Ware Inszenierungen: Performance, Vermarktung und Authentizität in der populären Musik [1. Aufl.] 9783839422984

Populäre Musik ist 'performte' Musik, sie ist eine Musik des Machens - im Gegensatz zu einer Musik des Erdenke

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German Pages 230 [228] Year 2014

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Table of contents :
INHALT
EDITORIAL
THE VALUE OF LIVE MUSIC
SOUND UND BILD: DIE AUDIO/VISUELLE ÖKONOMIE MUSIKALISCHER PERFORMANCE
SCHEIN ODER NICHT-SCHEIN? ZUR INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT AUF DER BÜHNE
INSZENIERTE AUTHENTIZITÄT VERSUS AUTHENTISCHE INSZENIERUNG: EIN ORDNUNGSVERSUCH ZUM KONZEPT AUTHENTIZITÄT IN MEDIENKULTUR UND POPMUSIK
ABHÄNGIGE INSZENIERUNGEN DER UNABHÄNGIGKEIT. DER INDEPENDENT-DISKURS IN MUSIKZEITSCHRIFTEN
›GUTE FRAGE!‹ POPULÄRE INSZENIERUNGEN VON FRAGE-ANTWORT-STRATEGIEN AUF PRESSEKONFERENZEN IM BEREICH DER POPMUSIK
DER DOKUMENTARISCHE GESTUS. EINE SPURENSUCHE IN POPULÄRER MUSIK UND KULTUR IN DER BRD DER 1970ER JAHRE
FACETTEN DER JOSEPHINE BAKER
AN UNDERSTANDING OF PERFORMANCE: THE BEATLES IN HAMBURG
PINK RIEFENSTAHL. (UN-)AUTHENTISCHE INSZENIERUNGEN VON HOMOPHILIE UND HOMOPHOBIE IM MUSIKVIDEO »MANN GEGEN MANN« VON RAMMSTEIN
ÜBERSETZEN UND RAHMEN. AUFFÜHRUNGEN IN GLOBALISIERTEN POP(ULÄR)KULTUREN
ZU DEN AUTOREN
EDITORIAL
THE VALUE OF LIVE MUSIC
SOUND UND BILD: DIE AUDIO/VISUELLE ÖKONOMIE MUSIKALISCHER PERFORMANCE
SCHEIN ODER NICHT-SCHEIN? ZUR INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT AUF DER BÜHNE
INSZENIERTE AUTHENTIZITÄT VERSUS AUTHENTISCHE INSZENIERUNG: EIN ORDNUNGSVERSUCH ZUM KONZEPT AUTHENTIZITÄT IN MEDIENKULTUR UND POPMUSIK
ABHÄNGIGE INSZENIERUNGEN DER UNABHÄNGIGKEIT. DER INDEPENDENT-DISKURS IN MUSIKZEITSCHRIFTEN
›GUTE FRAGE!‹ POPULÄRE INSZENIERUNGEN VON FRAGE-ANTWORT-STRATEGIEN AUF PRESSEKONFERENZEN IM BEREICH DER POPMUSIK
DER DOKUMENTARISCHE GESTUS. EINE SPURENSUCHE IN POPULÄRER MUSIK UND KULTUR IN DER BRD DER 1970ER JAHRE
FACETTEN DER JOSEPHINE BAKER
AN UNDERSTANDING OF PERFORMANCE: THE BEATLES IN HAMBURG
PINK RIEFENSTAHL. (UN-)AUTHENTISCHE INSZENIERUNGEN VON HOMOPHILIE UND HOMOPHOBIE IM MUSIKVIDEO »MANN GEGEN MANN« VON RAMMSTEIN
ÜBERSETZEN UND RAHMEN. AUFFÜHRUNGEN IN GLOBALISIERTEN POP(ULÄR)KULTUREN
ZU DEN AUTOREN
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Ware Inszenierungen: Performance, Vermarktung und Authentizität in der populären Musik [1. Aufl.]
 9783839422984

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Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Ware Inszenierungen

Beiträge zur Popularmusikforschung 39 Herausgegeben von Dietrich Helms und Thomas Phleps Editorial Board: Dr. Martin Cloonan (Glasgow) | Prof. Dr. Ekkehard Jost (Gießen) Prof. Dr. Rajko Mursˇicˇ (Ljubljana) | Prof. Dr. Winfried Pape (Gießen) Prof. Dr. Helmut Rösing (Hamburg) | Prof. Dr. Mechthild von Schoenebeck (Dortmund) | Prof. Dr. Alfred Smudits (Wien) Die Tagung, aus der dieser Band hervorging, wurde konzeptionell gestaltet und organisiert in Kooperation mit Christoph Jacke.

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Ware Inszenierungen. Performance, Vermarktung und Authentizität in der populären Musik

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2013 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Karsten / photocase.com Lektorat & Satz: Ralf von Appen und Yvonne Thieré Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2298-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Editorial 7

The Value of Live Music Simon Frith 9

Sound und Bild: Die audio/visuelle Ökonomie musikalischer Performance Philip Auslander 23

Schein oder Nicht-Schein? Zur Inszenierung von Authentizität auf der Bühne Ralf von Appen 41

Inszenierte Authentizität versus authentische Inszenierung: ein Ordnungsversuch zum Konzept Authentizität in Medienkultur und Popmusik Christoph Jacke 71

Abhängige Inszenierungen der Unabhängigkeit. Der Independent-Diskurs in Musikzeitschriften André Doehring 97

›Gute Frage!‹ Populäre Inszenierungen von Frage-Antwort-Strategien auf Pressekonferenzen im Bereich der Popmusik Anja Peltzer 119

Der dokumentarische Gestus. Eine Spurensuche in populärer Musik und Kultur in der BRD der 1970er Jahre Barbara Hornberger 137

Die Facetten der Josephine Baker Christa Bruckner-Haring und Ildiko Keikutt-Licht 153

An Understanding of Performance: The Beatles in Hamburg Ian Inglis 171

Pink Riefenstahl. (Un-)Authentische Inszenierungen von Homophilie und Homophobie im Musikvideo »Mann gegen Mann« von Rammstein Christian Diemer 187

Übersetzen und Rahmen. Aufführungen in globalisierten Pop(ulär)kulturen Gabriele Klein 211

Zu den Autoren 223

EDITORIAL

»All that we see or seem / is but a dream within a dream« zitiert das Alan Parsons Project 1976 den Refrain eines Gedichts des Altmeisters des literarischen Horrors, Edgar Allan Poe, als Motto seines Instrumentals »A Dream Within A Dream«.1 Damit ist sehr treffend das Dilemma beschrieben, mit dem wir auf der Suche nach dem Echten in den diversen Systemen des Pop konfrontiert sind. Wie ein Traum umreißt ein Popsong eine Welt außerhalb der Alltagswahrnehmung von (de facto) sehr kurzer Dauer, aber doch vollständig und abgeschlossen. Und wie im Traum hat man für die Zeit des Hörens einen Eindruck von Wirklichkeit. Wirkung entsteht, weil wir uns wirklich angesprochen fühlen. Erst in der Außensicht wird der Traum zum Traum, der Song zur Inszenierung. Doch wie wirklich ist die Außensicht? Für die Beantwortung dieser Frage leistet sich unsere Gesellschaft einen eigenen Berufsstand: die Musikjournalisten. Jetzt heißen Echtheit und Wirklichkeit Authentizität; Interviews, Homestories und Reportagen behaupten, die wahre Seite des Musikers erfahrbar zu machen, und sind doch — von außen betrachtet — wieder nur Inszenierungen zum Verkauf von Waren. Es bleibt die Wissenschaft mit ihrer gesellschaftlichen Lizenz zur Wahrheitsfindung. Doch mit welcher Methode will sie feststellen, was wahr und was inszeniert ist? Ergeben diese beiden Begriffe überhaupt ein sinnvolles Gegensatzpaar? Ist nicht die Frage bereits unmöglich — nicht zuletzt, weil auch die Wissenschaft sich selbst als solche inszeniert? Und wie glaubwürdig, wirklich und relevant ist ihre Inszenierung eigentlich für den Fan, dem der gerade gehörte Song viel wirklicher erscheint als die nüchterne Prosa der Wissenschaft? Übersetzt man Poes Refrain in ihre Sprache, könnte es heißen: »Es gibt keine inszenierungsfreie Zone. Hinter jeder entlarvten Inszenierung steckt womöglich eine weitere.« 2 In »A Dream Within A Dream« geht es weiter: »And I hold within my hand / Grains of the golden sand — / How few! yet how they creep / Through 1 2

In den Liner Notes zur LP von Alan Parsons Project (1976). Tales Of Mystery And Imagination. 20th Century Records, AA6370 243 1 Y. Jens Bergmann / Bernhard Pörksen (2007). Medienmenschen. Wie man Wirklichkeit inszeniert. Münster: Solibro-Verlag, S. 19.

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EDITORIAL my fingers to the deep«.3 Angesichts der Inszeniertheit aller Ebenen des Systems spielt der Unterschied von wahr und falsch keine Rolle mehr, sondern nur noch der von glaubwürdig oder unglaubwürdig. Diese Entscheidung muss freilich der (Un-)Gläubige ganz allein für sich fällen. Was der Wissenschaft bleibt, ist die Frage nach den Mechanismen und Institutionen der Authentizitätsinszenierungen, nach den Maschinen, die den Stoff produzieren, aus dem die wahren Waren-Träume sind. Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge sind Schriftfassungen von Vorträgen, die anlässlich der 22. Arbeitstagung des Arbeitskreises Studium Populärer Musik (ASPM) vom 18. bis 20. November 2011 in Kooperation mit der Universität Paderborn, Fach Musik/Populäre Musik und Medien, in Paderborn zum Schwerpunktthema »Populäre Inszenierungen / Inszenierungen des Populären in der Musik« gehalten wurden. Im Namen des ASPM bedanken sich die Herausgeber ganz herzlich bei der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn für die großzügige finanzielle Unterstützung der Tagung. Ganz besonderer Dank gebührt den KollegInnen und Studierenden des Fachs Musik/Populäre Musik und Medien und vor allem Christoph Jacke für ihre Gastfreundschaft und ihr Engagement bei der Organisation und Durchführung einer rundum gelungenen Tagung. Ein besonderer Dank der Herausgeber gilt auch den GutachterInnen des Peer ReviewVerfahrens, die leider, aber selbstverständlich ungenannt bleiben müssen. Wer mehr wissen will über den ASPM, über aktuelle Forschungen, Publikationen und anstehende oder vergangene Tagungen, findet diese Daten, Fakten und Informationen rund um die Popularmusikforschung und vieles mehr unter www.aspm-online.de und in unserer Internetzeitschrift Samples (www.aspm-samples.de). Dietrich Helms und Thomas Phleps Osnabrück und Kassel, im Dezember 2012

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David Lehman (Hg.) (2006). The Oxford Book of American Poetry. Oxford: Oxford University Press, S. 72.

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THE VALUE

OF

LIVE MUSIC

Simon Frith From April 2008 until April 2011 I directed a research project on live music in Britain.1 We are now writing up our findings,2 and since February 2012 we have had funding for a follow-up project, designed to establish ongoing links between academic researchers, the live music industry and the wider public.3 The original research project was organized around an investigation of the business of live music promotion and a crucial part of our method was interviewing. We talked to more than 100 promoters, from the MD of Live Nation in the UK and such big names as Harvey Goldsmith to local club owners and enthusiasts. We covered all types of music (including classical) — which is one reason why our findings will fill three books. One of my roles in the research team is to present our work to the live music industry itself, whether by attending their trade events and writing for their trade papers or by inviting them to seminars we organise. Such »knowledge exchange« (to use current academic jargon) is not without its problems and two kinds of miscommunication between university-based researchers and live music industry players particular interest me (and have informed the design of our follow up project). First, we apparently have quite different interpretations of a shared phrase, »the value of live music«. Their take is, it seems, straightforwardly economic: the value of live music can be measured by how much money people are prepared to pay for it. Our approach, by contrast, is more philosophical (or up our own backsides, as the industry would say): what is it that people think they are paying for? What exactly do they value? I'm not 1

2 3

See http://www.gla.ac.uk/departments/livemusicproject. The project, ›The promotion of live music in the UK — a historical, cultural and institutional analysis‹, was funded by the AHRC (AH/F009437/1). The first of a three volume history of live music in Britain, From Dance Hall to the 100 Club, covering 1950-1967, will be published by Ashgate in 2013. ›Developing knowledge exchange in the live music sector‹ (AH/J00474X1/1), for details see www.livemusicexchange.org.

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SIMON FRITH sure the differences here are quite what they seem and I will come back to this, just noting here that it is only in the record business that you hear executives bemoaning the fact that »people don't value music any more« (meaning that they won't pay sufficiently for CDs or downloads). Promoters have, on the whole, a subtler understanding of the value of music in people's everyday lives and how this effects their spending decisions. Second, it was soon apparent to us that current promoters are not much interested in the past of their business (though they do enjoy reminiscing about the old days). They are, understandably, far more concerned about the future. A couple of years ago I was therefore asked to write my own account of what the music world would look like in 2025, and to present this for discussion at MaMA, the annual Paris-based European music business event. I will come back to my predictions at the end of this paper. I need to begin, though, by saying something about how I reached them. My starting points were that all predictions of the future are wrong and that the best way to look forwards is to look back or, more precisely, to look at the futures that were predicted in the past. Two such scenarios are relevant here. The first scenario was that live music had no future. As Glenn Gould famously wrote in High Fidelity in 1966: »In an unguarded moment some months ago, I predicted that the public concert as we know it today would no longer exist a century hence, that its functions would have been entirely taken over by the electronic media. It had not occurred to me that this statement represented a particularly radical pronouncement. Indeed, I regarded it almost as self-evident truth« (Gould 1966: 47). This was the future that was assumed when I started researching the music industry in the 1970s. Evidence for this prognosis was provided by both economists and sociologists. In 1966, the same year that Glenn Gould predicted the end of the public concert, William J. Baumol and William G. Bowen published Performing Arts: The Economic Dilemma. Baumol and Bowen's analysis of »the cost-disease« that afflicted the performing arts was highly influential on subsequent cultural economists (indeed, their book was in effect the founding statement for the field).4 Its argument can be summarized (for non economists) quite simply. A performing art like live music faces necessary limits to both its economies of scale and its labour productivity. On the one hand, live concerts can only take place in a specific place

4

See, for example, the special issue of the Journal of Cultural Economics (20/3, 1996) on the book's 30th anniversary.

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THE VALUE OF LIVE MUSIC at a specific time to a finite audience (which has to be in hearing distance); on the other hand, musical works have a fixed labour input: a quartet cannot be played by a trio. The result is that the performing arts cannot compete for leisure spending with the mass mediated arts in terms of price. Concerts either have to be priced at levels which limit audiences to a declining number of the wealthy, or they have to be subsidized in some way. (Baumol and Bowman were primarily concerned with concert music and opera although their arguments are generally valid.) Meanwhile, sociologists (and social historians) were documenting the effects of the rise of recording on public and private listening habits. They documented, for example, how live musicians were progressively replaced by recorded musicians in cinemas5, hotels, dance halls, on radio and television and, most recently, even in the »live« performance of musicals and ballet. In 1947 the Musicians' Union's assistant general secretary, Hardie Ratcliffe, told readers of Melody Maker, the paper for dance band musicians, that »We Must Beat the Record!« »A show-down will come before long. Musicians throughout the world — particularly those providing dance music — will be forced to fight broadcasting and recording interests. The issue will be whether musicians are to control the recorded music they make or leave control to those with the money-bags. Musicians must beat the record — or go out of business!« (Ratcliffe 1947: 4). Unfortunately for Ratcliffe the record won. From the mid-1950s an increasing percentage of consumer spending on music was devoted to recording; a decreasing percentage to live performances. By 1966 in the popular music world, at least, »music consumption« meant »record consumption«. When I began researching The Sociology of Rock in the mid-1970s I took for granted that the music industry was organised around the record industry, which was by then clearly central to the economics of live music too: rock gigs were primarily organised and financed to promote record sales. It was common sense, in short, to assume that the future of live music was dependent either on high cultural policy and the provision of state support to preserve Europe's classical music heritage and elite musical art scene or else on the promotional policies of the record industry. Move on 25 years to the early 2000s, when we first got interested in researching the live music sector. There was by now, in the digital age, a quite different future scenario: live music was now the future; it was the

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In the early 1920s two thirds of Britain's professional musicians were employed in cinemas; within a decade there were none. See Davison 2012.

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SIMON FRITH recording industry that was supposedly doomed. Various economic developments were cited to support this suggestion: •

From the mid-1990s ticket prices started rising more rapidly than inflation. Concerts became more expensive than CDs (previously promoters had tended to peg ticket prices to CD prices).



In terms of consumers' »wallet share«, expenditure on records now began a steady decrease.



The impact of downloading and file sharing on record pricing and sales meant that the ratio of musicians' earnings from live performance to their earnings from record sales began a steady rise.6



By the turn of the century a new kind of international live music business had emerged. In the early 2000s, for example, all the major promotional/venue companies in Britain were taken over by such global players as Live Nation and AEG.

By the end of the 2000s annual expenditure in Britain on live music was greater than expenditure on all forms of recorded music and the live music business had become the biggest employer in the British music economy.7 Globally (following its merger with Ticketmaster), Live Nation can now plausibly be described as the world's biggest music company (only the Universal Music Group has a comparable turnover). The common sense suggestion has become that the music industry means the live music industry. Live music industry decisions are certainly central now to the economics of recording: if bands once toured to promote album sales, they now release albums to promote their concerts. In twenty years time the assumptions here will probably seem as misplaced as the assumptions about the future of live music in the 1970s seem to us today, but I'm less interested in the inevitability of false predictions than in thinking about what we can learn from them. It could be suggested, for example, that the problem of the doom scenario was that by focusing so rigorously on the economics of live music it neglected the effects of music's ideological value. After all, »the concert hall« experience has always been the ideal of the classical recording industry (which it sought to make available in the living room) and the rock world, like the folk and jazz 6

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One effect was record company exploration of so-called 360º degree deals in which they took their share of live concert revenue. Another was that HMV (a record retailer) took over the Mama group (a venue chain). See, for example, »UK live revenues surpass record Sales.« In: Music Week, 17th March 2009. http://www.musicweek.com/news/read/uk-live-revenues-surpassrecord-sales/039558 (accessed 19th September 2012).

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THE VALUE OF LIVE MUSIC worlds, has always treated the live show as the most authentic setting for musical expression. One could argue, in short, that the cultural meaning of music remained rooted in live performance even at the height of record company domination of the music industry and, more generally, I now believe that my working assumption in The Sociology of Rock that music was a rights industry was wrong or, at least, misleading. Rather, it is better understood as a service industry. Most musicians make a living selling services rather than exploiting rights, and live performance is the service they mostly sell — to a wide range of clients, not just to concert promoters and club owners, but also to record, film, television, advertising, videogame, and other media companies, to cruise ships and casinos, to a variety of private customers for music at weddings, funerals, bar mitzvahs and other such events. And such music making goes on despite the cost disease. That said, it could equally well be argued that present day optimists about the future of the live music sector are ignoring the economic symptoms that the cost disease describes (and there is increasing evidence that the live music »boom« anyway peaked in 2010).8 Our research project was designed in part to examine how British promoters have addressed these cost problems historically and it's worth indicating here some of their solutions: The most significant is probably the music festival. In the European classical music world, festivals can be dated back to the eighteenth century and by the early nineteenth century many British cities had annual »musical festivals«. The first Edinburgh Musical Festival, for example, held between 30th October and 5th November 1815, featured seven concerts in two venues with 150 performers. It brought in visitors — »the concourse of strangers towards Edinburgh was unexampled«, as a report of the time put it, adding that »all the lodgings round the city were occupied« (McLarty 2010: 8). (There was already, it seems, an association being made between a music festival, the attraction of visitors, and the local economy.) But the explosion of classical music festivals was a post-1945 phenomenon. Bruno Frey (1994) cites figures suggesting that there were at least 1000 and possibly as many as 2000 such annual festivals in Europe by the end of the 1970s (numbers vary according to what is defined as a festival); in Britain regular classical, folk, jazz and blues festivals were well established by the end of the 1950s, and rock festivals have been a familiar part of the calendar since 8

The best source of UK music industry data is PRS for Music, which publishes annual economic reports. Copyright Societies in other countries also provide relevant data. US ticket sales are monitored by Pollstar.

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SIMON FRITH the 1960s, although the huge increase in the number and variety of popular music festivals has been a twenty first century phenomenon. Festivals offer various solutions to the cost disease. In terms of economies of scale outdoor festivals at least can reach much larger audiences than is possible in an indoor venue (especially as audience members can be mobile between different stages). In terms of productivity, the investment in staging infrastructure — sound and lights, security, promotion and publicity, ticketing, etc. — is sufficient for a much larger number of performers and performances than is possible for a show in a theatre and, as Frey points out, festivals also tend to use contracted freelance workers (rather than concert halls' salaried permanent staff) which cuts labour costs. Festivals also have a value that is qualitatively different from that of routine concerts and which cannot simply be measured as a quantitative accumulation of performances. Many festivals, that is to say (Glastonbury is a good example), have established themselves as »leisure experiences« involving something more than music. A rock festival like Scotland's T in the Park thus routinely sells out before it has announced its line-up; classical musical festivals, as Frey (1994: 37) documents, are sold as part of all-in luxury holidays. A festival ticket may well offer the consumer good value for money (in terms of the number of acts seen) but festival goers are also willing to invest much more into time, travel and subsistence costs than they would be willing to pay as an add-on to a workaday gig. For a promoter a festival is thus an essential part of their portfolio — it has a much higher profit margin than a tour and, even more importantly, offers a sure return on the investment. A second way of achieving both economies of scale and an increase in productivity is by putting on a succession of performances in the same venue, as »a run«. Instead of an act touring from town to town, audiences are encouraged to take a trip to a single venue where the act will play for many nights. This was the entertainment model developed in Las Vegas by Frank Sinatra, Elvis Presley and, more recently, Celine Dion, who from 2002 played five nights a week at The Colosseum at Caesars Palace, for an astonishing five years. Promoters can invest sufficiently in a single space to stage a spectacular show that can command higher ticket prices as well as reaching a much bigger audience who, like festival-goers, may well treat the musical act as just part of a broader leisure experience (involving a night in an up-market hotel, fine dining, and a flutter on the roulette wheel). This is also, of course, the way in which musicals work (and UK promoters have developed a strategy of moving such shows as the Sound of Music to provincial cities for extended runs after their London dates have

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THE VALUE OF LIVE MUSIC come to an end). In recent years the promotion of concert runs has moved beyond traditional showbiz and variety to rock. AEG, for example, booked Prince for 21 nights into its O2 venue in London, and it's worth noting here that unlike the tour, neither the festival nor the extended single venue run lend themselves easily to the established timetable of record promotion. Their rise is both an effect of and a solution to the decline of record industry power. Other promoter strategies have a much longer history. The advantage of owning venues and developing venue chains (like Live Nation) was understood by music hall promoters in the mid-nineteenth century and led to Britain's first large entertainment corporations. The creation of centrally owned performance networks both increased promoters' bargaining power in their dealings with artists and their agents and added to their ways of making money out of live shows. Music hall owners took their profits from their sales of food and drink and cloakroom services.9 Since the 1960s British club owners have also maximized returns from their space by combining bands and deejays, live shows and club nights. Music promoters have understood the economic significance of ticketing for an equally long time — certainly since the end of the eighteenth century — and the point to stress here is that the history of ticketing is tied up with the history of technology (for ticket buyers and sellers the most significant twentieth century invention was undoubtedly the credit card). In the live music sector the most important effect of digital technology has therefore been the rise of Ticketmaster. (Compare the way we now buy tickets instantly, at home, at the click of a computer key, with the time and trouble of physical queuing, preparing and sending off a stamped addressed envelope, or waiting on hold for hours for a phone line to be free.) But ticketing matters economically not for its convenience for customers but as an additional source of income for promoters. The provision of ticketing services (for around 30% of the ticket price) brings in profits whether or not a particular gig sells enough tickets to cover other costs. Finally (as various critics of Baumol and Bowman have pointed out) in an era of mass media the physical restriction on live audience size is less absolute than it might seem. From early in the BBC's history, for example, the Proms season was a live music promotion that was simultaneously designed for a mass wireless audience, and broadcasters have been important for the economics of the live music business ever since. Digital technology currently allows live performances to be streamed (to mobile

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Parking services can now be added to this list.

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SIMON FRITH phones, for instance) while the New York Metropolitan Opera House has developed an influential model of global simulcasts, live shows as available to cinema audiences round the world as to the people actually sitting in the limited number of seats in the Met itself. What I've been describing here is music promoters' enterprise in using technological, industrial and cultural change as an opportunity to increase their returns. It remains the case, however, that these are restricted solutions to live music's cost problems. Most events continue to happen without these income streams, and for these shows production costs continue to exceed the returns from ticket sales at the prices most consumers are willing to pay. The percentage of live shows that result in the multimillion dollar earnings reported each year by Pollstar is probably even smaller than the percentage of record releases that went platinum in the heyday of the record industry. And this situation has only been exacerbated by the decline of record company tour support. The fact also remains that the economic loss on most live shows is borne to a disproportionate extent by the performers, whose fees may or may not cover their costs for a particular show but certainly don't repay their investment over time in their careers. Live music promoters and performers, in short, continue to depend on some kind of subsidy or alternative revenue stream to supplement their returns from the box office, and the state (at both national and local level) remains an important source of subsidy and not just for classical and art music events (though most of these wouldn't happen without public funding). The cost of building and maintaining municipal stadiums, an essential resource for rock and pop promoters, is mostly borne by local authorities, for example, and most music festivals depend on public resources (space, infrastructure) provided at no or low prices. Over the last fifty years state support has come to be matched by commercial sponsorship of various kinds. Brewers, in particular, have been key players in the live music scene — if Tennents were to change its branding policy, for example, many promoters in Scotland would find it difficult to survive. For musicians (particularly those in specialist markets, though this is beginning to be true for rock performers too) gig sales of records and other merchandise make a significant addition to box office income. The decline of record retail has meant the development of the live concert as a kind of mobile music stall, live and recorded sounds equally available. I've been trying to provide here a summary account of the dynamics of change in the promotional business, by examining the ways in which promoters respond to the economic problems they face by using new technologies and meeting new consumer demands as well as by drawing on

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THE VALUE OF LIVE MUSIC established business strategies and connections. In order to offer a credible account of the future we need a clear understanding of how change works. And there is a final descriptive point to be made from this perspective. The problems that have emerged from the most recent period of change are the problems that the music industry will be addressing in moving to the next period. Our research identifies three in particular.

The problem of investment and career development The economics of the record industry are organised around the mass production, reproduction and distribution of things. As in other publishing industries, the huge profits on best sellers support investment in any number of poor sellers (the conventional wisdom in the rock era was that record companies issued 1 hit to 10 misses). Between the mid-1960s and late 1990s musicians' careers depended on this kind of cross-subsidy. It is not a model that promoters can adopt. The large profits made on big name tours go primarily to the artists (and their managers); they are not invested in new or as yet »unpopular« acts.10 It is not clear, in current economic conditions, what will replace record company investment. (Those acts that have been successful in putting together sufficient funds from fan investment via the Web have all so far been established acts, names that were known to fans because of earlier label deals.) Given that the most successful live bands nowadays are »heritage acts«, whose audiences are drawn from a long nurtured fan base, the question becomes how will new acts develop such support without any traditional record company investment. A model in which large acts drive the profitability of the live sector thus allowing promoters to lose money on lesser known acts is not sustainable unless the latter can be supported for long enough to become the former.11 From this perspective live music promotion has to be seen as a long not a short term business. Promoters need to build audiences, to look after performers at all stages of their career and, to this end, the live music sector has its own necessary eco-system. It depends on flourishing local live scenes as well large global players. When the sector rationalises in organisational

10 Some promoters do now subsidise tours of new acts in return for long term contracts, but they don't have the resources to invest in such acts' recording, promotion or other development costs. 11 Major promoters aim to cover the costs of 25% of their shows, though the actual figure is probably closer to two-thirds.

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SIMON FRITH terms (and at the top end moves to oligopoly), as it has done over the last decade, the economic challenge is to maintain a balance of large and small promotional enterprise. The live music industry may now be dominated by a small number of global corporations, but its health depends on a continuing variety of local spaces (various in terms of size, atmosphere and booking policy) and there is increasing evidence that such venues are, in fact, becoming less sustainable.12 One effect of a chain-owned venue opening in a medium-sized city, for example, is that it becomes the venue at which all medium-sized acts will appear. It makes better sense for their agents to do a single deal for a number of performances across the country than to do different deals, venue by venue. Local promoters who could previously use such acts as to offset losses on local or upcoming bands, can no longer do so and their business thus becomes much more precarious. In Sheffield, for example, the University Students Union, long the meeting place for local independent rock fans and performers, has not been able to compete for hit acts with the newly opened Sheffield Academy; it has had to switch its booking attention to comedy. Historically one can see a recurring cycle of venue organisation: consolidation and centralisation is followed eventually by bankruptcy, as new local venues (quicker to adapt to changes in musical tastes and practices) begin to flourish before, in turn consolidating and centralising.

The problem of regulation Unlike the record business, the live music business is subject to a complex variety of regulation — the health, safety and potential nuisance of public gatherings has long been a matter of public interest. Live music thus involves politics on a daily basis, as is clear in the history of the UK's licensing laws. Two issues are currently of particular significance. First, governments' increasing concern about alcohol misuse (particularly among young people) is clearly a threat to the continuing interdependence of the live music and the drinks industries. Second, promoters face increasing public concern about noise pollution, whether in terms of the health and safety of the live music work force or the peace of mind of a venue's residential neighbours. It seems reasonable to predict that over the next decade live music promoters will have to wean themselves from their dependence on alcohol. (This is not impossible, by the way. The development of a new kind of youth 12 See, for example, http://www.guardian.co.uk/music/2012/may/26/rock-musicvenues-bust-britain?INTCMP=SRCH (accessed 12th September 2012).

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THE VALUE OF LIVE MUSIC music in Britain in the 1950s and 1960s, the so-called British beat boom, took place largely in venues that were not licensed to sell alcohol.) Noise anxieties will be harder to resolve, however. They are likely to become a matter for planning laws and the organisation of urban space, for policy decisions that are not under promoters' control. The underlying issue here, though, is that the more musical spaces are regulated — made orderly and »quiet« — the less appealing they become for audiences who want, precisely, a noisy night out.

The problem of value, a return to the starting point In the present economic situation, people have less money to spend on anything. It is arguable that live music becomes more valuable to people in a recession, a source of good times amidst the bad, and our research does suggests that live music is valued as an experience that is somehow untouched by market forces. But this way of enjoying music is threatened if concerts become over-commoditised, venues too standardised, the exploitation of the consumer too obvious. People »illegally« download not just because they want music for free but because in the 1990s CDs prices came to be seen as a »rip off«. Promoters will have problems if ticket prices are seen similarly. The value of live music involves experiences and beliefs on which people may not be interested in putting a price. In our research we were particularly interested by the central role of the enthusiast in British music history, the promoter who is not concerned with profit but simply wants to share music, to build a new audience/market (that commercial promoters can then exploit). There is a clear danger that as the live sector becomes more economically rational it will destroy the irrationality on which its cultural value to some extent depends. Interestingly even the most commercial promoters we spoke to were aware of this. A »good« gig for them (as for audiences and performers) is not the gig that makes the most (or even any) profit but the gig that delivers on the promise of live music, that makes everyone present feel that presence so intensely that nothing else seems to matter. To conclude, then. Given our understanding of the dynamics of change in the live music sector and the problems it presently faces, what can we predict for the future of music? Some things we can be sure of:

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SIMON FRITH • People will still express and understand themselves through music. • People will still make and listen to music together. • People will still dance to music. • People will still try to make money out of music. • Music will still be necessary for public and private entertainment. • Music that gave pleasure in the past will still give pleasure in the future. • There will be new technological ways of storing, sharing and hearing music that we can't yet imagine. And some things we can sensibly guess: By 2025 there will be no stadium gigs. Economically and aesthetically they will long have been thought pointless. The Rolling Stones and U2 will hang on to the model but even they will finally have to give up and stadium rock won't be the object of nostalgia. Uncomfortable, poor sight and sound lines, tedious travel and car park queues — who would go back to that? As people's willingness to pay high prices (and all the add-ons) for such gigs declines (and state funding cuts means a lack of resources for stadium maintenance) the stadium show will no longer be an economic proposition. Live Nation and Ticketmaster will inevitably go bust (one can't run a successful live music business from a corporate headquarters indefinitely) while continuing developments in mobile phone and payment technology will make ticketing an entirely personal act/audience transaction, with no need of third person ticketing (or secondary ticketing) services. The large venues that will be flourishing in 2025 will be organised on the model of the London Dome — smaller, flexible, comfortable spaces, in which bands can settle for a live season and in which music will be only one of many kinds of entertainment. There will still be festivals. By 2025, though, there will be no record shops, but then there will be no record companies either. There will be tracks and albums but they won't be funded, published, promoted or distributed in physical form by companies on the model of EMI, Universal, etc. Music will no longer be treated as an asset. It will be, rather (as it has always been) a service, for which musicians will be paid at the point of delivery. A new kind of large music company will emerge, based not on the ownership of rights but the packaging of services, whether musicians for weddings or the provision of ever more sophisticated »apps« for the various new sorts of personal computer/ communications devices. Such companies will bring together in one place the old roles of artist management, music agency and concert promotion with a new expertise in music placement and will function as brokers between musical supply and demand. A music economy built round services

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THE VALUE OF LIVE MUSIC rather than assets does not need musicians to sign long-term contracts and will shift the way consumers think about music, not as an object (record, song) to be possessed but as an experience (of which music might be only one part) to be enjoyed. This will be worth paying for but not as a single sort of transaction (buying a record or a ticket) but as a whole series of different transactions and the result will be a fragmented rather than a mass market. The era of the global superstar will die with the Rolling Stones. A musical career will be more localised, more erratic, more humble. In the 2025 economy of commercial musical services the model for what, in the era of the musical product, were called distribution and promotion will be radio and, more specifically, BBC Radio. The BBC has established radio services through which a great variety of music (live and recorded) is permanently available on a great variety of digital outlets and devices over which the listener has a great deal of control in terms of how and when they listen. These services are paid for by a license fee, which enables the musicians involved to be directly rewarded according to how much and often their work is used, and are crucial for the construction of musical communities, audiences sharing tastes determined by musical rather than commercial judgements. Inspired by the BBC model, a number of successful music providing companies will follow the pioneering if shortlived on-line service, Spotify (which became over-dependent on record company support). By 2025 there will be three distinctive musical worlds, which, in business terms, will be organised by different kinds of company and entrepreneur: the dance music world, organised around the provision of sounds and spaces for dancers; the talent music world, organised around the provision of performers for visual media entertainment shows and songs for adverts, soundtracks, private pa systems and shopping malls; and the art music world, organised around the ideology of music as art, something uplifting and transcendent, a source of national pride and an activity requiring state educational and financial investment. Such ideology will be not only be applied to classical or »academic« music. »Art« music will include folk, jazz, and rock music; and the album, on the one hand, and the concert, on the other, will still be seen as the forms most appropriate to music as art. State subsidies will be directed accordingly, to acts, venues and music service companies alike (a necessary substitute for the now banned alcohol company support). By 2025 IASPM will be devoted entirely to such art music and will have changed its name. »Popular« music as we know it will no longer exist.

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SIMON FRITH

Bibliography Baumol, William J. / Bowen, William G. (1966). Performing Arts: The Economic Dilemma. New York: Twentieth Century Fund. Davison, Annette (2012). »Workers Rights and Performing Rights: Cinema Music and Musicians prior to Synchronized Sound.« In: Sounds of the Silents in Britain. Ed. by Julie Brown and Annette Davison. Oxford: Oxford University Press [in print]. Frey, Bruno S. (1994). »The Economics of Music Festivals.« In: Journal of Cultural Economics 18, pp. 29-39. Gould, Glenn (1966). »On the Prospects of Recording.« In: High Fidelity 16:4 (April), pp. 46-63. McLarty, Iain (2010). A Signal Triumph over Strong National Prejudices: The Edinburgh Musical Festivals of the Early Nineteenth Century. MMus Dissertation, University of Edinburgh. Ratcliffe, Hardie (1947). »We Must Beat the Record!« In: Melody Maker, 15 November, p. 4.

Abstract This paper suggests that ›the value of live music‹ may be defined in two ways: economically, live music treated as a source of income and profit, or culturally, live music experienced as something that is valuable because it can't be monetised. Most analyses of the live music sector focus on its economic value. The orthodox view from the 1950s was that the live music industry was suffering from an incurable ›cost disease‹ and live music promotion thus became entirely subordinate to and financially dependent on the recorded music sector. Since the 1990s, however, the economics of the record industry has been undermined by digital technology while the live sector has apparently flourished. Both these accounts of the live music business are flawed. They take too little account of live music's cultural value and underestimate promoters' entrepreneurial ingenuity.

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SOUND

UND

BILD: DIE

AUDIO/VISUELLE

MUSIKALISCHER

ÖKONOMIE

PERFORMANCE1

Philip Auslander Eine gegenwärtige Diskussion im Bereich der Computermusik berührt eine fundamentale Frage hinsichtlich der audiovisuellen Ökonomie der musikalischen Performance. Von den Zuschauern musikalischer Aufführungen, die mit einem traditionellen Instrumentarium arbeiten, wird angenommen, dass sie die zugrundeliegenden Kausalzusammenhänge zwischen dem, was sie sehen und dem, was sie hören, verstehen (wenn ich z.B. sehe, wie ein Musiker die Taste eines Pianos drückt oder in das Klavier hineingreift, verstehe ich den folgenden Klang als Resultat der Handlung, die ich zuvor beobachtet habe). Anders verhält es sich mit dem Publikum einer Musik, für deren Erzeugung verhältnismäßig ungewohnte, digitale Geräte wie unterschiedliche MIDI-Interfaces oder Laptops als Instrumente benutzt werden. Bei diesen Zuschauern kann nicht davon ausgegangen werden, dass sie das Verhältnis zwischen der Handlung des Performers und den daraus resultierenden Klängen verstehen (mit Ausnahme jener natürlich, die mit den jeweiligen Technologien und angewandten Techniken gänzlich vertraut sind). Caleb Stuart führt dieses wie folgt aus: »With the laptop, there is no [cause-and-effect] connection. From the point of view of the audience, the computer is an inanimate object; it sits there while the performer acts surreptitiously behind the screen. [...] The audience in general does not know exactly what it is that the performer is doing and most do not know how the sound is produced or with what« (Stuart 2003: 61). Diese maskierte Art der Klangproduktion ist eine Herausforderung für das Verständnis der Beziehung zwischen Musiker und Publikum, welches ich die 1

Dieser Artikel erscheint in einer englischsprachigen Version in The Oxford Handbook of New Audiovisual Aesthetics. Hg. v. Claudia Gorbman, John Richardson und Carol Vernallis (Oxford University Press). Ich danke Oxford University Press für die Genehmigung, die deutsche Übersetzung hier abzudrucken. Ins Deutsche übertragen wurde dieser Artikel von Yvonne Thieré, bei der ich mich herzlich bedanke.

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PHILIP AUSLANDER »traditionalistische« Sichtweise nennen werde. Einige Aspekte dieses Standpunktes werden von W. Andrew Schloss skizziert, wenn er schreibt: »This relationship is based on many factors, most significantly on trust, and also on the audience understanding what the performer is doing on stage« (Schloss 2003: 239; Hervorhebung im Original). Zwar ist man sich in der Diskussion um Computermusik darüber einig, dass neue Musiktechnologien die traditionelle Beziehung von Musiker und Publikum herausfordern, jedoch wird diese Herausforderung von den einzelnen Seiten ganz unterschiedlich betrachtet. Schloss repräsentiert die traditionalistische Seite: »A visual component is essential to the audience, such that there is a visual display of input parameters/gestures« (ebd.: 242). Diese sichtbaren Handlungen verdeutlichen das Wesen der Kausalität innerhalb einer Performance. Stuart hingegen argumentiert: »The performativity of the music is to be found in the act of listening and the performance of the audience in relationship to the sound they hear. There is no need then for us to see a performer physically interacting with an instrument to engage in this aural performativity: we need only listen and engage in the act of listening« (Stuart 2003: 64). Obwohl diese Debatte von dem beschleunigenden Einfall digitaler Technologien in die Live-Performance von Musik angetrieben wird, sind die zugrunde liegenden Fragen keine neuen. Die derzeitige Debatte ist Teil der seit längerem geführten Diskussion über das, was Pierre Schaeffer, der eine zentrale Rolle für die in den 1940er Jahren beginnende Entwicklung der Musique Concrète einnahm, »acousmatic sound« nannte und was von Jonathan Sterne als »sounds that one hears without seeing their source« definiert wurde.2 Die Idee, dass die auditiven und visuellen Dimensionen der musikalischen Performance voneinander unterscheidbare »tracks« sind, und die Frage danach, wie die Beziehung dieser Tracks verstanden und in der Performance konfiguriert werden sollten, ist in ganz unterschiedlichen Kontexten aufgekommen, spätestens seit es die Aufnahmetechnik ermöglicht hat, einen Klang unabhängig vom Visuellen zu erfahren (vgl. Laing 1991: 1-9). Die Auffassung dieses Verhältnisses, die das Denken des 20. Jahrhunderts bestimmt hat und weiterhin einen starken Einfluss ausübt, reiht sich in die gut dokumentierte westliche Bevorzugung des Sehsinnes ein.3

2 3

Sterne (2003: 20-22) gibt eine kurze Zusammenfassung der Diskussion dieses Konzeptes und seiner Auswirkungen. Die Literaturlage zum Okularzentrismus der westlichen Kultur ist gewaltig. Eine klassische Untersuchung von beidem, dem Okularzentrismus und seiner kritischen Abhandlungen, stammt von Martin Jay (1994).

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SOUND UND BILD: DIE AUDIO/VISUELLE ÖKONOMIE MUSIKALISCHER PERFORMANCE Die traditionalistische Sichtweise bestätigt die Wichtigkeit der »visual communication of musically relevant information«, beschränkt diese Kategorie aber generell auf Gesten und Gesichtsausdrücke der Musiker während sie auftreten (Schutz 2008: 86).4 Für Schloss bedingt die musikalische Performance die Zurschaustellung des Aufwandes, den ein Musiker zugunsten des Publikums betreibt und der die Aufwendung physischer Kraft sowie die moralische Hingabe offenlegt »to what one is doing« (Schloss 2003: 240). Stan Godlovitch, der ein detaillierteres traditionalistisches Model der musikalischen Performance liefert, nennt in einer Auflistung von Bedingungen, die ein Ereignis zu erfüllen habe, um als musikalische Performance zu gelten, dass das Ereignis »the immediate output of some musical instrument« sei (was Computer nicht mit einbezieht, Godlovitch 1998: 101), »the exercise of skilled activity« einschließt und »the outcome of appropriately creditworthy physical skill« sei (Godlovitch 1998: 49). Sowohl Schloss als auch Godlovitch machen die essentiellen Aspekte musikalischer Performance an Dingen fest, die durch Klang allein nicht direkt zu begreifen sind. Godlovitch fechtet die Idee an, dass Hörer, die bei Konzerten ihre Augen schließen, alles erführen »that is musically significant«, denn »musical sound alone is not sufficient for performance« (ebd.: 14f.). Die Anstrengung oder das Geschick des Musikers könne man nicht hören; man müsse die »bulging veins in the neck of the trumpeter blasting a high C« sehen können, um den Einsatz vollständig würdigen zu können (Schloss 2003: 240). Zudem könne man sich nicht sicher sein, dass der Klang eines Musikers ein direktes Produkt seines Könnens ist, wenn man ihn nicht bei der Produktion des Klanges beobachtet habe. Hierbei ist zu bemerken, dass das Musik-Publikum in den meisten Fällen wahrscheinlich keinen sehr detailgenauen Sinn für instrumentale Kausalzusammenhänge hat. Für Blasinstrumente bemerkt Michael Schutz (2008: 101): »Changing pitches requires complex interactions between embouchure and fingertips that are far from transparent to audiences«.5 Folglich ist die traditionalistische Betonung der sichtbaren Kausalität in musikalischen Darbietungen am besten als ideologisch zu verstehen. In den meisten Fällen versteht das Publikum nicht wirklich, wie der Klang im Einzelnen produziert wird. Es möchte aber dennoch glauben, dass es das kann.

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5

Wenngleich ich die Phrase »musically relevant information« von Schutz übernommen habe, halte ich ihn nicht für einen Repräsentanten der traditionalistischen Position. Theodore Gracyk (1997: 145) kritisiert Godlovitch mit einem ähnlichen Argument.

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PHILIP AUSLANDER Aus traditionalistischer Sicht ist die Integrität einer musikalischen Performance von allem bedroht, was verhindert, dass das Publikum den Musiker als qualifizierten kausalen Handelnden der Performance erkennt, einschließlich Tonaufnahmen, ablenkender Spektakel oder des Gebrauchs digitaler Technologien, die die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung undurchsichtig machen.6 Godlovitch beispielsweise argumentiert, dass »whatever we hear on a recording is not itself sufficient to ground judgments of the player's real role and true merit«, denn aus der Aufnahme selbst kann der Hörer nicht schließen, wie diese genau angefertigt wurde (Godlovitch 1998: 26). Selbst wenn man von der Performance auf einem Tonträger annimmt, dass sie Virtuosität repräsentiert, oder wenn man Dinge hört, die den Einsatz und die Hingabe des Musikers suggerieren (z.B. Glenn Goulds berühmte Zwischenrufe oder das ›Jaulen‹ und Aufschreien von Gitarrist Alvin Lee auf der Ten Years After-Aufnahme von »Boogie On«), hätte man unmittelbar die Performance beobachten müssen, um schlussfolgern zu können, dass die aufgenommenen Klänge tatsächlich bedeuten, was sie zu bedeuten scheinen. Wenn eine neue Technologie oder ein Medienformat, einschließlich Radio, Tonaufnahme, Musikvideo und der Einsatz von Computern in einer Performance, droht, diese Art der visuellen Verifizierung in Frage zu stellen, beunruhigt dies die Traditionalisten. Diese Sorge teilen die musikalischen Traditionalisten mit den Theoretikern der Akusmatik, die, wie Sterne ausführt, annehmen »that face-to-face communication and bodily presence are the yardsticks by which to measure all communicative activity« und fürchten, bestimmte Technologien und Performance-Praktiken de-kontextualisierten den »sound from its ›proper‹ interpersonal context« (Sterne 2003: 20f.). In meinem Buch Liveness: Performance in a Mediatized Culture stelle ich die Hypothese auf, dass die Kategorie der »Liveness« erstmals gebraucht wurde, um einige Performances von anderen zu unterscheiden (das Oxford English Dictionary datiert die früheste Verwendung dieser Art auf 1934) als Reaktion auf eine solche Angst, die zu dieser Zeit durch die Dominanz des Radios aufkam. Frühe Technologien der Schallaufzeichnung haben die Unterscheidung zwischen live und aufgenommen nicht problematisiert: Spielte man eine Schallplatte auf einem Grammophon ab, wusste man ganz genau, was man gerade tat und es gab keinerlei Möglichkeit, das Hören einer Aufzeichnung mit dem Erleben eines Konzertes zu verwechseln. Das 6

Aus rhetorischen Gründen behandele ich den traditionalistischen Standpunkt als wäre er monolithisch. Das ist er selbstverständlich nicht. Die Befürworter traditionalistischer Werte würden der von mir postulierten Orthodoxie sicherlich in unterschiedlichem Grad zustimmen.

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SOUND UND BILD: DIE AUDIO/VISUELLE ÖKONOMIE MUSIKALISCHER PERFORMANCE Radio ist jedoch ein blindes Medium, dass es unmöglich macht, den Ursprung der wahrgenommenen Klänge zu verifizieren. Zur Lösung dieser Krise entwarf man die Etiketten »live« und »aufgezeichnet«. Hiermit konnten im Diskurs Live-Übertragungen von aufgezeichnetem Material unterschieden werden, was den Radiohörern folglich erlaubte zu wissen, ob sie entweder die unmittelbaren Resultate der qualifiziert agierenden Musiker hörten oder eine Aufnahme (Auslander 2008: 59f.). In der aktuellen Literatur manifestiert sich diese Sorge u.a. in Godlovitchs (1998: 69f.) Bedenken, dass digitale Technologien die »echten« Musikinstrumente und Fähigkeiten letzten Endes ersetzen werden. Auch Schloss (2003: 239f.) äußert Befürchtungen, dass die Undurchschaubarkeit der Ursache-Wirkung-Verhältnisse in Performances mit Interfaces, mit denen die meisten Hörer nicht vertraut sind, die Hörer entfremden wird. Ähnliches formulieren auch Thompson, Graham und Russo, wonach eine Reihe von Phänomenen wie die Bildsprache des Musikvideos, spektakuläre Popmusik-Performances und die Luftgitarre die Aufmerksamkeit des Publikums von jenen visuellen Informationen verdrängen bzw. ablenken, die »musikalisch relevant« sind (Thompson/Graham/Russo 2005: 221-224). Ein wachsender Teil der Rezeptions- und Wahrnehmungsforschung von Musik in der experimentellen Psychologie stützt in gewisser Weise die traditionalistische Sichtweise und ihre Bedenken: Studien zur Klangwahrnehmung deuten darauf hin, dass diese insofern multimodal ist, als dass nicht nur der auditive, sondern auch der visuelle Sinn dazu beiträgt und dass das Gehirn immer danach strebt, zwischen einem gehörten Klang und einer sichtbaren Quelle kausale Zusammenhänge herzustellen (Schutz 2008: 85). Experimentelle Studien zu musikalischen Performances zeigen, dass die visuelle Dimensionen deutlich beeinflusst, was wir hören.7 Die Werte jedoch, die mit den zwei Sinnesmodalitäten ― Hören und Sehen ― bei einer musikalischen Erfahrung verbunden werden, und die hierarchischen Beziehungen zwischen beiden sind kein Produkt menschlicher Biologie, sondern kulturellen Ursprungs. Obwohl jede Musikwahrnehmung multimodal ist, kommt es nur in manchen kulturellen Kontexten vor, dass Publika die Strukturierung der Beziehung zwischen den Modalitäten verlangen, um die Anstrengungen des Musikers offenzulegen und seine Vermittlungshandlung zu bestätigen. Obwohl solch eine Transparenz für die Traditionalisten zwingend ist, scheint es doch offensichtlich, dass beispielsweise die Mehrheit des Publikums der Black Eyed Peas oder Lady Gagas in keinster Weise besorgt ist, dass deren Ge7

Ein Überblick findet sich bei Schutz (2008). Eine detailliertere Darstellung verschiedener Experimente geben Thompson/Graham/Russo (2005: 210-220).

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PHILIP AUSLANDER brauch digitaler Technologien zur Produktion instrumentaler und vokaler Klänge bei einem Auftritt es nicht ohne Weiteres ermöglicht, die Zusammenhänge von Ursache und Wirkung zwischen musikalischen Klängen und den nötigen Mitteln zu deren Produktion zu identifizieren. Godlovitch basiert sein Model zur musikalischen Performance ausdrücklich auf dem Beispiel klassischer Konzertsolisten. Schloss lässt eine Bestimmung des Musikgenres vermissen, mit dem er sich hauptsächlich beschäftigt, verbindet in seiner eigenen Karriere als Percussionist und Computermusiker jedoch Jazz, Rock, Latin und zeitgenössische Kompositionen (University of Victoria o.J.). Es ist ebenso plausibel, dass das Publikum klassischer Musik und zeitgenössischer Kompositionen an traditionellen Werten festhält, dass sie sehen und verstehen wollen, wie die Musik, die sie hören, produziert wurde, wie es verständlich ist, dass das Publikum von Pop- und Tanzmusik, die mit digitaler Technologie produziert wird, diese Werte nicht zwingend teilt. Auf der anderen Seite müssen Musiker und ihr Publikum aus letztgenannten Kontexten traditionalistische Werte auch nicht zwangsläufig verwerfen. Das Verlangen, die transparenten Beziehung zwischen Musikern und Publikum aufrecht zu erhalten, wie die Traditionalisten es sich vorstellen, ist nicht auf Kunstmusik beschränkt; es ist ebenso zentral für die Ideologien der meisten Formen von Rock, Jazz, Blues, Country, Folk und anderen Genres der populären Musik. In einer Arbeit, die auf ethnografischen Studien über Berliner Club DJs basiert, beobachtet Mark J. Butler: »To the extent that they are expected to convey liveness in performance, musicians must also communicate connections between physical gestures and resultant sounds to their audiences. This is especially important in an electronic dance music context, in which many of the musician's interactions with interfaces may be invisible, and the unfamiliarity of the instruments renders their performance techniques gesturally opaque to most audience members« (Butler o.J.). Aus diesem Grund streben die DJs in ihrer Verwendung von Technologie nach »Leserlichkeit« (»legibility«). In Liveness diskutiere ich, wie die Authentizitätsideologie des Rock dazu führt, dass das Publikum akzeptiert, dass die Musiker auf der Bühne oder einer Aufnahme, die verantwortlichen Akteure für die Klänge sind, die es hört (parallel zu Godlovitchs Analyse klassischer Musik). Jeder Zweifel an dieser Tatsache (an dem Einsatz aufgenommenen Materials in Konzerten [z.B. Lippensynchronisation] oder von Studiomusikern bei der Einspielung beispielsweise) kann die betreffende Musik als inauthentisch diskreditieren. Die Authentizität des Klangs an sich kann aber nicht nachgeprüft werden ― das Publikum kann eine solche Überprüfung nur durchführen, indem es die Musiker beobachtet und aus dem

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SOUND UND BILD: DIE AUDIO/VISUELLE ÖKONOMIE MUSIKALISCHER PERFORMANCE erkennbaren Verhältnis zwischen ihren Handlungen und den produzierten Klängen Schlüsse zieht (Auslander 2008: 91). Nichtsdestoweniger können Performer, die in den von traditionellen Werten beherrschten Genrekontexten agieren, diese Werte hin und wieder herausfordern, indem sie die Beziehungen zwischen den auditiven und visuellen Aspekten der musikalischen Darbietung auf eine Art und Weise manipulieren, die gegen den traditionellen (oder traditionalistischen) Strich geht. Im verbleibenden Teil dieses Artikels werde ich mir eine solche Performancepraxis anschauen: den Einsatz von Light-Shows in Psychedelic Rock-Konzerten.

Liquid Light Eine sehr direkte Herausforderung für die traditionalistischen Überzeugungen stellte die Praxis einer Reihe prominenter Psychedelic Rock-Bands der 1960er dar, darunter The Doors, Jefferson Airplane und anderer, die Teile ihrer Konzerte im Dunkeln darboten und damit die Art und Weise reproduzierten suchten, wie Menschen Platten hören. Sie deuteten damit an, dass musikalischer Klang autark ist und keine visuelle Verifizierung erfordert (Auslander 2006: 18). Jefferson Airplane erachteten den Punkt als wichtig genug, um den Song »Turn Out The Light« auf ihrem Album Bless Its Pointed Little Head zu veröffentlichen, eine Liveaufnahme, die 1968 im Fillmore East und Fillmore West entstand. Auf der Aufnahme hört man Mitglieder der Gruppe, die inständig darum bitten, die Bühnenbeleuchtung zu dimmen; ihr Flehen wird zu einer improvisierten Instrumentalnummer mit einem abgedroschenen Country-Feeling. Bei sorgfältigem Hinhören offenbart sich jedoch, dass die Band die Performance in der Dunkelheit nicht als Selbstzweck ansieht. Vielmehr geht es ihnen darum, dass ihr Publikum auch in der Lage ist, die begleitende Light Show zu sehen. Während der psychedelischen Ära waren Light Shows ein zentraler Teil von Rockkonzerten. Jefferson Airplane engagierten den von San Francisco aus operierenden Glenn McKay. Seine Headlights genannte Truppe, die häufig im Fillmore Auditorium, dem späteren Fillmore West, performt hatte, sorgte von 1967 bis 1972 exklusiv für die Light Show der Band (Tamarkin 2003: 146). Das Fillmore East in New York City hatte einer feste Gruppe von Lichtkünstlern unter der Leitung Joshua Whites, die als die Joshua Light

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PHILIP AUSLANDER Show bekannt wurde.8 Jefferson Airplane wollten ganz offensichtlich, dass ihr Publikum in den Genuss ihres Zusammenspiels mit den Headlights kommt, aber ihre Bitte um Dunkelheit hatte noch andere Gründe. Als eine Performance, zu der zwei Gruppen von Künstlern mit unterschiedlichen Medien etwas beitragen, kann man das Rockkonzert mit Light Show als ein Beispiel musikalischer Multimedialität (»instance of musical multimedia«, IMM) analysieren. Nicholas Cook hat hierfür einen theoretischen Rahmen geliefert. Cook unterscheidet Typen multimedialer Events hinsichtlich des Charakters der Verhältnisse zwischen den verschiedenen Medien. Diese Verhältnisse können dreierlei Art sein: Konformität (»conformance«), Komplementierung (»complementation«) und Wettbewerb (»contest«). Konformität beschreibt Situationen, in denen andere Medien mit der Musik übereinstimmen (und umgekehrt); Komplementierung beschreibt Situationen, in denen Musik und andere Medien einander vervollständigen, um einen Gesamteindruck zu formen; Wettbewerb beschreibt Situationen, in denen Musik und andere Medien miteinander in Konflikt oder Konkurrenz stehen.9 Wie Cook richtig vorschlägt, sind diese Kategorien möglichst nicht als diskrete zu behandeln: »A more sensitive application will distinguish between the different roles played by different media within any IMM and will categorize the relative preponderance of conformance, complementation, and contest« (Cook 2001: 106). Konzerte mit psychedelischen Light Shows waren komplexe und facettenreiche Formen musikalischer Multimedialität. Beschreibungen weisen häufig darauf hin, dass die Bewegung der Lichter, Formen, Farben und Bilder »were based on the underlying rhythm of the music« und einen »direct link between the visual and aural effect« etablierten (Whiteley 1992: 28f.). Auf dieser Basis können die Konzerte als Fälle von Konformität der Lichter mit dem Rhythmus oder der thematischen Struktur der Musik beschrieben werden. David Snyder hingegen, der unter dem Namen Revelation Lights 8

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Vgl. Zinman 2008: 17-21; Pouncey 2005a: 155-162 und 2005b: 163-178. Für Darstellungen, die die Joshua Light Show und verwandte Phänomene in einen kulturellen Kontext einordnen vgl. Iles 2005: 67-83 und Grunenberg 2005: 21-35. Kay Dickinson (2007: 15) kritisiert Analysen, in denen audiovisuelle Formate behandelt werden »as a parade with one leader [rather than] a thoroughfare with two-way traffic«. In diesem Kontext sollte man darauf hinweisen, dass obwohl Cooks Vorstellung von Multimedialität von klaren Unterscheidungen zwischen Medien und den Sinnen, auf die sie wirken, abhängt, nur die Kategorie der Konformität »führende« (»leader«) und »folgende« (»follower«) Medien umfasst. Wettbewerb ist eher ein Zustand von Spannung zwischen den Medien, die ein IMM bilden, als dass eines der Medien das andere dominieren würde, während Komplementierung überhaupt keine hierarchische Beziehungen zwischen den Medien impliziert.

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SOUND UND BILD: DIE AUDIO/VISUELLE ÖKONOMIE MUSIKALISCHER PERFORMANCE auftrat, beharrt darauf, er habe nie gewollt, dass das Publikum dachte, die Lichter folgten der Musik, sondern, dass Lichter und Musik simultane Interpretationen der Komposition darstellten (vgl. den Videoclip »Virgil Fox Heavy Organ«). So verstanden, könnte das Konzert mit einer Light Show das sein, was Cook als »triadic conformance« beschreibt: Musik und andere Medien stehen mit einer dritten Entität in wechselseitiger Konformität zueinander (in diesem Fall die musikalische Komposition) (Cook 2001: 101). Oftmals wird zudem behauptet, Psychedelic Rock und Light Shows hätten zusammen danach gestrebt, das Erleben eines LSD-Trips zu steigern oder zu simulieren. McKay erklärt: »Even if you weren't tripping, [the light show] gave you another trip« (zit. n. Hamlin 1999). Im Stück »Turn Out The Lights« droht ein Mitglied von Jefferson Airplane der Bühnencrew im Scherz, er schicke »Owsley to get you«, wenn die Lichter nicht gedimmt würden ― eine Anspielung auf Owsley Stanley, der zu dieser Zeit der Hauptlieferant für LSD in San Francisco war. Sheily Whiteley beschreibt die Londoner psychedelische Szene wie folgt: »Long, improvisatory passages and electronically produced sound effects resonated with stroboscopic lighting to bring about a feeling of freedom analogous to the effect of acid: the ›piling up of new sensations,‹ the associations with changed perspectives and color« (Whiteley 1992: 33). In dieser Verbindung könnten die Konzerte als Beispiele für Komplementierung betrachtet werden, bei der Musik den akustischen Teil der synästhetischen LSD-Erfahrung repliziert oder stimuliert, während die Light Show die halluzinogene visuelle Dimension beisteuert. Performances mit visuellen und akustischen Medien vereinten sich im Psychedelic Rock-Konzert, um die vollständige Nachbildung eines LSD-Trips zu liefern, die keine von beiden für sich allein hätte produzieren können.10 Doch auch abgesehen von dem Kontext psychedelischer Drogenerfahrungen können psychedelische Light Shows als Beispiel für Komplementierung verstanden werden. Das Verhältnis der Headligths zu Jefferson Airplane war ungewöhnlich (zumindest für die USA).11 Normalerweise arbeiteten die 10 In diesem Kontext sei auch auf Whiteley (1992: 31-33) verwiesen, die die Frage aufgreift, ob Pink Floyds abgefahrenes »Astronomy Dominé« bereits an sich psychedelisch oder von dem Vorhandensein einer Light Show abhängig ist, um einen psychedelischen Effekt zu erschaffen. Nach Abwägen der Argumente schlussfolgert Whiteley, dass der Song rein auf der musikalischen Ebene psychedelisch ist. 11 Barry Miles (2004: 170) weist darauf hin, dass »the psychedelic light show developed differently in Britain than in the States. In America, the light-show teams operated independently, as if they were groups themselves, and would be hired to provide a show for all the groups playing that evening, whereas in

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PHILIP AUSLANDER Lichtkünstler für einen Veranstaltungsort und nicht für die Bands. Als feste Light Show am Fillmore East wurde die Joshua Light Show von Bill Graham engagiert, dem Impresario der beiden Spielstätten Fillmore East und Fillmore West, und nicht von den Bands, mit denen sie arbeiteten. Sie lieferten die Light Shows für alle, oftmals sehr verschiedenen Künstler, die Graham für die Hallen buchte (mit Ausnahme derer, die sich weigerten). Diese Light Shows waren normalerweise keine Zusammenarbeiten zwischen Lichtkünstlern und Musikern (obwohl die Lichtkünstler durchaus spezielle Wünsche der Musiker annahmen), und sie probten auch nicht zwangsläufig zusammen. White betont die improvisatorischen, die »manuellen« (gegenüber automatisierten) und die Live-Aspekte der Light Shows und deutet an, dass sich die Beteiligten meist wenig darum bemühten, eine enge Synchronisation zwischen Musik und Licht zu erreichen. Er beschreibt die Light Show als »arrhythmic and therefore it was the audience and the musicians which gave it a rhythm« (zit. n. Pouncey 2005b: 175). Die den Konzerten zugrunde liegende Annahme bestand darin, dass Musiker und Lichtkünstler eine Sensibilität, ein Gefühl für ihren gegenkulturellen Kontext und ein Bewusstsein dafür teilten, was ihr Publikum wollte. Sie alle arbeiteten für ein gemeinsames Ziel, jedoch nicht durch eine formale Zusammenarbeit oder die Anpassung von Klang und Visuellem. Wenngleich Cook sein Schema für musikalische Multimedialität als ein quasi-objektives, strukturalistisches Vokabular zur Identifizierung unterschiedlicher Beziehungen zwischen den Elementen, die ein gegebenes IMM konstituieren, darstellt, bin ich der Meinung, dass die Auswahl (oder der Schwerpunkt auf) einer seiner Kategorien gegenüber einer anderen stärker die Ideologie, Vorurteile oder Interessen des Analysten widerspiegelt als die inhärenten Eigenschaften des betreffenden IMM. Wie die von mir zitierten Beispiele andeuten, liegt es nahe, dass Musiker und Lichtkünstler, die an der Produktion psychedelischer Konzerte beteiligt waren, sowie ihr Publikum die Beziehung zwischen Musik und Light Show als Konformität oder Komplementierung oder beides ansahen. Vermutlich nahmen sie die Lichter als der Musik folgend oder sie illustrierend wahr oder sie verstanden Musik und Lichter als parallele Ereignisse (jedes der beiden ist ein Fall von Konformität). Da die Gegenkultur, von der Psychedelic RockBritain any band wanting a light show tended to develop their own.« Das trifft indes nicht ganz zu, denn es gab eindeutig britische Light Shows, die unabhängig für mehrere Bands gearbeitet haben (vgl. Iles 2005: 79). Diese Tendenz mag teilweise erklären, warum Sheila Whiteley, die über die Londoner Szene schreibt, bekundet, dass die Light Shows dem Rhythmus der Musik folgten, während Joshua White über seine Arbeit in New York sagt, die Light Shows seien »arrhythmic« gewesen (beide sind im Haupttext zitiert).

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SOUND UND BILD: DIE AUDIO/VISUELLE ÖKONOMIE MUSIKALISCHER PERFORMANCE Konzerte ja ein Teil waren, synästhetische Erfahrungen betonte, könnten sie auch die auditiven und visuellen Medien als zusammenwirkend aufgefasst haben, um ein Gesamt-Event zu kreieren, unabhängig davon, ob die Veranstaltung als Simulation eines LSD-Trips oder als Zelebrieren gegenkultureller Ästhetiken verstanden wurde. Aus der traditionalistischen Perspektive, die ich hier beschrieben habe, kann die Psychedelic Rock-Show jedoch nur als eine Form von Wettstreit zwischen den auditiven und visuellen Elementen des Konzerts verstanden werden. Diese Charakterisierung leitet sich nicht von der Beziehung zwischen den visuellen und den auditiven Elementen solch einer Show ab, sondern von der Beschaffenheit der visuellen Elemente selbst. Ein Traditionalist würde vermutlich keinen Einwand gegen eine Performance haben, in der die visuellen und musikalischen Elemente miteinander konform gehen oder einander komplementieren; in beiden Fällen könnten sie zusammen wirken, um musikalische Informationen zu kommunizieren, solange die betreffenden visuellen Elemente »musikalisch relevant« wären. In psychedelischen Light Shows jedoch waren die performenden Körper der Musiker in einer Art und Weise verflochten mit bewegten Bildern, Farben und Mustern, einige abstrakt, andere gegenständlich, die ihre Gesten und Gesichtsausdrücke verdeckten. Die historische Wahrheit verlangt, die frühen Light Shows in San Francisco von den etwas späteren Praktiken an der Ostküste zu unterscheiden. In San Francisco Mitte der 1960er Jahre, wo musikalische Performances psychedelischer Rockbands eher als Tanzveranstaltungen denn als Konzerte inszeniert wurden, schufen die Light Shows suggestive visuelle Umgebungen, in die Musiker und Publikum gleichermaßen eintauchten. Spätere OstküstenLight Shows, besonders im Fillmore East, stützten sich eher auf Rückprojektionen auf Leinwänden hinter den Musikern, die sie weniger verdeckten.12 Im ersten Fall löschte die Light Show die Gesten und Gesichtsausdrücker der 12 Joshua White führt die Ursprünge der Ostküsten-Light Shows auf eine einwöchige Veranstaltung in Toronto im Jahre 1967 zurück, für die Bill Graham plante, die San Francisco-Szene nachzubilden. Der Veranstaltungsort war allerdings ein traditionelles Theater und kein offener Tanz- bzw. Festsaal wie das Fillmore Auditorium. Graham trat an White und seine Firma heran, um einen Weg zu finden, die Festsaal-Atmosphäre in einer konventionellen Theaterumgebung nachzubilden, was White durch den Einsatz von Rückprojektionen auf der Bühne und atmosphärischer Beleuchtung im Saal erreichte. Wenngleich White nicht die endgültige Light Show für diese Veranstaltung lieferte, war er doch an ihrer Entwicklung beteiligt. Letztlich war es die Adaption der Techniken und Bildsprache der San Francisco-Light Show an eine Theaterumgebung durch den Gebrauch von Rückprojektionen, die die Geburt der Ostküsten-Light Shows bedeutete (vgl. Pouncey 2005b: 167-169 und Del Signore 2007).

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PHILIP AUSLANDER Musiker aus; im letzteren Fall bot die Light Show eine verwirrend spektakuläre Konkurrenz für die Musiker. Der Effekt der Ablenkung war beabsichtigt. Joshua White schreibt seine Chance, am Fillmore East Light Shows zu entwerfen, Bill Grahams Entscheidung zu, »that the audience needed to have something to look at besides a bunch of musicians in street clothes tuning up« (Bill Graham zit. in Del Signore 2007). In beiden Fällen, selbst wenn die visuellen Effekte dem Rhythmus oder der Struktur der Musik folgten und dadurch musikalische Informationen an das Publikum übertrugen, bedrohte die Light Show doch unweigerlich die Möglichkeit des Publikums, ebenjene Dinge zu sehen oder zu fokussieren, die im traditionalistischen Modell der musikalischen Performance im Mittelpunkt stehen: die physischen Handlungen des Musikers zur Klangproduktion. Das Publikum wurde so dessen beraubt, was es nach Ansicht der Traditionalisten braucht, um Einsatz und Fähigkeiten des Musikers wahrzunehmen und die Authentizität der Performance zu verifizieren. Die Light Show machte sich desselben Vergehens schuldig, dessen Traditionalisten gelegentlich Musikvideos bezichtigen: »substituting the gestures of a performer with other visual content necessarily changes perceptual and affective co-regulation, distorting and diluting the communication between performers and listeners through a literal distancing of the performer from his or her audience« (Thompson/Graham/Russo 2005: 222). Auch wenn ich das Rockkonzert mit psychedelischer Light Show als eine Performance-Praxis bezeichne, die die traditionalistische Sichtweise der musikalischen Performance und die ihr innewohnenden Werte herausforderte, ist es schwierig, mit Sicherheit zu bestimmen, ob psychedelische Rockbands wie Jefferson Airplane den eigenen Einsatz von Light Shows als eine Herausforderung solch einer Sicht, wie die musikalische Performance zu sein habe, verstanden haben oder ob sie einfach den Performance-Konventionen ihres Genres, sozialen Milieus und historischen Zeitpunkts verhaftet waren. Es gibt allerdings Belege für einige Differenzen um den Rückgriff auf visuelle Spektakel im Psychedelic Rock. Chuck Beale, Leadgitarrist der kanadischen Band The Paupers, wird wie folgt zitiert: »We are trying to create a total environment with sound alone […]. Sound is enough. We don't use lights or any gimmicks. When we record we don't double track or use any other instruments. What the four of us can do is the sound we make. That's all« (zit. n. Lydon 2003: 26). Diese Äußerung zielte wahrscheinlich auf Jefferson Airplane, die angeblich von den Paupers an die Wand gespielt wurden, als beide Bands 1967 am

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SOUND UND BILD: DIE AUDIO/VISUELLE ÖKONOMIE MUSIKALISCHER PERFORMANCE selben Abend im Café Au Go Go in New York auftraten. Sie deutet darauf hin, dass die Gemeinschaft der Psychedelic Rock-Musiker nicht monolithisch war, sondern dass es verschiedene Lager gab, einschließlich eines traditionalistischen Lagers, das »musikalisch irrelevante« Visualisierungen nebst Trickserei im Aufnahmestudio ablehnte, zugunsten der Fokussierung auf die Musiker, ihren Sound und ihre ungeschönten Fähigkeiten, diesen hervorzubringen.

Fazit Es ist klar, dass technologische Veränderungen den Hintergrund für die audiovisuelle Ökonomie der musikalischen Performance darstellen, die ich hier beschrieben habe. Technologisch induzierte Entwicklungen, die die traditionalistischen Werte herausforderten, welche die Wichtigkeit der Aufrechterhaltung klarer Ursache/Wirkung-Beziehungen zwischen den visuellen und auditiven Aspekten der musikalischen Performance unterstreichen, schließen Tonaufnahmen, Rundfunk und den Einsatz von Computern und digitalen Instrumenten bei Liveauftritten ein, ebenso wie jüngere kulturelle Formen wie das Musikvideo und die Luftgitarre. Alles in allem weisen die Belege darauf hin, dass die traditionalistische Angst vor diesen Entwicklungen unangebracht ist. Sosehr die Ästhetiken aktueller Performances populärer Musik auch von rein visuellen Spektakeln dominiert zu sein scheinen, so bleiben sie ideologisch doch der traditionalistischen Denkweise verhaftet, dass wir eine visuelle Überprüfung der musikalischen Klänge benötigen. Wenn neue Wege des Musikmachens aufkommen, finden seine Praktiker in den meisten Fällen Wege, sie traditionalistischen Werten anzupassen. Dies wird z.B. an der Debatte um Computermusik sichtbar, mit der ich begonnen habe. Als weitere Ausgestaltung dieses Beispiels möchte ich eine EmailEinladung zu einem Abend mit live kodierter Musik im Anatomy Museum, King's College, London, zitieren, die mich am 9. Januar 2010 erreichte. Dort heißt es: »Live coders expose and rewire the innards of software while it generates improvised music and/or visuals« (»live coding« wird auch »onthe-fly programming« genannt; Princeton University Computer Science 2002). Im weiteren Text wird uns versichert: »All code manipulation is projected for your pleasure.« Es wird deutlich, dass sich die traditionellen Annahmen selbst in diesem exklusiven, technologisch fortgeschrittenen musikalischen Kontext behaupten: dem Publikum muss, egal auf welche Weise, gezeigt werden, wie der Klang gemacht wird.

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PHILIP AUSLANDER Ein ganz ähnlicher Fall ereignete sich kürzlich bei einem Auftritt des Jazzgitarristen Pat Metheny mit dem von ihm entwickelten Orchestrion, einer komplexen Anordnung robotisierter musikalischer Instrumente, vornehmlich Saiten- und Percussioninstrumente. Das Orchestrion wird von einem Computer und einem MIDI-Interface gesteuert und begleitet sein Gitarrenspiel. Bei diesen Konzerten ist Metheny der einzige »menschliche« Performer auf der Bühne. Ben Ratliffs Besprechung von Methenys Orchestrion-Konzert 2010 in der Town Hall in New York City zeichnet interessanterweise nach, wie das Konzert strukturiert gewesen sein muss, um einem von Traditionalismus durchdrungenen Publikum deutlich zu machen, was dort geschah. Ratliff beginnt mit der Bemerkung, dass Metheny zunächst Sologitarre spielte, etwas, an das sein Publikum gewöhnt war und in dem die visuellen Beziehungen von Ursache und Wirkung zwischen dem, was er tat, und den Klängen, die er produzierte, klar war. Ratliff nimmt an, das Publikum hätte revoltiert, wenn Metheny ihm keine Verständnishilfen gegeben hätte. Über den folgenden Abschnitt des Konzerts schreibt er: »It seems that the specificity of your attack on the guitar – whether and how you strum a chord or pick a note – determines the texture of the orchestral sounds that result from it. How it all works remains unclear, but the audience understands it better. [...] It's quite possible that a listener is thinking, for the first time that evening, ›I could do that‹« (Ratliff 2010). Ratliffs Beschreibung lässt den Schluss zu, dass Metheney, um seine Performance einer ungewohnten Musik einem traditionalistischen Publikum schmackhaft zu machen, dem weiter oben zitierten Vorschlag von Schloss folgt, indem er deutlich sichtbare Eingabeparameter bzw. –gesten präsentiert, um die Beziehung zwischen Geste und Klang zu verdeutlichen und das Publikum glauben zu machen, es verstünde, was gerade vorgeht. Obwohl es keinen Grund gibt anzunehmen, dass die traditionalistischen Werte für die musikalische Performance in naher Zukunft ihre Vorherrschaft verlieren, zeigt die Berücksichtigung der historisch uneinheitlichen Beziehung zwischen Klang und Visuellem in der musikalischen Performance, dass das »Audiovisuelle« in diesem Kontext nicht als nahtlose Einheit zu verstehen ist, sondern als synkretistisch. Wahrscheinlich ist es besser als »audio-visuell« oder »audio/visuell« zu bezeichnen. In den kulturellen Kontexten von Rock, Jazz und Computermusik, auf die ich mich hier bezogen habe, ist das Audiovisuelle immer in zwei Tracks unterteilt, die als eigenständig behandelt und in diverse Beziehungen zueinander gesetzt werden können. Diese Beziehungen sind hierarchisierend konstruiert, ein Track wird

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SOUND UND BILD: DIE AUDIO/VISUELLE ÖKONOMIE MUSIKALISCHER PERFORMANCE immer als dominierend und den Kontext bestimmend gedacht. Diese traditionalistische Position, die die dominante bleibt, hat eine komplexe Beziehung zwischen diesen Tracks zur Folge. Einerseits wird der Klang als der bedeutendere Track angesehen, weil das Ziel der Performance eben das Spielen der Musik ist. Andererseits ist der Klang allein nicht dazu im Stande, das Publikum mit allen notwendigen Informationen zu versorgen, um die Fähigkeiten und Anstrengungen des Musikers beurteilen zu können; es bleibt zur Überprüfung vom visuellen Track abhängig. In diesem Sinne ist die Vorherrschaft im visuellen Track verortet. Es ist dieser Track, den Musiker, die die traditionalistischen Werte und Performance-Konventionen herausfordern wollten, manipulierten, indem sie Lichteffekte, einschließlich Dunkelheit und psychedelischer Light Shows, verwendeten, so dass ihre eigenen Aktionen während der musikalischen Klangerzeugung verschleiert wurden und spektakuläre visuelle Effekte ihre Performances dominierten.

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SOUND UND BILD: DIE AUDIO/VISUELLE ÖKONOMIE MUSIKALISCHER PERFORMANCE

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Abstract By characterizing the relationship between the visual and audible dimensions of music performance as an »economy«, I am suggesting that these two dimensions do not necessarily simply work hand-in-hand. Rather, there can be competition between them as they vie for the audience’s attention and seek to influence the audience's understanding of the performance. Musicians shape differential relationships between sight and sound some of which can be characterized as normative or traditional, while others can be characterized as challenging the norms. I begin by positing what I call the »traditionalist« view of music performance, a view that emphasizes visible causality in music performance: what the audience sees should provide information about how the sound is being produced and, perhaps, about the musician's affective state. Visual information that does not contribute to this understanding is perceived as interference. The relative value of sound and visual information in music performance varies somewhat by genre, of course. But even performers operating within genre contexts in which the traditional values generally hold sway sometimes challenge those values by manipulating the relationship between the auditory and visual aspects of musical performance in ways that go against the traditional (or traditionalist) grain. In my essay, I look at one such performance practice: the use of light shows in psychedelic rock concerts of the late 1960s and early 1970s.

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SCHEIN

ODER

VON

N I C H T -S C H E I N ? Z U R I N S Z E N I E R U N G

AUTHENTIZITÄT

AUF DER BÜHNE

Ralf von Appen Ziel einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Wert der Authentizität kann es nicht sein zu entscheiden, wer oder was wahrhaft authentisch ist. Einen verbindlichen, konsensuell akzeptierten Maßstab dafür wird es nicht geben, da mit dem Authentizitäts-Begriff verschiedene, einander mitunter widersprechende Werte angesprochen werden, die zudem noch historischem Wandel unterworfen und so nicht auf einen stabilen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Diese konkurrierenden Wertvorstellungen ergeben sich aus den unterschiedlichen persönlichen und sozialen Bedürfnissen der Hörerinnen und Hörer und haben somit allesamt ihre Berechtigung. Das Bemühen sollte sich vielmehr darauf richten, verschiedene Konstruktionen und Zuschreibungen von Authentizität zu dokumentieren und darin wiederkehrende Muster zu erkennen, um die dahinter verborgenen Ideale, Bedürfnisse, Identifikations- bzw. Distinktionsbemühungen etc. offen zu legen. Damit verbunden ist das kulturwissenschaftliche Interesse, gesellschaftliche und individuelle Funktionen von Musik zu verstehen. Ein weiteres Ziel ist es daneben, durch die Schärfung des Bewusstseins für den Inszenierungscharakter medial vermittelter Authentizitätskonstruktionen zum aufgeklärten Umgang mit ökonomisch und ideologisch motivierten Inszenierungen beizutragen. Mit diesen Absichten werde ich zunächst die zentralen Begriffe Authentizität, Liveness und Inszenierung diskutieren, um dann anhand aktueller Beispiele verbreitete Authentifizierungsstrategien speziell bei Live-Auftritten untersuchen. Auf der Bühne nämlich zeigt sich der Konflikt dieser drei Ideen am deutlichsten.

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RALF VON APPEN

I. Authentizität — Liveness — Inszenierung Authentizität  Authentizität ist ein ethisches Ideal, das auf den Werten der Ehrlichkeit, der Treue und der Konsequenz basiert, sowohl sich selbst wie auch anderen gegenüber. Bezogen auf zwischenmenschliche Beziehungen bringt es das essentielle Bedürfnis zum Ausdruck, nicht getäuscht und nicht enttäuscht zu werden. Als individual-ethischem Anspruch liegen ihm die Bedürfnisse nach Selbstverwirklichung und individueller Freiheit zugrunde und damit die Wünsche, das eigene Potential ausschöpfen und sich den persönlichen Idealen entsprechend verhalten zu können. Im Kontext der Musik sind zumindest folgende vier Dimensionen von Bedeutung: a) Persönliche Authentizität Als authentisch gilt, wem es gelingt, innere Überzeugungen und äußeres Handeln in Übereinstimmung zu bringen. Menschen, die so ihrem inneren Kompass folgen, hält man für ehrlich und man weiß, was man von ihnen zu erwarten hat. Dieser Anspruch richtet sich seit Mitte der 1960er Jahre auch an Rock- und Popmusiker. Zu dieser Zeit begann man sie weniger als Entertainer denn als Künstler anzusehen, wobei das Künstlerbild ― ursprünglich vermittelt durch britische Art Schools und das Vorbild der Beat Poets sowie von Dichtern wie Baudelaire, Rimbaud, Keats oder Blake ― starke romantische Züge trägt (vgl. Frith/Horne 1987, Pattison 1987, Appen 2013). John Lennon, Jim Morrison oder Jimi Hendrix wurden von ihren Anhängern ― im Gegensatz zu den Stars der Elterngeneration ― für unangepasste Individuen mit besonderer Persönlichkeit gehalten, die nur ihren eigenen Überzeugungen verpflichtet sind und sich unabhängig von gesellschaftlichen Autoritäten und marktwirtschaftlicher Einflussnahme selbst verwirklichen. Damit wurden sie im Kontext der politischen Auseinandersetzung der Baby-BoomerGeneration mit dem »Establishment« zu in die Zukunft weisenden Vorbildern für eine bessere Gesellschaft, in der das Ideal des von autoritärer Ordnung befreiten Menschen mit »befreitem Bewusstsein« verwirklicht sein würde und man ein Leben würde führen können, »das nicht in der Erfüllung von Rollenerwartungen, der Entsprechung an Verhaltenskonventionen oder der Umsetzung von traditionell bestimmten Lebensplänen aufgeht« (Menke 2005: 309). Mit dieser vermeintlichen Unabhängigkeit von gesellschaftlichen Zwängen wurde die Erwartung verbunden, dass die Musiker authentisch blei-

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SCHEIN ODER NICHT-SCHEIN? ZUR INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT AUF DER BÜHNE ben, sich also radikal selbst verwirklichen und die idealisierte Freiheit ausleben, statt sich denselben Kompromissen zu unterwerfen, die das Publikum tagein, tagaus eingehen muss. Besonders verbreitet sind solche Ideale seitdem in allen Spielarten der populären Musik, die sich als gegenkulturell oder rebellisch vom so genannten Mainstream abgrenzen wollen (zur Bedeutung von Authentizität für Punk-Fans s. z.B. Lewin/Williams 2009). Gerade weil jede Musik, die größere Verbreitung finden will, an marktwirtschaftliche Strukturen gebunden ist und so immer im Verdacht steht, sich diesen zu beugen, ist das Kriterium der Authentizität hier so wichtig. Als größtmögliche Enttäuschung gilt es daher, wenn Musiker ihre Musik oder ihr Image durch Aussicht auf Ruhm und kommerziellen Erfolg den Erwartungen der Mehrheit zu sehr anpassen (»selling out«, Beispiele in Appen 2007: 118ff.). Als besonders authentisch gilt im Gegenzug, wer mit (vermeintlich) unabhängigen Labels außerhalb großkapitalistischer Strukturen arbeitet und so viele Entscheidungen und Produktionsschritte wie möglich selbst verantwortet (das »Do-It-Yourself«Ideal). Aber auch jenseits dieser freiheitlichen Rock-Ideologie zeigen Fans großes Interesse am Privatleben der Stars und an der Frage, inwiefern sich öffentlich vermitteltes Image und »tatsächliche« Persönlichkeit decken. Gerade, wenn man Stars zum Vorbild wählt und sich über sie identifiziert, will man wissen, woran man ist. Authentizität wird so auch Popstars mit großen Mainstream-Erfolgen zugesprochen, wenn sie trotz Ruhm und Reichtum den Eindruck erwecken, »natürlich« und »sich selbst treu« geblieben zu sein (s. den Abschnitt über Adele, S. 60ff). b) Sozio-kulturelle Authentizität Mit dem Ideal der persönlichen Authentizität verbunden, aber anders motiviert, ist der Anspruch, dass Musiker den Werten ihres Publikums, insbesondere der lokalen oder sozialen Subkultur, aus der sie hervorgegangen sind, treu bleiben. Sie sollen sich auch im Falle von Erfolg und gesellschaftlichem Aufstieg mit dieser Subkultur identifizieren, um nicht im Gegenzug diejenigen zu kompromittieren, die sich von ihnen repräsentiert fühlen. Auch dieses Ideal findet sich naturgemäß vor allem (aber keineswegs nur) dort, wo Bands und Fans sich vom »Mainstream« abgrenzen wollen (vgl. Appen 2007: 122ff.). An dem Konflikt, in den Bob Dylan mit seinem Auftritt mit Band und E-Gitarre beim Newport Festival 1965 geriet, zeigt sich beispielhaft, dass persönliche Authentizität (= das Verfolgen der eigenen Werte) und sozio-

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RALF VON APPEN kulturelle Authentizität (= die Übereinstimmung mit teilkulturellen Werten) sich mitunter nicht vereinen lassen: Den einen galt Dylan als »sich selbst treu« im Sinne der persönlichen Authentizität, weil er sich nicht von Fans, Förderern und Kritikern vereinnahmen ließ, sondern seiner persönlichen Überzeugung folgte und sich künstlerisch weiterentwickelte. Seine Gegner aus der Folk-Revival-Szene, die sich von Dylan bis dahin repräsentiert sahen und denen er seine Karriere zu verdanken hatte, sahen in der Elektrifizierung dagegen den ökonomisch motivierten Versuch, an die Erfolge der Beatles und der Byrds anzuknüpfen. In ihren Augen verriet Dylan mit dieser Anpassung an eine oberflächliche Mode die grundlegenden politischen und ethischen Werte der Folk-Bewegung: Distanz zur Unterhaltungsindustrie und zum Establishment, Ernsthaftigkeit, Traditionsbewusstsein und vor allem soziales Engagement (vgl. Nelson 1965). c) Handwerkliche Authentizität Entsprechend dem ursprünglichen Wortsinn des griechischen Verbs authéntein (= selbst ausführen, eigenständig tun; s. Stimpfle 2011: 161) bzw. dem Adjektiv authentikós (= von eigener Hand ausgeführt, ebd.) betrifft diese Dimension das Bedürfnis, nicht über die Urheberschaft und die handwerklichen Leistungen von Musikern getäuscht zu werden. Abgelehnt und sanktioniert werden dementsprechend Plagiate und ― je nach Situation und Genre ― Lip-Synching, der Einsatz von Playback oder Auto-Tune und andere Vortäuschungen von Kompetenz. Prominente Beispiele sind die Aberkennung des Grammy-Awards an Milli Vanilli 1990 (s. Friedman 1993) oder die vom Spiegel erhobenen Vorwürfe, die Rolling Stones würden bei ihren Konzerten auf Playbacks zurückgreifen (N.N. 1995). In diesem Sinne ist auch der Hinweis auf den frühen Queen-Alben, die Band habe bei den Aufnahmen keinerlei Synthesizer verwendet, als Absage an »maschinelle« Hilfe zu verstehen. Hinter der Empörung über die Vortäuschung nicht vorhandener Kompetenz steht zum einen der Arbeitsethos des »ehrlichen Handwerks«, der in der Country Music, im Rock und insbesondere im Heavy Metal verbreitet ist (Diaz-Bone 2002: 408 u. 410): Wertschätzung für eine Arbeit solle man sich durch hart errungene Qualität verdienen, nicht durch falsche Angaben erschleichen. Zum anderen spielt auch hier der Aspekt der Identifikation eine Rolle: Wie soll man sich von einem Musiker repräsentiert fühlen, der nicht hundertprozentig mit dem zu identifizieren ist, was er zu sein vorgibt, dessen Musik nicht einmal ihn selbst repräsentiert? Und nicht zuletzt gilt »von eigener Hand gemachte« Musik als Voraussetzung für emotionale Authentizität.

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SCHEIN ODER NICHT-SCHEIN? ZUR INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT AUF DER BÜHNE d) Emotionale Authentizität Ebenfalls romantischen Ursprungs ist der Anspruch, dass Musik, die emotional bewegt, ihren Ursprung im persönlichen Leben der Musiker haben soll. Dieser Wunsch nach einem authentischen emotionalen Ausdruck basiert auf drei Grundannahmen: Erstens wird Musik (mehr oder weniger bewusst) als kulturelles Medium verstanden, das der Kommunikation wichtiger Lebens-Erfahrungen dient. Menschen nutzen Musik, um eigene emotionale Erfahrungen zu denen anderer in Beziehung zu setzen, um zu imaginieren, wie es sich anfühlt, in bestimmten Situationen zu sein, um mit ihren Gefühlen nicht allein zu sein und zu hören, wie es anderen in Freud oder Leid ergeht. Wenn die emotionale Dimension von Musik also wichtig für das eigene Leben wird, dann will man sich darauf verlassen können, dass die bevorzugte Musik tatsächlich etwas Echtes, Wahres über das Leben vermittelt und nicht bloßer Fiktion entspringt. Dies ist vor allem dann möglich, so die zweite Grundannahme, wenn der emotionale Ausdruck autobiographisch verwurzelt ist. Anders als von Schauspielern glaubt und fordert man von Pop- und Rockmusikern kaum, dass sie sich für verschiedene Songs in verschiedene Rollen versetzen, sondern dass sich der emotionale Ausdruck ihrer Songs aus ihrem eigenen Gefühlsleben speist, sie also tatsächliche Facetten ihrer Persönlichkeit zum Ausdruck bringen (entsprechende Aussagen von Musikern und Fans s. Appen 2007: 129f.). Entsprechend wird in vielen Stilbereichen erwartet, dass Interpreten ihre Songs selbst schreiben oder gecoverten Stücken zumindest ihren persönlichen Stempel aufdrücken. Das medial vermittelte Wissen um Drogensucht, Ghetto-Hintergrund, unglückliche Liebe oder Erfahrungen mit dem Tod authentifiziert Musiker wie Kurt Cobain, Herbert Grönemeyer, 50 Cent oder Johnny Cash zusätzlich. Es beseitigt das Misstrauen, dass jemand über ein Leid klagt, das er nicht erfahren hat, und so nicht wirklich in der Lage ist, Einblicke in essentielle Lebenssituationen zu vermitteln, mit denen es sich auseinanderzusetzen lohnt. Drittens herrscht bei einem nicht geringen Teil des Publikums weiterhin die romantische Vorstellung, dass Emotionen geeigneter seien, etwas Wahres über menschliche Verhältnisse zur Welt zu vermitteln als Sprache und Vernunft, »dass es eine ›echte Wahrheit‹ nur im Fühlen und nicht im Denken gibt« (Funk 2011: 231). Gerade durch Gestik, Mimik und eben Musik zum Ausdruck gebrachte Emotionen gelten dabei nach wie vor als unmittelbarer, unverfälschter Ausdruck des Selbst: »Feelings and emotions are keys for unlocking who I am, my authenticity, how I perceive and how I discover my

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RALF VON APPEN ›real self‹« (McCarthy 2009: 241). Mit dieser Überzeugung geht eine Ablehnung von technischen Hilfsmitteln und zu großer rationaler Einflussnahme auf den Schaffensprozess einher: Das Emotionale solle nicht durch zuviel Perfektion, durch Auto-Tune oder andere Computertechnik zerstört werden, Musik solle lieber ungeschliffen und »natürlich« klingen als glatt, unmenschlich und ausdruckslos.1 Diese Werthaltung brachte Dave Grohl von den Foo Fighters in seiner Dankesrede für den 2012 gewonnenen Grammy in der Kategorie »Best Rock Album« auf den Punkt: »This is a great honor. Because this record was a special record for our band. Rather than, rather than go to the best studio in the world down the street in Hollywood and rather than use all the fanciest computers that you can buy, we made this one in my garage with some microphones and a tape machine. [...] To me this award means a lot because it shows that the human element of making music is what's most important. Singing into a microphone and learning to play an instrument and learning to do your craft, that's the most important thing for people to do. It's not about being perfect, it's not about sounding absolutely correct, it's not about what goes on in a computer. It's about what goes on in here [zeigt auf die Brust] and what goes on in here [zeigt auf seinen Kopf]« (Grohl 2012). 2 Weitere Dimensionen der Authentizität sind denkbar, etwa die »cultural« (Barker/Taylor 2007: X) oder »third person authenticity« (Moore 2002: 214218), die einen »echten« Einblick in eine bestimmte historische oder ethnische Kultur-Tradition verspricht. Sie spielen in der Live-Situation aber eine geringere Rolle, weshalb sie hier zu vernachlässigen sind.3

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Die Einsicht, dass Intimität und Nähe erst durch die Erfindung des Mikrophons auf Tonträgern vermittelt werden konnten (s. Dibben 2009: 319-321) oder dass meist viel technischer Aufwand nötig ist, um den Eindruck des »Natürlichen« zu erzeugen, hat sich jenseits professioneller Kreise noch nicht durchsetzen können. Entsprechend veröffentlichten die Foo Fighters zuvor ein Online-Video, in dem sie das gesamte Album Wasting Light in ihrem Studio ohne Publikum live spielen, um ihre handwerkliche Authentizität unter Beweis zu stellen (s. Foo Fighters 2011). Andere Systematisierungen verschiedener Authentizitäts-Dimensionen finden sich bei Fornäs (1994: 168: »social«, »subjective« und »cultural or metaauthenticity«), Moore (2002: »authenticity of expression«, »of execution«, »of experience«) sowie Barker/Taylor (2007: X: »personal«, »representational« und »cultural authenticity«). Trotz teilweise identischer Bezeichnungen unterscheiden sich die dortigen Bestimmungen inhaltlich von den hier vorgeschlagenen Dimensionen.

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SCHEIN ODER NICHT-SCHEIN? ZUR INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT AUF DER BÜHNE

Liveness Eine Aufführung, so definiert Erika Fischer-Lichte (2005a: 16), ist ein »Ereignis [...], das aus der Konfrontation und Interaktion zweier Gruppen von Personen hervorgeht, die sich an einem Ort zur selben Zeit versammeln, um in leiblicher Ko-Präsenz gemeinsam eine Situation zu durchleben.« Wenn auch die primären Handlungen bei einer Aufführung von den Akteuren auf der Bühne ausgehen, so haben die Zuschauer in dieser Ko-Präsenz doch eine konstitutive Rolle, da ihre Reaktionen (Zwischenrufe, Mitsingen und -klatschen, Tanzen, Raunen, Feuerzeuge hochhalten, mit dem Handy fotografieren, Lachen, den Saal verlassen...) ― bzw. deren unerwartetes Ausbleiben ― das Erleben und Handeln der anderen Zuschauer und der Akteure unmittelbar beeinflussen. »In diesem Sinne läßt sich behaupten«, so Fischer-Lichte (2004: 59), »daß die Aufführung von einer selbstbezüglichen und sich permanent verändernden feedback-Schleife hervorgebracht und gesteuert wird.« Die besonderen Erfahrungsqualitäten von Aufführungen soll der Begriff Liveness zusammenfassen.4 Vor allem, dass solche Ereignisse flüchtig und wesentlich durch die Interaktion von Publikum und Aufführenden geprägt sind, dass sie jederzeit durch Fehler oder Unvorhergesehenes beeinflusst werden können und somit nicht vollständig planbar und nicht exakt wiederholbar sind, sorgt für Spannung und Überraschungen ― und damit für ein intensiviertes Erleben der eigenen Gegenwart (vgl. Kolesch 2005: 188f.). New York Times-Kritiker Jon Pareles (1990) bringt diesen Reiz eines LiveKonzerts auf den Punkt: »If I wanted flawlessness, I'd stay home with the album. The spontaneity, uncertainty and ensemble coordination [...] are exactly what I go to concerts to see; the risk brings the suspense, and the sense of triumph, to live pop.« Bezogen auf die verschiedenen Dimensionen der Authentizität bietet die Live-Aufführung die seltene Möglichkeit, den Musikern einigermaßen unmit-

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Philip Auslanders (1999: 32-35, 50 u. 85-94) zur Hoch-Zeit des Musikfernsehens geäußerte These, Erfahrungen von authentischer Liveness seien in unserer stark »mediatized culture« nicht mehr möglich, da ihre Wahrnehmung unweigerlich durch unsere Erfahrungen mit technischen Medien kontaminiert sei, überzeugt mich in ihrem Absolutheitsanspruch vor dem Hintergrund eigener Konzerterfahrungen nicht. Selbst wenn dies so wäre, änderte es nichts an der von FischerLichte beschriebenen prinzipiellen Interaktivität von Aufführungen ― ein ästhetischer Reiz, den Auslander offenbar übersieht (vgl. ebd.: 54-58). Zur Kritik an Auslander siehe auch Pattie (2007: 21-39).

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RALF VON APPEN telbar persönlich zu begegnen und deren Authentizitätsversprechen so auf besondere Art überprüfen zu können: • Die sozio-kulturelle Authentizität der Musiker, das Teilen gemeinsamer Werte, kann sich in der Nähe der Stars zu den Fans, in der Kommunikation mit dem Publikum, in der Kleidung der Musiker, den Ticketpreisen und in der Songauswahl zeigen. • Die Konzertlänge, Ansagen und das Verhalten der Musiker auf der Bühne erlauben Rückschlüsse auf ihre persönliche Authentizität, etwa wenn der Eindruck von Spielfreude und Spaß an der Interaktion mit dem Publikum entsteht. • Die handwerkliche Authentizität ist besser zu beurteilen, wenn das Spiel der Musiker direkt beobachtet werden kann und Netz und doppelter Boden der Studioproduktion wegfallen (bezogen auf Heavy Metal s. DiazBone 2002: 409). • Und in der (relativ) unmittelbaren Begegnung mit den Musikern glaubt man, die emotionale Authentizität besser als in durchgestylten Studioproduktionen beurteilen zu können, bspw. an der Stimme, der Mimik und Gestik. Vor allem die beiden letzten Dimensionen hat Lawrence Grossberg im Blick, wenn er die Bedeutung von Live-Konzerten für die Authentifizierung von Musikern hervorhebt: »Die Wichtigkeit von Live-Aufführungen liegt eben in dem Umstand, dass man nur hier die eigentliche Produktion des Sounds sehen kann, und die in der Stimme verpackte emotionale Arbeit. Die Forderung nach Live-Aufführung drückte immer das Verlangen nach sichtbarer Markierung (und Beweis) der Authentizität aus« (Grossberg 2010: 202).

Inszenierung  Von der Aufführung grenzt Fischer-Lichte die Inszenierung als konzeptuelle Planung ab, die jeder Aufführung zwingend vorausgehen muss: »Inszenierung lässt sich [...] als der Prozess beschreiben, in dem allmählich die Strategien entwickelt und erprobt werden, nach denen was, wann, wielange, wo und wie vor den Zuschauern in Erscheinung treten soll. Inszenierung lässt sich entsprechend [...] als Erzeugungsstrategie bestimmen. [...] Daraus folgt auch, dass zwischen Inszenierung und Aufführung unbedingt zu unterscheiden ist. Es sind erst die Wahrnehmung der Zuschauer und deren Reaktion auf das Wahrgenommene, welche die Aufführung entstehen lassen. Das, was im Prozess der Inszenierung geplant und festgelegt ist, wird

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SCHEIN ODER NICHT-SCHEIN? ZUR INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT AUF DER BÜHNE sich daher keineswegs allabendlich genau gleich wiederholen« (FischerLichte 2005b: 148).5 Dass eine Inszenierung zwingend »überall da gegeben [ist], wo eine Aufführung stattfinden soll« (ebd.), weil Aufführungen mit mehreren Akteuren sorgfältig vorbereitet und einstudiert werden müssen, bedeutet allerdings nicht, dass alle Aufführungen im selben Maße durch Planung vorherbestimmt sind. Es kann gerade das Ziel von Inszenierungen sein, Momente der Unbestimmtheit entstehen zu lassen, damit sich »Nicht-Geplantes, NichtInszeniertes, Nicht-Vorhersagbares in der Aufführung ereignen kann, auch wenn manche [...] Inszenierung versuchen mag, diese Frei- und Spielräume so weit wie möglich einzuschränken« (Fischer-Lichte 2004: 327). Bei der Übertragung dieser Bestimmung von der Theaterbühne, über die Fischer-Lichte spricht, auf Musikaufführungen ist zusätzlich zu bedenken, dass sich die notwendigen Proben und Erzeugungsstrategien nicht zwingend auf den visuellen Bereich erstrecken müssen, worauf Martin Seel hingewiesen hat. Daher sollte im Falle der Aufführung von Musik erst dann von Inszenierung gesprochen werden, »wenn ihre Aufführung mit einer für ihren Charakter als Musik relevanten szenischen Bewegung verbunden ist ― wie es in er populären Musik fast immer, in der Avantgarde-Musik nicht selten der Fall ist« (Seel 2007: 79), wenn es also ein Konzept für die visuelle Präsentation gibt. Zu sehen und als bedeutungstragend zu interpretieren sind dann neben dem Bühnendesign Bewegungen, Posen und Gesten von Musikern, Beleuchtung, Kleidung oder gar Kostüme, Videoeinspielungen, Requisiten oder Choreographien. Um nun aber zu entscheiden, wann es sich bei dieser visuellen Ebene um eine inszenierte, also um eine auf Erzeugungsstrategien basierende handelt, muss man berücksichtigen, dass ― wie letztlich auch auf der Theaterbühne ― nicht alle sichtbaren Elemente zwangsläufig Teil einer bewussten Strategie sein müssen, was Seel in seiner Definition von Inszenierung herausstellt: »Inszenierungen sind ein künstliches, ein artifizielles Verhalten und Geschehen, das sich als ein solches, von bloß kontingenten, bloß konventionellen oder bloß funktionalen Vollzügen unterscheidet« (ebd.: 71). Bezogen auf Konzerte können bspw. die Aufstellung und der Bewegungsradius der Musiker auf der Bühne weniger Teil einer visuellen Inszenierung als vorrangig der notwendigen Funktionalität geschuldet sein, dass sie sich untereinander sehen, hören und verständigen müssen. Entsprechend sind 5

Da er diese wichtige Differenzierung von Aufführung und Inszenierung verwischt, verzichte ich auf den durch inflationären Gebrauch unscharf gewordenen Begriff der Performance, zumal sich »staging« als englischer Begriff für Inszenierung nicht im selben Maß durchgesetzt hat.

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RALF VON APPEN Instrumente, Bekleidung, Verstärker, Monitorboxen etc. nur zum Teil als strategisch in Szene gesetzte Requisiten anzusehen. Durch Konvention begründet können Bühnenhandlungen und -gestaltungen sein, die so gewöhnlich sind, dass sie kaum als bewusste Inszenierungen intendiert oder gedeutet werden bzw. erst dann als solche auffällig werden, wenn bewusst auf sie verzichtet wird: etwa das Verbeugen und das Bedanken für Applaus, die Abtrennung eines Zugaben-Teils von der Hauptshow, typische Gesten der Publikumsanimation, die Illumination von Sängern oder Solisten. Und ob eine Aufführung durch Zufall beeinflusst war, kann das Publikum erst entscheiden, wenn es mehrere Aufführungen gesehen hat (was sich in Zeiten von YouTube relativiert). Diese Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten hat zur Folge, dass ― wie im alltäglichen Leben ― nie ganz sicher entschieden werden kann, ob und in welchem Grade man es mit einem inszenierten Geschehen zu tun hat (vgl. ebd.: 81). Das bedeutet im Gegenzug, dass auch die Akteure auf der Bühne nicht sicher sein können, ob und inwiefern das Aufgeführte als Inszenierung wahrgenommen wird oder nicht. Dies hat zwei sehr wichtige Folgen: Erstens haben die Akteure die Möglichkeit, so zu inszenieren, dass die Erzeugungsstrategie dem Publikum nicht auffällt, dass also alle Bühnenhandlungen als spontan und natürlich wahrgenommen werden. Gerade bezüglich der Konstruktion von Authentizität sind die wirkungsvollsten Inszenierungen sicher die, die nicht als solche auffällig werden. Und zweitens: Selbst wenn die Musiker sich bemühen, nichts zu inszenieren und sich auf der Bühne so spontan und natürlich wie nur möglich zu verhalten, garantiert dies nicht, dass das Publikum das Geschehen nicht doch als Inszenierung interpretiert. Selbst die treffendste Definition von Inszenierung hilft somit nicht bei der Entscheidung, ob und wie hochgradig im konkreten Fall inszeniert wurde. Das bleibt Interpretationssache. Wenn im Popkonzert nun die Ideale der Authentizität und der Liveness mit Strategien der Inszenierung zusammentreffen, dann entsteht zwangsläufig ein Konflikt: Die Forderung nach Authentizität impliziert die Liveness-Ideale Spontaneität, Einmaligkeit und Unmittelbarkeit. Inszenierung bedeutet dagegen in aller Regel Planung statt Spontaneität, Wiederholbarkeit statt Einmaligkeit und anstelle der Unmittelbarkeit eine konzeptionelle Strategie, die zwischen den Akteuren und den Zuschauern steht. Folglich wird Inszenierung häufig als etwas Negatives angesehen. Sie wird kritisch bewertet als Manipulation des Publikums, als Trickserei, auch als visuelle Ablenkung von der Musik oder, wie Fischer-Lichte (2005b: 151) zu Argumentationszwecken

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SCHEIN ODER NICHT-SCHEIN? ZUR INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT AUF DER BÜHNE überspitzt formuliert, als Herstellung von bloßem Schein, »von Täuschung, Lug und Trug«. Wenn es im Konzert den Idealen der personalen, sozio-kulturellen und emotionalen Authentizität zufolge darum geht, sich mit den Personen auf der Bühne zu identifizieren, sich von ihnen repräsentiert zu fühlen und von ihnen etwas Wahres über das Leben zu erfahren, dann möchte man nicht Schauspielern begegnen, sondern »echten Menschen«, denn mit Schauspielern identifiziert man sich nicht im selben Maß. Insofern müssten Musiker es nach allen Möglichkeiten vermeiden, irgendetwas auf der Bühne zu inszenieren ― was wie erwähnt nicht davor schützt, dass auch dies als Statement, als Strategie, gedeutet werden kann. Auch Understatement ist schließlich ein Statement. Auf der anderen Seite bietet das Medium der Bühne nicht nur die Gelegenheit »Schein« zu präsentieren, sondern auch »Sein«. Inszenieren muss nicht »sich verstellen« bedeuten, es bietet auch die Möglichkeit, ein tatsächliches, reales Sein ungeschminkt, leicht gefiltert oder auch plakativ herauszustellen, also »Authentizität zur Erscheinung zu bringen« (FischerLichte 2000: 40). Inszenierung kann helfen ― oder ist sogar notwendig ― , um tatsächlich vorhandene Qualitäten zu demonstrieren, auf der Bühne also einen Rahmen zu schaffen, um sich vor aller Welt von seiner besten Seite, im besten Licht zu zeigen ― und die andere Seite im Bühnendunkel zu verbergen. Im folgenden sollen nun einige Beispiele zeigen, wie Musiker auf der Bühne mit diesem Konflikt, aber auch mit dieser Herausforderung umgehen: Welche Inszenierungs-Strategien lassen sich erkennen, welche Marker werden eingesetzt, um Authentizität ― je nach Interpretation ― vorzutäuschen oder zum Ausdruck zu bringen?

II. Inszenierungen von Authentizität Die am weitesten verbreitetste Strategie ist, wie angedeutet, so zu inszenieren, dass Authentizitätseffekte entstehen, ohne dass der Inszenierungscharakter auffällig wird, das Geschehen auf der Bühne also möglichst natürlich und spontan wirkt. Ein hervorragendes Beispiel liefert die Inszenierung der Metallica-Welttournee der Jahre 1996/7, dokumentiert im Konzertfilm Cunning Stunts, für den Regisseur Wayne Isham die Aufnahmen zweier Auftritte in Fort Worth, Texas, montiert hat. Gewöhnlich beginnen Metallica-Konzerte seit 1983 mit dem sich stetig dynamisch steigernden Ennio Morricone-Stück »Ecstasy of Gold« aus dem

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RALF VON APPEN Western The Good, the Bad and the Ugly. Auf dem Höhepunkt hat die Band unbemerkt die noch dunkle Bühne betreten und beginnt in der Regel ohne Ansage mit einem Hit, meist begleitet von pyrotechnischen Effekten und Light Show. Nicht so auf dieser Tournee: Ohne jegliche akustische oder visuelle Ankündigung und ohne, dass die Hallenbeleuchtung ausgeschaltet würde, laufen die Bandmitglieder durch den Security-Graben zwischen Bühne und Publikum und klatschen die ausgestreckten Hände der Fans ab. Im Konzertfilm trinkt Drummer Lars Ulrich dabei aus einem Plastikbecher, spuckt sein Getränk mehrfach den Fans entgegen und reicht den Becher dann ins Publikum. Dies demonstriert Nähe zu den Fans, zeigt, dass die Band keinerlei Berührungsängste hat. Das Teilen der Nahrung mag man als Symbol vertraulicher Gemeinschaft deuten, das Anspucken signalisiert die Band und Fans verbindende Absage an bürgerliche oder elterliche BenimmKonventionen. Auf der Bühne angekommen, hängen die Musiker ihre Instrumente um und schlagen freundschaftlich die Fäuste gegeneinander, offenbar, um sich viel Erfolg zu wünschen, was deutlich macht, dass sie nicht abgeklärt professionell agieren, sondern auch ihnen nun etwas Aufregendes bevorsteht. Der Kleidung der Musiker sieht man nicht an, dass sie vielfache Millionäre sind. Im Gegenteil: der Bassist trägt wie die meisten Zuschauer ein Tour-T-Shirt der Band, Ulrich zeigt sich während des gesamten Konzerts intim wie unter Freunden: in Boxershorts und Unterhemd, später mit freiem Oberkörper. Dieses Outfit erscheint rein funktional und kündigt die zu erwartende körperliche Verausgabung an. Die Musiker geben sich offen und unprätentiös, heben sich nicht als Stars ab ― und bringen damit persönliche und sozio-kulturelle Authentizität zum Ausdruck. Ulrich wirft noch Drumsticks in die Menge, bevor die Band beginnt, für etwa 90 Sekunden zu jammen. Erneut verlässt Ulrich sein Schlagzeug, um Kontakt mit dem Publikum zu suchen. Frontman James Hetfield beginnt dann den Titel »So What«, eine B-Seite der britischen Punk-Band Anti-Nowhere Leaugue aus dem Jahr 1981, den Metallica 1993 ebenfalls nur auf einer Single-Rückseite veröffentlicht hatten ― eine Geste für die »echten« Kenner, nicht für die Laufkundschaft. Erst spät im Verlauf des Stückes wird die Hallenbeleuchtung ausgeschaltet und die Light Show setzt ein. Die Bühne steht dabei in der Hallenmitte und ist von allen Seiten einsehbar. Selbst Backstage-Aktivitäten können vom Publikum verfolgt werden, was die handwerkliche Authentizität unter Beweis stellen soll: die Band hat nichts zu verbergen, nirgendwo sind Synthesizer, zusätzliche Musiker oder Playback-Abspielgeräte versteckt. Insgesamt ist diese Eröffnung geprägt von Understatement und dem Bemühen um Natürlichkeit und Spontaneität. Sie ist als demonstrative Absage an die Konvention zu verstehen, das Publikum gleich zu Beginn mit einer

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SCHEIN ODER NICHT-SCHEIN? ZUR INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT AUF DER BÜHNE sorgsam inszenierten Überraschung, spektakulären Licht-Effekten und einem großen Hit zu überwältigen. Stattdessen versucht man deutlich zu machen, dass keine ablenkende Show zu erwarten ist, sondern »the real thing« (was sich allerdings noch als unzutreffend herausstellen wird). Alles soll so nichtinszeniert wie möglich wirken ― und gerade dies folgt eindeutig einer Inszenierungsstrategie, die vor dem Hintergrund der Ausverkaufs-Vorwürfe zu verstehen ist, mit denen sich die Band in den 1990er Jahren angesichts des großen Mainstream-Erfolgs und des korrespondierenden stilistischen Wandels immer wieder konfrontiert sah. Weitere Strategien zur Demonstration von Authentizität lassen sich am Beispiel der Toten Hosen zeigen. Zu jedem Konzert gehört hier in alter Punk-Tradition das Stage Diving des Sängers Campino, an dem sich manchmal auch der Bassist ― samt Instrument ― beteiligt. Das Bad in der Menge führt vor, dass unmittelbarer körperlicher Kontakt und Kommunikation mit den Fans gesucht werden. Zum anderen schafft es einen Moment der Spontaneität, da unvorhersehbar ist, wann, wo und in welchem Zustand das Publikum den Sänger wieder auf die Bühne entlässt. Das gilt noch gesteigert, wenn diesem Besuch ein riskanter Sprung vom Dach der Bühnenkonstruktion vorausgeht, der Sänger also darauf vertraut, dass das Publikum ihn sicher auffängt. Campino ist sich des Symbolcharakters des Stage Divings im Sinne der sozio-kulturellen Authentizität durchaus bewusst: »Ich glaub, das is auch das, was die an uns gut finden. Also... die schätzen das sehr, wenn man sich nich für irgendwas zu schade ist, ja? Und diesen bedingungslosen Einsatz, den liefern wir denen ja auch. Was soll denn das anderes sein, wenn man sich ins Publikum schmeißt von der Bühne! Was soll das sein? Das ist doch nur 'ne Geste, 'ne hilflose Geste, um den Leuten zu zeigen: trotz dieser Barriere und dem Graben sind wir irgendwo auf Augenhöhe mit euch« (in Kablitz-Post 2009 bei 19:00). In diesem Sinne können auch die verhältnismäßig moderaten und nicht nach Platzqualität gestaffelten Ticketpreise der Toten Hosen als Geste der soziokulturellen Authentizität an die Fans verstanden werden.6 Spielfehler oder Textausfälle werden bei ihren Konzerten nicht übergangen, sondern bewusst herausgestellt und kommentiert. So bricht die Band den Song »Paradies« am 3.7.2009 in Berlin zu Beginn der zweiten Strophe ab: »Ich muss zugeben, dass ihr die Texte allemale besser drauf habt als ich. Ich finde, der Rest des Publikums hat eine ordentliche Version verdient! Wer hat die zweite Strophe drauf? Probier‘s, komm rauf!« (s. Die Toten 6

Einheitlich ca. 40 Euro verlangten die Toten Hosen im Jahr 2012, während für Konzerte von Herbert Grönemeyer 60 Euro, von Westernhagen 71 bis 95 Euro zu zahlen waren (Recherche bei eventim.de und ticketmaster.de am 21.8.2012).

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RALF VON APPEN Hosen 2009). Ein Fan wird auf die Bühne geholt und vorgestellt, lachend beginnt die Band neu und überlässt ihm den Gesang. Dies stellt den LivenessCharakter deutlich heraus, demonstriert im Scheitern immerhin handwerkliche Authentizität und wirkt offen, ehrlich und spontan. Ist es aber nicht: Exakt an derselben Stelle wurden auf dieser Tour auch die Konzerte in Langenselbold, Losheim, Ludwigsburg etc. mit der gleichen Aktion unterbrochen, wie eine kurze YouTube-Recherche offenlegt. Nichtsdestotrotz schaffen solche Inszenierungen Raum für unvorhersehbare Interaktionen und betonen, dass es Band und Fans weniger um den perfekten Vortrag als um das einmalige gemeinsame Erlebnis geht. Mit derselben Absicht werden auf die Bühne geworfene Gegenstände sofort kommentiert, Songs auf Zuruf gespielt oder bestimmten Mitgliedern im Publikum gewidmet. Ebenfalls als Hinweis auf Authentizität ist die körperliche Verausgabung der Musiker zu deuten: Schweiß ― wie bei Metallica auf nackten Oberkörpern ― lügt nicht, er signalisiert, dass die Musiker sich nicht schonen und unter vollem Körpereinsatz hart für ihr Publikum arbeiten, statt nur ein Pflichtprogramm zu absolvieren. Notfalls werden zweistündige Auftritte auch mit frischem Kreuzbandriss (bei Rock am Ring 2000) oder mit eingegipstem Fuß und Krücken durchgestanden ― ohne dass deshalb auf den Sprung in den Zuschauerraum verzichtet würde (bei Rock am Ring 2008, s. Die Toten Hosen 2008). Als Zeugnis von persönlicher Authentizität wird der Ausdruck von Spielfreude und Spaß auf der Bühne gedeutet, den die Musiker durch Gesten und Kommunikation untereinander signalisieren können. Besonders authentisch wirkt es, wenn die Fans den Eindruck gewinnen, die Band würde unabhängig von der Bezahlung (nur an diesem Abend!) besonders lange spielen, weil sie selbst so großen Spaß daran hat. Dass Stücke, die seit vielen Jahren allabendlich gespielt werden, der Band trotzdem persönlich noch etwas bedeuten, versucht Campino durch Ansagen, die sie autobiographisch verorten, deutlich zu machen. Gecoverte Songs dienen weniger der Reminiszenz an die Anfangstage, sondern weisen die Band als Fans und als Kenner aus, die sich nicht zu schade sind, ihren Vorbildern die Referenz zu erweisen. Zudem verorten Coverversionen die Gruppe in einer bestimmten Tradition. So spielen die Toten Hosen nicht selten Songs von The Clash und den Ramones, was sie in der Punk-Tradition erdet, oder aktuell von Hannes Wader, um einen Bezug zum sozialkritischen, linken Liedermachertum herzustellen (so bei Rock am Ring 2012).

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SCHEIN ODER NICHT-SCHEIN? ZUR INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT AUF DER BÜHNE

Strategien der Verkleinerung Je größer mit zunehmender Popularität die Bühnen und die Zuschauerräume werden, umso dicker muss aufgetragen werden, um den Liveness-Charakter und den Eindruck von Nähe performativ herzustellen. Die dazu in der Regel eingesetzten Großbildleinwände machen zwar auch die kleinste Geste in der letzten Reihe sichtbar, drohen dabei aber eher den Eindruck des passiven Fernsehguckens zu vermitteln als den des Live-dabei-Seins. Da man auch den Zuschauern auf den hinteren Plätzen eines 60.000er-Stadions ein visuelles Spektakel bieten will, werden spezielle Licht-Arrangements, Pyrotechnik, aufblasbare Puppen usw. eingesetzt, die von Computerprogrammen gesteuert werden und dadurch Spontaneität im Konzertablauf oder während der Songs verhindern. Durch die notwendige Höhe der Bühne und die aus Gründen der Sicherheit erforderliche große Distanz zwischen Zuschauerraum und Bühne sind die Möglichkeiten der Interaktion von Aufführenden und Zuschauern stark eingeschränkt. Seit den 1990er Jahren sind daher zwei weitere Konzepte der Inszenierung von Liveness und Authentizität zu beobachten, die dieser Entwicklung entgegenwirken sollen: Zum einen das paradoxe MTV-Unplugged-Szenario, das ― vor dem Fernseher ― ein »authentischeres« Live-Erlebnis verspricht als es das Stadionkonzert bieten kann (s. Auslander 1999: 96-111). Es setzt auf eine Verkleinerung der Bühne und des Zuschauerraumes, um so ― beobachtet von zahllosen Kameras, ausgeleuchtet von unzähligen Scheinwerfern und mit nicht weniger Kabeln und Steckern als jedes andere Konzert ― Nähe und Intimität herzustellen. Neben diesem »intimeren« Rahmen eines Fernsehstudios werden im UnpluggedSzenario vor allem drei Strategien zur Suggestion resp. Präsentation von Authentizität eingesetzt: Auf das visuelle Spektakel des Stadion-Konzertes kann verzichtet werden, manchmal ist sogar die Lightshow »unplugged«, wenn man den Einsatz von Kerzen auf der Bühne so deuten will. Ohne visuelle Ablenkungen muss die Band das Publikum nur mit ihren musikalischen Fähigkeiten überzeugen. Zweitens soll durch den vorgeblichen Verzicht auf elektronisch bearbeitetes und verstärktes Instrumentarium auch die Musik direkter, »ehrlicher« im Sinne der emotionalen Authentizität wirken. Indem angeblich technische Hilfen wegfallen, soll sich in der »handgemachten« Musik der »wahre Kern« zeigen, zudem kann die handwerkliche Authentizität so besser vorgeführt werden. Drittens besteht das Repertoire der Unplugged-Konzerte zum großen Teil aus ruhigen Balladen, die sich zur Herausstellung emotionaler Authentizität vermeintlich besser eignen als laute und schnelle Stücke, zumal auch der Glaube herrscht, emotionaler

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RALF VON APPEN Ausdruck könne ohne technische Mittler unverstellt, also intensiver und »echter« vermittelt werden. Das zweite Inszenierungskonzept, um den Liveness-Charakter von Konzerten im Zeitalter der großen Stadien-Events zu stärken, ist die B-Stage: eine sehr viel kleinere, von allen Seiten einsehbare Bühne in der Mitte des Stadions, die die Band nach zwei Dritteln des Konzertes händeschüttelnd über einen Catwalk erreicht, um das Konzert dort mit reduzierter Lichtshow für drei Stücke fortzusetzen. Gern wird diese Reduzierung des Bühnenraums mit dem Unplugged-Konzept verbunden und es werden dort Balladen mit Akustik-Gitarren gespielt (s. Coldplay 2009). Alternativ kann die B-Stage aber auch genutzt werden, um zu demonstrieren, dass die Band ihren Wurzeln treu bleibt und sich trotz des großen Erfolges im Kern nicht verändert hat: Gespielt werden dann die ersten Hits oder ― wie damals in der Garage ― Coverversionen (so nicht selten bei den Rolling Stones). Eine perfide inszenierte Variante der B-Stage nutzten auch Metallica auf der oben beschriebenen Tournee: Am Ende des Songs »Enter Sandman« scheint ein Beleuchter in der oberen Bühnenkonstruktion während eines Pyro-Effektes plötzlich seinen Halt zu verlieren, schwingt kopfüber an einem Sicherungsseil über der Bühne und stürzt dann ab. Zahlreiche weitere Explosionen ereignen sich, diesmal anscheinend ungeplant. Sicherheitskräfte eilen auf die Bühne, der Sänger wird scheinbar von einem Gegenstand getroffen, hält sich den Kopf und geht zu Boden. Die Band hört auf zu spielen, über die PA zischt und brummt es chaotisch, weitere Beleuchter fallen von oben, ein Roadie rennt in Flammen über die Bühne. Zunächst sieht man noch einen Notarzt, Feuerlöscher, Taschenlampen, Wiederbelebungsversuche, zuckende Scheinwerfer und den Zusammenbruch eines Teils der Bühnenkonstruktion, dann verhüllt Qualm die Sicht. Kurz darauf betreten die Bandmitglieder wieder die Bühne und geben vor, überrascht zu sein (»What the fuck happened?«). Kleine Combo-Verstärker werden vermeintlich spontan auf die Bühne getragen, statt der zerstörten Lichtanlage sorgen von der Decke herabgelassene nackte Glühbirnen für minimale Beleuchtung. Nachdem kurz mit einem Jam das neue Equipment getestet wurde, spielt die Band in diesem reduzierten Setting ― der B-Stage-Konvention entsprechend ― eine Coverversion und einen Song vom Debutalbum. Damit knüpft sie an ihre verschiedentlichen Versuche an, sich trotz des Millionen-Umsatzes als einfache Garagen-Band darzustellen (etwa auf der »Garage Days Revisited« überschriebenen B-Seite der Maxi-Single Creeping Death (1984), der EP The $5.98 E.P.: Garage Days Re-Revisited (1987) und der Doppel-CD Garage Inc. (1998), die alle ausschließlich Cover-Versionen beinhalten). Wie ein Makingof auf der DVD Cunning Stunts deutlich macht, wurde dieser Ablauf minutiös

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SCHEIN ODER NICHT-SCHEIN? ZUR INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT AUF DER BÜHNE durchgeplant, gründlich geprobt und allabendlich wiederholt. Dennoch hielten die meisten Zuschauer den inszenierten Unfall in der Live-Situation für echt, lokale Radiosender berichteten am nächsten Tag über Verletzte. Zumindest das Ausmaß der Inszenierung blieb im Unklaren, da sich einige Beteiligte an einzelnen Abenden tatsächlich ernsthaft verletzten. Wem das Unplugged-Szenario zu klischeehaft inszeniert erscheint, der sei auf das US-amerikanische National Public Radio verwiesen, wo im Rahmen der »Tiny Desk Concerts«-Reihe (http://www.npr.org/series/tiny-deskconcerts) regelmäßig Bands ins Redaktionsbüro eingeladen werden, um dort ohne Bühne vor der Belegschaft und zwei Kameras zwar nicht unplugged, aber doch unter Verzicht auf jede Art von Bühnentechnik ihre Live-Qualitäten zu demonstrieren. Für ein Schlagzeug ist dort kein Raum, sodass (so im Falle des Wilco-Auftritts) auch gewöhnliche Schreibtisch-Utensilien als Percussion-Instrumente herhalten müssen. Es geht noch extremer: Für die englische Reihe »Black Cab Sessions« (http://www.blackcabsessions.com) werden Musiker gebeten, einen Song während einer Taxi-Fahrt durch London zu spielen. Stärker kann man den Bühnenraum nicht beschränken, was leider auch das Live-Publikum auf den Taxi-Fahrer und den Kameramann reduziert. Auch bei diesen beiden Formaten handelt es sich in dem Sinne um Inszenierungen, als bewusst Bedingungen geschaffen werden, unter denen tatsächliches Sein statt täuschendem Schein zum Vorschein gebracht werden soll ― indem die Musiker nämlich zeigen können, wie viel von ihrem Reiz übrig bleibt, wenn man ihnen nur zwei Kubikmeter, einen Schellenkranz und eine Akustikgitarre zur Verfügung stellt. Diese Auftritte werden im Internet veröffentlicht und dienen so vor allem Musikern aus dem »Independent«-Bereich als besonders glaubwürdige Promotion-Instrumente. Wie viele Fehlversuche es neben dem veröffentlichten Clip gibt, erfährt das Publikum dabei natürlich nicht. Eine eigene Variante der Verkleinerungs-Strategie haben auch die Toten Hosen entwickelt. Abseits größerer Tourneen treten sie auch nach 15 Millionen verkauften Alben gelegentlich ― »wie früher« ― in den Wohnzimmern oder Partykellern von Fans auf, die sich um die Ausrichtung solcher Konzerte bewerben können. Die Band verzichtet bei diesen Anlässen auf Gage, spielt gegen Kost und Logis beim Gastgeber und zahlt die Anreise selbst. Zum 30-jährigen Bühnenjubiläum wurde 2012 eine Tour mit sechzehn solcher Auftritte unternommen. Bei allen Aufenthalten wurde vor, während und nach den Shows mit mehreren Kameras gefilmt, sodass sich jede Station ― inklusive Bildern vom Aufwachen der Musiker mit zerzausten Haaren auf dem Fußboden einer fremden WG ― auf der Homepage dokumentiert findet (s. Die Toten Hosen 2012). Jeder kann sich so von der persönlichen, sozio-

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RALF VON APPEN kulturellen und handwerklichen Authentizität der Musiker überzeugen und die Band zugleich medienwirksam für ein neues Album werben ― ein Marketing, das die Band »so herzhaft« betreibe, »dass es nicht negativ auffällt«, wie die Süddeutsche Zeitung findet (Arnu 2012: 9). Auch das ZDF ist sich sicher: »Dass diese Tour keine Beweisshow ihrer Fantreue ist, sondern immer noch echter Jungens-Spaß, das spürt man in jedem Moment« (ZDF Aspekte 2012 bei 6:40).

Die Inszenierung authentischer Inauthentizität Neben all diesen mal mehr, mal weniger offensichtlichen Bemühungen, die Inszenierung von Authentizität nicht auffällig werden zu lassen, gibt es schon seit den frühen 1970er Jahren auch die Gegenoffensive: das Bestreben, eine so offensichtlich inszenierte Bühnenshow zu bieten, dass niemand auf die Idee kommen kann, hier sei etwas Privates, Unverstelltes über die Musiker zu erfahren. Diese postmoderne Tradition reicht von David Bowies theatraler Ziggy Stardust-Tournee (s. Jooß-Bernau 2010: 240ff.) über Roxy Music, die 1972 mit exaltierten Kostümen, ironischer Bühnenshow sowie herausgestellter Künstlichkeit die Rock-Authentizität ihrer Zeit parodierten (s. Pattie 2007: 84f. sowie Roxy Music 1972 u. 1973), über die Pet Shop Boys und U2 (Zoo-TV- bzw. Zooropa- und Popmart-Tourneen, s. Jost 2011) bis zu Madonna und Lady Gaga. Sie alle haben den Inszenierungscharakter ihrer Konzerte deutlich herausgestellt und sich damit zugleich der konventionellen Inszenierung von Authentizität verweigert. Als Beispiel möchte ich die Pet Shop Boys herausgreifen, die sich 1981 gründeten, bis 1989 aber nicht auf Tournee gingen (»It's kinda macho nowadays to prove you can cut it live. I quite like proving we can't cut it live. We're a pop group, not a rock and roll group«, so Neil Tennant in Goodwin 1988: 44). Als sie dann doch live auftraten, kehrten sie alle bisher vorgestellten Marker von Authentizität um. Was bei ihren Konzerten live gespielt und was vorprogrammiert ist, bleibt stets im Unklaren: Zum Gesang Tennants spielt Chris Lowe an seinen Keyboards offenbar einzelne Melodien und Akkorde, der Großteil der Backing Tracks wird aber von verschiedenen MIDIgesteuerten Sequenzern abgespielt (»Call it performance / Call it art / I call it desaster / If the tapes don't start« heißt es selbstironisch in ihrem Song »Electricity«). Improvisierte Momente oder spontane Variationen sind so weder möglich noch beabsichtigt. Gesten der Emotionalität, Jammen, StageDiving, Kumpanei mit dem Publikum, Schweiß und nackte Oberkörper wird man hier nicht zu sehen bekommen, stattdessen gibt es zahlreiche synchronisierte Videosequenzen und aufwändige Choreographien mit mehreren Tän-

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SCHEIN ODER NICHT-SCHEIN? ZUR INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT AUF DER BÜHNE zern. Zu Beginn der Konzerte ihrer Pandemonium-Tour (2009/10) waren die Köpfe der Musiker mit weißen Würfeln maskiert, im weiteren Verlauf trugen sie dunkle Anzüge mit Melone, militärische Wintermäntel, Ski-Jacken und violette Fellmützen oder Königskronen, während die Tänzer in Weihnachtsbaum- oder Wolkenkratzer-Kostümen auftraten. Rein gar nichts in dieser durchinszenierten Show bemüht sich, persönliche, sozio-kulturelle, emotionale oder handwerkliche Authentizität zu suggerieren. Statt wie sonst üblich die kreative Arbeitsteiligkeit herunterzuspielen, reklamiert die Band nicht einmal die Autorschaft für all diese visuellen Aspekte der Show: »Ehrlich gesagt, entstehen Dinge oft, ohne dass wir selbst wirklich etwas dazu beitragen« (Tennant in Bönisch 2009: 9). Der von Grossberg (1992: 226) geprägte Begriff der »authentic inauthenticity« will zum Ausdruck bringen, dass Musiker wie die Pet Shop Boys gerade durch ihre zur Schau gestellte Ablehnung aller Authentizitätsbemühungen als umso authentischer angesehen werden können. Ihr Auftreten wird als ideologiekritische Absage an die allgegenwärtige Inszenierung von Authentizität aufgefasst. Dies betrifft sogar die verweigerte emotionale Authentizität: »In [Tennant's] flat, regular delivery, especially when this is combined with his generally static posture, the refusal of emotional involvement he conveys is widely perceived as a refusal to ›cheat‹ the listener« (Moore 2002: 214). Authentizität bleibt damit auch in diesem Fall ein wichtiges Kriterium: Weil sie eine klare Position beziehen, die sie konsequent vertreten, und weil sie eine realistische statt einer romantisierten Weltsicht zum Ausdruck bringen, gelten die Pet Shop Boys ihren Fans sicher nicht als inauthentisch. In den konservativen Kritiker-Kanon, wie er z.B. wirkmächtig vom Rolling Stone vertreten wird, haben es die genannten Bands mit dieser Haltung freilich bis heute nicht geschafft (s. Appen/Doehring 2006). Während bei den genannten authentisch-inauthentischen Musikern noch eine Kritik an der Authentizitäts-Ideologie zu erkennen ist, gibt es und gab es immer schon auch Musiker und Musikrichtungen, für deren Anhänger die Betonung von Authentizität und Liveness auf der Bühne offenbar nur eine geringe oder überhaupt keine Rolle spielen. So können die Black Eyed Peas (2011) oder Kanye West (2012) ohne Instrumente auf der Bühne auftreten und dabei Auto-Tune zur Stimmverfremdung nutzen, ohne dass sich ihr Publikum daran stören würde. Katy Perry bringt es während ihres Songs »Hot N Cold« im Rahmen der California Dreams-Tour auf sechs Kostümwechsel in vier Minuten (s. Perry 2011). Ihre Fans kritisieren die durchchoreographierte Show, bei der jede Bewegung auf der Bühne vorgegeben ist, keineswegs als über-inszeniert und inauthentisch: 2011 wurde Perry bei den Teen Choice

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RALF VON APPEN Awards und den MTV Europe Music Awards als »Best Live Act« ausgezeichnet. Schaut man sich jedoch die Listen der kommerziell erfolgreichsten Tourneen der Jahre 2010 und 2011 an, wie sie von Billboard und Pollstar erhoben wurden, so dominieren dort mit Bon Jovi, AC/DC, U2, Taylor Swift, Metallica sowie James Taylor & Carol King Musiker, die nach wie vor auf die demonstrierten Marker von Authentizität setzen (vgl. Reinartz 2010, Smith 2011, Billboard 2010 u. 2011). Zumindest beim zahlungskräftigen und damit vermutlich älteren Publikum gibt es offensichtlich nach wie vor ein ungebrochenes Verlangen nach dieser Form von Authentizität.

Adele Live Die Einschätzung, dass die generelle Wertschätzung von Authentizität auch im 21. Jahrhundert keineswegs passé oder nur eine Sache der männlich dominierten Rock-Ästhetik ist, möchte ich abschließend durch einen Blick auf die Inszenierung von Adele bekräftigen, der kommerziell weltweit erfolgreichsten Musikerin des frühen 21. Jahrhunderts. Auf ihrer jüngsten Tournee suggeriert schon die Bühnendekoration Intimität und eine Absage an konventionelle Hi-Tech-Show-Inszenierungen. Die gewöhnlichen Lampenschirme, in deren Schein sie auftritt, Blumenarrangements und der Verzicht auf eine Video-Wand sollen für eine private Wohnzimmer-Atmosphäre sorgen, so als ob die Sängerin ihr Publikum zu sich nach Hause eingeladen hätte. Dieses Herunterspielen der Distanz von Star und Publikum ist ein zentrales Element ihres Auftretens; immer wieder bemüht sie sich, den Eindruck zu erwecken, als wäre sie die beste Freundin oder »the girl next door«, keine Multimillionärin. So zeigt sie sich im Making-of ihrer Live at the Royal Albert Hall-DVD am Morgen des Konzertes bodenständig in der Küche ihrer eigenen Wohnung, wo sie sich äußerst staruntypisch im Morgenmantel und mit Lockenwicklern einen Instant-Tee aufgießt, umkreist von ihrem Dackel. »I wanna make them feel like they know me. They do know me, but I want 'em to feel like we're just here and that we're just having a cup of tea and a take-away or something like that on a Saturday night«, erklärt sie, während die Kamera über ihr Bett und ihre Bücherregale schweift (0:20-0:30). Später, in der Maske vor dem Konzert, macht sie deutlich, dass es bei ihr keine Maske gibt: »It's not a persona because it's completely me but it's like... I'm a bit more of, like, kind of to myself and shy in a way, like normally. I don't know what possesses me to chat so much shit on stage, I really don't« (2:47-3:06). Dies tut sie in der Tat: Auf der Bühne verhält sie sich so offenherzig, als würde sie alle Zu-

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SCHEIN ODER NICHT-SCHEIN? ZUR INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT AUF DER BÜHNE schauer persönlich kennen und als unterhielte sie sich mit ihnen im Pub. Sie lacht dabei laut über ihre eigenen Witzchen, prustet ins Mikrophon und bezeichnet sich selbst als »chatterbox«. Ihre Aufgeregtheit zu Beginn des Konzertes versucht sie nicht zu verbergen, sondern sie verrät dem Publikum: »I'm still shitting myself. I haven't settled down yet. I'm not sure if I'm gonna, actually. I'll probably go home, going home on my own to my empty flat, I'll probably always be buzzing [unverständliches Gemurmel] and I don't know what to do with myself« (Adele: Live at the Royal Albert Hall, 25:53). Adele spricht in breitem Cockney darüber, wie sie selbst als Fan die Spice Girls in der Royal Albert Hall bewundert hat und kommentiert das Ambiente mit den Augen eines begeisterten Fans: »It's so posh here, isn't it?« (1:07:12). Sie trinkt zwischen den Songs Honig-Milch aus einem Becher mit Dackel-Motiv, winkt immer wieder ins Publikum, outet sich als »Sex and the City«-Zuschauerin und plaudert von ihrem Friseur-Besuch am Vortag, nicht ohne den Anwesenden einen Bericht weiterzuempfehlen, den sie dort in einer Illustrierten gelesen habe. Sie begrüßt ihre Freundinnen im Publikum und erzählt detailreich Geschichten aus dem gemeinsamen Privatleben, die diese, im Publikum von den Kameras eingefangen, nickend mit einem Lachen bestätigen (31:32). Vor allem aber verortet Adele in ihren Ansagen den Ursprung ihrer Songs in autobiographischen Erfahrungen. Immer wieder erzählt sie von der Beziehung, auf deren schmerzvollem Scheitern fast alle Songs des aktuellen Albums 21 basierten und behauptet, immer noch bei jedem Auftritt an die jeweiligen Erlebnisse zu denken: »When I'm singin' my songs I vision the person, I vision my ex who this song is about ― like all the other songs ― and I vision him and I sing them out to him« (52:19). Dabei lässt sie einfließen, dass sie die Songs selbst geschrieben habe, wobei ihre tatsächliche Rolle nicht ganz klar ist, da in den Liner Notes diverse Mitkomponisten genannt werden. Ganz im Sinne des McCarthy-Zitats zur emotionalen Authentizität (s. S. 45f.) erklärt Adele, sie erkenne sich erst in ihren Songs selbst: »This song just sort of came out of me and I was really surprised [about], you know, the contents of this song 'cause I never know how I feel, I never let myself know how I feel. I kinda put it to the back of my mind and I only find out what I'm thinking and what I‘m feeling in my songs, but I didn't realize I was feeling like this« (37:00). Dass ihre Stücke ihr persönlich emotional nahe gehen, lässt sie nicht nur in ihren Ansagen wissen (»Always makes me sad that one, doesn't matter where or when I sing it«, 42:46): Für »Someone Like You« wird Intimität suggeriert, indem das Licht gedämpft wird und alle Mitmusiker bis auf den

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RALF VON APPEN Pianisten backstage bleiben. Es gibt keine ablenkende Show, nur volle Konzentration auf den melismen- und rubatoreichen Gesang, den sie mit erstem Blick oder geschlossenen Augen vorträgt. Sie beginnt einige Phrasen bewusst verfrüht, hält viele Töne lang aus, phrasiert jede Zeile individuell und bemüht sich auch in Mimik und Gestik ostentativ um einen möglichst intensiven emotionalen Ausdruck. Am Ende des Stückes bricht sie in Tränen aus, überwältigt von ihrem eigenen Song und den Standing Ovations des Publikums, in dem die Kameras ebenfalls tränenreiche Gesichter entdecken. Adele hat sofort ein Taschentuch zur Hand, wendet sich nicht ab, sondern bringt ihre Gefühle sogleich wieder zur Sprache: »That song makes me sad anyway and it takes my breath when you sing it like that back to me [...] it's all a bit much« (1:32:32). Als der Zugabenteil naht, nutzt sie dies wiederum für eine Absage an Show-Konventionen und zur Demonstration ihrer Ehrlichkeit: »This next one that I'm gonna do for you is gonna be my last song tonight [Buh-Rufe]. I'm joking! I'm adding some drama to my show! I don't dance, ain't no fire, ain't no greased up men nowhere [...]. Anyway, now I'm just gonna pop offstage and pretend that I'm not coming back. But I will! I won't be gone very long, I normally just gonna take my shoes off and take a sip of water, then [unverständlich] back on. [...] I really don't enjoy encores, by the way. I think unless you're Dylan, or Paul Simon or Madonna or something like that, you should stay on the fucking stage [Gelächter]. I don't have a catalogue of music yet. When I do, I'll keep you waiting for sure« (1:16:001:16:40 bzw. 1:23:15). Wenig überraschend ist es da, dass es auch bei Adeles Konzerten einen reduzierten »Unplugged«-Part nebst Cover-Version gibt, für den die Musiker im Halbkreis in der Bühnenmitte zusammenrücken. Und auch ein Liveness und handwerkliche Authentizität verifizierender Fehlstart wurde aus dem Konzertfilm bewusst nicht herausgeschnitten (»That was a shit note, let's start again«, 38:40). Das Publikum ist überzeugt und begeistert von Adeles Offenheit, Ehrlichkeit und Natürlichkeit, wie kurze Fan-Statements im Making-of deutlich machen sollen: »It touches a part in you, doesn't it? It's honest and it's credible« (2:14). »Beautiful love songs, right from the heart« (6:54). »She talks the way she wants to talk, she says the things she wants to say« (6:58). Neben den regulären Konzerten hat Adele zur Promotion des Albums 21 zahlreiche Radiosender, darunter auch NPRs »Tiny Desk Concerts«, besucht

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SCHEIN ODER NICHT-SCHEIN? ZUR INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT AUF DER BÜHNE und dort mit Minimal-Besetzung (meist von Kameras begleitet) live gesungen, um zu zeigen, dass sie keine visuelle Inszenierung und keinen technischen Aufwand braucht, dass ihre Stimme »echt« ist und sich in jeder LiveSituation bewährt. Durch diese Betonung ihrer handwerklichen Authentizität und das Herunterspielen visueller Inszenierungen setzt sie sich dezidiert von kostümierten und stark sexualisierten Konkurrentinnen ab, wie sie in einem Rolling Stone-Interview deutlich macht: »Even if I had a really good figure, I don't think I'd get my tits and ass out for no one. I love seeing Lady Gaga's boobs and bum. I love seeing Katy Perry's boobs and bum. Love it. But that's not what my music is about. I don't make music for eyes, I make music for ears« (in Touré 2011).7

Hintergründe In nahezu allen Geisteswissenschaften wird Authentizität aktuell umfangreich diskutiert; das Spektrum relevanter Felder reicht dabei von Politik, Religion und Geschichtsschreibung über Fremdsprachenunterricht, Werbung, Tourismus, Lebensmittel, Trachtenmode und Pornographie bis zu bildender Kunst, Theater, Film, Reality-TV, Literatur und eben Musik (im Überblick: Funk/Krämer 2011, Vannini/Williams 2009, Amrein 2009, Lindholm 2008). Obwohl Wissenschaftler sich schon länger um ihre Dekonstruktion bemühen (so z.B. Frith 1987, Weinstein 1999), beobachten Michael Rössner und Heidemarie Uhl (2012) gegenwärtig eine »Renaissance der Authentizität«, Charles Taylor (2007: 473) charakterisiert unser Zeitalter gar als »age of authenticity«. Ohne Zweifel kommt in der ubiquitären Suche nach Authentizität ein zentrales Bedürfnis unserer Zeit zum Ausdruck. Das gestiegene Verlangen nach Echtem, Natürlichem, Unmittelbarem, Glaubwürdigem wird oft mit dem Verweis auf tief greifende gesellschaftliche, ökonomische und technologische Veränderungsprozesse zu erklären versucht, die mit dem schwammigen Etikett der Postmoderne eher hilflos und unscharf als tatsächlich erhellend zusammengefasst werden. Drei Ansatzpunkte möchte ich zum Abschluss thesenartig herausgreifen, die ein weiteres Nachdenken über die Hintergründe des Verlangens nach Authentizität anregen können: 7

Dieses authentifizierende Understatement zeigt sich übrigens bereits in der Benennung ihrer Alben 19 und 21 (was jeweils ihrem Alter bei den Aufnahmen entspricht) und ihren Tourneen, die »Adele live« und »An Evening with Adele« betitelt waren. Adele ist zudem ihr echter Vorname, was wiederum Natürlichkeit und Offenheit signalisiert ― im Unterschied etwa zu Lady Gaga.

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RALF VON APPEN 1. Selbstverwirklichung und persönliche Authentizität sind zwar bereits seit der Aufklärung und insbesondere der Romantik wesentliche Werte der westlichen Kultur; als »Ideal einer radikal individualisierten Lebensführung« haben sie Christoph Menke (2005: 309) zufolge aber ausgehend von den Jugend- und Studentenbewegungen um 1968 und »mit deren Entpolitisierung zu einer Kultur des individualistischen Hedonismus« einen Boom erfahren. Den Wunsch, sich nicht verbiegen zu müssen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, können jedoch nur die wenigsten tatsächlich verwirklichen. Frei tätige Künstler, heute wohl vor allem erfolgreiche Musiker, dienen daher als beneidenswerte Vorbilder und als Projektionsfläche für das Ideal eines nicht-entfremdeten, »authentischen Lebens« ― denn dass sie ein solches führen, bemühen sich Musik- und Boulevardpresse sowie (Auto-) Biographik nach Kräften zu vermitteln. Auch gegen besseres Wissen mögen viele den Glauben nicht aufgeben, dass trotz der beherrschenden Logik des Kapitals dort noch ein selbstverwirklichendes Leben möglich ist, das sich den Regeln der Ökonomie verweigert (vgl. Chiapello 2010: 38f.). Das Perfide daran: Die Kulturindustrie unterstützt diesen Glauben gern, denn Authentizität schafft Umsatz. 2. Musik dient der Identitätsarbeit und der sozialen Distinktion, sie zeigt uns und anderen, was für Menschen wir sind (vgl. Kotarba 2009). Je stärker Musik diese sozialpsychologischen Funktionen erfüllt, desto wichtiger wird das Kriterium der Authentizität für ihre Bewertung. Denn wer sich über seinen Musikgeschmack identifiziert, der wird gründlich prüfen, ob die Musiker tatsächlich für die Wertegemeinschaft stehen, die sie zu repräsentieren vorgeben, und ob das Bekenntnis zu ihnen wirklich einen Distinktionsgewinn verspricht ― andernfalls drohen Blamage und die verunsichernde Infragestellung der eigenen Position. Besonders erfüllt Musik diese Funktionen entwicklungsbedingt in der Jugend, daneben aber auch in Teilkulturen, die sich aufgrund ihrer Ethnizität, sexuellen Orientierung oder politischen Überzeugungen nicht mit der Mehrheitskultur identifizieren. Dass die Arbeit an einer stabilen Identität seit einigen Jahrzehnten zu einer immer größeren Herausforderung geworden ist, stellen viele Soziologen und Psychologen einhellig fest. »Identität, so scheint es, wird in Alltag und Wissenschaft zum Dauerthema, weil die tradierten gesellschaftlichen und kulturellen Grundlagen für eine stabile soziale Verortung und Einbindung der Menschen zunehmend wegbrechen«, so Rolf Eickelpasch und Claudia Rademacher (2004: 5). »Dem Gewinn an Wahlmöglichkeiten und Optionsspielräumen für die Ausgestaltung des ›eigenen Lebens‹ steht ein Verlust kollektiver Sicherheit und

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SCHEIN ODER NICHT-SCHEIN? ZUR INSZENIERUNG VON AUTHENTIZITÄT AUF DER BÜHNE Zugehörigkeit gegenüber. Die gesellschaftliche Forderung, sich aus vorgefertigten Fragmenten und Versatzstücken eine eigene Biografie und eine eigene Identität zu konstruieren, stellt für den Einzelnen ein anstrengendes, störungsanfälliges, riskantes Unterfangen dar« (ebd.: 7). Diese postmoderne Identitäts-Bastelarbeit kann man als befreiend empfinden und mit entsprechend gewählter Musik zelebrieren. Wer sich dadurch aber grundlegend verunsichert fühlt, der sucht wohl zumindest im Bereich der Kultur verlässliche Identifikationsangebote: »Individuals celebrate authenticity in order to balance the extreme dislocation that characterizes life in the postmodern world, in which traditional concepts of self, community and space have collapsed. This collapse has led to a widespread internalization of doubt and an obsession with distinguishing the real from the fake« (Lewin/Williams 2009: 66). 3. Seit der Erfindung von realitätsnahen audiovisuellen Aufzeichnungs- und Übertragungsmedien, insbesondere aber seit der flächendeckenden Verbreitung des Internets ist unser Weltverhältnis von zunehmender Medialisierung und Virtualisierung geprägt. Der Wunsch nach Liveness, handwerklicher und emotionaler Authentizität ist eine Reaktion auf diese Entwicklung. Er wächst mit der Seltenheit, mit der unmittelbare Erfahrungen heute überhaupt noch gemacht werden können. Bezeichnend ist, dass ausgerechnet Fernsehen und Internet als Symbole dieser Entwicklung uns gegenwärtig die größte Authentizität versprechen, das Live-dabei-Sein, das Besonders-nahdran-Sein, den voyeuristischen Blick hinter die Kulissen. Mit der Zunahme solcher Prozesse wird es nicht nur schwieriger, sondern annähernd unmöglich, noch »Echtes« zu finden. Wer heute zeigen will, dass er etwas Authentisches anzubieten hat, der muss es mit großem Aufwand medial inszenieren, damit er überhaupt wahrgenommen wird.

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Abstract This paper discusses the concepts of authenticity, liveness, and staging in reference to live performances of popular music. It aims to analyze social and individual functions of authenticity, and to develop awareness for the different strategies employed to suggest authenticity on stage. In the first section, the author differentiates between four types of authenticities: personal, socio-cultural, executional, and emotional. He adopts definitions of liveness and staging from theater studies, applies them to the field of popular music, and shows how the ideals of liveness and authenticity are necessarily in conflict with the staged character of public performances because spectators can never be sure about the extent to which performances are enacted or reveal something »authentic.« In a second section, current stage performances of such differing acts as Metallica, Die Toten Hosen, Pet Shop Boys, and Adele are analyzed to show how musicians deal with this conflict and how they try to fulfill expectations concerning all four dimensions of authenticity. Their strategies include, among others, performing »unplugged,« leaving room for moments of interaction and spontaneity, using downsized stages, or frankly exposing the artificial character of the performance (»authentic inauthenticity«). Overall, the analyses show that authenticity ― no matter how staged it is — is still a very important value in different styles of popular music. The paper closes with considerations about deeper cultural reasons for the increased longing for authenticity in the arts.

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INSZENIERTE AUTHENTIZITÄT VERSUS AUTHENTISCHE INSZENIERUNG: EIN ORDNUNGSVERSUCH ZUM KONZEPT AUTHENTIZITÄT IN MEDIENKULTUR UND POPMUSIK Christoph Jacke

1. Einleitung: »Il n'ya pas d'orchestre!«1

Abb. 1 und 2: Stills »Club Silencio«, Magier, Mulholland Drive (2001).

1

Alle folgenden, mottohaften Zitate werden in der »Club Silencio«-Szene des Films Mulholland Drive (2001) vom auftretenden Magier gesprochen.

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CHRISTOPH JACKE Die junge, aufstrebende Schauspielerin Betty kommt nach L.A., um an ihrer Karriere zu arbeiten. Sie stößt in dem Appartement ihrer Tante auf eine geheimnisvolle Frau, die bei einem Autounfall ihr Gedächtnis verloren hat und verliebt sich in sie. Betty nennt die offensichtlich verwirrte Frau »Rita«, nachdem sie auf einem Filmplakat die Hollywood-Schauspielerin Rita Hayworth gesehen hat. Als Rita aus nächtlichen Alpträumen erwacht, begeben sich die beiden Frauen mit dem Taxi in den »Club Silencio«, um einem Konzert, dem Auftritt der Sängerin Rebecca Del Rio, beizuwohnen. Betty und Rita lauschen zuvor dem Theatermagier des »Club Silencio«, der die Band und die einzelnen Instrumente auf der Bühne hervorzaubert und sie auch wieder verschwinden lässt, während die Musik weiter erklingt: »There is no band!« (vgl. Abb. 1 und 2). Zu diesem Ausschnitt aus David Lynchs Film Mulholland Drive — Straße der Finsternis von 2001 finden sich Homepages voller Threads und Kommentare zu den Bedeutungen etwa der einzelnen Figuren, zu den die verschiedenen Realitätsebenen repräsentierenden Farben Blau und Rot in dem Film, dazu, wer alles in diesem Theater evtl. als Cameo aufgetreten ist und dass das Theater selbst wiederum die kleine blaue Box ist, die Betty in dem Film immer wieder aufgreift, um sie zu enträtseln. Überlassen wir durchaus komplexe, verschachtelte und voraussetzungsvolle Spekulationen aber weiterhin den Lynch- oder Mulholland Drive-Fans.2 Für eine wissenschaftliche Analyse interessanter an der »Club Silencio«-Sequenz ist, dass Lynch hier mit dem Verhältnis zwischen Musik, Star, Bühne, Auftritt, Raum, Sound, Publikum und Kontext spielt. Die Figur des Zauberers selbst kann auch als jemand gelesen werden, der den Besuchern des »Club Silencio« schlichtweg die Illusionsindustrie musikalischer Performances innerhalb der Illusionsindustrie des »Club Silencio« innerhalb der Illusionsindustrie des Films »Mulholland Drive« erläutert; immer wieder kommentiert Lynch in seinen Filmen die Hollywoodindustrie; freilich mit der ihm eigenen Erkenntnis und Rätselhaftigkeit: »No hay banda!« Nicht nur diese Szene aus Mulholland Drive zeigt in ihrem Spiel mit Inszenierung, Illusion, Theater, Wirklichkeit und Echtheit: Die Diskussionen um den mittlerweile beinahe selbst schon mythisch gewordenen Begriff Authentizität laufen gesellschaftsweit auf Hochtouren — sicherlich immer auch als vielfältige Reaktion auf die Folgen postmoderner, mediengesellschaftlicher Ausdifferenzierung und Reflexivierung. Und sie laufen auch immer wieder ganz gemäß David Lynch ins Leere. Insbesondere in Reflexionen zu populärer Musik und Medien scheinen die Ansätze und Überlegungen zwischen Feuilletons, Popmusikjournalismen und Wissenschaften schier uner2

Vgl. dazu etwa die Homepage http://www.mulholland-drive.net/studies/ silencio.htm (Stand vom 17.2.2012).

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EIN ORDNUNGSVERSUCH ZUM KONZEPT AUTHENTIZITÄT IN MEDIENKULTUR UND POPMUSIK schöpflich und teilweise schwer vereinbar. Man kann diesen Diskurs über den Begriff der Authentizität m.E. parallel zu den Diskursen über einzelne Genres, Bands oder öffentliche Figuren im Sinne von Stars (und auch deren Labels, Agenturen und Auftrittsorte) und deren Authentizität lesen als eine Konstante der Medienkultur- und hier vor allem der Popmusikevolution: Immer wieder wird mit Authentizität so etwas wie Echtheit, Reales, Ursprünglichkeit, Spontaneität, Unmittelbarkeit, Natürlichkeit usw. verbunden. Diese Charakteristika und Konzepte der Authentizität werden dann ebenso beständig oftmals der (medialen) Inszenierung als äußerst selbstbewusster, geplanter Handlung und Scheinwelt gegenübergestellt. In solchen Formulierungen strahlt die Unterscheidung von Lebenswirklichkeit und Medienwirklichkeit durch. Viel interessanter und vor allem erkenntnisreicher als die immer wieder unternommenen Versuche, den Begriff Authentizität allgemein und spezifisch für Popkultur und -musik zu definieren, erscheint wissenschaftlich eine genauere Beobachtung der Diskutanten sowie ihrer Argumentationen und Kontexte. Der Medientheoretiker und Trendforscher Norbert Bolz spricht in seinen Überlegungen zum Zeitalter der Fälschung sogar von einer zu beobachtenden eigenen »Rhetorik der Authentizität«: »Das Authentische ist die blaue Blume der Romantik, die das normalisiert hat, was man heute im Jargon der Neokybernetik ›Beobachtung zweiter Ordnung‹ nennt. Die Krise der Echtheit und der Kult des Authentischen sind also Komplementärphänomene« (Bolz 2006: 416). Mit meinen Ausführungen soll explizit auf die Forderung der Kulturphilosophen Josef Früchtl und Jörg Zimmermann nach einer sorgfältigeren Beobachtung des Begriffs und Konzepts der Inszenierung sowie deren Verwendungen eingegangen und diese auf Popmusik und Authentizität übertragen werden: »Wohin man sich am Ende auch dreht und wendet — die Reflexion über ›Inszenierung‹ sollte hinter der prätendierten Einheit des Begriffs die Unterschiede und hinter seiner Hypostase die Genese hervortreten lassen. In Zeiten seines ubiquitären Gebrauchs ist das Bemühen um Differenzierung vordringlich. So sehr dieser Gebrauch als Index für eine sich vollziehende kulturelle Veränderung einzuschätzen und zu schätzen ist, so sehr hütet andererseits die Differenzierung davor, einen neuen Mythos zu etablieren und damit auch auf einen begrifflichen Popanz hereinzufallen« (Früchtl/Zimmermann 2001: 46). Der Beitrag soll neben einem Problemaufriss einen Überblick über die Diskurse zu Populärer Musik und Authentizität geben, der zum einen systema-

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CHRISTOPH JACKE tisiert und somit als Grundlage weiterer fallspezifischer Untersuchungen dienen kann und der zum anderen auf die Wandelbarkeit der kulturellen Kategorie Authentizität eingeht, um die Schwierigkeiten in deren wissenschaftlicher Verwendung zu verdeutlichen.

2. Pop-Authentizität (»This is all a tape-recording!«) und Authentizitäts-Pop (»No hay banda!«) Die Therapeutin Doerte Foertsch berichtet 2010 in Kontext, der Fachzeitschrift für systemische Therapie, aus ihrer Berufspraxis, was auf massenmedialer Ebene durch einen Titel des Magazins Focus aus demselben Jahr illustriert wird (vgl. Abb. 1): »Authentisch wird immer mehr selbstverständlicher Bestandteil unserer ›Psychosprache‹« (Foertsch 2010: 230). Zudem wird Authentizität immer wieder medial in Verbindung gebracht mit prominenten Gesichtern, wie hier im Beispiel des Focus-Titels. Ob aus der Politik (Joachim Gauck, Renate Künast, Karl-Theodor zu Guttenberg), dem Sport (Thomas Müller) oder dem Showbusiness mit den Bereichen Popmusik/Fernsehen/Casting (Lena Meyer-Landrut), Kochen/Fernsehen (Tim Mälzer) oder Doku Soap/Trash/Fernsehen (Daniela Katzenberger), diese hier prominent platzierten Prominenten-Gesichter stehen für den Focus offensichtlich für glaubwürdige Personen und einen aktuellen gesellschaftlichen Trend.

Abb. 3: Focus, Titel 46/2010.

Der Philosoph Christian Strub verweist auf mindestens drei Quellen des Begriffs Authentizität: Philologie (der authentische Text), Theater (der au-

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EIN ORDNUNGSVERSUCH ZUM KONZEPT AUTHENTIZITÄT IN MEDIENKULTUR UND POPMUSIK thentische Ausdruck), Moral/Ethik (die authentische Existenz) und plädiert für eine integrative Perspektive (vgl. Strub 1997: 7). Der Zeithistoriker Achim Saupe beschreibt den ursprünglichen Begriff der Authentizität in Anschluss an den kanadischen Philosophen Charles Taylor (1995) als »Treue zur eigenen inneren Natur« (Saupe 2012: 3). Authentisch-Werden wird hier im historischen Abgleich mit Aufklärung bzw. Moderne als ›der eigenen Originalität treu Bleiben‹, als Verbindung zur inneren Stimme etc. aufgefasst.3 Im Hinblick auf Medialisierung und Kommerzialisierung unseres Alltags4 und hier insbesondere der eigentlich an abgesicherte Fakten gebundenen Geschichte räumt Saupe dann aber Schwierigkeiten ein, die individuelle, soziale und mediale Ebene zu trennen: »Entgegen der ontologischen Differenz von authentisch/inauthentisch zeigt sich hier, dass Authentizität ebenso produziert wird wie in den Vorstellungen der Authentizitätssuchenden entsteht. Im Zeichen von staged authenticity erfindet man Traditionen und Erinnerungsorte, wie etwa die schottischen Highland Games, oder sucht das Authentische — im Zeitalter der Simulation hyperrealistisch gewendet — in Erlebnisparks« (ebd.: 7). Letztlich spricht sich Saupe in seinem Artikel für eine spezielle historisierende Herangehensweise aus, die wir oben schon mit Früchtl und Zimmermann für den Bereich der Kulturanalyse erwähnt haben und die für eine Popmusikanalyse geeignet erklärt werden kann. Kommen wir von diesem kurzen Abriss aktueller Diskurse zu einigen der konkreten Beobachtungen zu Popmusik und Authentizität, die hier aufgrund ihrer basalen Zusammenhänge, Etablierungen und Aktualitäten ausgewählt wurden und die Voraussetzung sein können für eine grundlegende Aufarbeitung der Komplexität und Relevanz von vor allem Live-Inszenierungen 5 in Popmusik in Anbindung an Medien- und Marketinganalysen wie sie schon vor ca. zwanzig Jahren von Helmut Rösing (1993) und Alfred Smudits (1993) in der Publikation zur 7. ASPM-Jahrestagung 1991 zum Thema Rockmusik als

3 4

5

Vgl. auch grundlegend den Eintrag »Authentisch/Authentizität« in Barck et al. 2009: 40-65. Für mediensoziologische Anschlüsse zu neuen Medientechnologien, Kommunikation und Authentizität/Glaubwürdigkeit vgl. die Studien von Kornelia Hahn (2009) und Tilmann Sutter (2010). Vgl. zu den Begriffen »Live«, »Inszenierung« und »Live-Inszenierung« FischerLichte 2003 und 2004. Fischer-Lichtes theaterwissenschaftliche Überlegungen beziehen sich teilweise auf den US-amerikanischen Performance-Forscher Philip Auslander (vgl. etwa Fischer-Lichte 2004: 114-126) und scheinen für populäre Inszenierungen und Inszenierungen des Populären in der Musik sehr diskutabel (vgl. dazu Auslander 2004, 2008).

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CHRISTOPH JACKE »Gesamtkunstwerk« gefordert und dann aktueller und ausgiebiger etwa von Marion Leonard (2007) zu Gender und popmusikalischer Performance oder Christian Jooß-Bernau (2010) zum Pop-Konzert sowie in zahlreichen anderen Arbeiten innerhalb der Beobachtungen spezifischer Genres6 konzipiert wurden. Die Probleme der hier ausgesuchten Ansätze sollen — ungeachtet der jeweiligen historischen und situativen Forschungsstandpunkte — insbesondere in Hinsicht auf eine umfassende Analyse von Authentizität und Popmusik skizziert werden.7

2.1 Lawrence Grossberg: Authentische Unauthentizität Der amerikanische Cultural-Studies-Forscher und Kommunikationswissenschaftler Lawrence Grossberg (2010: 196-232) hat bereits Anfang der 1990er Jahre das Konzept der authentischen Unauthentizität skizziert, welches bis dato oft verwendet wird.8 Dabei hat sich Grossberg sehr stark auf politische und unterhaltungsindustrielle Entwicklungen in den USA bezogen und den Zusammenhang aus Postmoderne, Neokonservatismus und Rockdiskurs beschrieben. Besonders wichtig ist Grossberg dabei die postmoderne Wende im Rock, die er mal positiv als ironisches Erreichen einer neuen Stufe von Diskurs oder negativ als Kommerzialisierung auch dieser Meta-Ebene fasst. Im Grunde wird sie durch das Wechselspiel beider Seiten ausgemacht. Grossberg beschreibt unter dem Eindruck von Disco, Punk, Postpunk und New Wave, wie sich die traditionelle Reibung aus antikommerziellem Rock und durchkommerzialisiertem Pop in diesem Wechselspiel aufzulösen scheint, Differenzen indifferent gemacht werden. Diese spielerischen neuen Formate und Genres sind nach Grossberg »bewusste Parodien der Authentizitätsideologie; sie machen die Künstlichkeit der Konstruktion von Rock weniger zu einer Angelegenheit der Ästhetik als zu einer des Image-Marketings. Letzten Endes ist Rock, wie alles andere in den 1990ern auch, ein Business. Das Ergebnis ist, dass Stil vor Authentizität gefeiert wird, oder vielmehr Authentizität als bloß ein weiterer Stil betrachtet wird« (ebd.: 227).

6

7 8

Genres sollen dabei im Anschluss an Simon Frith (1996: 91-95), der sich wiederum auf den italienischen Musikologen Franco Fabbri bezieht, verstanden werden als Settings von musikalischen Ereignissen und Medienangeboten, die durch gegenseitig akzeptierte Regeln in sozialen Gruppen gesteuert werden. Vgl. aktuell den Beitrag von Ralf von Appen in diesem Band. Gelegentlich wurde Grossbergs Konzept auch mit authentischer Inauthentizität übersetzt (vgl. etwa Düllo 2011, Keller 2008), was mit Unauthentizität gleichgesetzt zu verstehen ist.

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EIN ORDNUNGSVERSUCH ZUM KONZEPT AUTHENTIZITÄT IN MEDIENKULTUR UND POPMUSIK Grossberg unterscheidet dann selbst innerhalb dieser neuen Kategorie von Unauthentizität in »ironische, sentimentale, hyperreale und groteske Unauthentizität« (ebd.: 221). Entscheidend ist das Ausstellen des Gemachtseins, das Umschalten von Inhalt auf Form bzw. ein Generieren neuer Inhalte daraus in Popmusik (bei Grossberg Rock- und Popmusik): »Wenn jede Identität gleichermaßen vorgetäuscht ist, eine eingenommene Pose, dann feiert die authentische Unauthentizität die Möglichkeiten der Pose, ohne zu leugnen, dass sie nur das sind« (ebd.: 220). Nur nebenbei bemerkt: Eine Feststellung Grossbergs klingt wie das Motto vieler New Wave-Bands oder aktuell von Lady Gaga: »Das einzige Geheimnis ist die Ironie, dass es keine Geheimnisse gibt, weil es nichts hinter dem Schirm, nichts unter die Oberflächen Geschriebenes gibt« (ebd.). Problematisch scheint seine starke Konzentration auf die US-amerikanischen Verhältnisse der 1980er und frühen 1990er Jahre, seine Fokussierung auf und sein Verständnis von Rockmusik als Gegenpol zu kommerzieller Popmusik sowie sein Mäandern zwischen Analyse und Kritik. Sicherlich ging es Grossberg hier allerdings auch nicht um eine fundierte Analyse eines bestimmten Genres oder einer Sparte von Musik, sondern um die kritische Beschreibung eines gesellschaftlichen Zustands.

2.2 Sarah Thornton: Zwei Sorten von Authentizität Die englische Kultursoziologin und Medienwissenschaftlerin Sarah Thornton hat sich in ihrer Studie zu Club-Kulturen und hier vor allem elektronischer Tanzmusik ebenfalls ausgiebig mit dem Konzept Authentizität auseinandergesetzt und dabei zumindest für diesen Bereich von Popmusik und Medialisierung einen historischen Abriss dieser Genres im Abgleich mit deren eigenen Authentizitätskonstruktionen geliefert. Besonders wichtig erscheint Thorntons Augenmerk auf den Prozess der Authentifizierung, der hier in Popmusik als typisches Merkmal für die Integration neuer Technologien und Konzepte gesehen wird (und damit für die Überlegung der Authentizität als Konstante von Popmusik und Medien fruchtbar erscheint): »The ultimate end of a technology's enculturation is authentication. In other words, a musical form is authentic when it is rendered essential to subculture or integral to community. Equally, technologies are naturalized by enculturation« (Thornton 1996: 29, Hervorhebung im Original).9 9

Thorntons Fokus liegt dabei auf den Authentifizierungen speziell in den ClubKulturen, wo etwa der Aspekt der ›Liveness‹ von der Bühne in den interaktiven Raum zwischen Musik, DJ und Tanzenden verschoben wird und gänzlich andere Authentifizierungen evoziert. Vgl. zum Aspekt der Liveness und Authentizität

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CHRISTOPH JACKE Thornton konstituiert aus ihren Beobachtungen zwei Arten von Authentizität in Popmusik: »The first sort of authenticity involves issues of originality and aura […]. The second kind of authenticity is about being natural to the community or organic to subculture« (ebd.: 30). Thornton leitet diese im Grunde aus der traditionellen Unterscheidung von Hochkultur (hier vor allem der Kunst) und Alltags-/Massen-/Medienkultur (hier vor allem des ›whole way of life‹) ab und betont, dass eben gerade das Wechselspiel aus beiden erst den Bereich der Popmusik prägt: »Live and recorded authenticities are […] not mutually exclusive categories, but part of a continuum« (ebd.: 31). In diesem produktiven Gegenüber sind die Performenden — ob nun DJs oder Tanzende — die wesentlichen Bestandteile. Die Authentifizierungen, also die Authentizitätszuschreibungen, lassen sich mit Thornton in diversen Genres mit unterschiedlichen Gewichtungen beobachten. Thornton stellt bereits als Startpunkt ihrer Studie fest: »In other words, authenticity is ultimately an effect of the discourses which surround popular music« (ebd.: 20). Problematisch an Thorntons Überlegungen erscheint lediglich, dass sie sich hauptsächlich auf ganz bestimmte Genres der Popmusik bezieht, die »dance cultures«.

2.3 Allan Moore: Drei Konzepte von Authentizität Der britische Popmusikologe Allan Moore knüpft an das Konzept des Prozesses der Authentifizierung an und betont in seinen Überlegungen die eigentlichen Felder und Motive der Zuschreibung von Authentizität. Bezogen auf die Künstler selbst bedeutet Moores Ausdifferenzierung: »That artists speak the truth of their own situation; that they speak the truth of the situation of (absent) others; and that they speak the truth of their own culture, thereby representing (present) others« (Moore 2002: 209). Das führt Moore dann zu drei Arten von Authentizität in Popmusik, die zwischen Performer und Publikum entstehen (vgl. ebd.: 211-220): 1. Authentizität als Ausdruck: Ich-Authentizität bzw. Erste-Person-Authentizität: Einem Performer gelingt es, den Eindruck zu vermitteln, dass er unvermittelt und integer mit dem Publikum kommuniziert. Es werden also Zusammenhänge der Inszenierung, Medialisierung und Kommerzialisierung ausgeblendet oder bewusst integriert, wenn etwa ein Künstler

im Sinne von gleichzeitiger, körperlicher Anwesenheit von Produzenten und Rezipienten von Popmusik ausführlich Auslander 2008: 73-127 und daran anschließend Schumacher 2002, vgl. zu Gender und Selbstdarstellung in und durch Pop Lyrics Moser 2008.

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EIN ORDNUNGSVERSUCH ZUM KONZEPT AUTHENTIZITÄT IN MEDIENKULTUR UND POPMUSIK den Abend als gemeinsame, gute Zeit tituliert und Nähe zum Publikum sucht. 2. Authentizität als Umsetzung: Er/Sie-Authentizität bzw. Dritte-PersonAuthentizität: Einem Performer gelingt es, den Eindruck zu vermitteln, Ideen anderer, dritter akkurat zu repräsentieren, die innerhalb einer Tradition von Performances liegen, es werden also von anderen Glaubwürdigkeitsanker übernommen, wenn etwa ein Künstler sich Konzepten anderer, großer Vorbilder bedient und sich in besonders glaubwürdige, weil traditionell ›verbürgte‹ Kontexte einreiht. 3. Authentizität als Erfahrung: Du-Authentizität bzw. Zweite-PersonAuthentizität: Einem Performer gelingt es, den Eindruck zu vermitteln, das Publikum zu verstehen, dessen Lebenserfahrung mit in die eigene Performance zu integrieren und umgekehrt durch die eigene Musik und ihre Darstellung dem Publikum etwas über das (eigene) Leben zu sagen. Es wird also gleichermaßen an die Erfahrungen des Publikums angeschlossen sowie Einfluss ausgeübt, wenn sich etwa protestierende Jugendsubkulturen musikalisch artikulieren. Was an Moores Einteilung besticht, ist die präzise Analyse der verschiedenen Ebenen von Authentifizierung zwischen Musikern und Rezipienten und die Betonung der erst daraus entstehenden Authentizität als Aushandlungsprozess. Ebenso spricht die Genre-Unabhängigkeit seines Konzepts für eine gute Anwendbarkeit in der Popmusik- und Medienanalyse. Problematisch erscheint bei Moores Einteilung allerdings gerade die Betonung auf die Produzenten und Rezipienten der Authentizität. Damit werden m.E. vor allem mediale, journalistische und wirtschaftliche Aspekte und Kontexte vernachlässigt.

2.4 Hans Weisethaunet/Ulf Lindberg: Kategorien von Authentizität In Bezug auf Moores Konzept und dennoch aus einer gänzlich anderen Perspektive nehmen sich der norwegische Popmusikethnologe Hans Weisethaunet und der schwedische Komparatist Ulf Lindberg der Authentizitätszuschreibungen in Popmusik an. Aus einer umfassenderen Studie zum Popmusikjournalismus in den USA und Großbritannien (vgl. Lindberg/Guðmundsson/Michelsen/Weisethaunet 2005) abgeleitet, heben Weisethaunet und Lindberg (vgl. Weisethaunet/Lindberg 2010) in ihrem Artikel für Popular Music and Society die Bedeutung von Authentizität für Popmusik in Anschluss an Moores und Grossbergs Überlegungen hervor: »Thus, on the one

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CHRISTOPH JACKE hand, ›authenticity‹ designates an experiential quality; on the other hand, it functions as a nodal point in art-related discourse and, as such, links to socio-cultural power relations« (Weisethaunet/Lindberg 2010: 466). Weisethaunet und Lindberg skizzieren dann eine in ihren Worten erweiterbare Liste von Authentizitäten, »including ›folk authenticity‹, ›authenticity as self-expression‹, ›authenticity as negation‹, ›authentic inauthenticity‹, ›body authenticity‹, and ›authenticity as transcendence of the everyday‹« (Weisethaunet/Lindberg 2010: 467). Diese Kategorien gewinnen Weisethaunet/Lindberg vorrangig aus ihrer Analyse popmusikjournalistischer Texte, was zugleich Stärke und Schwäche ihrer Herangehensweise ist. Sie berücksichtigen auf einem bisher immer noch sehr wenig erforschten Gebiet (vgl. Doehring 2011 und Schäfer 2011) den Journalisten als wichtiges Scharnier zwischen Produktion und Rezeption von Popmusik. Gleichzeitig erscheinen damit aber andere Ebenen des popmusikalischen Kommunikationsprozesses eher vernachlässigt.10 Ferner bewegen sich die Kategorien auf unterschiedlichen Levels und stellen sie hier nur Diskursstränge oder -unterthemen dar. Einig sind sich aber auch Weisethaunet und Lindberg in ihrem Fazit bezüglich der Komplexität des Zusammenhangs aus Authentizität und Popmusik: »As we have shown, critics' notions of authenticity are not one but plural, which has given rise to a repertoire of different discourses. Moreover, these notions are changing: ›authenticity‹ is ascribed different meanings, value, and relevance in different spatiotemporal contexts. It has also been suggested that one reason why the concept seems to persist may be that, at least in some shapes, it seems to respond to existential needs. Still, the meaning of ›authenticity‹ remains primarily tied to the modern subject and its pursuit of selfrealization« (Weisethaunet/Lindberg 2010: 481).

2.5 Thomas Düllo: Authentizität erster und zweiter Ordnung Viele der genannten Diskussionen werden in der umfassenden Studie des Berliner Kulturwissenschaftlers und Pädagogen Thomas Düllo zur »Kultur als Transformation« (2011) amalgamiert, in der Düllo »Eine Kulturwissenschaft des Performativen und des Crossover« — so der Untertitel der Studie — vorlegt. Besonders sein Unterkapitel zur Authentizität erster und zweiter 10 Vgl. zum popmusikalischen Kommunikationsprozess ausgiebig Jacke 2009a und zu kommunikativen Gesichtspunkten und Problemen von Authentizität Keller 2008: 59-76: »Authentizität ist gewissermaßen eine Art reflexive Wahrheit, eine Wahrheit mit attribuiertem Rückbezug auf den kommunizierenden Aktanten« (Keller 2008: 66).

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EIN ORDNUNGSVERSUCH ZUM KONZEPT AUTHENTIZITÄT IN MEDIENKULTUR UND POPMUSIK Ordnung (vgl. Düllo 2011: 441-469) lässt sich vor allem an Grossbergs und Thorntons Überlegungen anschließen. Düllo hat dabei eben gerade die produktiven Reibungen und Crossovers zwischen authentischem Rockdiskurs und anderen popmusikalischen Strömungen, die das In- oder Unauthentische betonen, beobachtet: »Es geht um die Frage: was steckt hinter der Reklamierung des Authentischen, erhoben von denjenigen Teilnehmern an kulturellen Praxen und Diskursen über Authentizität, die nicht ein essentialistisches Verständnis von authentisch für sich reklamieren?« (ebd.: 442-443). Wenn sich etwa der Pop- und Kunsttheoretiker Diedrich Diederichsen 2002 im Vorwort zur Neuauflage seines Buchs Sexbeat, welches im Original 1985 erschienen ist, an die achtziger Jahre erinnernd proklamiert, dass es in Punk, Postpunk und New Wave eben gerade um die Gestaltung des Nichtauthentischen ging (vgl. Diederichsen 2002: II), wenn er an anderer Stelle das Konzept »Authentizität zweiter Ordnung« (Diederichsen 1993: 235) als Genuss an der eigenen Entfremdung (z.B. bei der schwedischen Band Roxette) einführt oder wenn der Literaturwissenschaftler Eckhard Schumacher (2001) am Beispiel der sehr unterschiedlichen Bands F.S.K./Freiwillige Selbstkontrolle und vor allem Roxy Music die Ästhetik von Zitat und Wiederholung in Pop illustriert, so nimmt Düllo diese Fäden auf und verfolgt sie einerseits zurück in die Kunst, andererseits spinnt er sie weiter bis in die heutige popkulturell geprägte Zeit und stellt seine grundlegende Unterscheidung auf: »Künstlich, Konstruiert [sic! C.J.] und inszeniert sind beide Formen des Authentischen [die erster und die zweiter Ordnung, C.J.]. Die Differenz ist vielmehr darin erkennbar, ob die kulturellen Produkte, die das Authentische repräsentieren und inszenieren, eben diese Inszeniertheit und Künstlichkeit kenntlich machen (zweiter Ordnung) oder sie ignorieren und leugnen (erster Ordnung)« (Düllo 2011: 459). Die »Inszenierung der Als-Ob-Authentizität« (ebd.: 445) kann auf allen popkulturellen Feldern stattfinden. Düllo selbst liefert als Beispiel u.a. eine Analyse von Schallplattencovern und Musikclips und verwehrt sich dabei gegen Bewertungen.11 Im Weiteren listet Düllo einen Katalog an Phänome11 Man könnte behaupten, dass popmusikalische Castings als kommerzialisierte Version dieser Authentizität zweiter Ordnung fungieren. Dem sei entgegengestellt, dass dort ja eben die eigentlichen Produktionsmechanismen nicht offengelegt und kommentiert werden, sondern eine Simulation von popmusikalischen Wettbewerben unter medialen Bedingungen stattfindet und die Castings somit für die Zuschauer Authentizität erster Ordnung dar- und herstellen: »Take Me Tonight«, »This Is My Life«, »I Still Burn« usw.

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CHRISTOPH JACKE nen für die beiden Kategorien auf (vgl. ebd.: 459).12 Er geht sogar soweit, die beim Beobachten, Erlernen und Anwenden dieser Unterscheidung und ihrer Transformationen gewonnenen Kompetenzen als grundlegend für seine Form der Kulturwissenschaft zu bezeichnen und schließt damit an ähnliche Überlegungen von Susanne Binas-Preisendörfer (2010) und Christoph Jacke (2006, 2009a: 15-55) für eine Popmusik- bzw. -kulturwissenschaft an: »Die kollektive und performative Kompetenz der Adressaten von Authentizitätseindruckserzeugnissen ist hoch, deshalb brauchen Authentizitätseindruckserzeuger kompetente Unterscheider und Decodierer der Ausdrucksformen von Authentizität« (Düllo 2011: 445). Und weiter: »Mit Kombinatorik, Gegenwartsanbindung und Montage sind genau diejenigen Kompetenztechniken von ausgebildeten Kulturwissenschaftlern benannt, die im Bewusstsein von Inauthentizität und Authentizität zweiter Ordnung arbeiten« (ebd.: 464). Wenn auch Düllos Überlegungen für einen umfassenden Gesamtkomplex der Popmusikkultur sinnvoll sind, so ist zugleich der kulturwissenschaftlich allgemeine Ansatz, der lediglich exemplarisch auf Popmusik beschränkt bleibt — hier zuvorderst deren Visualisierung auf Schallplattenhüllen — , problematisch. Wie sich also belegen lässt, haben sich die unterschiedlichen und doch an einem konkreten Zusammenhang abarbeitenden Konzepte gegenseitig rezipiert und lassen sich zumindest grob miteinander in Bezug setzen und sogar integrieren für eine sowohl historische als auch theoretische, systematische Analyse von Popmusik und die sie umgebende Popkultur. Nach ausgiebiger Sichtung der wissenschaftlichen Literatur zu Popmusik und Authentizität lassen sich nunmehr zwei Aspekte besonders deutlich erkennen und für eine weitere Betrachtung systematisieren: 1. Offenbar schwingen in den verschiedenen Begriffspaaren, die in diesem Rahmen immer wieder erwähnt und diskutiert werden und die sich durch praktisch alle Veröffentlichungen durchziehen, implizite Bewertungen mit: Wenn also von Natur/Kultur, Realität/Fiktionalität, Realität/Virtualität, Wahrheit/Lüge, Dokumentation/Fiktion, Wirklichkeit/ Medien, analog/digital, local/global, live/recorded, Echtheit/Inszenierung, Glaubwürdigkeit/Täuschung, Original/Fälschung, Original/Kopie, 12 Die Authentizität zweiter Ordnung ist nicht zu verwechseln mit Friths »secondary performance« (Frith 2007: 1), womit Frith Karaoke, Tributes und Castings meint.

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EIN ORDNUNGSVERSUCH ZUM KONZEPT AUTHENTIZITÄT IN MEDIENKULTUR UND POPMUSIK Leben/Bühne, realness/fake, Hochkultur/Massenkultur, folk culture/ mass culture usw. die Rede ist, scheint oftmals — auch das hat bereits Thornton (1996) für Popmusik identifizieren können — eine Gewichtung zum hier jeweils erst genannten Begriff durch. 2. Welches der Begriffspaare man auch ansetzt, am prominentesten erscheint weiterhin das der Authentizität/Künstlichkeit, so arbeiten alle popmusikalischen Genres zwar unterschiedlich in der Gewichtung und Verwendung der Unterscheidung, sie scheinen sie aber in jedem Fall zu thematisieren, mal mehr, mal weniger offensichtlich, mal auf erster, mal auf zweiter Ordnungsebene. In den letzten Jahren lassen sich vor allem in Medien-, Kultur-, Musikwissenschaften und Soziologie vermehrt Studien zur Inszenierung, Theatralität und Authentizität in Mediengesellschaften und insbesondere auf dem Bereich der Popkultur und -musik finden. So erschienen mehrere der hier benutzten Studien tatsächlich erst im Verlauf des Recherchierens und Verfassens dieses Artikels. Die erste Beobachtung, die latente Unterscheidung und Gewichtung von Authentizität in Bezug auf Künstlichkeit etc., lässt sich m.E. aus den jeweiligen Kulturen, also den Interpretationen der Unterscheidungen innerhalb von Wirklichkeitsmodellen erläutern. Jede Kulturbeschreibung basiert eben auf Beschreibungskulturen und muss differenzieren und gewichten, darauf wurde für Pop an anderer Stelle bereits ausgiebig im Anschluss an das Kulturmodell von Siegfried J. Schmidt hingewiesen.13 Hier zeigt sich die Abhängigkeit sowohl vom einzelnen Beobachter als auch von gesellschaftlichen Diskursmächten. Ebenso wird der grundsätzliche Gebrauch dieser Unterscheidungen besonders klar. Kultürlich kann man hier nochmals genauer die einzelnen Begriffe und ihre durch die Zeit hindurch und vor allem in Medien und Pop je spezifischen Verwendungen und auch Gewichtungsveränderungen analysieren, was ja auch einige der hier genannten Studien praktizieren. Diese Herangehensweise berücksichtigt dann auch die zweite Beobachtung, die generelle Bedeutung von Authentizität/Künstlichkeit in Popmusik durch alle Genres hindurch, wenn auch jeweils spezifisch ausgeprägt. Die generelle Beobachtung zur Ubiquität der Diskurse um Authentizität ihre Konzepte erscheint mir allerdings, so trivial sie zunächst klingt, sehr viel aufschlussreicher, wenn man sie philosophisch als Zeichen eines zunehmenden Selbstvergewisserungsdiskurses über unsere Gesellschaft verstehen möchte. 13 Vgl. für Popkultur Jacke 2004, 2009a, als angewandte exemplarische Studie zu Popmusik Burkhalter/Jacke/Passaro 2012.

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CHRISTOPH JACKE »In an age of endless representations and global mediation, the experience of musical authenticity is perceived as a cure both for alienation (because it offers feelings of community) and dissimulation (because it intends a sense of the really ›real‹). As such, it is valued as a balm for media fatique and as an antidote to commercial hype. In sum, authenticity is to music what happy endings are to Hollywood cinema — the reassuring reward for suspending disbelief« (Thornton 1996: 26). (Bekanntlich lässt David Lynch seine Filme eher ›unhappy‹ oder indifferent enden, als hätte er Thorntons Anmerkung zur Authentizität gelesen und als wolle er diese Versuche der Rückversicherung zerstören.) Vielleicht kann man aufgrund dieser Beobachtungen soweit gehen, dass Authentizität und die diesen Begriff umgebenden Konzepte und Diskussionen als ein wichtiger umfassender Diskursstrang, als ein Paradigma für unsere Gesellschaft, in jedem Fall für den Bereich der Popmusik und Medien gelten können. Vielleicht kann man sogar zumindest aus einem Zeitgeistgefühl heraus von einem ›authentic turn‹ sprechen, der sich aus den Erfahrungen mit Medialisierung, Computerisierung und Digitalisierung und all den damit zusammenhängenden Veränderungen wie Ausdifferenzierung und Reflexivierung erklären lässt (vgl. Jacke 2009b).14 Die hiermit zusammen hängenden unübersichtlichen Sichtbarkeiten und neuen Unsichtbarkeiten scheinen allesamt zu einem zunehmenden Bedarf an Diskussionen zu führen und sorgen zusätzlich für »die strukturelle Unfass14 Die Unübersichtlichkeit und Rätselhaftigkeit wird deutlich, wenn man die Traditionslinie der Beobachtbarkeit von Theatralem und Inszeniertem bei Früchtl/ Zimmermann (2001: 17) weiterführt, die diese in Anschluss an Michel Foucaults Studien zur Sichtbarkeit konzipieren, indem sie in der griechischen Antike das Schauspiel als Anblick weniger durch die Menge und in der Moderne umgekehrt wenigen oder einem einzelnen den Überblick über viele gewährt, verstehen. Man kann ergänzen, dass die Postmoderne als spezifische Entwicklung in der Moderne nunmehr bedingt durch vor allem Industrien und Technologien die Übersicht aller über alle zumindest suggeriert und ermöglicht. Dass freilich dahinter neue hegemoniale Strukturen erkennbar sind, zeigen die aktuellen, nach-euphorischen Debatten um die Datenspeicherung, -verwendung und -freigabe etwa beim sozialen Netzwerk facebook. Der kritische Pop-Philosoph und Mitherausgeber der Testcard-Reihe Roger Behrens sieht hinter den vermeintlichen Offenlegungen postmoderner Medien- und Popkultur sogar wiederum eine erneute kulturindustrielle Camouflage auf der Meta-Ebene, die sich im Grunde schon durch die gesamte Geschichte der Popmusik zieht: »Gerade durch die Perfektionierung der industriellen Produktionsverhältnisse werden eben diese industriellen Produktionsverhältnisse unsichtbar gemacht: und zwar in einem Maße, dass selbst das Wissen um die tatsächlichen Fertigungsbedingungen nichts an dem Genuss dieser Produkte ändert. [...] Das Prinzip tangiert schließlich die pop-ästhetische Authentizität, was durch kaum eine Musik stringenter vorgeführt wird als durch den Soul« (Behrens 2011: 20, Hervorhebung im Original).

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EIN ORDNUNGSVERSUCH ZUM KONZEPT AUTHENTIZITÄT IN MEDIENKULTUR UND POPMUSIK barkeit des Konzepts ›Authentizität‹« (Funk/Krämer 2011: 9), wie es jüngst die Anglisten Wolfgang Funk und Lucia Krämer im Vorwort zu ihrem Sammelband Fiktionen von Wirklichkeit formuliert haben. Es scheint gerade ganz gehörig geordnet zu werden. Genau diesen Bedarf an narrativer Ordnung spricht Lynch mit seinen filmischen Verschachtelungen und Verästelungen auch an, um ihn dann in weitere Verunsicherung zu überführen.

3. Zwei mögliche Wege aus dem Authentizitätsdilemma: »It's all recorded and yet we hear a band!« Besonders illustrieren lassen sich die verschiedenen Ebenen von Authentizitätszuschreibungen und Gewichtungen an den Figuren der Popmusik (vgl. Jacke 2010, 2011) sowie an konkreten Beispielen, wie ich es in Bezug auf Diederichsens Konzept der Meta-Musik (vgl. Diederichsen 2007, Diederichsen/Jacke 2011) an anderer Stelle an den Meta-Stars Nick Cave und dessen Seitenprojekt-Band Grinderman als bottom-up gewachsenem und Lady Gaga als top down platziertem Star versucht habe (vgl. Jacke 2012). Für Diederichsen, der hier allerdings immer nur emanzipatorische, unpopuläre PopMusik meint, gibt es zwei Möglichkeiten der Zukunft von Pop-Musik15: Sie wird zur Kunst und/oder sie wird zur Meta-Pop-Musik, die ihre eigenen Bedingungen beobachtet, damit spielt und sich bemüht, gewissermaßen ihre Voraussetzungen, Rahmungen und auch Inhalte durchzudeklinieren (vgl. Diederichsen/Jacke 2011). Auffallend an dieser Entwicklung ist m.E., dass sie an die Ausbildung einer Authentizität zweiter Ordnung als Strategie in Pop anschließt und dass sie in allen Bereichen der Popmusik zu beobachten ist, und zwar sowohl Genre übergreifend als auch auf verschiedenen Ebenen des Erfolgs. Diederichsen nennt etwa das Beispiel des deutschen Musikers und Sängers Kristof Schreuf (und dessen ehemaliger Band Kolossale Jugend), der diese sehr reflektierte und reflektierende ›Metaisierung‹ ähnlich dem Autoren, DJ und Musiker Thomas Meinecke (und dessen bereits erwähnte Band F.S.K./Freiwillige Selbstkontrolle) betreibt. In und an ihnen werden die beschriebenen Diskurse in Pop sozusagen personalisiert oder wie David P. Marshall es in seiner Studie zu Prominenz und Macht formuliert hat: »At the center of these debates concerning the authentic nature of the music is the popular music performer; how he or she expresses the emotionality of the

15 Diederichsen benutzt den Begriff Pop-Musik ausdrücklich in dieser Schreibweise und unterscheidet ihn von Popkultur; vgl. Diederichsen/Jacke 2011.

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CHRISTOPH JACKE music and his or her own inner emotions, feelings, and personality and how faithful the performer is to the intentions of the musical score are all part of how the individual performer is determined to be authentic« (Marshall 2006: 150). Diese ihr Selbst und ihre Kontexte in ihrer Inszenierung reflektierenden Meta-Stars stehen als Stars letztlich für kulturindustriell produzierte, medial distribuierte, kommerzialisierte und mit Vergnügen rezipierte öffentliche Medienpersonen, hier aus der Popmusik. »Popmusik-Performer brachen mit dem Prinzip Rolle, nicht allerdings, wie das oft missverstanden wird, um nun in barer Authentizität und Selbstidentität vor ihrem Publikum zu stehen, sondern um eine andere Form einzufügen: ein permanentes Bezugnehmen auf die eigene Person, dessen Wahrheit aber nie ganz greifbar wird« (Diederichsen 2010: 31). Meta-Stars illustrieren die beiden generellen Tendenzen postmoderner Mediengesellschaften, sich auszudifferenzieren und zu reflexivieren. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass solche Meta-Stars der Popmusik bzw. ihre Managements durchaus sehr produktiv und intensiv mit Konzepten wie Zitat, Pastiche und Parodie arbeiten und letztlich — zumindest im Fall Lady Gagas — u.a. daraus ihren weltweiten Erfolg gewinnen. Der britische Popmusik-Journalist und Essayist Simon Reynolds sieht in seiner aktuell viel zitierten Studie Retromania (2011) Lady Gaga sogar als den charakteristischen Rekombinations-Star im Pop an: »The ultimate recombinant pop star, Gaga's persona and appearance mixed seventies glam decadence (Bowie), eighties costume excess (Grace Jones, Madonna, Vogueing, Leigh Bowery), nineties neo-Goth (Marilyn Manson) and early-noughties electroclash (Fischerspooner's pro-pretentiousness rhetoric, Miss Kittin's velvet rope glitz fantasies). Gaga's music merged eighties retrorobotics with fully contemporary qualities of efficiency, ruthless hookiness and cosmetic perfection (vocals glazed and sugared with Auto-Tune). Collapsing past into future, and edgy hipsterism into mainstream showbiz, Gaga voided the meaning of either. Fittingly, she became the iconic pop performer of our time« (Reynolds 2011: 176). An der Figur Lady Gaga lassen sich die hier eingangs schon erwähnten zwei Wege aus dem Dilemma der Beobachtung von Pop und Authentizität an der popmusikalischen Praxis exemplarisch ablesen:16

16 Für eine genauere Einordnung von Lady Gaga und Nick Cave/Grinderman als Meta-Stars der Popmusik vgl. Jacke 2012.

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EIN ORDNUNGSVERSUCH ZUM KONZEPT AUTHENTIZITÄT IN MEDIENKULTUR UND POPMUSIK

Abb. 4: Lady Gaga, Cover Harper's Bazaar, Oktober 2011 (http://s11.bdbphotos.com/images/orig/f/q/fqtkbjw9083lqfk8.jpg).

Abb. 5: Lady Gaga, Titel/U1, Spex, Heft 333, Juli/August 2011.

1. Da Lady Gaga ihr ganzes Leben zur Inszenierung ausgerufen hat und immer wieder betont, dass es kein Dahinter gibt und sie so ist, wie sie scheint, kann man hier den Begriff der Authentizität entsorgen, wie es so viele popkulturelle Genres und Bewegungen selbst immer wieder verlangt haben. Auf dem Titel der Oktoberausgabe 2011 der US-amerikanischen Modezeitschrift Harper's Bazaar schaut Lady Gaga uns ›ungeschminkt‹ mit der Headline »Lady Gaga Bares All« an, die prominente Person gibt also scheinbar ihr ›wahres‹ Gesicht auf der Front-Hülle eines inszenatorischen Mediums Preis, sie ist bewusst als ungeschminkt geschminkt zu erkennen, was durch ihren eher abwesenden Blick verdeutlicht wird (vgl. Abb. 2). Im Heft freilich befinden sich lediglich ein kurzer Text und drei weitere Fotos, auch hier scheint im wahrsten Sinn Oberfläche gegenüber Komplexität zu überwiegen. Für den Titel des deutschen Popkultur-Magazins Spex im Juli/August 2011 wurde Gaga

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CHRISTOPH JACKE vom Fotografen Wolfgang Tillmanns im Lehmbruck-Museum Duisburg fotografiert und mit der Headline »natürlich!« versehen. Abgesehen von der Headline ist Gaga als fotografierte Person vor der Beton-Wand des Kunstmusems mit einem Baumblatt in der Hand und geöffneter schwarzer Lederweste und darunter befindlichem BH zu sehen (Abb. 3). Hier scheint die Authentizitätskategorie auf Ebene von Pop vollkommen ausgehebelt. 2. Nun entsteht der Reiz dieser medialen Inszenierung nicht zuletzt durch das doppelte Versprechen, das hier gegeben wird; zum einen vom Titelbild Harper's Bazaar und Spex auf den Inhalt in der Zeitschrift hin, zum anderen generell auf die Demaskierung von Lady Gaga hin. Um mit dieser Inszenierung von Nicht-Inszenierung, dieser geschminkten Ungeschminktheit in Pop und Medien arbeiten zu können, erscheint die hier erläuterte Authentizität zweiter Ordnung durchaus hilfreich, denn sie zeigt sowohl die zweite Ebene an als auch den offensichtlich weiter vorhandenen Bedarf an Ursprung, Wurzel und Entblößung seitens sowohl der medialen Berichterstattung als auch der Rezipienten und Fans. Die Kategorie bzw. das Konzept Authentizität ist also ausdifferenziert und reflexiviert worden, verschwunden oder gänzlich dekonstruiert ist es auch und gerade bei einer Figur wie Lady Gaga nicht.17 Die kalkulierte Evokation des ständigen Verlangens nach Ent-Täuschung und die damit zusammenhängende fortlaufende Konstruktion des Selbst auf Seiten der Rezipienten und ihres Extrems, den Fans, nennt Marshall (2010: 44) den »celebrity effect«.18 Diesen Bedarf stellt auch die Kommunikations17 In einer Wortmeldung auf der diesem Band zugrundeliegenden Tagung bezeichnete Philip Auslander die Figur Lady Gaga als »anti-icon«. 18 Kein Bereich operationalisiert diesen Effekt übrigens drastischer und kommerzieller als die Pornoindustrie, wie jüngst auch die britische Philosophin Nina Power in ihrer Analyse der Frau in der neoliberalen, medialisierten Gesellschaft festgestellt hat: »Diese Leidenschaft für Authentizität, die erwartungsgemäß besser funktioniert als die immer-nur-angedeutete ›echte‹ Sex-Szene im Mainstream-Spielfilm, ist merkwürdig: Reicht es denn nicht, dass wir die ›Lust‹ in den Gesichtern der Darstellerinnen erkennen können? Selbstverständlich nicht — genau wie alle anderen Frauen könnte die Pornoschauspielerin das ja faken. Aber es gibt natürlich keine andere Möglichkeit ihre Lust zu messen, auch wenn im Vintage Porn alles versucht wird, um uns zu überzeugen, dass das weibliche Genießen seinen eigenen Ort hat. Doch der Money Shot ist längst weitergezogen: vom Mainstream-Kino über den Porno ins Fernsehen — dort steht der Begriff für die Schlüsselszene einer Reality Show, eine Art Programmhöhepunkt auf niedrigem Niveau, der sich als Trailer eignet: ein Clip, der zeigt wie ein Kandidat oder eine Kandidatin nach seinem/Ihrem Rausschmiss weinend zusammenbricht oder aufschreit« (Power 2011: 80-81). Und dieses Weiterziehen verursacht dann wiederum einen Wandel in der Pornoindustrie, wie ihn der Film-

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EIN ORDNUNGSVERSUCH ZUM KONZEPT AUTHENTIZITÄT IN MEDIENKULTUR UND POPMUSIK wissenschaftlerin Erin Meyers in ihrer Untersuchung des Zusammenhangs von Prominenz, Medien, Image, Authentizität und Fans am Beispiel von Britney Spears fest: »The question, then, is why audiences remain unsatisfied with the public image of the star and turn to extratextual reports in order to seek the ›truth,‹ [sic!] even if they rationally are aware those images are constructed« (Meyers 2009: 895). Dabei betont auch Myers, dass die Rezipienten, das Publikum, im Rahmen der Authentizitätskonstruktionen neben den Figuren und ihren Produktionskontexten ebenfalls wichtigen Anteil haben: »The audience negotiates the image using notions of authenticity and truth to decipher the ›real‹ celebrity. This is not a simple process, but one fraught with complexity and contradiction. […] Although we can never really know the truth about a celebrity, as it is a mediated and highly constructed position, the pursuit of that truth allows audiences to organize and understand themselves and the world around them« (Meyers 2009: 905). Aus allen diesen Analysen lässt sich schließen, was Diederichen anlässlich des Auftritts des Film- und Theaterregisseurs und Aktionskünstlers Christoph Schlingensief in dessen eigener Oper »Mea Culpa« (2009) am Burgtheater Wien konstatierte: »[D]ass eine Sicherheit über den ontologischen Status eines Auftretenden nicht zu haben ist« (Diederichsen 2011: 184). Diese verbindliche Unverbindlichkeit allerdings sollte nicht in eine medienerkenntnistheoretische Sackgasse führen, sondern aufhorchen lassen für die kritiker Georg Seeßlen beschreibt: »Die klassische Pornographie erzeugt eine Illusion von authentischer Sexualität. Pornodarsteller ficken wie die Tiere, und das in kindlicher Unschuld. Keine komplizierten Liebesgeschichten, keine Codes, keine umständlichen Annäherungen, natürlich auch keine Enttäuschung und keine Bindung. Die Herstellung von absoluter Gegenwärtigkeit durch radikale Körperlichkeit. Das lässt sich am besten durch ›Profis‹ verkörpern: Leute, die das Motorische und Performative beherrschen. Auf der kulturellen Ebene ist diese authentische Form der Sexualität aber wiederum das überhaupt Falscheste und Künstlichste, nämlich etwas Mechanisches. [...] Der post-pornographische Blick hysterisiert und persifliert die authentische Sexualität des klassischen Pornos, indem er sie sozialisiert und zugleich legitimiert. Bei ihm kommt es weniger auf das Schauspiel als auf den Zugriff an. Die Gesellschaft wird nicht mehr ausgeblendet, sie ist deutlich präsent, und die Veröffentlichung des Körpers ist Skandal und Gewöhnung zugleich. Als eine Folge dieser post-pornographischen Perspektive ist auch das Fernsehen des Jahres 2010 um ein rechtes Maß an Selbstpornografisierung und sozialverträglicher Obszönität im öffentlichen Raum bemüht. Allerorten geht es um die Entblößung, Hysterisierung und Entwertung der Körper von Nachbarinnen, Ex-Geliebten, Familienmitgliedern oder voyeuristisch belagerten Mitmenschen, aber auch um die Sexualisierung der Prominenz, der Macht, der Technologie und der Medien selbst« (Seeßlen 2011: 106). Vgl. zu Porno, Popmusik und Authentizitätskonstruktionen auch Diederichsen 2006.

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CHRISTOPH JACKE damit zusammenhängenden Herausforderungen der Überprüfbarkeit von so genannter Echtheit in Medien- und Popkultur. Das betrifft dann nicht nur die Glaubwürdigkeit von medial inszenierten Figuren, sondern eben auch viel fundamentaler diejenige von Zuschreibungskontexten und Quellen generell.19

4. Fazit: »It is an illusion — listen...« In einem derart von Medien-, Musik- und Inszenierungsindustrien geprägten Zeitalter scheint also der Bedarf nach dem Blick und Verstehen des Dahinters hinter den verschiedenen Maskeraden immens präsent zu sein, ein nicht untypisches Bedürfnis nach Sinnsicherheit in Krisenzeiten. Auch hier lassen sich wieder frühzeitig und intensiv in Popmusik und ihren unterschiedlichen Thematisierungen — sozusagen von »Express Yourself« über »Leb wie Du Dich fühlst« bis zu »Born This Way« — derartige oftmals gesamtgesellschaftliche Artikulationen ablesen. Für eine Analyse des Zusammenhangs von Popmusik und Authentizität kann also festgehalten werden: 1. Historisch hat sich insbesondere seit etwa dreißig Jahren eine Authentizität zweiter Ordnung in bestimmten Bereichen der Popmusik herausgebildet, die entweder avanciert oder marktwirtschaftlich ausgeklügelt oder — im musikwirtschaftlich-künstlerischen Idealfall — beides ist. 2. Authentizität erster und zweiter Ordnung zeigt sich auf allen Ebenen des popmusikalischen Kommunikationsprozesses, also in Produktion, Distribution, Rezeption und Weiterverarbeitung. Sie wird dementsprechend oftmals in Teilgebieten untersucht, selten aber etwa im gesamten Prozess. 3. Dazu kommt daran anknüpfend, dass insbesondere an den Stars und Meta-Stars der Popmusik deren sowohl diachrone, also über die Zeit und Karriere laufende, als auch synchrone, also über verschiedene Rollen zu beobachtende Authentizität(szuschreibung) analysiert werden müssen. Dies ist als Plädoyer für eine präzisere, systematischere Beobachtung zu verstehen und erklärt, warum für manche Produzenten, Musiker, Promoter, Journalisten, Rezipienten, Fans und auch Wissenschaftler Nick Cave, Lady

19 Für diesen Hinweis und dessen aufmerksame Lektüre meines Artikels danke ich Olaf Karnik, der in seiner Mail vom 14.2.2012 fragt: »Was bzw. WER bezeugt die historische Echtheit des Materials, wenn überall und immer mehr ehemalige Empfänger zu Sendern werden?«.

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EIN ORDNUNGSVERSUCH ZUM KONZEPT AUTHENTIZITÄT IN MEDIENKULTUR UND POPMUSIK Gaga, Britney Spears oder andere besonders authentisch wirken — oder auch gerade nicht und wie das von wem bewertet wird. Auf diese für den Bereich der Analyse Populärer Musik besonders gewichtige Beobachterabhängigkeit des Konzepts Authentizität weist auch der schon zitierte Strub hin: »Rezipienten rezipieren etwas als authentisch, Produzenten produzieren etwas als authentisch, Selbstproduzenten geben sich authentisch« (Strub 1997: 15). Daran angelehnt kann für den popmusikalischen Kommunikationsprozess ergänzt werden: Distributeure distribuieren etwas als authentisch (Werbung, Vertrieb etc.), Weiterverarbeiter verarbeiten etwas als authentisch (Fans, Journalisten etc.) — und alles vielleicht auch nicht, das kann nur im Einzelfall, wie hier exemplarisch an Lady Gags Inszenierung auf dem Titel einer bekannten Mode- und einer renommierten Popkultur-Zeitschrift geklärt werden. Spannend für Analysen von inszenierter Popmusik und popmusikalischer Inszenierung ist hier die Frage, auf welchen Ebenen Authentizität dar- oder hergestellt wird, wie umfassend also das »Authentizitätsgeschehen« (Strub 1997: 17) vorliegt, oder wo auch Brüche entstehen.

Abb. 6 und 7: Stills »Club Silencio«, Rebecca Del Rio, Mulholland Drive.

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CHRISTOPH JACKE Abschließend zurück zu Lynchs »Mulholland Drive« und der »Club Silencio«Szene: Die in der Inszenierung des Clubs in der Inszenierung des Films geschauspielerte Sängerin Rebecca Del Rio covert hier übrigens in einer spanischsprachigen Version den Song »Crying« aus dem Jahr 1961 von Roy Orbison, dessen Musik bereits des Öfteren Eingang in die Soundtracks von Lynch-Filmen gefunden hat. Rio singt, fällt in Ohnmacht, wird hinter den Vorhang getragen, das Lied und Rios Stimme sind freilich weiterhin zu hören (vgl. Abb. 6 und 7). Und auch hierzu gibt es im Internet an diversen Stellen bereits faszinierende Thesen und Untersuchungen von Fans. Bilder- und Soundwelten — insbesondere im Pop — wollen offenbar weiter ver- und entschlüsselt werden...

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Abstract This paper provides a theoretical and historical survey of discourses on authenticity in pop culture and music. First, the important role of authenticity for popular culture and music generally is made clear. Selected concepts and discourses of pop authenticity are presented and commented upon. A particular focus is laid on the apparent contradiction of authenticity (natural) and pop (artificial). Moreover, the subject of »authenticity pop« is considered, that is celebrities, genres and formats of popular music which work with and are (now) negotiating this concept. Second, two possible ways out of the dilemma of many discourses on authenticity are outlined, linking them directly to personalization in the form of stars and celebrities and using examples. On the one hand, there is the (admittedly somewhat fundamentalist) abandonment of any concept of authenticity in thinking about pop musicology in media-cultural societies such as our own. On the other, there is a differentiated introduction of a kind of second-order authenticity (in debates) for and in pop. This approach shows an important sensitivity for different categories of media performances such as popular music. A synthesis of these oppositions is presented in a brief concluding section: A focus in analyses should be put on the acteurs and the ways of descriptions of what is called authentic by who in which kind of performative and media format.

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ABHÄNGIGE INSZENIERUNGEN DER UNABHÄNGIGKEIT. D E R I N D E P E N D E N T -D I S K U R S I N M U S I K Z E I T S C H R I F T E N André Doehring Wer oder was im Musikbetrieb als »Independent« bezeichnet wird, ist genauso wenig klar, wie die jeweils so benannten Klangstrukturen kongruent sind. Dennoch resp. gerade deshalb eignet sich das ursprünglich englische Adjektiv independent, mitunter zum Diminutiv »Indie« substantivierend verhätschelt, als Ordnungsbegriff populärer Musik:1 Es fasst das zunächst Unzusammenhängende zu einer Kategorie zusammen, die nun Genres (die meist als Komposita auftreten: Indie-Electronica, Independent Rock usw.), Bands, Interpreten, Plattenfirmen, Magazine, Filme und vieles mehr umfasst, und signalisiert, dass die (auch: musikalische) Welt scheinbar einfach in Abhängiges und Unabhängiges geteilt werden könne. Tatsächlich müssen Musikbegriffe jedoch stets als diskursive Begriffe gelesen werden. Das bedeutet erstens, dass sie Klanggebilde innerhalb eines historisch gewachsenen Raumes bezeichnen, in dem nur das gesagt und gedacht werden darf bzw. kann, was sich der Ordnung des Diskurses fügt. Erst durch den Akt der Benennung gemäß den herrschenden Sprachregelungen können diese Klanggebilde nun als Musik in den Diskurs eintreten, d.h. dort wahrgenommen werden und ihre Wirksamkeit für die Teilnehmer entfalten (vgl. Wicke 2004). Hier fungieren sie nun als »Klassifikationsprinzipien«, da sie reale Klangereignisse bändigen und Zufälligkeiten eliminieren (vgl. Foucault 1991: 17). Zweitens stützen sich Musikbegriffe wie alle diskursiven Aussagen auf eine institutionelle Basis, ein mitunter übersehener Aspekt der Diskurstheorie, der allerdings von musiksoziologischer Relevanz ist: Institu1

Die Oxford Dictionaries (2012) beziehen »indie« — im Unterschied zu »independent« — konkret auf »a pop group, record label, or film company«; es kann im Englischen sowohl als Adjektiv wie auch als Nomen gebraucht werden. Diese Verwendung hat sich auch im Deutschen eingebürgert (wenngleich der Duden nur das Hauptwort kennen mag), daher wird im Text sowohl von indie als auch von Indie gesprochen werden, immer wieder unterbrochen von der Verwendung von independent bzw. Independent als nachdrückliche Erinnerung an die ursprüngliche Bedeutung als Unabhängigkeit von etwas oder jemandem.

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ANDRÉ DOEHRING tionen als habitualisierte Formen des Handelns und der sozialen Interaktion erhalten ihren Sinn wie auch ihre Rechtfertigung durch die sie umgebende Kultur und tragen zum Erhalt dieser Kultur bei, solange sie ihre handlungsleitende Macht aufrechterhalten können (vgl. Gukenbiehl 2000: 142). Für Foucault (1991: 15) ist die institutionelle Basis ein »Geflecht von Praktiken«, das in der Pädagogik einerseits und andererseits dem »System der Bücher, der Verlage und der Bibliotheken« — oder für den hiesigen Zusammenhang kürzer und umfassender: in den Medien — (re)produziert wird. Sie ist verantwortlich für die »Art und Weise, in der das Wissen in einer Gesellschaft eingesetzt wird, in der es gewertet und sortiert, verteilt und zugewiesen wird« (ebd.). Hinzuzufügen ist, dass neben den Prozessen der Wertung auch Verwertungsprozesse für die Verteilung des Wissens um die Begriffe sorgen und somit zur Aufrechterhaltung der institutionellen Basis beitragen. Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff Independent ist daher eine Genealogie — im Sinne Foucaults die Analyse der Normen, Erscheinungs-, Wachstums- und Veränderungsbedingungen (ebd.: 39) — nötig, die auch auf die institutionelle Basis blickt. Denn eine bloß musikimmanente Vorgehensweise bei der Beschäftigung mit so unterschiedlich klingender Musik wie beispielsweise von Black Flag (Bannister 2006: 93ff.), den Artic Monkeys (Anon. 2012) oder Dntel (Wiene 2012: 89) kann nicht erklären, warum — um im Beispiel zu bleiben — ein Wissenschaftler (Bannister), ein virtuelles Aggregat von Menschen in Wikipedia und ein Musikjournalist (Wiene) die jeweiligen Klänge als independent bzw. Indie bezeichnen. Independent, so wird im Weiteren ausgeführt, ist als ein Diskurs über populäre Musik zu verstehen, der spezielle Wertmuster ausgebildet hat, die einer Klangstruktur zugesprochen werden können, um sie im Musikprozess von Herstellung über Vertrieb und Verkauf bis zur Rezeption strategisch zu positionieren. Diese Wertmuster werden in der musikalischen Praxis, verstanden im umfassenden Sinne Kurt Blaukopfs (1984: 20f., 2010)2, durch Medien wie Musikzeitschriften den Diskursteilnehmern verfügbar gemacht. Musikzeitschriften sind Institutionen, die einer Diskursgemeinschaft Begriffe wie Independent liefern, erläutern und pflegen. Diese Institutionen haben eigene Interessen, sie sind in einem zu bestimmenden musikjournalistischen Feld mit diversen anderen Akteuren und Institutionen verflochten und besitzen zu spezifizierende Organisations- wie Produktions-

2

In Musik im Wandel der Gesellschaft definiert Blaukopf (1984: 21) den Begriff der musikalischen Praxis als »alle Handlungen und Unterlassungen im musikalischen Bereich« sowie auch die »theoretische Reflexion über diese musikalische Praxis selbst, das heißt das Denken über Musik, welches auf der jeweiligen Praxis beruht und diese zu steuern vermag.«

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DER INDEPENDENT-DISKURS IN MUSIKZEITSCHRIFTEN verhältnisse. Nicht zuletzt sind ihre Medienakteure Teil der Institution Musikzeitschrift3 und tragen zur medialen Belebung des Begriffs Independent durch die monatliche (Re-)Produktion die Wertmuster bei, die uns als Indie gegenübertreten. Das heißt, diese Musikkommunikatoren inszenieren das Klingende auf eine Weise, die fachlichen Anforderungen und diskursiven Ansprüchen genüge tut, ohne dass die Inszenierenden, die Musikjournalisten selber, diese Mächte als ihr Handeln bestimmend wahrnehmen müssen.

Zum Begriff der Inszenierung In den Kulturwissenschaften wird seit den 1980er Jahren in zunehmendem Ausmaß von einem Theatralitätsmodell von Kultur gesprochen (vgl. Warstat 2005: 358). In aller Kürze und möglichst einfach gefasst, verbindet sich damit die Vorstellung, dass wir ähnlich wie im Theater durch die Beobachtung anderer Akteure etwas über die Welt erfahren, die dargestellt wird, der wir aber zugleich auch angehören und somit selber Darsteller in diesem Theater sind. Das Paradigma vom kulturellen Leben als Aufführung, wo etwas oder jemand bewusst exponiert oder angeschaut wird (vgl. ebd.), hat etwa bei Erving Goffman (1983) zur anthropologischen Feststellung geführt, wir alle spielten Theater, wenn wir uns darstellen. Der Soziologe Herbert Willems hat die Idee theatraler Kultur auf die Medien erweitert: »In der heutigen Gesellschaft spielen die Massenmedien die wichtigste erfahrungsgenerative Rolle. [...] In evolutionärer Kontinuität und funktionaler Überbietung des Theaters und anderer kosmologischer Institutionen (etwa religiöser Art) haben sich die Massenmedien fraglos zum gesellschaftlichen Theatralitäts- und Realitätszentrum entwickelt« (Willems 1998: 64). Insofern wäre es also nur konsequent, die mittlerweile in den Kulturwissenschaften »allgegenwärtigen« (Fischer-Lichte 2005a: 149) Gebräuche von Vokabeln der Theaterwelt wie etwa Theatralität, Performance, Aufführung oder hier: Inszenierung auf die Vorgänge in und um musikbezogene Massenmedien anzuwenden — wenn denn (eine wenigstens fachinterne) Klarheit herrschte, was tatsächlich sich hinter diesen Begriffen verbirgt. Die Musikwissenschaft scheint, so viel muss gesagt sein, wieder einmal eine Debatte um kulturwissenschaftliche Leitbegriffe — freundlich ausgedrückt — umse3

Dass hier tatsächlich Menschen unter selbst gewählten, aber nicht geschaffenen Verhältnissen erheblich und oft gerne und unterbezahlt zur symbolischen Aufladung der Musikwaren beitragen, ist in der bisherigen Forschung über Musikzeitschriften so gut wie nie thematisiert worden, was ich an anderer Stelle ausführlicher kritisiere (Doehring 2011: 24ff. u. 285ff.).

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ANDRÉ DOEHRING gelt, in Wahrheit aber wohl eher verschlafen zu haben. So weist Uwe Wirth (2002: 9) darauf hin, dass bspw. unter dem Begriff ›Performanz‹ keineswegs jede Disziplin dasselbe fasse; in seiner Aufzählung von fachinternen Beispielen fehlt die Musikwissenschaft. Und selbst im Jahr 2011 kann ein interdisziplinärer Sammelband zu einer »Zwischenbilanz« der Performativitätsforschung, wie die Herausgeber im Vorwort schreiben (Hempfer/Volbers 2011: 8), ohne einen Beitrag aus der Musikwissenschaft mühelos gefüllt werden.4 Daher scheint es im Folgenden angeraten, den Begriff der Inszenierung, mit dem hier gearbeitet werden soll, kurz theoretisch einzuführen. Meinem Verständnis zufolge haben wir es vor allem mit zwei Disziplinen zu tun, die für eine gewinnbringende Übertragung in den hiesigen Zusammenhang zu inspizieren sind: die Theaterwissenschaft und die Soziologie. Unter Inszenierung wird in der Theaterwissenschaft der »Vorgang der Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien verstanden, nach denen die Materialität einer Aufführung performativ hervorgebracht werden soll« (Fischer-Lichte 2005a: 146). Derart werden Ereignisse als gegenwärtig wahrgenommen, sie treten in Erscheinung und konstituieren Wirklichkeit. Gleichzeitig eröffnen Inszenierungen aber auch Spielräume, die nicht-geplante und nicht-inszenierte Handlungen, Verhaltensweisen und Ereignisse ermöglichen (vgl. ebd.). Damit sind Inszenierungen schöpferische Prozesse, in denen »in spezifischer Weise Imaginäres, Fiktives und Reales (Empirisches)« (Fischer-Lichte 1998: 88) hervorgebracht wird. Inszenieren ist der kreative und transformierende Umgang des Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt (vgl. ebd.), ein Vorgang, der »durch eine spezifische Auswahl, Organisation und Strukturierung von Materialien/Personen etwas zur Erscheinung bringt« — und dieses Etwas kann als der Inszenierung »Vorausliegendes« erst durch sie hervorgebracht werden (ebd.: 87). Fischer-Lichte erlaubt somit, den Begriff in eine konstruktivistische Lesart zu überführen: die Welt ist, welches Bild wir uns von ihr machen — sollen, dürfen und können. Für die Kulturwissenschaften, unter die ich die Musikwissenschaft subsumiere, ist der Begriff deshalb so reizvoll, weil wir eine Kultur der Inszenierung ebenso erkennen und beschreiben können wie die Inszenierung von Kultur.

4

Knappe zehn Jahre, nachdem Wirth (2002: 10) dem Begriff Performanz »Hochkonjunktur« attestierte, dreizehn Jahre nach dem Erscheinen des Sammelbands zur Inszenierungsgesellschaft (Willems/Jurga 1998b), scheinen im Jahr 2011 diese Begriffe in der deutschsprachigen musikologischen Disziplin auf höhere Resonanz zu stoßen, wenn die hohe Beteiligung an der ASPM-Jahrestagung »Populäre Inszenierungen — Inszenierungen des Populären« in Paderborn als Indikator genommen werden darf.

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DER INDEPENDENT-DISKURS IN MUSIKZEITSCHRIFTEN In der Soziologie (Willems/Jurga 1998a: 11) ist der Begriff der Theatralität als umfassendes, »totales Meta-Konzept« dargestellt worden, das jegliche Art von »(Re-)Präsentation« im Sinne einer Inszenierung umfasst. Willems (1998) erweitert den Begriff um mikro- wie makrosoziologische und vor allem machtanalytische Komponenten. So führt er Norbert Elias' Begriff der Figuration ein, da in der Analyse von Inszenierungen sonst »relevante Strukturbedingungen, Sinnbezüge, Beziehungsnetze und Handlungsketten jenseits der Interaktion und ihrer situativen Lokalität« (Willems 1998: 50) aus dem Blick geraten. Man müsse den »komplexen strukturellen und prozessuellen [sic] Gesamtzusammenhang der Praxis, ihre Gefüge und ihre ›Fügungen‹« untersuchen (ebd.: 51), um einzelne Inszenierungen verstehen zu können.5 Durch die Integration von Bourdieus Habitustheorie zeigt er die Sedimentierung von gesellschaftlich erzeugter Praxis, die in den Subjekten wirksam wird, wenn sie Theater spielen, wie sie auch im Zuschauer und in den Inszenierenden wiederum als rahmende Instanz Anwendung findet. Denn die »Erscheinungsformen und Sinnvoraussetzungen von Theatralität [sind] durch und durch historisch« (ebd.; Hervorhebung im Original). Zusammengefasst folgere ich für die Beschäftigung mit musikbezogenen Medien daraus, dass auch mediale Inszenierungen strategische, geplante, gemeinsame Handlungen sind, die in der Aufführung (der Veröffentlichung) etwas hervorbringen, was wohl vorher existierte, aber erst durch die Inszenierung für ihre Teilnehmer fassbar wird. Inszenierungen sind somit performative Prozesse, die innerhalb eines materialen, personalen und öffentlichen Rahmens stattfinden, der als gesellschaftliche Praxis von Machtansprüchen durchzogen ist. Inszenierungen zu verstehen bedeutet, die zum Theater und zur Inszenierung gehörenden Strukturen ebenso in den Blick zu bekommen wie die Akteure, die auf, vor und hinter der Bühne Teil der Inszenierung sind. In meiner Arbeit über Popmusikjournalismus und -journalisten schlage ich dafür die Verwendung von Bourdieus Begriffen des Feldes und des Habitus vor (Doehring 2011: 49ff.). Die Strukturen und Regeln des Feldes Popmusikjournalismus, auf dem die Musikjournalisten agieren, sind gleichermaßen Teil der Untersuchung von medialen Inszenierungen wie die Akteure und ihre Habitus. Juristische, ökonomische, politische, technologische, organisatorische und ideologische Aspekte ermöglichen und bedingen das Handeln der Medienakteure, deren Habitus ebenfalls prägend in mediale Inszenierungen eingehen. Selbstverständlich und holistisch korrekt gehören weiterhin die Ebene der Medieninhalte wie auch die 5

Fischer-Lichte (2005b: 235) weist für performative Äußerungen ebenfalls darauf hin, dass es Gelingensbedingungen gebe, die vor allem institutioneller und sozialer Natur seien.

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ANDRÉ DOEHRING Rezeption dieser Medien dazu. Allein: Beide waren bisher auf der Agenda, wenn es um die wissenschaftliche Beschäftigung mit Musikzeitschriften ging. Es gilt, die materiellen und habituellen Produktionsverhältnisse, die der Erstellung von Inhalten und deren Rezeption vorgängig sind, in den Fokus der Wissenschaft zu bekommen.

Zum Begriff Independent Der Begriff wurde in Bezug auf populäre Musik erstmals auf US-amerikanische Labels der 1930er Jahre wie OKeh Records, Black Swan, Gennett u.a. angewandt (Wicke/Ziegenrücker/Ziegenrücker 2007: 338). In seiner dann folgenden Verwendung als Organisationsbegriff populärer Musikpraxis ist indes keine Einheitlichkeit zu beobachten.6 Für eine ausführliche historische Darstellung ist hier nicht der geeignete Ort, daher beschränke ich mich auf eine möglichst systematisierende Vorstellung von typischen Aspekten. Wenn von Independent gesprochen und geschrieben wird, ist typischerweise einer oder sind mehrere der folgenden vorgeschlagenen Dimensionen des Begriffs betroffen: 1. Musikindustrielle Aspekte, die ökonomische und organisatorische Aspekte des Besitzes, Vertriebs und Verkaufs von Musik fassen. 2. Ästhetische Aspekte, die sich auf musikalische Entscheidungen, Praxen und Theorien erstrecken. 3. Soziale Aspekte, die sich auf Verhalten, Integrations- wie Differenzbewegungen beziehen. 4. Politisch-ethische Aspekte, die sich als Haltung (state of mind) zu erkennen geben. Als Independent-Band könnte bspw. eine mit zwei Gitarren, Bass und Schlagzeug sowie Gesang besetzte Band zum überwiegenden Teil männlichen Geschlechts7 gelten, die das Ausstellen virtuoser technischer Fähigkeiten an ihren Instrumenten bewusst vermeidet; die als ›künstlerisch‹ ambitioniert gelten, da sie das Startum ablehnen und kommerziellen Erfolg nicht anzustreben scheinen; die ihre Alben selbst oder über ein inhabergeführtes Label und einen Vertrieb, der nicht im Besitz eines der verblie6 7

Vgl. bspw. Alsmann 1985; Gruber 1995; Büsser 1997; Azzerad 2002; Broven 2009; Oakes 2009; Eisewicht/Grenz 2010; Moore 2010. Trotz mitunter offensiv geäußerter feministischer Haltungen ist die Welt des Independent männlich dominiert (vgl. bspw. Clawson 1999; Davis 2001; Bannister 2006).

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DER INDEPENDENT-DISKURS IN MUSIKZEITSCHRIFTEN benen drei8 marktbeherrschenden Medienunternehmen ist, herstellen, lizensieren und vertreiben. Die Band könnte weiterhin ihr Bemühen zur Reduzierung der Emission klimaschädlicher Gase kommunizieren, woraufhin ihre Fans Fahrgemeinschaften zu Konzerten der Band bilden. So geschehen bei Radiohead, einer Band, die zwar ihr Klangspektrum durch Hinzunahme elektronischer Instrumente erweitert hat, aber ihre Alben mittlerweile selbst vertreibt,9 sich (auch klima-)politisch äußert und daher in der Musikpresse als Idealtypus einer Indie-Band gilt.10 In ihrer empirischen Arbeit über die Independent-Szene Großbritanniens überlegt Wendy Fonarow (2006: 28ff.), die heute als »Indie Professor« für den englischen Guardian eine Kolumne füllt,11 woher diese auch bei anderen Bands beobachtbaren Zuschreibungen (bspw. in Azzerad 2002) stammen. Sie erkennt hier ein zugrundeliegendes Wertmuster, das sie als Erbe von Puritanismus und Romantizismus interpretiert. Independent vertritt demzufolge Werte wie erstens Purismus und moralischen Rigorismus, die sich als Askese äußern können. Zweitens betont Independent Autonomie, einen Wert, der auf der puritanischen Absonderung der Gemeinde von der päpstlichen Autorität basiert, und hegt drittens Präferenzen für das Natürliche, was die Ablehnung von Technologie einbegreifen und sich in eine nostalgische Verklärung des Früher wenden kann. Außerdem verlangt Independent von den Diskursteilnehmern Leidenschaft und Kreativität, wobei besonders die Ausführenden im romantischen Genieglauben überhöht werden. Dieses Wertmuster ist auf jeder der oben vorgeschlagenen Ebenen zu beobachten.

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Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Aufsatzes veröffentlicht der EU-Wettbewerbskommissar Joaquin Alumnia die Zustimmung der EU-Kommission zur Zerschlagung des britischen Musikkonzerns EMI an Sony und Universal. EMI war nach dem Kauf durch die Kapitalbeteiligungsgesellschaft Terra Capital des britischen Investors Guy Hands 2007 in finanzielle Nöte geraten, Anfang 2011 wurde sie vom US-amerikanischen Finanzdienstleister Citibank gepfändet. Im April 2012 genehmigte die EU-Kommission bereits die Übernahme des Verlagsgeschäfts der EMI durch eine von Sony angeführte Investorengruppe. Nun steht nur noch die Zustimmung der US-amerikanischen Kartellbehörden zur Übernahme des Tonträgergeschäfts durch Universal aus, womit sich dann drei Unternehmen den Markt teilen würden (vgl. Oldag 2012). 9 Bekanntermaßen wurde ihr Album In Rainbows (2007) zunächst über ihre Website vertrieben, wo die User sich überlegen durften, ob und falls ja, welchen Preis sie für die Musik bezahlen wollten. Das Anbieten eines potentiell kostenlosen Downloads scheint das kommerzielle Desinteresse der Band zu illustrieren — die aber zwei Monate später die Musik auf den üblichen Wegen allein käuflich verfügbar machte. 10 Vgl. die Aussagen der Popmusikredakteure in Doehring 2011: 188. 11 Vgl. http://www.guardian.co.uk/music/series/ask-the-indie-professor (Zugriff: 26.9.2012).

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ANDRÉ DOEHRING Independent kann demnach als Musikkonzept verstanden werden, in dem Wert- und somit Sinnmuster für alle am Musikprozess Beteiligten gefasst sind — ohne allerdings für alle Gleiches zu bedeuten. Denn als diskursiver Begriff, so bezeichnet ihn auch Fonarow (2006: 26), ist Independent durch und durch historisch, kontingent und umkämpft. Sind mit Independent also beim ersten Auftauchen des Begriffs die kleinen, nicht marktbeherrschenden Tonträgerunternehmen gemeint, wurde mit der einsetzenden Printveröffentlichung der ersten »Independent Charts« ab 1979/80 Independent anhand der Form des Vertriebs festgemacht: Nicht mehr die Besitzverhältnisse des Labels, sondern die des Vertriebs und seine Form waren ausschlaggebend — was den Major Labels die Möglichkeit bot, nun auch diese Charts zu dominieren.12 In den 1970er Jahren hatten sich in Großbritannien und Nordamerika, aber auch in der Bundesrepublik13 zunehmend von Musikern betriebene Labels gebildet, die als Institutionen einer sich entwickelnden Szene die Mitglieder mit visuellen wie auditiven Inhalten und vor allem Konzerterlebnissen versorgten, zu einer Zeit, in der die großen Plattenfirmen noch nicht auf die Marktfähigkeit dieser Nischenmusik vertrauten. Um Labels wie SST, von Black Flag-Gitarrist Greg Ginn Ende 1978 gegründet (Azzerad 2002: 18), gruppierten sich Bands wie Black Flag, The Minutemen, Hüsker Dü, Meat Puppets, Sonic Youth oder Dinosaur Jr., deren politische und ethische Haltung sowie ungeheure Arbeitsmoral sich in einer hohen Veröffentlichungszahl und fast ununterbrochenen selbstorganisierten Tourneen manifestierten und somit verbreiteten. Diese Bands, ihre Musik wie ihre Haltung, gelten — nicht zuletzt durch wirkungsmächtige Heroengeschichten des »Indie Underground« wie die von Azzerad (2002) — als Prototypen wie auch Elemente eines Kanons von Independent, der die Ablehnung gesellschaftlicher Konventionen wie Profitstreben, Gehorsam gegenüber Autoritäten oder den politischen Konservatismus der Reagan-Jahre 12 In Sounds wurde ab 1975 eine Auflistung der Album-Nennungen von einem (!) Independent-Plattenladen — d. h. ein vom Eigentümer geführter Laden, der nicht den großen Ketten wie Woolworths, Virgin, HMV oder Tower Records angehört — aufgeführt. Ab 1979 wurden Independent Charts erst im New Musical Express, dann ab 1980 im Melody Maker veröffentlicht. Record Business, das Branchenblatt der englischen Musikindustrie, führte die lange gültige Unterscheidung durch seine 1980 erstmals publizierten Charts ein, wonach die Form des Vertriebs der Platten ausschlaggebend für das Labeling einer Musik als Independent wurde (vgl. Fonarow 2006: 32f.). Diese industriefreundliche Lösung ermöglichte nun den markbeherrschenden Plattenfirmen, ihre Alben ebenfalls in diesen hoch angesehenen Charts listen zu können — sie mussten nur über einen unabhängigen Vertrieb wie etwa The Cartel, eine Unternehmung mehrerer eigentümergeführter Plattenläden, vertrieben werden. 13 Bspw. April — Musik im Vertrieb der Musiker (ab 1976 Schneeball Records) oder für den Jazz FMP (Free Music Production).

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DER INDEPENDENT-DISKURS IN MUSIKZEITSCHRIFTEN genau so umfasst wie einen bisweilen ans Asketische grenzenden Lebensstil kreativer Selbstverwirklichung. Independent bedeutet zu Beginn der 1980er Jahre, alle Umstände seines Lebens selbst in die Hand zu nehmen und dies als einen politischen Akt der Selbstermächtigung und des Widerstands zu verstehen. »Our band could be your life«, singen die Minutemen (1984) in »History Lesson Pt. II« — Independent ist hier nicht bloß ein musikindustrieller Begriff für die Vermarktung populärer Musik, sondern ein umfassendes Modell der emanzipatorischen Organisation des sozialen Miteinanders. Heute dagegen, so stellte jüngst eine qualitative Studie fest (Eisewicht/ Grenz 2010), ist Indie eher als Lebensstil junger Menschen zu begreifen, in dem Werte wie Natürlichkeit, Harmonie, Konfliktvermeidung und — tatsächlich! — Anstand auf ein ebenso spießbürgerliches wie opportunistisches Umdeuten von einstmals auch kommerzieller Unabhängigkeit hin zu einem selbstbezüglichen Konsumismus deuten. Als zentrales Prinzip der Sinndeutung und -erzeugung stellen die Autoren ein »›Anders-Sein-Wollen‹« fest, das vor allem in Selbstdarstellung, Kleidung aber auch Verhalten vom — niemals explizit gefassten — »Mainstream« abweicht (ebd.: 96). Eine tatsächlich gelebte Unabhängigkeit, etwa im oben genannten Sinne der Minutemen, sei nicht zu entdecken: »Ganz im Gegenteil zum Postulat der antikommerziellen Unabhängigkeit ist es letztlich sogar eine für die Szenepartizipation notwendige Voraussetzung, eine nicht unerhebliche Konsumptionsbereitschaft mitzubringen« (ebd.: 92f.). Selbstredend spielen hier Fragen wie die Form des Vertriebs oder die Besitzverhältnisse eines Labels ebenso keine Rolle mehr wie politische oder ethische Implikationen eines unabhängigen Lebens. »Es geht dem selten politisch engagierten Indie nicht um den Sturm der Barrikaden«, führen Eisewicht und Grenz aus, »sondern um eine sozusagen unideologische Selbstbezogenheit, um sich darüber von einem (szene-)umweltlichen Außen abgrenzen zu können« (ebd.: 96). »Indie zu sein« scheint demnach heute vor allem als Differenzbemühung gegenüber anderen Lebensstilangeboten verstanden zu werden. Wenn nun allerdings derart zentrale Mechanismen des Marktes — in einer Welt des Warenüberangebots, in der die nächste Ware sich von der vorhergehenden zu unterscheiden suchen muss, um gekauft zu werden — in die musikalische Praxis des Alltags unhinterfragt übernommen werden, ist es wohl kaum angemessen als »unideologisch« zu bezeichnen. Independent ist stattdessen Ergebnis und Instrument herrschender Ideologie, verstanden im Sinne einer überindividuellen Instanz der internen Legitimierung eines gegebenen gesellschaftlichen Zustands (vgl. Hillmann 2007: 358).

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ANDRÉ DOEHRING

Independent als ideologische Kategorie und ihre Inszenierung in Musikzeitschriften Musikzeitschriften als mediale Inszenatoren entwerfen und proben Strategien zur Aufführung von Independent. Mit Judith Butler (1997: 22) gesprochen: Die performative Inszenierung von Independent erzeugt die Wirkungen, die sie benennt; zu betonen ist, dass diese Hervorbringungen der Macht eines Diskurses unterworfen sind und erst unter ständiger Wiederholung entstehen. Auch die an der Produktion der Musikzeitschrift Beteiligten wissen um die diskursiven Bedeutungen von Independent. Indem sie aber diese Monat für Monat immer wieder ›neu‹ formen und aktualisieren, tragen sie somit zu den beschriebenen Verschiebungen des Begriffs bei. Und Butler weiter folgend, ist es in der Tat so, dass in der Produktion einer Musikzeitschrift diverse Interessen niemals gleichstarker Parteien zusammenlaufen, die für die Untersuchung dieser Hervorbringungen zu berücksichtigen sind. Ich beschränke mich hier auf die besitzenden bzw. leitenden Institutionen und Personen sowie auf diejenigen, die als Medienakteure für die tatsächliche Ausführung der Inszenierung verantwortlich sind, die Journalisten. Für die Besitzer bzw. die sie vertretenden machtausübenden Institutionen einer Zeitschrift erfüllt Independent zwei Funktionen: Der Begriff bringt ihnen sowohl ökonomisches wie auch symbolisches Kapital. Das liegt daran, dass Medien Inhalte publizieren müssen, die sowohl auf dem Leser- wie auch dem Werbemarkt Nachfrage erzeugen. In der gebotenen Kürze: Kann an einen — unterstellten! — Wertekosmos der Leserschaft thematisch angeschlossen werden, erzeugt man Kaufbereitschaft auf dem Lesermarkt. Kann darauf aufbauend glaubhaft gemacht werden, dass eine bestimmte Leserschaft diese Thematik interessant findet,14 ist aufgrund der sich andeutenden Zielgruppengenauigkeit der Zeitschrift der Verkauf einer Anzeige auf dem Werbemarkt wahrscheinlicher geworden und ökonomisches Kapital fließt nun auch aus Werbeerlösen. Es wäre nun jedoch falsch, daraus eine direkte Abhängigkeit der Inhalte von den Kunden, d.h. die Präsentation von Indie als durch die Werbenden 14 Meist geschieht dies durch eine Gleichsetzung von Titelthema und Absatz des Heftes an den Verkaufsstellen, nicht aber durch eine qualitative Untersuchung der LeserInnen. Quantitative Untersuchungen der Leserschaft, bei denen vor allem Alter, Geschlecht, Bildungsgrad und Haushaltsnettoeinkommen für die bessere Verwertung auf dem Werbemarkt erhoben werden, unternehmen die Verlage nur selten, da sie mit erheblichen Kosten verbunden sind. Im Falle des Rolling Stone etwa vergingen bis zu acht Jahre zwischen der statistischen Erhebung der Leserschaft (vgl. Doehring 2011: 219).

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DER INDEPENDENT-DISKURS IN MUSIKZEITSCHRIFTEN geleitet zu folgern, denn ein weiterer Aspekt spielt in den Prozess innerhalb dieses »Netzes gegenseitiger Abhängigkeiten« (Doehring 2011: 272) mit hinein: das Image der Musikzeitschrift, das heißt ihr symbolisches Kapital, das wiederum von der Inszenierung des Begriffs Independent profitiert. Am Beispiel der Intro wird dies deutlich: Dieses Magazin wird als indie wahrgenommen, weil es über Indie-Bands (und -filme, -bücher, -klamotten usw.) berichtet, die wiederum als Indie-Bands wahrgenommen werden, weil ein Indie-Magazin darüber schreibt. Zur Erinnerung: Inszenierungen im oben dargestellten Sinn bringen Imaginäres und Fiktives als Empirisches, sprich: Reales hervor. Erst durch die Inszenierung als performativer Akt tritt das Inszenierte in Erscheinung. Intro ist es demnach gelungen, per Inszenierung ihren Status als Indie-Magazin und somit ihre Authentizität symbolisch zu behaupten: Sie gilt als unabhängig, gleichwohl sie aufgrund ihrer Produktionsweise als Gratismagazin höchste Abhängigkeiten eingeht.15 Im Gesamten ergibt aus der Inanspruchnahme und Ausdeutung des Begriffs Independent somit ein manifester symbolischer wie materieller Gewinn für den Ort und die Institution dieser monatlichen performativen Äußerungen.16 Independent ist jedoch auch ein wichtiger Begriff für die Redakteure, wenn sie planen und entscheiden, was wann und wie im Heft stehen soll. Aufgrund ihrer habituellen Dispositionen — d.h. durch ihre jahrelange intensive Beschäftigung mit populärer Musik, die durch Independent-Bands wenn nicht initiiert, so doch geprägt wurde (vgl. ebd.: 179), und durch das jahrelange Lesen derjenigen Magazine, für die sie nun arbeiten — wissen sie um die diskursiven Bedeutungen und können schnell und effektiv im Rahmen des erforderlichen und zu lernenden beruflichen Handelns Entscheidungen 15 Im Independent-Diskurs der 1980er Jahre, wo gemeinhin Authentizität und Eigenständigkeit als fundamentale Erkennungszeichen galten, wäre diese finanzielle Abhängigkeit als Malus gewertet worden. Diese Werte haben sich zwar, wie gesehen, heute verändert, diesem Umstand scheint Intro jedoch nicht zu trauen. Deshalb ist für sie das Anknüpfen an diesen Diskurs wichtig: Ihr gelingt es im Ganzen, Abhängigkeit mithilfe anderer Inszenierungen von Unabhängigkeit (in Schrift, Bild und Wirken in Internet wie als Konzertveranstalter) vergessen zu machen. »Der Eindruck von Authentizität entsteht gerade als Ergebnis einer besonders sorgfältigen I.[nszenierung]« (Fischer-Lichte 2005a: 149). 16 Zu berücksichtigen ist hier natürlich der Kampf um die Positionierung des Magazins im — im Bourdieuschen Sinne verstandenen — Feld der Popmusikzeitschriften. Intro festigt ihre Position als Indie-Magazin ebenfalls durch eine visuelle Präsentation, einen betont subjektiven und lockeren journalistischen Tonfall und eine Themenwahl, die alle zusammen auf die Selbstinszenierung als ehemaliges Fanzine — und damit »nah an der Basis« sowie »nicht am Kommerz« orientiert — hindeuten. Die Institution gewinnt somit eine unverwechselbare Kontur in der deutschsprachigen Konkurrenz im Popmusikzeitschriftenmarkt und auch in den Selbstdeutungen der hier Beschäftigten wie Präsentierten (vgl. Doehring 2011: 174ff.).

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ANDRÉ DOEHRING fällen. Dies möchte ich am Beispiel von Berichten über die kanadische Band Arcade Fire aus dem Jahr 2010 in der Intro zeigen.17 Dort werden in der September-Ausgabe 2010 Arcade Fire in einem Bericht eines freien Mitarbeiters (Happel 2010) beschrieben als eine Band, die dem »Musikbiotop« Montreal entstammt,18 einem »sehr schöne[n] Kultur-Ökosystem«, wie der Musiker Matthew Woody von der Montrealer Gruppe Plants and Animals zitiert wird (ebd.: 43). Hier hatten 2005 diverse Musikzeitschriften einen Quell und Hort »indiesker Popmusik« (ebd.) lokalisiert, als Belege werden die Bands Broken Social Scene und Stars genannt. Arcade Fire seien typische Vertreter der Montrealer Szene, da ihnen der Autor »künstlerische Eigenständigkeit« und den »Hang zu Kollaborationen, struktureller Offenheit oder die Weiterentwicklung der eigenen Kunst [sic!]« (ebd.) attestiert. Ihr Album The Suburbs (2010) — aktualitätsgebundener Anlass der journalistischen Berichterstattung, da zeitnah19 zur SeptemberAusgabe der Intro veröffentlicht — behandele die Themen »Altern, die eigene Jugend, Heimat, die Hoffnung auf ein unverfälschtes Leben« (ebd.). Dieses Album, mit »konventionellem Instrumentarium« aufgenommen, verzichte »bewusst« auf Hits, die die beiden vorhergehenden Alben noch enthielten: Das Album The Suburbs »zwingt den Hörer geradezu, es als Ganzes zu begreifen, und es braucht Zeit, um seine Größe zu entfalten. Oder, wie Win Butler [der Sänger von Arcade Fire] es in ›We Used To Wait‹ ausdrückt: ›I hope something pure can last‹« (ebd.). In derselben Ausgabe wird Arcade Fire von der Redaktion die mit »Spektakel« überschriebene umfangreichste Plattenkritik zugestanden. Deren Autor, ein dauerhaft beschäftigter Redakteur, schreibt, dass die Band die ihr zugestandene »musikalische Freiheit« dafür genutzt habe, ein von ihm als »brennend« klassifiziertes Album aufzunehmen — schließlich handele es

17 Analysiert wurde die Berichterstattung in der Intro, der deutschen Ausgabe des Rolling Stone, dem Musikexpress und der Spex; aus Platzgründen konzentriere ich mich auf die Darstellung der Berichterstattung in der Intro. 18 Bei allen im Intro-Artikel bemühten Zuschreibungen an ein organisches Wachstum der Montrealer Musik muss dies allerdings nicht bedeuten, dass die Mitglieder der Band dort geboren und aufgewachsen sein müssen, sondern dass sie lediglich ihren Wohnsitz dort führen: Régine Chassange, die bei Arcade Fire mehrere Instrumente spielt, wurde tatsächlich in Montreal geboren und wuchs in einem Vorort auf, Win Butler dagegen, Sänger und Gitarrist bei Arcade Fire, wurde in Kalifornien geboren und wuchs in Texas auf. 19 Veröffentlichungstermin des Albums war der 30. Juli 2010, die Septemberausgabe der Intro erschien gute zwei Wochen später, am 16. August.

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DER INDEPENDENT-DISKURS IN MUSIKZEITSCHRIFTEN sich hier um »Kanada-Indie«, der ein hohes Maß an »Enthusiasmus« und »Energie« erwarten lassen dürfe (Steinbrink 2010: 84).20 Die von Fonarow benannten Wertmuster sind eindeutig zu identifizieren: Der puristische Aspekt ist im benutzten Instrumentarium zu sehen, Natürlichkeit spielt die Metapher des »Musikbiotops« Montreal genauso eine Rolle wie die künstlerische Eigenständigkeit und musikalische Freiheit als Autonomiebestrebungen gedeutet werden dürfen, die außerdem beide auf den Geniekult und das hohe Ansehen des kreativen Ausdrucks als Erben des Romantizismus verweisen. Die damit verbundene Leidenschaft wird als enthusiastisch gekennzeichnet, Nostalgie und moralischer Rigorismus sind in der Hoffnung auf das bessere, unverfälschte Leben von früher in den Vororten präsent. Gleich mehrfach wird der Begriff Indie zur Kategorisierung dieser Musik und der Musiker bemüht. In derselben Ausgabe der Intro ist lediglich eine Sechstelseite Werbung abgedruckt, in der für Platte und Tour (mit drei Stationen) geworben wird (Intro 185: 87). Eine direkte Verknüpfung von Anzeigenschaltung und Berichterstattungsanlass — wie oft im Zusammenhang mit musikjournalistischer Berichterstattung gemutmaßt — scheint aufgrund des geringen Umfangs dieser Anzeige und somit der eingenommenen Werbekosten zunächst schnell ausgeschlossen werden zu können. Doch muss man wissen, dass Themen in Absprachen zwischen Redaktion und »Medienpartnern« geplant werden, die z.T. mehrere Monate vor der eigentlichen Veröffentlichung liegen und ihre Wirkungen möglichst über einen längeren Zeitraum entwickeln sollen. Denn schließlich muss Intro ebenso wie ihre hier beschäftigten Medienakteure auf dem Feld des Popmusikjournalismus um ihre jeweilige Position kämpfen. Daher lohnt sich der Blick auf die folgenden Ausgaben: The Suburbs wird in der Oktober-Ausgabe sowohl von den Lesern (Intro 186: 79) als auch im so genannten »Platten vor Gericht«-Mehrjurorentest (ebd.: 80f.) zur ›besten‹ Platte der Ausgabe gewählt; die zehnteilige Jury setzt sich zu vier Fünfteln aus Musikern zusammen, ein Platz wird an Leser bzw. User von intro.de vergeben, einer ist einem Intro-Mitarbeiter vorbehalten, der in diesem Fall übrigens wiederum Christian Steinbrink ist — zur Erinnerung: Redakteur der Intro und Rezensent des Albums in Ausgabe 185. The Suburbs führt in den Leser-Charts auch der November-Ausgabe (Intro 187: 77). In diesem Heft wird außerdem, zwei Monate nach den ersten Arcade Fire20 Nur kurz der Blick auf die anderen Musikzeitschriften: Auch im Rolling Stone (Brüggemeyer 2010) wird vierseitig über die Band berichtet, im ebenfalls bei Axel Springer erscheinenden Musikexpress ziert die Band das Cover und erhält ebenfalls eine mehrseitige Berichterstattung, in der Spex (Hammelehle 2010) wird zeitgleich über mehrere Seiten berichtet. Die Wertmuster für Independent lassen sich auch hier belegen.

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ANDRÉ DOEHRING Berichten, das für den europäischen Vertrieb von Arcade Fire zuständige Label City Slang auf vier Seiten »gefeatured«, wie es im Jargon heißt (Venker et al. 2010). Berichterstattungsanlass ist das 20-jährige Bestehen des Labels.21 Das bedeutet konkret, dass Labelbetreiber Christof Ellinghaus dem Intro-Chefredakteur Thomas Venker aus seinen Erinnerungen erzählen darf und elf Intro-Mitarbeiter die ›besten‹ Platten ›besprechen‹, die bei City Slang erschienen sind — fast die Hälfte der Musikjournalisten, die auf den die Texte begleitenden Fotos abgebildet sind, halten die Vinyl- oder Kassetten-Ausgabe des jeweils rezensierten Albums in der Hand, Symbole der von Fonarow als Indie-typisch geltenden Kultivierung nostalgischer Technologien. Die ebenfalls bei City Slang (übrigens in Großbritannien gemeinsam mit V2 Records — und d.h. Universal, vgl. Discogs 2012a) unter Vertrag stehende Band Caribou erhält in derselben Ausgabe die dem City Slang-Bericht vorhergehenden vier Seiten (Raffeiner 2010), auf denen Sänger Dan Snaith per Zitat das Label noch einmal ausdrücklich lobend hervorhebt. Snaith ist außerdem auf dem Cover der Ausgabe zu sehen,22 im Editorial (Intro-Redaktion 2010: 3) wird ihm, diesem so inszenierten »Wider-Willen-Popstar«, der Titel einer »neue[n] Ikone der ›Indie-Kirche‹« verliehen. City Slang schaltet in dieser Ausgabe (Intro 187: 85) nun eine halbe Seite für Caribous Album Swim (2010) und die zugehörige Tour (mit Sponsoring durch Electronic Beats, dem »international music program« der PR-Abteilung der Deutschen Telekom AG). Die andere halbe Seite belegt das Label Souterrain Transmissions, an dessen Gründung Christof Ellinghaus von City Slang beteiligt war (vgl. »Maximilian« 2010) und das im selben Gebäude wie City Slang beheimatet ist. Zusammengefasst: Natürlich spielen für die Präsentation Arcade Fires in der Intro finanzielle Aspekte eine Rolle. Es greift jedoch zu kurz, will man diesen allein den Berichterstattungsanlass und die dann gewählte Darstellung zuschreiben, denn zum einen wird Popmusikjournalismus in einem Netz gegenseitiger Abhängigkeiten hergestellt. Sowohl City Slang (und damit — davon ist wenigstens auszugehen — die Musiker), die Deutsche Telekom AG als auch die Intro profitieren von dieser »Kooperation« zwischen »Medien21 City Slang existiert strenggenommen zwar erst seit 1992 eigenständig, da es zuvor ein Sublabel von Vielklang war, aus ›guten‹ Gründen will dies wohl niemand bemerken. Einen Berichterstattungsanlass wie diesen ließ sich bspw. auch schon zum angeblich 10-jährigen Jubiläum Thomas Bohnet (2000) nicht entgehen. 22 Auf dem Cover wird höchst subtil die Zusammengehörigkeit von Snaith und City Slang illustriert: Die Farben des Anoraks des Musikers werden im Banner, das auf den Bericht über City Slang hinweist, wieder aufgenommen.

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DER INDEPENDENT-DISKURS IN MUSIKZEITSCHRIFTEN partnern«, wie es im Feld genannt wird, ohne die es wohl auch einmal geht, mit der aber alle gut leben können. Zum anderen muss das Handeln der Medienakteure bedacht werden, die sich mit diesem Umfeld der Berichterstattung arrangieren müssen; umso besser, wenn es wie bei Arcade Fire und Caribou um ›richtig gute‹ Indie-Musik geht, denn diese können sie als Musikexperten — so lässt sich zumindest ihr Selbstbild zusammenfassen (vgl. Doehring 2011: 176) — aufgrund ihrer habituell erworbenen Musikkonzepte beurteilen und genießen. Es lässt sich hier zeigen, dass Independent als Begriff eines Diskurses nicht nur die beschriebenen Funktionen für die Magazine und Journalisten erfüllt, sondern zudem die oben vorgestellte ideologische Funktion einnimmt: In dem Moment, wo auf Independent Bezug genommen wird, können Widersprüche verdeckt und neue Bedeutungsallianzen etabliert werden, die uns dann in den dargelegten Beschreibungen der heutigen Indies gegenübertreten. Wenn etwa der Autor des Arcade Fire-Artikels die Entwicklung der hochgelobten Montrealer Musikszene auf die »kluge staatliche Kulturarbeit« (Happel 2010: 43) der kanadischen Regierung zurückführt, wie sie sich in der Arbeit von FACTOR (The Foundation Assisting Canadian Talent On Recording)23 darstellt, aber den Zusammenhang von Förderung und Abhängigkeit 23 FACTOR ist eine private Stiftung, die Fördergelder privater Radiostationen und des Canada Music Found, angesiedelt im Department of Canadian Heritage, verteilt. Zum Ziel hat sie die Förderung der kanadischen Musikindustrie — und nicht etwa der kanadischen Musikkultur insgesamt. Im Steuerjahr 2010-2011 hat FACTOR insgesamt 15,9 Millionen Kanadische Dollar für die Förderung der »Canadian independent music industry« ausgegeben (vgl. FACTOR 2011). Wie autonom eine in diesem Ausmaß geförderte independent music scene (zur Erinnerung: unabhängige Musikszene) tatsächlich ist, müsste erörtert werden. Fest steht, dass staatliche Intervention unser Bild von »Kanada-Indie«, wie die Intro schreibt, wesentlich geprägt hat. Zum Vergleich: Nicht bloß ein bundesdeutsches »Ministerium für das deutsche Erbe« wäre — noch — unvorstellbar, sondern auch die Höhe der Förderung und deren Ausrichtung auf Independent ist nicht vergleichbar: Seit Ende 2007 gibt es die Initiative Musik Projektgesellschaft GmbH, eine »Fördereinrichtung der Bundesregierung für die Musikwirtschaft in Deutschland«, an der der Bundesbeauftragte für Kultur und Medien (Staatsminister Bernd Neumann), die GVL, die GEMA und der Deutsche Musikrat beteiligt sind. Die Fördergelder von etwa 2,3 Millionen Euro werden zum überwiegenden Teil vom Bundesbeauftragten getragen (2010 etwa 2 Millionen Euro), 180.000 Euro kommen je von GVL und GEMA (vgl. Initiative Musik 2011). Angesichts einer laut des Internationalen Währungsfonds im Jahr 2011 etwa doppelt so hohen Wirtschaftskraft Deutschlands im Vergleich zu Kanada (BIP in Mio. USDollar: Deutschland 3.577.031, Kanada 1.736.869; vgl. International Monetary Fund 2012), ist dieser Betrag als marginal zu bezeichnen. Und zur besseren Einordnung des Stellenwertes bundesdeutscher Förderkultur populärer Musik abschließend ein Blick auf die hiesige Filmförderung, die vom Staatsminister mit 90 Millionen Euro jährlich unterstützt wird (vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung 2011).

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ANDRÉ DOEHRING nicht reflektiert; wenn etwa in allen Magazinen der Hinweis auf das für den US-Markt zuständige Indie-Label Merge Records erfolgt, ohne dass auf den Vertrieb durch die sich zwar indie gebende ADA (Alternative Distribution Alliance) geachtet wird, die jedoch tatsächlich ein Joint Venture von Sub Pop und Warner im Verhältnis von 5 zu 95 Prozent Anteilen ist (vgl. auch Oakes 2009: 150); wenn niemandem auffällt (weil man es nicht fragt!), dass das für den europaweiten mp3-Vertrieb zuständige Label Mercury eine Tochter von Universal Music ist; wenn man sich nicht wundert, warum Universal auch noch den Vertrieb und Verlag für einen ganzen Subkontinent (Südamerika) übernimmt (vgl. Discogs 2012b) — dann ist Independent ein höchst geeigneter Begriff, den Prozess der Warenproduktion und des Warenvertriebs nicht nur zu verdecken, sondern auch noch mit symbolischer Bedeutung zu versehen und somit in neue Kontexte überführen zu können. Im Ergebnis ereignet sich hier die symbolische Legitimierung kommerziellen Eingreifens in Musikprozesse, wie es Wesen des gegenwärtigen Musikgeschäfts ist — und ob von staatlicher oder privatwirtschaftlicher Hand kommerziell eingegriffen wird, scheint dann letztlich auch egal zu sein, denn unabhängig ist hier nichts und niemand. Und wohlgemerkt: Die ideologische Funktion der Inszenierung von Independent funktioniert gerade deshalb, weil die Musikjournalisten sie nicht erkennen — können! Die Strukturen der Arbeit im Popmusikjournalismus äußern sich in der Etablierung eines für den gegenwärtigen Kapitalismus typischen und notwendigen Berufsethos: Die Musikjournalisten verstehen sich selbst als kreative und freie, d.h. selbstständig beschäftigte sowie durch überwiegend interne Kontrollinstanzen motivierte Arbeiter, die in unterbezahlter, überlanger und weitgehend unhinterfragter Selbstausbeutung ihre Talente und ihr Wissen einem Markt zur Verfügung stellen, der sie für die symbolische Aufladung von Musikwaren und anderen Lifestyleprodukten benutzt. Die Strukturen und Kräfte des Feldes Popmusikjournalismus erzeugen und verlangen diesen intern verankerten Berufshabitus, der bei Bourdieu (1998: 25) als »Brille« die Wirklichkeitswahrnehmung beeinflusst. Kritik ist hier nicht mehr vorgesehen. Doch halt! Hat nicht die Spex im selben Monat einen Artikel (Hammelehle 2010) publiziert, der sich kritisch mit der Inszenierung von Arcade Fire auseinandersetzt? Dort wird in der Tat die Selbstdarstellung der Band als janusköpfig ausgelegt: Obwohl Arcade Fire sich dezidiert und somit den genannten Wertmustern entsprechend den üblichen Bewerbungsprozessen ihres Albums verweigern, erkennt der Autor Aktivitäten der Band, die diesem Ideal widersprächen. Bezogen wird dies auf ein Pariser Konzert Arcade Fires, welches zugleich zu Ehren eines gestorbenen »Sound-Ingenieurs« und

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DER INDEPENDENT-DISKURS IN MUSIKZEITSCHRIFTEN als Promotion-Konzert für das neue Album gedient habe. Das Verweigern von Promotion-Aktivitäten (etwa das Anbieten und Wahrnehmen von Presseterminen) wie Promotion-Gegenständen (Gratis-CDs, Informationsbroschüren, Promotion-Videos usw. für die Journalisten) durch Label und Band einerseits werde andererseits durch die Veröffentlichung von Videos im Internet und Vinyl-Singles in ausgesuchten kleinen Plattenläden unterlaufen. Natürlich klingt hier auch gekränktes Gewohnheitsrecht des Musikjournalisten durch. Doch wird nun dieser an sich Indie-typische Verweigerungsmodus zur Inszenierung von Independent erklärt: »Die Inszenierung ist bei Arcade Fire eben immer ebenso wichtig wie die Musik, gerade weil es die Inszenierung offiziell gar nicht gibt« (Hammelehle 2010: 23). Diese »Inszenierung musikalischer Blockbuster«, garniert gar mit einem »Deal« mit American Express über 1,5 Millionen Dollar (ebd.), widerspreche dem Independent-Diskurs zutiefst. So wird denn auch befürchtet, dass »Stadionrocker[n]« wie den für die Vielen musizierenden U2 oder Bruce Springsteen die »Indie-Kanonisierung durch die Hintertür« (ebd.) gelingen könne: Da Arcade Fire ähnliche Musik wie diese spielten, sich ähnlich inszenierten und dabei trotzdem als Independent-Band gälten, befürchtet der Spex-Autor ein Übergreifen des Independent-Begriffs in Bereiche, in denen er ihm zufolge nichts verloren habe. Die Spex-Redakteure greifen daher für die Präsentation der Band im Heft zu rabiaten Mitteln, denn Spex versteht und inszeniert sich eine als Zeitschrift, die sich vorgenommen hat, alle im Heft gedruckten Fotos selber zu machen (vgl. Dax 2008: 13) — aus Gründen einer postulierten Unabhängigkeit, wohl aber auch, um sich mindestens visuell von der Konkurrenz der anderen Musikzeitschriften zu unterscheiden. Da Arcade Fire für keine im Feld etablierten und erwarteten Promotion-Aktivitäten zur Verfügung standen, wo ein von der Spex erwünschtes Foto hätte geschossen werden können, druckt das Magazin nun zum Artikel die von deren Label City Slang bereitgestellten Fotos — in betont schlechter Graustufenauflösung, über die in grüner gefetteter Blockschrift »THIS IS A PROMOTIONAL IMAGE« geschrieben wurde. Ist dies nun die geforderte Kritik aus den Reihen der Popmusikjournalisten? Meines Erachtens nein. Denn hier wurde eine Chance vergeben: Anstatt in diesem Artikel den Warencharakter der Musik und die Bedeutung und somit das Funktionieren des ideologischen Modells Independent auch für die Spex eindeutig zu benennen, geriert sich die Spex, d.h. gerieren sich die hier tätigen Medienakteure vom freien Mitarbeiter bis zur Redaktion, als Hüter des ›wahren‹ Independent — und tragen so zum Fortbestehen dieses Begriffs bei. Und dies übrigens umfangreich auf vier Seiten, denn einen

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ANDRÉ DOEHRING Bericht über Arcade Fire, dieses »interessante Thema« (wie es im Jargon heißt), kann die oben genannte Logik der Produktion nicht ignorieren — den muss man bringen. Übrigens: Die Leser bestätigen dieses strategische Inszenieren im Nachhinein, denn in den Jahresendlisten rangiert The Suburbs in der Gunst als beliebtes Indie-Album des Jahres weit oben — auch in der Spex.24 Es ist natürlich davon auszugehen, dass der Diskurs über Independent beim Musikmagazin weder beginnt noch endet, sondern dass dieser Begriff bereits viel eher in das Handeln der professionellen (und wahrscheinlich bereits semiprofessionellen) Akteure erster (Musiker) und zweiter (Plattenfirma) Instanz eingegangen ist. Nicht bloß die Planung, Aufbereitung und Präsentation von Medieninszenierungen wäre daher zu untersuchen, sondern die ihnen vorausgehenden Planungs- und Entscheidungsprozesse der musikalischen sowie die Auswahl- und Gestaltungsbedingungen musikindustrieller Akteure, in die bereits Überlegungen bezüglich der Möglichkeit medialer Inszenierungsstrategien ihren Einfluss nehmen dürften. Oder wie es einer der Musikredakteure ausdrückte: »Und die Bands sollen dann natürlich auch funktionieren, deshalb sehen sie auch schon so aus, wie sie glauben, dass sie dann durchkommen durch den Strom« (IN 1: 6, in Doehring 2011: 269). Dazu bedarf es unbedingt weiterer Untersuchungen. Denn Independent war, ist und — sehr wahrscheinlich — bleibt ein wichtiger Begriff der Organisation des popmusikalischen Lebens, mit dessen Hilfe die Etablierung der Camouflage höchst abhängiger Inszenierungen von Unabhängigkeit in der musikalischen Praxis bestens gelingt.

24 Bei den Spex-Lesern ist am Ende des Jahres The Suburbs auf Platz 2 hinter Caribous Swim zu finden, in den Spex-Redaktionscharts liegt The Suburbs auf Rang 11, Swim auf dem dritten Rang (Spex 2011: 58 u. 62). Ein kurzer Blick in die Intro-Jahrescharts, die sinnigerweise mit »Tag der Abrechnung« überschrieben sind: Die Redaktion wählte The Suburbs auf den zweiten, Swim auf den ersten Platz der ›besten‹ Alben des Jahres, die Leser der Intro drehten das Verhältnis um: The Suburbs ist das hier erstplatzierte, Swim das dahinter auf Platz 2 liegende Album des Jahres 2010 (Intro 2011: 12f.).

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DER INDEPENDENT-DISKURS IN MUSIKZEITSCHRIFTEN

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ANDRÉ DOEHRING

Abstract Independent is a discourse about popular music that strategically positions popular music's practices from production to distribution and reception. As a historic term, the meaning of independent is never stable; several changes of its connotations are presented. As discourses are led by institutions like popular music magazines, this article shows how and why these magazines use and thereby shape our notion of independent music. For the magazines and its music journalists, independent music serves to acquire economic as well as symbolic capital. But on the whole, it is argued, independent serves as an ideological term camouflaging popular music's capitalist fundamentals. A close reading of 2010's media coverage of Arcade Fire and Caribou is given.

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›G U T E F R A G E !‹ POPULÄRE INSZENIERUNGEN VON F R A G E -A N T W O R T -S T R A T E G I E N A U F PRESSEKONFERENZEN IM BEREICH DER POPMUSIK Anja Peltzer

1. Einleitung Von der »Lügnerparadoxie des Philetas von Kos« (Sainsbury 2001: 11) heißt es, sie habe »viele antike Logiker gepeinigt und den frühzeitigen Tod wenigstens eines von ihnen hervorgerufen.« Sie lautet: »Was ich jetzt sage, ist falsch.« Ist es wahr, was er sagt, oder ist es falsch? Nun: Er sagt die Wahrheit, wenn er nicht die Wahrheit sagt. Wenn er aber nicht die Wahrheit sagt, dann muss er, weil er ja gerade angibt eben dies zu tun, die Wahrheit sagen. Ähnlich, auch wenn aktuell noch keine Todesopfer zu beklagen sind, verhält es sich mit der Paradoxie des Populären. So eng ein bestimmter Musiker, ein Album oder auch ein Konzertbesuch mit der Biographie des Rezipienten und vielleicht sogar mit dem authentischen Ausdruck von dessen Identität verbunden sein mag, gilt doch: »Pop war niemals unschuldig, sondern immer schon in die kapitalistische Reproduktion verstrickt« (Gurk 1996: 20). Jedes popkulturelle Gut ist immer auch Ware: »Hergestellt, vertrieben und vermarktet von einer Kulturindustrie zum Massenkonsum« (ebd.: 21). Sodass sich die Popkultur als ein janusköpfiges Arrangement aus künstlerischem Ausdruck (›wahr‹) und Marktinteressen (›falsch‹) darstellt. Vereinfachen wir, der Länge dieser Einleitung zu Liebe, die Paradoxie des Populären zunächst also auf folgende Aussage: »Wahrer Pop ist immer auch falsch.« Dann lautet die Konsequenz: Wahr ist Pop auch dann, wenn er ›falsch‹ ist. Und falsch, wenn er behauptet nur ›wahr‹ zu sein. Ein Ort, der diese Paradoxie des Populären auf das Signifikanteste zum Erscheinen bringt, ist die Pressekonferenz. In ihr kommen die verschiedenen Aspekte des Populären im wahrsten Sinne des Wortes zur Sprache. Sie ist ein

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ANJA PELTZER Marketingtool, welches nicht nur die Vertreter der Presse mit dem jeweiligen Musiker zusammenbringt, um entweder über eine neue Tour, einen neuen Film oder ein neues Album zu informieren, sondern damit immer auch die beiden Seiten der Medaille des Populären: das künstlerische Produkt und den Markt. Wie sich diese beiden Seiten in den kommunikativen Verfahren der zentralen Akteure der Gattung realisieren, ist dabei eine der zentralen Fragen der vorliegenden Studie. Dabei ist die Pressekonferenz freilich kein Spezifikum der Populärkultur. Am häufigsten wird in der Politik zur Pressekonferenz geladen. Wenn Barack Obama beispielsweise über die Arbeitslosigkeit zu den Bürgern der USA sprechen möchte, dann liegt die Wahl dieses Tools nahe, denn der Nachrichtenfaktor ist hoch und der kommunikative Auftrag ist klar: Hier hat einer vielen etwas zu sagen, was für viele von Relevanz ist. Ein Kommunikationsmodell, das in gewisser Weise auch für den popkulturellen Mainstream gilt, d.h. für Produkte, die von Anfang an für ein breites Publikum bestimmt sind (vgl. Martel 2010: 19). Und so überrascht es kaum, dass das neue Album von Lady Gaga, ein neuer Film über The White Stripes oder der Tourneestart der Kings of Leon ebenfalls auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben werden. In eben diesem Bereich populärer Musik, mit größter gesellschaftlicher Verbreitung, und zwar genreunabhängig, werden nach wie vor Pressekonferenzen einberufen. Dennoch gestaltet sich die kommunikative Situation ›Pressekonferenz‹ in popkulturellen Gefilden anders als in politischen, nämlich komplexer. In der kommunikativen Gattung ›Pressekonferenz‹ findet nicht nur die Verhandlung der jeweiligen Mitteilung statt — das Album, die Tournee, die Re-Union — sondern immer auch die Paradoxie des Populären: Jede Pressekonferenz bildet einen Aufführungskontext für die Authentizität des Musikers aber eben auch für die Bedingungen der Kulturindustrie. Die kommunikative Arena ›Pressekonferenz‹ ruft dabei die konträren Elemente des Populären nicht nur ab, sondern bringt sie auch zum Erscheinen, indem sie die Bühne bildet, auf der sich beide Seiten inszenieren. Jede Inszenierung wird hierbei mit Martin Seel als eine Inszenierung von Gegenwart verstanden. »Sie ist ein auffälliges Herstellen und Herausstellen einer Gegenwart von etwas, das hier und jetzt geschieht, und das sich darum, weil es Gegenwart ist, jeder auch nur annährend vollständigen Erfassung entzieht« (Seel 2001: 53). Im Handlungskontext der Pressekonferenz inszenieren sich die beiden Pole des Populären und vergegenwärtigen so ›im hier und jetzt‹ die Paradoxie des Populären. Die Forschungsfragen, die sich an diese Überlegungen anknüpfend stellen, lauten folglich: Wie inszenieren sich die beiden Seiten des Populären auf der Pressekonferenz? Welche Fragestellungen bringt der Journalist wie vor? Und wie reagiert der Musiker darauf? Welche

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POPULÄRE INSZENIERUNGEN VON FRAGE-ANTWORT-STRATEGIEN AUF PRESSEKONFERENZEN kommunikativen Muster prägen das Frage-Antwort-Verhalten auf Pressekonferenzen von popkulturellen Schwergewichten? Sprich: Wie wird mit der Paradoxie des Populären in der kommunikativen Situation ›Pressekonferenz‹ umgegangen, und zwar sowohl aufseiten des Musikers als auch aufseiten des Popmusikjournalisten? Den Untersuchungskorpus der Studie bilden verschiedene Pressekonferenzen aus dem Bereich der Popmusik der vergangen fünfzig Jahre. Bei der Analyse der Pressekonferenzen orientierte ich mich methodisch sowohl an der Konversationsanalyse (vgl. Bergmann 1988, Ayaß 2004) als auch an der Film- und Fernsehanalyse (vgl. Keppler 2006a).

2. Theoretische Annahmen und methodische Anlage der Studie Im Folgenden gilt es, die theoretischen Annahmen und die daraus folgenden methodischen Konsequenzen der Studie darzulegen. In einem ersten Schritt wird die theoretische Rahmung durch die These von der Pressekonferenz als einem Kristallisationsmoment der Paradoxie des Populären weiter ausbuchstabiert. Anschließend wird der aktuelle Forschungsstand zur Pressekonferenz insbesondere im Hinblick auf die Rollen und Möglichkeiten der zentralen Akteure Musikjournalist und Künstler aufbereitet und schließlich erfolgt die Darstellung des Methodendesigns.

2.1 Zum Verhältnis von Pressekonferenzen und der Paradoxie des Populären Popkultur bedeutet immer beides: eigenwillige Kreativität und Kommerz. Dabei ist es ebenso Teil wie auch Errungenschaft des Populären, dass ökonomische Interessen und künstlerischer Ausdruck kein Widerspruch mehr sein müssen. »Jedes Teil der Pop-Kulturentwicklung ist sowohl von den Planungen und Interessen der Kulturindustrie, dem Markt oder den zur Verfügung stehenden technischen Medien und Produktionsverfahren abhängig, als auch davon, daß es dennoch Selbstausdruck, Selbstverständnis und Lebensraum von sozial- oder altersspezifischen Teilkulturen, Minderheiten und oppositionellen Bewegungen ist« (Behrens 1996: 72). Die eingangs angeführte Paradoxie entsteht jedoch nicht bereits aus dieser Verbindung. Sondern sie ist vielmehr ein Effekt des Bündnisses, welches ›Kunst und Kommerz‹ in der Popkultur eingegangen sind. Dabei handelt es

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ANJA PELTZER sich um eine Paradoxie und nicht nur um einen Widerspruch, da sich beide Bestandteile des Populären ebenso abstoßen wie auch bedingen.1 Auf der einen Seite fungiert das Populäre als ein »privilegiertes Erkenntnismedium, das [...] subversive Qualitäten besitzt« (Gurk 1996: 21) und das nach wie vor auch aus dem Geist des kulturellen Erbes der modernen Ästhetik gespeist wird, nämlich das ›schöne Kunst‹ sich insbesondere als ›einmalig‹ und ›original‹ präsentiert (vgl. Eco 2002: 155). Auf der anderen Seite wird das Populäre durch das kommerzielle Prinzip von ›Angebot und Nachfrage‹ bestimmt. Ohne einen Markt gibt es keine Popularität. Der unmittelbar bestehende Zusammenhang zwischen Authentizität und einer positiven Kaufentscheidung befeuert die Paradoxie insbesondere, »kommt [dabei] der Authentizität — der Echtheit, Ehrlichkeit oder Glaubwürdigkeit — zweifelsohne die größte Bedeutung zu« (Appen 2007: 115). Die »Bedeutung des Kriteriums der Authentizität für die Bewertung populärer Musik [ist] kaum zu überschätzen« (ebd.: 116). Das Verhältnis der beiden Pole stellt sich somit wie folgt dar: je mehr marktkompatible Authentizität (im Sinne von Unabhängigkeit, Originalität, Unkonventionalität) desto mehr Absatz (vgl. dazu auch Helms 2008: 78). Je mehr Absatz generiert wird, desto mehr Verpflichtungen und Beeinträchtigungen entstehen allerdings wiederum für den Gestus des Authentischen und der Unabhängigkeit. In diesem Kreislauf schreibt sich die Paradoxie des Populären beständig fort. Denn in dem Zyklus aus ›Einmaliges auf Nachfrage‹ entschwindet der Freiraum für die Schaffung von unkonventioneller, origineller Kunst — und dennoch gibt es sie. Die Pressekonferenz im Bereich der Popkultur bildet nun eine kommunikative Gattung, in welcher sich beide Pole, in Form des Musikjournalisten und des Musikers, positionieren müssen. Die Pressekonferenz zählt zu den Klassikern unter den PR-Maßnahmen und zwar branchenübergreifend. Die Vorteile liegen in ihrer Dialogorientiertheit begründet sowie in der Möglichkeit für Journalisten O-Töne und Bilder direkt vor Ort aufnehmen zu können. Gerade der letztgenannte Vorteil wird für das Tool allerdings auch immer mehr zum Nachteil, da es sowohl die physische Anwesenheit des Einladenden als auch der Journalisten voraussetzt, wohingegen flexibel handhabbare O-Ton-Services, Fotos, Image-Videos etc., die seitens der PR-Agenturen online zur Verfügung gestellt werden, dem Arbeitsalltag der Journalisten und Musiker viel mehr entgegenkommen. Doch ist der Nachrichtenfaktor hoch genug, kann auch heute noch jenseits der Social Media-Kanäle eine Pressekonferenz erfolgreich abgehalten werden. 1

Für die Anregungen und Hinweise zum Begriff der Paradoxie danke ich Angela Keppler.

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POPULÄRE INSZENIERUNGEN VON FRAGE-ANTWORT-STRATEGIEN AUF PRESSEKONFERENZEN

2.2 Die Pressekonferenz: Forschungsstand und weitere Annahmen für die Analyse Während die Analyse popmusikjournalistischer Tätigkeiten — geschweige denn die Funktionen und Abläufe von Pressekonferenzen — in der Forschung kaum eine Rolle spielen (siehe Forschungsüberblick bei Doehring 2011: 2432; Hinz 1998), ist die politisch gerahmte Pressekonferenz sehr gut erforscht. Sowohl im Rahmen der Forschung zum Verhältnis von Journalismus und PR (vgl. dazu den Forschungsüberblick bei Kunczik/Zipfel 2001: 192ff.), als auch im Rahmen der politischen Kommunikation (z.B. Banning/Billingsley 2007) dient die Pressekonferenz als Untersuchungsgegenstand. Für den vorliegenden Fokus bilden insbesondere die Arbeiten der Soziologen Steven Clayman und John Heritage eine fruchtbare Vergleichsfolie (vgl. Clayman/ Heritage 2002; Clayman/Heritage/Elliott/McDonald 2007). Die beiden Konversationsanalytiker haben die Pressekonferenzen der US-amerikanischen Präsidenten über den Zeitraum von 1954 bis 2002 untersucht. Im Fokus ihrer Analyse, die 2002 als »Questioning Presidents« veröffentlicht wurde, standen u.a. auch die verschiedenen Frageformen, die die Journalisten an die Präsidenten auf den Pressekonferenzen im weißen Haus richteten. Die Autoren differenzieren vier Basis-Dimensionen von Fragetypen auf Pressekonferenzen: 1. die Initiative ergreifend (initiative), 2. Direktheit (directness), 3. Bestimmtheit (assertiveness) und 4. Feindseligkeit (hostility). Durch die lange Laufzeit der Studie konnte gezeigt werden, dass im Verlauf der Jahre die Angriffslust und Aggressivität der Journalisten gegenüber dem Präsidenten zugenommen haben. Es ist zu vermuten, dass sich das Frageverhalten von Journalisten auf popkulturell gerahmten Pressekonferenzen in den Punkten Bestimmtheit und Feindseligkeit anders darstellt. Während die politischen Journalisten als aggressiv und angriffslustig beschrieben werden und damit schließlich auch ihrer Rolle als »Watchdog« (vgl. McQuail 1992: 120) gerecht werden, wird bei den Popmusikjournalisten ein wesentlich konsensorientierteres Frageverhalten vermutet. Zwei Gründe geben zu dieser Annahme Anlass: Zum einen sitzen Popmusikjournalisten nicht nur in Pressekonferenzen sondern auch in der Klemme, denn sie wissen um die verschiedenen Zwänge und Abhängigkeiten des Musikbusiness (vgl. Doehring 2011: 264). Ebenso wie die Labels beispielsweise auf eine gute Berichterstattung über ihre Musiker angewiesen sind, sind die Journalisten auf ein gutes Verhältnis zu den Plattenfirmen angewiesen. Nur so entstehen Chancen auf exklusive Interviewtermine in originellen Umgebungen, was der eigenen Zeitschrift wiederum

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ANJA PELTZER einen Marktvorteil verschaffen könnte. Diese kulturindustrielle Umarmung der musikjournalistischen Redaktionen lässt den Musiksoziologen André Doehring dann auch treffend vom »embedded music journalism« (ebd.) sprechen. Eine Situation also, in der sich die Popmusikjournalisten eine angriffslustige und aggressive Fragehaltung in aller Regel gar nicht leisten können. Zum anderen ist es das Selbstverständnis des Musikjournalisten als Musikliebhaber und Kenner, welches ihn dazu motiviert, im Gespräch einen Konsens mit dem Musiker herzustellen. Die ›Kennerschaft‹ des Musikjournalisten, so kann Doehring in seiner Befragung von Musikredakteuren empirisch aufzeigen, ist in diesem Beruf nicht das Ergebnis einer Profession sondern der eigenen, ganz individuellen Passion für Musik. Die »Verberuflichung der einstmals sogar identitätsstiftenden Begeisterung für den heutigen Inhalt der täglichen Erwerbsarbeit und daraus resultierende Berufs- und Musikverständnisse« bilden, so Doehring (ebd.: 169), ein wesentliches Kennzeichen dieser Berufsgruppe. Viele der Musikredakteure wählen aufgrund ihrer Musikbegeisterung seit der eigenen Jugendzeit diesen Beruf. »Ihr dort grundlegend geprägter Musikgeschmack und ihre (behauptete) Kennerschaft wird als Zugangsvoraussetzung zu diesem Beruf verstanden« (ebd.: 186). Die dialogische Situation der Pressekonferenz schafft nun die Möglichkeit, die eigene Kennerschaft zu testen. Denn erst die Zustimmung der Musiker z.B. schon durch ein kurzes »Good Question« (vgl. PK T4s Georgie at the Take That Press Conference 2010: 04'07")2 adelt die eigene Schreibe mit ›echter Kennerschaft‹. Während der Journalist dazu im persönlichen Interview wesentlich mehr Zeit und Raum hat, bleibt ihm auf einer Pressekonferenz oftmals nur das enge Zeitfenster von einer oder zwei Fragen — und damit lediglich eine oder zwei Möglichkeiten auf ein Moment ›echter Zustimmung‹ inmitten des straff durchchoreographierten Korsetts einer Pressekonferenz.

2.3 Das Methodendesign der Studie Im Fokus der Studie stehen die Pressekonferenzen aus dem Bereich der populären Musik, die in den letzten fünfzig Jahren gehalten wurden. Es ist bewusst von der genreübergreifenden populären Musik die Rede und nicht von verschiedenen Genres wie Hip Hop, Emocore, Elektro oder Acid Jazz, denn es ist davon auszugehen, dass die Paradoxie des Populären sich nicht auf bestimmte Genres beschränkt, sondern in allen Sparten vorhanden ist, wenn auch sicherlich in verschieden starker Intensität und Ausprägung. Auf2

PK im Folgenden kurz für Pressekonferenz, die aus dem Korpus der Analyse stammen. Der Timecode stammt aus dem QuickTime Player und kann je nach Mediaplayer variieren.

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POPULÄRE INSZENIERUNGEN VON FRAGE-ANTWORT-STRATEGIEN AUF PRESSEKONFERENZEN grund der Tatsache, dass Pressekonferenzen im Bereich der populären Musik erst ab einem bestimmten Bekanntheitsgrad der jeweiligen Musiker/innen einberufen werden, hat sich aus dem Feld heraus ein Sample ergeben, dass sich im popkulturellen Mainstream und damit jenseits von Genreeinteilungen bewegt. Es umfasst 15 Konferenzen der Jahre 1964 bis einschließlich 2011 von ganz unterschiedlichen Musikern wie Noel Gallagher, Lady Gaga, Take That oder auch der Band Arcade Fire. Das Sample der Pressekonferenzen wurde durch eine Recherche in verschiedenen Online-Video-Portalen erhoben und archiviert. Eine Pressekonferenz (von Bob Dylan) liegt als DVD vor. Ausgewertet wurden die Pressekonferenzen durch ein komparatives konversationsanalytisches Vorgehen. Der gewählte methodische Zugang ist dem wissenssoziologischen Ansatz dieses Projekts geschuldet. Mit Peter Berger und Thomas Luckmann wird davon ausgegangen, dass die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit insbesondere das Ergebnis von sozialen Interaktionen und damit freilich in erster Linie auch von kommunikativen Handlungen ist (vgl. Berger/Luckmann 1966). Dass diese Handlungen funktionieren, ist kein Zufall, sondern basiert auf »intersubjektiv verbindlichen sprachlichen Typisierungen von Erfahrungs- und Handlungsschemata« (Luckmann 1986: 196). Diese Typisierungen finden sich im Alltag beim Klatschen oder Lästern ebenso wieder, wie in beruflichen Situationen wie z.B. dem Vorstellungsgespräch oder eben einer Pressekonferenz. Das Ziel der Konversationsanalyse ist es nun, genau diese Prozesse »des Herstellens von sozialer Ordnung anhand natürlicher Gespräche und Interaktionen aus alltäglichen, institutionellen und nunmehr auch massenmedialen Kontexten aufzuzeigen« (Ayaß 2005: 416). Es geht darum nachvollziehbar zu machen, »wie sich die Gesprächsteilnehmer in einem bestimmten sozialen Kontext in einer bestimmten sprachlichen Gattung, etwa dem journalistischen Interview, bewegen und damit: wie sie diese oder eine andere kommunikative Gattung produzieren und reproduzieren« (Keppler 2006b: 294). Das Interessante an der kommunikativen Situation ›Pressekonferenz‹, gerade auch im Vergleich zu der des Interviews, ist nun, dass sie einen hybriden Raum eröffnet, in welchem sich die Vorder- und Hinterbühnen (vgl. Goffman 2003: 100-106) des Populären auf signifikante Weise verschränken und für die Empirie greifbar werden. Im Fokus der Analyse stehen daher insbesondere die kommunikativen Interaktionen und damit das für Pressekonferenzen typische Wechselspiel von Frage und Antwort: das ›Question and Answer‹.

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ANJA PELTZER

3. Wahrheit oder Pflicht: Die Ergebnisse der Analyse Das erste Ergebnis des komparativen Verfahrens betrifft die räumliche Anordnung und Struktur einer Pressekonferenz im Bereich der populären Musik. Sie orientiert sich an folgendem Ablauf: Der Pressesprecher eines Musikers lädt aus gegebenen Anlass zu einer Pressekonferenz ein. Hierzu wird ein Raum gewählt, der sich in zwei Bereiche teilt. Auf der einen Seite befindet sich üblicherweise ein mit Mikrofonen ausgestattetes Stehpult oder ein Tisch — die auch auf einem Podest angeordnet sein können. Dem gegenüber sind die Stühle für die Journalisten aufgereiht. Bereits durch das Arrangement des Raumes wird der Bereich des Musikers zu einer Bühne stilisiert. Eine Bühne allerdings, die sowohl dazu definiert ist, sich als ›Star‹ zu präsentieren, als auch soziale Interaktionen mit den individuellen Vertreten der Öffentlichkeit zuzulassen. Bevor der Musiker jedoch auftritt, gibt der Pressesprecher die Regeln zum weiteren Ablauf bekannt: Wann und von wo für wie lange Fotos aufgenommen werden dürfen, wer die Fragerunde eröffnet und wann das Wort an die Journalisten übergeben wird (vgl. PK Under Great White Northern Lights 2009: 00'00"-00'31"). Je nach Anlass und Musiker gibt es mehr oder weniger viele Regeln. Als beispielsweise Jack White 2009 auf dem Filmfestival in Toronto zusammen mit dem Regisseur Emmett Malloy den Dokumentarfilm The White Stripes Under Great White Northern Lights über seine Band The White Stripes vorstellte, wies der Moderator Thom Powers vorab noch zusätzlich darauf hin: »This isn't the place for personal questions« (PK Under Great White Northern Lights 2009: 02'39"). Nach Bekanntgabe der Regeln wird dann der Musiker auf die Bühne gerufen und die Fotografen kommen für die Dauer der angekündigten Minuten zum Zug. Wenn es keinen expliziten Moderator für die Pressekonferenz gibt, dirigiert in der Regel der Pressesprecher das Question and Answer zwischen den Journalisten und den Musikern auf dem Podest. Bekommt der Journalist das Wort, stellt sich dieser und seine Redaktion vor, bevor er seine Frage stellt. Das Ende der Pressekonferenz wird durch die Ansage des Pressesprechers ›last question‹ markiert. Der eben geschilderte Ablauf einer Pressekonferenz im Bereich des Populären ist das Ergebnis eines über fünfzigjährigen Entwicklungsprozesses, an dessen Beginn wenig bis keine kommunikative Ordnung bestand. Als die Beatles beispielsweise 1964 anlässlich ihrer USA-Tour ihre erste Pressekonferenz in den USA veranstalten, gibt es noch keine geregelten Abläufe,

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POPULÄRE INSZENIERUNGEN VON FRAGE-ANTWORT-STRATEGIEN AUF PRESSEKONFERENZEN sondern durcheinander sprechende Journalisten, drängelnde Fotografen, schreiende Fans, eine amüsierte Band und einen Pressesprecher, der recht erfolglos versucht, sich Gehör zu verschaffen mit: »Can we please have quiet!« (PK The Beatles 1st USA Press Conference 1964: 00'11"). Als das alles nichts nützt, lässt er sich schließlich zu einem wesentlich deutlicheren »Will you please shut up!« (PK The Beatles 1st USA Press Conference 1964: 00'24") hinreißen. Ein weiteres Beispiel für die geringe Reglementierung ist die Eröffnung der Pressekonferenz von Bob Dylan, die er ein Jahr nach der eben zitierten Konferenz der Beatles in San Francisco anlässlich seiner ersten Konzerte in den USA nach einer langen England-Tournee gab. Hier wird das Question and Answer durch den Musikkritiker Ralph J. Gleason mit folgenden Worten eröffnet: »Mr. Dylan is a poet. He'll answer questions about everything from atomic science to riddles and rhymes. Go!« (PK Bob Dylan in San Francisco 1965: 00'58"). Es ist diese Anfangsphase der Pressekonferenz als Marketing-Tool, die sich dazu anbietet, der Frage nachzugehen, welche Frage-Antwortformen im Verhältnis von Musikjournalist und Musiker im Rahmen einer dialogorientierten Pressekonferenz prinzipiell möglich sein müssten. Freilich wirkt das ökonomische und mediale Diktat der Branche auch schon zu diesem Zeitpunkt; jedoch waren die Handlungsweisen noch nicht so gefestigt wie heute. So bildet die Pressekonferenz von Bob Dylan aus dem Jahr 1965 den Ausgangspunkt für die Analyse und die hier gewonnenen Ergebnisse dienen als Vergleichsfolie für die Analyse der Pressekonferenzen jüngeren Datums, um Muster und Strukturvarianten bestimmen zu können. Zum Zeitpunkt der Pressekonferenz hatte Dylan der Folkszene bereits den Rücken zugekehrt, seine Gitarre an den Verstärker angesteckt und war mit seiner sechsminütigen Single »Like A Rolling Stone« in den Billboard Charts vertreten. Die fast fünfzigminütige Pressekonferenz wurde in den Studios von KQED-TV aufgenommen und in voller Länge ausgestrahlt. Es fallen insbesondere drei Frageformen auf. Die konsensorientierte Frageform: Gleich die erste Frage, die Dylan gestellt wird, bringt diese Frageform auf. Ausgangspunkt für die Frage des Journalisten bildet das Plattencover des bald erscheinenden Dylan-Albums Highway 61 Revisited. Auf dem Cover ist Dylan auf einer Treppe sitzend abgebildet. Er trägt unter einem offenen, stark gemusterten Hemd ein weißes T-Shirt mit einem Motorrad der Marke Triumph als Aufdruck. Der Journalist möchte nun Folgendes von Dylan wissen:

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ANJA PELTZER J: D: J: D: J: J: D: J: D:

J: D: J:

[…] I would like to know about the (.) the meaning of the photograph of you wearing the Triumph (.) t-shirt? (.) What=do=you=wanna=know=about=it? Well, you know that that's an equivalent photograph it means something, it's got a philosophy in it [that's [((lacht, auch Publikum)) [I'd like to know visually what it represents to you because you're a part of that (-) ahm I haven't really looked at it that much I don't really[:: [I thought about it a great deal (-) I it was just taken one day when=I=was=sidding=on the=steps you=know, I I don't=a (.) I don't really remember; (.) any great to much about it. Bu'=what about the motorcycle as a image in your in your songwriting (.) you seem to like that; Oh, we all like motorcycles (.) to some degree. (.) I do.

Beispiel 1: Konsensorientierte Fragestellung (PK Bob Dylan in San Francisco 1965: 01'22" - 02'12" )3

Das Merkmal dieser Frageform ist, dass sie auf eine Zustimmung mit dem Musiker abhebt. Daher geht diese Frageform häufig auch mit einer Beobachtung oder einer eigenen Überlegung des Journalisten einher, welche er von dem Musiker kommentiert bzw. bestätigt bekommen möchte. Fragen nach der Bedeutung von Songtexten zählen beispielsweise auch zu dieser Frageform. Hier in diesem Fall ist es die Idee des Journalisten, dass das Cover eine eigene Philosophie enthält, eine codierte Mitteilung des Musikers, die ihm nicht entgangen ist. Doch der Verdacht des Journalisten wird von Dylan nicht bestätigt. Die Überlegungen des Journalisten bringen den Barden mehr zum Lachen als zu einem Zugeständnis. Auch auf die Nachfrage nach dem Motorrad als Motiv weicht Dylan aus. Das abschließende »I do« des Journalisten, das trotzdem auf die Ausflüchte und Absagen seitens Dylans folgt, stellt eine ebenso deutliche wie einseitige Variante der Konsensherstellungsversuche in einem Frage-Antwort-Turn im Rahmen einer Pressekonfe3

Die Gesprächsprotokolle entsprechen einer reduzierten Version des Transkriptionssystems von Angela Keppler (2006a: 325-329). Zur besseren Lesbarkeit werden hier einige wenige zentrale Zeichen erklärt: = steht für Verschleifungen, (.) für Pausen, [ markiert gleichzeitiges Sprechen, : steht für Dehnungen. Begrifflichkeiten in einfacher (Klammer) konnten nicht genau verstanden werden, Begrifflichkeiten in doppelter ((Klammer)) beschreiben szenisch Relevantes. J steht für Journalist und D für Dylan, P für Publikum.

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POPULÄRE INSZENIERUNGEN VON FRAGE-ANTWORT-STRATEGIEN AUF PRESSEKONFERENZEN renz dar. Auch wenn hier also kein Konsens gefunden wurde, so ist gerade diese einseitige Form der Zustimmung ein signifikantes Exempel für das Bestreben des konsensorientierten Fragestellenden. Die Gegenfrage: Die zweite Frageform ist vielmehr eine Form des Antwortens als des Fragens. Der Musiker kann den vorhersehbaren Frage-Antwort-Rhythmus einer Pressekonferenz unterbrechen, indem er eine Frage nicht beantwortet, sondern direkt zurückfragt. Bob Dylan praktiziert dies im Verlauf der Pressekonferenz immer wieder, so auch in dem folgenden Beispiel, in welchem ihn eine junge Journalistin fragt: J: D: J: D: J: D: J: D: J: Alle: D: Alle: J: Alle: D:

Do you prefer songs with a subtle or obvious message? With=a what? A subtle or obvious message? (.) a:: I don't really prefer those kind of songs at=all as' ä=message you mean like what's=o:n with the message? Oh well like evil; destruction; and things like that. (--) Do I prefer that to what? I don't know, but your songs=are supposed to have a subtle message, ((lächelnd)) A subtle message? Well they’re supposed to ((lautes Lachen)) ((lachend)) Where did you hear that? ((lautes Lachen)) ((lachend)) In a movie magazin, [((lautes Lachen)) [Oh my good ((lacht sehr)) ts (..) oh my goo::d,

Beispiel 2: Gegenfrage (PK Bob Dylan in San Francisco 1965: 27'23" - 28'07" )

Jede Antwort von Dylan ist in dieser Frage-Antwort-Sequenz eine Frage. Dabei handelt es sich sowohl um Verständnis- als auch um Gegenfragen. Durch die direkten Gegenfragen wird das Frage-Antwort-Schema der ›dialogorientierten Pressekonferenz‹ aufgebrochen und die kommunikative Situation in die eines tatsächlichen Dialogs überführt. So werden an dieser kurzen Szene zwei Dinge deutlich: Dylan ist nicht der Interviewverweigerer, als welcher er immer dargestellt wird, sondern die Fragenstellenden sind nicht in der Lage, das Angebot zum Gespräch anzunehmen. Und zweitens wird deutlich, dass eine nach den vorhergesehenen Regeln ablaufende Pressekonferenz gar keinen Raum für einen tatsächlichen Dialog vorsieht. Gerade die Gegenfragen und oft sehr schlagfertigen Antworten des frischgebackenen Rockstars bringen nicht nur die anwesenden Journalisten aus dem Konzept, sondern werfen auch die Frage nach der eigentlichen Funktion der Presse-

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ANJA PELTZER konferenz in der Populärkultur auf. Offensichtlich erscheint zu diesem Zeitpunkt bereits folgendes: In der Pressekonferenzen geht es nicht um den Dialog, sondern darum den ›Gestus des Dialogischen‹ zwischen Musiker und Öffentlichkeit aufrecht zu erhalten. Die fordernde Frage: Bei der dritten Frageform ist es nicht der Musiker, der das Frage-Antwort-Schema aufbricht, sondern der Journalist. Diese dritte Frageform bildet ein Gegenstück zur konsensorientierten Frageform und ist am stärksten an den Frageformen der politischen Pressekonferenz angelehnt. Denn hier wird nicht die Zustimmung des Musikers gesucht, sondern eine herausfordernde, konfrontative Haltung seitens des Journalisten gegenüber dem Musiker eingenommen. In San Francisco bei Bob Dylan taucht diese Frageform während der gesamten Pressekonferenz nur ein einziges Mal auf. Das Question and Answer läuft bereits seit über vierzig Minuten und Dylan ist es in dieser Zeit bereits mehrmals gelungen auf die Frage, wie er sich seine Popularität erkläre, zu antworten, ohne zu antworten, bis ihn ein Journalist mit folgender Vermutung konfrontiert: J: D: J: D:

J: D:

P: D: J: D:

Mr. Dylan you seem very reluctant to talk about the fact that you're a popular entertainer a[nd you're a most popular entertainer [.hh((zieht Augenbr. hoch)) Wha'=do you want me to say? Well I don't understand why::you:ä::[:what=to=a [what do you want me to say? You want me to say (..) whawhawhawhat=do you want me to say' about it? Well, you seem to almost embarrassed (.) to admit that you're:= to talk about [the fact that [Oh I'm not embarrassed I mean you=know (.) W:hat do you want exactly (.) me to say? (Are=we) jump up and say hallelujah crash the cameras and do something weird? ((lautes Lachen)) Tell me (.) tell me I I I 'll go=honestly if I can go honestly if I'll find somebody to go=on=with=you; No but I I find it if you really have no idea as to why you're:: no thoughts on why you're popular that's a what interests me on I just have nev' I haven't really struggled for that (.) I I don't=ä: it h'appened; you know, (.) it happened like anything else happens;

Beispiel 3: Fordernde Frage (PK Bob Dylan in San Francisco 1965: 43'08" - 43'55" )

Der Effekt der fordernden Frageform auf den Verlauf des Gesprächs ist enorm. Nicht nur das Sprechtempo des ansonsten sehr entspannt und souve-

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POPULÄRE INSZENIERUNGEN VON FRAGE-ANTWORT-STRATEGIEN AUF PRESSEKONFERENZEN rän agierenden Dylans nimmt deutlich zu, auch seine Lautstärke und Mimik (Augenbrauen werden zusammengezogen, Augen werden aufgerissen und gerieben). Er reagiert sofort auf die Vermutung des Journalisten, um diese zu entkräften. Noch während der Journalist seine Frage zu Ende formuliert, holt Dylan bereits Luft, um zu antworten. Über die fordernde Frage wird nicht nur das Frage-Antwort-Schema ausgesetzt, sondern es entsteht zum ersten Mal ein sehr lebendiges dialogisches Moment mit einem auffallend engagierten Dylan. Er fällt dem Journalisten ins Wort, wird lauter, schneller, bringt seine Sätze nicht zu Ende und wiederholt sich. Vieles auf der Ausdrucksebene weist damit auf eine Steigerung der Involviertheit des Antwortenden hin. Innerhalb des untersuchten Samples trifft man von den drei vorgestellten Frageformen am häufigsten auf die konsensorientierte Fragestellung. Die Art und Weise wie der Konsens hergestellt wird, kann dabei ganz unterschiedlich verlaufen. So leitet der Musikjournalist von BBC 6 Music, der sich als Mike vorstellt, seine Frage an Noel Gallagher, als dieser sein erstes Soloalbum auf einer Pressekonferenz bewirbt, mit den Worten ein: »Obvious question« (PK Noel Gallagher 2010: 01'18"). Ein selbstreflexives Zugeständnis an die Zwänge der Rollen, in welchen sowohl er, der Musikjournalist, als auch Gallagher, der Musiker, stecken. Mit der scheinbar abwertenden Einleitung seiner eigenen Frage wertet er diese freilich eigentlich auf, indem er dem Musiker signalisiert: ›Ich mache hier auch nur meinen Job wie du und konkurriere nicht um die beste Fragestellung‹. Die Tatsache, dass Gallagher lang und ausgiebig auf diese Frage antwortet, scheint Mikes Strategie Recht zu geben. Weitere Beispiele für diese Frageform lassen sich aus dem Sample der Pressekonferenzen anführen, unabhängig davon, ob es um die Bedeutung des Songs »Yellow Submarine« der Beatles geht (PK The Beatles New York Press Conference 1966: 01'44") oder um die Wahl der Sprache wie im Fall der Sängerin von Arcade Fire, der Frankokanadierin Régine Chassagne (PK Scenes from the Suburbs, Arcade Fire 2011: 04'41"-05'26"). Als Grund für die Häufigkeit dieser Frageform ist sicherlich die bereits angesprochene missliche Lage des ›embedded music journalism‹ anzuführen, sowie die Tatsache, dass Pressekonferenzen im Bereich des Populären heute hauptsächlich noch von Musikern des Mainstreams abgehalten werden, z.B. wenn Take That auf Tour gehen, Lady Gaga ein Konzert in Jerusalem gibt oder wenn eine Band wie Black Sabbath ihre Re-Union bekannt gibt, wie am 11. November 2011 geschehen. Gerade die Pressekonferenzen der popkulturellen Schwergewichte verlaufen nach festen Mustern, an welchen sich sowohl die Musikjournalisten als auch die Musiker orientieren. Der Effekt des hohen

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ANJA PELTZER Grads an Standardisierung sind ebenso vorhersehbare Fragen wie Antworten. Diese Vorhersehbarkeit wird besonders am folgenden Beispiel deutlich: J: G: P: G:

A:hm you've made it as=a number one download song in the UK ever. Firstly how does that feel? Oh it's very exiting. I'm very humbled by all of my success in the UK and I have my fans ((wendet sich dem Publikum zu)) to thank for it ((Jubel-Rufe)) I'm a very lucky girl. I've got some very very loyal and lovely fans

Beispiel 4: Vorhersehbarkeit (PK Lady Gaga's Heartbeat Headphones 2009: 00'00" 00'15" )4

Lady Gaga ist auf PR-Tour. Anlass ist weder ein neues Album noch eine Tournee, sondern etwas im wahrsten Sinne des Wortes viel kleineres: die ›Heartbeat-Headphones‹, In-Ear-Headphones von der Lady selbst designt. In diesem sehr kurzen Frage-Antwort-Wechsel tauchen bereits zwei kommunikative Elemente auf, die sich so bei Dylan noch nicht haben finden lassen: zum einen der für die Dauer von »Oh it's very exiting. I'm very humbled by all of my success in the UK« stark leiernde Tonfall des Popstars und zum anderen die direkte Adressierung der Fans, was den Bühnencharakter und damit auch den Inszenierungscharakter der Situation unterstreicht. Auffällig ist hierbei, dass in dem Moment, in dem sich Lady Gaga direkt ihrem Publikum zuwendet — sowohl mit ihrer Blickrichtung als auch in ihrer Ansprache »And I have my fans to thank for it« — ihr Tonfall unmittelbar umschwenkt, und zwar von mechanisch leiernd zu absolut motiviert und begeisternd. Die Fragenstellende wird zur Stichwortgeberin reduziert und der Musiker nutzt die Bühne, um Werbung für sich zu machen. Zentral erscheint hier in erster Linie die physische Präsenz der Musikerin zu sein. Je standardisierter das Marketing-Tool Pressekonferenz seitens seiner Akteure erfüllt wird, desto mehr wird die kommunikative Situation des Dialogs zur Nebensache. Die Fragen dienen den bewusst platzierten Antworten, die ebenso vorhersehbar wie nonstop werbend sind. Lady Gaga gelingt es beispielsweise in dieser insgesamt siebenminütigen Sequenz neben den Kopfhörern und ihren Fans auch noch ihre bevorstehende Welttournee sowie ihre neues Album The Fame Monster zu loben. Die Choreographie einer solchen Pressekonferenz lässt keinen Raum für Unvorhersehbares. Und als die VIVA-Moderatorin Collien Fernandes die Regeln bricht und in einer Pressekonferenz der aktuellen Queen of Pop tatsächlich eine fordernde Frage stellt, wird sie im Handumdrehen hinaus4

J steht für Journalist und G für Lady Gaga, P für Publikum.

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POPULÄRE INSZENIERUNGEN VON FRAGE-ANTWORT-STRATEGIEN AUF PRESSEKONFERENZEN begleitet (PK Lady Gaga und Collien Fernandes auf der IfA 2009). Inszeniert oder nicht, klar ist zum einen: Durch den Rauswurf wird hier ein kommunikatives Statement postuliert, welches der Bestätigung der Rollenkonzepte beider beteiligten Damen dient: Fernandes als ›die kesse Moderatorin, die kein Blatt vor den Mund nimmt‹ und Lady Gaga als ›Diva und Königin der Inszenierung‹. Klar ist zum anderen aber auch: Diese Szene hätte ohne die Etablierung der Pressekonferenz als ›konfliktfreies Terrain‹ nicht funktioniert und untermauert damit den Befund der vorliegenden Studie. Besonders anschaulich wird die Paradoxie des Populären, wenn sich die Aussagen der Musiker von Pressekonferenz zu Pressekonferenz wörtlich wiederholen und es sich bei der Wiederholung auch noch um ein Statement für mehr Authentizität handelt. Als Beispiel lässt sich hier erneut Lady Gaga anführen, die auf den Pressekonferenzen immer, wenn es sich ergibt, geradezu gebetsmühlenartig ihre Losung über die Zukunft des Musikbusiness postuliert: »You can easily download an mp3 but you cannot download a lifestyle« (z.B. PK Lady Gaga's Heartbeat Headphones 2009: 02'03"-02'05" und PK Lady Gaga Press Conference, Zappa Club, Israel 2009: 01'43"-01'48").

4. Letzte Frage: Wie inszeniert sich die Paradoxie des Populären auf Pressekonferenzen? Die Pressekonferenz innerhalb der Popkultur, so hat sich gezeigt, beschreibt eine widersprüchliche kommunikative Situation. Zum einen bürgt hier der Musiker in persona für sein Schaffen und adelt den Pressetermin zum Event und zum anderen zwingt sie den jeweiligen popkulturellen Code und seine Akteure in die Knie bzw. in das enge kulturindustrielle Korsett des festgezurrten Ablaufs aus Fragen und Antworten. Die Populärkultur ist hier nicht als Genius zu Gast, sondern als Profession, zu der auch die Kooperation mit der Presse gehört. Anders als in politischen Pressekonferenzen zeigt sich die Presse hauptsächlich kooperativ und konsensorientiert, obwohl es die konfrontative Fragetechnik des klassischen Journalisten, des ›Watchdogs‹, ist, die am ehesten Originalität in die Pressekonferenz bringen kann und nicht die konsensorientierte des gut vorbereiteten Musikjournalisten. Dennoch dominiert von den drei Frage-Typen — die konsensorientierte, die fordernde und die Gegenfrage — welche sich in der Pressekonferenz von Bob Dylan haben herausstellen lassen, in den jüngeren Pressekonferenzen insbesondere die konsensorientierte Fragestellung, sodass eine erste Antwort auf die Frage nach der Vergegenwärtigung der Paradoxie des Populären im Handlungskontext der Pressekonferenzen zunächst negativ ausfallen muss. Denn

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ANJA PELTZER durch die Vorhersehbarkeit der Abläufe und Inhalte einer Pressekonferenz in der Popmusik wirft die Pressekonferenz ihre ursprüngliche kommunikative Ausrichtung, die Dialogorientierung, ebenso hinaus wie Lady Gaga Collien Fernandes. Das Charmante am Populären, nämlich das Unerwartete, das Andere, das Unkonventionelle und immer radikal Gegenwartsbezogene, glänzt in diesem Rahmen insbesondere durch seine Abwesenheit, sodass in den ausgeführten kommunikativen Handlungen durchaus von einem Undoing Popular Culture gesprochen werden könnte. Ob man face-to-face ist oder nicht, macht im Fall der vollständig durchchoreographierten Pressekonferenz, in der auch die »Liveness« (Auslander 1999) zum Statisten wird, hinsichtlich der kommunikativen Verfahren kaum einen Unterschied. Es ist der Pakt zwischen Markt und Musiker, der den Ablauf des Question and Answer im popkulturell gerahmten Presseevent dirigiert. Und solange beide Akteure, der Musiker und der Musikjournalist, Bestandteil des gleichen Marktes sind, wird die konsensorientierte Befragungsethik weiter den Diskurs dominieren. Das wiederum führt allerdings dahin, die Antwort auf die Frage nach der Inszenierung der Paradoxie des Populären nicht zu voreilig zu beenden. Denn die Dominanz der konsensorientierten Fragestellung ist nicht als eine Dominanz der kapitalistischen Seite der Populärkultur zu verstehen, sondern vielmehr eine kommunikative Strategie, die Balance zwischen den beiden Seiten des Populären auszuhandeln. Die konsensorientierte Fragestellung ist nicht nur der Versuch, Konsens zwischen dem Journalisten und dem Musiker herzustellen, sondern signifiziert schlicht den Konsens beider Parteien hinsichtlich der Paradoxie des Populären — womit die Pressekonferenz gerade auch durch ihre starke Reglementiertheit zu einem signifikanten Anschauungsbeispiel für Doing Popular Culture wird.

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ANJA PELTZER

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Abstract The paradox of the popular — an effect of the pact between popular culture and industry — is shaping the pop music sector at all levels; neither artists, nor pop music journalists can escape it. The press conference is a marketing tool which does not only bring together media representatives and the respective artist to inform either about a new tour, a new film or a new album, it also shows both sides of the medal of pop. By analyzing the question and answer-turns of various press conferences from 1960s until today, it is shown how the paradox of the popular is handled in the communicative genre of ›press conference‹, both on part of the artist, as well as on part of the pop music journalist.

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DER DOKUMENTARISCHE GESTUS. EINE SPURENSUCHE IN POPULÄRER MUSIK UND K U L T U R I N D E R BRD D E R 1970 E R J A H R E Barbara Hornberger

Rauch-Haus-Song Am 8. Dezember 1971 wird nach einem Teach-In anlässlich des Todes von Georg von Rauch in der TU Berlin das leerstehende Martha-Maria-Haus, ein ehemaliges Schwesternwohnheim auf dem Gelände des Bethanien-Krankenhauses, besetzt. Die Band Ton Steine Scherben, die bei dem Teach-In gespielt hat, ist an der Aktion beteiligt. Der Polizei gelingt es nicht, die Besetzung zu verhindern, Verhandlungen führen dazu, dass das Haus zunächst nicht geräumt wird.1 Es wird von den Besetzern nach dem »umherschweifenden Haschrebellen«2 Georg von Rauch benannt, der wenige Tage vor dem besagten Teach-In nach einem Schusswechsel mit der Polizei gestorben war. Am 19. April 1972 um 4:15 Uhr wird in dem besetzten Haus eine Großrazzia durchgeführt. Die Polizei findet leere Weinflaschen, Batterien und einen Wecker, ein kaputtes Wasserrohr und einiges an Hobbywerkzeug und glaubt damit zu beweisen, dass hier Sprengstoffanschläge geplant werden. Aufgrund dieser Beweise, die die Besetzer als konstruiert empfinden, soll das sogenannte Georg-von-Rauch-Haus geräumt werden. Über diese Ereignisse schreibt der beteiligte Rio Reiser im Jahr 1972 einen Song für seine Band Ton Steine Scherben: den »Rauch-Haus-Song«.

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Laut der Homepage des Georg-von-Rauch-Hauses (http://www.rauchhaus1971. de; Stand vom 23.7.2012) wurde nach einem Monat ein Nutzungsvertrag vereinbart. Im Jahr 1973 schließlich beschließt der Berliner Senat, im BethanienHauptgebäude das »Künstlerhaus Bethanien« einzurichten. Von Rauch gehört einer militant linken Gruppe an, die sich »Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen« nannte; sie wird als eine Vorstufe zur Bewegung 2. Juni angesehen.

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BARBARA HORNBERGER Ton Steine Scherben: »Rauch-Haus-Song« (1972) Der Mariannenplatz war blau, soviel Bullen waren da, und Mensch Meier musste heulen, das war wohl das Tränengas. Und er fragt irgendeinen: »Sag mal, ist hier heut 'n Fest?« »Sowas ähnliches«, sacht einer, »das Bethanien wird besetzt.« »Wird auch Zeit«, sachte Mensch Meier, »stand ja lange genug leer. Ach, wie schön wär doch das Leben, gäb es keine Pollis mehr.« Doch der Einsatzleiter brüllte: »Räumt den Mariannenplatz, damit meine Knüppelgarde genug Platz zum Knüppeln hat!« Doch die Leute im besetzen Haus riefen: »Ihr kriegt uns hier nicht raus! Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus.« Der Senator war stinksauer, die CDU war schwer empört, dass die Typen sich jetzt nehmen, was ihnen sowieso gehört. Aber um der Welt zu zeigen, wie großzügig sie sind, sachten sie: »Wir räumen später, lassen sie erstmal drin!« Und vier Monate später stand in Springer's heißem Blatt, dass das Georg-von-Rauch-Haus eine Bombenwerkstatt hat. Und die deutlichen Beweise sind zehn leere Flaschen Wein und zehn leere Flaschen können schnell zehn Mollies sein. Doch die Leute im Rauch-Haus riefen: »Ihr kriegt uns hier nicht raus! Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus.« Letzten Montag traf Mensch Meier in der U-Bahn seinen Sohn. Der sagte: »Die woll'n das Rauch-Haus räumen, ich muss wohl wieder zu Hause wohnen.« »Is ja irre«, sagt Mensch Meier, »sind wa wieder einer mehr in uns'rer Zweiraum Zimmer Luxuswohnung, und das Bethanien steht wieder leer. Sag mir eins, ha'm die da oben Stroh oder Scheiße in ihrem Kopf? Die wohnen in den schärfsten Villen, unsereins im letzten Loch. Wenn die das Rauch-Haus wirklich räumen, bin ich aber mit dabei und hau den ersten Bullen, die da auftauchen, ihre Köppe ein.« Und ich schrei's laut: »Ihr kriegt uns hier nicht raus! Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus.«

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DER DOKUMENTARISCHE GESTUS Reiser gießt die Ereignisse um das Rauch-Haus in die Form eines Popsongs. Dabei verweist er direkt auf die Geschehnisse — und auf die Perspektive, die die Band dabei einnimmt. »Der Mariannenplatz« als Adresse des so genannten Rauch-Hauses markiert den Ort des Geschehens, der wenig später auch als »Bethanien« ausgewiesen und so mit einem »bürgerlichen« Namen benannt und für Nicht-Beteiligte identifizierbar gemacht wird. Seine blaue Farbe verdankt der Mariannenplatz der anwesenden Polizei — denn bis Mitte der 1970er Jahre sind die Fahrzeuge und Uniformen der Berliner Polizei blau. So wie der Ort sind auch die im Song genannten Namen Klarnamen: Schmidt, Mosch und Press sind Bauunternehmer, die das Neue Kreuzberger Zentrum am U-Bahnhof Kottbusser Tor errichteten und deren Bau- und Sanierungs-Pläne auch das Bethanien-Gelände tangierten. 3 In der zweiten Strophe nimmt der Song mit »Springers heißes Blatt« auf die Auseinandersetzungen zwischen der Springer-Presse und der linken Szene Bezug: In der zum Springer-Verlag gehörenden B.Z. etwa war am Tag nach der Razzia die durch Alliterationen dekorierte Schlagzeile zu lesen: »Bastelten BethanienBesetzer die Bomben?« (Berndt 1972). Von der literarischen StellvertreterFigur »Mensch Meier« wird in der ersten und dritten Strophe auf den Leerstand der Bethanien-Gebäude und damit auf das Interesse der Bevölkerung an dem Gebäude verwiesen: Den ursprünglich geplanten Abriss der Gebäude nach der Stilllegung hatten Bürgerinitiativen verhindert. Die Ereignisse und die Razzia im Rauch-Haus werden von Reiser verdichtet und in eine Erzählung für und über »Mensch Meier« verwandelt. Sie werden dabei nicht metaphorisiert, verfremdet oder verallgemeinert. Der 3

Bei der Aneignung des eingeplanten Geländes gingen die Verantwortlichen laut Spiegel nicht zimperlich vor: »Am Kottbusser Tor wollte Immobilien-Makler Günter Schmidt in halbkreisförmigem Bogen Gewerbe- und Wohnbauten für 80 Millionen Mark hochziehen. Doch auf dem Gelände standen noch Häuser, aus denen die Mieter nicht weichen mochten. Bauherr Schmidt sah sein ›Neues Kreuzberger Zentrum‹ in Gefahr und beschloß, die ›Entmietung‹ der Altbauten zu forcieren: Ohne Vorwarnung ließ er Türen und Fenster des noch teilbewohnten Hauses Dresdener Straße 131 herausbrechen und auf den Hof werfen. Begründung: ›Wir wollen nicht, daß sich Gastarbeiter und anderes Gesindel einnisten‹« (Anon. 1973: 38/41). »Mit der Axt brachen Abrißarbeiter den Widerstand der letzten Mieter des Hauses Dresdener Straße 131 im West-Berliner Bezirk Kreuzberg. Der Terrorangriff geschah 1971 — als die Abschreibungsgesellschaft ›Neues Kreuzberger Zentrum KG Günter Schmidt Beteiligungen GmbH & Co.‹ es nicht erwarten konnte, auf den frei gemachten Grundstücken im alten Postzustellbezirk SO 36 eine Geldgrube auszuheben« (Anon. 1977: 216). Dass sich sieben Jahre später ein Punk-Club SO 36 nennt, kann aus diesem Grund in einen Zusammenhang insbesondere mit Ton Steine Scherben und dem »Rauch-Haus-Song« gebracht werden.

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BARBARA HORNBERGER Song bleibt konkret, auch in der Musik: Das unaufwändige Arrangement vermittelt Nähe, das eher abgenutzt klingende Klavier und die SchrammelGitarre Sit-In-Feeling. Die einfache und eingängige Melodie eignet sich vor allem im Refrain bestens zum Mitsingen oder auch Mitgrölen — konsequenterweise wird der Gesang im Refrain durch einen Chor verstärkt, so dass der Hörer ein »Fast-Dabei«-Erlebnis hat. Auch Reisers Gesangstil stellt Unmittelbarkeit her: Er liegt zwischen Singen und Sprechen, ohne hochdeutsche Überformung, unter Einbeziehung von Szene-Jargon — der Unterschied zu Interviews mit Reiser liegt eigentlich nur in der Reimform und der tonalen Amplitude. Auf vielfältige Weise wird so das Hausbesetzungs-Milieu inhaltlich und musikalisch eingelöst und verewigt. Mit dem »Rauch-Haus-Song« schreibt Rio Reiser mehr als nur einen demotauglichen Song. Er stellt das Ereignis »Bethanien-Besetzung« auch nicht einfach dar, er dokumentiert es vielmehr. Dadurch verankert er Geschichte im kulturellen Gedächtnis — zunächst für die eigene Szene, dann aber auch für die gesellschaftliche Öffentlichkeit.

Willy Fünf Jahre nach dem »Rauch-Haus-Song« und 580 km südlich sitzt in München ein junger Liedermacher am Klavier und besingt das Leben und den Tod seines Freundes »Willy«. Der Song in bayrischer Mundart ist eine Trauerrede in Du-Form, der Verstorbene wird beweint, für seine Ehrlichkeit gefeiert, für seine Sturheit verdammt. Mit der Blues-Ballade lässt der Sänger Konstantin Wecker Willys Leben, besonders die letzten Stunden dieses Lebens, Revue passieren. Dabei wird das individuelle Leben des Betrauerten verflochten mit der jüngeren Geschichte der BRD. Aus Willys — und Weckers — Blickwinkel endet die politische Rebellion der 68er als Mode-Erscheinung, sind die hohen Ziele durch Mitläufer diskreditiert. Willy verzweifelt am gesellschaftlichen Stillstand, sucht das »Echte« und wird am Ende in einer echten Kneipenschlägerei von einem Rechtsradikalen erschlagen. Die große Geschichte der Revolution und ihres Versickerns wird erzählt in der Lebensgeschichte eines kleines Revoluzzers. Die Geschichte des aufrechten Weltverbesserers Willy erhält ihre exemplifizierende Kraft durch den Einsatz von Verfahren, die ebenfalls dokumentarisch genannt werden können: Zum einen wird aus der Perspektive des zurückgebliebenen Weggefährten das Leben und der Tod eines Rebellen geschildert, zum anderen der Niedergang der 68er-Bewegung. Allerdings sind die eingesetzten Mittel andere als bei Ton Steine Scherben. Ein zentra-

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DER DOKUMENTARISCHE GESTUS les Element des Songs ist der Dialekt, die Strophen sind lang und weitschweifend erzählerisch, gesprochen in nahezu unbereinigtem Bayrisch, nur die kurzen Refrainzeilen sind auch für Nicht-Mundartler zu verstehen. Dadurch stellt sich einerseits Distanz her, denn anders als bei Ton Steine Scherben ist dieser Text keineswegs leicht zugänglich. Andererseits zeigt dieser Sprachduktus den Sänger als »ehrlich« und unverstellt, macht den Song direkt und unmittelbar. Damit wird die im Text hergestellte Behauptung des »gestern« — also des »gerade erst« beglaubigt. Nicht-bayrische Zeilen sind als Zitate identifizierbar: Die Anarcho-Parole »Bürger lasst das Glotzen sein« — wird von den Zuhörern als Original-Quelle wiedererkannt. Betrachtet man eine Aufführung des Songs, so kommt diese schlicht, nur mit Klavier, und zugleich pathetisch daher. Soweit es das Instrument überhaupt zulässt, ist Wecker körperlich involviert, womit die Geschichte emotional noch mehr aufgeladen wird: Der Oberkörper schwankt, es hält ihn kaum auf dem Sitz, der Griff in die Tasten ist kraftvoll, auf dem Gesicht steht der Schweiß, die geschlossenen Augen signalisierten Innerlichkeit und Schmerz: Hier wird Arbeit geleistet. Trauerarbeit.

Der dokumentarische Gestus Konstantin Wecker transportiert die Botschaft seines Songs in seinem Auftritt auch über den Körper, genauer: über die Mimik und — soweit die Gesetze des Klavierspiels das zulassen — über die Gestik. Seine politische Haltung vermittelt sich über die körperliche Haltung. Bei Wecker wird augenfällig, was Brecht meinte, als er den Begriff des Gestus für seine theatertheoretischen Überlegungen in Anspruch nahm: Die Geste wird zum Gestus, wenn durch sie nicht nur eine Handlung vollzogen, sondern eine gesellschaftliche Haltung demonstriert wird. Der Gestus verweist in diesem Verständnis nicht mehr nur auf die Sprache, die er begleitet oder sogar substituiert, auch nicht mehr (nur) auf den ausführenden Körper4, sondern auf die »gesellschaftlichen Beziehungen [...], in denen die Menschen einer bestimmten Epoche zueinander stehen« (Brecht 1963: 163). Brecht verdeutlicht diesen Aspekt mit dem Begriff des sozialen oder gesellschaftlichen Gestus. Wesentlich ist dabei, dass der Gestus des Zeigens der Geste das Expressive nimmt und auf das Gesellschaftliche verweist. Dieses Zeigen verleiht dem Gestus-Begriff auch außerhalb des theatralen Kontexts Beschreibungskraft. Zwar leidet außerhalb dieses theatralen Rahmens die Präzision 4

»Auch Sprache oder Musik können gestischen Charakter haben und einen Gestus zur Darstellung bringen« (Kuba 2005: 134).

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BARBARA HORNBERGER des Begriffs spürbar, eine kulturwissenschaftliche Begriffsdefinition fehlt bisher ebenso wie eine stringente Anwendungstradition.5 Dennoch kann mit dem Begriff des Gestus die Qualität einer Kunst, eines Formats, eines Genres, eines einzelnen Werks oder einer Handlung beschrieben werden, die nicht Stil zu nennen ist — der den künstlerischen Ausdruck einer Epoche oder eines Künstlers meint — und nicht Handschrift — die auf die individuelle Person des Künstlers verweist — , die aber eben auch nicht an die Geste selbst, also den Körper, gebunden ist — wie bei Flusser (1993). Die wesentliche Eigenschaft, die mit dem Begriff Gestus beschrieben werden kann und soll, ist die eines Zeigens, genauer: der Demonstration. Was im Einzelnen gezeigt werden soll, muss jeweils benannt werden. In den beiden oben beschriebenen Beispielen — und den noch folgenden — bezieht sich das Zeigen auf das Dokumentarische. Allerdings, so könnte man einwenden, ist Musik kaum eine Kunstform, die sich für Dokumentation besonders eignet. Allein ihre tonal und rhythmisch-metrisch determinierte Gestalt bringt eine Form von Verfremdung und Überformung mit sich, die die Mimesis stört, zwangsläufig Brüche produziert, die aus dem Einen — dem Ereignis — stets etwas Anderes — Musik — macht. Zwar ist auch die Dokumentation in print- oder audiovisuellen Medien eine gestaltete, also neue, Form. Dort aber wird die Nähe zum Ereignis regelmäßig durch die Einarbeitung von Originalmaterial und Quellen belegt, durch eine Mischung aus Interviews, Zeitzeugen und Fotos, mit der ein nichtfiktionaler, glaubwür5

Zwar wird implizit immer auf das Zeigen oder Zur-Schau-Stellen verwiesen, davon abgesehen ist der Begriff außerhalb der Brechtschen Theorie deutlich unterdeterminiert. Häufig und keineswegs nur im Alltagsgebrauch wird er mit einem Adjektiv verwendet — romantischer Gestus, neo-barocker Gestus, illustrierender Gestus, sinfonischer Gestus — oder mit einem nachgestellten Genitiv — Gestus der Trauer, Gestus der Revolte, Gestus der Freiheit — , ohne dass der Begriff des Gestus selbst dabei geklärt wäre. Gerade im Zusammenhang mit Musik und Film wird er regelmäßig benutzt, doch selbst dann, wenn er explizit, z. B. im Titel, eingeführt wird, findet eine Begriffsklärung kaum oder gar nicht statt (vgl. z. B. Berg 1987 oder Jacob 2009). Wenn überhaupt zum Begriff erklärend Stellung bezogen wird, dann erfolgt die Herleitung und Legitimation meist mehr (Burde 1980) oder weniger (Koch 2010) deutlich über Brecht. Burde stellt dabei immerhin die Frage, wie das Soziale in die Musik kommt: »Fragwürdig bleibt dennoch, wie die musikalische Gestik zur Konkretion einer gesellschaftlichen Haltung gerinnen kann, zum Gestus zu werden vermag« (Burde 1980: 531). In seinen daran anschließenden Analysebeispielen ist es das Miteinander von Musik und Text, das eine gesellschaftliche Gesamthaltung erkennen lässt. Da ein rein musikalisches Beispiel fehlt, liegt hier die Vermutung nahe, dass erstens die Musik dem Text folgt und zweitens der Text den Gestus-Charakter im Brechtschen Sinne besitzt und nicht die Musik. Die Begriffe Geste, Gestik und Gestus werden überdies bei Koch wie auch bei anderen häufig synonym gebraucht. Eine allgemeine kulturwissenschaftlichphilosophische Klärung des Begriffs steht offenbar noch aus.

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DER DOKUMENTARISCHE GESTUS diger Blick auf die Realität hergestellt wird. Musik dagegen bleibt auch dort, wo sie sich mehr oder weniger auf reale Ereignisse bezieht, in erster Linie Musik und wird nicht etwa zum journalistisch aufbereiteten Bericht. Mit Musik wird demzufolge Dokumentation als Verfahren vor allem dort in Verbindung gebracht, wo Musik bzw. das Musizieren dargestellt wird — DVDs von Rockkonzerten, Festival-Filme, Backstage-Aufnahmen, Making-Ofs zeigen uns, was passiert, wenn Musik gemacht wird. Die Musik dokumentiert hier sich selbst und wird nicht zur Dokumentation von etwas anderem. Im »Rauch-Haus-Song« und Weckers »Willy« aber wird erkennbar etwas Außermusikalisches dokumentiert. Während der »Rauch-Haus-Song« den Aufbruch der Hausbesetzerszene markiert, ist Weckers »Willy« bereits ein Abgesang auf die 68er-Bewegung, die Ende der 1970er Jahre weitgehend zersplittert und zerstritten ist. Beide Songs beziehen sich auf die linke Revolte — und natürlich macht dies sie auf gewisse Weise zu Dokumenten — so wie jedes kulturelle Erzeugnis immer auch Dokument seiner Zeit ist. Um diese banale Erkenntnis geht es mir aber nicht, wenn ich im Zusammenhang mit diesen Songs von einem dokumentarischen Gestus spreche. Mit dem Begriff des Gestus wird gerade deutlich gemacht, dass es sich nicht um den zwangsläufigen zeithistorischen Gehalt eines Artefakts handelt, sondern um eine bewusste formalästhetische Strategie, nicht um Authentizität, sondern um Darstellung. Das Dokumentarische ist hier kein Ausweis von echtem »SoSein«, es ist auch keine Zuschreibung der Rezeption, sondern es werden absichtlich Mittel eingesetzt, die dokumentarisch wirken — auch dort, wo im fiktionalen Kontext gar nichts wirklich dokumentiert wird. Der dokumentarische Gestus erfasst den intentionalen Einsatz ästhetischer Mittel und Formen, die wir als dokumentarisch identifizieren: Zeitungsausschnitte zum Beispiel, das Zitat, das als Quelle deutlich ausgewiesen wird, öffentliche Dokumente, der Bezug zur Realität, der durch Daten, Ortsnennungen und Klarnamen hergestellt wird. Es geht um den Einsatz jener Ästhetik, mit der in den Dokumentationen die »Echtheit« des Materials beglaubigt und damit die Wahrhaftigkeit der getroffenen Aussage belegt wird. Dieser Gestus ist im »Rauch-Haus-Song« und in »Willy« nachweisbar. Die Verweise auf Realität sind klar und unverkennbar, die Texte arbeiten mit Zitaten und Klarnamen und die Präsentationsformen zeigen — auf unterschiedliche Art, nämlich durch die biografische Involviertheit der Band Ton Steine Scherben in die erzählte Geschichte und durch die mit dem Bayrischen und der emotionalen Vortragsweise zusätzlich beglaubigte IchErzählung bei Wecker — die Künstler als Zeugen der dokumentierten Ereignisse. Damit bleiben allerdings beide Songs nah an den Authentifizierungsstrategien, die mit dokumentarischen Verfahren häufig verknüpft werden

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BARBARA HORNBERGER und speziell in diesen politisch aufgeladenen Songs zur Beglaubigung wesentlich sind.

Maschinenland Von derartiger Leidenschaft und persönlicher Involviertheit scheint der Song »Maschinenland« von der Hamburger NDW-Band Abwärts (1980) weit entfernt zu sein. Der Song feiert nichts, fordert nichts und betrauert nichts, er kennt keine Subjekte und keine Position. Dennoch dokumentiert der Song etwas und zwar nüchtern und leidenschaftslos wie eine Kamera. Damit entspricht er einer Idee des Punk, nämlich der Forderung nach einem unmittelbaren Ausdruck der eigenen Welterfahrung. Der Transfer dieser Idee führt Anfang der 1980er Jahre in Deutschland nicht nur zu einem Boom deutscher Texte, sondern ist verbunden mit dem Anspruch, Realität abzubilden. Es geht in den NDW-Songs dieser Phase nicht um utopische Weltentwürfe, um Traumbilder oder Fantasiewelten, es geht auch selten um Liebe oder Schmerz. Sie suchen stattdessen einen neuen, ungeschminkten Zugriff auf die Gegenwart. Abwärts: »Maschinenland« (1980) linke seite supermarkt rechte seite abenteuerspielplatz in der mitte autobahn lalalala maschinenland maschinenland wann bist du denn wohl abgebrannt Der Text des Songs ist extrem reduziert: Er ist nur sechs Zeilen lang. Er kommt ohne Strophen oder Refrain aus, ohne durchlaufendes Metrum, ohne Verse und fast ohne Reim. Bis auf die letzte Zeile hat der Song weder Verben noch Adjektive. Die Zeilen wirken darum wie Parolen oder Schlagzeilen. Bei aller Knappheit besitzt der Song eine neutral-beschreibende Qualität. Mit den ersten drei Zeilen wird eine unwirtliche, menschenfeindliche Umwelt skizziert. Die nüchterne Sachlichkeit des Textes entspricht dabei völlig dem Charakter der beschriebenen Umgebung. Supermarkt, Abenteuerspielplatz, Autobahn — mehr gibt es zu diesem Ort nicht zu sagen. Und gerade weil die Beschreibung so unspezifisch ist, hat sie einen hohen Wiedererkennungswert: Solche Orte urbaner Ödnis müssen nicht detailliert beschrieben werden, die kennt ohnehin nahezu jeder.

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DER DOKUMENTARISCHE GESTUS Der Charakter des Songs ist geprägt durch seinen besonderen Sound: eine Mischung aus Standard-Instrumentarium und Geräuschen, die sowohl als Effekt als auch rhythmisch-instrumental eingesetzt werden. Eine anlaufende Bohrmaschine, eine Säge, eine Flex, etwas Rasselndes — eine ganze Kaskade von Handwerksgeräuschen, eine regelrechte Lärmkulisse wird eingesetzt, um das »Maschinenland« zu illustrieren. Damit wird der Titel des Songs von Beginn an lautmalerisch umgesetzt. Darunter liegt ein gleichlaufender, durchgehender Beat. Dieser gleichmäßig durchlaufende Rhythmus produziert eine Atmosphäre maschineller Monotonie, die den GeräuschEinsatz noch verstärkt. Der dokumentarische Gestus reicht hier bis ins Soundmaterial: Mit den Geräuschen wird die im Text entworfene Skizze angereichert. Das Maschinenland wird musikalisch illustriert. Sogar das »lalala«, eigentlich eine Zeile, die Fröhlichkeit und Unbeschwertheit signalisiert, wird monoton, beinahe roboterhaft vorgetragen. So wird das Kindliche, das auch im Zitat der letzten Zeile steckt (»Maikäfer, flieg«), konsequent unterlaufen und damit die Lebensfeindlichkeit dieser Umgebung, die gerade — Abenteuerspielplatz hin oder her — nicht kindgerecht ist, noch hervorgehoben. Die enge Verbindung von Musik und Text schafft eine hohe Verdichtung. Der Anspruch, Wirklichkeit zu formulieren, wird hier dokumentarisch erfüllt: Keine Ich-Perspektive relativiert die Beschreibung; im telegrammartigen Headline-Stil wird nur das Sichtbare aufgezählt. Der Verweis auf das Kinderlied bricht dies nicht auf, sondern verstärkt den Eindruck: Aus dieser Ödnis gibt es keinen Ausweg. Mit Songs wie »Maschinenland« findet die NDW eine Form des dokumentarischen Gestus, die nicht in erster Linie auf den Gehalt der Erzählung rekurriert, sondern in der Formensprache selbst verankert ist. Hier wird besonders deutlich, dass es nicht um Authentifizierung, nicht um Beglaubigung geht, sondern dass der Gestus selbst zum zentralen Prinzip wird, zum künstlerischen Verfahren, das sich scheinbar ideologie- und milieufrei nur dem Abbilden widmet. Diese Strategie ist zumindest teilweise auch in NDW-Songs wie »Rank Xerox« (Hans-A-Plast, 1979) oder »Der lange Weg nach Derendorf« (Mittagspause, 1979) erkennbar, die mit dem direkten Aufgreifen der historischen Ereignisse der 1970er Jahre inhaltlich eine größere inhaltliche Verwandtschaft zum »Rauch-Haus-Song« haben, aber eine viel stärkere Form der Verrätselung betreiben und damit die breite Identifizierung erschweren: Die Zeile »Ein Kreuz für jeden, den's erwischt« (»Rank Xerox«) muss vom Hörer auf die kopierten Fahndungsplakate erst einmal bezogen werden; das Wissen um die Erschießung Willy Peter Stolls im Düsseldorfer Stadtteil Derendorf ist das Spezialwissen einer politisch engagierten Szene.

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Intertextuelle Spurensuche Bei aller Transformation, die in den ästhetischen Bedingungen der Form »Popsong« steckt, bleibt in den drei hier vorgestellten Songs der dokumentarische Gestus gebunden an einen Verweis auf Realität. Diese spezifische inhaltliche und ästhetische Art von Bezugnahme ist in der Epoche der 1970er Jahren in zahlreichen Artefakten zu finden, und zwar insbesondere dort, wo es sich um fiktionale Erzählungen handelt. Es ist sicher nicht weiter erstaunlich, dass ein Buch wie Christiane F. — Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1978) sich selbst durch Zeitzeugenberichte und Fotos und ein journalistisches Editorial als narrativ überformte Reportage zu erkennen gibt — das Buch ist aus einer Reportage entstanden und zeigt auch aus Gründen der Glaubwürdigkeit die formensprachlichen Spuren dieser Entstehungsgeschichte. Der daraus entstandene Film hingegen zeigt sich eher als durcherzählter Spielfilm, bei dem das Wissen um die dokumentarische Form der Vorlage den Realitätsbezug ebenso herstellt wie der Einsatz von Laiendarstellern. Überraschender ist die Art und Weise, wie Milos Forman in seinem Film Hair den Realitätsbezug herstellt. Zwar greift das Musical die Hippiebewegung der späten 1960er Jahre auf und zeigt sich damit klar auf Zeitgeschichte bezogen — doch weder das Bühnengenre Musical noch der Musicalfilm werden gemeinhin mit naturalistischen und realistischen Erzählungen assoziiert. Das in den Szenen (und Szenerien) entstehende Singen und Tanzen bedeutet stets eine starke Verfremdung, eine Künstlichkeit, die von jeder Form dokumentarischer oder realitätsnaher Darstellung weit entfernt scheint. Formans Film, der aus der Perspektive von 1979 nicht nur Abbildung, sondern auch Rückschau auf diese Bewegung ist, lässt seinen Film mit einem dokumentarischen Bild enden: Die große Demonstration, die in bewegten und bunten Bildern die bewegten und bunten Demonstranten zeigt, gefriert in einem zeitungsähnlichen Schwarz-Weiß-Bild, wie man es von den Pressefotos der Zeit kennt. Die durchaus desillusionierte Sicht, die der Film auf die Bewegung wirft, wird so im Nachhinein beglaubigt, und die gerade durch die Künstlichkeit des Musicals deutlich als fiktionale Erzählung ausgewiesene Handlung wird durch das Schlussbild wieder an die historische Realität zurückgebunden. Weil aber das dokumentarische Schlussbild quasi ›natürlich‹ am Ende des Kamerazooms steht, wird hier nicht nur die Fiktion mit der Realität gedeckt, sondern zugleich auch auf die Narrativität von Geschichte verwiesen. Nicht nur an die zeitgeschichtliche, sondern auch an die biografische Realität des Autors eng angebunden ist Heinrich Bölls Erzählung Die ver-

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DER DOKUMENTARISCHE GESTUS lorene Ehre der Katharina Blum (1974). Das Buch, das die mediale Verfolgung einer unter Terrorismusverdacht geratenden jungen Frau schildert, reflektiert zum einen das angespannte gesellschaftliche und politische Klima der RAF-Jahre. Zum anderen ist es, wie Böll selbst schreibt, eine ganz persönliche Replik, nämlich eine Reaktion auf die Angriffe, die Böll nach seinem Spiegel-Artikel »Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?« (1972) erfuhr, in dem er der »Bild«-Zeitung Vorverurteilung und unfaire Berichterstattung vorwirft. In konservativen Kreisen gilt er nun an als Sympathisant, gerät selbst in die Mühlen medialer Kritik. Der Roman ist also auch zu lesen als eine persönliche Stellungnahme. Er sei »ein Pamphlet« gewesen, schreibt Böll zehn Jahr später (1984), »eine Streitschrift«. Das Ziel des dokumentarischen Gestus ist, das zeigt sich an diesen Beispielen, weniger der Verweis auf Realität als die Behauptung von Realismus. Mit ihm wird nicht nur Bezug auf Realität genommen — wie es fast jedes kulturelle Artefakt tut — , er ist auch nicht einfach Darstellung oder Abbildung von Realität bzw. Kritik an ihr. Der dokumentarische Gestus ist ein formensprachliches Verfahren, das different zu diesen kulturellen Bezugnahmen ist. Er macht aus dem Verweis auf etwas Anderes, nämlich auf das real sich Ereignende, etwas Eigenes, nämlich ein spezifisches ästhetisches Element eines Artefakts. Er zeigt damit eine Differenzqualität in Bezug auf die Realität, einen spezifischen Wirklichkeitscharakter. Darum greift dieses ästhetische Verfahren auch dort, wo der Verweis auf Realität nur noch als formal zu bezeichnen ist, wie etwa, um ein scheinbar fern liegendes Beispiel zu nennen, in den diversen »Reportagen« des Softsexfilms der 1970er Jahre. Der erste Schulmädchenreport, Blaupause für unzählige weitere Schulmädchen-, Krankenschwestern- und Hausfrauenreporte, fußt zwar tatsächlich auf einem 1970 erschienenen Interviewband von Günther Hunold. Doch dieser dient nur als erste Inspiration. Die Filme zeigen keine soziologische Studie zur pubertären Sexualentwicklung, sondern als realistisch behauptete erotische Spielhandlungen und greifen zur Beglaubigung dieses Realismus besonders in den ersten Jahren vielfältig auf klassische film- und fernsehdokumentarische Mittel zurück: Der Moderator Friedrich von Thun macht Straßeninterviews und begrüßt die Kino-Zuschauer aus einem Studio, die Spielszenen werden durch Off-Kommentare unterbrochen und eingeordnet, der Ton in den Moderationen wie in den Off-Texten ist wissenschaftlich-aufklärend. Darin werden die »natürlichen« Handlungen der Teenager gegen die falschen und antiquierten Moralvorstellungen der Eltern verteidigt. Dokumentarische und fiktionale Sequenzen sind miteinander verzahnt und vermischt, das Dokumentarische beglaubigt die Spielszene, die wiederum die (vermeintlichen) Fakten illustriert — ein Verfahren, wie es bis

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BARBARA HORNBERGER heute in zahlreichen Geschichts-Dokumentationen, insbesondere den ZDFHistory-Sendungen regelmäßig eingesetzt wird. Die bisher genannten Beispiele sind geprägt durch vermeintliche oder echte Bezüge zur Realität. Dokumentarische Mittel lassen sich aber auch finden in einer TV-Serie, die zunächst einmal als ganz und gar fiktionale Narration daherkommt: Der Vorspann der 1970er Jahre Kult-Serie Die Zwei erzählt den bisherigen Lebenslauf der Hauptfiguren Danny Wilde und Brett Sinclair in einer Splitscreen-Collage mit Fotos, Zeitungsausschnitten und vermeintlich »echten« Dokumenten wie den Pässen. Der Zuschauer sieht schon im Vorspann die Vita der Protagonisten, die sie beide als echte Erfolgstypen zeichnet und zugleich mit den gegensätzlichen Lebensgeschichten (britischer alter Adel vs. amerikanischer Selfmade-Öl-Millionär) ausstattet, die zentral für die Serienerzählung sind. Dass im späteren Verlauf des Vorspanns nicht mehr die Namen »Wilde« und »Sinclair«, sondern Curtis und Moore auftauchen, ist nicht nur dem Starstatus der Schauspieler geschuldet, sondern verweist — wie die Serie insgesamt6 — medienreflexiv auf die eigene Gemachtheit, dokumentiert gerade die Fiktionalität. Hier liefert der dokumentarische Gestus also keine inhaltlichen Bezugnahmen zur Realität, sondern stützt im Vorspann zunächst die Illusion der Erzählung — die erst später, eingebunden in die Spielhandlung, von den Figuren unterlaufen wird.

Fazit Der Bezug zum Gesellschaftlichen, den Brecht mit seinem Gestus-Begriff stark macht, ist bei den hier gezeigten Beispielen unterschiedlich deutlich: Bei Ton Steine Scherben, Christiane F. oder Hair wird direkt auf geschichtliche Ereignisse verwiesen, die mit dem Artefakt wiederum selbst neu diskursiviert werden. Bei Konstantin Wecker oder dem Schulmädchenreport wird dagegen das »Als-ob« bzw. die Frage nach dem Echtheitsgehalt der Erzählung mit dem Gestus des Dokumentarischen als quasi-real beantwortet, während im Fall von Die Zwei das Dokumentarische als ästhetische, narrative Strategie auftaucht, die nur insoweit auf soziale Realität verweist, als diese Art von Zeitungsbildern bekannt ist — wobei das Leben derer, über die in den zu den Bildern gehörenden Artikeln berichtet wird, selbst wieder 6

Die Serie spielt häufig mit einem Durchbrechen der so genannten »vierten Wand« — es wird etwa auf das Vorhandensein von Zuschauern und auf Quoten rekurriert, ironisch mit Genrekonventionen gespielt oder die Rollenbiografie und das private Leben der Stars thematisiert. Dies gilt in besonderem Maße für die deutsch synchronisierte Version — aber mit Abstrichen auch für die Originalfassung.

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DER DOKUMENTARISCHE GESTUS als eine Art von Erzählung erscheint. Insofern verweist der dokumentarische Gestus selbst hier nicht mehr direkt, sondern mittelbar auf das Gesellschaftliche: als »kritische Demonstration der Geste«, als »Einschreibung dieser Geste, welcher Zeit sie auch angehören mag, in einen Text, dessen sozialer Hintergrund sichtbar ist« (Barthes 1990: 100). Der dokumentarische Gestus bringt so gerade das Fiktionale und das Nicht-Fiktionale zusammen, indem er Fiktionales und Dokumentarisches in ein oszillierendes Verhältnis zueinander setzt. Damit wird die Erzählung des Artefakts beglaubigt und andererseits die Geschichte als erzählbare und erzählte kenntlich gemacht. Mit dem dokumentarischen Gestus ist ein Verfahren beschrieben, das in den Artefakten der Epoche mit einer gewissen Häufigkeit zu finden ist. Es lassen sich auch aus der Kunst und der Literatur noch weitere Beispiele anführen, etwa der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann, der — dem Song »Maschinenland« durchaus verwandt — eine Perspektive wie durch eine Kamera einnimmt, Texte aus Aufzählungen montiert, Collagen und Materialbände veröffentlicht. Oder die Performance Art, wenn etwa die Künstler Verletzungen nicht mehr malen, zeichnen oder filmisch behaupten, sondern sich live — real — zufügen. Die Funktionen des dokumentarischen Gestus sind dabei durchaus unterschiedlich. In den meisten Fällen besitzt er eine mehr oder weniger ausgeprägt Beglaubigungsfunktion: Das Dokumentarische zeigt sich dabei nicht als Authentizität, sondern als Darstellungsstrategie, die mit bestimmten ästhetischen Mitteln auf das Prinzip der Dokumentation und auf die Qualität des Dokuments verweist und so Glaubwürdigkeit herstellt. Hier greift der spezifische Wirklichkeitscharakter, den der dokumentarische Gestus herstellt: Das Dokument ist immer als etwas Wichtiges erkennbar, und es bleibt sogar dann als Dokument existent, wenn es gefaked ist. Hierin liegt der Unterschied zu anderen Beglaubigungsstrategien, die sich nicht auf etwas Drittes berufen können, um Überzeugungskraft zu gewinnen. Mit der buchstäblichen oder auch nur ästhetischen Berufung auf ein Dokument als etwas Drittem, Externem wird das Erzählte als wahr und/oder unmittelbar ausgewiesen, ohne wahr sein zu müssen. Dabei kann — muss aber nicht — der Anschein von Neutralität hergestellt werden. Die scheinbare Objektivität kann sogar — wie im Fall von »Maschinenland« oder Rolf-Dieter Brinkmann — gerade das Transportmittel für eine höchst subjektive Perspektive sein. Bei Weckers »Willy« wiederum beglaubigt der dokumentarische Gestus nicht nur die Erzählung, sondern auch die persönliche Nähe des Liedermachers zum Ereignis und ermöglicht damit auf andere Art die subjektive Teilhabe. Außerdem kann das Dokumentarische konkrete Realitätserfahrungen abbilden wie bei Bölls Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder bei Ton Steine Scherben, die ein historisches Ereignis zum

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BARBARA HORNBERGER Song machen und sich selbst dadurch zum historischen Ereignis. In beiden Fällen kommen zur Abbildungsfunktion zwei weitere Momente hinzu: Das erste ist Selbstvergewisserung — mit der Veröffentlichung der eigenen Sicht auf die Dinge wird diese Sicht auch fixiert und in den Diskurs um Bedeutung eingebracht. Die Razzia im Rauch-Haus wird nicht nur einfach aufgeschrieben, sondern zu einem wesentlichen Teil der eigenen Milieugeschichte und damit in ihrer ideologischen Einordnung verstetigt. Das zweite ist je nach Blickwinkel ein Moment der Aufklärung oder der Instrumentalisierung — dieser Effekt ist aus dem Bereich des Dokumentarfilms bekannt. Die Auswahl der hier vorgestellten Gegenstände, die durch unterschiedliche Künste, Genres und ideologische Verortungen zunächst unorganisiert, wenn nicht sogar beliebig zu sein scheint,7 erweist sich methodisch als Möglichkeit, diese Facette der Kultur der 1970er Jahre zu extrahieren. Wenn Kultur als »Ensemble von Texten, die ihrerseits wieder Ensembles sind« (Geertz 1983: 259) bzw. als ein Gewebe von Diskursfäden begriffen wird, dann ist die Auswahl nicht nur zu rechtfertigen, sondern notwendig (vgl. auch Baßler 1995). Erst eine Auswahl ermöglicht die Sicht auf die Schnittbilder der Kultur, in denen die intertextuellen Bezüge, die formalen Gemeinsamkeiten (und Unterschiede) sichtbar werden. Zugleich ermöglicht eine einmal gefundene Spur wie die des Dokumentarischen das gezielte Suchen verwandter Texte und kann, wenn diese zu finden sind, die Auswahl und Ordnung ästhetisch begründen, die nötig sind, um Kultur und Geschichte überhaupt beschreibbar zu machen. Fragt man, warum nun gerade der dokumentarische Gestus in den 1970er Jahren so häufig und in so unterschiedlichen Artefakten auftaucht,8 spielen seine Beglaubigungs-, Abbildungs- und Vergewisserungsfunktionen eine wichtige Rolle, denn sie bilden Diskursfäden, die die einzelnen Artefakte miteinander und mit der Epoche, aus der sie stammen, verbinden. Weil der dokumentarische Gestus als eine Geste der Beglaubigung, aber auch ein Moment des Festhaltens und der Versicherung begriffen werden kann, verweist er und verweisen durch ihn die jeweiligen Artefakte nicht mehr nur implizit auf den historischen und sozialen Kontext — wie es in einer Auffassung von Kultur als Gewebe von Diskursfäden alle Texte tun — , sondern er tut dies prinzipiell und explizit. Der »untrennbare« Zusammenhang von historischen und formalen Belangen, 7

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Dem Einwand des Beliebigen ist mit Geertz (1983) zu begegnen. Nach ihm »kann man mit der Lektüre des Formenrepertoires einer Kultur überall beginnen und an beliebiger Stelle aufhören« (ebd.: 259). »Warum finden Leser zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort dieses Werk wohl überzeugend?« (Greenblatt 1995: 50) — bei den hier versammelten Gegenständen handelt es sich um zumindest in ihrem Segment erfolgreiche und/oder bedeutende Artefakte der Epoche.

150

DER DOKUMENTARISCHE GESTUS vom dem die Kulturpoetik ausgeht (Montrose 1995: 64f.), wird hier geradezu gegenständlich sichtbar. Das kulturelle historische Umfeld, in dem dieser dokumentarische Gestus eingesetzt und wirksam wird, ist eines des Umbruchs. Die 1970er Jahre können als transitorische Epoche beschrieben werden: Von der Wiederaufbau- und Wachstumsgesellschaft zu Rebellion und von Resopal-Tischen zur RAF, von der Moderne zur Postmoderne. Das Festhalten und Fixieren, Vergewissern und Beglaubigen im dokumentarischen Gestus kann dann begriffen werden als eine ästhetische Referenz auf eine Zeit fundamentaler Umbrüche.

Literatur Anon. (1973). »Berlin-Förderung. So exzessiv und schamlos.« In: Der Spiegel, Nr. 22, S. 38-44; online unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41986676.html (Stand vom 23.7.2012). Anon. (1977). »SOS für SO 36.« In: Der Spiegel, Nr. 13, S. 216-223; online unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40941796.html (Stand vom 30.1.2012). Barthes, Roland (1990). »Diderot, Brecht, Eisenstein.« In: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 94-102. Berg, Jan (1987). »›Der Beute-Gestus‹. Dokumentarische Exotik im Film.« In: Die andere Welt. Studien zum Exotismus. Hg. v. Thomas Koeber und Gerhart Pickerodt. Frankfurt: Athenäum, S. 345-362. Berndt, Klaus (1972). »Bastelten Bethanien-Besetzer die Bomben?« In: B.Z. vom 20. April, S. 4. Böll, Heinrich (1972). »Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?« in: Der Spiegel, Nr. 3, S. 54-57; online unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43019376.html (Stand vom 30.1.2012). Böll, Heinrich (1974). Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Böll, Heinrich (1984). »10 Jahre später. Nachwort zur Neuausgabe.« In: Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Brecht, Bertolt (1963). »Neue Technik der Schauspielkunst.« In: Ders., Schriften zum Theater 3. 1933-1947. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 151-217. Burde, Wolfgang (1980). »Gestus. Aspekte eines musiksoziologischen Begriffs.« In: Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftliche Kongress Berlin 1974. Gesellschaft für Musikforschung. Hg. v. Hellmut Kühn und Peter Nitsche. Kassel: Bärenreiter, S. 530-532. Christiane F. (1978). Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Nach Tonbandprotokollen aufgeschrieben von Kai Hermann und Horst Rieck. Mit einem Vorwort von Horst Eberhard Richter. Hamburg: Gruner & Jahr. Flusser, Vilém (1993). Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Bensheim: Bollmann. Geertz, Clifford (1983). »›Deep Play‹. Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf.« In: Ders., Dichte Beschreibung. Beträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 202-260. Greenblatt, Stephen (1995). »Kultur.« In: New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Hg. v. Moritz Baßler. Frankfurt/M.: Fischer, S. 48-59.

151

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Filmographie Christiane F. — Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1981). Regie: Uli Edel. Die Zwei / The Persuaders (1970/1971). TV-Serie in 24 Folgen. BRD / GB. Hair (1979). Regie: Milos Forman. Schulmädchenreport (1970). Regie: Ernst Hofbauer.

Abstract This essay is based on the observation that in the 1970s an aesthetic strategy can be found in popular music, as well as in other areas of popular culture, called here ›documentary gestus‹. This gestus is both artistic documentation of real events and artistic orientation alongside reality. It functions as confirmation, (re)presentation, enlightenment and self-assurance, as well as authentication. It can be seen as a reaction to the so-called ›transitory‹ character of this era. The paper showcases the documentary gestus by means of individual examples from music, film and literature of the 1970s. It, thereby, introduces a specific strategy of (re)presentation of that time that not merely reproduces reality, but rather makes this very reproduction into some kind of reality itself.

152

FACETTEN

DER

JOSEPHINE BAKER

Christa Bruckner-Haring und Ildikó Keikutt-Licht »Sie ist die echteste. In ihr ist das Negertum am reinsten. Sie gibt den Rhythmus. Kommt aus dem Blute. Aus dem Urwald.« So schreibt die Berliner Börsen-Zeitung am 7. Januar 1926 über Josephine Baker als den Star der Show La Revue nègre. Baker eroberte während ihres kurzen Gastspiels im Nelson Theater Berlin in ebensolchem Sturm wie sie auch Paris überwältigt hatte. Sie war die wilde Urwaldschönheit, die schwarze Venus, schlechthin die Verkörperung kolonialer Exotik-Phantasien. Diese entzündeten sich lodernd an den aus Amerika importierten, Mitte der 1920er Jahre auf den Bühnen von Paris populär gemachten Revues nègres, obgleich die Faszination des Exotischen, das Begehren des Fremden nicht neu war. Die bildende Kunst, die Literatur, das Theater und der klassische Bühnentanz entwickelten bereits seit der Jahrhundertwende ihr Interesse am Primitiven als Inspirationsquelle. Davon zeugen Picassos Les Demoiselles d'Avignon aus dem Jahr 1907, genauso wie Diaghilevs Ballets Russes, mit denen er Choreographien wie Cléopâtre (1909) und Shéhérazade (1910) in exotischen Settings schuf. Baker hatte ihre Reise nach Paris angetreten als eine Reise mit ungewissem Ausgang, was den Erfolg der Show und ihrer eigenen Karriere anging. Sie war in den USA im Musical Shuffle Along von Eubie Blake und Noble Sissle als »comedy chorus girl« aufgefallen und hatte sich damit für weitere Engagements empfohlen. Ein »comedy chorus girl« war üblicherweise das Mädchen am Ende der Reihe von Tänzerinnen, das zunächst durch seine Unbeholfenheit das Publikum zum Lachen brachte und schließlich alle anderen Tänzerinnen überflügelte. Beide Qualitäten legten den Grundstein für Bakers weitere Laufbahn: Groteske, parodistische Züge kombinierten sich in ihren Auftritten mit einer besonderen tänzerischen Begabung. Beides alleine hätte jedoch nicht gereicht, um die Ikone zu schaffen, zu der sie — beginnend mit ihrem ersten Erscheinen im Théâtre des Champs-Élysée — aufstieg. Bakers enorme Popularität mit ihrer publikumswirksamen Inszenierung als nackte, exotische Schönheit zu erklären, scheint naheliegend, wird dem

153

CHRISTA BRUCKNER-HARING UND ILDIKÓ KEIKUTT-LICHT Phänomen Baker, das seine Faszination durch jegliche Gesellschaftsschichten hindurch entfalten konnte, jedoch auch nur auf den ersten Blick gerecht. Die Figur der Baker hat mehr zu bieten: Sie ist facettenreich. Wie aber war ein solcher Facettenreichtum bei einem so scheinbar plakativschlichten Image möglich? Entscheidend für ihren Erfolg war die erste Phase ihrer Karriere von 1925 bis 1935, in der sie ihr grundlegendes Image schuf, das im Folgenden mit dem Fokus auf den verschiedenen Facetten der Ausdrucksweisen »Tanz« und »Gesang« beleuchtet werden soll.

Die »Ur-Baker« Dreh- und Angelpunkt des Bildes der »Ur-Baker« ist der von ihr in der Revue nègre erstmals aufgeführte »danse de sauvage«, der »Tanz der Wilden«. Ihr Auftritt im Bananenrock auf der Bühne der Folies Bergère stellte das entscheidende Moment für ihre Popularität dar und zeichnete ein Bild, mit dem sie für immer verbunden blieb. Die Kostümierung aus Plüschbananen und ihre Nacktheit waren entscheidende Details der »Ur-Baker«. Die rhythmischen, isolierten Bewegungen ihres scheinbar knochenlosen Körpers, gepaart mit grotesken Posen, bedienten die stereotype, sexualisierte Phantasie der erotischen Urwaldschönheit. Die Figur mit Namen Fatou, die Bakers »danse de sauvage« zugrunde liegt, entstammte Pierre Lotis Roman Le Roman d'un spahi (1881). Sie belegt die Stereotypien speisende Rückbindung der dunkelhäutigen Frau an den Kontinent Afrika, indem sie »allein über die Hautfarbe, die sich bis in die seelischen Tiefen des ›coeur noir‹ fortsetzt, [...] unwiederbringlich und unauslöschbar an ihre afrikanische Heimaterde gebunden« (Hölz 2002: 178) ist. Die Inszenierung der »Ur-Baker« fußt damit auf der Perspektive des kolonialen Blicks und der damit einhergehenden Ambivalenz zwischen Beherrschen und Begehren, getragen durch den Glauben des weißen Europas an die eigene technische wie moralische Überlegenheit und demgegenüber die Sehnsucht nach Ursprünglichkeit. Monika Ehlers, Eva Lezzi und Sandra Schramm heben in Bezug auf das »colonial desire« die Geschlechterrollen hervor, indem sie formulieren: »Die im Hinblick auf die Kolonien verhandelten sexuellen und rassischen Stereotypen sind verbunden mit dem Versuch einer klaren Zuordnung von Geschlechterpositionen. So wird […] die fremde Kultur häufig mit Weiblichkeit und schrankenloser Sexualität assoziiert, die eigene hingegen mit Männlichkeit und überlegener Rationalität« (Ehlers/Lezzi 2003: 2).

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FACETTEN DER JOSEPHINE BAKER Die Frau als sexualisiertes Objekt. Baker als das Objekt der Begierde. Eine performativ von außen zugeschriebene Rolle, wie der von Judith Butler in ihren Gender Studies entwickelte Performativitätsbegriff belegt. Butler geht davon aus, dass Subjekten ihr Verhalten und Sein nicht eingeschrieben ist, sondern dieses erst durch diskursives Auferlegen bestimmt wird: »Acts, gestures and desire produce the effect of an internalized core or substance, but produce this on the surface of the body […]. Such acts, gestures, enactments, generally construed, are performative in the sense that the essence or identity that they otherwise purport to express are fabrications manufactured and sustained through corporeal signs and other discursive means« (Butler 1990: 136).

Der Bananenrock Das Aufzeigen stereotyper Exotik-Phantasien kann jedoch lediglich ein Ausgangspunkt sein. Wie nun ging Baker mit diesen Stereotypen um? Anhand des »banana dance« lassen sich zwei wesentliche Merkmale in den Blick nehmen: ihre Kostümierung und ihr Tanzen. Fällt der Blick zunächst auf ihre Kostümierung, stellt sich eine Frage, mit der sich auch Anne Anlin Cheng in ihrem Buch Second Skin intensiv auseinandersetzt: ob Baker letztlich als angezogen oder ausgezogen, als nackt oder kostümiert zu beschreiben ist. Stellt man ihre Nacktheit in den Kontext der Inszenierung von Blöße in den 1920er Jahren, entpuppt sich diese als ein Oberflächenphänomen, als eine entsubjektivierte Hülle. So sind die Revuetheater ein Ort der ZurSchau-Stellung der Frau und ihrer Nacktheit und Spiegel einer Zeit, die, in den Worten des Literaten und Zeitzeugen Felix Salten (1924: 3), »den Frauenkörper ohne Verschleierung als öffentliches Schaustück« annimmt. Die nackte Haut ist die Oberfläche, die plakativ-sexualisiert geschlechtliche wie Rassen-Differenzen darbietet. Baker ziert sich als Hülle mit der Nichtigkeit eines Obst-Röckchens, das als ungewöhnliches Accessoire besticht. Durch die Vielzahl von möglichen Perspektiven der Deutung und Betrachtung dieser Kostümierung eröffnet sich ein Verwirrspiel, bei dem die Rollenverteilung von Betrachter und zu betrachtendem Objekt durchkreuzt wird. Nur einige dieser Deutungen seien mit den folgenden, von Cheng pointiert herausgearbeiteten Fragen umrissen: Sind die Bananen an Bakers Hüfte eine phallische oder Rassen bezogene Anspielung? Bezieht sich das Begehren des Publikums auf die Bananen oder den Körper, den sie »bedecken«? Ist die Banane auf koloniale Ökonomie zu

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CHRISTA BRUCKNER-HARING UND ILDIKÓ KEIKUTT-LICHT beziehen? Geht es um Männlichkeit oder Weiblichkeit? (vgl. Cheng 2011: 44f.) Das Bananenröckchen dient weitaus weniger der sexualisierten Stereotypisierung als ihrer Dekonstruktion. Bakers Körper erhält durch die Bananen Macht über all die Männlichkeit, drückt aber gleichzeitig auch das Männliche, in heterosexueller wie homoerotischer Sicht aus. Baker erscheint geschlechtlich indifferent, sie wird zum Bezugspunkt für das männliche wie weibliche weiße Publikum. Die Grenze zwischen Begehren und Identifikation verschwimmt. Der Betrachter wird nicht vor dem fremden Anderen bewahrt, sondern in ein Szenario hineingezogen, indem er selbst die Züge dieses Anderen überstreift (vgl. ebd.: 47).

Bakers Tanz Eine entscheidende Komponente dieses Images ist der Tanz, der erstaunlicherweise auch bei Cheng weitgehend unbeachtet bleibt. Die Bananenrock-Inszenierung wird vor allem deshalb zum entscheidenden Image Bakers, weil sie durch den dazugehörigen Tanz als grundlegend gefestigt wird. Bakers Bewegungsmaterial fußt auf Tanzschritten und Elementen, die im Kontext der afroamerikanischen Bevölkerung entstanden, im Umfeld der Minstrel- und Vaudeville-Shows variiert und teilweise in gemäßigter Form als Gesellschaftstänze populär gemacht worden waren. Die Bewegungssprache wurzelte in traditionellen afrikanischen Tänzen. Die Charakteristika des afrikanischen Tanzes sind Bewegungselemente, die sich auch in Bakers Tanzstil finden: die gebeugte Körperhaltung, gleitende, schleifende Schritte, von der Körpermitte, dem Becken aus gesteuerte, einzeln isolierte Bewegungen, Nachahmungen von Tieren, der pulsierende Rhythmus und das flexible, improvisierende Agieren (vgl. Levine 1977: 16). Ferner wurden der Charleston und dessen markantesten Merkmale, der zitternde Körper, die wechselnden X- und O-Beine sowie die nach Innen und Außen drehenden Füße, mit Baker assoziiert. In besonderer Weise auffällig in Bakers Performance ist die Kombination von Tanzelementen mit parodistischen Gesten. Dazu gehören das aus der Minstrel-Tradition entlehnte Verdrehen der Augen, ihr »monkey walk«, also das Nachahmen eines Affen, das Imitieren des Kopfnickens eines Huhns sowie Herausstrecken des Pos als Abschluss ihres Tanzens. Parodie war im Zusammenhang künstlerischer afroamerikanischer Ausdrucksweisen nicht neu. Das Parodieren von Afroamerikanern durch weiße Schauspieler im Minstrel-Theater mit dem markanten Merkmal des »black face« wurde durch afroamerikanische Entertainer übernommen. Die Para-

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FACETTEN DER JOSEPHINE BAKER doxie des doppelten »black face« und des Parodierens der eigenen Bevölkerung ermöglichte das Ausbilden einer Doppelbödigkeit, die durch das groteske Überzeichnen rassistischer Stereotypien diese ad absurdum führte. Über die Minstreltradition hinaus haben die Studien von Henry Louis Gates (1984) diese Doppelbödigkeit als besonderes Merkmal eines künstlerischen, afroamerikanischen Ausdrucks offengelegt. So ist der Cakewalk wiederum ein frühes Beispiel aus der afroamerikanischen Tanzgeschichte, der hinter der Maske des geselligen Tanzens die Tanzformen der euroamerikanischen Oberschicht parodierte. Bakers ins Extreme gekehrte Inszenierung des Primitiven lässt sich somit als Maskerade begreifen. Michael Borshuk bemerkt dahingehend: »Baker's parodic dances exposed the error of the converse assumption in the schema: that blacks were inherently inferior primitives« (Borshuk 2001: 50). In der Betrachtung Bakers ist es jedoch wichtig, noch weiter über diesen Ansatz hinaus zu gehen, um die Aspekte parodistischer Überzeichnung und ihrer Inszenierung als entsubjektivierte Hülle zu verdeutlichen und einzuordnen. Erhellend ist hier Bakers Begegnung mit dem Theaterregisseur Max Reinhardt im Zuge des Gastspiels der Revue nègre in Berlin. Reinhardt versuchte sie zu einer seriösen Bühnenlaufbahn zu bewegen. »Mit dieser Körperbeherrschung, diesen pantomimischen Fähigkeiten, könnte ich«, so formuliert Reinhardt, »das Gefühl in einer Weise wiedergeben, in der es noch nie dargestellt worden ist« (zit. n. Gumbrecht 2003: 253). In ihrem Ausdruck sieht er also den Verweis auf etwas Substanzielles, vielleicht Ursprüngliches. Auf der anderen Seite, dies geht aus den Tagebüchern seines Freundes Harry Graf Kessler hervor, erlebten sie Baker als ein »reines Oberflächenphänomen«. Kessler schreibt: »Die Baker tanzte mit äußerster Groteskkunst und Stilreinheit, wie eine […] archaische Figur, die Akrobatik treibt, ohne je aus ihrem Stil herauszufallen. Sie tut das stundenlang scheinbar ohne Ermüdung […]. Sie wird dabei nicht einmal warm, sondern behält eine frische, kühle, trockene Haut. Ein bezauberndes Wesen, aber fast ganz unerotisch« (Kessler, zit. n. Gumbrecht 2003: 254). Eben in dieser Ambivalenz, in der Unsicherheit des Betrachters über die Bedeutung ihres Tanzes und in dessen Hoffnung, dahinter das begehrte Wahre zu finden, inszeniert sich Baker. Auf der einen Seite nutzt sie — wie Gabriele Klein für die Kunstform »Tanz« herausgearbeitet hat — »die soziale Wirksamkeit des Tanzes«, die »in seiner Performanz« liegt: »Im Akt des Tanzens liegt das widerständige Potenzial des Tanzes, nämlich, herkömmliche Ordnungen zu unterlaufen

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CHRISTA BRUCKNER-HARING UND ILDIKÓ KEIKUTT-LICHT und andere Wahrnehmungen und Erfahrungen möglich zu machen« (Klein 2010: 142). Auf der anderen Seite spielt Baker mit den Symbolen kolonialer Phantasien und dem Begehren ihrer Betrachter. Die Mehrdeutigkeit ihrer »Oberfläche« ist zentral. Damit lässt sich auch ihre Absage an Reinhardt und das »seriöse« Theater erklären. Sie brauchte das Umfeld der Music-Hall als Ort kolonialer Phantasien, in dem sie die Ambivalenz ihres Tanzens ausspielen konnte.

Das Bananenrock-Image Baker verkleidete die Oberfläche ihres Körpers über das Tanzen als performativem Akt mit dem Bananenrock-Image. Dieses grundlegende Image festigte sie in Wiederholungen des »banana dance« in der ganzen Welt. Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Inszenierung — und hier kann im Gegensatz zu Bennetta Jules-Rosette (2007) für eine Hierarchisierung der Images plädiert werden — gewinnen alle anderen ihrer Image-Inszenierungen ihre besondere Wirkung. Das Bananenröckchen, wenn auch nur imaginär, bleibt die als Vergleich dienende Basis. Ihre weiteren Maskeraden trugen ein Übriges dazu bei, Bakers Publikum in der Ungewissheit über die Gültigkeit akzeptierter Stereotypisierungen zu belassen (vgl. Borshuk 2001: 55). So auch ihr Gesang, der sich vom Bild des Primitiven entfernt.

Der Gesang als Image-Facette Die Gesangsstilistik Bakers, die anhand ausgewählter Beispiele und selbst angefertigter Transkriptionen vergegenwärtigt werden soll, stellt einen besonders eindrücklichen Teil ihres Images dar. Insbesondere seit dem Beginn der 1930er Jahre wurde Bakers Gesang neben dem Tanz zu einem wichtigen Element und einem weiteren bedeutenden Ausdrucksmittel in ihren Aufführungen. Ohne jegliche Gesangsausbildung konnte sie sich erfolgreich als Sängerin präsentieren und nahm im Laufe ihrer Karriere rund 140 Stücke auf, hauptsächlich US-amerikanische Jazzstandards aus den 1920er und 1930er Jahren, darunter »I Found A New Baby« (1926, Musik: Spencer Williams / Text: Jack Palmer), »Pretty Little Baby« (1926, Musik: Ben Bernie, Phil Baker / Text: Sid Silvers) oder »Bye Bye Blackbird« (1926, Musik: Ray Henderson / Text: Mort Dixon), sowie Chansons, beispielsweise »J'ai deux amours« (1930, Musik: Vincent Scotto / Text: Géo Koger, Henri Varna), »Ram-Pam-Pam« (1930, Musik: Alfredo de

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FACETTEN DER JOSEPHINE BAKER Vita / Text: Jean Tranchant) oder »Haïti« (1934, Musik: Vincent Scotto / Text: Géo Koger ).

I Want To Yodel »I Want To Yodel« aus dem Jahr 1926 ist eines der frühesten aufgenommenen Lieder von Baker.1 Das Stück wurde komponiert von dem aus New Orleans stammenden Jazzpianisten und Komponisten Spencer Williams (1889-1965), der 1925 für drei Jahre nach Paris reiste und dort für die Show Revue négre und auch Baker komponierte. Die Tonart des Stücks ist Bb-Dur, und die Taktart ist 4/4. In formaler Hinsicht (siehe Tabelle 1) folgt nach einer kurzen instrumentalen Introduktion mit einem harmonischen Turnaround (Bb-C#dim7-Cm7-F7) Teil A, eine 16-taktige gesungene Strophe. Anschließend folgt Teil B, ein Refrain, in dessen Wiederholung B2 Baker durchwegs auf improvisatorische Art über das bestehende Form- und Harmonieschema jodelt. Auf musikalisch ähnliche Weise endet das Stück in einer kurzen Coda. Formteil

Introduktion

Takte

4 (2+2) 16 begleiteter 2-taktiger Gesang Turnaround I-#IIdim7-IIm7-V7

Tempo

♩ = 102

A

B1

B2

Coda

18 (8+8+2) gesungen mit Fill-Ins (»Jodeln«)

18 (8+8+2) Gesangsimprovisation (»Jodeln«)

4 Gesangsimprovisation (»Jodeln«)

♩ = 106

Tabelle 1: »I Want To Yodel«, Formablauf

Die Stilistik dieses Stücks ist dem Dixieland Jazz, einer Form des Oldtime Jazz, zuzuordnen. In der für diesen Stil typischen Besetzung mit der Trompete als Lead-Instrument wird basierend auf einer ternären Grundlage musiziert. Hinzu kommt Bakers Gesang mit den Jodel-Passagen, die ohne Text auf Lautsilben gesungen werden. Das Einbinden von Jodlern in die JazzStilistik war zu jener Zeit keine Neuheit: Aus der Verbindung von Elementen des Blues, des Oldtime Jazz und dem charakteristischem Jodeln aus alpenländischen Traditionen entstand der Musikstil »Blue Yodeling«, in den USA ein populärer Stil während der 1920er und 1930er Jahre, der bei CountrySongs sowie in Minstrel- und Vaudeville-Shows verwendet wurde.2 1 2

Vgl. Baker 1999: Track 7. »Blue Yodeling« wurde zu einem Markenzeichen von Jimmie Rodgers (18971933), der in seinen Liedern in Country-Stilistik jodelte. Auch in Kanada und Australien war »Blue Yodeling« ein populärer Musikstil (vgl. Herzhaft 1992: 364ff.).

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CHRISTA BRUCKNER-HARING UND ILDIKÓ KEIKUTT-LICHT

Beispiel 1: »I Want To Yodel«, Überleitung und B1 (T. 1-9)3

Musikalisch gesehen werden durch das Jodeln Bakers gesangliche Stärken, ihr Sopran und ihre helle Stimmfarbe, hervorgehoben. Ihre Stimme ist bereits außergewöhnlich ausgeglichen, auch wenn Baker in der tieferen Lage (wie in Beispiel 1 in der ersten Oktave) noch weniger Klangvolumen und Sonorität aufweisen kann. In ihrer Melodiegestaltung bleibt Baker einfach: Sie verwendet hauptsächlich Akkordtöne und bewegt sich überwiegend in kleinen Tonfortschreitungen, meist innerhalb eines engen Tonraums. Während der Jodel-Passagen ab der zweiten Oktavlage werden auffallend viele Portamenti in ihre Melodielinien eingebaut. In rhythmischer Hinsicht gebraucht 3

Erläuterung der Sonderzeichen: Linie zwischen Notenköpfen = Portamento; → = früher als notiert; ← = später als notiert; ↑ = höher als notiert, ↓ = tiefer als notiert.

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FACETTEN DER JOSEPHINE BAKER Baker wie im Beispiel 1 vielfach Off-Beat-Akzentuierungen und beginnt auch ihre Gesangslinien häufig auf dem Off-Beat. Diese Rhythmisierung taucht während des gesamten Stückes immer wieder auf. Die Trompete spielt im Teil B in für den Blues typischer Call-andResponse-Manier Fill-Ins beziehungsweise improvisiert im Hintergrund in antiphonischer Struktur und gemeinsam mit Baker während ihrer Jodel-Passagen, teilweise als Parallelmelodie. Dabei spielt die Trompete ohne allzu viele Portamenti und die für die Stilistik typische Hot-Intonation.

Beispiel 2: »I Want To Yodel«, B2 (T. 1-9)

Im zweiten Refrain singt Baker in improvisatorischer Art innerhalb eines höheren Tonraums im Bereich zwischen f2 und d3. Dabei verwendet sie teilweise ein Vibrato, meist über länger gehaltene Noten, beispielsweise während des zentralen Tons b2. Wie bereits im Teil B1 sind häufig Blue Notes (kleine Terz und kleine Septim) im Gesang und in der Trompete zu hören.

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CHRISTA BRUCKNER-HARING UND ILDIKÓ KEIKUTT-LICHT Als Kontrast zu den »unsauberen« Blue Notes singt Baker in diesem Teil die kleine Terz vom b2 abwärts drei Mal hintereinander in heller Stimmfarbe und sauberer Intonation (T. 7-8), vermutlich eine Kuckucks-Imitation. Zusätzlich wird das Motiv durch ein Break sowie durch die synkopische Rhythmisierung und die dadurch entstehende rhythmische Verschiebung hervorgehoben. Danach folgt sogleich ein ausgedehnter und kontrastierender Schleifer nach oben bis zum melodischen Höhepunkt des gesamten Stückes.

Beispiel 3: »I Want To Yodel«, Coda

Am Ende des Stücks erscheint das Kuckucksmotiv in der Coda erneut; wiederum kontrastiert durch die Weiterführung der Phrase, wo Baker zunächst die Blue Note as2, also die kleine Septime der Tonika (Bb7) betont. Schließlich erfolgt die in musikalischer Hinsicht weniger spektakuläre Auflösung in die reine Quint.

J'ai deux amours Das im Jahr 1930 speziell für Baker geschriebene Stück »J'ai deux amours« zählt zu ihren bekanntesten Liedern und entwickelte sich zu ihrer persönlichen Hymne. Der Text stammt von den französischen Autoren Géo Koger (1894-1975) und Henri Varna (1887-1969), die Musik wurde vom französischen Komponisten Vincent Scotto (1874-1952) komponiert. Eine frühe bekannt gewordene Version stammt aus dem Jahr 1931, aufgenommen in Paris gemeinsam mit dem französischen Sänger Adrien Lamy.4 Die Tonart des Stücks ist F-Dur, die Taktart 4/4, und die Form ist eine zweiteilige Liedform A-B mit Wiederholung (siehe Tabelle 2). Nach der instrumental ausgeführten Introduktion folgen die Strophe A und der in sich dreigliedrige Refrain B, wobei die jeweils ersten und letzten acht Takte harmonisch und melodisch fast identisch sind. Der zweite Refrain wird von Lamy und Baker gesungen.

4

Vgl. Baker 1968: Side 1, Track 1.

162

FACETTEN DER JOSEPHINE BAKER Formteil Introduktion A1

B1

A2

B2

Takte

24 (8+8+8)

9 (8+1)

24 (8+8+8)

instrumental Strophe: gesungen von Baker

Refrain: gesungen von Baker

Strophe: gesungen von Baker

♩ = 118

♩ = 109

♩ = ca. 76

Refrain: gesungen von Lamy mit Fill-Ins von Baker bzw. Baker solistisch

Tempo

4

9 (8+1)

♩ = ca. 76

♩ = 109

Tabelle 2: »J'ai deux amours«, Formablauf

Dieses Stück kann in stilistischer Hinsicht dem Genre Chanson zugeordnet werden. Dabei liegt eine große Bedeutung in der Textaussage, die in diesem Fall einen melancholischen Charakter hat: Es geht um die Unsicherheit, nicht genau zu wissen, wo man hingehört, verbunden mit gleichzeitigem Fern- und Heimweh sowie einer gewissen Sehnsucht. »J'ai deux amours«5 A (1. Strophe) On dit qu'au-delà des mers,

Man sagt, dass jenseits der Meere,

Là-bas sous le ciel clair,

dort unter dem klaren Himmel,

Il existe une cité, au séjour enchanté.

eine Stadt existiert, wo man verzaubert wird.

Et sous les grands arbres noirs,

Und unter den großen schwarzen Bäumen,

Chaque soir,

jeden Abend,

Vers elle s'en va tout mon espoir.

geht ihr meine ganze Hoffnung entgegen.

B (Refrain) J'ai deux amours

Ich habe zwei Lieben,

Mon pays et Paris.

mein Land und Paris.

Par eux toujours,

Bei ihnen für immer

Mon coeur est ravi.

ist mein Herz entzückt.

Manhattan est belle,

Manhattan ist wunderschön,

Mais à quoi bon le nier:

aber wem nützt es zu leugnen:

Ce qui m'ensorcelle

Das, was mich bezaubert,

C'est Paris, Paris tout entier.

ist Paris, ganz Paris.

Le voir un jour

Es eines Tages zu sehen,

C'est mon rêve joli.

ist mein schöner Traum.

J'ai deux amours

Ich habe zwei Lieben,

Mon pays et Paris.

mein Land und Paris.

5

Deutsche Übersetzung von den Autorinnen.

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CHRISTA BRUCKNER-HARING UND ILDIKÓ KEIKUTT-LICHT A (2. Strophe) Quand sur la rive parfois

Wenn manchmal am Ufer

Au lointain j'aperçois

ich in der Ferne sehe

Un paquebot qui s'en va,

ein Passagierschiff, das dahinfährt,

Vers lui je tends les bras

strecke ich ihm meine Hände entgegen,

Et le cœur battant d'émoi.

und mein Herz, das schlägt vor Aufregung.

À mi-voix

Halblaut

Doucement je dis »emporte-moi!«

sage ich sanft »Nimm mich mit!«

Inhaltlich wurde dieser Text mit Bakers Leben in Verbindung gebracht, da daraus jene Ambivalenz herausgefiltert wurde, die für sie angeblich zutreffend war: das Hin- und Hergerissensein zwischen zwei für sie wichtigen Orten, nämlich ihrer Heimat USA und ihrer Wahlheimat Frankreich: »Zwei Lieben habe ich, mein Land und Paris«. In musikalischer Hinsicht präsentiert sich Baker im Gegensatz zu ihren Tanz-Inszenierungen in einem stark kontrastierenden Setting: Ihr Gesangsstil ist dem populären französischen Chanson-Stil angepasst, auf den auch die Jazzmusik und speziell der Swing damals einen nicht unwesentlichen Einfluss hatten, was sich unter anderem auf die Art der Begleitung und die Beat-Unterteilung sowie die Harmonien auswirkte.

Beispiel 4: »J'ai deux amours«, A16

6

Erläuterung der Sonderzeichen: rautenförmiger Notenkopf = stark gesprochene = gerade Achtelnoten. Töne;

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FACETTEN DER JOSEPHINE BAKER Baker verwendet in ihrer Interpretation, insbesondere für die Gestaltung der Strophe im Tonraum der ersten Oktave, punktuell ein mit Sprechgesang zu assoziierendes Ausdrucksmittel, wobei häufig Portamenti eingebaut werden (wie in Beispiel 4, Auftakt zu T. 2). Der Gesang hat erzählenden Charakter und erhält in Verbindung mit Bakers heller Stimmfarbe einen eigenen, fast kindhaft wirkenden Charme. Die Melodielinien sind insgesamt bewegt und anspruchsvoll gestaltet, und auch weitere Sprünge treten vermehrt auf. Ein Vibrato wird häufig bei den länger gehaltenen Tönen, hauptsächlich in der höheren Lage, verwendet. Jenes Element, das vom französischen Publikum besonders positiv aufgenommen wurde, war Bakers amerikanischer Akzent im Französischen: Er wurde zwar oft als fürchterlich bezeichnet, trug aber gerade deshalb zu ihrem Charme und Erfolg als Sängerin bei (vgl. BBC 2005). Im ganzen Stück und besonders in der Strophe arbeitet Baker in ihrer Interpretation rhythmisch sehr differenziert: Die realisierte rhythmische Grundhaltung und Begleitung sind ternär; Baker singt die Melodie-Achtelnoten teilweise aber auch gerade, also binär (gekennzeichnet in der Transkription durch die eckigen Klammern, z.B. Beispiel 4, T. 3), was eine abwechslungsreichere Melodiegestaltung und interessante Mischung mit der Begleitung ergibt. Teilweise wird die jeweils erste Achtelnote sogar stärker verlängert, was im Notenbild durch die Punktierung dargestellt wird (z.B. Beispiel 4, T. 5). Zusätzlich singt sie einzelne Töne antizipiert (dargestellt durch den nach links weisenden Pfeil), andere jedoch retardiert (Pfeil nach rechts). Werden alle Töne eines ganzen Melodiebogens stark retardierend beziehungsweise antizipierend gesungen, wird dies mit einem langen Pfeil verdeutlicht: Dies wird beispielsweise in Takt 2 hörbar, wo alle markierten Töne unter dem Pfeil stark verspätet sind und als reizvoller Kontrast in Takt 3 binär realisierte Achtelnoten folgen. Im zweiten Refrain B2 ergänzt Baker Lamys lang gehaltene Melodietöne mit Fill-Ins. Diese Einwürfe sind nicht improvisiert, sondern wurden laut Aussage von Bakers Zeitgenossen mitkomponiert und in der Partitur notiert (vgl. BBC 2005). Durch diesen Gesangspart tritt Bakers gesangliche Vorliebe und spezielle Stärke hervor, ihr koloraturartiger Sopran: Sie konnte in ihrem hohen Stimmregister mit einer besonderen Beweglichkeit und Leichtigkeit klare Linien, insbesondere sinnleere Silben-Linien, singen (siehe Beispiel 5). Diese spezifische Singart wurde zu einem ihrer Markenzeichen. Die eingefügten Phrasen in B2 sind einfach und bestehen aus wenigen, meist drei verschiedenen Tönen. Die ersten drei dieser Passagen singt Baker in binär realisierten Achtelnoten, wodurch sich ein Kontrast zu Lamys Melodie und der Begleitung ergibt. Der vierte Einwurf im Takt 7 ist jedoch von blues-

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CHRISTA BRUCKNER-HARING UND ILDIKÓ KEIKUTT-LICHT artigem Charakter (zusätzliche Betonung der kleinen Septime ces2 von Db7), und auch die beiden nachfolgenden Einwürfe werden wieder ternär gesungen. In den letzten Takten des Refrains übernimmt Baker erneut die Melodie und endet schließlich mit einer Bewegung nach oben auf dem Schlusston f 2, mit Vibrato und einem ausklingenden decrescendo.

Beispiel 5: »J'ai deux amours«, B2

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FACETTEN DER JOSEPHINE BAKER

Das Baker-Image im Film Eine bemerkenswerte Visualisierung des Baker-Images enthält der 1934 produzierte Film Zouzou (Corona Films 1934). Nach der gescheiterten Hoffnung auf eine Liebesbeziehung mit ihrem Adoptivbruder Jean kehrt Zouzou, verkörpert von Baker, an jene Bühne zurück, auf der sie zu Ruhm gelangt ist. In einem überdimensionalen weißen Käfig sitzt sie kostümiert als weißer Vogel auf einer Schaukel und singt den Song »Haïti«. In einer Leichtigkeit wie losgelöst vom Körper entzieht sich ihre Stimme äußerer Einschreibungen und wird nur noch eine Hülle. Die junge Kreolin besingt ihren Herkunftsort und bedient auf ähnliche Weise wie in »J'ai deux amours« das Stereotyp der Heimatlosigkeit, der Sehnsucht nach der Heimat. Haiti ist für die Interpretin das Paradies, das schöne Land, wohin sie zurückkehren möchte, weil sie sich in der Ferne wie im Exil und in einem Käfig fühlt. Der Liedtext stammt von Géo Koger, die Musik von Vincent Scotto. Die Struktur ist eine dreiteilige Liedform A-B-A mit einem wiederkehrenden Refrain. »Haïti«7 A (Refrain) Ah! Qui me rendra mon pays,

Ach, wer wird mir mein Land zurückgeben,

Haïti.

Haïti.

C'est toi mon seul paradis, Haïti.

Du bist mein einziges Paradies, Haïti.

Ah! Dieu me rappelle

Ach, wenn Gott mich erinnert

Tes forêts si belles,

an deine so schönen Wälder,

Tes grands horizons

die Weite deines Horizonts,

Loin de tes rivages.

entfernt von deinen Küsten.

La plus belle cage

Der schönste Käfig

N'est qu'une prison.

ist nur ein Gefängnis.

Oui! Mon désir, mon cri d'amour,

Ja, meine Sehnsucht, mein Schrei nach Liebe,

Haïti.

Haïti,

C'est de te revenir un jour.

ist eines Tages zu dir zurückzukehren.

B (Strophe) Oh, beau pays bleu, bien loin

Oh, schönes blaues Land, wohl weit,

Bien loin sous d'autres cieux.

wohl weit unter anderen Himmeln.

Je vivais des jours heureux,

Ich erlebte glückliche Tage,

Mais tout est fini.

aber das ist Vergangenheit.

Seule dans mon exil aujourd'hui

Allein in meinem Exil heute

Je chante, le coeur meurtri:

singe ich mit schwerem Herzen:

7

Deutsche Übersetzung von den Autorinnen.

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CHRISTA BRUCKNER-HARING UND ILDIKÓ KEIKUTT-LICHT In gesangstechnischer Hinsicht treten in Bakers Interpretation von »Haïti« ähnliche Charakteristika wie in »J'ai deux amours« auf: So hört man beispielsweise eine in melodischer und rhythmischer Hinsicht recht variabel gestaltete chansonartige Strophe, gemischt mit Elementen der Sprechstimme. Die höhere Lage des Refrains kostet Baker mit lang gehaltenen Tönen sowie Vibrato und diversen Umspielungen aus. Besonders im improvisatorisch gestalteten zweiten Refrain bewegt sie sich hauptsächlich in der zweiten Oktavlage und singt bis zum c3 koloraturartige Linien, die — passend zu ihrer Inszenierung im Käfig — an einen Vogelgesang erinnern. In rhythmischer Hinsicht kann man wieder eine zum Teil fast übertrieben wirkende ternäre Realisierung neben einzelnen binär gesungenen Bewegungen hören. Insgesamt wird in diesem Stück das sopranhafte Element in ihrer Stimme hervorgehoben: Dies wird besonders deutlich in der letzten Passage, einer Schlusskadenz, in der Baker — solistisch, wie in klassischer Tradition üblich — betont operettenhaft ihren hellen Koloratursopran präsentiert.

Beispiel 7: »Haïti«, Schlusskadenz

Wieder tun sich eine Reihe von Fragen bei der Betrachtung dieser Filmszene mit Zouzou im Käfig und der darin präsentierten Inszenierung Bakers auf: Ist der Vogel weiß oder schwarz? Symbolisiert er die Identifikation des weißen Betrachters mit dem begehrten Fremden, indem in der weißen Hülle das Eigene verschleiert durch Stereotypisierungen des Anderen verborgen liegt? Welch verhaltener Witz steckt hinter dieser artifiziellen Stimme, die sich in

168

FACETTEN DER JOSEPHINE BAKER gesanglicher Hinsicht an die westliche Musiktradition, sich durch den Text des Liedes jedoch an den schwarzen Kontinent bindet und damit wiederum das Bild des Primitiven, sprich das Bananenrock-Image aufscheinen lässt?

Fazit Die Figur der Josephine Baker gewinnt ihre besondere Faszination durch ihre Mehrdeutigkeit inmitten eines dialektischen Spannungsfeldes von Weiß und Schwarz. Entscheidend für die Entfaltung ihrer changierenden Facetten ist der Betrachter. Je nach eingenommener Perspektive erscheint sie als barbarisch-ursprünglich, als unzivilisiert und gleichzeitig als Inkarnation geheimer Wünsche, in der Art ihrer Bewegung als erotisch-geheimnisvoll und zugleich in ihren parodistischen Zügen als grotesk, aber auch gesellschaftskritisch, in ihrem Gesang als artifiziell, kindlich-naiv, aber auch als (begehrenswert) fremd. Baker inszeniert sich als Oberflächenphänomen, als Hülle, die mehr und mehr zur Hülle ihrer Betrachter wird. Damit werden diese zu den eigentlichen Performern.

Literatur Borshuk, Michael (2001). »An Intelligence of the Body: Disruptive Parody through Dance in the Early Performances of Jospehine Baker.« In: Embodying Liberation. The Black Body in American Dance. Hg. v. Dorothea Fischer-Hornung und Alison D. Goeller. Hamburg: Lit Verlag, S. 41-58. Butler, Judith (1990). Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York: Routledge. Cheng, Anne Anlin (2011). Second Skin. Josephine Baker and the Modern Surface. Oxford: Oxford University Press. Ehlers, Monika / Lezzi, Eva (Hg.) (2003). Fremdes Begehren: transkulturelle Beziehungen in Literatur, Kunst und Medien. Köln: Böhlau. Gates, Henry Louis Jr (1984). »The Blackness of Blackness: A Critique of the Sign and the Signifying Monkey.« In: Black Literature and Literary Theory. Hg. v. dems. New York: Methuen, S. 285-322. Gumbrecht, Hans Ulrich (2003). 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Herzhaft, Gérard (1992). Encyclopedia of the Blues. Fyetteville: The University of Arkansas Press. Hölz, Karl (2002). Zigeuner, Wilde und Exoten: Fremdbilder in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Berlin: Schmidt. Jules-Rosette, Bennetta (2007). Josephine Baker in Art and Life. The Icon and the Image. Champaign: University of Illinois Press. Klein, Gabriele (2010). »Tanz als Aufführung des Sozialen. Zum Verhältnis von Gesellschaftsordnung und tänzerischer Praxis.« In: Konzepte der Tanzkultur.

169

CHRISTA BRUCKNER-HARING UND ILDIKÓ KEIKUTT-LICHT Wissen und Wege der Tanzforschung. Hg. v. Margrit Bischof und Claudia Rosiny. Bielefeld: Transcript. Levine, Lawrence (1977). Black Culture and Black Consciousness: Afro-American Folk Thought from Slavery to Freedom. Oxford: Oxford University Press. Salten, Felix (1924). »Wien, gib acht!« In: Neue Freie Presse, Wien, 10. Februar, S. 1-3; online unter: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?apm=0&aid=nfp& datum=19240210&zoom=2 (Zugriff: 13.11.2011).

Diskographie Baker, Josephine (1968). Encore! EMI Records SX 6264. Baker, Josephine (1999). Complete Recorded Works 1926-1927. Document Records DOCD-5652.

Filmographie BBC (2005). Josephine Baker: The First Black Superstar. Dokumentation, British Broadcasting Corporation; online unter: http://www.youtube.com/watch?v= Ggb_wGTvZoU (Zugriff: 13.11.2012). Corona Films (1934). Zouzou; online unter: http://www.archive.org/details/Zouzo uAkaZouZoudecember211934 (Zugriff: 13.11.2012).

Abstract In 1925 the young African-American dancer Josephine Baker went to Paris. After appearing in the show La Revue négre with a skirt made of bananas, she became a star practically overnight. Her self-presentation on stage and the implied staging of African and American culture fascinated not only the French audience, but attracted attention far beyond the borders of the country. Her performances were a stimulating mixture of art forms, with dance as the central element: she thrilled audiences with the Charleston and intrigued them with her exotic/erotic movements, in stark contrast to the classical dance tradition of Europe. A closer look at Baker's performances at the height of her career, between 1925 and 1935, reveals multifaceted and increasingly sophisticated shadings. Having started as a dancer, she soon began singing as well: her vocal interpretations, well documented on recordings and in movies, complemented and completed her self-created images. By examining Baker's autobiographies, sound recordings and film footage, the artistic elements of her dancing and singing will be explored, highlighting the main facets of her performances and tracing the secret of her success.

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AN UNDERSTANDING THE BEATLES

OF IN

PERFORMANCE: HAMBURG

Ian Inglis Becoming a musician is something that has to be learned. I refer here not only to mastery of the requisite technical skills, but to the demands, obligations and conventions that govern professional behaviour. And what lies at the heart of an occupational musician's life is performance. The idea of serving an apprenticeship, of learning to be a performer, of gradually coming to understand the craft of performance, has always been central to the act of music-making. And I want to use the example of the Beatles in Hamburg to illustrate how this might take place, indeed, how it did take place for them. In fact, the significance of performance in assessments of popular music has been consistently noted by academics and musicians alike. Avron White has argued that »although the musical product yields its greatest source of income in recorded and written form, its authenticity, or validity, is very much dependent upon the music's being on view in the live performance. In this context, the musical product is produced and consumed in the same moment: there is an inextricable association between the musician and his music« (White 1987: 187). And guitarist Jeff Beck explains: »Most people have never heard me get the best out of a guitar. Recording puts a barrier between the artist and the audience. Records never have, never will, show my true potential. I only get the feeling I'm putting my true self across when performing live« (Beck in Martin 1983: 143). However, what is actually meant by ›live performance‹ can occasionally be a little misleading, as numerous examples confirm. In the 1960s, television shows billing themselves as ›live‹ (Top Of The Pops, Ready Steady Go) routinely presented groups or singers who were clearly miming to various combinations of pre-recorded vocal and/or instrumental tracks: here, ›live‹

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IAN INGLIS often referred to the time of the broadcast, not to the musical content. The popularity of ›live‹ albums from the late 1960s and 1970s obliged such recordings to undergo scrupulous editing, splicing, cleaning and studio enhancement in order to produce what the industry saw as a commercially acceptable product — with the result that what was heard on the subsequent album often bore little resemblance to what was actually heard by the audience in the original venue. In 1999, the British boy-girl band Steps were voted ›Best Live Act‹ by the readers of TV Hits magazine, despite the well-known fact that music and vocal tracks at all their concerts were prerecorded in order to allow the five band members to concentrate on the energetic dancing, mini-narratives, prolonged audience interaction and frequent costume changes that distinguished their performance. Perhaps the most notorious example of ›false liveness‹ was provided by the career of Milli Vanilli, who successfully masqueraded as live performers and recording artists until they were found out in 1990. Sometimes, the artifice can become part of the attraction. In 1997, the Elvis Presley In Concert production premiered in Memphis, and has since gone on to tour the world. Undeterred by the fact of Presley's death in 1977, the concerts combine film footage of the singer with live musical accompaniment. The show's promotional material announces: »The Elvis footage is projected on a large video screen. On stage a 16-piece orchestra and some of Elvis' original bandmates from the concert era of his career and other cast members perform live with the Elvis video. […] From the first song it's magic. You're at a real Elvis concert. Elvis' recorded voice and his on-screen presence are so powerful, the interaction with the live musicians and singers so seamless, the audience reaction so intense that, a few songs into the show, one can almost forget that Elvis isn't really there in person. Everything in terms of staging, set design, lighting, sound, and overall production is as if Elvis were alive and back out on the road. […] The production is so authentic and so well done that there are moments in the show when even Elvis' own bandmates and members of the production team think Elvis is really back in the building!« (http://www.elvis.com/events/ concert_tours.aspx; accessed 21.9.2012). The efficient combination of live and non-live performance has not been limited to those who have died. Recent James Taylor concerts have included a segment in which he sings live on stage to the accompaniment of a filmed choir projected on a large screen behind him; furthermore, just as in the Elvis Presley show, the smiles, mutual glances and acknowledgements between Taylor and the choir are so well-rehearsed as to make the spectacle utterly convincing. More bizarrely, in Japan, the career of Hat-

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AN UNDERSTANDING OF PERFORMANCE: THE BEATLES IN HAMBURG sune Miku (including sell-out concerts and chart-topping songs) has not been hindered by the fact that she is a computer generated cartoon character with a synthesised voice. Her live appearances consist of a three-dimensional holographic image of the singer performing energetically on stage. And Yamaha's Vocaloid programme has enabled her creators to invent a realistic — albeit entirely synthesised — singing voice. Indeed, it seems there are few limits to such technological input, especially in Japan: in June 2011, it was revealed that Aimi Eguchi (of the girl band AKB48) was, in fact, a CGI creation whose facial features were a composite of the other (real) band members. What all these examples demonstrate is that across many contexts — the television programme, the album, the arena concert, even in the public presentation of performers — ›live‹ may not always mean ›live‹. But for the majority of musicians and audiences, particularly for those gigging bands in the early stages of their career, a live performance continues to represent an encounter between the producers and consumers of music, that carries with it ideological notions of authenticity, truth, excitement, energy and direct contact that may be lost elsewhere. Yet such encounters are never straightforward. Performances are multi-layered phenomena. Every performance is mediated by time, space, location, the number of participants, the acoustic environment, and so on. In this sense, performance can be both a shared activity and a confrontation, in which performers and audiences have to learn certain skills, and understand certain conventions, in order for it to proceed. Jason Toynbee has described this comingtogether as constituting the ›theatrical side of performance‹: »the way that music-making is staged as something performed by musicians for an audience […] music is not only being made, but being made to be heard, and sometimes to be seen too. The theatricality of popular music performance derives from performers conceiving themselves as performers, and audience members thinking that they are members of an audience« (Toynbee 2000: 57). In order to expand and illuminate these issues, I want to use the experiences of the Beatles in Hamburg in 1960-1962 to consider how live performance may be approached, learned and understood, and to illustrate the ways in which such an understanding impacted on the group's career. To recap on the history very briefly, the Beatles made five separate visits to the city. On their first visit, arranged by Liverpool promoter Allan Williams, from August through to November 1960, they spent seven weeks at the Indra before moving for a further eight weeks to the Kaiserkeller, both of

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IAN INGLIS which were owned by Bruno Koschmider. In 1961, they spent the whole of April, May and June at Peter Eckhorn's Top Ten Club. And in 1962, they played three separate engagements at Manfred Weißleder's newly-opened Star-Club: seven weeks in April and May, two weeks in November, two weeks in December. All four clubs were in the St. Pauli area of the city, either on the Reeperbahn or just off it on Große Freiheit. Interestingly, the total time they spent on stage was an estimated 800 hours over 273 nights across 29 months: an almost identical figure to the 274 appearances across 30 months they made at The Cavern in Liverpool between February 1961 and August 1963. And yet it is The Cavern, rather than Hamburg, that has successfully claimed for itself the title of ›the birthplace of the Beatles‹. When they set out on their first trip, there were five Beatles: John Lennon, Paul McCartney, George Harrison, drummer Pete Best and bass guitarist Stuart Sutcliffe. By the time of their final visit, Best had been replaced by Ringo Starr, Sutcliffe had quit the group and subsequently died in Hamburg. During that two-and-a-half-year period, the group also acquired a new manager (Brian Epstein), secured a recording contract with Parlophone, and released its first single »Love Me Do« in the UK. It is a period in the group's history that has been subjected to an enormous amount of hyperbole, sensationalism, reconstruction and misrepresentation. Two movies — Birth Of The Beatles (Richard Marquand, 1979) and Backbeat (Iain Softley, 1994) — have added to its notoriety by presenting accounts of the group's years there that are steeped in the stereotyped ethic of ›sex and drugs and rock'n'roll‹. In addition, the vast majority of biographies of the Beatles, or of the individual members, contain a section or chapter just labelled ›Hamburg‹. But few of them have anything new to say about the Beatles in Hamburg. They tend instead to relate the same stories, to quote the same voices, to rely on the same explanations. Early in my research, I was warned by Tony Sheridan (who was one of the leading figures in the Hamburg club scene of the early 1960s, and who still lives in Germany) to be very wary of the versions offered by those professional commentators of the story — the self-styled insiders, whose exaggerations, particularly concerning their own role in the history of the Beatles, are motivated much more by ideas of self-aggrandizement or financial reward, than by a desire to relate a historically accurate record of events. He told me: »Beware of the unqualified utterances of certain ›experts‹ [...] much of the piffle these guys relate should be taken with a large pinch of salt« (Sheridan, personal communication, 2011). With this in mind, it thus becomes sensible to emphasise the accounts offered by the Beatles (and their fellow musicians) themselves. And what

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AN UNDERSTANDING OF PERFORMANCE: THE BEATLES IN HAMBURG such accounts reveal is a clear pattern in which two recurring characteristic features are prominent. The first is that all the Beatles regarded Hamburg — not Liverpool — as the place where they developed their abilities as performers. There was no doubt about this. George Harrison: »Hamburg was really like our apprenticeship, learning how to play in front of people« (Harrison in Beatles 2000: 49). John Lennon: »It was Hamburg […] that's where we really developed. We would never have developed as much if we'd stayed at home« (Lennon in Davies 1968: 105). Pete Best: »That's when the charisma really started to grow« (Best in Giuliano/Giuliano 1995: 207). Paul McCartney: »We went to Hamburg, nothing happened to start with, then we were IT!« (McCartney in Coleman 1995: 61). And in a letter written to his sister Pauline, Stuart Sutcliffe claimed that »we have improved a thousandfold since our arrival« (Sutcliffe/Thompson 2001: 92). The second is that there is rarely any attempt to offer a close analysis of what it actually was about the Beatles' experiences in Hamburg venues that produced these effects. There are, of course, plentiful references to the long hours they were forced to play, and the cramped conditions in which they were forced to live, but there is often very little beyond that. It therefore becomes important to consider these claims of rapid and startling improvement, not just in themselves, but within the context of the time and place in which they took place — Hamburg, in the early 1960s — to try to understand the nature of the Beatles' performances in the city, the constraints under which they were obliged to perform, the opportunities that these presented, and how and why the various components came together to help transform an unremarkable, semi-professional group of teenagers into popular music's most celebrated and influential performers in little more than two years. And it bears repeating that a key element in any such evaluation is the notion of ›authenticity‹, or ›truth‹. While it is a concept — a highly contested concept — that continues to permeate popular music, it was particularly relevant at the time. Sarah Thornton has noted that: »While authenticity is attributed to many different sounds, between the mid50s and the mid-80s, its main site was the live gig. In this period, ›liveness‹ dominated notions of authenticity […] the essence or truth of music was located in its performance by musicians in front of an audience« (Thornton 1995: 26).

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IAN INGLIS When the Beatles arrived in Hamburg, they had next to nothing in the way of performance experience. They had yet to appear at The Cavern, their gigs in Liverpool had been fairly infrequent, and often limited to suburban dancehalls or local institutes, and social functions such as birthdays and wedding parties. They seldom rehearsed, they had been without a permanent drummer for some time, they had no ›act‹ to speak of, no stage routines, and music was a part-time activity — all were at college, or school, or in fairly unrewarding jobs. As is well known, when Liverpool group Derry & The Seniors (who were already in Hamburg) learned that the Beatles would be joining them, they wrote back in alarm to Williams, pleading with him not to spoil it for them by sending over »a bum group like the Beatles« (Williams/Marshall 1975: 129-130). Their debut, in the Indra, on the evening of Wednesday 17th August 1960 was not a huge success. The group's one attempt to construct a more impressive stage presence was to wear a matching uniform, in classic British teddy-boy style, of lilac velvet jackets, black shirts, black jeans, and winkle-picker shoes. However, this meant little to the Hamburg audience, whose participation and membership of youth subcultures was quite different to the UK, and was centred around two major groups. One was the ›rockers‹ who adopted the leather jackets and blue jeans fashion of Marlon Brando in The Wild One (László Benedek, 1953) or, more likely in the German context, Horst Buchholz in Die Halbstarken (Georg Tressler, 1956) or Teenage Wolfpack as it was re-titled in the UK and the US. The other group, derived to a considerable extent from Hamburg's large student population, were the ›exis‹, or existentialists, named after the Left Bank intellectuals of Paris, whose preferred appearance was a pseudo-›Bohemian‹ style of casual, disorderly hair and clothes. Either way, the Beatles' appearance emphasised the cultural distance between the group and its audiences. Furthermore, Sutcliffe's lack of musicianship (he could barely play the guitar) and Best's unfamiliarity with the group's repertoire (he had joined just a few days before they left Liverpool) resulted in a turgid and plodding performance that dismayed Koschmider and attracted very few customers. It was at this point, after several uninspired evening shows, that Koschmider instructed the Beatles to liven things up, to inject some energy into their performance: »Macht Schau!«, literally to ›put on a show‹. He had brought the Beatles to Hamburg not because he admired their music (he had never actually heard them) nor to promote them as a commercial act, but because he believed that the presence of a live group — any live group — could be a successful device to attract customers into his clubs, where they

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AN UNDERSTANDING OF PERFORMANCE: THE BEATLES IN HAMBURG would then stay to spend money on drinks, rather than go to other bars in the area. In fact, very few of the potential customers around the Reeperbahn and Große Freiheit had come out to listen to music. Many of them were visiting tourists and sailors, who swarmed into St. Pauli every evening to visit its strip-clubs, brothels and bars, helped along by large quantities of alcohol. Fifty years earlier, in the first decade of the twentieth century, Hamburg had been the third largest port in the world (after London and New York). Despite the loss of trade that followed Germany's defeat in the First World War, and the bomb damage inflicted during the Second World War (when 80 per cent of the port was destroyed) it had by 1960 recovered much of its prosperity and, with a surrounding population of two million residents, was Germany's second city, and one of Europe's largest ports. And its large transient population of sailors, traders and visitors were keen to explore the Reeperbahn's reputation for raucous entertainment which, like Soho in London or the red-light district of Amsterdam, was built largely around the sex industry. In this sense, the injunction to »Macht Schau« had no musical relevance at all. And once the Beatles realised that they were simply there to promote the club, rather than to be heard, their approach changed. As Paul McCartney later testified, it was a major insight in their apprenticeship: »We had to attract people in. The first thing people would look at was the beer price […] then they'd look around and there'd be no-one in the club, and we'd jump into action: ›Yes! Yes! This is the night! Come on in!‹ You really have to learn that…and we learned it« (McCartney in Miles 1997: 58). In effect, the Beatles realised that they were not expected to be musicians but to be entertainers, performing the same function as barkers at a fairground: and with that realisation, their perception of their collective identity began to shift — not only in terms of how they were evaluated by others, but also by themselves. Given these new requirements, Lennon was the first to deliberately exploit the physical dimension of rock'n'roll, and his rapid abandonment of any inhibitions about what could, and could not, be done on stage was quickly followed by the rest of the group. The original static delivery of two- or three-minute songs was replaced by five- or tenminute numbers in which the Beatles would dance or strut from one side of the platform to the other, throw themselves around, race on and off stage, and — instead of merely announcing the title of each song — shout and scream at the customers above the noise. It was this physicality — not the quality — of their music that helped to ensure the group's initial success and popularity in Hamburg. It may not be a

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IAN INGLIS surprising observation. Before and after the Beatles (in the 1950s, the hostile reaction to Elvis Presley, nicknamed Elvis the Pelvis in the US and filmed on US TV only from the waist up because of his swinging hips; in the 1980s, the impact of Michael Jackson's ›moonwalk‹) many of popular music's biggest stars have been noted as much for their onstage movements as for their music. But at the time, it was a factor the Beatles had not previously addressed. Nor, it has to be said, had they considered the nature of the audience response, which in the case of Hamburg could be positive (sending up crates of beer to the group, or leaping on stage to perform with them) or negative (catcalling, throwing things, or issuing physical threats). Photographer Jürgen Vollmer, who met the group shortly after they'd moved to the Kaiserkeller, has said: »I can't imagine that they could be any better than they were in Hamburg, any more energetic, any more giving it all. There were a lot of fights. There wasn't an evening where I wasn't afraid. But the Beatles got used to it« (Vollmer in Sharp 2000: 41-42). Historically, such circumstances were not new. Indeed, descriptions of events and conditions within the Reeperbahn's clubs are uncannily like those of London's music halls in the mid-nineteenth century, as Peter Jackson has described: »Competition was fierce, innovation intense, and the pace of change extremely rapid. […] The audience was free to smoke and drink, eat and talk, even at the height of the performance. Audiences engaged in an active dialogue with the players. They expressed their approval or disapproval with gusto, pelting the performers with whatever they had to hand« (Jackson 1989: 86-87). When the Beatles returned to Liverpool in December of 1960, one of their first bookings was at Litherland Town Hall — a date that has often been described as the »catalyst for the whole phenomenon of beat music in Liverpool« (Gould 2007: 89). John Lennon saw it as »the evening when we really came out of our shell and let go. This was when we began to think for the first time that we were good. Up to Hamburg, we'd thought we were OK, but not good enough« (Lennon in Davies 1968: 104). Without exception, all of the contemporary commentaries on that show concentrated on its performative aspect: either on the Beatles' appearance — no longer dressed in Teddy boy outfits, but leather jackets, black T-shirts, skintight pants and cowboy boots bought at the Texas shop in Hamburg (Spitz 2005: 10-11), or on the animated manner in which they delivered their music, which according to Liverpool promoter Sam Leach had the crowd »rooted to the spot: everybody was watching, rather than dancing« (Leach 1999: 46). It

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AN UNDERSTANDING OF PERFORMANCE: THE BEATLES IN HAMBURG was what they had learned over their initial three or four months in Hamburg — that instinctive and unrestrained interaction with the rowdy, volatile crowd helped to create the right conditions in which to perform their music — that distinguished them from their competitors. And, as a footnote, it was the enthusiastic local response to this, and other appearances in December and January, that led to the Beatles securing their first engagement at The Cavern, just a few weeks later, in February 1961. My comments thus far have referred to the form or delivery of the music. It is equally important to consider the content or nature of the songs performed by the Beatles in Hamburg. Inasmuch as he expressed any musical policy, Koschmider wanted the musicians he employed to re-create the sounds of American rock'n'roll. In Germany, there were two prevalent varieties of domestic popular music to be heard in the late 1950s and early 1960s: Schlager, which was light, sentimental, middle-of-the-road pop performed by singers such as Peter Alexander and Freddy Quinn (›the Singing Sailor‹); and German rock'n'roll, essentially a milder imitation of its American counterpart, whose principal performers included Peter Kraus and Ted Herold (›the German Elvis‹). However, neither form generated great enthusiasm among the young local audiences, who clearly preferred their limited opportunities (the jukebox, the radio) to hear American styles. Moreover, German audiences were relatively unfamiliar with the four-piece template of lead guitar, bass guitar, rhythm guitar and drums that was becoming the norm in the UK; their preference was still for the solo performer. The task of the Beatles during their engagements in Hamburg was therefore very simple: to create, as a group, a live musical experience whose sounds would match the excitement of those coming from the jukebox. And rock'n'roll, with its connotations (real or imagined) of disobedience, rebellion, anti-authoritarianism and delinquency, was the ideal vehicle through which to set about it. And initially, this is what the Beatles provided: unashamed cover versions of US rock'n'roll, including songs by Elvis Presley, Gene Vincent, Eddie Cochran, the Del Vikings, Fats Domino, Bill Haley, Jerry Lee Lewis, The Olympics, Buddy Holly, Lloyd Price, Little Richard, The Coasters (and occasional instrumental covers of tracks by Duane Eddy & The Ventures). This in itself was unsurprising. With very few exceptions, rock'n'roll in the UK followed the conventions, and celebrated the performers, of US rock'n'roll: and those American songs the group covered were the sounds that had originally inspired them. Moreover, this policy was perfectly appropriate for the half-hour sets the Beatles were used to playing in Liverpool: it gave them a more than adequate number of songs from which they could select a

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IAN INGLIS suitable repertoire. However, when they found in Hamburg that they were expected to perform for up to six hours per night, every night, they quickly realised that their stock of songs would be rapidly exhausted. There were several solutions to this. First, the group continued to search out and incorporate a large number of additional rock'n'roll tracks, particularly by black musicians such as Chuck Berry, Larry Williams and Ray Charles. Secondly, they began to feature numerous songs composed by the Brill Building's teams of writers, particularly Gerry Goffin & Carole King, and Burt Bacharach & Hal David: indeed, Lennon and McCartney have both stated that their early ambition was to be »the Goffin and King of England« (Lennon in Sheff/Golson 1981: 146). A third, related, strategy employed by the Beatles in Hamburg was their adaptation of records by US girl groups or solo female performers: this was especially significant, because by disregarding stereotypical gender divisions between ›male songs‹ and ›female songs‹, the group gained access to a much wider range of material than many of its more reluctant competitors and, crucially, introduced a ›woman's viewpoint‹ into their music. Fourthly, the Beatles increased the number of romantic ballads, many of which were established ›standards‹, in their live repertoire, featuring songs by Bing Crosby, Peggy Lee, Dorothy Lamour, Marlene Dietrich, Dinah Washington and Judy Garland. Fifthly, they became increasingly aware of composers and performers on Detroit's TamlaMotown label after its formation by Berry Gordy in January 1959, and added early songs by The Marvelettes, The Miracles, Barrett Strong and The Isley Brothers to their roster. In all of these, the Beatles did not just copy what they heard, but changed it: either lyrically, musically or in performance: as Lennon explained: ›we would take our favourite records and then we would make better versions of them‹ (Lennon in Leigh 2004: 77). The contrast between »Twist And Shout« as recorded by the Top Notes, and then by the Isley Brothers, and the version by the Beatles is perhaps the best indicator of this strategy. And by transforming, rather then merely imitating, someone else's record, the Beatles were thus taking the first steps towards asserting an independent musical identity that was not only professionally advantageous, but also personally satisfying. The Beatles were not alone in this. One of the most popular songs in the clubs of Liverpool and Hamburg was Ritchie Barrett's »Some Other Guy«. John McNally of the Searchers, who also spent significant amounts of time in Hamburg in 1962 and 1963 has explained: »The Beatles did ›Some Other Guy‹. We did ›Some Other Guy‹. The Big Three did ›Some Other Guy‹. Everybody did ›Some Other Guy‹. But, if you listen to

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AN UNDERSTANDING OF PERFORMANCE: THE BEATLES IN HAMBURG all the versions of ›Some Other Guy‹, or ›Money‹, you'll find that no two versions are the same« (McNally in Brocken 1996: 30). A related facet of these strategies for the Beatles was their reliance on three lead vocalists. This was a pragmatic as well as a democratic decision. Switching singing responsibilities within the group helped to avoid the possibilities of vocal strain or exhaustion that would have followed from having just one lead singer performing for several hours every night. Thus, the combination of an extensive and unusually broad musical catalogue, and an egalitarian musical structure built around three focal points of attention, immediately set the group apart from its rivals in Hamburg, the majority of whom relied on just one lead singer: Rory Storm & The Hurricanes, Gerry (Marsden) & The Pacemakers, and so on. But, the most important way in which the Beatles increased their repertoire to cope with these new demands was that they decided to write more songs themselves. Lennon and McCartney had (either alone or together) already written a small number of songs before the group went to Hamburg, including early versions of »Hello Little Girl«, »Love Of The Loved«, »Like Dreamers Do« and »One After 909«. There were probably no more than twenty or thirty of these (several of which were incomplete, and some of which were instrumentals). Conscious of the need to attract customers through familiar songs, and unsure of the audience reaction to unfamiliar material, the group initially tended to limit its own compositions to very occasional performances. However, again, faced with a daily requirement to deliver several hours of live music, and knowing that the possession and presentation of their own songs gave them a real advantage over their competitors, the Beatles gradually began to increase their inclusion. Because they were driven by an obligation to fill the group's stage-time, rather than by a desire for personal expression, the early compositions of Lennon and McCartney were relatively simple, often derivative and lyrically straightforward. Crucially, the songs were written not with recording in mind, but to be performed live, onstage, by the Beatles, with nothing more than guitars and a drum kit. But, as composing took up increasing amounts of their time through 1960-1962, many of the songs they wrote were deemed good enough to become regular fixtures in their live shows in Hamburg. Over the next few years, as their songwriting skills developed and their career accelerated, self-compositions would provide the vast majority of their live and recorded output. But, throughout its career, the sources to which the group had turned for additional material in Hamburg continued to inform

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IAN INGLIS their own songwriting sensibilities. Thus, tracks like »I'm Down«, »Lady Madonna« and »Get Back« reproduce the sounds and rhythms of 1950s rock'n'roll. The influence of the Brill Building is clear on songs such as »Do You Want To Know A Secret«, »Hold Me Tight« and »You Won't See Me«. »You're Going To Lose That Girl«, »Tell Me Why« and »All I've Got To Do« echo, very precisely, both the musical form and lyrical content of many of the early 1960s girl groups records. The tradition of romantic ballads inspired »Yesterday«, »Something« and »Goodnight«. And Motown is the driving force behind »Ask Me Why«, »Got To Get You Into My Life« and »This Boy«. But the part that Hamburg played in the emerging Lennon-McCartney songwriting partnership was not just a consequence of the hours spent on stage. Their living quarters provided a concentrated, even claustrophobic, environment in which musical discussion, comparison, and competition proceeded on a daily basis. In Liverpool, the four or five Beatles lived at their own homes, seeing each other irregularly. In Hamburg, they were rarely out of each other's sight, day and night, for months on end. Certainly, their accommodation improved over their five visits, but the constant demands of this shoulder-to-shoulder existence both tested and confirmed the group's personal and professional relationships and, for Lennon and McCartney in particular, as Ian MacDonald has written, »their close creative proximity generated the electric atmosphere of fraternal competition [...] and where they did collaborate the results were nearly always remarkable« (MacDonald 1994: 12). However, this development was gradual: an evolutionary rather than revolutionary change. Covers continued to provide the nucleus of their performances in Hamburg. For example, at the group's unsuccessful audition for Decca Records in January 1962 (later released as The Decca Tapes album) twelve of the fifteen songs recorded were cover versions, as were 28 of the 30 songs recorded at the Star-Club during their final visit to Hamburg in December 1962 (and later released on The Beatles Live At The Star-Club album). Apart from its impact on the dynamics of their live act and the expansion in their songwriting, Hamburg was influential in one more crucial way. Liverpool in 1959 and 1960 boasted relatively few musical retailers, and those that were there carried a limited stock. When the Beatles left the UK for Germany in August 1960, they took with them little in the way of equipment. Publicity photographs of the group taken on stage at the Indra provide a reliable guide to their instrumentation. Andy Babiuk has summarised it as follows:

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AN UNDERSTANDING OF PERFORMANCE: THE BEATLES IN HAMBURG »Lennon has his Hofner Club 40 guitar, and Harrison his Futurama, both of which are plugged into one amplifier (a Selmer Truvoice). McCartney is pictured playing a right-handed Rosetti Solid 7, which he's restrung to make it left-handed. Sutcliffe has his Hofner 333 Bass, plugged into a Watkins Westminster amplifier belonging to Best, who's standing behind his Premier drum set« (Babiuk 2001: 34). Once they had moved to the Kaiserkeller, the Beatles — conscious of their promotion to a bigger and better venue — took advantage of the lessons learned from watching and talking to other musicians (including Tony Sheridan and Roy Young, both of whom played regularly with the Beatles) to acquire new items of equipment to supplement or replace their existing range. The first addition was Sutcliffe's purchase of a Les Paul GA-40 amplifier. Lennon quickly bought (on hire-purchase, from the Musikhaus Rotthoff in Schanzenstraße) a 1958 Rickenbacker 325 that remained his instrument of choice over the next four years for live shows and recordings, and also a Fender Deluxe amplifier. When the group made its second visit to Hamburg to appear at the Top Ten Club, McCartney ordered a left-handed Höfner (500/1) ›violin‹ bass from the Steinway shop in the city centre. Lennon's Rickenbacker and McCartney's Höfner became, for both men, trademark accessories that would be indelibly associated with them. As the group's status (and income) grew, more equipment was purchased, in Liverpool and London, but the choices made in Hamburg remained an essential, and distinctive, part of their musical identity. Pete Best has recalled: »We used to mooch around Hamburg and find these little music stores that were locked away in side streets. We found that there was equipment in Hamburg which you couldn't get in Liverpool. For example, I bought some Zildjian cymbals over there, and you'd get back to Liverpool and people would say, ›Where on earth did you get these?‹ The same thing happened with the guitars. John saw this Rickenbacker […] that was the one he came back with, and made everyone's head turn in Liverpool. People were like: ›My God, we've never seen anything like that before‹« (Best in Babiuk 2001: 38). In these four components — the form of performance (its pace, its shape, its trajectory); the content of performance (i.e. the songs); the means of performance (the equipment & accessories); and the consumption of the performance (i.e. the club audiences) — the story of the Beatles was decisively and irrevocably altered by their experiences in Hamburg. These were the four related dimensions of their apprenticeship, which allowed the group to develop a practical understanding of the craft of performance. Or, to frame it in sociological terms, they constituted a ›transformative dynamic‹ that enabled the four or five enthusiastic youngsters from Liverpool to emerge as

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IAN INGLIS an accomplished, innovative and self-sufficient unit of musicians, composers and performers. My focus has been on the crucial ways in which the Beatles' practical understandings of their performance — first of their shortcomings as performers, then as eager students of ways in which to transform their performance in the competitive and concentrated arena of Hamburg's clubs — have been neglected. And consequently, I would argue that our understanding of the Beatles as performers has also been overshadowed by an overt attention to their later achievements as recording artists. Perhaps, in conclusion, the comments of John Lennon (in words that echo Sarah Thornton's references to truth and authenticity) provide the clearest summary of the Beatles in Hamburg: »We were performers in Hamburg, and what we generated was fantastic […] there was nobody to touch us in Britain. But the edges were knocked off. Brian put us in suits and all that, and we made it very, very big. But we sold out, you know. The music was dead. We had to reduce an hour or two hours playing […] to twenty minutes, and go on and repeat the same twenty minutes every night. The Beatles' music died then: we killed ourselves to make it. We always missed those dates, because that's when we were playing music« (Lennon in Wenner 1970: 45-46).

Bibliography Babiuk, Andy (2000). Beatles Gear. San Francisco: Backbeat Books. Beatles (2000). Anthology. London: Cassell. Brocken, Mike (1996). »Some Other Guys! Some Theories About Signification: Beatles Cover Versions.« In: Popular Music And Society 20:4, pp. 5-40. Coleman, Ray (1995). McCartney: Yesterday And Today. London: Boxtree. Davies, Hunter (1968). The Beatles. London: William Heinemann. Giuliano, Geoffrey / Giuliano, Brenda (Eds.) (1995). The Lost Beatles Interviews. London: Virgin. Gould, Jonathan (2007). Can't Buy Me Love. New York: Harmony. Jackson, Peter (1989). Maps Of Meaning. London: Routledge. Leach, Sam (1999). The Rocking City. Gwynned: Pharaoh Press. Leigh, Spencer (2004). Twist And Shout! Merseybeat, The Cavern, The Star-Club And The Beatles. Liverpool: Nirvana. MacDonald, Ian (1994). Revolution In The Head: The Beatles Records And The Sixties. London: Fourth Estate. Martin, George (1983). Making Music. London: Pan. Miles, Barry (1997). Paul McCartney: Many Years From Now. London: Secker & Warburg.

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AN UNDERSTANDING OF PERFORMANCE: THE BEATLES IN HAMBURG Sharp, Ken (1997). »Jurgen Vollmer.« In Goldmine 451, 7 November, pp. 39-45 (reprinted in The Beatles Digest. Ed. by Goldmine Magazine. Iola, WI: Krause 2000, pp. 39-45). Sheff, David / Golson, G. Barry (1981). The Playboy Interviews With John Lennon & Yoko Ono. New York: Playboy Press. Spitz, Bob (2005). The Beatles. New York: Little Brown & Co. Sutcliffe, Pauline / Thompson, Douglas (2001). The Beatles Shadow: Stuart Sutcliffe And His Lonely Hearts Club. London: Sidgwick & Jackson. Thornton, Sarah (1995). Club Cultures. Cambridge: Polity. Toynbee, Jason (2000). Making Popular Music. London: Arnold. Wenner, Jann (1970). Lennon Remembers. New York: Penguin. White, Avron Levine (1987). Lost In Music: Culture, Style And The Musical Event. London: Routledge. Williams, Allan / Marshall, William (1975). The Man Who Gave The Beatles Away. London: Elm Tree.

Abstract Although there is broad agreement about the importance of the Beatles' time in Hamburg, there have been relatively few sustained or detailed investigations of the causes, contexts and consequences of the changes that the city wrought in them. In approaching the topic, it is important to distinguish between the mundane reality of the Beatles and Hamburg as they were in the early 1960s, and the myths and legends that have grown up around them. While many accounts have been presented within a stereotyped mythology of »sex and drugs and rock'n'roll«, the real significance of the Beatles' experiences lies in their responses to the constraints and opportunities of live performance. A close analysis of the performative and related musical skills the group acquired during their club engagements in Hamburg will argue that it was here that four or five unemployed teenagers from Liverpool learned to be the Beatles.

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PINK RIEFENSTAHL. (U N -)A U T H E N T I S C H E I N S Z E N I E R U N G E N V O N HOMOPHILIE UND HOMOPHOBIE IM MUSIKVIDEO »M A N N G E G E N M A N N « V O N R A M M S T E I N Christian Diemer

1. Hintergrund An kaum einer Band spitzen sich Fragen von Authentizität und Inszenierung derart polar zu wie an Rammstein. Erst in der Verschränkung beider Begriffe (als inszenierter Authentizität bzw. authentischer Inszenierung) lassen sich die meisten Meinungsbeiträge zur Rammstein-Rezeption und zum Rammstein-Diskurs überhaupt verstehen — radikal verwerfende ebenso wie emphatisch in Schutz nehmende, auch die Einlassungen der Bandmitglieder selbst, etwa in Interviews. Gleiches gilt für die meisten Songs und Musikvideos der Band. Authentizität ist im Fall Rammsteins an Provokation, ans »Ärgermachen« gekoppelt.1 Gerade weil die Songtexte und -inhalte bisweilen massiv anecken, werden sie von den Rammstein-Anhängern als besonders authentisch, als dem herrschenden System politischer correctness und der marktwirtschaftlichen Stromlinienförmigkeit unangepasst verteidigt.2 Verteidigt werden sie implizit oder explizit gegen diejenigen, die wiederum aufgrund derselben Textinhalte schließen, dass es sich bei der Band um eine Truppe Rechter, Perverser oder schlicht hemmungslos Unverantwortlicher handele. Auch und gerade die radikale Negativbewertung vieler Kritiker gründet darauf, dass die Texte entweder in ihren Aussagen ernst genommen werden, oder dass ihre von Band und Fans immer wieder unterstrichene Bedenken-

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Vgl. Schneider 2001: 26; Landers 2001: 34; sowie mit Verweis auf die Sozialisation der Bandmitglieder in der DDR Kruspe 2001: 20; Lindemann 2001: 33. Zu den Bedeutungsspektren und -ebenen des Begriffs Authentizität vgl. u. a. Knaller/Müller 2006.

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CHRISTIAN DIEMER losigkeit und ›Unernsthaftigkeit‹ zwar anerkannt, aber erst recht als inakzeptabel kritisiert wird. Dies führt zu den in immer neuer Auflage fruchtlos ausgetragenen Kontroversen über die immer ähnlichen Streitpunkte, etwa ob Text, Musik und Inszenierung der Band als rechts oder unpolitisch (oder gar links) zu bewerten sind (vgl. Bettendorf o.J.: 82-84), ob (sexuelle) Gewalt und Katastrophen verherrlicht oder vielmehr dem ihnen sonst auferlegten gesellschaftlichen Tabu entrissen werden etc. Die Tatsache, dass diese Kontroversen weder zu einem Konsens führen noch anderweitig Erkenntnisgewinn abwerfen, legt nahe, dass sie den Kern des Phänomens ›Rammstein‹ nicht oder nur unzulänglich treffen. Nur unter der Kategorie ›Authentizität‹ betrachtet, ergibt sich für die artistischen (vermeintlichen) Diskussionsbeiträge Rammsteins ein inkonsistentes, von den jeweiligen Gegenseiten zu Recht beanstandetes Bild. Aus der Betrachtung der von Rammstein geschaffenen »Gesamtkunstwerke« (Hof 2001: 3) hinwiederum lässt sich die Frage, ob die Band und ihre Mitglieder als Personen tatsächlich und glaubhaft rechts oder links sind, überhaupt nicht beantworten. Versteht man ihre Stücke dagegen als inszenierte Darbietungen, so wird eine weitaus differenziertere und aufschlussreichere Einsicht möglich. Bei entsprechender Betrachtung bieten sich die Rammstein-Songs dar als komplexe Angebote höchst unterschiedlicher Sinnkonstruktionen und Sinndekonstruktionen, die zueinander in widersprüchlichen Verhältnissen stehen und bisweilen auf ausgeklügelte Weise in einem Gemenge von Indifferenz und Irritation zusammenwirken. In dem Maße, in dem sich der Fokus verschiebt von einem (normativ) moralischen zu einem (normativ) ästhetischen (Un-)Authentizitätsbegriff, wird eine Entkoppelung der konkurrierenden Authentizitäts-Anliegen möglich, individuell-situative ›Stimmigkeit‹ trennt sich von moralischer Verallgemeinerbarkeit (vgl. Knaller/Müller 2006: 8/10). Die Inkonsistenz der aus dem ausschließlichen Fokus auf (moralisch) ›authentische‹ Meinungsäußerung erwachsenen, einander diametral entgegen stehenden Bewertungen Rammsteins lässt sich auflösen und als ästhetische Wirkungsstrategie entschlüsseln. Der vorliegende Aufsatz versucht, dieses am Beispiel des Musikvideos »Mann gegen Mann« aus dem Album Rosenrot in einer Detailanalyse nachzuvollziehen.

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(UN-)AUTHENTISCHE INSZENIERUNGEN

2. Analyse Das Lied »Mann gegen Mann« ist der zweite Titel des 2005 produzierten und am 28. Oktober 2005 erschienenen Albums Rosenrot (Rammstein 2005). Jonas Åkerlund führte Regie für das Video der Single-Auskoppelung (Rammstein 2006; vgl. Fuchs-Gamböck/Schatz 2010: 175/179).

2.1 Text Rammstein-Gitarrist Paul Landers äußert sich zum Text von »Mann gegen Mann«: »Wenn man die Texte [des Albums] gedruckt liest und sie des durch den Vortrag bedingten Bedrohlichen beraubt sind, stellt man fest, dass gerade ›Mann gegen Mann‹ eine ganz süße Lyrik über Schwule ist. In unserem Zusammenhang wirkt das fast wie das Gegenteil. Das finden wir aber gut. Da kann jeder gucken, wie locker er ist, das ist ein kleiner Test!« (zit. n. FuchsGamböck/Schatz 2010: 85). Bassist Oliver Riedel erklärt: »Wir haben den Song vorher einigen Schwulen vorgespielt, und die fanden den Titel ganz gut! […] Wir hatten auf jeden Fall nicht vor, eine SchwulenHymne zu schreiben. Natürlich ist es ein kritisches Thema, wie ein heterosexueller Mensch mit dem Thema homosexueller Mensch umgeht. Vielleicht können wir dazu beitragen, dass das Wort ›Schwuler‹ etwas entschärft und der negative Touch relativiert wird« (zit. n. ebd.: 85). Im Jugendmagazin Zünder der Wochenzeitschrift Zeit wird »Mann gegen Mann« als »homoerotische Fantasie in

Moll« charakterisiert, deren

»Message« sei: »Schwulsein ist auch irgendwie okay« (zit. n. ebd.: 156). Die drei zitierten Aussagen führen mitten in die Kernfrage zum Verständnis — des Textes und, wie sich zeigen wird, auch der Musik und des Videos: Ist der Song ein Plädoyer für oder ein Hasslied gegen Schwule? Der Text macht gar nicht von Anfang an klar, dass es überhaupt um Schwule geht. Einige der Sprachbilder sind hinsichtlich ihrer inhaltlichen Aussagekraft ziemlich artifiziell und verbleiben teilweise in surrealer Schwebe.

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CHRISTIAN DIEMER Rammstein: »Mann gegen Mann« Das Schicksal hat mich angelacht und mir ein Geschenk gemacht, warf mich auf einen warmen Stern, der Haut so nah, dem Auge fern. Ich nehm' mein Schicksal in die Hand, mein Verlangen ist bemannt. Wo das süße Wasser stirbt, weil es sich im Salz verdirbt, trag ich den kleinen Prinz im Sinn, ein König ohne Königin. Wenn sich an mir ein Weib verirrt, dann ist die Hölle weltverwirrt. Mann gegen Mann! Meine Haut gehört dem Herrn. Mann gegen Mann! Gleich und Gleich gesellt sich gern. Mann gegen Mann! Ich bin der Diener zweier Herrn. Mann gegen Mann! Gleich und Gleich gesellt sich gern. Ich bin die Ecke aller Räume, ich bin der Schatten aller Bäume. In meiner Kette fehlt kein Glied, wenn die Lust von hinten zieht. Mein Geschlecht schimpft mich Verräter. Ich bin der Alptraum aller Väter. Mann gegen Mann! Meine Haut gehört dem Herrn. Mann gegen Mann! Gleich und gleich gesellt sich gern. Mann gegen Mann! Doch friert mein Herz an manchen Tagen. Mann gegen Mann! Kalte Zungen, die da schlagen, kalte Zungen, die da schlagen: Schwule! Ah! Schwule! Ah! Mich int'ressiert kein Gleichgewicht, mir scheint die Sonne ins Gesicht. Doch friert mein Herz an manchen Tagen. Kalte Zungen, die da schlagen: Schwule! Mann gegen Mann! Schwule! Mann gegen Mann! Schwule! Mann gegen Mann! Schwule! Mann gegen Mann gegen Mann!

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(UN-)AUTHENTISCHE INSZENIERUNGEN Explizit wird es erst spät, nach dem zweiten Refrain: »Schwule!« Die Bewertung ist durch die zugesetzten Schreie »Ah!« m.E. klar negativ: Um einen eklen Ausruf handelt es sich, ausgestreckten Fingers gewissermaßen. Alternativ ließe sich an einen Aufschrei des Schmerzes oder einen Hilferuf denken, entweder seitens eines Opfers homophober Gewalt, oder seitens eines Homophoben, dem die Konfrontation mit Homosexualität geradezu physischen Schmerz bereitet. Abhängig von der jeweiligen Zuordnung lassen sich diese Erweiterungen des Refrains auch als Dialoge verstehen, einer ruft: »Schwule!«, der andere antwortet »Ah!« Es fällt mir schwer, in dem »Ah!« einen Lustschrei zu erkennen, aber auch diese Deutung kann aus der textlichen Verfasstheit heraus nicht ausgeschlossen werden. Nächst explizit sind die zwei auf den Refrain hinführenden Statements. Gegenüber alltagssprachlichen Situationen und Redeweisen anschlussfähig, geben sie einen relativ unverschlüsselten Wink in die richtige Richtung: »Wenn sich an mir ein Weib verirrt, dann ist die Hölle weltverwirrt.« und »Mein Geschlecht schimpft mich Verräter ich bin der Albtraum aller Väter.« »Ich stehe nicht auf Frauen«, wäre das erste zu übersetzen, und das zweite vielleicht so: »Gemessen an der auf heterosexuelle Fortpflanzung ausgelegten Konstruktion der menschlichen Geschlechtsorgane erscheint meine sexuelle Neigung als Abart; Väter wünschen sich heterosexuelle Söhne.« Ganz geht es nicht auf. »Wenn sich an mir ein Weib verirrt«, klingt bloß altertümlich. Aber was soll die Konsequenz sein: »Wenn mich eine Frau anmacht, dann schlägt's dreizehn / dann steht die Welt Kopf / dann verwirrt sich meine (höllisch unzüchtige) Neigung durch die Konfrontation mit der (heterosexuellen) Welt«?3 Wenig besser verhält es sich mit dem zweiten Verspaar: Dass dem Geschlecht ein personales moralisches Verdikt über seinen Besitzer möglich ist, kann als etwas pathetische Psychologisierung des Körperteils oder Verkörperlichung der Psyche absorbiert werden. Dass Homosexualität der Albtraum aller (konservativ denkender) Väter ist (die ihre Heterosexualität,

3

Dass hier etwas nicht aufgeht, ist kein hermeneutisches Problem, sondern ein hermeneutisches Ergebnis. Die Subtextierung einzelner Passagen soll nicht den Eindruck vermitteln, der ästhetische Gehalt des Textes sei auf einen teilweise mitgedachten (und stets wieder durchkreuzten) Subtext reduzierbar. Im Gegenteil dient die Subtextierung mindestens gleichberechtigt dazu, nicht-substituierbare bzw. nicht-subtextierbare Anteile des Textes freizulegen.

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CHRISTIAN DIEMER könnte man forsch vertreten, ja durchs Vatersein unter Beweis gestellt haben), lässt sich nachvollziehen. Dass ein homosexueller Sohn der Albtraum seines (konservativ denkenden) Vaters ist, ebenso. Wer ist aber »ich«, wenn offenbar nur eine Person und doch Albtraum aller Väter? Diese Aussagen sind nichtsdestotrotz relativ leicht zu entschlüsseln, ebenso die mit ihnen verbundene (Ab-)Wertung. Hier werden die (extrem konservativen) Wertmaßstäbe reflektiert, die zu einem Ekelschrei »Schwule! Ah!« führen könnten: Widernatürlichkeit, Reproduktionszwang, Patriarchat. Und doch enthalten sie einen Restbestand — und sei es an reimender Ungeschicklichkeit — , der sich einem vollständigen Aufgehen in dieser dechiffrierten Lesart verweigert. Durch diese den Refrains vorangehenden Zweizeiler geleitet, erhalten dessen Pseudo-Zitate den Geruch der Doppeldeutigkeit, der sie zu dechiffrieren erlaubt. »Mann gegen Mann« meint also im Klartext »Mann mit Mann«. »Meine Haut gehört dem Herrn« wäre etwas wie »Jeder Zentimeter meines Körpers steht meinem Freund zu sexuellen Diensten«, oder »Der ›taktile Ernstfall‹ (vgl. Seel 2003: 299) von Sexualität ist bei mir Männern vorbehalten.« »Gleich und gleich gesellt sich gern« heißt — einfach ein Spezialfall der ursprünglichen Aussage — »Homo passt zu Homo, Mann zu Mann«. »Ich bin der Diener zweier Herrn« könnte meinen: »Ich habe zwei Freunde und bevorzuge mit ihnen Praktiken sexueller Unterwerfung«, aber auch eine Zote wie »Ich habe meinen Freund, und ich habe meinen kleinen Freund«. Und doch: »Meine Haut gehört dem Herrn« klingt so biblisch, ist es biblisch? »Ich bin der Diener zweier Herrn« reimt sich hölzern im gleichen Wort, soll das auch Bibel sein oder doch Carlo Goldoni? Und »Mann gegen Mann«, der titelgebende Ausruf, lebt von dem Spannungsverhältnis, zugleich militärischer Schlachtruf und homosexueller Lustschrei zu sein. Ein archaisches Männerbild — Kampf eines jeden gegen jeden, entfesselte und auf sich gestellte männliche Urgewalt — schreibt er der homosexuellen Vereinigung ein. Was Wertung betrifft, ist diese Kategorie von Textstellen schon weit genug von den konkreten Tatbeständen auf Anspielung zurückgezogen, um neutral zu wirken. »Gleich und gleich gesellt sich gern« enthält eine abwertende Konnotation dahingehend, dass es im alltagssprachlichen Gebrauch u.U. aus gutbürgerlicher Perspektive auf ›Gesindel‹ gemünzt ist. Der Affizierung mit dem Gleich und Gleich homosexueller Liebe gelingt aber immerhin der Coup, das schwule Prinzip einem wertkonservativen gesellschaftlichen Gemeinplatz einzuverleiben, dessen Vorbehalte gegenüber Schwulsein sozusagen mit den eigenen argumentativen Waffen zu schlagen. Auf Ähnliches könnte man bei der Phrase »Mann gegen Mann« plädieren:

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(UN-)AUTHENTISCHE INSZENIERUNGEN Einer archaisch-militaristischen, durchaus homophoben Umgebung wird das Schwule wie ein Kuckucksei in die Formulierung gelegt. Auch der Einschluss des »Herrn« als Bezugspunkt schwul-sexueller Subordination mag als Blasphemie Gegenstand neuerlicher Empörung sein, stattet aber zugleich die schwulen Sexpartner mit religiöser Dignität aus. Am Ehesten noch ließe sich an der Wendung, Diener zweier Herrn zu sein, das schizophrene Doppelleben ablesen, einer schwulen Neigung genauso wie einer ihr konträren Gesellschaft ›dienen‹ zu müssen. Die am wenigsten explizite, die diffuseste Kategorie, man ahnt es, ist die gegenüber Homosexualität affirmativste, und sie findet sich innerhalb der Strophen, bestreitet somit den mit Abstand umfangreichsten Anteil des textlichen Geschehens. Drei vierzeilige Strophen und eine nach zwei Zeilen abbrechende vierte Strophe entwerfen surreale Bilder ungestörter schwuler Utopien, so subtil, dass sie als schwul kaum mehr zu erkennen sind. In der ersten Strophe erscheint die schwule Neigung als weltabgewandter Glücksfall: »Das Schicksal hat mich angelacht und mir ein Geschenk gemacht, warf mich auf einen warmen Stern, der Haut so nah, dem Auge fern.« Ein »warmer Stern« ist natürlich auffällig, weil der stellare Raum eher mit Kälte assoziiert ist. Ein Stern selbst (im korrekten astronomischen Sinne) wäre wiederum (zu) heiß. Zu denken ist also an einen warmen Planeten. Mit »Haut« und »nah« geht dessen Wärme zusammen, nicht aber dessen buchstäblich extraterrestrische Entfernung, die »dem Auge fern« sein muss, nicht aber »der Haut so nah« sein kann. So vereinigen sich Wärme, Haut und taktile Nähe zu einer Projektion der Ferne vor der Welt und ihrem optischen Zugriff. (Oder sollte die Erde, der hiesige warme Planet, gemeint sein?) Der folgende Zweizeiler ist expliziter, was gerechtfertigt hätte, ihn bereits im Zuge der oben besprochenen, die Refrains anbahnenden Zweizeiler zu besprechen. »Ich nehm' mein Schicksal in die Hand, mein Verlangen ist bemannt.« Was er mit den Strophen gemeinsam hat und was ihn von den Zweizeilern unterscheidet (abgesehen davon, dass auf ihn kein Refrain, sondern die zweite Strophe folgt), ist die positive Einstellung zur Homosexualität. Das in der ersten Strophe eingeführte »Schicksal« wird offensiv angenommen. Explizit im Sinne der Aphorismen des Refrains ist das insofern, als die Formulierung doppeldeutig ist: »Ich nehm' mein Schicksal in die Hand« heißt

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CHRISTIAN DIEMER »Ich steh dazu«, aber auch »Ich masturbiere«. »Mein Verlangen ist bemannt« ist unschwer zu verstehen als »Mein Verlangen richtet sich auf Männer«, knüpft aber über die Assoziation mit einem bemannten Raumfahrzeug an das utopische Bildspektrum des »warmen Stern[s]« aus der ersten Strophe an. Auch die zweite Strophe verlegt sich auf die planetarische Metaphorik, indirekt zumindest: »Wo das süße Wasser stirbt, weil es sich im Salz verliert, trag ich den kleinen Prinz im Sinn, ein König ohne Königin.« Denn der kleine Prinz lebt bekanntlich auf einem sehr kleinen Planeten, dessen Herrscher er gewissermaßen ist. Eine Königin gibt es dort nicht, es sei denn, man rechnet die Rose hierzu: Ausgerechnet zu einer Rose — um deretwillen im nächsten Titel des Albums Rosenrot (2005) eine Frau verderbliche Macht über einen Knaben ausüben wird — unterhält der kleine Prinz auf seinem »warmen Stern« ein Verhältnis fürsorglicher Hörigkeit (vgl. Saint-Exupéry 1950), »was sie will, bekommt sie auch« (»Rosenrot«). Auf die sexuelle Ebene übertragen, kommt der »kleine Prinz« alias das Geschlechtsteil des lyrischen Ichs mit sich selbst aus, ohne von weiblicher Geschlechtlichkeit regiert zu werden.4 Im Bild der Mündung eines (Süßwasser-)Flusses ins (salzige) Meer wird die Reinheit des männlichen Geschlechts in dieser Strophe physiologisch: als Reinheit seines Sekrets. Das ist eine direkte Gegenposition zum angeblichen Verrat der Homosexualität an der Bestimmung des Geschlechts, dessen das lyrische Ich im späteren Zweizeiler bezichtigt wird (»Mein Geschlecht schimpft mich Verräter«, s.o.). Hier ist das vermeintlich naturgegebene Heterosexuelle das Lebensbedrohliche, welches Süße sinnlos verwässert bzw. versalzt. Die dritte Strophe entzieht sich für mich einer metaphorischen Auflösung. Ich verstehe nicht, was die ersten beiden Verse heißen könnten, aber mir gefällt das schiefe, abstrakte Bild, das in irgendeiner Form in den Ausdruck von Wohlbefinden und Harmonie hineinpasst, den die Strophe insgesamt vermittelt: »Ich bin die Ecke aller Räume, ich bin der Schatten aller Bäume. In meiner Kette fehlt kein Glied, wenn die Lust von hinten zieht.«

4

Vgl. im vorigen Titel »Benzin«: »Brauch keine Frau, nur Vaselin«.

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(UN-)AUTHENTISCHE INSZENIERUNGEN Die zweite Hälfte bietet wieder mehr Anhaltspunkte: »Glied« ist, gewohnt doppeldeutig, einerseits Bestandteil einer »Kette«, andererseits Geschlechtsteil. Die von hinten ziehende Lust verweist auf einschlägige Sexpraktiken. Es könnte also, mit Verlaub, heißen: »Alle meine Sexpartner sind da, wenn wir Lust auf Analsex haben.« Auch eine Assoziation der aus mehreren Gliedern zusammengesetzten Kette mit entsprechenden Sexspielzeugen ist denkbar. Die vierte Strophe teilt sich ihre zweite Hälfte mit dem Ende des zweiten Refrains, der den Ausruf »Schwule!« herbeiführt. Insofern lässt sich über die Bewertung als ›Strophe‹ durchaus streiten. Die genuine erste Hälfte passt zur Welt aus Wärme und Wohlbefinden. Die fremde zweite Hälfte, schon auf »Schwule!« hinsteuernd, kommt dementsprechend mit Kälte daher: »Mich int'ressiert kein Gleichgewicht, mir scheint die Sonne ins Gesicht. Doch friert mein Herz an manchen Tagen. Kalte Zungen, die da schlagen: Schwule!« Kälte und Herz (und Sonne) ist eine Rammstein-typische Verbindung.5 Im letzten Vers wird die alltagssprachliche Wendung von »bösen Zungen« dem Kältetopos (»kalte Zungen«) und die von »bösen Zungen, die da sagen«, dem Gewalttopos (»die da schlagen«) gefügig gemacht, so scheint es: Der Ausruf »Schwule!« wird dadurch (metaphorisch oder real verstanden) zu einem Akt körperlicher Brutalität. Ist »Mann gegen Mann« Schwulen-Idyll oder Schwulen-Hetze? Der textgestützte Befund deutet darauf hin, dass konträre Meinungsäußerungen unterschiedlicher Explizität und Diffusität in Szene gesetzt werden, teils in klar zugeordneten Textgliedern, teils auf der Mikroebene von Doppeldeutigkeiten und Metaphern. Die berechtigte Frage, inwieweit die Bewertung als mehr oder weniger explizit in jedem Fall mit objektiver Sicherheit vollzogen werden kann, und inwieweit nicht auch strukturelle Beobachtungen oder die Kenntnis von Musik und Video verfälschend miteinfließen, ist doch losgelöst von der zentralen Erkenntnis: Es gibt stark unterschiedliche Grade an Konkretheit und Diffusität auf der einen und an Affirmation und Ablehnung auf der anderen Seite.

5

Vgl. z. B. »Sonne« (Rammstein 2001): »Wenn sie [die Sonne] aus den Fäusten bricht, legt sich Eis auf das Gesicht, legt sich schmerzend auf die Brust, das Gleichgewicht wird zum Verlust.«

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CHRISTIAN DIEMER •

Die vier Strophen (die vierte nur zur Hälfte) entwerfen das Bild einer schwulen Utopie in subtilen bis abstrakt-kryptischen Bildfeldern. Wärme, Nähe, Haut, Weltabgewandtheit, Harmonie, Vollständigkeit sind hier die Schlagwörter.



Die Refrain-Teile operieren mit alltagssprachlichen Versatzstücken und Pseudo-Zitaten und inszenieren sie in geschickter Doppelbödigkeit, die die Ambivalenz der Bewertung des schwulen Prinzips erhält.



Der schwule Kontext wird vermittelt durch drei Zweizeiler, die in zwei Fällen dem Refrain vorangehen: Ihre Statements sind ziemlich leicht auf Homosexualität zu dechiffrieren, wenn auch ein Restbestand an unbegradigter metaphorischer Schiefwinkligkeit bleibt. In zwei von drei Fällen geben sie negative Sichtweisen auf Homosexualität wider.



Das Kind beim Namen genannt wird in dem wiederkehrenden und am Ende mit der Refrain-Zeile »Mann gegen Mann« alternierenden Ausruf »Schwule!« Durch den Zusatz »Ah!« ist die Verfemung in unartikuliertem Ekel auf die Spitze getrieben.

2.2 Musik Dem ganzen Stück liegt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, folgendes Riff zugrunde, das sich durch einen charakteristischen Kleinsexten-Sprung am Anfang und einen retardierend synkopischen Vier-in-Drei-Rhythmus auszeichnet:

Beispiel 1: Rammstein: »Mann gegen Mann«, Bassriff.

Es wird erst im Synthesizer vorgestellt, bis es dann, nach dem Einzählen der Hi-Hat, in den unverzerrten E-Bass wechselt. Dort läuft es während der Strophen außer der vierten (s.u.) durch. Zum Refrain verändert sich nicht die Struktur, wohl aber der Sound: Nun wummern die Gitarren elektrisch verzerrt, wobei der Klang durch parallele Quinten (Powerchords) an Masse gewinnt. In den zweiten Refrain ist ein Zwischenspiel (Bridge) eingefügt. Es bringt ein anderes, stark repetitives Riff, das von einer 3-gegen-4-Rhythmik aufgepeitscht ist. Die gleichzeitige Synthesizer-Melodie ist intervallisch mit dem Anfangs-Riff verwandt: Dem charakteristischen kleinen Sextsprung g2-es3

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(UN-)AUTHENTISCHE INSZENIERUNGEN entspricht 1C-1As im Riff, andererseits ist das im zweiten Takt erreichte as2 die kleine Sexte über dem Grundton, entsprechend dem 1As über 1C im Riff. Die Synthesizer-Melodie operiert auf der Quinte g statt auf dem Grundton:

Beispiel 2: Rammstein: »Mann gegen Mann«, Zwischenspiel, T. 48-50.

Dieselbe Melodie liegt wiederum in der Bassgitarre der unverzerrten und schlagzeugfreien zweiten Hälfte des Zwischenspiels zugrunde. Dadurch geraten die Quinte und kleine Sexte in den Bass, die harmonische Szenerie wirkt dominantisch-subdominantisch. Entsprechend artikuliert die Begleitung der oberen Gitarrenstimme gebrochene D4 6- bzw. s(3) 5 6-Akkorde. Dies ist die Grundlage für die vierte Strophe (»Mich int'ressiert kein Gleichgewicht…«), die sich damit radikal von allem anderen Geschehen abhebt:

Beispiel 3: Rammstein: »Mann gegen Mann«, T. 64-66.

Die Stimme folgt rhythmisch weitgehend dem leicht aufgerauten Sprachrhythmus. Es gibt nur drei signifikante Abweichungen: Jeweils der Abschluss des letzten Verses einer Strophe ist eigentümlich gedehnt. Till Lindemann gibt sich gar keine Mühe, der verlängerten Phrase das nötige Mehr an Spannkraft sängerisch einzugeben, er atmet mitten zwischen die auseinandergezogenen Silben der Wörter:

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CHRISTIAN DIEMER

Beispiel 4: Rammstein: »Mann gegen Mann«, T. 7-9, 17-19 und 35-37.

Während in den Strophen ein erzählend beschwörender, man möchte fast sagen, verträumter Stimmklang und eine entsprechende Deklamation vorherrschen, wird der Ton während der in gesteigerter Konkretheit zum Refrain überleitenden Zweizeiler ruppiger, rollender (Prechorus). Das gilt auch für den ersten Zweizeiler zwischen erster und zweiter Strophe, auf den in der Textvorlage gar kein Refrain folgt (»Ich nehm mein Schicksal in die Hand…«) und der aufgrund seiner positiven Einstellung zu Homosexualität einen Zwischenstatus inne hat (s.o.). Mit Kenntnis der Musik sieht es anders aus: Er ist musikalisch klar mit den späteren beiden Zweizeilern verbunden, die den ersten und zweiten Refrain herbeiführen (»Wenn sich an mir ein Weib verirrt…« und »Mein Geschlecht schimpft mich Verräter…«). Auf ihn folgt zwar kein Refrain-Text, wohl aber Refrain-Musik: das Riff mit wummerndem E-Gitarren-Sound. Es ist ein nur zweitaktiges Aufbrechen, das gleich wieder in den (instrumental) unverzerrten bzw. (stimmlich) beschwörenden Duktus der Strophen zurückgeholt wird. Formal ist es von entscheidender Bedeutung: Mit dem Verzicht auf den Refrain-Text und die Beschränkung auf nur zwei Takte hält es den textlich-inhaltlichen Fortgang der ersten beiden Strophen nicht auf. Das Stück soll zunächst einmal textlichinhaltlich vom Fleck gekommen sein, bevor es sich auf die Schlag auf Schlag, Vers gegen Vers hingeworfenen Versatzstücke des Refrains einschießt. Zugleich künden diese zwei Takte zu einem frühen Zeitpunkt von der brutalen musikalischen Gegenwelt, die die später ausgeführten und anteilig überhand nehmenden Refrains bringen werden. Samples finden sich in den Strophen und verstärken das zum Kitsch hin Offene an ihnen: Zum einen zweimal eine Art synthetisches Kinderlachen, das zugleich ›schwul‹ und wie eine Äußerung von Ekel oder Auslachen klingt, zum anderen Synthesizer-Streicher, mit dem oben erwähnten Chimes-

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(UN-)AUTHENTISCHE INSZENIERUNGEN Sample im Einschwingvorgang, die die Strophen nach den gedehnten vierten Versen ausläuten. Derselbe Sound findet sich bei 1'21'', um den Refrain während der Dauer von nur zwei Takten in die subtile Welt der dritten Strophe zurückzuholen (hier setzt das Riff für zwei Takte aus). Die Musik scheint die oben vorgenommene Abwägung der Textteile hinsichtlich ihres Grades an Explizitheit durch einschlägige Korrespondenzen zu unterstützen. Der textlichen Differenzierung nach ›explizit — verschlüsselt‹ bzw. ›homophob — homophil‹ entspricht eine klangliche Orientierung nach ›hart — weich‹ und ›laut — leise‹. Die graduellen und mehrstufigen Unterschiede der Textglieder ordnen sich in Verbindung mit dem musikalischen Material zu stärker binären Gegenüberstellungen. •

In der Musik findet sich eine deutliche Polarisierung zwischen den fragilen, transparenten Strophen- und den massiven, brutalen Refrain-Teilen. Sie ist klanglich (unverzerrt vs. verzerrt), nicht durch musikalische Strukturen vermittelt (das Anfangs-Riff ist beiden ohne strukturelle Veränderung eigen).



Die erste Hälfte der vierten Strophe wird durch eine ganz andere musikalische Textur herausgehoben (die sie in ihren Elementen allerdings mit dem vorangegangenen Zwischenspiel teilt). Sie wird zur fragilsten Passage des ganzen Stücks.



Die Zitat-ähnlichen Äußerungen des Refrains (»Gleich und gleich gesellt sich gern« etc.) werden durch die musikalische Umsetzung der Seite des harten, massiven Klangs zugeschlagen.



Die drei Zweizeiler (»Ich nehm mein Schicksal in die Hand…«, »Wenn sich an mir ein Weib verirrt…«, »Mein Geschlecht schimpft mich Verräter…«) haben als Prechorus klar überleitende Funktion vom Strophenin den Refrainsound. Der Übergang vollzieht sich über den sich verhärtenden Stimmklang und die ausbruchsartig in den Refrain stürzende Schlagzeug-Aktivität.



Die Sonderstellung der Wendung »Mann gegen Mann«, die den anderen Zitaten sowie dem Ausruf »Schwule!« beharrlich entgegengesetzt wird, wird musikalisch genutzt, insofern der Ausruf als einziger nicht tonlich, sondern dumpf gegrowlt von allen anderen Versen abgegrenzt wird. »Mann gegen Mann!« und »Schwule!«, die beiden durch Wiederholung insistierenden Elemente, werden so in ihrer kontrapunktischen Stellung verschärft.

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2.3 Video Es gibt »narrative Clips« und es gibt Clips, »die eher als Performance und mithin wenig bzw. gar nicht erzählend konzipiert sind«, sog. situative Clips (Keazor/Wübbena 2007: 27, vgl. zur Kategorisierung ausführlich Altrogge 2001). Da der hier zugrunde liegende Text nicht erzählerisch ist, verwundert es nicht, dass man im zugehörigen Clip einen Vertreter der letzteren Kategorie antrifft. Die Band wird beim Spielen des Songs gezeigt. Das ist auf einer vordergründigen Ebene schon fast alles; einzig ein radikaler Ausbruch aus dieser eher unnarrativen und statischen Umgebung entfaltet gegen Ende des Videos umso ungeheurere Wirkung. Paul Landers beschreibt die »Story« so: »Die Story ist, wir spielen nackig, komplett, wobei die Gitarristen jetzt die Gitarre davor haben, das ist 'n leichterer Job. Till hat sich dann 'ne Lackwindel angezogen, weil das für ihn doch nichts war, und alle anderen sind komplett nackig« (zit. n. Fuchs-Gamböck/Schatz 2010: 155). Die mise-en-scène, das filmisch Dargestellte, kennt in diesem Clip zwei Umgebungen. Die eine ist für die weitaus längste Dauer des Videos konstant, sodass sie ›Grundumgebung‹ genannt werden kann. Ihr prägnantestes Ausstattungsmerkmal ist ein rosaroter Teppichboden, der von einer Scheinwerferbrücke von oben angestrahlt wird. Wände oder andere räumliche Begrenzungen sind aufgrund der Lichtverhältnisse nicht zu erkennen, genauso wenig irgendeine Form von Mobiliar.6 In dieser Umgebung spielen sich zwei voneinander getrennte Handlungen vor der Kamera ab. Die eine zeigt die Bandmitglieder beim Spielen des Songs. Schwarze Kabel winden sich auf dem rosafarbenen Boden und lassen ihn als Studio- oder Bühnenraum erscheinen. Niemand hat, von (Springer-) Stiefeln abgesehen, etwas an außer Frontmann Till Lindemann, dessen Blöße statt durch ein Instrument durch eine »Lackwindel« (zit. n. ebd.: 155) bedeckt wird. Außerdem trägt er kniehohe Lackstiefel, mit Pfennigabsatz. In Abweichung von seinem gewöhnlichen Äußeren sind seine Haare überschulterlang. Sein leicht aufgedunsener Körper ist behaart. Die Physiognomie ist grau, schweißnass, Augen und Mund meist spastisch aufgerissen. Schön sieht er so nicht aus. Schön aber sehen sie aus in der parallelen Handlung: nackte Athleten, schwarze und weiße, mit ungeheuerlichen, ölglänzenden Körpern. Zur ersten Strophe lassen sie ihre symmetrisch durchtrainierten, schimmernden Gliedmaßen in choreographierten Bewegungen 6

Vgl. zur hier durchgeführten Musikvideoclip-Analyse Jost 2009.

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(UN-)AUTHENTISCHE INSZENIERUNGEN spielen. Als gäbe die Musik mit dem ersten, nur zweitaktig angetäuschten Einsatz des Refrains ein Signal, zuckt, als die E-Gitarren loswummern, ein gigantischer Brustmuskel. Ab dann umschlingen und berühren sich die verschiedenfarbigen Körper mit zärtlich festem Druck, kauern, liegen, zu vielarmig wogenden Arrangements verknotet, auf dem rosafarbenen Boden, ein lebendig ineinander verschlungener Organismus. An ihrer (identischen) räumlichen Umgebung lassen sich beide Geschehen nicht unterscheiden und auch am Personal nur schwer, denn auch wenn die nacktglänzenden Musiker keine Athleten sind, fällt nur der behaarte und graufahle Till Lindemann offensichtlich aus dem Rahmen. Es ist die mise-enchaîne, die eine klare Aufgabenteilung vornimmt: Die musizierende Band wird in Naheinstellungen hauptsächlich auf die Gesichter fokussiert; auch in Halb- oder Ganzkörperaufnahmen und verschiedenen Totalen (von vorne, von der Seite) sind die Einzelpersonen stets an ihrem Gesicht und Instrument zu erkennen. Anders die Athletenkörper: Ihnen sind fast ausschließlich Nahaufnahmen vorbehalten: Brustmuskeln, Sixpacks, Bizepse, Schulterblätter, Hände. Die wenigen Totalen lassen Rücken und Hinterteile sehen, aber nicht ein Gesicht eines Athleten tritt so in Erscheinung, dass es wiedererkennbar wäre. Sie sind nur Körper, Körperteile vielmehr, und als solche so gefilmt, dass sie oft nicht einmal einzelnen Körpern zugeordnet werden können. Die Art, wie diese Auflösung und Verschmelzung der Körper zu neuen, die zur Verfügung stehende Bildfläche kompositorisch gestaltenden Formationen vor sich geht, erinnert an die körperbetonte Ästhetik Leni Riefenstahls.7 Ihre je klare filmische Akzentuierung trägt indes nicht dazu bei, dass beide Ebenen zu jeder Zeit tatsächlich klar unterscheidbar wären. Bisweilen scheint es, als hätten sich die Körper der Musiker vervielfältigt und seien 7

Zu ihrer Cover-Version des Depeche-Mode-Titels »Stripped« (1998) verwendete Rammstein Montagen aus Leni Riefenstahls Film Fest der Völker / Fest der Schönheit über die Berliner Olympischen Spiele 1936. In Verbindung mit den »martialischen Live-Auftritte[n], ein Spiel mit Muskeln und Feuer, begleitet von einer Art teutonisch-brachialem Metal« führte das zu einer heftigen medialen Kontroverse. Rammstein gab später an, mit der Montage eine Grenze überschritten zu haben, was nicht wieder vorkommen werde (Fuchs-Gamböck/Schatz 2010: 103). In eigenen Statements wird differenziert zwischen der ästhetischen Befürwortung Riefenstahls und ihrer politischen Bedeutung: Man finde sie »künstlerisch gut«, sei aber deswegen »doch kein Nazi«. Generell dementiert Lindemann »faschistoide Ästhetik« bei Rammstein: »Absoluter Schwachsinn.« Es werde verkannt, dass es sich »bei den Shows um eine Form von Theater« handele (Lindemann 2001: 33). Dieser Zusatz erlaubt indes, auch dieses Dementi auf die politische Bedeutung ›faschistoider‹ Elemente zu beziehen, von der Rammstein losgelöst sein will, nicht aber auf deren ästhetische Dimension, die in einem Kunstraum theatraler Inszenierung sehr wohl stattfindet.

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CHRISTIAN DIEMER dieselben, die sich da gesichtslos lustvoll aneinander rieben. Dazu trägt die schnelle Schnitt-Technik bei, die die parallelen Ebenen teilweise im Sekundentakt miteinander verschneidet. Der Rhythmus der Musik ist hierbei einzig bestimmendes Element. Besonders augenfällig ist die Koppelung bei dem Schlachtruf »Mann gegen Mann«, der stets auf die Silbe »Mann« den zum Schrei aufgerissenen Mund eines der Bandmitglieder (meist Till Lindemanns) buchstäblich anspringt. Teilweise wird noch in Sekundenbruchteilen nachgezoomt, oder das Gesicht platzt seitlich versetzt und zu groß auf den Bildschirm. Das Beschriebene ist der ›Grundzustand‹ des Videoclips, die ›Grundumgebung‹ (die rosa Bühne), die ›Grundhandlung‹ (die musizierende Band, die sich als narzisstischer Super-Organismus gerierenden Athletenkörper). Folgende Abweichungen geschehen: •

Bei 1'21'' fängt ein Synthesizer-Streicher-Akkord die Wucht des Refrains in nur zwei Takten ab, um in die fragile dritte Strophe zu führen. Anzumerken ist hier eine Detailbeobachtung der mise-en-scène: Der letzte Schlag von Gitarrist Paul Landers läuft in eine kreisende Bewegung des ausgestreckten Arms aus, die zum Verwechseln einem Hitlergruß ähnelt. Während der dritten Strophe wird mit weiteren, den Spielbewegungen entlehnten Gesten experimentiert, etwa dem periodischen Anschlagen der Saiten durch Hin- und Herschwingen des ganzen Arms. Der Position der Gitarre vor dem Unterleib entsprechend hat die Bewegung etwas Obszönes. Die damit verbundenen Konnotationen mögen kalkuliert oder versehentlich entstanden sein: Das Rezeptionsangebot besteht für jeden entsprechend sensibilisierten Betrachter.8



Diese zwei Takte nach 1'21'' haben musikalisch eine besondere Stellung, da in ihnen zum einzigen Mal während des ganzen Stücks das GitarrenRiff pausiert. Hier hält die Musik freischwebend inne, auch wenn die Timeline im Hi-Hat über die zwei Takte weiterläuft. Der Film trägt diesem musikalischen Umstand höchst subtil Rechnung, auf der Ebene der mise-en-cadre. Die Montagefrequenz ist nur wenig reduziert, entscheidend ist, dass für die Dauer dieser zwei Takte die Schnitte als Überblendungen stattfinden. Mit Beginn der dritten Strophe folgen wieder die üblichen harten Schnitte.



Während des nachfolgenden Refrains, etwa ab 1'57'', meint man eine allmähliche Radikalisierung der wogenden Athletenhaufen zu erkennen.

8

Es ist nochmals zu betonen: Hier geht es nicht um die Spekulation über Intuitionen oder Gesinnungen der Band, sondern um das, was sich der Rezeption darbietet.

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(UN-)AUTHENTISCHE INSZENIERUNGEN Mehr und mehr werden Körper und Extremitäten in geworfener oder taumelnder Bewegung gezeigt, während die flächigen Berührungen zwischen den Körpern weniger werden. •

Synchron mit dem Beginn des Zwischenspiels (2'13'') setzt feiner, im Scheinwerferlicht gleißender Sprühregen ein. Er sprenkelt offenbar aus Düsen in der unsichtbaren Decke der Halle, die sich genau oberhalb der Position eines jeden der Musiker befinden. (Auch die Athleten ringen nun in der Nässe.) Das führt zu einer erheblichen Eskalation des Verhaltens der Musiker. Ihre Bewegungen werden zuckend, spastisch, epileptisch, mit verdrehten Augen lassen sie sich Wasser in den Mund regnen. Diese durch den Regen ausgelöste Eskalation reicht gewissermaßen das missing link nach zwischen dem offenen Ende des Refrains (»kalte Zungen, die da schlagen«) und seiner Wiederholung und Beantwortung, für die die Aggression erst nach der ersten Hälfte des Zwischenspiels ausreicht (»kalte Zungen, die da schlagen: Schwule! Ah!«). Bei den krampfartig dargebotenen Schreien scheint es, als würde dem mit seinem Lackstiefel nach der Kamera tretenden Till Lindemann für einen Augenblick eine graue Doppelzunge aus dem Mund schießen.

Wie im Übergang zur dritten Strophe wird die Wucht auch zur zweiten, leisen Hälfte des Zwischenspiels (2'48'') quasi schlagartig zurückgenommen. Diesmal ist es das Schlagzeug, das acht Takte aussetzt — auch das eine singuläre Erscheinung im gesamten Stück. Erneut trägt dem die mise-encadre Rechnung, indem das ganze leise Zwischenspiel wieder mit Überblendungen anstelle der harten Schnitte bestritten wird. Diesmal gilt der Ausnahmezustand aber für alle Parameter. Es geschieht viel mehr, es geschieht Ungeheuerliches: Eine weiße Hand findet in einer schwarzen Halt. Die Musiker, einer nach dem anderen, werden von der Menge der Athleten getragen, willenlos, wie benommen. Die beiden Hemisphären und ihr Personal kreuzen sich in einem filmischen Raum. Die Anspielung an die auf Rammstein-Konzerten gängige Praxis des crowdsurfing öffnet zugleich die dargestellte homoerotische Harmonie hin zu der realen homosozialen Konzertsituation, in der die männlichen Bandmitglieder von einem vorwiegend männlichen Publikum gefeiert, geliebt und getragen werden. Die mise-enchaîne blickt auf all das von oben herab. Dann wird die ›Grundumgebung‹ gesprengt. Ruhigen, verklärten Blicks nach oben aus glasigen und geröteten Augen singt Till Lindemann in eine Schwärze, die nicht mehr wie ein unsichtbarer Bühnenraum, sondern wie freier Nachthimmel aussieht, aus dem statt Sprinklergischt feine Schneeflocken zu fallen scheinen. Lindemann ist auch nicht mehr nackt oder sieht zumindest in dem Nachtlicht nicht mehr so

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CHRISTIAN DIEMER aus, gerahmt ist sein Oberkörper von einem graubraunen, rauhen Etwas, das wie Baumrinde, Panzer und Engelsflügel aussieht und auf dem sich rote Blumen abheben (keine Rosen). Er sieht nun selbst aus wie ein abenteuerlich gepanzertes, in einer Phantasielandschaft festgewachsenes Fabelwesen. Zu seinen Füßen wogen die nackten Leiber und greifen nach seinem im Dunkel unkenntlichen ›Sockel‹. Man ist versucht, an die Welt des Kleinen Prinzen zu denken, so extramundial mutet die Szene an.9 Sie hält nur vier Takte an. Wo Text und Instrumentation das Zwischenspiel in die harte Klanglichkeit des Refrains zurückreißen (3'10''), fährt ein Springerstiefel auf den rosafarbigen Teppichboden nieder und wirft das Geschehen wieder in die ›Grundumgebung‹ zurück. Aber wie hat sie sich verändert: Die Leiber ducken sich unter dem niederprasselndem Regen und unter Schlägen, die die Gischt von den Gliedmaßen aufspringen lassen (wie von Becken und Schlagzeug). Till Lindemann reißt sich, »Ah!« brüllend, mit beiden Händen die schwarzen Haare vom Kopf, schwarzgrau sein ganzer Leib, und so entstellt erkennt man in den letzten Sekunden in ihm den vertrauten, kurzhaarigen Till Lindemann. Was ist die Strategie dieses Films im Verhältnis zu Text und Musik? Er verzichtet auf vieles. Er erzählt keine Geschichte. Er reduziert seinen Vorrat an Bildern und Handlungen auf zwei Elemente: nackte Musiker, nackte Athleten. Er würdigt nicht jeden Bruch in Text und Musik mit einer Variation seiner Parameter: die Grundumgebung, die beide Grundhandlungen, der Grundmodus ihrer filmischen Darstellung und die Montage bleiben über weite Strecken konstant. Nur mit einer subtilen Modifikation der SchnittTechnik nuanciert der Film die beiden Stellen, in denen eine Unwucht musikalischer Energie aus dem Refrain bzw. aus der ersten Hälfte des Zwischenspiels binnen Sekunden abgefedert wird. Umso dramatischer dann dieses eine Heraustreten, dieses plötzliche Geworfensein in eine (scheinbar) andere Welt. Bis in seine Binnenstruktur verlässt sich der Film auf den Rhythmus der Musik. Das wiederkehrende »Mann gegen Mann« gewinnt durch seine konsequente Akzentuierung im Schnitt noch mehr Gewicht, als ihm durch seinen textlichen und klanglichen Sonderstatus schon zukommt. Der Film macht was aus diesem »Mann gegen Mann«. Der militaristische bis faschistoide Beigeschmack wird geschärft und erweitert: um rassischen (wenn auch inter-rassischen) Körperkult, um Leni-Riefenstahl-Ästhetik, um (versehentlichen) Hitlergruß, um Rosa-Farbenes erschütternden Springerstiefel, um Gewaltdarstellung in Zeitlupe, in der die kraftstrotzende homo-

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Die Szene ist auch auf dem Cover der Single zu sehen.

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(UN-)AUTHENTISCHE INSZENIERUNGEN erotische Mannesschönheit zugleich untergeht und erst gischtsprühend sich vollendet. Das Schwule daran ist von vornherein mit dem ihm Opponenten kontaminiert. Der Springerstiefel, der so scheinbar von außen auf den Teppich niedersaust, verweist mitten ins Herz seiner rosaroten Gegenwelt. Gewalt und Aggression, und zielt sie auch auf Selbstzerstörung, sind tief diesem homoerotischen Idyll eingesenkt. So martialisch wie es sich zelebriert, hält es sich selbst den Spiegel der Entartung vor. Till Lindemann ist der Gegenentwurf zu solcher bis zur Unkenntlichkeit mit ihrem Gegenteil geratenen Homoerotik. Von Körperkult ist er, der Unförmige, Behaarte, frei. Von der mit jenem Kult paktierenden Gewalt auch, denn der eine Tritt seines Lackstiefels in Richtung der Kamera wirkt, anders als den des anonymen Springerstiefels, eher hektisch als brutal. Seine Insignien des Schwulen sind das Krankhafte, Abartige, Hässliche, und das Lächerliche (Lackstiefel und »Lackwindel«). Bis auf die langen Haare ist er das aus einer klischierten Gegenideologie erwachsene Hohnbild des Schwulen, der buchstäbliche »Albtraum aller Väter«. So pervers wie er sich geriert, hält er der athletischen Gegenwelt den Spiegel des Faschismus vor. Wo sich die Ästhetik auf die Seite des Homoerotischen schlägt, rückt das Resultat in die Nähe des (ästhetisch) Faschistoiden, mithin (implizit) Homophoben. Wo die Ästhetik auf Solidarisierung mit dem Homoerotischen verzichtet, gibt sie es seiner vermeintlichen Krankhaftigkeit und Perversität preis, im Sinne des (ideologisch) Faschistoiden, Homophoben. Diese chiastische Struktur entspricht interessanterweise Argumentationsfiguren, die Claus/Müller (2010) in ihrer Untersuchung von Homosexualität im rechtsextremen Milieu aufzeigen: Einerseits sei »männliche Homosexualität im Koordinatensystem der Männlichkeiten stets untergeordnet« und werde »als Affront gegen hegemoniale Männlichkeit verstanden«. Homophobie sei mithin strukturelle Voraussetzung hegemonialer Männlichkeit, insofern sie »geradezu des konstruierten Homosexuellen als Anti-Typus [bedürfe], des effeminierten und daher ›unmännlichen‹ Mannes« (ebd.: 111f.). Im Musikvideo zu »Mann gegen Mann« ist Till Lindemann klar als solcher Anti-Typus markiert und den hypermaskulinen Athleten gegenübergestellt.10 Diese Hypermaskulinität könne jedoch unter bestimmten Bedingungen zur Legitimation von Homosexualität dienen. Insbesondere von homosexuellen Rechtsextremen werde Schwulsein in diesem Fall als Streben nach einem Männlichkeitsideal dargestellt. Man stehe auf Kerle, nicht auf Femini10 In anderen Musikvideos oder Bühnenshows erfüllt oft Keyboarder Christian ›Flake‹ Lorenz diese Funktion, von der sich der tendenziell hypermaskuline »Männerbund« (Claus/Müller 2010: 111) der Band abhebt.

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CHRISTIAN DIEMER nes. Man kämpfe nicht gegen Männer, sondern gegen Unmännlichkeit. Für homosexuelle Rechtsextreme sind »homophobe Abgrenzungen zu empfundener Unmännlichkeit, Schwäche und femininen Attitüden bei Schwulen [...] zentral in der Reflexion ihres eigenen Begehrens« (ebd.: 115). »Homosexuelle Nazis müssen jedwede Effeminiertheit vermeiden, wollen sie mehr oder minder offen zu ihrer Homosexualität stehen und als ›vollwertige‹ Männer anerkannt werden. Gerade in einer Szene, in der klare Geschlechterrollen gelten und viele einen gewaltförmigen und hypermaskulinen Habitus verkörpern, ist es eminent, nicht als ›weiblich‹ oder ›tuntig‹ zu gelten« (ebd.). Diese Aufwertung des Homoerotischen, geknüpft an die Bedingung von Hypermaskulinität, verkörpern die Athletenkörper des Musikvideos. Eine so vermittelte Toleranz gegenüber einem bestimmten Konzept von Homosexualität darf freilich »nicht mit Akzeptanz gegenüber Homosexualität an sich verwechselt werden« (ebd.: 116). Im Gegenteil hat sie aggressive Intoleranz und Diffamierung aller anderen Formen von Homosexualität zur Voraussetzung. Diese Konfliktlinie wird denn auch im Video inszeniert. Auf der Strecke bleibt in dem Musikvideo das unbelastet Utopische am Schwulen, das der Text in den Strophen zu entfalten vermochte. Allenfalls tritt es auf in der einen Ausnahmesituation, die der Film durch die vorangegangene radikale Beschränkung seiner Mittel mit besonderer Wirkung ausstatten kann. Die auf Händen getragenen, auf den Athleten crowdsurfenden Bandmitglieder, vor allem aber der auf den (kalten) Stern gezauberte Till Lindemann mit gepanzerten Engelsflügeln sind frei von den Gegenpolen vom martialisch Gewaltsamen vs. krankhaft Verfemten, in die der Film den Rest getrieben hat. Hier und nur hier kann homosoziale und homoerotische Interaktion außerhalb homophober Rahmungen stattfinden, nur hier kann sie als positiv inszeniert werden, ohne sich durch ihre Affirmation zugleich hinterrücks unterwandert zu sehen.

3. Fazit Die vorliegende Analyse von »Mann gegen Mann« hat gezeigt, dass es Voraussetzung ist, seine Bestandteile als Gegenstände von Inszenierung zu verstehen, um seine ästhetischen Wirkungsstrategie würdigen zu können. Die Analyse liefert mithin einen Ansatz, die opponenten Bewertungen Rammsteins, die jeweils im Vertrauen auf Rammsteins unmittelbare Authentizität gegeben werden, in ihrer Gegensätzlichkeit zu integrieren und als Symptome eines komplexen Spiels von primär unauthentischen Inszenie-

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(UN-)AUTHENTISCHE INSZENIERUNGEN rungen verständlich zu machen. Erst aus dieser kritischen Distanzierung heraus werden der ästhetische Reiz und die provokative Kraft Rammsteins greifbar und konsistent erklärbar. Gerade aus dem komplexen inszenatorischen Wirkmechanismus kann auf den Impetus des »Ärgermachens« rückgeschlossen werden, der nämlich gar nicht so sehr in einer scheinbar unliebsamen, aber unmittelbar authentischen Meinungsäußerung gründet. Es geht nicht um authentische, im Sinne von: unverfälschte, ehrliche, inhaltsorientierte Meinungsäußerung, Diskussionsbeiträge etc. (vgl. Knaller/Müller 2006: 7/9; Habermas 2003). Vielmehr wird die Aufhebung der authentischen Meinungsäußerung in ein ausdrücklich inszeniertes ästhetisches Wechselspiel zur eigentlichen Provokation. Dass dieses dabei stets mit außerästhetischen Inhalten interagiert, liegt in der Natur der Sache und in der Beschaffenheit von Ästhetik. Rammstein ist die Fähigkeit nicht abzusprechen, gesellschaftliche Diskurse über Tabuthemen anzustoßen oder zu befeuern; genauso wenig ist Rammstein die Fähigkeit zuzusprechen, in ihrem Schaffen die zugehörigen diskursiven Lösungen mitzuliefern. Nicht durch die glaubwürdige Positionierung zu außerästhetischen Inhalten, erst durch deren raffinierte Inszenierung entsteht bei Rammstein Authentizität. Gerade der von Rammstein selbst häufig vorgebrachte Verweis auf die eigene Unauthentizität (vgl. Grossberg 1992), die bloße spielerische Gemachtheit des jeweils ›Gemeinten‹ kann die Authentizität des Gesamten legitimieren. Man könnte auch sagen: Dass jedem Konzept von inszenierter Authentizität oder staged authenticity ein performativer Widerspruch (Knaller/Müller 2006: 8f.) und mithin eine Provokation innewohnt, materialisiert sich an Rammstein in besonderer und konstitutiver Weise. Diese Authentizität erweist sich mithin als eine Authentizität zweiter Potenz, die mit der Inszenierung unteilbar verschränkt ist. Rammstein ist als Band glaubwürdig, weil sie Unglaubwürdigkeit von vornherein zu ihrem ästhetischen Steckenpferd macht. Umgekehrt wird so deutlich, dass die Provokation Rammsteins in ihrer Struktur eine ästhetische ist, deren machtvolle Wechselwirkung mit außerästhetischen, gesamtgesellschaftlichen Diskursen gleichwohl vor allem aus ihren immanent ästhetischen Grundbedingungen heraus möglich und sinnvoll ist.

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CHRISTIAN DIEMER

Literatur Altrogge, Michael (2001). Tönende Bilder. Interdisziplinäre Studie zu Musik und Bildern und ihrer Bedeutung für Jugendliche, Bd. 2 (Die Musikvideos), Berlin: Vistas. Bettendorf, Michele (o. J. [2004]). Ursprung Punkszene oder Rammstein hätte es im Westen nie gegeben. O. O.: Books on Demand. Claus, Robert / Müller, Yves (2010). »Männliche Homosexualität und Homophobie im Neonazismus.« In: »Was ein rechter Mann ist…«. Männlichkeiten im Rechtsextremismus. Hg. v. Robert Claus, Esther Lehnert und Yves Müller (= RosaLuxemburg-Stiftung Texte 68). Berlin: Karl Dietz, S. 109-126. Fuchs-Gamböck, Michael / Schatz, Thorsten (2010). Bis das Herz brennt. Die inoffizielle Rammstein Biographie. Königswinter: Heel. Grossberg, Lawrence (1992): We gotta get out of this place. Popular conservatism and postmodern culture. New York, London: Routledge. Habermas, Jürgen (2003): »Zur Architektonik der Diskursdifferenzierung. Kleine Replik auf eine große Auseinandersetzung.« In: Reflexion und Verantwortung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. Hg. v. Dietrich Böhler, Matthias Kettner und Gunnar Skirbekk. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 44-64. Hof, Gert (2001). »Vorwort.« In: Rammstein. Hg. von Gert Hof. Berlin: dgv, S. 3f. Keazor, Henry / Wübbena, Thorsten (2007). Video thrills the Radio Star. Musikvideos: Geschichte, Themen, Analyse. Bielefeld: transcript. Jost, Christopher (2009). »Integrierte Bild-Text-Ton-Analyse. Am Beispiel des Musikclips Californication.« In: Die Bedeutung populärer Musik in audiovisuellen Formaten. Hg. v. Christopher Jost, Klaus Neumann-Braun, Daniel Klug und Axel Schmidt (= Short Cuts|Cross Media 1). Baden-Baden: Nomos, S. 197-242. Knaller, Susanne / Müller, Harro (2006): »Einleitung. Authentizität und kein Ende.« In: Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs. Hg. v. dens. München: Wilhelm Fink, S. 7-16. Kruspe, Richard Z. (2001). »Rammstein ist eine Katastrophe.« In: Rammstein. Hg. von Gert Hof. Berlin: dgv, S. 16-23. Landers, Paul (2001). »Rammstein hätte es im Westen nie gegeben.« In: Rammstein. Hg. von Gert Hof. Berlin: dgv, S. 34-39. Lindemann, Till (2001). »Meine Vorliebe ist die altdeutsche Sprache.« In: Rammstein. Hg. von Gert Hof. Berlin: dgv, S. 31-33. Saint-Exupéry, Antoine de (1950). Der Kleine Prinz. Übers. v. Grete und Josef Leitgeb. Bad Salzig: Rauch. Seel, Martin (2003). Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Schneider, Christoph (2001). »Wo liegt das Problem?« In: Rammstein. Hg. v. Gert Hof. Berlin: dgv 2001, S. 26-29.

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(UN-)AUTHENTISCHE INSZENIERUNGEN

Audio-/Videographie Rammstein (1998). »Stripped.« CD-Single: Motor Music 044 141-2; Official Video: http://www.youtube.com/watch?v=M4SmZkmLRjQ (letzter Zugriff 3.12.2012). Rammstein (2001). »Sonne.« Auf: Mutter. Motor Music 549 639-2. Rammstein (2005). Rosenrot. Universal 987 458-8. Rammstein (2006). »Mann gegen Mann.« CD-Single: Universal 06024 9877550-9; Official Video: http://www.youtube.com/watch?v=JE1lSafSUzc (letzter Zugriff 3.12.2012).

Abstract Few other bands rival Rammstein's capacity to polarise opinion, particularly on the question of authenticity and artificiality. Controversies have centred on the issue of whether the band is fascist or apolitical, homophobic or pro-homosexuality, irresponsibly provocative or liberating. This analysis does not aim to decide this question by defining Rammstein's authentic expression of opinions. It would be inappropriate and misleading to search Rammstein's songs for signs of the band's true convictions. By shifting the focus to the question of whether, to what extent and through which specific artistic means the band's work may seem fascist, prohomosexuality etc, at a given moment, this paper shows that an elaborate interplay of inconsistent, equivocal and diffuse quotations, allusions and symbolism constitutes the effective strategy of Rammstein's work. This strategy may have the potential to stimulate social discussions on extra-aesthetic topics, but it is nevertheless of a genuinely aesthetic kind, as is the provocation it may involve. A detailed analysis of the music video »Mann gegen Mann« provides an example of the indissoluble ambiguity of pro-homosexual and homophobic implications as its central aesthetic point at the levels of text, music and video.

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ÜBERSETZEN

RAHMEN. AUFFÜHRUNGEN GLOBALISIERTEN POP(ULÄR)KULTUREN UND

IN

Gabriele Klein Pop ist überall. Pop ist ein Muster eines urbanen Lebensstils, das als Zeichensystem global zirkuliert. Anders aber als der Popdiskurs in den 1970ern in der Nachfolge der Kulturindustriethesen von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno annahm, führt die globale Zirkulation des Zeichensystems des Pop nicht zwangsläufig zur Vereinheitlichung, sondern, folgt man den Thesen kultureller Globalisierung seit den 1990er Jahren, eher zur Produktion lokaler Differenz. Wie aber erfolgt diese Produktion von lokaler Differenz? Diese Frage habe ich in verschiedenen Popkulturen, am Beispiel Techno (Klein 1999) und HipHop (Klein/Friedrich 2003), und in der Populärkultur am Beispiel von Tango und Salsa (Klein 2009) untersucht. In diesen Forschungsprojekten lag der Fokus nicht so sehr auf Musik, sondern auf den Körper- und Tanzkulturen und hier vor allem auf den szenespezifischen Aufführungen. Die Ausgangsthese war, dass das ›Soziale‹ in diesen Kulturen aufgeführt wird, Theatralität und Realität also ineinanderwirken. Die theoretische Grundlage lieferte ein praxeologischer Zugang, der, verbunden mit einem performativitätstheoretischen Ansatz, die lokalen Praktiken in den Blick nahm und das ›Wie‹ der Erzeugung lokaler Differenz in den performativen Strategien der Beglaubigung untersuchte. Zu den Untersuchungsfeldern zählten dabei z.B. räumliches Environment, Rituale, Mode, Körpersprache, Gestik, die in lokalen theatralen Settings wie Battles, Raves, Milongas in Szene gesetzt oder medial dokumentiert wurden und damit als Praktiken einer gelungenen, d.h. aus performativitätstheoretischer Sicht, beglaubigten Inszenierung von Authentizität anzusehen sind. Diese lokalen Performances sind aber nicht als »originär« oder »einzigartig« zu verstehen, da es sich, neben der lokalen Besonderheit, auch immer um kulturelle Übersetzungen handelt. Aus dieser Sicht beruht die Erzeugung von lokaler Differenz auf einem Übersetzungsvorgang, der das

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GABRIELE KLEIN Zeichen- und Symbolsystem von Popkulturen aktualisiert und transformiert und dabei auf die gelungene Inszenierung von Authentizität angewiesen ist. Ausgehend von der These der Cultural Studies, dass lokale Aneignung sich nur dann vollzieht, wenn das (pop)kulturelle »Angebot« lebensweltlich relevant ist, verfolgt dieser Text die Frage, wie sich popkulturelle Übersetzungsprozesse vollziehen und lokal gerahmt werden. Damit leistet der Text einen praxeologischen Beitrag zu einer Differenzierung dieser These.

Zur Praxeologie kultureller Übersetzung Das Konzept der kulturellen Übersetzung entstammt sowohl einem »cultural turn« in der Übersetzungswissenschaft (Stoll 2008: 177-201) als auch der Etablierung der »postcolonial studies« und vor allem der »translation studies« (Bachmann-Medick 2008: 141-159) im Feld der Sozialwissenschaft. Es findet prinzipiell zwei Anknüpfungspunkte in der kulturtheoretischen Debatte. Zum einen in der Multikulturalismus- und Interkulturalitätsdebatte, die kulturellen Formationen eine Einzigartigkeit und Originalität unterstellt (Buden 2008 u. 2009). Es gibt dieser Debatte zufolge zwar keine universelle Kultur, aber eine Pluralität verschiedener Kulturen, denen ebenfalls essentialistische Identitätskonzepte zugrunde liegen, die sich entweder anerkennen oder (mitunter mit Gewalt) ausschließen. Jede Kultur, so dieses Interkulturalitätskonzept, ist essentiell verbunden mit einer ethnischen, geschlechtlichen oder sexuellen Herkunft: Muslimische und christliche, männliche und weibliche, weiße und schwarze Kulturen sind mit einer Identität ausgerüstet, die möglicherweise interkulturell kommunizierbar, aber nicht überbrückbar ist. Dieses Konzept von Interkulturalität ist zudem eng verknüpft mit dem Begriff des Nationalstaates. Es stellt die konzeptionelle Basis einer staatlichen Politik bereit, die im Sinne der Mehrheit »Kultur macht« und ihre vermeintlich originäre Kultur schützt (American HipHop, Brit-Pop, argentinischer Tango, deutscher Techno etc.). Ein anderes Konzept kultureller Übersetzung findet seinen Ausgangspunkt in der Idee der Dekonstruktion. Diese Denkrichtung, die von den »postcolonial studies« vertreten wird, fragt nicht nach dem Arrangement der Beziehungen zwischen den Kulturen. Vielmehr geht es darum, die Idee einer originären kulturellen Identität selbst zu unterlaufen. Kultur wird hier nicht auf eine vorgegebene Essenz zurückgeführt, sondern als ein System von Zeichen verstanden, die sich aufeinander beziehen, die Spuren hinterlassen und ihre eigenen Ursprünge in sich selbst haben. Deutsch sein, schwarz oder schwul sein ist demnach einzig das Produkt einer kulturellen

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ÜBERSETZEN UND RAHMEN. AUFFÜHRUNGEN IN GLOBALISIERTEN POP(ULÄR)KULTUREN Aktivität, die selbst als ein Prozess der Übersetzung verstanden wird. »In the discipline of semiotics of culture it comes naturally to say that culture is translation, and also that translation is culture« (Torop 2002: 603). Der Ausgangspunkt für diese dekonstruktivistische Kulturtheorie der Übersetzung, an die sich meine Argumentation anlehnt, liegt in dem Aufsatz Walter Benjamins »Die Aufgabe des Übersetzers« (Benjamin 1972) begründet. Hier übt Benjamin Kritik an der binären Übersetzungstheorie, die Friedrich Schleiermacher (1973) Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte und die zum

grundlegenden

Paradigma

der

Übersetzungswissenschaft

wurde.

Schleiermacher geht von zwei binären Möglichkeiten der Übersetzung aus: Originaltreue oder ästhetische Wirkung. Ähnlich wie Wilhelm von Humboldt (Humboldt/Güthling 1926) setzt Schleiermacher auf Originaltreue. Seiner Ansicht nach sollen die Leser das Gefühl haben, »dass sie ausländisches vor sich haben« (Schleiermacher 1973: 54). Der »Geist der Sprache« des Originals soll demnach in der Übersetzung sichtbar werden, die Übersetzung hat sich folglich an der Sprache des Originals auszurichten. Dadurch sei das Fühlen des Fremden und damit letztendlich Sprach- und Kulturvermittlung möglich. Übersetzung, sowohl im Sinne der Verfremdung als auch der Einbürgerung, bildet dabei die Brücke zwischen den Sprachen, Kulturen, Nationen oder Kontinenten. Benjamin räumt mit der Binarität von Original und Kopie auf, die die Übersetzungswissenschaft bis Anfang des 20. Jahrhunderts prägte. Benjamin verwendet die Metapher der Tangente, die den Kreis (das Original) nur einmal berührt und dann ihren Weg nimmt. Es gibt demnach keine Ausgangsund Zielkultur, die miteinander zu verbinden wären. Übersetzung versteht Benjamin als Wandlung und Erneuerung; sie ist damit selbst Kultur wie Kultur eine permanente Übersetzung ist. Hier knüpft die dekonstruktivistische Theorie mit dem Konzept der Übersetzung an: Homi Bhabha nennt diesen Raum der Übersetzung den Raum der Hybridität. Es ist jener »Third Space« (Rutherford 1990: 207-211; Bhabha 2000), in dem Transformation oder Transgression möglich ist, indem sich binäre kulturelle Codes verändern können und etwas Neues entstehen kann. Allerdings wäre es falsch, diesen Raum des Hybriden als einen besonderen kulturellen Raum anzusehen. Kultur ist Übersetzung, ständig im Übergang. »Was Transkultur genannt wird«, so Gayatri Chakravorty Spivak, »ist Kultur in ihrem Vollzug. Transkulturation ist nichts Besonderes oder Andersartiges, sie ist ein Moment in einer Taxonomie der Normalität dessen, was Kultur genannt wird« (Spivak 2008, o.S.). Transkultur als etwas Spezifisches anzusehen, bedeutet hingegen, Kultur in einen bestimmten politischen (zumeist nationalen) Kontext zu stellen. Hier zeigt sich die Notwendigkeit einer

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GABRIELE KLEIN politischen Kontextualisierung des Konzeptes der kulturellen Übersetzung, vollzieht sich diese doch immer in einem Machtfeld politischer und symbolischer Ökonomien. Dieser Lesart zufolge verweist kulturelle Übersetzung weder auf einen Anfangs- und Endpunkt noch auf ein Original. Die Vorstellung von Kultur als Einheit, ausgestattet mit einer zeitlichen Linearität und einer Originalität, entsteht vielmehr erst im Akt der Übersetzung, retrospektiv, wie Barbara Johnson in ihrem Buch »Mother Tongues« (Johnson 2003) ausführt, in dem sie sich mit Benjamins Text befasst und dessen Thesen pointiert. Die Übersetzung selbst ist es demnach, die eine vermeintlich ursprüngliche Einheit als Schein entlarvt. Und genau hier zeigt sich Übersetzung als Machtstrategie. An diese Lesart anknüpfend nennt Tomislaw Longinovic (Longinovic 2002; Longinovic/Buden 2008) kulturelle Übersetzung »die Praxis des Alltagslebens«. Sie ist eine performative Praxis und gerade dadurch ein Muster von Subjektivierung. Kulturelle Übersetzung stellt immer auch die Macht-Frage. Denn seit dem »cultural turn« hat Kultur nicht, wie so oft angenommen (Goehler 2006), den Begriff der Gesellschaft von der politischen Bühne verdrängt und dessen führende Rolle übernommen. Indem politische Konflikte und Kämpfe kulturalisiert worden sind oder Kulturdialog zum Thema der internationalen politischen Beziehungen erhoben wurde, ist vielmehr Kultur selbst zur politischen Bühne geworden, kulturelle Übersetzung ist somit auch immer eine politische Kategorie, die sowohl subversiv als auch affirmativ wirken kann. Kulturelle Übersetzung aus dieser Lesart meint nicht Kulturverstehen, meint nicht Brückenbau. Sie fokussiert nicht eine (vermeintliche) Ausgangsund Zielkultur, sondern zielt darauf ab, »Zwischenräume« jenseits des binären Bauprinzips zu erschließen und diese als Aushandlungsräume für kulturelle Übersetzungsprozesse zu untersuchen. Ein praxeologischer Zugang zu kultureller Übersetzung stellt die Frage, wie diese komplexen kulturellen Austausch- und Aushandlungsprozesse sich vollziehen und zwar jenseits eines Transfers zwischen Original und Übersetzung: zum einen im Sinne mehrdimensionaler Transformationen in Zwischenräumen, zum anderen mit Blick auf die Praktiken der Übersetzungen. Zwischen Aneignung und »Seinlassen«, Anverwandlung und Unaufhebbarkeit von Alterität ist damit ein weiter Bogen gespannt, der die Problematik einer »Über-Setzung« zwischen Kulturen betrifft. Zudem verschiebt sich mit einer praxeologischen Perspektive die Thematisierung des transkulturellen Übersetzens sowie postkolonialer Praktiken im Umgang mit anderen Kulturen auf die den kulturellen Übersetzungen zugrunde liegenden alltäglichen und körperlich gebundenen Praktiken. So sind in globalisierten Pop(ulär)kul-

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ÜBERSETZEN UND RAHMEN. AUFFÜHRUNGEN IN GLOBALISIERTEN POP(ULÄR)KULTUREN turen erstens unterschiedliche Übersetzungspraktiken »alltäglich« und werden in divergierenden Ausprägungen und »Ver-Wendungen« gebraucht, die wiederum plurale Effekte und Missverständnisse erzeugen. Zweitens bringen diese Praktiken ihre je eigenen Grenzen und »Unübersetzbarkeiten« erst hervor. Diese praxeologische Neuakzentuierung bedeutet demnach eine Rückführung des generellen Problems der Alterität einer jeden Übersetzungstheorie zu einer Untersuchung des jeweiligen »Übersetzungshandelns«, der Praktiken und ihrer performativen Effekte. Damit wird auch ermöglicht, den Übersetzungsbegriff über seine latente Sprachauszeichnung hinaus auf alle Arten kultureller Transformation auszuweiten (z.B. Text/Bild; Musik; Theater/Performance, Tanz/Film etc.). Ausgehend von dieser kultur- und medientheoretischen Positionierung habe ich kulturelle und situationale Aushandlungsräume und Praktiken kultureller Übersetzungen untersucht. Die Frage lautet, wie die komplexen Prozesse der Hervorbringung und Aneignung von Pop sich praktisch vollziehen und zwar auch jenseits der Vorstellung einer Zeichenkorrespondenz von Ausgangs- und Zielkultur oder eines Transfers eines (vermeintlichen) Originals, sondern im Sinne mehrdimensionaler, mitunter brüchiger medialer Transformationen. Dabei rückt das mediale »Dazwischen«, das sich nicht mehr als Zwischenraum zwischen »A« und »B« lokalisieren und nicht mehr auf gegebene Räume, auf Ausgangs- und Endpunkt, zurückführen lässt, in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses.

Rahmen und Rahmung (pop-)kultureller Übersetzungen Um verstehbar zu werden und lebensweltlich relevant zu sein, müssen kulturelle Übersetzungen gerahmt werden. Mit der These, dass Aneignungsprozesse sich nur dann vollziehen, wenn sie lebensweltlich relevant sind, haben die Cultural Studies bereits vor vielen Jahren ein wichtiges Stichwort markiert. »Aneignung« aber, wenn man diesen Begriff verwenden möchte, da er ja ein klassisches Übersetzungsmodell impliziert, muss also gerahmt, d.h. sinnweltlich gedeutet werden. Wie also kann man dies theoretisch fassen? Wie kann eine Praxeologie kultureller Übersetzungen mit einem Rahmenkonzept in Verbindung gebracht werden? In der Soziologie hat Erving Goffman das Rahmen-Konzept wesentlich geprägt. Er versteht Rahmen als Organisationsprinzipien menschlicher Erfahrung und Interaktion, die es erlauben, Situationen zu definieren (Goffman 1974). Im Unterschied zu neueren kognitionswissenschaftlichen Ansätzen

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GABRIELE KLEIN verortet Goffman Rahmen nicht allein im menschlichen Bewusstsein, sondern im Bereich von sozialen Handlungen und kollektiven Aktivitäten, die wiederum selbst erst durch Rahmungen ihren Sinn erhalten. »Primäre Rahmen«, d.h. natürliche oder als natürlich wahrgenommene Ereignisse, die gleichwohl auf kollektiven Schemata beruhen, können ihm zufolge moduliert werden (z.B. wenn Alltagsgesten in tänzerische Gesten im HipHop transferiert werden), wobei diese Modulationen über ein System von Konventionen erfolgen. Die Arten der Modulationen sind begrenzt, weil sie als »Übersetzungen« von einem Rahmen in einen anderen erfolgen — ein Vorgang, den Goffman mit dem Begriff »Key« (dt.: »Modul«; Goffman 1974: 56, Fn 14) bezeichnet. Das Modul zeigt an, wie eine Handlung, eine Szene oder eine Situation zu verstehen ist, ähnlich wie die Notation einer Ballettchoreografie. Aufgrund der Existenz derartiger Modulationen sind primäre Rahmungen fragil und permanent gefährdet. Gleichwohl kommt ihnen die Aufgabe der Organisation von Erfahrung zu, wobei diese als soziale Praxis verstanden wird, der Individuen folgen. Im deutschsprachigen Raum wird, anknüpfend an Goffmans soziologische Rahmen-Analyse, zumeist das an das bildnerische Artefakt angelehnte Substantiv »Rahmen« verwendet. Aus praxeologischer Perspektive aber rückt das Verhältnis von Rahmen als Substantiv und rahmen als Verb in den Vordergrund: Die Verbform »rahmen« bezeichnet das Prozessuale, den konkreten Vollzug, die Praxis des Rahmens. Diese Praxis verstehe ich zugleich als eine Praxis der Aktualisierung, Re-Formulierung, Transformation oder Neukonstruktion bestehender Rahmungen. Dazu zählen in globalisierten Popkulturen insbesondere mediale Rahmungen, die die Wahrnehmung steuern und Möglichkeiten der Aneignung bereitstellen, zugleich aber auch durch diese Praktiken der Aneignung transzendiert und transformiert werden können. Rahmungen erfüllen demnach immer auch eine epistemologische Funktion, insofern Sinn sich »in« Rahmungen als Bedingungen unterschiedlicher »Als«-Funktionen konstituiert. Indem Rahmen ein- und ausgrenzen, implizieren sie nicht nur Differenzsetzungen, sondern bringen etwas »als« Inklusion oder »als« Exklusion, z.B. »als« Sichtbares oder »als« Unsichtbares usw. hervor. Der »Rahmenwechsel« ist demnach nicht als ein singulärer Akt zu verstehen, sondern als ein fortwährender Vorgang der De-, Re- und Neukontextualisierung, der sich im Wechselspiel von Wahrnehmung und Deutung ereignet und ein bestimmtes Rahmenwissen voraussetzt. Das Gelingen der Übersetzung in Form einer Neukonstitution von Sinn ist wesentlich von dem Verstehen dieser komplexen Rahmungsbedingungen und Rahmungserzeugungen abhängig. Rahmungen werden von den Partizipierenden aktiv, wenngleich nicht unbedingt bewusst (mit) hergestellt, zugleich

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ÜBERSETZEN UND RAHMEN. AUFFÜHRUNGEN IN GLOBALISIERTEN POP(ULÄR)KULTUREN sind verschiedene Akteure, zu denen neben Menschen z.B. auch Dinge, Bedingungen oder technische Apparate gehören können, an ihnen beteiligt (Latour 2007). Vor dem Hintergrund eines solchen praxeologischen Ansatzes, der die Praktiken der Hervorbringung und Aneignung von Pop untersucht, sind Rahmung und Übersetzung nicht als stabile, fixierte Formate, sondern selbst als transitorische Kontextualisierungen zu verstehen, deren Transformationen durch die miteinander verschränkten Praktiken des Rahmens und Übersetzens selbst bedingt sind.

Popkulturelle Übersetzungen und lokale Rahmungen Globalisierte Pop(ulär)kulturen lassen sich als transkulturelle Aushandlungs»räume« verstehen. An ihnen lässt sich das Konzept der kulturellen Übersetzung anschaulich machen. Das, was Bhabha für Kultur allgemein konstatiert, gilt insbesondere für die globalisierten Pop(ulär)kultur. Sie »ist sowohl transnational als auch translational. […] Die transnationale Dimension kultureller Transformation — Migration, Diaspora, De-Platzierung, Neuverortung — lässt den Prozess kultureller Translation zu einer komplexen Form der Signifikation werden. Der natürliche oder naturalisierte, einheitsstiftende Diskurs […] kann hier kaum als Bezugspunkt dienen. Der große, wenngleich beunruhigende Vorteil dieser Situation besteht darin, dass sie uns ein stärkeres Bewusstsein von der Kultur als Konstruktion und von der Tradition als Erfindung verschafft« (Bhabha 2000: 257). Lokale popkulturelle Szenen lassen sich mit Peter Berger und Thomas Luckmann (1969) als symbolische Sinnwelten beschreiben, die durch bestimmte Locations und deren Environments sowie in den szenespezifischen theatralen Aufführungen wie Battles, Konzerten, Jams, Milongas, Salsatecas über soziale Regeln, symbolische Codes, soziale Interaktionen, ritualisierte Handlungen, tänzerische Praktiken und subjektive Gefühlswelten hergestellt und inkorporiert werden (Klein/Haller 2008: 51-74). Räumlich verortet rahmen die Narrative das individuelle Handeln, Fühlen und Denken der Akteure, wobei diese »Produktion von Lokalität« (Appadurai 1998: 11-40 und 1995: 204-225) nicht als eine bloße Reproduktion oder Nachahmung verstanden werden kann. Vielmehr ist der Performanz der sozialen, rituellen und tänzerischen Praktiken das transformatorische Potential der Übersetzung eingeschrieben, das zum einen zu einer Produktion lokaler Differenz in globalisierten Popkulturen führt. Zum anderen lässt es die Erfahrung des

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GABRIELE KLEIN Pop, vor allem im Tanz, als einen das globale Narrativ transformierenden, da von den kulturell und sozial geprägten Körpern vollzogenen Vorgang werden. Das globale Narrativ Pop wird über Bilder, Texte und Töne als imaginierte Sozialwelt hervorgebracht, in verschiedene kulturelle Kontexte übersetzt und lokal im Zusammenspiel mit globalen Übersetzungsbewegungen verankert. Globalisierte Pop(ulär)kulturen beruhen auf einem mehr oder weniger geordneten, aber nicht unbedingt hierarchischen System von Erzählungen. Diese Erzählungen fungieren als Sinnproduzenten; sie sind konstitutiv für die Identität der Akteure aber auch für die kollektive Identität der lokalen Szenen. Der Begriff »Narrativ« meint dabei nicht primär die erzählte Geschichte selbst, sondern die Praxis des Erzählens. Diese verweist auf eine erzählte Geschichte (z.B. die imaginierte Sozialwelt des Tango Argentino oder das Ghetto im HipHop), fügt damit das Erzählen selbst in die lineare Ordnung des Zeitlichen ein und setzt auf diese Weise die Erzählung permanent fort« (Müller-Funk 2008: 29). Es ist demnach nicht die globale Erzählung der jeweiligen Popkultur selbst, sondern es sind die performativen Strategien des Erzählens, die Sinn stiften: Zum einen die mit der NeuKontextualisierung einhergehende fortwährende »Produktion von Lokalität« in stadtbezogenen Szenen, die über das Muster sozialer In- und Exklusion soziale und lokale Identitäten stiften. Das permanente Erzählen von »Geschichten« in Bildern, Texten sowie in sozialen Praktiken von Aufführungen ist ein komplexer, widersprüchlicher, brüchiger, zwischen Globalem und Lokalem wechselnder, translokaler Übersetzungsprozess, der konstitutiv sowohl für die Erfahrung wie für die Bildung von Ich-Identität und kollektiver Identität werden kann. In diesem Prozess der Identifizierung wird zugleich die »Erzählung Pop« aktualisiert, entsprechend des lokalen, kulturellen und biographischen Rahmens transformiert und als transformierte lokale Praxis über die Migration von Akteuren oder über mediale Repräsentationen der jeweiligen Kultur wieder in den globalen Prozess übersetzt.

(Pop-)Kulturelle Identitäten Aneignungsprozesse sind identitätsstiftend. Das hier zugrunde gelegte Identitätskonzept lehnt sich an Paul Ricoeur an (Ricoeur 1988 und 1991: 392400). Die personale Identität beispielsweise eines Ravers, HipHoppers oder Tango-Tänzers sowie die kollektiven Identitäten in den lokalen Szenen entwickeln sich demnach aus der Produktion und Rezeption von »fiktiven« Geschichten, wie z.B. die Erzählungen über Gangsta-Rap oder über Tango als

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ÜBERSETZEN UND RAHMEN. AUFFÜHRUNGEN IN GLOBALISIERTEN POP(ULÄR)KULTUREN verruchtem Milieutanz, und »faktischen« Geschichten, wobei das »Fiktive« und das »Faktische« in der Erzählung nicht zu trennen sind. Die Narrative produzieren lebensweltliche Muster und Identitätsentwürfe, die sich beispielsweise im Bild und Selbstverständnis der HipHopper oder der Tanguera und des Tangueros niederschlagen. Sie helfen, kontingente Ereignisse wie die szenespezifischen theatralen Aufführungen (z.B. Konzerte, Battles, Parties, Jams, Milongas) in das globalisierte Erzählen der Geschichte zu integrieren und dies mit der eigenen Lebensgeschichte zu verknüpfen. Die narrative Identität selbst wird dabei zum Garanten für die Wahrheit, Originalität und Authentizität des Imaginierten (Anderson 1988: 20). Der von Ricoeur beschriebene mimetische Kreislauf erstens des Verstricktseins in Erzählungen (im Akt des Tanzens oder Musik-Machens beispielsweise), zweitens des expliziten Erzählens im Sinne des darüber Sprechens (in Face-toFace-Kommunikation, aber auch im Internet in Blogs oder auf Facebook z.B.) (Klein/Haller 2006: 233-248) sowie drittens dessen Aktualisierung durch Interpretation, umschreibt die weite Bedeutung des Begriffs »Narrativ«: Es bezieht sich nicht nur auf sprachliche oder textuelle, sondern auch auf so genannte nicht-sprachliche Medien, d.h. auf Ereignisse, Erlebnisse, auf Feste, auf körperliche Aktivitäten. Auch sie finden ihren Referenzrahmen und ihre Legitimation in Narrativen, werden mit Verweis auf das globale Narrativ Pop z.B. als authentisch erlebt, und wirken durch Interpretation des Erlebens identitätsbildend. Die Übersetzungsbewegungen popkultureller Narrative veranschaulichen die Verbindungen zwischen der Makroebene der global zirkulierenden Bilder, Codes und Zeichen, die die jeweilige popkulturelle Szene prägen, und der Mikroebene der lokalen (Aneignungs-)Praktiken und Identitätsbildungen. Dabei ist gerade das Reden über das »Nicht-Sprechbare« der (affektiv, sexuell oder erotisch aufgeladenen) Erfahrung und die Thematisierung des Verfehlens ein wesentlicher Teil des Narrativs des Pop. Hier setzt die Idee der Retroperspektive ein: Erst in der und durch die Übersetzung wird in den Erzählstrategien eine bestimmte Praxis des Pop retrospektiv als das Original und eine andere als Verfälschung, als Fake markiert und zugleich über diese binäre Setzung eine bestimmte Praxis als authentisch essentialisiert. Narrative aktualisieren sich in den globalen Pop(ulär)kulturen über Medien: Die Schrift, das Bild, die Musik, die mündliche Erzählung und das Tanzen als körperliches Medium: Gerade das Tanzen aktualisiert die Narrative wie umgekehrt das Tanzen selbst erst in Bezugnahme auf die Narrative essentialisiert, d.h. als »echt«, »authentisch« oder »natürlich« beglaubigt wird.

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GABRIELE KLEIN Das globale Narrativ einer jeden Pop(ulär)kultur transformiert kulturelle Disparatheiten, die in den unterschiedlichen nationalen (Pop-)Kulturen (z.B. Deutscher HipHop, Brit-Pop), in lokalen Szenen oder in den Geschlechterkulturen des Pop (z.B. riot grrrls) erzeugt werden in Vorstellungen von einem homogenen Raum des Pop. Dies zeigt sich in den Zeichensystemen der weltweiten HipHop- oder der Tangokultur, die in nahezu allen lokalen Szenen übernommen werden, wie Farben, Kleidung, Accessoires, Rituale, ritualisierte Handlungen und Interaktionsordnungen. Und es demonstriert sich in einer linearen Zeitordnung, also einer Popkulturgeschichte, die Tradition schafft, kanonisiert und kulturelle und soziale Orientierung bietet und zugleich zur Mythenbildung und mit ihr zur Etablierung einer Ausgangskultur beiträgt, die retrospektiv als authentisch essentialisiert wird. Mit anderen Worten: Die kulturellen Repräsentationen, wie sie sich in den lokalen Popkulturen und ihren Aufführungen zeigen, werden in der Praxis, verstanden als ein dreifacher Akt des Erzählens im Ricoeurschen Sinne, aktualisiert, bestätigt, selektiert, transformiert und konventionalisiert. Ereignisse wie Battles, Konzerte oder Milongas sind Rahmungen, die die Mythen beglaubigen und auf diese Weise die Popkulturen als Orte der Außeralltäglichkeit legitimieren. Genau hier — in dem fragilen Möglichkeitsraum der Translation — liegt zugleich das poetische Potential des Pop: in der Unvorhersehbarkeit und Unplanbarkeit der Übertragungen der kulturellen Narrative. Und diese vollziehen sich in globalisierten Pop(ulär)kulturen, wie ich zeigen wollte, nicht nur in den performativen Akten der Wahrnehmung, Inkorporierung, der körperlichen Ko-Präsenzen und der theatralen Aufführungen, sondern in komplexen kulturellen Übersetzungen und vielfältigen Rahmungen sowie in den Verflechtungen der Praktiken der performativen Erzählstrategien des Übersetzens und Rahmens und ihrer mündlichen und schriftlichen sowie ihrer körperlichen, bildlichen und textuellen Medien.

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GABRIELE KLEIN Latour, Bruno (2007). Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Longinovic, Tomislaw (2002). »Fearful Asymmetries. A Manifesto of Cultural Translation.« In: The Journal of the Midwest Modern Language Association 35, H. 2, S. 5-12. Longinovic, Tomislaw / Buden, Boris (Hg.) (2008). »Die Antwort liegt in der Übersetzung.« In: transversal.eipcp.net, http://eipcp.net/transversal/0908/longino vic-buden/de (Version vom 5.12.2008; Stand vom 12.5.2012). Müller-Funk, Wolfgang (Hg.) (2008). Die Kultur und ihre Narrative. Wien, New York: Springer. Ricoeur, Paul (Hg.) (1988). Zeit und Erzählung I. München: Fink. Ricoeur, Paul (1991). »Die erste Aporie der Zeitlichkeit: die narrative Identität.« In: Zeit und Erzählung III. Hg. v. dems. München: Fink, S. 392-400. Rutherford, Jonathan (1990). »The Third Space. Interview mit Homi K. Bhabha.« In: Identity. Community, Culture, Difference. Hg. v. dems. London: Lawrence & Wishart, S. 207-211. Schleiermacher, Friedrich (1973/1838). »Über die verschiedenen Methoden des Übersetzens.« In: Das Problem des Übersetzens. Hg. v. Hans Joachim Störig. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (2. Aufl.), S. 38-70. Spivak, Gayatri Chakravorty (2008). »Weitere Überlegungen zur kulturellen Übersetzung.« In: translate.eipcp.net, http://translate.eipcp.net/transversal/0608/ spivak/de (Version vom 6.12.2008; Stand vom 12.5.2012). Stoll, Karl-Heinz (2008). »Translation als Kreolisierung.« In: Kultur, Übersetzung, Lebenswelten. Beiträge zu aktuellen Paradigmen der Kulturwissenschaften. Hg. v. Andreas Gipper und Susanne Klengel. Würzburg: Königshauen & Neumann, S. 177-201. Torop, Peeter (2002). »Translation as Translating as Culture.« In: Sign Systems Studies 30, H. 2, S. 594-605.

Abstract This text deals with a praxeological perspective on the translocality of pop cultures. Based on the theory of Cultural Studies that local occupancy does only occur when the (pop)cultural »supply« is lifeworldly relevant, the text discusses the question, how pop-cultural translation processes take place and are framed locally. It investigates from the perspective of performance theory the production strategies of local differences through performative practices of authentification in scene-specific performances. Thereby the text makes a praxeological contribution to a differentiation of the above-mentioned thesis of Cultural Studies.

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ZU DEN AUTOREN Ralf von Appen (*1975), Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und Psychologie, 2001-2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bremen, seit 2004 am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik in Gießen. Promotion mit der Arbeit Der Wert der Musik. Zur Ästhetik des Populären (Bielefeld: transcript 2007); seit 2008 im Vorstand des ASPM; 2009/2010 Gastprofessor an der Universität Wien. • Weiteres s. http://www.uni-giessen.de/cms/fbz/fb03/institute/musikpaedagogik/Lehre nde/wiss_mitarbeiter/appen. • E-Mail: [email protected]. Philip Auslander (*1956) ist Professor an der School of Literature, Media, and Communication des Georgia Institute of Technology, wo er seit 25 Jahren lehrt. Er promovierte am Department of Theater, Film, and Dance der Cornell University. Seine Arbeitsschwerpunkte bilden Aufführungstheorie, Popularmusikforschung und Bildende Kunst. Auslander ist Autor von Liveness: Performance in a Mediatized Culture (1999 und 2008) and Performing Glam Rock: Gender and Theatricality in Popular Music (2006). • E-Mail: [email protected]. Christa Bruckner-Haring (*1980), Studium der Musikpädagogik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz (KUG), Spanisch-Studium an der Karl-Franzens-Universität Graz und Instrumentalpädagogikstudium Klavier an der KUG; Dissertationsprojekt zu »Gonzalo Rubalcabas Stilistik zwischen kubanischer Tradition und dem Jazz«; seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jazzforschung an der KUG, sowie seit 2010 Projektmitarbeiterin des von HERA geförderten EU-Kooperationsprojektes Rhythm Changes: Jazz Cultures and European Identities (www.rhythm changes.net). • Bibliographie: https://online.kug.ac.at/KUGonline/visiten karte.show_vcard?pPers onenId=1E725F1B9388AE9E&pPersonenGruppe=3. •• E-Mail: c.bruckner-haring @kug.ac.at. Christian Diemer (*1986), 2005-12 Studium der Komposition, Musikwissenschaft, Germanistischen Literaturwissenschaft und Kulturmanagement an der Hochschule für Musik »Franz Liszt« Weimar. 2008/09 Auslandsstudium in Sankt-Petersburg und Paris, nachfolgend Projekte und Exkursionen in der Ukraine, Brasilien und auf dem Balkan. • Veröffentlichung: »Die Büste des Kaisers. Joseph Roth und die k. u. k. Utopie.« In: Wo liegt die Ukraine? Standortbestimmung einer mitteleuropäischen Kultur. Hg. von Steffen Höhne und Justus Ulbricht (Weimar, Berlin: Böhlau). • E-Mail: christian. [email protected].

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ZU DEN AUTOREN André Doehring (*1973), Studium der Musikwissenschaft und Soziologie, seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik in Gießen, Promotion 2010, Lehrauftrag in Wien 2011. • Jüngste Veröffentlichungen: »Probleme, Ziele und Aufgaben der Analyse populärer Musik.« In: Black Box Pop. Analysen populärer Musik. Hg. von Dietrich Helms und Thomas Phleps (= Beiträge zur Popularmusikforschung 38). Bielefeld: transcript 2012, S. 23-42; Musikkommunikatoren. Berufsrollen, Organisationsstrukturen und Handlungsspielräume im Popmusikjournalismus (Bielefeld: transcript 2011). • E-Mail: Andre. Doehring@musik. uni-giessen.de. Simon Frith ist Tovey Professor of Music an der University of Edinburgh. Er war Gründungsmitglied des IASPM und einer der Gründungsherausgeber von Popular Music. Sein aktuellstes Buch ist The Art of Record Production (hg. zus. mit Simon Zagorski-Thomas; Farnharm: Ashgate 2012). Er ist Juryvorsitzender des Mercury Music Prize und Mitglied der British Academy. • E-Mail: [email protected]. Barbara Hornberger (*1970), Studium der Kulturpädagogik an der Universität Hildesheim, Diss. Geschichte wird gemacht. Die Neue Deutsche Welle. Eine Epoche deutscher Popmusik (Würzburg: Königshausen & Neumann 2011). Arbeitet als Kulturwissenschaftlerin an der Universität Hildesheim im Fach Kulturwissenschaft / Populäre Kultur. Arbeitsschwerpunkte: Populäre Musik, Theorie und Praxis der Populären Kultur, Kulturgeschichte des Populären, Didaktik des Populären. • E-Mail: [email protected]. Ian Inglis ist Visiting Fellow an der School of Arts & Social Sciences der University of Northumbria, Newcastle upon Tyne, UK. Sein Promotionsprojekt beschäftigte sich mit der Bedeutung sozialer, sozial-psychologischer und kulturwissenschaftlicher Theorien für die Erklärung der Karriere der Beatles. Er ist Mitglied des Editorial Board von Popular Music And Society, The Soundtrack, and Volume! La Revue des Musiques Populaire. Sein erster Roman, Clay Lake (der erste Teil einer Trilogie), ist 2012 erschienen. • Veröffentlichungen u.a.: The Beatles, Popular Music and Society: A Thousand Voices (Hg., 2000), Popular Music and Film (Hg., 2003), Performance and Popular Music: History, Place and Time (Hg., 2006), The Words and Music of George Harrison (2010), Popular Music and Television in Britain (Hg., 2010) und The Beatles in Hamburg (2012). • E-Mail: ian.inglis@ northumbria.ac.uk. Christoph Jacke (*1968), Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaft, englischen Philologie, Politikwissenschaft und Geographie in Münster. 2004 Dissertation zum Thema »Medien(sub)kultur«, 2001-2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter, Geschäftsführer und Koordinator im Studiengang »Angewandte Kulturwissenschaften/Kultur, Kommunikation und Management« der Universität Münster, seit 2008 Professor für Theorie, Ästhetik und Geschichte der Populären Musik im Fach Musik/Studiengang »Populäre Musik und Medien« an der Universität Paderborn sowie Begründer und Sprecher der »AG Populärkultur und Medien« in der Gesellschaft für Medien-



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ZU DEN AUTOREN wissenschaft (GfM), seit 2011 im wissenschaftlichen Beirat des ASPM, zudem freier Journalist. Forschungsschwerpunkte: Popkultur, Popmusik, Medienkultur- und Kommunikationstheorie, Medienkritik, Stars/Prominenz. Aktuelle Buchpublikationen: Einführung in Populäre Musik und Medien (Münster: LIT 2009) und Pop, Populäres und Theorien (Hg. zus. mit Jens Ruchatz und Martin Zierold, Münster: LIT 2011). • Forschungsschwerpunkte und Veröffentlichungen s. http:// www.christophjacke.de. • E-Mail: christoph.jacke@ uni-paderborn.de. Ildiko Keikutt-Licht (*1978) studierte von 1998 bis 2003 Musikwissenschaft, Ältere und Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold und an der Universität Paderborn. 2003/04 Volontärin im Laaber-Verlag, anschließend Promotionsstipendiatin der Universität Paderborn, 2008 Promotion, publiziert unter dem Titel Whiteman, Gershwin, Goodman: Grenzgänge(r) im amerikanischen Mainstream (Kiel: Ludwig 2011); 2006–2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Musikwissenschaft an der Universität Osnabrück. • E-Mail: [email protected]. Gabriele Klein (*1957), Soziologin und Tanzwissenschaftlerin, Professorin an der Universität Hamburg (Lehrstuhl für Soziologie von Bewegung, Sport und Tanz am FB Bewegungswissenschaft), Leitung des Zentrums für Performance Studies an der Universität Hamburg; Sprecherin des FB Bewegungswissenschaft; studierte Sozialwissenschaften, Geschichte, Sportwissenschaft und Pädagogik an den Universitäten Bielefeld, Essen und Bochum. Studium zeitgenössischer Tanz u.a. an der Theaterhochschule Amsterdam. 1990 Promotion in Sozialwissenschaften, 1998 Habilitation in Soziologie. Sie lehrte an den Universitäten Bochum, Essen, Hamburg und Bern/Schweiz, Smith-College/ USA, UCLA/USA, Mozarteum/Salzburg und Universität Stellenbosch/Südafrika. Arbeits- und Forschungsfelder: Kultur- und Sozialtheorie von Körper, Bewegung und Tanz, Tanz- und Performance-Theorie, städtische Bewegungskulturen und populäre Tanzkulturen, Jugend- und Poptheorie; gender studies. • Veröffentlichungen s. http://www1.uni-hamburg.de/gklein/down loads/publikationslisten/Publikationsliste_Klein_Okt11.pdf • E-Mail: [email protected]. Anja Peltzer (*1977), Studium der Medienpädagogik, Kommunikationswissenschaft, Germanistik und Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt/M. und an der Universität Augsburg, 2008-2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Mannheim, 2010 Promotion mit dem Thema Identität und Spektakel. Zur filmischen Inszenierung von Identität im global erfolgreichen Blockbuster-Kino (Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft 2011), seit 2012 Akademische Rätin an der Universität Mannheim. • E-Mail: [email protected].



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ASPM Arbeitskreis Studium Populärer Musik e.V. Der ASPM ist der mitgliederstärkste Verband der Popularmusikforschung in Deutschland. Der ASPM fördert fachspezifische und interdisziplinäre Forschungsvorhaben in allen Bereichen populärer Musik (Jazz, Rock, Pop, Neue Volksmusik etc.). Der ASPM sieht seine Aufgaben insbesondere darin • • • •

Tagungen und Symposien zu organisieren, Nachwuchs in der Popularmusikforschung zu fördern, Informationen auszutauschen, wissenschaftliche Untersuchungen anzuregen und durchzuführen.

Der ASPM ist ein gemeinnütziger Verein und arbeitet international mit anderen wissenschaftlichen und kulturellen Verbänden und Institutionen zusammen. Der ASPM gibt die Zeitschriften Beiträge zur Popularmusikforschung  und Samples. Notizen, Projekte und Kurzbeiträge zur Popularmusikforschung (www.aspm-samples.de) sowie die Schriftenreihe texte zur  populären musik heraus. Informationen zum Verband und zur Mitgliedschaft: Arbeitskreis Studium Populärer Musik (ASPM) Ahornweg 154 25469 Halstenbek E-Mail: [email protected] • Online: www.aspm-online.de

Beiträge zur Popularmusikforschung Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Thema Nr. 1 Sex und populäre Musik 2011, 234 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1571-5

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Black Box Pop Analysen populärer Musik 2012, 284 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-8376-1878-5

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) No Time for Losers Charts, Listen und andere Kanonisierungen in der populären Musik 2008, 178 Seiten, kart., 17,80 €, ISBN 978-3-89942-983-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Beiträge zur Popularmusikforschung Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Sound and the City Populäre Musik im urbanen Kontext 2007, 166 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN 978-3-89942-796-7

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Cut and paste Schnittmuster populärer Musik der Gegenwart 2006, 156 Seiten, kart., 16,80 €, ISBN 978-3-89942-569-7

Dietrich Helms, Thomas Phleps (Hg.) Keiner wird gewinnen Populäre Musik im Wettbewerb 2005, 214 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-89942-406-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de