezeichnet das zweite Modell und stellt eine partikulare historische Verantwortung mit Fokus auf die Täter und ihre Motive, sowie deren Taten und Ursachen dar. Sie ist eine Verantwortung der Nachfahren der Täter, indem diese darüber reflektieren warum das historische Unrecht von ihren Vorfahren begangen und/oder geduldet wurde. Das Bemühen um Rechenschaft für die historische Schuld auch im Sinne der Klärung, was man damit zu tun hat, ist von herausragender Bedeutung, um das historische Erbe zu bewahren. Dieses wird kritisch überliefert, indem das spezifische historische Unrecht mit dem partikularen historischen Zusammenhang, wie bspw. der deutschen Geschichte kontextualisiert wird. Das historische Erbe bezeichnet im zweiten Modell den Wert historischer Verantwortung unter der Voraussetzung, dass es kritisch angeeignet und angewendet wird. Es geht darum, dass die Nachfahren der Täter ihre Beteiligtenperspektive nicht aus dem Blick verlieren. Diese haben aufgrund ihrer historischen Herkunft eine Verantwortung, ihre Vergangenheit kritisch zu überliefern wie bspw. in Form von Geschichtsschreibung und Geschichtspolitik. Im zweiten Modell schulden sich
29 Améry (20045): Jenseits von Schuld und Sühne, 116. 30 Metz (1993): Kirche nach Auschwitz, 20, 23.
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die Nachfahren der Täter primär selbst als Mitglieder eines partikularen historischen Zusammenhangs historische Verantwortung. Das zweite Modell orientiert sich an ausgesuchten Texten von und Interviews mit Karl Jaspers, Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel. In Die Schuldfrage von 1945 entwirft Jaspers vier Kategorien von Schuld: a) kriminelle, b) politische, c) moralische und d) metaphysische Schuld.ϯϭ Er setzt sich zwar nicht explizit mit der Frage der historischen Verantwortung der Nachfahren auseinander, und doch impliziert die von ihm erarbeitete Kategorie der politischen Schuld ein Verständnis von historischer Verantwortung. In Eine Art Schadensabwicklung und Die nachholende Revolution stellt Habermas explizit die Frage nach historischer Verantwortung, welche er vorrangig in der kritischen Aneignung und Anwendung der eigenen Geschichte von Seiten der Nachfahren der Täter sieht.ϯϮ Es ist vor allem Habermas, der von den Nachfahren der Täter die Anerkennung der Beteiligtenperspektive einfordert, womit der Anspruch an eine Normalisierung der deutschen Geschichte per se dementiert sei. In Kontingente Identität und historische Haftung konstatiert Apel eine historische Verantwortung der Nachfahren für ihre historische Herkunft und ihr historisches Erbe aufgrund ihres identitätsstiftenden Potentials.ϯϯ Für Apel ist das Motiv der Dankbarkeit ob seiner soziokulturellen Herkunft von entscheidender Bedeutung. Jaspers, Habermas und Apel repräsentieren die Gewährsmänner des zweiten Modells, da sie als Deutsche mit der historischen Schuld für den Holocaust konfrontiert sind und in der Retrospektive Rechenschaft ob ihrer historischen Herkunft zu geben versuchen. Sie thematisieren die Relevanz der historischen Zugehörigkeit im historischen Selbstverständnis und vor allem die ethische Herausforderung der Historisierung des Nationalsozialismus. Die Frage der Verortung des Holocaust in der Überlieferung der deutschen Geschichte ist im zweiten Modell von herausragender Bedeutung. Während im ersten Modell der Zeitindex die Neutralisierung von Geschichte und folglich ihre Nivellierung zu verhindern vermag, wird im zweiten Modell der Geschichtsindex verhandelt. Während der Zeitindex den
31 Jaspers (1946): Die Schuldfrage. 32 Habermas (1987): Eine Art Schadensabwicklung; ders. (1990): Die Nachholende Revolution. 33 Brumlik/Brunkhorst (1990): Kontingente Identität und historische Haftung.
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Bruch, d.h. das historische Leiden fixiert, fokussiert der Geschichtsindex den Überlieferungszusammenhang mitsamt dem Bruch, d.h. der historischen Schuld. Während der Zeitindex Geschichte primär aktualisiert, ist es der Geschichtsindex, der sie primär kontextualisiert. Erzählen von Vergangenheit (Beobachterperspektive) Erzählen von Vergangenheit bezeichnet das dritte Modell und stellt eine partikulare historische Verantwortung von Geistes- und Sozialwissenschaftlern dar, die sich professionell mit der Vergangenheit auseinandersetzen wie bspw. Historiker und Geschichtsphilosophen. Ihr Herkunftsbezug ist ohne Relevanz, da das dritte Modell auf einer Wissenschaftsethik basiert, die u.a. aus dem gemeinsamen Erkenntnisinteresse an der Vergangenheit besteht. Vorrangig ist ihnen das gemeinsame Bemühen, die historische Wirklichkeit möglichst wahrheitsgemäß zu rekonstruieren. Historische Wahrheit bezeichnet hier den Richtwert historischer Verantwortung. Die Verständigung über und Praxis von gemeinsame/n und auch verbindliche/n Kriterien im Umgang mit der Geschichte bezeichnet die historische Verantwortung von Geistes- und Sozialwissenschaftlern. Sie nehmen idealtypisch die Beobachterperspektive ein. Im dritten Modell wird schließlich die grundsätzliche Voraussetzungsebene für die Reflexion und Praxis von historischer Verantwortung in den jeweiligen Modellen verhandelt. Die Grundkoordinaten historischer Verantwortung sind erstens die Beschaffenheit der Geschichte (Geschichtsschichtigkeit) und zweitens die Bezugnahme auf Geschichte (Geschichtsdenken). Die Ausarbeitung dieser grundsätzlichen Voraussetzungsebene für die Reflexion und Praxis von historischer Verantwortung orientiert sich an der Mimesis34 und dem historiographischen Verfahren35 von Paul Ricoeur. Die Grundkoordinaten selbst begründen weder eine externe Verantwortung (der Menschheit gegenüber) noch eine interne Verantwortung (der eigenen Zunft gegenüber) von Geistes- und Sozialwissenschaftlern. Aber sie indizieren eine solche, da sie jeweils den Raum der Möglichkeiten in der Geschichte (Kontingenz) transparent machen und gestalten. Die Ge-
34 Ricoeur (1983): Zeit und Erzählung. Zeit und historische Erzählung. Bd. 1. 35 Ricoeur (2002): Geschichtsschreibung und Repräsentation der Vergangenheit.
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schichtsschichtigkeit berücksichtigt, dass der historische Bestand ein per se pluraler ist, während das Geschichtsdenken den Zugriff auf Geschichte als einen per se fragmentarischen/selektiven ausweist. Die wissenschaftsethische und moralische Verantwortung von Geistes- und Sozialwissenschaftlern besteht darin, den Raum der Möglichkeiten in der Geschichte zu füllen, ohne ihn zu determinieren. „Die historischen Wissenschaften sind nicht die Instanz der Begründung der normativen Verfassung einer Kultur, sondern das Medium ihrer Vergegenwärtigung. […] Sie wecken und schärfen vielmehr den Sinn für die historische Kontingenz der Lebensverhältnisse, von denen abhängt, welche normative Bedeutung theoretische Einsichten überhaupt haben können.“36
Das dritte Modell orientiert sich an ausgesuchten Texten, die sich mit wissenschaftsethischen Fragen auseinandersetzen wie bspw. allen voran von Max Weber (Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis von 1904) sowie von Karl Popper und Hans Lenk.37 Von zentraler Relevanz in der Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung sind vor allem Stellungnahmen von Histo-
36 Lübbe (1984): Sozialwissenschaften und Politik, 243. Dirk Hohnsträter zielt mit Bezug auf die Kulturwissenschaften in die gleiche Richtung: „Gerade indem sich die Kulturwissenschaften extrensischen Anmutungen nicht beugen, erlangen sie auf einer Metaebene moralische Relevanz!“ Hohnsträter (1998): Welche moralischen Möglichkeiten haben die Kulturwissenschaften heute?“, 280. 37 Weber (1991): Schriften zur Wissenschaftslehre; Popper (1977): Die moralische Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers; Lenk (2006): Verantwortung und Gewissen des Forschers; Verantwortung und Ethik in der Wissenschaft. Symposium der Max-Planck-Gesellschaft; Hammer (1983): Selbstzensur für Forscher? In diesem Zusammenhang ist auch die Publikation von Theodore Karamanski über Ethics and Public History interessant, die sich aber vor allem auf die Geschichte der Vereinigten Staaten bezieht. Karamanski (1990) (Hg.): Ethics and Public History. Siehe auch: Kühberger (Hg.) (2007): Wahre Geschichte – Geschichte als Ware: die Verantwortung der historischen Forschung für Wissenschaft und Gesellschaft.
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rikern, die explizit von ihrer historischen Verantwortung sprechen wie bspw. Jörn Rüsen, Wolfgang J. Mommsen, Jürgen Kocka.38 Fragen nach der Frage nach Vergangenheit (Histodizee) (Binnenperspektive) Fragen nach der Frage nach Vergangenheit (Histodizee) bezeichnet das vierte Modell und stellt eine universale historische Verantwortung aller Menschen mit Fokus auf das menschliche Leiden in der Geschichte dar. Der Herkunftsbezug ist hier ohne Relevanz. Ich bezeichne dieses Modell in Anlehnung an die Theodizee als Histodizee. Während die Theodizee das Verständnis von Gott als einen Allmächtigen, Allgütigen und Allwissenden angesichts des Übels und Unheils in der Welt in Frage stellt, stellt die Histodizee angesichts des Übels und Unheils in der Geschichte den Sinn der Geschichte in Frage. Ein Sinn der Geschichte kann angesichts des Übels und Unheils in der Geschichte zwar nicht postuliert werden, aber man kann – und das ist entscheidend – nach einem solchen fragen. Die Suche nach einem Sinn der Geschichte bzw. nach einem Verstehen von Geschichtsläufen und der Geschichtlichkeit des Menschen wird auch von einem „historischen Grenzereignis“ wie dem Holocaust nicht nivelliert.39 Das endliche Wissen des Menschen und insbesondere die Unfähigkeit, solche Abgründe der Menschheit wie bspw. den Holocaust zu verstehen, begründet den für das vierte Modell konstitutiven Zusammenhang von Geschichtlichkeit und Verantwortung. Geschichte kann weder als Ganzes noch im Detail umfassend verstanden werden, und die Anerkennung von Geschichtlichkeit als einer permanent zu be- und hinterfragenden universalen Dimension bedeutet, diese Grenzen zu akzeptieren. Im vierten Modell ist historische Verantwortung vor allem an das Selbst als Mensch adressiert. Das vierte Modell orientiert sich an ausgesuchten Texten von Jan Patočka, Jacques Derrida und Jörn Rüsen. In den Ketzerischen Essays zur Philosophie der Geschichte rehabilitiert
38 Rüsen (2003): Kann gestern besser werden?; Rüsen (2004): Responsibility and Irresponsibility in Historical Studies; Mommsen (1995): Die moralische Verantwortlichkeit des Historikers; Kocka (2001): Interventionen; Gottlieb (1997): Von der Macht der Geschichte; Lehmann (2003) (Hg.): Die Verantwortung des Historikers. 39 Friedländer (2007): Nachdenken über den Holocaust, 139.
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Patočka die Sinn-Kategorie als einer zwar nicht gegebenen aber in der Sinn-Suche konstituierten.40 Auf diese Weise manifestiert er den Sinn der Geschichte in der historischen Praxis. Rüsen geht es hinwiederum in Humanismus als Antwort auf den Holocaust. Zerstörung oder Innovation? um die Rehabilitation des Humanismus als einen plausiblen in Abgrenzung zum verzweifelten, der ausschließlich dem Nie wieder! verpflichtet ist. Sein Plausibilisierungsgebot gleicht einer Aufforderung zu historischer Verantwortung, da es die vor allem im zweiten Modell offenbar werdende Achillesferse in Gestalt der Relevanz aufgreift. Denn die Relevanz von Geschichte erschließt sich nur, wenn sie plausibel ist.41 Derrida problematisiert in Den Tod geben, dass „dieser Abgrund auch den Ursprung der Verantwortung“ bezeichnet.42 Damit markiert er die Uneinholbarkeit der Geschichte als den Abgrund historischer Verantwortung, welche gleichzeitig, indem sie erkannt und akzeptiert wird, ihren Ursprung bezeichnet. Im Folgenden skizziere ich zwei weitere Modelle, die Dimensionen historischer Mit-Verantwortung erfassen. Sie werden hier in Form eines Exkurses vorgestellt, da sie noch der Ausarbeitung bedürfen. Zu rechtfertigen ist dies damit, dass auf diese Weise die Gesamtkonzeption der Mehrdimensionalität historischer Verantwortung deutlich wird, und dass in der vorliegenden Arbeit mehrfach auf sie verwiesen wird. Exkurs: Universalisieren und Kontextualisieren von Vergangenheit Universalisieren von Vergangenheit bezeichnet das fünfte Modell und stellt eine universale historische Verantwortung aller Weltbürger aufgrund der universalen Signifikanz und Relevanz des historischen Unrechts dar. Der Herkunftsbezug hat hier keine Bedeutung. Das Erfassen der Signifikanz und Relevanz des historischen Unrechts hat die Kontextualisierung des partikularen historischen Zusammenhangs, in dem das historische Unrecht stattgefunden hat, mit dem universalen historischen Zusammenhang zur Voraussetzung. Es geht um eine anamnetische Solidarität, obgleich man in das jeweilige historische
40 Patoĉka (2010): Ketzerische Essays zur Philosophie der Geschichte. 41 Rüsen: Humanismus als Antwort auf den Holocaust. 42 Derrida (1993): Den Tod geben, 333–334.
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Ereignis nicht direkt involviert war. Nichtsdestotrotz hat man aufgrund der universalen Signifikanz und Relevanz damit zu tun. Die „Idee der Menschheit“ impliziert gemäß Hannah Arendt „eine Verpflichtung zu einer Gesamtverantwortlichkeit“.43 Kontextualisieren von Vergangenheit bezeichnet das sechste Modell und stellt eine partikulare historische Mit-Verantwortung derer dar, die in einem gewissen Maße in das historische Unrecht involviert gewesen sind. Dies sind bspw. mit Bezug auf den Holocaust solche Staaten, die mit dem Nazi-Regime in politischer oder etwa ökonomischer Hinsicht zusammen gearbeitet haben. Diese spezifische Form der historischen Mit-Verantwortung resultiert aus der Verstrickung44 in die originäre historische Schuld des Täterkollektivs. Die Frage nach historischer Mit-Verantwortung ist schwierig zu beantworten und soll mitnichten eine Entlastung der Hauptverantwortlichen implizieren. Aber es gilt sie im Sinne einer Ausdifferenzierung von historischer Verantwortung zu berücksichtigen. Es gibt verschiedene Formen der Verstrickung, die sorgsam zu differenzieren sind. Ich schlage vor, diesen Aspekt auf verschiedenen Ebenen zu berücksichtigen wie bspw. die Partizipation an dem Zustandekommen, dem Stattfinden und dem Nicht-Verhindern des historischen Unrechts. Aufgrund ihrer Herkunft haben die Nachfahren derer, die in einem gewissen Maße involviert gewesen sind, die Verantwortung das historische Unrecht mit ihrem partikularen historischen Hintergrund kritisch zu kontextualisieren. In seiner Rede für den Friedenspreis 2004 des Deutschen Buchhandels benennt Péter Esterházy das Desiderat einer historischen Mit-Verantwortung in Bezug auf den Umgang Ungarns mit seiner Vergangenheit: „Die deutsche Nationalerinnerung ist wesentlich weiter, sie nennt die eigene Verantwortung beim Namen. Da sie aber die Verantwortung anderer nicht nennen kann (sobald sie das versucht, wird sie auf hysterisches Misstrauen stoßen) und weil wir, die anderen die eigene Verantwortung nicht benennen – wirft
43 Arendt (1976): Die verborgene Tradition, 44. 44 Der Begriff der Verstrickung ist vage und wird in der Ausarbeitung des fünften Modells spezifiziert werden müssen. Wenn Schuld und Verantwortung nicht eindeutig zuzuschreiben aber auch nicht eindeutig auszuschließen sind, kompensiert der Begriff der Verstrickung zunächst das Benennungsproblem. Seinen eigentlichen idealtypischen Bedeutungsgehalt gilt es zu erarbeiten und im konkreten historischen Kontext anzuwenden.
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diese offensichtliche Ungerechtigkeit das deutsche Selbstmitleid an. Was vereint sein sollte, zerfällt in Selbsthaß und Selbstmitleid, neben der Unwahrheit des Nur-Mörders steht die Unwahrheit des Nur-Opfers – und hinter diesen beiden Dingen das ungeklärte ‚wir‘, die ungeklärte Nationalerinnerung.“45
Ethische Hierarchie der Modelle Der Reihenfolge der Modelle liegt eine ethische Hierarchie zugrunde. Zwar bedingen und ergänzen die Modelle einander. Nichtsdestotrotz ist das erste Modell von herausragender Bedeutung. Denn was wir nicht erinnern, können wir nicht verantworten bzw. was vergessen ist, kann nicht verantwortet werden. Silke Segler-Messner hebt hervor, dass sich zwar „im historischen Diskurs [...] [die; JT] Erkenntnis, dass Erinnerung und Geschichte zusammengehören“, durchgesetzt hat, nicht so aber „im öffentlichen Bewusstsein“, wo „beide Instanzen weiterhin getrennt“ sind.46 Historische Verantwortung bedeutet originär die Anerkennung des Leidens der Opfer und seiner fortwirkenden Konsequenzen für deren Nachfahren. Der originäre Wert historischer Verantwortung ist historische Gerechtigkeit. Vorrangig ist das Gedenken an jene, die unschuldig gelitten haben. Ihrer kann nur im Wissen um ihr Leid gedacht werden. Es bedarf also der Überlieferung, um erinnern zu können. Die ersten beiden Modelle repräsentieren zwei Seiten derselben Medaille sowie die zwei Formen historischer Verantwortung, die in der Regel spontan mit historischer Verantwortung assoziiert werden. Dies ist nahe liegend, da sie die partikulare historische Verantwortung der Nachfahren der Täter darstellen. Es ist hier unsere historische Herkunft, die verpflichtet: „Denn – die Erinnerung, das Gedenken an den Holocaust, das Wachrütteln dessen, was geschehen ist, ist doch in allererster Linie Aufgabe der Nichtjuden, sollte nicht Vermächtnis sein der Kinder der Opfer, sondern dauernde Verpflichtung der Kinder der Täter.“47
45 Esterházy (2004): Also: die Keule, 7. 46 Segler-Messner (2005): Archive der Erinnerung, 38–39. 47 Hauff (1990): Es geht um etwas ganz einfaches und zugleich unendlich schwieriges.
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Das dritte Modell gewinnt wiederum mit dem Fortlaufen der Zeit an Relevanz, da es vor allem den Geistes- und Sozialwissenschaften aufgegeben ist, die mit der passiven Historisierung einhergehende Konfrontation epistemologischer und ethischer Fragen im Umgang mit Geschichte auszuhandeln und auszuhalten. „Der Holocaust“ – so Rüsen – „schlägt metahistorisch auf die Kategorien und Methoden der Forschung selber geradezu konstitutiv zurück.“48 Heidemarie Uhl sieht in der historischen Kontextualisierung des Holocaust „eine nachhaltige epistemologische Herausforderung für die Geschichtswissenschaft“: „Dieser Prozess des re-writing von Geschichte in wissenschaftlichen und gedächtniskulturellen Zusammenhängen, der Neustrukturierung der europäischen – und tendenziell der globalen – Gegenwartsgeschichte im Hinblick auf die Gewaltgeschichte der Moderne und ihr präzedenzloses Zentralereignis, den Holocaust, bildet eine nachhaltige epistemologische Herausforderung für die Geschichtswissenschaft […].“49
Das vierte Modell repräsentiert die anthropologische Dimension historischer Verantwortung, welche den Subtext für jegliche Form historischer Verantwortung darstellt. Doch gilt es, eine ausschließliche Anthropologisierung historischer Verantwortung zu vermeiden, da sie potentiell die Nivellierung sowohl der historischen Bezugspunkte (Leidens- und Tatbezug) als auch der historischen Akteure (Opfer und Täter) impliziert. Aber gerade aufgrund der passiven Historisierung und der mit dieser einhergehenden abnehmenden Relevanz des historischen Unrechts für die Nachfahren wird ersichtlich, dass die menschlichen Dimensionen von Leid und Schuld nicht primär historisch sondern anthropologisch zu erfassen sind. Das fünfte Modell berücksichtigt die universale Dimension von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Vergangenheit, da diese die Menschheit als Weltgemeinschaft betreffen. Auch das fünfte Modell impliziert potentiell eine Nivellierung sowohl der historischen Bezugspunkte (Leidens- und Tatbezug) als auch der historischen Akteure (Opfer und Täter). Hier erschließt sich die ethische Hierarchie, da sowohl die Anthropologisierung als auch die Universalisierung historischer Verantwortung aus-
48 Rüsen (1999): Die Logik der Historisierung, 23, 25. 49 Uhl (Hg.) (2003): Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur, 9. (Hervorhebung im Text).
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schließlich den Opfern und ihren Nachfahren gerecht werden kann, und um die geht es vorrangig, wenn historische Verantwortung vorrangig gemäß des ersten und des zweiten Modells reflektiert und praktiziert wird. Das sechste Modell gewinnt erst an Relevanz, wenn die Hauptverantwortlichen, d.h. die Träger des ersten und des zweiten Modells ihre historische Verantwortung wahrgenommen haben und wahrnehmen. Ich vertrete hier die These, dass historische Verantwortung im Sinne einer „erweiterten Mitverantwortung, die Aufteilung der Verantwortung ohne Abzug von Verantwortlichkeit und ohne Zuschreibung der Alleinverantwortung“ erst mit einem größeren historischen Abstand zum historischen Unrecht möglich ist.50 Ein Ausdruck davon ist sicherlich die Tatsache, dass ich als Deutsche der dritten Generation diese Arbeit schreibe und diesen Ansatz vertrete.
0.4 AUFBAU
DER
M ODELLE
Die Vorgehensweise dieses Forschungsprojekts ist eine Ausdifferenzierung der Frage nach historischer Verantwortung in die Fragen, wer trägt warum für was wie Verantwortung (siehe Tabellen Seite 52–54). Entlang dieser Koordinaten konzeptionalisiere ich mit Hilfe von Modellen die Mehrdimensionalität von Geschichte aufgrund der verschiedenen Perspektiven auf das historische Unrecht. Die Modelle fungieren in erster Linie als Darstellungsweise der Gesamtkonzeption von der Mehrdimensionalität historischer Verantwortung. Trotz ihrer hohen Abstraktheit garantieren sie das Aufzeigen ihrer gegenseitigen Verwiesenheit. Denn bei aller nötigen Differenz machen sie ausschließlich in ihrer gegenseitigen Ergänzung Sinn. Gegenstand historischer Verantwortung Der Gegenstand historischer Verantwortung ist ein historisches Unrecht, das allgemein als solches anerkannt ist. Es bezeichnet ein in der Vergangenheit begangenes Verbrechen gegen die Menschlichkeit und umfasst die Tat (abgeschlossene Vergangenheit) sowie ihre fortlau-
50 Lenk (2006): Verantwortung und Gewissen des Forschers. 51.
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fenden Konsequenzen (unabgeschlossene Vergangenheit).51 Das historische Unrecht drückt sich für die Opfer und ihre Nachfahren im historischen Leiden aus, wohingegen es für die Täter und ihre Nachfahren die Konfrontation mit historischer Schuld bedeutet. Hinsichtlich dieses konkreten historischen Unrechts können die Perspektiven also verschieden sein, was wiederum einen jeweils unterschiedlichen Referenzrahmen zur Folge hat. Der Gegenstand historischer Verantwortung ist deswegen auch der Referenzrahmen, welcher bei dem bereits skizzierten Problem des nicht mehr Existierenden und somit Abwesenden Orientierungshilfe bietet. Der Referenzrahmen fungiert als Bezugsgröße und als Konkretion dessen, was unter historischer Verantwortung jeweils verstanden werden kann. Das ist im ersten Modell ein historisches Ereignis, im zweiten Modell ein partikularer Geschichtszusammenhang wie bspw. die deutsche Geschichte und im dritten Modell die so von mir bezeichnete Geschichtsschichtigkeit. Diese bezeichnet die Beschaffenheit von Geschichte, wie sie erstens vorhanden, zweitens verfügbar und drittens machbar ist. Die Geschichte ist abgeschlossen, indem dass sie nicht ungeschehen gemacht werden kann. Sie ist gleichsam unabgeschlossen, da sie erstens weitergeht und zweitens fortwirkt. Die geschehene Geschichte erfasse ich in Schichten, welche übereinander lagern bzw. ineinander verwoben sind. Die Schichten bezeichnen geschichtliche Einheiten wie zum Beispiel den Nationalsozialismus. Während die chronologische Erfassung von Geschichte eine Abgeschlossenheit und somit Teleologie von Geschichte suggeriert, tragen die Schichten der Unabgeschlossenheit von Geschichte Rechnung. Die Geschichtsschichtigkeit dient einer räumlichen Wahrnehmung von Geschichte, welche Voraussetzung für historische Verantwortung ist. Im vierten Modell ist der Referenzrahmen Geschicht-
51 Nuremberg Trial Proceedings Vol. 1 Charter of the International Military Tribunal: Article 6 (c) Crimes against humanity: namely, murder, extermination, enslavement, deportation, and other inhumane acts committed against any civilian population, before or during the war; or persecutions on political, racial or religious grounds in execution of or in connection with any crime within the jurisdiction of the Tribunal, whether or not in violation of the domestic law of the country where perpetrated. http://www.yale.edu/lawweb/avalon/imt/proc/imtconst.htm (Zugang auf der Homepage des Avalon Project at the Yale Law School am 12. August 2011)
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lichkeit, im fünften Modell Weltgeschichte und im sechsten die so von mir bezeichnete verflochtene Geschichte (interwoven history). Diese trägt dem Umstand Rechung, dass kein Unrecht in einem hermetisch abgeschlossenen geschichtlichen Raum geschieht. Es gibt bspw. Mitwisser des Unrechts, Kollaborateure des Unrechtregimes oder auch Profiteure an dem Unrecht von Seiten der ‚Anrainerstaaten‘ oder auch anderer in dieser Weise involvierte politische Akteure. Die Länder, die bspw. mit den Nationalsozialisten kollaborierten, sind zunächst selbst besetzt worden und haben dann partiell selbst am Fortbestehen des Nationalsozialismus partizipiert. Die nationalsozialistische Vereinnahmung Europas ist Sinnbild für die verflochtene Geschichte. Anhand der Referenzrahmen wird deutlich, dass historische Verantwortung immer eine Antwort auf ein konkretes historisches Unrecht darstellt, aber die Antworten verschieden ausfallen können auf Grund der Bandbreite dessen, was unter Geschichte verstanden werden kann. Trägerschaft historischer Verantwortung Zwar gebe ich auf die normative Frage, ob Nachfahren eine Verantwortung für die Taten ihrer Vorfahren haben, eine Antwort. Entscheidend ist jedoch, dass die praktische Frage nach der Realisierung einer solchen, mehr als eine Antwort nach sich zieht. Der vorliegenden Arbeit liegt der Anspruch zugrunde, sowohl der philosophischen als auch der praktischen Dimension historischer Verantwortung gerecht zu werden. Ein umfassendes Verständnis von historischer Verantwortung ist ausschließlich im Sinne einer „erweiterten Mitverantwortung“ möglich.52 Ich möchte dies kurz anhand der Trägerschaft historischer Verantwortung verdeutlichen: Auf die Frage, wem gegenüber historische Verantwortung getragen wird, wird in allen Modellen gleichermaßen Antwort gegeben. Es sind die Opfer und ihre Nachfahren bzw. die direkten und indirekten Opfer. Sie haben Unrecht erlitten bzw. leiden an den fortwirkenden Konsequenzen desselben, und es ist das originäre Anliegen historischer Verantwortung, dass das ihnen zugefügte Leiden als Unrecht anerkannt ist und nicht vergessen wird. Bevor allerdings die eigentlichen Adressaten historischer Verantwortung erreicht werden können, müssen die historisch Verantwortlichen die Relevanz his-
52 Lenk (2006): Verantwortung und Gewissen des Forschers, 51.
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torischer Verantwortung mit Blick auf das historische Unrecht für sich selbst erkennen (Fremdbezug braucht Selbstbezug): „Suchen wir nach einer Begriffsbestimmung, dann ließe sich Verantwortung umschreiben als positive (Anerkennung) oder negative (Ablehnung) Reaktion auf Wertforderungen mit entsprechender Handlung oder Unterlassung. Alle Verantwortung […] ist zunächst Selbstverantwortung, Gewissen (conscientia) als begründete Mitwisserschaft am Wert oder Unwert der Dinge.“53
Gerade vor dem Hintergrund meiner Definition historischer Verantwortung als eine Verantwortung für unsere historische Identität (wer man ist) und unsere historische Praxis (was man tut), ist man selbst derjenige, der zuvorderst adressiert werden muss, um überhaupt eine anamnetische Solidarität den Opfern und ihren Nachfahren gegenüber leisten zu können. Anamnetische Solidarität heißt, dass nachträglich das Unrecht, das den Opfern widerfuhr, als solches anerkannt und nicht vergessen wird. Das vierte Modell bezeichnet mit Blick auf die Frage, wem gegenüber historische Verantwortung getragen wird, eine Ausnahme. Hier sind die Opfer und ihre Nachfahren im per se Anderen repräsentiert. Eine Differenzierung der Trägerschaft historischer Verantwortung wird bei der Frage evident, wer historische Verantwortung trägt. Dies sind in allen Modellen gleichermaßen die Nachfahren, da sich die Frage der historischen Verantwortung erst diesen stellt. Aber es gilt die Nachfahren zu differenzieren. Im ersten und zweiten Modell stehen ausschließlich die Nachfahren des Täterkollektivs in einer historischen Verantwortung, während das dritte Modell eine wissenschaftsethisch begründete historische Verantwortung von Geistes- und Sozialwissenschaftlern repräsentiert. Im vierten Modell ist es eine anthropozentrisch-metaphysisch begründete historische Verantwortung des Menschen aufgrund seiner Geschichtlichkeit. Es geht um den Menschen als Individuum und der Spezies Mensch zugehörend. Im fünften Modell ist es die Weltgemeinschaft, die ob der universalen Relevanz und Signifikanz des historischen Unrechts in einer historischen Verantwortung steht. Hier geht es um den Menschen als politischen Teilhaber von Weltgeschichte. Im sechsten Modell sind es wiederum die Nachfahren derer, die in einem gewissen Maße in das historische Un-
53 Hammer (1983): Selbstzensur für Forscher?, 79–80.
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recht involviert gewesen sind. An dieser Skizze wird die praktische Dimension historischer Verantwortung im Sinne einer „erweiterten Mitverantwortung“ deutlich. Diese korrespondiert wiederum mit der von Meyer vorgenommenen Ausdifferenzierung der Konsequenzen der „symbolischen Kompensationshandlungen“ für alle Beteiligten, d.h. „für die überlebenden Opfer, für die Nachkommen der Opfer, für die Gruppe, deren frühere Mitglieder durch das an ihnen begangene Unrecht verletzt wurden, für die, die diese Handlungen ausführen, für die Täter und ihre Nachfahren und für die Gesellschaft als Ganzes“, aufzeigt.54 Allerdings sind diese in erster Linie Ausdruck eines „Selbstverständnis[ses] von Menschen, die tatsächliche Kompensation zu leisten wünschen und leisten, wenn es geboten und ihnen möglich ist.“ (Ebd.) Praxis historischer Verantwortung Die Modelle sind nach der Praxis historischer Verantwortung benannt, welche verschiedene Formen der Bezugnahme auf Vergangenheit repräsentieren. Während im ersten Modell ein spezifisches historisches Ereignis erinnert wird, wird dasselbe im zweiten Modell in einem partikularen historischen Zusammenhang überliefert. Im dritten Modell geht es um die grundsätzliche Form des Bezugnehmens auf Vergangenheit. Dieses erfasse ich im Geschichtsdenken, das auf dem sich stets wiederholenden narrativen Dreischritt von Geschichte a) vorfinden, b) aneignen und c) anwenden basiert. Hier wird nicht eine Geschichte erzählt, aber nur im erzählenden Modus kann sie zugänglich und erfahrbar gemacht werden. Im vierten Modell wird nach dem Sinn der Geschichte gefragt, eben gerade weil ein solcher angesichts von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Geschichte per se in Frage gestellt ist. Während das historische Ereignis im fünften Modell mit dem universalen historischen Zusammenhang in Verbindung gebracht (universalisiert) wird, wird es im sechsten Modell mit einem partikularen historischen Zusammenhang kontextualisiert. Den Formen der Bezugnahme auf Vergangenheit liegen Motive zugrunde. Paul Ricoeur erfasst diese in der „Intentionalität des Geschichtsdenkens“, welche vor allem im zweiten Modell von heraus-
54 Meyer (2005): Historische Gerechtigkeit, 103.
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ragender Bedeutung sein wird.55 Im ersten Modell wird das Leiden der Opfer und ihrer Nachfahren anerkannt. Indem für die Zeugen gezeugt wird, zollt man ihnen anamnetische Solidarität. Hier markiert das Motiv der Zeugenschaft die „Moralisierung der Geschichte“.56 Im zweiten Modell pflegen die Täter und ihre Nachfahren kritisch ihr historisches Erbe. Indem für das historische Erbe Rechenschaft gegeben wird, bemüht man sich um seine historische Integrität wegen bzw. trotz der historischen Schuld. Hier markiert das Motiv der Rechenschaft die „Moralisierung der Geschichte“. Heidrun Kämper erfasst diese Differenzierung in den verschiedenen „Handlungsmustern des Schulddiskurses“ der Opfer, Täter und Nichttäter. Während die Opfer „in ihrer Funktion als Zeugen“ primär berichten, erzählen Täter argumentativ „in ihrer Funktion als Angeklagte“. Die Nichttäter diagnostizieren stattdessen die Schuld der Deutschen in einer Ambivalenz von „schuldbewusster Befindlichkeit und gleichzeitiger Rehabilitationsabsicht“, wie sie bspw. die Auseinandersetzung von Karl Jaspers mit der Deutschen Schuldfrage charakterisiert.57 Die „Moralisierung der Geschichte“ bezeichnet im ersten Modell, dass das Leiden der Opfer und ihrer Nachfahren nicht vergessen wird und im zweiten Modell, dass die historische Schuld von den Nachfahren der Täter nicht vergessen wird. Im dritten Modell wird das gemeinsame Erkenntnisinteresse, d.h. das Streben nach historischer Wahrheit, von Seiten der Geistes- und Sozialwissenschaftler anerkannt. Indem gewusst wird, was sich in der Geschichte zugetragen hat, kann Geschichte weniger instrumentalisiert werden bzw. können Geschichten versöhnt werden. Hier kann das Motiv des Erkenntnisinteresses nicht die „Moralisierung der Geschichte“ bedeuten, weil eine solche in den Geistes- und Sozialwissenschaften explizit nichts zu suchen hat. Im vierten Modell wird die Geschichtlichkeit des Menschen als eine permanent zu be- und hinterfragende universale Dimension anerkannt. Indem die Uneinholbarkeit von Geschichte anerkannt wird, kann die Geschichte nicht totalitär angeeignet werden. Hier kann das Motiv des Eingeständnisses der menschlichen Bedingtheit ebenso wenig als „Moralisierung der Geschichte“ verstanden werden, weil es vorrangig um eine Sensibilisie-
55 Ricoeur (1983): Zeit und Erzählung. Zeit und historische Erzählung. Bd. 1, 137–139. 56 Améry (20045): Jenseits von Schuld und Sühne, 124. 57 Kämper (2007): Opfer – Täter – Nichttäter, XIV.
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rung gegenüber der eigenen Geschichtlichkeit und nicht eine Moralisierung geht. Ort historischer Verantwortung Die Bezugnahmen auf Vergangenheit sind zu verorten, so dass ich von Orten historischer Verantwortung spreche. Im ersten Modell ist ein solcher eine von den Nachfahren der Täter praktizierte Erinnerungskultur. Im zweiten sind dies die Geschichtsschreibung, die Geschichtspolitik, die Rechtsprechung und historische Inventuren58, in denen die Nachfahren der Täter ihre historische Verantwortung reflektieren und praktizieren. Während dies im dritten Modell vor allem die Geistesund Sozialwissenschaften sind, sind es im vierten Modell die historischen Inventuren. Wert historischer Verantwortung Schließlich repräsentiert jedes Modell einen spezifischen Wert historischer Verantwortung, welcher das ethische Kriterium der jeweiligen Bezugnahme auf Vergangenheit bezeichnet. Dies ist im ersten Modell die historische Gerechtigkeit, indem nachträglich das den Opfern widerfahrene Unrecht als solches mindestens anerkannt wird. Im zweiten Modell ist dies das historische Erbe der Nachfahren der Täter, welches nur dann einen Wert bereitstellt, wenn es kritisch angeeignet wird. Um den Opfern historische Gerechtigkeit zollen zu können, müssen die Nachfahren der Täter um ihr historisches Erbe, seine Errungenschaften und Abgründe, wissen. Das Wissen um den Wert historischer Verantwortung im zweiten Modell ist die Voraussetzung für den Wert historischer Verantwortung im ersten Modell. Wiederum bezeichnet der Wert historischer Verantwortung im ersten Modell das Kriterium für den Wert historischer Verantwortung im zweiten Modell. Im ersten und zweiten Modell bezeichnen die Werte historischer Verantwortung partikulare Werte in dem Sinne, dass sie aus partikularen Ansprüchen resultieren. Im dritten und vierten Modell resultieren die Werte histori-
58 Historische Inventuren bezeichnen Texte, die eine Schnittmenge zwischen Historiographie, Autobiographie und/oder Fiktion aufweisen und deren Bezugspunkte jeweils die Geschichte von einem erfahrenen Ich und einem erfundenen Ich in der Geschichte sind.
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scher Verantwortung aus universalen Ansprüchen. Diese sind im dritten die historische Wahrheit und im vierten der historische Sinn. Die spezifischen Werte eines jeden Modells stellen insofern konditionale Werte dar, da sie sich im Sinne einer umfassenden Reflexion und Praxis historischer Verantwortung gegenseitig ergänzen. Sie verweisen aufeinander und nehmen vor allem kritisch Bezug aufeinander. Um den Opfern von historischem Unrecht historische Gerechtigkeit zollen zu können, müssen die Nachfahren der Täter um ihre historische Herkunft und d.h. auch den Wert ihres historischen Erbes wissen. Die verschiedenen Ansprüche, welche im ersten und zweiten Modell artikuliert werden, resultieren aus verschiedenen Perspektiven. Während im ersten Modell die Opferperspektive konstitutiv ist, ist es im zweiten die Beteiligtenperspektive der Nachfahren der Täter. Im dritten Modell geht es hingegen nicht um die subjektiven Perspektiven der Beteiligten in Gestalt der Opfer und Täter sowie ihrer Nachfahren. Im dritten Modell nehmen die Vertreter der wissenschaftlichen Disziplinen, welche die Vergangenheit zu ihrem Gegenstand haben, idealtypisch die Beobachterperspektive ein. Diese konstituiert sich durch den gemeinsamen Wert, der die historische Wahrheit ist. Die Beobachterperspektive ist eine idealtypische, da sie immer nur annäherungsweise zu erreichen ist. Denn Wissenschaftler forschen und denken nicht hermetisch abgeschlossen von ihrer Lebenssphäre. Im Gegenteil kann die Lebenssphäre ein Resonanzraum für ihre Wissenschaft und umgekehrt sein. Ihre Herkunftsbezüge und -prägungen können sich auf die eine oder andere Weise in ihrer Profession niederschlagen. Während es im zweiten Modell explizit darum geht, dass die Beteiligtenperspektive als eine aus den Herkunftsbezügen und -prägungen resultierende und nicht zu leugnende anerkannt wird, geht es im dritten Modell darum, dass sich Wissenschaftler auf eine Beobachterperspektive verständigen, welche als kleiner gemeinsamer Nenner für alle gilt; unabhängig von ihrer Herkunft. Die herausragende Bedeutung des dritten Modells als Korrektiv bspw. für das erste Modell lässt sich am Wilkomirski-Fall veranschaulichen. Im Jahre 1995 veröffentlichte Binjamin Wilkomirski seine Memoiren, in denen er sich als Überlebender des Holocaust ausgab.59 Die Resonanz darauf war enorm. Bspw. wurden seine Memoiren mit den Erinnerungsberichten von Primo Levi und Eli Wiesel verglichen, und viele Menschen, die als Kinder den Holocaust überlebt
59 Wilkomirski (1995): Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948.
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hatten, haben sich mit den von Wilkomirksi beschriebenen Erfahrungen identifizieren können. Wilkomirski wurde mit Preisen ausgezeichnet und als Zeuge und Experte interviewt. Im Jahre 1998 stellte der Schweizer Journalist Daniel Ganzfried den Wahrheitsgehalt der Memoiren von Wilkomirski in Frage. Im Jahre 1999 entlarvte der Schweizer Historiker Stefan Mächler schließlich die Camouflage: Binjamin Wilkomirski ist der 1941 in der Schweiz geborene Bruno Grosjean/Dösseker. Wilkomirski alias Grosjean war in der ersten Hälfte der 40er Jahre nicht in Polen, so dass er dort auch keiner Verfolgung hat ausgesetzt sein können. Die Gründe seiner Camouflage sind psychologischer Natur und an dieser Stelle nicht zu erörtern. Entscheidend ist, dass sich Wilkomirski alias Grosjean als Holocaust Überlebender ausgab und im Namen der Opfer Gerechtigkeit forderte, was eine Missachtung den Opfern gegenüber und einen Missbrauch an ihrem Gedenken bedeutete. Durch eine kritische Beobachterperspektive und die entsprechende Heranziehung von Quellen haben seine angeblichen Memoiren auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft werden können.60
60 Siehe Mächler (2000): Der Fall Wilkomirski; Ganzfried (Hg.) (2002): ... alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie; Diekmann/Schoeps (Hg.) (2002): Das Wilkomirski-Syndrom; Weinberg (2003): Wilkomirski & Co.
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1. Tabelle: Modelle historischer Verantwortung (HV) (1–2) 1. Erinnern von Vergangenheit
2. Überliefern von Vergangenheit
Gegenstand HV Ausgangs- und Bezugspunkt
Historisches Unrecht Historisches Leiden
Historisches Unrecht Historische Schuld
Referenzrahmen
Historisches Ereignis (spezifisch)
Partikularer historischer Zusammenhang (z.B. Nationale Geschichte)
Trägerschaft HV Wer wird adressiert?
Selbst Opfer und ihre Nachfahren
Selbst Opfer und ihre Nachfahren
Wer ist verantwortlich?
Nachfahren des Täterkollektivs (Herkunftsbezug)
Nachfahren des Täterkollektivs (Herkunftsbezug)
Praxis HV Formen der Bezugnahme auf die Vergangenheit
Erinnern/Anamnesis
Überliefern des historischen Erbes
Motive der Bezugnahme auf die Vergangenheit
Anerkennung des Kritische Anerkennung Leidens der Opfer und und Pflege des ihrer Nachfahren historischen Erbes Zeugenschaft – Rechenschaft – Warum? Nicht Vergessen! Historische Integrität Anamnetische Solidarität
Orte HV
Erinnerungskultur
Geschichtsschreibung Geschichtspolitik Rechtsprechung Historische Inventuren
Wert HV
Historische Gerechtigkeit
Historisches Erbe
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2. Tabelle: Modelle historischer Verantwortung (HV) (3-4)
Gegenstand HV Ausgangs- und Bezugspunkt
3. Erzählen von Vergangenheit
4. Fragen nach der Frage von Vergangenheit (Histodizee)
Historisches Unrecht
Historisches Unrecht
Referenzrahmen Geschichtsschichtigkeit (Beschaffenheit von Geschichte als a) gegeben, b) verfügbar und c) machbar) Trägerschaft HV Wer wird adressiert? Wer ist verantwortlich?
Selbst Opfer und ihre Nachfahren
Geschichtlichkeit
Selbst Der Andere
Geistes- und Selbst Sozialwissenschaftler (Kein Herkunftsbezug) (Kein Herkunftsbezug)
Praxis HV Geschichtsdenken Formen der Be- (Bezugnahme auf Gezugnahme auf die schichte: a) vorfinden, Vergangenheit b) aneignen, c) anwenden)
Fragen (Histodizee)
Motive der BezugAnerkennung der nahme auf die historischen Wahrheit Vergangenheit Erkenntnisinteresse Versöhnung
Anerkennung von Geschichtlichkeit als einer permanent zu hinterfragenden universalen Dimension Erkenntnisinteresse
Orte HV
Geistes- und Sozialwissenschaften Rechtsprechung Historische Inventuren
Historische Inventuren
Wert HV
Historische Wahrheit
Historischer Sinn
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3. Tabelle: Modelle historischer Verantwortung (HV) (5-6)
Gegenstand HV Ausgangs- und Bezugspunkt Referenzrahmen
Trägerschaft HV Wer wird adressiert? Wer ist verantwortlich?
5. Universalisieren von Vergangenheit
6. Kontextualisieren von Vergangenheit
Historisches Unrecht
Historisches Unrecht
Universaler historischer Verflochtene Geschichte Zusammenhang (Weltgeschichte) Selbst Opfer und ihre Nachfahren
Selbst Opfer und ihre Nachfahren
Weltbürger/Menschheit Nachfahren derer, die in (kein Herkunftsbezug) gewissem Maße in das historische Unrecht involviert waren (Herkunftsbezug)
Praxis HV Kontextualisieren des Formen der Be- historischen Unrechts mit zugnahme auf die dem universalen historiVergangenheit schen Zusammenhang im Sinne der Anteilnahme
Kontextualisieren seines eigenen partikularen historischen Zusammenhangs mit dem historischen Unrecht im Sinne der Verstrickung
Motive der Anerkennung des univerBezugnahme auf salen Zusammenhangs die Vergangenheit von Geschichte im Sinne der Anerkennung der universalen Signifikanz und Relevanz des historischen Unrechts
Anerkennung der MitVerantwortung für das Zustandekommen, Stattfinden und/oder NichtVerhindern des historischen Unrechts und/oder für die Sanktionierung des Leugnens des historischen Unrechts
Orte HV
Erinnerungskultur Geschichtsschreibung Geschichtspolitik Rechtsprechung Historische Inventuren
Erinnerungskultur Geschichtsschreibung Geschichtspolitik Rechtsprechung Historische Inventuren
Wert HV
Universale Ethik
Historische Haftung
1
Opferperspektive: Erinnern von Vergangenheit (1. Modell)
1.1 Ü BERBLICK Das erste Modell stellt eine partikulare, weil herkunftsbezogene historische Verantwortung dar. Historische Verantwortung bezeichnet hier ausschließlich eine Verantwortung der Nachfahren der Täter, die praktiziert wird, indem ein konkretes historisches Ereignis, das allgemein als historisches Unrecht anerkannt ist, erinnert wird. Und dies gilt es zu spezifizieren: das Leid der Opfer und ihrer Nachfahren wird erinnert. Micha Brumlik demaskiert „die bundesdeutsche Kontingenzformel“ gemäß derer spätestens 1985 „das Geheimnis der Erlösung die Erinnerung sei“ als differenzierungsbedürftig, da „es beim Eingedenken, jedenfalls im Sinne der jüdischen Kabbala, nicht um eine Erlösung derjenigen geht, die sich, schuldig geworden, erinnern, sondern [...] um die Opfer des geschichtlichen Unrechts.“1 Es geht originär darum, dass die Leiden der Opfer nicht vergessen werden. Originär sie sind es, die das ethische Gebot des Nie wieder! artikulieren und einfordern. Ihr Leiden ist den Nachfahren eine Mahnung, dass es menschenmöglich ist, solche Leiden zu schaffen und zu erleiden. Es geht um die grundsätzliche Anerkennung, dass das historische Unrecht stattgefunden hat, sowie um die Zeugenschaft davon, wie das historische Unrecht stattgefunden hat. Das Erinnern von historischem Unrecht verhindert dessen Vergessen. Sein Vergessen würde sein Auslöschen im historischen Gedächtnis und somit neues Unrecht bedeuten. In Bezug auf den Holocaust schreibt Vladimir Jankélévitch: „Dieses
1
Brumlik (1995): Gedenken in Deutschland, 118.
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gewaltige Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vergessen, wäre ein neues Verbrechen gegen die menschliche Gattung.“2 Jede Rückschau impliziert eine zeitliche Distanznahme, welche im Erinnern aufgehoben zu sein scheint. Es ist, als ob im Erinnern Zeit verschmelze. Ich werde im Folgenden skizzieren, dass das Erinnern die Eigenschaft hat, Zeit – im doppelten Sinne – aufzuheben. In dieser Eigenschaft liegt der grundlegende Stellenwert des Erinnerns für historische Verantwortung begründet. Vor dem Hintergrund, dass historische Verantwortung historisches Unrecht zum Ausgangs- und Bezugspunkt hat, und dass wiederum eine zeitliche Distanz zu eben jenem besteht, erfordert historisches Erinnern ein Erfassen und eine Überwindung von Zeit. Eine zentrale These des vorliegenden Kapitels lautet, dass das Erinnern jene für historische Verantwortung konstitutive Uneinholbarkeit der Geschichte mittelbar einzuholen vermag. In der Uneinholbarkeit der Geschichte spiegelt sich die Dialektik des Fortund Rückwirkens der Vergangenheit, was im Medium des Erinnerns zum Ausdruck kommt. Im Folgenden werde ich die diesem Kapitel zugrunde liegenden Teile skizzieren: Zunächst werde ich ein Koordinatensystem für historische Verantwortung in Form von Erinnern von Vergangenheit skizzieren. Erstens werde ich verschiedene Dimensionen des Erinnerns herausarbeiten (Erinnern als Gabe, Praxis, Bestand, Ethik), um schließlich zweitens die für das erste Modell zentrale anamnetische Solidarität und den Aspekt der Zeugenschaft vorstellen. Anschließend werde ich mich mit der Vorstellung von Geschichte in den Geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins auseinandersetzen. In diesen wird historische Verantwortung implizit verhandelt, da sie grundlegend die Uneinholbarkeit der Geschichte zum Gegenstand haben. Die Uneinholbarkeit der Geschichte ist konstitutiv in der Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung und bezeichnet den Haupteinwand gegen historische Verantwortung. Die Benjamin-Horkheimer Debatte reflektiert dies exemplarisch und hat aufgrund dessen zentralen Stellenwert für die Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung. Es wird allerdings im Folgenden vor allem darum gehen, den Verweischarakter der Debatte offen zu legen. Handelt es sich bei ihr doch um die Vorstellung von Geschichte mit Blick auf die Unterdrückten der Geschichte. Der Blick auf Geschichte ist hier noch global, und
2
Jankélévitch (2006): Verzeihen?, 17.
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dass trotz, ebenso aber wegen der Absage Benjamins an eine Universalgeschichte. Es ist eine meta-historische Dimension, die die Debatte eröffnet. Der entscheidende Punkt ist dabei, dass zum Zeitpunkt der Debatte der „Zivilisationsbruch“3, welchen der Holocaust bezeichnet, noch nicht bekannt war. Es wird hier die These vertreten, dass erst mit dem „historischen Grenzereignis“ (Friedländer) des Holocausts ein Bewusstsein für die Frage nach einer historischen Verantwortung der Nachfahren für die Taten ihrer Vorfahren aufkommt.4 Die Frage nach historischer Verantwortung konfrontiert gleichsam mit der Vorstellung von Geschichte, da diese dieser vorausliegt. Der „Zivilisationsbruch“ hat die Vorstellung von Geschichte, die in der Debatte zwischen Walter Benjamin und Max Horkeimer verhandelt wird, unheilvoll revolutioniert. Ich plädiere deshalb dafür, dass die Debatte mit Blick auf den „Zivilisationsbruch“ gelesen wird und nicht umgekehrt. Im Folgenden wird die Frage historischer Verantwortung entsprechend differenziert und fokussiert aufgeworfen. Jean Améry fordert die „Aufhebung der Zeit“ in seinen Ressentiments und somit explizit historische Verantwortung. Das Ressentiment bezeichnet eine – im doppelten Sinne – nicht aufzuhebende Erinnerung. So zynisch es auch klingen mag, aber die analytische und ressentimentgeladene Stimme Amérys, Überlebender des Holocaust, erfasst und fordert die empirische Dimension in der Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung ein. Er personifiziert gewissermaßen das ethische Gebot der
3
Siehe Diner (Hg.) (1988): Zivilisationsbruch, sowie Diner (2003): Den Zivilisationsbruch erinnern. Sie auch Zimmermann (2005): Philosophie nach Auschwitz. Eine Neubestimmung von Moral und Politik: „Meine moralphilosophische These besteht darin, dass mit Auschwitz eine Grenzüberschreitung eingetreten ist, die ich einerseits als Gattungsbruch, andererseits als Gattungsversagen fasse.“ 10.
4
Dass Fragen nach und Formen von Vergangenheitsbewältigung in den unterschiedlichsten historischen Kontexten auf den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte Bezug nehmen, erachte ich als ein Indiz für diese These. Deutschland repräsentiert gewissermassen einen Präzedenzfall für die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts praktizierte „transition to justice“. Die Einschätzung von Jeffrey K. Olick: „To be sure, Nuremberg represented a new stage in political accountability and has served as a powerful referent for subsequent moments of transitional justice.“ Olick: The Politics of Regret, 13.
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Opferperspektive, die konstitutiv für historische Verantwortung ist. Während es bei Benjamin um die Unterdrückten in der Geschichte geht, geht es Améry mit Blick auf den Holocaust um die konkreten Opfer dieses konkreten Menschheitsverbrechens. Der entscheidende Unterschied ist der, dass Benjamin zwar historisches Unrecht zum Ausgangspunkt seiner Thesen hat, nicht aber historische Schuld. Es sei hier daran erinnert, dass sich historische Schuld auf ein in der Vergangenheit begangenes Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezieht. Während es Benjamin um das Ethos der Historiographie geht, geht es Améry – ohne auch nur einmal explizit das Wort Erinnern zu gebrauchen – um das Ethos des Erinnerns, welches ein konkretes Erinnern bezeichnet. Schließlich wird es vor allem um die praktische und kollektive Dimension historischer Verantwortung gehen, wobei der Historisierung sowie der dieser inhärenten nivellierenden Tendenz Rechnung getragen wird. Auch Johann Baptist Metz fordert explizit historische Verantwortung in Form einer „anamnetischen Kultur“, welche die Tradition zu ihrem identitätssichernden Ausgangspunkt hat. Metz widmet sich vorrangig der praktischen Dimension historischer Verantwortung im Selbstverständnis der Nachfahren der Täter. Zwar artikuliert eine solche bereits Améry, doch Metz wird diesbezüglich konkreter und differenzierter. Dies ist kein Wunder, da Améry und Metz grundlegend verschiedene Herkunftsbezüge und -prägungen aufweisen. Améry ist ein Überlebender, während Metz ein Zeitgenosse und Nachfahre des Täterkollektivs ist. Schließlich liegt zwischen dem Entstehungszeitraum der jeweiligen Texte, auf die ich mich hier beziehe, immerhin eine Zeitspanne von 30 Jahren – eine Zeitspanne mithin, die den Prozess der Historisierung umfasst, welchen sowohl Améry als auch Metz zum analytischen und ressentimentgeladenen Anlass haben. Améry bringt allerdings mit analytischer Schärfe die in der Historisierung begründete ethische Herausforderung historischer Verantwortung bereits auf den Punkt, wenngleich zu dem Zeitpunkt weder die Frage der (historischen) Verantwortung für den Holocaust noch ihre Thematisierung im Zusammenhang mit Historisierung öffentlichkeitswirksam – wenn überhaupt – thematisiert wurde. Die Ressentiments von Jean Améry bündeln in pointierter Form, was historische Verantwortung bedeutet: historische Verantwortung ist Antwort auf historische Schuld.
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Abschließend werde ich vor dem Hintergrund der Textanalysen das erste Modell mit seinen zentralen Koordinaten resümieren und die Problematik skizzieren, erstens historische Verantwortung aus dem Anspruch der Toten bei Benjamin, zweitens aus dem Anspruch der Zeugen bei Améry und drittens aus dem Anspruch der Nachfahren der Täter mit Blick auf die Opfer bei Metz zu begründen.
1.2 K OORDINATENSYSTEM DES E RINNERNS HISTORISCHE V ERANTWORTUNG
FÜR
Im Folgenden skizziere ich wesentliche Koordinaten, die sich in der Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung in Form von Erinnern von Vergangenheit herauskristallisiert haben. In dieser Skizze werde ich auf die dann folgenden Textanalysen verweisen, in denen diese Koordinaten von Relevanz sind. 1.2.1 Erinnern als Gabe, Praxis, Bestand und Ethos Erinnern bezeichnet ein Vielfaches. Ich unterscheide im Folgenden Erinnern als eine Gabe, eine Praxis, einen Bestand sowie einen Ethos. Diese Differenzierung erlaubt es, verschiedene Dimensionen historischer Verantwortung auf der Ebene des Erinnerns zu erschließen. Während Benjamin sein Plädoyer für das Eingedenken in erster Linie aus der „messianischen Kraft“5, d.h. der Gabe des Erinnerns der Nachfahren ableitet, orientiert sich das Plädoyer von Améry für historische Verantwortung am Bestand, d.h. dem historischen Erbe. Metz widmet sich wiederum insbesondere der notwendig praktischen Dimension historischer Verantwortung für die Nachfahren. Da die Frage nach historischer Verantwortung eine ethische Frage ist, ist es angebracht, nach der spezifisch ethischen Dimension des Erinnerns zu fragen. Die Erinnerung repräsentiert eine „irreduzible Form des menschlichen Seins in der Zeit“ wie auch die Erfahrung und Erwartung:
5
Benjamin (1992): Sprache und Geschichte, 142. (Hervorhebung im Text).
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„Wer einfach den Vorrang des einen vor dem andern behauptet, verstellt sich die schwerere, aber entscheidende Aufgabe: nämlich den Zusammenhang zwischen dem so Unterschiedenen zu erkennen.“6
Der Zusammenhang kann ausschließlich über den Zeitindex erschlossen werden, da es grundsätzlich der Verzeitlichung bedarf, um den Zusammenhang zu erfassen. Die Zeit ist das dieses Koordinatensystem verbindende Element. Sie trennt die Nachfahren von ihrem Bestand und erlaubt es ihnen gleichzeitig, sich auf diesen zu beziehen. Der Zeitindex ist von herausragender Bedeutung für das erste Modell. Zunächst gilt es festzuhalten, dass wir uns erinnern können. Diese Gabe hat eine Funktion und Bedeutung: Erinnern ist identitätsbildend. Auf individueller Ebene bezeichnet es einen reflexiven Vorgang. Der Mensch erinnert sich. Bspw. erkennt er etwas wieder und stellt anschließend eine Assoziation zwischen dem Erinnerten und demjenigen her, von dem die Erinnerung ausgelöst wurde. Dieses Assoziieren bildet unmittelbar ein Erfassen und eine Überwindung von Zeit, indem etwas in der Vergangenheit Erfahrenes augenblicksweise in einem gegenwärtigen Kontext erinnert wird. Darüber hinaus hat das erinnernde Assoziieren einen mittelbaren, d.h. nachhaltig identitätsstiftenden Charakter, da dem Erinnern grundsätzlich zu eigen ist, Bezüge zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart herzustellen, die es dem Individuum erlauben, sich des eigenen gegenwärtigen Lebenszusammenhangs zu versichern. Erinnern ist also zwar retrospektiv, aber Jetztzeit konstituierend. Das gleiche gilt für das Erinnern auf kollektiver Ebene. Die fundamentale Gabe des Menschen, sich zu erinnern, wird bei Benjamin als eine „messianische Kraft“ bezeichnet, worauf die Vorfahren Anspruch haben: „Mit der Vorstellung von Vergangenheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich ebenso. Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selber ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? Ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? [...] Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische
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Huber (1984): Erinnerung, Erfahrung, Erwartung, 333.
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Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen. Der historische Materialist weiß darum.“7
Nicht das Erinnerte, sondern das Vermögen zu erinnern, zeugen von der „messianischen Kraft“. Indem Benjamin wiederum den Anspruch der Vergangenheit auf diese „messianische Kraft“ konstatiert, ergänzt er die Historie bzw. das Historische in seiner gewöhnlichen Bedeutsamkeit für die Nachwelt um eine wesentliche Bedeutsamkeit für die Vorwelt. „Erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden“, d.h. der Verweis auf die „Erlösung“ zielt auf den Bezug zur Vergangenheit. (142) Schließlich erinnern wir uns. Die Praxis bezeichnet die Anamnese, mittels welcher Zeugnis vom Vergangenen gegeben zu werden vermag. Dabei umfasst die Anamnese zwei Aspekte. Zum einen umschreibt sie den Rekurs auf Vorhandenes, zum anderen die Suche nach Vorhandenem. Erinnerungen in ihrer Vorhandenheit können manipuliert, verdrängt und vergessen werden. Sie können bspw. mit Anekdoten angereichert werden, so dass Fakten und Fiktionen nah beieinander sind. Erinnerungen in ihrer Vorhandenheit sind – in Anlehnung an Aristoteles – nicht nur der Vergangenheit, sondern der Zeit überhaupt teilhaftig, da sie keine statische Bezugsgröße darstellen.8 Denn die Bezugnahme selbst ist auch dynamisch. Nicht nur das Erinnerte, sondern auch der Modus des Erinnerns changiert permanent. Oder wie es Imre Kertesz in seinem autobiographischen Roman beschreibt: „Das heißt, inzwischen habe ich diese Bücher geschrieben, und das hat offensichtlich auch meine Erinnerungen verändert. Sie haben gewissermaßen eine andere Qualität bekommen. Vielleicht sind sie – unabhängig von der vergangenen Zeit – verblasst. [...] Wenn ich heute, sechzig Jahre später, auf mich zurückblicke, sehe ich also einen im Grunde genommen fröhlichen jungen Mann vor mir, der sich ins Leben stürzt und sich daran von nichts und niemanden
7
Benjamin (1992): Sprache und Geschichte, 142. (Hervorhebung im Text).
8
„Das Gedächtnis ist mit Vergangenem verbunden.“ Aristoteles: „Über Gedächtnis und Erinnerung“, in: Kleine naturwissenschaftliche Schriften, übersetzt und hrsg. von Eugen Dönt, 1997, 88, zitiert nach Ricoeur (2000): Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, 24.
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hindern lässt. Natürlich erinnert er sich an alles, was ihm widerfahren ist, reiht es aber, wenn ich so sagen darf, in die Ordnung der Dnge ein.“9
Das Einreihen in „die Ordnung der Dinge“ bezeichnet die zeitliche Dimension und Bedingtheit des Erinnerns. Die Last von traumatischen Erinnerungen und überhaupt die Fülle von Erinnerungen verlangen ein Filtern von Erinnerungen. Sowohl der Rekurs auf Vorhandenes, als auch die Suche nach Vorhandenem impliziert ein Filtern von Vorhandenem, das wiederum in seiner Unzugänglichkeit bereits einem Filter gleicht. Denn jegliche Vorhandenheit ist ausschließlich gefiltert vorhanden und gefiltert zugänglich, d.h. relational. Ausschließlich über den Zeitindex ist diese Vorhandenheit zu erschließen, da dieser zwar die Kluft aber eben auch das Band zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft markiert. Indem wir erinnern, rekurrieren wir auf diese Vorhandenheit, welche schließlich den Bestand ausmacht. Während auf individueller Ebene das Erinnern primär einen reflexiven Vorgang bezeichnet, geht es auf kollektiver Ebene primär um eine Praxis des Gedenkens, wenngleich individuelles und kollektives Erinnern in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander stehen. Die kollektive Dimension des Erinnerns ist in der Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung von entscheidender Bedeutung, da der Ausgangs- und Bezugspunkt historischer Verantwortung, historisches Unrecht, – auf der Ebene des Erinnerns – ausschließlich in Form tradierter Erinnerungen zugänglich ist, welche sozial bedingt sind. Auf Grund unserer sozialen Eingebundenheit sind Erinnerungen grundsätzlich sozial disponiert und konnotiert: „Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wieder zu finden.“10
Während sich Maurice Halbwachs mit dem „kommunikativen Gedächtnis“ auf die soziale Eingebundenheit von Erinnerungen in der Zeitgenossenschaft bezieht, berücksichtigt Jan Assmann mit dem „kul-
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Kertesz (2006): Dossier K. Eine Ermittlung. 99. (Hervorhebung von mir).
10 Halbwachs (1985): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, 121.
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turellen Gedächtnis“11 die historische Eingebundenheit von Erinnerungen, auf die die Nachfahren rekurrieren. Während das „kommunikative Gedächtnis“ im gleichen Zeit- und somit Erfahrungskontext verortet ist, kann das „kulturelle Gedächtnis“ nicht mehr auf unmittelbar Erfahrenes, sondern ausschließlich auf Überliefertes rekurrieren. Das „kommunikative Gedächtnis“ teilt gewissermaßen einen gemeinsamen Erfahrungspool, welcher unmittelbar ein potentiell solidarisches Moment bereitstellt. Das „kulturelle Gedächtnis“ verfügt wiederum über tradierte Erinnerungen, die mittelbar ein potentiell solidarisches Moment bereitstellen. Ich vermute, dass der „heimliche Index“ bei Benjamin ein in diesem Sinne verstandenes solidarisches Band zwischen den Geschlechtern bezeichnet. Tradierung bezeichnet eine Praxis, welche diese Erinnerungen zugänglich und sublim wieder erfahrbar macht. Aber eine Praxis setzt einen kleinen gemeinsamen Nenner des gedenkenden Kollektivs voraus. Diesen kleinen gemeinsamen Nenner möchte ich als einen gemeinsamen tradierten Erinnerungspool bezeichnen. Das „kommunikative Gedächtnis“ verständigt sich über sein „kulturelles Gedächtnis“, wohingegen das „kulturelle Gedächtnis“ im „kommunikativen Gedächtnis“ praktiziert wird. Ausschließlich die Kombination aus kommunikativem und kulturellem Gedächtnis kann historischer Verantwortung im Modus des Erinnerns gerecht werden. Der Ausgangsund Bezugspunkt (historisches Unrecht) ist im kulturellen Gedächtnis verortet, wohingegen die Bezugnahme (Formen historischer Verantwortung) im kommunikativen Gedächtnis vorgenommen wird. Das gemeinschaftliche und solidarische Element des kollektiven Erinnerns, sowie die Verständigung über einen gemeinsamen tradierten Erinnerungspool konstituieren ein gedenkendes Kollektiv. Vor dem Hintergrund eines konkreten historischen Unrechts sind dies die Nachfahren der Täter, die allerdings auf die kollektive Dimension des Gedenkens angewiesen sind, da durch sie die Relevanz spezifischer Vergangenheiten vermittelt wird. Erinnern bezeichnet ein Ethisches, was aber nicht dem Erinnern per se zu Eigen ist. Das Ethische begründet sich erst in der Differenz. Den Ausgangs- und Bezugspunkt der Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung bezeichnet ein historisches Unrecht. Es haben Menschen gelitten, und das Ethische im Erinnern kann sich ausschließ-
11 Assmann (1997): Das kulturelle Gedächtnis.
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lich mit Blick auf das Leiden der Opfer offenbaren. Es geht im ersten Modell darum, dass im Modus des Erinnerns die Opferperspektive eingenommen wird, welche ausschließlich historische Gerechtigkeit zu gewährleisten vermag. Das Erinnern bezeichnet nicht sogleich ein Ethisches, sondern die Voraussetzung für einen ethischen Umgang mit Vergangenheit und insofern historische Verantwortung. Ausschließlich im Bewahren der Differenz in den Bezugspunkten (Tat- und Leidensbezug) sowie zwischen den historischen Akteuren (Opfer und Täter) wird die Einzigartigkeit des Leidens der Opfer anerkannt. Leidenserinnerungen halten Zuschreibungen (historischer) Verantwortung lebendig, da sie auf einem empathieeinfordernden Geschichtsbewusstsein beruhen. Das Geschichtsbewusstsein, welches wiederum ein Bewusstsein von Zeitverläufen voraussetzt, ist die entscheidende Instanz des ersten Modells. Es hat das Erinnern zur Voraussetzung, da es Schneisen in die Geschichte schlägt. Benjamin bezeichnet das Eingedenken als „historische Zeitraffer“ und „Monumente eines Geschichtsbewusstseins“: „Der Tag, mit dem ein Kalender einsetzt, fungiert als ein historischer Zeitraffer. Und es ist im Grunde genommen derselbe Tag, der in Gestalt der Feiertage, die Tage des Eingedenkens sind, immer wiederkehrt. Die Kalender zählen die Zeit also nicht wie Uhren. Sie sind Monumente eines Geschichtsbewusstseins, von dem es in Europa seit hundert Jahren nicht mehr die leisesten Spuren zu geben scheint.“12
Die Kalender sind „Monumente eines Geschichtsbewusstseins“, da sie die „Uhren“ („natürliche Zeit“ [Améry]) stillstellen. Desgleichen bewirkt die von Améry geforderte „Aufhebung der Zeit“. Benjamin und Améry repräsentieren entsprechend ein dynamisches Geschichtsverständnis basierend auf der Vorstellung von Geschichte als einer unabgeschlossenen. Das ethische Gebot der Differenz für historische Verantwortung markiert gleichsam seine Grenzen, welche allerdings erst am Prüfstein (d.h. der Empirie) des spezifischen Gedenkens einsichtig wird. Die „Opferkonkurrenz“13 ist ein bereits unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg aufkommendes Phänomen. Doch mit dem zeitlichen Ab-
12 Benjamin (1992): Sprache und Geschichte, 151. 13 Siehe Chaumont: Die Konkurrenz der Opfer.
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stand von mehr als 60 Jahren drohen nicht nur die Grenzen zwischen den einzelnen Opfergruppen, die allesamt ein spezifisches Unrecht innerhalb eines spezifischen Unrechts erlitten haben, zu verwischen. Dasselbe gilt für die Grenze zwischen Opfergruppen vollkommen verschiedener historischer Unrechtsformen. Dies lässt sich bspw. am Gedenken zweier Opfergruppen am selben Ort veranschaulichen. In den Jahren von 1945 bis 1950 wurden in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) ehemalige Konzentrationslager wie bspw. Sachsenhausen und Buchenwald als Internierungslager benutzt. Man internierte hier u.a. mittlere Nazifunktionäre sowie (angeblich) nicht systemkonforme Mitbürger.14 Erst mit dem Fall der Mauer wurde die Geschichte der Sowjetischen Speziallager publik, und Internierte oder Angehörige von Internierten können seitdem eine Rehabilitation beantragen. Der entscheidende und problematische Punkt ist der, dass an einem Ort zweier verschiedener Opfergruppen gedacht wird, die sich mit Blick auf den Holocaust als dem Täterkollektiv und dem Opferkollektiv zugehörend gegenüberstehen. Hier zeigt sich die von Dan Diner problematisierte „Anthropologisierung des Leidens“.15 Dan Diner hat in seiner am 27.1. 2006 – Anlass war der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee – gehaltenen Rede vor dem Sächsischen Landtag von der Differenz des Sterbens gesprochen. Der scheinbar gleiche Tod der SS-Aufseherin und der Lagerinsassin durch die Bombardierung Dresdens ist nicht gleichzusetzen, da die Differenz nicht im Sterben, sondern in der Disposition zum Sterben begründet liegt: „Nicht im Schmerz des jeweils individuell erfahrenen Todes gilt es ihn [ein dem Sterben, dem Tod eingekerbter Unterschied] zu erkennen, sondern mittels der durch Urteilskraft angeleiteten Reflexion über die dem Sterben vorausgegangenen und in das Sterben eingehenden Differenz. Für die Toten hat dies
14 Siehe Mironenko/Niethammer/von Plato (Hg.) (1998): Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945–1950; Flocken/Klonovsky (1991): Stalins Lager in Deutschland 1945–1950; Reif-Spirek/Ritscher (Hg.) (1999): Speziallager in der SBZ; Timm (1992): Der Streit um Restitution und Wiedergutmachung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands; EnqueteKommission (1995): „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland“ im deutschen Bundestag. 15 Diner (2003): Anthropologisierung des Leidens.
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keine Bedeutung. Für die Nachwelt freilich handelt es sich um eine Verschiedenheit im Ganzen.“16
Das Konkurrieren zweier Gruppen um ihre historische Gerechtigkeit an einem Gedächtnisort, veranschaulicht die ethische Herausforderung historischer Verantwortung, die in der Differenz begründet liegt. Auch auf globaler Ebene diagnostiziert Diner ein „Zusammentreffen von distinkten, ja von gegenläufigen Gedächtniskulturen“ und prognostiziert „dass eine auf Gleichheit und Gleichwertigkeit aller Opfergedächtnisse pochende, unterschiedslose Vermenschheitlichung von Leiderfahrung zu einem Schwund historischer Urteilskraft führen, gar eine Erosion von Grundbegriffen der Vernunft nach sich ziehen werde.“17 Es ist ein Anliegen der vorliegenden Modelle, eine Differenzierung von Ansprüchen, die sich aus der Geschichte und des Menschen Geschichtlichkeit ergeben, zu leisten. Im ersten Modell bspw. widerfährt den Ansprüchen der Opfer Gerechtigkeit, während sich im zweiten Modell die Nachfahren der Täter kritisch um ihren Anspruch auf ihre historische Herkunft bemühen. Grundsätzlich aber gilt, dass: „die Distanzierung von den Selbstverständlichkeiten der Gegenwart aus der Erinnerung an unabgegoltene Hoffnungen […] ein grundlegender Vollzug ethischer Reflexion [ist].“18 1.2.2 Anamnetische Solidarität Die anamnetische Solidarität ist ein Synonym für historische Verantwortung im ersten Modell. Sie entspricht dem Anspruch derer, die in der Geschichte unschuldig gelitten haben, nicht vergessen zu werden. Nun charakterisiert Solidarität per se eine Begründungsparadoxie. Gemäß Kurt Bayertz19 gibt es drei „Fundierungsversuche“ (12) von Solidarität, die in der Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung aufschlussreich sind. Solidarität wird anthropologisch, soziologisch oder emotional begründet. Allerdings wirft die anthropologische
16 Diner (2006): Tod ist nicht gleich Tod. Siehe auch Diner (2007): Gegenläufige Gedächtnisse. (Hervorhebung von mir). 17 Diner (2006): Gedächtnis hier, Gedächtnis dort. Siehe auch Diner (2007): Gegenläufige Gedächtnisse. 18 Huber (1984): Erinnerung, Erfahrung, Erwartung, 328. 19 Bayertz (1995): Die Solidarität und die Schwierigkeit ihrer Begründung.
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Perspektive das Problem auf, dass mit dem Fokus auf das Wesen des Menschen die dem Phänomen der Solidarität inhärente Historizität ignoriert wird. Die soziologische Perspektive ignoriert wiederum mit dem Fokus auf das gemeinsame Interesse von Menschen den moralisch verpflichtenden Charakter der Solidarität. Als Bindeglied zwischen einer faktischen und einer normativen Dimension und Begründung von Solidarität werden „häufig Solidaritätsgefühle angeführt“, die aber noch keine ethische Rechtfertigung begründen. (12–13) Doch da ist die „(stillschweigende) Erwartung der Gegenseitigkeit“, welche Solidarität motiviert. In Anlehnung an Karl Otto Hondrich bezeichnet Bayertz Solidarität als „Verbundenheit durch latente Reziprozität“. (13, Hervorhebung im Text). Solidarität bezeichnet also kein „genuines Moralprinzip“, sondern ist „Ausdruck des langfristigen und wohlverstandenen Eigeninteresses der Individuen“ (13), was es mit Blick auf eine anamnetische Solidarität zu berücksichtigen gilt. Denn sie ist auch im Interesse der Nachfahren der Täter mit Blick auf das Leiden der Opfer an die Opfer und ihre Nachfahren gerichtet. Die anamnetische Solidarität bezeichnet zwei Seiten derselben Medaille, was schließlich anhand des ersten und des zweiten Modells deutlich werden wird. Denn während es im ersten Modell um eine an die Opfer und ihre Nachfahren gerichtete anamnetische Solidarität geht, geht es im zweiten Modell um eine anamnetische Solidarität – eben auch in Form einer „anamnetischen Kultur“ (Metz) – wegen und trotz der historischen Schuld auf Seiten der Nachfahren der Täter. Die Nachfahren der Täter können den Opfern und deren Nachfahren gegenüber eine anamnetische Solidarität in Form einer Erinnerungskultur leisten, wenn sie erkennen, dass der Anlass des Erinnerns mit ihnen zu tun hat. Ich behaupte, dass die Zugehörigkeit und das Zugehörigkeitsgefühl zum historischen Täterkollektiv ihren idealtypisch selbstkritischen Ausdruck in einer anamnetischen Solidarität finden. Schließlich sei hier auch auf zwei Auseinandersetzungen mit anamnetischer Solidarität verwiesen, die ihre Aporie zum Gegenstand haben. In Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie, Fundamentale Theologie widmet sich Helmut Peukert der Aporie anamnetischer Solidarität vor dem Hintergrund einer an Jürgen Habermas orientierten unbegrenzten Kommunikationsgemeinschaft, worauf Thomas McCarthy in Ideale und Illusionen: Dekonstruktion und Rekonstruktion in der kritischen Theorie Bezug nimmt. Peukert verortet die Aporie der anamnetischen Solidarität in der geschichtlichen Dimension „der unbegrenzten Kommunikations-
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gemeinschaft und ihre elementaren Bestimmungen der Reziprozität und der universalen Solidarität“.20 Er fragt, ob diese „auch in einer dialektisch-rekonstruktiven Geschichtstheorie“ Geltung beanspruchen kann. (303) In diesem Zusammenhang entfaltet Peukert die BenjaminHorkheimer-Debatte über die Un-Abgeschlossenheit von Geschichte und stellt Benjamin als einen Denker vor, der auch retrospektiv, d.h. anamnetisch Solidarität für gegeben erachtet. Schließlich aber widmet sich Peukert dem Paradox anamnetischer Solidarität, indem er hervorhebt, dass die Existenz der Nachfahren auf der Expropriation der Vorfahren gründet. Deswegen wird „die eigene Existenz […] von der Solidarität her, der sie sich verdankt, zum Selbstwiderspruch“ (309) Peukert geht es dabei als ein Vertreter der politischen Theologie um einen in der Praxis, d.h. Solidarität gelebten Glauben. Während er eine Differenzierung in Vorfahren und Nachfahren bzw. Tote und Lebende vornimmt, thematisiert er in dieser Auseinandersetzung mit der anamnetischen Solidarität diejenigen nicht ausreichend, die in der Vergangenheit unschuldig gelitten haben. Es geht nicht um alle Vorfahren, sondern um die, die unschuldig gelitten haben. Indem diese Differenzierung vorgenommen wird, bleibt zwar die Aporie grundsätzlich bestehen und wird doch etwas eingegrenzt. McCarthy sieht „die allgemeine Affinität […] zwischen der politischen Theologie und der sozialen Denktradition des westlichen Marxismus“ und hebt explizit den „Hoffnungshintergrund“, welchen die Religion auch retrospektiv mitliefert, in Abgrenzung zur kommunikativen Rationalität hervor: „Im Anschluss an Kant wird er geltend machen, dass die praktische Vernunft auch in der Form der kommunikativen Rationalität einen Hoffnungshintergrund braucht, um in moralischer und politischer Hinsicht sinnvoll zu sein. Und dieser Hoffnungshintergrund lässt sich nicht einfach, wie das in der marxistischen Tradition geschieht, in die Zukunft projizieren. Eine gerechte Gesellschaft, die in unbestimmter Zukunft von den Menschen errichtet wird, ist, wie Peukert ausführt, kein Ersatz für eine Versöhnung mit der in religiösem Glauben gegründeten Vergangenheit. Im politischen wie im moralischen Bereich muss auf die Frage ‚Was darf ich hoffen?‘ eine religiöse Antwort gegeben werden.“21
20 Peukert (1978): Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – fundamentale Theologie, 300. 21 McCarthy (1993): Ideale und Illusionen, 343–344.
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Hier seien kurz die Positionen von Benjamin, Améry und Metz zu anamnetischer Solidarität antizipierenderweise skizziert: Benjamin geht es um die „unterdrückte Vergangenheit“, d.h. den Anspruch der Toten auf eine anamnetische Solidarität. Er meint damit nicht alle Toten, d.h. alle Vorfahren, sondern die, die einstmals unterdrückt waren. Er scheidet die Menschen aus meta-historischer Perspektive in Opfer und Sieger, aber es geht ihm nicht um historische Verantwortung als Antwort auf historische Schuld. Améry fordert als Überlebender des Holocaust (d.h. Zeuge) historische Verantwortung auf Seiten der Täter und ihrer Nachfahren. Er klagt eine anamnetische Solidarität gegenüber den Opfern des Holocaust ein, d.h. den Toten, den Überlebenden und deren Nachfahren. Metz, selbst Mitglied des Täterkollektivs, fordert in seinem Plädoyer für eine anamnetische Kultur auf Seiten der Täter und ihrer Nachfahren eine anamnetische Solidarität den Toten und den Lebenden gegenüber. Während Améry eine solche aus der Perspektive der Opfer als Opfer einfordert, fordert Metz die Opferperspektive bei den Nachfahren der Täter ein, was allerdings voraussetzungsreich ist. Nur auf der Basis eines kritischen historischen Selbstverständnisses der Nachfahren der Täter kann in Kombination mit einem empathischen Geschichtsbewusstsein die Opferperspektive eingenommen werden. Die Opferperspektive (Fremdbezug) hat den Selbstbezug zur Voraussetzung: der Holocaust kann nur im Wissen und Bewusstsein von seiner Geschichte, und das heißt auch seiner Dimension und Bedeutung für einen selbst nicht vergessen werden und d.h. unbewältigt bleiben. Die Opfer und Täter sowie deren Nachfahren eint eine Geschichte, doch differieren ihre Ansprüche an eine anamnetische Solidarität aufgrund ihrer fundamental differenten Geschichten, d.h. der verschiedenen historischen Bezugspunkte (LeidensbezugTatbezug). Die Opfer und ihre Nachfahren haben Anspruch auf eine anamnetische Solidarität von Seiten der Täter und ihrer Nachfahren auf Grund der Taten ihrer Vorfahren. Die Nachfahren der Täter hingegen schulden sich selbst mit Blick auf die Opfer und ihren Nachfahren eine anamnetische Kultur. Im Folgenden werde ich mich mit dem zentralen Aspekt der Zeugenschaft beschäftigen.
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1.2.3 Motiv der Zeugenschaft Erinnerungen bezeichnen im Gedächtnis eingekapselte direkte Erfahrungen. Wenn Erinnerungen überliefert werden, werden sie dem Erfahrungsraum der Zuhörerschaft anheim gegeben. Es ist diese Erfahrungsdimension des Erinnerns, die die Relevanz des ersten Modells begründet. Im Erinnern wird die Vergangenheit aufgehoben und bewahrt. Während Zeitzeugen von Erlebtem, Erfahrenem und Beobachtetem zu Lebzeiten Zeugnis geben, sie gewissermaßen Augenzeugen sind, sind Nachfahren gewissermaßen Ohrenzeugen, weil sie das, wovon Zeugnis gegeben wurde, ausschließlich aus Erzählungen kennen. Hier erschließt sich die fundamentale Bedeutung und Dimension der kulturellen Praxis des Erinnerns. Entscheidend ist hier, dass Zeitzeugen nicht nur Erinnerungen hinterlassen, sondern gleichfalls das Motiv der Zeugenschaft (Es soll nicht vergessen werden). Das Motiv der Nachfahren ist nicht das Weiterreichen einer unmittelbaren leidvollen Erfahrung, sondern das Weiterreichen des Wissens um das historische Unrecht. Ulrich Baer leitet aus der moralischen Instanz der Zeugenschaft automatisch Verantwortung ab: „Sie impliziert, zumindest teilweise Verantwortung für die von anderen bezeugte Wirklichkeit zu übernehmen. Es geht um die Verpflichtung und um die Möglichkeit, ‚für den Zeugen zu zeugen‘, indem wir auf die in jedem Zeugnis erhaltene Aufforderung zum Zuhören und zur Antwort dadurch reagieren, dass wir für die Wahrheit der bezeugten Erfahrung mitverantwortlich werden.“22
Baer konstatiert nun eine „radikale Krise der Zeugenschaft“ (13) durch den „Zivilisationsbruch“ (Diner).23 Sie liegt in den an diesem Menschheitsverbrechen offenbar gewordenen Grenzen des Be-Zeugens und in dem Verlust der Authentizität durch das Sterben der Zeitzeugen begründet. Die Zeugenschaft konstituiert sich aus dem Zeugen, dem
22 Baer (Hg.) (2000): Niemand zeugt für den Zeugen, 7. (Hervorhebung von mir). 23 Vgl. Felman/Laub (1992): Testimony: crises of witnessing in literature, psychoanalysis, and history. Silke Segler-Messner macht darauf aufmerksam, dass Baer die „Krise der Zeugenschaft“ von Shoshana Felman und Dori Laub übernimmt, ohne dies kenntlich zu machen. Segler-Messner (2005): Archive der Erinnerung, 12.
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Zeugnis, dem Zeugnis geben und dem Bezeugten. Der Zeuge ist der Überlebende (Zeitzeuge, Augenzeuge) von historischem Unrecht, der aufgrund seiner Erfahrungen authentisch bezeugen kann, dass und wie es stattgefunden hat. Hier erschließt sich die fundamentale Instanz der Überlebenden als Zeugen für das erste Modell. Sie personifizieren, repräsentieren und artikulieren die Opferperspektive, welche in Form des Zeugnisgebens beglaubigt, dass und wie das Bezeugte sich zugetragen hat. Das Bezeugte gilt es noch einmal zu differenzieren in die Ereigniszeit des historischen Unrechts und deren Nachgeschichte vor allem mit Blick auf den Umgang mit diesem historischen Unrecht. Améry ist Zeitzeuge dessen, was bis 1945 geschah, und er ist ebenso Zeitzeuge als Zeitgenosse nach 1945. Die Gegenwart ist immer inbegriffen im „Akt des Bezeugens“. Dieser könne laut Hartmann „nicht ohne eine gewisse Zukunftshoffnung stattfinden, nicht ohne Hoffnung auf eine generationsübergreifende Weitergabe. Vielleicht setzt alles Schreiben diese Hoffnung voraus (…).“24 Indem der Überlebende im Modus des Erinnerns seine Erfahrungen erzählt, gibt er sie weiter an einen Zuhörer. Die Zuhörerschaft ist das notwendige Korrelat zur Zeugenschaft, damit diese wirksam werden kann. Wirksam im zweifachen Sinne: erstens in seiner Bedeutung für den Überlebenden, seine traumatischen Erfahrungen zu teilen (was eine Form des Mitteilens zur Voraussetzung hat) sowie seinem Anspruch historischer Verantwortung zu entsprechen (für die Toten zu sprechen bzw. Zeugnis zu geben) und zweitens in seiner Bedeutung für alle Zuhörer, das Gehörte nicht zu vergessen und weiter zu erzählen. Baer beschreibt „das Wesen der Zeugenschaft als dialogischen Aufruf und Appell an die Verantwortung.“25 Die Zuhörerschaft ist in die unmittelbaren und die mittelbaren bzw. sublimen Zuhörer (Ohrenzeuge, „stellvertretende oder auch sekundäre Zeugen“26) unterteilt. Während die unmittelbaren Zuhörer das Zeugnis direkt vom Zeitzeugen hören, erschließt sich dieses den mittelbaren Zuhörern nur in überlieferter Form. Am Begriff der Zeugenschaft selbst muss der Paradigmenwechsel von authentischer Erfahrung hin zu Wissen durchdekliniert werden. Während Hartmann von einer „in-
24 Hartman (2000): Intellektuelle Zeugenschaft und die Shoah, 51. 25 Baer (Hg.) (2000): Niemand zeugt für den Zeugen, 16. 26 Hartman (2000): Intellektuelle Zeugenschaft und die Shoah, 36.
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tellektuellen Zeugenschaft“27 spricht, plädiere ich in Anlehnung an Baers „Zeugenschaft durch Vorstellungskraft“ für eine mimetische Zeugenschaft.28 Vorrangig geht es doch um die Notwendigkeit des Nachvollziehens von dem, wovon Zeugnis gegeben wird und um das Bemühen darum. Die Vorstellungskraft ist das entscheidende Vehikel für den Umgang mit Geschichte. Sämtliche Nachfahren sind auf mimetische Vermittlung dessen, wovon Zeugnis gegeben wurde/wird, angewiesen, und können sich in Folge dessen einfühlen (im Sinne von nachvollziehen). Anamnetische Solidarität hat Empathie zur Voraussetzung, welche über die Vorstellungskraft (so es um Abwesendes und Anwesendes geht) erreicht, geweckt und entwickelt werden kann, was wiederum nur ein empathiegeleitetes Geschichtsbewusstsein zu gewährleisten vermag. Dem Einwand gegen das empathische Primat im Sinne eines Betroffenheitspathos kann mit dem dritten Modell begegnet werden. Die historische Urteilskraft ist ebenso relevant wie ein gewisses Maß der Einfühlung. Sie sind aber jeweils nicht ausschließlich relevant. Vielmehr geht es darum, dass „durch den Diskurs der Zeugen […] die Bildung eines historischen Urteils […] in Frage gestellt [wird]“: „Ob deshalb aus historischer Perspektive grundsätzlich an dem Wahrheitsgehalt der Zeugenrede zu zweifeln ist, erscheint in Anbetracht der unumgänglichen Relativität, die jeder Darstellung geschichtlicher Wirklichkeit inhärent ist, voreilig und ungerechtfertigt. Durch den Diskurs der Zeugen wird weniger die Beweiskraft ihrer Worte als die Bildung eines historischen Urteils auf der Grundlage einer strikten Trennung von Geschichte und Erinnerung in Frage gestellt. Die vielfach postulierte Unmöglichkeit, die Shoah als ‚vergangen‘ zu qualifizieren, verweist auf die unlösbare Verbindung dieser beiden Instanzen.“29
Die Leidenserinnerungen bezeichnen das Opfergedächtnis und somit das originäre Zeugnis vom historischen Leiden. Hier wird die moralische Autorität der Zeugen als Instanz gesetzt, die Avishai Margalit in seinem Buch The Ethics of Memory im „moral witness“ konstatiert.30
27 Hartman (2000): Intellektuelle Zeugenschaft und die Shoah. 28 Baer (Hg.) (2000): Niemand zeugt für den Zeugen, 11. 29 Segler-Messner (2005): Archive der Erinnerung, 17. 30 Siehe Margalit (2002): The Ethics of Memory, 147ff.
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Jan Philipp Reemtsma bezeichnet die Memoiren Überlebender, die nicht nur Opfer sondern auch Zeugen von historischem Unrecht waren, als eine neue Literaturgattung mit „moralischer Autorität“: „Die Frage nach dem Woher der moralischen Autorität dieser Memoiren Überlebender lässt sich beantworten: nur in diesen Texten wird das Ausmaß der Zivilisationskatastrophe, weil im Detail zur Kenntnis genommen, nicht verleugnet.“31
Historische Verantwortung sieht sich zunehmend damit konfrontiert, dass die Zeitzeugen nicht mehr leben, und dass die durch sie personifizierte Authentizität nur noch in der Überlieferung bewahrt zu werden vermag. Das zu Erinnernde muss überliefert werden, um nicht vergessen werden zu können. Überlieferungen bestehen wiederum aus Erinnerungen, woran die gegenseitige Verwiesenheit des ersten und zweiten Modells deutlich wird. Das Medium aber für die Überlieferung der Leidenserinnerungen kann nur eine „anamnetische Kultur“ (Metz) sein. Yosef Hayim Yerushalmi artikuliert im folgenden Zitat den Konnex von Erinnerung und Gerechtigkeit: „Ist das Antonym zu ‚vergessen‘ möglicherweise nicht ‚erinnern‘, sondern Gerechtigkeit?“32 Es ist bezeichnend und wiederum nicht verwunderlich, dass historische Verantwortung in Erinnerungsberichten Überlebender reflektiert wird. Exemplarisch zitiere ich hier Irene Eber: „Weil wir am Leben waren statt all der Menschen, die gestorben waren, hatten wir nun eine Verantwortung nicht nur uns selbst, sondern auch den Toten gegenüber, für die wir sprechen mussten. Was war das für eine Verantwortung, eine Bürde, die wir auf uns nehmen mussten? Nach und nach lernte ich etwas über Freiheit und über Entscheidungen und darüber, dass Leben Verantwortung übernehmen bedeutet. Mir wurde auch bewusst, dass wir, die ins Leben zurückgekehrt waren, niemals ein Leben führen konnten, wie die, die nicht da gewesen waren, wo wir gewesen waren.“33
31 Reemtsma (1997): Die Memoiren Überlebender, 36. 32 Yerushalmi (1993): Ein Feld in Anatot, 20. (Hervorhebung im Text). 33 Eber (2007): Ich bin allein und bang, 205. (Hervorhebung von mir). Irene Eber ist emeritierte Professorin der Hebräischen Universität in Jerusalem für Asiatische Studien.
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In den Worten Irene Ebers ist die „stellvertretende Zeugenschaft“ der Überlebenden für die Toten repräsentiert. In ihrem Erinnerungsbericht „erhält das Zeugnis als narrative Wiedergabe des Gewesenen seine ethische Legitimation, insofern sich in ihm der Wille, nicht zu vergessen artikuliert.“34 Margalit hebt den Erfahrungsbezug des Leidens in Konfrontation „with external evil“ als konstitutiv für den „moral witness“ hervor. Ferner stellt er fest: „The adjective moral has to do with the content of the testimony, not with the epistemological status of what the moral witness witnessed“.35 Der „moral witness“ schreibt seiner „testimonial mission […] a moral purpose“ (151) und seinem Zeugnis einen „intrinsic value“ (167) zu, wie es in dem Erinnerungsbericht Irene Ebers sowie den Ressentiments von Améry exemplarisch zum Ausdruck kommt. Der „moral witness“ erschließt denen, die nicht dabei waren und d.h. auch den Nachfahren „what it was like to be subjected to evil“ (168). Die Überlieferung der authentischen Erfahrung schafft die Voraussetzung, um das Erlebte nachvollziehen zu können, und infolgedessen Empathie, d.h. eine Grundvoraussetzung für anamnetische Solidarität: The „moral witness“ has to live in order to serve“ (154), wie es sich in den zuvor zitierten Worten Irene Ebers widerspiegelt. Während der Zeitzeuge authentisch Zeugnis zu geben vermag, geht diese Authentizität mit dem Sterben der Zeitzeugen verloren. Authentizität ist personenbezogen. Die authentische Erfahrung ist wahr in Bezug auf das, wovon sie erzählt. Das ist nicht Geschichte an sich, sondern Erfahrung in einem spezifischen historischen Kontext, und nur von dem kann Zeugnis gegeben werden. Aber, und das ist entscheidend, es kann auch beim Zeugen eine Ambivalenz hinsichtlich der faktischen und fiktionalen Elemente seiner Erinnerungen bestehen. Grund dafür ist die traumatische Erfahrung und aber auch grundsätzlich die Fülle von Erfahrungen, welche gefiltert werden müssen. Hier sei auch exemplarisch Irene Eber aus ihrem Erinnerungsbuch zitiert: „Vielleicht spielt mir ja das Gedächtnis einen Streich, denn wer kann sich an Träume aus so lang zurückliegender Zeit erinnern? Träumte ich damals oder später? Welcher Teil war real, welcher Teil ein Traum? Oder erinnere ich mich an die Träume, weil meine Gefühle heute zwiespältig sind und ich ein schlech-
34 Segler-Messner (2005): Archive der Erinnerung, 37-38. 35 Margalit (2002): The Ethics of Memory, 163-164, 176.
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tes Gewissen habe wegen meiner damaligen Gefühle Esther [die Cousine Irene Ebers, die während des Zweiten Weltkriegs umgekommen ist; JT] gegenüber?“36
Warum aber verliert das Zeugnis an Authentizität, wenn der, der es originär bezeugt, nicht mehr am Leben ist? Was macht es für einen Unterschied – im Hinblick auf die Frage der Authentizität –, ob jemand zu Amérys Lebzeiten dessen Ressentiments liest oder ich heute als Deutsche der dritten Generation oder wiederum Deutsche der sechsten Generation? Wie verhält es sich mit der den Überlebenden bescheinigten moralischen Instanz, die sich u.a. darin manifestiert, dass sie authentisches Wissen über eine bestimmte historische Wirklichkeit haben? Es ist der Aspekt der Stellvertretung, den es hier zu differenzieren gilt. Zwar kann das Zeugnis in Stellvertretung für den Augenzeugen vom Ohrenzeugen weiter gegeben werden, nicht aber dessen moralische Integrität. Die „Krise der Zeugenschaft“ gründet auch darin, dass zwar die moralische Integrität bezeugt, nicht aber weiter gegeben werden kann. Doch der Verlust der Zeitzeugen als moralische Instanz entbindet nicht von der moralischen Verantwortung der Zeugenschaft aller. „Diese Authentizität ist zeitübergreifend und insofern prä-historisch, als sie die für den historischen Charakter der Vergangenheit konstitutive Zeitdifferenz noch nicht aufweist. Sie geht aber in die Historizität des Vergangenheitsbezuges konstitutiv ein, da mit ihr die für diese Historizität notwendige Bedingung erfüllt werden kann, die Zeitdifferenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart (narrativ) zu überbrücken, d.h. zwischen dem Differenten genau den Sinn- und Bedeutungszusammenhang herzustellen, in dem und durch den Vergangenheit als Vergangenheit Geschichte ist. Die Authentizität konstitutiver Erinnerungen, wie sie vor allem den überlebenden Opfern zugebilligt wird, ist eine metahistorische Größe.“37
Die Erinnerungen von Zeugen erschließen der Nachwelt den „Sinnund Bedeutungszusammenhang“ von Geschichte und sind deswegen von metahistorischem Charakter. Aber abgesehen von der Tatsache, dass Zeugen der Nachwelt eine Brücke zum Erfassen der von ihnen
36 Eber (2007): Ich bin allein und bang, 126. 37 Rüsen (1999): Die Logik der Historisierung, 31. (Hervorhebung im Text).
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erlebten Geschichte bereitstellen, ist es der Ausgangs- und Bezugspunkt der Zeugenschaft, der zentral ist. Dies ist das historische Leiden, von dem die Zuhörerschaft schließlich weiß. Gemäss Baer ist die „vermittelnde Funktion“ der Zeugen entscheidend.38 Das gleiche gilt für die wissende Zuhörerschaft, von der Jean Améry schreibt: „Hält aber unser Ressentiment im Schweigen der Welt den Finger aufgerichtet, dann würde Deutschland vollumfänglich und auch in seinen künftigen Geschlechtern das Wissen bewahren, dass es nicht Deutsche waren, die die Herrschaft der Niedertracht beseitigten. Es würde dann, so hoffe ich manchmal, sein vergangenes Einverständnis mit dem Dritten Reich als die totale Verneinung nicht nur der mit Krieg und Tod bedrängten Welt, sondern auch des eigenen besseren Herkommens begreifen lernen, würde die zwölf Jahre, die für uns andere wirklich tausende waren, nicht mehr verdrängen, vertuschen, sondern als seine verwirklichte Welt- und Selbstverneinung, als sein negatives Eigentum in Anspruch nehmen.“39
Hier nimmt Améry bereits ein zentrales Moment des zweiten Modells vorweg, indem er mit dem Verweis auf „das eigene bessere Herkommen“ an die Dankbarkeit der Nachfahren appelliert. Eine solche speist sich nicht aus der absurden Vorstellung von der „Gnade der späten Geburt“40, sondern aus der schlichten Anerkennung seiner historischen Herkunft, wie sie im zweiten Modell schließlich bei Karl Jaspers, Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel hervorgehoben wird. Améry votiert hier für das Überliefern und das Bewahren vom „Wissen“ um die historische Schuld auf Seiten der Nachfahren der Täter. Dies setzt aber ein empathisches Geschichtsbewusstsein voraus, um gerade die Differenz der Erinnerungen bewahren zu können. Das ‚kalte‘ Wissen um die Geschichte muss ergänzt sein mit Fragmenten von Lebensgeschichten, welche Erfahrungsräume und -dimensionen er-öffnen, was
38 Baer (Hg.) (2000): Niemand zeugt für den Zeugen, 24. 39 Améry (20045): Jenseits von Schuld und Sühne. 124-125. (Hervorhebung von mir). 40 Am 24. Januar 1984 eröffnete der deutsche Bundeskanzler, Helmut Kohl, seine Rede vor dem israelischen Parlament, der Knesset, mit den Worten: „Ich rede vor Ihnen als einer, der in der Nazizeit nicht in Schuld geraten konnte, weil er die Gnade der späten Geburt und das Glück eines besonderen Elternhauses gehabt hat.“
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im Besonderen Erinnerungsberichte leisten. Es geht um die Syntheseleistung des Geschichtsbewusstseins: „Die Arbeit des Geschichtsbewusstseins kann als ein Vorgang beschrieben werden, in dem eine solche Vorstellung der zeitlichen Ordnung des menschlichen Lebens hervorgebracht wird. Als Material dazu zieht das Geschichtsbewusstsein die Erfahrung des zeitlichen Wandels von Mensch und Welt heran, die in den Räumen der Erinnerung bewahrt ist. Durch Deutung gibt das Geschichtsbewusstsein dieser Erfahrung einen Sinn, der sich im Verständnis der gegenwärtigen Welt austrägt. Auf diese Weise befähigt es die Menschen, Zukunft zu erwarten und ihre Lebenspraxis mit einer Zukunftsperspektive zu organisieren, die der Erfahrung der Vergangenheit entspricht. Erfahrung und Erwartung werden in Geschichte synthetisiert, die die Zukunft in der Vergangenheit spiegelt.“41
Verkürzt könnte man hier sagen, dass die Zukunft die Vergangenheit zur Voraussetzung hat, womit die Relevanz der Vergangenheit evident ist. Aber es geht hier um eine bestimmte Vergangenheit, die – in den Worten Amérys – normativ den Anspruch, mindestens nicht vergessen zu werden, erhebt. Wem gegenüber wird Zeugnis gegeben bzw. wem ist es geschuldet? Das sind zunächst und grundsätzlich die Opfer, d.h. die Toten, für die die Überlebenden (Zeitzeugen) zeugen sowie die Überlebenden, die Zeugnis geben und schließlich sämtliche Ohrenzeugen, die unmittelbaren wie die mittelbaren. Zwar ist die Erzählerschaft des Zeitzeugen (Augenzeuge) ob seiner Erfahrung und der darin begründeten Authentizität singulär und nicht zu ersetzen. Dies kann die Zuhörerschaft der Ohrenzeugen nur mit historischem Wissen und Geschichtsbewusstsein kompensieren, wie es Baer entsprechend in der „Zeugenschaft durch Vorstellungskraft“ oder „Zeugenschaft der Erinnerung“ einzufangen versucht.42 Die zentrale Frage ist allerdings, ob eine „stellvertretende Zeugenschaft“ überhaupt möglich und auch ethisch geboten ist? Können und sollen die Ohrenzeugen und d.h. auch die Nachfahren für die Augenzeugen zeugen? Wie sollen sie das, wenn sie die Erfahrung nicht teilen, da sie schlicht nicht am Leben waren? Der entscheidende Punkt ist hier, dass Erfahrung auf dem Wege von Ge-
41 Rüsen (Hg) (1998): Die Vielfalt der Kulturen, 51-52. 42 Baer (Hg.) (2000): Niemand zeugt für den Zeugen, 11.
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schichtsbewusstsein in Wissen transzendiert. Zeugenaussagen vermitteln nicht nur Wissen von Geschichte, sondern auch ein Verständnis von Geschichte in seiner Vergänglichkeit und Jetztzeit. Zeugenschaft, auch die überlieferte, verpflichtet, weil wir wissen. „Zu wissen, was passiert ist, es nicht zu vergessen, ohne das Geschehene jemals vollständig zu begreifen, avanviert demnach zum Diktum, das jedem Schreiben, das sich dem Unmöglichen aussetzt, und jedem Lesakt, der das Vergessene aufzuspüren sucht, vorausgeht.“43
An dieser Stelle möchte ich kurz darauf eingehen, dass dem Erinnern in den letzten zwei Jahrzehnten vermehrt Aufmerksamkeit zuteil geworden ist. Mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems ist eine zunehmende akademische Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Erinnerns zu verzeichnen, welche sich gleichermaßen in der kulturellen Praxis in Europa widerspiegelt. Dies hat viele Gründe, die aufzuzeigen nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist. Es seien lediglich drei benannt: Erstens hat das Öffnen der Grenzen Archive zugänglich gemacht, was mit neuen Perspektiven auf und Fragen an die Zeitgeschichte einherging. Dies gilt für das historische Wissen in West und Ost gleichermaßen. Zweitens und damit einhergehend hat der Zusammenbruch des sozialistischen Systems zu neuen oder neu aufgelegten alten historischen Ansprüchen in Ost und West beigetragen. Denn die jeweiligen identitätsstiftenden historischen Narrative wurden ebenso hinterfragt. Sie bestehen aus Erinnerungen, da in diesen die jeweiligen historischen Ansprüche eingekapselt sind. Erinnerungen sind immer konkret und identitätsbezogen. Drittens ging der Zusammenbruch des Sozialismus mit einem Utopieverlust einher. Die vormals einzig denkbare Alternative zum kapitalistischen System ist in ihrer realgeschichtlichen Form gescheitert. Die Ideologie des Kommunismus hingegen barg einen Zeitkern, der in die Zukunft mit einem Versprechen auf bessere und vor allem gerechtere Zeiten verwies. Nunmehr steht die westliche Welt an einem Scheidepunkt mit beschränkt verheißungsvollen Aussichten in die Zukunft. An diesem Scheidepunkt sind zwei interessante Phänomene zu verzeichnen, die miteinander in Verbindung stehen. Francis Fukuyama diagnostizierte Anfang der 1990er Jahre das „Ende der Geschichte“, mit welchem er
43 Segler-Messner (2005): Archive der Erinnerung, 28.
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gleichermaßen einen historischen End- und Zielpunkt kennzeichnete, da in der Geschichte alle bis dahin denkbaren Optionen durchgespielt worden seien.44 Schließlich scheint der Verlust von Zukunftsvisionen (und das heißt auch Zukunftsoptionen) mit einer rückwärtsgewandten Fortschrittlichkeit zu korrespondieren. Zugespitzt könnte man sagen, je weniger die Zukunft zu versprechen vermag, desto mehr gewinnt die Vergangenheit an Relevanz. Die Vergangenheit fungiert gewissermaßen als Projektionsfläche, Kompensator und allen voran Identitätsbestand in einer Zeit mit beschränkter Aussicht auf die Zukunft. Johann Baptist Metz macht in seiner Stellungnahme zur – in Anlehnung an das Werk Karl Jaspers – Geistigen Situation der Zeit allerdings schon im Jahre 1979 auf den fatalen Verlust von Vertrauen in die Zukunft aufmerksam: „Wer möchte hier auf die puren Reserven der Gleichzeitigkeit vertrauen, auf den ausschließlich ‚gleichzeitigen Menschen‘, den ohnehin vor seiner Zukunft so graut, dass er, wie noch keine Generation vor ihm, nicht mehr sein eigener Nachfahre sein möchte.“45
Wolfgang Huber betont schließlich, dass „gegenüber dieser Eindimensionalität alltäglicher Zeiterfahrung […] die Religion durch Ungleichzeitigkeit gekennzeichnet [ist]“, da sie „in der Wahrnehmung der Differenz der Modi der Zeit die Differenz zwischen Gott und Mensch zur Erfahrung [bringt]“.46 Ich werde im Folgenden dieses Koordinatensystem für das Erfassen historischer Verantwortung in Form von Erinnern von Vergangenheit wieder aufgreifen.
44 Fukuyama (1992): The End of History and the Last Man. 45 Metz (1979): Produktive Ungleichzeitigkeit, 537. 46 Huber (1984): Erinnerung, Erfahrung, Erwartung, 324.
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1.3 W ALTER B ENJAMINS V ORSTELLUNG VON G ESCHICHTE 1.3.1 Die Benjamin-Horkheimer-Debatte Den Geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins geht die Auseinandersetzung um die Abgeschlossenheit und/oder Unabgeschlossenheit der Vergangenheit aus dem Jahre 1937 voraus. In einem Aufsatz über Eduard Fuchs in der Zeitschrift für Sozialforschung schreibt Benjamin unter kritischer Bezugnahme auf dessen Vorstellung von Kulturgütern: „Das Werk der Vergangenheit ist ihm [dem historischen Materialisten; JT] nicht abgeschlossen. Keiner Epoche sieht er es dinghaft, handlich in den Schoß fallen, und an keinem Teil.“47
Dass Fuchs die Kulturgüter nicht historisierte, sondern sie gewissermaßen aus der Zeit herausnahm, scheint der Auslöser für die Aussage Benjamins von der Unabgeschlossenheit des Vergangenen zu sein. Ohne, dass es an der Stelle explizit artikuliert wird, greift er den zentralen Topos der von ihm im Jahre 1940 geschriebenen Geschichtsphilosophischen Thesen auf: die Vorstellung von Geschichte. Max Horkheimer ist es schließlich, der der Aussage Benjamins in Briefform entschieden widerspricht: „Die Feststellung der Unabgeschlossenheit ist idealistisch, wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist. Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen.“48
Indem Horkheimer auf eine konkrete Vergangenheit in Form von „vergangenem Unrecht“ rekurriert, problematisiert er die Aussage Benjamins. Unter Bezugnahme auf „vergangenes Unrecht“ muss die
47 Walter Benjamin, Ausgewählte Schriften II 311, zitiert nach: Peukert (1978): Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – fundamentale Theologie, 305. 48 Max Horkheimer, Brief vom 16.3.1937 an Walter Benjamin, unv. Ms., zitiert nach: Peukert (1978): Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – fundamentale Theologie, 305.
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Aussage Benjamins zynisch klingen, so dass sich Horkheimer veranlasst sieht, diese in ihrer konkreten Bedeutung und Bedeutsamkeit für die Vorwelt zu relativieren. Horkheimer verneint die Möglichkeit, das Leiden ungeschehen zu machen, und insofern ist die Vergangenheit abgeschlossen. Das Faktum des Todes kann nicht revidiert werden. Horkheimer dementiert die von Benjamin suggerierte erlösende Rückwirkung von Vergangenheit und somit jegliche theologische Dimension in der Betrachtung von Geschichte. Schon 1934 artikuliert er diese Position eindeutig: „Alle diese Wünsche nach Ewigkeit und vor allem nach dem Eintritt der universalen Gerechtigkeit und Güte sind dem materialistischen Denker mit dem religiösen, im Gegensatz zur Stumpfheit der positivistischen Haltung, gemeinsam. Wenn dieser aber bei dem Gedanken, der Wunsch sei ohnehin erfüllt, sich beruhigt, so ist jener von dem Gefühl der grenzenlosen Verlassenheit des Menschen durchdrungen, das die einzige wahre Antwort auf die unmögliche Hoffnung ist.“49
Darauf scheint Benjamin im Entwurf zu den Passagen zu erwidern: „Das Korrektiv dieser Gedankengänge liegt in der Überlegung, dass die Geschichte nicht alleine eine Wissenschaft, sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft ‚festgestellt‘ hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.“50
In diesem kurzen Argumentationsaustausch, der bereits 1934 begann und 1937 ungebrochen relevant ist, wird die Essenz der Geschichtsphi-
49 Max Horkheimer, Kritische Theorie I 198 (aus dem Jahre 1934), zitiert nach: Peukert (1978): Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – fundamentale Theologie, 306. 50 Walter Benjamin, Passagen, Konvolut N, Bl. 8, unv. Ms., zitiert nach: Peukert (1978): Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – fundamentale Theologie, 307.
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losophischen Thesen Benjamins mit Bezug auf historische Verantwortung vorweggenommen. Bevor ich mich allerdings diesen zuwende, möchte ich die Quintessenz aus der Debatte um die Abgeschlossenheit und/oder Unabgeschlossenheit der Vergangenheit skizzieren, da sie in der Fortschreibung in den Geschichtsphilosophischen Thesen Benjamins lediglich ihre Fundierung erfährt. Die Vorstellung von Geschichte ist von entscheidender Relevanz bei der Frage nach historischer Verantwortung, da sie im Zentrum „der Konstruktion einer kritischen Beziehung zur Vergangenheit“ steht.51 Denn jede Form der Bezugnahme auf Vergangenheit orientiert sich an einer Vorstellung von Geschichte. Man kann sogar zugespitzt formulieren, dass unsere Vorstellung von Geschichte unsere Bezugnahme auf Vergangenheit prägt. Dies wird im Folgenden an zentralen Punkten in der Auseinandersetzung mit Walter Benjamin, Jean Améry und Johann Baptist Metz herausgearbeitet werden. Alle drei plädieren für die Vorstellung von Geschichte als einer unabgeschlossenen, da nur eine solche die Menschen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit Mündigkeit ausstattet. Schließlich gilt es aber den Anlass historischer Verantwortung zu berücksichtigen. In dem Bewusstsein, dass es um die direkten und indirekten Opfer von historischem Unrecht geht, werden die direkten, d.h. nicht mehr lebenden Opfer trotz der Abgeschlossenheit und die indirekten Opfer wegen der Unabgeschlossenheit adressiert. Das historische Unrecht ist als Tat abgeschlossen, wohingegen dasselbe in seiner Wirkmächtigkeit (ongoing impact) unabgeschlossen ist. Es nimmt nicht Wunder, dass die Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung in dieser Differenzierung ihren Ausgangspunkt hat. Die Abgeschlossenheit gilt als Fakt für die Unbeteiligtheit der Nachfahren am von den Vorfahren begangenen oder geduldeten Unrecht und spricht sie frei von historischer Verantwortung.52 Die Unabgeschlossenheit fungiert wiederum gerade als Begründung für historische Verantwortung.53 Aber da Horkheimer selbst schreibt, dass die Annahme einer Unabgeschlossenheit idealistisch sei, wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen sei, dementiert er Benjamins Aussage nur insoweit er sie erweitert. Der entscheidende Punkt mit Blick auf die
51 Gagnebin (2006): Über den Begriff der Geschichte, 286. (Hervorhebung im Text). 52 Vgl. Leist (1990): Deutsche Geschichte und historische Verantwortung. 53 Vgl. Löw-Beer (1990): Die Verpflichtung der unschuldig Nachgeborenen.
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Toten ist, dass sie bleiben – eben in der Erinnerung –, dass weder Erbe noch Würde der Toten tot sind, und insofern die nachträgliche Solidarität weder unmöglich noch widersinnig ist, da sie eine spirituelle ist. Es ist zu berücksichtigen, dass Benjamin weder 1934 noch 1937 und auch nicht 1940 (während der Niederschrift der Geschichtsphilosophischen Thesen) um die Dimension des (bevorstehenden) Holocaust wissen kann. Trotzdem trägt die Entstehungsdimension der Thesen das Signum einer existentiellen und politischen Not. Benjamin emigriert 1933 aus Deutschland, aus dem er 1939 offiziell ausgebürgert wird. In seinem Pariser Exil kann er mehr schlecht als recht seinen Lebensunterhalt bestreiten, und schließlich hat der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 großen Anteil an der politischen Desillusionierung Benjamins: „Wer sie [die Geschichtsphilosophischen Thesen; JT] heutzutage erneut liest, darf weder die Krisensituation, der sie entstammen, noch den konkreten politischen Zeitpunkt der Lektüre und das damit einhergehende Wagnis umgehen. Dieser Text verlangt nach einer ‚engagierten‘ Lektüre, die ihre eigene Gegenwart zu denken wagt.“54
1.3.2 Geschichtsphilosophische Thesen Der herausragende Beitrag Walter Benjamins für die Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung liegt in seiner Differenzierung dessen begründet, „dass die Geschichte nicht alleine eine Wissenschaft, sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens“ sei.55 Er antizipiert auf metahistorischer Ebene den für historische Verantwortung charakteristischen Spagat zwischen dem Faktum der Uneinholbarkeit der Geschichte und dem ethischen Gebot, das die Vergangenheit aufwirft: die Vergangenheit hat ein Recht darauf, nicht vergessen zu werden. Aber es geht ihm um die „unterdrückte Vergangenheit“, d.h. um in der Vergangenheit begangenes Unrecht und erduldetes Leiden.56 Die Differenzierung von Geschichte und Gedächtnis trägt ers-
54 Gagnebin (2006): Über den Begriff der Geschichte, 286. 55 Walter Benjamin, Passagen, Konvolut N, Bl. 8, unv. Ms., zitiert nach: Peukert (1978): Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – fundamentale Theologie, 307. 56 Benjamin (1992): Sprache und Geschichte, 152.
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tens dem Umstand Rechnung, dass die Vergangenheit zu allgemein ist, um erinnert zu werden. Zweitens berücksichtigt sie das originäre Motiv, warum eine spezifische Vergangenheit nicht vergessen werden soll. Geht es doch darum, das spezifische Leiden in der Geschichte nicht zu vergessen. Drittens leistet sie eine Differenzierung der historischen Akteure und vermeidet auf diese Weise ihre Vereinheitlichung in der Retrospektive. Vor dem Hintergrund von historischem Unrecht, welches Menschen begangen und erlitten haben, wird die nötige Wahrung dieser Differenz evident. Benjamin ist es, der hier die Opferperspektive stark macht und für historische Gerechtigkeit plädiert. Historische Gerechtigkeit bezeichnet vorrangig, dass das Leiden der Opfer nicht vergessen wird. Benjamin geht es in seiner geforderten kritischen Historiographie um die Verlierer, eben jene, die in der bürgerlichen Geschichtsschreibung (d.h. dem Historismus) keine Stimme bekommen. In dieser Perspektive reflektiert sich seine geistige Verwandtschaft zur Theologie, da auch sie sich der Verlassenen annimmt. Benjamin kann in dieser Hinsicht als ein Vordenker der neuen Politischen Theologie bezeichnet werden. „Das Eintreten für die Vergessenen der Geschichte ist andererseits ein kritischer Anspruch und, theologisch gesprochen, von messianischer Bedeutung; dasjenige zu vermitteln, was unsagbar, vergessen, anonym scheint, jene zu benennen, deren Namen verloren gingen, bedeutet auch, dass die offizielle Geschichte aufgebrochen werden muss, damit aus den Spalten die Hoffnung auf andere Zeit der befreiten Menschheit entstehen kann. Diese historiographischen und narratologischen Forderungen wurden übrigens im Rahmen der Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Opfer und Verschwundenen in der sogenannten Zeugnisliteratur wiederaufgenommen, zum Beispiel bei Primo Levi.“57
Gagnebin benennt hier die zentrale Relevanz der Geschichtsphilosophischen Thesen für die Geschichte der Opfer von historischem Unrecht nach dem Holocaust. Denn während es Benjamin in seinen Thesen allgemein um Formen des Unrechts in der Vergangenheit geht, bezeichnet historisches Unrecht seit dem Holocaust Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nicht etwa, dass solche nicht bereits vor dem Ho-
57 Gagnebin (2006): Über den Begriff der Geschichte, 289f.
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locaust begangen wurden. Aber erst mit dem Holocaust werden sie zu einem völkerrechtlichen Straftatbestand, der zum ersten Mal 1945 im Londoner Statut des für den Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher geschaffenen Internationalen Militärgerichtshofs vertraglich festgelegt wurde. Dies ist geschichtsphilosophisch relevant, da mit diesem der Anspruch an historische Gerechtigkeit auf völkerrechtlicher Ebene Einzug nimmt. Während zwar bis 1945 die strafrechtliche Ahndung von Kriegsverbrechen möglich war, so gab es bis dahin keinen normativen Straftatbestand, welcher Opfern von Verbrechen gegen die Menschlichkeit retrospektiv mit der Möglichkeit ausstattete, ihr Recht einzuklagen. Während die Geschichtsphilosophischen Thesen Benjamins als ein Plädoyer für eine allgemeine historische Verantwortung gelesen werden können, markiert der „Zivilisationsbruch“ (Diner) eine Zäsur, die eine spezifische historische Verantwortung der Täter und ihrer Nachfahren gegenüber den Opfern eines spezifischen historischen Unrechts einfordert, wie es Jean Améry in seinen 1966 erschienenen Ressentiments tut. Benjamin manifestiert im Eingedenken die Relevanz der Vergangenheit für die Gegenwart und zeigt in ihr gleichfalls das Medium in die Vergangenheit auf, womit diese letztlich eine unabgeschlossene ist. Im Eingedenken bleibt die Vergangenheit lebendig, wenngleich sie abgeschlossen ist. Indem Benjamin schreibt, dass wir „im Eingedenken [...] eine Erfahrung [machen]“58, benennt er den historischen Akteur, den jeder Zeitgenosse darstellt. Indem er im Erinnern die Erfahrungsdimension derer, die erinnern, erfasst, nimmt er die fundamentale und eigentlich ethisch praktische Dimension der Jetztzeit, welche dann zentral in den Geschichtsphilosophischen Thesen sein wird, in der Auseinandersetzung mit historischer Verantwortung vorweg. Dort heißt es: „Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte ist.“59 Hiermit sind zwei Grundannahmen historischer Verantwortung angesprochen: erstens kann sie nur in der Jetztzeit reflektiert und prakti-
58 Walter Benjamin, Passagen, Konvolut N, Bl. 8, unv. Ms., zitiert nach: Peukert (1978): Wissenschaftstheorie – Handlungstheorie – fundamentale Theologie, 307. 59 Benjamin (1992): Sprache und Geschichte, 150.
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ziert werden, und zweitens ist sie ohne ein historisches Subjekt nicht nur nicht denkbar, sondern auch sinnlos. Stéphane Mosès betont: „Benjamins revolutionäre Leistung besteht darin, dass er die Erfahrung der erlebten Zeit aus der persönlichen Sphäre in die geschichtliche überträgt, dass er die Formalisierung der geschichtlichen Zeit auflöst, [...] und dass er den Gedanken einer objektiven und linearen Zeit durch die subjektive Erfahrung einer qualitativen Zeit ersetzt, in der jeder Moment in seiner unvergleichlichen Einzigartigkeit erlebt wird.“60
Im Eingedenken wird die Vergangenheit aufbewahrt und aufgehoben, was ein Erfassen von Zeit voraussetzt und impliziert. Benjamin betont somit die zentrale Relevanz der Zeit als Ort und Medium des Erinnerns. Horst Folkers bezeichnet die Konzeption der Erinnerung in der Auseinandersetzung mit den Geschichtsphilosophischen Thesen Benjamins gar als das „Organon der Geschichte“: „Erinnerung ist so ihrem formalen Begriff nach die Einheit von realer, im Zeitablauf geschehener und ideeller, im Bewusstsein vergegenwärtigter Beziehung zwischen dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen.“61
In den Geschichtsphilosophischen Thesen begründet Benjamin schließlich die Relevanz und Brisanz der Vorstellung von Geschichte im realpolitischen Faschismus und der dominanten Geschichtsschreibung des Historismus. Er verbindet beide Phänomene in Ansehung der realen Gefahr, welcher – so Benjamin – wiederum nur in der Wahrnehmung des unheilvollen Zusammenhangs von Realität (des Faschismus) und Diskurs (des Historismus) begegnet werden kann. Während der Faschismus den unheilvollen Dualismus von Unterdrückern und Unterdrückten (Sieger und Verlierer) realpolitisch manifestiert, ist es der Historismus, der diesen Dualismus entsprechend historiographisch fest- und fortschreibt. Die eigentlich politische Dimension der Vorstellung von Geschichte macht Benjamin allerdings bei den Politikern aus, die den Fortschritt zu ihrer Sache machen und somit eigentlich Gegner des Faschismus darstellen:
60 Mosès (1993): Eingedenken und Jetztzeit, 388. 61 Folkers (1993): Die gerettete Geschichte, 363–364.
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„Sie [die Betrachtung Benjamins; JT] sucht einen Begriff davon zu geben, wie teuer unser gewohntes Denken eine Vorstellung von Geschichte zu stehen kommt, die jede Komplizität mit der vermeidet, an der diese Politiker weiter festhalten.“62
Diese Politiker sind gemäß Benjamin im Fahrwasser der Historiker des Historismus, da sie den „Augenblick der Gefahr“ verkennen: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen >wie es denn eigentlich gewesen istDie SchuldfrageDie Schuldfrage